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German Pages 283 [286] Year 2010
Kierkegaard Studies Monograph Series 22
Kierkegaard Studies Edited on behalf of the
Søren Kierkegaard Research Centre by Niels Jørgen Cappelørn and Hermann Deuser
Monograph Series 22 Edited by Niels Jørgen Cappelørn
De Gruyter
Kierkegaard und Fichte Praktische und religiöse Subjektivität Herausgegeben von Jürgen Stolzenberg und Smail Rapic
De Gruyter
Kierkegaard Studies Edited on behalf of the Søren Kierkegaard Research Centre by Niels Jørgen Cappelørn and Hermann Deuser Monograph Series Volume 22 Edited by Niels Jørgen Cappelørn
ISBN 978-3-11-022106-0 e-ISBN 978-3-11-022107-7 ISSN 1434-2952 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalogue record for this book is available from the Library of Congress. Bibliographic information published by the Deutsche Nationalbibliothek The Deutsche Nationalbibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliografie; detailed bibliographic data are available in the Internet at http://dnb.d-nb.de. 쑔 2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York ⬁ Printed on acid-free paper Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort In der Einleitung zu den im Jahre 1979 erschienenen Materialien zur Philosophie Søren Kierkegaards zählen Michael Theunissen und Wilfried Greve eine Untersuchung des Verhältnisses Kierkegaards zu Johann Gottlieb Fichte zu den Forschungsdesideraten. Den anspruchsvollsten Versuch, diese Lücke zu schließen, stellt die Monographie von Anton Hochenbleicher-Schwarz Das Existenzproblem bei J. G. Fichte und S. Kierkegaard (Königstein/Ts. 1984) dar. Hochenbleicher-Schwarz’ systematisch orientierte Kontrastierung der „existenzdialektischen Position“ Kierkegaards mit der „transzendentalphilosophischen“ Position Fichtes erscheint allerdings in doppelter Hinsicht problematisch. Zum einen präsentiert Hochenbleicher-Schwarz die Wissenschaftslehre Fichtes als gleichsam monolithische Einheit. Damit übergeht er die Umakzentuierungen und Neuorientierungen in den veränderten Fassungen seit der Wissenschaftslehre nova methodo. Zum anderen ist Skepsis gegenüber dem Versuch angebracht, aus Kierkegaards pseudonymen Schriften eine einheitliche Position herauszudestillieren. Kierkegaards „Bitte“ in „Eine erste und letzte Erklärung“ am Schluss der Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift, die von seinen Pseudonymen vertretenen Standpunkte niemals als seine eigenen auszugeben, findet in der neueren Forschung mehr und mehr Gehör. Sie achtet in weit stärkerem Maße als frühere Gesamtdarstellungen auf Kierkegaards sokratisches Anliegen, Denk- und zugleich Existenzmçglichkeiten auszuloten, anstatt dem Leser eine in sich abgerundete Position vorzulegen. In den Beiträgen des vorliegenden Bandes ist daher auch keine Gesamtschau des Verhältnisses Kierkegaard – Fichte beabsichtigt. Sie ziehen einzelne Linien aus, die von den Schriften Fichtes, mit denen er sich vermutlich näher beschäftigt hat – hier sind in erster Linie Die Bestimmung des Menschen und Die Anweisung zum seligen Leben zu nennen – , sowie von basalen Fichteschen Theoremen, die Kierkegaard aufgrund eigener Lektüre, den Fichte-Interpretationen Hegels und Trendelenburgs und nicht zuletzt den Vorlesungen H. L. Martensens an der Kopenhagener Universität bekannt sein konnten, zu seiner Dissertation ber den Begriff der Ironie und den pseudonymen Werken führen. Auf diese Weise sucht der Band ein facettenreiches Bild der Auseinandersetzung Kierkegaards mit
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Vorwort
Fichte vorzustellen. Zugleich spiegelt sich in ihm das Spektrum möglicher Interpretationsansätze zu Kierkegaard wieder. Jrgen Stolzenberg geht dem Verhältnis von moralischem und religiösem Bewußtsein bei Fichte von den Schriften zum Atheismusstreit über Die Bestimmung des Menschen bis hin zur Wissenschaftslehre von 1801/02 nach und schließt mit einem vergleichenden Blick auf Kierkegaard, der, vor allem mit Bezug auf Kierkegaards Begriff der Religiositt A, eher die beiderseitige Nähe als die Distanz deutlich werden lässt. Jørgen Huggler lotet die argumentative Stringenz der – häufig metaphorisch eingekleideten – Kritik an Fichtes früher Wissenschaftslehre in Kierkegaards Dissertation aus; er gelangt zu dem Ergebnis, dass Kierkegaards Fichte-Rezeption in erkenntnistheoretischer Hinsicht oberflächlich bleibt. Peter Wolsing stellt die Wandlungen in Kierkegaards Verhältnis zu Fichte vor dem Hintergrund seiner Hegel-Rezeption von den frühen Journalen (1835/36) über seine Dissertation (1841) und Entweder-Oder (1843) bis zum Begriff Angst (1844) in der Perspektive der praktischen Philosophie dar; er arbeitet heraus, dass sich die in Entweder-Oder II entwickelte Ethik trotz des unübersehbaren Einflusses Hegels letztlich an Fichte orientiert. Uta Eichler beschreibt die Gewichtsverlagerung im Begriff praktischer Subjektivität von ihrer transzendentalphilosophischen Fundierung bei Fichte zu Kierkegaards Interesse an konkreten Lebensformen; ein Bindeglied bildet der Begriff des Gewissens, der in Fichtes System der Sittenlehre wie auch in Kierkegaards Entweder-Oder II eine Schlüsselrolle einnimmt. Smail Rapic interpretiert das argumentativ-appellative Doppelgesicht von Kierkegaards Entweder-Oder II und Der Begriff Angst, dessen epistemologische Funktion darin besteht, den Begriff des „Existierens“ als Sich-Verhalten zu Handlungs- bzw. Lebensmöglichkeiten intersubjektiv auszuweisen, als eine Transformation des Fichteschen Theorems der Konstitution individuellen Selbstbewusstseins durch die Aufforderung zu freier Selbsttätigkeit in der Grundlage des Naturrechts und dem System der Sittenlehre. Richard Purkarthofer weist Bezüge zwischen Kierkegaard und den Junghegelianern auf und geht der Frage nach, inwieweit der Primat der Praxis, der bei ihnen gleichermaßen zu beobachten ist, Fichtesche Positionen reaktualisiert. Edith Dsing beleuchtet die Parallelen zwischen den Existenzstufen in Fichtes Anweisung zum seligen Leben und dem in Kierkegaards Abschließender unwissenschaftlicher Nachschrift wie auch in Tagebuch-Reflexionen konzipierten Dreischritt von ästhetischer, ethischer und religiöser Existenz, der als Interpretationsrahmen auf Entweder-Oder appliziert werden kann. Hartmut Rosenau betont demgegenüber die Kluft zwischen der philosophischen Religiosität in Fichtes Die Bestimmung des Menschen und der
Vorwort
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Kategorie des „Absurden“, die in Kierkegaards Furcht und Zittern ins Zentrum des Glaubens rückt. Auf dieser Linie argumentiert auch Istvn Czak mit seiner Gegenüberstellung der Offenbarungskritik Fichtes und der apophatischen Theologie in Kierkegaards Climacus-Schriften. Den Anstoß zum vorliegenden Band gab eine Arbeitstagung zu Kierkegaards Fichte-Rezeption am 4./5. November 2007 am SørenKierkegaard-Forskingscenter der Universität Kopenhagen. Sie wurde von Dr. h. c. Niels Jørgen Cappelørn, dem Direktor der Forschungszentrums, und Prof. Poul Lübcke vom Institut für Philosophie, Pädagogik und Rhetorik der Universität Kopenhagen gemeinsam organisiert. Herrn Dr. Cappelørn gilt unser herzlicher Dank nicht nur für die Organisation der Tagung, sondern auch für die Bereitstellung des Druckkostenzuschusses, der die Publikation des Bandes ermöglichte. Irene Ring, Dr. Richard Purkarthofer und Gerhard Schreiber vom Søren-Kierkegaard-Forskingscenter haben uns bei der Endredaktion engagiert unterstützt. Unser Dank gilt nicht zuletzt Herrn Dr. Albrecht Döhnert vom de Gruyter-Verlag für das Interesse, das er dem Publikationsprojekt entgegenbrachte, für die vertrauensvolle Zusammenarbeit und für seine Geduld. Halle/Köln, im September 2009
Jrgen Stolzenberg Smail Rapic
Inhalt Jrgen Stolzenberg Moralisches und religiöses Selbstbewusstsein bei Fichte und im Blick auf Søren Kierkegaard . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Jørgen Huggler Der Anfang und das Sollen. Über Kierkegaards Fichte-Deutung in ber den Begriff der Ironie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Peter Wolsing Existenz- oder moralphilosophische Begründung der Ethik. Kierkegaards Verhältnis zu Fichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
47
Uta Eichler Die Konstituierung der praktischen Subjektivität und des Guten. Kierkegaard versus Fichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
75
Smail Rapic Selbstbewusstsein und Intersubjektivität bei Fichte und Kierkegaard . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
95
Richard B. Purkarthofer Von Fichtes Ich zu Kierkegaards Selbst? Kontinuität und Bruch .
141
Edith Dsing Sittliche Bewusstwerdung und Sich-Finden des Selbst in Gott bei Fichte und Kierkegaard . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
155
Hartmut Rosenau „Dos moi pou sto …“ Fichtes und Kierkegaards Ringen um Gewissheit zwischen moralischer und religiöser Existenz . . . . . .
209
Istvn Czak Vernunft und Offenbarung. Transzendentale versus existenziale Interpretation der Offenbarung in Fichtes früher Religionsphilosophie und in den Climacus-Schriften . . . . . . . . . . . . . . . .
235
Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Moralisches und religiöses Selbstbewusstsein bei Fichte und im Blick auf Søren Kierkegaard Von Jrgen Stolzenberg Das folgende Zitat bringt den im Titel genannten Zusammenhang von moralischem und religiösem Bewusstsein bei Fichte pointiert zum Ausdruck: Erzeuge nur in Dir die pflichtmäßige Gesinnung, und Du wirst Gott erkennen.1
So schreibt Fichte in seiner Appellation an das Publikum gegen die Anklage des Atheismus aus dem Jahre 1799. Versucht man, den Zusammenhang beider Teilaussagen – die Aufforderung, die pflichtgemäße Gesinnung in sich selbst zu erzeugen und die Versicherung, Gott zu erkennen – logisch präziser zu beschreiben, dann ist es offenbar Fichtes These, dass das, was hier als ,Erkenntnis Gottes‘ gefasst wird, sich unmittelbar aus dem Bewusstsein moralischer Verbindlichkeit ergeben und daraus auch verständlich werden soll. Geht man davon aus, dass in der Erkenntnis Gottes das Wesen des religiösen Bewusstseins besteht, dann lässt sich die Fichtesche These auf die Behauptung zuspitzen, dass das religiöse Bewusstsein im moralischen Bewusstsein enthalten ist; und damit ist gesagt, dass der Begriff des religiösen Bewussseins gar nichts anderes als den Ausdruck einer im Begriff des moralischen Bewusstseins enthaltenen analytischen Implikation darstellt. Wie ist diese These zu verstehen? Fichtes Texte aus der Zeit des Atheismusstreits geben mehrere Antworten auf diese Frage. Versucht man, eine Übersicht über diese Antworten bis hin zur Bestimmung des Menschen von 1799 zu gewinnen, dann lässt sich eine zunehmende Konzentration der Analysen auf die innere Verfassung des moralischen Bewusstseins feststellen. Dem gehe ich in einem ersten Schritt nach. Als eine aus den Implikationen des Begriffs des 1
J. G. Fichte J. G. Fichte’s d. Phil. Doctors und ordentlichen Professors zu Jena Appellation an das Publikum ber die durch ein Kurf. Schs. Confiscatonsrescript ihm beigemessenen atheistischen Aeußerungen. Eine Schrift, die man erst zu lesen bittet, ehe man sie confiscirt, Jena / Leipzig / Tübingen 1799 (im Folgenden abgekürzt mit Appellation) in FAk I, 5, S. 375 – 453, hier S. 429.
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Jürgen Stolzenberg
moralischen Bewusstseins zu begründende Fortführung dieser Analysen lässt sich das neue Argument verstehen, mit dem Fichte in der Wissenschaftslehre von 1801/02 den Begriff Gottes und den des religiösen Bewusstseins als „Gefühl der Abhängigkeit[,] [und] Bedingtheit“2 einführt. Von hier aus ergeben sich systematische Anschlussmöglichkeiten an Kierkegaards Exposition des Verhältnisses von Selbst und Gott in Die Krankheit zum Tode und der Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift. Auf sie soll in einem letzten Abschnitt hingewiesen werden. Zunächst wende ich mich Fichtes Aufsatz ber den Grund unseres Glaubens an eine gçttliche Weltregierung3 zu.
I. Über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung oder: Gott als moralische Weltordnung Bereits der erste Schritt der Argumentation, die Fichte zur Begründung seiner Idee des religiösen Bewusstseins entwickelt, verdient einige Aufmerksamkeit. Sein Thema ist der Begriff der Freiheit als Autonomie. Damit stellt sich Fichte offenkundig in den Kontext von Kants Lehre von der Freiheit des sittlich-guten Willens. Dass es der Begriff der Freiheit als Autonomie ist, der Fichtes Gedankengang zugrunde liegt, ist der folgenden Erklärung zu entnehmen: Ich finde mich frei von allem Einflusse der Sinnenwelt, absolut thätig in mir selbst, und durch mich selbst; sonach, als eine über alles Sinnliche erhabene Macht. Diese Freiheit aber ist nicht unbestimmt; sie hat ihren Zweck: nur erhält sie denselben nicht von außen her, sondern sie setzt sich ihn durch sich selbst. Ich selbst und mein nothwendiger Zweck sind das Uebersinnliche. An dieser Freiheit und dieser Bestimmung derselben kann ich nicht zweifeln, ohne mich selbst aufzugeben.4
Fichtes Erklärung meint offensichtlich, dass das Subjekt in dem Sinne von allen empirischen Bedingungen bzw., wie es hier heißt, „dem Einflusse der 2 3
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J. G. Fichte Darstellung der Wissenschaftslehre aus den Jahren 1801/02 (im Folgenden abgekürzt mit WL) in FAk II, 6, S 105 – 324, hier S. 194. J. G. Fichte ber den Grund unseres Glaubens an eine gçttliche Weltregierung (im Folgenden abgekürzt mit GuG) in FAk I, 5, S. 319 – 357. Die folgenden Überlegungen greifen zurück auf J. Stolzenberg „Religionsphilosophie im Kontext der Sittenlehre. Zu Fichtes Begründung einer Theorie der Religion um 1800“ in Fichtes Entlassung. Der Atheismusstreit vor 200 Jahren, hrsg. v. K.-M. Kodalle u. M. Ohst, Würzburg: Königshausen und Neumann 2000, S. 49 – 59. J. G. Fichte GuG in FAk I, 5, S. 351.
Moralisches und religiöses Selbstbewusstsein bei Fichte
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Sinnenwelt“ frei ist, als es sich als Urheber seines Handelns in der Welt ansieht und hierbei einen Zweck zu realisieren bestrebt ist, dessen inhaltliche Bestimmtheit nicht von außen, durch den „Einfluss der Sinnenwelt“, determiniert ist. Die anschließende Aussage, dass diese Freiheit nicht unbestimmt sei, sondern ihren Zweck „durch sich selbst“ setzt, kann dann nur so verstanden werden, dass die Freiheit sich selbst zu ihrem Zweck macht, denn alle andere Bestimmtheit erhielte sie „von außen her“, was auszuschließen ist. Und nur so ist dann die dritte These zu verstehen, dass „ich selbst und mein notwendiger Zweck“ den Begriff des Übersinnlichen definieren. Ist nämlich notwendig das, dessen Gegenteil unmöglich ist und ist das Gegenteil der Freiheit der Einfluss der Sinnenwelt, dann besteht die Notwendigkeit genau darin, dass dieser Zweck die Freiheit selber und eben nicht ein empirisch bedingter Zweck ist. Die dem Ich zugeschriebene Freiheit besteht somit nicht nur darin, dass es von sich selbst aus und insofern in autonomer Weise sich seine Zwecke setzt – solche Zwecke könnten immer noch ihrem Inhalte nach „von außen her“ bestimmt sein, und es könnten somit Zwecke sein, unter denen das Ich wählt. Die Autonomie des Ich äußert sich vielmehr auf eine spezifisch selbstreflexive Weise, nämlich so, dass es die Freiheit, deren es sich unmittelbar bewusst ist, zum alleinigen Bestimmungsgrund seines Handelns und damit zum obersten Kriterium aller anderen von ihm verfolgten Zwecke macht. Da Fichte den Begriff der Freiheit stets mit dem Charakter der Vernunft verbindet und jenen von der Freiheit selbst gesetzten Zweck im vorliegenden Kontext explizit als „VernunftZweck“5 versteht, lässt sich daraus schließen, dass dieser Zweck nichts anderes als die (kantische) Form vernünftiger Allgemeinheit bzw. die logische Form universaler Gesetzlichkeit repräsentiert. Sie ist das Übersinnliche, das als ,notwendiger Zweck‘ in allen handlungsleitenden Absichten intendiert wird. Bereits an dieser Stelle liegt der Gedanke nahe, das Verhältnis, das Fichte dem Ich mit Bezug auf das Bewusstsein seiner Freiheit zuschreibt, mit Blick auf Søren Kierkegaards berühmte Bestimmung des Selbst am Beginn von Die Krankheit zum Tode als ein Verhältnis zu verstehen, das sich zu sich selbst verhält. Versteht man nämlich unter dem Verhältnis im vorliegenden Zusammenhang die Fähigkeit des Selbst, sich selber Zwecke zu setzen, dann besteht das hier thematische Selbstverhältnis eben nicht, wie deutlich geworden ist, in der Freiheit der Wahl unter von außen gegebenen Zwecken; vielmehr ist es die Funktion des Selbst, die Freiheit selber zum Zweck aller intendierten Handlungen zu machen; darin besteht seine 5
J. G. Fichte GuG in FAk I, 5, S. 353.
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Autonomie. Da das Selbst durch diese Funktion der Freiheit definiert ist, verhält das Selbst sich in diesem Verhältnis zu sich selbst. Mit Kierkegaard wäre präziser zu sagen, dass das Selbst dasjenige ist, das macht, dass das „Verhältnis […] sich zu sich selbst verhält“.6 Kierkegaards daran anschließende Disjunktion zwischen dem Verhältnis, das sich selbst gesetzt hat und demjenigen, das durch ein Anderes gesetzt ist,7 soll an dieser Stelle noch nicht weiter verfolgt werden. Zunächst ist zu klären, welche Folgerungen Fichte aus seiner Beschreibung der Freiheit des moralischen Selbst für die Konzeption des religiösen Bewusstseins gezogen hat. Das ist dem Fortgang des Raisonnements zu entnehmen. Er betrifft die handlungstheoretischen Bestimmungen jenes moralischen Selbst. Die erste Bestimmung besteht in dem Entschluss, den selbst gesetzten Zweck auch auszuführen. Dies folgt unmittelbar aus dem Begriff des moralischen Selbst. Denn da es sich im Verhalten zu seinem Zweck nur zu sich selbst verhält, kann es sich zu diesem seinen Zweck nicht so verhalten, dass sein Gegenteil möglich bzw. von ihm zugelassen wäre. Dies wäre aber dann der Fall, wenn es sich zu ihm im Modus eines bloßen Wunsches, einer Hoffnung oder eines Erwägens von Gründen für und wider das, was zu tun ist, verhielte. So ist der unbedingte Entschluss, den selbst gesetzten Zweck auszuführen, nur der Ausdruck des beschriebenen Selbstverhältnisses bzw. des darin implizierten Selbstverständnisses des moralischen Selbst.8
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S. Kierkegaard KT 13. Joachim Ringleben hat in seinem Kommentar zu Die Krankheit zum Tode auf die Nähe dieser Bestimmungen zu Fichtes Begriff des Selbstbewusstseins aufmerksam gemacht. Vgl. J. Ringleben Die Krankheit zum Tode von Sçren Kierkegaard. Erklrung und Kommentar, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1995, S. 57, vgl. auch S. 70, 76, 78, 90 u. ö.; im folgenden abgekürzt mit J. Ringleben Kommentar. „Ein solches Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, ein Selbst, muss sich entweder selbst gesetzt haben oder durch ein Anderes gesetzt sein.“ S. Kierkegaard KT 9. „Indem ich jenen mir durch mein eignes Wesen gesetzten Zweck ergreife, und ihn zu dem meines wirklichen Handelns mache, setze ich zugleich die Ausführung desselben durch wirkliches Handeln als möglich. […] Es ist hier nicht ein Wunsch, eine Hoffnung, eine Ueberlegung und Erwägung von Gründen für und wider, ein freier Entschluß, etwas anzunehmen, dessen Gegentheil man wohl auch für möglich hält. Jene Annahme ist unter Voraussetzung des Entschlusses, dem Gesetze in seinem Innern zu gehorchen, schlechthin nothwendig; sie ist unmittelbar in diesem Entschlusse enthalten, sie selbst ist dieser Entschluß.“ J. G. Fichte GuG in FAk I, 5, S. 352.
Moralisches und religiöses Selbstbewusstsein bei Fichte
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Das zweite Moment betrifft den Umstand, dass das moralische Selbst alle konkreten Handlungen als Mittel zur Realisierung dieses Zwecks verstehen und als solche wollen muss. Denn, so lautet hier die einfache, wenngleich von Fichte unterschlagene Begründung, wer den Zweck will, der muss auch die dazu erforderlichen Mittel wollen. Damit erhält die Welt der Erfahrung, in der jene Handlungen stattfinden, wie Fichte es ausdrückt, „eine völlig veränderte Ansicht“,9 es ist die Ansicht der Welt als einer „moralischen Ordnung der Dinge“,10 die unter Gesetzen der Freiheit steht.11 Diese moralische Ordnung, und dies ist der letzte und entscheidende Schritt der Argumentation, bezeichnet Fichte als „das Gçttliche, das wir annehmen“.12 So liegt der Grund unseres Glaubens an diese ,göttlich‘ genannte Weltordnung ganz in jenem Bewusstsein der Freiheit. Da Fichte diese Weltordnung wenig später mit dem Begriff Gottes identifiziert, kann schließlich gesagt werden, dass das moralische Bewusstsein durch seine Beziehung auf diese Weltordnung und in dieser Hinsicht zu einem religiösen Bewusstsein wird und insofern als eine unmittelbare Folge des moralischen Bewusstseins erscheint: „Jene lebendige und wirkende mo9 J. G. Fichte GuG in FAk I, 5, S. 353. 10 Ebd. 11 Es bedarf kaum der Erwähnung, dass Fichte auch in diesem Punkt Kant folgt, und zwar Kants Lehre von den beiden Standpunkten, unter denen der Mensch sich zum einen als moralisches Wesen als Mitglied einer reinen Verstandeswelt, die unter Gesetzen der Freiheit steht, zum anderen als Glied der Sinnenwelt, für die die Gesetze des Naturmechanismus gelten, betrachtet (vgl. I. Kant Gesammelte Schriften (im Folgenden abgekürzt mit AA), hrsg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900ff.; Bd. IV, S. 452. Vgl. auch Kants berühmte Schilderung dieser beiden Standpunkte im „Beschluß“ der Kritik der praktischen Vernunft ( I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft (im Folgenden abgekürzt mit KpV) in AA V, S. 161f.). In diesem Zusammenhang hat auch das viel zitierte und oft missverstandene Wort Fichtes seinen systematischen Ort: „Unsere Welt ist das versinnlichte Materiale unserer Pflicht; dies ist das eigentliche Reelle in den Dingen, der wahre GrundStoff aller Erscheinung.“ ( J. G. Fichte GuG in FAk I, 5, S. 353). Mit ihm ist nichts anderes als der erste der beiden Standpunkte gemeint. Auf diesen Zusammenhang nimmt Fichte am Ende der Appellationsschrift mit seiner Apotheose des sittlichen Bewusstseins, Kants Darstellung im „Beschluß“ der Kritik der praktischen Vernunft rhetorisch überbietend, Bezug. (Vgl. J. G. Fichte Appellation in FAk I, 5, S. 451) Zur Sache vgl. J. Stolzenberg „Subjektivität und Leben. Zum Verhältnis von Philosophie, Religion und Ästhetik um 1800“ in sthetische und religiçse Erfahrungen der Jahrhundertwenden. I: um 1800, hrsg. v. W. Braungart, G. Fuchs u. M. Koch, Paderborn u. a.: Schöningh 1997, S. 61 – 81. 12 J. G. Fichte GuG in FAk I, 5, S. 354.
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ralische Ordnung ist selbst Gott; wir bedürfen keines andern Gottes, und können keinen andern fassen.“13 Dieser Gott Fichtes ist gewiss nicht der Gott des Blaise Pascal, der Gott Abrahams, Isaaks und Jacobs, der zugleich der Gott Jesu Christi ist, und der, wie Pascal in seinem berühmten Memorial schreibt, nur auf den Wegen, die das Evangelium lehrt, zu finden und zu bewahren ist. Es ist aber auch nicht der „heilige und gütige Welturheber“,14 den Kant als den Gegenstand eines reinen Vernunftglaubens und als die oberste Bedingung der Realisierung des höchsten Guts in der Welt postuliert hatte. Denn als Welturheber wird er von Kant doch als eine von der Natur unterschiedene Ursache gedacht. Der Gott Fichtes ist gar nichts anderes als der Inbegriff einer moralischen Weltordnung, und es ist offenbar allein das Prädikat des Übersinnlichen und der damit verbundene Gedanke der unbedingten Gültigkeit des Gesetzes dieser Ordnung, den Fichte als Lizenz dafür ansieht, diesem Gesetz und der durch es begründeten Ordnung ein absolutes Fürsichsein und Fürsichbestehen zuzusprechen und daraus die Verwendung des Prädikats des Göttlichen zu rechtfertigen. Dass die zeitgenössische orthodoxe Theologie an einem solchen Gottesbegriff Anstoß nahm, erscheint durchaus verständlich. Es lässt sich aber noch ein anderes Argument ausmachen, das für Fichtes Verwendung des Begriffs des Göttlichen angegeben werden kann. Dieses Argument geht ebenfalls von der Gewissheit der Freiheit und der moralischen Bestimmung aus. Und es geht zweitens davon aus, dass sie Fichte zufolge die einzigen Gegenstände eines unmittelbaren Fürwahrhaltens sind. Daraus folgt, dass der mit der Gewissheit der Freiheit verbundene Gedanke von einem Übersinnlichen fr uns Sinn und Bedeutung nur im Kontext eines Lebens hat, das im Bewusstsein der Freiheit und der moralischen Bestimmung geführt wird. Daher, so ließe sich nun Fichtes Kritik aller Beweise vom Dasein Gottes der Tradition und auch noch des Kantischen moralischen Beweises vom Dasein Gottes zusammenfassen, sind diese Beweise fr uns nichts, und zwar genau deswegen, weil sie diejenige unmittelbare und zweifelsfreie Gewissheit nicht zu erreichen vermögen, die das praktisch-Unbedingte für uns repräsentiert. Dieses Unbedingte ist aber nur in uns selbst und nicht in einer von der Welt unterschiedenen Intelligenz und obersten Ursache der Natur zu finden. Daher kann der einzig sinnvolle Referent für den Begriff Gottes auch nur dieses Unbedingte in uns sein. So ist es ein subjektivitätstheoretisches Argument, aus 13 Ebd. 14 I. Kant KpV in AA V, S. 129.
Moralisches und religiöses Selbstbewusstsein bei Fichte
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dem Fichte, anders als Kant, den Schluss ziehen kann, dass mit Bezug auf die Beweise vom Dasein Gottes der Tradition, mit Kant zu reden, „alle Mühe und Arbeit verloren“15 ist. Sie ist deswegen verloren und vergebens, weil diese Beweise für unser Selbstverständnis und unser bewusstes Leben in der Welt in einem emphatisch-existenziellen Sinn bedeutungslos geworden sind. Worin die Bedeutung der Rede von Gott fr uns positiv besteht, das hat Fichte in der Bestimmung des Menschen von 179916 noch einmal und mit besonderem Nachdruck darzustellen gesucht. Dem wende ich mich nun zu.
II. Die Bestimmung des Menschen oder: Gott als reiner Wille Für den hier interessierenden Zusammenhang ist die Art und Weise entscheidend, in der Fichte nunmehr das moralische Bewusstsein beschreibt.17 Das Bewusstsein, zu einer sittlichen Handlung auf unbedingte Weise verpflichtet zu sein, stellt sich in der Sicht Fichtes im Modus eines Gefühls, des Gefhls des Gewissens, dar. Der spezifische Charakter dieses Gefühls besteht darin, dass in ihm auf eine je individuelle Weise ein unbedingtes Sollen erfahren wird. Dieses Sollen verweist nun auf einen Willen, der den gebotenen Zweck notwendig durch sich selbst zu realisieren bestrebt ist. Im Gefühl des Gewissens äußert sich daher ein reines, nur durch sich selbst bestimmtes und insofern autonom zu nennendes Wollen auf eine individuell bestimmte Weise. Daher kann Fichte von einem „erhabenen Willen“ sprechen, der das „Gesetz der übersinnlichen Welt“18 darstellt. Und es ist dann auch verständlich, dass Fichte diesen unbedingt wirkenden Willen, der „absolut durch sich selbst zugleich That ist und Produkt, dessen Wollen 15 I. Kant Kritik der reinen Vernunft, B 630. 16 J. G. Fichte Die Bestimmung des Menschen (im Folgenden abgekürzt mit BdM) in FAk I, 6, 1981, S. 145 – 311. 17 Zum Folgenden vgl. J. Stolzenberg „Subjektivität und Leben. Zum Verhältnis von Philosophie, Religion und Ästhetik um 1800“ in sthetische und religiçse Erfahrungen der Jahrhundertwenden. I: um 1800, hrsg. v. W. Braungart, G. Fuchs u. M. Koch, Paderborn u. a.: Schöningh 1997, S. 75f. Im Kontext seiner Interpretation von Entweder/Oder II hat Wilfried Greve auf Parallelen (und Differenzen) zwischen Fichtes Bestimmung des Menschen – „ein Werk, mit dem der junge Kierkegaard sich nachweislich befaßte“ – und „B’s Selbsteinschätzung“ aufmerksam gemacht. Vgl. Wilfried Greve Kierkegaards maieutische Ethik. Von „Entweder/Oder II“ zu den „Stadien“, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990, S. 126ff. 18 J. G. Fichte BdM in FAk I, 6, S. 295.
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Geschehen und dessen Gebieten Hinstellen ist“, einen „göttlichen Willen“19 nennt. Diese Theorie des moralischen Gewissens und die Annahme eines ,göttlich‘ genannten Willens stellt nicht, wie in der Forschung behauptet,20 eine neue Konzeption gegenüber der zuerst entwickelten dar. Sie ist nur das Resultat einer neuerlichen Analyse jener sittlichen Überzeugung, von der Fichte in den Schriften zum Atheismusstreit ausgegangen war. Um dies zeigen zu können, ist es hilfreich, einen Blick auf diejenige Konzeption zu werfen, die Fichte in den ungedruckten Rckerinnerungen, Antworten, Fragen entwickelt hat. Sie bietet gleichsam die Brücke zur Theorie der Bestimmung des Menschen. Dort beschreibt Fichte, ebenfalls im Ausgang vom moralischen Bewusstsein, das Spezifische des religiösen Bewusstseins als den Ausdruck der „absolute[n] Gewissheit und [der] Ueberzeugung“, dass mit der Realisierung des sittlich bestimmten Willens zugleich der „Zweck der Vernunft auch ausser unserem Willen“21 befördert werde. Der hier genannte Zweck der Vernunft ist offenbar nichts anderes als das Prinzip der moralischen Weltordnung, von dem zuvor als einem Implikat des moralischen Bewusstseins die Rede war. Der Gehalt der Überzeugung, die im moralischen Bewusstsein enthalten ist, lässt sich daher genauer so beschreiben, dass das, was jeweils aus Pflicht getan wird, zugleich einen Zweck repräsentiert, der unabhängig davon, dass und wie auf eine individuell bestimmte Weise gehandelt wird – „ausser unserem Willen“ – schlechthin gültig ist und durch das je bestimmte Wollen und Handeln (nur) realisiert wird. Aufgrund der Invarianz und Unabhängigkeit der Gültigkeit dieses Zwecks von jedem individuellen Wollen wird er als etwas absolut für sich Bestehendes gesetzt, und dies geschieht, so Fichte, mit derselben Gewissheit und Überzeugung, wie an die Stimme des Gewissens geglaubt wird.22 19 Ebd. S. 291f. 20 Vgl. E. Düsing „Sittliches Streben und religiöse Vereinigung. Untersuchungen zu Fichtes später Religionsphilosophie“ in Religionsphilosophie und spekulative Theologie. Der Streit um die gçttlichen Dinge (1799 – 1812), hrsg. v. W. Jaeschke, Hamburg: Meiner 1994, S. 98 – 128, hier S. 99. 21 J. G. Fichte Rckerinnerungen, Antworten, Fragen (im Folgenden abgekürzt mit Rckerinnerungen) in FAk II, 5, S. 97 – 186, hier S. 153. 22 Das von Fichte sogenannte „Resultat“ der entsprechenden Argumentation in den Rckerinnerungen, Antworten, Fragen lautet: „Die absolute Gewissheit und Ueberzeugung – (nicht blosse Meinung, Dafürhalten, Wünschen) – von der Möglichkeit, – nicht sich selbst d. i. seinen Willen, durch den Begriff der Pflicht zu bestimmen, denn dies erkennen wir als möglich dadurch, dass wir es wirklich thun,
Moralisches und religiöses Selbstbewusstsein bei Fichte
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Damit ist der Schritt, der den Übergang zur Konzeption der Bestimmung des Menschen vorbereitet, erreicht. Er besteht darin, den ontologischen Status der Realisierung dieses absolut gesetzten Zwecks begrifflich zu fixieren. Da dieser Status als ein durch sich selbst begründetes Tätigsein zu beschreiben ist, führt Fichte die Begriffe eines „nothwendig anzunehmende[n] Schaffens, Erhaltens, Regierens“23 ein, die sodann im Begriff Gottes vereinigt gedacht werden: „Gott ist nichts, als das nothwendig anzunehmende Schaffen, Erhalten, Regieren selbst.“24 In der Bestimmung des Menschen findet sich hierfür und in derselben Funktion der Begriff eines reinen, durch sich selbst bestimmten und insofern unendlichen Willens, der als Prinzip einer durch sich selbst tätigen Vernunft bezeichnet wird.25 Mit dieser Konzeption findet der eingangs zitierte Imperativ „Erzeuge nur in Dir die pflichtmäßige Gesinnung, und Du wirst Gott erkennen“ eine systematisch avancierte Interpretation. Sie lässt sich in der These zusammenfassen, dass es das im moralischen Bewusstsein enthaltene Moment der unbedingten Gültigkeit oder der bloßen Form der Gesetzlichkeit des Gesollten ist, das die Gewissheit begründet, auf ein absolut tätiges Prinzip, jenen reinen, unendlichen Willen, bezogen zu sein, das unabhängig von allem individuell bestimmten Wollen und Handeln für sich besteht, und das durch jedes bestimmte moralische Handeln in concreto realisiert wird. Das heißt, Gott erkennen. So lassen sich in Fichtes Schriften aus der Zeit des Atheismusstreits drei Stufen der Explikation einer Theorie des religiösen Bewusstseins im Kontext einer Theorie des moralischen Bewusstseins unterscheiden. Während zunächst nur der Gedanke einer unbedingt gültigen moralischen Ordnung mit dem Prädikat des Göttlichen belegt wurde, ist es sodann die Reflexion auf ein dieser Ordnung zugrunde liegendes, absolut tätiges Prinzip, dessen Gültigkeit allen konkreten Handlungen gegenüber invariant ist, das unter dem Begriff Gottes gefasst wird, der schließlich als absoluter, unendlicher Wille bezeichnet wird. Entscheidend ist, dass in allen Fällen die Annahme der Existenz jenes Übersinnlichen die Folge des im moralischen Bewusstsein enthaltenen Bewusstseins der absoluten Gültigkeit des Gesollten ist. – sondern durch diese pflichtmässige Bestimmung unseres Willens den Zweck der Vernunft auch außer unserem Willen zu befördern, ist das Unmittelbare der Religion und ist auf die angeführte Weise im Gemüthe des Menschen begründet.“ J. G. Fichte Rckerinnerungen in FAk II, 5, S. 153, vgl. auch S. 160. 23 J. G. Fichte Rckerinnerungen in FAk II, 5, S. 176. 24 Ebd. S. 176. 25 Vgl. J. G. Fichte BdM in FAk I, 6, S. 284f.
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Im Blick auf das eben Gesagte lässt sich die Theorie des Willens in der Bestimmung des Menschen aber auch als Fichtes Auskunft darüber verstehen, was es für ein bewusstes Wesen bedeutet, die Vorstellung von etwas Unbedingtem – oder, folgt man dem eingangs vorgestellten Zitat, vom „Übersinnlichen“ –, zu haben. Es bedeutet, sich zu einer Handlung auf unbedingte Weise verpflichtet zu fühlen. Und dies bedeutet, ein Bewusstsein von der Wirklichkeit eines Prinzips zu haben, das allen individuell bestimmten Handlungen zugrunde liegt, das der letzte Grund bewussten Lebens in der Welt ist und das im Vollzug eines sittlich bestimmten Lebens realisiert wird. Die Einsicht in die so verfasste sittliche Natur und Bestimmung des Menschen ist für Fichte, so ließe sich sagen, der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes. Dies kann Fichtes früher Beitrag zu einer Philosophie der Religion unter den Bedingungen der Moderne genannt werden.
III. Die Wissenschaftslehre von 1801/02 oder: Absolutes Wissen und Sein Mit dem bisher Ausgeführten ist der systematische Gehalt des Fichteschen Gedankens noch nicht erschöpft. Es sind insbesondere zwei Punkte, die hervorzuheben sind. Bereits in seiner Sittenlehre von 1798 hat Fichte den Nachweis unternommen, dass der Gedanke einer allgemeinen Gesetzlichkeit, den das Subjekt des moralischen Bewusstseins fasst und für sein Handeln als schlechthin verbindlich anerkennt, nur die Art und Weise darstellt, in der der Gedanke der Freiheit in die Form eines realen Objekts des Bewusstseins gebracht und zum letzten Zweck allen Handelns gemacht wird. Fichtes These ist es daher, dass der Gedanke der Freiheit und der Gedanke einer universalen Gesetzlichkeit gar nicht ihrem Inhalte nach, sondern nur in der Art und Weise unterschieden sind, in der sie dem Subjekt des sittlichen Bewusstseins gegeben sind, nämlich als Begriff und als dessen Instantiierung in der Form eines unbedingten Gesetzes. „Es sind“, so Fichte, „nicht zwei Gedanken […], sondern es ist Ein und ebenderselbe Gedanke“.26 Man kann diese These dann verstehen, wenn man sich klar macht, dass im Gedanken von der Form eines Gesetzes der Gedanke der Invarianz und der Unabhängigkeit des Bestehens von etwas von bloß subjektiven, zu26 J. G. Fichte Das System der Sittenlehre (im Folgenden abgekürzt mit SSL) in FAk I, 5, S. 1 – 317, hier S. 64f.
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fälligen und insofern auch empirisch bedingten Hinsichten auf es enthalten ist. Genau dieser Charakter gilt für den Begriff eines Objekts des Bewusstseins im strengen Sinn, das heißt eines Objekts, das nicht nur ein intentionales Korrelat des Bewusstseins ist, sondern das von der bewussten Beziehung auf es als unabhngig bestehend vermeint wird. „Das Wesen der Objektivität“, so notiert Fichte in eben diesem Sinn, „ist ein absolutes, unveränderliches Bestehen“.27 Wird nun ,Freiheit‘ als ein Objekt des Bewusstseins in diesem strengen Sinne gedacht, dann wird ihr die logische Form eines absoluten, unveränderlichen Bestehens zugeschrieben, und das heißt, der Bestimmung der Freiheit wird die Form eines Gesetzes zugeschrieben, die freilich die Form eines praktischen Gesetzes ist. Dieses Gesetz besagt, dass Freiheit um ihrer selbst willen, und nicht im Sinne einer Freiheit der Wahl unter gegebenen Gegenständen, wirklich werden soll. Dieser Sachverhalt lässt sich Fichte zufolge in einer populäreren Version so formulieren, dass wir uns schlechthin nach dem Begriffe der absoluten Selbsttätigkeit bestimmen sollen und dass wir nur das realisieren sollen, zu dem wir uns nach Maßgabe dieser absoluten Selbsttätigkeit, in der sich nichts anderes als das Wesen unserer Vernunftnatur ausdrückt, bestimmen. In dieser Funktion ist die Freiheit sich selbst Gesetz.28 Die Bemerkung, dass der systematische Gehalt des Fichteschen Gedankens mit dem bisher Ausgeführten noch nicht erschöpft sei, bezieht sich auf eben diesen Sachverhalt. Der im vorliegenden Zusammenhang wichtigste und systematisch gehaltvollste Punkt besteht darin, dass Fichte dieses praktische Selbstverhältnis zur Grundlage dessen gemacht hat, was er ein Jahr nach der Bestimmung des Menschen in der Darstellung der Wissenschaftslehre aus den Jahren 1801/02 als absolutes Wissen bezeichnet hat.29 Das Argument, das diesem auf den ersten Blick überraschend erscheinenden Schritt zugrundeliegt, bezieht seine Überzeugungskraft zum einen daraus, dass im moralisch-praktischen Selbstbewusstsein ein Bezug auf empirische Bestimmungen nicht vorgesehen ist; daher ist es ein mit empirischen Bestimmungen nicht ,vermischtes‘ und insofern reines praktisches Selbstbewusstsein zu nennen; zum anderen daraus, dass, wie gezeigt, mit dem Vollzug dieses Selbstbewusstseins der Gedanke der bloßen Form von 27 J. G. Fichte SSL in FAk I, 5, S. 61. 28 Zur Bedeutung der Analyse des moralischen Selbstbewusstseins im System der Sittenlehre für Fichtes Religionsphilosophie vgl. die ausführliche Erörterung von F. Wittekind „Religiosität als Bewußtseinsform“ in Fichtes Entlassung. Der Atheismusstreit vor 200 Jahren, hrsg. v. K.-M. Kodalle u. M. Ohst, Würzburg: Königshausen und Neumann 2000, S. 127ff. 29 J. G. Fichte WL in FAk II, 6, S. 144ff.
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Gesetzlichkeit zur Darstellung gebracht wird, und das heißt, als ein reales Objekt des Bewusstseins erscheint. Nun fasst Fichte die Realisierung der invarianten Grundform des Wissens von etwas, die jedem spezifisch bestimmten Wissen von etwas zugrundeliegt, ihrerseits als das Resultat einer spontanen, durch sich selbst bestimmten Ttigkeit auf. Das Argument hierfür lautet, dass der Status des Bewusstseins von Objektivität und Gesetzlichkeit nicht aus Erfahrungsdaten abgeleitet werden kann und insofern nicht gegeben, sondern ursprünglich erzeugt sein muss. Daher kann gesagt werden, dass jenes reine moralisch-praktische Selbstbewusstsein gar nichts anderes als die ursprüngliche Realisierung der invarianten Grundform des Wissens von etwas im Sinne des Bewusstseins der Form von Objektivität und Gesetzlichkeit überhaupt repräsentiert. Und deswegen kann jenes reine moralisch-praktische Selbstbewusstsein selber als Instanz eines „absoluten Wissens“ bzw. einer absoluten Gewissheit im Sinne einer invarianten Grundform allen bestimmten Wissens bezeichnet werden kann. Hierbei sind alle bestimmten Gehalte, mit Bezug auf die man etwas weiß, gleichsam in Epoché gesetzt. Das heißt, dass sie nicht negiert, sondern nur aus methodischen Gründen zum Zwecke der Analyse aus- bzw. eingeklammert sind. Und das heißt auch, dass jene Grundform von Wissen, in der der Gedanke der Form einer universalen Gesetzlichkeit impliziert ist, nicht isoliert zu haben ist, sondern sich stets in Verbindung mit bestimmten Gehalten, von denen zum Zwecke der Analyse nur abstrahiert ist, realisiert. Nimmt man von hieraus die frühe Wissenschaftslehre Fichtes in den Blick, dann lässt sich sagen, dass es nicht das absolute Ich der frühen Wissenschaftslehre ist, das an der Wiege des Fichteschen Konzepts eines solchen absoluten Wissens stand. Es ist vielmehr die Grundstruktur des moralisch-praktischen Selbstbewusstseins, aus dem sich das Konzept eines absoluten Wissens begreiflich machen lässt. Das, woraus es sich begreiflich machen lässt, ist, um es noch einmal zusammenzufassen, die Tatsache, dass die logische Verfassung jenes moralisch-praktischen Selbstbewusstseins in der Sicht Fichtes die allgemeine Form der Konstitution von Objektivität im Sinne der Form universaler Gesetzlichkeit darstellt. Daher kann Fichte in der Wissenschaftslehre von 1801 denn auch von der „moralische[n] Urquelle aller Wahrheit“30 sprechen. Damit verbindet sich eine weitere und folgenreiche Einsicht. Es ist eine bekannte und anerkannte These, dass der Beginn der Spätphilosophie 30 J. G. Fichte WL in FAk II, 6, S. 202. Vgl. hierzu J. Stolzenberg „La source morale de la vérité“ in Fichte. La philosophie pratique. Publications de l’Université de Provence, Collection Episteme, hrsg. v. M. Marcuzzi, Aix-en-Provence 2008, S. 63 – 79.
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Fichtes mit der Ausarbeitung der Einsicht zu datieren ist, dass die Grundform des Wissens nicht selbstgenügsam, sondern auf die Position eines absoluten Seins bezogen ist, das sein Grund ist. Diesen Grund hat Fichte nunmehr mit dem Prädikat des Göttlichen ausgezeichnet. Meine These ist es, dass auch in dieser Hinsicht und in dieser Wendung der Philosophie Fichtes das Implikationsverhältnis des moralischen und religiösen Bewusstseins das Modell ist, das dem Verhältnis von absoluten Wissen und einem nunmehr ,Gott‘ genannten absoluten Sein zugrunde liegt und aus ihm begriffen werden kann. Für die Verständigung über die Logik dieses Verhältnisses ist es wichtig zu sehen, dass Fichte das Argument, das in der Wissenschaftslehre von 1801/ 02 den Übergang zu jener Position des Seins begründet, aus einer genaueren Analyse desjenigen Sachverhalts gewinnt, der für das reine moralisch-praktische Selbstbewusstsein konstitutiv ist, der Konstitution der Grundform von Gesetzlichkeit.31 Diese Analyse stellt sich nun näher als der Aufweis und die Überwindung eines begriffslogischen Dilemmas dar, das im Begriff der Grundform von Gesetzlichkeit, genauer, dem Verhältnis von Freiheit und Gesetztlichkeit im Wissen, enthalten ist. Dieses Dilemma besteht darin, dass die Konstitution von Objektivität bzw. der Form von Gesetzlichkeit auf etwas unabhängig für sich Bestehendes bezogen ist – auf etwas Reales, wie man auch sagen könnte –, in dem, wie zu sehen war, doch nur der Gedanke der Freiheit im Sinne einer absoluten Selbsttätigkeit instantiiert ist. Soll nun die Beziehung des Wissens auf diese Instantiierung der Freiheit als Beziehung auf ein invariant für sich bestehendes bzw. zu realisierendes Objekt gedacht werden können – das war ja der Sinn der Rede, dass die Freiheit sich selbst Gesetz ist –, und soll diese Beziehung als eine Beziehung eingesehen werden können, in der das Wissen sich nur auf sich bezieht und darin nur seinen wesentlichen Charakter realisiert und darstellt, dann müsste diese Position doch als ein Relat innerhalb der von diesem Wissen konstituierten und für seinen Bestand auch notwendigen Relation gedacht werden können. Mit dieser Forderung aber würde der Status der Selbständigkeit und Unabhängigkeit, der im Begriff der Form von Gesetzlichkeit zu denken ist und die eine Unabhängigkeit von allen es bedingenden Funktionen meinen muss, aufgehoben. Wird aber die Selbständigkeit und Unabhängigkeit dieser Position aufgehoben, dann wird die Grundform von Gesetzlichkeit aufgehoben, und dann wird auch 31 Zum Folgenden vgl. J. Stolzenberg „Zum Theorem der Selbstvernichtung des absoluten Wissens in Fichtes Wissenschaftslehre von 1801“ in Die Sptphilosophie Fichtes. Fichte-Studien, Amsterdam-Atlanta: Rodopi 2000; Bd. 17, S. 127 – 140.
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der Begriff eines absoluten Wissens bzw. sein Modell, das moralischpraktische Selbstbewusstsein, aufgehoben. Die Überwindung dieses Dilemmas gelingt Fichte mit dem folgenden Argument. Ich möchte es das Argument fr die Voraussetzung eines absoluten Seins nennen. Fichtes scheinbar paradoxe Strategie besteht nämlich darin, dass der fragliche Charakter der Absolutheit genau dadurch affirmiert wird, dass er durch das Wissen explizit als ein solcher gesetzt wird. Was das heißt, lässt sich wie folgt erklären. Es heißt, dass er explizit als eine von allen bedingenden Relationen und Funktionen von Wissen und Bewusstsein unabhängige Qualität gesetzt wird; das geschieht dadurch, dass er allen Funktionen des Wissens absolut vorausgesetzt wird. Auf diese Weise setzt das Wissen die Form der Gesetzlichkeit als etwas von seinem Erzeugtsein Unterschiedenes und unabhängig für sich Bestehendes, und insofern als etwas, dem der Status der Realitt zugesprochen werden kann. Wie dies im Blick auf die innere Verfassung des Wissens genauer zu verstehen ist, hat Fichte mit der Formulierung zu erläutern gesucht, dass die „Form des Wissens“ – damit ist der Charakter der Freiheit gemeint –, „durch ihre Materie“ – das ist die Gesetzlichkeit –, vernichtet wird, und zwar genau dann, wenn auf dieses Moment von seiten des Wissens reflektiert wird und als sein Erzeugnis und insofern als Relat einer Relation beschrieben werden soll. Die Unausweichlichkeit dieser Reflexion folgt aus dem Begriff des absoluten Wissens, das sozusagen keine dunkle und ihm nicht zugehörige bzw. von ihm nicht beherrschte Stelle in seinem Reich dulden kann, und sich daher gerade den Status absoluter Gesetzlichkeit als seinen eigenen, ihm wesentlich zukommenden und von ihm selber erzeugten Charakter verständlich machen muss. Im Zuge dieser eben beschriebenen Reflexion, der Vernichtung der ,Form‘ des Wissens durch seine ,Materie‘, und dies ist ein weiterer entscheidender, scheinbar paradoxer Punkt, wird nun ein logischer Zustand gesetzt, der als Aufhebung der für die Form des Wissens definierenden freien Tätigkeit zu beschreiben ist, und daher auch als Aufhebung des Charakters der Gesetzlichkeit, Produkt und insofern Relat eben dieser Tätigkeit zu sein. Diese Position und ihren Status beschreibt Fichte daher als das „absolut Eine […], sich selbst gleiche, unveränderliche, ewige, unaustilgbare – Seyn schlechthin“.32 Fichtes Argument für die Voraussetzung eines solchen absoluten Seins lässt sich daher genauer als Argument fr die Selbstvernichtung des absoluten Wissens an der Form der Gesetzlichkeit bezeichnen. Die systematische Pointe dieses Arguments lässt sich als 32 J. G. Fichte WL in FAk II, 6, S. 193.
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Ausdruck des Sachverhalts verstehen, dass die Grundform des Wissens ebenso wie sein Modell, das reine moralisch-praktische Selbstbewusstsein, keine fugenlose logische Selbstvermittlung ihrer Momente darstellt. Es zeigt sich vielmehr, dass die Form der Gesetzlichkeit – wie Fichte es ausgedrückt hat – der nicht zu vermittelnde „absolute Hiatus im Wissen“33 ist. Das zeigt das Argument der Selbstvernichtung des absoluten Wissens an der Form der Gesetzlichkeit. Es bedarf mit Blick auf die Paradoxie, die im Begriff der Selbstvernichtung enthalten ist, jedoch noch einer Präzisierung, um nicht missverstanden zu werden. Selbstvernichtung bedeutet nicht Selbstzerstörung. Es bedeutet nur eine neue und genauere Beschreibung des Einheitssinnes sowie des epistemischen Status der Grundform des Wissens. Das Resultat des vorstehenden Analyseschrittes besteht nämlich darin, dass die Grundform des Wissens nunmehr als untrennbare Einheit zweier Reflexionsakte zu beschreiben ist, und zwar derjenigen Reflexion, in der das Wissen seinen Charakter der Freiheit und Selbsttätigkeit realisiert und derjenigen, in der es den darin implizierten Charakter der Gesetzlichkeit als etwas im und durch den freien Vollzug des Wissens Realisiertes zu begreifen sucht. Der Versuch, die Einheit beider Akte unter der logischen Bedingung des Wissens darzustellen, scheitert, genauer gesagt, er führt zu der Einsicht, dass das Selbstverhältnis, das das absolute Wissen definiert, als ein solches Verhältnis darzustellen ist, das auf eine absolute Voraussetzung verweist, und dass es angemessen gar nicht im Wissen und unter seinen Bedingungen konstruiert werden kann. Diese Einsicht kommt in Fichtes Wahl der Metapher eines Schwebens des absoluten Wissens zwischen seinem Sein und Nichtsein34 zum Ausdruck. Der phänomenologische Gehalt dieses Einheitssinnes findet sich sodann als Gefhl und genauer als „Gefühl der Abhängigkeit, [der] Bedingtheit“35 bzw. als „Gefhl der Gebundenheit“36 beschrieben.
33 Ebd. S. 171. 34 „Der Mittel= und WendePunkt des absoluten Wissens ist ein Schweben zwischen Seyn und Nichtseyn des Wissens.“ J. G. Fichte WL in FAk II, 6, S. 183. 35 J. G. Fichte WL in FAk II, 6, S. 194. 36 Ebd. S. 197. Auf die Nähe dieser Bestimmung Fichtes zu Schleiermachers Konzept eines schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls und dessen Verhältnis zu Kierkegaards Existenzbegriffs kann hier nicht eingegangen werden. Vgl. hierzu die jüngst von Andreas Krichbaum vorgelegte Untersuchung Kierkegaard und Schleiermacher. Eine historisch-systematische Studie zum Religionsbegriff, Berlin / New York: Walter de Gruyter 2008, S. 223ff. u. 248ff.
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Wollte man den systematischen Ertrag der Fichteschen Argumentation zusammenfassend würdigen, dann wäre das Folgende zu sagen: Das absolute Wissen – und dasselbe gilt für sein Modell, das reine moralischpraktische Selbst –, kann den Grund seines absoluten Seins und für sich Bestehens nicht aus sich selbst erzeugen. Dieser ist vielmehr etwas, das ihm absolut vorausgesetzt ist. Die Begründung dieser Einsicht erfolgt im Gang der Analyse, die das absolute Wissen mit Bezug auf sich selbst durchführt. Sie führt zu dem Ergebnis und der Erkenntnis, dass es darin die Grenze seiner Selbstaufklärung und Erklärungskraft erfährt. Die Erfahrung, die das absolute Wissen im Gang dieser Analyse macht, kann daher als die Erfahrung beschrieben werden, dass es sich als Wissen hinsichtlich seines eigenen absoluten Bestehens gar nicht erreicht und durchdringt. Das positive Komplement dieser Erfahrung besteht darin, dass es einsieht, dass es dann und nur dann ganz bei sich ist, wenn es sich im Modus jenes Schwebens zwischen seinem Sein und seinem Nichtsein auf sich bezieht. Dieser Form des Selbstverhältnisses entspricht das „Gefühl der Gewißheit“.37 Das absolute Wissen, so ließe sich daher sagen, hebt sich selbst auf, um zum Gefühl, das ein „Gefühl absoluter Abhängigkeit und Gebundenheit“ ist, Platz zu bekommen. Während Fichtes jenes absolut vorausgesetzte Sein als „Gott“ bezeichnet, erscheint ihm das Gefühl der Abhängigkeit und Gebundenheit als Anzeige „moralischer Freiheit“.38 Damit bestätigt sich noch einmal die Kontinuität der Grundoption Fichtes zum Zusammenhang von moralischem und religiösem Bewusstsein.
IV. Fichte und Kierkegaard Wendet man sich am Schluss noch einmal dem Beginn von Kierkegaards Krankheit zum Tode zu, dann lässt sich mit Bezug auf die zuletzt vorgeführte Analyse aus der Perspektive Fichtes wohl sagen, dass das Selbst ein Verhältnis darstellt, „das sich zu sich selbst verhält und, indem es sich zu sich selbst verhält, zu einem Andern sich verhält.“39 Denn genau dadurch, dass das Selbst sein Verhältnis, in dem es sich wissend zu sich selbst verhält, vollständig zu begreifen sucht, verhält es sich, wie gezeigt, zu einem von ihm als 37 J. G. Fichte WL in FAk II, 6, S. 197. 38 „Es ist die moralische Freiheit […] Erschaffung, die sich eben als absolute Erschaffung aus Nichts unmittelbar erfaßt.“ J. G. Fichte WL in FAk II, 6, S. 197. 39 S. Kierkegaard KT 9.
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Wissen unterschiedenen Anderen, das Fichte „absolutes Seyn“40 bzw. „das absolut Eine […] sich selbst gleiche, unveränderliche, ewige, unaustilgbare – Seyn schlechthin, Gott“41 nennt. Von Verzweiflung, dem Thema Kierkegaards, ist in Fichtes Analysen freilich keine Rede. Und so scheint auch ein über die aufgezeigte Parallele hinausgehender systematisch relevanter und beiderseits erhellender Zusammenhang zwischen Fichtes und Kierkegaards Konzeption des Selbst kaum sinnvoll herstellbar. Sieht man indessen genauer zu, liegen die Dinge anders. Zwar ist bei Fichte nicht von Verzweiflung, wohl aber vom Zweifel, der zu überwinden ist, die Rede. Er ist, so führt Fichte aus, „kein für sich bestehender, auf sich selbst ruhender Zustand, der sein eigner Zwek sey, sondern er ist nur der Uebergang von dem subjektiven Zustand der dunklen, schwankenden Einsicht, dem sich in sich selbst vernichtenden, und auflösenden Denken = Nichtdenken, zum klaren, auf sich selbst ruhenden Denken“.42 Die Auflösung des Zweifels besteht Fichte zufolge in der Gewissheit, etwas zu wissen oder nicht zu wissen. Wendet man diese Erklärung auf das absolute Wissen an, dann besteht die Auflösung und das Ende des Zweifels über dessen Struktur in der Gewissheit, dass der letzte Grund des absoluten Wissens nicht zu einem Objekt des Wissens gemacht werden kann und als das Andere des Wissens, eben als „reines, absolutes Seyn“ vorausgesetzt werden muss. Daraus lässt sich nun ein Argument für eine an Kierkegaard orientierte Lesart dieses Verhältnisses gewinnen. Die Verzweiflung, von der Kierkegaard spricht, hat ihr formales Pendant in dem von Fichte betonten Umstand, dass die Freiheit genau dann, wenn sie nicht aus und in der Beziehung auf das sie fundierende Prinzip begriffen wird, „ins unbestimmte Separable aufgelöst und [in sich] zerfliessend“43 erscheint. Denselben Sachverhalt drückt die Fichtesche Formulierung aus, dass die Freiheit ohne eine solche Reflexion „leer, u. Nichts [wäre], sie fiele durch sich selbst hindurch“.44 Das heißt zum einen, dass die Freiheit ohne diese Reflexion gar nicht als verbindliches Gesetz des Handelns erkannt und anerkannt wird, und daher, so ist zu ergänzen, immer noch von externen Gegenständen, unter denen beliebig gewählt werden kann, abhängig 40 41 42 43 44
J. G. Fichte WL in FAk II, 6, S. 202. Ebd. S. 193. J. G. Fichte WL in FAk II, 6, S. 207. Ebd. S. 177. Ebd. S. 166.
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wäre; deswegen erscheint sie von sich aus „leer“ und ins „unbestimmte Separable aufgelöst“. Es heißt zum anderen, dass das Selbst, das sich als autonom versteht, das aber den entscheidenden Schritt der Selbstreflexion, der es zur Einsicht in sein Verhältnis zu einem absoluten Grund führt, nicht vollzieht, dass ein solches Selbst sich zu sich gar nicht als Selbst verhält, und das heißt, als ein Verhältnis, das sich zu sich selbst und eben darin zu jenem absoluten Sein verhält. Deswegen verfehlt es sich als Selbst. Darin besteht in der Sicht Kierkegaards die Verzweiflung des Selbst. Es ist ein Verhältnis des Selbst, das von der Absicht angetrieben wird, dass man „verzweifelt man selbst sein will“,45 und das sich dabei – vergeblich – aus sich selbst heraus, „aus eigenem Vermögen und allein aus eigenem Vermögen“46 zu begründen sucht. Von hier aus lässt sich der Formel Kierkegaards, „daß man verzweifelt man selbst sein will“, ein Sinn geben, der die Konzeptionen Fichtes und Kierkegaards gleichermaßen erhellen kann. Wer verzweifelt man selbst sein will, der ist, mit einer Formulierung Fichtes, noch nicht über das, was es heißt, ein Selbst zu sein, „ins Reine“ gekommen: Er hat nicht begriffen, dass die Freiheit, die er meint und die er als die wesentliche Bestimmung seiner selbst als eines autonomen Selbst anerkennt, sich einem absoluten Grund verdankt, der gerade nicht – ,aus eigenem Vermögen’ – zum Gegenstand des Wissens gemacht werden kann, sondern ihm absolut vorausgesetzt ist. Aus der Perspektive Kierkegaard ließe sich hierzu sagen, dass der Zweifel über die Verfassung des Selbst in Gestalt der Verzweiflung zur Lebensform wird. Derjenige, der mit sich ins Reine gekommen ist, versteht sich hingegen als ein Selbst, so ließe sich ebenfalls mit Kierkegaard sagen, das, „indem es es selbst sein will, […] sich […] durchsichtig in der Macht [gründet], welche es gesetzt hat“:47 dies sei nämlich, so fährt Kierkegaard fort, „die Formel, welche den Zustand des Selbst beschreibt, wenn die Verzweiflung ganz und gar ausgetilgt ist“.48 Eine solche Durchsichtigkeit ist in der Sicht Fichtes allerdings nur im Modus eines Gefühls präsent, und dieses Gefühl ist ein „Gefühl der Abhängigkeit[,] [und] Bedingtheit“; und nur im Modus eines solchen Gefühls, und nicht im Wissen, sondern vielmehr in der Selbstvernichtung des Wissens kommt das
45 46 47 48
S. Kierkegaard KT 9. Ebd. S. Kierkegaard KT 10. Ebd.
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Selbst dazu, wie Kierkegaard es ausdrückt, „zu Gleichgewicht und Ruhe [zu] gelangen“.49 Versucht man nun, die Analysen Fichtes aus der Perspektive Kierkegaards zu würdigen, dann lässt sich sagen, dass sie wesentliche Momente mit derjenigen Konzeption teilen, die Kierkegaard als Zusammenhang des moralischen und religiösen Bewusstseins darstellt und in der Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift zu den philosophischen Brocken unter dem Kurztitel Religiositt A zusammengefasst hat.50 Gemeint ist ein sich-Verhalten des Individuums, das das Prinzip der Selbstbestimmung und den Gedanken einer unbedingten Gesetzlichkeit durchgängig für sich als verbindlich anerkennt. Damit tritt es zu seinen naturwüchsigen Bedürfnissen, Absichten und Neigungen in Distanz und unterstellt sie einem unbedingten ethischen Sollen. Indem es dies tut, verhält es sich zu einer Dimension des Unbedingten, deren Gültigkeit unabhängig von empirischen Bedingungen besteht und insofern durch das Prädikat der Unendlichkeit bzw. Ewigkeit beschrieben werden kann. Da die Lebensform, die unter diesem Prinzip gewählt wird, sich allen naturwüchsigen Bedürfnissen, die mit der Endlichkeit der menschlichen Existenz verbunden sind, entgegensetzt, bezeichnet Kierkegaard das sie leitende Prinzip als „ewige Seligkeit“, in der das „absolute Gut“51 besteht. Der Bezug zu dem berühmten „Beschluß“ von Kants Kritik der praktischen Vernunft, in dem von dem „unsichtbaren Selbst“ als der ethischen „Persönlichkeit“ die Rede ist, die einer Welt angehört, die „wahre Unendlichkeit“52 hat, liegt auf der Hand. Für den vorliegenden Zusammenhang ist es entscheidend zu sehen, dass Fichte diesen Gedanken am Ende der Bestimmung des Menschen aufgenommen und unter der Leitung des Prinzips eines absoluten Willens zur Grundlage seiner Theorie des moralisch-religiösen Bewusstseins gemacht hat.53 Hier ist nicht nur in einer offenkundigen sachlichen Nähe zu Kierkegaard von dem „Entschluss des Willens“54 und dem „Glauben“55 die Rede, es ist der Sache nach auch das 49 Ebd. S. 9, vgl. auch S. 14. Auf die Nähe von Fichtes diesbezüglichen Beschreibungen des Verhältnisses zum absoluten Sein in der Darstellung der Wissenschaftslehre von 1801/02 zu Kierkegaards Formulierung hat noch einmal J. Ringleben aufmerksam gemacht; vgl. J. Ringleben Kommentar, S. 90, Anm. 90 sowie die dort gegebenen Verweise auf die Interpretationen von E. Hirsch und U. Barth. 50 S. Kierkegaard UN II, S. 266ff. 51 S. Kierkegaard UN II, S. 92. 52 I. Kant Kp V in AA V, S. 162. 53 Vgl. J. G. Fichte BdM in FAk I, 6, S. 296ff., S. 305ff. 54 S. Kierkegaard UN II, S. 254.
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thematisch, was Kierkegaard „existentielles Pathos“ nennt. Das bedeutet, „daß diese Vorstellung“ – Kierkegaard nennt sie das „absolute Ziel (Telos)“56 – „den Existierenden in seiner ganzen Existenz umbildet“.57 Davon ist in Fichtes Kontext der Sache nach am Beginn des dritten und letzten Teils der Bestimmung des Menschen, im Übergang vom „Wissen“ zum „Glauben“, die Rede.58 Darüber hinaus ist damit nicht nur das Selbstverständnis Fichtes als Philosoph charakterisiert, sondern auch die Überzeugung Fichtes, dass damit gar nichts anderes als die wahre Natur des Menschen zum Ausdruck gebracht wird. Mit der fichteschen Idee eines unbedingten Willens stimmt auch Kierkegaards Erklärung zusammen, dass das „absolute Telos“ das „Wollen im höchsten Sinne“ meint, dass „man um seiner selbst willen wollen“59 muss. Und auch Kierkegaards Wort von der Religiosität der Immanenz, mit der die Innerlichkeit der Entdeckung jener Dimension einer ,ewigen Seligkeit‘ gemeint ist, beschreibt nur einen Zug der Konzeption Fichtes, derzufolge jene moralisch-religiöse Existenzweise „kein von außen angenommenes, [sondern] […] mein eignes, einiges wahres Seyn, und Wesen“60 ist. Dem entspricht schließlich auch die Form der Vernichtung, von der Kierkegaard in diesem Zusammenhang spricht. Sie betrifft „die Vernichtung, in welcher das Individuum sich selbst beiseite schafft, um Gott zu finden, da es nämlich das Individuum selbst ist, das ein Hindernis bildet“.61 Die Vernichtung des Individuums, das heißt, die Unterordnung seiner zufälligen und naturwüchsigen Zwecke unter das Prinzip des absoluten Willens, folgt im Fichteschen Kontext unmittelbar aus der Anerkennung jenes einen unbedingten Willens und aus der Haltung jenes Glaubens, der ein „Glauben an eine übersinnliche, ewige Welt“62 ist. So befindet sich Fichtes Konzeption eines moralisch-religiösen Bewusstseins der Sache nach offenkundig mit Kierkegaards Beschreibung der Religiositt A in wesentlichen Stücken in Übereinstimmung. Es scheint, dass Kierkegaard auch noch demjenigen Selbstvernichtungstheorem, das Fichte in der Wissenschaftslehre von 1801/02 entwickelt 55 56 57 58 59 60 61 62
Ebd. S. 253. S. Kierkegaard, UN II, S. 93. Ebd. S. 92. Dort heisst es u. a.: „Ich erhebe mich in diesen Standpunkt, und bin ein neues Geschöpf.“ J. G. Fichte BdM in FAk I, 6, S. 302. Ebd. S. 99. J. G. Fichte BdM in FAk I, 6, S. 309. S. Kierkegaard UN II, S. 271. J. G. Fichte BdM in FAk I, 6, S. 286.
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hat, der Sache nach hätte folgen können. Mit ihm hat Fichte ein Argument entwickelt, das den Kierkegaardschen Gedanken der Immanenz und Selbstvernichtung gleichsam radikalisiert und potenziert. Hier nämlich ist nicht von der Vernichtung des Individuums die Rede, sondern von derjenigen Vernichtung, die sich aus dem Versuch ergibt, das logische Verhältnis der Momente des Freiheitsbewusstseins zu begreifen, mit Bezug auf das das Kierkegaardsche Individuum sich vernichtet. Insofern handelt es sich um eine reflektierte und in dieser Reflexion auf die Binnenstruktur des Freiheitsbewußtseins gleichsam potenzierte Immanenz, die ihren Ort jedoch im Freiheitsbewusstsein selber hat. Sie besteht, wie gezeigt, in der Einsicht, dass das moralisch-religiöse Selbstbewusstsein sich nicht vollständig aus sich selbst begreifen kann, sondern sich an dem Gedanken eines absoluten Seins vernichtet. Ausdruck dieser Einsicht ist Fichtes Rede von einem „Schweben zwischen Seyn und Nichtseyn“, dem das Gefühl einer unvordenklichen Abhängigkeit und Bedingtheit entspricht. Ein solches Schweben ist das logische Signum des Existierens, von dessen Paradoxie Kierkegaard mit Blick auf die Form der Bewegtheit, die das Existieren als Vollzug definiert, und die ihm eingeschriebene Dimension des Ewigen sowie den Versuch spricht, eben dieses Verhältnis zu begreifen: „Denke ich sie, so hebe ich sie auf, und damit denke ich sie nicht. Da könnte es wohl richtig scheinen zu sagen, dass es etwas gibt, was sich nicht denken läßt: das Existieren.“63 Das, was sich nicht denken lässt, das ist Fichte zufolge die paradoxale Verfassung des Freiheitsbewusstseins, das seinen Stand in einem Schweben zwischen seinem Sein und seinem Nichtsein hat. Ein solches Verhältnis ist Kierkegaard zufolge „das Selbst des Menschen“; es ist eben „ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält und im Verhalten zu sich selbst zu einem Anderen verhält.“ Der christlichen Religiosität, Kierkegaards Religiositt B, hat Fichte in der Anweisung zum seligen Leben eine eigene Interpretation gewidmet. Für sie ist die rational nicht einzuholende Differenz zwischen dem absoluten Sein und seiner Erscheinung sowie die These charakteristisch, dass die menschliche Existenz ihrerseits als Erscheinung des Absoluten zu begreifen ist. Auf welche Weise diese Lehre Fichtes mit Kierkegaards Überlegungen zum paradox-religiösen Verhältnis von Ewigkeit, seiner unvordenklichen Darstellung in der Zeit und der Zeitlichkeit der menschlichen Existenz in ein systematisches Verhältnis zu bringen ist, bedarf einer eigenen Untersuchung. 63 S. Kierkegaard UN II, S. 9.
Der Anfang und das Sollen. Über Kierkegaards Fichte-Deutung in ber den Begriff der Ironie Von Jørgen Huggler I. Über den Begriff der Ironie Obwohl Søren Kierkegaard in ber den Begriff der Ironie (1841) 1 eine für die systematische Ergründung von Fichtes Philosophie wenig bedeutsame Interpretation geliefert hat, gibt diese frühe Dissertation Kierkegaards Hinweise auf die für seine Werke und sein Denken wichtige FichteRezeption. Kierkegaard scheint in anderen Schriften gelegentlich ein mit Fichte nahe verwandter Denker zu sein, obwohl die thematischen und gedanklichen Übereinstimmungen von ihm nur selten expliziert wurden. Viel mehr Energie hat Kierkegaard darauf verwendet, spöttisch Unterschiede zu markieren. In gewisser Weise macht die Dissertation einen Sonderfall aus. Kierkegaard schreibt hier seitenlang über Fichte, aber ohne genaue Referenzen zu geben und ohne den Leser davon zu überzeugen, dass er Fichtes Originaltexte gründlich studiert hat.2 Warum erwähnt
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Es liegen folgende deutschen Übersetzungen vor: Kierkegaard ber den Begriff der Ironie – Mit stndiger Rcksicht auf Sokrates, Deutsch von Hans Heinrich Schaeder, München und Berlin 1929; ber den Begriff der Ironie. Mit stndiger Rcksicht auf Sokrates. Unter Mitarbeit von Rose Hirsch übers. von Emanuel Hirsch (1929), Frankfurt a. M. 1976. Dass Kierkegaard zweifellos bereits 1835 Fichtes Die Bestimmung des Menschen gelesen hat, ist hier gar nicht erkennbar. Aber auch die in diesem Zusammenhang relevanten frühen Jenenser Schriften Fichtes bleiben außer Betracht. So erklärt Emanuel Hirsch in einer Anmerkung zu seiner Übersetzung: „Was nun den Jenenser Fichte betrifft, so ist Kierkegaards Darstellung sichtlich ohne jede Kenntnis der Jenenser Schriften Fichtes geschrieben.“ (BI, 367, Anm. 354) Die Lektüre Solgers hat Kierkegaard allerdings die Einsicht vermittelt, dass Fichtes späte Schriften von Hegel nicht genügend berücksichtigt wurden. Heinrich Schmidinger („Kierkegaard und Fichte“ in Gregorianum 62/3 (1981), S. 499 – 542), plädiert für einen Zugang zu Kierkegaards Verhältnis zu Fichte, worin auch
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Kierkegaard dann überhaupt Fichte? Wie stellt er ihn dar? Woher stammt seine Interpretationsweise? Worin unterscheidet sich Kierkegaards Interpretation von derjenigen Hegels? Haben Kierkegaards Bemerkungen zu Fichte in ber den Begriff der Ironie Konsequenzen für die spätere pseudonyme Autorschaft? 1. Wie bereits der Titel ankündigt, geht es in Kierkegaards Dissertation um den Begriff der Ironie. In der Einleitung hebt Kierkegaard hervor, dass hiermit eine größere Untersuchung intendiert ist, denn eine begriffliche Untersuchung sollte auch nach dem Phänomen fragen und keinen seiner Aspekte außer Acht lassen. Deshalb betreffen seine historiographischen Methoden-Überlegungen sowohl den Ursprung als auch die spätere Geschichte des Begriffs. Mit Sokrates fängt diese Geschichte an. Um die Wahrheit der jeweiligen Auffassungen prüfen zu können, sollte man jedoch sorgfältig im Auge behalten, dass ein eindeutiger Fokus auf Sokrates als geschichtliches Phänomen wie auch auf die zeitgenössischen Auffassungen gerade durch ihre jeweils einseitige Erscheinungsform einer umfassenden Untersuchung im Wege stehen kann. Deshalb gliedert Kierkegaard das Buch in zwei Teile. Im ersten Teil geht es um den „Standpunkt des Sokrates, als Ironie aufgefasst“, im zweiten dagegen um den „Begriff der Ironie“. Man könnte dies fälschlicherweise als den Oberbegriff auffassen. Tatsächlich strebt die Untersuchung eine Vertiefung der Sokrates-Darstellung durch die Analyse der nach-kantischen Erscheinungsformen der Ironie, besonders in der deutschen Frühromantik, an. Eine Brücke zwischen diesen beiden Teilen schlägt Kierkegaard dadurch, dass seine umfassende Interpretation des Sokrates-Bildes Xenophons, Platons und Aristophanes’ im ersten Teil zu Ergebnissen führt, die von Hegels Sokrates-Interpretation abweichen. Hegel fasst Sokrates als den Begründer der Moral auf. Demgegenüber versteht Hegel Sokrates nur in einen begrenzten Sinne als Ironiker; Sokrates ist nach Hegels Ansicht eigentlich kein Ironiker. Mit seiner Unwissenheit sei es ihm nicht ernst, damit sei auch das Phänomen der Ironie nicht ernst zu nehmen, denn es handle sich eher um eine bloße „Manier der Konversation“, als dass darunter ein negatives Verhalten zu verstehen sei – so wird Hegel bei Kierkegaard zitiert (BI, 272, vgl. 242). thematische und systematische Korrespondenzen in den Blick genommen werden (S. 503f., 525ff.). Eine rein historische Untersuchung greift zu kurz.
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Gegen diese Auffassung wendet Kierkegaard ein, dass Hegel, wenn er Sokrates bewertet, eigentlich immer seine denunziatorische Auffassung der romantischen, Schlegelschen Form der Ironie hineinmischt (BI, 270ff.), so dass er die Züge unmoderierter Ironie bei Sokrates gar nicht in den Blick bekommen könne, sondern sie sogar mit der platonischen Ironie gleichsetze (BI, 272).3 Erstaunlich für Kierkegaard ist dieses Ergebnis insofern, als gerade Hegel den Begriff der Ironie am besten bestimmt habe: als „unendliche absolute Negativität“ (BI, 25),4 dem Für-sich-Sein des Subjekts Ausdruck gebend (BI, 262f., 273).5 Die Quelle dieser Bestimmung, deren generelle Validität es zu zeigen gilt, ist eine Stelle in Hegels Vorlesungen ber die sthetik, die im Kontext der Auseinandersetzung mit Solgers Ironieform steht.6 Ironie ist nach Kierkegaard ein Bewusstsein der fehlenden Übereinstimmung zwischen dem „Gegenwärtige[n]“ und der Idee (BI, 263). Er kommentiert die Glieder der Bestimmung folgendermaßen: Die Ironie […] ist Negativitt, denn sie negiert bloß; sie ist unendlich, denn sie negiert nicht dieses oder jenes Phänomen; sie ist absolut, denn dasjenige, kraft dessen sie negiert, ist ein Höheres, welches doch nicht ist. Die Ironie etabliert [das] Nichts; denn das was etabliert werden soll, liegt hinter ihr. Sie ist ein
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Vgl. die Dissertationsthese XII: „Hegelius in ironia describenda modo ad recentiorem non ita ad veterem attendit“ (SKS 1, 65). („Hegel hat bei der Beschreibung der Ironie nur die neuere, nicht so sehr die alte im Auge“, BI, 4). Die Formel wird von Kierkegaard ständig wiederholt: z. B. BI, 203, 214f. Anm., 224, 227 Anm., 237 Anm. u. ö. Vgl. auch die Dissertationsthese VIII: „Ironia, ut infinita et absoluta negativitas, est levissima et maxime exigua subjectivitatis significatio.“ (SKS 1, 65) („Die Ironie als die unendliche und absolute Negativität ist die leichteste und unscheinbarste Bezeichnung der Subjektivität“, BI, 3). HW XIII, 97. Hegel schreibt dort: „Solger war nicht wie die übrigen [d.h. Fr. Schlegel und Ludwig Tieck] mit oberflächlicher philosophischer Bildung zufrieden, sondern sein echt spekulatives innerstes Bedürfnis drängte ihn, in die Tiefe der philosophischen Idee hinabzusteigen. Hier kam er auf das dialektische Moment der Idee [mit ,dialektisch’ meint Hegel hier wahrscheinlich das zweite, negative oder – wie es in Hegels Heidelberger Enzyklopdie auch genannt wurde – skeptische Moment einer dialektischen Entwicklung], auf den Punkt, den ich [= Hegel] ,unendliche absolute Negativität’ nenne, auf die Tätigkeit der Idee, sich als das Unendliche und Allgemeine zu negieren zur Endlichkeit und Besonderheit und diese Negation ebensosehr wieder aufzuheben und somit das Allgemeine und Unendliche im Endlichen und Besonderen wiederherzustellen“.
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göttlicher Wahnsinn, der wie ein Tamerlan tobt, und nicht Stein auf Stein zurücklässt.7
Kierkegaards Resultat lautet, dass gerade bei Sokrates eine solche unbeherrschte Ironie im Spiel ist, wenn man die verschiedenen Quellen einander korrigieren lässt: Das substantielle Leben der Griechen hatte seine Geltung für Sokrates insgesamt verloren; die bestehende Wirklichkeit war für ihn unwirklich, und das nicht bloß in dieser oder jener Hinsicht, sondern als Totalität (BI, 269). Was Sokrates vernichtete, war die spezifisch griechische Sittlichkeit (BI, 276). Sokrates hat dies verschleiert, sie nur zum Schein („paa Skrømt“, SKS 1, 307) bestehen lassen und damit unterminiert. Hierdurch ist er immer unbeschwerter geworden, immer freier im negativen Sinne, so dass er beim Sterben seinem Bild des Todes zufolge eigentlich gar nichts verlor und sogar die Strafe, die über ihn verhängt wurde, in einen Scherz verwandelte (vgl. BI, 276f.). Kierkegaards Pointe ist jedoch eine tiefere. Der ganze Standpunkt des Sokrates lässt sich als Ironie erweisen. Diese Ironie ist mit der Subjektivität und der Persönlichkeit des Sokrates verwoben (BI, 47ff.). Die sokratische Ironie ist kein Austausch von Ideen; die Idee ist die Grenze der sokratischen Dialektik und kommt höchstens als angedeutetes, ephemeres persönliches Eigentum in Frage (BI, 46f., 175). Ironie wird sogar als eine Bestimmung der Subjektivität aufgefasst (vgl. z. B. BI, 262). Die Subjektivität zeigt sich weltgeschichtlich in zwei Formen: in der griechischen Welt und in der nach-kantischen und nach-fichteschen Philosophie und Poesie. Deshalb gibt es auch zwei Erscheinungsformen der Ironie. Die sokratische Ironie ist die erste Erscheinung der Subjektivität in der Weltgeschichte. Sie ist „die erste und abstrakteste Bestimmung“ der Subjektivität (BI, 269). Es geht hier um eine radikale Ironie, die sowohl das Ideale und Absolute als auch das Empirische und Partikulare völlig negiert. Aber was so negiert wird, ist etwas Bestimmtes – es ist das partikulare sittliche und staatliche Leben in Sokrates’ Gegenwart. Was in den Augen Kierkegaards diese Analyse über sich hinaustreibt, ist indessen, dass die Subjektivität sich entwickelt hat und dass die Ironie sich deswegen auch in einer neuen Erscheinungsform ausdrückt (BI, 203, 246). 7
„Ironien […] er Negativitet, thi den negerer blot; den er uendelig, thi den negerer ikke dette eller hiint Phænomen; den er absolut, thi det, i kraft af hvilket den negerer, er et Høiere, der dog ikke er. Ironien etablerer Intet; thi det, der skal etableres, ligger bag ved den. Den er et guddommeligt Vanvid, der raser som en Tamerlan og ikke lader Steen paa Steen tilbage.“ (SKS 1, 299).
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Die sokratische Subjektivität war noch vom Dämonischen gekennzeichnet. D.h. von einer Subjektivität, die dem Individuum noch äußerlich war und unbewusst blieb (BI, 163f.). Bei Sokrates schwankte die Subjektivität zwischen der endlichen und unendlichen Subjektivität. Mit seinem Genius, dem Dämon, stand deshalb gemäß Hegels Konzept des Gewissens „sein reines Bewusstseyn […] ber beiden Seiten“ (BI, 231); dieser Hegelschen Formel kann Kierkegaard sich wohl anschließen. Die sokratische Ironie „oszilliert zwischen dem ideellen Ich und dem empirischen Ich; das eine würde Sokrates zum [platonischen] Philosophen, das andere zum Sophisten machen.“ (SKS 1, 179, vgl. BI, 131) Ein Sophist wurde er jedoch nicht, denn sein empirisches Ich hatte eine „universale Gültigkeit“ (ebd.). Die neue idealistische Form der Subjektivität wird als potenzierte Subjektivität bezeichnet8 – bzw. als Reflexion der Reflexion, d.i. das Merkmal der nach-kantischen idealistischen Konzeptionen (BI, 36f., 246). Diesen Konzeptionen, die am deutlichsten von Fichte herausgearbeitet wurden, entspricht eine Ironieform, die – im Gegensatz zur sokratischen Ironie – die Totalität der Wirklichkeit negiert. In der Eigenständigkeit dieser – romantischen – Ironie ist daher das Motiv für Kierkegaards Interesse an Fichte zu sehen. Hierin liegen zugleich aber auch die Gründe für den Wert der sokratischen Ironie: Für das ironische Subjekt hat die gegebene Wirklichkeit ihre Gültigkeit verloren; sie ist ihm zu einer zweifelhaften, unvollkommenen Form geworden. Aber der Ironiker ist noch nicht im Besitz des Neuen. Er weist auf das Kommende hin, weiß aber er noch nicht, was es ist (BI, 264f.). Der Ironiker ist aus dem Zusammenhang der Gegenwart herausgetreten; die alte Wirklichkeit muss er zerstören (BI, 265f.). Sokrates lebte in einer solchen weltgeschichtlichen Umbruchsituation, wo das Neue erscheinen sollte und das Alte verdrängt werden musste (BI, 265f., 276f.). Eine solche weltgeschichtliche Rolle spielen zu können, setzt jedoch voraus, dass das ironische Subjekt im Verhältnis zur Gegenwart – bewusst oder unbewusst – im Dienst der Idee steht (BI, 268). Die Romantiker befanden sich in Kierkegaards Augen nicht in einer solchen Situation. Das heißt, dass die Weltgeschichte hier das Weltgericht ist (BI, 268, 277); sie entscheidet über die Legitimität der Ironie. Die Romantiker haben nicht nur das empirische, endliche Ich mit dem ewigen Ich ver8
„en Subjectivitetens anden Potents, en Subjectivitetens Subjectivitet, der svarer til Reflexionens Reflexion“ (SKS 1, 282).
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wechselt – sie verwechselten auch die metaphysische Wirklichkeit9 mit einer geschichtlichen. Unter Bezugnahme auf die Fichtesche Philosophie und deren Prinzip, demzufolge der Subjektivität, dem Ich weltkonstitutive Bedeutung zukommt, wollten sie in der Welt agieren. Aber in der geschichtlichen Wirklichkeit ist die Subjektivität nicht allmächtig. Während Fichte die Welt systematisch-philosophisch konstruieren wollte, möchten Schlegel und Tieck eine Welt erschaffen. Sie wollen nicht die geschichtliche Welt entsprechend deren eigenen Bedürfnissen transformieren, sondern durch ihre überspannte Subjektivität zweiter Potenz die geschichtliche Wirklichkeit beseitigen und durch eine selbstgeschaffene Welt ersetzen. Deshalb war diese Ironie im Unterschied zur sokratischen unberechtigt (BI, 280). 2. Ein für Kierkegaard interessanter Seitenweg besteht jetzt darin, einzelne Aspekte der Hegelschen Analysen zu beurteilen und zu berichtigen. Es lohnt sich nachzufragen, was Kierkegaard mit seiner Argumentation erzielt, was er durch sie erreichen möchte. Erstens möchte er natürlich das Sokrates-Bild nuancieren, es aus Hegels Schatten hervorziehen und von ihm befreien. Zweitens möchte er den Begriff der Ironie besser verstehen und darlegen, letzten Endes nicht nur, um die Unterschiede zwischen der sokratischen und der frühromantischen Ironieform zu explizieren, sondern auch, um seinen eigenen Begriff der beherrschten Ironie zu formulieren und dessen Bedeutung hervorzuheben. Aber drittens ist das ganze Buch von dem Versuch durchdrungen, für eine eigene Anthropologie vorbereitende Studien zu betreiben. Diese Perspektiven macht das Lesen mehrdeutig. Auf der einen Seite erweist sich Kierkegaard als ein eifriger, wenn auch zuweilen kritischer Jünger Hegels. Was ihm bei Hegel zusagt, ist dessen eigentümliche Gedankenprägnanz („Tankeprægnants“, SKS 1, 211, 268). Auf der anderen Seite folgt er Fährten, die sich erst anhand seiner umfassenden späteren Werke adäquat bewerten lassen. So ist die Analyse der Gestalt des Sokrates durch Kierkegaards Diskussion zahlreicher philologischer Arbeiten geschärft. Kierkegaards Verständnis der Sophisten und damit des geistigen Klimas, das Sokrates umgab, ist dagegen stark von Hegels Sichtweise beeinflusst, wobei Kierkegaard allerdings gelegentlich äußert, dass Hegel den Sophisten gegenüber zu freundlich gesinnt sei (BI, 212). Schlegel verurteilt Hegel dagegen nach Kierkegaard zu streng. Er wird schulmeisterlich (BI, 9
,Metaphysisch’ meint hier das Verhältnis zwischen Wirklichkeit und Idee (BI, 263f.).
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270f.), schimpft über Schlegel, und – einseitig der nach-fichteschen Ironie zugewandt – verkennt er die Wahrheit der Ironie (ebd.): dass sie nämlich die gelegentliche Inkommensurabilität zwischen Persönlichkeit und Dasein erfasst, einem Dasein, dem mitunter keine Wirklichkeit zukommt (BI, 257). Auch Tieck wird, so Kierkegaard, zu streng von Hegel beurteilt (BI, 308). Das heißt, dass Hegel die der Ironie und ihrer subjektive Freiheit zugehörige „Möglichkeit zu neuem Anfang“ verkennt (BI, 257). Und gerade um die Wahrheit der Ironie und um diesen Anfang, die Möglichkeit, die Wirklichkeit verwirklichen zu können, scheint es Kierkegaard in den Schlussbetrachtungen über „Ironie als ein beherrschtes Moment“ zu gehen (BI, 328ff.). Kein echtes humanes Leben ist ohne Ironie, als dem „absoluten Anfang“ eines „persönlichen Lebens“, möglich (BI, 331).10 3. In Sachen Kierkegaard-Fichte wird dieses Verhältnis zu Hegel besonders deutlich: 1) Hegel scheint die eigentliche Quelle seiner Darlegungen zu sein.11 2) Kierkegaards Fichte-Deutung scheint von Hegel völlig abhängig zu sein. 3) Hegel hat die Beziehungen zwischen der Frühromantik und Fichte, die bei Kierkegaard den Bezugsrahmen bilden, als erster kommentiert, und zwar für Kierkegaard in vorbildlicher Weise. Dennoch zeigen kleine Spuren an, dass es Kierkegaard letztlich um eine ganz andere Subjektivitätsauffassung und Lebensanschauung geht und dass er sich seiner Differenzen zu Hegel durchaus bewusst war, sie auch markiert, obwohl er das Instrumentarium noch nicht erworben hatte, um in eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem Meister eintreten zu können. Vielleicht könnte man sein Programm so zusammenfassen: In der gedanklichen Bewegung, die im Durchgang durch Hegels Ironie-Kritik mit Sokrates und der deutschen Romantik ber Hegel hinausgehen will, findet auch Kierkegaards FichteDarstellung ihren Ort.
10 Vgl. die Dissertationsthese XV: „Ut a dubitatione philosophia sic ab ironia vita digna, quæ humana vocetur, incipit.“ (SKS 1, 65) („Ebenso wie die Philosophie mit dem Zweifel, ebenso beginnt ein Leben, das menschenwürdig genannt werden kann, mit der Ironie“, BI, 4). 11 Wahrscheinlich (vgl. BI, 295) hat Kierkegaard für die gesamte Problemstellung der Dissertation bedeutende Anregungen durch die Lektüre von Johann Eduard Erdmanns Vorlesungen ber Glauben und Wissen als Einleitung in die Dogmatik und Religionsphilosophie (Berlin 1837) bekommen. Vgl. insbes. S. 85 – 88 zur Schlegelschen und Solgerschen Ironie. Obwohl es dort eine Reihe von Bezügen zu Fichte gibt, ist die Relevanz eher systematischer Art.
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4. Wir müssen also in erster Reihe den Kontext der Fichte-Deutung Kierkegaards als eine hegelianisierende Sicht der Frühromantik befragen und können sie so als ein Stück hegelianischer Literaturgeschichte bewerten. Michael Ansel hat einige in diesem Zusammenhang relevante Züge der Tradition der Romantik-Kritik von Hegel und Heine über Robert Prutz und Hermann Hettner bis zu Rudolf Haym hervorgehoben.12 Auch Kierkegaard, so können wir feststellen, gehört dieser Tradition aufgrund der folgenden Aspekte an: (1) In der Perspektive seiner Analyse verbindet er Philosophie und Literatur, betrachtet also die deutsche Romantik nicht ausschließlich von einem literarischen oder rhetorisch-poetologisches Gesichtspunkt aus. (2) So sieht er (wie 30 Jahre später Rudolf Haym) in Friedrich Schlegel den Philosophen und in Ludwig Tieck den Poeten, die gemeinsam die Romantik initiierten (BI, 280). (3) Die Schlegelsche und romantische Philosophie und Poesie (Friedrich und August Wilhelm Schlegel, Tieck, Solger) fokussieren das Phänomen der Ironie (BI, 246f.). (4) Dieses Philosophieren muss man von seinem Bezug zu Fichtes Ich-Denken her verstehen, denn was dessen Wissenschaftslehre den Romantikern hinterließ, war das Bedürfnis, das absolute Ich mit dem einzelnen, empirisches Ich zu verknüpfen (ebd., vgl. 280f.). (5) Die Bewertung der Romantik ist grundlegend moralisch (vgl. BI, 289ff., 289 Anm., 305ff.).13 – In dieser Perspektive wird Kierkegaards Interesse an Fichte verständlich, allerdings nicht nur als ein positives Interesse an Fichte selbst, sondern auch als eines, das anderen Zwecken untergeordnet bleibt.
II. Die Passage zu Fichte14 1. Die Überschrift „Ironien efter Fichte“ ist im Dänischen mehrdeutig: „Nachfichtische Ironie“ (Hirsch), „Die Ironie nach Fichte“ (Schaeder). Aber zunächst einmal geht es wirklich zwei Seiten lang um Fichte. Ich möchte zu Beginn einige Bemerkungen zur Quellenlage machen. Kierkegaard gibt keine expliziten Texthinweise, obwohl er deutlich macht, dass es ihm um den frühen Fichte geht und dass er die (damals im Erscheinen 12 Michael Ansel Prutz, Hettner und Haym. Hegelianische Literaturgeschichtsschreibung zwischen spekulativer Kunstdeutung und philologischer Quellenkritik, Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 95), Tübingen 2003. Vgl. insbes. S. 272ff. 13 Vgl. die Dissertationsthese XI: „Recentior ironia inprimis ad ethicen revocanda est“ (SKS 1, 65) („Die Ironie bei den Neueren ist wesentlich auf das Ethische zurückzuführen“, BI, 4). 14 SKS 1, 308 – 310 / BI, 278 – 280.
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begriffene) Fichte-Nachlass-Ausgabe von Immanuel Hermann Fichte zur Kenntnis genommen hat. Was schon auf den ersten Blick verwundern mag, ist, dass Kierkegaard nur in sehr begrenztem Umfang die eigenwillige, aber charakteristische Fichtesche Terminologie verwendet. Nirgendwo kommen (in dieser Passage) Begriffe ins Spiel wie Grundsatz, Tathandlung, Tätigkeit, Tatsache, Nicht-Ich, Setzen, Entgegensetzen, Bestimmen, Begrenzen, Synthesis, intellektuelle Anschauung, Einbildungskraft, Idealund Realgrund, Schweben, Vorstellung, Intelligenz, Freiheit u. s. w. Dagegen scheinen sich eine Reihe von Kierkegaardschen Formulierungen eng an das Fichte-Kapitel in Hegels Vorlesungen ber die Geschichte der Philosophie anzulehnen. Hiermit ist Kierkegaards umfassende Verwendung des Kapitels über die Sophisten in diesen Vorlesungen vergleichbar. Kierkegaard
Hegel
Tænkningens Uendelighed
wenn wir vom Denken sprechen, so ist Unendlichkeit… (HW XX, 403)
Jeg-Jeget er den abstracte Identitet
A=A, die abstrakte Identitt (HW XX, 394)
Stræben
dass die Tätigkeit des Ich ein Sehnen, Streben ist (HW XX, 407)
negativ Uendelighed
Negative … Unendlichkeit (HW XX, 403 und andere undeutliche Stellen)
den uendelige, absolutte Negativitet
die absolute Negativität (HW XX, 388)
Saaledes fik han istedetfor Das Ich ist gewiss, die Philosophie will aber das Sandhed Vished Wahre. (HW XX, 392, vgl. 395) negativ Stræben: en Skullen
Streben ist … Sollen (HW XX, 407, vgl. 408)
construere Verden
die ganze Welt zu konstruieren (HW XX, 390)
Wir können aus diesem Grunde Hegels Vorlesungen ber die Geschichte der Philosophie als Kierkegaards Hauptquelle betrachten; dennoch ergeben sich einige Zweifelspunkte: 1) Da sich Hegel mit Fichte häufig auseinandergesetzt hat, müssen wir eine Reihe anderer Quellen hinzurechnen, angefangen von der DifferenzSchrift (und anderen Jenaer Schriften, darunter die Phnomenologie des Geistes) bis zur Passage über den „Anfang mit Ich“ in der Wissenschaft der Logik („Womit muss der Anfang der Wissenschaft gemacht werden?“,
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27.–29. Abschnitt), Hegels Solger-Rezension (1828),15 die Vorlesungen ber sthetik u.s.w.16 2) Kierkegaard benutzt gerade im zentralen Punkt eine merkwürdige Terminologie: Er spricht vom „Ich-Ich“ ( Jeg-Jeget): Dieser Terminus rührt nicht von Fichte her, aber auch nicht von Hegel, obwohl Hegel in Bezug auf Fichte oft vom „Ich = Ich“ spricht.17 Kierkegaard hebt hiermit eine Verdoppelung des Ich hervor und wendet sich damit gegen die Betonung des Identitätsaspekts.18 Es fällt jedoch auf, dass der Terminus „Jeg-Jeget“ zwar wohlklingend, aber in Bezug auf Fichte inadäquat ist. Phonetisch und orthographisch wäre „Jeg-Jeget“ mit „Ikke-Jeget“ (d. h. Nicht-Ich) vergleichbar. Und wahrscheinlich hat Kierkegaard stillschweigend „Jeg-Jeget“ dem Fichteschen Nicht-Ich entgegengesetzt. Der direkte Gegenbegriff zu Fichtes Nicht-Ich ist allerdings das bestimmte Ich, nicht das absolute Ich. Wegen des Stellenwerts von „Jeg-Jeget“ in Kierkegaards Fichte-Interpretation scheint es mir naheliegend, das Wort als eine sehr freie Übersetzung der Tathandlung zu betrachten. Oder, weil Kierkegaard überhaupt nicht von der Tathandlung spricht, sollten wir vielleicht das Kierkegaardianische „Ich-Ich“ als einen alternativer Terminus für Selbstbewusstsein ansehen. In der Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift spricht Kierkegaard in dieser Weise vom „reinen Ich-Ich“ (det rene Jeg-Jeg, SKS 7, 113 / UN I, 110), was meinen Überlegungen zumindest nicht widerspricht. Auch spricht er dort kritisch vom „Subjekt-Objekt“ (UN I, 182f.). Mit Vorliebe ist aber in der Nachschrift vom „phantastische[n] Ich-Ich“ (det phantastiske Jeg-Jeg) die Rede, dessen Verhältnis zum einzelnen Individuum von der 15 HW XI, insbes. 232 – 235, 254 – 256. 16 Kierkegaards Äußerungen zu Sokrates in seiner Dissertation machen klar, das er Hegels Überlegungen über Sittlichkeit in den Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821) zur Kenntnis genommen hat (vgl. BI, 233ff.). Wahrscheinlich kannte er die sehr kritische Stelle über Fr. Schlegel und die Lucinde-Zeit in § 140 wie auch über die Ironie in § 571 der 3. Auflage der Enzyklopdie (1830). 17 Hirsch übersetzt (BI, 269) unrichtig mit ,Ich=Ich’, Schaeder (S. 228) richtig mit ,Ich-Ich’. 18 Auf der Fichte/Kierkegaard-Tagung am Kopenhagener Kierkegaard-Forschungszentrum am 4./5. 11. 2007 erwähnte Niels Jørgen Cappelørn die naheliegende Möglichkeit eines typographischen Fehlers. Zwei Gründe sprechen m. E. dagegen: 1) Kierkegaard hat seine Texte ständig durch lautes Lesen phonetisch überprüft. „Jeg-Jeget“ ist im Dänischen eine wohlklingende Innovation, „Jeg=Jeget“ dagegen holprig, denn es muss „Jeg-lig-Jeget“ ausgesprochen werden. 2) Kierkegaards spätere terminologische Verwendung von „Jeg-Jeget“ in der Nachschrift (s. u.) spricht gegen einen nicht-intendierten Gebrauch.
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neueren Spekulation nicht geklärt worden sei (SKS 7, 180f. / UN I, 188) – oder sogar von einem eingebildeten Ich-Ich, d. h. einer Chimäre (et indbildt Jeg-Jeg, SKS 7, 184 / UN I, 192). Auch diese Textstellen aus der Nachschrift können uns Hinweise auf Motive geben, die in Kierkegaards Fichte-Auslegung versteckt enthalten sind. Kierkegaards kurz nach der Dissertation verfasste Aufzeichnungen, zum Beispiel die Passage (im Schelling-Referat) über Fichte in den Notizbüchern vom Berliner Aufenthalt vom 25. November bis zum 7. Dez. 1841 (SKS 19, Not. 11:7) und andere Manuskripte geben keinen Aufschluss über diese Terminologie.19 2. Nach diesen Bemerkungen zur Quellenlage möchte ich zunächst einige Aspekte des Interpretationskontextes hervorheben. Kierkegaard ordnet Fichte in die nach-kantische Philosophie ein, was sicherlich nicht verwunderlich ist, aber im philosophischen Sinne leicht zu einer Verengung des Blickwinkels führt, die nicht unproblematisch ist. Ein kategoriales Muster für diesen Part seiner Geschichtsschreibung ist nach Kierkegaard die Unterscheidung von „Dogmatismus“ und „Kritizismus“. Diese duale Gegenüberstellung, die die dreiteilige kantische Unterscheidung von rationalistischem Dogmatismus, Humeschem Skeptizismus und kantischem Kritizismus auf die Entgegensetzung zweier philosophischer Standpunkte oder ,Systeme’ reduziert, folgt der Auffassung Fichtes, wie sie bereits in Ueber den Begriff der Wissenschaftslehre dargestellt wird.20 Hiermit soll nicht mehr gesagt werden, als dass Kierkegaard andere Möglichkeiten hätte einbeziehen können, wenn es ihm ernstlich um eine informierte Diskussion Fichtes gegangen wäre. So findet man keine Erörterung der erkenntnistheoretischen Fragestellung in Platons Charmides (was in Bezug auf Kierkegaards Sokrates-Interpretation nahe gelegen hätte),21 keine Erwähnung der Diskussion zwischen Descartes und Thomas Hobbes, keine Ausführungen zu Fichtes kritischer Stellungnahme Spinoza gegenüber, keine Überlegungen zur Kant-Rezeption vor Fichte, keine 19 Weitere Quellen lassen sich nur schwer identifizieren. Anhand der Journale und Aufzeichnungen lässt sich feststellen, dass Kierkegaard wahrscheinlich 1837 von J. E. Erdmanns Vorlesungen ber Glauben und Wissen (s. Anm. 11) Anregungen zu seiner Fichte-Deutung bekam (vgl. SKS 19, Not 4:41). Auch von Julius Schallers Der historische Christus und die Philosophie. Kritik der Grundidee des Werks „Das Leben Jesu“ von Dr. D. F. Strauss, Leipzig 1838 bekam er wahrscheinlich in systematischanalytischer Hinsicht Anstöße. Vgl. SKS 18, 329f., KK:2 (1838). 20 Kierkegaards Quelle können ohne Weiteres Erdmanns Vorlesungen ber Glauben und Wissen sein. Vgl. SKS 19, Not 4:9 (13. Dez. 1837). 21 Charmides 166e-171c.
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Bezugnahme auf Schelling etc. Diese Defizite stehen im Begriff der Ironie nicht isoliert da; man vergleiche etwa die fast karikaturhafte Kant-Darstellung im Ersten Teil, wo das gesamte kantische Unternehmen unter Schlagworte wie „subjektives Denken“ und „Ding an sich“ subsumiert und ein kantisches Thema wie das „radikal Böse“ als Mythos denunziert wird (BI, 109).22 3. Ich gehe nun zur Paraphrase der Passage zu Fichte in Kierkegaards Dissertation über, manchmal unter Verwendung der Schaederschen Übersetzung. 3.1. Bei Kant wurde die moderne „Spekulation“ der Vormundschaft des Dogmatismus überdrüssig; sie fühlte sich – mit Kierkegaard zu sprechen – erwachsen und mündig. Das Erbteil, welches die Spekulation danach forderte, resultierte jedoch nach Kierkegaard in einem Verlauf, der der Geschichte vom verlorenen Sohn ähnelt. Die Spekulation machte sich selbst arm. Kierkegaard deutet hiermit seine eigene Distanz zur Aufklärung und idealistischen Philosophie (d. h. zur Spekulation) an. Diese Distanz ist auch anderswo in der Dissertation bemerkbar, z. B. in der Kontrastierung der Beredsamkeit des Systems mit dem Schweigen der Ironie (BI, 25) und der spekulativen Fülle mit der Leere der Ironie (BI, 35f.). 3.2. Kierkegaard nennt seine Gründe für diese Armutsdiagnose: Je mehr das Ich im Kritizismus in der Betrachtung seiner selbst versank, desto magerer und dürftiger wurde es, bis es als ein Gespenst endete, unsterblich wie der Mann Auroras (der durch Älterwerden zur bloßer Stimme einschrumpfte).23 Dem Ich sei es, fügt Kierkegaard hinzu, wie dem Raben in der Äsopischen Fabel gegangen, der, vom Fuchs bezaubert, den Käse verlor. Indem die Reflexion ständig über die Reflexion reflektierte, war das Denken auf einen Abweg geraten, und jeder weitere Schritt nach vorn führte es natürlicherweise immer weiter von allem Inhalt fort. Ich möchte diese Passage kurz kommentieren: Die Kritik und Geringschätzung der Reflexion ist im Deutschen Idealismus ein verbreitetes Phänomen: bei Schelling, beim jungen Hegel und sogar bei Fichte. 22 Zum interessantesten Teile von Kierkegaards Dissertation gehören demgegenüber m. E. seine Überlegungen über das Mythische und die Dialektik der Aufklärung (BI, 97 – 110). 23 Im Journal DSKE 2, FF:26 (1836) schreibt Kierkegaard: „Die gesamte idealistische Entwicklung in Fichte z. B. fand wohl ein Ich, eine Unsterblichkeit, aber ohne Fülle, so wie Auroras Mann, der zwar unsterblich, doch ohne Jugend ein Ende als Heuschrecke fand.“ – In DSKE 2, FF:27 fügt er hinzu: „Fichte warf in der Verzweiflung den empirischen Ballast über Bord und kenterte.“
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Hierbei muss allerdings im Auge behalten werden, worin Fichtes anfängliches Projekt in Ueber den Begriff der Wissenschaftslehre tatsächlich bestand, nämlich die Tathandlung als diejenige freie, reflektierende Handlung zu verstehen, die die Voraussetzung der Bewusstmachung des Systems der notwendigen Handlungen des menschlichen Geistes bildet. Fichte unterscheidet deshalb (in der 3. Auflage der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre) zwischen der transzendentalphilosophischen Reflexion und demjenigen, was man „in der natürlichen, der künstlichen transzendentalphilosophischen entgegengesetzten Reflexion“ aufzufinden vermag, wo man „vermöge der Gesetze derselben, nur bis auf den Verstand zurückgehen könne, und in diesem denn allerdings etwas der Reflexion Gegebenes, als einen Stoff der Vorstellung, antreffe; der Art aber, wie dasselbe in den Verstand gekommen, sich nicht bewusst werde.“ (FW I, 234) Zudem muss vermerkt werden, dass Fichte den Terminus „Reflexion“ in mehreren Bedeutungen verwendet: einerseits als einen methodologischen Begriff (worunter auch die abstrahierende Reflexion fällt), andererseits im inhaltlichen Sinne in Hinblick auf das Selbstbewusstsein, allerdings in einer Weise, die zu durchaus problematischen Interpretationen und Modellen führen kann. Ich werde diesen Punkt später näher erläutern. 3.3. Kierkegaard fügt – etwas unklar – hinzu, wenn einem an der Spekulation gelegen sei, solle man sich um die richtige Einstellung bemühen bzw. – um näher an Kierkegaards Text zu bleiben: die richtige Einstellung sei entscheidend. Etwas anmaßend, aber auch kryptisch, schreibt Kierkegaard, dass die Spekulation dasjenige, was sie suchte, bei ihrer Suche gar nicht bemerkte, und wenn sie das Gesuchte nicht dort suchen wollte, wo es sich befand, konnte es in alle Ewigkeit nicht gefunden werden. Es erging der Philosophie wie einem Mann, der seine Brille auf der Nase hat, aber sie dennoch sucht, nur eben nicht dort, wo sie ist, und sie deshalb niemals findet. Nun ist Kierkegaards Text an dieser Stelle vielleicht noch gar nicht bei Fichte angelangt. Aber sollen die angeführten Bemerkungen als Einwand gegen Fichte gelten können, d. h. auf einer generellen Ebene, die Fichte einbezieht, angesiedelt sein, so sind sie in jedem Fall unpräzise formuliert. Gerade Fichte ging es um die richtige Einstellung. Mit dem Bild der vergeblichen Suche deutet Kierkegaard wahrscheinlich an, dass die Spekulation das Prozessuale vernachlässigte, weil sie einer Grundlage habhaft werden wollte. Wenn man unter den Begriff der Spekulation Fichte subsumiert, erscheint dieser Vorwurf ungereimt. Fichte bemühte sich durchaus darum, nicht in ein vorkritisches Substanzdenken zurückzufallen; er versuchte – durch die Sackgassen der Reflexion belehrt – einen
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neuen Weg einzuschlagen. Ich möchte hier zwei solche von Fichte anvisierte Sackgassen erwähnen: 1) Die „Verwirrung zwischen dem Ich als Subjekt“ und „dem Ich als Objekt“ der Reflexion (FW I, 97), wobei ein im Vorhinein bekanntes substantielles Ich unterstellt wird. Schon daraus, dass die Fichtesche Tathandlung jeder Tatsache zugrunde liegt, lässt sich der Schluss ziehen, dass Fichte gegenüber einer solchen Substantialisierung kritisch eingestellt sein muss. Der Anfang der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794/95) verkündet ja: „Wir haben den absolut-ersten, schlechthin unbedingten Grundsatz alles menschlichen Wissens aufzusuchen. Beweisen, oder bestimmen lässt er sich nicht, wenn er absoluterster Grundsatz sein soll.“ (§ 1, FW I, 91) Wenn wir Kierkegaard so lesen wollen, dass er in Fichtes Auffassung des Ich einen vitiösen Zirkel zu entdecken glaubt: in dem Sinne, dass das Ich über ein Verständnis seiner selbst als eines Substrats bereits verfügen muss, so muss diese Deutung elaboriert werden.24 Sie lässt sich folgendermaßen umreißen: Jeder Objektbezug setzt ein Ich voraus, das auf sich selbst Bezug nimmt, ganz wie im kantischen Begriff der transzendentalen Apperzeption. Andernfalls stellt sich die aporetische, von Dieter Henrich aufgeworfene Frage, wie das Selbstbewusstsein ohne vitiösen Zirkel wissen kann, „dass es sich selber ergriffen hat, wenn durch eine Reflexion des Ich ein Ich-Objekt zustandegekommen ist?“ – „Offensichtlich kann es dies
24 Fichte schreibt in der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre: „Man hört wohl die Frage aufwerfen: was war ich wohl, ehe ich zum Selbstbewusstsein kam? Die natürliche Antwort darauf ist: Ich war gar nicht; denn ich war nicht Ich. Das Ich ist nur insofern, inwiefern es sich seiner bewusst ist. – Die Möglichkeit jener Frage gründet sich auf eine Verwirrung zwischen dem Ich als Subjekt; und dem Ich als Objekt der Reflexion des absoluten Subjekts, und ist an sich völlig unstatthaft. Das Ich stellt sich selbst vor, nimmt insofern sich selbst in die Form der Vorstellung auf, und ist erst nun etwas, ein Objekt; das Bewusstsein bekommt in dieser Form ein Substrat, welches ist, auch ohne wirkliches Bewusstsein, und noch dazu körperlich gedacht wird. Man denkt sich einen solchen Zustand, und fragt: Was war damals das Ich, d. h. was ist das Substrat des Bewussteins? Aber auch dann denkt man unvermerkt das absolute Subjekt, als jenes Substrat anschauend, mit hinzu; man denkt also unvermerkt gerade dasjenige hinzu, wovon man abstrahiert zu haben vorgab; und widerspricht sich selbst. Man kann gar nicht denken, ohne sein Ich, als sich seiner selbst bewusst, mit hinzu zu denken; man kann von seinem Selbstbewusstsein nie abstrahieren: mithin sind alle Fragen von der obigen Art nicht zu beantworten; denn sie sind, wenn man sich selbst wohl versteht, nicht aufzuwerfen.“ (FW I, 97).
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nur, wenn es zuvor schon von sich weiß“.25 Fichte war sich also dieser Sackgasse eines substantialistischen Ich-Verständnisses völlig bewusst, so dass er die substratlose Tathandlung an die Spitze seines Suchens stellte.26 2) Die zweite Sackgasse besteht im unendlichen Regress, in den sich der Versuch verstrickt, den Sachverhalt des Selbstbewusstseins nach dem Modell des Gegenstandsbewusstseins zu fassen. Wenn Kierkegaard tatsächlich meint, dass Fichte den privilegierten Status des Selbstbewusstseins als Bedingung der Möglichkeit des Gegenstandsbewusstseins nicht auszuweisen vermag, rückt diese zweite Fichtesche Argumentationslinie ins Zentrum. Insbesondere im Ersten Kapitel des Versuchs einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre (1797/98) erörtert Fichte die unendlichen Regresse, die entstehen, wenn man das Selbstbewusstsein als besonderen Fall von Gegenstandsbewusstsein zu erklären versucht.27 Kierkegaards Bild der vergeblichen Suche nach der Brille auf der Nase könnte so gelesen werden, dass er Fichte eine Unterscheidung zwischen zwei Momenten treffen lässt, wodurch die entscheidende Fragestellung verstellt werde, obwohl diese Aporie gerade Fichtes eigene Pointe ausmacht. Es bietet sich an, hier die Aussagen Fichtes zur Tathandlung, mit denen er dieser Verstellung entgehen will, wiederzugeben: „Ich bin schlechthin, d.i. ich bin schlechthin, weil ich bin; und bin schlechthin, was ich bin, beides fr das Ich. Denkt man sich die Erzählung von dieser Tathandlung an die Spitze einer Wissenschaftslehre“ – fügt Fichte hinzu – , „so müsste sie etwa folgendermaßen ausgedrückt werden: Das Ich setzt ursprnglich schlechthin sein eignes Sein.“ (FW I, 98) Aus diesen Zitaten geht klar hervor, dass sich Fichte entschieden gegen eine Substantialisierung des 25 Dieter Henrich „Fichtes ursprüngliche Einsicht“ in Subjektivitt und Metaphysik. Festschrift fr Wolfgang Cramer, hrsg. von D. Henrich und H. Wagner, Frankfurt a. M. 1966, S. 188 – 232, hier S. 195. 26 Vgl. Lore Hühn Fichte und Schelling oder: ber die Grenze menschlichen Wissens, Weimar 1994, S. 43ff., 62ff. 27 Fichte schreibt über diese irreführende Auffassung: „jedes Objekt kommt zum Bewusstsein lediglich unter der Bedingung, dass ich auch meiner selbst des bewusstseienden Subjekts mir bewusst sei. Dieser Satz ist unwidersprechlich. – Aber in diesem Selbstbewusstsein meiner, wurde weiter behauptet, bin ich mir selbst Objekt, und es gilt von dem Subjekte zu diesem Objekte abermals, was von dem vorigen galt; es wird Objekt und bedarf eines neuen Subjekts, und so fort ins unendliche. In jedem Bewusstsein also wurde Subjekt und Objekt voneinander geschieden und jedes als ein Besonderes betrachtet; dies war der Grund, warum uns das Bewusstsein unbegreiflich ausfiel“ (FW I, 526f.).
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Ich wendet. Ja, er sagt: „Sich selbst setzen, und Sein, sind, vom Ich gebraucht, völlig gleich“ (FW I, 98); der Ausdruck „gleich“ meint hierbei auch, dass das eine nicht ursprünglicher als das andere ist. Das setzende Ich und das seiende Ich sind völlig gleich. Was von der wohl generellen Idealismus-Kritik Kierkegaards nach diesen beiden Rekursen auf Fichtes originale Positionen bleibt, ist vor allem die Armutsthese, die ich später kommentieren möchte. Es liegt nahe, die ganze Passage als eine von Hegel inspirierte Kritik aufzufassen, deren Hauptpointe gemäß dieser Lesart besagt, dass die Idealisten, darunter Fichte, die Problematik verstellen, indem sie sich einseitig um die Aufhellung der Struktur des Ich bemühen, welche sie abgesondert vom bestimmten Wissen untersuchen, womit die Tathandlung undialektisch privilegiert werde. – Zurück zu Kierkegaards Text. 3.4. Kierkegaard bezieht sich im Folgenden auf das Ding an sich (BI, 277f.). Dieses ist in seinen Augen der schwache Punkt in Kants System (vgl. BI, 109). Kierkegaard fügt hinzu, dass zu fragen bleibt, ob nicht das Ich selber ein Ding an sich sei. Hier erwähnt Kierkegaard zum ersten Mal explizit Fichte: Fichte, schreibt Kierkegaard, habe diese Frage aufgeworfen und beantwortet. Er habe die Schwierigkeit „mit diesem ,An-sich’“ bewältigt, indem er es in das Denken verlegte, und Fichte habe das Ich unendlich gemacht im Ich-Ich (BI, 278). Soweit Kierkegaard. Fichte spricht in seiner frühen Wissenschaftslehre tatsächlich vom Ich an sich.28 Auch die folgende Äußerung Kierkegaards hat einen etwas unklaren Bezug zum Text der Wissenschaftslehre. Nach Kierkegaard vertritt Fichte die These, dass „das produzierende Ich dasselbe wie das produzierte Ich“ ist (vgl. SKS 1, 309. Hirsch übersetzt „producerende“ mit „hervorbringende“ (BI, 278), was die terminologische Unschärfe verdeckt). Was Fichte tatsächlich schreibt, ist zwar nicht wörtlich dasselbe, denn ob 28 So zum Beispiel in § 3 der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, wo er schreibt: „Darin besteht nun das Wesen der kritischen Philosophie, dass ein absolutes Ich als schlechthin unbedingt und durch nichts Höheres bestimmbar aufgestellt werde und wenn diese Philosophie aus diesem Grundsatze konsequent folgert, so wird sie Wissenschaftslehre. Im Gegenteil ist diejenige Philosophie dogmatisch, die dem Ich an sich etwas gleich- und entgegensetzt; und dieses geschieht in dem höher seinsollenden Begriffe des Dinges (Ens), der zugleich völlig willkürlich als der schlechthin höchste aufgestellt wird. Im kritischen Systeme ist das Ding das im Ich Gesetzte; im dogmatischen dasjenige, worin das Ich selbst gesetzt ist: der Kritizism ist darum immanent, weil er alles in das Ich setzt; der Dogmatism transzendent, weil er noch über das Ich hinausgeht. Insofern der Dogmatism konsequent sein kann, ist der Spinozism das konsequenteste Produkt desselben.“ (FW I, 119f.).
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Kierkegaard mit „produzieren“ die Tathandlung oder bloß die Tätigkeit der Einbildungskraft meint, bleibt unklar.29 3.5. Kierkegaard kommentiert dies hegelianisch: „das Ich-Ich ist die abstrakte Identität“. In der dritten Auflage der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre schreibt Fichte in einer Anmerkung: „Das alles heißt nun mit andern Worten, mit denen ich es seitdem ausgedrückt habe: Ich ist notwendig Identität des Subjekts, und Objekts: Subjekt-Objekt: und dies ist es schlechthin, ohne weitere Vermittelung.“ (FW I, 98). Nicht einmal Hegel ist aber hier so dogmatisch wie Kierkegaard; denn Hegel entnimmt diesem Zitat in seinen Vorlesungen ber die Geschichte der Philosophie, dass die abstrakte Identität bei Fichte A=A ist, die aber der abstrakten Form nach auf die Identität des Ich = Ich zurückgeführt werden müsse (HW XX, 394f.). Kierkegaard geht nun zum Thema der Unendlichkeit über. Fichte habe das Denken unendlich frei gemacht, obwohl alle Unendlichkeit bei Fichte eine negative sei, ein Streben. Kierkegaard sagt über Fichtes Gedanken zur Moral und Theologie und sogar über Fichtes Ästhetik – möglicherweise in Hinblick auf die Ausführungen zu den Pflichten des Künstlers im System der Sittenlehre (1798) oder auch andere Stellen, an denen sich Fichte zum Beitrag der Ästhetik zur Bildung und Erziehung äußert: die Fichtesche Unendlichkeit sei „eine Unendlichkeit, in der keine Endlichkeit ist, eine Unendlichkeit ohne allen Inhalt“ (SKS 1, 309, Übers. von Schaeder). Kierkegaard hält Fichtes Idealismus vor, er habe das Ich in der Weise unendlich gemacht, dass die ganze Wirklichkeit verblich. Der Idealismus mache sich zum ganzen Wirklichkeit, sei jedoch ein Akosmismus. „Akosmismus“ ist der Begriff, den Hegel in Bezug auf Spinoza verwendet. 3.6. Nach Kierkegaard wurde bei Fichte nur das Denken unendlich; die Subjektivität wurde zur unendlichen, absoluten Negativität und Spannung, zum unendlichen Drang. Hierdurch habe sich Fichte Verdienste um die Wissenschaft erworben: Das Wissen habe er unendlich gemacht. Aber weil die Verwirklichung des Wissens eine negative gewesen sei, habe er nur die Gewissheit, nicht die Wahrheit erreicht. In diesen Bemerkungen Kierkegaards klingt Hegel an: Fichte hat „eben darum die Wahrheit nicht an ihm, weil die Gewissheit seiner keine Gegenständ29 Nicht so bei Fichte: „ Es [= das Ich] ist zugleich das Handelnde, und das Produkt der Handlung; das Tätige, und das, was durch die Tätigkeit hervorgebracht wird; Handlung, und Tat sind Eins und ebendasselbe; und daher ist das: Ich bin Ausdruck einer Tathandlung; aber auch der einzigen möglichen, wie sich aus der ganzen Wissenschaftslehre ergeben muss.“ (FW I, 96).
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lichkeit, nicht die Form der unterschiedenen Inhalts an ihr hat“ (HW XX, 395). Der erste Grundsatz der Fichteschen Philosophie „drückt eben darum nur die absolute Gewissheit seiner selbst, ohne die Wahrheit, aus“ (HW XX, 392). Kierkegaard kommentiert dies in der Weise, dass die unendliche Identität des Ich keine positive, sondern eine negative Unendlichkeit in sich berge: statt eines positiven Strebens (der Seligkeit) habe Fichte ein negatives Streben, ein Sollen gewonnen. Aber gerade aufgrund dieser Negativität enthalte der Fichtesche Standpunkt einen unendliche Enthusiasmus, eine unendliche Elastizität. Kant habe die negative Unendlichkeit gefehlt, Fichte dagegen die positive. Kierkegaard schreibt nun im Hauptstück seiner Erörterung: Fichte hat daher absolute Verdienste um die Methode, durch ihn wurde die Wissenschaft ein Ganzes aus einem Stück. Aber indem Fichte so im Ich-Ich die abstrakte Identität festhielt, in seinem idealistischen Reich nichts mit der Wirklichkeit zu tun haben wollte, hatte er den absoluten Anfang erworben, von dem ausgehend er, was so oft hervorgehoben worden ist, die Welt konstruieren wollte. Das Ich wurde das Konstituierende, aber da das Ich nur formal und also negativ aufgefasst war, so blieb Fichte eigentlich bei den unendlich elastischen molimina [= Bemühungen] zu einem Anfang stehen. Er hat den unendlichen Drang des Negativen, seinen nisus formativus, aber er hat ihn wie ein Feuer [Vælighed = brünstig, übermütig wie ein Ross], das doch nicht von der Stelle kommen kann, hat ihn als eine göttliche und absolute Ungeduld, wie [bzw. als] eine unendliche Kraft, die doch nichts ausrichtet, weil nichts da ist, worauf sie angewendet werden könnte. (SKS 1, 310)
3.7. Es handelt sich nach Kierkegaard um eine Potenzierung, eine Exaltation, die stark ist wie ein Gott, der die ganze Welt aus den Angeln heben könnte und doch nichts hat, was er heben könnte. Der Anfangspunkt des Problems der Philosophie ist hiermit zum Bewusstsein gebracht, er ist das Voraussetzungslose, womit begonnen werden soll, aber diese ungeheure Energie des Anfangs kommt nicht weiter. Damit nämlich das Denken – die Subjektivität – Fülle und Wahrheit gewinnen könne, müsse es sich nhren lassen – so übersetzen sowohl Schaeder (S. 229) als auch Hirsch (BI, 279). Die dänische Formulierung ist jedoch mehrdeutig: „maa den lade sig føde“, also radikaler als sich „nähren“, nämlich muss es sich gebren lassen, muss es in der Tiefe des substantiellen Lebens versinken, sich darin verbergen lassen, so wie die Gemeinde in Christus verborgen ist, muss es – halb ängstlich, halb sympathetisch, halb zurückschreckend, halb sich hingebend – die Wogen des substantiellen Lebens über sich zusammenschlagen lassen, gleichwie im Augenblick der Begeisterung das Subjekt außer sich gerät, in das hineinsinkt, was es begeistert, und doch leise
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Grauen [Gysen] fühlt, weil es um sein Leben geht. Aber hierzu gehört Mut, und doch ist es notwendig; denn ein jeder, der seine Seele erlösen [frelse] will, soll sie verlieren. Dies ist aber nicht der Mut der Verzweiflung; denn wie Tauler so schön von einem noch konkreteren Verhältnis sagt: „Doch dieses Verlieren, dies Entschwinden Ist eben das echte und rechte Finden.“ (SKS 1, 310)
4. Diese Passage bringt eigentlich nichts Neues: Kierkegaard kritisiert den Anspruch der Fichteschen Ich-Konzeption auf Wirklichkeit und Absolutheit.30 Es muss jedoch beachtet werden, dass Kierkegaard mit dieser Darstellung ein Fundament für seine Romantik-Kritik gelegt hat: Schon Fichtes Wissenschaftslehre führe auf theoretischem Weg in einen leeren Akosmismus, und zwar aufgrund einer falschen Subjektivitätskonzeption. Zugleich eröffne Fichte neue Wege für die Negativität des Subjekts und damit für die Ironie. Außerdem stellt er die Frage nach dem Anfang durch die Tat. Diesem Anfang kann sich Kierkegaard in seiner Dissertation später stillschweigend anschließen, allerdings mit der charakteristischen Betonung eines Realitätsbezugs, der völlig außerhalb der Fichteschen Konzeption liegt: Es kann darum wahr sein, wenn die Romantik sich nach einem Höheren sehnt; denn, indes der Mensch nicht scheiden soll, was Gott zusammengefügt hat, so soll er auch nicht zusammenfügen, was Gott geschieden hat; solch eine krankhafte Sehnsucht aber ist ein Versuch, das Vollkommene schon vor der Zeit haben zu wollen. Die Wirklichkeit empfängt daher ihre Gültigkeit durch Handeln. Aber Handlung darf nicht ausarten zu einer gewissen törichten Unermüdlichkeit, sie soll eine gewisse Apriorität in sich tragen, so dass sie sich nicht an eine inhaltslose Unendlichkeit verliert. So viel in praktischer Hinsicht. In theoretischer Hinsicht muss das Wesen sich zeigen als die Erscheinung. Sofern die Ironie beherrscht ist, meint sie nicht mehr, wie gewisse kluge Leute im Alltagsleben, dass immer noch etwas dahinterstecken müsse (BI, 354).
Der Kernpunkt dieser Passage liegt darin, dass ein echter Wirklichkeitsbezug einen Anstoß zum Handeln voraussetzt. Das ist auch Kierkegaards Botschaft in seinen späteren pseudonymen Schriften. Der Unterschied zur Fichte tritt noch nicht im ersten Teil der Passage zutage; er besteht darin, dass ein solcher Wirklichkeitsbezug nach Fichte nur in Relation zu einem Ich denkbar ist, das sich die gegenständliche Welt entgegengesetzt hat, wobei die Bewusstmachung dieses Entgegensetzens die Aufgabe der theoretischen Philosophie bleibt. Hier ist Kierkegaard Sokratiker, nicht Fichteaner, und auch nicht Hegelianer. 30 Vgl. Schmidinger „Kierkegaard und Fichte“ (s. Anm. 2), S. 525.
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III. Die Fichte-Deutung Hegels – und Kierkegaards Dieser Text zeigt die Nähe der Fichte-Deutung Kierkegaards zu derjenigen Hegels, obwohl er auch einen bedeutsamen Unterschied zum Ausdruck bringt. D.h. dass Kierkegaard Hegels prägnante Formulierungen zu seinen eigenen Zwecken verwenden konnte. Ob Kierkegaard die tieferen Schichten von Hegels Interpretation tatsächlich verstand, lässt sich schwer beurteilen, aber dass er sie sich im Umriss aneignet hat, erscheint evident. Die Auffassung Hegels soll im Folgenden knapp umrissen werden. Hegel interpretiert Fichtes Leistung als einen Beitrag zur Transzendentalphilosophie: Fichte folgt Kants Kopernikanischer Wende: der ,Umkehrung der Denkungsart’ vom (realistischen) Ausgangspunkt bei den Dingen bzw. Erkenntnisgegenständen zum transzendental-idealistischen Anfang in der Erkenntnis, nach der sich die Gegenstände Kant zufolge stets richten müssen, weil hierin die Bedingungen ihrer Erfahrbarkeit liegen. Aber im Unterschied zu Kants Selbstverständnis als transzendentaler Idealist und empirischer Realist in einem, womit er sich über die Streitigkeiten der philosophischen Parteien erheben will, muss Fichte wiederum die Rolle des idealistischen Parteigängers übernehmen. Denn Fichte behauptet die Wahrheit des transzendentalphilosophischen Idealismus gegenüber den Realisten. Fichte macht den Anfang mit Ich und stellt die Einheit und Identität des Ich als grundlegendes Postulat auf. Wenn dieses mehr sein soll als die inhaltsleere Tautologie des Ich = Ich, muss es möglich sein, das richtige Verständnis des empirischen Bewusstseins von Gegenständen als eine Implikation dieser Einheit des Ich aufzuweisen. Das bedeutet, dass dasjenige, was eigentlich postuliert wird, in der Einheit von Selbstbewusstsein und Gegenstandsbewusstsein besteht, so dass das zweite Ich im Ich=Ich das Gegenstandsbewusstsein ist bzw. sein soll. In Bezug auf dieses Postulat, mit dem der Idealismus einsetzt, ist Folgendes zu beachten. Der Idealismus fängt damit an, dass er polemisch behauptet, dass das empirische Bewusstsein eigentlich oder an sich etwas anderes ist als fr sich, d. h. als es zu sein glaubt. Aber weil das empirische Bewusstsein qua Bewusstsein fr sich etwas ist, und zwar in dem Sinne, dass es sich in dem nicht wiedererkennt, was vom transzendentalphilosophischem Standpunkt aus selbstherrlich von ihm behauptet wird, fängt die Philosophie mit einem Streit zwischen zwei Selbstverständnissen des Bewusstseins an. In diesem Streit verdoppelt sich das Selbstbewusstsein, denn es gibt hier zwei Parteien: die idealistische und die realistische Auffassung des Bewusstseins der gegenständlichen Welt, die sich beide als ursprüngliche Wahrheit verstehen. In diesem Streit nimmt die idealistische
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Partei die höhere Reflexionsstufe für sich in Anspruch, da sie sowohl sich selbst als auch ihren Gegner erklären könne. Demgegenüber reklamieren die Realisten den Weltbezug und die Fülle des empirischen Bewusstseins für sich, womit sie die idealistisch postulierte Identität des Ich als leere, inhaltslose Tautologie entlarven.31 Das heißt aber, dass die Fichtesche Philosophie gemäß Hegels Interpretation mit einen Postulat anfängt, das in scharfem Kontrast zur Realitt des Ich steht. Deshalb müsse sich das Postulat in eine Vision von der künftigen Einheit des Ich verwandeln, ohne sich Rechenschaft über die Mittel geben zu können, mit denen sich diese Vision realisieren lässt. Das Postulat verwandelt sich in ein Sollen. Dies ist Hegels zentrale Einsicht in das Problem einer Geschichte des Selbstbewusstseins. Kierkegaard interpretiert diese Problematik jedoch in der Perspektive der endlichen Subjektivität. Deshalb akzeptiert er auch die Tendenzen der nach-fichteschen, romantischen Ironie, obwohl er Schlegels Unsittlichkeit und Tiecks Willkürfreiheit verwirft. Die nihilistische Tendenz bei Tieck, die später Rudolf Haym so massiv attackiert hat,32 ist bedeutungslos im Vergleich zu Kierkegaards Bild von Sokrates als des Meisters der unendlichen Negation. Das Sollen ist aber der Kernbegriff der Hegelschen Fichte-Deutung.
IV. Unterschiede zwischen Kierkegaards und Hegels Fichteinterpretationen? Es fällt auf, dass Kierkegaard die Aporien Fichtes in der Perspektive der konkreten individuellen und persönlichen Subjektivität interpretiert. Er erkennt Fichtes Bedeutung für eine abstrakte Untersuchung der Grundlage des theoretischen Wissens an, denunziert aber diese Leistung als einen rein methodischen Anfang, der ohne einen konkreten Gehalt bleiben müsse und dessen inhaltliche Armut in ein Sollen uminterpretiert werde. Es scheint, dass Kierkegaard hier den Hegelschen Geistbegriff als Lösung betrachtet, das heißt das (von der Vorrede zur Phnomenologie des Geistes 31 Vgl. Hegels Phnomenologie des Geistes in Gesammelte Werke, hrsg. von der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 9, hrsg. von W. Bonsiepen und R. Heede, Hamburg 1980, S. 103f., 133f. Vgl. Wissenschaft der Logik (1832) in Gesammelte Werke, Bd. 21, hrsg. von H.-J. Gawoll, Hamburg 1990, S. 62 – 65. 32 Rudolf Haym Die Romantische Schule. Ein Beitrag zur Geschichte des Deutschen Geistes (1870), S. 32.
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bekannte) Verweilen im Negativen. Kierkegaards Gebrauch des Ausdrucks „at lade sig føde“, dessen Ambivalenz anhand der verbesserungsbedürftigen deutschen Übersetzungen zutrage tritt, dessen Hauptbedeutung aber lautet: die Subjektivität müsse sich „gebren lassen“, verrät jedoch eine neue Orientierung. Gerade das ist also Kierkegaards weitreichende Pointe. Das konkrete Subjekt lässt sich nicht substituieren, wie in der Abschließenden unwissenschaftliche Nachschrift hervorgehoben wird: Es ist Existierendes und damit im Werden. 33 Deshalb unterscheidet sich ja Kierkegaards Anthropologie seiner eigenen Auffassung nach grundlegend von der Hegelschen. Obwohl er hier mit der Möglichkeit eines radikal theologischen Menschenbildes nur spielt, zeigt er durch Bemerkungen wie die über den Gegensatz von Ironie und Humor (BI, 259f. Anm., 354f.) und andere, welche Formulierungen in der viel späteren Krankheit zum Tode vorwegnehmen, dass das Selbst nur als religiöses Individuum „sich selbst absolut durchsichtig“ sein kann (vgl. BI, 303, 354f.). Gewichtiger als diese unfertigen Themen ist jedoch Kierkegaards Hegelianisches Durchdenken der Romantik, welches sich allerdings anderer Mittel bedient. Die Leistung des Idealismus besteht im Programm, eine metaphysische Theorie der Wirklichkeit und Möglichkeit zu for33 „Hier wird nun keinen Augenblick vergessen, dass das Subjekt existierend ist, und dass das Existieren ein Werden ist, und dass daher jene Wahrheit von der Identität von Denken und Sein eine Schimäre der Abstraktion ist und in Wahrheit nur ein sehnsüchtiges Verlangen der Kreatur, nicht weil die Wahrheit dies nicht etwa wäre, sondern weil der Erkennende ein Existierender ist, und somit in Wahrheit nicht dies für ihn sein kann, solange er existiert. Wird das nicht festgehalten, so gehen wir sofort mit Hilfe der Spekulation in das phantastische Ich-Ich hinein, das die neuere Spekulation zwar gebraucht hat, aber wovon sie nicht erklärt hat, wie das einzelne Individuum dazu in Beziehung stehe, und Herrgott, mehr als ein einzelnes Individuum ist doch nun einmal kein Mensch. Wenn der Existierende wirklich außerhalb seiner selbst sein könnte, würde die Wahrheit etwas Abgeschlossenes für ihn sein; aber wo gibt es diesen Punkt? Das Ich-Ich ist ein mathematischer Punkt, der überhaupt nicht Dasein hat; insofern kann jeder gern diesen Standpunkt einnehmen; der eine steht dem anderen nicht im Wege. Nur momentweise kann das einzelne Individuum existierend in der Einheit von Unendlichkeit und Endlichkeit sein, die über dem Existieren hinausliegt. Dieser Moment ist der Augenblick der Leidenschaft. […] In der Leidenschaft ist das Individuum in der Ewigkeit der Phantasie unendlich gemacht, und doch zugleich am allerbestimmtesten es selbst. Das phantastische Ich-Ich ist nicht Unendlichkeit und Endlichkeit in Identität – denn weder das eine noch das andere ist es wirklich, sondern es ist eine phantastische Vereinigung oben in den Wolken, eine unfruchtbare Umarmung, und des einzelnen Ichs Verhältnis zu dieser Lufterscheinung ist niemals angegeben.“ (UN I, 187f.).
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mulieren. Dieser Theorie geht es um das Verhältnis der Idee zu ihrer Konkretisierung in der Wirklichkeit. Etwas anderes ist die Frage nach der Wirklichkeit im historischen Sinne. Den Romantikern geht es um die geschichtliche, aktuelle Wirklichkeit, aber im oben genannten Sinne: um diese abschaffen zu können. Ihnen gab, so Kierkegaards Analyse, die idealistische Philosophie das Mittel an die Hand, um die Wirklichkeit aus der trivialen, spießbürgerlichen Existenz herauszuheben. Was die idealistische Philosophie als Wirklichkeit aus ihren Prinzipien zu deduzieren suchte, war für Schlegel insgesamt nur ein willkürlicher, begrenzter Ausdruck eines Produktionsprozesses, der auch anderes verlaufen könnte und der nicht echter Praxis bedarf, sondern sich rein im Bewusstsein, in der Phantasie abspielen kann. Wie Walter Benjamin, der die philosophische Diskussion der Romantik fortgeführt hat, in seiner Dissertation zur romantischen Kunstkritik ausführte, ließen die Romantiker (im Unterschied zu Fichte) die unendliche Produktivität nicht nur im praktischen Bereich eine Differenz setzen, sondern auch im theoretischen.34 Hier schließt sich Kierkegaard der Hegelschen Romantik-Kritik an, die den Romantikern Willkür und Unsittlichkeit vorwirft. Für den ironischen Romantiker ist die Wirklichkeit bloße Möglichkeit (BI, 285). Für Kierkegaard ist sie demgegenüber im Begriff der Ironie sowohl „Gabe“ (die sich nicht uminterpretieren lässt) als auch „Aufgabe“ (BI, 282, 285). Der romantische Imperativ, dass man poetisch leben soll (BI, 286), wurde Kierkegaards Analysen zufolge nicht eingelöst. Schlegel hat diese Aufgabe durch schlechte Poesie zunichte gemacht und sie in ein feiges Leben verwandelt (BI, 301f.). Die Transformation von Sittlichkeit in Sinnlichkeit überzeugt niemanden. Tieck hat die revolutionäre Kritik an die Träumerei verraten. Kierkegaard erkennt also das kritische Potential der Ironie an. Aber er verwirft die Ironie als Weltanschauung. Deshalb macht er die Ironie als „beherrschtes Moment“ stark. Diese Form der Ironie feiert Kierkegaard 1841 als den absoluten Anfang des persönlichen Lebens, welchem die Ironie dadurch Wahrheit, Wirklichkeit und Inhalt gibt, dass sie ihn verendlicht, begrenzt, und dadurch Haltung und Konsistenz – womit sie den Charakter erbaut – , dass sie züchtigt und straft. All dies vermisst Kierkegaard in seinem hegelianisierenden Zugang am Fichteschen Idealismus. Eine Anbiederung an den Hegelschen Sittlichkeitsbegriff ist dies aber nicht. Aller Anerkennung zum Trotz ist Hegels Biedermeier-Sittlichkeit 34 Walter Benjamin Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik (1920), hrsg. von H. Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1973, S. 17f.
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Kierkegaard innerlich zuwider. Seine Angriffe auf die Spießbürgerlichkeit wurden hier von der Romantik befeuert, die er im Horizont der Sittlichkeit kritisierte. Zum Behuf dieser Kritik musste Kierkegaard Fichte mit einbeziehen, um die Romantik unter den Aspekten Wirklichkeit vs. Möglichkeit und Endlichkeit vs. Unendlichkeit problematisieren zu können. Dass er sich hierbei sich mit Hegel als Quelle und wichtigstem interpretativem Vorbild begnügte, kann als paradoxes Phänomen bewertet werden, entspricht jedoch Kierkegaards Methode in dem Buch: den einen Autor mittels des anderen zu berichtigen. Dass Fichte hier zur Nebensache wird, ist kaum verwunderlich. Einen Anfang gemacht zu haben, ist es, was Kierkegaard an Fichte schätzte.
Existenz- oder moralphilosophische Begründung der Ethik. Kierkegaards Verhältnis zu Fichte Von Peter Wolsing Eine Untersuchung des Verhältnisses Kierkegaards zu Fichte ist ebenso schwierig wie anziehend. Schwierig, weil sich Kierkegaard nirgendwo in seinem Werk systematisch mit Fichte auseinandersetzt; seine wenigen Hinweise zu ihm begrenzen sich auf kurze Bemerkungen in den Journalen und veröffentlichten Schriften. Ein Vergleich von Gesichtspunkten und zentralen Begriffen im Denken beider Autoren ist dennoch anziehend – teils deshalb, weil sich Kierkegaard mit mehr Sympathie zu Fichte als zu Hegel und Schelling äußert, mit denen er häufig in Verbindung gebracht wird, teils, weil der für Kierkegaard so wichtige Begriff praktischer Subjektivität die Achse ausmacht, um die sich Fichtes gesamte Philosophie dreht. Hinweise in den Journalen und pseudonymen Schriften von Kierkegaards ersten Studienjahren bis zu den letzten Werken, aber mehr noch gemeinsame Gedanken, die hinter ihren verschiedenartigen Vokabularen verborgen sind, bezeugen den großen Einfluss, der Fichtes Denken auf Kierkegaard ausgeübt hat. Ihrer geringen Anzahl und Kürze zum Trotz geben diese Hinweise Anlass zu der Vermutung, dass sich Kierkegaard in seinen Untersuchungen zur praktischen Subjektivität in entscheidenden Punkten an Fichte hält. Kierkegaard hat Fichtes Werke kaum systematisch studiert. Er hat sich wahrscheinlich nur mit einzelnen Abschnitten der Bestimmung des Menschen (1800) und der Anweisung zum seligen Leben (1806) eingehend beschäftigt. Mit der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794) und möglicherweise weiteren Werken – z. B. Das System der Sittenlehre (1798) – war er durch sekundäre Darstellungen vertraut, hauptsächlich durch Hegels Vorlesungen ber die Geschichte der Philosophie und die Wissenschaft der Logik sowie Martensens Geschichte der neueren Philosophie. 1 1
Vgl. W. V. Kloeden „Søren Kierkegaard und J. G. Fichte“ in Biblioteca Kierkegaardiana, vol. 4, Kopenhagen 1979, S. 115 – 118.
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Ein nahe liegendes Thema für einen Vergleich beider Philosophen bildet ihre Auffassung des Ethischen und seiner Grundlage in der praktischen Subjektivität. Obwohl Kierkegaard nicht an systematischer Moralphilosophie interessiert war, deutet alles darauf hin, dass er die (kantisch-)Fichtesche Gewissensethik und ihre Fundierung im Freiheitsbewusstsein als grundlegend akzeptiert. Im Begriff Angst distanziert er sich explizit von einer griechischen, aristotelischen Ethik der Eudaimonia, die wegen ihres ästhetischen Charakters für Kierkegaard keine eigentliche Ethik war (BA, 14). Demgegenüber insistiert Kierkegaard auf einer modernen, nach-kantischen Ethikkonzeption; er definiert sie nicht weiter, hält es wohl für zureichend – zumindest für sein eigenes kritisches Anliegen – zu konstatieren, dass sie sich an einer Idealität orientiert, die als Gesetz in die Realität hineingebracht werden soll, und dass sie voraussetzt, das das Subjekt im Besitz der Bedingungen hierfür ist. Das Gute ist als das in einem ,Sollen’ zu Verwirklichende anzusehen: nicht wie bei Aristoteles als ein voll verwirklichtes Leben, sondern als Geist, d. h. als das Übersinnliche, das sich dem moralischen Selbstbewusstsein durch die Freiheit und durch die Stimme des Gewissens als ein Sollen mitteilt. Das moralische Sich-Verhalten besteht im Streben eines Subjekts, das sozusagen sein Leben im Spannungsfeld zwischen seiner körperlichen Realität und geistigen Idealität hat. Dass die Subjektivität im Zentrum der Ethik steht, heißt eben, dass das moralische Ideal dem einzelnen als eine Aufgabe gestellt ist, deren mögliche Lösung in einer Überschreitung seiner gegebenen moralischen Konstitution besteht. In dieser Perspektive scheint der Unterschied zwischen Fichte und Kierkegaard nicht groß zu sein. Indessen äußert sich Kierkegaard im Begriff Angst kritisch zu dieser „ersten“ Ethik und behauptet die Notwendigkeit einer zweiten Ethik, weil jene scheitern müsse (BA, 13f., 18f.). Der Gesichtspunkt meiner Darstellung lautet, dass sich Kierkegaard im Begriff Angst an Fichtes Ethik-Konzeption anschließt, sie aber wesentlich korrigiert: Dass er keinen eigenen Entwurf einer idealistischen Moralphilosophie vorgelegt hat, könnte seinen Grund darin haben, dass er diese zwar einerseits als die philosophisch angemessenste ansieht, andererseits aber der Überzeugung ist, dass die Existenzbedingungen der Individuen die Verwirklichung des ethischen Ideals verhindern, so dass die moralphilosophische Problematik auf einer anderen – nicht-spekulativen – Grundlage bewältigt werden müsse. Nach Kierkegaard muss von der philosophischen Ethik zur philosophischen Anthropologie übergegangen werden, und die theologische Dogmatik muss geltend gemacht werden, um der Sache des Ethischen gerecht werden zu können. Der Begriff Angst bildet m. E. das
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Werk, in dem Kierkegaard sein Korrektiv zur philosophischen Ethik präsentiert, d. h. in dem die Frage nach der Bedingungen des sittlichen Strebens und nach der Möglichkeit der Erfüllung des ethischen Ideals kritisch behandelt wird. Meine Untersuchung beginnt aus zwei Gründen mit einer Darstellung von Fichtes Die Bestimmung des Menschen: Erstens, weil Kierkegaard mit diesem Werk relativ früh vertraut wurde; zweitens, weil es Kierkegaards Entweder-Oder ähnelt, was den Aufbau und leitenden Gesichtspunkt angeht. Fichte konstruiert hier in populärphilosophischer Form seine idealistische Moralphilosophie auf der Basis einer Wahl zwischen zwei entgegengesetzten Ansichten, nämlich einer dogmatisch-objektivistischen und einer idealistischen, freiheitsphilosophischen. Auf dieser Grundlage wird die ethische Problemlage, d. h. Fichtes Auffassung der Aufgabe der Moralität und sein Begriff praktischer Subjektivität, entwickelt. Im Anschluss hieran möchte ich anhand von Kierkegaards frühen Hinweisen auf und Darstellungen von Fichte in den Journalen und ber den Begriff der Ironie zeigen, dass Die Bestimmung des Menschen eine entscheidende Rolle in der Entwicklung seiner Ethik und ihrer Begründung in der praktischen Subjektivität spielt. Sodann versuche ich durch eine eingehende Interpretation der ethischen Lebensanschauung des Gerichtsrats Wilhelm im zweiten Teil von Entweder-Oder die These zu verteidigen, dass Kierkegaard seine Ethik auf der Grundlage von Fichtes Philosophie, vorzugsweise der Bestimmung des Menschen, entwickelt. Schließlich wird dargelegt, wie Kierkegaard diesen (Fichteschen) ethischen Individualismus im Begriff Angst transformiert, wo er in der Gestalt der idealistischen Moralphilosophie auftritt, die Kierkegaard vom christlich-dogmatischen Standpunkt aus unter dem Titel „das Ethische“ kritisiert. Im Begriff Angst. fungiert die Interpretation des Dogmas der Erbsünde als kritischer Einwand gegen den moralischen Optimismus der idealistischen Ethik. Sie bezeichnet einen Wechsel der Perspektive auf das Ethische: vom Sich-Wissen der praktischen Subjektivität als eines im Grunde freien Wesens zum Bewusstsein seiner selbst als eines in seiner Endlichkeit befangenen Wesens. Diese Veränderung im Begriff des moralischen Selbstbewusstseins, die Kierkegaard in seiner Aneignung Fichtes (oder generell der idealistischen Moralphilosophie) vornimmt, ist der philosophische Kern seiner Auseinandersetzung mit diesem Standpunkt. Es soll also gezeigt werden, dass dieser – und insbesondere der Fichtesche – Standpunkt durchgehend den Rahmen der Thematisierung – und der Kritik – der Ethik ausmacht. Hegels Idee der Sittlichkeit als einer sozialen und gesellschaftlichen Selbstverwirklichung war nur eine kurze Station dieses Weges.
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Da der Umfang und die Intensität von Kierkegaards Fichte-Studium unklar sind, gestehe ich mir die Freiheit zu, auf Grund seiner wenigen Hinweise sein Fichte-Bild zu rekonstruieren. Im Zentrum stehen hier natürlich die Bestimmung des Menschen, aber auch grundlegende Begriffe von Fichtes Wissenschaftslehre und einzelne Gedanken aus der Sittenlehre, die Kierkegaard wohl ebenfalls bekannt waren. Die Leitthese meiner Darstellung möchte ich dahingehend präzisieren, dass Kierkegaard in ber den Begriff der Ironie, teilweise auch in Entweder-Oder II mit der Fichte-Kritik Hegels und seiner Idee der Sittlichkeit als Selbstverwirklichung im gesellschaftlichen Leben sympathisiert, dass aber die Konstitution des Ethischen als solchen Fichteschen Charakter hat: Die Rede des Gerichtsrats Wilhelm von der „zweifachen Existenz“ des ethischen Individuums (vgl. E-O II, 186) verrät eine Spannung in der Position des Ethikers, die Kierkegaards Distanzierung von der Hegelschen Position vorbereitet. Infolge dessen wird Kierkegaard die Frage nach der ethischen Aufgabe im Begriff Angst wieder auf der Grundlage der idealistischen Moralphilosophie – kritisch – bewältigen. Was die Kritik an Fichte im Begriff Angst angeht, so hält Kierkegaard Abstand zu Fichtes idealistischer Auffassung, indem er deren Voraussetzung in Frage stellt: dass nämlich das moralische Subjekt mühelos die Freiheit und Intelligenz sozusagen als Wind im Rücken habe. Demgegenüber ist nach Kierkegaard das Selbst im moralischen Handeln stets in einem inneren Widerspruch zwischen Ewigem und Endlichem befangen. Das ethische Grundproblem – die spannungsvolle Beziehung zwishen der geforderten Idealität und der verdorbenen, inneren Realität – muss mittels einer Rekonstruktion des Dogmas der Erbsünde interpretiert werden. Kierkegaards Kreisen um das Phänomen der Angst in Hinblick auf den Sündenfall hängt mit seiner Auffassung zusammen, dass das moralische Selbstverhältnis entscheidende anthropologische bzw. psychologische Aspekte hat, d. h. dass es aus dem Freiheitsbewusstsein allein nicht erschöpfend erklärt werden kann.
I Fichtes Bestimmung des Menschen scheint von Anfang an Kierkegaards Unzufriedenheit mit Hegels philosophischem System und seiner eigenen Forderung nach einer existentiell orientierten Philosophie entgegenkommen.2 In diesem Werk findet er eine Kritik an einem dogmatisch2
Vgl. Abschnitt II dieses Aufsatzes.
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rationalistischen Objektivismus mit der Zielperspektive einer aus dem tätigen Subjekt zu begreifenden moralischen Weltanschauung. Die Subjektivität zur Achse eines philosophischen Systems zu machen, ist Fichtes Anliegen in diesem Werk. In drei Kapiteln werden drei mögliche Positionen dargestellt, die der Mensch zur Welt und zu sich selbst einnehmen kann. In interessanter Weise – übrigens ganz parallel zu Kierkegaards späterer Rede von den Stadien auf dem Weg des Lebens – stellt Fichte mit nahezu existentiellem Pathos dar, wie der Mensch zunächst eine rationalistisch-objektivistische Weltanschauung entwirft, worin er ganz in der Totalität verschwindet. Sodann entwickelt Fichte in zwei weiteren Schritten, wie der Mensch – aus Verzweiflung über diese lähmende Sichtweise – zum Bewusstsein seiner selbst als dem Grund sowohl seines theoretischen als auch praktischen Weltverhältnisses erwacht. Von diesem neuen Standpunkt aus erkennt er, dass der Objektivismus den Fehler macht, jegliches Seiende als Glied einer Weltordnung zu denken, die gleichsam nach umfassenden Gesetzen abläuft. Dieses System reduziert den Menschen auf einen unselbständigen und unbedeutsamen Teil eines mechanischen Zusammenhangs, worin er ganz verschwindet. Es ist Fichtes Pointe, dass ein solches System konsequent gedacht werden kann, aber nur unter der problematischen Voraussetzung, dass das Individuum nicht dessen inne wird, dass es selber Anteil an der Konzeption eines solchen Systems hat. Erkennt der Mensch, dass alle Objektivität – von der einfachsten Empfindung bis zum höchsten Weltbegriff – nicht unabhängig von ihm gegeben, sondern das Produkt seines eigenen freien Aktes als Subjekt ist, kehrt sich das Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt um: Die Welt wird als für und durch das Subjekt gegeben angesehen, d. h. als durch die theoretischen und praktischen Aktivitäten des Ich zustande gebracht. Aufgrund der Möglichkeit einer konsequenten Durchführung des deterministischen Systems kann es vom entgegengesetzten – transzendentalphilosophischen – nicht mittels rationeller Argumente widerlegt werden. Es ist ein außerphilosophisches Lebensinteresse, das nun argumentatives Gewicht erlangt: Welcher Mensch will ich sein? Ein Produkt der Umstände, dem Weltlauf preisgegeben, oder ein Wesen, das sich frei zu dem macht, was es ist? Kurz: Die Freiheit steht im Zentrum, und sie ist nur dann Grundlage allen Seins – bzw. kann es nur dann werden – , wenn der Mensch handelt. D. h.: sie setzt sich selbst voraus. Wähle ich sie, dann ist sie, und dann gestaltet sich eine ganz andere Welt für mich als die des Dogmatismus. Es hängt also von einer Wahl aufgrund des Lebensinteresses ab,
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welches von beiden Systemen als das wahre gelten soll.3 In Die Bestimmung des Menschen wählt Fichte die Transzendentalphilosophie eben auf Grund seines Lebensinteresses, denn: „Das System der Freiheit befriedigt, das entgegengesetzte tötet und vernichtet mein Herz. Kalt und tot dastehen und dem Wechsel der Begebenheiten nur zusehen, ein träger Spiegel der vorüberfliehenden Gestalten – dieses Dasein ist mir unerträglich“.4 Also wählt er das System der Freiheit, weil nur sie ihm die Möglichkeit gibt, im eigentlichen Sinne zu leben: „sich in Teilnahme zu verlieren, sich zu freuen und zu betrüben“.5 Aber bei näherem Zusehen hat er dennoch ein Argument für seinen in epistemologischer Hinsicht transzendentalphilosophischen Gesichtspunkt in der Hand. Denn ein Objektivismus (bzw. Dogmatismus), der der Freiheit nicht gerecht werden kann, basiert auf einer denkenden Betrachtung der Welt, die des Denkenden nicht bewusst ist. Demgegenüber führt die aus dem Selbstbewusstsein entspringende Position notwendig zu der Ansicht, dass unsere Weltansicht kein bloßes Abbild einer äußeren, unabhängigen Welt (als Ding an sich) ist, sondern ein tätig hervorgebrachter Weltbegriff. Die Ordnung der Welt ist kein vorgefundenes Ding, sondern ein Begriff, der vom regelgebenden Denken produziert wird. Alle Objektivität – der Natur wie auch der sittlichen Welt – entsteht somit nur dadurch, dass sich der Mensch als Subjekt konstituiert, d. h. denkt und handelt. Nun befriedigt die theoretische Beziehung zur Welt nicht ganz. Es bleibt ein unerfüllter Trieb im Subjekt bestehen. Als Urheber freier Handlungen ist das Ich im Grunde praktisch angelegt; präziser gesagt: dem Ich wohnt als tätigem Subjekt basal der Trieb inne, sich ganz zu verwirklichen, d. h. sich nicht nur als Subjekt, sondern auch als Objekt hervorzubringen und als frei zu erkennen. Und obwohl die erkannte Welt ein begriffliches Produkt ist, bleibt sie immer nur ein Bild, eine Abstraktion, und macht nicht die Wirklichkeit des Ichs selbst aus. Das Ich wird deshalb zum Handeln getrieben. Nun meint Fichte, dass das Handeln moralischpraktisch sein muss. Warum? Im System der Sittenlehre (1798) nennt er die Intelligenz die Bedingung einer freien Handlung. Da das Ich Intelligenz, 3 4 5
Die Bedeutung des menschlichen Charakters für die Philosophie wird von Fichte auch im Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre (1797/98, hrsg. von Peter Baumanns, Hamburg 1984, S. 17) hervorgehoben. J. G. Fichte Die Bestimmung des Menschen auf der Grundlage der Ausgabe von Fritz Medicus, revidiert von Horst D. Brandt, Hamburg 2000, S. 32. Ebd.
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d. h. in theoretischer und praktischer Hinsicht selbständiger Gesetzgeber ist, ist es nicht nur frei und verantwortlich, es ist auch darauf ausgerichtet, diese seine Selbständigkeit zu verwirklichen. Freiheit ist die Bedingung für die Absicht, den Anfang und das Ende einer Handlung gleichermaßen: „Das Prinzip der Sittlichkeit ist der notwendige Gedanke der Intelligenz, daß sie ihre Freiheit nach dem Begriffe der Selbständigkeit […] bestimmen solle.“6 Durch moralische Handlungen überbrückt also das Ich als freies die Kluft zwischen der Intelligenz bzw. dem Subjekt und dem Objekt. Moralisch qualifiziert ist das Handeln des Subjekts, wenn es überall nur Freiheit und Selbständigkeit – in sich wie auch in der Welt – verwirklicht sehen will. Da aber das Subjekt sein freies Handeln als ein Sich-Setzen versteht, kann der Endzweck des moralischen Engagements nicht in der Weltverbesserung bestehen; das Streben wird eine Kreisbewegung, durch die das Ich moralisch-praktisch in die Welt eingreift und vermittels dieser Selbstüberwindung sich mit sich selbst zusammenschließt. Mit Fichtes Worten: „Wer bin ich? Subjekt und Objekt in einem, das Allgegenwärtige Bewußtseiende und Bewußte, Anschauende und Angeschaute, Denkende und Gedachte zugleich. Als beides soll ich durch mich selbst sein, was ich bin“.7 Wenn Fichte im Fortgang von den Resultaten des moralischen Strebens und nicht bloß von dessen Bedingungen spricht, wird der Glaube aktuell. Der Grund ist darin zu suchen, dass die Verwirklichung des Guten durch das Streben des Subjekts letztlich nicht in seinen Händen liegt. Es kann der Verwirklichung seiner Zwecke in der Welt nicht gewiss sein. Die guten Absichten können aufgrund ungünstiger Umstände ins Gegenteil verkehrt werden, d. h. unabsichtlich Böses herbeiführen. Umgekehrt lehrt die Erfahrung, dass manches Böse unabsichtlich gute Resultate haben kann, ja, die Weltgeschichte weist im Ganzen eine Entwicklung zum Besseren auf: trotz Feindschaft und Selbstsucht, die wohl die stärksten Triebkräfte geschichtlicher Veränderungen bilden. Macht, List, Laster und böser Wille stecken häufig hinter scheinbar guten Motiven. Fichtes Argument läuft somit auf folgende einfache Betrachtung hinaus: Wenn der Erfolg des moralischen Strebens in der Welt unsicher und das Gute im konkreten Fall nur schwer zu identifizieren ist, die Vernunft aber nicht ohne Aussicht auf Erfolg ihre Kräfte aufbietet – alles andere wäre unsinnig 6 7
Fichte Das System der Sittenlehre nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre (1798), Hamburg 1995, S. 58. Fichte Die Bestimmung des Menschen, S. 88f.
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–, muss der wahre Erfolg im handelnden Ich selbst – in seinem Willen – liegen. Der Wille ist sowohl Subjekt als auch Objekt des Handelns. Der guten, d. h. befreienden, Wirkung des moralischen Willens auf sich selbst gewiss, meint Fichte Grund zum Optimismus zu haben, was die Frage nach der Möglichkeit einer Erfüllung des moralischen Strebens betrifft. Zwar deuten die Begriffe „Streben“, „Sollen“ und „Wille“ auf eine Spannung zwischen einem ursprünglichen Ideal und einer – geschichtlichen und materiellen – Realität als etwas Verbesserungsbedürftigem hin, einen Anstoß, ein Nicht-Ich muss es geben, damit der Begriff des Gebotes überhaupt Sinn hat; aber trotz aller Konflikte und unerfüllten Aufgaben meint Fichte der unmittelbaren Wirkung des moralischen Handelns auf den Willen des Subjekt gewiss sein zu können: Was ich sein soll, das werde ich. Also liegt es in der moralphilosophischen Begründung der Ethik, dass das Ich mit dem Guten innig verbunden ist: durch das Gewissen als individualisiertes Gebot der Pflicht. Das moralische Subjekt hat das Gute auf seiner Seite; seine Sinnlichkeit ist nicht konstitutiv für seine Identität, sondern steht ihm in Gestalt der Körperlichkeit als Material der Handlung gegenüber. Vielleicht ermöglicht es Fichte gerade sein idealistischer Standpunkt, seinen Optimismus zu bewahren – wenn er etwa die Die Bestimmung des Menschen mit folgenden Worten abschließt: „Mein Geist ist auf ewig verschlossen für die Verlegenheit und die Verwirrung, für die Ungewissheit, den Zweifel und die Ängstlichkeit; mein Herz für die Trauer, für die Reue, für die Begier.“8 Wohl ist sein Streben nicht zu Ende, aber sein niederes Ich hat sich mit dem höheren Ich zusammengeschlossen, „denn meine gesamte Persönlichkeit ist mir schon längst in der Anschauung des Ziels verschwunden und untergegangen“, heißt es.9
II Fichtes Kritik am Dogmatismus zugunsten einer subjektivitätsorientierten Philosophie, die die Welt als Ort der Verwirklichung der Freiheit betrachtet, kommt – wie am Anfang vermerkt – der Suche Kierkegaards nach einer Weltanschauung, die dem Einzelnen eine Lebensaufgabe setzt, entgegen. Die Ansicht, dass es dem Menschen primär um sich selbst in moralisch-religiöser Hinsicht geht, liegt auch seinem Denken zugrunde. 8 9
Ebd., S. 152. Ebd., S. 153.
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Es stellt sich aber die Frage, wie weit er seinem Vorgänger folgen kann. Es ist eben mit Blick auf Fichte, dass sich Kierkegaard 1835 in den Journalen kritisch zu Hegel äußert; sein Lob gilt dem richtigen Ausgangspunkt, den Fichte in Die Bestimmung des Menschen einnehme: dass man in der Philosophie nicht einseitig von objektiven Erkenntnisresultaten sprechen könne. Erkenntnis impliziert ein Subjekt, dessen Erkenntnis sie ist. D.h. dass „der eigentliche Philosoph in höchstem Grade subjektiv ist“ (DSKE 1, AA:12.4.1, S. 25). Andernorts (1836) wird an Wilhelm Meister gelobt, dass Goethe eine Führung im Ganzen ahnen lasse, eine moralische Weltordnung, die am Anfang des Romans nur in der Theorie existiert, und die Wilhelm am Ende seiner Bildung lebendig in sich aufgenommen hat (Pap. I C 73). In Goethes Bildungsideal sieht Kierkegaard den Grundgedanken von Fichtes Ethik illustriert: dass nämlich „nur der Geist, aus dem wir zu handeln bereit sind, das Höchste ist“.10 Diese Wende zum Subjektiven öffnet nicht Tür und Tor für individuelle Willkür (ein liberum arbitrium), da das Individuum nur wahrhaft es selbst wird, wenn es seinem Gewissen folgt. Umgekehrt gewinnt die äußere Weltordnung Bestätigung und Wirklichkeit erst im Gewissen als dem individualisierten Moralgesetz; die moralisch verwirklichte Individualität ist ein Mikrokosmos; sie spiegelt die Weltordnung wider.11 In ber den Begriff der Ironie geschieht eine (vorläufige) Kehre, da sich Kierkegaard hier mit Fichtes Methode kritisch auseinandersetzt (BI, 277ff.). Fichte wird von Kierkegaard als Exponent der modernen Spekulation charakterisiert. In seiner Ablehnung des Dogmatismus liegt eine Forderung an das Individuum, in der selbstbewussten Vernunft den Leitfaden der Wahrheit zu finden. Fichtes Problem sei jedoch, dass er an epistemologischen und ethischen Grundfragen einseitig interessiert sei und den moralisch Strebenden nicht zu „Fülle und Wahrheit kommen“ lasse (BI, 279), da er sich durch die beständige Reflexion auf seine Leistungen selber hemme, d. h. nur das Vernunftvermögen sehen wolle. In dieser negativen, unendlichen Reflexion bleibe das Ich schwebend – bzw. die Welt außerhalb seiner als bleibende Grenze (Nicht-Ich). Fichte setze die Identität, das Ich = Ich, zu abstrakt an, da er das Ich nicht „in die Tiefe des substantiellen Lebens sich versenken“ lasse (ebd.). Kurz: „die Subjektivität wurde die unendeliche, absolute Negativität“ (BI, 278). In ber den Begriff der Ironie ist Kierkegaards Zustimmung zu Hegels Kritik an Fichtes Begriff der absoluten Subjektivität deutlich zu spüren. 10 Kloeden „Søren Kierkegaard und J. G. Fichte“ (s. Anm. 1), S. 122. 11 Ebd., S. 121f.
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Dieser Gesichtspunkt wird in Entweder-Oder fortgeführt. Kierkegaard berührt die Hegelsche Lösung des Fichteschen Problems, indem er Hegels Idee der sittlichen Selbstverwirklichung im sozialen und gesellschaflichen Leben existentiell-konkret zu verdeutlichen sucht. Die Idee, nach der der Gerichtsrat Wilhelm – der „Ethiker“ – lebt, läuft darauf hinaus, dass in der ethischen Lebenshaltung Treue gegenüber dem eigenen ewigen Wesen mit einem Leben in den mannigfaltigen Formen des bürgerlichen Daseins vereinbar ist, ja, dass dieses jene bestätigt, indem es das ewige Wesen verwirklicht. Das Selbst, das für die moralische Praxis das konstitutive Prinzip ist, geht keinen bloßen Kompromiss ein, wenn es das gesellschaftliche Leben auf sich nimmt. Sich selbst frei als unendlich mannigfaltige Konkretion zu wählen, bedeutet nicht, auf sich zu verzichten. Der Einfluss der Bestimmung des Menschen auf Kierkegaards Entwicklung ist wohl unter allen Schriften Fichtes der am besten dokumentierte. Der Aufbau von Entweder-Oder und die Stadienlehre weisen Parallelen zum Gedankengang dieses Buches auf. Wohl gilt Kierkegaards Interesse nicht der Kritik des Dogmatismus und den Grundlegungsfragen der Erkenntnistheorie und Ethik, deren populäre Darstellung diese Schrift sein sollte. Aber es liegt nahe anzunehmen, dass er eine existentielle Pointe in Fichtes Darstellung des Konflikts zwischen der dogmatischen, objektivistichen und der freiheitsphilosophischen Position gefunden hat. Fichtes Grundlegung des Ethischen in der praktischen Subjektivität als einem Akt – und eben nicht einer Substanz – ähnelt stark Kierkegaards Fundierung des Ethischen in der Selbst-Wahl, die ebenso nur als Akt Grundlage der Gültigkeit der daraus folgenden, moralisch qualifizierten Praxis sein kann. Parallel zur Auseinandersetzung mit dem Dogmatismus von der Position der Freiheitsphilosophie aus präsentiert Kierkegaard die Auseinandersetzung des Ethikers, des Gerichtsrats Wilhelm, mit der ästhetischen Lebenshaltung. Die Schwierigkeit, auf die der Ethiker beim Ästhetiker stößt, besteht darin, dass dieser seiner hedonistischen Lebenshaltung nicht entsagen kann, weil er – als sinnlicher Mensch – eine Bedingung seines Lebens setzt, die – als entweder innere oder äußere – nicht durch ihn selbst ist gesetzt ist (E-O II, 191). Dagegen stammt das, was allein alles verändern kann, aus dem Inneren, nämlich der Selbst-Wahl. Erst in dieser Freiheitshandlung wird das Selbst für sich and kann seinem Leben eine Richtung geben. Die Parallele zu Fichte liegt nicht nur in der Gewichtung des praktischen Selbstbewusstseins im Verhältnis zum theoretischen, sondern hauptsächlich darin, dass Kierkegaard mit einer kontemplativen Variante der ästhetischen Lebenshaltung operiert, die genau Fichtes dogmatischer
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Weltanschauung entspricht. Die Kontemplation lässt in ihrem wissenschaftlichen Erklären alles, auch menschliche Handlungen, in einer „höheren Ordnung der Dinge“ verschwinden, in einer weltgeschichtlichen Bewegung, die von Notwendigkeit geprägt zu sein scheint (E-O II, 185). Kierkegaard erkennt das wissenschaftliche Denken in der Logik und dem Naturerkennen an, nicht aber in Bezug auf geschichtliche Verhältnisse, in denen Handlungen nie notwendig geschehen, sondern immer in einer Unbestimmtheit gründen – aufgrund ihres Ursprunges in den Entscheidungen der einzelnen Individuen. Für die denkende Betrachtung gehört das Individuum ganz der Natur und Geschichte an, aber dem selbstbewussten Individuum kommt es in seinem individuell geschichtlichen Leben darauf an, sein Dasein zu übernehmen und seine Freiheit darin zu verwirklichen. Die Pointe besteht darin, dass sich diese „innerliche [dän. indvortes] Handlung“ (SKS 3, 170, E-O II 185), auf die alles ankommt, der objektivwissenschaftlichen Betrachtung entzieht. Die vertikale Kausalität der Freiheit bricht durch die horizontale, geschichtliche Kausalität hindurch. Eine ethische Idealität macht sich im Verhältnis zur Realität geltend. Erst mit der existentiellen Selbst-Wahl wird es möglich, von einem eigentlichen Sich-Verhalten zu sprechen, und dieses impliziert eine Entzweiung im Individuum, ein Sich-Distanzieren zur Welt, durch das das Indiviuum für sich selbst wird. Diese Entzweiung wird schon in dem Etablieren des Ethischen vorbereitet (ebd.). Die Selbst-Wahl ist eine innerliche Handlung, die sich dem äußeren Blick entzieht und durch die das Individuum sich in ein Verhältnis zu sich setzt. Die Selbst-Wahl bedeutet ein Sprung von der ästhetischen zur ethischen Haltung, die als eine Doppelbewegung erfolgt: Der Ethiker charakterisiert ihn als ein Sich-Sammeln aus der sinnlichen – ästhetischen – Zerstreuung in den Punkt des Augenblicks, in dem das sich wählende Individuum – vor Gott – sich selbst in seiner „ewigen Gültigkeit“ gegenwärtig wird und sich zugleich in seinem endlichen Aspekt empfängt, indem es in ein Verhältnis zu seiner Natur und seiner lebensgeschichtlichen Ganzheit tritt. Der Augenblick – dieses Atom der Ewigkeit in der Zeit – verkündet dem Individuum dessen ungeteiltes („atomos“) Wesen, das es nun in der Zeit zu verwirklichen hat als eine ganze, „zusammenhängende“, d. h. konkrete, Individualität. Mit anderen Worten: Die Begegnung mit der „göttlichen Macht“ manifestiert sich dem Handelnden, indem sie sein Selbstverhältnis entstehen lässt, das zugleich seine Entzweiung ist. Um von ihr loszukommen, muss das Subjekt nun die ethische Forderung auf sich nehmen, die darin besteht, seine Entzweiung zwischen Ewigkeit und
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Endlichkeit aufzuheben. Das kann nur durch die Reue geschehen, deren Funktion es ist, die Missstände im Verhältnis zu den Mitmenschen aufzuheben; d. h. Verfehlungen wieder gut zu machen. Also nicht primär als Normen zur Sicherung geordneter sozialer Verhältnisse sind Gut und Böse zu verstehen, sondern als Begriffe, deren Inhalt der ethischen Aufgabe entspringt, für sich selbst ganz und frei zu werden. Die Reue wird zur Optik, mit der der Ethiker seine endlichen Verhältnisse (Familie, Gattung usw.) betrachtet. Sie spiegelt seine Liebe zu Gott wieder, durch die das Individuum sich aus seiner Verstrickung in die Welt befreien soll, in die es durch die ästhetische Lebensführung geraten ist. Sich selbst wählen heißt also: eine Kreisbewegung zu vollbringen, sich im Durchgang durch die Welt mit sich zusammenzuschließen vermittels der Reue als innerlicher Liebe zu Gott (E-O II, 229f.). Die Selbst-Wahl ist ein Akt der Freiheit, dem rein sinnlichen Individuum unbegreiflich. In ihr wird das Individuum nicht nur Subjekt, sondern auch Objekt seiner selbst, weil es sich ethisch in seinem endlichen Aspekt empfängt. Die ganze Bewegung der Selbst-Wahl kann deshalb als eine Kreisbewegung angesehen werden, in der der Mensch Subjekt wird, indem er sich selbst gegenübergestellt wird mit der Forderung, sich selbst durchsichtig, d. h. ganz zu werden. Die Aufhebung des Ästhetischen in das Ethische besagt, sich seines Wesens als Geist, d. h. als im Grunde frei, bewusst zu sein und seine Natur in diese seine Idealität zu integrieren. Im Gegensatz zur ästhetischen Lebenshaltung setzt der Ethiker selbst die Bedingung des Gelingens seines Vorhabens, weil seine Pflicht ihn selbst in seiner ewigen Gültigkeit angeht; in diesem Sinne ist er selbst souverän, d. h. im Ausgangspunkt frei. So drückt Kierkegaard eben dieselbe Stellung zum Ethischen aus, die wir bei Fichte in Die Bestimmung des Menschen dargelegt finden. Hier fängt das Ethische mit der Entdeckung der Freiheit an, die aus der Erkenntnis fließt, dass frei sein heißt: sich selbst zugleich zum Subjekt und Objekt zu werden.12 Was den sozialen Aspekt des ethischen Lebens angeht, besagt ,ethisch existieren’ also: einsehen, dass die äußere, moralische Ordnung von der Individualität als Subjekt getragen ist. Aber die Selbst-Wahl, durch die sich das Individuum als Subjekt konstituiert, ist nicht nur als transzendentale Bedingung der Moralität, d. h. als der Anfang, sondern auch als der Zweck der Handlungen anzusehen. Nach Außen manifestieren sich die moralischen Handlungen in Familien-, Freundschaft- und Arbeitsverhältnissen. Innen entspringen sie aber aus der Idee eines ganzen, ungeteilten und sich 12 Fichte Die Bestimmung des Menschen, S. 86.
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selbst durchsichtigen Menschen. Willenskräftig engagiert sich der Ethiker im Äußeren, um intersubjektiv die Forderung zu erfüllen, die aus der Erfahrung der ewigen Gültigkeit seiner Persönlichkeit im Verhältnis zur Gottheit entspringt. Das Gottesverhältnis ist notwendig, damit das Individuum seine Außenstände bei der Welt, d. h. seine Entzweiung, aufheben kann. Die Frage ist nun, ob die ethische Forderung innerhalb der Totalität des bürgerlichen Lebens erfüllt werden kann oder ob ihre Radikalität nach einer anderen Existenzform ruft. Der Gerichtsrat Wilhelm entscheidet sich für die Hegelsche Lösung der Selbstverwirklichung im substantiellen Leben, um darin Wahrheit und Fülle zu finden (BI, 279), deutet aber ein beklommenes Gefühl in Hinblick darauf an, darin, dass man auf einem bestimmten Platz innerhalb einer begrenzten Sphäre sein Leben führt, das darum ständig droht, in Spießbürgerlichkeit zu verfallen. Dagegen ist die Kreisbewegung der Konstitution des Ethischen in der Selbst-Wahl im Grunde eine innerliche („innerlig“) Handlung, nämlich die exklusive Aufgabe des Einzelnen mit sich selbst, sein empirisches und geschichtliches Sein durch die Liebe zu läutern, seine inneren Konflikte aufzuheben, kurz: in sich frei zu werden. Kierkegaards Grundlegung des Ethischen ähnelt also deutlich der Fichteschen; man spürt dessen Rede vom Ich, das sich selbst setzt, und zwar in der Spannung zu einem Nicht-Ich, woraus die Aufgabe entspringt, die darin liegende Begrenzung aufzuheben durch Handlungen, die im absoluten Ich münden. Kierkegaard verwendet folgenden Ausdruck für den Prozess, den das Sich-Selbst-Wählen in Gang setzt: „sich selbst produzieren“ (E-O II, 268). In ihm werden Subjekt und Objekt eins. Das wäre der absolute Standpunkt – für Kierkegaard allerdings nicht des Ich, sondern der Persönlichkeit. Obwohl Kierkegaard den Gerichtsrat hier eine Hegelsche Position vertreten lässt, bleibt er in der Nähe Fichtes, was die Grundlage anlangt. Die zentrale Rolle der Subjektivität verrät sich in der Auffassung, dass die Gültigkeit der sozial-ethischen Werte mit der Selbst-Wahl des Einzelnen steht und fällt. Erst in der Selbst-Wahl bringt das Individuum ein Verhältnis zu sich hervor; in deren Unbedingtheit verkündet sich die Ewigkeit des Menschen mit der Forderung, seine ganze Lebensgeschichte verantwortlich auf sich zu nehmen. Die Wahl ist eine Kreisbewegung, in der der Wählende im Augenblick der Wahl für sich wird, indem er seine ganze Natur und sein geschichtliches Dasein übernimmt. In Fichtes Terminologie ausgedrückt, produziert das Ich sich selbst und vereinigt sich mit sich. Da aber die eigene Natur und Geschichte für Kierkegaard ein integraler
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Teil des Selbst ist, meint er vermutlich, die Entzweiung vermeiden zu können, in die Fichte gerät, für den das Ich mit einem Nicht-Ich, d. h. etwas Äußerem, behaftet ist. Nicht vom Ich, sondern von der Persönlichkeit will Kierkegaard sprechen: „Er ist also im Augenblick der Wahl am Schluß, denn seine Persönlichkeit schließt sich zusammen; und doch ist er im gleichen Augenblick am Anfang; denn er wählt sich selbst nach seiner Freiheit.“ (E-O II, 268) Dass sich Kierkegaard in Entweder-Oder einer Hegelschen Position nähert, ist sicher; das ändert aber nichts daran, dass er – absichtlich oder nicht – der Individualität die Rolle des Trägers des sittlichen Lebens zuweist. In der Selbst-Wahl erhalten die moralischen Normen ihre Gültigkeit; jene ist sozusagen die transzendentale Bedingung von diesen.13 Wie der Einzelne sich dann als Produkt der Gesellschaft und Geschichte verstehen und sich zugleich den Status einer autonomen Individualität beimessen kann, erklärt sich aus Kierkegaards Begriff der innerlichen Handlung („indvortes Handling“). Mit diesem Begriff scheint Kierkegaard ein Korrektiv zu Hegel geltend zu machen und sich Fichtes Individualismus in Die Bestimmung des Menschen anzunähern.
III Nach Entweder-Oder verabschiedet Kierkegaard die Hegelsche Idee einer in der sittlichen Totalität völlig verwirklichten praktischen Subjektivität. Das innerliche Selbstverhältnis findet keinen angemessenen Ausdruck in der äußeren, bürgerlichen Identität; das ewige Bewusstsein verleiht der Existenzproblematik ein religiöses Gepräge. Von nun an wird Fichtes Theorie der praktischen Subjektivität näher an der Kierkegaardschen liegen als diejenige Hegels. Kierkegaards Entfaltung der ethischen Existenzproblematik wird allerdings ein Korrektiv zu Fichte enthalten, das Kierkegaard schon in ber den Begriff der Ironie mit einem humoristischen, aber sehr klaren Bild charakterisiert: „Fichte […] fand wohl ein Ich, eine Unsterblichkeit, aber ohne Fülle […]. Fichte warf in Verzweiflung den empirischen Ballast über Bord und kenterte“.14 Hiermit deutet der junge Kierkegaard an, dass Fichte die Schwere der ethischen Selbstverwirklichung nicht zureichend begriffen habe. 13 Vgl. Johannes Sløk „Eksistensfilosofien“ in Filosofien efter Hegel, hrsg. von J. K. Bukdahl, Kopenhagen 1980, S. 65. 14 Papirer, bd. 1, s.130.
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Im Begriff Angst wird diese Auffassung – und Kritik – dadurch implizit entfaltet, dass die ethische Problematik auf der Basis des theologischen Dogmas der Erbsünde behandelt wird. Im Gegensatz zur idealistischen Moralphilosophie vertritt Kierkegaard hier die Auffassung, dass die theoretischen Bedingungen des moralischen Strebens (Intelligenz, Freiheit) mitsamt der Kraft des Wollens den Menschen nicht zu erlösen, d. h. befreien, vermögen. Zu den Bedingungen gehört wesentlich auch ein Ereignis in der individuellen Lebensgeschichte, das dem Streben verausgeht, nämlich der Sündenfall. Die Pointe der Einführung dieses Dogmas als kritisches Gegenstück zur Moralphilosophie besteht darin, das es deren Voraussetzungen in Frage stellt. Das Korrektiv wird von Kierkegaard in seiner einleitenden Rede von der ethischen Aufgabe der modernen praktischen Philosophie in Ansatz gebracht: „Die Ethik ist […] eine ideale Wissenschaft, nicht nur in dem Sinne, in dem jede Wissenschaft das ist. Sie will in Idealität in die Wirklichkeit hineinbringen, hingegen ist es nicht ihre Bewegung, die Wirklilchkeit emporzuheben in die Idealität.“ (BA, 13) Und weiter heißt es: „Mit der Dogmatik fängt diejenige Wissenschaft an, die im Gegensatz zu jener im strengen Sinne so genannten idealen Wissenschaft von der Wirklichkeit ausgeht. Sie beginnt mit dem Wirklichen, um es in die Idealität empor zu heben.“ (BA, 17) Wie dem Untertitel – „eine schlichte psychologisch andeutende Überlegung in Richtung auf das dogmatische Problem der Erbsünde“ – zu entnehmen ist, konfrontiert er die Moralphilosophie mit der Dogmatik, um ihre Voraussetzung kritisch zu beleuchten: dass die Sollens-Ethik ihrem Begriff gemäß voraussetzt, dass das Individuum sich bereits außerhalb des Guten gesetzt hat und nun versucht, es zu verwirklichen. Aber was bedeutet es, sich außerhalb des Guten gesetzt zu haben? Kierkegaard weigert sich, das Dogma der Erbsünde einen Mythos zu nennen, ausgenonmmen in dem Sinne, dass der Mythos „im Äußerlichen geschehen“ lasse, „was innerlich ist.“ (BA, 45, vgl. 44) Durch eine Interpretation der Erzählung vom Sündenfall in der Genesis versucht Kierkegaard einen philosopisch-anthropologischen Begriff vom Menschen einzuführen, der im Unterschied zu demjenigen der idealistischen Moralphilosophie die ethische Aufgabe in ein anderes – problematischeres – Licht rückt. Das Dogma handelt vom Erwachen des Freiheitsbewusstseins – und damit des Geistes – aus dem sinnlichen Leben des Menschen und von der daraus folgenden Entzweiung, die mit dem Sündenfall entsteht: ein Sich-gesetzt-Haben in einer bewussten, aber ohnmächtigen, negativen Realität gegenüber der positiven sein-sollenden Idealität.
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Die Ersetzung der moralphilosophischen Perspektive durch die Existenzperspektive, die – so Kierkegaard – die Dogmatik herbeiführt, manifestiert sich in seinem psychologichem Blickwinkel, der das ganze Werk hindurch festgehalten wird: Die Angst, die das leitende Thema bildet, ist ein psychisches Phänomen, das an das Ethische angrenzt, indem es die Möglichkeit zu können zeigt und damit das Entstehen des Bewusstseins der Freiheit verkündet. Der Geist zeigt sich dann als die Aufgabe, die dem Individuum mit der Freiheit auferlegt wird: sich in rechter Weise zu setzen, d. h. ein endliches Leben in Übereinstimmung mit sich als freiem, ewigem Wesen zu führen (BA, 60f.). Die Anfechtungen der Angst durchziehen verschiedene Existenzsituationen, weil die Aufgabe, sich in rechter Weise zu setzen, diffizil ist. Z.B. wird das ethische Streben die Anfechtung nie los: Nicht nur schwebt ihm das zu verwirklichende Ideal vor, sondern auch die Möglichkeit des Falles. Das hängt mit Kierkegaards Begriff des Selbst zusammen: Er versteht es nicht als absolutes, freies Ich, sondern als Geist, d. h. als eine Synthese von Seele und Leib. Wird die Idealität einseitig angestrebt, meldet sich ihr Gegenteil, der Körper, sofort – und zwar durch Angst. Der Zugang zum Ethischen aus der Perspektive des Dogmas der Erbsünde ist also nicht einfach als theologische Voraussetzung eines Gläubigen anzusehen; er hat vielmehr einen sachlichen Grund, nämlich den dezidierten Hinweis darauf, dass das Wesen des Menschen nicht idealistisch von der Struktur des Ich = Ich her begriffen werden kann; dass er als Geist im Sinne der Einheit von Seele und Leib zu verstehen ist und dass seine – ethische – Aufgabe es ist, diese Einheit zu konkretisieren. Im Begriff Angst werden eine Reihe von gescheiterten Versuche des Individuums durchgespielt, sich in rechter Weise ethisch zu setzen – die darum scheitern, weil sie einseitig entweder im abstrakt Guten (mit der Schuld als Kontrastbild) oder im abstrakt Bösen fundiert sind. Der Unschuld oder dem Guten droht jederzeit der Fall; und dem Gesetztsein im Bösen, dem „Verschlossene[n]“ (d. h. dem Dämonischen) droht „das unfreiwillige Offenbare“ (BA, 127). Die Angst zieht das jeweils Entgegengesetzte an; sie ist damit der psychische Ausdruck der Komplexität des menschlichen Wesens als Geist. Mit seinem Zugang zum Ethischen vom konkreten Leben her leugnet Kierkegaard keineswegs die übersinnliche Natur des Menschen, korrigiert aber den einseitig idealistischen Zugang (Fichte), der sich – so Kierkegaard – die Aufgabe der Ethik zu leicht macht. Als Geist verhält sich das Individuum frei im Wissen um das Gute und Böse, ja, das Gute ist eben die Freiheit, und es ist die wesentliche Lebensaufgabe des Menschen, sich (d. h. seine Endlichkeit) mit der ewigen Natur zusammenzuschließen. Für
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Kierkegaard besteht jedoch eine Pointe des Dogmas der Erbsünde darin, dass das erwachende Bewusstsein der Freiheit nicht imstande ist, das Individuum von seiner Befangenheit im Endlichen zu befreien. In der Analyse der Angst als dem psychologischen Vorboten des Freiheitsbewusstseins versucht Kierkegaard demgegenüber zu zeigen, dass und warum sich das Individuum in dem Moment, in dem ihm die Freiheit aufgeht, in der Unfreiheit verfängt. Seine Interpretation des Dogmas des Sündenfalls zeigt, wie vom sinnlichen Leben her die ethisch-religiöse Problematik für das Individuum entsteht und warum die ethische Aufgabenstellung auf der Basis idealistischer Prämissen zum Scheitern verurteilt ist: Die Angst der Unschuld, die von der Erfahrung des Nichts begleitet wird, ist „der Schwindel, der aufsteigt, wenn […] die Freiheit niederschaut in ihre eigene Möglichkeit und dann die Endlichkeit packt, sich daran festzuhalten“ (vgl. BA, 60f.). Da sich der moralisch Strebende immer der ethischen Idealität vom Standpunkt dieser unberechtigten Wirklichkeit aus nähert, scheitern seine Versuche. Hier nicht der Ort, Kierkegaards Analysen detailliert nachzugehen; es soll nur vermerkt werden, dass eben diese dogmatische Voraussetzung eine Existenzdialektik in Gang setzt, die Fichtes Denken fremd zu sein scheint. Dialektisch ist das Verhältnis des Menschen zur ethischen Idealität, weil ihm diese nicht als direkt zugänglich erscheint; die Existenzlage nach dem Erwachen des Sündenbewusstseins ist nämlich insofern paradox, als die Freiheit in sich selbst gefangen ist. Oder umgekehrt ausgedrückt: das Individuum erkennt sich als ein Widerspruch, als ein Konflikt zwischen seiner Endlichkeit und Ewigkeit, und je mehr es strebt, die Idealität in die Realität hineinzubringen, umso mehr befestigt sich die Sünde. Im Begriff Angst thematisiert Kierkegaard erneut die Struktur der Kreisbewegung im ethischen Selbstverhältnis, die er in Entweder-Oder beschrieben hat, jetzt aber mit dem Fokus auf ihrem temporalen Aspekt. Die Entzweiung wird in der Definition des Menschen als „Synthese des Zeitlichen und des Ewigen“ (BA, 86) formuliert. Im Verhältnis zur Zeit hätte die Synthese bei einem rein sinnlichen (ästhetischen) Wesen, das in einer unendlichen Sukzession von Zeitpunkten dahinlebt, keinerlei Realität: Es entsteht, lebt und vergeht schlechthin. Aber mit dem Erwachen des (Selbst-)Bewusstseins entsteht die Zukunft für das Individuum als die Möglichkeit, sich von der Realität (Vergangenheit), in der es sich gesetzt hat, loszureißen. Diese Erstreckung der Zeit nach Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft drückt die intentionale Struktur der Existenz aus, und sie entspricht der anthropologischen Entzweiung zwischen Leib und Seele bzw. Geist in der Weise, dass die Vergangenheit gewissermaßen die
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Zugehörigkeit zur Welt (die Endlichkeit) und die Zukunft die ideale Möglichkeit der Befreiung (die Ewigkeit) ausdrückt. So ist die – intentionale – Existenz als ein Leben im Jetzt von der Vergangenheit in die Zukunft zu verstehen, und ethisch verstanden ist sie ein Versuch, von der Verstrickung in die Welt loszukommen: in die befreiende Gegenwart des künftigen Guten. Die Möglichkeitsbedingung bzw. das, was diesen Prozess in Gang setzt, ist das Ewigkeitserlebnis. Im Augenblick voller, zeitloser Präsenz – als dem Atom der Ewigkeit in der Zeit – verkündet sie die Möglichkeit, ganz, d. h. konkret zu werden. Die Zeit – in ihren Dimensionen der Vergangenheit und Zukunft – kann jedoch erst verschwinden und der Existierende in die Ewigkeit aufgehoben werden, wenn das Vergangene und das Künftige zusammenwachsen, wenn also das Streben die mögliche Befreiung nicht abstrakt zu erreichen sucht. Die wahrhafte Befreiung ist die Befreiung des ganzen Menschen; sie schließt also die Realität, als die er sich gesetzt hat, ein, d. h. den Teil, der der Welt zugehört. Das zeitliche Streben vorwärts nach dem Sich-Aufheben in das künftige Gute soll also durch eine rückwärtsgewandte Bewegung ergänzt werden, in der der Strebende seine in der Vergangenheit geschaffenen Außenstände bei der Welt bereut. Dass der Mensch eine Synthese vom Ewigen und Zeitlichen ist, bedeutet, dass er in einer Entzweiung existiert, die aufgehoben werden soll. Eine zentrale Frage im Vergleich zu Fichte ist es nun, wie dieser Widerspruch aufgefasst werden soll. Fichte lässt die Tathandlung des Ich, in der sich dieses im Verhältnis zum Nicht-Ich als begrenzt setzt, im Sich-Setzen des absoluten Ich gründen. Auch bei Fichte ist das Ich in seinem begrenzten Modus entzweit. Dennoch hat das begrenzte Ich als reine Intelligenz (Freiheitsbewusstsein) sozusagen immer die Idealität auf seiner Seite, die Realität (die Natur) steht ihm gegenüber, ist also außerhalb seiner. Kierkegaard sieht dies anders. Bei ihm ist die Sache komplizierter. Hier wird die ethische Aufgabe durch den Verlust der Freiheit konstituiert, und sie entspringt als der Versuch, zur Idealität, der Freiheit, dem Guten zu gelangen. Alle Versuche scheitern jedoch, da die Idealität dem endlichen Subjekt auf dem Standpunkt der Sünde entgegengesetzt ist (BA, 19ff.). Die radikale Bedeutung, die Kierkegaard dieser Bedingung zuspricht, wird aus der zentralen Rolle klar, die das Dämonische bei ihm spielt. Der psychologische Zugang zur Ethik im Begriff Angst lässt die konkrete existentielle Bewältigung der Aufgabe der Freiheit hervortreten. In seinen Analysen der Angst beschreibt Kierkegaard z. B., wie die Angst vor dem Bösen zum Bösen führen kann, weil sie den zweideutigen Charakter hat, zugleich sym- und antipathetisch zu sein. So äußert sich die moralische
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Gesinnung nicht einfach in einer Distanzierung von einer Schuld, die ich in der Vergangenheit auf mich geladen habe, denn ich bin es ja, der sich schuldig gemacht hat. Indem meine Vergangenheit zu meinem Selbstbewusstsein gehört, ist meine Distanzierung eben auch im sympathetischen Sinne angstvoll: Ich habe Angst, das Vergehen zu wiederholen. Umgekehrt kann das Individuum in der Angst vor dem Guten sich in sich gegen dieses abzuschließen versuchen. Bei Fichte spielt das Böse nur eine untergeordneten Rolle. Es wird in der Bestimmung des Menschen als ein Missbrauch, eine Negation der Freiheit angesehen, die seine positive Möglichkeitsbedingung bildet.15 So ist Fichte der Ansicht, dass das Böse einen parasitären Status hat. Es beruht auf dem Missverständnis, dass Selbstsucht das Vorteilhafteste für das Individuum sei, also auf Unwissenheit. Niemand handelt böse um des Bösen willen. Es geht also nur um die Frage, inwieweit der sich Irrende belehrt wird, und folglich, ob die Gesetze und die sittliche Haltung einer hinreichend großen Zahl von Mitgliedern der Gesellschaft dafür Sorge tragen, dass widergesetzliches und unmoralisches Verhalten nicht zu Vorteilen führt, sondern bestraft wird. Strafe und Erziehung werden den Bösen darüber belehren, was im Leben und für die Gemeinschaft in Wahrheit vorteilhaft ist. Fichtes Optimismus beruht auf der Voraussetzung, dass das Individuum stets frei ist, sich für das Gute oder das Böse zu entscheiden. Kierkegaard stimmt der Ansicht, dass das Böse letztlich Dummheit ist, nicht zu. Schuldig sein gehört zum Selbstverständnis des Individuums, weshalb das moralische Streben immer von Angst begleitet ist. Das Individuum schwebt nicht frei und unberührt über der Handlungssituation, es besitzt nicht die Kontrolle über seine seelisch-körperliche Wirklichkeit. Der Geist wäre zwar souverän, wenn der Körper sein Organ wäre. Aber da das Ethische die in sich selbst gefangene Freiheit zu ihrer unaufhebbaren Voraussetzung hat, kehrt sich das Streben gegen seine eigene gute Absicht. Kierkegaard versucht diese Sichtweise mittels der psychologischen Beobactung zu belegen, dass das Individuum aufgrund dieser Ohnmacht gegen das Gute agieren, sich also bewusst als sinnlich-körperliches Selbstbewusstsein gegen das Gute positionieren kann. Diese dämonische Haltung tritt ein, wenn der Körper aus seinem dienenden Verhältnis zum Geist heraustritt: „sobald der Leib revoltiert, sobald die Freiheit mit diesem sich verschwört, ist die Unfreiheit zur Stelle als das Dämonische.“ (BA, 141) Das Dämonische als ein bewusstes sich dem Guten Widersetzen ist wohl eine Form des praktischen Selbstbewusstseins, für die Fichte keinen 15 Fichte Die Bestimmung des Menschen, S. 143.
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Blick hat. In der Bestimmung des Menschen wird es jedenfalls nicht als Möglichkeit erwähnt. Aber Kierkegaards weitergehende Behauptung, dass auch das intellektuelle Annäherung an das Gute dämonisch sein kann, scheint der rationellen Ethik Hohn zu sprechen. Kierkegaard scheint jedoch tatsächlich dieser Ansicht zu sein, wenn er schreibt, dass die Freiheit nicht nur somatisch-psychisch, sondern auch pneumatisch verloren werden kann. Diese Ansicht ist mit Fichtes Anbindung der Sittlichkeit an die Intelligenz schlechterdings unvereinbar.16 Kierkegaards Skepsis zielt auf die Möglichkeit, sich durch das Denken der Wahrheit anzunähern. Zwar räumt er ein, dass es möglich ist, ein intellektuelles Verhältnis zum Wahren zu etablieren, ja, die Freiheit ist, intellektuell gesehen, Wahrheit: „Der Freiheit Inhalt, intellektuell gesehen, ist Wahrheit, und die Wahrheit macht den Menschen frei.“ (BA, 143) Aber das Denken verbindet das Subjekt abstrakt mit dem Wahren. Wie z. B. die Beweise der Existenz Gottes oder der Unsterblichkeit der Seele – deren Interesse es ist, intellektuell die Freiheit zu erreichen – zeigen, scheint die Gewissheit des logischen Denkens in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis zur innerlichen, persönlichen Gewissheit zu stehen. Nicht nur Hegels Wissenschaft der Logik ist hier stillschweigend der Gegenstand von Kierkegaards Kritik, wenn er die Darstellung der „immanenten Bewegung des ewigen Gedankens“ erwähnt (ebd.), die von der Existenz des Individuums ganz losgerissen ist; auch Fichte wird wegen seines abstrakten Rede von der Subjektivität kritisiert. Besonders in seiner Behandlung der „pneumatischen“ Variante des Dämonischen besteht Kierkegaards Korrektiv zu Fichte – und zu Hegel. Zusammenfassend gesagt, vermag das Subjekt im Denken kein authentisches Verhältnis zu den existentiell relevanten Wahrheiten zu etablieren. Authentisch wäre die Relation, wenn durch sie das Interesse des Subjekts an den jeweiligen Themen (hier: der Freiheit als Erlösung) hinzukäme. Das Denken thematisiert die existentiellen Wahrheiten jedoch abstrakt. Schlicht und einfach ausgedrückt: „verstehen, was man selber sagt, ist eines, sich selbst verstehen in dem Gesagten, ist ein anderes.“ (BA, 148) Aber das Vorhaben, Freiheit durch das Denken zu erreichen, scheitert nicht nur an seiner Unzulänglichkeit; als ein dämonisches macht es sich einer Unterlassung schuldig: die Wahrheit nicht ernst zu nehmen. Was den Ernst angeht, kommt Fichte zwar dem wahren Verhältnis am nächsten, indem er „Gewissheit“ und „Innerlichkeit“ im Denken der Wahrheit fordert. (BA, 144) Aber er versteht sie zu abstrakt, meint Kier16 Vgl. die vorhergehenden Ausführungen zum System der Sittenlehre.
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kegaard. Was fordert Kierkegaard hiermit? Einen „konkreten“ Bewusstseinsinhalt, der das Verständnis fördert und ohne den sich das Subjekt gegen „die Freiheit verschließen will“ (BA, 148). Dass Fichtes praktische Subjektivität dieser Forderung nicht gerecht werde, wird von Kierkegaard stillschweigend angenommen, aber ebensowenig begründet wie die Auffassung, dass Hegels logischem Denken Innerlichkeit fehle. Kierkegaards Kritik ist in diesem Punkt sicherlich nachlässig, aber es war wohl entscheidend für ihn, mit einer Tendenz des (dänischen) Geisteslebens seiner Zeit: sich abstrakt mit den ,grossen Fragen’ zu beschäftigen, abzurechnen. In diesem Anliegen hat er Hegels Logik und Fichtes Begriff der Subjektivität zwar etwas leichtsinnig kritisiert, aber als eine positive Seite seiner Auseinandersetzung kann der Nachdruck genannt werden, den er darauf legt, dass das Denken allein dem existentiellen Interesse an der Freiheit nicht beikommen kann, was zu einem ,realistischeren’ Begriff des zu befreienden Selbst nötig. „Gewissheit“ und „Innerlichkeit“ sind für Kierkegaard Kennzeichen eines authentischen Verhältnisses des Individuums zur ethischen Idealität. Wegen seines Insistierens auf „Authentizität“ („inderlighed“) macht Kierkegaard vom Dogma der Erbsünde Gebrauch. Denn diese Erzählung spiegelt die wirkliche, existentielle Problematik des moralischen Strebens in einer Weise wieder, für die die idealistische Moralphilosophie keinen Sinn hat. Weil sich das Individuum schon vor dem Streben in verkehrter Weise gesetzt hat, muss die Orientierung der moralischen Subjektivität geändert werden: Nicht für das in der Zukunft zu verwirklichende Ideal soll das moralische Subjekt sein Leben einsetzen, sondern sich umwenden und seine Schuld bereuen, denn die Vergangenheit macht eigentlich seine Realität aus. In diesem Zusammenhang lobt Kierkegaard Fichtes Aufforderung zum moralischen Streben als einen echten „Ausbruch des Ethischen, voller Energie und Mut“ (BA, 121), wirft aber seinem Vorgänger zugleich vor, die Bedeutung der Reue unterschätzt zu haben.– Mit dieser Bemerkung gibt Kierkegaard möglicherweise zu verstehen, dass auch Fichte der Reue eine zentrale Rolle zugedacht hätte, wenn er das Selbstverhältnis des moralisch Strebenden tief genug verstanden hätte. Denn in ihr hat das Subjekt innerlich mit sich selbst in wirklich erbaulicher Weise zu tun. Kierkegaards Korrektiv zu Fichte könnte dann auf die These gebracht werden, dass die praktische Subjektivität ihr aktives, nach außen gekehrtes moralisches Engagement in sich zurückwenden und in ein Leiden – der Reue – verwandeln soll. Dieses Korrektiv wäre subtil und könnte wohl kaum als Merkmal eines von Fichte grundverschiedenen Standpunktes
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angesehen werden. Denn um Innerlichkeit der Existenz geht es auch Fichte, wenn er in Die Bestimmung des Menschen die äußeren Resultate einer Handlung in der Welt und ihre innerlichen Folgen für den Willen unterscheidet und wenn aus dieser Sonderung die Idee einer übersinnlichen Welt als der einheimischen Region des Subjekts erwächst. Aber hier scheinen sich die beiden Denker dennoch zu trennen: Denn während Fichte sein Vertrauen auf die Vernunft bewahrt, meint Kierkegaard – sich an der Dogmatik haltend –, dass die Freiheit verloren und die Reue das wahre Verhältnis zu Gott ist. Da die Reue aber – nach Kierkegaard – ein inneres Leiden ist, genügt sie nicht, um die Befreiung und Erlösung hervorzubringen. Der ethische Standpunkt muss in eine religiöse Lebenshaltung übergehen. Wie sich die Standpunkte der beiden Denken in diesem Punkt zueinander verhalten, wäre ein Thema für eine Untersuchung, die den Rahmen dieses Aufsatzes sprengt, welcher der Frage nach den Grundlagen, Möglichkeiten und Grenzen der idealistischen Moralphilosophie nachgeht.
IV Zusammenfassend kann über Kierkegaards Verhältnis zu Fichte, was die Auffassung der Ethik und ihrer Grundlage angeht, gesagt werden, dass Kierkegaards wenige Hinweise auf Fichte und die Interpretation der Schriften, die in diesem Aufsatz behandelt worden sind, zu der Konklusion führen, dass er sich durchgehend an Fichte – oder jedenfalls an einen mit Fichte verwandten – Standpunkt gehalten hat. So hebt er in den frühesten Journalen Fichtes Gewichtung der praktischen Subjektivität hervor – in Kontrast zu Hegels Tendenz zum objektiven, ,subjektivitätsfremden’ Denken. In ber den Begriff der Ironie wirft er zwar Fichtes erkenntnistheoretischer Methode vor, sie bleibe beim Begriff einer absoluten Subjektivität stehen, welcher Wirklichkeit – „Fülle und Wahrheit“ – fehle, in der ethischen Lebenshaltung von Entweder-Oder führt er diese Kritik weiter und erprobt die Hegelsche Alternative der Idee des sittlichen Lebens als sozialer Selbstverwirklichung; dennoch hält Kierkegaard m. E. auch in Entweder-Oder am Selbstverhältnis des Subjekts als der Grundlage der Ethik fest: Mit den Begriffen der „Selbst-Wahl“, der „inneren Handlung“ u. ä. lässt Kierkegaard den Gerichtsrat Wilhelm die Konturen eines exklusiven Selbstverhältnisses zeichnen, mit dessen praktischer Artikulation – der Selbst-Wahl – das Ethische überhaupt steht und fällt. Die unbedingte Handlung dieses Selbstverhältnisses macht nicht nur den Gültigkeitsgrund
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der moralischen Werte im intersubjektiven Kontext aus; sie hat zugleich die Struktur einer Kreisbewegung, worin die Persönlichkeit sich selbst in ihrer „ewigen Gültigkeit“ setzt und als in sich gegründete Individualität verwirklicht. Mit der Eröffnung dieser inneren Lebenssphäre im ethischen Teil von Entweder-Oder liegt es für Kierkegaard nahe, von einer „Doppel-Existenz“ des Individuums zu sprechen; hiermit entfernt er sich wiederum von Hegel. Diesem war der Gedanke ja fremd, dass der Mensch eine in sich selbst gegründete Individualität sein könne, d. h. sich verwirklichen könne, ohne seiner sozialen Identität eine wesentliche Rolle zuzuerkennen. Hegel zufolge gehört das Individuum der Gesellschaft und der kollektiven Geschichte an; nach Kierkegaard schafft sich der ethisch existierende Mensch jedoch seine individuelle Geschichte als seinen Weg zu sich selbst. Wohl lässt Kierkegaard den Ethiker dieses Selbstverhältnis mit einem eigenem Vokabular entfalten, aber dessen Struktur erinnert an Fichtes Idee der Identität, des Ich = Ich, die in Die Bestimmung des Menschen als bewegendes Prinzip alles bewussten menschlichen Lebens konkret dargestellt wird: ein unbedingtes Sich-Selbst-Setzen und Selbst-Werden als Ich oder Persönlichkeit in seiner ewigen Gültigkeit, d. h. Absolutheit. Sichtet man die zahlreichen kritischen Kommentare Kierkegaards zu Hegels Philosophie, erweist sich dieser Begriff des existentiellen Selbstverhältnisses als Kierkegaards eigentliches – vielleicht einziges – wirkliches Korrektiv zu Hegel. Und es gibt Grund zu der Annahme, dass Fichte eine wesentliche Rolle in seiner Ausarbeitung dieses Begriffs gespielt hat.17 Im Begriff Angst hat Kierkegaard endgültig die Hegelsche Option einer Vereinigung von Ewigen und Endlichem im Menschen aufgegeben. Hier geht es ,nur‘ um die Individualität in ihrem doppelten Verhältnis zur Welt und zur „ewigen Macht“. Die ethische Problemlage der Individualität besteht dann im Großen und Ganzen darin, ein Leben zu führen, das den Forderungen genügt, die daraus entspringen, dass sie ein ewiges Bewusstsein sein soll. Wie gezeigt, versucht Kierkegaard hier, sich zur idealistischen Moralphilosophie zu positionieren, mit der er sich nun kritisch auseinandersetzt. Deren Legitimität als philosophische Ethik wird nicht angefochten; es gibt für Kierkegaard keine zeitgemäße Alternative. Doch unterzieht er sie einer Meta-Kritik, nämlich hinsichtlich ihrer Ra17 Die Inspiration durch andere Denker sollte bei seiner Kritik sowohl an Fichte als auch an Hegel nicht unterschätzt werden. Wahrscheinlich hat Schellings Freiheitsschrift großen Einfluss auf Kierkegaards Verknüpfung der Freiheit mit dem Bösen ausgeübt.
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tionalität. Hierzu wird die Dogmatik benutzt, und ihr Gewicht in der Argumentation wird durch psychologische Beobachtungen erhöht. Es ist – wie in Abschnitt III ausgeführt – Kierkegaards Korrektiv zum Idealismus, dass das Freiheitsbewusstsein das moralische Streben nicht zur Erfüllung zu bringen vermag, weil der Zweck des Strebens – das Gute – die Freiheit des ganzen Menschen bedeutet: „Das Gute bedeutet natürlich Wiederherstellung der Freiheit, Erlösung, Errettung“ (BA, 123). Demgegenüber versteht der Idealismus das Gute zu abstrakt, nämlich in rein philosophischen Kategorien. Das Gute selbst ist dagegen die Verwirklichung des Menschen als Geist, d. h. als die richtig gesetzte Synthese von Körper und Seele. Kierkegaard sucht daher nach einem Gegengewicht zum einseitig intellektuellen Zugang des Idealismus zur Ethik: durch den Rekurs auf den theologischen Begriff der Erbsünde, den er durch psychologische Beobachtungen zum Phänomen der Angst plausibel machen will. Das Gute soll eher als Vereinigung von Geist bzw. Seele und Körper verstanden werden denn als Überwindung des einen Gliedes durch das andere. Gegen die intellektuelle Orientierung am Guten weist Kierkegaard auf die ethische Realität des Menschen (die Sünde) hin, in der sich das Individuum selbst setzt. Kierkegaards Korrektiv zu Fichte wird m. E. treffend und konstruktiv von Helmut Fahrenbach beschrieben: „Die existenzdialektische Ethik wäre dann das vom ethischen Existenzverhältnis her motivierte kritische ,Korrektiv’ der idealistischen Moralphilosophie und ihrer Thematisierung des Ethischen; und sie würde ihre kritische Funktion im Umdenken bzw. Zurückholen der ,abstrakt’ bestimmten ethischen Idealität in die Existenzsituation erfüllen“.18
V Stellt man die Frage nach der Aktualität der Ethik Fichtes und Kierkegaards und ihrer jeweiligen Grundlage im Begriff der praktischen Subjektivität, muss man als erstes zu der in der heutigen Philosophie allgemein verbreiteten Ansicht Stellung nehmen, dass Kierkegaards Denken zwar auf die Existenzphilosophie des 20. Jahrhunderts starkt eingewirkt hat, durch diese (Heidegger und Sartre) jedoch überholt sei. Diese Ansicht hängt natürlich mit der gegenwärtigen Distanzierung von den metaphysichen und theologischen Elementen in Kierkegaards Denken zusammen. Abstand von Fichte hält man unter anderem wegen seines metaphysischen Begriffs des 18 Fahrenbach Kierkegaards existenzdialektische Ethik, Frankfurt a. M. 1968, S. 189.
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Ich und des Selbstbewusstseins. Aus moderner, existenzphilosophischer Perspektive – jedenfalls eines Heidegger – gehören beide Denker der bewusstseinsphilosophischen Tradition an, die – angeblich – an Überzeugungskraft verloren hat. Wie jedoch Dieter Henrichs erfolgreiche Erneuerung des Nachdenkens über das Selbstbewusstsein in der Tradition Fichtes zeigt, ist es der modernen Kritik eines Heidegger, Wittgenstein u. a. nicht gelungen, die Bewusstseinsphilosophie vollständig zu überbieten. So hat Heidegger mit seiner Grundlegung einer Existentialontologie das Phänomen der bewussten Selbstbeziehung bloß übersprungen. Er analysiert das Selbstverhältnis als eine temporale Struktur des Dasein, nämlich als einen Lebensvollzug, „und nicht auf seine innere Bedingungen hin“.19 Durch Henrichs Erneuerung der Philosophie des Selbstbewusstseins ist der Weg für eine Untersuchung und Beurteilung von Kierkegaards und Fichtes Begriffen von praktischer Subjektivität gebahnt, insbesondere dann, wenn man einräumt, dass es darin nicht nur um eine abstrakte Bewusstseinsstruktur geht, sondern auch um ein konkretes Selbstverhältnis und Selbstverständnis des Menschen. Der Ausdruck „praktisch“ umfasst hierbei das Wollen und die natürliche Seite des Menschen als Aspekte des „Objekts“ des Selbstbewusstseins. Selbstbewusssein ist ja keine einfache, abstrakte Struktur, sondern birgt eine Entzweiung zwischen einer subjektiven und objektiven Seite in sich, zwischen Einheit und Mannigfaltigkeit: In theoretischer Hinsicht meint dies ein Sich-Verhalten im wechselseitigen Bezug von sinnlicher Mannigfaltigkeit und begrifflicher Einheit, in praktischer etwa in der Spannung zwischen den Forderungen der moralischen Idealität und den Neigungen und Triebregungen der seelisch-körperlichen Realität. Was den metaphysischen Aspekt des praktischen Selbstbewusstseins angeht, stehen beide Denker entschieden zu ihrer jeweiligen Position. Dass Idealität entsteht, wenn im Lebensvollzug Bewusstsein, Denken und Freiheit erwachen, sind unbestreibare Tatsachen, und die Aufgabe der Philosophie sollte nicht sein, sie auf qualitativ andere Tatsachen (z. B. Gehirnprozesse, biologisch bedingtes Verhalten, kulturell eingeübte Verhaltensmuster usw.) zu reduzieren, sondern sie zu verstehen und ihre Bedeutung für das bewusste Leben eines Menschen zu untersuchen. Voraussetzung der Ethik ist die Freiheit, und versteht man den Menschen 19 Dieter Henrich „Selbstbewußtsein. Kritische Einleitung in eine Theorie“ in Hermeneutik und Dialektik, hrsg. von R. Bubner, K. Cramer und R. Wiehl, Tübingen 1970, Bd. I, S. 281f.
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von ihr her, muss man ihn ein Ich nennen, und diese Erkenntnis legt es nahe, ihm prinziell auch Absolutheit, Unbedingtheit zuzuschreiben. Ist es uns nicht ganz fremd, in Erörterungen zum Thema des Selbstbewusstseins mit metaphysischen Aspekten zu operieren, scheint es deutlich schwieriger, die theologischen Voraussetzungen in Kierkegaards Denken in der Philosophie geltend zu machen. Und doch macht man sich die Aufgabe zu leicht, wenn man eine Reihe seiner Schriften mit dem Einwand ablehnt, die darin enthaltenen Gedanken hätten nur innerhalb einer religiösen Selbstinterpretation Gültigkeit. Zwar spielt die Theologie bei Kierkegaard durchaus eine Rolle – auch in den hier behandelten Werken: nicht nur im Begriff Angst, sondern auch in der Rede des Ethikers von Gott, Liebe und Reue; doch verhält es sich so, dass die Dogmatik als Rahmen für eine Interpretation der bewusstseinsmäßigen Konstitution des moralisch strebenden Menschen fungiert, der diese verdeutlichen soll. In Entweder-Oder lässt Kierkegaard den Ethiker theologische Begriffe anwenden, um die metaphysischen Voraussetzungen dieses Strebens als eine Selbst-Überschreitung durch das Gewissen deutlich zu machen. So soll die Rede von „Gott“ erstens dem Wesenszug des Menschen Rechnung tragen, dass er als bewusst denkender nicht bloß Natur ist, sondern einen ,höheren’ Ursprung hat und deshalb vor der Aufgabe steht, diese seine Wesenheit im endlichen Leben zu verwirklichen (sich in rechter Weise zu setzen). Zweitens muss die Liebe, deren Funktion es ist, in Gestalt der Reue die Selbst-Überschreitung des Individuums in Richtung auf die Idealität herbeizuführen, als etwas gedacht werden, das nicht lediglich aus dem unmittelbaren, sinnlichen Selbstbewusstsein herkommt, somit von einer transzendenten Macht stammt. Sonst könnte sie keine befreiende Kraft auf das Individuum ausüben. Der ethisch bewusste Mensch muss, wenn er sich selbst recht versteht, eine – wenn auch nur vage – Idee des wahren Menschseins haben, um überhaupt Begriffe von gut und böse bilden zu können. Diese Idee kann er nicht in der Weise auffassen, dass sie aus seinen unmittelbaren Empfindungen von Annehmlichkeit bzw. Unannehmlichkeit konstruiert ist, denn es ist umgekehrt so, dass diese Idee sein Selbstverständnis als ethisches Wesen insgesamt bedingt. Den Vorwurf, Kierkegaard mache im Begriff Angst eine theologische – damit nicht rational begründete – Voraussetzung, weist er in diesem Werk explizit ab. Obwohl er durch die Einführung des „dogmatische[n] Problem[s] der Erbsünde“ (BA, 1) in die moralphilosophische Debatte Einspruch gegen die Grundlage der idealistischen Moralphilosophie erheben will, wehrt er sich – wie gezeigt – dagegen, die „Erzählung in der Genesis“ bloß als Mythos zu verstehen. Sie fungiert statt dessen als ein Bild, welches –
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richtig interpretiert – strukturelle Elemente der Bewusstseinskonstitution (der christlichen Moderne) darstellt. Der Sündenfall ist weder ein geschichtliches noch ein außer-geschichtliches Ereignis; als eine im Äußeren angesiedelte Darstellung dessen, wass im Inneren vorgeht, handelt die Erzählung vom Erwachen des (Selbst-)Bewusstseins der Freiheit, d. h. von der inneren Veränderung, die dem Individuum hierbei widerfährt und die es zu einer ethischen Individualität macht. Es ist Kierkegaards Auffassung, dass jeder Mensch (der christlichen Moderne) zu irgendeinem Zeitpunkt seines Lebens diese innere Erfahrung macht, durch die sein moralisches Bewusstsein entsteht, wobei ihm zugleich – im (Sünden-)Fall – die Bedingung der Erfüllung seiner Aufgabe verloren geht. Ob letzteres tatsächlich zutrifft, ob also die Verlust der Freiheit wirklich unwiderruflich ist oder aber Kierkegaards Behauptung eines radikalen „Falles“ eine dogmatische Voraussetzung ist, die bezweifelt werden kann, ist eine Frage, die anderswo beantwortet werden soll. Für den letzteren, Kierkegaard-kritischen Gesichtspunkt spricht, dass er mit der Untersuchung der Möglichkeiten des Denkens (Hegel) wohl zu schnell fertig wird, wenn er die Annäherung an die Wahrheit im Denken als eine Variante des pneumatischen Verlusts der Freiheit ablehnt. Entsprechend ist es wahrscheinlich ungerechtfertigt, dass er Fichtes Begriff von Subjektivität wahre Gewissheit und „Innerlichkeit“ (BA, 144) abspricht. Hier interessiert aber nicht so sehr, ob Fichte oder Kierkegaard in dieser oder jener Frage Recht hat; der vorliegende Beitrag sollte vielmehr zeigen, dass ihr Denken über Ethik und praktische Subjektivität profunde Einsichten zur gegenwärtigen Diskussion beitragen kann. Dass hierbei vorausgesetzt wird, dass das Bewusstseinsparadigma nicht überholt ist und dass auch theologische Perspektiven in der Philosophie fruchtbar sein können, ist kein Einwand – insbesondere nicht in unserer sogenannten multikulturellen Zeit, wo uns die Begegnung mit Kulturen, in denen ,geistige’ Anliegen eine größere Bedeutung haben als in unserer säkularisierten Kultur, dazu drängt, uns an entsprechende Anschauungen in unserer eigenen Tradition zu wenden und auf sie besinnen.
Die Konstituierung der praktischen Subjektivität und des Guten. Kierkegaard versus Fichte Von Uta Eichler Kierkegaard hat in seiner Abgrenzung vom Deutschen Idealismus ein methodisches und begriffliches Instrumentarium entfaltet, das ihn auch philosophisch zu einem außerordentlich anregenden Denker werden ließ. Tragende Elemente seiner Existenzphilosophie werden in der Auseinandersetzung mit den Vertretern des Deutschen Idealismus gewonnen. Kierkegaard hat seine Polemiken gegen die Philosophien des Rationalismus und des Deutschen Idealismus in immer neuen Anläufen von einer Theorie der praktischen Subjektivität – des Selbst – aus geführt. Er hat damit an philosophische Problemstellungen angeknüpft, die auch für Fichtes Subjektivitätstheorie und seine Ethik konzeptionsbildend waren.1 Sie steht in einem grundlegenden Zusammenhang mit dieser Form des transzendentalphilosophischen Denkens, weil auch Fichte eine Theorie des empirischen, endlichen und zeitlichen Individuums in seine Ethik zu integrieren versuchte. Zwei Begriffe sind dafür zentral: der der praktischen Subjektivität und der des Gewissens. Zudem fassen beide Denker das Problem praktischer Subjektivität in der Fragestellung: „Wer bin ich?“ zusammen. Weshalb gerade diese Frage in die ethische Problemstellung hineinführt, wird im ersten Teil des Aufsatzes untersucht. (Abschnitt I) 1
Dazu v. a. Michael Theunissen, Wilfried Greve (hrsg.) Materialien zur Philosophie Søren Kierkegaards, Frankfurt am Main 1979; Helmut Fahrenbach „Kierkegaards ethische Existenzanalyse (als ,Korrektiv‘ der kantisch-idealistischen Moralphilosophie)“ in Materialien zur Philosophie Søren Kierkegaards, hrsg. von M. Theunissen und W. Greve, S. 216 – 240; Wilfried Greve Kierkegaards maieutische Ethik. Von „Entweder-Oder II“ zu den „Stadien“, Frankfurt a. M. 1990; Wolfgang Janke Entgegensetzungen. Studien zu Fichte – Konfrontationen von Rousseau bis Kierkegaard (Fichte-Studien, Supplementa Bd. 4), Amsterdam/Atlanta 1994; Smail Rapic Ethische Selbstverstndigung. Kierkegaards Auseinandersetzung mit der Ethik Kants und der Rechtsphilosophie Hegels (Kierkegaard Studies: Monograph Series 16), Berlin/New York 2007. Ausschließlich zum Verhältnis Kierkegaards zu Fichte: Anton Hochenbleicher-Schwarz Das Existenzproblem bei J. G. Fichte und S. Kierkegaard, Meisenheim am Glan 1984.
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Kierkegaard konzentriert seine Einwände gegen Fichtes Ethik auf die motivierende Kraft des absoluten Selbstbewusstseins. Im Begriff des Ethischen verknüpft er den Maßstab verbindlichen moralischen Handelns mit der Lebensführung des Einzelnen. (Abschnitt II) Der dritte Teil des Aufsatzes zeigt in der Aufnahme des Begriffs des Gewissens, dass dieses Phänomen als Ort des Zugangs zu sich selbst zugleich einen Maßstab verbindlichen moralischen Handelns enthält.2 Anhand der Bestimmung dieses Begriffs treten auch die unterschiedlichen Anforderungen hervor, die Fichte und Kierkegaard an die Entstehung und Begründung dieses Maßstabes und damit an die Ethik stellen. (Abschnitt III)
I Fichte und Kierkegaard widmen sich dem Problem der praktischen Subjektivität – dem Ich oder dem Selbst – indem sie die Frage: „Wer bin ich?“ aufnehmen. Sie nähern sich dem Thema nicht im Sinne einer Wesensbestimmung des Menschen. Es geht nicht schlechthin darum festzuhalten, was es heißt, ein Mensch zu sein. Schließt doch die Beantwortung der Frage: „Was der Mensch ist?“ den Bezug des Menschen zu sich selbst nicht ein. Erst das nach sich selbst fragende Ich hebt sich von der Ebene dieser allgemeinen Bestimmungen ab und fragt, was für ein Mensch er selbst ist oder wer er ist. Durch die Frage nach seinem konkreten Menschsein wird zugleich Stellung genommen zum allgemeinen oder begrifflichen Verständnis des Menschen und den Anforderungen, die es enthält. Die Frage: „Wer bin ich?“ lässt einen doppelten Bezug hervortreten. Dieser zeigt sich darin, dass derjenige, der diese Frage stellt, eine Entdeckung macht: Er kann die Frage nicht beantworten. Denn er ist es ja selbst, der sie stellt. Aber nicht nur das, er stellt sie an sich selbst. Deshalb kann er die Frage auch nicht abweisen, ja er scheint ihr geradezu verpflichtet. Die Frage markiert eine Not im Fragenden. Sie besteht darin, einen Abstand zu sich zu entdecken, der nicht behoben werden kann, weil der Fragende diesseits und jenseits des Abstands steht. Sich nur im Abstand zu sich zu haben, charakterisiert das Selbst oder das Ich als entzweit. 2
Dazu u. a. Heinrich M. Schmidinger „Kierkegaard und Fichte“ in Gregorianum 62 (1981), S. 499 – 524; Wilfried Greve Kierkegaards maieutische Ethik, Michelle Kosch „Fichte’s Role in Kierkegaard’s Construction of the Ethical Standpoint“ in Archiv fr Geschichte der Philosophie 88 (2006), S. 261 – 295.
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Die Frage der Vermittlung dieses Zwiespalts wird zum methodischen Schlüsselprojekt Fichtes und Kierkegaards. Ich zitiere zwei Stellen, die diesbezüglich deutliche Parallelen aufweisen: Zuerst den Fichte der Sittenlehre von 1798: Wer bin ich denn eigentlich, d.i. was für ein Individuum? Und welches ist der Grund, dass ich der bin? Ich antworte: […] ich bin […] derjenige, zu welchem ich mich mit Freiheit mache, und bin es darum, weil ich mich dazu mache. – Mein Seyn […] ist, wenn auch nicht seinen Bedingungen nach, doch seiner letzten Bestimmung nach, durch Freiheit. (FW IV, 222)
Fichte verweist auf die unterschiedlichen Perspektiven, die die Frage nach sich selbst enthält. Zunächst verbindet er die Wer-Frage mit der WasFrage. In der Formulierung: „ich bin […] derjenige, zu welchem ich mich mit Freiheit mache“ geht er zugleich darüber hinaus. Er verknüpft beide Fragen mit dem Problem der Selbstwerdung. Er thematisiert den Ursprung des Werdens und damit das Kernproblem praktischer Subjektivität: die menschliche Freiheit. „Was“ der Mensch ist und „wer“ er ist, ist er durch Freiheit. Sie zeigt sich im „Wie“, der Dynamik des Werdens. Ich „bin es darum, weil ich mich dazu mache“, heißt es bei Fichte. Das Individuum hat sein Sein im Werden, das ist nicht lediglich eine formale Bestimmung.3 Fichte führt aus: „durch dieses alles aber wird meine Individualität bestimmt; durch dieses alles werde ich materialiter der, der ich bin.“ (FW IV, 222) Das absolute Ich wird, was es – seinem Sein nach, seiner Idee nach – schon ist, erst wenn es sich dazu macht. Es ist auf Realisierung angewiesen. Erst durch seine Konstituierung in der Realität, wenn das Werden sich materialiter zeigt und auf das Individuum in seiner Endlichkeit bezogen wird, erweist sich das absolute Ich in seiner Einheit als idealer und realer Grund der Freiheit. Damit können zwei Gesichtspunkte der Subjektivitätstheorie Fichtes festgehalten werden: Das absolute und das endliche Ich stehen in einem Zusammenhang. Damit ist aber noch nicht untersucht, ob dem endlichen Ich in dieser Beziehung Selbständigkeit zukommt. Das zweite Zitat ist Kierkegaards Schrift Die Wiederholung entnommen, die er unter dem Pseudonym Constantin Constantius im Jahre 1843 veröffentlicht hat. Hier wird das Problem menschlicher Selbstbestimmung mit einer ganz anderen Perspektive, der des Selbstverlustes, verbunden: Wo bin ich? Was heißt denn das: die Welt? Was bedeutet dies Wort? Wer hat mich in das Ganze hinein betrogen, und läßt mich nun dastehen? Wer bin ich? 3
Zur Unterscheidung von Person als vernünftigem Individuum, Individuum und Individualität vgl. Edith Düsing „Das Problem der Individualität in Fichtes früher Ethik und Rechtslehre“ in Fichte-Studien 3 (1991), S. 36ff.
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[…] Wie bin ich Teilhaber geworden in dem großen Unternehmen, das man die Wirklichkeit nennt? Warum soll ich Teilhaber sein? Ist das nicht Sache freien Entschlusses? […] An wen soll ich mich wenden mit meiner Klage? 4
Betrogen zu sein, betrogen um die Selbstbestimmung, bedeutet nur Teilhaber zu sein. Und auch Constantin fragt: „Ist das nicht Sache freien Entschlusses?“ Der Selbstverlust oder der Betrug besteht darin, die Verbindung zur Welt nur vom Außenstandpunkt wahrzunehmen, „an“ der Welt teilzunehmen, aber „in“ ihr als Fremder zu leben, sich selbst nicht zu kennen, nicht Ausgangspunkt seines Handelns zu sein. Kierkegaard nähert sich schon in seinem ersten großen Werk EntwederOder der Frage menschlicher Freiheit und Selbstbestimmung unter Berücksichtigung des Gesichtspunktes des Selbstverlustes. Hier analysiert er unterschiedliche Lebens- oder Existenzformen, die Stufen menschlicher Selbstwerdung ausdrücken. Nicht dieser oder jener zu werden, sondern ein Selbst zu werden, ist die Aufgabe menschlicher Existenz. Als Aufgabe und bloße Möglichkeit kann sie durchaus verfehlt werden. Das ästhetische Existenzstadium ist Ausdruck dieser Selbstverfehlung. Die menschliche Freiheit wird hier nicht in ihrer praktischen Ausprägung erreicht. Heißt doch, sich in seinem Handeln als frei zu erscheinen, nicht schon es zu sein. Wie sich ein Maß menschlicher Freiheit gewinnen lässt, verdeutlicht Kierkegaard auf der Grundlage des Problems der Wahl. Nicht dieses oder jenes zu wählen – so der Grundtenor des Ethikers, des Gegenspielers des Ästhetikers in Entweder-Oder – macht den Menschen zu einem freien Wesen, sondern erst die Wahl seiner selbst. Dazu gilt es zu untersuchen, was sich hinter der Schlüsselformulierung verbirgt, mit der der Ethiker dem Ästhetiker den Rat gibt: „Wähle dich selbst!“ Der Wahlvorgang umfasst nach Kierkegaard zwei dialektische Bewegungen, die für die Konstituierung menschlicher Existenz zentral sind und das grundlegende Muster in all seinen Schriften bildet: „Das, was gewählt wird, ist nicht da und entsteht durch die Wahl; das was gewählt wird, ist da, sonst wäre es keine Wahl.“ (E-O II, 292) Der Wahlvorgang beschreibt eine Doppelbewegung, die kurz analysiert werden soll: Der erste Teil des Satzes bezieht sich darauf, dass der Wählende sich selbst wählt, der Wahlvorgang auf ihn selbst und nicht auf etwas anderes bezogen ist. Die hier konstatierte Selbstveränderung ist das Zeichen der 4
Kierkegaard Die Wiederholung. Drei erbauliche Reden 1843, übers. von E. Hirsch, Düsseldorf/Köln 1955.
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Selbstwahl, die sie von jeder ästhetischen Wahl unterscheidet. Kierkegaard nennt diese Form der Wahl auch die absolute Wahl: „absolut wähle ich ja eben dadurch, daß ich gewählt habe nicht dieses oder jenes zu wählen.“ (EO II, 227) Der Einzelne löst sich damit im ersten Schritt der Wahl aus den bestehenden und ihn determinierenden Verhältnissen, aus der Endlichkeit heraus, erfasst sich überhaupt erst als ein selbst Wählender oder als ein Selbst, wird sich seiner selbst bewusst, kurz: konstituiert einen Anfang.5 In diesem Sinne bezeichnet Kierkegaard die Wahl auch als Geburt. Der Wählende nimmt Abstand von den Grenzen der ihn umgebenden Welt. Diese Form der Wahl versteht der Ethiker als Umkehr: Der Wählende überschreitet die Lebensform des Ästhetikers, in der die unmittelbare Persönlichkeit ihre Existenz hat, wird ein freier Geist. Er unterstreicht das durch die Formulierung, sich absolut zu wählen. Dazu gehört, dass der Ethiker sich zu seiner Endlichkeit verhalten und darin seinem Handeln Unbedingtheit und Beständigkeit verleihen kann. Sich absolut zu wählen, gibt der Wahl ihren ethischen Charakter. Der Ethiker bezeichnet die Wahl auch als die des Guten, damit konstituiert sich das Gute durch die Subjektivität, es ist an das Wollen des Einzelnen gebunden. Erst dadurch erfasst der Einzelne die moralische Dimension von Gut und Böse und damit die grundlegende Beziehung, die er zum Guten hat. Dieser erste Schritt der Wahlbewegung kann nur unter der Voraussetzung vollzogen werden, dass das Selbst einen Abstand zu sich gewinnt. Er ist dem Abstand vergleichbar, der durch die Frage: „Wer bin ich?“ hervortritt. Die Selbstbestimmung, die durch die absolute Wahl gesucht wird, ist nur im Abstand zu sich möglich. Aber der Wahlvorgang ist damit noch nicht abgeschlossen, wählt sich das Selbst ja als absolutes und ideales und damit als abstraktes. In seinem Werden ist es damit nicht erfasst. Die Wahl wurde nicht konkret, weil sie das Stadium ihrer Ausführung noch nicht erreicht hat: „dies Selbst, welches das Ziel ist, ist kein abstraktes Selbst, das überall hinpaßt und daher nirgends, sondern ein konkretes Selbst, das in lebendiger Wechselwirkung steht mit diesen konkreten Umgebungen, diesen Lebensverhältnissen, dieser Ordnung der Dinge.“ (E-O II, 280) Erst in ihrer Ausführung wird die Wahl auf die Lebensverhältnisse bezogen und verbindlich. Bleibt der Wahlvorgang auf die absolute Wahl beschränkt, kann die Bestimmung des Menschen in den Dualismus von Leben und 5
Zum Problem des Anfangs bei Fichte und Kierkegaard vgl. Heinrich M. Schmidinger Das Problem des Interesses und die Philosophie Sçren Kierkegaards, Freiburg/ München 1983.
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Geist führen. Er ist durch das Maß des Absoluten bedingt. Der bloßen Formbestimmtheit der Wahl fehlt der Inhalt, die lebendige Aneignung bleibt ihr versagt. Sich selbst wählen aber heißt auch Selbstwerden. Auch Fichte zielt auf diese Verbindung, wenn er schreibt: „derjenige zu werden, zu welchem ich mich mit Freiheit mache.“ Erst im Prozess der Selbstwerdung in der Vermittlung mit den bestehenden Verhältnissen gelangt der Einzelne über die bloße Teilnahme an ihnen hinaus. Er ist für die Wahl von ausschlaggebender Bedeutung. Sich selbst zu wählen, heißt nicht: sich zu erschaffen. In dieser Unterscheidung sieht Kierkegaard eine deutliche Differenz zwischen seinem und Fichtes Selbstkonzept. Seine Auseinandersetzung bezieht sich auf das Prinzip der Wissenschaftslehre: „das Ich setzt sich selbst“ (FW I, 126) und damit auf den Anspruch des transzendentalen Subjekts, idealer und realer Grund der Freiheit zu sein. Kierkegaard kritisiert die Bestimmung des absoluten sich selbst setzenden Ich in seiner Unabhängigkeit und Ursprünglichkeit, besonders aber, Ursache seiner selbst oder freie Ursache zu sein. Die Differenz des Ich im Verhältnis zu sich selbst, die Fichte vor Augen hat, wenn er es als sich setzend erfasst, ist in der Einheit des Selbstbewusstseins begründet.6 Kierkegaard vergleicht im Unterschied zum Vorgang des Setzens den der Wahl mit dem des Entdeckens und bereitet damit die Untersuchung des zweiten Schritts der Wahl vor. Der Begriff des Entdeckens verweist darauf, dass die Wahl nicht voraussetzungslos ist. Danach muss das Selbst nicht nur als das Abstrakteste von allem gedacht, sondern auch als das Konkreteste von allem angeeignet werden. Erst derjenige, der sich zu seiner Herkunft verhält und als Teil der Geschichte versteht, wird konkret. Daraus werden die Anforderungen gebildet, die jemand an sich stellt. Erst dann ist der Begriff der Freiheit vollständig verwirklicht. (E-O II, 227) Der frei Wählende verbindet die auseinandertreibenden Momente des ästhetischen Lebens, indem er sie in das eigene Leben als Ganzes zu integrieren versucht. Die Stufe des Ethischen zeigt sich in der Möglichkeit, die menschliche Existenz auf Dauer zu stellen. Die Überschrift des zweiten Briefes des Ethikers betont, dass das Ästhetische und das Ethische eine Harmonie bilden können: „Das Selbst enthält in sich ein reiches konkretes Sein, eine Vielfalt von Bestimmtheiten, von Eigenschaften, kurz es ist das 6
Auf die unterschiedliche Verwendung des Begriffs „Setzen“ bei Fichte kann hier nicht eingegangen werden. Zur Interpretation des Grundprinzips der Wissenschaftslehre und seinen Missverständnissen vgl. Wolfgang Janke „Intellektuelle Anschauung und Gewissen. Aufriß eines Begründungsproblems“ in Fichte-Studien 5 (1993), S. 34 – 40.
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ganze ästhetische Selbst, welches ethisch gewählt worden ist.“ (E-O II, 237) Die Einheit des Selbst, die immer wieder neu vollzogen werden muss und im Werden besteht, nennt Kierkegaard Wirklichkeit. Sie findet ihren Ausdruck in einer Form gelingenden Lebens, das sein Maß selbst hervorbringt. Halten wir zunächst fest: Kierkegaards Theorie von den menschlichen Existenzstufen oder Lebensformen enthält einen Maßstab gelingenden Lebens, der in der Wahl zum Ausdruck kommt. Durch die Wahl seiner selbst wird die Frage: „Wer bin ich?“ auf die menschliche Lebensgeschichte und die den Menschen bestimmenden sozialen Verhältnisse bezogen. In der Doppelbewegung der Wahl, in ihrer Dialektik von Entgrenzung und Begrenzung entsteht ein Maß, durch das der Einzelne in die Lage versetzt wird, sein Leben zu führen, in dem er sich in die bestehenden Verhältnisse integriert. In der Bestimmung des Verhältnisses zu sich selbst bezieht sich Kierkegaard auf den antiken Philosophiebegriff im Sinne einer Lebensform. Selbsterkenntnis und praktische Subjektivität werden hier in ihrer Abhängigkeit voneinander gedacht. An dieser Form der Vermittlung misst Kierkegaard die praktische Philosophie des Deutschen Idealismus und besonders diejenige Fichtes. Kierkegaards Interpretation des Orakelspruchs am Tempel von Delphi: „Erkenne dich selbst!“ wendet sich gegen die Dominanz des reinen Selbstbewusstseins als Maßstab praktischer Subjektivität: Und dies ist das Wunderbare des Lebens, daß jeder Mensch, der auf sich selbst achtgibt, weiß, was keine Wissenschaft weiß, weil er weiß, wer er selbst ist, und dies ist das Tiefsinnige des griechischen Satzes cm~hi saut|m, den man lange genug deutsch verstanden hat als das reine Selbstbewußtsein, die Luftigkeit des Idealismus. Es ist wohl höchste Zeit, daß man versucht, ihn griechisch und dann wiederum so zu verstehen, wie ihn die Griechen verstanden hätten, hätten sie christliche Voraussetzungen gehabt.7
Sokrates ist nicht nur als Entdecker der Subjektivität häufiger Bezugspunkt Kierkegaards. Er beruft sich auch auf seine Begrenzung der Selbstlegitimierung des Wissens.8
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Søren Kierkegaard Der Begriff Angst, Stuttgart 1992, S. 93. Kierkegaard notiert in Der Gesichtspunkt fr meine Wirksamkeit als Schriftsteller: „formell kann ich Sokrates ganz gut meinen Lehrer nennen – indessen ich allein an Einen geglaubt habe und glaube, den Herrn Jesus Christus.“ (Kierkegaard Die Schriften ber sich selbst, übers. von E. Hirsch, Düsseldorf/Köln 1964. S. 49).
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Kierkegaards Kritik am reinen Selbstbewusstsein bezieht sich vor allem auf dessen Verhältnis zur Wirklichkeit. Wirklichkeit wird erst durch den Handelnden hervorgebracht und nicht primär durch Wissen konstituiert. Werden doch damit die Kriterien für das, was wirklich ist, bereits vorausgesetzt. Diese erkenntnistheoretische Wendung in der Bestimmung der Wirklichkeit verfehlt ihre Verbindlichkeit für den Handelnden. Unter diesem Gesichtspunkt lässt sich Kierkegaards Kritik an Fichte im Begriff der Ironie verstehen: Das hervorbringende Ich ist das gleiche wie das hervorgebrachte Ich. Das Ich=Ich ist die abstrakte Identität. Hierdurch machte Fichte das Denken unendlich frei. Aber diese Unendlichkeit des Denkens bei Fichte ist wie alle Unendlichkeit Fichtes eine negative Unendlichkeit […]. Indem Fichte dergestalt das Ich verunendlichte, machte er einen Idealismus geltend, in Beziehung auf den alle Wirklichkeit verblich […]. Dadurch hat Fichte seine Bedeutung in der Wissenschaft. Seine Wissenschaftslehre verunendlichte das Wissen. Aber indem Fichte dergestalt im Ich=Ich die abstrakte Identität festhielt, indem er in seinem idealistischen Reich mit der Wirklichkeit nichts zu schaffen haben wollte, hatte er den absoluten Anfang erworben […]. Das Ich wurde das Allbegründende. (BI, 278ff.)
Kierkegaard formuliert hier gegenüber Fichte zwei Einwände. Der erste bezieht sich darauf, dass das empirische Ich aus dem absoluten herausgesetzt wird.9 Dieser Vorgang ist nach dem Argument der schlechten Unendlichkeit nicht abschließbar. Hier wird das Ich nur verunendlicht, das wirkliche Ich aber nicht erreicht. Selbstwerden aber heißt nach Kierkegaard Konkret-Werden. Dazu gehört, die bisherige Geschichte des Individuums, über die es nicht völlig verfügt und die seinem Handeln auch immer vorausgesetzt ist, in das Werden des Einzelnen zu integrieren und sich von dort aus neue Lebensmöglichkeiten zu erschließen. Deshalb ist der zweite Schritt der Wahlbewegung so ausschlaggebend. Der zweite Einwand bezieht sich auf das Ich als absolut freies und als Grund seiner selbst, das keines Grundes mehr bedarf. Es erschaffe sich selbst und falle unter die Bestimmung der absoluten Negativität. Was Kierkegaard damit meint, wird im Zwischenspiel der Brocken deutlich. Dort unterscheidet Johannes Climacus zwischen einer bedingt freiwirkenden Ursache und einer schlechthin freiwirkenden Ursache. (PhB, 71f.) Da der Mensch nur bedingt als freiwirkend zu verstehen sei, tritt schon der Ethiker 9
Vgl. W. Janke Entgegensetzungen, S. 175: „Im unendlichen Prozeß des Idealismus sind Handlung, das Hervorbringen, und Tat, das Hervorgebrachte, dasselbe, nämlich Ich. Dessen Ausdruck lautet eben Ich=Ich.“
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mit Vehemenz dafür ein, dass sich wählen nicht bedeutet, sich zu erschaffen.
II Durch Kierkegaards Kritik an Fichte wird festgehalten, dass aus der Perspektive des absoluten Selbstbewusstseins kein Maßstab verbindlichen moralischen Handelns gewonnen werden kann. Kierkegaard verfolgt das Problem in seiner Analyse des Begriffs des Ethischen. „Darum hat das ethische Leben diese Zwiegestalt, daß der einzelne Mensch sich selbst außerhalb seiner selbst in sich selbst hat.“ (E-O II, 276) Im Begriff des Ethischen stoßen wir erneut auf den Zwiespalt, in den die Frage: „Wer bin ich?“ geführt hatte, er wird hier als Zwiespalt von Innerem und Äußerem erfasst. „Die Pflicht ist das Allgemeine, was von mir gefordert wird, was ich tun kann, ist das Einzelne.“ (E-O II, 280) In der Zwiegestalt des Ethischen, der Spannung zwischen Innerem und Äußerem, Einzelnem und Allgemeinem, haben auch die unterschiedlichen Facetten des Pflichtbegriffs ihren Ort. Hier kann Kierkegaard bereits an die Einsichten anknüpfen, die Fichte in seiner Bezugnahme auf Kants Begriff der Pflicht gewonnen hatte. Sie orientieren auf die Probleme, die sich stellen, wenn der Pflichtbegriff zum Vermittlungsbegriff von Einzelnem und Allgemeinem wird. „Der Fehler ist, daß der einzelne Mensch in ein äußeres Verhältnis zur Pflicht gesetzt wird. […] Denn die Pflicht ist nichts Auferlegtes, sondern etwas, das mir obliegt.“(E-O II, 275) Kierkegaards Kritik richtet sich zunächst auf einen allgemeinen Pflichtbegriff, der an Kriterien des Handelns gebunden ist, die dem Einzelnen vorausliegen. Darin ist das Ethische auf äußere Maßstäbe des Handelns reduziert, der Einzelne wird als Adressat von Geboten oder Befehlen verstanden. Der Gedanke der Wechselwirkung, das Spannungsverhältnis, das der Pflichtbegriff enthält, ist damit in Richtung des Gesetzes verschoben, weil nicht eindeutig zu bestimmen ist, was den Einzelnen zur Pflicht motiviert, ob er sich (von) selbst auf die Pflicht bezieht. Fichte berücksichtigt diese Unterscheidung schon in der Sittenlehre von 1798: „Nun kann das Ich […] nie unabhängig werden, solange es Ich seyn soll.“ (FW IV, 149) Das vorausliegende Sollen hält gerade die Differenz zum Wollen fest und stellt den Ausgleich in Frage bzw. relativiert ihn: „Ich nähere an, fr mich. […] ich habe sonach immer ein bestimmtes Ziel vor Augen. (FW IV, 150)
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Hier sind zwei Gedankengänge enthalten: Wird das Sittengesetz zum absoluten Maßstab des Sollens, bleibt seine Realisierung an die Wirksamkeit des vernünftigen Subjekts gebunden. Aber wird damit nicht auch der Kritik Vorschub geleistet, dass die sittliche Vollkommenheit gerade in der selbstlosen Vergessenheit seiner selbst bestünde? 10 Der Einwand lässt sich durch folgende Formulierung Fichtes stützen: „Jeder wird gerade dadurch, dass seine ganze Individualität verschwindet und vernichtet wird, reine Darstellung des Sittengesetzes in der Sinnenwelt; eigentliches reines Ich, durch freie Wahl und Selbstbestimmung.“ (FW IV, 256) Fichte bindet den Begriff der freien Wahl an das absolute Sittengesetz, damit ist die ethische Wahl im Sinne Kierkegaards nicht erreicht. Dass Kierkegaard diese Art Fichte zu lesen, favorisiert hat, zeigt bereits das Zitat aus dem Begriff der Ironie. Von hier aus formuliert er seine Einwände gegen Fichtes Ethik. Den anderen Gedanken aber, durch den Fichte Freiheit und empirisches Subjekt verbindet, hat auch Kierkegaard verteidigt. Wenn Fichte in seiner Anwendung des Sittengesetzes auf das Zeitwesen insofern dessen Beschränkung betont, dass in jeder Lage nur etwas Bestimmtes Pflicht sein könne, orientiert er auf die Aufhebung des Zwiespalts zwischen Sittengesetz und empirischem Individuum. Zugleich hat er die „absolute Befreiung von aller Beschränkung“ (FW IV, 166) im Blick. Indem Fichte beide Gesichtspunkte berücksichtigt, bleibt ein Zwiespalt, der nicht in eine Einheit überführt werden kann. Die Frage, ob das Sittengesetz nur Begründungs- oder auch Anwendungsprinzip der Ethik ist, hat Kant selbst diskutiert.11 Kierkegaard nimmt das Motivationsproblem auf, wenn er betont, wie einer wählt, sei entscheidend. Im „Wie“ der Leidenschaft wird das Sollen auf den Einzelnen bezogen. In seinem Ansatz ist die Leidenschaft jenes Begleitelement des Handelns, das die Trennung zwischen Einzelnem und Allgemeinem überbrückt, die jeden Pflichtbegriff charakterisiert. Es ist die Intensität der Pflichtempfindung, die ihre Tendenz bestimmt, die Einstellung des Handelnden zum Ganzen ausdrückt. „Die Hauptsache ist darum nicht, ob ein Mensch an den Fingern herzählen kann, wie viele Pflichten er hat, sondern daß er ein für allemal die Intensität der Pflicht empfunden hat“. (E-O II, 284)
10 Vgl. dazu E. Düsing „Das Problem der Individualität in Fichtes früher Ethik und Rechtslehre“ (s. Anm. 3), S. 45. 11 Die Diskussion um Kants Begriff der Achtung kann hier nicht aufgenommen werden.
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Der Begriff des Ethischen beruht auf dem Spannungsverhältnis, das den Pflichtbegriff charakterisiert, durch ihn aber zur Aufhebung gedrängt wird. Indem Kierkegaard auf das „Wie“ der Leidenschaft aufmerksam macht, betont er die Unsicherheit, die im Handelnden angesichts der ethischen Aufgabe entstehen kann. Damit weist er ab, dass das Selbst lediglich von außen, durch Autoritäten wie das Gesetz bestimmt sei. Dieser Einsicht trägt auch die Unterscheidung zwischen einem wirklichen und einem idealen Selbst Rechnung. (E-O II, 276) Das ethische Selbst – als das wirkliche – kann nur dann hervorgebracht werden, wenn es Perspektiven außerhalb seiner als seine eigenen erfassen kann. Das ideale Selbst bleibt ein unerlässlicher Bezugspunkt des Handelnden. Zugleich aber ergibt sich aus dem ethischen Anspruch an den Einzelnen – in der Form von Gesetzen, Prinzipien und Geboten – seine Einstellung zu ihnen nicht. Damit ist die ethische Dimension des Selbst als Verhalten zu sich selbst noch nicht erreicht. Auf dieser Grundlage zu handeln, kann dem Handelnden äußerlich bleiben: zeigt (noch) nicht, wer er ist. Mit dem Begriff des Ethischen nimmt Kierkegaard Bezug auf die Probleme, die sich aus der Untersuchung des moralischen Bewusstseins im Deutschen Idealismus ergeben hatten.12 Er folgt damit zunächst Fichtes Kant-Kritik und seiner Bindung des Sittengesetzes an das empirische Ich, indem er die Bestimmung der Pflicht als bloß allgemeiner Bestimmung eines leeren, weil formalen, Sollens ablehnt. Die Ambivalenz der Verbindung zwischen empirischem und absolutem Ich bei Fichte fordert Kierkegaard zu einer eigenen Antwort heraus. Während Hegel eine Gefahr darin sieht, dass sich die Ambivalenz im moralischen Bewusstsein unter dem Einfluss der realen Geschichte vertieft und dem zwiespältigen moralischen die Einheit des sittlichen Bewusstseins gegenüberstellt, lässt sich der Widerspruch im moralischen Bewusstsein nach Kierkegaard nur durch die Leidenschaft des Handelnden aushalten. Von dieser Position aus ist eher verständlich, dass Kierkegaard seine Kritik an Fichtes Nachdenken über die Durchdringung von empirischem und absolutem Ich 1836 in seinem Tagebuch in die knappe Fassung bringt: „Fichte hatte in hohem Maße jene Spinnenfeuchtigkeit, womit er sich, sobald er den geringsten Anhaltspunkt bekam, sogleich in die ganze Sicherheit der Schlussform hinabstürzte.“ (T 1, 54) 12 Zur Analyse der Begriffe „Moralität“ und „Sittlichkeit“ im Rahmen des Auseinandersetzung Kierkegaards mit den Ethiken Kants und Hegels vgl. S. Rapic, Ethische Selbstverstndigung (s. Anm. 1), S. 112 – 179.
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III Kierkegaards Kritik der erkenntnistheoretischen Wendung der Vermittlung von Sittengesetz und empirischem Individuum lässt sich unter Berücksichtigung von Fichtes Begriff des Gewissens aufnehmen und vertiefen. Unter Einbeziehung des Phänomens des Gewissens wird in der Sittenlehre von 1798 erneut die Frage des Übergangs eines transzendentalen Sollens in ein Wollen des Einzelnen diskutiert. Die ethische Selbstbestimmung ist – als etwas, das sein soll – auf die Sinnenwelt angewiesen. „das Sittengesetz ist lediglich formal und muss seine Materie anderwärtsher erhalten. Aber dass etwas seine Materie ist, davon kann der Grund nur in ihm selbst liegen.“ (FW IV, 166) Für Fichte ist die Moral der Ort, an dem sich zeigt, ob sich das Absolute verwirklichen lässt. Er fragt nach der Anwendung des Sittengesetzes auf das Zeitwesen (vgl. ebd.) und sucht Freiheit und Natur des Menschen zu vermitteln. Zu den Bedingungen der Realisierung des Sittengesetzes gehört die Berücksichtigung der Naturbedingungen von Freiheit.13 Fichte bindet deshalb seine Sittenlehre an eine Auffassung von Trieben, die zwischen Natur und Freiheit vermitteln. Er nimmt einen Urtrieb an, der als Naturtrieb und als reiner oder absoluter Trieb erscheint (vgl. FW IV, 130f.). Dazu bedient er sich der Analogie zwischen einem „Reich der Zwecke“ und einem „Reich der Natur“.14 Die Urteilskraft ermittelt aus beiden Trieben den gemischten oder sittlichen Trieb, der sich im Bewusstsein als bestimmte Pflicht manifestiert. „Das Gewissen aber ist das unmittelbare Bewusstseyn unserer bestimmten Pflicht.“ (Vgl. FW IV, 173) Damit ist die Ebene des empirischen Individuums erreicht, für das es in einer bestimmten Situation und zu einer bestimmten Zeit nach Fichte nur eine Handlungsmöglichkeit geben kann. Hier ist nicht nur die Übereinstimmung unseres empirischen Ich mit dem reinen (vgl. FW IV, 169) zu nennen, sondern auch, dass sich diese in einem Gefühl der subjektiven Gewissheit als einem Zustand des Gemüts manifestiert. Worauf es ankommt, ist, dass das Absolute im Gewissen als Faktum in der Zeit erscheint. In Fichtes Begriff des Gewissens sind damit zwei Gesichtspunkte verwoben. In der Bindung an das empirische Ich zeigt sich das Gewissen zum einen als eigenes und im Werden begriffenes. Zum anderen ist es unmit13 Vgl. Peter Rohs „Der materiale Gehalt des Sittengesetzes nach Fichtes Sittenlehre“ in Fichte-Studien 3 (1991), S. 171. 14 Holger Jergius „Fichtes Theorie des Gewissens“ in Grundprobleme der großen Philosophen. Philosophie der Neuzeit II, hrsg. v. Josef Speck, Göttingen 1976, S. 95.
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telbares Bewusstsein, bestimmte Pflicht, durch die der Einzelne sein konkretes Handeln als kategorisch Gebotenes versteht: als das Gewissen oder das Gewisse bzw. die Gewissheit. Die phänomenologische Vergewisserung ist nur der eine Punkt, schwieriger ist, wie diese sich als das Gewisse einsehen lässt.15 Gehört doch zur Charakterisierung des Gewissens, dass es „sich absolut nicht durch Autorität leiten lassen“ kann (FW IV, 175), es über ihm keine weitere Instanz gibt, es den unmittelbaren Zugang zu sich selbst gewährt und für den Einzelnen kategorisch ist. Was das Gewissen als moralische Instanz auszeichnet, ist, dass es eine Vermittlung zwischen Äußerem und Innerem darstellt, sowohl die Selbstveränderung als auch die Beständigkeit des Handelnden erfasst. Insofern ist das Gewissen Ausdruck der Zwiegestalt des Ethischen oder der Entzweiung mit sich selbst, auf die jeder stößt, der die Frage: „Wer bin ich?“ stellt. Im Gewissen werden die unterschiedlichen Handlungsperspektiven zu einem Ausgleich gebracht. Insofern stellt das Gewissen die Einheit einer Vielheit dar. Als Ort der Vergewisserung ist es das alleinige Kriterium der Richtigkeit der moralischen Überzeugungen des Einzelnen. Als inneres Kriterium unterstreicht es die Unabhängigkeit der Moral von äußeren Bedingungen (vgl. FW IV, 170). „[…] die Stimme des Gewissens in meinem Innern, die in jeder Lage meines Lebens mich unterrichtet, was ich in ihr zu tun habe“ (FW II, 298), liegt bei Fichte allen Bestimmungen zugrunde. Damit wird es zum Maßstab und erhält einen objektiven Charakter. Es ist der faktische Zugang zu sich selbst, der ohne Reflexion als individuelle Billigung oder Missbilligung, Harmonie oder Disharmonie erfahren wird. Darin geht es über die motivierende Kraft des Kategorischen Imperativ hinaus. In dieser Übereinstimmung mit sich, die sich im Gewissen zeigt, erfasst sich das Individuum in seiner Einzigartigkeit in einem guten Lebensgefühl, als Einheit von Innerem und Äußerem.16 Die Ausgangsfrage: „Wer bin ich?“ lässt sich nach Fichte mit einem guten Gewissen beantworten (im guten Gewissen habe ich mich), hier gewinnt der Einzelne seine Wirklichkeit. Zwischen dem absoluten Sittengesetz und dem empirischen Ich bildet sich das Gewissen in einem 15 Vgl. H. Jergius „Fichtes Theorie des Gewissens“, S. 83. 16 Dass es sich hier nicht um ein Lustgefühl im Sinne eines sinnlichen Gefühls handelt, hat Fichte in der Sittenlehre diskutiert: „Die Lust der Billigung […] hat mit dem Genusse gar nichts zu tun. […] Sie führt mich sonach nicht aus mir heraus, sondern vielmehr zurück in mich“ (FW IV, 146).
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Spielraum, den der Einzelne hat und der nur von ihm ausgefüllt werden kann. Das Gewissen ist Ausdruck dessen, dass es eine Bestimmung gibt, die nur auf den Einzelnen zutrifft. Mit der Forderung: „Erfülle jedesmal deine Bestimmung“ (FW IV, 50f.) 17 macht Fichte darauf aufmerksam, dass die Selbstwerdung an Situationen gebunden ist und sich in diesen immer wieder bewähren muss. Zu Fichtes transzendentalphilosophischer Ethik gehört eine empirische Manifestation dieser Forderung. Sie zeigt sich im Gefühl. So heißt es: „das ursprüngliche Ich und das wirkliche sind in Harmonie, und es entsteht, wie immer in diesem Falle, […] ein Gefühl.“ (FW IV, 166f.) Im Gefühl des Gewissens ist auch die Spitze des Fichteschen Freiheitsbegriffs erreicht, denn frei kann jemand nur dann sein, wenn ihm sein Wollen entspricht. Verstehen wir diese Einsicht Fichtes als eine Antwort auf die Frage: „Erkenne dich selbst“, heißt das: Du hast dich selbst erkannt, wenn du ein gutes Gefühl hast für das, was Du tun willst. Es lässt sich durch Reflexion allein nicht herstellen. Unter Bezugnahme auf dieses Gefühl behauptet Fichte auch, dass sich das Gewissen nicht irren könne. (FW IV, 166f.) Damit verbunden ist die Auffassung, dass jeder zu seinem Gewissen stehen, sich nicht gegen sein Gewissen entscheiden könne. Damit ist das Gewissen eine Art Generalinstanz geworden. Im Gewissen schließt sich der Einzelne mit sich selbst zusammen, als Kern des moralischen Bewusstseins bietet es ihm einen Halt, dieser ist kategorisch. „Wer einer ist“ zeigt sich in der Innerlichkeit des Gewissens. Zu seinem Gewissen zu stehen, ihm zu folgen, schließt ein, sich darüber Klarheit zu verschaffen, wer einer sein will. Der dynamische Gesichtspunkt des Gewissens ist an die Ausbildung von Tugenden und die geschichtliche Wirksamkeit des Menschen gebunden. Der Zusammenhang von Pflichten- und Tugendethik bei Fichte kann hier nicht diskutiert werden. Zumindest werden erneut die Grenzen einer an Autoritäten gebundenen Pflichtenethik deutlich und mit einer Auffassung vom Gewissen ergänzt, das sich selbst auf das Handeln ausrichtet ohne die Stimme dieses Gefühls 17 Diese Position hat Fichte durchaus Kritik eingebracht. Vgl. Petra Lohmann Der Begriff des Gefhls in der Philosophie J. G. Fichtes (Fichte-Studien Supplementa 18), Amsterdam/New York 2004, S. 118ff.. Sie ist aber ebenso konzeptionsbildend gewesen. Ich verweise auf Max Weber und dessen Wirkung auf Plessner und Schmitt, die auch in einen Bezug zu existenzphilosophischen Einflüssen gebracht wird. Vgl. dazu: Rüdiger Kramme Helmuth Plessner und Carl Schmitt. Eine historische Fallstudie zum Verhltnis von Anthropologie und Politik in der deutschen Philosophie der zwanziger Jahre, Berlin 1989.
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auf Gott oder eine andere äußere Instanz zurückzuführen.18 Im Unterschied zu Kant lehnt Fichte eine forensische Deutung des Gewissens ab. Wenn die innere Nötigung hier zur Grundlage der Moral wird – die die Tendenz zum Handeln vorgibt – wird weder der Willkür noch dem Individualismus das Wort geredet. Zugleich kommt es darauf an, die Grenzen des Ethiktyps vor Augen zu führen, für den das Begründungsproblem primär und vom Anwendungsproblem getrennt ist. Wenn nur der Einzelne selbst bestimmen kann, worin seine Pflicht besteht, sind jeder Aufklärung oder Beratung Grenzen gesetzt. Freilich bleibt die Vermittlung zwischen Einzelnem und Allgemeinem als Problem bestehen, aber sie ist immanent zu vollziehen; handelt es sich doch um eine praktische Entscheidung, nicht um eine theoretische Beziehung im Sinne einer Deduktion auf der Grundlage eines Gesetzes. Unter diesem Gesichtspunkt tritt hinsichtlich der Gewinnung des moralischen Standpunkts eine wichtige Übereinstimmung zwischen Kierkegaard und Fichte hervor. Zurecht haben Fichtes Äußerungen zum Gewissen ihn in die Nähe der Existenzphilosophie gerückt.19 Sie zeigt sich auch im Vergleich mit Kierkegaards Gewissensbegriff, der in Entweder-Oder vom Ethiker vorgetragen wird; zugleich aber lassen sich von hier aus auch die Differenzen aufweisen. Um den Ausgleich zwischen Ästhetischem und Ethischem zu markieren, benutzt dieser den Ausdruck Gewissen: „Erst wenn das Individuum selber das Allgemeine ist, erst dann läßt das Ethische sich verwirklichen: Es ist das Geheimnis, das im Gewissen liegt, es ist das Geheimnis, welches das individuelle Leben mit sich selber hat, daß es zu gleicher Zeit ein individuelles Leben und das Allgemeine ist, wo nicht unmittelbar als solches, so doch nach seiner Möglichkeit.“ (E-O II, 272ff.) Hier ist das Allgemeine dem Einzelnen nicht übergeordnet. Auch der Ethiker verbindet das Gewissen mit der konkreten Pflicht. Hier drängt sich die Nähe zu Fichte bis in die Formulierung hinein auf: „Sie, diese Stimme meines Gewissens, gebietet mir in jeder Lage meines Daseyns, was ich bestimmt in dieser Lage zu thun, was ich in ihr zu meiden habe“. (FW II, 258) Kierkegaards spätere Schriften führen über diesen Standpunkt hinaus. Sie stellen die Frage nach der Möglichkeit der Handlungsorientierung, 18 Ob und inwieweit sich Fichte in der antiken Tradition verankern lässt, muss hier offen bleiben. Zumindest zeigt seine Auffassung Parallelen zur Nichtlehrbarkeit der Tugenden. Vgl. dazu P. Lohmann, Der Begriff des Gefhls in der Philosophie J. G. Fichtes, S. 137 – 141. 19 Vgl. H. Jergius „Fichtes Theorie des Gewissens“ (s. Anm. 14), S. 80f.
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wenn nicht der Ausgleich, sondern der Bruch mit dem Allgemeinen Thema wird. Schon im Ethikmodell in Entweder-Oder wird die Harmonie zwischen dem ethischen und dem ästhetischen Standpunkt in Frage gestellt.20 Das lässt sich in den Passagen zeigen, in denen der Ethiker als Zeuge seines harmonischen Daseins auftritt: „Ich liebe mein Weib, bin glücklich in meinem Zuhause; […] liebe mein Vaterland […]. Ich liebe meine Muttersprache […]. So liebe ich denn das Dasein, weil es schön ist, und hoffe auf ein noch schöneres.“ (E-O II, 346) Da sich das gute Leben selbst rechtfertigt, wird es von jeder Bezeugung negiert. Wird doch damit der Betrachterstandpunkt eingenommen, der hier überflüssig ist. Der Ironiker Kierkegaard treibt den ethischen Standpunkt an seine Grenzen, wenn die Sicherheit des konkreten Daseins allein aus den allgemeinen Merkmalen der Lebensführung gewonnen wird. Hatte sie doch der Ethiker in der Ablehnung einer allgemeinen Pflichtenlehre – der Begrenzung der normativen Ethik – selbst in Frage gestellt. Kurz: dem Ethiker fehlt der Abstand zu seinem Leben, ihm fehlt die Ironie: „Ein Leben, das menschenwürdig genannt werden kann, [beginnt] mit der Ironie.“ (BI, 4) Indem der Ethiker auf die Frage nach sich selbst die Antwort gibt: „Ich verrichte meinen Dienst als Gerichtsrat“ (E-O II, 345) verkürzt er die Perspektive des Ethischen. Im Begriff Angst vertieft Kierkegaard unter dem Pseudonym Vigilius Haufniensis die ethische Problematik als eine subjektive, die im „Wie“ der Lebensführung sichtbar wird. In Verbindung mit der Angstbestimmung wird die Gewissensproblematik erneut zum Thema, gewinnt aber im Vergleich zu Fichte eine andere Dimension. Während Fichte formuliert: „wer seiner Sache ganz gewiß sei, der müsse auf diese Gewissheit selbst die ewige Verdammnis wagen, und wenn er dies nicht möge, verrathe er damit seine Ungewissheit“ (FW IV, 168), verweist das Phänomen der Angst als eine Zwischenbestimmung zwischen Freiheit und Unfreiheit auf den Wagnischarakter – die Ungewissheit – der Freiheit, die in Unfreiheit umschlagen kann. Dass die Macht der Freiheit zugleich eine Ohnmacht offenbaren kann, zeigt sich nach Kierkegaards Verständnis der Freiheit darin, dass der Einzelne in seiner Lebensführung auf sich selbst verwiesen ist, diese in ihm selbst, aber nicht in einem anderen gründet. „Die Freiheit ist unendlich und 20 Vgl. Karin Pulmer Die dementierte Alternative. Gesellschaft und Geschichte in der sthetischen Konstruktion von Kierkegaards „Entweder-Oder“, Frankfurt a. M./Bern 1982.
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erscheint als Nichts.“21 Diese Freiheit der Wahl wird als Angst erfahren, wenn die Wahl auf den Wählenden zurückschlägt und ihn festlegt. „Doch welche Wirkung hat Nichts? Es gebiert Angst.“22 Das Phänomen der Angst beleuchtet den Zwiespalt zwischen der Möglichkeit der Selbstbestimmung und der Bestimmung durch andere, wenn dieser in die Richtung des Selbstbezugs verschoben wird. Der radikale Selbstbezug bringt die Angst hervor. Damit ist die Angst auch Ausdruck dessen, dass der Mensch keine Distanz zu sich selbst hat, dass es keine normative Instanz gibt, in der die Freiheit ihre Entsprechung findet. Die Freiheit hat ihr Maß in keinem Sollen und findet keine Ruhe in einem guten Gefühl. Dabei ist die Wahl nicht gleichgültig, denn sie ist auf sich selbst bezogen. Dass sich der Einzelne als frei erfasst – das Überschreiten ins Offene an kein Maß gebunden ist – macht die Angst unauslöschlich. Damit verfehlt sich das Selbst, eine Verständigung mit sich selbst gelingt nicht. Diese Unsicherheit im Bezug auf sich bindet den Menschen an die Angst. Sie zeigt sich auch in einem „geängstigten Gewissen“, das ihn wie kein anderes Phänomen individuiert. Hierin kann zugleich ein Indiz dafür gesehen werden, dass nur die Orientierung an einem nicht menschlichen Maßstab eine Möglichkeit zur Aufhebung der Angst darstellen kann. Wie Kierkegaard unter eigenem Namen – in seinem Tagebuch vom Februar 1849 – festgehalten hat, kann ein „geängstigtes Gewissen“ zum Christentum führen. (T III, 191) Das Geheimnis, das im Gewissen oder in der Vermittlung von Einzelnem und Allgemeinem liegt, auf das bereits der Standpunkt von Entweder-Oder aufmerksam macht, erhält jetzt eine weitere Dimension. „Aber vor Gott waren und sind sie ständig Einzelne; vor Gott ist jeder Mensch von einer Durchsichtigkeit, dass sich keiner, der im Glasschrank sitzt, so sehr geniert. Dies ist das Gewissens-Verhältnis. Mit Hilfe des Gewissens ist es so eingerichtet, dass mit jeder Schuld sogleich die Meldung verbunden ist und dass der Schuldige sie selber schreiben muss.“23 Zum „geängstigten Gewissen“ gehört das Suchen nach Ausweichmöglichkeiten. Im Bestreben, ein anderer zu sein, lässt sich gegen das Gewissen handeln, und daraus ergibt sich die Möglichkeit, sich selbst zu täuschen. Kierkegaard stellt eine Lesart des Gewissens vor, die wir bei Fichte nicht finden und problematisiert das deutsche Wort Gewissen: „Es ist übrigens hübsch in der deutschen Sprache, daß Gewissen das Gewisse bedeutet und zugleich Gewissen. Das Gewissen ist das eigentlich Gewisse. 21 Søren Kierkegaard Der Begriff Angst (s. Anm. 7), S. 131. 22 Ebd. S. 50. 23 Kierkegaard Die Krankheit zum Tode, Stuttgart 1997, S. 141f.
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Schade, daß wir das Wort nicht im Dänischen haben.“ (T III, 274) Auf der Grundlage dieser feinen, aber gravierenden Unterscheidung von Gewissen und Gewissem weisen die Ethiken Fichtes und Kierkegaards in unterschiedliche Richtungen. Das Gewissen ist für Kierkegaard der Ort, an dem sich das Verhältnis von Ethischem und Religiösem in seinen unterschiedlichen Varianten ausprägt; aber nur über den Glauben an Gott – an ein Drittes – vermittelt werden kann. Auch bei Fichte zeigt sich das Gewissen im Zugang zu sich, das aber gerade in seiner eigenen Unerschütterlichkeit – als das Gewisse – zum Ausgangspunkt für moralisches Handeln wird. Damit wird die Gewissensproblematik aus der Bindung an die Autorität Gottes herausgeführt. Fordert doch die innere Stimme des Gewissens als Ausdruck der Identität mit sich selbst: „Auf sie zu hören, ihr redlich und unbefangen ohne Furcht und Klügelei zu gehorchen“ (FW II 258).24 Diese Einheit im moralischen Bewusstsein sichert einen Maßstab, der von der Dynamik des Werdens abgekoppelt werden kann. In dem Kierkegaard Fichte im Begriff der Ironie einen Mann der Wissenschaft nennt, verweist er zugleich auf die Grenzen jeglicher wissenschaftlich bestimmten Ethik-Konzeption. Auf der Grundlage des Gewissens entfalten sich für Fichte nicht anders als für Sokrates im Befolgen des Logos die Tugenden. Anti-Climacus gibt in der Krankheit zum Tode unter Berufung auf das Gewissen eine ganz andere Antwort: „Und es ist eine der für das gesamte Christentum entscheidendsten Bestimmungen, dass der Gegensatz zu Sünde nicht Tugend ist, sondern Glaube.“25 Schon Vigilius hatte mit seinem Schlussstrich unter die Ethikdebatte der pseudonymen Schriften bis 1844 entscheidende Argumente gegen die idealistischen Ethiken (unter die gleichermaßen Platon, Kant und Fichte fallen) parat: „Die Ethik zeigt die Idealität als Aufgabe und setzt voraus, daß der Mensch im Besitz der Bedingungen dafür ist. Damit entwickelt sie einen Widerspruch, denn sie macht gerade die Schwierigkeit und Unmöglichkeit sichtbar. […] Sie ist ein Zuchtmeister und richtet fordernd mit ihrer Forderung, ohne etwas zu gebären.“26 24 Fichte hat im Gewissen durchaus eine Verbindung von Moral und Religion gesehen. Auch er trennt die moralische Ordnung nicht von der religiösen, wenn er das Gewissen das Orakel aus der ewigen Welt nennt. Gott ist hier die moralische Weltordnung selbst, die sich zum einzelnen in der Stimme des Gewissens herabneigt und zu der sich dieser erhebt, in dem er in dieser wirkt. Vgl. FW II 298. 25 Kierkegaard Die Krankheit zum Tode (s. Anm. 23), S. 94. 26 Kierkegaard Der Begriff Angst (s. Anm. 7), S. 21.
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Vigilius schlägt eine Ethik vor, die methodisch umgekehrt verfährt und ihren Ausgang bei der Selbstveränderung des Individuums, dem Gebren der Individualität im Handeln nimmt. Hier sind Elemente eines Ethikverständnis angesprochen, die Fichte geteilt hat. Gilt es doch für ihn diesen Widerspruch – unter Rückgriff auf die Selbstbildung durch das Gewissen – im Prozess der Selbstwerdung auszuhalten. Dennoch darf nicht übersehen werden, dass für Fichte dafür das absolute Ich selbst den Maßstab bildete. Fichte und Kierkegaard teilen die Forderung nach der Unbedingtheit des Guten, seinen absoluten Charakter. Zugleich berücksichtigen beide, dass das Gute nicht verwirklicht werden kann, wenn es nicht auf den handelnden Menschen bezogen wird, der damit aber Gefahr läuft, das relativ Gute zum Absoluten zu erheben und zu verkehren. Sie haben darin die Notwendigkeit gesehen, das Unbedingte nicht für obsolet zu erklären und die Selbstbegrenzung des geschichtlichen Menschen zu ihrem Thema gemacht.
Selbstbewusstsein und Intersubjektivität bei Fichte und Kierkegaard Von Smail Rapic 1. Die Einschätzung Fichtes in Kierkegaards Der Begriff Angst und ber den Begriff der Ironie 1.1. Die Polemik gegen das „reine Selbstbewußtsein“ im Begriff Angst In Kierkegaards Begriff Angst (1844) wird der Begriff des „reinen Selbstbewußtsein[s]“ als „Luftgebilde des Idealismus“ deklariert. (BA, 80) Der pseudonyme Autor des Buches, Vigilius Haufniensis, – die Namengebung präsentiert ihn als ,wachsamen Beobachter‘ aus Kopenhagen – erläutert dieses polemische Urteil folgendermaßen: Der konkreteste Inhalt, den das Bewußtsein haben kann, ist das Bewußtsein seiner selbst, seiner selbst als Individuum, nicht das reine Selbstbewußtsein, sondern das Selbstbewußtsein, das so konkret ist, dass kein Schriftsteller, auch nicht der wortreichste, nicht der darstellungsgewaltigste, je vermocht hat, einen einzigen Solchen zu beschreiben, indessen jeder Mensch ein solcher ist. Dies Selbstbewußsein ist nicht Kontemplation, denn wer das glaubt, hat sich selbst nicht verstanden, da er sieht, daß er selbst zu gleicher Zeit im Werden ist, und mithin nichts für die Kontemplation Abgeschlossenes sein kann. Dies Selbstbewußtsein ist daher Handlung, und diese Handlung wiederum ist die Innerlichkeit (vgl. BA, 148f.).1
Der idealistische Begriff des reinen Selbstbewusstseins verfehlt somit nach Haufniensis das „konkret[e]“ Bewusstsein, das jeder von sich selbst als Individuum hat. Da Haufniensis mit seiner Feststellung, unser individuelles Selbstbewusstsein lasse sich niemals adäquat „beschreiben“, das Diktum ,individuum est ineffabile‘ in Erinnerung ruft, stellt sich allerdings die Frage, inwiefern es als ein spezifisches Defizit des idealistischen Selbstbewusstseins-Begriffs anzusehen ist, dass unsere konkrete Individualität darin zu kurz kommt. Die zitierte Passage gibt hierüber keinen direkten Auf1
Der Zusatz „vgl.“ vor einer Zitatangabe zu einem Kierkegaardschen Text besagt, dass der Text der herangezogenen dt. Übersetzung modifiziert worden ist.
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schluss; es liegt daher nahe, ihren zweiten Teil als weitere Explikation des Vorwurfs der lebensfernen ,Abstraktheit‘ des „reinen Selbstbewusstsein[s]“ zu interpretieren. Gemäß dieser Lesart hält Haufniensis mit seiner Aussage, unser individuelles Selbstbewusstsein sei „nichts für die Kontemplation Abgeschlossenes“, dem Deutschen Idealismus vor, das Selbstbewusstsein handelnder Personen in einer unangemessen abstrakten ,kontemplativen‘, d. h. theoretischen Perspektive zu thematisieren. Was der Ausdruck „Kontemplation“ an dieser Stelle konkret besagt, wird anhand des Zweiten Teils von Kierkegaards Entweder-Oder (1843) deutlich, dessen fiktiver Autor – der Gerichtsrat Wilhelm – am Schluss des Begriff Angst zustimmend erwähnt wird (BA, 168f.): Der Gerichtsrat begründet seine These, die Selbsterkenntnis eines „ethische[n] Individuum[s]“ sei „keine bloße Kontemplation“, damit, dass der Einzelne in der Kontemplation „nach seiner Notwendigkeit“ bestimmt werde, wogegen ein Individuum, das seiner selbst in adäquater Weise bewusst wird, „sich selbst gebiert“, d. h. selbständig Lebensentscheidungen trifft (E-O II, 275f.). Im ,kontemplativen‘ Zugang zu unserer jeweiligen Individualität gerät somit die – von jeder Ethik vorausgesetzte – Fähigkeit zur freien Selbstbestimmung aus dem Blick: Das Individuum erscheint insofern als etwas „Abgeschlossenes“ (BA, 149, s. o.), als ihm Bestimmungen zugesprochen werden, die sein künftiges Leben festlegen; in diesem Sinne schließt die „Kontemplation“ die Kategorie der „Notwendigkeit“ ein (E-O II, 276). Es bleibt allerdings zu klären, inwiefern das individuelle Selbstbewusstsein handelnder Personen selber den Charakter der Handlung hat, wie Haufniensis am Schluss des obigen Zitats (BA, 148f.) behauptet.2
1.2. Die Rezeption von Hegels Beurteilung der Wissenschaftslehre Fichtes in Kierkegaards Der Begriff Angst und Über den Begriff der Ironie Im Kommentar zum Begriff Angst in der historisch-kritischen Ausgabe Søren Kierkegaards Skrifter wird Fichte als primärer Adressat der Polemik Haufniensis’ gegen den idealistischen Selbstbewusstseins-Begriff genannt 2
Haufniensis’ Bestimmung des konkreten Selbstbewusstseins als Handlung schließt die These ein, dass auch die theoretische Welterkenntnis eine Form der Praxis bildet. Diese These, die in Kierkegaards Abschließender unwissenschaftlicher Nachschrift (1846) anhand der Figur des „subjektive[n] existierende[n] Denker[s]“ näher ausgeführt wird (UN I 65ff., 139ff.), soll im Folgenden ausgeklammert, Haufniensis’ Begriff des konkreten Selbstbewusstseins also auf unser praktisches Selbstverhältnis im engeren Sinne eingeschränkt werden.
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(SKS K4, 446, 507). Als Beleg für diese Auffassung wird Haufniensis’ Aussage angeführt, es sei „an der Zeit, daß die Gewißheit, die Innerlichkeit geltend gemacht werde, nicht in dem abstrakten Sinne, in dem Fichte dies Wort nahm, sondern durchaus konkret“ (BA, 144, vgl. SKS K4, 446); der Ausdruck „Innerlichkeit“ schlägt die Brücke zur eingangs zitierten Passage (BA, 148f.), wo er auf das Selbstbewusstsein handelnder Personen appliziert wird. Laut dem genannten Kommentarband zielt die Fichte-Kritik im Begriff Angst in erster Linie auf den Begriff des absoluten Ich in dessen früher Wissenschaftslehre (SKS K4, 505).3 Haufniensis kennzeichnet Fichtes absolutes Ich als „ewige[s] Selbstbewusstsein“ (BA, 159). Dies ist ein (im Kommentarband allerdings nicht vermerktes) Missverständnis;4 es bleibt zu fragen, ob Kierkegaard ihm insgesamt erlegen ist. Der Kommentarband führt zur Erläuterung der Interpretationsthese, das absolute Ich der frühen Wissenschaftslehre Fichtes bilde den primären Angriffspunkt der Kritik Haufniensis’ am idealistischen Selbstbewusstseins-Begriff, eine Passage aus Kierkegaards Dissertation ber den Begriff der Ironie (1841) an (SKS K4, 505), die im Folgenden ausführlich zitiert werden soll:5 Das Ich-Ich6 ist die abstrakte Identität. Hierdurch machte er [= Fichte] das Denken unendlich frei. Aber diese Unendlichkeit des Denkens bei Fichte ist 3
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Ob Kierkegaard Fichtes Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794/95) studiert hat, lässt sich nicht entscheiden. Man kann jedoch davon ausgehen, dass ihm Fichtes Grundriß des Eigentmlichen der Wissenschaftslehre in Rcksicht auf das theoretische Vermçgen (1795) bekannt war (vgl. David J. Kangas „From Transcendental Ego to Existence“ in Kierkegaard and his German Comtemporaries, hrsg. von Jon Stewart, Vol. I: Philosophy, Aldershot 2007, S. 75). Fichtes Wissenschaftslehre nova methodo (1796 – 99) und die späteren Neufassungen der Wissenschaftslehre waren zu Kierkegaards Lebzeiten noch nicht veröffentlicht. Vgl. Ulrich Claesges Geschichte des Selbstbewußtseins. Der Ursprung des spekulativen Problems in Fichtes Wissenschaftslehre von 1794/95, Den Haag 1974, S. 55, 152. S. u. Abschnitt 4.1. Emanuel Hirsch bezieht im Anmerkungsteil seiner Übersetzung des Begriff Angst Haufniensis’ Aussage, es sei an der Zeit, die „Gewißheit“ bzw. „Innerlichkeit“ in einem konkreteren Sinne als Fichte geltend zu machen, demgegenüber auf das Wort Fichtes in der Bestimmung des Menschen (1800), alle „Wahrheit“ stamme aus dem „Gewissen“ (FW II, 253), ohne dies jedoch näher zu begründen (BA, 267f., Anm. 235). – Fichte wird im Folgenden nach FW in modernisierter Orthographie zitiert. Hirsch gibt das dän. „Jeg-Jeget“ (SKS 1, 309) an der zitierten Stelle mit „Ich=Ich“ wieder. Jørgen Huggler betrachtet demgegenüber den von Kierkegaard gebrauchten Bindestrich als inhaltlich signifikant und plädiert dafür, ihn in der dt. Übersetzung beizubehalten (Huggler „Der Anfang und das Sollen. Über Kierkegaards Fichte-Deutung in ber den Begriff der Ironie“ in diesem Sammelband, s. o.
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wie alle Unendlichkeit Fichtes eine negative Unendlichkeit (seine moralische Unendlichkeit ist fortgesetztes Streben […]) […] Indem Fichte dergestalt das Ich verunendlichte, machte er einen Idealismus geltend, in Beziehung auf den alle Wirklichkeit verblich, einen Akosmismus […] so erhielt er statt der Wahrheit die Gewißheit […] indem Fichte dergestalt im Ich-Ich die abstrakte Identität festhielt, indem er in seinem idealistischen Reich mit der Wirklichkeit nichts zu schaffen haben wollte, hatte er den absoluten Anfang erworben […] Das Ich wurde das Konstituierende. Da indes das Ich lediglich formell, mithin negativ verstanden wurde, blieb Fichte eigentlich bei den unendlich elastischen Bemühungen (molimina) um einen Anfang stehen. […] Damit nämlich das Denken – die Subjektivität – Fülle und Wahrheit gewinnt, muß es sich nähren lassen, es muß in die Tiefe des substantiellen Lebens sich versenken (vgl. BI, 278f.).
Diese Passage erhellt zwar nicht die Kritik am „reinen Selbstbewußtsein“ im Begriff Angst, sie ist dennoch aufschlussreich: Von zentraler Bedeutung ist es, dass Kierkegaards These, Fichte habe „statt der Wahrheit die Gewißheit“ erhalten (BI, 278), an Hegels Diktum im Fichte-Kapitel seiner Vorlesungen ber die Geschichte der Philosophie anknüpft: „Das Ich ist gewiß, die Philosophie will aber das Wahre“ (HW XX, 387ff.) 7 und die genannte Kierkegaardsche These unter umgekehrten Vorzeichen im Begriff Angst wiederkehrt, was eine Neubewertung des Verhältnisses Hegels zu Fichte einschließt.8 Der Aussage Haufniensis’, es sei „an der Zeit, daß die Gewißheit, die Innerlichkeit geltend gemacht werde“, wenn auch nicht im „abstrakten Sinn“ Fichtes (BA, 144, s. o.), geht seine Bemerkung voraus, „in neuerer Zeit“ sei „genug von der Wahrheit die Rede gewesen“ (ebd.): Dass das Begriffspaar „Gewissheit/Wahrheit“ auch an dieser Stelle auf die
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S. 32f.). Huggler macht darauf aufmerksam, dass in Kierkegaards Abschließender Unwissenschaftlicher Nachschrift vom „reine[n] Ich-Ich“ (erneut mit Bindestrich) die Rede ist (SKS 7, 113 / UN I, 180); dieses wird – mit deutlichen Anklängen an die Etikettierung des „reinen Selbstbewusstsein[s]“ als „Luftgebilde“ im Begriff Angst – „eine phantastische Vereinigung oben in den Wolken“ genannt, was damit begründet wird, dass „des einzelnen Ichs Verhältnis zu dieser Lufterscheinung“ nicht „angegeben“ werde (UN I, 188). Huggler stützt mit dem Hinweis auf die Rede vom „reine[n] Ich-Ich“ in der Nachschrift die Vermutung, dass Kierkegaard das absolute Ich Fichtes durchgängig mit dem Selbstbewusstsein gleichsetzt, wobei er allerdings einräumt, dass diese Deutung nicht zwingend ist. Die Nachschrift enthält gerade den entscheidenden Beleg dafür, dass Kierkegaard das Missverständnis des absoluten Ich, welches sich im Begriff Angst niederschlägt (BA, 159), korrigiert hat (UN I, 187, s. u. S. 100 f.). Vgl. Kangas „From Transcendental Ego to Existence“ (s. Anm. 3), S. 72. Kierkegaard hat auf die Wandlungen seines Verhältnisses zu Hegel selber hingewiesen: In einer Tagebuchnotiz aus dem Jahre 1850 heißt es, in der Phase seiner Dissertation sei er ein „Hegelscher Trottel“ gewesen (SKS 21, NB 21:35).
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Fichte-Deutung Hegels Bezug nimmt, wird durch den vorhergehenden Textabschnitt bestätigt, worin Haufniensis gegen die Zuordnung von Freiheit und Notwendigkeit in Hegels Logik polemisiert (BA, 143), wie auch durch das Motto des Begriff Angst, wo die Dominanz des „System[s]“ – gemeint ist das Hegelsche – in der Gegenwart beklagt wird (BA, 2, vgl. 6ff.). Während Kierkegaards These, Fichte habe „statt der Wahrheit die Gewißheit“ erhalten (BI, 278), in seiner Dissertation einen dezidiert kritischen Tenor hat, erscheint die Fichtesche „Gewißheit“ im Begriff Angst als ein Korrektiv zu Hegels Anspruch, die „Wahrheit“ gefunden zu haben. Um diese Korrektivfunktion konkretisieren zu können, muss der Hegelsche Hintergrund der Aussagen in Kierkegaards Dissertation, Fichte habe das Ich zwar verunendlicht, jedoch nur in einem „formell[en]“ Sinne, und sei damit bei einer „negative[n] Unendlichkeit“ stehen geblieben (BI, 278f., s. o.), umrissen werden. Kierkegaard unterscheidet im Anschluss an Hegel einen doppelten Begriff der Unendlichkeit: Den „positiven“ (BI, 278) reserviert er für den „Geist“ im Hegelschen Sinne, der (nach Hegel) im Anderen seiner selbst „schlechthin bei sich“ ist; Kierkegaard stimmt Hegel darin zu, dass Fichte diesen Geist-Begriff nur „formell“ antizipiert habe und bei der „negative[n] Unendlichkeit“ des fortgesetzten „Streben[s]“ nach einer bruchlosen Einheit von Subjekt und Objekt stehen geblieben sei (vgl. HW XX, 388ff., 403, 409). Fichtes idealistische Grundthese, „die Welt“ sei „nichts weiter“ als „das in seinen ursprünglichen Schranken angeschaute Ich“,9 weist insofern „formell“ auf Hegels Geist-Begriff voraus (HW XX, 409, BI 279), als Fichte die Existenz einer vom Bewusstsein schlechthin unabhängigen Außenwelt leugnet, was Hegel auf die Formel bringt, dass „überall nichts weiter als das Ich“ existiert (HW XX, 390); Fichte insistiert aber zugleich darauf, dass das Ich unaufhebbar auf ein Anderes bezogen bleibt, welches aus ihm – mit Hegel zu sprechen – „nicht abgeleitet“ werden kann (HW XX, 392). Fichte betrachtet dieses Andere insofern als irreduzibel und unverfügbar, als es unserer Selbstbestimmung Grenzen setzt, wobei unser Begriff äußerer Gegenstände nach Fichte wiederum nur in Hinblick auf eine solche Grenzerfahrung einen ausweisbaren Sinn besitzt; hiermit bindet Fichte den Begriff der Außenwelt an die Subjektivität zurück. Das Ich ist nach Fichte unablässig bestrebt, die Erfahrung der Abhängigkeit von etwas Äußerem einzudämmen, um im Anderen ganz bei sich sein zu können (s.u. Abschnitt 4.1). Da Fichte in einer solchen ,Einheit von Subjekt und 9
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Objekt‘ den prinzipiell unerreichbaren Zielpunkt unablässiger Bemühungen sieht, hält Hegel seiner Wissenschaftslehre vor, darin finde sich „derselbe Dualismus wie bei Kant“, was als ein „Grundschaden“ zu werten sei (HW XX, 397, 399). Fichte bekomme „nur den endlichen Geist, nicht den unendlichen“ in den Blick; er habe es in diesem Sinne „nicht mit dem Wahren“, „sondern mit einem Abhängigen“ zu tun (HW XX, 405). Kierkegaard schließt sich in seiner Dissertation diesem Urteil Hegels an, indem er behauptet, Fichte habe „in seinem idealistischen Reich mit der Wirklichkeit nichts zu schaffen“ (BI, 279, s. o.). Im Begriff Angst stellt Haufniensis demgegenüber Hegels Anspruch in Frage, den kantischen Dualismus, an dem Fichte grundsätzlich festhält, überwunden zu haben (BA, 8). Dass bei Fichte die Objektivität ein ,unverfügbar Anderes‘ gegenüber der Subjektivität bleibt, macht einen Aspekt der Korrektivfunktion aus, die Haufniensis der Fichteschen „Gewißheit“ gegenüber dem Systemanspruch Hegels zuerkennt. Ein weiterer, für die Konzeption des Begriff Angst noch wichtigerer, ergibt sich daraus, dass Haufniensis der Fichteschen „Gewißheit“ den Begriff der Innerlichkeit und diesem wiederum den der Handlung zuordnet (BA, 149, 144, s. o.). Dies kann als eine Anspielung auf die „Tathandlung“ des Sich-selbst-Setzens des absoluten Ich in Fichtes Wissenschaftslehre von 1794/95 (FW I, 91ff.) gelesen werden. Haufniensis’ Forderung, die Fichtesche „Gewißheit“ erneut zur Geltung zu bringen, sie hierbei aber ihres „abstrakten Sinne[s]“ zu entkleiden (BA, 144, s. o.), besagt in dieser Interpretationsperspektive, dass der Standpunkt der Fichteschen Wissenschaftslehre, wonach „das praktische Vermögen erst das theoretische möglich“ macht (FW I, 126), demjenigen des Hegelschen Systems überlegen ist,10 so dass die Kritik am „reinen Selbstbewußtsein“ im Begriff Angst Hegel noch stärker treffen soll als Fichte, dessen „Tathandlung“ jedoch nur dann für eine adäquate Thematisierung des konkreten Selbstbewusstseins handelnder Personen fruchtbar gemacht werden könne, wenn man über Fichte hinausgeht. Um dieses Programm als ernsthafte Auseinandersetzung mit Fichte werten zu können, muss allerdings zunächst der Verdacht ausgeräumt werden, Kierkegaard sei insgesamt zwei Missverständnissen erlegen, die im Begriff Angst bzw. in seiner Dissertation ihre Spuren hinterlassen haben: (1) Haufniensis’ irreführende Gleichsetzung des absoluten Ich Fichtes mit dem Selbstbewusstsein wird in Kierkegaards Nachschrift korrigiert: Ihr 10 Vgl. Kangas „From Transcendental Ego to Existence“, S. 73: „Kierkegaard consistently preserves Fichte’s prioritization of act over theory. To this extent, he will remain far more Fichtean than Hegelian.“
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pseudonymer Autor Johannes Climacus trägt mit seiner Aussage: „Das IchIch ist ein mathematischer Punkt, der überhaupt nicht Dasein hat“ (UN I, 187), der Tatsache Rechnung, dass die ersten drei Grundsätze der frühen Wissenschaftslehre Fichtes nichts Faktisches beschreiben, sondern den Status einer Konstruktion haben.11 Es bleibt damit zu fragen, ob Haufniensis’ Vorhaben, Fichtes frühe Wissenschaftslehre für eine Analyse des konkreten Selbstbewusstseins von Individuen fruchtbar zu machen, von der unzulässischen Identifikation des absoluten Ich mit dem Selbstbewusstsein abgelöst werden kann. (2) Kierkegaard ignoriert in seiner Dissertatation, dass sich gemäß Fichtes Grundlage des Naturrechts (1796) und System der Sittenlehre (1798) unser individuelles Selbstbewusstsein nur dadurch konstituieren kann, dass wir im Verlauf der Erziehung zu freier Selbsttätigkeit aufgefordert werden (s.u. Abschnitt 4.2). Kierkegaard unterstellt Fichte im Begriff der Ironie mit dem Vorwurf des „Akosmismus“ (BI, 278) somit zu Unrecht, auf einem solipsistischen Standpunkt zu verharren, er hält ihm vor: „Damit […] das Denken – die Subjektivität – Fülle und Wahrheit gewinnt, muß es sich nähren lassen, es muß in die Tiefe des substantiellen Lebens sich versenken“ (BI, 278f.). Der Ausdruck „substantielles Leben“ ist unverkennbar Hegelschen Ursprungs; Hegel bestimmt in seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821) die „sittliche Substanz“ als den „wirkliche[n] Geist einer Familie und eines Volks“ (§ 156, HW VII, 305). Hegel arbeitet in seiner Phnomenologie des Geistes (1807) und erneut im gleichnamigen Abschnitt seiner Enzyklopdie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (31830, §§ 430 – 436) heraus, dass sich unser individuelles Selbstbewusstsein im Rahmen intersubjektiver Anerkennungsverhältnisse konstituiert (HW III, 144f., X, 219 – 227). Kierkegaard war sich während der Niederschrift seiner Dissertation offenkundig dessen nicht bewusst, dass Hegel hiermit an Fichtes Rekonstruktion der Genese individuellen Selbstbewusstseins anknüpft.12 Im Begriff Angst wird mit dem Diktum, dass jedes „Individuum es selbst ist und das Geschlecht“ (BA, 25), die Aussage des Gerichtsrats Wilhelm in Entweder-Oder II aufgegriffen, dass unser jeweiliges „Selbst“ stets ein „soziales“ ist (E-O II, 280); da im Begriff Angst Fichte nicht länger 11 Vgl. Claesges Geschichte des Selbstbewusstseins (s. Anm. 1), S. 92f. 12 Zu Hegels Rezeption des Fichteschen Theorems der intersubjektiven Konstitution individuellen Selbstbewusstseins durch die Aufforderung zu freier Selbsttätigkeit vgl. Edith Düsing Intersubjektivitt und Selbstbewußstsein. Behavioristische, phnomenologische und idealistische Begrndungstheorien bei Mead, Schtz, Fichte und Hegel, Köln 1986, S. 293 – 300, 314.
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Hegel untergeordnet wird, schließt Haufniensis’ Zuordnung des Begriffs der „Innerlichkeit“ zur Fichteschen „Gewißheit“ (BA, 144) nicht den irreführenden Vorwurf des methodischen Solipsismus ein. Das Missverständnis, dem Kierkegaard in seiner Dissertation erlegen ist, ist im Begriff Angst somit beseitigt; damit wird jedoch vollends unklar, worin der Angriffspunkt der Kritik Haufniensis’ am „reinen Selbstbewusstsein“ bei Fichte konkret besteht: Haufniensis’ Rede von der Fichteschen „Gewißheit“ bezieht sich auf dessen frühe Wissenschaftslehre; das konkrete Selbstbewusstsein handelnder Personen, welches Fichte nach Haufniensis verfehlt, wird jedoch erst in der Grundlage des Naturrechts und im System der Sittenlehre zum Thema. Da Haufniensis diese beiden Schriften mit keinem Wort erwähnt, kann sein Programm, die Fichtesche „Gewißheit“ für die Analyse des konkreten Bewusstseins handelnder Personen fruchtbar zu machen, nicht im Sinne einer philologischen Exegese nachgezeichnet werden; Haufniensis’ Vorhaben muss vielmehr auf dem Weg einer systematischen ,Rekonstruktion‘, die weitere Schriften Kierkegaards einbezieht, allererst als sinnvoll erwiesen werden.
1.3. Der Begriff des Existierens als Sich-Verhalten zum Zuknftigen in Kierkegaards Abschließender unwissenschaftlicher Nachschrift Von zentraler Bedeutung für diesen Rekonstruktionsversuch ist eine Passage aus der Nachschrift, in der Haufniensis’ Aussage anklingt, derjenige habe sich „selbst nicht verstanden“, der nicht „sieht, daß er selbst zu gleicher Zeit im Werden ist“ (BA, 149, Hervorh. von mir), wobei der Terminus „Ich-Ich“ überraschenderweise jedoch nicht auf Fichte, sondern auf Hegel appliziert wird: Mit einem Hegelianer darf man sich […] nur mit Vorsicht einlassen, und man muß sich vor allem vergewissern, mit wem man die Ehre hat zu reden, ob er ein Mensch ist, ein existierender Mensch […]? Ob er selbst das reine Ich-Ich ist, was doch wohl niemals einem Philosophen eingefallen ist, und wenn er es nicht ist, wie er sich denn existierend zu dem verhält, zu der Zwischenbestimmung [dän. mellembestemmelse, SKS 7, 278], in der die ethische Verantwortung in und mit und bei dem Existieren gehörig respektiert ist? Ob er existiert? Und wenn er existiert, ob er dann nicht im Werden ist? Und wenn er im Werden ist, ob er sich dann nicht zu dem Zukünftigen verhält? Ob er sich dann niemals so zu dem Zukünftigen verhält, daß er handelt? […] Ob da nicht ein Entweder-Oder (aut-aut) ist? (vgl. UN II, 6, Hervorh. von mir)
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Die unspezifische Verwendung des Ausdrucks „Ich-Ich“ in dieser Passasge lässt daran zweifeln, dass die übrigen Stellen der Nachschrift, wo vom „reine[n]“ bzw. „phantastische[n] Ich-Ich“ die Rede ist,13 als zielsichere Fichte-Kritik zu lesen sind; sie beziehen sich offenbar in einem ähnlich undifferenzierten Sinne auf Fichte und Hegel gleichermaßen wie die Etikettierung des „reinen Selbstbewußtsein[s]“ als „Luftgebilde des Idealismus“ im Begriff Angst. (BA 80) Die explizite Erwähnung Fichtes in Kierkegaards pseudonymen Schriften der Jahre 1843 – 49 – wie auch seinen Nachlass-Reflexionen14 – bleibt so fragmentarisch, dass es unmöglich erscheint, Kierkegaards Auseinandersetzung mit Fichte auf dieser Basis allein in systematisch befriedigender Weise darzustellen. Daher soll im Folgenden zunächst die in Haufniensis’ Kritik am „reinen Selbstbewußtsein“ anvisierte Zielperspektive einer adäquaten Explikation des konkreten Selbstbewusstseins handelnder Personen unabhängig von Fichte erörtert werden (Abschnitte 2 – 3); im Ausgang hiervon soll dem Fichteschen Erbe im Begriff Angst und Kierkegaards pseudonymen Schriften aus dem Umkreis dieses Buches nachgegangen werden (Abschnitte 4 – 5). Auf diesem Weg müssen die beiden eingangs aufgeworfenen Fragen (s. o. S. 95f.) geklärt werden: (1) in welchem Sinne das konkrete Selbstbewusstsein handelnder Personen selber den Charakter der Handlung und zugleich den der Innerlichkeit hat;15 (2) inwiefern Haufniensis’ Hinweis auf das Diktum ,individuum est ineffabile‘ für die Begründung der weitreichenden These, dass der Deutsche Idealismus das Selbstbewusstsein in einer unangemessenen abstrakten theoretischen Perspektive thematisiert, fruchtbar gemacht werden kann. Ein Anhaltspunkt dafür, wie diese beiden Leitfragen konkret anzugehen sind, lässt sich der oben zitierten Passage aus der Nachschrift (UN II, 6) entnehmen: Dem Begriff des ,Existierens‘ wird dort der (bereits im Begriff Angst gebrauchte) Terminus ,im Werden Sein‘ und diesem wiederum der Begriff des ,Sich-Verhaltens zum Zukünftigen‘ zugeordnet. Im Begriff Angst heißt es: „Das Mögliche entspricht ganz und gar dem Zukünftigen. Das Mögliche ist für die Freiheit das Zukünftige“ (BA, 93). Ein „existierender Mensch“ (UN II, 6) verhält sich demnach zum Zukünftigen im Sinne eines Horizonts von Handlungs- bzw. Lebensmöglichkeiten. Dass 13 UN I, 180, 183, 188. S. o. Anm. 6. 14 Vgl. die Übersicht bei Kangas „From Transcendental Ego to Existence“, S. 68 – 78. 15 Vgl. BA 149: „Dies Selbstbewußtsein ist daher Handlung, und diese Handlung wiederum ist die Innerlichkeit“.
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ein Spielraum von Möglichkeiten, zwischen denen wir wählen können – und müssen – , für unser konkretes Selbstbewusstsein von konstitutiver Bedeutung ist, schließt die Dimension der „Verantwortung“ (ebd.) für die eigene Lebensführung ein. Der klärungsbedürftige Begriff der „Zwischen(bzw. „Übergangs-) bestimmung“ (Mellembestemmelse) in der angeführten Passage aus der Nachschrift wird durch die Anspielung auf EntwederOder am Schluss des Zitats deutbar: Mit der Losung „entweder-oder; autaut“ fordert der Gerichtsrat Wilhelm, der sich selbst als „Ethiker“ bezeichnet, den „Ästhetiker“, der ganz im Augenblick leben will, dazu auf, eine Grundsatzentscheidung für oder gegen einen existentiellen Neubeginn zu treffen (E-O II, 167, 244, s.u. Abschnitt 3). Mit dem Appell, der Ästhetiker solle in diesem Sinne „wähle[n]“ (E-O II, 179), knüpft der Ethiker – der dem Ästhetiker mit einem pädagogischen Anspruch begegnet – an Fichtes Theorem der „Aufforderung zur freien Selbsttätigkeit“ (FW III, 39) an, womit in dessen Grundlage des Naturrechts und System der Sittenlehre der ,Übergang‘ vom absoluten Ich zu unserem konkreten Selbstbewusstsein vollzogen wird (s.u. Abschnitte 3, 4.2). Anders als Climacus’ diffuse Verwendung des Ausdrucks „Ich-Ich“ im angeführten Zitat aus der Nachschrift vermuten lässt, gibt der dort verwendete Begriff der „Zwischen(bzw. „Übergangs-) bestimmung“ einen aufschlussreichen Hinweis auf die implizite Auseinandersetzung Kierkegaards mit Fichte. Im Folgenden soll zunächst Haufniensis’ Explikation des konkreten Selbstbewusstseins handelnder Personen in Hinblick auf die beiden Leitfragen erörtert werden, (1) in welchem Sinne dieses selber den Charakter der Handlung hat und (2) inwiefern das Diktum ,individuum est ineffabile‘ Haufniensis’ Vorwurf stützt, der Deutsche Idealismus könne aufgrund seines abstrakt-theoretischen Zugangs das konkrete Selbstbewusstsein nicht adäquat erfassen. Bei der Klärung beider Fragen kommt Haufniensis’ Kritik an Hegels Deutung des delphischen Worts „Erkenne dich selbst“ eine Schlüsselrolle zu (Abschnitt 2). Thema von Abschnitt 3 ist die Funktion des Appells des Ethikers in Entweder-Oder II, der Ästhetiker solle eine existentielle Wahl treffen, für die allgemeinverbindliche Rechtfertigung von Haufniensis’ Bestimmung des konkreten Selbstbewusstseins von Individuen als Handlung, die in Entweder-Oder II vorgebildet ist. In Abschnitt 4 wird das – in Entweder-Oder II aufgegriffene – Theorem der Aufforderung in Fichtes Naturrechts-Schrift skizziert; zugleich wird das Verhältnis von idealer und realer Tätigkeit des Ich in Fichtes früher Wissenschaftslehre knapp umrissen, woran Johannes Climacus’ Bestimmung des Bewusstseins als Widerspruch von Idealität und Realität im Fragment Johannes Climacus oder De omnibus dubitandum est (1843) anknüpft
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(PhB 155). In Abschnitt 5 soll im Ausgang von der inhaltlichen Grundfrage des Begriff Angst – dem „dogmatische[n] Problem der Erbsünde“ (BA, 1) – gezeigt werden, dass Haufniensis’ Bestimmung des konkreten Selbstbewusstseins von Personen als Handlung als produktive Modifikation von Theoremen der frühen Wissenschaftslehre Fichtes und seiner Grundlage des Naturrechts interpretiert werden kann, wenn man sie mit dem Bewusstseinsbegriff in De omnibus dubitandum est verknüpft.
2. Das Problem der Erkenntnis des Selbst in Kierkegaards Begriff Angst 2.1. Haufniensis’ Kritik an Hegels Deutung des Satzes „Erkenne dich selbst“ Haufniensis fügt seiner Etikettierung des „reinen Selbstbewußtsein[s]“ als „Luftgebilde des Idealismus“ die Forderung hinzu, den Satz „Erkenne dich selbst (gnothi seauton)“, welchen man „allzu lange auf Deutsch verstanden“ habe, „griechisch zu verstehen, und dann wieder so zu verstehen, wie die Griechen ihn verstanden hätten, falls sie christliche Voraussetzungen besessen hätten.“ (BA, 79f.) Dieses Diktum enthält – wie im Folgenden gezeigt werden soll – einen Interpretationsschlüssel für die inhaltlichen Analysen wie auch die Textstruktur des Begriff Angst. Hirsch hat darauf hingewiesen, dass der Anknüpfungspunkt von Haufniensis’ Vorwurf, der Deutsche Idealismus habe das Wort „Erkenne dich selbst“ für sich vereinnahmt, bei Hegel zu suchen ist.16 Hegel erhebt in seiner Enzyklopdie den Anspruch, in ihrem abschließenden dritten Teil – der „Philosophie des Geistes“ – der Forderung „Erkenne dich selbst“ philosophisch nachzukommen und hierbei den spezifischen Bedingungen der modernen Welt gerecht zu werden.17 Er erklärt es für verfehlt, unsere individuellen „Besonderheiten, Leidenschaften, Schwächen, diese sogenannten Falten des menschlichen Herzens“ unter das Gebot „Erkenne dich selbst“ zu subsumieren. Wer dies tut, wertet in seinen Augen die „zufälligen“, „unbedeutenden […] Existenzen“ von Individuen in unangemessener Weise auf.18 Nach Hegel macht es demgegenüber die Dignität 16 Vgl. Hirschs Kommentar zu seiner Übersetzung des Begriff Angst (BA, 256, Anm. 122). 17 Hegel Enzyklopdie, § 377, HW VIII, 9. 18 Ebd.
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der philosophischen Erkenntnis des Geistes aus, dass es in ihr nur um dessen „Begriff“, d. h. das „Allgemeine“, geht.19 Im mündlichen Zusatz zu § 377 der Enzyklopdie konkretisiert Hegel seinen Anspruch, in seiner „Philosophie des Geistes“ den spezifischen Bedingungen der Moderne Rechnung zu tragen, dahingehend, dass die „vom delphischen Apollon an die Griechen ergangene Forderung zur Selbsterkenntnis“ in der Weise ,entmythologisiert‘ werden müsse, dass „der zur Selbsterkenntnis treibende Gott […] nichts anderes als das eigene absolute Gesetz des Geistes“ sei. (HW X, 9f.) Das „Allgemeine“ des Geistes, welches Hegel als den adäquaten Gegenstand philosophischer Selbsterkenntnis ansieht, hat demzufolge einen gesetzlichen Charakter. Im Gegensatz zu Hegel bezieht Haufniensis unsere jeweilige Individualität in die Forderung nach Selbsterkenntnis ein – wobei er allerdings daran festhält, dass unser „Selbst“ stets mit dem „Allgemeine[n]“ verwoben ist: „Selbst“ […] bedeutet den Widerspruch, dass das Allgemeine gesetzt ist als das Einzelne […] dem zum Trotz, dass unzählige Millionen von solchen Selbsten gelebt haben, vermag keine Wissenschaft zu sagen, was das Selbst ist, ohne es wieder ganz allgemein zu sagen. Und das ist des Lebens Wundertiefe, dass ein jeder Mensch, der auf sich selbst aufmerkt, weiß, was keine Wissenschaft weiß, da er weiß, wer er selbst ist, und dies ist das Tiefsinnige an jenem griechischen Satze „Erkenne dich selbst“ (vgl. BA, 79).
Haufniensis gibt Hegel darin Recht, dass unsere individuelle Besonderheit außerhalb der Reichweite wissenschaftlicher Erkenntnis liegt. Im Medium begrifflicher Rede, in dem sich die Wissenschaft bewegt, kann – so Haufniensis – nur erörtert werden, „was das Selbst ist“ (BA, 79, s. o.), wobei unsere jeweilige Individualität insofern verfehlt wird, als man über allgemeine Bestimmungen nicht hinauskommt. Haufniensis geht es demgegenüber um die Erkenntnis dessen, „wer“ man selbst ist (ebd.). Seine These, niemand könne das konkrete Selbstbewusstsein eines Individuums adäquat „beschreiben“ (BA, 148f., s. o. S. 95), womit er auf das Diktum ,individuum est ineffabile‘ anspielt, besagt auf diesem Hintergrund, dass solche Beschreibungsversuche am personalen „Wer“ vorbeigehen, sofern sie unsere jeweilige Individualität als ein begrifflich bestimmbares Faktum behandeln. Haufniensis steht hiermit vor der Aufgabe, seine Rede vom „Wer“ zu spezifizieren und eine Alternative zu einem wissenschaftlichen, d. h. rein begrifflichen Zugriff auf das Selbst zu entwickeln. 19 Ebd.
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2.2. Haufniensis’ Frage nach dem personalen „Wer“ Ein Anhaltspunkt dafür, worauf Haufniensis’ Frage, „wer“ der Einzelne ist, abzielt, lässt sich den folgenden Passagen entnehmen: Die Pointe beim Einzelnen ist sein negatives Sichverhalten zum Allgemeinen, das Abstoßen des Allgemeinen, aber sobald dies Abstoßen fortgedacht wird, ist das Einzelne selbst aufgehoben, und sobald das Abstoßen gedacht ist, ist das Abstoßen selber verwandelt, dergestalt, daß man es entweder nicht denkt, sondern sich das nur einbildet, oder es denkt, und sich bloß einbildet, daß es ins Denken aufgenommen sei. (vgl. BA, 79 Anm.) In jedem Augenblick verhält es sich so, daß das Individuum es selbst ist und das Geschlecht. Das ist die Vollkommenheit des Menschen, als Zustand gesehen. Zugleich ist es ein Widerspruch; ein Widerspruch aber ist stets Ausdruck für eine Aufgabe; eine Aufgabe aber ist Bewegung […] Mithin hat das Individuum Geschichte; hat aber das Individuum Geschichte, so hat das Geschlecht es auch. […] Vollendetheit in sich selbst ist […] das vollkommene Teilhaben am Ganzen. Kein Individuum ist gleichgültig gegen die Geschichte des Geschlechts, ebenso wenig wie das Geschlecht gegen die irgend eines Individuums. Indem also die Geschichte des Geschlechts fortschreitet, beginnt das Individuum immer von vorne – denn es ist es selbst und das Geschlecht – , und damit wieder die Geschichte des Geschlechts. (BA, 26)
Die „Pointe beim Einzelnen“, die im ersten der beiden Zitate als „sein negatives Sichverhalten zum Allgemeinen“, d. h. als dessen „Abstoßen“, bestimmt wird, besteht offensichtlich im personalen „Wer“. Haufniensis’ Aussagen, (1) es sei ein „Widerspruch“, „daß das Individuum es selbst ist und das Geschlecht“ (BA, 26, s. o.), und (2) „Selbst“ bedeute „den Widerspruch, daß das Allgemeine gesetzt ist als das Einzelne“ (BA, 79) erläutern sich wechselseitig. Die Individuen ,sind‘ in einem doppelten Sinne das „Geschlecht“: Auf der einen Seite sind unsere Gattungsbestimmung als Mensch und unser jeweiliges gesellschaftlich-geschichtliches Umfeld für unser jeweiliges Selbst von konstitutiver Bedeutung – in diesem Sinne gehört das „Allgemeine“ essentiell zur Existenz des Einzelnen; auf der anderen Seite ist das menschliche „Geschlecht“ nichts anderes als die Gesamtheit der Individuen, die in einem gesellschaftlich-geschichtlichen Wirkungszusammenhang stehen. Haufniensis’ Aussage: „,Selbst‘ […] bedeutet den Widerspruch, daß das Allgemeine gesetzt ist als das Einzelne“ (BA, 79), enthält drei Bedeutungsebenen: (1) Sie bringt zunächst zum Ausdruck, dass jeder ein Selbst hat – genauer: ist – , wobei dieser abstrakte Begriff des Selbst in dem Sinne einen „Widerspruch“ enthält, dass er unsere jeweilige Besonderheit außer Acht lassen muss; (2) die zitierte Aussage besagt darüber hinaus, dass die gegenwärtige Existenz der Gattung mit der
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aktuellen Existenz der Gesamtheit der Individuen zusammenfällt, diese somit die Gattung ,sind‘; (3) die Formel des Gerichtsrats Wilhelm: „Das Ethische ist das Allgemeine“ (E-O II, 272), mit der er an das Verständnis ethischer Autonomie bei Kant und seinen idealistischen Nachfolgern anknüpft, lässt sich aufgrund der Parallelen zwischen seinem und Haufniensis’ Ethik-Begriff (s.u. S. 129f.) auf den Begriff Angst übertragen: In ethischer Hinsicht weist Haufniensis mit seiner formelhaften Aussage, „Selbst“ bedeute „den Widerspruch, daß das Allgemeine gesetzt ist als das Einzelne“, zunächst darauf hin, dass Normen in Hinblick auf eine Mannigfaltigkeit von Handlungssituationen, d. h. als allgemeine Regeln, formuliert werden müssen, so dass jeder Einzelne vor der Aufgabe steht, sie auf Einzelfälle anzuwenden; Haufniensis’ Rede vom „Widerspruch“ der hierin liege, gewinnt durch seine These Brisanz, dass uns die „Wirklichkeit“, in die wir eingebunden sind, eine konsequent ethische Lebensführung verwehrt (BA, 13f., s.u. Abschnitt 5.1). Da die (im Begriff Angst aufgegriffene) Idee ethischer Autonomie besagt, dass die basalen Normen aus der Vernunft – die unsere Gattungsbestimmung ausmacht – entspringen, nimmt die von Haufniensis behauptete unaufhebbare Diskrepanz zwischen ethischen Forderungen und unserer Lebenswirklichkeit den Charakter eines inneren Widerspruchs in unserem Selbst an. Dass die ethische Dimension auch in seiner Feststellung, jedes Individuum sei „es selbst“ und „das Geschlecht“, im Spiel ist, wird durch die Rede von der „Vollkommenheit des Menschen“ im darauffolgenden Satz angedeutet (BA, 26, s. o.), wobei allerdings die betreffende Textpassage den Eindruck erweckt, eine solche Vollkommenheit sei durchaus erreichbar. Indem Haufniensis betont, dass die Geschichte jedes Individuums wie auch der Gattung in jedem Augenblick „von vorne“ beginnt (BA, 26, s. o.), macht er darauf aufmerksam, dass wir permanent Entschlüsse treffen müssen, für die wir verantwortlich gemacht werden können; hierbei werden unsere Entscheidungen als spontane, d. h. nicht auf Ursachen zurückführbare, Willensakte aufgefasst, so dass sie in diesem Sinne stets einen Neubeginn einschließen. Haufniensis bettet aber zugleich mit seiner Feststellung, dass „die Geschichte des Geschlechts fortschreitet“ (ebd.), unsere individuellen Entscheidungen in einen kontinuierlich voranschreitenden sozialen Wirkungszusammenhang ein. Er thematisiert somit die Geschichte der einzelnen Individuen wie auch der Gattung in einer doppelten Perspektive: Das Verständnis von Entscheidungen als spontaner Willensakte gehört der Selbsterfahrung handelnder Personen zu; die Einordnung eines Entschlusses in einen kontinuierlich voranschreitenden Wirkungszusammenhang, welche wir vermittels der Untersuchung der
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lebensgeschichtlichen Genese unserer handlungsleitenden Motive in ihrem jeweiligen sozialen Kontext vornehmen, vollzieht sich demgegenüber in der Beobachterperspektive – die man auch sich selbst gegenüber einnehmen kann. Der ,Binnenperspektive‘ handelnder Personen gehört somit die Erfahrung einer Diskontinuität der eigenen Lebens- wie auch der Gattungsgeschichte zu, d. h. eines spontanen Neubeginns durch Entscheidungen, für die wir verantwortlich gemacht werden können; demgegenüber geht es in der Beobachterperspektive um die Rekonstruktion einer möglichst lückenlosen Kontinuität der Geschichte jedes Individuums wie auch der Gattung; diese Rekonstruktion ist von der Unterstellung der Erklär- und Prognostizierbarkeit aller biographischen und gesellschaftlichen Prozesse geleitet. Das Wort vom „Abstoßen“ des Allgemeinen als dem Konstituens individueller Existenz (BA, 79 Anm., s. o.) bezieht sich offensichtlich auf den – der Perspektive handelnder Personen zugehörigen – Aspekt der Diskontinuität; der Begriff des Allgemeinen kann in diesem Zusammenhang nicht unsere Gattungsbestimmung als Mensch einschließen (die wir nicht ,abstoßen‘ können), ist also nur auf unser jeweiliges gesellschaftlich-geschichtliches Umfeld zu beziehen. Haufniensis’ Feststellung, die „Pointe beim Einzelnen“ sei dessen „negatives Sichverhalten zum Allgemeinen“ (BA, 79 Anm., s. o.), besagt, dass sich jeder zu den Vorgaben seines Umfeldes vom Beginn seines bewussten Lebens an implizit oder explizit verhält: sei es im Sinne einer – gewollten, unreflektierten oder erzwungenen – Reproduktion des Bestehenden, sei es im Sinne einer kritischen Auseinandersetzung mit tradierten Lebensmustern, wobei es für die Frage, „wer“ jemand ist, essentiell ist, ob er sich zu dieser Alternative ausdrücklich positioniert, d. h. eine eigenverantwortliche Entscheidung über seine künftige Lebensführung trifft; ein solcher Entschluss markiert einen ,spontanen Neubeginn‘ seiner Existenz. Sobald wir uns dessen inne werden, dass wir ,hier und jetzt‘ vor Handlungsalternativen stehen, tritt uns vor Augen, dass uns ,immer schon‘ Entscheidungsspielräume – sei es auch in rudimentärer Form – offen standen, so dass wir uns bereits, seit wir denken können, zum Zukünftigen im Sinne eines Horizonts von Handlungsmöglichkeiten verhalten, d. h. im Sinne der Nachschrift „existiert“ haben (UN II, 6). Das konkrete Bewusstsein von Individuen ,ist‘ somit in dem Sinne „Handlung“ (BA, 149), dass es per se ein Sich-Verhalten zum Zukünftigen einschließt. Tritt uns dies vor Augen, kommt es insofern zum „Abstoßen“ des Allgemeinen, als wir die Vorgaben unseres sozialen Umfelds nicht länger unbefragt übernehmen, sondern eine individuelle Entscheidung für oder gegen herkömmliche Lebensentwürfe treffen.
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Haufniensis weist mit seiner Zuordnung des Begriffs der „Innerlichkeit“ zu dem der „Handlung“ darauf hin, dass seine Bestimmung des konkreten Selbstbewusstseins als Handlung die Dimension personaler Verantwortung in sich birgt (ebd.). Wenn das „Abstoßen“ des Allgemeinen „fortgedacht wird, ist das Einzelne“ insofern „aufgehoben“ (BA 79 Anm., s. o.), als das personale „Wer“ verschwindet – die Individuen erscheinen dann als bloße ,Knotenpunkte‘ kausal bestimmter Wirkungszusammenhänge. Wenn „das Abstoßen gedacht“ wird (BA, 79 Anm., Hervorh. von mir) ist, wird es wiederum zwangsläufig „verwandelt“, wobei Haufniensis zwei Formen unterscheidet (ebd.): Thematisiert man das „Abstoßen“ in der Beobachterperspektive, stellt sich naturgemäß die Frage nach den Motiven individueller Entscheidungen, d. h. nach deren lebensgeschichtlicher Genese, so dass das Abstoßen als ein erklärbares Faktum behandelt wird, womit das Moment des spontanen, eigenverantwortlichen Neubeginns verloren geht; dies läuft darauf, dass man das Abstoßen als solches überhaupt nicht „denkt, sondern sich das nur einbildet“. Das Abstoßen kann aber auch in der Binnenperspektive des Handelnden nicht adäquat „gedacht“ werden, da es Sache der Lebenspraxis ist: Wenn man im Vorfeld einer Entscheidung Alternativen gegeneinander abwägt und in diesem Sinne das Abstoßen ,denkt‘, wird es nicht real ,gelebt‘; wenn man nach der Entscheidung über ihren Ursprung nachdenkt, nimmt man sich selbst gegenüber die Beobachterperspektive ein, indem man Motivforschung betreibt. Auf diesem Hintergrund tritt Haufniensis’ zentrales Argument gegen Hegels Anspruch zutage, in seinem System, wie es in der Enzyklopdie umrissen wird, der Forderung „Erkenne dich selbst“ gerecht zu werden: Nach Hegel muss der menschliche „Geist“ – „auch der endliche und subjektive“ – „als eine Verwirklichung der Idee“ gefasst werden,20 wobei Hegel die „Idee“ als „Einheit von Begriff und Realität“ bestimmt.21 Im Medium des begrifflichen Denkens, welches Hegel als den einzig adäquaten Zugang zum „Geist“ betrachtet, wird jedoch nach Haufniensis das personale „Wer“, d. h. das „Abstoßen des Allgemeinen“, zwangsläufig verfehlt. Haufniensis’ Kritik zielt letztlich auf jede konsequent wissenschaftliche Thematisierung unserer konkreten Existenz bzw. des Selbstbewusstseins. Haufniensis konzediert zwar Fichte, die Dimension der „Innerlichkeit“ eher in den Blick zu bekommen als Hegel (BA, 144) – offensichtlich da20 Hegel Enzyklopdie, § 377 Zusatz, HW X, 9. 21 Hegel Wissenschaft der Logik II, HW VI, 258.
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durch, dass er das „praktische Vermögen“ als die „innerste Wurzel des Ich“ bestimmt22 – , Fichtes Zugang zum Selbstbewusstsein bleibt nach Haufniensis aber bereits dadurch unangemessen abstrakt-theoretisch, dass er Philosophie als „Wissenschaftslehre“ konzipiert.23 Haufniensis’ dezidierte Feststellung, das „Abstoßen des Allgemeinen“ mache die „Pointe beim Einzelnen“ aus (BA, 79 Anm.), verpflichtet ihn dazu, die Defizite, die er bei Hegel und Fichte ausmacht, im Begriff Angst dadurch zu beheben, dass er über die wissenschaftliche Thematisierung unserer Existenz hinausgeht.
2.3. Der berschritt von der wissenschaftlichen in die religiçse Dimension im Begriff Angst Wird bei einem solchen Überschritt über die wissenschaftliche Dimension aber nicht jede argumentative Verbindlichkeit preisgegeben? Haufniensis wendet sich in der Einleitung zum Begriff Angst ausdrücklich gegen eine schwadronierende „Geistreichigkeit“, die freie Bahn hat, wenn man es „unterläßt, wissenschaftlich zur Ordnung zu rufen“ (BA, 6). Ein Anhaltspunkt für die Klärung der Frage, wie es miteinander zu vereinbaren ist, dass er einerseits Wissenschaftlichkeit einfordert, andererseits darauf insistiert, dass sich die „Pointe beim Einzelnen“ dem begrifflichen Denken und damit der Wissenschaft entzieht, lässt sich dem Untertitel und dem Motto des Begriff Angst entnehmen, die beide in der Einleitung aufgegriffen werden: Sie werfen ein Licht auf seine Forderung, den Satz „,Erkenne dich selbst‘ […] griechisch zu verstehen, und dann wieder so zu verstehen, wie die Griechen ihn verstanden hätten, falls sie christliche Voraussetzungen besessen hätten.“ (BA, 79f.) Der Untertitel lautet: „Eine schlichte psychologisch-andeutende Überlegung in Richtung auf das dogmatische Problem der Erbsünde“ (BA, 1). Dies wird in der Einleitung folgendermaßen erläutert: „Gegenwärtige Schrift hat sich die Aufgabe gesetzt, den Begriff ,Angst‘ psychologisch derart abzuhandeln, dass sie das Dogma von der Erbsünde im Sinne und vor Augen hat.“ (BA, 11) Indem Haufniensis die begriffliche Analyse der Angst, die der Titel seines Buches ankündigt, der Psychologie zuordnet, nimmt er für sie argumentative Verbindlichkeit 22 Fichte Grundlage des Naturrechts, FW III, 21. 23 Dies kommt bereits in den Titeln seiner Bücher Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre und System der Sittenlehre nach Prinzipien der Wissenschaftslehre zum Ausdruck.
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in Anspruch, wobei allerdings die Rede von einer „schlichte[n]“, bloß „andeutende[n] Überlegung“ im Untertitel den Leser zweifeln lässt, ob das Buch den vertrauten Maßstäben wissenschaftlicher Stringenz gerecht wird. Den Begriff der (Erb-) Sünde ordnet Haufniensis der „Dogmatik“ zu, betont aber zugleich, dass diejenige „Dogmatik“, welche er im Sinn hat, ebenso wenig ein Dogma „von der heiligen Schrift“ enthält wie eines „von Engeln“ (BA, 17). Haufniensis will somit einen Überschritt von einem wissenschaftlichen Ausgangspunkt in die religiöse Dimension vollziehen, wobei sein Verständnis von Wissenschaftlichkeit offenbar in ähnlicher Weise wie sein Konzept der Dogmatik vom hergebrachten abweicht. Haufniensis nennt die Sünde einen „Gegenstand der Predigt“ (BA, 13). Zu deren methodischem Vorbild erklärt er den sokratischen Dialog: „Predigen ist […] von allen Künsten die schwierigste und ist eigentlich die Kunst, die Sokrates preist: die Kunst, sich unterreden zu können“ (ebd.). Diese programmatische Aussage weist auf das Motto des Buches zurück, wo Sokrates mittels eines frei wiedergegebenen Hamann-Zitats charakterisiert wird: Er sei „dadurch groß gewesen, dass er unterschied zwischen dem, was er verstand und was er nicht verstand“ (BA, 2).24 Haufniensis hält dem „System“ – Hegels – vor, das Gespür für die ,belehrte Unwissenheit‘ des Sokrates verloren zu haben (ebd.). Sokrates spricht sich selbst eine adäquate Erkenntnis der „menschlichen und politischen Tugend“ ab (Apologie 20 b), da er ebenso wenig wie seine Gesprächspartner in der Lage ist, die einzelnen Tugenden präzise zu definieren und unter ein Einheitsprinzip zu subsumieren. Das aporetische Ende seiner Dialoge zeigt, dass keiner seiner Mitbürger seine jeweiligen Handlungsintentionen auf konsequent durchgehaltene Grundsätze zurückführen kann; in diesem Sinne treten in der Lebensführung aller seiner Gesprächspartner Inkohärenzen auf. Kierkegaard nennt in seiner Dissertation die Suche nach der „unendliche[n] innere[n] Folgerichtigkeit des Idealen“ das „Wesentliche“ an Sokrates’ „Dialektik“, d. h. Gesprächsführung (BI, 227 Anm., vgl. 216f.), wobei er die Intention der sokratischen Ironie darin sieht, dass sie „jene Einkehr in sich selbst“ befördern wolle, welche „für eine Persönlichkeit das Charakteristische ist“ (BI, 227 Anm.). Die Ironie des Sokrates schließt den Appell an seine Gesprächspartner ein, die Inkohärenzen ihres Selbstverständnisses und ihrer Lebenspraxis, mit denen er sie konfrontiert, nicht auf sich beruhen zu lassen. 24 Vgl. Johann Georg Hamann Sokratische Denkwrdigkeiten (1759), Vorrede „An die Zween“ in Smtliche Werke. Hist.-krit. Ausgabe, hrsg. von Josef Nadler, 6 Bde., Wien 1949 – 57, Bd. II, S. 61.
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Die sokratischen Dialoge haben demnach ein argumentativ-appellatives Doppelgesicht: Ihr ,theoretisches‘ Ziel besteht in der Erkenntnis der „menschlichen und politischen Tugend“, d. h. in der zureichenden Bestimmung des Einheitsprinzips der Einzeltugenden, ihr ,praktisches‘ Ziel in dessen konsequenter Realisierung und damit in der Überwindung der Inkohärenzen unserer Lebensführung. Haufniensis fügt seiner These, „daß ein jeder Mensch, der auf sich selbst aufmerkt, weiß, […] wer er selbst ist“, die Bemerkung hinzu: „dies ist das Tiefsinnige an jenem griechischen Satze ,Erkenne dich selbst‘“ (BA, 79). Diese Textstelle kann auf dem Hintergrund von Kierkegaards Charakterisierung der sokratischen Ironie in seiner Dissertation auf Sokrates bezogen werden: Er macht seine Gesprächspartner auf ihr personales „Wer“ aufmerksam, indem er sie vermittels seiner Ironie implizit dazu auffordert, ihr Selbstverständnis und ihre Lebenspraxis zu revidieren. Sie stehen vor der Alternative, sich fortan um die zureichende Bestimmung der Tugend und deren konsequente Umsetzung zu bemühen, was angesichts der Tatsache, dass die „unendliche innere Folgerichtigkeit des Idealen“ nirgends realisiert ist, als existentieller Neubeginn zu werten ist, oder aber zur ,Normalität‘ zurückzukehren, deren Unzulänglichkeit und innere Brüchigkeit Sokrates aufgedeckt hat. Sokrates bringt somit seine Gesprächspartner in eine Entscheidungssituation: Sie positionieren sich zwangsläufig zu der existentiellen Alternative, die aus dem Nachweis der Inkohärenzen ihrer Lebensführung entspringt. In diesem Sinne verhalten sich Sokrates’ Gesprächspartner im dialogischen Prozess zu Lebensmöglichkeiten. Der Sinn von Haufniensis’ zunächst befremdlicher Spekulation darüber, wie die Griechen den Satz „Erkenne dich selbst“ verstanden hätten, „falls sie christliche Voraussetzungen besessen hätten“ (BA, 80), erschließt sich anhand des Verweises auf Hamanns Sokratische Denkwrdigkeiten im Motto des Buches. Hamann sieht in der „Unwissenheit“ des Sokrates eine Vorausdeutung auf das christliche Sündenbewusstsein.25 Auf dieser Linie liegt Haufniensis’ Programm, sich dem Begriff der (Erb-) Sünde von einem wissenschaftlichen Ausgangspunkt aus zu nähern. Indem Sokrates trotz der Erfolglosigkeit seiner Bemühungen an der Forderung, die „unendliche innere Folgerichtigkeit des Idealen“ zu verwirklichen, festhält, macht er die „Voraussetzung, daß die Tugend realisierbar sei“ (BA, 17). Diese sokratische Grundüberzeugung bestreitet Haufniensis mit seiner These, dass zwischen der „Idealität“ ethischer Forderungen und der „Wirklichkeit“, 25 Vgl. Hamann Sokratische Denkwrdigkeiten in Smtliche Werke, Bd. II, S. 68, 74; Wolken (1761) in Smtliche Werke, Bd. II, S. 108.
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in die wir eingebunden sind, ein unauflöslicher „Widerspruch“ besteht (BA, 13f.). Die Inkohärenzen unserer Lebensführung, auf die Sokrates beständig stößt, sind somit nach Haufniensis prinzipiell unüberwindbar. Haufniensis bindet seinen Begriff der Ethik explizit an Hegels Rechtsphilosophie an (BA, 10); implizit setzt er ihn zugleich zur Ethik Kants in Beziehung (s.u. Abschnitt 5.1). Er steht damit vor der Aufgabe, seine These eines unaufhebbaren Widerspruchs zwischen der ethischen „Idealität“ und der Wirklichkeit im Rekurs auf Kant und Hegel zu rechtfertigen. Hierin besteht der ,wissenschaftliche‘ Ausgangspunkt seiner „Überlegung[en]“ zum „Problem der Erbsünde“ (BA, 1); er gibt zugleich den Rahmen für die Analyse der Angst vor (s.u. Abschnitt 5.1). Da im Motto des Begriff Angst Sokrates ironisch als „einfältige[r] Weise[r]“ tituliert wird (BA 2), lässt sich die Rede von einer „schlichte[n]“, „andeutende[n] Überlegung“ zum Problem der Erbsünde im Untertitel dahingehend interpretieren, dass Haufniensis’ das dialogische Verfahren des Sokrates in sein Verständnis von Wissenschaftlichkeit integriert. Haufniensis erhebt den Anspruch, den Begriff der (Erb-) Sünde in der Weise rekonstruieren zu können, dass er auch für einen „Mann der Wissenschaft“ einen ausweisbaren Sinn gewinnt (BA, 6, 13ff.). Dass er an der biblischen Erzählung vom Sündenfall weitreichende Modifikationen vornimmt und die traditionelle kirchliche Sündenlehre verwirft (s.u. Abschnitt 5.1), macht die tiefgreifende Differenz zwischen seinem Begriff der Dogmatik und dem hergebrachten deutlich. Der argumentative Aspekt seiner „Überlegung[en]“ zum Problem der Erbsünde geht mit einem appellativen einher. Haufniensis fordert mit seiner Rekonstruktion des Sündenbegriffs den Leser implizit dazu auf, die Einsicht in die unaufhebbare Diskrepanz zwischen der ethischen Idealität und der Wirklichkeit nicht für eine Apologie der Halbheiten und Unzulänglichkeiten unserer faktischen Lebensführung zu benutzen. Der Begriff Angst gewinnt auf diese Weise den Charakter der „Predigt“ (BA, 15): Dem Leser wird im Schlussabschnitt die Möglichkeit der religiösen Umkehr (Metanoia) vor Augen geführt (CBA, 161ff.), womit er vor die Frage gestellt wird, ob er diesen Weg betreten oder ignorieren bzw. verwerfen will. Der Begriff Angst hat somit in ähnlicher Weise wie die sokratischen Dialoge ein argumentativ-appellatives Doppelgesicht: Hierauf weist Haufniensis den Leser dadurch hin, dass er sein Programm einer argumentativen Rekonstruktion des Sündenbegriffs durch die Anspielung auf die ,Einfalt‘ des Sokrates im Untertitel implizit und durch seine Charakterisierung einer sinnvollen „Predigt“ explizit zum sokratischen Dialog in Beziehung setzt.
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Haufniensis stellt einen Zusammenhang zwischen der argumentativappellativen Textstruktur des Begriff Angst und der Frage nach dem personalen „Wer“ her, indem er im Motto des Buches die sokratische Unwissenheit dem Systemanspruch Hegels entgegensetzt (BA, 2).26 Eine ,belehrte Unwissenheit‘ ist das Resultat von Haufniensis’ Erörterung des Selbst. Wendet man seine These, dass das „Abstoßen des Allgemeinen“ als die „Pointe beim Einzelnen“ im Medium des Denkens nicht adäquat erfasst werden kann, auf sich selbst an, ergibt sich unmittelbar die Konsequenz, dass die Rede vom „Abstoßen des Allgemeinen“ diese „Pointe“, d. h. das personale „Wer“, insofern verfehlt, als sie das Selbst wiederum begrifflich bestimmt. In analoger Weise meint Haufniensis’ Charakterisierung des konkreten Selbstbewusstseins von Individuen als Handlung – worin Climacus’ Begriff des Existierens als Sich-Verhalten zum Zukünftigen vorweggenommen ist – zwar das personale „Wer“, hat jedoch faktisch den Status einer Aussage darüber, „was das Selbst ist“ (BA, 79). Obwohl generelle Aussagen über das personale „Wer“ dieses aufgrund ihres abstraktbegrifflichen Charakters zwangsläufig verfehlen, sind sie insofern unverzichtbar, als der Terminus „Selbst“ nur auf diese Weise eine intersubjektiv ausweisbare Bedeutung gewinnen kann. Haufniensis will das Defizit einer begrifflichen Bestimmung des Selbstverhältnisses von Individuen durch das argumentativ-appellative Doppelgesicht des Begriff Angst beheben. Der Leser soll auf sich selbst ,aufmerksam‘ werden, indem ihn der Text vor eine Alternative stellt, zu der er sich zwangsläufig positioniert: einen existentiellen Neubeginn zu versuchen oder seine bisherige Lebensführung fortzusetzen. Indem sich der Leser dessen bewusst wird, dass er sich bei Lektüre des Buches zwangsläufig zu alternativen Lebensmöglichkeiten verhält, tritt ihm vor Augen, dass er ,immer schon‘ (im Sinne der Nachschrift:) „existiert“ hat und in diesem Sinne ein personales „Wer“ ist. Die Crux jeder begrifflichen Bestimmung unserer konkreten Existenz – dass sie an dem, was sie meint, zwangsläufig vorbeigeht – kann somit dadurch überwunden werden, dass ihr Sinn in der „Innerlichkeit“ des Leser vermittels einer Reflexion auf seine Rezeption des Textes vergegenwärtigt wird. Auf diese Weise eignet sich der Leser den Begriff des personalen „Wer“ an.
26 Hierdurch tritt zur inhaltlichen Signifikanz der sokratischen Unwissenheit für den Begriff Angst – als Vorausdeutung auf das christliche Sündenbewusstsein – ein methodischer Aspekt hinzu.
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3. Die Aufforderung des Ethikers zu „wählen“ in Kierkegaards Entweder-Oder II Haufniensis’ Bestimmung des konkreten Selbstbewusstsseins als Handlung nimmt ebenso wie Climacus’ Begriff des Existierens als Sich-Verhalten zum Zukünftigen auf die „Innerlichkeit“ von Individuen Bezug. Wie lassen sich Aussagen über das Bewusstsein von Personen allgemeinverbindlich rechtfertigen? Wie kann etwa nachgewiesen werden, dass sich jeder Mensch, sobald er zum Bewusstsein seiner selbst kommt, zum Zukünftigen verhält? Diese Fragen sind insofern unabweisbar, als uns nur unser eigenes Bewusstsein, niemals das anderer Personen ,als es selbst‘ gegeben ist.27 Dass Kierkegaards Antwort im argumentativ-appellativen Doppelgesicht von Texten wie dem Begriff Angst zu suchen ist, tritt auf dem Hintergrund von Entweder-Oder zutage. Ein solches Doppelgesicht weisen auch die beiden Briefe des Ethikers an den Ästhetiker im Zweiten Band von Entweder-Oder auf. Die zentrale „Kategorie“ des Gerichtsrats Wilhelm ist die der ,Wahl seiner selbst‘ (E-O II, 227, 275f.): Sie schließt ein SichVerhalten zu Lebensmöglichkeiten ein, schränkt dieses allerdings auf ein grundsatzorientiertes Handeln ein; hierin schlägt sich die spezifische Perspektive des Gerichtsrats als „Ethiker“ nieder. Er verknüpft eine theoretische Explikation des Begriffs der Selbstwahl mit dem Appell an den Ästhetiker, der im Augenblick aufgehen will, sein Leben zu ändern und fortan nach – ethisch legitimen – Grundsätzen zu handeln. Der Gerichtsrat will nachweisen, dass jede Reaktion des Ästhetikers auf seinen Appell, sich an Grundsätzen zu orientieren, als Grundsatzentscheidung und in diesem Sinne als Akt der Selbstwahl zu werten ist (E-O II, 178).28 Hiermit will der Gerichtsrat zugleich die für jede Ethik basale Annahme unserer Handlungsfreiheit rechtfertigen: Er bezeichnet es als sein Kernanliegen, „für die Freiheit“ zu „streite[n]“ (E-O II, 187). Sein Vorgehen kann für den Versuch fruchtbar gemacht werden, Haufniensis’ Bestimmung des konkreten Selbstbewusstseins als Handlung wie auch Climacus’ – hiermit
27 Die Dringlichkeit der Frage nach der Allgemeingültigkeit von Aussagen über das Bewusstsein von Personen ist durch die – paradigmatisch von Wittgenstein formulierte – Kritik der sprachanalytischen Philosophie an der subjektivitätsphilosophischen Tradition manifest geworden. 28 Dass der Gerichtsrat den Ästhetiker auf die Wahl ethisch legitimer Grundsätze verpflichten will, kann hierbei außer Betracht bleiben.
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gleichbedeutenden – Begriff des Existierens als Sich-Verhalten zum Zukünftigen intersubjektiv auszuweisen.29 Der Akt der Selbstwahl wird dadurch vollzogen, „daß man das Wollen wählt“ (E-O II, 180). Der Ethiker grenzt – im Anschluss an Kant – das „Wollen“ vom bloßen „Wünschen“ ab (E-O II, 269). Im kantischen Sinne realisiert sich der Wille in der Wahl von „Maximen“, d. h. Grundsätzen der eigenen Lebensführung.30 Man „wählt“ demnach „das Wollen“, indem man sein Leben an Grundsätzen orientiert. Die ,Wahl des Wollens‘ ist insofern eine Wahl des eigenen „Selbst“, als die Entschluss zur bewussten Lebensgestaltung nur dann authentisch ist, wenn er in der nachfolgenden Lebenspraxis durchgehalten wird, wenn man also den jeweiligen Entwurf von Lebensmöglichkeiten konsequent zu realisieren versucht (E-O II, 247). Mit der Formulierung, dass das „konkrete Sein“, d. h. die „Wirklichkeit“, des Einzelnen „seine Möglichkeit“ bzw. „seine Aufgabe“ ist (EO II, 268), hebt der Ethiker hervor, dass man nur durch den Versuch, seine Freiheitsspielräume auszumessen, in Erfahrung bringen kann, wo die eigenen Potentiale und Grenzen liegen. In diesem Sinne kennzeichnet er die Selbstwahl als eine „Besinnung auf sich selbst, die selber eine Handlung ist“ (E-O II, 276). Im Gegensatz zum Gerichtsrat wertet der Ästhetiker ein von Grundsätzen geleitetes Handeln als Preisgabe des Ziels authentischer Selbstverwirklichung: Nach seiner Überzeugung ist nur derjenige frei, der sich am jeweiligen Augenblick orientiert und in ihm Erfüllung sucht. Der Ästhetiker weicht daher allen Bindungen – in Form einer kontinuierlichen Berufstätigkeit oder einer Ehe – aus (E-O I, 316ff.). Der Ethiker – er wird vom fiktiven Herausgeber von Entweder-Oder mit dem Kürzel „B“ tituliert (E-O I, 8) – hält dem Ästhetiker („A“, ebd.) vor, er sei aufgrund seiner Fixierung auf den Augenblick Gefangener seiner selbst – was sich in der resignativen Grundstimmung niederschlage, die in einer Reihe seiner „Papiere“ zum Ausdruck kommt (E-O I, 19, 24ff., 38f.). B führt den fragmentarischen Charakter der literarischen Produktion des Ästhetikers auf mangelndes Durchhaltevermögen zurück (E-O II, 208f.). A’s Auffassung, ein Eheversprechen gehe darüber hinweg, dass die emotionale Basis einer Liebesbeziehung jederzeit zerbrechen kann, wird 29 Die folgenden Ausführungen in Abschnitt 3 sind größtenteils dem Entweder-Oder gewidmeten Abschnitt meiner Monographie Subjektive Freiheit und soziales System (Freiburg/München 2008, S. 92 – 110) entnommen. 30 Immanuel Kant Kritik der praktischen Vernunft in Werke, hrsg. von Wilhelm Weischedel, 6 Bde., Darmstadt 1956 – 64, Bd. IV, S. 125.
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von B mit dem Argument kritisiert, dass derjenige, der eine solche Auffassung vertritt und eine Beziehung beendet, sobald seine Gefühle erkalten, die Chance zunichte macht, dass die Partner durch die Überwindung von Phasen der Entfremdung zu einem vertieften Verständnis füreinander gelangen (E-O I, 316f., II, 321). B zieht aus diesen Kritikpunkten den Schluss, dass sich A aufgrund seines inadäquaten Freiheitsverständnisses selber von Lebensmöglichkeiten abschneide, die ihm diejenige Befriedigung verschaffen könnten, welche er in seiner augenblicksbezogenen Existenz vergeblich sucht. B will A mit seinem Appell, eine klare Entscheidung für oder gegen eine Neuorientierung seines Lebens zu treffen, „derart auf die Wegscheide stellen“, dass er für diesen „keinen Ausweg gibt, außer mittels der Wahl“ (E-O II, 178). Diese paradox anmutende Ankündigung, den Ästhetiker zur „Wahl“, d. h. zu einem Akt der Selbstbestimmung, zu nötigen, enthält den Dreh- und Angelpunkt von B’s Vorhaben, für die Freiheit zu „streite[n]“. Für B’s Ziel, die Freiheitsunterstellung, die seinem Begriff der Selbstwahl zugrunde liegt, zu rechtfertigen, ist es unerheblich, ob (1) A den Vorschlag einer Neuorientierung seines Lebens positiv aufnimmt, ob (2) er ihn explizit zurückweist oder gar (3) kommentarlos über ihn hinweggeht: Hierin besteht die Pointe von B’s zunächst irritierendem Vorhaben, andere Personen „derart auf die Wegscheide zu stellen“, dass es für sie „keinen Ausweg gibt, außer mittels der Wahl“. (1) Wenn A unter dem Eindruck von B’s Argument, die Orientierung am Augenblick stehe soliden Leistungen wie auch substantiellen persönlichen Beziehungen im Wege, sein Leben ändert, können beide übereinstimmend festhalten, dass A eine Grundsatzentscheidung getroffen, d. h. sich selbst gewählt hat, was sich für beide gleichermaßen als Akt der Freiheit darstellt. (2) Eine Ablehnung von B’s Appell kann auf doppelte Weise motiviert sein: (a) Der Ästhetiker könnte ihm entgegen, er strebe die Lebensmöglichkeiten, deren Realisierung ihm B in Aussicht stellt, gar nicht an. In Bezug auf seine literarische Tätigkeit könnte er B’s Idealbild des ,vollendeten Werkes‘ als antiquiert und eine fragmentarisch zersplitterte Produktion als authentischen Ausdruck einer geistesgeschichtlichen Situation hinstellen, in der es keine verbindliche metaphysische Weltorientierung mehr gibt. Seinen Widerstand gegen eine Ehe könnte er mit seinem Bedürfnis nach schöpferischer Einsamkeit erklären. In diesem Fall versteht er seine Ablehnung von B’s Appell als Selbstbehauptung der eigenen Authentizität und Freiheit. B muss A’s Feststellung, er habe dessen Bedürfnisse falsch gedeutet, akzeptieren; er kann A’s Selbstverständnis allerdings in einem entscheidenden Punkt korrigieren: Da die Ablehnung
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von B’s Appell den Charakter einer A’s weiteres Leben bestimmenden Grundentscheidung hat, läuft sie der Beschreibung, die A von seiner Existenzform als einem jede Festlegung vermeidenden „Schweben“ gibt (E-O I, 315), zuwider. Die Tatsache, dass die dezidierte Weigerung, Grundsätzen zu folgen, selber eine Grundsatzentscheidung ausmacht, erlaubt es B, A’s Ablehnung seines Appells als Selbstwahl zu interpretieren. (b) Auch in dem Fall, dass B A’s Appell mit der Begründung abwehrt, die Lebensmöglichkeiten, die ihm dieser vor Augen stellt, seien für ihn zwar erstrebenswert, aber auch bei einer Änderung seiner Lebensweise unerreichbar, kann B den Ästhetiker darauf aufmerksam machen, dass er hiermit eine Grundsatzentscheidung trifft: nämlich einen Neubeginn, der allein darüber Gewissheit verschaffen könnte, ob die betreffenden Lebensmöglichkeiten A tatsächlich verwehrt bleiben, gar nicht erst zu versuchen. (3) Falls A zu B’s Appell überhaupt nicht Stellung nimmt und sein bisheriges Lebens kommentarlos fortführt, kann B dessen Verhalten wiederum als Grundsatzentscheidung interpretieren: als Weigerung, sich auf eine Auseinandersetzung mit seiner bisherigen Lebensführung einzulassen. Man kann A in diesem Fall demnach entgegenhalten, er habe in dem Sinne „gewählt“, dass er die „Wahl“ – als expliziten Akt der Selbstbestimmung – „unterlassen“, d. h. „verweigert“, hat (E-O II, 174, 277). In allen diesen Fällen kann B somit festhalten, dass A’s Reaktion auf seinen Appell als Grundsatzentscheidung zu werten ist – sei es auch in dem Sinne, dass diese „unbewußt“ getroffen wird (E-O II, 175). Da mit den genannten Fällen A’s Reaktionsmöglichkeiten erschöpft sind, bringt B den Ästhetiker mit seinem Appell in der Tat in eine Situation, in der er es „für ihn anderen Ausweg gibt, außer mittels der Wahl“; diese ist als eigenverantwortlicher Akt der Selbstbestimmung zu werten. Dass B die Selbstwahl als „eine Besinnung auf sich selbst, die selber eine Handlung ist“, kennzeichnet und einem ,kontemplativen’, d. h. abstrakttheoretischen, Zugang zum Selbstverhältnis des Einzelnen entgegensetzt (E-O II, 275f.), weist auf Haufniensis’ Bestimmung des konkreten Selbstbewusstseins als Handlung wie auch Climacus’ Begriff des Existierens als Sich-Verhalten zum Zukünftigen voraus. Haufniensis und Climacus verallgemeinern B’s „Kategorie“ der Selbstwahl, indem sie die (für seine Perspektive als Ethiker wesentliche) Einschränkung auf ein grundsatzorientiertes Handeln fallen lassen. B’s Feststellung, dass jede Reaktion des Ästhetikers auf den Appell, den Akt der Selbstwahl zu vollziehen, als Selbstwahl zu werten ist, lässt sich für die Aufgabe der intersubjektiven Ausweisung von Haufniensis’ Bestimmung des konkreten Selbstbewusstseins wie auch von Climacus’ Existenzbegriff – worin jeweils die
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Annahme der Handlungsfreiheit implizit enthalten ist – insofern fruchtbar machen, als sich in jeder Gesprächssituation, in der wir einem anderen vorschlagen, bislang noch nicht realisierte Lebensmöglichkeiten zu erproben, ein den Reaktionsmöglichkeiten des Ästhetikers analoges Spektrum ergibt: (1) Wer einem anderen einen solchen Vorschlag macht, schreibt ihm einen Entscheidungsspielraum zu; findet der Vorschlag Gehör, besteht zwischen den Gesprächspartnern Konsens darüber, dass derjenige, der die aufgezeigten Möglichkeiten verwirklichen will, hiermit seine Entscheidungsfreiheit nutzt. Ob ihm die betreffenden Möglichkeiten tatsächlich offen stehen, zeigt das Ergebnis seiner Bemühungen. Seine Reaktion hat in diesem Sinne den Charakter des Sich-Verhaltens zum Zukünftigen. (2 a) Konsens hinsichtlich seiner Entscheidungsfreiheit ergibt sich gleichfalls, wenn er dem Vorschlag entgegenhält, die fraglichen Möglichkeiten seien für ihn nicht erstrebenswert – womit er sich in dem Sinne zum Zukünftigen verhält, dass er auf die Erprobung bestimmter Lebensmöglichkeiten bewusst verzichtet. (2 b) Weist er den Vorschlag mit der Begründung ab, er sei nicht in der Lage, die genannten Möglichkeiten zu verwirklichen, kann – bzw. muss – seine Berufung auf Determinanten seiner Existenz durch die Feststellung korrigiert werden, dass selbst im Fall eines Scheiterns aller früheren Versuche, solche Möglichkeiten zu realisieren, nicht von vornherein ausgeschlossen ist, dass sie ihm zum gegenwärtigen Zeitpunkt offen stehen. Wenn er hierauf entgegnet, er wolle einen Fehlschlag nicht riskieren, führt er sein Verhalten selber auf einen bewusst getroffenen Entschluss zurück, was sich mit der ,Fremdzuschreibung‘ eines Entscheidungsspielraums durch seine Gesprächspartner deckt. Hält er hingegen an der Behauptung, er könne die fraglichen Möglichkeiten nicht verwirklichen, fest, ohne dass dies durch das Misslingen aktueller Versuche erhärtet worden wäre, können ihm seine Gesprächspartner vorhalten, dass er durch das Unterlassen solcher Versuche seine Behauptung einer eventuellen Falsifikation entzieht. Aufgrund dieser Zirkularität seiner Selbstbeschreibung müssen seine Gesprächspartner seine Passivität als Akt der Resignation deuten und damit an ihrer ,Fremdzuschreibung‘ der Entscheidungsfreiheit festhalten. Wer sich selbst in einer bestimmten Hinsicht als determiniert hinstellt, muss daher – wenn er sich nicht als (zirkulär argumentierender) Kommunikationspartner disqualifizieren will – auf den Versuch einer Falsifikation seiner Behauptung einlassen; und da dies in der Absicht erfolgt, seine Glaubwürdigkeit aufrechtzuerhalten, lässt sich ein solcher Versuch konsensuell auf einen Willensentschluss zurückführen, womit die ,Fremdzuschreibung‘ der Handlungsfreiheit bestätigt wird. Wer
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mit einem solchen Entschluss sein Selbstverständnis einer möglichen Falsifikation aussetzt, verhält sich hiermit zum Zukünftigen. (3) Wird der Vorschlag, bislang noch nicht realisierte Lebensmöglichkeiten zu erproben, schlichtweg ignoriert, ist zu konstatieren, dass sein Adressat einem diesbezüglichen Diskurs ausgewichen ist, was die übrigen Kommunikationspartner als Realisierung der Option des Diskursabbruchs und damit als intendierten Akt auffassen müssen. Der Diskursabbruch lässt sich insofern als Sich-Verhalten zum Zukünftigen charakterisieren, als er unliebsamen Auseinandersetzungen vorbeugen soll. In jeder Gesprächssituation, in der einem anderen die Erprobung noch nicht realisierter Lebensmöglichkeiten vorgeschlagen wird, kann somit allgemeinverbindlich konstatiert werden, dass der Betreffende eine eigenverantwortliche Entscheidung zwischen Handlungsalternativen trifft und sich in diesem Sinne zum Zukünftigen verhält. Da wir einen solchen Vorschlag jedem potentiellen Gesprächspartner jederzeit machen können, lässt sich auf diesem Weg Climacus’ Begriff des Existierens als Sich-Verhalten zum Zukünftigen intersubjektiv ausweisen – und zugleich Haufniensis’ Bestimmung des konkreten Selbstbewusstseins (das jedem Gesprächspartner zuzuschreiben ist) als Handlung. Ob der Adressat des betreffenden Vorschlags eine bewusste Entscheidung für oder gegen die darin anvisierten Lebensmöglichkeiten trifft und sich fortan hierzu bekennt oder aber den Vorschlag ignoriert und jeder weiteren Diskussion ausweicht, gibt Aufschluss darüber, „wer“ er ist, d. h. über sein „Selbst“. Wir sind somit befugt, Aussagen über das personale „Wer“ bzw. das „Selbst“ anderer Personen, die deren Selbstverständnis durchaus zuwiderlaufen können, mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit zu treffen.
4. Selbstbewusstsein und Intersubjektivität beim frühen Fichte In der argumentativen Schlüsselrolle, die dem Appell, eine bewusste Entscheidung zwischen alternativen Lebensmöglichkeiten zu treffen, in Entweder-Oder II – wie auch im Begriff Angst (s.u. S. 132f.) – zukommt, schlägt sich Kierkegaards produktive Aneignung des Fichteschen Theorems der Aufforderung zu freier Selbsttätigkeit nieder, mittels dessen in der Grundlage des Naturrechts und im System der Sittenlehre der Übergang vom absoluten Ich zum konkreten Selbstbewusstsein vollzogen wird. Bevor auf dieses Theorem eingegangen wird (Abschnitt 4.2), soll die Analyse des Ineinandergreifens von „idealer“ und „realer“ Tätigkeit des Ich in Fichtes früher Wissenschaftslehre skizziert werden (Abschnitt 4.1). Climacus
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knüpft mit seiner Bestimmung des Bewusstseins als Widerspruch von „Idealität“ und „Realität“ (De omnibus dubitandum est, PhB 155) implizit an sie an und setzt sie zu Fichtes Theorem der Aufforderung in Beziehung (Abschnitt 5.2).
4.1. „Ideale“ und „reale“ Ttigkeit des Ich in Fichtes frher Wissenschaftslehre Mittels des Wechselverhältnisses von „idealer“ und „realer“ Tätigkeit des Ich soll in Fichtes früher Wissenschaftslehre die Genese des Selbstbewusstseins erklärt werden, wobei dieses Wechselverhältnis allerdings nur als notwendige, nicht als hinreichende Bedingung für dessen Ausbildung anzusehen ist; gemäß Fichtes Grundlage des Naturrechts muss die Aufforderung zu freier Selbsttätigkeit in der Erziehung hinzukommen. Fichtes Rekonstruktion des Ursprungs des Selbstbewusstseins in der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre setzt beim Begriff des absoluten Ich an, der im Gefüge der ersten drei Grundsätze entwickelt wird. Er enthält zwei Bestimmungsmomente.31 Das erste besteht in der Selbstreferentialität als solcher; sie schließt eine basale Differenz ein – bei Fichte von Ich und Nicht-Ich.32 Das zweite Bestimmungmoment des absoluten Ich besteht im Bewusstsein als Medium der Gedanken. Jede selbstreferentielle Struktur konstituiert sich selbst.33 Fichte konkretisiert dies in Hinblick auf das Explanans des Selbstbewusstseins dahingehend, dass die „Tathandlung“ des Sich-selbst-Setzens des absoluten Ich „allem Bewusstsein zum Grunde liegt“ (FW I, 91). Da das Selbstbewußtsein erst am Ende der Wissenschaftslehre von 1794/95 erreicht wird, fällt das absolute Ich nicht mit ihm zusammen. Fichte leitet aus den ersten drei Grundsätzen seiner frühen Wissenschaftslehre die These ab, dass das Ich eine Totalisierungstendenz in sich birgt, d. h. danach strebt, das Nicht-Ich schrittweise aus dem Bewusstsein zu verdrängen. Die Universalisierungstendenz des Ich lässt sich als Trieb nach absoluter Selbständigkeit charakterisieren, da sie auf die Überwindung jeder Fremdbestimmung durch das Nicht-Ich abzielt.
31 Vgl. Claesges Geschichte des Selbstbewusstseins (s. Anm. 4), S. 55, 163, 170. 32 Die Systemtheorie bringt in analoger Weise die Basisdifferenz von System und Umwelt in Ansatz. 33 „Selbstkonstitution“ meint nichts anderes als den Vollzugsaspekt des Strukturbegriffs der Selbstreferentialität.
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Nach Fichte ist alles, was uns in unserem bewussten Selbstverhältnis bzw. unserer Welterfahrung begegnet, Resultat eines Wechselverhältnisses von Ich und Nicht-Ich. Da dasjenige, was er als Explanans unserer Selbst- und Welterfahrung in Ansatz bringt, gemäß dem (Vollzugs-) Begriff der Tathandlung nicht als fest bestimmte Entität verstanden werden darf, kennzeichnet er das basale Wechselverhältnis von Ich und Nicht-Ich dahingehend, dass auf eine „ins Unendliche hinausgehende Tätigkeit des Ich“, die als solche nicht weiter bestimmbar ist, ein „Anstoß“ durch das Nicht-Ich erfolgt, wobei über diesen nichts weiter gesagt werden kann, als dass die Tätigkeit des Ich durch ihn begrenzt wird (FW I, 227f.). Unsere „Vorstellung[en]“ entstehen nach Fichte dadurch, dass diese Tätigkeit „reflektiert, nach innen getrieben“ wird (FW I, 228). Das Medium dieses Reflexionsprozesses ist die Einbildungskraft (FW I, 230). Sie „produziert“ das „Angeschaute“, d. h. die Gegenstände unserer Wahrnehmung (ebd.), indem die Horizonte der Vergangenheit und Zukunft und damit auch die Dimension der Gegenwart (welche ohne jene undenkbar ist) aus ihr entspringen. In diesem Sinne konstituiert die Einbildungskraft das NichtIch als qualitativ bestimmtes Objekt, und zwar dadurch, dass sie es „als Erklärungsgrund der eigenen Begrenztheit“ – mit Fichte zu sprechen – „setzt“ (FW I, 282). Hierin besteht die „ideale Tätigkeit“ des Ich (ebd.). Die Einbildungskraft hat insofern eine selbstreferentielle Struktur, als sie auf der einen Seite als das Medium des Reflexionsprozesses, der durch den Anstoß initiiert wird, eine Bedingung seiner Möglichkeit bildet, auf der anderen in dieser Reflexion allererst Gestalt annimmt. In der Reflexion auf den „Anstoß“ wird das Ich seiner Tätigkeit, die durch ihn gehemmt wird, inne. Dass das Ich durch den Anstoß „in sich selbst zurückgetrieben wird“ und auf diese Weise „etwas Heterogenes, Fremdartiges“ in sich antrifft, ist ihm – so Fichte – „zuwider“ (FW I, 272); seine – von Fichte postulierte – Universalisierungstendenz manifestiert sich darin, dass es den Widerstand, auf den es gestoßen ist, überwinden will. Fichte nennt die Tätigkeit des Ich, die eingeschränkt werden kann und sich hierbei in ein Streben nach Überwindung jeder Fremdbestimmug verwandelt: „reale Tätigkeit“ (FW I, 294). Auf der einen Seite folgt aus seinem Basistheorem der Selbstkonstitution des absoluten Ich, dass die reale Tätigkeit der idealen, d. h. „vorstellende[n]“ (ebd.), zugrunde liegt – „das System unsrer Vorstellungen“ hängt demnach „von unserm Triebe und unserm Willen“ ab (FW I, 295) – ; auf der anderen Seite ist das Bewusstsein, welches wir von der realen Tätigkeit erlangen können, durch die ideale mitbestimmt, da wir uns der realen Tätigkeit nur als eines Strebens nach Überwindung von Widerständen inne werden können und die Identifi-
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kation des Widerstandes mit der Ausbildung der idealen Tätigkeit einher geht. In diesem Sinne besteht zwischen der realen und idealen Tätigkeit ein Wechselveältnis.
4.2. Fichtes Theorem der Aufforderung zu freier Selbstttigkeit Gemäß Fichtes Grundlage des Naturrechts führen die Analysen seiner Wissenschaftslehre von 1794/95 in einen „Zirkel“, der zeigt, dass die Bedingungen der Möglichkeit des Selbstbewusstseins darin noch nicht vollständig erfasst sind (FW III, 30ff.). Einerseits können wir gemäß der Kernthese seiner frühen Wissenschaftslehre, dass „das System unsrer Vorstellungen von unserm Trieb und unserem Willen“ – bzw. von unserem „Wollen und Handeln“ – abhängt (FW I, 295),34 kein qualitativ bestimmtes Objekt „wahrnehmen und begreifen“, ohne uns zugleich eine „Wirksamkeit“ zuzuschreiben; andererseits schließt jede zielgerichtete Wirksamkeit eine Bezugnahme auf zumindest rudimentär bestimmte Objekte, d. h. deren ,Vorstellung’, ein (FW III, 30f.). Der von Fichte konstatierte „Zirkel“ besteht somit darin, dass auf der einen Seite die Vorstellung einer Objektwelt (gemäß seiner frühen Wissenschaftslehre) ein „Wollen und Handeln“ voraussetzt, auf der anderen in jedem „Wollen und Handeln“ als intendiertem Akt eine Vorstellung der Gegenstände, auf die wir einwirken wollen, bereits im Spiel ist. Um verständlich zu machen, wie wir zum Bewusstsein unserer selbst als wahrnehmender und zugleich wollender Wesen gelangen können, muss daher nach Fichte angenommen werden, „die Wirksamkeit des Subjekts sei mit dem Objekte in einem und demselben Momente synthetisch vereinigt; die Wirksamkeit des Subjekts sei selbst das wahrgenommene und begriffene Objekt, das Objekt sei kein anderes, als diese Wirksamkeit des Subjekts, und so seien beide dasselbe.“ (FW II, 32) Da durch jede Anschauung eines Erfahrungsgegenstandes die „Tätigkeit des Subjekts […] gehemmt“ wird (ebd.), kann die gesuchte Identität seiner Wirksamkeit, d. h. seines „Wollens und Handelns“, mit einem Objekt nur in der Weise gedacht werden, dass dieses Objekt nichts anderes als der Begriff des „Wollens und Handeln“ des Subjekts ist (FW IV, 220); dieser Begriff muss uns somit „gegeben“ werden (FW III, 33), damit 34 Fichte ersetzte in seinem Handexemplar der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre die Worte „Trieb“ und „Willen“ durch „Wollen und Handeln“ (vgl. Fichte Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, Einl. und Register von W. G. Jacobs, Hamburg 1979, S. 212, Anm. 3).
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sich das Bewusstsein unserer selbst als wollender und handelnder Wesen ausbilden kann. Dies kann wiederum „nicht anders begriffen werden, denn als eine bloße Aufforderung des Subjekts zum Handeln“ seitens anderer Personen (ebd.). In diesem Sinne bildet die „Aufforderung zur freien Selbsttätigkeit“ im Verlauf der Erziehung eine notwendige Bedingung der Genese des Selbstbewusstseins (FW III, 39). „Alle Individuen müssen zu Menschen erzogen werden, außerdem würden sie nicht Menschen.“ (ebd.) In Kierkegaards Entweder-Oder II knüpft der Ethiker mit seiner Feststellung, dass jede Reaktion des Ästhetikers auf seinen Appell zu „wähle[n]“ als Akt der Selbstwahl zu werten ist, an die Aussage Fichtes im System der Sittenlehre an, meine „Selbstbestimmung“ sei als „Begriff vorhanden“, sobald ich zur freien Selbsttätigkeit „aufgefordert“ (FW IV, 220): „So gewiß ich diese Aufforderung verstehe, so gewiß denke ich meine Selbstbestimmung, als etwas in jener Aufforderung Gegebenes“ (ebd.). Während Fichte mit dem Theorem der Aufforderung die konstitutive Rolle der Intersubjektivität bei der Genese des Selbstbewusstseins aufdecken will, ist die argumentative Funktion des Appells zu wählen in Entweder-Oder II in erster Linie eine geltungstheoretische: Der Ethiker will nachweisen, dass sein Begriff der Selbstwahl auf das Selbstverhältnis jedes potentiellen Gesprächspartners applizierbar ist. Die Frage nach der Genese des Selbstbewusstseins wird in Kierkegaards Erzählung De omnibus dubitandum est – wenn auch nur in rudimentärer Form – aufgegriffen.
5. Die philosophische Relevanz der Rekonstruktion des Dogmas der Erbsünde in Kierkegaards Der Begriff Angst Mittels der spezifischen Textstruktur des Begriff Angst als einer Verknüpfung von philosophischer Argumentation und religiöser „Predigt“ (BA, 13; s. o. Abschnitt 2.3) soll Haufniensis’ Begriff der Sünde gerechtfertigt werden; dies entspricht der argumentativen Funktion der Aufforderung des Ethikers zu „wähle[n]“ in Entweder-Oder II (Abschnitt 5.1). Auf dem Hintergrund des Begriff Angst kann Climacus’ Bestimmung des Bewusstseins als „Widerspruch“ von „Idealität“ und „Realität“ in De omnibus dubitandum est auf Fichtes frühe Wissenschaftslehre und sein Theoruno das Aufforderung zurückbezogen werden (Abschnitt 5.2).
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5.1. Haufniensis’ Sndenbegriff Haufniensis rechtfertigt sein Programm einer argumentativen Rekonstruktion des Begriffs der (Erb-) Sünde durch eine fundamentale Kritik an der traditionellen Sündenlehre. Die herkömmliche Auffassung, infolge des Sündenfalls Adams und Evas sei jeder Mensch mit der Erbsünde behaftet, führt das „Denken“ – so Haufniensis – in unüberwindliche „Schwierigkeiten“ (BA, 22). Nach Haufniensis hatte die theologische Tradition durchaus ein Gespür für die Unmöglichkeit einer rationalen Explikation ihres Sündenbegriffs; er belegt dies mit einem Zitat aus Luthers Schmalkaldischen Artikeln: „Solche Erbsünde ist so gar ein tief böse Verderbung der Natur, daß sie kein Vernunft nicht kennt, sondern muss aus der Schrift Offenbarung gegläubet werden.“ (BA, 23) Haufniensis lehnt eine solche Immunisierung religiöser Dogmen gegen eine rationale Überprüfung ab: Er verwirft die herkömmliche Erbsündenlehre mit dem Argument, dass sie in einen Selbstwiderspruch führt (BA, 22ff.). Der Begriff der Sünde schließt das Moment der Schuld ein – sie setzt einen freien Willensentschluss voraus. Gemäß der traditionellen Auffassung ist der Sündenfall Adams (und Evas) der Grund dafür, dass sich jeder Mensch immer von neuem für das Böse entscheidet. Der Ursünde Adams (und Evas) wird hiermit ein determinierender Einfluss auf freie Willensentschlüsse zugesprochen, was offenkundig ein Selbstwiderspruch ist: „Die Geschichte des Menschengeschlechts erhielt einen phantastischen Anfang. […] frommes Gefühl und fromme Phantasie erhielten, was sie begehrten, ein erbauliches Vorspiel, aber das Denken erhielt nichts.“ (BA, 22) Haufniensis zieht hieraus den Schluss, dass der Begriff der Erbsünde für das moderne Bewusstsein nur dann relevant sein kann, wenn es gelingt, ihn in einer rational nachvollziehbaren Weise zu reformulieren (vgl. BA, 6, 14ff.). Sein Rekonstruktionsversuch setzt bei einer Uminterpretation der biblischen Erzählung vom Sündenfall an: Wenn es […] in der Genesis heißt, dass Gott zu Adam sprach: „allein vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen sollst du nicht essen“, so versteht es sich ja von selbst, dass Adam dies Wort eigentlich nicht verstanden hat; denn wie sollte er wohl den Unterschied von Gut und Böse verstehen, da doch diese Unterscheidung erst mit dem Genuß sich einstellte. (BA, 42)
Da Adam vor dem Sündenfall noch keine Erkenntnis des Unterschieds von Gut und Böse besaß, kann man ihm keine moralische Verfehlung – im Sinne einer freien Entscheidung zum Bösen – vorwerfen. Inwiefern ist es dann überhaupt zulässig, ihn zum Sünder zu erklären? Man kann einen
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Selbstwiderspruch, durch den die biblische Geschichte jeden argumentativ explizierbaren Gehalt verlöre, nur umgehen, wenn man sie in dem Sinne interpretiert, dass Adam, nachdem er vom Baum der Erkenntnis gegessen hatte, retrospektiv die Einsicht erlangte – bzw. die Überzeugung gewann – , dass es schuldhaft war, dies zu tun. Hierbei handelt es sich nicht um die Erkenntnis eines Faktums – wie könnte es ein Faktum sein, dass er schuldhaft gehandelt hat, wo ihm keine Schuldfähigkeit zugesprochen werden kann? – , sondern um eine Selbstdeutung. Gemäß Haufniensis’ – dem traditionellen Sündenverständnis zuwiderlaufender – Lesart der biblischen Erzählung „setzt“ der Einzelne demnach die Sünde durch einen „qualitative[n] Sprung“ in das Sündenbewusstsein, indem er sich selbst als Sünder interpretiert (BA, 46, 53, 77). Um den Ursprung einer solchen Selbstdeutung aufhellen zu können, nimmt Haufniensis an der biblischen Erzählung vom Sündenfall eine einschneidende Veränderung vor. Er bezeichnet es als das „Unvollkommene an der Erzählung, dass ein anderer über das spricht, was Adam nicht versteht“ (BA, 44). Dieses Manko fällt – so Haufniensis – fort, wenn man annimmt, dass nicht Gott zu Adam, sondern „Adam mit sich selbst gesprochen habe“ (ebd.). Haufniensis fügt hinzu: „Daraus, daß Adam hat sprechen können, folgt ja in tieferem Sinne nicht, dass er das Gesagte hat verstehen können. Vor allem gilt dies für den Unterschied zwischen Gut und Böse, welcher freilich in der Sprache ist, aber allein für die Freiheit ist“ (ebd.). Haufniensis erläutert dies dahingehend, dass Adams Verhältnis zur Sprache vor dem Sündenfall ein „ähnlich unvollkommene[s]“ gewesen sei wie das von Kindern, die die Namen von Tieren dadurch lernen, dass ihnen deren Bilder an der Tafel präsentiert werden (ebd.): Solange sie die betreffenden Tiere nicht in natura gesehen haben, haben ihre Namen für sie noch keinen Realitätsbezug. Überträgt man dies auf Haufniensis’ Umdeutung der biblischen Erzählung vom Sündenfall, so folgt, dass die Begriffe „gut“ und „böse“ für Adam erst durch seine Selbstinterpretation als Sünder einen Realitätsgehalt gewannen. Indem Haufniensis zugleich hervorhebt, dass Adam diese Begriffe nicht erfunden hat – was erst nach dem Sündenfall möglich gewesen wäre – , sondern mit ihnen bereits zuvor bekannt war, gibt er zu verstehen, dass sie seiner Selbstinterpretation als Sünder zugrunde lagen: Durch Adams „Sprung“ in das Sündenbewusstsein gewinnen sie somit ,für ihn’ eine Bedeutung. Indem Haufniensis an die Stelle von Adams Gottesverhältnis sein Verhältnis zur Sprache setzt und dieses als Selbstgespräch kennzeichnet, bricht er radikal mit der traditionellen Dogmatik, die den Autoritätsanspruch der Offenbarung grundsätzlich akzeptiert. Haufniensis bindet sei-
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nen unorthodoxen Begriff der Dogmatik an denjenigen Schleiermachers an (BA, 17), der in Der christliche Glaube (21830/31) dem „Unterschied zwischen einem außer- oder überweltlichen und einem innerweltlichen Gott“, d. h. von „Theismus“ und „Pantheismus“, keine „sonderlich[e]“ Bedeutung beimisst.35 Haufniensis kann seinen Anspruch, den Begriff der Sünde auch einem „Mann der Wissenschaft“ nahe zu bringen (BA, 6), nur deshalb aufrechterhalten, weil er den Glauben an einen persönlichen Gott – dessen Wahrheitsgehalt nicht bewiesen werden kann – zur Disposition stellt. Die Modifikationen, die Haufniensis’ an der biblischen Erzählung vom Sündenfall vornimmt, müssen durch seine Rekonstruktion des Sündenbegriffs gerechtfertigt werden. Diese vollzieht sich in zwei Schritten: (1) In der Einleitung erklärt Haufniensis die Einsicht in die unaufhebbare Diskrepanz zwischen der von der Ethik geforderten „Idealität“36 und der Wirklichkeit zum Ausgangspunkt einer rationalen Reformulierung des Begriffs der Erbsünde (BA, 13ff.). (2) Den entscheidenden Schritt seines Rekonstruktionsversuchs bildet der Rekurs auf den Schuldbegriff der griechischen Tragödie: Dass „einer schuldig wird durch das Schicksal“, ist – so Haufniensis – „der höchste Widerspruch, und aus diesem Widerspruch bricht das Christentum hervor.“ (BA, 100) Der Widerspruch, um den es hier geht, muss offensichtlich von völlig anderer Art sein als der Selbstwiderspruch in der herkömmlichen Sündenlehre, durch den sie inkonsistent wird. (zu 1) Haufniensis erläutert den Ausgangspunkt seiner Rekonstruktion des Sündenbegriffs folgendermaßen: Die Ethik zeigt die Idealität als Aufgabe und setzt voraus, daß der Mensch im Besitz der Bedingungen ist. Hierdurch entfaltet die Ethik einen Widerspruch, indem sie gerade die Schwierigkeit und die Unmöglichkeit deutlich macht. […] Je mehr sie in ihrer Idealität verbleibt, und niemals so unmenschlich wird, die Wirklichkeit aus dem Gesicht zu verlieren, sondern mit dieser insofern ins Verhältnis tritt, als sie sich als Aufgabe für einen jeden Menschen hinstellt, dergestalt, dass sie ihn zum wahren, zum ganzen Menschen, zum Menschen schlechthin machen will, desto höher spannt sie die Schwierigkeit. Im Kampf um die Verwirklichung der Aufgabe der Ethik erweist sich die Sünde nicht als etwas, das rein zufällig einem zufälligen Individuum angehört, sondern die 35 Friedrich Schleiermacher Der christliche Glaube (1830/31), hrsg. von Martin Redeker, Berlin/New York 1999, S. 58. 36 Der Termini „Idealität“ bzw. „ideal“ werden im Begriff Angst in zwei verschiedenen Bedeutungen verwendet: Sie beziehen sich einerseits auf die begriffliche Dimension unserer Erfahrung, andererseits auf den – noch zu konkretisierenden – Inbegriff ethischer Normen (BA, 13f.).
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Sünde zieht sich tiefer und tiefer zurück als eine tiefere und tiefere Voraussetzung, als eine Voraussetzung, die über das Individuum hinausreicht. (BA, 13 – 15)
Nach Haufniensis wird das Spannungsverhältnis zwischen der Unbedingtheit ethischer Forderungen und der Lebenswirklichkeit in der griechischen Ethik verharmlost (BA, 14). Er spricht dem eudaimonistischen Ansatz von Aristoteles’ Nikomachischer Ethik eine repräsentative Bedeutung für die griechische Antike zu und folgert hieraus, dass es damals „im allereigentlichsten Sinne“ noch keine Ethik gab (ebd.). Seine entschiedene Ablehnung einer eudaimonistischen Ethik ist – wie Greve hervorhebt – bei Kant vorgebildet.37 Das Wort „Ethik“ wird in der Einleitung zum Begriff Angst allerdings erstmals im Kontext der Auseinandersetzung mit Hegel verwendet: Es bezieht sich dort auf die der praktischen Philosophie gewidmeten Teile von Hegels ausgebildetem System, wie es in der Enzyklopdie niedergelegt ist.38 Haufniensis’ Ethik-Begriff verknüpft offenbar kantische mit Hegelschen Aspekten. Dieses Vermittlungsprogramm knüpft an Entweder/Oder II an; es wird allerdings im Begriff Angst nicht näher ausgeführt.39 Den einzigen Anhaltspunkt für eine Konturierung von Haufniensis’ Begriff der ethischen „Idealität“ bildet das bereits angeführte Zitat: „Vollendetheit in sich selbst ist […] das vollkommene Teilhaben am Ganzen“ (BA, 26, s. o. Abschnitt 1): Hiermit wird die Ansicht verworfen, 37 Vgl. Kant Kritik der praktischen Vernunft (1788) in Werke (s. Anm. 31), Bd. IV, S. 146ff.; Wilfried Greve Kierkegaards maieutische Ethik. Von „Entweder/Oder II“ zu den „Stadien“, Frankfurt a. M. 1990, S. 228. 38 Vgl. BA, 10: „Verläßt man die Logik, um sich der Ethik zuzuwenden, so trifft man hier wiederum auf das in der ganzen Hegelischen Philosophie unermüdlich tätige Negative“. 39 Der Ethiker in Entweder-Oder II sieht in der „kantischen Auffassung des Ethischen“, die er dahingehend konkretisiert, dass Kant die „Pflicht“ als das „Abstrakt-Kategorische“ bestimme, die Basis des „moderne[n]“ Moral- und Rechtsverständnisses (E-O II, 344). Er lässt die Grundformel des Kategorischen Imperativs allerdings nur als „abstrakt[es]“ Fundament des Ethischen gelten (E-O II, 272): mit der Begründung, dass er kein „Rigorist“ ist, der – wie Kant in „Über ein vermeintes Recht aus Menschenliene zu lügen“ (in Werke, Bd. IV, S. 637 – 643) – Ausnahmen von moralischen Regeln kompromisslos verwirft (E-O II 189, 286ff.). Um das „Abstrakt-Kategorische“ des kantischen Pflicht-Begriffs überwinden zu können, muss laut dem Gerichtsrat Wilhelm in Entweder-Oder II „das Soziale“ ins Zentrum ethischer Begründung rücken (E-O II, 344). Hegels Konzept der Sittlichkeit geht nach seiner Auffassung über Kant entscheidend hinaus, indem darin der Tatsache, dass unser „Selbst“ ein „soziales“ ist (E-O II, 280), eine basale Begründungsfunktion zukommt. In diesem Sinne heißt es in Entweder-Oder II: „Sobald das Ethische konkreter wird, geht es über in die Bestimmung von Sitten.“ (E-O II, 272)
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ethische Perfektion sei durch den Rückzug von der Gesellschaft – etwa in eine mönchische Innerlichkeit – zu erlangen. Aufgrund der sozialen Dimension von Haufniensis’ Begriff der ethischen „Idealität“ kann sich dessen kantischer Aspekt nicht auf die Grundformel des Kategorischen Imperativs beziehen, sondern nur auf die Selbstzweck-Formel, aus der die Idee eines „Reichs der Zwecke“ entspringt, d. h. einer Gemeinschaft, in der niemand seine Mitmenschen „bloß als Mittel“ für seine eigenen Interessen behandelt, sondern stets als „Zweck[e] an sich selbst“, d. h. als Subjekte freier Selbstbestimmung, respektiert.40 Von hier aus lässt sich eine Brücke zu Hegels Begriff des „sittlichen Gemeinwesen[s]“ (Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 150) schlagen, worin jedem Individuum ein optimaler Spielraum der Selbstbestimmung zugestanden wird. Ein Hinweis darauf, wie Haufniensis seine These, zwischen der ethischen Idealität und der Wirklichkeit bestehe ein unauflöslicher Widerspruch, begründet, lässt sich dem Bild entnehmen, das er von der zeitgenössischen Gesellschaft zeichnet: „In diesen Zeiten […] braucht man nicht mehr als sechzehn Jahre als zu sein, um zu sehen, dass der, welcher jetzt auf der Lebensbühne auftreten will, dem Mann gleich ist, der von Jerusalem nach Jericho zog und unter die Räuber fiel.“ (BA, 167) Hier klingt Hegels Charakterisierung der „bürgerlichen Gesellschaft“ als eines „Kampfplatz[es] des Privatinteresses aller gegen alle“ an.41 Hegel zeigt in seiner Theorie der bürgerlichen Gesellschaft, dass aus der Arbeitsteilung zwangsläufig soziale Antagonismen entspringen, die die Gesellschaft in privilegierte und benachteiligte Schichten aufspalten; er weist dem Staat die Aufgabe zu, den Wirtschaftskreislauf so weit zu steuern, dass auch die Benachteiligten zur Selbstbestimmung befähigt werden. Hegel räumt jedoch implizit ein, dass der Staat letztlich außerstande ist, die aus der ökonomischen Eigendynamik resultierenden Freiheitsbeschränkungen aufzuheben.42 Hegels Begriff des Staates als einer „organische[n] Totalität“43 bleibt damit ebenso wie die kantische Idee des „Reichs der Zwecke“ – ohne dass Hegel dies allerdings offen ausgesprochen hätte – ein unerreichbares Ideal. Hierin besteht der ,wissenschaftliche‘ Ausgangspunkt von Haufniensis’ Rekonstruktion des Begriffs der Sünde. (zu 2) Haufniensis’ Rekurs auf den antiken Begriff der tragischen, d. h. vom „Schicksal“ hervorgerufenen, Schuld, mittels dessen er von diesem 40 41 42 43
Kant Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (11785, 21786), Werke, Bd. IV, S. 66. Hegel Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 289, HW VII, 458. Ebd. §§ 242 – 246, HW VII, 388 – 391. Ebd. § 267, HW VII, 398.
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Ausgangspunkt aus den Sündenbegriff reformulieren will (BA, 100), bleibt im Begriff Angst fragmentarisch und daher unklar. Dieses Defizit lässt sich anhand der Abhandlung des Ästhetikers „Über den Widerschein des antiken Tragischen in dem modernen Tragischen“ in Entweder-Oder I (E-O I, 147 – 176) beheben. Der Ästhetiker identifiziert das „Schicksalsschwangere[n] in der griechischen Tragödie“ mit der „substantielle[n] Bestimmung“ der Individuen, die darin bestehe, „dass jeder ein „Kind […] seiner Zeit, seines Volks, seiner Familie, seiner Freunde“ ist (E-O I 154f.). Die Schicksalsmächte der griechischen Tragödie repräsentieren somit laut dem Ästhetiker soziale Bezugs- bzw. Strukturzusammenhänge. Auf diesem Hintergrund kann Haufniensis’ formelhafte Aussage: „daß einer schuldig wird durch das Schicksal“, sei „der höchste Widerspruch, und aus diesem Widerspruch bricht das Christentum hervor“ (BA, 100), in dem Sinne auf seine Ausgangsthese eines unauflöslichen Widerspruchs zwischen der ethischen „Idealität“ und der Wirklichkeit zurückbezogen werden, dass aus der Einbindung der Individuen in vorgegebene soziale Antagonismen ethische Defizite entspringen. In Haufniensis’ Rekonstruktion des Dogmas der Erbsünde tritt demnach an die Stelle des von der herkömmlichen Theologie behaupteten Fortwirkens der Ursünde Adams (und Evas) der Einfluss gesellschaftlicher Konfliktstrukturen auf das Handeln der Individuen. Haufniensis gibt allerdings durch die Rede von einem „Widerspruch“, der darin liege, „daß einer schuldig wird durch das Schicksal“, zu verstehen, dass sein Sündenbegriff zunächst nur ein Problemtitel ist. Seine Ausgangsthese einer unaufhebbaren Diskrepanz zwischen der ethischen „Idealität“ und der Wirklichkeit legt die Schlussfolgerung nahe, dass man den Individuen keine Mitverantwortung für eine Beschaffenheit der Wirklichkeit zusprechen könne, die es ihnen (nach Haufniensis’ eigener Voraussetzung) unmöglich macht, ein untadeliges Leben zu führen. Diese Schlussfolgerung wäre jedoch voreilig: Aus Haufniensis’ Ausgangsthese ergibt sich nicht unmittelbar die Konsequenz, dass die faktische Gestalt der Antagonismen, auf die seine Rekonstruktion des Sündenbegriffs Bezug nimmt, unentrinnbar ist. An dieser Stelle tritt das argumentative Gewicht des Charakters des Begriff Angst als „Predigt“ zutage. Haufniensis ruft mit seiner Beschreibung der zeitgenössischen Gesellschaft als eines „Kampfplatz[es]“ (Hegel) die Geschichte des barmherzigen Samariters, der sich des Mannes annahm, der auf dem Weg von Jerusalem nach Jericho „unter die Räuber fiel“ (BA, 167), in Erinnerung – und damit den Appell Christi zur Umkehr (Metanoia). Diejenigen, bei denen er Gehör findet, können gemeinsam versuchen, die sozialen Konfliktstrukturen zu entschärfen; wenn ihre Bemü-
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hung zum Erfolg führt, stellt sich heraus, dass diejenigen, die an der Reproduktion der Antagonismen mitgewirkt haben, hierfür verantwortlich gemacht werden können. Da wir nur durch den Versuch, die vorgegebenen Gesellschaftsstrukturen zu verändern, in Erfahrung bringen können, ob sie in dem Sinne den Charakter von Determinanten haben, dass ein alternativer Lebensentwurf in die Selbstzerstörung führt, kann man denjenigen, die die faktischen Verhältnisse für unverrückbar erklären, ohne einen Veränderungsversuch unternommen zu haben, entgegenhalten, dass sie einen solchen Versuch gar nicht unternehmen wollen, d. h. einen Entschluss treffen, der die vorgegebenen Strukturen zementiert. Zugleich können diejenigen, die sich auf einen Veränderungsversuch einlassen, nicht von vornherein wissen, ob die Behauptung und Durchsetzung eigener Interessen in den bestehenden Konfliktstrukturen per se als schuldhaft zu werten ist. Dass es sich tatsächlich so verhält, wird bei einem ethisch motivierten Veränderungsversuch unterstellt; inwieweit diese Annahme zutrifft, stellt sich erst anhand seiner faktischen Resultate heraus. Haufniensis weist auf diese argumentative Funktion seines Appells zur Umkehr dadurch hin, dass er den sokratischen Dialog (der ein argumentativ-appellatives Doppelgesicht hat) zum Vorbild einer „Predigt“ erklärt, in der die Sünde zur Sprache kommt (s. o. Abschnitt 2.3). Haufniensis’ Sündenbegriff kann allerdings auch in dem Fall, dass der Appell zur Umkehr Früchte trägt, nicht mit demselben Grad an Verbindlichkeit gerechtfertigt werden wie der Begriff der Selbstwahl durch die Aufforderung, diese zu vollziehen, in Entweder-Oder II. Haufniensis räumt dies implizit ein, indem er die biblische Erzählung vom Sündenfall dahingehend uminterpretiert, dass Adam durch eine Selbstinterpretation, die als „Sprung“ anzusehen sei, die Sünde ,gesetzt‘ habe (BA 46). Man kann vorgegebene Sachzwänge auch dann für ethische Defizite der eigenen Lebensführung verantwortlich machen, wenn es anderen gelungen ist, die Reproduktion sozialer Antagonismen zu entschärfen – indem man den Erfahrungen der anderen repräsentative Bedeutung für das eigene Leben abspricht. Wenn man hiermit seine Weigerung begründet, einen existentiellen Neubeginn zu erproben, „betrügt“ man jedoch sich selbst (BA, 164), indem man zirkulär argumentiert. Haufniensis betont, dass man aus den Verhältnissen, in die man eingebunden ist, nur dadurch etwas „lernen“ kann, dass man versucht, sie zu „bilden“, d. h. umzugestalten (BA, 163). Einen Ausweg aus dem Selbstbetrug, durch den Veränderungsversuche abgeblockt werden, kann die Angst eröffnen (BA, 166f.); Haufniensis nennt sie eine „Schule der Möglichkeit“ (BA, 162). Er entwickelt den „Begriff“ der Angst, die er von der „Furcht“ abgrenzt, welche stets „auf
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etwas Bestimmtes“ gerichtet ist, im Ausgang von der kindlichen Welterfahrung (BA, 39f.): Die Angst des Kindes ist auf das „Nichts“ im Sinne eines unendlich offenen, unbekannten und unbestimmten Welthorizonts bezogen; da dieser zugleich seine Neugier weckt, charakterisiert Haufniensis die Angst als „eine sympathetische Antipathie und eine antipathetische Sympathie“ (ebd.). Wenn wir mit ethischen Kategorien vertraut und uns zugleich unseres „Anteils an der Geschichte des Geschlechts“ bewusst geworden sind, wird die Angst „reflektierter“ (BA, 52). Uns tritt vor Augen, dass wir ethischen Forderungen nur unvollkommen genügen, so dass wir angreifbar sind; die existenzielle Verunsicherung, die hieraus entspringt, verbindet sich mit der utopischen Perspektive eines Zusammenlebens ohne tiefgreifende Konflikte und Brüche in ähnlicher Weise wie das Gefühl der Bedrohung mit der Neugier in der Angst des Kindes. Die reflektierte Angst kann uns dazu motivieren, einen existentiellen Neubeginn im Bewusstsein des Risikos des Scheiterns zu erproben.
5.2. Das Verhltnis von „Idealitt“ und „Realitt“ in der Genese des konkreten Selbstbewusstseins Haufniensis’ Rekonstruktion des Dogmas der Erbsünde lässt sich als konkrete Umsetzung seines Programms einer produktiven Transformation von Fichtes Analyse des Ursprungs des Selbstbewusstseins (s. o. Abschnitt 1.2) interpretieren, wenn man sie mit dem Bewusstseinsbegriff in De omnibus dubitandum est verknüpft. Von zentraler Bedeutung ist hierbei die Rolle der Sprache in Haufniensis’ Uminterpretation der biblischen Geschichte vom Sündenfall: Adam spricht beim Sündenfall – Haufniensis zufolge – in dem Sinne mit sich selbst, dass die Begriffe „gut“ und „böse“ für ihn eine Bedeutung gewinnen, indem er sich selbst als Sünder interpretiert (BA, 44, 46). Haufniensis nennt die Sprache in diesem Zusammenhang „den Ausdruck für alles Geistige“ (BA, 43f.); in ihr haben sich demzufolge Überzeugungen bzw. Weltdeutungen ,sedimentiert’. Die Brücke zwischen Haufniensis’ Umdeutung der biblischen Erzählung vom Sündenfall und der Bestimmung des Bewusstseins als „Widerspruch“ von „Idealität“ und „Realität“ in De omnibus dubitandum est (PhB, 155) schlägt seine Aussage, die „reale Möglichkeit der Sünde“ werde von der „Psychologie […] ergründet“, die „ideelle Möglichkeit der Sünde“ hingegen von der „Dogmatik“ (BA, 21); in De omnibus dubitandum est wird die „Idealität“ mit
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der „Sprache“ identifiziert.44 Das ,dogmatische‘ Anliegen des Begriff Angst besteht darin, dem Begriff der (Erb-) Sünde eine Gestalt zu geben, in der er für die moderne Welt relevant sein kann; der Ausdruck „ideelle Möglichkeit“ meint somit die Anwendbarkeit eines sprachlichen Allgemeinbegriffs auf konkrete Situationen – im vorliegenden Fall des Begriffs der Sünde auf die Lebensbedingungen der Moderne. Haufniensis’ psychologische Analyse der Angst ergründet demgegenüber die Motive, die einen dazu bewegen, sich selbst als Sünder (im Sinne des Begriff Angst) zu interpretieren. Haufniensis will durch eine zeitgemäße Reformulierung des Sündenbegriffs den Einzelnen die „reale Möglichkeit“ einer solchen Selbstdeutung eröffnen. Die Applikation eines Allgemeinbegriffs auf konkrete Einzelfälle bezeichnet Climacus in De omnibus dubitandum est als „Wiederholung“; der Begriff der „Realität“, den er hierbei als Gegenpol zur sprachlichen „Idealität“ (d. h. zur begrifflichen Dimension der Sprache) in Ansatz bringt, ist gleichbedeutend mit „Unmittelbarkeit“ (PhB, 155): In der Realität als solcher gibt es keine Wiederholung. Das kommt nicht daher, dass alles verschieden ist, keineswegs. Wäre auch alles in der Welt schlechthin eines und dasselbe, in der Realität gibt es keine Wiederholung, weil sie bloß im Momente ist. Wäre auch die Welt […] nichts als lauter gleich große, einförmige Feldsteine, so gäbe es doch keine Wiederholung. Ich würde in jedem Augenblick einen Feldstein sehen, aber ob er derselbe sei, den ich vorher gesehen, danach wäre die Frage nicht. In der Idealität allein ist keine Wiederholung; denn die Idee ist und bleibt die gleiche, und kann als solche nicht wiederholt werden. Wenn die Idealität und die Realität einander berühren, so tritt die Wiederholung in Erscheinung. Indem ich da im Moment z. B. etwas sehe, tritt die Idealität hinzu und will erklären, es sei eine Wiederholung. Hier ist der Widerspruch; denn das, was ist, ist zugleich auf eine andere Weise. Daß das Äußere ist, sehe ich, aber im gleichen Augenblick setze ich es ins Verhältnis zu etwas, das auch ist, welches das selbe ist und das zugleich erklären will, daß das andere das Selbe ist. Hier ist eine Verdopplung, hier ist eine Wiederholung. Die Idealität und die Realität stoßen mithin zusammen (PhB, 158).
Mit der Feststellung, dass die „Realität […] bloß im Momente ist“, spezifiziert Climacus seinen Begriff der Realität als Unmittelbarkeit in Hinblick auf die zeitliche Dimension unserer Erfahrung: In einem (ausdehnungslosen) Jetzt-Punkt können uns nur „Sinnesempfindung[en]“ unmittelbar gegeben sein (PhB, 156 Anm.); solange sie nicht zu übergreifenden Zusammenhängen verbunden sind, kann die Frage noch nicht aufkommen, ob wir dasselbe wahrnehmen wie soeben oder etwas anderes 44 „die Sprache ist die Idealität“ (PhB, 155).
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– und damit ebenso wenig, ob wir einen Allgemeinbegriff zum ,wiederholten‘ Male auf einen Einzelfall applizieren. Erst recht kann von der ,wiederholten‘ Anwendung eines Begriffs keine Rede sein, solange man ihn von der Anschauung isoliert, d. h. als reine „Idee“ nimmt. Betrachtet man das obige Zitat für sich, scheint die Rede von einem „Widerspruch“, der bei jeder Subsumtion von Einzelfällen unter einen Allgemeinbegriff auftrete, nicht mehr zu besagen, als dass die begriffliche Bestimmung von Gegenständen bzw. Sachverhalten deren individuelle Besonderheit niemals adäquat erreichen kann (,individuum est ineffabile’). Dass Climacus mehr im Blick hat, wird auf dem Hintergrund seiner weitreichenden These deutlich, das „Bewußtsein“ trete „durch den Zusammenstoß“ von Idealität und Realität „in Erscheinung“ (PhB, 158), und zwar dadurch, dass das „dichotomisch[e]“ Verhältnis von Idealität und Realität, d. h. von Allgemeinem und Einzelnem, durch die „Reflexion“ in ein „trichotomisch[es]“ verwandelt wird (PhB, 156): „Die Bestimmungen des Bewußtseins […] sind dreiteilig (trichotomisch), was auch die Sprache zeigt. Denn wenn ich sage: ich werde mir dieses Sinneseindrucks bewußt, so sage ich eine Dreiheit. […] Das Bewußtsein setzt daher die Reflexion voraus.“ (ebd.) Da Climacus die Idealität mit der Sprache identifiziert, besagt seine These: „das Bewußtsein tritt […] durch den Zusammenstoß [von Idealität und Realität] in Erscheinung“, dass sich unser Bewusstsein dadurch konstituiert, dass wir uns die Sprache aneignen und hierbei lernen, über den Sprachgebrauch zu reflektieren – was für die spezifisch menschliche Sprache essentiell ist: Sie unterscheidet sich dadurch von der tierischen Signalsprache, dass wir auf unsere Äußerungen jederzeit – durch Rückfragen, Erläuterungen usw. – zurückkommen können. Climacus’ These der sprachlichen Konstitution unseres Bewusstseins schließt ein, dass „erst in dem Augenblick, da die Idealität ins Verhältnis gesetzt wird zur Realität“, „die Mçglichkeit in Erscheinung“ tritt (PhB, 155). Der Möglichkeits-, d. h. Zukunftshorizont unseres Bewusstseins ist demnach sprachlich konstituiert. Da Climacus die Reflexion zur Voraussetzung des Bewusstseins erklärt, meint sein Begriff des Bewusstseins das Selbstbewusstsein. Die Rückbindung seines Begriffs der Existierens als Sich-Verhalten zum Zukünftigen (UN II, 6) an die Sprache bildet das Pendant zu Fichtes Theorem der Konstitution individuellen Selbstbewusstseins durch die Aufforderung zu freier Selbsttätigkeit. Auf diesem Hintergrund tritt in Climacus’ Aussage, jede Anwendung eines Allgemeinbegriffs auf Einzelfälle enthalte einen „Widerspruch“, eine weitere Bedeutungsschicht zutage: Der Horizont unserer individuellen Lebensmöglichkeiten wird durch die Aneignung der gemeinsamen
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Sprache, in der sich tradierte Überzeugungen sedimentiert haben, aufgebaut. Dass hiermit das Problem des existentiellen Neubeginns virulent wird, geht aus Kierkegaards Novelle Die Wiederholung hervor, wo „die eigentliche Wiederholung“ der platonischen Anamnesis gegenübergestellt wird: Wiederholung ist ein entscheidender Ausdruck für das, was „Erinnerung“ bei den Griechen gewesen ist. Gleich wie diese also gelehrt haben, dass alles Erkennen ein sich Erinnern sei, ebenso wird die neuere Philosophie lehren, dass das ganze Leben eine Wiederholung ist. […] Wiederholung und Erinnerung sind die gleiche Bewegung, nur in entgegengesetzter Richtung; denn wessen man sich erinnert, das ist gewesen, wird rücklings [baglænds, SKS 4, 9] wiederholt, wohingegen die eigentliche Wiederholung sich der Sache vorlings [forlænds, ebd.] erinnert.45
Climacus spielt in De omnibus dubitandum est auf Platons Ideenlehre, die dessen Anamnesis-Lehre zugrunde liegt, dadurch an, dass er anstatt von Begriffen von „Idee[n]“ spricht (PhB, 158, s. o.). Schließt man sich Platons Auffassung an, dass Allgemeinbegriffe überzeitlich, d. h. unwandelbar, sind, muss man deren Anwendung auf Einzelfälle als eine ,rückwärtsgewandte Erinnerung‘ ansehen, da (nach Voraussetzung) etwas fertig Vorgegebenes immer von neuem aktualisiert und in diesem Sinne ,wiederholt‘ wird. Ein Beispiel für die ,vorwärtsgewandte Erinnerung‘ an einen tradierten Allgemeinbegriff, d. h. eine „eigentliche Wiederholung“, bildet Haufniensis’ Reformulierung des Begriffs der Sünde. Lässt man die Annahme einer überzeitlichen Existenz von Allgemeinbegriffen fallen, kann deren Anwendung auf Einzelfälle insofern als „Zusammenstoß“ mit diesen charakterisiert werden (PhB, 158), als die konkreten Situationen, auf die sie appliziert werden, zu einer Modifikation ihres Bedeutungsgehalts nötigen können, indem sich bestimmte Überzeugungen, die ihrem tradierten Gebrauch zugrunde liegen, als fragwürdig erweisen. So ist etwa der Widerspruch, den Haufniensis in der überlieferten Erbsünden-Lehre ausmacht, in einem von der „Wissenschaft“ geprägten Zeitalter (vgl. BA, 6) nicht länger akzeptabel. Haufniensis’ „Wiederholung“ des tradierten Sündenbegriffs lässt sich auf Climacus’ Begriff der Wiederholung – der eine bewusstseinsphilosophische Dimension hat – insofern zurückbeziehen, als Haufniensis sein Rekonstruktionsprogramm mit dem Begriffspaar „reale“ vs. „ideelle Möglichkeit der Sünde“ beschreibt (BA, 22). Mit seinem Vorhaben, durch die Reformulierung des überlieferten Sündenbegriffs die 45 Kierkegaard Die Wiederholung. Drei erbauliche Reden 1843, übers. von E. Hirsch, München 1955, S. 3.
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„reale“ (Lebens-) Möglichkeit zu eröffnen, sich unter den Bedingungen der Moderne als Sünder zu interpretieren, begreift Haufniensis die konstitutive Funktion der Sprache bei der Genese unserer Lebensmöglichkeiten als Aufgabe jedes Einzelnen. Seine These, das „Abstoßen des Allgemeinen“ mache die „Pointe beim Einzelnen“ aus (BA, 79 Anm., s. o. Abschnitt 2.2), schließt die Forderung ein, den tradierten Sprachgebrauch nicht unreflektiert weiterzugeben, sondern die darin sedimentierten Überzeugungen kritisch zu überprüfen und Erkenntnisfortschritte durch einen Bedeutungswandel von Begriffen zum Ausdruck zu bringen. Indem Haufniensis in seiner Umdeutung der biblischen Erzählung vom Sündenfall Adams ,Dialog‘ mit der Sprache als Selbstgespräch charakterisiert, gibt er zu verstehen, dass die Sprache, die unser Bewusstsein konstituiert, zugleich als Werk des Menschen zu begreifen ist. Haufniensis’ kritisch-konstruktiver Umgang mit der religiösen Tradition bildet ein Paradigma der Geschichtlichkeit im Sinne von Climacus’ Philosophischen Brocken (1844): „das Werden kann eine Verdoppelung in sich enthalten, d. h.: eine Möglichkeit des Werdens innerhalb seines eignen Werdens. Hier liegt das Geschichtliche im strengeren Sinne“ (PhB, 72f.). Zu einer „Verdoppelung“ des geschichtlichen „Werdens“ kommt es dann, wenn die Individuen die tradierten Lebensformen, die der Ausbildung ihres eignen Lebensentwurfs zugrunde liegen, nicht einfach reproduzieren, sondern einen Neubeginn im Rahmen der kontinuierlich voranschreitenden Geschichte des Geschlechts erproben. Climacus ordnet dieser „Verdoppelung“ des Werdens einen doppelten Möglichkeitsbegriff zu: „Die Möglichkeit, aus der das Mögliche, welches das Wirkliche ward, hervorgegangen ist, begleitet fort und fort das Gewordene, und bleibt bei dem Vergangenen, und lägen selbst Jahrtausende dazwischen“ (PhB, 82). Unter dem „Mögliche[n], welches das Wirkliche ward“, sind unsere jeweiligen Lebensmöglichkeiten zu verstehen, durch deren Aktualisierung unser Leben Gestalt annimmt. Der Ausbildung dieses Möglichkeitshorizonts liegt laut De omnibus dubitandum est die Sprache zugrunde. Dass Climacus dem sprachlichen Ursprung unserer – mit Haufniensis zu sprechen – „reale[n] Möglichkeit[en]“ einen zweiten Möglichkeitsbegriff zuordnet, entspricht Haufniensis’ Begriff der „idelle[n] Möglichkeit“: Haufniensis’ Reformulierung des Sündenbegriffs zeigt, dass sprachliche Traditionsbestände Potentiale für Neuinterpretationen in sich bergen, die auch in Zukunft „reale“ Möglichkeiten aufschließen können.
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Auf diesem Hintergrund lässt sich Climacus’ Bestimmung des (Selbst-) Bewusstseins als „Widerspruch“ von Idealität und Realität46 zum Begriffspaar „ideale/reale Tätigkeit“ in Fichtes früher Wissenschaftslehre in Beziehung setzen. In De omnibus dubitandum est besteht das Pendant zur Fichteschen „idealen“, d. h. „vorstellende[n]“ Tätigkeit der Einbildungskraft, welche – nach Fichte – durch die Reflexion auf den „Anstoß“ die Zeithorizonte unseres Bewusstseins generiert (FW I, 227 – 230, 294f., s. o. S. 123f.), in der Aktualisierung unserer Fähigkeit zur Reflexion im Zuge des Spracherwerbs, wodurch nach Climacus die „Mçglichkeit“, d. h. der Zukunftshorizont des Bewusstseins, „in Erscheinung tritt“ (PhB, 155). Haufniensis’ Begriff der „reale[n] Möglichkeit“ legt es nahe, den Terminus „reale Tätigkeit“ im Kontext des Begriff Angst und der Climacus-Schriften auf das bewusste Ergreifen von Handlungs- bzw. Lebensmöglichkeiten zu applizieren. Bestimmt man die Begriffe „ideale“ und „reale Tätigkeit“ in Hinblick auf diese Kierkegaardschen Texte in dieser Weise, ist ihr Fundierungsverhältnis demjenigen ihrer Fichteschen Gegenstücke allerdings genau entgegengesetzt: Während die „ideale“ Tätigkeit im Sinne Fichtes aus einer Reflexion auf die – ihr zugrundeliegende – „reale“ entspringt, setzt die Aktualisierung „reale[r]“ Möglichkeiten im Sinne Haufniensis’ die „ideale“ Tätigkeit des Aufbaus eines Zukunftshorizonts im Zuge des Spracherwerbs voraus. Ob eine so verstandene „ideale“ Tätigkeit nicht wiederum in der „realen Tätigkeit“ im Sinne Fichtes fundiert sein muss, bleibt im Begriff Angst und den Climacus-Schriften offen. Haufniensis’ – im Begriff Angst nicht näher ausgeführtes – Programm, Fichtes frühe Wissenschaftslehre für die Analyse des konkreten Selbstbewusstseins handelnder Personen fruchtbar zu machen (s. o. Abschnitt 2.2), lässt sich somit anhand von De omnibus dubitandum est rekonstruieren. Der entscheidende Schritt, den Climacus und Haufniensis (mit seiner Umdeutung der Figur Adams) mit Fichte über Fichte hinaus tun, besteht in der – in Fichtes Theorem der Aufforderung bereits anvisierten – These, dass das Selbstbewusstsein sprachlich konstituiert ist. In Bezug auf Fichte ergibt sich hieraus die Aufgabe, das Theorem der Aufforderung in die Analyse des Verhältnisses von idealer und realer Tätigkeit in der Wissenschaftslehre von 1794/95 zu integrieren. Axel Honneth hat den Verdacht geäußert, deren
46 „Die Unmittelbarkeit ist die Realität, die Sprache ist die Idealität, das Bewußtsein ist der Widerspruch.“ (PhB, 155)
Selbstbewusstsein und Intersubjektivität bei Fichte und Kierkegaard
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Ansatz werde durch das Theorem der Aufforderung „gesprengt“.47 Honneth geht zwar von der unzutreffenden Annahme aus, dass Fichtes absolutes Ich mit dem Selbstbewusstsein zusammenfällt;48 es bleibt jedoch zu klären, ob bzw. wie die These der Wissenschaftslehre von 1794/95, die ,Geschichte des Selbstbewusstseins‘ beginne mit dem Anstoß, durch den das Ich mit etwas Fremdartigem konfrontiert werde, das ihm „zuwider“ sei (FW I, 272),49 damit zu vereinbaren ist, dass sich gemäß der Grundlage des Naturrechts und dem System der Sittenlehre unser konkretes Selbstbewusstsein erst vermittels der Aufforderung zu freier Selbsttätigkeit, durch die wir uns „als frei gegeben“ werden, ausbildet (FW IV, 220). Kierkegaards Auseinandersetzung mit Fichtes Analyse des Verhältnisses von Selbstbewusstsein und Intersubjektivität mündet damit in eine offene Frage ein.
47 Honneth „Die transzendentale Notwendigkeit von Intersubjektivität“ in Fichte „Grundlage des Naturrechts“, hrsg. von Jean Christophe Merle (Klassiker auslegen, Bd. 34), Berlin 2001, S. 63 – 80, hier S. 63f. 48 Vgl. Honneth „Die transzendentale Notwendigkeit von Intersubjektivität“, S. 70f. 49 Vgl. Claesges Geschichte des Selbstbewusstseins (s. Anm. 4), S. 101.
Von Fichtes Ich zu Kierkegaards Selbst? Kontinuität und Bruch Von Richard B. Purkarthofer Das 20. Jahrhundert und teils auch noch unsere eigene Zeit wurde geprägt durch Ideen und Vorstellungen, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts entwickelt und formuliert wurden. Um nur einige, und vielleicht nicht die aktuellsten, zu nennen: Tiefenpsychologie – entdeckt und erkundet von den Romantikern und von Freud formalisiert – Entfremdung, Selbstentfremdung, Emanzipation, Sozialismus, Kommunismus, Ideologie, Umwelt. Alle diese Ausdrücke wurden eingeführt oder erhielten die Bedeutung, die ihnen heute noch zukommt, während der Romantik oder in den philosophischen Diskussionen, die Hegels letztem Versuch folgten, eine systematische und durchgängige Beschreibung und Erklärung der Wirklichkeit zu leisten.1 Die Aufgabe der Philosophie, so Hegel, sei es, ihre eigene Zeit zu verstehen. Diese Aufgabe, die Hegel der Philosophie stellte, sollte metaphysisch und begrifflich gelöst werden. Eine Zeit lang sah es durchaus so aus, als ob Hegels Projekt gelungen sei. Im Blick zurück auf Hegels Zeit in Berlin schrieb Rudolf Haym im Jahr 1857: Diese Zeit muß man sich zurückrufen, um zu wissen, was es mit der wirklichen Herrschaft und Geltung eines philosophischen Systems auf sich hat. Jenes Pathos und jene Überzeugtheit der Hegelianer von 1830 muß man sich vergegenwärtigen, welche im vollen, bitteren Ernste die Frage ventilierten, was wohl den ferneren Inhalt der Weltgeschichte bilden werde, nachdem doch in der Hegelschen Philosophie der Weltgeist an sein Ziel, an das Wissen seiner selbst hindurchgedrungen sei.2
Dennoch teilte sich die Hegel’sche Schule in den Jahren zwischen 1835 und 1845 in Rechts- und Linkshegelianer und erfuhr dabei schwerwiegende Veränderungen. Zunächst wurden diese Veränderungen als ein bloßes Weiter- und Ausführen der Hegel’schen Philosophie betrachtet. 1
2
Vgl. Johann Mader Zwischen Hegel und Marx. Zur Verwirklichung der Philosophie, Wien und München: R. Oldenburg 1975, S. 7 – 21. Siehe auch Johann Mader Philosophie in der Revolte. Das Ende des Idealismus im 19. Jahrhundert, Wien: WUVUniversitätsverlag 1993. Rudolf Haym Hegel und seine Zeit, Berlin 1857, S. 4.
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Vereinfachend könnte man sagen, dass die Rechtshegelianer versuchten, die Lehre ihres Meisters auszudifferenzieren und zu tradieren, während die Linkshegelianer eine Verwirklichung der Philosophie im praktischen und das heißt auch politischen Leben anstrebten. Die Umformung der Hegel’schen Philosophie lief jedoch auf ihre Destruktion hinaus, da die Junghegelianer nicht nur ihr grundlegendes Prinzip – den absoluten Geist – sondern auch ihre Methode – die Dialektik – kritisierten. Es sollte sich herausstellen, dass es in den Augen der Junghegelianer gerade der metaphysische und begriffliche Charakter der Hegel’schen Philosophie war, der ihrer Verwirklichung entgegenstand. Für unseren Zusammenhang von Bedeutung ist der Umstand, dass die Junghegelianer in ihren Bemühungen, die Theorie in eine Praxis umzusetzen, auf einige Ideen von Johann Gottlieb Fichte zurückgriffen. Dass und warum dies so war, soll hier kurz skizziert werden. Fichte behauptet in Die Bestimmung des Menschen, „die praktische Vernunft ist die Wurzel aller Vernunft“.3 Die Bedeutung der Praxis für Fichte wird in dieser Schrift zusätzlich unterstrichen, wenn er schreibt: Nicht blosses Wissen, sondern nach deinem Wissen Thun ist deine Bestimmung: so ertönt es laut im Innersten meiner Seele, sobald ich nur einen Augenblick mich sammle und auf mich selbst merke. Nicht zum müssigen Beschauen und Betrachten deiner selbst, oder zum Brüten über andächtigen Empfindungen, – nein, zum Handeln bist du da; dein Handeln und allein dein Handeln bestimmt deinen Werth.4
Für Kierkegaard, der dieses Buch bereits 1835 gelesen hat,5 müsste dies interessant gewesen sein, wenn man an seine Kritik der distanzierten ästhetischen Betrachtung denkt, die er als charakteristisch für das Christentum des Bischofs Mynster hielt. Kierkegaard hätte vermutlich Fichtes späterer Behauptung in Die Grundzge des gegenwrtigen Zeitalters weniger beigepflichtet, die – zusammen mit den beiden vorhergehenden Zitaten – als eine Art Programm der Junghegelianer betrachtet werden könnte: 3 4 5
J.G. Fichte Die Bestimmung des Menschen, 1800, FW II, 263. J.G. Fichte Die Bestimmung des Menschen, Drittes Buch, „Glaube“, FW II, 263. Die frühen Aufzeichnungen Kierkegaards, die sich auf J.G. Fichte beziehen, sind behandelt in Emanuel Hirsch Kierkegaard-Studien, Bd. I-II, Gütersloh: C. Bertelsmann 1933, Bd. II, S. 471 – 477 (der fortlaufenden Paginierung). Die Stellen, in denen sich Kierkegaard namentlich auf Fichte bezieht, sind übersichtlich zusammengestellt bei W. v. Kloeden „Søren Kierkegaard und J.G. Fichte“ in Kierkegaard and Speculative Idealism, S. 114 – 143, in Bibliotheca Kierkegaardiana, hrsg. von Niels Thulstrup und Marie Mikulová Thulstrup, Bd. 1 – 16, Kopenhagen: C.A. Reitzel 1978ff.; Bd. 4, 1979.
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der Zweck des Erdenlebens der Menschheit ist der, dass sie in demselben alle ihre Verhältnisse mit Freiheit nach der Vernunft einrichte.6
Diese Fichte’schen Ideen klingen in einem Brief Ludwig Feuerbachs an Hegel vom November 1828 an, in dem er über die „Verwirklichung und Verweltlichung der Idee“ schreibt. Gefordert wird darin auch die Alleinherrschaft der Vernunft im noch zu stiftenden Reich der Idee. Dieses Reich der Idee solle jedoch nicht vermittels der Hegel’schen Versöhnung von Christentum und Vernunft – also durch einen dialektischen Prozess, der die Gegensätze nicht vernichtet, sondern sie in eine Einheit auf einem höheren Niveau aufhebt – zustande gebracht werden. Im Gegenteil, wie Feuerbach schreibt, komme es jetzt nicht auf eine Entwicklung der Begriffe in der Form ihrer Allgemeinheit […], sondern darauf an, die bisher weltgeschichtlichen Anschauungsweisen von Zeit, Tod, Diesseits, Jenseits, Ich, Individuum, Person und der außer der Endlichkeit im Absoluten und als absolut angeschauten Person, nämlich Gott usw., in welchen der Grund der bisherigen Geschichte und auch der Quelle des Systems der christlichen […] Vorstellungen enthalten ist, wahrhaft zu vernichten […].7
Interessant ist hierbei, dass Feuerbach nicht nur Fichtes praktischen Absichten folgt, sondern auch auf eine Dialektik zurückgreift, die für Fichte charakteristisch ist, und – im Gegensatz zur absoluten Dialektik Hegels – als „antithetische Dialektik“ bezeichnet werden kann. Damit sei hier Fichtes antithetisch-synthetisches Verfahren gemeint, das im Gegensatz zu Hegels Dialektik der Versöhnung und Vermittlung steht. Soviel zu Feuerbachs praktischer Absicht und Methode. Was das Prinzip angeht, schreibt Feuerbach 1839: Der Gegensatz zur Hegelschen Philosophie hat aber im Ganzen zu seiner Grundlage kein anderes Prinzip als das Prinzip der Subjektivität, welches in seiner ganzen Energie und einer vollendetsten wissenschaftlichen Form sich in Fichte verwirklicht hat.8
Später wird Feuerbach jedoch dieses Fichte’sche Prinzip der Subjektivität, das als formale Struktur von Selbstbewusstsein oder als epistemologischtranszendentales Prinzip zu verstehen ist, in einen empirischen Ausdruck umdeuten: „Nur der Mensch ist der Grund und Boden des Fichteschen 6 7 8
J.G. Fichte Die Grundzge des gegenwrtigen Zeitalters. Dargestellt von Johann Gottlieb Fichte in Vorlesungen, gehalten zu Berlin, im Jahre 1804 – 1805, FW VII, S. 7. Briefe von und an Hegel, hrsg. von J. Hoffmeister, Hamburg 1969, Bd. III, S. 244ff. L. Feuerbach Smtliche Werke, Bd. 1 – 13, hrsg. von W. Bolin und F. Jodl, Stuttgart 1959; Bd. 2, S. 147.
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Ichs […]“.9 Der Rückgriff auf Fichte’sche Ideen zeigt sich auch in Bruno Bauers anonym erschienen Die Posaune des jngsten Gerichts ber Hegel, den Atheisten und Antichristen (1841): Das Ich ist die wahrhafte Substanz, die offenbar gewordene und aufgehobene „Substanz“, es ist als Selbstbewußtsein die „unendliche Macht“, es ist ,der unendliche Stoff’ alles geistigen und natürlichen Lebens, so wie die unendliche Form, die Betätigung dieses Inhalts.10
Laut Karl Marx hat Bruno Bauer mit dieser Deutung von Hegels absolutem Geist als das absolute Selbstbewußtsein und dieses als alleinige Wirklichkeit „Hegel auf Fichteschen Standpunkt […] ,konsequent’ durch[geführt]“.11 Das Primat der praktischen Handlung, die Methode der antithetischen Dialektik und das Ich bzw. die Fichte’sche Subjektivität als Prinzip sind auch für August von Cieskowski, Moses Heß und Max Stirner von entscheidender Bedeutung, worauf hier aber nicht weiter eingegangen werden kann. Mit dieser knappen Skizzierung sei natürlich nicht behauptet, dass die Entwicklung des Nach-Hegel’schen Denkens einer „inneren, sachlichen, logischen Notwendigkeit“ folge, wie dies Richard Kroner für jene von Kant bis Hegel statuiert hat.12 Dass es jedoch durchaus lohnt, Kierkegaard – trotz aller Unterschiede – im Kontext der Junghegelianer zu betrachten, was das Primat der Praxis, das Prinzip der Subjektivität sowie den Rückgriff auf eine „antithetische Dialektik“ betrifft, sollte aus diesen einleitenden Bemerkungen deutlich werden. Weiters erhellt das Aufzeigen dieser Tendenzen auch, warum Kierkegaard immer wieder in die Nähe Fichtes gerückt wird. Zuletzt von David Kangas, der – wenn auch vorsichtig – festhält: „Fichte may very well be the most overlooked resource for
9 L. Feuerbach Vorlufige Thesen zur Reform der Philosophie in Smtliche Werke, op. cit., Bd. 2, S. 214. 10 Bruno Bauer Die Posaune des jngsten Gerichts ber Hegel den Atheisten und Antichristen. Ein Ultimatum, Leipzig 1841 (zitiert nach K. Löwith Die Hegelsche Linke, Stuttgart 1962, S. 169). 11 Friedrich Engels/Karl Marx Die heilige Familie, in Marx, Werke, hrsg. von HansJoachim Lieber, 6 Bde., Darmstadt 1960 – 71, Bd. I, S. 838. 12 Richard Kroner Von Kant bis Hegel, Tübingen 1961 (1921 – 24), „Vorwort zur 2. Auflage“, S. V. Gegen eine Eingemeindung Fichtes in diese von Kroner hervorgehobene Entwicklung und für ein differenzierteres Verständnis von Fichtes Bedeutung vgl. Ulrich Claesges Geschichte des Selbstbewusstseins. Der Ursprung des spekulativen Problems in Fichtes Wissenschaftslehre von 1794 – 95, Den Haag 1974.
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Kierkegaard’s thought.“13 Ähnlich, wenn auch auf eine engere Textauswahl beschränkt, argumentiert Michelle Kosch dafür, dass „Fichte rather than Kant or Hegel (or some amalgam of the two) was the primary model for the ethical standpoint described in Kierkegaard’s Either/Or II.“14 Im Folgenden werde ich zu zeigen versuchen, inwieweit eine solche Zusammenstellung sinnvoll ist. Was das Primat der Praxis betrifft, ist die Nähe der beiden Denker offensichtlich.15 Schwieriger zu bestimmen ist, wie sich die Methoden der beiden Denker zueinander verhalten. Im Folgenden beschränke ich mich auf einige Bemerkungen, die die „Dialektik“ der beiden betreffen. Zumindest für den Fichte der Wissenschaftslehre von 1794 gilt, dass der Widerspruch des Ich, das sich selbst im Gegensatz zum Nicht-Ich setzt, letztlich das Ganze der Wirklichkeit hervorbringt. Dies gilt nicht nur für das transzendentale Ich, sondern auch für die Kategorien der Wirklichkeit sowie für das empirische Ich. Der Anstoß für das transzendentale Ich in seinem Gegensatz zum Nicht-Ich soll durch das, was Fichte die produktive Einbildungskraft nennt, diese Wirklichkeit hervorbringen. Um unendlich produktiv zu sein, darf die Entgegensetzung zwischen Ich und Nicht-Ich, zwischen der ins Unendliche zielenden Tätigkeit des Ich und der Endlichkeit jedoch niemals gänzlich vermittelt werden, auch wenn dabei ständig neue Mittelglieder aufgefunden werden. Nur dadurch kann ein unendliches Streben aufrechterhalten werden. Dieses „unendliche Streben“, das für Kierkegaard ebenso eine zentrale Rolle spielt, wird von ihm aber anders verstanden. Deutlich wird dies in seinen ausführlichsten und kohärentesten Bemerkungen zu Fichte in der akademischen Qualifikationsschrift ber den Begriff der Ironie (1841) am Anfang des Abschnitts „Die Ironie nach Fichte“.16 Darin folgt Kierkegaard Hegels Kritik an Fichte, der behauptet, dass Fichte aufgrund seiner Dialektik unvermittelbarer Begriffe niemals über diesen
13 David J. Kangas „J. G. Fichte: From Transcendental Ego to Existence“ in Jon Stewart (hrsg.) Kierkegaard and His German Contemporaries, Tome I: Philosophy, Ashgate: Aldershot 2007, S. 68 (Kierkegaard Research: Sources, Reception and Resources, Bd. 6). 14 Michelle Kosch „Kierkegaard’s Ethicist: Fichte’s Role in Kierkegaard’s Construction of the Ethical Standpoint“ in Archiv fr Geschichte der Philosophie, 88, 2006, S. 261 – 295; S. 261. 15 Vgl. das zu Anm. 3 Gesagte. 16 BI, 277 – 299; die sich auf Fichte beziehenden Stellen auf S. 277 – 281 / SKS 1, 308 – 321, bes. 308 – 312.
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unendlichen Anstoß und das Sollen hinausgelange.17 Mit Bezug auf die Vermittlung von Ich und Nich-Ich bzw. Endlichkeit und Unendlichkeit schreibt Kierkegaard: Aber diese Unendlichkeit des Denkens bei Fichte ist wie alle Unendlichkeit Fichtes eine negative Unendlichkeit (seine moralische Unendlichkeit ist fortwährendes Streben um des Strebens willen; seine ästhetische Unendlichkeit ist fortwährendes Hervorbringen um dieses Hervorbringens selber willen. Gottes Unendlichkeit ist fortwährende Entwicklung um der Entwicklung willen), d. h. sie ist eine Unendlichkeit, in der keine Endlichkeit ist, eine Unendlichkeit ohne allen Inhalt. Indem Fichte dergestalt das Ich verunendlichte, machte er einen Idealismus geltend, in Beziehung auf den alle Wirklichkeit verblich, einen Akosmismus […]. Bei Fichte wurde das Denken verunendlicht, die Subjektivität wurde die unendliche, absolute Negativität, die unendliche Spannung, der unendliche Trieb. […] anstelle des positven Strebens, d. h. der Seligkeit, erhielt er negatives Streben, d. h. ein Sollen.18
Kierkegaard operiert hier mit zwei Unendlichkeitsbegriffen; mit einer negativen Unendlichkeit, die auf der Produktivität der Entgegensetzung, der „antithetischen Dialektik“ zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit basiert, und einer positiven, bei der das durch sie bewirkte Streben zur Ruhe kommt, Inhalt gewinnt. Diese – indirekt – von Hegel inspirierte Fichte-Kritik wird nuanciert, nachdem Kierkegaard seine Haltung ge17 Mehrere Interpreten haben darauf hingewiesen, dass zentrale Aspekte sowohl der Darstellung als auch der Kritik Kierkegaards auf Hegels Wissenschaft der Logik und die Vorlesungen ber die Geschichte der Philosophie zurückgeführt werden können. Vgl. dazu Georg Wilhelm Friedrich Hegel Smtliche Werke. Jubilumsausgabe in zwanzig Bnden, Stuttgart 1927 – 40, Bd. 4, S. 104ff., 156ff., 282ff. bzw. Bd. 19, 640 – 642. Darauf hatte bereits E. Hirsch hingewiesen, und auch Lee M. Capel hat in seinen Anmerkungen zu seiner Übersetzung von The Concept of Irony, London: Collins 1966, S. 418 darauf verwiesen. David Kangas folgt dieser Auffassung in „J.G. Fichte: From Transcendental Ego to Existence“ (s. Anm. 13), S. 71 – 73. Diese Interpreten sind sich jedoch nicht darüber im Klaren, dass sich beinahe alle Aussagen über Fichte zu Beginn des Abschnittes kohärenter auf die Mitschrift zu H.L. Martensens Vorlesungen „Die Geschichte der Philosophie von Kant bis Hegel“ (Wintersemester 1838/39) zurückführen lassen, die Kierkegaard als Manuskript – wenn auch nicht in seiner eigenen Handschrift – besaß (herausgegeben in Pap. II C 25 (Pap. Bd. XII, S. 280 – 331; über Fichte siehe S. 294 – 301). Mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit bildete diese Vorlesungsmitschrift die Grundlage für Kierkegaards Vorbereitung auf das Examen theologicum, das er am 3. Juli 1840 ablegte. Die Frage zu Kants und Fichtes Auffassung der Moral wurde zur Zufriedenheit des Prüfers C. T. Engelstoft beantwortet, wie aus seiner Bemerkung „resp[pondit]“ im Protokoll hervorgeht; Breve og Aktstykker vedrørende Søren Kierkegaard, hrsg. v. Niels Thulstrup, Bd. I-II, Kopenhagen 1953 – 54, Bd. I, S. 10. 18 S. Kierkegaard ber den Begriff der Ironie, BI, 278.
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genüber Hegel geändert hatte. Deutlich wird das in der Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift, wo das Pseudonym Johannes Climacus Existenz definiert: Was aber ist Existenz? Das ist jenes Kind, das vom Unendlichen und Endlichen, vom Ewigen und Zeitlichen erzeugt und daher beständig strebend ist. Dies war des Sokrates Meinung: Daher ist die Liebe beständig strebend, d. h. das denkende Subjekt ist existierend. Nur Systematiker und die Objektiven haben aufgehört, Menschen zu sein, und sind die Spekulation geworden, die im reinen Sein zu Hause ist. Das Sokratische soll natürlich nicht endlich verstanden werden als von einem fortgesetzten und unaufhörlichen Streben nach einem Ziele, ohne es zu erreichen.19
Hier wird unter dem Stichwort „reines Sein“ die Hegel’sche Dialektik abgewiesen, derzufolge es bereits im Endlichen möglich ist, über sich hinaus und im Unendlichen schlechthin bei sich zu sein. Das wäre – zumindest in Kierkegaards Verständnis – das Ende der Bewegung und des Strebens, durch das die Existenz gekennzeichnet ist. Diese Art von Vermittlung ignoriere den Unterschied zwischen konträren und kontradiktorischen Gegensätzen. Climacus hält am antithetischen Charakter des Widerspruchs zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit fest – und ist damit ganz in Übereinstimmung mit Fichte, der gerade darin den Grund für das Streben findet. Wenn Climacus allerdings das drohende Missverständnis abwehrt, dieses Streben als eines aufzufassen, das niemals sein Ziel erreicht, scheint er die kritisch gegen Fichte gerichtete Unterscheidung zwischen positivem und negativem Streben in ber den Begriff der Ironie im Blick zu haben. Für Fichte ist die Einheit der Entgegensetzung der prinzipiell unerreichbare Zielpunkt allen Strebens. Für Climacus ist diese Einheit grundsätzlich erreichbar – jedoch nicht für jemanden, der existiert. Diese Mittelstellung zwischen Fichte und Hegel, was die Auffassung der Dialektik betrifft, ist nicht nur für die Climacus-Schriften charakteristisch; man findet sie in allen genera dicendi Kierkegaards, denen er sich nach der Ironie-Schrift bedient. Insofern seine Position in Ablehnung der Hegel’schen Dialektik der Versöhnung entwickelt wurde, kann man darin einen Rückgriff auf Fichtes „antithetische Dialektik“ sehen, muss jedoch auf die Modifikation aufmerksam sein, die darin liegt, dass Kierkegaard die prinzipielle Unerreichbarkeit des Zielpunkts allen Strebens, so wie Fichte sie vertritt, nicht akzeptiert. Nachdem im vorigen Abschnitt einige Aspekte der dialektischen Methode beleuchtet wurden, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede in 19 S. Kierkegaard Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift, UN I, 85.
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den Positionen Fichtes und Kierkegaards hervorzuheben, soll im folgenden Abschnitt der Frage nach dem Prinzip der Subjektivität nachgegangen werden. Es bietet sich dabei an, die konziseste Bestimmung des Selbst in dem unter dem Pseudonym Anti-Climacus erschienenen Werk Die Krankheit zum Tode als Ausgangspunkt zu wählen und sie mit dem Sichselbst-setzenden Ich Fichtes in einem entscheidenden Punkt zu vergleichen. Der Mensch ist Geist. Was aber ist Geist? Geist ist das Selbst. Was aber ist das Selbst? Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, oder ist das an dem Verhältnisse, daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält; das Selbst ist nicht das Verhältnis, sondern daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält. Der Mensch ist eine Synthesis von Unendlichkeit und Endlichkeit, von dem Zeitlichen und dem Ewigen, von Freiheit und Notwendigkeit, kurz eine Synthesis. […] Ein solches Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, ein Selbst, muß entweder sich selbst gesetzt haben, oder durch ein Andres gesetzt sein. Ist das Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, durch ein Andres gesetzt, so ist das Verhältnis freilich das Dritte, aber dies Verhältnis, dies Dritte ist dann doch wiederum ein Verhältnis, verhält sich zu demjenigen, welches das ganze Verhältnis gesetzt hat.20
Anti-Climacus versucht hier die Frage zu beantworten, was ein Mensch ist. Es ist notwendig darauf hinzuweisen, dass er damit beginnt, den Menschen als Geist zu definieren. Üblicherweise konzentriert man sich auf die weitere Explikation des Menschen, nämlich auf das Selbst, und zwar verstanden als Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält. Damit umgeht man einerseits die theologischen Implikationen, die der Ausdruck „Geist“ mit sich bringt, andererseits vermeidet man einige der Probleme, die einer Metaphysik der Substanz anhaften. Somit kann das Selbst als ein relationales Selbst interpretiert werden, d. h. als ein „pattern“ bzw. Schema, das mit Beziehungen zwischen Entitäten zu tun hat, die selbst wiederum auch keine Substanzen sind. Gleichzeitig erlaubt die Betonung „daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält“, ein prozessuales Verständnis des Selbst. Demnach haben Menschen keine statische Identität, sondern Identität ist ein „pattern“, das nur durch eine Kybernetik zweiter Ordnung adäquat beschrieben werden kann, d. h. durch eine Theorie von Systemen, deren Dynamik sowohl von den Ausgangsbedingungen als auch von Rückkoppelungsprozessen abhängig ist. Die Beschreibung des Menschen als relationales, prozessuales – und von daher zeitliches – und selbstreferentielles Selbst ist anschlussfähig für System- und Identitätstheorien neueren Zuschnitts und deshalb besonders attraktiv. Dennoch muss die Reihenfolge, in der Anti-Climacus 20 S. Kierkegaard Die Krankheit zum Tode, KT, 8f.
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seine Bestimmung des Menschen sukzessive expliziert, ernst genommen werden, und zwar nicht bloß aus formalen Gründen, sondern auch aus einem inhaltlichen, der zudem hilft, auf einen entscheidenden Unterschied zwischen Fichtes Ich und Kierkegaards Selbst hinzuweisen. Der Ausdruck „Geist“ muss hier zumindest unter drei Aspekten betrachtet werden: 1) Geist als Korrelat zur Natur. 2) Geist als anthropologischer bzw. philosophischer Ausdruck: Menschen sind Wesen, die Logos haben. 3) Geist als theologischer oder spiritueller Ausdruck. Im Hinblick auf letzteren Aspekt sind einige Bemerkungen angebracht, die für den gegebenen Zusammenhang wichtig sind. „Geist“ als semantisches Konglomerat hat unter anderem Elemente aus dem mythischen Denken, aus der hebräischen Bibel, dem Neuen Testament, der griechischen Philosophie und dem Neuplatonismus aufgenommen. Es mag den „Lebensatem“ bezeichnen – hebr. Ruah ist das, was den Menschen belebt, eine lebensspendende Kraft. Ruah wird in der hebräischen Bibel mit der Schöpfung, besonders mit der Schöpfung alles Lebendigen verbunden. Gott gibt den „Lebensatem“ allem, was lebt. Als „Hauch des Mundes“ mag Ruah auch „das Wort/den Logos“ bezeichnen. In der Schöpfung wird etwas ins Sein und Leben gerufen. In Genesis 1,26 – 27 heißt es: „Dann sprach Gott: Laßt uns Menschen machen als unser Abbild, uns ähnlich (ad imaginem et similitudinem nostram) […] Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes (ad imaginem suam ad imaginem Dei) schuf er ihn.“ Wie diese Schöpfung zu denken ist, wird in Genesis 2,7 erwähnt: „Da formte Gott, der Herr, den Menschen aus Erde vom Ackerboden und blies in seine Nase den Lebensatem. So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen.“ Geist bezieht sich also auf die Geschöpflichkeit des Menschen. Im Pneuma ist der Mensch eine imago dei. Durch Pneuma haben Menschen einerseits an der Kreativität der Gottheit teil, werden andererseits aber auch als Geschöpfe gezeichnet. Letzterer Aspekt wird betont, wenn Anti-Climacus im obigen Zitat vom Verhältnis spricht, das „sich zu demjenigen verhält, welches das ganze Verhältnis gesetzt hat“. Dieser pneumatologische Aspekt in der Bestimmung des Selbst ist für eine moderne Auslegung natürlich weniger anschlussfähig als jene, die das Selbst als relational, prozessual und selbstreferentiell versteht, kann aber weder in Anti-Climacus’ Krankheit zum Tode noch in Kierkegaards Œuvre in toto unterschlagen werden. Um das Verhältnis von Fichte und Kierkegaard zu erhellen, ist die Frage nach der Geschöpflichkeit des Menschen von entscheidender Bedeutung, da sich dabei gravierende Unterschiede zwischen dem Ich Fichtes und dem Selbst Kierkegaards abzeichnen. Anti-
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Climacus verwendet nicht nur die Ausdrücke „Synthese“ und „sich selbst gesetzt“ haben, die vage an Fichte’sche Konzepte erinnern, sondern bietet zunächst eine Alternative an, die Fichtes Standpunkt Raum geben würde: „ein Selbst muß entweder sich selbst gesetzt haben, oder durch ein Andres gesetzt sein“. Charakteristisch für Fichtes Ich ist ja nachgerade die erste Alternative: dass es sich schlechthin setzt als sich setzend, das macht das Ich zum Ich und dieses Ich baut sich – vermittels der produktiven Einbildungskraft – die Welt auf. Ein durch ein Anderes gesetztes Ich ist in Fichtes Denken kein Ich mehr. In seinem frühen Werk Versuch einer Kritik aller Offenbarung (1792) mag Gott noch als Schöpfer betrachtet sein, insofern er – trotz der menschlichen Autonomie – als Urheber unseres Bewusstseins vom Sittengesetz gedacht ist. Aber diese Position verlässt Fichte schon bald. In der Zweiten Einleitung in die Wissenschaftslehre (1797) heisst es vom endlichen Ich: „ich habe das Leben in mir selbst, und nehme es aus mir selbst“.21 Dass Anti-Climacus die Möglichkeit einräumt, dass sich die Synthese selbst gesetzt hat, mag auf Fichtes Ich gemünzt sein. Im Abschnitt „Die Verzweiflung der Unendlichkeit ist, der Endlichkeit zu ermangeln“ hebt er die Rolle der Phantasie – also das, was Fichte Einbildungskraft nennt – hervor. Anti-Climacus bezeichnet die Phantasie als „Vermögen instar omnium“ und lenkt damit schon den Gedanken auf Fichte, der der Einbildungskraft philosophische Dignität verschafft hat. Vielleicht unter Anspielung auf das zum Bonmot gewordene Fichte’sche Wort: „was für eine Philosophie man wähle, hängt sonach davon ab, was man für ein Mensch ist“,22 fährt Anti-Climacus fort: Was für ein Gefühl, eine Erkenntnis, einen Willen ein Mensch hat, beruht zu allerletzt doch darauf, was für eine Phantasie er hat, das will heißen, darauf, wie sie sich reflektieren, d.i. auf der Phantasie. Die Phantasie ist die unendlichmachende Reflexion, weshalb der alte Fichte durchaus mit Recht annnahm, sogar mit Bezug auf die Erkenntnis, daß die Phantasie der Ursprung der Kategorien sei.23
Man mag darin durchaus eine Hommage an Fichte sehen, wie es etwa Emanuel Hirsch tat.24 Es darf dabei aber nicht der Unterschied zwischen 21 22 23 24
FW I, 466. J. G. Fichte „Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre“, FW I, S. 434. S. Kierkegaard Die Krankheit zum Tode, KT, 27. In Hirschs Anmerkung zu dieser Stelle heißt es: „Die Lehre von der produktiven Einbildungskraft als dem Ursprung der ganzen Welt der Erkenntnis ist von Joh. Gottl. Fichte in seiner Wissenschaftslehre von 1794/5 entwickelt und bis ins einzelne durchgeführt worden. Kierkegaard stattet mit dieser Erwähnung des berühmtesten und bedeutendsten Moments in Fichtes Erkenntnislehre den Dank
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den beiden Denkern übersehen werden. Dass die Einbildungskraft der Ursprung der Kategorien ist, bedeutet für Fichte im Rahmen der Wissenschaftslehre, dass die Denkformen (Kategorien) nicht nur die Erkenntnis von Objekten ermöglichen, sondern dass sie zugleich die Bedingung der Möglichkeit von Objekten überhaupt sind, und zwar auf dem Boden der Einbildungskraft. Anti-Climacus hebt die Bedeutung der Phantasie ebenso stark hervor, jedoch nicht, wie es bei Fichtes produktiver Einbildungskraft der Fall ist, als Ursprung des Ganzen der Wirklichkeit, sondern als Möglichkeit, sich zum Ursprung der Wirklichkeit zu verhalten. Für Anti-Climacus ist die Phantasie also auch die Bedingung der Möglichkeit, sich zu sich selbst zu verhalten und insofern auch die Bedingung der Möglichkeit, sich zu sich selbst verkehrt zu verhalten. Deshalb stellt Anti-Climacus in dem Abschnitt, in dem er sich auf Fichtes Konzept der Phantasie bezieht, dieser auch „das Phantastische“ als jene Form der Verzweiflung (= sich verkehrt zu sich zu verhalten) an die Seite, die der Endlichkeit ermangelt. Endlichkeit heißt für Anti-Climacus: dieses konkrete Selbst, das man ist. Sich zu diesem konkreten Selbst verkehrt zu verhalten setzt voraus, dass man sich richtig dazu verhalten kann. AntiClimacus drückt das so aus: „wäre die Synthesis nicht ursprünglich, so wie sie aus Gottes Hand kommt, in dem rechten Verhältnis, so könnte er [der Mensch] gleichfalls nicht verzweifeln“.25 Damit unterstreicht er, dass das Selbst ursprünglich geschaffen ist, d. h. dass es sich nicht selbst gesetzt hat. Hätte es sich selbst gesetzt, könnte es sich nicht verfehlen. Wenn AntiClimacus also schreibt: „ein Selbst muß entweder sich selbst gesetzt haben, oder durch ein Andres gesetzt sein“, räumt er zunächst die Möglichkeit des Fichte’schen Standpunktes des sich selbst setzenden Ichs ein, subsumiert diesen Standpunkt dann aber als phantastische Form der Verzweiflung, die ab, den er Fichte für seine eigene Lehre vom Selbst schuldet.“, KT, 171, Anm. 20. Weder Hirsch noch irgendein späterer Interpret ist darauf aufmerksam geworden, dass der Satz, auf den sich die Anmerkung bezieht, ein von Kierkegaard übersetztes Zitat aus Trendelenburgs Geschichte der Kategorienlehre. Zwei Abhandlungen, Berlin 1846, im Abschnitt „Fichte“, S. 297 – 313, ist, wo es S. 308 heißt: „Insofern traf Fichte das Rechte, wenn er den Ursprung der Kategorien in der Einbildungskraft suchte.“ Also fällt auch diese Stelle als Beleg für eine direkte Beschäftigung Kierkegaards mit Fichte weg, wie dies noch David Kangas als „quite likely“ und „quite probable“ nahe legt ( J. G. Fichte: From Transcendental Ego to Existance (s. Anm. 13), S. 75). Richtig ist vielmehr, dass Kierkegaard hier aus Trendelenburgs Darstellung zitiert, die in diesem Punkt auf Fichtes Grundriss des Eigenthmlichen der Wissenschaftslehre (FW I, 387) beruht. Auch der Kommentar zur Stelle in SKS K11, 191 verkennt den Zitatcharakter. 25 S. Kierkegaard Die Krankheit zum Tode, KT, 11.
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die Endlichkeit des Selbst, und zwar im Sinne eines konkreten Geschöpfes, aus dem Blick verliert. Eine Bestätigung für diese Deutung findet man einerseits bereits in einer Bemerkung in einer Journalaufzeichnung aus dem Jahr 1836, wo es lapidar heißt: „Fichte warf in der Verzweiflung den empirischen Ballast über Bord und kenterte.“26 und andererseits in ber den Begriff der Ironie, wo Kierkegaard von Fichte behauptet, „er verunendlichte das Ich im Ich-Ich. […] Aber diese Unendlichkeit des Denkens bei Fichte ist wie alle Unendlichkeit Fichtes eine negative Unendlichkeit […] d. h. sie ist eine Unendlichkeit, in der keine Endlichkeit ist, eine Unendlichkeit ohne allen Inhalt.“27 Ihre argumentative Stringenz erhalten diese Stellen allerdings erst durch die Rekonstruktion der Passage in der Krankheit zum Tode, die mit aller Deutlichkeit den entscheidenden Unterschied zwischen Fichtes Ich und Kierkegaards Selbst herausstellt. Die eingangs skizzierte Entwicklung der Philosophie nach Hegel macht verständlich, warum Kierkegaard immer wieder mit Johann Gottlieb Fichte in Zusammenhang gebracht wird. Sowohl was das Primat der Praxis, die Absicht der Verwirklichung der Philosophie, die Methode der „antithetischen Dialektik“ sowie das Prinzip der Subjektivität betrifft, lässt sich in der Nach-Hegel’schen Philosophie ein Rückgriff auf Fichte feststellen. In diese Entwicklung lässt sich Kierkegaard durchaus einordnen, auch wenn bezüglich der beiden letztgenannten Themen auf wesentliche Unterschiede im Verhältnis zu Fichte aufmerksam zu machen war. Nicht behandelt wurde hier die Entwicklung der Romantik, die ja einerseits wesentliche Anregungen durch Fichte empfing, anderseits lebhaft durch Kierkegaard rezipiert wurde und insoferne für die Beurteilung des Verhältnisses der beiden Denker zueinander aufschlussreich sein dürfte. Was die Bedeutung Fichtes für die Romantik betrifft, kommt Joseph Freiherr von Eichendorff, ein wacher, aber freilich nicht unbefangener Beobachter ihrer Entwicklung, zu einem Ergebnis, das auch für Kierkegaard einige Gültigkeit hätte. In Ueber die ethische und religiçse Bedeutung der neueren romantischen Poesie in Deutschland von 1847 schreibt er: Wir haben bereits […] erwähnt, wie die Reformation in ihrem natürlichen Fortgange jene Bildung auf das emanzipierte Subject gestellt und dadurch in allen ihren Zweigen gründlich alteriert hatte. Fichte’s Anfang in seinem System des absoluten Ichs (1794) bildet nur die Spitze aller wissenschaftlichen 26 Journal FF:27, SKS 18, 81 / DSKE 2, 82. Vgl. dazu die vorhergehende Aufzeichnung FF:26, die einen Übergang zur Fichte-Passage in ber den Begriff der Ironie, BI 278 bildet. 27 S. Kierkegaard ber den Begriff der Ironie, BI, 278.
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Consequenzen der Reformation. Dieses absolute Ich nämlich, unter Negation aller bestehenden Wirklichkeit, produziert, wie anderswo treffend gesagt wird, selbst erst durch einen Act der höchsten Freiheit, durch sein erkennendes Handeln, d. i. durch sein Bewußtsein, die wahre Wirklichkeit, und ist somit sein eigner Gott und Schöpfer der Welt, die nur in diesem Bewußtsein existiert. – Hier aber war in der That der Protestantismus an dem unvermeidlichen Abgrunde angelangt, gegen den kein weiteres Protestieren mehr galt; er mußte sich entweder kopfüber hinabstürzen, oder, wider seine Natur und erträumte Omnipotenz, zu dem ursprünglich Göttlichen über dem Ich wieder zurückkehren.28
Vom philosophischen Standpunkt aus gesehen ist es zweifellos bedenklich, dass auch Kierkegaard zu diesem „ursprünglich Göttlichen über dem Ich wieder zurückkehren“ wollte.
28 Joseph Freiherr von Eichendorff Ueber die ethische und religiçse Bedeutung der neueren romantischen Poesie in Deutschland, Leipzig: Verlag von A.G. Liebeskind 1847, S. 269f.
Sittliche Bewusstwerdung und Sich-Finden des Selbst in Gott bei Fichte und Kierkegaard Von Edith Dsing Zuerst soll eine Stufenfolge von defizient ethischen Einsichten bis hin zur authentisch sittlichen Einsicht erörtert werden, wie sie sich aus Fichtes früher Sittenlehre – und analog aus Kierkegaards Konzept des Verhältnisses von ästhetischem und ethischem Stadium – eruieren lässt. Fichtes und Kierkegaards Ethik sind als produktive Abwandlungen von Kants kategorischem Imperativ zu verstehen, der die unbedingte Verpflichtung des Menschen als Person lehrte. Beide Nachfolger von Kants Ethik suchen eine genetische Aufschließung sittlicher Selbstbewusstwerdung des Ich. Kierkegaards wie Fichtes Ethik verstehen sich im Gefolge Kants u. a. als Widerlegungen des Eudämonismus und Hedonismus. Was bei Kant unterbestimmt ist: die ausdrückliche Fundierung des Sittengesetzes im selbstbewussten Ich, leistet Fichte. Was Kant und Fichte ermangelt: eine Phänomenologie und Psychologie des existierenden subjektiven Geistes, erbringt Kierkegaard. Die Überwindung des Egoismus1 bzw. des Hedonismus2 erfolgt in diesen verfeinerten Theorien durch Einordnung jener Glückslehren in eine niedere Stufe der Genesis des sittlichen Selbst. Außer der frühen Sittenlehre soll (in Teil A) Fichtes späte Anweisung zum seligen Leben untersucht und die fünf darin eröffneten Stufen sittlichreligiösen Daseins als Sinnhorizont für Kierkegaards Lehre von drei 1
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Zur argumentativen Überwindung von Theorien, die den Egoismus als unvermeidlich behaupten, vgl. William K. Frankena Analytische Ethik, übers. und hrsg. von N. Hoerster, München 1972. Der von ihm vertretene Regelutilitarismus, worin das größte Glück der meisten Individuen als Handlungsnorm gefordert wird, vermag aber kaum die Probleme zu lösen, wie Glück allgemein zu definieren ist und wie in den häufigen Konfliktfällen zwischen allgemeinem Wohl und individuell-persönlichem Glück des Handelnden zu entscheiden sei.– Zur prinzipiellen Begründung der Ethik vgl. Klaus Düsing Fundamente der Ethik. Unzeitgemße typologische und subjektivittstheoretische Untersuchungen, Stuttgart-Bad Cannstatt 2005. Zu Kants Widerlegung des Hedonismus s. K. Düsing „Kant und Epikur. Untersuchungen zum Problem der Grundlegung einer Ethik“ in Allgemeine Zeitschrift fr Philosophie 1976, Teil 2, S. 39 – 58.
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Existenzstadien mit zwei Konfinien: Ironie und Humor bestimmt werden (Teil B).
A) Fichte 1) Sittliches Selbstbewusstsein beim frhen Fichte im Horizont Kantischer Reflexionen Der apodiktisch gültige und kategorisch gebietende Grundsatz der Sittlichkeit als Prinzip aller Pflichten lautet nach Fichte: „Handle so, daß du die Maxime deines Willens als ewiges Gesetz für dich denken könnest“! (FAk I/3, 30) 3 Diese Einsicht zu gewinnen und ihr zu folgen, ist selbst Pflicht. Fichte spricht von dem Erhabenen, das in der Vorstellung liegt, dass ich nach den Grundsätzen, nach denen ich gegenwärtig handle, immer handeln werde, „weil ich es immer wollen werde“ (FW VIII, 349). Da der Mensch in sinnlich-vernünftiger Doppelnatur, im stetigen Widerspiel von Naturtrieb und vernünftigem Trieb existiert, heißt der kategorische Imperativ des näheren: Das empirische Ich als Ausführungsorgan von Handlungen soll in verschiedenen Zeithorizonten und Zuständen eine konsistente Einheit in seinen Strebensrichtungen gewinnen. Grundlegend dafür ist eine durchgängige Konsistenz der Maximenbildung des Ich, damit der Wille im Hinblick auf jegliches von ihm Gewollte mit sich selbst zusammenzustimmen vermag. Verantwortlich für die Aufstellung von Maximen als Leitfäden für Zwecksetzungen ist der freie Wille, der, um sittlich zu sein, in einem gesetzmäßige Identität wahrenden Selbstverhältnis stehen muss. Für Fichte ist die höchste Bestimmung endlicher vernünftiger Wesen die „absolute Einigkeit, stete Identität, völlige Übereinstimmung mit sich selbst. Diese absolute Identität ist die Form des reinen Ich“ (FAk I/3, 30). Fichtes Systematik ist: Das praktische Mit-sichEinigsein des Willens, also der Nichtwiderspruch oder die Identität sittlichen Wollens – wodurch das gute Wollen als solches charakterisiert ist – enthält als logisch-notwendigen Bestandteil den Gedanken der IchIdentität des absoluten Ich, wie ihn Fichte im ersten Grundsatz der Wis-
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Fichte wird zitiert nach der Ausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften als FAk I/1 – IV/4 und nach der von I. H. Fichte besorgten Ausgabe: FW I-XI.
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senschaftslehre von 1794/95 aufgestellt hat.4 Diese reine Identität des reinen Ich als des Fichteschen Prinzips der Letztbegründung spezifiziert sich in der Ethik zu derjenigen des praktischen Wollens im endlichen praktischen Ich. Schon Kant hat die Idee gehegt, die innere Einstimmigkeit des Wollens als principium diiudicationis der Ethik anzunehmen. Kant hat nämlich das spezifisch Sittliche des Willens formal durch ein inneres Verhältnis des vernünftigen Willens zu sich selbst charakterisiert. Der Wille, der in seiner Selbstgesetzgebung sich gemäß der Vorstellung des Sittengesetzes zu Handlungen bestimmt, ist ein solcher, der im Erstreben von etwas konkretem Einzelnen „zugleich sich selbst als allgemein gesetzgebend zum Gegenstand haben könnte“.5 Der sittliche Wille besteht also darin, dass er die Allgemeingültigkeit seiner Maximen will; und genau dies ist die zu erfüllende Bedingung, unter der er sich selbst nicht widerstreitet, das heißt mit sich zusammenstimmt, also unbedingt gut ist. Für Kant ist die Befolgung des Sittengesetzes also gleichbedeutend mit der Vermeidung eines Widerspruchs im Wollen des Subjekts, das sich nicht etwas herausnimmt, was es für jeden anderen als böse verwirft. In Reflexionen vergleicht er ausdrücklich und klar das praktische Einigsein des Wollens mit dem transzendental-logischen Gesetz der Widerspruchsvermeidung. Der Identitt des Wollens, wodurch diverse Begehrungen des Ich zur Einheit des Selbstbewusstseins unter Regeln der praktischen Vernunft gebracht werden, kommt für ihn im Hinblick auf das praktische Subjekt dieselbe Schlüsselstellung zu wie der Identität des Ich als Einheit der Apperzeption, des „höchsten Punktes“ für allen Verstandesgebrauch des theoretischen Subjekts.6 – Das Problem eines Verfalls des Willens in Selbstwidersprüche und – im Extremfall – in chaotische Regellosigkeit stellt sich für Kant verschärft vor dem Hintergrund seiner Freiheitstheorie, die Fichte fortgeführt hat. Gerade wegen seiner Unabhängigkeit von sinnlichen Antrieben und seines freien Selbst-Anfangen-Könnens neuer Reihen von Weltbegebenheiten ohne äußere Determination bedarf der freie Wille einer innern Regelhaftigkeit seines Gebrauchs.7 Freiheit „nach 4 5 6 7
Zu Fichtes Prinzipienlehre vgl. Heinz Heimsoeth Fichte, München 1923; Wolfgang Janke Fichte. Sein und Reflexion – Grundlagen der kritischen Vernunft, Berlin 1970. I. Kant Grundlegung zur Metaphysik der Sitten in Kant’s gesammelte Schriften, hrsg. von der Preußischen (Deutschen) Akademie der Wissenschaften, Berlin 1910ff. (im Folgenden: AA), Bd. IV, S. 432. Siehe Kant, AA XIX, 283f., Reflexion 7204. Ein Gesetz der Freiheit, so argumentiert Kant, ist erforderlich, damit ein einheitlicher Gebrauch derselben möglich ist und der frei Handelnde sich selbst als ein-
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principien empirischer Zwecke hat keine durchgängige Einstimmung mit sich selbst“, – allein reine Vernunft kann „practische Einheit des Willens nach principien festsetzen“.8 Die Bedingungen der völligen Einstimmigkeit des einzelnen freien Wollens mit sich sind im übrigen für Kant dieselben wie diejenigen, welche intersubjektive Einigkeit hinsichtlich des Wollens verschiedener vernünftiger freier Ich-Wesen ermöglichen. Wie schon für Kant impliziert auch für Fichte die Befolgung des Sittengesetzes die Vermeidung regellos widersprüchlichen und die Aufrechterhaltung vernünftig-konsistenten Wollens, worin das Ich ganz einig mit sich selbst sein kann.9 Insofern das höchste Prinzip der Wissenschaftslehre, das absolute Ich, die Urform reiner Identität ist, sieht Fichte die Befolgung des Sittengesetzes als Urbild-Nachfolge des empirischen gegen das idealische Ich an, wobei der prinzipientheoretische Gehalt ethischpraktische Bedeutung erhält. Im vorbildhaften reinen Ich ist dem endlichen Ich seine Bestimmung – als eine Transformation logischer in ethische Identität – vorgezeichnet. Der Wille soll bei jeder Tat in der von ihm befolgten Maxime ein ewig gültiges Gesetz anerkennen, das durch solche Zueignung für ihn persönlich gilt. Der Logos homologen Lebens ist für den frühen Fichte nichts real Existierendes außer dem Ich, sondern dessen idealischer Charakter selbst, für den späten Fichte das paradigmatisch Seiende: Gott, dessen Bild das endliche Ich sein soll. Das praktische, handlungsfähige Subjekt in der Einheit seines Selbstbewusstseins bildet sich für Fichte in Entsprechung zur Bewusstwerdung und Anerkennung der Geltung des Sittengesetzes. Das „substantielle eigentliche Ich“ ist für ihn nicht die Intelligenz, sondern das „Freitätige“ als freier Wille (FW IV, 220). Die idealistische Geschichte des Selbstbewusstseins, in der Fichte den systematischen Zusammenhang aller Vermögen des Ich zu entwickeln sucht, ist für ihn gemäß dem Primat der
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heitlich vorstellen kann. „Das erste Sollen“, so erklärt Kant, ist „eine Bedingung, unter der allein die freyheit ein Vermögen nach beständigen Regeln wird, die a priori bestimmen […] Der auf kein objekt eingeschränkte, mithin reine wille muss zuerst sich selbst nicht wiederstreiten, und die freyheit als die dynamische Bedingung der intellectuellen welt und ihres commercii muss Einheit haben.“ (Kant, AA XIX, 178, Reflexion 6850, wahrscheinlich 1776 – 78). Kant, AA XIX, 281, Reflexion 7202 und ebd. 284, Reflexion 7204. Diese Idee des homologen Lebens als moralischer Einstimmigkeit des guten Lebens und Handelns geht auf die Tradition der Stoa von Zeno bis Panaitios zurück, ja bis auf Platons Lehre, daß die gerechte Seele mit sich selbst befreundet ist. – Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten ist ursprünglich gegen Garves recht freie Übersetzung und Umgestaltung von Ciceros De officiis gerichtet gewesen.
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praktischen Vernunft vorrangig eine Geschichte des Freiheitsbewusstseins im Ich. So formuliert er im System der Sittenlehre als leitende „Aufgabe“ für den die Bewusstseinstatsachen erklärenden Philosophen: „zu sehen“, auf welche Weise das Ich seiner ursprünglichen Tendenz „zur absoluten Selbsttätigkeit […] sich bewusst werde“ (FW IV, 39). So sucht Fichte eine genetische Einsicht in das Sittengesetz, das Kant als ein gegebenes Faktum der Vernunft bestimmt hatte.10 Für Fichte bedarf das Sich-Erheben der Person in die Sphäre des Freiheitsbewusstseins ebenso wie das Tätigen eines freien Entschlusses der Überwindung einer ursprünglichen vis inertiae. Denn von Natur aus sei der Mensch, wie Fichte sarkastisch sagt, wohl geneigt, sich eher für „ein Stück Lava im Monde“ (FAk I/2, 326) als für ein freies und verantwortliches Ich zu halten. Die theoretische Annahme einer bloß passiven Konstitution des Selbstbewusstseins und Charakters des Menschen deutet Fichte ideologiekritisch als Reflexionsgestalt einer solchen natürlichen Tendenz im Ich, sich selbst als ein „organisiertes Naturprodukt“ zu erblicken (FW IV, 122 f.), als ein Naturwesen, das ohne Einspruchsmöglichkeit vom Trieb der Selbsterhaltung beherrscht sei. Der Anblick des eigenen Selbst als eines bloßen Naturproduktes jedoch kommt für Fichte durch eine fälschliche Absolutsetzung des empirischen Charakters des Ich und ein Verleugnen des intelligiblen zustande. Denn „erblicke ich mich, als durch die Gesetze der sinnlichen Anschauung und des diskursiven Denkens vollkommen bestimmtes Objekt“, so sehe ich mein Selbst allein unter dem Aspekt des Naturtriebes, weil ich gemäß jener Ansicht „selbst Natur bin“ (FW IV, 130). Erblicke ich mich aber als Subjekt, was Fichte dem Naturalismus als höheres, wahres Verstehensziel entgegensetzt, so erfasse ich mein Ich als Vermögen freier Selbsttätigkeit. Auf einem untergründigen Konkurrieren von Naturtrieb und sittlichem Trieb11 beruhen nach Fichtes Konzeption „alle Phänomene des Ich“ (FW IV, 130). Das bloß an sich „freie Wesen“ ist sich dessen nicht bewusst, so erklärt Fichte pointiert, wie seine Freiheit dem Naturtrieb „zu diensten“ ist (FW IV, 138).12 Die Idee der freien Ichheit in 10 Vgl. dazu E. Düsing „Die Konstitution des Selbst in ethischen Bewusstseinsstufen. Untersuchungen zu Fichte und Kierkegaard“ in Letztbegrndung als System? Hrsg. von H.-D. Klein, Bonn 1994, S. 214 – 235. 11 Im Folgenden geht es um das System der Sittenlehre (1798). Zu Fichtes Lehre von den Triebfedern vgl. Georg Gurwitsch Fichtes System der konkreten Ethik, Tübingen 1924; Wilhelm G. Jacobs Trieb als sittliches Phnomen, Bonn 1967; Carla De Pascale „Die Trieblehre bei Fichte“ in: Fichte-Studien 6 (1994), S. 229 – 251. 12 In seiner Lehre von der Dienstbarkeit des Intellekts für den Willen hat Schopenhauer offenbar viel von Fichte gelernt, ohne ihm die Ehre der Zitation zu
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der eigenen Person zu erfassen, – was ein dogmatischer Determinist, der eine alles durchwaltende Naturnotwendigkeit annimmt, für ein Jagen nach einem Phantom ansehen muss –, dazu bedarf es einer „Erhebung durch Freiheit zu einer ganz anderen Sphäre, in deren Besitz wir nicht unmittelbar durch unser Dasein versetzt werden“ (FAk I/4, 258f.). Solche freie Selbsterfassung seiner Freiheit, in der ein sich und anderes Sein Veränderndes zugleich sich selbst als wirksamen Grund dieser Veränderung kennen lernt, liegt nicht im Mechanismus der Natur (vgl. FW IV, 3f.). Durch Reflexion, die ein konstitutiver Faktor in der Freiheitsgenese ist, bricht ein Gegensatz auf zwischen dem Lebenstrieb, der auf bloßen Genuss ausgeht und insofern abhängig bleibt von ihm unverfügbaren Gegebenheiten, und dem Subjekt solcher Reflexion auf den Naturtrieb.13 Es geht um eine Reflexion, kraft deren es selbstbewusstes „Ich wird“ (!) und in eins damit, wie Fichte subtil ausdrückt, „sich in ihm die Tendenz der Vernunft“ (FW IV, 130) äußert, sich schlechthin durch sich selbst bestimmen zu wollen. Das Individuum reißt sich vom Naturtrieb los und stellt sich unabhängig von ihm hin (FW IV, 178f.). Der Gegensatz von Unselbständigkeit und Selbständigkeit deutet voraus auf den ethisch bedeutsamen zwischen Heteronomie und Autonomie des Willens. Die Befriedigung des Naturtriebs ist eine Lust, so erklärt Fichte mit moralistischem Pathos, die „mich von mir selbst wegreißt, mich mir selbst entfremdet, und in der ich mich vergesse“, insofern ich ein personales Selbst, das heißt frei bin. Der herauszubildende vernünftige Trieb, der Identitätstrieb hingegen, das ist in praktischer Hinsicht der sittliche Trieb, führt mich nicht „aus mir selbst heraus“, sondern in mich selbst „zurück“ und verleiht mir, – so heißt es in Stoischer Gewichtung – eine allein von der Freiheit herrührende anhaltende Zufriedenheit (FW IV, 146).14
erweisen. Dasselbe Manko gilt für Fichtes moralistische Schau: „Auf der ersten Stufe der Bildung, des Individuums sowohl als der Gattung, überschreit der praktische Trieb, und zwar in seiner niedern, auf die Erhaltung und das äußere Wohlseyn des animalischen Lebens gehenden Äußerung, alle übrigen Triebe; und so fängt denn auch der Erkenntnistrieb damit an, bei jenem zu dienen“ (FAk I/6, 348f.). 13 Das Motiv, kraft Vernunft dem Naturtrieb abtrnnig zu werden und der Dienstbarkeit unter der Herrschaft des Instinkts, konnte Fichte aus Kants „Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte“ entlehnen (AA VIII, 111f.). 14 FW I, 325ff. Zu Fichtes Umdeutung von Kants Lehre über das höchste Gut vgl. E. Düsing „Die Umwandlung der Kantischen Postulatenlehre in Fichtes EthikKonzeptionen“ in Fichte-Studien 18 (2000), S. 19 – 48.
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Im Sich-Losreißen vom Naturtrieb bildet sich das Ich als liberum arbitrium, im Aufschub von Befriedigungen in sich das Vermögen entdeckend, zwischen Neigungen, ja Lebensweisen wählen zu können. Innerhalb dieser formalen, von Naturobjekten aber noch abhängig bleibenden Freiheit der Wahl unterscheidet Fichte von der Einstellung des Hedonismus als einer „ganz sinnlichen“ Denkart, in welcher das Individuum nach der mehr oder weniger bewusst gefassten Maxime des Eigennutzes handelt (FW IV, 180 f, 186 f, 194), ein Bemächtigungsstreben, das nicht darauf aus ist, „die Quellen seiner Genüsse zu erweitern“, sondern darauf, die eigene Willkr möge herrschen gemäß der Maxime: „Was ich will, das soll geschehen!“ (FW IV, 190) in der vernunftlosen Natur und in der vernunftbegabten Mitwelt. Die Geschichte der Menschheit bezeuge die Mächtigkeit dieser Sinnesart: Niedertreten, Unterjochung des Leibes und des Gewissens, die Unterdrückung Anderer (FW IV, 190f., 202f.). Die von Platon durchleuchteten und abgewiesenen Pseudo-Ethik-Typen des Lustkalkls und Machtprinzips, die das Gute nicht kennen, werden von Fichte als niedere Entwicklungsstufen menschlicher Selbstbewusstwerdung systematisch und kritisch eingeordnet. Von dem nur formaliter sich als frei wissenden Ich wird, was die größte Befriedigung in der Intensität und Extensität verspricht, – sei es das Vergnügen oder die einflussreiche Position – als „sein Maximum“, als seine Erfüllung gewählt. In materialistischen Sittenlehren, so Fichtes Kritik des Helvetius, wird die ethisch „untaugliche Maxime“ des Eigennutzes zum Prinzip der Ethik „herauf sophistisiert“, – aktuell von R. Dawkins (Das egoistische Gen) naiv naturalistisch wiederholt. Die universale EigennutzHypothese, zu allen Zeiten durch Erfahrung schlimm bestätigt, die, offen ausgesprochen und für wahr gehalten, jedes höhere Streben lähmen oder suspekt machen muss, weist Fichte zurück mit dem deontologischen Argument aus der Kantischen Ethik: Was geschehen soll, kann nicht beurteilt oder gar abgeleitet werden aus dem, was empirisch-faktisch geschieht.15 Die Hypothese des universalen Egoismus kann in Fichtes Systematik als Selbstmissverständnis des Ich bestimmt werden, das seinen nicht-sinnlichen Charakter, der freie Spontaneität ist, nicht kennt und sich deshalb zum 15 Zutreffend ist für Fichte allerdings die Eigennutz-Maxime für den – wie es mit Anspielung auf Luther heißt, der im Blick auf den Sündenfall vom homo incurvatus in se ipsum sprach – „natürlichen“ Menschen bzw. für den Menschen, der sich als bloßes „Naturprodukt“ ansieht und der sich selbst nicht herabsetzt, so ironisiert Fichte, wenn er überall nichts anderes als Eigenliebe in sich finden zu können glaubt. Vgl. FW IV, 180, 183f., 203f.
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,Naturwesen’ herabstuft. Das Wille-zur-Macht-Theorem aber, worin die Herrschsucht des Menschen, „alles außer ihm der absoluten Botmäßigkeit seines Willens zu unterwerfen“ (FW IV, 186), legitim erscheint, kann als Selbstmissverständnis der Tendenz des Ich zur jede Grenze überschreitenden Selbsttätigkeit eingeordnet werden. Denn die Selbständigkeit, die dem sittlichen Willen durch Selbstgesetzgebung im Hinblick auf das SeinSollende zukommt, wird hier auf den zufälligen empirischen Willen projiziert, der damit ein sich verabsolutierender Einzelwille ist. Gelangt der Trieb nach Macht und Selbständigkeit bloß in seiner Verfallsform: als „blinder und gesetzloser Trieb“ bzw. als Suche nach Independenz um ihrer selbst willen zum Bewusstsein, so bildet sich ein Despotismus heraus, der sich gesetzgeberische Privatkompetenz anmaßt und der auf die Dauer einen „sehr unmoralischen Charakter“ zeitigt. Von gesetzmäßiger Wirksamkeit, Achtung, Pflicht und Schuldigkeit will dieser nichts wissen (FW IV, 191, 186f.). Fichte entwickelt bei aller Nuanciertheit seiner Analyse von ethisch negativen Phänomenen, die Abstürze sind in böse Freiheitsgebräuche, als Hauptlinie im argumentativen Duktus seiner Ethik eine in Klarheitsstufen linear aufsteigende Bewusstseinsverdeutlichung vom Noch-nicht-Kennen hin zum Kennen und praktischen Anerkennen des Sittengesetzes. Denen, die – skeptisch – kein Bewusstsein eines kategorischen Imperativs „zugeben“ wollen, hält Fichte das Argument entgegen, das unleugbare Faktum, dass jemand, der gehandelt hat, unter Umständen im Nachhinein sich selbst Vorwrfe macht, bezeuge indirekt ein Freiheits- und ein Sollensbewusstsein im Ich (FW IV, 152): ich hätte anders handeln sollen und können! Die Stufe der authentischen sittlichen Einsicht kommt für Fichte zustande als Vollendung einer aufsteigenden Linie des Sich-selbst-Verstehens, worin das praktische Ich sich über seine gesamte bloß sinnlich bestimmbare Zeitexistenz erhebt,16 nämlich vom sinnlichen zum idealen Ich. Sich als Freiheitsvermögen zu begreifen und zu erfassen heißt, sich allein aus der Idee der Pflicht selbst bestimmen können. Die Willensbestimmung des Ich kommt dann durch keinen „fremdartigen“ Bestimmungsgrund zustande, sondern allein gemäß dem „in ihm selbst erzeugten“ Begriff des 16 Der „Beschluß“ in Kants Kritik der praktischen Vernunft mag hier durchklingen. Zum Unsterblichkeitspostulat, wider ein Ausgestoßensein von Gott, Hingeworfensein in „ewigen Tod des Nichtseyns“ (AA V, 408), s. E. Düsing: „Die Umwandlung der Kantischen Postulatenlehre in Fichtes Ethikkonzeptionen“ (s. Anm. 14).
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„absoluten Sollens“ (FW IV, 155). Der verantwortliche Freiheitsgebrauch kommt zustande durch einen „Akt der absoluten Spontaneität“, in dem das praktische Ich den „notwendigen Gedanken“ einer Gesetzgebung rein durch und für sich selbst in eins erfasst und hervorbringt. Eine solche ununterbrochene Selbstgesetzgebung macht die „moralische Existenz“ des Ich aus (FW IV: 56 f, 192). Das Sollen ist hierbei der Ausdruck für die selbstauferlegte Regelhaftigkeit seiner Freiheit. Das Sittengesetz ist für Fichte eben diejenige Gesetzmäßigkeit, wodurch das Ich sein Ursache-Sein für bestimmte Wirkungen aus Freiheit unter eine unverbrüchliche Regel bringt, die es – als Urheber und zugleich Adressat derselben – selbsttätig entworfen hat, um sich zuverlässig nach ihr zu bestimmen. Der Gedanke absoluter Selbständigkeit, so argumentiert er, enthält als Bedingung seiner vernünftigen Möglichkeit ein Sollen als die Bestimmung der Freiheit rein und allein durch sich. Das darin ausgesprochene Gesetz, sich selbst ein Gesetz geben zu müssen, nennt Fichte „das Konstitutionsgesetz“ der Ethik (FW IV, 173). Die Vernünftigkeit und Allgemeingültigkeit dieses Gesetzes wird gewährt vom untrüglichen Gewissen als einem höchsten inneren Richter,17 also einer im ursprünglichen reinen Ich gründenden Urteilsinstanz. Das im Gesetzesbewusstsein implizierte Sollen ist als Pflicht in einer bestimmten Situation jeweils etwas konkretes Bestimmtes. Dieses Besondere, das mir begegnet, das eine Aufforderung und Herausforderung für das Ich ist, gilt es auszuführen in der Zeit; darin erfüllt jeder Einzelne die sittliche Bestimmung seines Selbst.
17 Das Gewissen definiert Fichte als „das unmittelbare Bewußtseyn unserer bestimmten Pflicht“, des näheren als das Gefühl der „Harmonie oder Disharmonie“ meines wirklichen Zustandes mit dem durch den sittlichen Trieb geforderten (FAk I/5, 136 f.). Gewissen ist das Bewusstsein „unserer höheren Natur und absoluten Freiheit“ und zeigt die Handlungsweise an, die unserem wahren Selbst entspricht (I/ 5, 138, 154 ff.). Zum Ort des Gewissens in Fichtes Systematik vgl. W. Janke „Intellektuelle Anschauung und Gewissen. Aufriss eines Begründungsproblems“ in Fichte-Studien 5 (1993), S. 21 – 55. Die Fundierungsordnung von Sich-Anschauen des Ich und Gewissen besteht für Janke darin, dass die Bewusstseinshelligkeit der intellektuellen Anschauung spezifisch in den sittlichen Trieb als lautere Forderung eingeht und umgekehrt die sittliche Einsicht im Gewissen die reale Tragweite dieser Selbstanschauung verbürgt. Die intellektuelle Anschauung ist ein geistiges Sehen, das Gewissen ist ein sittliches Gefhl des Ich. Beide zeichnen sich also durch unmittelbare Intuition und durch maximalen Gewissheitsgrad aus.
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2) Fichtes Denkweg vom sich selbst setzenden Ich zum Ich als Bild des Absoluten Der frühe Fichte lehrt das sich selbst setzende Ich, das im Systemteil der Ethik sich als Urheber und Adressat des Sittengesetzes erblickt. Der spätere Fichte lehrt das sich selbst depotenzierende Ich, das in der Ethik sich als Bild Gottes finden soll. Das alles begründende selbstbewusste Ich kennt Gott und Gottes Existenz, so der frühe Fichte, nur als Sinnhorizont für seine ureigene Selbstgewissheit und autonomen Weltentwürfe (1792 – 99). Deshalb kann für den frühen Fichte von dem Primat des Ich vor dem Absoluten gesprochen werden. In der mittleren Phase erweitert Fichte – wie Descartes in seiner dritten Meditation – das im ego cogito verankerte Wissen um ein korrelatives Verhältnis des sich selbst als endlich und unvollkommen begreifenden Ich zu dem als unendlich und vollkommen einleuchtenden Gott (1800/01). In Fichtes Spätphase wird das Ich seiner Begründungsfunktion enthoben (1804 – 13). Die 1801 methodisch konkurrierende Gleichrangigkeit von Ich und Absolutem wird von Fichte in einen Primat des Absoluten, des absoluten Seins oder Gottes vor dem Ich überführt. Die im System der Sittenlehre von 1798 und in Vorlesungen zu Platner bei Fichte schon spürbaren mystisch-neuplatonischen Gedanken über das Absolute wandeln sich ab 1800 von einer Nebenlinie zur Hauptlinie in Fichtes Denkweg. Für seine Neubestimmung des Verhältnisses von Ich und Absolutem lenkt Fichte Schritt für Schritt von seinem ersten Entwurf absoluter Freiheit des denkenden und handelnden Ich über Descartes’ egologischen Gottesbeweis bis hin zu einer Augustinus nahen Position zurück. Ich nenne diesen gewaltigen Umbruch in Fichtes Denken seine ,Augustinische Wende’. In ihr zeigt sich, nachdem in Fichtes Frühphase das Kantische Gottespostulat nur das Horizontbewusstsein des Ich ausgemacht hat, wie statt des Ich schließlich Gott es ist, der alles Sein fundiert und erfüllt. In der Kant nahen Frühphase gehört für Fichte die Erzeugung der Gottesidee zu den praktisch notwendigen Bedingungen des sich durch sich vollendenden Ich. Später ist Gott Grund des Ich. Erschüttert von Jacobis Atheismus-, Egoismus, Nihilismus-Vorwurf, dass Fichtes absolutes Ich, statt Gottes, eigentlich sich selbst anbete und für ein solches Ich alles außer dem Ich Nichts sei, bestimmt Fichte das autonome theoretische Ich als bloßen Traum von einem Traume (FW II, 245), mithin als von sich her ohne Realität.18 Fichte nimmt nun an, auf Kierkegaards 18 Jacobi fordert zu einer absoluten Wahl auf, – die Fichte produktiv aufnimmt, –
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Begriff Angst vorausweisend, dass autarke Selbstbegründungsversuche des Ich zum Scheitern verurteilt sind. Denn das Ich, bleibt es ohne wesentlichen Bezug zum Absoluten, ist in sich selbst grundlos und im autonomen Sich-selbst-Setzen innerer Leerheit und ontologischer Nichtigkeit anheim gegeben. Wahrheit finde das Ich allein durch sein denkendes In-Gott-Sein und Freiheit im Einstimmigsein mit Gottes Willen. Es geht Fichte um freie Selbst-Hingabe des Ich, um das Transzendieren eignen Wissens, Wünschens und Hoffens im Angesicht der in positiven Begriffen nicht aussagbaren erhabenen Majestät Gottes. An die Stelle originären Sich-Verstehens des Ich aus dem Urgrunde seiner schöpferischen Freiheit tritt nun das freiwillige Sich-Bilden des Ich zum Bilde Gottes. Denn nur Eines, so klingt Spinozas Gott als causa sui fortan in Fichtes Denken durch, ist schlechthin durch sich: Gott. Und das freie Ich soll sich sehen als Schema göttlichen Seins und Lebens.19 An der Grenze allen möglichen Erkennens, die Kantisch gezogen ist, wird nun die Liebe zum Einheit stiftenden Band zwischen Ich und Absolutem. Liebe in ontologisch-metaphysischer, in ethisch-religiöser und in wissensmethodischer Hinsicht ist es, die als Erkenntniskraft in die Bresche tritt, wo die Verstandesreflexion in ihrer Kompetenz enden muss. Der diese Thesen lehrt, kann nicht mehr derselbe sein, der das schlechthin sich selbst setzende Ich verkündet hat,20 das als zwischen dem sich selbst setzenden idealistischen Ich und Gott, indem er erklärt: Der Mensch „verliert sich selbst“, „so bald er widerstrebt sich in Gott, als seinem Urheber, auf eine seinem Verstande unbegreifliche Weise zu finden“; will er sich „in sich allein begründen“, so löset sich ihm dann Alles „allmählig auf in sein eigenes Nichts“, das er selbst ist. „Eine solche Wahl aber hat der Mensch; diese Einzige: das Nichts oder einen Gott. Das Nichts erwählend macht er sich zu Gott“ (Friedrich Heinrich Jacobi’s Werke, hrsg. von F. Roth und F. Köppen, Darmstadt 1968, Jacobi an Fichte, Bd. 3, S. 49). – Zu Fichtes Jacobi-Rezeption s. Günter Zöller „Das Element aller Gewissheit – Jacobi, Kant und Fichte über den Glauben“ in FichteStudien 14 (1998), S. 21 – 41, bes. 40f.; Peter L. Oesterreich „,Was geht auf dem langen Wege vom Geist zum System nicht alles verloren!’ Jacobi und die angewandte Philosophie Fichtes“ in Fichte-Studien 14 (1997), S. 153 – 169. 19 Zu Fichtes Ich-Begriff s. Wolfgang Schrader Empirisches und absolutes Ich. Zur Geschichte des Begriffs Leben in der Philosophie J. G. Fichtes, Stuttgart-Bad Cannstatt 1972, bes. S. 155 – 175. Zu Fichtes Anweisung zum seligen Leben vgl. E. Düsing „Sittliches Streben und religiöse Vereinigung. Untersuchungen zu Fichtes später Religionsphilosophie“ in Philosophisch-literarische Streitsachen. Bd. 3: Religionsphilosophie und spekulative Theologie. Der Streit um die gçttlichen Dinge (1799 – 1812), hrsg. von W. Jaeschke, Hamburg 1994, S. 98 – 128. 20 Zur Erhellung dieser Frage vgl. Hartmut Traub „Transzendentales Ich und absolutes Sein. Überlegungen zu Fichtes ,veränderter Lehre’“ in Fichte-Studien 16 (1999), S. 39 – 56; ders.: „Vollendung der Lebensform. Fichtes Lehre vom seligen
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erstes Axiom der Philosophie Deduktionsgrund bilden sollte für Wahrheit, Religion, Recht, Moralität.
3) ber den Widerstreit von Reflexion und Liebe in der Anweisung zum seligen Leben Fichtes Hauptschrift zur Religionsphilosophie ist Die Anweisung zum seligen Leben, oder auch die Religionslehre von 1806. Fichte wendet sich darin von seiner frühen Fundierung der Philosophie im Ich energisch ab und verleiht stattdessen dem Begriff der Liebe eine besondere Schlüsselstellung. In der ersten Vorlesung der Anweisung deutet Fichte als Argument für die Überlegenheit der Liebe über das Ich an, dass die Liebe im Vergleich mit dem Ich eine umfassendere Einheit gewähre. In der Ichheit als dem sich selbst anschauenden und von sich wissenden Selbst ruhe zwar „die Wurzel alles Lebens“; aber wiederum „vereinigt und verbindet innigst die Liebe das geteilte Ich, das ohne Liebe nur kalt und ohne alles Interesse sich anschauen würde“ (FW V, 402). Der Liebe – worin Gottes- und Selbstliebe eingeschlossen sind – wird wie bei Augustinus maßgebende, auch Vernunftwahrheit aufschließende Kraft zugesprochen. „Nicht die Reflexion, welche vermöge ihres Wesens sich in sich selber spaltet und so mit sich selbst sich entzweit, nein, die Liebe ist die Quelle aller Gewißheit und aller Wahrheit und aller Realität.“ (FW V, 541) Die konsequente methodische Durchdringung des Wissensstandpunktes der Reflexion führt für Fichte zu dessen Selbstaufhebung. Die metaphysische Tiefendimension von ,Liebe’ und Fichtes Einzeichnung der Wissenschaftslehre in den Horizont religionsphilosophischer Fragen zeigt die eindrückliche These: „Die zu göttlicher Liebe gewordene und darum in Gott sich selbst rein vernichtende Reflexion ist der Standpunkt der Wissenschaft.“ (FW V, 542) In der Liebe wird das unvermeidliche Scheitern aller Versuche des Denkens, seinen eigenen höchsten Gedanken: das Absolute zu begreifen, für Fichte anerkannt. Im Anerkennen der Unzulänglichkeit aller kategorialen Verstehensbemühungen des Verstandes lässt der im höchsten Denken bzw. Leben als Theorie der Weltanschauung und des Lebensgefühls“ in Fichte-Studien 8 (1995), S. 161 – 191. Traub korreliert auf fruchtbare Weise Fichtes Weltanschauungs-Typik mit der Affektenlehre – die Fichte nebenher mitliefert – als einer Typologie des Lebensgefühls, zu dem Liebe und Selbstgenuss gehören. So stimmt zur Stufe der Moralität beispielsweise der Genuss am (und Selbstgenuss im schöpferischen) Tätigsein.
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Denken des Höchsten zugleich Liebende sein eigenes Sein mitsamt seinen Auffassungsschemata los und wird durch solche Selbstaufgabe fähig zur Begegnung mit dem Absoluten. Aufgrund dieser Selbstrelativierung des Ich, die als Akt der Liebe gedeutet werden kann, die sich von sich selbst abund ganz zum Anderen hinwendet und ihm sich hingibt, kann dem sich loslassenden Ich die Wahrheit göttlichen Seins einleuchten. Im Abschluss der Wissenschaftslehre von 1804 zeichnet Fichte in einer Skizze den Stufengang der Anweisung zum seligen Leben vor (FW X, 312f.). Der höchste, letzte Standpunkt ist die „Spekulation“ (FW X, 203, 257, 281). Als Aufstiegsbewegung zu ihr unterscheidet Fichte vier Grundprinzipien: 1) das der Sinnlichkeit, das einen „Glauben“ an die Natur als für sich bestehend mit sich führt; 2) den Primat des „stehenden Subjekts“ im Sinne eines „Glaubens“ an die Persönlichkeit und an deren konsistente innere Einheit, worin das „Prinzip der Legalitt“ einbeschlossen ist; 3) die Moralitt des Ich als die Grundhaltung eines in sich folgerichtigen Handelns, das aus dem selbstbewussten Ich entspringt und fortgeht durch die reißende und „unendliche Zeit“;21 4) die Position der Religion als „Glaube an einen in allem Zeitleben […] innerlich allein lebenden Gott“ (FW X, 312); die „einige wahrhafte Existenz“ ist das „Anschauen Gottes“ (FW X, 146).
21 Das in sittlichem Handeln erfüllte Leben kontrastiert Fichte mit einem „scheinbaren Leben“ in bloßer „Zeitexistenz“ (FW X, 147). Die Annahme ewiger Fortexistenz des sittlich Handelnden ist an Kants Postulat der Seelen-Unsterblichkeit angelehnt (vgl. dazu E. Düsing „Die Umwandlung der Kantischen Postulatenlehre in Fichtes Ethikkonzeptionen“ (s. Anm. 14), was noch klarer im System der Sittenlehre von 1812 hervortritt, wo Fichte die „Notwendigkeit der Unsterblichkeit“ des sittlich sich Bildenden betont, da dieser ein „ewig Gültiges aus sich entwickelt“ (FW XI, 74). Das sittlich strebende Ich hat „Realität“ nur in Bezug auf eine solche „unendliche Fortentwicklung“ seiner selbst und wird sich seiner „Persçnlichkeit ewiger Fortdauer“ bewusst (FW XI, 55).– Die Idee des ewigen Selbst in der intelligiblen Ordnung des Reichs der Zwecke, wie Fichte sie in der dritten, der Moralitätsstufe skizziert, nimmt ihren Ausgang von Kants „Beschluß“ in der Kritik der praktischen Vernunft und wirkt kraft fortschreitender Rezeptionslinie, vermittelt von Fichtes Ethikotheologie – über Immanuel H. Fichte – weiter bis zu Kierkegaards protreptischer Konzeption von Entweder-Oder, worin es um den Ernst der ethischen Wahl des wahren, ewig gltigen Selbst des individuellen Menschen coram Deo geht.
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Das Prinzip, das für den frühen Fichte als einziges dem Wesen des Menschen sinnadäquates galt, das der freien Ichheit, wird von Fichte in ein weiteres sittlich-religiöses Spektrum ausdifferenziert. In der Anweisung zum seligen Leben expliziert Fichte die Liebe als Trieb des endlichen Ich zur Vereinigung mit dem absoluten Sein, ja Augustinisch als „Sehnsucht nach dem Ewigen“ (FW V, 407), die das endliche Ich beseelt und auch im Dasein festhält. Überbrückte bei dem frühen Fichte das unendliche Streben den Hiatus zwischen dem sich als endlich und begrenzt erfahrenden und dem sich als absolut wissenden Ich, so bindet sich hier sein Sehnen unauflösbar an das göttliche Sein. 3a) Stadien: sinnliche Selbstliebe, sittliche Selbstgesetzgebung, mystische Selbstaufhebung des Ich Der Hedonismus ist für Fichte der anfängliche niederste Standpunkt, den er bestimmt in Gestalt einer pervertierten Liebe, nämlich zum „Genuss des empirischen Selbst“ oder zur bloßen Empirie überhaupt (FW X, 126). Der Trieb zum privaten sinnlichen Wohlbefinden und zur Genussfähigkeit des Ich gilt als das, was das „eigentliche Wesen der Menschheit“ ausmacht (FW V, 425). Die Problematik egozentrischen Trieblebens analysiert Fichte im Geiste der alten pythagoreischen, platonischen und stoischen Verwerfung eines durch nichts gebrochenen bloßen Genussstrebens. Sie liegt im Verfallen des Ich an Dinge, die unbeständig sind. Im Sich-Binden an das Vergängliche wird die Einheit des Ich untergraben, da es im Augenblick und in dem von diesem Dargebotenen lebt; ja, Fichte spricht vom Scheinleben als einem „ununterbrochenen Sterben“,22 das ontologisch den Verfall eines Ich bezeichnet, das an vieles Nichtige sich verliert. Die Heterogenität seines Geistes zur Sinnenwelt nicht kennend, lebt der Mensch wie hingeworfen in das Nichtseiende.23 Der hedonistische Standpunkt ist ein Zustand geistiger Nichtexistenz, ein Erstorbensein des Ich für die geistige Welt, ja die Annahme, das Geistige im Menschen sei lediglich dazu da, „um das Tier zu nähren und zu pflegen“ (FW V, 502). Eine natürliche Tendenz liege im Sich-Treibenlassen sowohl in seinen Vorstellungen: ein blinder Hang zur Ideenassoziation, als auch im Wollen: ein In-sich-Wirken-Lassen der Kausalität der Naturkraft. So aber existiert der Mensch noch nicht als ein „für sich bestehendes Reales“, das mit ganzer
22 FW V, 406; vgl. FW V, 413 23 FW V, 408; vgl. FW V, 435 und 465f.
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Seele zu lieben vermag. Erst im Hervorbrechen „innerer geistiger Energie“ und im entschiedenen Wollen wird der Mensch freies, souveränes Ich. Fichte kennt auch Weisen des Verstrickt-Bleibens in der ersten Stufe der Weltansicht, die keinen Übergang zu einer höheren Weltansicht finden, so charakteristischer Weise das Abstumpfen des an sich fast „unaustilgbaren Sehnens“, ein „Verzweifeln am Heile“ oder das Sich-herum„Treiben im Nichts“ einer Sinnleere (FW V, 409). Die Überwindung des Hedonismus liegt für Fichte im Verzicht auf äußerliche Befriedigung, idealtypisch in der Apathie des Stoikers gefasst, für den die Selbständigkeit der Person, also ihre erhabene Autarkie als höchster Wert gilt. Da die Loslösung vom kosmos aisthetos nötig ist, bildet für Fichte solche Apathie die Grenzscheide, ein die Sphären trennendes Konfinium zwischen niederen und höheren Weltansichten, worin der Ausgangspunkt liegt für eine Entwicklung, die in ein „höheres Leben in der göttlichen Liebe“ führt (FW V, 506). Die zweite Stufe der Weltansicht ist für Fichte der Standpunkt der Gesetzmßigkeit, demzufolge das Rechts- und Sittengesetz die Realität ausmachen. Sie gründet im „Glauben an die Freiheit“ (FW V, 516) und im praktischen Sich-Halten an die darin gewährte Realität und Selbständigkeit der Person. Sie wird außer im Stoizismus in Kants Kritik der praktischen Vernunft, in Fichtes Naturrecht und in der Sittenlehre (1798) vertreten (FW V, 466f.). Im Sittengesetz enthüllt sich dem Menschen die Realität seiner Freiheit, und durch das Sich-Orientieren an diesem Gesetz der Freiheit bildet er sich zu einem an und für sich selbst seienden Wesen. Diese Anerkennung eines Gesetzes für die Freiheit und für die intersubjektive Welt ist für Fichte eine implizite Weise der Anerkennung des unbekannten Gottes, des „Einen, der da Weltgrund und Weltentwickler“ ist (FW XI, 84). Durch die Einsicht in die Gültigkeit des Gesetzes der Freiheit, das ihm im Sollen entgegentritt, geht ihm wesentlich das Interesse für sein Selbst auf. In sittlicher Sorge um das Gelingen seines Daseins unter ethischem Maßstab gelangt er zu einer innerlichen geistigen Selbstbeziehung und -achtung. Vom Standpunkt einer bloß formalen Freiheit (FW V, 524, 516), – so relativiert Fichte die zweite Stufe, – hebt er als dritte Weltansicht die höhere, ethikotheologisch erfüllte Sittlichkeit ab. Zwar ist auf der dritten, wie auf der zweiten Stufe, „ein Gesetz für die Geisterwelt das Höchste, Erste und absolut Reale“ (FW V, 469). Die Differenz zur zweiten liegt für ihn darin, dass in der höheren Sittlichkeit nicht mehr das autonome Ich aufgrund seines Triebes zu originärer Selbsttätigkeit in reiner Selbstgesetzgebung, ja „Selbsterschaffung“ existiert (FW V, 514). Das dritte sitt-
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liche Prinzip liegt für Fichte darin, dass im gottergebenen Menschen Gott selbst sein Werk vollführe (FW V, 475). Autonome und theonome Ethik, die in der Bestimmung des Menschen noch bruchlos vereint waren, treten hier in einen Kontrast auseinander. Die erfüllte sittliche Freiheit besteht in der Aufhebung autonomen Strebens und „eigenen Seins“. Sich selbst als die „eigentliche Negation“ des göttlichen Daseins möge der Mensch dadurch „vernichten“, dass er sein eigenmächtiges Selbst-sein-Wollen, sein Begehren aufgibt, sein eigenes Sein zu behaupten (FW V, 517f.). So weit geht Fichte in seiner Autonomiekritik, ohne damit einen Sündenfall des Ich anzuprangern. In den Principien der Gottes, Sitten- und Rechtslehre skizziert Fichte, um Tiefen der Spekulation zu ergründen, den Zusammenhang von Überwindung des Ich und Innewerden Gottes: „Ich = Welt. Vernichtung des Ich = Gott, in uns“.24 Damit nimmt Fichte das Meister Eckhartsche Motiv der Gottesgeburt in der Seele auf. Für Fichte ist, – vergleichbar mit Luther in seiner Streitschrift gegen Erasmus, – die göttliche Freiheit die allein reale. Deshalb liegt die höchste Freiheit des Menschen darin, seine bloß relative Freiheit an Gott zu verlieren, um seine wahre Freiheit aus Gott zu gewinnen. Das Ich verzichtet nach seiner „Verzichtleistung“ auf den hedonistisch orientierten Willen nun auf seine errungene formale Selbständigkeit als sträfliche Indifferenz dem ewigen Willen gegenüber. In Bereitschaft zur „Selbstvernichtung“ des Eigenseins – wie Fichte streng fordert – „ganz und bis in die Wurzel“ (FW V, 518) bricht im Ich die Liebe und Seligkeit des göttlichen Lebens hervor. Der in sittlicher Absicht sich selbst Verleugnende ist es, der Bahn bricht für die Wirksamkeit des ewigen Willens. Erst der Religiöse schaut hierbei das göttliche Sein an, dessen Epiphanie er selbst werden soll. Die negative Charakteristik des autonomen Ich und der ,Tathandlung’, das Ich setze sich selbst und alles Sein, als hybrides SelbsterschaffungsTheorem, entspricht Jacobischem Geist bei Fichte und ist kein Rückfall in einen voraufklärerischen Autoritätsglauben. Fichtes herbe Forderung zur Vernichtung des Ich ist vielmehr mystisch konnotiert und heißt Rückbindung der Autonomie an die Macht, die sie ins Dasein rief und ein Durchschauen des Sittengesetzes auf den Urgesetzgeber hin, auf Gott. Die religiöse Ansicht der Welt, die aus der sittlichen hervorgehen und mit ihr vereinigt bleiben soll, muss als die Einsicht expliziert werden, dass „jenes Heilige, Gute und Schöne […] die Erscheinung des inneren Wesens Gottes in Uns“ sei und sein inneres Wesen im Ich als aus seinem Bilde heraus24 Die Principien der Gottes- Sitten- und Rechtslehre, hrsg. von R.Lauth, Hamburg 1986, S. 28f.
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zutreten suche (FW V, 470). Dieses Kennenkçnnen Gottes wird in Kantischem Geist postulatorisch als vertiefte Selbsterkenntnis des sich läuternden sittlichen Ich eingeführt, was, nach Kants Erkenntnisrestriktion, kein Erkennen von Gottes Dasein oder Wesen bedeutet.25 3b) Aufgeklärte Theonomie – Das religiöse Stadium in der Anweisung zum seligen Leben In der Anweisung integriert Fichte systematisch die dritte Stufe, die höhere Sittlichkeit, als Kernteil in die vierte, die religiöse Stufe. In der Sittenlehre von 1812 vollführt er, aus der Fragestellung der Ethik heraus, die umgekehrte Bewegung, nämlich die Integration der religiösen in die sittliche Stufe, wobei er gern von „religiöser Sittlichkeit“ und – mit Anklang an Kants Religionsschrift – vom „sittlichen Glauben“ spricht und das mystische Sich-Vernichten des Ich moraltheologisch als Revolution der Denkungsart, paulinische Metanoia, bestimmt (FW XI, 53f., 58; vgl. FW IV, 545). Der wahrhaft Sittliche ist sonach – implizit oder explizit – auch der homo religiosus, und zwar in dem Sinne, in dem Fichte (vgl. dazu Joh 7, 17) erklärt: „Erzeuge nur in dir die pflichtmäßige Gesinnung, und du wirst Gott erkennen“ (FW V, 210). Den Übergang zum „Standpunkt der eigentlichen Religiosität“, bahnt dem Menschen oft ein Misslingen seiner Pläne und Hoffnungen, das ihn nach „göttlicher Ökonomie“ zu innerer Einkehr treibt (FW V, 529f.). In dieser Krise und „Selbstprüfung“ wird ihm dann sein „ganzes Sein“ und seine eigentliche Liebe völlig klar werden (FW V, 534), dass nämlich das göttliche Leben in seinem Ich entfaltet werden soll und dass diese Erscheinung Gottes in der Seele höchste Bestimmung seines persönlichen Daseins und Wirkens ist. Bildung ist in ihrer religiösen Tiefendimension das Sich-Bilden des Ich zum Bilde Gottes. Das Absolute an und für sich selbst ist es nicht, wohl aber die Beziehung des Absoluten zum endlichen Ich enthüllt sich ihm im Innewerden seines Bild-Seins. Die Gewissheit von Gottes Nähe übertrifft die Selbstgewissheit. Wie bei Augustinus: „Si non manebo in illo, nec in me potero“26 wird auf der Stufe religiöser Innerlichkeit das göttliche Eine „begriffen als der 25 Zum praktischen Gottesbeweis und zur Kritik der Gottesbeweise bei Kant s. E. Düsing „Gott als Horizont oder Grund des Ich? Von Kants praktischer Metaphysik zu Fichtes Metaphysik des Einen Seins“ in Kants Metaphysik und Religionsphilosophie. Kant-Forschungen Bd. 15, hrsg. von Norbert Fischer, Hamburg 2004, S. 433 – 491. 26 Confessiones/Bekenntnisse, Lat./dt., eingel. und übers. von J. Bernhart, München 1980, S. 336.
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Erklärungsgrund unserer selbst“ (FW V, 410), und zwar im Blick auf unser Dasein, dass wir nicht im „Nichtsein“ verblieben sind, und im Blick auf das einzigartige Sosein des Ich. So zeigt sich dem Religiösen Gott als Ursprung und, im Unsterblichkeitspostulat, Hoffnung gewährendes Ziel seines Lebens. Das selige Leben, so wird auf der religiösen Stufe klar, besteht in unverlierbarer Gemeinschaft mit Gott. Diese „Vereinigung“ schließt für den Menschen die Einsicht in das „Nichtssein“ (FW V, 449) aus sich und das alles Sein aus Gott und das voluntative Einswerden mit seinem Willen ein. Fichte lehrt, Spinozas absoluter Substanz nahe, einen Monismus des Geistes, wonach dem (für Fichte immateriellen) göttlichen Einen allein auf paradigmatische Weise Realität zukommt und jegliches Seiende außer ihm lediglich „in Gott und durch Gott“ ist (FW V, 449), also ontologisch keinen Selbststand besitzt und als von Gott Getrenntes zur inneren Leere und Wesenlosigkeit verurteilt ist. Fichte beruft sich in der Wissenschaftslehre von 1804 auf Spinoza, indem er erklärt, alles Einzelseiende gehe als ein an sich Gültiges und selbständig für sich Bestehendes „verloren“ und behalte sonach „bloß Phänomenal-Existenz“ in Relation zu Gott übrig (FW X, 147). Die Bewegung der Einkehr des Sittlichen in sich selbst, die rein verinnerlichend ist, wird für den Religiösen zur transzendierenden Bewegung seiner Einkehr in Gott. Fichtes frühe Konzeption einer Geschichte des Selbstbewusstseins als Genesis der Bewusstwerdung absoluter Freiheit im Ich wandelt sich in der Anweisung zum seligen Leben zu einer stufenweisen Einkehr der Seele, die im vertieften Erfassen ihrer selbst Gott als letzten Grund ihres Selbstseinkönnens findet. Nicht das Ich setzt schlechthin sich selbst und weiß sich als sich setzend, sondern findet im Sich-Ergründen sich als ein unvordenklich von Gott Gesetztes, dessen Bestimmung es ist, dieses Gesetzt-Sein als Bild Gottes anzuerkennen und praktisch zu realisieren. Das sich fassende, erkennende, bildende Ich dringt also durch sich hindurch zum Erfassen Gottes und zum Innewerden seiner selbst als Bild Gottes (vgl. FW V, 441 f.). Das gleichsam Absolut-Setzen des Absoluten und RelativSetzen des Relativen führt für Fichte zum Verzicht des Ich auf seine gesetzgeberische Kompetenz im Denken, Wollen und Fühlen. – Das Anerkennen des Bildes Gottes in der eigenen Person schließt für Fichte, worin er das dialogische Prinzip Bubers und Levinas’ vorwegnimmt, die Anerkennung des Erscheinens Gottes in Anderen ein. Das Selbstbewusstsein des sich erfassenden Ich vertieft sich zum Bewusstsein seiner selbst – und an-
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derer Ichwesen – als solchen Bildern des Absoluten.27 Fichtes Zentralidee ist, dass das göttliche Sein selbst in seinem Bilde anerkannt wird (FW V, 444); diese eröffnet die Einsicht in den tiefsinnigen Verweisungszusammenhang zwischen Anerkennen Gottes als des Urbilds aller Bilder und Anerkennen des Menschen in seinem göttlichen Ursprung. 3c) Seligkeit des Denkens oder Unio mystica – der Gipfel der Anweisung zum seligen Leben Hegels Forderung, die religiöse Vorstellung sei in den philosophischen Begriff zu erheben, vorwegnehmend, erklärt Fichte, die philosophische Lehre vom Übersinnlichen sei substantiell dieselbe wie der „lautere Glaube“, zu dem hinauf die Lehre der Kirche gehoben werden müsse (FW XI, 108 f, 116). In seiner Charakteristik dessen, was religiöse Gewissheit sei, verschmilzt Fichte Momente des Platonischen Enthousiasmos mit dem christlichen testimonium internum spiritus sanctus: Das „innere Sein“ Gottes könne nicht durch eine äußere Unterweisung an Menschen herangetragen werden; authentisch erfasst und erlebt werden könne es nur durch religiöse Selbsterhebung des Menschen zu Gott. Und nur durch die theonome „Tat seines lebendigen Ausströmens“ könne Gott ergriffen werden. Der von Gott Begeisterte gewinnt dabei die Erkenntnis der geistigen Welt; ohne „innere Offenbarung“ jedoch kann niemand überhaupt davon sprechen (FW V, 525). Gott erschließt sich dem in mystischer Schau und Einigung „mit unaussprechlicher Liebe“ Ergriffenen (FW V, 532).28 Der Realitätsgehalt solcher religiösen Vereinigung der Seele mit Gott steht für Fichte unter dem kritischen Vorbehalt der in der Wissenschaftslehre von 1804 getroffenen Unterscheidung von Wahrheits- und Erscheinungslehre, wonach an sich das göttliche Eine in sich verschlossen bleibt und nur gemäß der Erscheinungslehre aus sich heraustritt. Die Erfassung 27 Vgl. FW V, 444, 472, 535f. – Zu Fichtes Bildbegriff s. Julius Drechsler Fichtes Lehre vom Bild., Stuttgart 1955; Xavier Tilliette „La théorie de l’image chez Fichte“ in Archives de Philosophie 25 (1962), S. 541 – 554; Hans Georg v. Manz „Selbstgewissheit und Fremdgewissheit. Fichtes Konzeption des Anderen als Konstituens der Selbsterfassung unter Berücksichtigung der Perspektive Levinas’“ in FichteStudien 6 (1994), S. 195 – 213. 28 Fichte knüpft an die Mystik-Tradition an, vgl. W. Janke Fichte (s. Anm. 4, S. 301 – 307); Emanuel Hirsch (Fichtes Religionsphilosophie, Göttingen 1914, S. 48, 119f., 127ff.) grenzt Fichtes Mystik-Tendenz gegen schwärmerische Mystik ab und gegen eine kontemplative, in der die Seele in andächtiger Betrachtung passiv in die Gottheit versinkt. Das Bewusstsein von der Nähe Gottes lehre Fichte als ein solches, von dem ein aktives sittliches Leben begleitet wird.
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des Einen ist lediglich eine Vorstellung gemäß der unaufhebbaren Grundform des Selbstbewusstseins (FW V, 440 ff, 461). In der religiösen Weltansicht wird der Übergang vom verborgenen zu dem daseienden Gott vom natürlichen Bewusstsein als real angenommen, dessen bloßer Erscheinungscharakter jedoch bleibt unthematisch. Das „Absolute als Absolutes“ aber tritt allein im reinen Denken hervor; Gott, das absolute Sein „offenbaret sich“, wobei Gott aber nie ontologisch real begreifbar ist (FW V, 452). Zu überschreiten gilt es auch noch den Standpunkt der Religion, die das selige Leben vermittelt. Denn der „wahrhaftige“ und „vollendete“ Mensch soll völlig in sich selbst klar sein, in ethischer Lauterkeit und in intellektueller Durchsichtigkeit. So gehöre zum vollständigen Bildnis Gottes die „allseitige“ Klarheit, die philosophisches Begreifen gewährt (FW V, 473), heißt es wieder, Hegel vorausnehmend.29 Methodisch reflektierte umfassende Klarheit gewährt der höchste Aufschwung des Denkens in der „Spekulation“, die Fichte bestimmt als die vor sich selbst „durchsichtige und ihr ganzes Innere frei besitzende Flamme der klaren Erkenntnis“ (FW V, 411). In diesem Begriff und Bild von der Spekulation ist a) vollkommene Selbstbezüglichkeit, b) reine Spontaneität, c) die Idee methodischer Durchklärung jedes Begriffs nach Form und Inhalt impliziert. Im spekulativen reinen oder absoluten Denken wird die Vereinigung mit Gott nicht bloß erlebt, sondern erkannt. Eine philosophische Wissenslehre ist die Seligkeitslehre in der Anweisung zum seligen Leben, da das Leben im Geiste in einer Lebendigkeit der Gedankenfülle liegt. Die Wahrheit von Metaphysik und Ontologie (FW V, 416) kann für Fichte allein im Medium des Gedankens ergriffen werden. Im klaren Begriff könne das göttliche Eine „liebend umfaßt“ werden (FW V, 410f.). Die Vereinigung des endlichen Ich mit Gott in einer Seligkeit reinen Denkens, die zurückweist auf Aristoteles’ Bestimmung der Theoria als in sich vollendeter und glückseliger Tätigkeit, schätzt Fichte höher ein als alle Entzückungen im Medium des Gefühls. Das „absolut Wahre“ leuchtet, indem es gedacht wird, von sich her dem Denken ein und ergreift das Ich mit einer allen Zweifel überwindenden „Evidenz“ (FW V, 438). In der Wissenschaftslehre von 1804 hat Fichte als Wurzel der theoretischen 29 Zu Hegels Transformation religiöser Vorstellung in den spekulativen Begriff s. E. Düsing „Hegels Geistbegriff und Wahrheitsbeweis für das Christentum. Der Tod Gottes oder Christi als die ,höchste Anschauung der Liebe’“ in Geist und Heiliger Geist. Philosophische und theologische Modelle von Paulus und Johannes bis Barth und Balthasar, hrsg. von Edith Düsing, Werner Neuer und Hans-Dieter Klein, Würzburg 2009, S. 233 – 276.
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Vermögen des Ich die Intuition, es selbst als intuierend bestimmt, so dass er von einer „Intuition des Absoluten“ spricht (FW X, 175). Diese intuitive Erkenntnis metaphysischer Wahrheit wird gesteigert bis hin zur Möglichkeit einer plötzlich und ohne unser Zutun, ja „wie ein Blitzschlag“ erfolgenden Einsicht. Die mystische Schau Gottes, bestimmt als Ergriffensein, „Hingerissenwerden“ über die Fassungskraft des eigenen Intellekts hinaus und als „Aufgehen“ des Selbst im reinen Lichte (FW X, 124, 148) charakterisiert Fichte sonach in der Tradition und Sprache der Mystik; ihre prinzipielle Möglichkeit sucht er innerhalb seiner philosophischen Konzeption zu lokalisieren. Von Fichte wird (in einem Rousseauismus) die Reflexion als Zerstörung ursprünglicher Einigkeit des Menschen mit sich selbst und mit Gott, als ein Absturz aus göttlicher Liebe aufgefasst, die in solcher Einigkeit beschlossen liegt. Reflexion „entfremdet“ also das Ich im innersten seines Seins (FW V, 543). Insofern Reflexion in religiöser Hinsicht ein Fremdwerden des Ich gegenüber dem Leben in und aus Gott nach sich zieht, aber das höchste Niveau philosophisch-methodischen Erkennens ausmacht, bestimmt Fichte das Verhältnis von Wissen und Glauben auf paradoxe Art, nämlich als Überschreiten und Bewahren der religiösen Stufe, als Vollziehen und wieder Außer-Geltung-Setzen der Reflexion. Das Problem des Verhältnisses von Liebe und Reflexion, ihr Prioritätsstreit muss kraft der Vernunft geklärt werden. In transzendental-kritischer Besinnung auf die Grenzen der Ratio lehrt Fichte, wie Kant, die Unbegreiflichkeit des Absoluten. Fichtes Ich aber soll auch bereit sein zum Überstieg über sich, um eine höhere, übervernünftige Einsicht in das Absolute, Gott, zu erringen. In Analogie zur Selbstentmachtung der Autonomie des praktischen Ich auf der Stufe der höheren Sittlichkeit entmachtet sich auf der letzten Stufe des Wissens der Geltungsanspruch der Reflexion des theoretischen Ich, – und zwar bewegt durch geistige Liebe als Grenzen überschreitende, intuitiv Kenntnis von göttlichem Sein aufschließende Kraft.
B) Kierkegaard Für Kierkegaards Konzeption von charakteristischen Stadien der Existenz, die in der Unterscheidung des Ästhetischen vom Ethischen in EntwederOder deutlich greifbar ist, finden sich Vorprägungen in seiner Dissertation.30 Im Begriff der Ironie erörtert er die Frage nach Anfangsgründen und 30 Kierkegaards frühe Werke in ihren Bezügen zur Romantik und zu Hegel deuten
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Vollendungsweisen der Person. Hier liefert Kierkegaard erste Mosaiksteine für seine spätere, bis zur vollendeten Ausprägung in der Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift 31 schrittweise deutlicher sich herauskristallisierende originale Typik und geordnete Systematik möglicher Existenzformen, die für ihn im christlichen Existieren kulminieren.32 Kierkegaards Problemorientierung in seiner Frage nach den Bedingungen des Überwechselns von der ästhetischen zur ethischen Sphäre bekundet atmosphärische Nähe zu Kants Erörterung eines möglichen Übergangs von der Natur zur Freiheit33 und zum idealistischen Programm einer systematischen Geschichte des Selbstbewusstseins.34 Beide Problemdimensionen verbindet er in seiner Stadientheorie miteinander in der Absicht, „die entscheidenden Bestimmungen des ganzen Umfangs des Existentiellen“ zu entwickeln.35 Schon vor Abfassung seiner Dissertation notiert er als Idee eines Werkes, das man „schreiben müsste“, die Darlegung einer idealen „Geschichte der m[en]schlichen Seele […] in der Kontinuierlichkeit des Seelenzustandes“, die „sich in einzelnen Gebirgsmassiven (d. h. welthistorisch bedeutsamen Repräsentanten der Lebensanschauungen) konsolidiert.“ (DSKE I, DD:55; 1837). Indem er in seinen Werken in der Tat immer wieder solche paradigmatischen Stellvertreter als Repräsentanten von Idealtypen in seine Argumentation aufnimmt, z. B. Don Juan als die Gestalt „sinnlicher Genialität“ oder Doktor Faustus als den „Magister des Zweifels“ (E-O I, 93ff., 221ff.), hat er jene frühe Idee realisiert. In die Fundamente seines Stadienentwurfs eingesenkt hat Kierkegaard die These, das Selbstbewusstsein bezeichne den „Ursprungs-
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Jean Wahl tudes Kierkegaardiennes, Paris 21949, S. 58 – 158, und E. Hirsch, Kierkegaard-Studien, 2 Bde., Vaduz 1978 [1930/31], Bd. I, S. 152 – 255; Bd. II, S. 120 – 156. Zur Einordnung der Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift vgl. die Einleitung der hrsg. in Materialien zur Philosophie Sçren Kierkegaards, hrsg. von Michael Theunissen und Wilfried Greve, Frankfurt a. M. 1979, S. 15 – 104, bes. 33ff. Vgl. zum Folgenden E. Düsing „Krisen der Selbstgewissheit in Kierkegaards Konzeption der Existenz-Stadien“ in Kategorien der Existenz. Festschrift fr W. Janke, hrsg. von K. Held und J. Henningfeld, Würzburg 1993, S. 213 – 240. Siehe dazu I. Kant „Einleitung“ in die Kritik der Urteilskraft (2. Aufl. Riga 1793, S. LVff.) und zur Deutung K. Düsing Die Teleologie in Kants Weltbegriff (Kant-Studien, Ergänzungshefte 96), Bonn 21986, S. 102 – 115, 229ff. S. dazu K. Düsing „Theorie der Subjektivität und Geschichte des Selbstbewusstseins im Frühidealismus und in Hegels Phnomenologie“ in Geist und Psyche. Klassische Modelle von Platon bis Freud und Damasio, hrsg. von E. Düsing und H.–D. Klein, Würzburg 2008, S. 175 – 191. T II, 63.
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punkt der Persönlichkeit“ (T I, 229), die idealistisch ist ebenso wie seine Annahme, die Genese des Selbst sei in eins die der wahren Freiheit. In Notizen wider den Pantheismus, für den „Theismus“ und die „Persönlichkeit“ erklärt er, die Individualitt des Menschen sei die einzige Qualität, auf die alles ankomme, die jedoch keineswegs jeder Mensch für sich haben will.36 Kierkegaards Stadienlehre macht das Innovative und Zentrale seiner Mäeutik in seinen pseudonymen Werken aus, in denen er den Leser in existentielle Verinnerlichung führen will.37 In seinem pseudonymen Schaffen ging es ihm vorzüglich darum, „die verschiedenen Stadien der Existenz“ klarzulegen (T II, 52). Dass Kierkegaard die Individualität hervorhebt, kann als Vorprägung der Lehre von der Einzelexistenz verstanden werden als derjenigen Kategorie, durch die in religiöser Hinsicht, – wie es mit hohem Pathos heißt, – die Zeit, die Geschichte und das ganze „menschliche Geschlecht hindurch muss“ (T II, 192). Diese Kategorie „der Einzelne“ sei vorher nur einmal und zum ersten Mal von Sokrates „entscheidend dialektisch“ eingesetzt worden, „um das Heidentum aufzulösen“ (T II, 194).38 Die ganze Entwicklung der Welt zielt für Kierkegaard auf die unbedingte Bedeutung der Kategorie der Einzelheit hin, die für ihn der Grundgedanke des Christentums ist (T II, 78f.). Jeder soll für sich ganz ein Einzelner werden, sub specie aeterni für sein individuell gestaltetes Dasein einstehen und gemäß seiner Verantwortung offenbar werden. Einzelsein aber heißt Persönlichsein. Das vorzüglichste, höchstrangige Seiende ist für Kierkegaard, wie für Hegel und I. H. Fichte, die Persçnlichkeit sowohl Gottes als auch des Menschen. Die „Sprungfeder in dem ganzen ungeheuren Bau des Daseins“ ist „die Persönlichkeit“; in der Welt des Geistes kommt jedem Personalität als grundlegende Seinsbestimmung zu. Persönlichkeit ist Wahrheit. Aber dann hat man „die Persönlichkeit abgeschafft“, Gott ist unpersönlich geworden und alle Mitteilung. Als signifikante Unglücke diagnostiziert Kierkegaard eine wachsende zwischenmenschliche Anonymität und da36 T I, 235, 333. Statt eines Abstraktums muss z. B. eine Predigt die „ideale Individualität“ vor Augen haben (T I, 188). – Zur Ideengeschichte des Problems der Individualitt, das Kierkegaard im Zuge seiner Hegel-Kritik für sich neu entdeckt hat, – ohne z. B. Leibniz’ Monadenlehre zu kennen, – s. Heinz Heimsoeth Die sechs großen Themen der abendlndischen Metaphysik und der Ausgang des Mittelalters, Darmstadt 71981, Kapitel „Das Individuum“, S. 172 – 203. 37 Vgl. W. Greve Kierkegaards maieutische Ethik. Von „Entweder-Oder II“ zu den „Stadien“, Frankfurt a.M. 1990. 38 Wie J. G. Hamann in seinen Sokratischen Denkwrdigkeiten versetzt Kierkegaard Sokrates unter die alten Propheten.
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mit verbunden den Einfluss der Tagespresse (T II, 206). Kierkegaards Deutung der Selbstflucht ist: So manchen wird davor schaudern, dieser Einzelne zu sein. „Aber daß einer, der niemand ist (hier ist also keine Verantwortung), ohne den Gedanken an Verantwortung jede Irrung in Umlauf setzen kann“, die blind vom Publikum der Vielen, also unter der Bestimmung einer Herdenexistenz aufgenommen und nachgeschwatzt wird, ist furchtbar. Gemessen an der Kategorie der einzelnen Persönlichkeit gilt: „Da ist überall niemand, ach und eben deshalb ist überall Irrung“ (T II, 207). Die Subjektivität im Ernst ihres Existierens hingegen soll Suchbewegung zur Wahrheit hin sein. Kierkegaard geißelt die Presse, die „alle Persönlichkeit zunichte“ macht (T II, 58). Der Mutbeseeltheit der Generation stellt er die dazu kontrastierende Mutlosigkeit und Feigheit der Individuen gegenüber, die ein „Grauen vor der Existenz“ packt, da diese gottverlassen sei (UN II, 60 f.). Frühsozialistische Parolen dürften ihn mit angeregt haben zur harschen Kritik des Übergewichts der Menge über das Individuum und des Gott-Werden-Wollens des Abstraktums der Menge (KT, 119 ff.). Seine Diagnose des Gottesverlusts und der Vergesellschaftung als Gottersatz weist auf Nietzsche voraus.
1) Kierkegaards Vorprgung von Stadien der Existenz in der Dissertation Eine endgültige Fassung verleiht Kierkegaard seiner Stadienlehre in der Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift zu den Philosophischen Brocken. Er erklärt hier in einer Synopse: „Es gibt drei Existenzsphären: die ästhetische, die ethische und die religiöse“; dazu gehören zwei „Konfinien“ als besondere Übergangs-Bestimmungen: die Ironie ist Grenzgebiet zwischen dem ästhetischen und dem ethischen, der Humor das Grenzgebiet zwischen dem ethischen und dem religiösen Stadium der Existenz (UN II, 211, 242 Anm.). In der Dissertation ber den Begriff der Ironie mit stndiger Rcksicht auf Sokrates bekundet Kierkegaard schon Interesse an Fragen, welche die Genese von Persönlichkeit, aber auch deren Gefährdung betreffen. Das Gespräch mit Sokrates hat den werdenden Denker zur ersten Selbstverständigung gebracht über die ihn bewegende Ideenkonstellation. Nicht allein der Gedanke des Selbst in den begrifflichen Konstituentien, auch die Konzeption von Stadien ist hier rudimentär angelegt. In der Dissertation erweist sich Sokrates in Kierkegaards Ausdeutung als real existierende Einheit des Typus des Ironikers und des Ethikers. Er ist der Ethiker, dessen Inkognito die Ironie darstellt, und dessen verborgene Innerlichkeit religiös ist (UN II, 213).
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Das Wesentliche sokratischer Existenz charakterisiert der Autor im späteren Rückblick: Die Ironie des Sokrates ist „die Einheit von ethischer Leidenschaft, die in Innerlichkeit das eigene Ich im Verhältnis zu der ethischen Forderung unendlich akzentuiert – und von Bildung, die im Äußeren“ – vor allem in seinem Umgang mit Menschen39 – vom eigenen Ich „unendlich abstrahiert“. Das letztere bewirkt, dass niemand das erste bemerkt, und „darin liegt gerade die Kunst und dadurch wird die wahre Verunendlichung des ersten bedingt“ (UN II, 212). Ironie wird von Kierkegaard vorrangig als eine Grundhaltung dem Dasein gegenüber und nur nebenher als poetologische Kategorie40 verstanden. Nicht nur im Verhältnis zum Weltgeschehen und Leben Anderer, sondern ebenso den eigenen Taten und Befindlichkeiten gegenüber bewahrt sich der Ironiker einen unbestechlichen Blick für das Einseitige, ja Verfehlte oder gar Hässliche, das darin liegt. In der souveränen Freiheit, die solches Durchschauen als Pathos einer inneren Distanz auch zu sich selbst verleiht, liegt des Ironikers Überlegenheit. Ironie ist Distanz zur Unmittelbarkeit des fraglos gewiss sich dünkenden Dahinlebens; sie nährt ihre Flamme vom immer neu und wieder anders aufbrechenden Widerspruch zwischen Realitt und Idealitt, den sie schonungslos aufdeckt und anprangert. Was die Ironie für das persönliche Leben ausmacht, bringt Kierkegaard in Analogie zu dem, was der Zweifel für die Wissenschaft leistet. Setzt nämlich der Zweifel in schwer zu überbietender Intensität das Denken in Bewegung, so eröffnet die Ironie eine Verfasstheit von unbegrenzter Bestimmungsfreiheit, ja sie ermöglicht „den absoluten Anfang des persçnlichen Lebens“ (BI, 331). Die Ironie bedeutet für die Seele eine „Reinigungstaufe“, wodurch sie „aus dem Gebundensein ihres Lebens im Endlichen“ befreit wird (ebd.). Kierkegaard schmilzt in seine Deutung sokratischer Ironie sowohl pythagoreisch-platonische Motive ein: Katharsis der Seele, Loslösung von der Sinnenwelt als auch das Schellingische und romantische Motiv eines Hineinbildens des Unendlichen ins Endliche und des Idealen ins Reale. Die Ironie, so erklärt Kierkegaard, „verschmäht die Realität und heischt die Idealität“ (BI, 219f.). Wendet der Ironiker den Enthusiasmus für die Idealität und das Verschmähen der Sinnenwelt auf sich selbst an, so wird er zum leidenschaftlichen Ethiker, der sein empirisches Ich nicht gelten lässt und es zu überwinden trachtet im unendlichen Streben auf das ideale Ich 39 Diesen Akzent des Interpersonalen setzt Kierkegaard in einer fast gleich lautenden Tagebucheintragung: T II, 78. 40 Vgl. dazu Ingrid Strohschneider-Kohrs Die romantische Ironie in Theorie und Gestaltung, Tübingen 1960.
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hin, wie es mit Fichte-Anklang heißt.41 Die Sokratische Suche nach Selbsterkenntnis und Arete wird hier von Kierkegaard dem unendlichen Streben des Fichteschen praktischen Ich angenähert. Des Sokrates Ironie, weltgeschichtlich neues und unverlierbares Moment freier, gebildeter Humanität, bestimmt Kierkegaard als eine „ethisch beherrschte“ Ironie, in der Sokrates sich selbst zum lebendigen Vorbild aller Tugenden emporgebildet hat. Diese sokratische Ironie eines Ethikers setzt Kierkegaard als Korrektiv ein gegen eine Verfallsform der Ironie, die er in deren romantischer Ausprägung bei F. Schlegel erblickt. Ein konsequent durchgeführter Standpunkt der Ironie, der sich nicht nur gegen die Möglichkeit wahrer Erkenntnis richtet und nicht nur poetologisch Kunstkritik ausübt, sondern zudem „in praktischer Hinsicht“ dieselbe „göttliche Freiheit“ ohne Schranken und Fessel für sich in Anspruch nimmt (BI 285), birgt eine abgründige Gefährdungsdimension für die Humanität des Menschen. Wird nämlich Ironie zur praktizierten Totalanschauung, so untergräbt sie alles als verbindlich Geltende und knechtet auch den zur polemischen Individualität entwickelten Ironiker selbst, beugt ihn, – statt ihm die so erhoffte grenzenlose Freiheit und eine poetische Verklärung seiner Existenz im Phantasiespiegel unendlicher Möglichkeiten zu gewähren, – in einen Sog von ohnmächtiger Selbstauszehrung. Dieser Gefahr, die in einer vom ironisch durchreflektierten Ich nicht mehr beherrschten und objektiv auch nicht mehr berechtigten Ironie liegt, die in Anmaßung der Kompetenz des Fichteschen ,ewigen Ich’ für das konkrete Ich42 sich verabsolutiert, in „unendlicher Negativität“43 41 Vgl. BI, 129ff., 278f. – Zu Kierkegaards Bezugnahme auf Fichte vgl. W. Janke „Das Phantastische und die Phantasie bei Hegel und Fichte im Lichte von Kierkegaards pseudonymen Schriften“ in Janke Entgegensetzungen. Studien zu Fichte-Konfrontationen von Rousseau bis Kierkegaard (Fichte-Studien Supplementa 4), Amsterdam 1994, S. 159 – 186. Kierkegaard hat im Jahr 1835 Die Bestimmung des Menschen, im Jahr 1843 Die Anweisung zum seligen Leben quellenmäßig gelesen; durch Vorlesungen von H. L. Martensen und F. C. Sibbern wurden ihm Kant-, Fichte- und Hegel-Grundkenntnisse vermittelt. 42 BI, 280, vgl. 273. – Beachtlich ist, dass Kierkegaard hier das entscheidende Missverstehen von Fichtes absolutem (ewigem) Ich anprangert: die naive Verwechslung von transzendentalem und empirischem Ich (BI 280), ja die Usurpation des reinen durch das konkrete Ich, wodurch dem romantisch ironischen Missbrauch ebenso wie der Ächtung von Fichtes Ich – vor allem seit Jacobis Atheismus-, Egoismus- und Nihilismusvorwurf – Bahn gebrochen wurde. (Vgl. dazu E. Düsing „Grundprobleme des Nihilismus von Jacobis Fichte-Kritik bis zu Heideggers Nietzsche-Rezeption“ in Perspektiven der Philosophie 33 (2007), S. 177 – 187). Zwar bestimmt er im Kapitel „Nachfichtische Ironie“ seiner Dissertation mit
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alles objektiv Gültige suspendiert und dabei die Aufhebung der Sittlichkeit zum Bestandteil ihres privat ungebundenen Selbstgenusses macht, sei F. Schlegel in der Lucinde erlegen. Kierkegaards Kritik romantischer Ironie folgt in ihren Schlsselthesen Hegels Ästhetik-Vorlesungen,44 und zwar darin, dass das geltende Allgemeine zunichte gemacht wird, dass es dem alle Bestimmungen in produktiver Phantasie aus sich erschaffenden und nach Gutdünken wieder auflösenden Ich mit nichts „Ernst“ ist bzw. für die Ironie alles zu „Nichts“ wird und nicht die ästhetische, sondern die christlich-religiöse Versöhnung die wahre sei. Hegels schwere Monita zur „Ironie der Charakterlosigkeit“, die Recht und Sittlichkeit als für sie niedere Standpunkte unter sich wähnt und selbst keinen „wesentlichen Gehalt der Zwecke“45 kennt und anerkennt, werden von Kierkegaard fortgeführt. Auch für ihn muss Ironie ihre Grenze am Ethischen finden. Vorbehaltlos Ironie betreiben, wie ein Hegel das Ich=Ich als abstrakte Identität, doch setzt Kierkegaard auch eigene lichtvolle Akzente in seiner Charakteristik des frühen Fichte, wenn er ihm zuspricht, im Ich den „absoluten Anfang“ gewonnen zu haben, von dem aus er die Welt konstruieren wollte, „das Ich wurde das Allbegründende“ (BI, 279). Durch Fichte war die Subjektivität im Denken „unendlich frei“, so würdigt Kierkegaard, wiewohl, – so lautet seine Fichte-kritische Hegel-Rezeption, – unendlich negativ geworden, von Gehaltlosigkeit bedroht. Der junge Kierkegaard weiß des weiteren den von Fichte intendierten Prinzipcharakter des reinen Ich zu würdigen, das durch ein systematisches Konstruieren „allbegrndende Gltigkeit“ hat, von F. Schlegel und Tieck aber, das endliche Ich mit dem ewigen Ich verwechselnd, als das „eine Allmächtige“ ergriffen wurde, um eine Welt zu erschaffen (BI 279ff.). 43 In BI (259, 266, 240) finden sich viele Anknüpfungen u. a. an Hegels Vorlesungen ber die sthetik, z. B. die Einleitung (nach der 2. Ausgabe H .G. Hothos von 1842, Nachdruck Frankfurt a. M. 1955, S. 76). S. dazu auch die Anmerkungen von E. Hirsch. 44 Die Frage nach der Abhängigkeit und der Abgrenzung Kierkegaards gegenüber Hegel und Fichte lässt sich im Umriss dahingehend beantworten, dass er in seiner Sicht des frühen Fichte, nicht aber des mittleren und späten, oft Hegel folgt. Aber Hegels Dialektik, die den Satz vom Widerspruch aufgehoben hat, wirft er vor, sie untergrabe das klare Entweder-Oder (UN II, 5f.); im Begriff Angst kritisiert er Hegels Konfundierung von ethisch-religiöser Unschuld und logisch-ontologischer Unmittelbarkeit (vgl. E. Düsing „Der Begriff der Angst bei Kierkegaard und Heidegger“ in Transzendenz und Existenz, hrsg. von M. Baum, K. Hammacher, Amsterdam/Atlanta 2001, S. 37f.) sowie Hegels Ethik, in der die Individualität im Staat verflüchtigt sei (UN II, 212 f.). Kierkegaard versteht sich im Einklang mit Fichtes Primatsetzung der ethischen vor der logischen Subjektivität. Dieser Fichtesche Primat des Ich-will transfiguriert sich bei Kierkegaard zu dem der Existenz. 45 Vgl. dazu Hegels sthetik-Vorlesung (s. Anm. 43), S. 71 – 77, bes. 75.
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konsequenter Ironiebegriff verlangt, vermag ohne Existenzuntergrabung und Gefährdung der Ich-Konsistenz nur der Ethiker; er beherrscht sie in ihrer grenzenlosen Negativität in Gegenwendung gegen ihren Anspruch selbst wiederum ironisch. Sinnvoll ist für Kierkegaard die Idee, das persönliche Leben wie ein Künstler sein Kunstwerk gestalten zu wollen. Er weist aber den Anspruch einer bestimmten Ausprägung romantischer Ironie auf Erfüllung des Ideals des „poetischen Lebens“ zurück. Eine Alleingeltung der schöpferischen Phantasie kann für ihn das Sehnen nach dem Unendlichen nicht stillen, – das Kierkegaard im Augustinischen Sinn als eine dem Ich unbewusste Gottessuche aufgefasst hat, – das jeden tiefer poetischen oder romantischen Menschen beseelt; er wird aber um der Poesie willen einen „Abweg“ nicht als Ausweg anerkennen können (BI, 293). Kierkegaard bringt ein tieferes Verständnis des Poetischen und Ästhetischen zur Geltung. Dem von ihm kritisierten Modell einer Vernichtung der Normativität im ästhetischen Genuss und Selbstgenuss als dem höchsten erstrebten Gut setzt er die wahre „innere Unendlichkeit“ der Seele entgegen, die zugleich „in Wahrheit poetisch“ ist (BI, 295). Wahre Unendlichkeit aber birgt in ihm selbst „das religiöse Individuum“ (BI, 304), das im Durchgang durch die Resignation solche innere Unendlichkeit für sich selbst gewinnt. Systematisch wichtig ist Kierkegaards Abgrenzung eines Sich-selbstDichtens in bindungsloser Freiheit 1. von einer humanistischen Selbstbildung des Menschen, der „in griechischem Sinne sich selbst dichtet“ (BI, 286 f.), indem er gemäß Platons Anamnesis-Lehre Bewusstsein des Wahren im eigenen Geist erringt und dadurch Aufgabe und Ziel seines Lebens findet, und 2. von einem christlich-religiösen Verständnis als einem Gebildet-Werden gemäß göttlicher Pädagogie und Weltenlenkung. Diese beiden Entwürfe erfüllen die vom Romantiker erhoffte poetische Existenzform weit besser als die ungebundene Selbstgestaltung. Das echt poetische Leben im Horizont einer die Humanität freisetzenden Ironie schließt für Kierkegaard die „Achtung für den Wert“ (BI, 286) jedes Einzelnen und verstehenden Sinn für diese Individualität ein. Die Achtung des unantastbaren Selbstwerts der Person kann humanistisch oder christlich begründet sein, nämlich entweder als der „künstlerische Ernst“, der „dem Göttlichen im Menschen zu Hilfe kommt“ und im Lauschen auf den Ton, der dieser Individualität gemäß ist, sie zur in sich selbst abgerundeten Gestalt entwickelt, oder aber als der praktische Glaube, dass jeder Mensch „Wirklichkeit hat für Gott“, Talente empfing und „Gottes Mitarbeiter“ sein soll im Vollbringen des guten Werks, das Gott entworfen hat (BI, 286 f.).
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Unter den Leitfragen, worin wahres poetisches Dasein gründe und was eine ethisch begrenzte Ironie sei, skizziert Kierkegaard in der Dissertation in nuce seine später ausgeführte Stadienlehre. Die Begriffe der Achtung, des Ernstes und der Aufgabe weisen voraus auf die ethische Existenzsphäre, die er hier als antik-griechische Humanität auf der Grundlage der Arete bestimmt. In der Dissertation wird eine knappe Charakterisistik der christlich-religiösen Daseinsform eingefügt in die Beantwortung der Frage nach der Fundierung poetischer Existenz. Kierkegaard unterscheidet hier ein autonomes Entwerfen seiner selbst als ein Sich-selbst-„Dichten“ von einem theonomen Entwurf als freie Annahme des schöpferischen göttlichen Willens: „Der Christ lässt sich dichten, und in dieser Hinsicht lebt ein einfältiger Christ weit poetischer als so mancher hochbegabte Kopf.“ (BI, 286f.) Das Sich-dichten-„Lassen“ ist nicht zu verstehen als dumpfe oder schicksalsgläubige Passivität, die Kierkegaard später an der ästhetischen Existenz als geistseelisches Vegetieren oder als Versinken in emotionale Betäubung kritisiert. In Berufung auf Fichtes kritish-klare Einsicht bestimmt er eine in die Fundamente des Ich reichende Trägheit und Schlaffheit als ein Böses (BI, 282). In einer Synopse gesagt: Kierkegaard unterscheidet in der Dissertation drei wesentliche Existenzformen: A) die nach der Analogie des Verhältnisses eines Künstlers zu seinem Kunstwerk konzipierte ästhetische Gestaltung des eigenen Selbst durch sich, und zwar nach Maßgabe individueller, variierender Phantasie-Entwürfe; solche Selbstbildung wird jedoch kritisch beleuchtet als eine bloß hypothetische, unstetig an Stimmungen preisgegebene, letztlich selbstverlorene Existenz, die von einer Freiheitsillusion begleitet ist; B) die dem inneren Ordo der Geistseele gemäße ethische Selbstbildung des Ich zu einem existierenden Inbegriff von Tugenden; die Annahme realer Freiheit und grundlegender „Vollmacht des Ich“ (BI, 307) schließt die Anerkennung sowohl der freien Selbständigkeit als auch der Individualität der Person mit ein; C) die christliche Bildung der Persönlichkeit des Menschen gemäß der Schöpferphantasie Gottes selbst, die es zu erkunden gilt. Die locker hingeworfene These, mancher Christ lebe poetischer als der begabte Ästhetiker und Ironiker, weist voraus auf eine Schlüsselthese von Entweder-Oder, dass nämlich der Ethiker, – der sich im Verlauf der argumentativen Entfaltung als (christlicher) homo religiosus erweist,46 – in einem höheren Sinne als der experimentierende Ästhetiker poetisch zu 46 Hinter solcher Ineinssetzung des Ethischen mit dem Religiösen steht das hohe Ethos von Fichtes Moralphilosophie.
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leben vermag bzw. dass das Ästhetische in der ethischen Sphäre erst seine höchstmögliche Vollendung und Verklärung zu finden vermag. Leitmotivische Aspekte von B) und C), die in der Dissertation zugleich als markante Kontrastfolie zum Zweck der Kritik einer sich verabsolutierenden ästhetischen Bildung dienen, sind in den Idealtypus des Ethikers in Entweder-Oder als dessen positive Eigenschaften eingeflossen, nämlich eine harmonische Entfaltung verliehener Talente, die Ausbildung von Tugenden und die Anerkennung des göttlichen Willens und der Gültigkeit der Pflicht als desjenigen, was das Innerste des wahren Selbst begründet. In der Dissertation wird zwar schon die theonome Bildung von der ästhetischen und von der ethischen Selbstkonstitution des Ich abgehoben. Jedoch wird die schroffe Trennung der theonomen religiösen von der autonomen ethischen Sphäre, die Kierkegaard zuerst in Furcht und Zittern als teleologische Suspension des Ethischen setzt, in der Dissertation stark gemildert durch den Hinweis auf das beiden gemeinsame Anerkennen der Aufgabe, das Gottähnliche im Menschen sei zu würdigen und zur Entfaltung zu bringen (vgl. BI, 286f.). Die entscheidende Kluft, die Kierkegaard zunächst als die maßgebende aufreißt, liegt also zwischen der ästhetischexperimentierenden Existenz einerseits und der humanistisch-ethischen sowie christlichen Existenz andererseits. Die Zäsur in der möglichen Skala von Existenzformen liegt für ihn also anfänglich nicht zwischen humanistischer und christlicher, sondern (wie auch in E-O) zwischen ästhetischer und ethisch-religiöser Existenzgestaltung. Die Tiefe jener Kluft liegt für Kierkegaard in einem Anspruch auf Heilung des Lebens durch Poesie, der (wie von Nietzsche in der Geburt der Tragçdie) als Illusion zu enthüllen ist. Den illusionären Charakter ästhetischer Versöhnung deckt Kierkegaard in der Dissertation des näheren ethisch-anthropologisch auf. Die poetische Verklärung einer ob ihrer Unvollkommenheit lastenden Wirklichkeit lindere zwar wohl den „tiefen Schmerz, der alles verdüstern will“, doch komme „keinerlei Wandlung (Transsubstantiation)“ der Person zustande (BI, 303). Für Kierkegaards Personverständnis findet sich hier der wichtige Hinweis, dass der ästhetisch Existierende keine qualitative Entwicklung vollzieht, was der Ethiker in Entweder-Oder an unterschiedlichen neuralgischen Punkten der Problemerörterung, zum Ästhetiker gewandt, so ausdrückt: Du bist, in dem wesentlich dich Betreffenden, „nicht weiter gekommen“.47 Die Ereignisse seines Lebens reichten nicht hin, um ihn im entscheidenden Sinne zu 47 E-O II, 207, vgl. ebd. 176; vgl. BI, 299 – 306; auch nicht Lisettes Selbstmord wirkt in Julius eine Wandlung.
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entwickeln, so dass der Ethiker ihm eine „tiefere Examination“, die Erfahrung einer Grenzsituation als Anstoß für eine intrinsische Motivation wünscht. Bezeichnend für die große Nähe, ja dimensionale Verwobenheit von ethischer und religiöser Sphäre in Kierkegaards Denkweg ist, dass im Begriff der Ironie ausdrücklich dem religiösen Individuum ein sittlicher Grundakt zugeschrieben wird: sich selbst in seinem Sein völlig „klar und durchsichtig“ zu werden, und zwar „in seiner schlechthinnigen und ewigen Gültigkeit“ (BI, 304f.), ein Grundakt, der in Entweder-Oder als das Spezifische ethischer Existenz hervorgehoben wird. Fichtes Anweisung zum seligen Leben nahe, heißt es: Die Forderung des höchsten Genusses (in Schlegels Lucinde) geht der „wahren Seligkeit“ verlustig, in der das Ich, statt zu träumen (oder in ästhetische Betäubung, z. B. Müßiggang zu versinken, was für Nietzsche der passive Nihilismus ist), „in unendlicher Klarheit sich selbst zu eigen“ hat und sich – wie für Plotin der Geist – sich selbst „schlechthin durchsichtig“ ist (BI, 303). Durch persönliche Zueignung der christlichen, „wahren“, also umfassenden Versöhnung, so legt Kierkegaard in der Dissertation dar, kann die sittliche Spannkraft der Seele restituiert werden, und das „tiefere Ich“ bleibt nicht länger in einen Traumzustand der Unbewusstheit gebannt, sondern gewinnt in solcher heilsamen Durchklärung sich selbst. Eine solche höchstrangige Klarheitsstufe ist für Kierkegaard allein der versöhnten religiösen Individualität möglich, die zugleich konkret existiert, indem sie sich in einer Geschichte ihres Selbst lebendig entwickelt. Die Wirklichkeit aber, so heißt es mit Fichte-Anklang, empfängt „ihre Gültigkeit durch Handeln“ (BI, 334).48
48 Kierkegaard nachdrückliche Betonung, es komme auf das Handeln an, ist als lebendiger Nachhall seiner Lektüre von Fichtes Bestimmung des Menschen zu verstehen. Dass es eine moralische Weltordnung, mithin Gott gibt, ist „das einzige absolut gültige Objektive“, so Fichte, ist das erste Gewisse, ja der Grund aller anderen Gewissheit (FW V, 186 f.). „Unsre Welt“, so erklärt Fichte emphatisch, „ist das versinnlichte Materiale unsrer Pflicht; dies ist das eigentliche Reelle in den Dingen, der wahre Grundstoff aller Erscheinung.“ Das, was in Verbindung mit dieser moralischen Ordnung aller Dinge wahrgenommen wird, so ermahnt Fichte, hat „Realität, die einzige, die dich angeht und die es für dich gibt“ (FW V, 185).
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2) Kierkegaards Stadienlehre in Entweder-Oder In Fichtes Typik von fünf Stufen der Weltansicht in der Anweisung zum seligen Leben bildet die zweite Stufe, das ist die autonome Sittlichkeit, als eine stoische Negation des Hedonismus die radikale Grenzscheide zwischen niederen und höheren Standpunkten des geistigen Lebens. Auf systematisch vergleichbare Art trennt Kierkegaard in Entweder-Oder die Hauptsphären der Existenz durch die absolute Entscheidung des Menschen für das Gute als das allein Maßgebliche. Das ethische und das religiöse Stadium, die bei dem frühen Kierkegaard wie bei dem späten Fichte beide schon im Bereich der ascensio zum Absoluten liegen, lassen untereinander Übergangsbestimmungen zu. Kierkegaard nimmt später ein eigenständiges religiöses Stadium an und vertritt die These vom Scheitern autonomer Selbstkonstitution der endlichen Subjektivität.49 Damit setzt er keineswegs die „wesentliche Beziehung“ zwischen ethischer und religiöser Existenzsphäre außer Geltung (UN I, 250 – 263, 290f.). In Entweder-Oder entwickelt er die Phänomenologie ästhetischer Existenz und hebt auf die ethisch-religiöse Existenz als deren Überwindung ab. In der Unwissenschaftlichen Nachschrift sucht er dagegen hauptthematisch das Telos in der Teleologie der höheren Existenzstufen zu bestimmen, die mit der Einsicht in die unbedingte sittliche Verpflichtung anheben und über einen Bruch mit den Immanenzkategorien einer autonomen Ethik im christlich-religiösen Stadium gipfeln. Durch den Sprung50 aus einer humanistischen, Schleiermacher nahestehenden Religiosität zur „paradox“-christlichen wird jedoch die andere Kluft zwischen ästhetischer und ethisch-religiöser Existenzsphäre nicht relativiert. In der Unwissenschaftlichen Nachschrift findet sich ein Rückblick auf Entweder-Oder, in dem Kierkegaard die Ausbildung wahrer Subjektivität oder „ethischer Individualität“ als die dem Menschen gesetzte „höchste Aufgabe“ bestimmt (UN I, 120 – 125). Und er erklärt darin zur Konzeption von Entweder-Oder, dort sollte „das Existenzverhltnis zwischen dem sthetischen und dem Ethischen in existierender Individualitt“ dargestellt werden, und zwar vor dem Hintergrund einer konturenklaren Trennung beider Sphären (UN I, 243). Das Ziel der Entfaltung des existentiellen Bereichs im 49 S. dazu Josef Leonhard Blaß Die Krise der Freiheit im Denken Sçren Kierkegaards. Untersuchungen zur Konstitution der Subjektivitt, Ratingen 1968, bes. S. 163 – 213. 50 Er rühmt mit Bezug auf F. H. Jacobi, der den salto mortale in den Glauben an einen persönlichen Gott fordert, Lessings feinen Humor, diesen Sprung nicht tun zu wollen, und definiert als das Wahre des Sprungs die Entscheidung (UN I, 92 – 98).
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Spannungsfeld „zwischen“ dem Ästhetischen und dem Ethischen sei die „ethische Individualität“: „Statt einer Welt von Möglichkeit, durchglüht von Phantasie“, in Reflexion eingehaust, die ethische Leidenschaft der Entscheidung in bloßes Wünschen verflüchtigend, ist nun, so heißt es feierlich, ein ethisches „Individuum geworden“ (UN I, 247f.). Das Sein des konkreten Ich in der „Wahrheit“ beruht auf „Existenzinnerlichkeit“ unter ethischer Bestimmung (UN I, 108, 264ff., 278). Die Genesis konkreter Subjektivität wurde, wie Kierkegaard auf Entweder-Oder rückblickend betont, darin begründet, dass die persönliche Geschichte gelingt als ein „ethischer Sieg der Kontinuierlichkeit“ über unstetige „illusorische Leidenschaft“, für Selbstbetrug anfällige „Verborgenheit“ und über Verzweiflung. Der „wahre Anfang“ der innerlich existierenden Subjektivität bestehe im Verlassen eines ästhetischen Traumdaseins und Finden des „ethischen Selbst“ (UN I, 252). Dieses ethische Selbst kommt zustande, wie Kierkegaard in Entweder-Oder hat zeigen wollen, aufgrund von „Existenz-Durchsichtigkeit“ im Sinne von rechenschaftsbereiter Wahrhaftigkeit bzw. Offenbarwerden des Ich im Gewissen vor sich selbst, vor Gott und für Menschen (UN I, 248f.). Im entschiedenen Wahrnehmen oder aber Vernachlässigen solcher existentiellen Klarheit liege die qualitative Differenz zwischen der ethischen und der ästhetischen Sphäre. Gemäß der Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift bildet die ethische Maßstäblichkeit den wesentlichen Halt und „festen Grund der individuellen Existenz“. Ethische Begeisterung bestehe darin, mit äußerster Kraft und unabhängig vom Erfolg das erkannte Gute zu wollen und so die ethische „Entwicklung seiner Seele“ zu erringen (UN I, 123ff.). Durch konzentrierten Einsatz des Willens zum Guten könne sich eine „große ethische Individualität“ bilden (UN I, 125). Im Kontrast zur widerspruchsfrei mit sich selbst einstimmigen ethischen Existenz ergibt sich der „qualvolle Selbstwiderspruch der weltlichen Leidenschaft“ dadurch, dass das Individuum „sich zu einem relativen Telos absolut“ verhält, indem ein Wesen, das auf Ewigkeit hin angelegt ist, seine ganze Energie daran wendet, das Vergängliche festzuhalten und glaubt, mit diesem Nichtigen alles gewonnen oder aber verloren zu haben. Diesen Selbstwiderspruch ästhetischer Existenz, der die existentiale Logik der Stadienabfolge bezeichnet,51 gilt es zu überwinden durch den kategorischen Imperativ, das
51 UN II, 129. Der hier nicht zu behandelnde andere Widerspruch, der sich in der autarken Selbstbehauptung ethischer Existenz auftut, wird durch diesen Imperativ für Kierkegaard ebenfalls überwunden (s. UN II, 283ff.). Zur Interpretation s.
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Individuum soll sich zugleich „absolut zu dem absoluten Telos und relativ zu den relativen Zielen verhalten“ (UN II, 129). Über die These vom illusorischen Charakter ästhetischer Versöhnung hinaus wird die existentiale Notwendigkeit des Scheiterns ästhetischer Existenz kategorial neu bestimmt. 2a) Aufruf des Ästhetikers (und des Lesers von Entweder-Oder) zur Entscheidung Der protreptische Charakter sittlicher Aufforderung (gemäß der Briefform von E-O II) ebenso wie der Entscheidungsspielraum für den Leser soll aufrechterhalten bleiben. Deshalb lässt Kierkegaard Entweder-Oder (wie Platon seine Frühdialoge) ohne bestimmtes Resultat. Es bleibt offen, ob der namenlose jüngere Ästhetiker sich durch die Briefe seines Freundes, des Ethikers, dessen Name „Wilhelm“ und dessen Beruf „Gerichtsrat“ (Gewissen!) ist, hat überzeugen lassen oder nicht.52 Kierkegaard reflektiert eigens Sinn und Grenzen der zwischenmenschlichen Ermahnung. Denn gegen eine „entschiedene“ ästhetische Existenz sei es zu spät, sie auszusprechen. In den Stadien auf des Lebens Weg hat Kierkegaard z. B. im „Modehändler“ und im „Verführer“ in sich verhärtete Gestalten vorgeführt, deren raffiniertes Lebenskünstlertum trotz allen ästhetischen Glanzes Verlorenheit von innerlich erloschenen Individualitäten ist (UN I, 293ff.). Der Adressat der Briefe des Gerichtsrates hingegen ist als ein hoffnungsvoller junger Mensch entworfen, der allein erst „die Möglichkeit einer Existenz“ bzw. – wie der Aristotelische passive Nous – die Möglichkeit zu allem ist; seine Daseinsweise und seine Weltansicht sind noch nicht „im tiefsten Sinne entschieden“. Kierkegaard unterscheidet, wie sich eruieren lässt, innerhalb des ästhetischen Daseins zwischen einer mehr oder weniger unschuldig sich erprobenden ästhetischen Existenzweise53 und einer polemischen Selbstabschließung des Ästhetikers, der in bewusster Kenntnis der ethischen Forderung deren Anspruch zurückweist. Kierkegaard vertritt die Auffassung, jeder Mensch sei frei und verantwortlich; doch wachsen bei fortgesetzt verweigerter Bereitschaft die individuell-persönlichen Schwierigkeiten des Überwechselns vom Nichtwollen zum Wollen des Guten. Helmut Fahrenbach Kierkegaards existenzdialektische Ethik, Frankfurt a. M. 1968, S. 127 – 159. 52 Vgl. E-O I, 15f.; zur Methode der Mitteilung vgl. z. B. UN I, 65, 269ff. 53 Vgl. dazu W. Greve „Das erste Stadium der Existenz und seine Kritik“ in Materialien zur Philosophie Sçren Kierkegaards (s. Anm. 31), S. 191f.
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Entsprechend sinkt damit der Grad der Ansprechbarkeit eines sittlich Gleichgültigen oder Irregehenden. Deshalb wird dem jungen Unentschiedenen gesagt, er könne nicht früh genug wählen, durch Hinauszögern werden die Bedingungen immer „härter“ (E-O II, 222). Wie gefährlich ein fortgesetzter Aufschub ethischer Entscheidung ist, sucht der Ethiker eindrücklich klarzumachen durch die Metaphorik der navigatio vitae, d.i. vom Steuermann auf hoher See, der sorgsam Kurskorrekturen vornehmen muss, und anhand des mit tiefem Sinn erdachten Märchens, in dem ein von der Macht dämonischer Musik Verzauberter, um seinen Bann zu lösen, dieselbe Melodie fehlerfrei muss rückwärts spielen können. Denn das, was in der ethischen Wahl gewählt werden soll, „steht im tiefsten Verhältnis zum Wählenden“ und ist entscheidend für den „Gehalt der Persönlichkeit“ (E-O II, 173ff.). Je länger ein Mensch nun aber die Wahl aussetzt, umso leichter gelangt er dahin, sie abzuändern, d. h. ihren ethisch klaren Sinn zu verfälschen; und vergisst er immer, verwickelt in die ihn fesselnden pragmatischen Interessen seiner Lebensbahn, seine eigene fortwährende Bewegungsrichtung in Betracht zu ziehen, so kommt zuletzt ein Augenblick, da von einem Entweder-Oder nicht mehr die Rede ist, aber nicht deshalb, weil er gewählt hätte, sondern weil er die Wahl unterlassen hat, und das besagt: weil andere für ihn gewählt haben, ihm selbst unbekannte, undurchschaute „Mächte“, und weil er aufgrund solchen Sich-treiben-Lassens in entschlussloser Passivität sich selbst in fataler Heteronomie verloren hat (E-O II, 174). Eine Variante der Passivitat ist, seinen Sinn im Streben nach Genuss des sinnlichen Selbst zu verhärten zu einem „Begreifen des gesamten Daseins unter ästhetischen Kategorien“ (E-O II, 248). Mit dem Willen zur Macht gepaart, bildet sich der abgründige Typus, der ins Extrem eines nicht mehr Wählen-Könnens verfällt, worin die Freiheit stirbt. In Entweder-Oder II entfaltet der Ethiker in freier Phantasieabwandlung Neros, des Tyrannen, die Gestalt eines ungehemmt sich auslebenden und Abhängige quälenden Sadisten, um das erschütternde Phänomen einer selbst zugezogenen Verstockung gegenüber ethischen Anforderungen vor Augen zu führen. Die Pointe im protreptischen Versuch des Ethikers, seinen Gesprächspartner zu des Geistes Ernst zu wecken und ihn auf die Wegscheide zu stellen (E-O II, 178), liegt nun darin, dass er solche Abwehr des Ethischen als Verfallsmöglichkeit des aktuell noch nach allen Seiten offenen jungen Ästhetikers selbst geltend macht. Die grausame Unerbittlichkeit eines Nero, der seine Beutezüge der Lust (E-O II, 198f.) erbarmungslos auch auf Kosten, ja zu tödlichem Verderben anderer vollführt und dabei das Ethische wütend für sich verworfen hat, soll den Ästhetiker in eine ihn
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aufrüttelnde Spiegelung seiner selbst in einem möglicherweise sich anbahnenden späteren Absturz hineinführen. So heißt es: Wenn in deiner Seele nicht ursprünglicher Ernst wäre, so hättest du Talent, ein Nero zu werden (E-O II, 217). Die imaginative Selbstbeziehung im Hinblick auf ein nicht wünschbares Selbstsein ergänzt der Ethiker um ein wünschbares, durch Fingieren seiner Begegnung mit einem wiederum Jüngeren, reich Begabten, Hoffnungsfrohen, der noch rein und unversehrt ist von intellektueller Skepsis und verfeinertem Genussstreben. Die dadurch sich entzündende wehmütig retrospektive Selbstbeziehung des Ästhetikers zu seiner eigenen, – leicht rousseauisch idealisierten – Jugend, die verlorengegangen ist, muss ihn, wie der Ethiker hervorhebt, betroffen machen (E-O II, 172, 208, 220). Seine sonst vor nichts halt machende Ironie würde hier keinen polemischen Angriffspunkt finden, und er müsse dann inne werden, dass es weniger darauf ankomme, „seinen Geist zu bilden, als vielmehr, seine Persönlichkeit zur Reife zu bringen“ (E-O II, 172). Hierin muss der Experimentierende, was er sonst nie anerkennen will, anerkennen, nämlich die unbedingte Geltung eines Entweder-Oder, sonach eine für das Gelingen der Existenz maßgebliche Normativität. Für die Argumentation zentral ist der Nachweis eines „ungeheuerlichen Widerspruchs“ in der Position des Ästhetikers, der kraft der geschilderten Spiegelung seiner selbst einen normativen Geltungsanspruch spontan bejaht und doch weiterhin leugnet. Sein „ganzes Wesen widerspricht sich selbst“ (E-O II, 173). Diesen Widerspruch aber, der die Fundamente seiner Daseinsform betrifft, vermag der Ästhetiker nur durch Verlassen seiner ästhetischen Existenz und Überschritt in eine höhere Existenzsphäre zu beheben. Des Gerichtsrats Gesprächsmethode kann zu Recht mäeutisch genannt werden, da er sein Gegenüber auf dessen originales Sichverstehen hin anspricht. Die Kritik der ästhetischen Sphäre wird so immanent vorgenommen, da er demonstriert, dass die ästhetische Weltansicht und Daseinsform gemäß der eigenen Intention des Ästhetikers, sein Leben durch Schönheitssinn zu erhöhen und zu verklären, nur durch die ethische Grundlegung gelingen kann. Entsprechend dem ursprünglichen Sinn von „Aisthesis“ wird als die durchschnittliche und vorherrschende Haltung innerhalb des ästhetischen Stadiums die hedonistische54 bestimmt, in der das Individuum dem sich bietenden Genießen nachhängt, dessen Sinn für das 54 Zu Kierkegaards Kritik des seinen eigenen Untergang in sich enthaltenden Hedonismus s. Greve Kierkegaards maieutische Ethik (s. Anm. 53), S. 177 – 215.
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eigentlich Schöne wenig ausgebildet ist und dem sich das Ethische noch nicht in seiner Bedeutungsintensität gezeigt hat. Solche Individuen „leben sich selbst aus“, nicht in dem Sinn, dass des Lebens Inhalt sich teleologisch entfaltet und in dieser Entfaltung innerlich angeeignet wird, sondern sie leben zentrifugal gleichsam sich „aus sich selbst hinaus, schwinden wie Schatten, deren unsterbliche Seele verweht wird“ (E-O II, 179). Sie begehen dabei nicht willentlich bewusst und aktiv Böses, sondern halten sich in einer Indifferenz auf, die den Unterschied zwischen Gut und Böse nicht kennen will. Sie sind aber bedroht, des Heiligsten im Menschen verlustig zu gehen, das ist der „bindenden Gewalt der Persönlichkeit“ (E-O II, 170), die das Gute in dessen unversöhnlichem Gegensatz zum Bösen unbedingt will, ja solches entschiedene Wollen eigens für sich erwählt, so dass es prägnant heißt, „daß man das Wollen wählt“ (E-O II, 180). Dies Motiv vom Wollen des Wollens, – das mit der ex negativo geschöpften Idee des „non ex toto vult“ auf Augustins Bestimmung des Bösen zurückgeht,55 – atmet vom klaren Fichteschen voluntativen Geist. Dies Motiv des wahrhaftigen Wollens schließt für Kierkegaard die autotherapeutische Suche nach Überwindung jener Melancholie mit ein, die nichts mehr will, da von ihr nichts mehr in der weiten Welt als liebevoll besetzt empfunden wird. 2b) Vom nicht-wählen-Wollen und Schaden an seiner Seele Nehmen Fichte sucht das Sittengesetz, Kants Faktum der Vernunft, genetisch aus dem reinen Selbstbewusstsein abzuleiten. Kierkegaard sucht überdies für die konkrete Subjektivität eine existentiell ethische Erhellung,56 indem er fundierende Tiefenschichten im Selbst sowohl für das Bejahen sittlicher Einsicht als auch für deren Abwehr aufzeigt. Das, was von Kant als ein Hang des Menschen zum „Wegvernünfteln“ seiner verantwortlichen Freiheit und zu einer „natürlichen Dialektik“, die Reinheit sittlicher Gesinnung oder die Strenge der gebotenen Pflicht zu entkräften,57 am Rande behandelt wird, erörtert Kierkegaard thematisch als Schlüsselproblem. Die 55 Vgl. E-O II, 167 – 170, 179f., 189. Das beharrlich wie gelähmte Nichtwollen des Wollens verfällt in die Sünde der Acedia. Zur Problemgeschichte der Melancholie s. Raymond Klibansky, Erwin Panofsky und Fritz Saxl Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst, Frankfurt a. M. 1990. 56 Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Kierkegaards Ethik im Vergleich mit derjenigen Kants und Fichtes erörtert H. Fahrenbach Kierkegaards existenzdialektische Ethik (s. Anm. 51), S. 160 – 190; ders. „Kierkegaards ethische Existenzanalyse“ in Materialien zur Philosophie Sçren Kierkegaards (s. Anm. 31), S. 216 – 240. 57 Vgl. I. Kant Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Riga 1785, S. 22ff.
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Problemstellung der ethisch-religiçsen Selbstwahl wird nämlich als ein Aufdecken der möglichen Hindernisse für den Übergang von der ästhetischen zur ethischen Existenzsphäre entfaltet und zielt damit genau auf jenen Hang des Menschen zur Verdunkelung sittlicher Einsicht. Klarheitssuche und Hang zur Abschattung sittlicher Einsicht bilden in Kierkegaards Analysen gegenläufige Bewegungen. Es ist in jedem Menschen, und zwar innerhalb jeder Sphäre seiner Existenz, „etwas, das ihn bis zu einem gewissen Maße daran hindert, sich selbst völlig durchsichtig zu werden“. Wer sich aber nicht selbst zu offenbaren, sein inneres Wesen nicht zu eröffnen vermag in freier Selbsterschließung für ein persönliches Gegenüber, „der kann nicht lieben, und wer nicht lieben kann, er ist der Unglücklichste von allen“ (E-O II, 170f.). So deutet der Ethiker den tiefen Zusammenhang von Mut zu realistischer Selbsterkenntnis, von Sich-Bejahen- und Sichschenken-Können. Im Kontext der Rechtfertigung der „ästhetischen Gültigkeit“ der Ehe wird dargelegt, wie kraft ethischen Vorsatzes zur Treue eine persönliche innerliche (und äußerliche) Geschichte möglich wird und in ihr das Erblühen der Individualität von innen anhebt (E-O II, 100, 142f.). Metaphysischen Ernst strahlt der Ethiker aus, indem er die Mahnung des Evangeliums aufgreift und sie zum Kernbestand seines Aufrufs zur Entscheidung macht (Mt 16, 26): „Was hülfe es dem Menschen, so er die ganze Welt gewönne, und nähme doch Schaden an seiner Seele?“ (E-O II, 234) Für ein Schaden-Nehmen am „innersten Wesen“ des Selbst bringt der Ethiker außer dem praktizierten Immoralismus des Nero als Beispiel die innere Bewegung, in der ich mich selbst verendliche, indem ich mich als Produkt empirischer Faktoren annehme, mich also sehe als nur durch die Endlichkeit gesetzt (E-O II, 235f.). Diese das Wesen des Selbst verkennende Verendlichung desselben, die im vermeintlichen Gesetzt-Werden des Ich durch ein nicht personal seiendes Nicht-Ich besteht, gräbt die Fundamente ästhetischen Daseins an. In Kierkegaards Charakterisierung der heteronomen Bestimmtheit ästhetischer Existenz zeigt sich der nachhaltige Eindruck von Fichtes Bestimmung des Menschen.58 Lautete bei Fichte die – im Fortgang zum (dritten Buch:) „Glauben“ wohl zu überwindende – Reflexion des Ich auf dem Standpunkte des Zweifels, der dem Denkmodell des Determinismus geschuldet ist: „Alles was ich je bin und werde, bin ich und werde ich schlechthin notwendig“; ich selbst handle gar nicht, sondern „in mir handelt die Natur“, denn „ich bin eine durch das Universum bestimmte 58 Vgl. dazu E. Hirsch: Kierkegaard-Studien (s. Anm. 30), Bd. II, S. 25 – 30.
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Äußerung einer durch sich selbst bestimmten Naturkraft“ (FW II, 183, 189 f.), so wird der Ästhetiker als ein solcher gezeichnet, der sich mit Notwendigkeit entwickelt, nicht mit Freiheit, und der deshalb keine durch seine innere geistige Bewegung erfolgende Metamorphose erreichen kann (E-O II, 239). Der sich selbst anschauende Ästhetiker, der eine „vollkommene Gestalt des Daseins“ für sich ersehnt, muss – wie das ZweifelsIch bei Fichte – verzweifeln, wenn er sein Selbst unter die Bestimmung der Notwendigkeit bringt und sein konkretes Ich als etwas erblickt, das – anonym bestimmt – mit zum Weltlauf gehört, es sich also nicht als frei findet (E-O II, 246f.). Eine ästhetische Entwicklung gleiche derjenigen einer Pflanze, worin allerdings bei Menschen die Gefahr impliziert ist, dass sie das Böse nur unter ästhetischen Kategorien begreifen, also als Herausforderung verflüchtigen wollen (E-O II, 241). Ist die vernünftige Seele des Menschen erstickt oder betäubt, so vermag er im Extremfall sich in eine Art Raubtier zu verwandeln, das vor nichts mehr zurückschreckt, weil für ihn alles Notwehr geworden ist (E-O II, 236). Schlimme Folgen eines Schaden-genommen-Habens an seiner Seele mögen sich mit großer Zeitverzögerung einstellen und nicht immer durch sogar rechtsverletzende Taten offenkundig werden. 2c) Zweifel und Verzweiflung des Ästhetikers Kierkegaards Stadienlehre kann als eine Spezifikation der idealistischen Geschichte des Selbstbewusstseins im Blick auf das konkret existierende Ich verstanden werden. Insbesondere die von ihm vorgenommene Identifikation von Selbsterfassung des individuellen Geistes als Geist und Bewusstwerden, ja Annehmen der unbedingten Geltung der Pflicht entspringt Fichteschen Grundeinsichten.59 Kierkegaards Konzeption der Existenzstadien nimmt keine kontinuierliche Entwicklung des Selbst an; vielmehr geht die höhere Stufe durch einen Sprung aus der niederen hervor, in einer radikalen, die Existenz umwandelnde Entscheidung. Die Darlegung der Verfasstheit des ästhetischen Stadiums macht deutlich, dass ihm eine Entwicklung im Grunde nur als Verfallsgeschichte zukommt, als 59 S. dazu E-O II, 284, 288f., vgl. auch ebd. 271 – 275. – Ausgeblendet bleiben hier Schiller-Hintergründe für Kierkegaards „Selbst“, z. B. dessen Unterscheidung von Person und Zustand in den Briefen ber die sthetische Erziehung des Menschen; s. dazu Smail Rapic Ethische Selbstverstndigung. Kierkegaards Auseinandersetzung mit der Ethik Kants und der Rechtsphilosophie Hegels (Kierkegaard Studies: Monograph Series, Bd. 16), Berlin/New York 2007, S. 71 – 98: zum Teleologie-Konzept der Persönlichkeit.
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eine negative Reifung, da nicht nur jede Phase innerhalb der ästhetischen Sphäre gleich weit entfernt ist von der praktischen Wahrheit des Ethischen, vielmehr das Fortschreiten in ästhetischer Verfeinerung die Gefahr des Gefälles in größere Wahrheitsferne potenziert. Mit Blick auf die hoch ausgebildete ästhetische Lebensanschauung des jungen Freundes, die der Ethiker die „feinste und vornehmste“ von allen nennt (E-O II, 206), spricht dieser davon: „Je mehr Bedeutung in seiner Wahrheit das hat, was voran soll, um so gefährlicher sind auch die Abwege“ (E-O II, 246), womit er den drohenden Suizid als Protest gegen die Zumutung des (Sich-selbst-) Wählen-Sollens abwehren will. Formal bestimmt Kierkegaard das ästhetische Stadium als ein Mischungsverhältnis von Unmittelbarkeit und Reflexion, das für jedes ästhetisch existierende Individuum verschieden ist. In der Gestalt des jungen Ästhetikers in Entweder-Oder II sind beide Komponenten vereinigt, nämlich als Wechsel von Genuss, von Herausdestillieren des Interessanten aus Erlebnissen und Begegnungen und Tendenz zur Hyperreflexion. Kompositorisch gelingt Kierkegaard damit, mannigfache Aspekte der in den „Papieren“ des Ästhetikers (in E-O I) dargestellten Charakteristika ästhetischer Existenz motivisch wieder aufzunehmen und in Einer Gestalt zu fassen. Seine hochentwickelte Fähigkeit zu durchdringender Reflexion und seine „unerhörte Kombinationsgabe“ verleihen ihm zwar eine hohe gedankliche Souveränität, doch habe das persönliche, authentische Leben für ihn seine Wirklichkeit verloren (E-O II, 208, 211ff.). Seine Geistesgaben mögen in ungewöhnlicher Intensität entwickelt sein, gleichwohl seien sie geknechtet, da er ästhetisch unmittelbar in den Tag hinein, „fort und fort nur im Augenblick“ und in dessen verfliegender Relativität lebe. Anstatt seine Begabung als Gabe und Aufgabe zu verstehen, nehme er sie als Quelle erhöhten Selbstgenusses; das Verharren auf einer eigensüchtigen Bestimmung des Talents, das nichts von intersubjektiver Bedeutung vollbringen will, habe aber etwas vom Errichten einer „Räuberexistenz“ an sich (E-O II, 190, 312 – 316). Für Kierkegaard ist wie in Kants Ethik das moralische Verantwortlichsein die Bedingung, unter der die Perfektionierung von Talenten das Selbst vervollkommen kann. „In der Einheit des Charakters besteht die Vollkommenheit des Menschen“, der die Regel für sein Tun aus sich selbst entlehnt (AA XV, 533, 521). Die denkbar reifste, „letzte“ ästhetische Lebensanschauung, in deren Charakteristik der Briefadressat des Ethikers sich selbst soll wiederfinden können, ist die Verzweiflung, vorerst nur im Gedanken, insofern er ein horizonthaft mitgegenwärtiges Bewusstsein von der Nichtigkeit seiner Weltansicht und seines Tuns in sich aufgenommen hat (E-O II, 207). Die
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Selbstnegation des eigenen Standpunkts ist sonach in seinem Bewusstsein von sich als Moment enthalten. „Du willst den Hunger des Zweifels in Dir stillen, indem Du ihn das Dasein verzehren lässt“ (E-O II, 171, 216f.), so deutet der Ethiker des Freundes Skeptizismus und Akosmismus existentiell aus. Er sieht ihn im Spannungsfeld zwischen epikureischer Weltliebe und stoisch-asketischer Weltflucht hin- und herpendeln: „Dein Gedanke ist voraus geeilt, Du hast durchschaut, daß alles eitel ist“, aber Du bist nicht weiter gekommen. Zuweilen tauchst Du darin unter, und wenn Du Dich für einen Augenblick dem Genießen hingibst, nimmst Du gleichzeitig in Dein Bewusstsein auf, daß dies eitel ist. „Du bist so immerfort über Dich selbst hinaus, in der Verzweiflung nämlich.“ Deshalb verlaufe sein Leben zwischen den einander ablösenden ungeheuren Gegensätzen von überschäumender Energie und grenzenloser Ermattung, von Enthusiasmus und Zerstreuung wegen der Langeweile (E-O II, 207). Der Ästhetiker ist sonach mit der ganzen Endlichkeit fertig. Das vanitasMotiv macht einen Bestandteil seines stolzen Selbstbewusstseins aus; dies bedeutet für ihn aber noch keine religiöse Einsicht. Auf dem „Gipfel“ solchen Durchschauens des Vergänglichen vermag er sich deshalb nicht zu halten und lässt sich wieder von einer Geringfügigkeit fesseln (E-O II, 215f.). Kraft „endlicher Reflexion“ (E-O II, 196, 203f.) ist der Ästhetiker, – wie es mit Anspielung auf Hegel heißt, – auf die Widersprüchlichkeit, ja die ontologische Wesenlosigkeit alles Endlichen gestoßen. Dass nichts Endliches seinen Geist, nichts Innerweltliches sein „unersättliches“ Verlangen zu stillen vermag, wird vom Ethiker – Augustin nahe – positiv gedeutet als ein ihm selbst noch verborgenes Sehnen nach dem Ewigen, das allein seine Seele zu erfüllen vermag. Die ihn umtreibende Unruhe, sein stets bewegter Sinn, bezeuge eben diese Ewigkeitssuche (E-O II, 216f., 348). Der Ästhetiker neigt zu einer tragisch-pessimistischen Weltansicht, dergemäß durch Schicksalsfügung ein unheilbarer Bruch im Menschenlos und in der Seele eine niemals ganz zu behebende Trauer walte. Der Ethiker nennt Trauer über etwas, das wie ein Verhängnis notwendig waltet, eine ästhetische Trauer, dagegen die Reue über ein Schuldiggewordensein aus Freiheit die echte ethische Trauer (E-O II, 250 – 254), worin die Unterscheidung des Paulus zwischen menschlicher und göttlicher Traurigkeit nachklingt (2 Kor 7, 10). Der Ästhetiker deutet in seiner tragischen Sicht das Los des Menschen unter der Bestimmung der Notwendigkeit, in die religionsphilosophisch die Ananke und naturphilosophisch der Determinismus ineins einfließen: Es ist „allein so viel Freiheit übrig geblieben, dass diese gleich einem unruhigen Traum den Menschen ständig halbwach zu
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halten vermag und ihn im Labyrinth der Leiden und der Schickungen umherirren lässt“, wo er überall „sich selbst erblickt“, ohne zu seinem eigentlichen Selbst, das Freiheit ist, gelangen zu können (E-O II, 255). Anklingend an die Erwägung des Zweifelnden in Fichtes Bestimmung des Menschen, die lautet: „Ich kann bereuen und mich freuen und gute Vorsätze fassen“, aber ich vermag ganz sicher trotz meiner Reue und bester Vorsätze nicht das geringste an dem zu ändern, was ich gemäß unerbittlicher Notwendigkeit „werden muss“ (FW II, 189f.), erklärt der Ethiker, er kenne nur ein Leid, das ihn zur Verzweiflung bringen könnte: wenn er zugeben müsste, dass die Reue ein Trug gewesen wäre, nicht hinsichtlich der christlich verstandenen Vergebung, die sie suche, sondern der Zurechnung (E-O II, 253), die Voraussetzung ist für den Sinn von Reue und eine göttliche Vergebung des Bereuten. Für den Ethiker hingegen, der mit Fichte seine Wahl60 wider den Determinismus und Fatalismus getroffen hat, ist das Kantische Postulat von der Realität der Freiheit praktisch und intellektuell gewiss. Die ethische Lebensanschauung gründet sich für ihn auf das wesentlich Seiende, auf das Gute, „gesetzt von dem an und für sich Seienden“, das ist zuletzt die Freiheit (E-O II, 239), erklärt er mit Platonund Fichte-Anklang.
3) Die Wahl des wahren Selbst coram Deo und das Finden Gottes darin Gemäß der Diagnose von Entweder-Oder ist es latente Verzweiflung, die einen – zumeist verborgenen – Grundzug des ästhetischen Stadiums ausmacht, da das Individuum das von ihm gesuchte höchste Gut in solches setzt, das zufällig und dem Werden und Vergehen unterworfen ist. Wird nämlich der ästhetischen Existenz das für sie Höchste – z. B. Schönheit, Gesundheit, Ehre oder Ruhm – woraufhin sie ihr Leben gegründet hat, entzogen, so findet sie sich dem Nichts ausgesetzt, d. h. ihr eröffnet sich die Nichtigkeit der Fundamente ihres Lebensentwurfs (E-O II, 192 – 196, 203ff.). In akuter Verzweiflung ist dem Ästhetiker die Forderung, eine 60 Zu Fichtes Theorie der Wahl zwischen Idealismus der Freiheit und Materialismus bzw. Determinismus s. E. Düsing Intersubjektivitt und Selbstbewusstsein. Behavioristische, phnomenologische und idealisitische Begrndungstheorien bei Mead, Schtz, Fichte und Hegel, Köln 1986, S. 199 – 203. Der Schlüsselsatz ist: „Was für eine Philosophie man wähle, hängt […] davon ab, was man für ein Mensch ist: denn ein philosophisches System ist nicht ein toter Hausrat, den man ablegen oder annehmen könnte, wie es uns beliebte, sondern ist beseelt durch die Seele des Menschen, der es hat“ (FW I, 434).
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„höhere Daseinsform“ erringen zu sollen, offenkundig. Für ihn gilt es, die Bewegung zu vollführen, durch die das Ethische zum Vorschein kommt (E-O II, 206). Die merkwürdig und streng anmutende Aufforderung an den Freund: „verzweifle“! (E-O II, 221) zielt auf dessen Eingeständnis seiner latenten Verzweiflung, persönlich und methodisch aber auf Überwindung derselben durch ein Zu-Ende-Verzweifeln (E-O II, 244) – in Analogie zum „sich vollbringenden“, sich selbst aufhebenden Skeptizismus, den Hegel in der Phnomenologie des Geistes postuliert.61 Durch die aufrüttelnde „Gewalt“ der Verzweiflung, die alles Zweitrangige verzehrt, vermag das wahre Selbst zum Durchbruch zu gelangen. Die Teleologie der vollendeten Verzweiflungsbewegung liegt in durchdringender Selbsterkenntnis, Reue und im Sich-Binden an die „ewige Macht“, die das ganze Dasein allgegenwärtig durchdringt (E-O II, 178). Der sprunghafte Überschritt vom ästhetischen zum ethischen Stadium, der die Verzweiflung im Selbst überwinden soll, wird von Kierkegaard mit der Frage nach dem Finden Gottes systematisch verknüpft. Dies Junktim steht in Analogie zum Finden des Absoluten in Hegels Phnomenologie des Geistes, das Ziel der sich selbst aufhebenden Zweifelsbewegung ist. Für Kierkegaard gilt jedoch – in kritischer Gegenwendung gegen den Primat spekulativer Erkenntnisansprüche62 –, dass „der wahre Ausgangspunkt für das Finden des Absoluten nicht Zweifel ist, sondern Verzweiflung“ (E-O II, 227). Kierkegaard sucht nach Kants Erkenntnisbeschränkung, in Absetzung von Hegels Vernunftspekulation, aber auch von Schleiermachers Gefühlstheologie, eine neue Zugangsweise zum Absoluten zu eröffnen, und zwar inmitten menschlicher Existenz kraft radikaler sittlich-religiöser Einkehr, Selbstverständigung und Sinnvergewisserung. Hinter dem Wortspiel: „Zweifel ist des Gedankens Verzweiflung, Verzweiflung ist der Persönlichkeit Zweifel“ (E-O II, 225) steckt das Argument, dass Zweifel und Verzweiflung in je andere Sphären gehören, insofern durch sie unterschiedliche „Seiten der Seele“ bewegt werden. Ein Verzweifelter nämlich kann sehr wohl seinen intellektuellen Zweifel überwunden haben, und umgekehrt kann ein Zweifler sehr wohl zugleich einen „positiven Gehalt“ außerhalb des Austausches mit seinen Zweifelsgedanken 61 G. W. F. Hegel Gesammelte Werke, hrsg. von der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften, Bd 9, S. 56. – Zur Deutung s. K. Düsing Das Problem der Subjektivitt in Hegels Logik (Hegel-Studien, Beiheft 15), Bonn 31995, S. 100 – 107, 131ff., 186ff., 205f., 320 – 325. 62 Wolfgang Janke „Verzweiflung. Kierkegaards Phänomenologie des subjektiven Geistes“ in Sein und Geschichtlichkeit. Karl-Heinz Volkmann-Schluck zum 60. Geburtstag, hrsg. von W. Janke und I. Schüßler, Frankfurt a. M. 1974, S. 103 – 113.
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besitzen, z. B. eine „Fülle sympathetischer Gefühle“ oder die Gewissheit über eine Verpflichtung (vgl. ebd.). Die Begründung aber für den methodischen Primat der Verzweiflung vor dem Zweifel für das FindenKönnen des Absoluten lautet, dass an der Bewegung des Verzweifelns, nicht aber an der des Zweifels, „die ganze Persönlichkeit“ beteiligt ist, so dass der Akt der Verzweiflung tiefer, vollständiger, „weit umfassender“ (EO II, 225f.) das in Frage Stehende, als Rätsel Lastende ergründet als der Zweifel. Fichte nahe steht Kierkegaards Sicht auf das Beziehungsgefüge von Denken und Wollen, dergemäß das Erkennen letztgültiger Wahrheit nicht durch einen Alleingang theoretischer Vernunft gelingt, sondern vor allem in einer lauteren Willenshaltung gründet.63 „Die wirkliche Subjektivität ist nicht die wissende“, – so verschärft Kierkegaard den KantischFichteschen Primat der praktischen vor der theoretischen Vernunft –, „sondern die ethisch existierende Subjektivität“, die unendlich interessiert ist an der ethischen Zielrichtung ihrer Existenz (UN II, 17f.). In seiner Aktqualität ist der Überwechsel vom ästhetischen zum ethischen Stadium eine Entscheidung des Willens. Das konkrete Ich überschreitet die Schwelle, indem es mit der „ganzen Innerlichkeit der Persönlichkeit“ die einzigartige Handlung vollzieht, sein eigenes Selbst in unbedingter Weise zu wählen. Die ethische Selbstwahl,64 in der die real existierende Subjektivität sich konstituiert, enthält zum einen das Moment der Spontaneität, das an Fichtes Tathandlung erinnert ,65 die eine freie
63 S. Kierkegaards Entwürfe zu De omnibus dubitandum est in PhB, 160 – 164, sowie die Ausführungen in KT, 87 – 96. – Vgl. auch E. Düsing: „Zum Verhältnis von Intelligenz und Wille bei Fichte und Hegel“ in Psychologie und Anthropologie oder Philosophie des Geistes, hrsg. von B. Tuschling u. a., Stuttgart-Bad Cannstatt 1991, S. 107 – 133. 64 Vgl. E-O II, 178, 188f., 219, 227ff. – Zur Deutung der Wahl des Selbst s. Blaß Die Krise der Freiheit im Denken Sçren Kierkegaards (s. Anm. 49), S. 63 – 108; Fahrenbach Kierkegaards existenzdialektische Ethik (s. Anm. 51), S. 64 – 92, Greve Kierkegaards maieutische Ethik (s. Anm. 37), S. 81 – 100, 126f., 136, 195f.; Rapic Ethische Selbstverstndigung (s. Anm. 59), S. 391 – 402. 65 Kierkegaards Ethiker erklärt: Das Selbst, das gewählt wird, ist zuvor nicht dagewesen, es ist durch die Wahl geworden. Aber ich erschaffe mich nicht, ich wähle mich, – so heißt es, als wollte er zwischen frühem und spätem Fichte vermitteln und das Produktionstheorem des Ich (1794) mit dem Ich, das sich als Bild des Absoluten anerkennt (1806), vereinigen. Indem das Ich sich „als Produkt wählt“ (!), kann es auch sagen, so erklärt Kierkegaards Ethiker – und dies klingt wie eine Apologie des früheren Fichte – , „es produziert, erzeugt sich selbst“. Ich bin als „freier Geist“ geboren aus dem Satz des Widerspruchs (E-O II, 229, 268), klingt Hegelianisch, deutet aber auf Aristoteles’ Logik und Fichtes zweiten Grundsatz der Wissen-
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Selbstsetzung des Ich ist, zum anderen enthält die Wahl des Selbst das Moment des Sich-Empfangens,66 das die Übernahme und das Bejahen von vorgegebener Faktizität mit einschließt. Bemerkenswerterweise konzipiert Kierkegaard das Moment der Selbstübernahme ebenso wie das der Selbstsetzung als Akt sittlicher Freiheit. Die eigentliche Schwierigkeit aber liegt im Sich-Empfangen. Im praktischen Akt der unbedingten Wahl seiner selbst ist die Dimension erkennender Selbstbezüglichkeit als integraler Bestandteil mitgegenwärtig. Kierkegaard nimmt eine unbewusste Teleologie der Seele an: „Die Persönlichkeit will sich ihrer selbst bewusst werden in ihrer ewigen Gültigkeit“ (E-O II, 201). Besonders für „unglückliche Individualitäten“ aber sei kennzeichnend, dass ihr Bewusstwerden über ihr unauslöschliches Selbst, dessen „Andenken keine Zeit austilgen wird“, wie ein Gefangenwerden für sie erscheint und daher ein Empfinden der Qual das des Segens überwiegt. Für jedes einzelne Ich entbirgt seine innere Bewegung, in der es in wahrhaftiger Selbsterforschung seine persönliche Lebensgeschichte, sein individuelles Gewordensein, also seine Faktizität für sich zu erhellen sucht, „etwas Schmerzhaftes“, Unverstandenes, Unbewältigtes. Deshalb gehört zu dem in der Selbstwahl implizierten Sich-Identifizieren mit der eigenen Biographie, einschließlich des darin Lastenden, Mut.67 Bejaht wird das Selbst im Vollzug der Selbstwahl nicht im Sinne einer beschönigenden Unschuld des Werdens, sondern vielmehr – da mit der Selbstbewusstwerdung die Leidenschaft der Freiheit erwacht ist – aufgrund von wacher Umgrenzung der eigenen Verantwortungssphäre. Dies aber führt das konkrete Ich in die Notwendigkeit, sich als schuldig bekennen und anerkennen zu müssen. Im Phänomen der Reue als des „bittersten Schmerzes“, dem „die völlige Durchsichtigkeit der ganzen Schuld“ zuschaftslehre hin: Das Ich setzt sich dem Nicht-Ich entgegen. – Zu Fichtes Tathandlung vgl. W. Janke Fichte (s. Anm. 4), S. 69 – 94. 66 Vgl. E-O II, 188, 219, 229f. – Vgl. Kierkegaards Erbauliche Rede „Seine Seele erwerben in Geduld“ (s. Anm. 69). 67 Vgl. E-O II, 219, 228ff., 235ff. – Bei Kierkegaard ist das Thema der Selbstliebe in solchem Sich-Identifizieren mit sich implizit und unthematisch mitenthalten. – Mut zu gewinnen zum originalen Selbstsein ist auch Nietzsches großes Thema von der dritten Unzeitgemßen Betrachtung an. Nietzsche deutet Jesu Evangelium und die jesuanische Agape um zu einer möglichen Liebe des Ich zu sich selbst rein aus Erbarmen, wider Selbsthass und Selbstverachtung anlässlich der erlittenen Höllenfahrt der Selbsterkenntnis. Vgl. dazu E. Düsing „Immoralismus oder Hypermoralismus? Nietzsches Konzept des individuellen Gesetzes“ in Geist und Sittlichkeit. Ethik-Modelle von Platon bis Levinas, hrsg. von E. Düsing, K. Düsing und H.–D. Klein, Würzburg 2009, S. 259 – 295.
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kommt (E-O I, 159), muss die Person sich zu etwas von ihr in der Vergangenheit Vollbrachten bekennen, das sie gegenwärtig und für alle Zukunft entschieden nicht als Geschehenes will, worüber sie verzweifelt uneins mit sich ist. Am Problem der Reue macht Kierkegaard seine Idee einer Dialektik der Stadien fest, die bedeutet, dass jedes Stadium, das nicht das höchste zu erreichende ist, auf Zerfall angelegt und eine höhere Einheit zu suchen bestimmt ist. Existenz-Dialektik (UN II, 10, 199 f.) zeigt sich z. B. darin, dass falsche Versöhnung im Ästhetischen durch Kunst auf wahre Versöhnung aus ist und im Ethischen eine Teleologie in Richtung christlicher Versöhnung liegt. Die Reue deutet hin auf Grenzen für die autonome Selbstkonstitution des konkreten Ich; sie ist der „höchste Ausdruck“ für die ethische Ansicht des Daseins, zugleich aber deren „Selbstwiderspruch“ (DSKE 1, JJ:119, 1843). An diesem Selbstwiderspruch, der für das Ich immanent unlösbar ist, entzündet sich die praktische Gewissheit religiösen Glaubens. Durch ihn bricht das Paradox des Religiösen hervor, das ist die über den endlichen Verstand hinaus gehende Versöhnung, die der Glaube anzunehmen wagt.68 In der Reue, in die das einzelne Ich im Vollzug der ethischen Selbstwahl, so wahr es sich im Gewissen durchsichtig wird, geraten muss, verbinden sich spontane Selbstkonstitution und Anerkennen Gottes als höchsten Grundes für das Selbstwerden. Die Aufhebung der Reue in ethische Existenzveränderung und neue Handlungsbefähigung gelingt durch ein In-sich-Zurückgehen des Einzelnen, „bis daß er sich selbst findet in Gott“. Die Wahl des Selbst gelingt, wenn er in seiner Reue Gott liebt und sein Selbst „absolut wählt, aus des ewigen Gottes Hand“ (E-O II, 230).69 Reuen ist lebendiger Ausdruck für den innerlichen Kampf um dies Gewinnen seiner selbst, worin er die Gewissheit von seines personalen Wesens 68 S. dazu Eduard Geismar „Das ethische Stadium bei Sören Kierkegaard“ in Zeitschrift. fr systematische Theologie 1 (1923/24), S. 227 – 300. 69 Vgl. hierzu Kierkegaards religiöse Ansprache „Seine Seele erwerben in Geduld“ zu Luk 21,19 in Erbauliche Reden 1843/44, übers. von E. Hirsch, Gütersloh 21992, S. 57 – 74, bes. 64f. Dort heißt es, des Menschen Seele sei ein „Selbstwiderspruch zwischen dem Äußeren und dem Inneren, dem Zeitlichen und dem Ewigen“; verloren ins Weltleben gehört sie doch Gott als wahres Eigentum und dem Menschen selbst, d. h. als dasjenige Eigentum, das erworben werden soll. So erwirbt er, „falls er sie wirklich erwirbt, seine Seele aus der Welt heraus, von Gott, bei sich selbst.“ Das Erwerben seiner Seele aber sagt Streit mit der ganzen Welt an; denn das Ziel, die Welt zu besitzen, um sie dann wieder loszulassen, ist ein Kampf, der ihn „in das innerlichste Verhältnis zu Gott“, ja zum „ewigen Einverständnis“ mit ihm bringen kann.
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Unvergänglichkeit zu synthetisieren versucht mit verwirrender Konkretion an erlebter Fülle und erlittener Last seines Lebens. Da das Selbst – gemäß der inneren Unendlichkeit der Seele seit Augustinus’ De quantitate animae – in sich „unendlich konkret“ und vielschichtig ist, lässt sich sein innerstes Wesen nicht ausdrücken durch eine „algebraische Größenbezeichnung“.70 Die unendliche Mannigfaltigkeit, die es ausmacht (E-O II, 229), ist für Kierkegaard vornehmlich dessen persönliche Geschichte, die in „lebendiger Wechselwirkung“ (E-O II, 280) mit anderen Ich-Wesen steht, die es berühren. Deshalb wird der 70 Ahnungsvoll hat Kierkegaard in seinen „Reflexionen über Christentum und Naturwissenschaft“ von 1846 (in Eine literarische Anzeige, übers. von E. Hirsch, Gütersloh 1983, S. 123 – 140) eine – heute hochaktuelle – Kritik des Physikalismus vorgebracht. Er nennt die Naturwissenschaften gefährlich, insofern die Physiologie z. B. so um sich greift, dass sie die Ethik, das Bewusstsein und Selbstbewusstsein des Menschen „einstreicht“, sie zur blanken „Illusion“ erklärend. Dann wird man den authentischen Eindruck vom Ethischen verlieren, von dem „du sollst“! wenn auch Himmel und Erde einfielen; stattdessen wird man mit einer Menge schwindelhafter Ausflüchte versehen (ebd. 126f.). Die Physiologen heben an, alles erklären zu wollen, – auch was sie nicht erklären können – und behaupten, Freiheit eines Ich sei Einbildung, das Ganze sei nur eine Funktion der Natur. Lasst uns den größten Verbrecher denken, und dann heißt es, sein Gehirn sei zu klein gewesen, „welch ein Grauen“ (ebd. 128f.). Törichter „Aberglaube an das Mikroskop“, so ruft Kierkegaard aus; denn mit keinen leiblichen Augen, deren Sehkraft maschinell beliebig stark potenziert wäre, kann ich sehen, wie ein Bewusstsein entsteht oder eine empfindende Seele oder dass und wie die Seele zu Geist wird (ebd. 130f.). Mit schwarzem Humor sagt er: „Wofern auf dem Wege der Naturforschung hinsichtlich der Bestimmung Geist irgendetwas zu erreichen wäre, so wäre ich der Erste, der nach dem Mikroskop griffe“! (ebd. 135) In Wahrheit gelte es hier, die Sokratische Unwissenheit aufzurufen und einzugestehen (ebd. 130). Er persifliert: Bald sehe ich Leute, die vor ihrem Laden ein Schild aufhängen mit der Aufschrift: Hier sieht man mittels eines Riesen-Mikroskops, wie der Mensch denkt, dort, wie das Gras wächst – das wären vortreffliche Motive für einen Aristophanes, v. a. wenn er einen Sokrates bei sich hätte und ihn durch ein Mikroskop gucken ließe; Sokrates würde erklären: Auf diesen Schildern sieht man, wie ein Mensch sich aufführt, der nicht denkt (ebd. 136). Zum Abschluss der Reflexionen imaginiert Kierkegaard einen vorzüglichen Naturforscher von beschwörender Ideenfülle, der die ganze Natur zu erklären vermag, nur nicht sich selbst versteht, sich nicht durchsichtig wird in der Bestimmung seines Geistes, in der ethischen Übernahme seines Talents. An Platos Hypothesenkritik erinnernd, lautet die Frage Kierkegaards: Wenn auch alles durch ein x erklärt ist, das unerklärt bleibt, so ist aufs Ganze gesehen nichts erklärt. „Eben weil Gott für den Menschen nicht Objekt sein kann, denn Gott ist das Subjekt“, so zeigt sich auch die Umkehrung: „Wenn jemand Gott leugnet“, seiner spottet, „so tut er Gott keinen Schaden“, sondern macht sich selbst zunichte, er spottet seiner selbst (ebd. 140).
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Vollzug der ethischen Selbstwahl, in der die „Anerkennung der ewigen Gültigkeit der Persönlichkeit“ (E-O II, 229) vollzogen wird, als Einheit von zwei Bewegungsmomenten des Selbst bestimmt, nämlich einer abstrahierenden, die das Ich von allem Nicht-Ich abgrenzt, und einer konkretisierenden, die das Ich in sein empirisches Leben und dessen besondere soziale Bezüge zurückführt. Die „Wahrheit“ der Existenz liegt in der vollbrachten Synthesis von Vereinzelung des Selbst, d.i. eine sich konzentrierende Sammlung seiner aus der Zerstreuung heraus, und Hinwendung, die den Zusammenhang stiftet zu Umwelt, Mitwelt und zur verpflichtenden „Ordnung der Dinge“ (E-O II, 279f.; vgl. Leibniz’ ordre g n ral). Die Einheit beider Strukturmomente der ethischen Selbstwahl: Isolation und Konkretion des Selbst, kommt zustande, wenn das Selbst jede seiner Handlungen mit dem Bewusstsein der Selbstverantwortung begleitet (E-O II, 264). Hochherzigkeit der Seele liegt in der Neigung, sich für alles sie Tangierende als mitverantwortlich anzusehen. Die vom Individuum einmalig zu vollziehende ethische Selbstwahl ist latent gegenwärtig in jeder anderen, so dass diese basale Wahl, – so heißt es mit Anklang an das Wort des Paulus: „Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur …“ (2 Kor 5, 17) – alles durchdringt und verwandelt (E-O II, 237). Die Konstitution freier Subjektivität in der ethischen Existenzsphäre bewährt sich durch eine fortwährende Konkretion ihrer Freiheit. Das ethische Erkennen seiner selbst ist sonach ein folgenreiches, kein nur kontemplatives; es gilt durch Ergründen des „idealen Selbst“, das jeder in sich hat, die Genesis für die „wahre Individualität“ vorzuzeichnen (E-O II, 275ff.). Ein hochrangiges Missverstehen der Selbstwahl liegt in der abstrakten Wahl seines vereinzelten Selbst. Der Mystiker, als Gestalt der Selbstwahl gedeutet, tätigt ein Sichwählen aus der Welt heraus als „abstrakte Identität“ (E-O II, 255f.), so erklärt Kierkegaard mit einem Topos aus Hegels FichteKritik. Seines sozialen und bürgerlichen Selbst vergessen, lebt er zum Zweck der Vertiefung seiner Innerlichkeit (E-O II, 280). Seine Geschichte, die die Geschichte seiner Gottesliebe ist, erringt aber keine eigentliche Entwicklung „unter der Form der Freiheit“ (E-O II, 258), da sie weltflüchtig und dem Wechsel von lichten und matten Augenblicken unterworfen ist. In seiner Selbstbildung prägt er v. a. kontemplative Tugenden in sich aus, die zentriert sind um ein andächtiges Versinken im „Schauen der Gottheit“, deren Bild sich zunehmend in seiner liebenden Seele spiegeln und so das verlorene Ebenbild Gottes im Menschen restituieren soll. Sein Gebet, die Mitte seines persönlichen Lebens, trägt kaum „das Gepräge des Vorsatzes“ in Bezug auf künftige reale Handlungen (E-O II, 258f.). Dass ein Mensch Gott lieben soll „von ganzem Herzen“ und in
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allen seinen Gedanken, ja dass dies zu tun höchstes Glück ist, möge niemand leugnen, erklärt der Ethiker, auf Jesu Gebot der Gebote anspielend (Luk 10, 27). Doch folge daraus „nimmermehr, daß der Mystiker das Dasein, die Wirklichkeit, in welche Gott ihn gesetzt hat, verschmähen“ dürfe (E-O II, 260). In seiner Abgrenzung zum Mystiker, für den durch übersteigerte Bewusstheit seines Verhältnisses zu Gott seine irdischen Beziehungen „daneben“ ihre Bedeutung einzubüßen drohen, ist für den Ethiker der wahre homo religiosus der, für den durch die Intensität seiner Gottesbeziehung die Innerlichkeit seiner intersubjektiven Beziehungen gesteigert wird (E-O II, 263).71 Indem der Mystiker die irdische, zeitliche Existenz als eitel und nichtig ansieht, lässt er sein Verhältnis zur Wirklichkeit durch ein metaphysisches Urteil bestimmt sein, das lautet: Alles Endliche ist für sich wesenlos. Er verkennt aber die Bedeutung des Geschichtlichen, es als bloß „vergebliche Mühe“ herabstufend (E-O II, 265f.). Die höchste Bedeutung, die er der Zeitlichkeit des Daseins beimisst, ist die, dass sie eine Prüfungszeit sei für jeden: zur Erprobung der Treue seiner Liebe. Der Ethiker setzt solcher metaphysischen Schau die an Origines erinnernde, zugleich auf die Sinnenwelt zugehende Variante entgegen, dass die Zeitlichkeit zugleich die Möglichkeit berge für „die Verherrlichung des endlichen Geistes“ (E-O II, 266), neuzeitlich idealistisch für die freie Entfaltung der Person vermöge ihrer eignen Tat, heißt es Fichte nahe. Ihre ewige Wrde liege darin, eine authentische individuell-persönliche Geschichte für sich zu erlangen, und „das Göttliche“ der Person bestehe darin, 71 Der von Kierkegaards Ethiker hingemalte gute Mystiker, der eine konkrete IchIdentitt erringt, passt glänzend zu der religiösen Stufe, die mit der höheren sittlichen vereint ist, wie Fichte sie in der Anweisung zum seligen Leben entwickelt hat. Kierkegaards Selbstabgrenzung gegen Fichtes vierte Stufe in der Anweisung dürfte darin liegen, dass er die von Fichte für die höhere Sittlichkeit und für die Religiosität geforderte Selbstvernichtung des Ich vor Gott zum Charakteristikum der „Religiosität A“ macht, von der er die christliche „Religiosität B“ abhebt, die sich zum Ewigen verhält, das in die Zeit kam, zum absoluten Paradox, das Christus ist, da in ihm Gott Fleisch wurde, damit er leide; der christlich Religiöse findet das Gottesverhältnis – gemäß Augustins doppelter Transzendenz Deus est interior intimo meo et superior summo meo – nicht in der eigenen Tiefe in sich (UN II, 271f., 281 – 285, 311). Vgl. Friedrich Hauschildt Die Ethik Sçren Kierkegaards, Gütersloh 1982.– Die von Kierkegaard im Wahrheitswert unter der christlichen entworfene „Religiosität A“ knüpft u. a. an Schleiermacher und J. G. Fichte an; sie vollbringt quasi pelagianisch eigenverdienstlich kraft Selbstvernichtung des Ich die Gottesgeburt in der Seele und ist dazu geneigt, monistisch (averroistisch oder spinozanisch) das freie Ich in der absoluten Substanz zu versenken. Der christlich Religiöse gewinnt, theonom durch Gnade ein neues Geschöpf werdend, sein wahres freies Ich.
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dass sie ihrer Geschichte Zusammenhang verleihen kann, indem sie das ihr Widerfahrene von Notwendigkeit in Freiheit überführt und dabei die ganze Äußerlichkeit in bedeutsame Innerlichkeit verwandelt (E-O II, 267f.). Die ethisch-religiöse Dimension der Konkretion in der Selbstwahl tritt hervor in der Hymne, die chassidischen Klang hat: Das Einzigartige und Unübertreffliche am Menschenlos ist, „daß man der Gottheit zu Hilfe kommen kann, Gott verstehen kann; und das wiederum ist die einzige eines Menschen würdige Weise, Gott zu verstehen, daß man sich in Freiheit alles aneignet, was einem begegnet“, das Frohe und ebenso auch das Traurige. Der Ethiker fügt humorvoll hinzu: „Mich bedünkt, man brauche dies einem Menschen bloß laut zu sagen, um ihn eifersüchtig auf sich selbst zu machen.“ (E-O II, 267) In solcher freien, produktiv bejahenden Aufnahme auch unabänderlicher Faktizität gewinnt für ihn das vom Mystiker leidenschaftlich gesuchte Gott-Kennen und ihn über alles Lieben-Wollen den sinnadäquaten Ausdruck. Für den Ethiker liegt in solcher Faktizitätsbewältigung höchste ethische Freiheit in ihrer unabweislichen Konkretisierung. Denn „in seiner Freiheit“ vermag der Mensch nur zu sein, „indem er sie fort und fort verwirklicht“ (E-O II, 247). Für Kierkegaards Ethiker koinzidieren die ethische und religiöse Sphäre der Existenz, so wie für Fichte in der Bestimmung des Menschen sittliche Autonomie und gläubiger Gehorsam kompatibel sein sollen und in der Anweisung zum seligen Leben die dritte, sittliche und vierte, religiöse Stufe ineinander überfließen. Das wahre Verhältnis des Selbst zu sich ist für Kierkegaard also über den Gottesbezug vermittelt. Diese theonom vermittelte Selbstbeziehung ist, nach Augustinischer Tradition, eine Verinnerlichungsbewegung, in der das Selbst durch sein Suchen und Finden des transzendenten Gottes, der ihm absolut unverfügbar ist, in seines eigenen Wesens Tiefe hineinfindet. Dass im Akt der Selbstwahl ein Ernst liegt, der die ganze Seele erschüttert, ja dass er vom Unterton der Angst begleitet ist, deutet Kierkegaard in Entweder-Oder durch den um seinen Freund besorgten Ethiker an: „Was fürchtest Du“? Sich seiner selbst coram Deo in seiner „ewigen Gültigkeit“ bewusst werden, ist ein Augenblick, der bedeutungsvoller ist als alles andere in der Welt. Es ist so, als ob du in dir gefangen würdest und niemals mehr in Zeit oder Ewigkeit entwischen könntest; und es ist – paradox – so, als ob du dich verlörest und zu sein aufhörtest. Welcher Augenblick, ruft der Ethiker aus – und sucht den Ästhetiker aus seiner Verirrung in tragischen Heroismus angesichts des Weltelends herauszuführen, – „wenn man für eine Ewigkeit sich bindet an eine ewige Macht“, wenn man sich selbst empfängt als ein persönliches Ich, „dessen Andenken keine Zeit austilgen wird“ (E-O
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II, 219). Das Sichwhlen coram Deo führt zum Offenbarwerden des Schattens im Ich, das der Katharsis bedarf und zurückschreckt. Dem Aufruf zur ethisch-religiösen Entscheidung ist ein Ultimatum beigefügt, eine Predigt über „Das Erbauliche, welches in dem Gedanken liegt, daß wir Gott gegenüber allezeit Unrecht haben“, von der Hiobsfrage des Hoffen-Dürfens auf Gottes Güte mitten im Leid bewegt.72 Im Horizont der TheodizeeFrage, die auf intellektueller Ebene unlösbar bleibt, ist jedes existierende Ich ausgespannt zwischen Leben und Tod, Sein und Nichtsein, erhoffter und gefürchteter Unvergänglichkeit und Vergänglichkeit, des näheren zwischen kühnem Dasein- und schwermütigem Nichtdaseinwollen, in Furcht vor der gefesselten ebenso wie vor der entfesselten eigenen Freiheit, in Angst vor dem Sich-Gewinnen wie vor dem Sich-Verlieren. Wenn der Einzelne eine Verpflichtung, die sein „innerlichstes Verhältnis“ zu sich selbst betrifft, in ihrer Absolutheit und sein Dasein unter einer „ewigen Verantwortung“ verstanden hat (E-O II, 288), so weiß er sich coram Deo. Der Ethiker in Entweder-Oder, der auf verborgene Art christlicher homo religiosus ist, verfügt nur über „eine einzige Kategorie“: die absolute Wahl, die über das Wahrwerden des Selbst im absoluten Verhältnis zu Gott entscheidet. Die ethische Wahl des Selbst in Entweder-Oder, welche die volle – wie in Fichtes Rechtslehre bis zur Leiblichkeit fortgreifende – Konkretion des Ich einschließt,73 ist für Kierkegaard zugleich religiös und 72 E-O II, 357 – 377. Das Ultimatum gibt zu bedenken, von welch „entsetzlicher Angst“ du ergriffen würdest im Gedanken, du könnest Recht gegen Gott haben, und nicht Gottes Lenkung wäre Weisheit, sondern deine eigenen Pläne. Die Antithese lautet: Allein in einem „unendlichen Verhältnis zu Gott“ kann der Zweifel beschwichtigt werden; nur in einem „unendlich freien [!] Verhältnis zu Gott“ kann Verzweiflung sich in Freude wandeln. Wenn der „Kummer des Zweifels ihn trübselig“ stimmen will, erhebt der Mensch sich über das Endliche zu Gott; denn dass er – wie Hiob (vgl. Die Wiederholung, übers. von E. Hirsch, Gütersloh 1991, S. 68ff. zu Hiob) – allezeit Unrecht hat vor Gott gegen Gott, sind die „Flügel“, mit denen er sich über die Endlichkeit hinausschwingt, und – so heißt es, Augustins Wort vom „inquietum est cor nostrum“ nahe kommend – „das ist das Sehnen, mit dem er Gott sucht“, und „das ist die Liebe, in der er Gott findet“ (E-O II, 373ff.). 73 BA, 60 – 65; vgl. die von E. Hirsch in den Anmerkungen mitgeteilten, von Kierkegaard gestrichenen Texte zur Psychosomatik der Scham und zur – berechtigten, aber oftmals übertriebenen – Scheu vor dem Thema Sexualität. Denn so „manch ein junges Leben verdarb, weil der Rigorismus es schwermütig und das Geschlechtliche zur Sündigkeit machte; so ward auch manch ein junges Leben verspielt, weil man ganz und gar schwieg. Es ist auch gewiss, daß es oft eine törichte Sprödigkeit ist, die sich des darüber Sprechens enthält“. Wenig Orientierung biete auch eine Predigt der Liebe, die wohl den Geist und die Wahrheit beschwört, aber
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erinnert auch an Fichtes späte Lehre, dass jedes Ich sich selbst als Bild des Absoluten finden soll, nur ohne dessen atmosphärischen Spinozismus, der eine Selbstversenkung des freien Ich ins absolute Sein vorsieht. Die Selbstwahl, wie Kierkegaard sie entworfen hat, ist in ihrer geheimnisvollen Struktur ein transzendental Gott setzender Akt, den er wie im Brennspiegel in dem großen Wort verdichtet: „Ich wähle das Absolute, welches mich wählt; ich setze das Absolute, das mich setzt“ (E-O II, 227). Fichtes neue Fundierung der Einheit der Apperzeption oder des theoretischen Ich-denke in der ethisch-praktischen Einheit des Ich-will – wie er sie in der Wissenschaftslehre nova methodo entwickelt hat –, wird in diesem Wort von Kierkegaard auf intuitive Art original und eindrücklich aufgefasst. Denn das „Ich wähle“ das Absolute ist für Kierkegaard der praktische Akt bejahender Anerkennung des Absoluten; während das „Ich setze“ das Absolute der dem praktischen Akt: ,Ich will, daß Gott sei!’ nachfolgende theoretische Akt ist, der das Sein Gottes im Denken annimmt. Solches praktische Wählen und denkende Setzen Gottes, welche das konkrete Ich vollführt, zeichnet dessen Innesein seines zuvor schon Gewählt- und Gesetztseins von Gott konstruktiv nach. Von hoher Komplexität ist für Kierkegaard der Sinnzusammenhang, dem gemäß das Ich sein unvordenkliches Gewählt-Worden-Sein innerlich versteht und für sich besiegelt.74 Diese Besiegelung ergreift eben dieselbe dialogischmetaphysische Realität, die Fichte in der Anweisung zum seligen Leben tiefsinnig das Innewerden unserer „ewigen Geliebtheit“ genannt hat (FW V, 540).75
dabei „das Erotische als ein Nichts entschwinden lässt“. Er könne, versichert Kierkegaard, leicht ein Dutzend Entwürfe skizzieren, in denen sich die „ungeheuren Konflikte kund tun sollen“, die aus der Verleugnung des Eros entspringen, z. B. die Frage, worin „das Unsittliche in der sinnlichen Lust“ liege (BA, 251ff.). Vor Freud bestimmt er also in zarten, aber starken Tönen Umrisse seelischer Konstellationen, aus denen typischer Weise Neurosen entspringen. 74 Anzunehmen ist, dass Kierkegaard vertraut war mit dem Johanneischen Wort, dass die Liebe nicht darin besteht, dass wir Gott lieben, sondern dass Gott uns seine Liebe erwiesen hat (1 Joh 4, 10), so dass das Geliebtsein dem Lieben vorausgeht. 75 Für den – wie Kierkegaard nach ihm – bibelkundigen J. G. Fichte dürften z. B. das alttestamentliche Wort „Mit ewiger Liebe habe ich dich geliebt …“ ( Jeremia 31, 3) und das neutestamentliche „Also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn dahingab“ ( Joh 3, 16), atmosphärisch im Hintergrund gestanden sein. Ontologisch-metaphysisch sind u. a. diese biblischen Kernaussagen tragende Basis für eine Weltansicht, die im christlichen Abendland seit Augustinus glaubwürdig war, seit Nietzsches Denken jedoch verloren zu gehen droht, in der die
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Kierkegaard vollendet damit den Weg vom frühidealistischen, Descartes cogito ergo sum und Fichtes sich selbst setzenden Ich nahen zum spätidealistischen, dem späten Fichte und späten Schelling nahen amatus/ amata ergo sum. Denn Gottes zu bedürfen, nicht nur als eines intellektuell spontan erzeugten Postulats der praktischen Vernunft, damit diese menschliche Vernunft mit sich selbst zusammenzustimmen vermag und auf kein absurdum pragmaticum der unaufhebbaren Diskrepanz von Glückswürdigkeit und Glück verfällt, sondern auch konkret existentiell, gilt Kierkegaard als das Insignium der Vollkommenheit des Menschen. Kierkegaards Konzept des wahren Selbst in eigentlichem Existieren, dessen Schemata die Stadien sind, zeichnet sich aus durch einen einheitlichen Argumentationsgang, in dem er Selbstbewusstsein, Sollensbewusstsein und Gottesbewusstsein als Explikationsrichtungen der sittlichreligiösen Grundentscheidung des Ich entfaltet. Das konkrete Ich, so zeigt er, bildet sich durch eine in sich zweifache geistige Bewegung von freier Selbstbegründung und theologischem Begründet-Werden. Diese Idee des Zusammenhangs von autonomer und theonomer Komponente im Gefüge der Bildung des wahren Selbst, die auf den Einfluss Fichtes zurückgeht, führt Kierkegaard weiter, indem er in der Krankheit zum Tode den geistseelischen Akt, der jede Art Verzweiflung überwinden, ja ihre Heilung von Grund auf erringen soll, in lakonischer Brillanz so erklärt: Das Selbst „gründet sich durchsichtig in der Macht, welche es gesetzt hat“ (KT, 134). Die subjektive Handlung solchen Sichgründens, das den tragenden Grund des eigenen Selbstseinkönnens kennt, ist der Glaube. Gemäß der ausgereiften Stadien-Konzeption ist dieser religiöse Glaube durch einen zweifachen Bruch hindurchgegangen: Das freie Selbst muss vom ästhetischhedonistischen zum ethischen Stadium überwechseln und im Vertrauen auf Gott den Sprung ins christlich-religiöse Stadium wagen, das qualitativ darüber hinaus führt, nur „eine Evolution innerhalb der Menschennatur“ zu sein (UN II, 270). In ihrer sittlichen Qualität ist die Kierkegaardsche Wahl des Selbst mit der Kantischen Revolution der Denkungsart vergleichbar, in ihrer religiösen mit der neutestamentlichen Metanoia. Das Aussetzen dieser ethisch-religiösen Wahl hingegen gefährdet in jedem Augenblick die individuelle Lebensbahn und das in sich stimmige Gelin-gen bejahter Existenz. Gelingen oder Misslingen persönlichen Seins sind nicht allein psychologischanthropologische oder ethische Phänomene, sondern gewinnen darüber göttliche Agape als Urgrund und Ziel des Universums gilt. Vgl. dazu E. Düsing Nietzsches Denkweg. Theologie – Darwinismus – Nihilismus, München 22007.
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Edith Düsing
hinaus Ewigkeitsbedeutung. Ein Selbst überhaupt haben und ausbilden zu dürfen, ist das Zugeständnis eines christlich verstandenen persönlichen Gottes an den Menschen, der frei und schöpferisch tätige Wesen sich selbst gegenüber hat erschaffen wollen.
„Dos moi pou sto …“ Fichtes und Kierkegaards Ringen um Gewissheit zwischen moralischer und religiöser Existenz Von Hartmut Rosenau Søren Kierkegaard hat seine Existenztheologie in grundsätzlicher Gegenstellung zum neuzeitlichen Ideal von Philosophie als systematische Wissenschaft entwickelt.1 Das bruchlose, widerspruchsfreie kohärente und konsistente System von Denken und Sein kommt nach dem gängigen Urteil in Hegels grandioser Philosophie des absoluten Geistes zur Vollendung. Descartes hatte es mit seinem freien, methodischen Zweifel an allen herkömmlichen Gewissheitsinstanzen und seiner Entdeckung des „cogito sum“ als unbezweifelbares Fundament aller Realitätserkenntnis auf den Weg gebracht, und Spinoza, Kant, Fichte und Schelling hatten es weiter ausgebaut. Diesem Ideal sind in der Zeit Kierkegaards auch namhafte Theologen in Deutschland (Marheineke) wie in Dänemark (Martensen) im Anschluss an Hegel gefolgt. Ihre spekulative Durchdringung des christlichen Glaubens sollte diesen in den Stand einer durch und durch vernünftigen, methodisch gesicherten, präzisen Wissenschaft erheben und darum auch verlässliche Lebensorientierung bieten können. Die nun erreichte Gottesgewissheit im philosophischen Begriff verbürgt zugleich die gesuchte Selbst- und Weltgewissheit – und umgekehrt in wechselseitiger Erschließung. Allerdings brechen schon innerhalb des idealistischen Denkens wiederum Zweifel an einem solchen geschlossenen metaphysischen Wirklichkeitsverständnis auf: zwar hält Schelling2 in seiner späten Unter1 2
Vgl. N. Thulstrup Kierkegaards Verhltnis zu Hegel. Forschungsgeschichte, Stuttgart 1969; H. Schulz „Kierkegaard über Hegel. Umrisse einer kritisch-polemischen Aneignung“ in Kierkegaardiana 21 (2000), S. 152 – 178. Zum neuerdings erst intensiv diskutierten Verhältnis Schelling – Kierkegaard vgl. J. Hennigfeld/J. Stewart (hgg.) Kierkegaard und Schelling. Freiheit, Angst und Wirklichkeit (Kierkegaard Studies: Monograph Series, Bd. 8), Berlin/New York 2003. Zur allgemeinen Einführung in die Existenztheologie Kierkegaards vgl. J. Sløk Christentum mit Leidenschaft. Ein Weg-Weiser zur Gedankenwelt Kierkegaards, München 1990.
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scheidung zwischen einer bloß negativen und einer positiven Philosophie – wie auch Descartes und Fichte – an der Überzeugung fest, dass es ohne Gottesgewissheit keine Welt- und Selbstgewissheit geben kann. Aber diese Gewissheit reicht bloß zu einem nackten „dass“ einer göttlichen Macht in ihrer absoluten Freiheit, die wir uns vorausdenken müssen, wenn wir uns selbst und die Welt, in der wir leben, verstehen wollen. Doch im Blick auf eine positive Bestimmung des Wesens dieses freien Gottes – etwa als Garant einer moralischen Weltordnung (Fichte) oder als absoluter Geist (Hegel) – bleiben nach wie vor Zweifel und Skepsis. Denn eine solche Bestimmung lässt sich nicht im Sinne einer natürlichen oder philosophischen Theologie a priori im Modus von Notwendigkeit und Allgemeinheit konstruieren, sondern nur a posteriori hinnehmen, wenn sich Gott als er selbst offenbart und sich selbst bestimmt.3 Damit weist Schelling – vorbildlich für Kierkegaard – zur Überwindung von Zweifel und Skepsis aufgrund von wissenschaftlicher und philosophischer Reflexion auf außerwissenschaftliche Gewissheitsinstanzen der menschlichen Lebenswelt (Mythos; Religion; Offenbarung), die auch ihre angemessene Darstellungsform nicht länger im philosophischen Begriff und System „more geometrico“ (Spinoza) haben, sondern nunmehr in der offenen Erzählung, in kontingenter Geschichtlichkeit. Freilich kann in einem so positiv konzipierten religiösen Glauben die Unruhe des Wissenwollens und des Strebens nach lebensorientierender Gewissheit und Verlässlichkeit noch nicht zur Ruhe kommen. Denn Religion und Glaube, insbesondere der christliche, sind selbst ein Hort der Unruhe, der Anfechtung und des Zweifels. Auch die religiöse Existenz, speziell die christliche, sofern der christliche Glaube von Anfang an „denkender Glaube“ (C. H. Ratschow) und insofern auf immer fragwürdige Vermittlungsinstanzen angewiesen ist, hat Anteil an den Grundformen menschlichen Geistes: Zweifel, Wissen, Glauben, die Fichte in seiner gleichnamigen Schrift als „die Bestimmung des Menschen“ (1800) zur Lösung der spezifisch neuzeitlichen Gewissheitsproblematik durchdekliniert hat. Dabei kann die Unruhe religiös wohl in einem Glauben an Vorsehung und Prädestination zeitweilig, aber nicht dauerhaft überwunden werden, der als Spielart der von Fichte als Determinismus destruierten Haltung verstanden werden kann. Denn dieser will die eigene moralische Verantwortung des Glaubens insbesondere in der Situation konkurrierender Offenbarungsansprüche nicht wahrnehmen. 3
Vgl. dazu F. W. J. Schelling Ueber die Natur der Philosophie als Wissenschaft (1821) in Smtliche Werke, hrsg. v. K. F. A. Schelling, Stuttgart 1861, Bd. IX, S. 209 – 246.
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In Buch I („Zweifel“) seiner Bestimmung des Menschen thematisiert Fichte den Determinismus als natürliche Weltanschauung im Ausgang von der Beschreibung der sinnlichen Wahrnehmung. Denn sie wird zunächst und zumeist als Fremdbestimmung des wahrnehmenden Subjekts durch das Objekt der Wahrnehmung nach dem Satz vom zureichenden Grunde (Leibniz) verstanden. Generalisiert ist nach diesem Satz aber nicht nur der wahrnehmende Mensch, sondern alles Seiende durchgängig determiniert (Bestimmung des Menschen = determinatio): „Ich selbst mit allem, was ich mein nenne, bin ein Glied in dieser Kette der strengen Naturnothwendigkeit.“4 Freiheit ist innerhalb dieser Weltanschauung bloßer Schein. Eine ethische Verantwortung des Menschen für sein Handeln kann es somit in dieser festgefügten Welt nicht geben, auch keine Selbstzweifel oder gar eine Selbstentzweiung hinsichtlich einer möglichen Differenz zwischen dem, was und wie ich bin, und dem, was und wie ich sein sollte oder möchte, oder zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Das Sein des Menschen ist vielmehr – wie alles andere Seiende auch – gleichsam unschuldig, in bruchloser und indifferenter Einheit mit sich selbst. Doch so wird die spezifische Seinsweise des Menschen in ihrer kategorialen und nicht nur graduellen Verschiedenheit von allem anderen dinghaft Seienden (Gegenstände) oder naturhaft Seienden (Pflanzen, Tiere) verspielt. Diese meldet sich allerdings als – innerhalb der deterministischen Weltanschauung ebenfalls determinierter und insofern systemimmanenter – Widerspruch zwischen Kopf und Herz. Auch wenn mein Verstand mir sagt, dass alles determiniert und Freiheit eine bloße Chimäre ist, so will ich doch frei und selbstverantwortlich und kein bloßes Ding sein. Dieser Widerspruch als Differenzerfahrung zwischen Erkenntnis und Wille bricht die vermeintlich unschuldige Geschlossenheit der deterministischen Weltanschauung in sich selber auf, indem er Ungewissheit und Zweifel (letztlich Verzweiflung) an der durchgängigen dinghaften Bestimmtheit des Menschen als Ausdruck einer Entzweiung mit sich selbst anmeldet. Es muss daher um der (Selbst-) Gewissheit willen das zum Fatalismus führende Prinzip der deterministischen Weltanschauung überprüft werden, und dies ist die Erfahrung der Fremdbestimmung durch das Objekt in der sinnlichen Wahrnehmung eines Subjekts. Die Aufgabe ist also, die Dingvorstellung, d. h. die Vorstellung, dass es Dinge außer und unabhängig von mir gibt, die mich in meinem Sein bzw. in der Wahrnehmung bestimmen, nunmehr unter der Voraussetzung eines Willens zur Freiheit und Selbstbestimmung zu erklären. 4
J. G. Fichte Die Bestimmung des Menschen (1800), FW II, 179.
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Eine solche Erklärung der Dingvorstellung unternimmt Fichte in Buch II („Wissen“) seiner Bestimmung des Menschen, und zwar in Form eines Dialogs zwischen dem zweifelnden Ich und dem Geist. Er räumt die Zweifel an der Freiheit aus, indem er die Realität der Freiheit ins transzendentale Wissen hebt. Diese dialogische Form ist nicht bloß aus ästhetischen Gründen gewählt, sondern sie besagt sachlich Entscheidendes über Fichtes Freiheitsverständnis und seinen Weg zur Gewissheit. Denn zur Selbstbestimmung aus einer ihrer selbst sicheren Freiheit gelangt man nicht durch monologisierende Reflexion des Verstandes, sondern nur durch das willentliche Befolgen der Aufforderung zur Autonomie seitens eines anderen freien Wesens: „Merke auf dich selbst: kehre deinen Blick von allem, was dich umgibt, ab, und in dein Inneres – ist die erste Forderung, welche die Philosophie an ihren Lehrling thut. Es ist von nichts, was ausser dir ist, die Rede, sondern lediglich von dir selbst.“5 Zweifel eines einzelnen in seiner Subjektivität können und werden nach Fichte daher nicht reflexiv, sondern voluntativ in intersubjektiver Interaktion und im dialogischen Austausch gelöst. Die Überwindung der Skepsis und das Erlangen von Gewissheit erfolgt in der Gemeinschaft. Unter dieser appellativen Voraussetzung macht nun der Geist dem Ich anhand einer transzendentalkritischen Analyse der Wahrnehmung einsichtig: nicht nur die reinen Formen der Anschauung (Raum und Zeit) und des Denkens (Kategorien) sind subjektive Leistungen des Ich, die – so Kant – den durch die Sinne gegebenen rohen Stoff der Erkenntnis wie in einem „Waffeleisen“ zu einem Erkenntnisgegenstand formen. Sondern – über Kant hinaus – alles vermeintlich objektiv Gegebene ist als spontane, freie Bewusstseinsleistung gemäß einer produktiven Einbildungskraft zu erklären. Dabei entsteht das Gefühl der Notwendigkeit und des Zwanges, so und nicht anders wahrnehmen zu können, nicht etwa – wie der Determinist behauptet – durch einen geheimnisvollen Einfluss eines von mir unabhängigen Gegenstandes außer mir, sondern durch die dem subjektiven Bewusstsein eigenen, obgleich unbewussten Gesetze des Vorstellens, die in transzendentalkritischer Einstellung ins Bewusstsein und Wissen gehoben werden können. Das bedeutet freilich nicht, dass den vorgestellten Dingen keine Realität zukommt. Es besagt nur, dass ihnen nicht an ihnen selbst, sondern übertragener Weise gemäß den Vorstellungsgesetzen des Subjekts, also für uns Realität zugesprochen werden kann. Das erkannte bzw. wahrgenommene Objekt ist durch das erkennende Subjekt in jeder Hinsicht 5
Fichte Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre, FW II, 422.
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bedingt – und nicht umgekehrt. Denn nur so kann das unbestreitbare Faktum von Wissen und Wahrheit als Übereinstimmung von Vorstellung und Sachverhalt (adaequatio rei et intellectus) erklärt werden. Dogmatismus und Determinismus können demgegenüber nicht erklären, wie das Ding außer und unabhängig von mir in mich hinein kommen und Wissen, geschweige denn Selbstbewusstsein entstehen kann, damit eine Übereinstimmung von Vorstellung und Sachverhalt gelingt. Für den Idealisten aber ist klar: der Grund der Übereinstimmung von Subjekt und Objekt einer wahren Welterkenntnis und damit aller Gewissheit ist in der SubjektObjekt-Identität des Selbstbewusstseins gelegt. Aus seinen eigenen und darum freien Gesetzmäßigkeiten wird den Dingen Realität und Wahrheit zugesprochen. Und indem nun der Mensch die Dingvorstellung nach seinen eigenen Bewusstseinsgesetzen produziert, ist er frei (Bestimmung = terminatio). Allgemein und grundsätzlich – auch im Blick auf ethische Konsequenzen – gesagt: er untersteht dem Zwang seiner eigenen Gesetzgebung. Das idealistische Freiheitsverständnis ist demnach nicht mit Libertinismus oder Willkür zu verwechseln – das wäre eine bloße Freiheit „von“ Fremdbestimmungen ohne gesetzmäßige Bindung – , sondern es besagt im Sinne der Autonomie, seinem eigenen Gesetz als Freiheit „von“ (Fremdbestimmung) und zugleich Freiheit „für“ (Selbstbestimmung) zu folgen. In diesem Wissen ist die Freiheit von den Dingen festgestellt und der Zweifel über die Bestimmung des Menschen ausgeräumt: Und mit dieser Einsicht, Sterblicher, sey frei, und auf ewig erlöset von der Furcht, die dich erniedrigte und quälte. Du wirst nun nicht länger vor einer Nothwendigkeit zittern, die nur in deinem Denken ist, nicht länger fürchten von den Dingen unterdrückt zu werden, die deine eigenen Producte sind, nicht länger dich, das Denkende, mit dem aus dir selbst hervorgehenden Gedachten in Eine Klasse stellen.6
Mit diesem Fazit bringt der „Geist“ die soteriologische Dimension seiner erkenntnistheoretischen Überlegungen zwischen Zweifel und Gewissheit auf den Punkt. Für Fichte ist also die so charakterisierte Freiheit in ihrer Doppelstruktur der Grundzug seiner Philosophie überhaupt. Ihr Geschäft ist daher primär Weltgestaltung, und nicht Weltauslegung. Alle philosophischen Probleme erhalten nun unter dem Vorzeichen der Freiheit ihre Antwort, auch die ontologische Frage nach dem Seienden, insofern es ist. Denn das, was in Wahrheit ist, ist Freiheit und Selbstbestimmung, ist tätige Ichheit – zwar nicht als Vorgabe, aber doch als prinzipiell lösbare Aufgabe für das Ich. 6
Fichte Die Bestimmung des Menschen in FW II, 240.
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Alles andere, die Welt der Gegenstände, die Natur, ist pures Nicht-Ich, ist letztlich an ihm selbst Nichtiges und hat Sein und Sinn nicht an sich, sondern nur für das sich seiner selbst gewisse Ich, dem es Fichte zufolge als Material der Pflichterfüllung dient.7 Der schon als Tathandlung, Freiheit und Selbstbestimmung charakterisierte erste Grundsatz von Fichtes Philosophie ist der Satz des Selbstbewusstseins: Ich = Ich. Das so gekennzeichnete, absolute, d. h. von allem Bezug auf anderes gelöste Ich ist das reine, transzendentale Ich, die Ichheit oder Subjektivität überhaupt. Als transzendentales Ich ist es die notwendige Bedingung der Möglichkeit für jede Erkenntnis und als solche nicht identisch mit dem empirischen, konkreten Ich eines Individuums. Das absolute und reine Ich ist zu unterscheiden vom empirischen, menschlichendlichen Ich. Letzteres ist nicht nur Selbstbewusstsein und damit freies Vernunftwesen, sondern es ist zugleich auch Weltbewusstsein und erfährt sich so als durch Gegenstände außer ihm bestimmtes Sinnenwesen. Die wechselseitige Einschränkung von Ich und Nicht-Ich konstituiert den Menschen als Person. Als selbstbewusstes Vernunftwesen ist der Mensch absoluter Selbstzweck: er ist, weil er ist, und nicht, weil etwas anderes außer ihm ist. Als weltbewusstes Sinnenwesen aber erfährt sich der Mensch als fremdbestimmt durch die Außenwelt: er ist, weil etwas anderes außer ihm ist. Zum einen ist also für das Ich das Ich selbst, zum anderen aber ebenso das NichtIch Bestimmungsgrund. Daher erfährt sich der Mensch auch im Wissen, nicht nur im Zweifel als ein in sich widersprüchliches Wesen, und dies ist seine Bestimmung im Sinne einer Definition. Seine Bestimmung im Sinne einer Aufgabe ist es nun, diesen Widerspruch aufzulösen, um absolut identisch mit sich selbst, um reine Ichheit zu werden. Dieser seiner ihm aufgegebenen Bestimmung kommt der Mensch nach, indem er mehr und mehr die Welt, die Natur, das Nicht-Ich dem Ich angleicht. „Alles Vernunftlose sich zu unterwerfen, frei und nach seinem eigenen Gesetze es zu beherrschen, ist letzter Endzweck des Menschen.“8 Das empirische Ich soll reines, absolutes Ich werden, durch nichts anderes bestimmt als durch sich selbst. Die vernunftlose Welt vernünftig zu machen, etwa durch die vollständige Beherrschung der die menschliche Freiheit begrenzenden, ihr Widerstand leistenden Natur mit ihren widersinnigen, manchmal kata7 8
Vgl. Fichte Ueber den Grund unseres Glaubens an eine gçttliche Weltregierung (1798) in FW V, 185. Fichte Von den Pflichten der Gelehrten. Jenaer Vorlesungen 1794/95, Hamburg 1971, S. 9.
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strophalen Wechselfällen, sie unter das eigene Gesetz der Freiheit zu zwingen, ist das Streben des Menschen. Mittel zum Erreichen dieses Zweckes ist die Kultur im umfassenden Sinn. Ackerbau, Technik, Erziehung, Kunst, Wissenschaft, Recht und Staat – all die verschiedenen Formen von Kultur dienen nur dem einen Zweck, den Menschen mit sich selbst identisch werden zu lassen, ihm zur absoluten Freiheit zu verhelfen. Diese Bestimmung des Menschen, die Welt durch kulturelles Schaffen nach seinen Freiheitszwecken einzurichten, kann nur in einer arbeitsteilig organisierten Gesellschaft mit ihren verschiedenen Ständen erfüllt werden – wobei der Gelehrtenstand die Oberaufsicht über den Fortgang der Kultur im Blick auf das letzte Ziel der absoluten Freiheit innehat. Dabei geht es nicht nur um eine freiheitliche Gestaltung der Umwelt (Natur), sondern auch um eine freiheitliche Gestaltung der Mitwelt (Gesellschaft) hinsichtlich einer humanen Praxis in „der Einen großen Einheit des reinen Geistes“, wie es Fichte in seiner kleinen Schrift Ueber die Wrde des Menschen (1794) pathetisch schildert.9 Das Ideal der völligen Angleichung des Nicht-Ich an das Ich, die Beherrschung der Natur nach dem Gesetz der Freiheit ist für den einzelnen Menschen wie für die Gesellschaft jedoch nur annäherungsweise und niemals vollständig zu realisieren. Die Unerreichbarkeit des Ziels ist in der menschlichen Endlichkeit und Beschränktheit begründet. Zwar setzt sich das Ich im Selbstbewusstsein schlechthin und unbedingt selbst (erster Grundsatz der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre von 1794/95), aber es setzt sich auch – der Form nach – unbedingt ein Nicht-Ich entgegen (zweiter Grundsatz). Das Nicht-Ich, die Welt, die Natur, gehört demnach konstitutiv zum menschlich-endlichen Selbstbewusstsein. Denn nur im sich losreißenden Unterscheiden von dem, was das Ich nicht ist: Gegenstand, Objekt, bedingt und unfrei, erfährt und erfasst es sich als das, was es ist: tätiges Freiheitswesen auf dem Boden absoluter Selbstgewissheit. Ohne die Widerstand leistende Schranke des Nicht-Ich würde das Ich zwar absolut, aber ohne Selbstbewusstsein sein. Der Mensch braucht daher als tätiges Freiheitswesen die anstößige Einschränkung durch die gegenständliche Welt, um sich durch deren fortschreitende Überwindung als tätig und frei bewusst zu werden. Das unbedingte Sollen: werde identisch mit dir selbst, bestimme dich selbst und lass dich nicht durch Fremdes bestimmen, kann notwendiger Weise nicht vollkommen verwirklicht werden. Denn der Mensch ist nicht wie Gott ein ens perfectum, sondern nur ein ens perfectibile: „so ist Vollkommenheit das höchste unerreichbare 9
Fichte Ueber die Wrde des Menschen (1794) in FW I, 416.
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Ziel des Menschen, Vervollkommnung ins unendliche aber ist seine Bestimmung.“10 Diese Bestimmung treibt ihn „zur Förderung der Kultur und Erhöhung der Humanität“,11 um seiner Menschenwürde durch Selbstbestimmung und Eigenverantwortung für sein Handeln Ausdruck zu verleihen. Mit dieser Bestimmung des Menschen als endliches, nach absoluter Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung strebendes, seiner selbst sicheres Freiheitswesen hat Fichte das Lebensgefühl des „Sturm und Drang“ auf den Begriff gebracht. Fichtes Philosophie ist von einem ungebrochenen Glauben an die Fähigkeiten der Menschen getragen, in stetem Fortschritt das Reich der Freiheit zu verwirklichen. Kants lakonische Maxime: „du kannst, denn du sollst“12 gilt für ihn uneingeschränkt. Daher macht es Fichtes Menschenbild unmöglich, das eigene gute oder schlechte Handeln etwa aus den gesellschaftlichen Umständen und dem sozialen Milieu erklären oder entschuldigen zu wollen. Dass allerdings das Ideal des Freiheitsreiches in der politischen Praxis auch zwangsstaatliche und totalitäre Mittel legitimieren, im Umgang mit der zum an sich nichtigen Produktionsmittel degradierten Natur zu selbstzerstörerischen Konsequenzen führen kann, ist das paradoxe, aber heute deutlich sichtbare Resultat einer titanischen Philosophie, die auf die Perfektibilität des freiheitlich tätigen, selbstgewissen Menschen setzt. Der vom frühen Fichte im Namen der selbstgewissen Freiheit gehegte Perfektibilitäts- und Fortschrittsoptimismus gerät allerdings in eine fundamentale Krise, die im Zentrum des Wissens aufbricht. Es ist eine Krise der Reflexion, die ihre unaufgebbare Freiheit von der Fremdbestimmung durch die Dinge in absoluter Haltlosigkeit zu verlieren droht. Das Ich selbst erweist sich in seiner Freiheit und als Prinzip aller Realität, also auch und gerade der eigenen, als problematisch und gefährdet. Die Gefährdung besteht in dem Problem der Selbstvergewisserung. Zwar bleibt die Freiheit von den Dingen erhalten, vor ihnen braucht der Mensch als vermeintlichen Determinanten seines Daseins nicht zu zittern, denn sie sind ja nur nach subjektiven Gesetzen zur Erscheinung gebrachte Vorstellungen ohne Realität an sich selber. Aber vor sich selbst muss er zittern, weil er sich in seiner Freiheit zu entgleiten droht. Denn das Wesen des Ich, das als reine Tätigkeit und Freiheit verstanden ist, kann als solches nicht begriffen und damit zur Gewissheit erhoben werden. Was aber nicht 10 Fichte Von den Pflichten der Gelehrten, S. 10. 11 Ebd. 12 I. Kant Kritik der praktischen Vernunft, Riga 1788, S. 54.
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begriffen, d. h. in Grenzen gefasst (definiert), bestimmt und als solches gewusst (fixiert) werden kann, ist für den Begriffe bildenden Verstand ohne Realität. Um sich der eigenen Realität als Freiheitswesen und damit als Grund aller Realität gewiss zu werden, braucht es daher eines besonderen, nicht begrifflichen Erkenntnisvermögens. Dies ist für Fichte zunächst die „intellektuelle Anschauung“ als Selbstanschauung des Ich in seiner Freiheit.13 Aber auch dieses Vermögen ist so wenig wie das mit ihm Geschaute andemonstrierbar. Es kann an den Vollzug einer „intellektuellen Anschauung“ nur appelliert werden. So aber bleibt noch die Ungewissheit, ob und was das Ich als Grund aller Realität eigentlich ist, und ob seine wesentliche Freiheit nur Vorstellung oder Wirklichkeit ist: Ich weiß überall von keinem Seyn, und auch nicht von meinem eigenen. Es ist kein Seyn – Ich selbst weiß überhaupt nicht, und bin nicht. Bilder sind; sie sind das Einzige, was da ist, und sie wissen von sich, nach Weise der Bilder: – Bilder, die vorüberschweben, ohne dass etwas sey, dem sie vorüberschweben; die durch Bilder von den Bildern zusammenhängen, Bilder, ohne etwas in ihnen Abgebildetes, ohne Bedeutung und Zweck. Ich selbst bin eins dieser Bilder, ja ich bin selbst dies nicht, sondern nur ein verworrenes Bild von den Bildern.14
Dann aber ist die Koinzidenz von Denken und Sein und damit das Fundament aller Realitätsgewissheit selbst nur gedacht, vorgestellt und somit unwirklich. Alles scheint sich im Zweifel aufzulösen – sowohl die objektive Welt der Dinge als auch das subjektive Sein des Ich. So deprimierend endet Buch II von Fichtes Bestimmung des Menschen, die offensichtlich nicht im „Wissen“ gefunden werden kann. Realitätsgewissheit vermittelt – so Buch III dieser Schrift – nur der „Glaube“, und zwar als moralischer Vernunftglaube. Als Wesen einer moralisch-praktischen Vernunft verfügt der Mensch nämlich über ein Organ, um Realitätsgewissheit und einen gesicherten Selbststand aus Freiheit zu erreichen.15 Für Fichte ist es nun das Faktum des Sittengesetzes, dem zu folgen unbedingtes Gebot ist. Dieser unbedingte Anspruch meldet sich im Gewissen16 als dem Ort der letzten und höchsten Sinnbegründung (Bestimmung = destinatio). Das moralische Gewissen muss nun die neu aufgebrochene Diskrepanz zwischen dem Verstand, der zum Nihilismus 13 14 15 16
Vgl. Fichte Die Bestimmung des Menschen in FW II, 242. Ebd. S. 245. Ebd. S. 247. Vgl. Fichte Das System der Sittenlehre nach den Principien der Wissenschaftslehre (1798) in FW IV, 147
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der Reflexion führt, und dem Herzen, das nach Realität verlangt, überwinden – in Gestalt einer freiheitlichen Selbstbestimmung unter dem sittlichen Gebot der Pflicht. Die Überwindung dieser Diskrepanz kann das Gewissen insofern leisten, als der Anspruch des Gewissens sowohl die Realität dessen impliziert, an den der Anspruch geht, als auch die Realität der Welt, die unter diesem Anspruch gestaltet werden soll. Das Verlangen des Menschen nach Realitätsgewissheit und Sinn findet nach Fichte also nicht im Wissen, in der Theorie seine Erfüllung, sondern dann, wenn sich der Mensch primär als ein moralisch handelndes, praktisches Wesen versteht. In der Theorie ist dem Skeptizismus und dem Nihilismus nach Fichte letztlich nichts entgegenzuhalten.17 Die Reflexion geht ihren unerbittlichen regressus in infinitum, dem kein begründeter Einhalt geboten werden kann. Und das Resultat dieses verwirrenden Spiels ist der Skeptizismus.18 Diesen kann Fichte zwar nicht theoretisch, aber doch praktisch überwinden, indem sich das Ich der moralischen Weltordnung und ihren Zweckbegriffen unterstellt. Denn „[…] ob ich zweifle oder gewiss bin, habe ich nicht durch Argumentation, – deren Richtigkeit wieder eines neuen Beweises bedürfte, und dieser Beweis wieder eines neuen Beweises, und so ins unendliche; – sondern durch unmittelbares Gefühl. Nur auf diese Art lässt sich subjective Gewissheit, als Zustand des Gemüths, erklären.“19 Das unmittelbare Gefühl aber ist nichts anderes als die unbedingt gebietende Stimme des moralischen Gewissens. Denn: „Nur inwiefern ich ein moralisches Wesen bin, ist Gewissheit für mich möglich; denn das Kriterium aller theoretischen Wahrheit ist nicht selbst wieder ein theoretisches. – Das theoretische Erkenntnisvermögen kann sich nicht selbst kritisieren und bestätigen – sondern es ist ein praktisches, bei welchem zu beruhen Pflicht ist.“20 So ist die gesuchte Realität zwar nicht wissbar oder anschaulich gegeben, aber sie erschließt sich im Glauben: „Ich bin wirklich frei, ist der erste Glaubensartikel […]“21 eines moralischen Vernunftglaubens, der als Grundsatz nicht bewiesen, aber jedem vernünftigen Wesen im Appell an den unbedingten Willen „schlechthin angemuthet“ werden kann.22 17 Vgl. Fichte Appelation an das Publicum gegen die Anklage des Atheismus (1799), FW V, 203. 18 Vgl. Fichte Die Bestimmung des Menschen in FW II, 252f. 19 Fichte Das System der Sittenlehre in FW IV, 169. 20 Ebd. S. 169f. 21 Ebd. S. 54. 22 Ebd. S. 50.
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Das Gewissen hat und verbürgt Realitätsgewissheit innerhalb einer wechselseitigen Aufforderung zur und Anerkennung von Freiheit als Selbstbestimmung wie Selbstbegrenzung von ego und alter ego. Damit rückt Fichte erneut die Bedeutung der Intersubjektivität in den Mittelpunkt der Freiheitsthematik, allerdings nun nicht im erkenntnistheoretischen, sondern im moralisch-praktischen Sinn: Nur unter moralischen Menschen ist der Mensch ein Mensch, nur unter Freien ist der Mensch frei und selbstgewiss. Zwar trägt die Weltgewissheit das moralische Ich, die Selbstgewissheit des Ich aber wird von der Freiheit und Gewissheit des alter ego getragen, und zwar durch wechselseitige Anerkennung. So kommt das soteriologische Streben nach Gewissheit in einem Glauben zur Ruhe, der in interaktiver Moralität und Sittlichkeit begründet ist. Es ist der Glaube an eine moralische Weltordnung, der nach Fichte dem Menschen angesichts des Nihilismus und Skeptizismus der theoretischen Vernunft allein noch Halt und damit bestimmte Realität geben kann. Denn die Dinge als Nicht-Ich können den Menschen nicht durch ihre Determination halten, sie sind ja letztlich nichts als seine eigenen Vorstellungen und Bilder und werfen ihn auf sich selbst zurück. Aber auch das eigene Selbst ist im Nihilismus der Reflexion als halt- und realitätsgebender Grund fraglich geworden. Denn es wird entweder als Sonderfall der gegenständlichen Erkenntnis ebenfalls zur bloßen Vorstellung ohne Realität und damit ebenso nichtig wie die Dinge. Oder es bleibt durch die sich von aller gegenständlichen Erkenntnis abhebende „intellektuelle Anschauung“ letztlich wegen der Begriffs- und Sprachlosigkeit ungewiss. Auch in sich selbst hat daher das Ich keine Realitätsgewissheit und keinen Halt. Denn es ist „dem Sceptizismus die absolute Unaufhaltsamkeit der Speculation durch ihre eigenen Gesetze vollkommen zuzugeben.“23 Halt und Sinn geben kann nur ein Bestimmendes, etwas, das Grenzen setzt und einschränkt. Die Dinge aber sind das Bestimmte, nicht das Bestimmende des Ich, und das Ich ist das Unbestimmte seiner selbst, denn es ist wesentlich Freiheit. Nach Fichte kann daher nur das alter ego dem Ich Halt, Sinn und Realität vermitteln. Denn es ist wie das Ich Freiheitswesen und kein Ding, aber es ist eben auch nicht das Ich selbst. Halt, Sinn und Realitätsgewissheit geben kann nur, was nicht Ich, aber auch kein Nicht-Ich ist – folglich nur ein Nicht-Ich-Ich: das alter ego. In wechselseitiger Einschränkung und Begrenzung durch Freiheitswesen allein ist nach Fichte Halt, Realitätsgewissheit und Sinngebung möglich, und diese Wechselwirkung aus Freiheit regelt die moralische 23 Fichte Appellation an das Publicum in FW V, 203.
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Weltordnung. Aber der Verweis auf das alter ego zur Sicherung der Selbstgewissheit im Sinne der securitas bleibt noch problematisch. Denn es wiederholt sich ja bei jedem alter ego das Dilemma der eigenen Haltlosigkeit und Ungewissheit wie beim ego. Die Schwierigkeit wird durch den Hinweis auf die Wechselwirkung aus Freiheit nur von einer Haltlosigkeit auf die andere verlagert, aber nicht überwunden. Zur Lösung dieses Problems führt Fichte nun Gott als den Garanten der moralischen (nicht einer theoretischen) Weltordnung und damit der Freiheit und der Selbstgewissheit ein. Er ist das aller wechselseitigen Einschränkung aus Freiheit zugrunde liegende Haltgebende für die unendliche Reihe des jeweils endlichen alter ego: „Aber, was könnte die Vernunft beschränken, ausser, was selbst Vernunft ist; und alle endliche Vernunft beschränken, ausser der unendlichen?“24 Damit formuliert Fichte den Grundsatz seines moralischen Vernunftglaubens zur Vergewisserung über die Realität der Welt und des Ich als Freiheitswesen über alle Zweifel des theoretischen Skeptizismus und Nihilismus der Verstandesreflexion hinweg. Gott ist als Grund der Freiheit in ihrer Doppelstruktur als Selbstbestimmung und Selbstbegrenzung „mit Schonung der Freiheit aller Individuen“25 wirksam. Demzufolge ist Freiheit, die in Gott als dem Absoluten gründet, nicht länger als Selbstbestimmung im Sinne von Selbstbehauptung und – wenn auch wechselseitig eingegrenzter – Selbstdurchsetzung gegenüber der Natur (Nicht-Ich) und der Mitwelt (Nicht-Ich-Ich) zu verstehen, sondern als Selbstaufgabe oder Selbstbescheidung – in Gott als dem absoluten Sein. Wahrhaft frei und seiner selbst gewiss ist dann, wer sich selber lassen, d. h. als Prinzip absehen kann, um in einer der Mystik verwandten Gelassenheit die Wirklichkeit der Freiheit nicht als Aufgabe, sondern als Vorgabe des Lebens in der Einheit mit Gott, dessen Bild der Mensch in seiner Freiheit ist, zu ergreifen. So weist Fichte mit seiner konsequent verfolgten Transzendentalphilosophie bereits auf Grundeinsichten der späteren Existenztheologie hin, der zufolge die Wirklichkeit der Freiheit und die Selbstgewissheit des Ich dann erreicht wird, wenn sich das Selbst über Moral und Sittlichkeit hinaus durchsichtig in der Macht Gottes gründet, die es gesetzt hat,26 belässt sie aber noch innerhalb der Grenzen moralisch-
24 Fichte Die Bestimmung des Menschen in FW II, 302. 25 Fichte Das System der Sittenlehre in FW IV, 256. 26 Vgl. Kierkegaard Die Krankheit zum Tode (1849) in Kierkegaard Die Krankheit zum Tode u. a., hrsg. v. H. Diem und W. Rest, München 1976, S. 177.
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praktischer Vernunft als Letztinstanz von Gottes-, Selbst- und Weltgewissheit. Die erschütternden Ungewissheiten des vermeintlich in festen moralischen Bahnen gesicherten Lebens gerade angesichts des sich offenbarenden, lebendigen Gottes kann – so nimmt Kierkegaard den neuzeitlichen Problemstand der Ambivalenz von Gottes-, Selbst- und Weltgewissheit als Grundmotiv seines Denkens auf 27 – insbesondere an Abraham verdeutlicht werden. Denn er gilt in der christlichen Tradition als Vater und Vorbild des Glaubens.28 Ihn in seinem Entschluss zu verstehen, auf Gottes Befehl hin seinen Sohn Isaak und damit seine Daseinsgewissheit zu opfern (Gen 22,1 – 14), ist für Kierkegaard eine niemals abgeschlossene Lebensaufgabe, die in ihrem erschreckenden Ausmaß erheblich über die Tragweite und den Schwierigkeitsgrad des methodischen Grundsatzes der neuzeitlichen Philosophie „De omnibus dubitandum est“ (Descartes) hinausgeht. So entwickelt es Kierkegaard ironisierend in seiner gleichnamigen, autobiographisch gefärbten Frühschrift bezeichnenderweise in Form einer fragmentarischen Erzählung anstatt in einem vollendeten Begriffssystem. Denn Kierkegaard stellt fest, dass in seiner Zeit der „geographischen Christenheit“ alles, auch der Glaube, mit Leichtigkeit bezweifelt und dann schnell weiter gegangen wird, nämlich zum „System“, in welchem aller Zweifel im Sinne Hegels aufgehoben ist.29 Hier wird der Zweifel als „bonum per malum“ zum Motor und Ferment des spekulativen Fortschritts und damit in seiner die Existenz erschütternden Radikalität nicht mehr ernst genommen, anstatt ihn als eine nie abzuschließende Lebensaufgabe anzunehmen. Denn im Zweifel und bei der Frage nach Gewissheit gibt es nach Kierkegaard keinen Fortschritt, jeder muss immer wieder für sich selbst und allein von vorn anfangen. Auch Abraham geht nach seinen Zweifeln nicht einfach weiter, sondern er bleibt „mit Furcht und Zittern“ (Phil 2,12) in seinem Zwiespalt zwischen dem Befehl Gottes einerseits, seiner Vaterliebe und dem moralischen Verbot, den Sohn zu töten, an27 Vgl. K. Kaufmann Vom Zweifel zur Verzweiflung. Grundbegriffe der Existenzphilosophie Sçren Kierkegaards, Würzburg 2002. 28 Vgl. Röm 4,1ff.: Hebr 11,17f. (als Beispiel für Glaubensgerechtigkeit); Jak 2,21 (als Beispiel für Werkgerechtigkeit). 29 Im Sinne Hegels bedeutet das, dass der Zweifel zwar als Prinzip verneint (negatio), aber als Wahrheitsmoment aufbewahrt (conservatio) und so auf eine höhere Ebene von Gewissheit gehoben wird (elevatio), vgl. G. W. F. Hegel Verhltnis des Skeptizismus zur Philosophie. Darstellung seiner verschiedenen Modifikationen und Vergleichung des neuesten mit dem alten (1802), HW II, 213 – 272.
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dererseits. Sein Glaube ist gerade nicht die Auflösung oder Aufhebung des Zweifels in einer höheren, umfassenderen begrifflichen Gewissheit (securitas), sondern ein apotropäisches Abbrechen des Zweifels kraft eines absurd anmutenden Gottvertrauens (certitudo): „Wenn man auch dazu imstande wäre, den ganzen Glaubensinhalt in die Form des Begriffs umzusetzen, so folgt daraus nicht, dass man den Glauben begriffen habe, begriffen, wie man in ihn hineinkommt oder wie er in einen hineinkommt“30 – nämlich durch einen paradoxen Sprung kraft des Absurden. Und so ist Kierkegaards Frage nach dem Christ-Werden nicht etwas gegenüber den Glaubensinhalten akzidentell Nebensächliches oder Gleichgültiges, sondern gerade die Frage nach dem „wie“ des Glaubens (fides qua creditur) gehört zu seinen wesentlichen inhaltlichen Konstitutionsbedingungen (fides quae creditur). Denn Abraham stellt uns vor Augen, dass es noch gar nicht ausgemacht ist, was denn Glaube heißt, den vermeintlich jeder schon besitzt oder bezweifelt, um leichtfertig weiter zu gehen. Glaube ist nämlich kein (statischer) Besitz, sondern eine (Doppel-) Bewegung. Diese Bewegung ist eine der „unendlichen Resignation“ darüber, das Wertvollste und Wichtigste im Leben (den geliebten Sohn) und damit allen Halt und Sinn aufgeben zu müssen, aber auch eine der „Wiedergewinnung der Endlichkeit“, eine Wiederholung des Lebensglücks und der Daseinsgewissheit völlig wider Erwarten (para doxan). So beschreibt Kierkegaard unter dem Pseudonym Johannes de Silentio in Furcht und Zittern (1843) diese eigenartige Glaubensbewegung anhand einer dialektischlyrischen Auslegung der Geschichte von der Opferung Isaaks. In diese Auslegung, die entschieden dem Grundsatz „tua res agitur“ befolgt, anstatt sich in gelehrten historischen und philologischen Details schulgerechter Sachexegese zu verlieren, gehen auch wesentliche biographische Bezüge Kierkegaards ein – sein zweifelhaftes Verhältnis zu seinem Vater wie sein zweifelhaftes Verhältnis zu seiner Verlobten. Das eine Mal ist der Sohn Kierkegaard wie Isaak derjenige, der der religiösen Schwermut seines Vaters geopfert werden soll bzw. wird, das andere Mal ist das Opfer Regine, und Kierkegaard ist wie Abraham derjenige, der sich für alle anderen unverständlich anschickt, das größte Opfer seines Lebens im Blick auf seine Berufung als religiöser Schriftsteller zu bringen. Ist der Vater am Sohn moralisch schuldig geworden, weil er sein gesteigertes Sündenbewusstsein auf das Kind übertragen und damit sein Leben zerstört hat, oder handelt es 30 Kierkegaard Furcht und Zittern (1843) in Kierkegaard Die Krankheit zum Tode u. a., hrsg. v. H. Diem und W. Rest, S. 183.
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sich hier um ein religiös gerechtfertigtes Opfer? Ist Søren an Regine moralisch schuldig geworden, weil er die Verlobung nach kurzer Zeit wieder aufgelöst und damit seine Braut kompromittiert hat, oder ist der Verzicht auf Regine ein religiös gerechtfertigtes Opfer? Gibt es überhaupt einen Unterschied zwischen Moral und Religion, oder ist der ethische Maßstab in jedem Fall der höchste und gewisseste, wie z. B. Kant und Fichte meinen? Dann aber kann es weder eine „teleologische Suspension des Ethischen“31 noch eine „absolute Pflicht gegen Gott“32 geben. Aber nun zeigt gerade das Beispiel Abrahams, dass es beides geben kann: er ist der Vater und das Vorbild des Glaubens, obwohl bzw. gerade weil er bereit ist, Isaak zu morden. Ein solcher existentieller Bezug im Ringen um die Bedeutung des Glaubens für das Dasein des Einzelnen ist für Kierkegaards theologischen Umgang mit Zweifel und Glaubensgewissheit programmatisch: Zweifel und Skepsis vereinzeln den Menschen, aber die Überwindung von Zweifel und Skepsis im Glauben vereinzelt ebenso. Daher kann nicht einer den anderen lehren, wie es zur Glaubensgewissheit in der Doppelbewegung kommt, sondern nur (pseudonym) auf das Beispiel Abrahams als Beispiel für das Religiöse aufmerksam machen. Im Blick auf das Verhältnis von Zweifel und Glaubensgewissheit bei Kierkegaard sind bei dieser Doppelbewegung Abrahams33 folgende Aspekte besonders aufschlussreich: Unendlich zu resignieren meint nicht den wehleidigen Verzicht auf etwas Endliches, Bestimmtes, Einzelnes, darum auch prinzipiell Austausch- und Ersetzbares, das momentan oder auch definitiv nicht zu erreichen ist. Gemeint ist vielmehr der radikale Verzicht auf das unersetzlich Wesentliche, Bedeutsamste und Haltgebende der eigenen Existenz. Dabei lässt Abraham dieses idealiter nicht fallen oder gibt es auf, sondern er bleibt ihm treu. In einer solchen radikalen Weltentsagung und Enthaltung gegenüber ihren wenn auch unbeständigen und darum zweifelhaften Sinnbeständen sowie den hieraus erwachsenden Wünschen und Vorhaben wird Abraham, der „Glaubensritter“, ganz auf sich selbst und seine Genügsamkeit (Autarkie) zurückgeworfen. Er verkörpert damit gleichsam das lebenspraktische Ziel antiker Skeptiker, die auf ihre Weise der Urteilsenthaltung (epoché) durchaus zu einer inneren Unabhängigkeit und damit zu ihrem Seelenfrieden gelangen und der Verzweiflung ent31 Ebd. S. 237 (Problema I). 32 Ebd. S. 255 (Problema II). 33 Vgl. zum Folgenden ebd. S. 226 – 232, erläuternd zusammengefasst bei W. Janke Existenzphilosophie, Berlin/New York 1982, S. 52 – 59.
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gehen. Und so gewinnt auch Abraham in der aus eigener Kraft vollzogenen „philosophischen“ Bewegung der unendlichen Resignation bei allem Schmerz des Verzichts und der Entsagung dennoch innere Ruhe und Frieden angesichts des Zweifels, ob das Sinngebende des eigenen Daseins erreichbar bzw. zu halten ist oder nicht.34 Indem sich Abraham von der Welt und ihrer unbeständigen Zeitlichkeit im versöhnten Schmerz losreißt und sich in der Reflexion ganz auf sich selbst besinnt, wird er sich der „ewigen Gültigkeit“ seines Selbst bewusst, in der er den Wechselfällen des Lebens gegenüber unabhängig ist. Allerdings gehört zu dieser Haltung die Kraft und die Stärke eines klaren Verstandes, der aufgrund seines unbestechlichen Unterscheidungsvermögens einsieht, was im Leben zu erreichen bzw. festzuhalten ist und was nicht. Insofern ist die unendliche Resignation im Sinne Kierkegaards das Äußerste, Konsequenteste und Redlichste, was ein reflektierender Mensch in Skepsis und Zweifel erreichen kann. Die Haltung der epoché ist darum nicht etwa Resultat eines Denkfehlers der Skeptiker, der zugunsten theoretischer oder moralischpraktischer Gewissheit widerlegt werden könnte oder müsste. Solche apologetische Widerlegung würde die existentielle Tiefe des Zweifels nicht erreichen können. Denn zur Gewissheit (des Glaubens) kommt man Kierkegaard zufolge nicht durch Logik und Reflexion, sondern durch einen paradoxen Sprung, durch ein Aufopfern des Verstandes (sacrificium intellectus) 35 in einer Entscheidung des Willens: „Der Irrtum des Zweiflers und des Verzweifelten liegt nicht in der Erkenntnis, denn die Erkenntnis kann schon über den nächsten Augenblick nichts mit Gewissheit entscheiden, sondern der Irrtum liegt im Willen, welcher plötzlich nicht mehr 34 Dieser erste Teil von Abrahams Doppelbewegung des Glaubens, die „unendliche Resignation“ mit ihrem das Dasein beruhigenden Effekt, kann daher mit dem schönen Satz von A. Schweitzer erläutert werden: „Das große Geheimnis ist, als unverbrauchter Mensch durchs Leben zu gehen. Solches vermag, wer nicht mit den Menschen und Tatsachen rechnet, sondern in allen Erlebnissen auf sich selbst zurückgeworfen wird und den letzten Grund der Dinge in sich sucht“ (A. Schweitzer Die Ehrfurcht vor dem Leben. Grundtexte aus fnf Jahrzehnten, hrsg. v. H. W. Bähr, München 61991, S. 79). 35 Dieses Verstandesopfer ist nun gerade nicht die unehrliche oder ängstliche Unterbrechung der Reflexion, um vermeintliche Glaubensgewissheiten nicht erschüttert zu sehen, sondern es steht bei Kierkegaard im religiösen Verweisungszusammenhang von mortificatio und vivificatio und ist somit Ausdruck der Überzeugung, dass es Leben nur mittels Tod, Segen nur durch Opfer, Glaubensgewissheit nur durch ein sacrificium intellectus geben kann (vgl. hierzu T. Beyrich Ist Glauben wiederholbar? Derrida liest Kierkegaard (Kierkegaard Studie: Monograph Series, Bd. 6), Berlin/New York 2001, S. 159 – 162).
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will, dagegen das Unbestimmbare zu einer wissenschaftlichen Entscheidung machen will.“36 Denn wie zum Glauben Abrahams als notwendige, wenn auch noch nicht hinreichende Bedingung die unendliche Resignation gehört, so zuletzt die Wiedergewinnung der Endlichkeit (= Isaak) kraft des Absurden. Sicherheit und festen Stand einer klaren und ihrer selbst durchsichtigen Existenz jenseits aller Zweifel gewinnt man nicht erst im eschaton, im Jenseits, auf das Kierkegaard in seinem theologischen Umgang mit der Skepsis gleichsam im Sinne einer „eschatologischen Verifikation“ vertrösten würde. Wenn die Skepsis überhaupt im Glauben überwunden, oder besser: durch den Glauben abgelöst werden kann, dann hier und jetzt, in der Gegenwart unserer endlichen, diesseitigen Lebensverhältnisse. Andernfalls wäre der Glaube von keinerlei existentieller Relevanz. Freilich geschieht eine solche Ablösung nur kraft des Absurden, das als solches vom Unwahrscheinlichen, Unerwarteten und Unvermuteten zu unterscheiden ist. Denn letztere Bestimmungen liegen als bloß relative Paradoxa alle noch im Bereich der Reflexion und Kalkulation, auf die man sich als immer noch Denkmögliches einstellen kann (und manchmal auch muss). Aber die Wiedergewinnung der Endlichkeit fällt demgegenüber als absolutes Paradox völlig aus dem Denkmöglichen und Berechenbaren heraus. Denn der Verstand hat sich in der unendlichen Resignation ja der Unmöglichkeit versichert, den Lebenssinn zu erreichen bzw. zu erhalten, und er verbraucht seine Kraft darin, es immer wieder zu tun. Insofern ist die Wiedergewinnung der Endlichkeit, anders als die Bewegung der unendlichen Resignation, keine „philosophische“ Bewegung, die Abraham aus eigener Anstrengung vollziehen könnte. Sie ist vielmehr Resultat eines qualitativen Sprungs gleichsam „sola gratia“, ein unverfügbares Wunder, das nicht geplant, vorbereitet oder vermittelt auftritt, sondern sich ohne unser Zutun plötzlich und im Augenblick ereignet.37 Darum kann diese Bewegung auch nicht in religionskritischer Absicht (L. Feuerbach; S.
36 Kierkegaard „Geduld in Erwartung“ in Erbauliche Reden 1843/44, übers. von E. Hirsch, Gütersloh 21992, S. 129. 37 Daher ist das Absurde bei Kierkegaard auch von dem Absurden bei A. Camus zu unterscheiden, wie er es z. B. in seinem Mythos von Sisyphos (1942, dt. Hamburg 1959) beschreibt. Denn hier bewirkt das Absurde als Erfahrung der fundamentalen Diskrepanz zwischen Sinnerwartung und Sinnerfahrung in ethischer Hinsicht einen Zuwachs an Freiheit und Handlungsmöglichkeiten gegenüber den Göttern, die Last des Lebens trotz aller Sinnlosigkeit heroisch selbst zu tragen.
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Freud) auf bloße Projektion oder Wunschdenken reduziert werden.38 Denn die Glaubensgewissheit stellt sich im Rahmen der von Kierkegaard beschriebenen aktiv-passiven Doppelbewegung nicht aufgrund logischer Überlegungen des Verstandes, aber auch nicht aufgrund einer eigenen „logique du coeur“ (Pascal) oder irgendeiner anderen Art von Logik ein, sondern wird nur durch Aufgabe eines jeden menschenmöglichen Koordinatensystems (sei es rational, moralisch oder psychologisch) möglich. Gewissheit stellt sich im paradoxen Sprung kraft des Absurden ein, d. h. nicht durch Widerlegung der Skepsis, sondern apagogisch dadurch, dass Zweifel schlicht sinnlos werden und nach Gewissheit gar nicht mehr gefragt und um sie gerungen wird, wenn es ein absolutes Verhältnis zum Absoluten, zu Gott gibt. Diese Glaubensgewissheit Abrahams hält sich aber nicht im Modus des Begriffs, sondern in elementarer, transrationaler Stimmung und Befindlichkeit daran fest, dass bei Gott alle Dinge möglich sind.39 Insofern möchte Kierkegaards Existenztheologie das Christentum in gewisser Weise wieder schwer machen, nachdem es in seiner Zeit zu leicht, zu selbstverständlich gemacht und darum auch verwässert worden ist. Die Vermischung oder gar Verwechslung des Glaubens mit spekulativer Philosophie oder bürgerlicher Moral ist ein Symptom dafür, dass die Christenheit das Christentum im Grunde abgeschafft hat und gerade angesichts der eigenen Tradition versagt, die Abraham als ideales Vorbild des Glaubens im Sinne einer gegenüber dem Denken wie gegenüber der Moral sperrigen theologia crucis preist. Daran anknüpfend will Kierkegaard den Glauben als Lebensaufgabe des Einzelnen darstellen, die im Paradox und 38 Dafür ist ein Vergleich von Kierkegaards Beschreibung des Glaubens als Doppelbewegung mit der sog. Pascal’schen Wette aufschlussreich (vgl. B. Pascal Pens es, ed. L. Brunschvigk, Paris 1897, Aph. 233; dt. Gedanken, hrsg. v. W. Rüttenauer, Leipzig 1937, Neuausg. Bremen 1955, Aph. 83): Glaubensgewissheit ist nicht das Ergebnis einer Gewinn-Verlust-Kalkulation im Blick auf die Sinnangebote dieser Welt, sondern ein absolutes Widerfahrnis wider alle Rationalität. Allerdings teilt Kierkegaard mit Pascal die Überzeugung, dass die (pyrrhonische) Skepsis die konsequenteste und unwiderlegliche Haltung eines denkenden Menschen außerhalb des (christlichen) Glaubens ist. Doch aus der Sicht eben dieses Glaubens ist die Skepsis auch und gerade deswegen als Ausdruck der Sünde zu qualifizieren, nämlich der nicht nur moralischen, sondern auch theoretischen Trennung von Gott im Entzug des ihm zukommenden Vertrauens (vgl. dazu J. R. M. Neto The Christianization of Pyrrhonism. Scepticism and Faith in Pascal, Kierkegaard and Schestov, Correct u. a. 1995). 39 Vgl. Kierkegaard Die Krankheit zum Tode in Kierkegaard Die Krankheit zum Tode u. a., S. 64.
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kraft des Absurden in Leidenschaft zu ergreifen ist, wo sogar – unbegreiflicherweise – ein Mord eine heilige Opferhandlung werden kann, um so das Ethische als den vermeintlich höchsten und sichersten Maßstab des menschlichen Daseins teleologisch zugunsten des Glaubens zu suspendieren. Auf diese Weise treibt Kierkegaard allerdings das Verständnis des christlichen Glaubens gemessen an heutigen Versuchen, den Glauben auf Befindlichkeiten wie Urvertrauen, Sinnerfahrung, Identitätsfindung etc. zu gründen, in ein ungeheures, dichterisches Extrem, das freilich nur dann überzeugen und eine mögliche „bürgerliche“ Skepsis gegenüber allen Arten von Übertreibungen40 zerstreuen kann, wenn man – wie Abraham – eine unmittelbare Gottesbegegnung in einem absoluten Verhältnis zum Absoluten hat. Nur dann leuchtet ein, dass der Glaube eine Doppelbewegung von unendlicher Resignation und Wiedergewinnung der Endlichkeit ist. Doch gemessen an diesem hohen Ideal des christlichen Glaubens können wir nur versagen – und vielleicht will Kierkegaard genau das mit seinen Überlegungen zu Abraham erreichen, so wie Kierkegaards Pseudonym Johannes de Silentio auch immer wieder zugibt, dass er wohl in der Lage sei, die Bewegung der unendlichen Resignation, aber nicht mehr dazu, die der Wiedergewinnung der Endlichkeit nachzuvollziehen, dass er also im strengen Sinne nicht in der Lage sei, zu glauben,41 auch wenn er deswegen überhaupt nicht bestreitet, dass es solchen Glauben gibt. Versagen würde aber hier bedeuten, sich sein Unvermögen oder den Mangel an absoluter Gotteserfahrung einzugestehen und sich damit (auch in intellektueller Hinsicht) demütig als Sünder zu bekennen: Ich glaube, hilf meinem Unglauben (Mk 9,24). Und ist nicht dann diese Selbsterkenntnis als Sünder im Spiegel des Absoluten wahrhaft christlich, so das nun auch alle Zweifel, die nicht geleugnet werden müssen, aber auch nicht vernünftig ausgeräumt werden können, uns nicht von der Möglichkeit eines wahren und gewissen Gottesverhältnisses ausschließen werden? Verglichen mit Abrahams idealisiert dargestelltem Glauben können wir nur zugeben, dass wir so nicht glauben können. Ein solcher Glaube ist gar nicht für uns da. Insofern ist der Glaube, der von Zweifeln und Skepsis bedroht ist, gar nicht dieser Glaube, von dem Kierkegaard spricht, sondern nur eine defiziente Form, ein Kleinglaube. Oder besser: die Glaubenszweifel, die wir haben, 40 Vgl. Kierkegaard Einbung im Christentum (1848) in Kierkegaard Einbung im Christentum u. a., hrsg. v. W. Rest, München 1977, S. 80ff. 41 Vgl. z. B. Kierkegaard Furcht und Zittern in Kierkegaard Die Krankheit zum Tode u. a., S. 208f., 232 u. ö.
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richten sich im Grunde gar nicht gegen den (idealen) Glauben, sondern nur gegen die Medien, die Art und Weise, wie er uns vermittelt wird, und da sind sie berechtigt. Wenn aber der „echte“ Glaube da wäre, dann wären auch angesichts des absoluten Verhältnisses des Einzelnen zum Absoluten alle Zweifel suspendiert und bedeutungslos. An Abraham kann man sehen, dass Zweifel deswegen nicht glorifiziert oder aus Gründen einer wissenschaftlichen Methode in freier Entscheidung und mit der Intention gewählt werden, um absolute Gewissheit zu erreichen, die doch immer nur und bestenfalls eine momentane Stimmung eines einzelnen, endlichen Daseins in seinem Verhältnis zum alles bezweifelnden Zweifel sein kann.42 Vielmehr überfallen uns Zweifel ungewollt und ungesucht stimmungsmäßig in unserer transrationalen Existenz. Man kann sie nicht ernsthaft wollen, genauso wenig wie man sich kraft eigener Einsicht und Vorbereitung zum Glauben entscheiden kann. Beides ist ein unverfügbares Widerfahrnis, das in unser Leben einbricht und uns aus allen bisherigen Bindungen und Orientierungen herauslöst. Daher ist der Zweifel, mit dem sich Kierkegaard auseinandersetzt, weder der methodische noch der spielerische, der als Ausdruck von Freiheit und Ungebundenheit um des Zweifels willen zweifelt. Ihm geht es vielmehr um den existentiellen Zweifel, den man wie Abraham in Furcht und Zittern, im „horror religiosus“ durchmacht und durchleidet, ob man es wirklich mit Gott zu tun hat oder nur mit der eigenen Lust.43 Dieser Zweifel führt nicht mit Sicherheit zur Gewissheit, denn er ist in seiner paradoxen Dialektik sowohl in der Lage, Glauben zu wecken, als auch umgekehrt dazu, aus dem Glauben herauszutreiben.44 Denn sein Medium ist die sowohl erkenntnistheoretische als auch und vor allem ethische Diskrepanz zwischen „Idealität“ und „Realität“, Anspruch und Wirklichkeit (z. B. des christlichen Glaubens), die weder im Denken noch im Sein aufgehoben werden kann.45 Gewissheit – wenn sie sich denn einstellen soll – kann deshalb nur ein unverfügbares Widerfahrnis sein, weil die Aktivität des Zweifelns ganz darin aufgebraucht wird, wirklich an allem zu zweifeln, wie es die neuzeitliche Philosophie programmatisch vorgibt – wohl ohne zu wissen, was sie damit eigentlich sagt: „um sich auf der Spitze des Zweifels an allem zu halten, hat er (= Johannes Climacus, ein 42 Vgl. Kierkegaard De omnibus dubitandum est in PhB, 132. 43 Vgl. Kierkegaard Furcht und Zittern in Kierkegaard Die Krankheit zum Tode u. a., S. 187. 44 Vgl. Kierkegaard De omnibus dubitandum est in PhB, 153. 45 Ebd., PhB, 155.
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Pseudonym Kierkegaards) des Geistes ganze Kraft mit Beschlag belegt, verlässt er diese Spitze, so kann er wohl zu etwas kommen, aber er hat dann auch seinen Zweifel an allem aufgegeben.“46 Und wie die neuzeitliche Philosophie darum im Grunde gar nicht von sich her, kraft eigener theoretischer oder moralisch-praktischer Reflexion zur Gewissheit kommen kann, sondern letztlich nur zur „Verzweiflung“,47 so vollzieht nach Kierkegaard auch Abraham, der Glaubensritter, seinen Glauben in unendlicher Resignation im Blick auf seine eigenen Möglichkeiten, wieder sicheren Stand in seinem Dasein zu gewinnen. Denn: „Der Zweifel wird nicht durch das System überwunden, sondern durch den Glauben, ebenso wie es der Glaube ist, der den Zweifel auf die Welt gebracht hat.“48 Nun setzt diese These Kierkegaards die Überzeugung voraus, dass der christliche Glaube mit seiner Betonung der unendlichen (eschatischen) Bedeutung des Einzelnen vor Gott der Prinzipienstellung der Subjektivität in der neuzeitlichen Philosophie vorgearbeitet hat und in sie eingegangen ist. Allerdings werden dann in der Perspektive der aufgeklärten Subjektivität im Falle von Zweifel, Skepsis und Anfechtung des Glaubens Vergewisserungsstrategien problematisch, die sich auf vermeintlich objektive Gewissheitsinstanzen berufen möchten. Denn weder die Berufung auf eine vorgegebene Autorität (Kirche, Tradition, Lehrer etc.), noch der Bezug auf ein Stück vergegenständlichte Biografie (Taufe, frühere Glaubenserfahrungen etc.) können der Dialektik der Reflexion im Ernstfall standhalten. Insofern sind unter neuzeitlichen Reflexionsbedingungen z. B. Augustins Hinweise auf das Wunder der Kirche oder Luthers Pochen auf das „baptizatus sum“ als Ausdruck des Heilsgeschehens für mich „extra nos“ in der Situation der Anfechtung von Gottes-, Selbst- und Weltgewissheit für Kierkegaard nicht überzeugend: Wenn man sagt, der Gedanke an die Taufe enthalte das gegen jede Anfechtung Beruhigende, dass Gott in ihr etwas mit uns tut, so ist das natürlich nur eine Illusion, die durch eine solche Bestimmung die Dialektik fernhalten zu können glaubt […] und im Augenblick der Anfechtung richtet sich der Glaube daher nicht gegen Gott, sondern der Glaube wird zum Glauben daran, dass man wirklich getauft ist.49 46 47 48 49
Ebd., PhB, 161. Vgl. ebd. Ebd., PhB, 164. Kierkegaard Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift (1846) Kierkegaard Philosophische Brosamen und Unwissenschaftliche Nachschrift, hrsg. v. H. Diem/W. Rest, München 1976, S. 174f.
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Allerdings gilt dieses Bedenken nur dann, wenn man die Taufe als ein (magisches) Objektivationsgeschehen (ex opere operato) betrachtet, dessen Absurdität in der Vermittlung von Heilsgewissheit dann sofort einleuchten würde, wenn man beispielsweise, was Kierkegaard ironisch vorschlägt, für die Taufe – wie zur Zeit Luthers für den Ablass – eine hohe Summe Geldes bezahlen müsste.50 Aber Taufe ist – gerade als Sakrament, als medium salutis betrachtet – kein Objekt des Gewissheitsstrebens, sondern ein intersubjektives Geschehen in der Relation zwischen Gott, Gemeinde und Täufling, das durchaus in Zeiten der Gottesferne in der Lage ist, Gewissheit zu vermitteln. Wenn allerdings, wie Kierkegaard im Blick auf Abraham annimmt, ein unmittelbares Verhältnis des Einzelnen zum Absoluten, zu Gott möglich ist, dann scheiden nicht nur diese sakramentalen, sondern alle anderen Arten von objektiver oder intersubjektiver Gewissheitsvermittlung in der Tat aus. Ebenso wenig hilfreich ist das typisch neuzeitliche Beibringen von vermeintlich historischen Fakten durch Autoritäten der Wissenschaft etwa in bezug auf das Leben, Sterben und Auferstehen Jesu Christi. Denn eine historische Vergewisserung schafft es Kierkegaard zufolge nur zu „Approximationen“ verlässlicher Sicherheit und ist insofern immer brüchig. Wenn überhaupt Gewissheit erreicht werden soll, dann nur im Modus einer selbstverantwortlichen Innerlichkeit, denn die Wahrheit ist die Subjektivität: Das Dialektische lässt sich nun einmal nicht ausschließen. Es kann passieren, daß eine Generation, vielleicht sogar zwei, in der Meinung dahinleben, einen Bretterzaun gefunden zu haben, der das Ende der Dialektik und der Welt sei: hilft nichts! So meinte man eine lange Zeit, die Dialektik vom Glauben fernzuhalten, indem man sagte, seine Überzeugung bestehe kraft einer Autorität. Würde man dann fragen, das heißt mit dem Glauben dialektisieren, würde er die Sache mit einem gewissen unbefangenen Freimut so drehen: ich kann und soll dafür nicht Rede stehen können; denn ich ruhe im Vertrauen auf andere, auf die Autorität der Heiligen und so weiter. Dies ist eine Illusion, denn die Dialektik vollzieht nur eine Wendung und fragt, das heißt dialektisiert mit ihm darüber, was denn Autorität sei, und weshalb er nun diese als Autorität ansehe. Sie dialektisiert also mit ihm nicht über den Glauben, den er im Vertrauen auf Jene hat, sondern über den Glauben, den er an Jene hat.51
50 Ebd. 51 Ebd. S. 150f.
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Allerdings meint Kierkegaards Verlegung der Wahrheit in die Subjektivität nicht dezisionistische Willkür und religiöse Beliebigkeit.52 Vielmehr geht es ihm um das antagonistische, brüchige, existenz-dialektische Verhältnis des Subjekts, des Einzelnen zur objektiven Wahrheit, gerade dann und insofern sie zweifelhaft ist, und dieses Verhältnis entscheidet über die Wahrheit „für mich“. Ein solches Verhältnis kann sich z. B. in Ignoranz, Ironie, Verzweiflung, Ärger oder eben auch im Glauben äußern. Verobjektivieren lässt sich die Wahrheit angesichts der Möglichkeiten einer unendlichen Reflexion nicht. Denn in ihrem grenzenlosen Infragestellen von allem und jedem wird jeder feste Standpunkt, jedes vermeintlich unerschütterliche Fundament, auf dem der Einzelne seinen Halt, seine Lebensorientierung, seine Identität, gleichsam seine „ewige Seligkeit“ gründen könnte, bedroht oder gar aufgelöst. Und deswegen kann es hier im Bereich existentieller Wahrheit oder Ungewissheit auch keine direkte Mitteilung oder Lehre geben, sondern es ist nach Kierkegaard nur eine indirekte Mitteilung im Sinne des Aufmerksammachens auf das Religiöse möglich. Der elementare, existentielle Drang nach etwas Festem, Verlässlichem im Leben, das man berechnen, vorzeigen und darum auch direkt mitteilen und lehren könnte, kann hier nicht befriedigt werden. Im Gegenteil: würde der Einzelne in seiner Subjektivität an irgend einer Stelle mit der Reflexion aufhören und bei einer dann natürlich nur endlichen Gewissheitsinstanz stehen bleiben und sich mit ihr als dem vermeintlich Absoluten begnügen, würde das Verhältnis des Einzelnen zur Wahrheit ein Aberglaube, also Unwahrheit sein. Dieses Missverhältnis ergibt sich auch und selbst dann, wenn sich glaubende Menschen auf eine Offenbarung Gottes als wahrheitsverbürgende Gewissheitsinstanz berufen. Denn sobald ich mir diese in meiner Subjektivität als Wahrheit „für mich“ aneignen will, kann ich nur die Inkommensurabilität zwischen dem Absoluten und Göttlichen einerseits und dem Endlichen, Menschlichen gemäß dem reformierten Grundsatz „finitum non est capax infiniti“ feststellen, so dass es hier niemals zu einer adaequatio rei et intellectus, zu einer auf Übereinstimmung von Vorstellung und Sachverhalt basierenden Wahrheit und Gewissheit kommen kann. Denn die Reflexion bindet alle Vorstellungsinhalte, auch den einer
52 Daher kann Kierkegaard nicht nur die These vertreten : die Wahrheit ist die Subjektivität, sondern genauso die dialektische Gegenthese : die Wahrheit ist die Objektivität (vgl. Kierkegaard Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift, S. 328 ff.).
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Offenbarung Gottes, unhintergehbar an das alles relativierende „Ich denke“ bzw. „Ich stelle vor“ zurück. Wenn angesichts dieses Problemstands der glaubende Mensch den Vorsatz fasst, eben gar nichts Bestimmtes, Positives gelten zu lassen, sondern sich zu einer immerhin nicht unwahren „negativen“ Theologie bekennt, wird unter dem unerbittlichen Räderwerk der Dialektik auch das als umgekehrter Dogmatismus entlarvt und skeptisch aufgelöst. Kurzum: nach Kierkegaard kann es in Glaubensdingen wie in den Tiefen existentieller Bedeutsamkeit keine objektive Wahrheit geben, und wenn doch, dann ist das Aberglaube. Demgegenüber kann die angemessene Glaubenshaltung nur die des ständigen Unterwegsseins bedeuten, was Abraham als typos des „home viator“ verkörpert: Überhaupt erkennt man die unendliche Reflexion, in welcher erst die Subjektivität um ihre ewige Seligkeit in Sorge kommen kann, sofort an Einem: dass sie überall die Dialektik mit sich führt. Es sei nun ein Wort, ein Satz, ein Buch, ein Mann, eine Gemeinschaft, es sei, was es wolle, sobald es in der Weise eine Grenze sein soll, daß die Grenze selbst nicht dialektisch ist, ist es Aberglaube und Beschränktheit. Im Menschen lebt immer ein solcher sowohl bequemer wie auch bekümmerter Hang nach etwas ganz Festem, das die Dialektik ausschließen könnte, aber das ist Feigheit und Betrug gegen die Gottheit. Selbst das Gewisseste von allem: eine Offenbarung, wird eo ipso, indem ich sie mir aneignen soll, dialektisch; selbst das Festeste von allem, der unendliche negative Entschluss, der die unendliche Form der Individualität ist, die Gottes Sein in ihr annimmt, wird sofort dialektisch. Sobald ich das Dialektische wegnehme, bin ich abergläubisch und betrüge Gott um des Augenblicks angestrengtes Erwerben des einmal Erworbenen. Dagegen ist es weit bequemer, objektiv und abergläubisch zu sein und damit prahlend die Gedankenlosigkeit zu proklamieren.53
In der Situation von Zweifel und Anfechtung gibt es also Kierkegaard zufolge keinerlei objektive Kriterien für das Erreichen absoluter Gewissheit, sondern es können lediglich Approximationen oder Wahrscheinlichkeiten erreicht werden. Gewissheit kann es – wenn überhaupt – nur in Innerlichkeit geben, im subjektiv-befindlichen Verhältnis zu diesen Ungewissheiten: entweder Ärgernis (Verzweiflung) oder Glaube. Wie aber kommt der Einzelne zum Glauben und was ist das angesichts der alle Gewissheit zersetzenden Dialektik für eine Lebenshaltung? Der Glaube ist, wie erläutert, eine Doppelbewegung von unendlicher Resignation hinsichtlich nie aufhörender Zweifel der Reflexion, und Wiedergewinnung der Endlichkeit im Sinne eines Erreichens von Heil, 53 Kierkegaard, Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift, S. 163.
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Frieden und fester Daseinsgewissheit. Zu einem solchen Glauben kommt man nach Kierkegaard nur durch einen paradoxen Sprung kraft des Absurden, wie ihn Kierkegaard ( Johannes de Silentio) beschreibt. Die Metapher des Sprungs zeigt bereits an, dass der paradox-religiöse Glaube nicht das Resultat kontinuierlicher Reflexion sein kann. Denn diese steht ihrer Struktur nach für vermittelnde Zweiheit und damit für die nicht auszuräumende Möglichkeit des Zweifels. Glaube ist demgegenüber vielmehr eine Unmittelbarkeit und damit außer Zweifel, aber eine Unmittelbarkeit nicht vor, sondern nach der Reflexion. Das bedeutet, dass der Glaube mit seiner Gewissheit da anfängt, wo das Denken aufhört. Und die Reflexion hat darauf apotropäisch zu achten, dass der Glaube da anfängt, wo die Reflexion aufhört. Daher kann Abraham die Doppelbewegung des Glaubens vollziehen, die hier nicht zur Beschreibung einer menschlichen Tragödie dient, sondern nur im Blick auf das Verhältnis von Zweifel und Heilsgewissheit unter der Voraussetzung interessant ist, dass sich das Subjekt in seiner Subjektivität nicht aufgrund seiner unbedingten moralisch-praktischen Vernunft seiner selbst sicher ist und deshalb eine religiöse Anfechtung, wie sie Abraham erlebt hat, abwehren könnte.54 Insofern lebt Kierkegaards Überwindung von Zweifel und Skepsis im paradoxen Sprung in dem Glauben kraft des Absurden von der strikten Unterscheidung zwischen Moral und Religion – eine Unterscheidung, die sowohl in Kants und Fichtes ethischer Theologie wie auch in Hegels spekulativer Aufhebung der Religion in den philosophischen Begriff unterlaufen wird. Für die Ethik wie für den philosophischen Begriff gilt, dass das Allgemeine höher ist als der oder das Einzelne. In der Religion aber gilt umgekehrt, dass der Einzelne höher ist als das Allgemeine. Zwischen der ethischen und der religiösen Existenz gibt es darum Kierkegaard zufolge keinerlei Synthese oder Vermittlung, sondern eben nur einen Sprung, ein Spatium, eine absolute Diskontinuität.55 Damit stellt sich Kierkegaard in die Tradition einer theologia crucis, die für den natürlichen Verstand „Torheit und Ärgernis“ ist (1 Kor 1,18ff.).56 Der Glaube kennt 54 So hat I. Kant Gen. 22 ausgelegt. Vgl. H. Rosenau „Die Erzählung von der Opferung Isaaks (Gen 22) bei Kant, Kierkegaard und Schelling“ in Neue Zeitschrift fr systematische Theologie 27 (1985), S. 251 – 261. 55 Das Gleiche gilt für das Verhältnis zwischen einer ästhetischen und einer ethischen Existenz. Zu den drei von Kierkegaard angenommenen Existenzweisen (ästhetisch, ethisch, religiös) vgl. Kierkegaard, Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift, S. 611ff. 56 In diesem Sinne legt auch M. Luther in seiner Genesis-Vorlesung die Geschichte von Isaaks Opferung aus.
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keine Sicherheitsgarantien, sondern überlässt sich ungeschützt dem auch unberechenbaren und verborgenen Gott. Alles andere wäre „phantastisch“.57
57 Vgl. dazu W. Janke Entgegensetzungen. Studien zu Fichte-Konfrontationen von Rousseau bis Kierkegaard, Amsterdam u. a. 1994, S. 159 – 186.
Vernunft und Offenbarung. Transzendentale versus existenziale Interpretation der Offenbarung in Fichtes früher Religionsphilosophie und in den Climacus-Schriften Von Istvn Czak Der Versuch einer Rekonstruktion der Fichte-Rezeption Kierkegaards und hierbei insbesondere seines Verhältnisses zu Fichtes Offenbarungskonzeption erscheint in mehrfacher Hinsicht problematisch. Eine griffige Gesamtcharakteristik des Themas wird nicht nur durch den ambivalenten und sporadischen Charakter der Kierkegaardschen Referenzen erschwert, sondern auch durch die in der Forschung hervorgehobene Verschiedenheit der Hauptintentionen beider Denker:1 Die Fichtesche Selbst- bzw. Wirklichkeitskonstitution der transzendentalen Subjektivität in der Selbstsetzung des Ichs und die Kierkegaardsche Selbst- bzw. Wirklichkeitskonstitution des existierenden Subjekts im Akt der (Selbst)wahl verbindet trotz unübersehbarer formaler Entsprechungen kein identisches Wirklichkeitsverständnis. Wenn Kierkegaards Verhältnis zu Fichte in der Komplexität seiner Bezüge beleuchtet werden soll, geschieht dies zudem vor dem Hintergrund der Tatsache, dass eine sowohl systematisch wie historisch orientierte Untersuchung der zeitgenössischen dänischen Fichte-Rezeption ein Forschungsdesiderat bleibt. 1
Schmidinger konstatiert ein – trotz auffallender Parallelen – „radikal verschiedenes Wirklichkeitsverständnis“ bei Fichte und Kierkegaard. Heinrich Schmidinger „Kierkegaard und Fichte“ in Gregorianum, Bd. 62, 1981, S. 529. Ähnlich urteilt Kangas: „What finally separates Kierkegaard from Fichte – not to mention from Kant, the early Schelling and Hegel – is therefore that Kierkegaard thinks the meaning of the self, starting from the inner diremption or contradiction that makes a self first possible as a self-reflexive relation. Interiority in Kierkegaard does not signify the subject’s presence to itself or identity with itself (Fichte’s I=I), but rather that doubling up or reduplication of being which allows, in general, the possibility of any and all self-consciousness.“ David J. Kangas „J. G. Fichte: From Transcendental Ego to Existence“ in Jon Stewart (hrsg.) Kierkegaard and His German Contemporaries, Tome I: Philosophy, Ashgate: Aldershot 2007, S. 85 (Kierkegaard Research: Sources, Reception and Resources, Bd. 6).
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Versucht man Fichtes frühe Offenbarungskritik mit Kierkegaards Offenbarungsverständnis zu vergleichen, wird man mit weiteren Schwierigkeiten konfrontiert. Einerseits kann es methodologisch zumindest fragwürdig erscheinen, ob Fichtes frühe, kritische, unter dem Einfluss Lessings und Kants konzipierte Position in seinem Versuch einer Kritik aller Offenbarung (1792, 21793) überhaupt eine legitime Basis für diesen Vergleich bildet – Fichte war mit seiner rasch abgefassten Erstlingsschrift bekanntlich nicht zufrieden und er war sogar ziemlich überrascht von Kants positiver Aufnahme des Manuskripts.2 Andererseits kann man in Kierkegaards Œuvre keine einzige Stelle finden, die als eine direkte Auseinandersetzung mit Fichtes Frühwerk oder wenigstens als ein Zeugnis seiner Vertrautheit mit diesem Werk betrachtet werden könnte. Obwohl Kierkegaard die zweite Auflage (1793) des Textes in I. H. Fichtes Gesamtausgabe zweifellos in seiner Bibliothek besaß,3 gibt es unter den sich explizit auf Fichte beziehenden Textstellen keine, die sich eindeutig als eine Reflexion auf seine Offenbarungsschrift identifizieren lässt. Immerhin ist es für Kierkegaard – vor allem in seinen veröffentlichten Schriften – weitgehend charakteristisch, dass er die Autoren, auf die er anspielt, relativ selten explizit nennt. Obwohl Die Bestimmung des Menschen (1800) Fichtes einziges Werk ist, dessen Titel bei Kierkegaard vorkommt und das zugleich einen deutlichen Widerhall in den frühen GilleleieAufzeichnungen gefunden hat,4 darf man deshalb keineswegs a priori 2
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Medicus ist der Meinung, dass Kant Fichtes Manuskript aller Wahrscheinlichkeit nach nicht – zumindest nicht als ganzen – gelesen hat. Siehe Fritz Medicus „Fichtes Leben“ in Werke. Auswahl in 6 Bnden, Leipzig, 1922, Bd. I, S. 49. Bezüglich der Bedeutung des Werkes betont Hirsch, dass die Offenbarungskritik nur eine Episode im Fichteschen Denken ist und dass die eigentliche Geschichte der Fichteschen Religionsphilosophie erst mit der Konzeption der Wissenschaftslehre beginnt. Siehe Emanuel Hirsch Fichtes Religionsphilosophie im Rahmen der philosophischen Gesamtentwicklung Fichtes, Göttingen, 1914, S. 15. Johann Gottlieb Fichtes smtliche Werke, hrsg. von I. H. Fichte, Bde. 1 – 11, BerlinBonn, 1834 – 1846 (Ktl. 489 – 499.) Da das Anliegen dieses Beitrages keineswegs eine philologische Erörterung von Kierkegaards Fichte-Rezeption ist, er vielmehr einen formalen Vergleich ihrer Offenbarungsverständnisse zu skizzieren versucht, wird sich die Rekonstruktion von Fichtes diesbezüglicher Konzeption auf relevante Passagen aus beiden Ausgaben (1792, 1793) seines Werkes stützen. Die Aufzeichnung Pap. I C 50 beweist, dass Kierkegaard das Buch im März 1835 gelesen hat. Eine Passage in der Journalaufzeichnung AA:6 (SKS 17, 16,4 – 7) vom 29. Juli 1835 zeigt schon eine eindeutige Reflexion auf dieses populäre Werk und beweist, dass Fichte einen wesentlichen Anlass für Kierkegaards frühe Reflexionen bildet. Ansonsten gibt es keinen eindeutigen philologischen Beweis für Kierkegaards Kenntnis von anderen Werken Fichtes. Auch Kangas konstatiert diesen
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ausschließen, dass auch andere Teile5 seines Gesamtwerkes eine bestimmte Wirkung auf Kierkegaards Denken ausgeübt haben. Obwohl sich Fichtes Versuch einer Kritik aller Offenbarung an Kant orientiert, kann man bereits in diesem frühen Text mehrere Anhaltspunkte für seine spätere, genuine Konzeption konstatieren. Was Kierkegaards Pseudonym Johannes Climacus angeht, so bildet in seinen Werken das Problem der Offenbarung bzw. die Problematik von „Glauben und Wissen“ zweifellos ein zentrales Thema, weshalb seine Intention – in einer pointierten Weise – auch als ein „Versuch einer Kritik aller Offenbarungskritiken“ formuliert werden kann. Obwohl es offensichtlich ist, dass das direkte Ziel von Climacus’ Angriff keineswegs die Kantisch-Fichtesche Konzeption der Moralreligion bildet, sondern vielmehr die zeitgenössische dänische Debatte über die Hegelsche Kategorie der Vermittlung,6 kann es aufschlussreich sein zu untersuchen, ob und inwiefern zwischen Climacus’ apophatischer Theologie und Fichtes Offenbarungskritik formale oder thematische Berührungspunkte bestehen. Hierzu werden wir zunächst Fichtes Standpunkt rekonstruieren. Anschließend werden wir Climacus’ Offenbarungsverständnis im Kontext des Kierkegaardschen Œuvres darlegen, bevor schließlich die Frage zu erörtern sein wird, ob und inwiefern diese beiden subjektivitätsphilosophischen Konzeptionen einige gemeinsame Voraussetzungen implizieren. Ob dieser Versuch überhaupt durchführbar ist, wird sich im Folgenden zeigen.
I. Fichtes Ansatz einer transzendentalphilosophischen Begründung der Offenbarung in seinem Versuch einer Kritik aller Offenbarung Die eigenartige Entstehungsgeschichte von Fichtes zuerst 1792 anonym veröffentlichter Frühschrift gehört zweifellos zu den bekanntesten Anekdoten über sein bewegtes Leben, weshalb wir hier nur kurz darauf
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Umstand: „It remains unclear which texts of Fichte Kierkegaard actually read.“ Kangas „J. G. Fichte: From Transcendental Ego to Existence“ (s. Anm. 1), S. 67. Wie Schmidinger bemerkt, waren es besonders Emanuel Hirsch, Niels Thulstrup und Hayo Gerdes, die in ihren Kommentaren bzw. Monographien dazu geneigt waren, einige Kierkegaard-Passagen als Reminiszenzen an Fichtes Anweisungen zum seligen Leben (1806) aufzufassen. Siehe Schmidinger „Kierkegaard und Fichte“ (s. Anm. 1), S. 506, 524f. Jon Stewart Kierkegaard’s Relations to Hegel Reconsidered, Cambridge: CUP, 2003, S. 336 – 355.
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einzugehen brauchen. Bemerkenswert ist nicht nur die Rezension G. Hufelands,7 der die Schrift für das damals erwartete religionsphilosophische Werk des alten Kant hielt, sondern auch Fichtes Jenaer Vorgänger Karl Leonhard Reinhold, der sich über das Buch in einem enthusiastischen Brief an den dänischen Dichterphilosophen Jens Baggesen folgendermaßen äußerte: „Seit den Evangelien hat die Religion keine solche Stütze, wie durch dieses Werk erhalten, und ohne dasselbe würde es auch mit den Evangelien in kurzem schlimm ausgesehen haben.“8 Obwohl die zweite, von Kierkegaard besessene Ausgabe des Werkes von 1793 eine bedeutende Umarbeitung und Erweiterung der Urfassung (1791) sowie der ersten Auflage (1792) enthält, ist der Kantische Charakter trotz der merklichen Unterschiede in allen drei Textphasen insofern herrschend geblieben, als Fichte durchgängig die transzendentalen Möglichkeitsbedingungen der Offenbarung zu klären und einen kritischen Offenbarungsbegriff zu bilden versucht. Seine Überzeugung spiegelt den Einfluss von Kants Religionsauslegung wider: die Offenbarung lässt sich nur als möglich denken, insofern sie den Prinzipien der Vernunft entspricht, d. h. indem sie sich auf die „Grenzen der bloßen Vernunft“ beschränkt. Da Kant das Unvermögen der theoretischen Vernunft in den Fragen der Religion durch die kritische Klärung ihrer natürlichen Grenzen in seiner ersten Kritik überzeugend nachgewiesen hat, ist es evident, dass für 7
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Hufeland stellt in seiner Rezension im Intelligenzblatt der Jenaer Allgemeinen Zeitung von 30. Juni 1792 (Nr. 82.) fest: „Jeder, der nur die kleinsten derjenigen Schriften gelesen, durch welche der Philosoph von Königsberg sich unsterbliche Verdienste um die Menschheit erworben hat, wird sogleich den erhabenen Verfasser jenes Werkes erkennen.“ Siehe Medicus „Fichtes Leben“ (s. Anm. 2), S. 54. Erich Fuchs et al. (hrsg.) J. G. Fichte im Gesprch. Berichte der Zeitgenossen, StuttgartBad Cannstatt, 1978, Bd. 1: 1762 – 1798, S. 35f. Baggesen hat übrigens Fichte später auch persönlich getroffen. Siehe Jon Stewart „Johan Ludwig Heiberg and the Beginnings of the Hegel Reception in Denmark“ in Hegel-Studien, Bd. 39/40, 2004/2005, S. 162. – Erstaunlicherweise vermutete Schleiermachers Vater trotz der Berichtigung von Seiten Kants noch immer seine Verfasserschaft. Er schrieb am 3. Dezember 1792 an seinen Sohn: „Ich wünsche, dass Du mir Deine Gedanken über eine Piece Kritik aller Offenbarung schreiben und besonders, was am Ende desselben als Schluss aus dem Ganzen gezogen, mit Nachdruck dargelegt ist, wohl beherzigen mögest. Man hat Herrn Kant für ihren Verfasser gehalten; er hat sich aber davon losgesagt und, ich weiß nicht, wen dafür angegeben; sie scheint mir aber doch aus seinem Feder geflossen zu sein, so ähnlich sieht sie allem, was er geschrieben hat. Solltest Du einmal nach Königsberg kommen, so besuche doch Herrn Kant und lass Dir Aufschluss über das Buch geben.“ Siehe Medicus „Fichtes Leben“, S. 55.
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diesen Ansatz der Begriff der Offenbarung, um überhaupt denkbar zu sein, aus den Postulaten der reinen praktischen Vernunft deduzierbar sein sollte. Die wesentliche Aufgabe, die sich Fichte in diesem Werk gestellt hat, war folglich einerseits die Durchführung einer a priori transzendentalen Deduktion des Offenbarungsbegriffes als Begründung seiner Möglichkeit, ferner der deduktive Nachweis seiner bedingten Notwendigkeit (aus dem Faktum der moralischen Verfallenheit), andererseits – mittels dieses Begriffes – eine kritische Bestimmung der Kriterien einer jeden historischen Erscheinung, die als Offenbarung wird auftreten können.9 In der ersten Auflage des Werkes beginnt Fichte seine Deduktion der Religion mit einem Rückgriff auf Kants Postulatenlehre bzw. auf den moralischen Beweis für das Dasein Gottes.10 Kants bekannte Argumentation geht in seiner zweiten Kritik von der Idee des „höchsten Gutes“ aus, welche die völlige Übereinstimmung von vollendeter Sittlichkeit und vollkommener Glückseligkeit bedeutet. Die endliche moralische Vernunft ist unmittelbar verpflichtet, das Sittengesetz zu erfüllen und das höchste Gut nach besten Kräften hervorzubringen. Kant deduziert aus dem ersten Element der Idee des höchsten Gutes das Postulat der Unsterblichkeit als ein „ins Unendliche gehende[r] Progress“11 und aus dem zweiten Element das Postulat des Daseins Gottes. Die Deduktion dieses zweiten Postulats basiert darauf, dass das endliche Vernunftwesen verpflichtet ist, das höchste Gut zu realisieren, aber seine vollkommene Verwirklichung nicht von ihm abhängt, weil Glückseligkeit als der Endzweck der sinnlichen Natur der Kausalität der Natur, nicht aber der Kausalität freier endlicher Wesen untersteht. Wenn aber die Realisierung 9 Zu einer Interpretation des Werkes siehe: Hansjürgen Verweyen „Einleitung“ in Johann Gottlieb Fichte Versuch einer Kritik aller Offenbarung, [1792] Hamburg: Felix Meiner 1983, S. VII-LXX; Id. „Fichtes Religionsphilosophie. Versuch eines Gesamtüberblicks“ in Fichte-Studien, Bd. 8: Religionsphilosophie, AmsterdamAtlanta: Rodopi, 1995, S. 193 – 224, bes. 196 – 201; Folkart Wittekind „Theologie und Religion in J. G. Fichtes Offenbarungsschrift“ in Neue Zeitschrift fr Theologie, Bd. 39, S. 87 – 105; Peter Baumanns J. G. Fichte: kritische Gesamtdarstellung seiner Philosophie, Freiburg-München: Alber 1990, S. 25 – 34; Joachim Widmann Johann Gottlieb Fichte: Einfhrung in seine Philosophie, Berlin/New York: Walter de Gruyter 1982, S. 229 – 234. 10 Siehe dazu Immanuel Kant Kritik der praktischen Vernunft in Wilhelm Weischedel (hrsg.) Kant. Werke in zehn Bnden, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1983, Bd. 6, Teil 1, (im Folgenden: KpV) S. 254 – 264. (A 223 – 238) Id. Kritik der Urteilskraft in Weischedel (hrsg.) Kant. Werke in zehn Bnden, Bd. 8, § 87, S. 573 – 580 (A 414 – 424). 11 KpV, S. 252 (A 220).
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der völligen Übereinstimmung beider Kausalitäten unmöglich wäre, dann widerspräche sich das Sittengesetz selbst. Zur Vereinigung dieser Kausalitäten ist nur ein Wesen imstande, in dessen Macht es liegt, eine der vollendeten Sittlichkeit angemessene Glückseligkeit hervorzubringen. Da die Existenz dieses Wesens eine Möglichkeitsbedingung der Verwirklichung des höchsten Gutes ist, ist „es moralisch notwendig, das Dasein Gottes anzunehmen.“12 Fichte geht von Kants Postulatenlehre aus, weicht aber von ihr bereits in der ersten Auflage seines Werkes in wesentlichen Punkten ab.13 Er sieht nämlich den Endzweck des Moralgesetzes schon mit der Existenz eines Wesens erreicht, „in welchem die höchste moralische Vollkommenheit mit der höchsten Seligkeit vereinigt ist.“14 Während also Kant auf die transzendentalen Möglichkeitsbedingungen des sittlichen Handelns reflektiert, lässt sich Fichte sofort auf eine Spekulation über das Wesen Gottes ein, die Kants Prinzipien durchaus fremd ist.15 Im dritten Paragraphen der zweiten Auflage („Deduction der Religion überhaupt“) hat Fichte über die nähere Bestimmung des Glückseligkeitstriebs eine Deduktion von Rechten versucht. Die gesetzlich zuge12 KpV, S. 256 (A 226). 13 Hiermit war Fichte unter den Zeitgenossenen zweifellos nicht alleine. Bemerkenswert ist, dass bereits der junge Schleiermacher die Kantische Postulatenlehre in seiner frühen, unveröffentlichten Universitätsabhandlung „Über das höchste Gut“ (1789) kritisch erörtert und dabei sogar für unhaltbar erklärt hat: „Wir können uns also, wie gesagt, beide Postulate der praktischen Vernunft gefallen laßen, wenn wir nur die Nothwendigkeit oder wenigstens die Nützlichkeit des ganzen Verfahrens einsähen, wenn wir nur einsähen, daß so unsere Begriffe von Gott und Unsterblichkeit auf einem etwas festeren Grund ruhten als auf der natürlichen Illusion der spekulativen Vernunft. Aber das ist es woran wir noch zweifeln müssen.“ H.-J. Birkner (hrsg.) Schleiermacher. Kritische Gesamtausgabe, Berlin/New York: Walter de Gruyter 1984 (im Folgenden: KGA), Bd. I/1, S. 99. Siehe dazu: Günter Meckenstock Deterministische Ethik und kritische Theologie. Die Auseinandersetzung des frhen Schleiermacher mit Kant und Spinoza 1789 – 1794, Berlin/New York: Walter de Gruyter 1988, S. 148 – 155. 14 Johann Gottlieb Fichte Versuch einer Kritik aller Offenbarung, 1. Aufl. [1792], in FAk Bd. I/1, S. 19. 15 Verweyen hebt Fichtes frühes Bemühen um einen originalen Gottesbegriff hervor: „Selbst innerhalb dieses streng nach den kritischen Prämissen Kants vorgehenden Versuchs bleibt Fichte bemüht, die Frage nach Gott über ein bloßes Postulat hinauszuführen, genauer: Gott nicht bloß funktional – als Möglichkeitsbedingung für die Verwirklichung des Endzwecks, als Belohner der Tugend oder als Autorität zur Stärkung des Willens im Kampf gegen die Neigungen – zu denken.“ Hansjürgen Verweyen „Fichtes Religionsphilosophie. Versuch eines Gesamtüberblicks“ (s. Anm. 9), S. 198f.
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standenen Rechte werden oft nicht befriedigt. Dies führt zu einem „Widerspruch des Sittengesetzes mit sich selbst in Anwendung auf empirisch-bestimmbare Wesen,“16 wenn nicht ein göttliches Wesen angenommen wird, das dem sinnlichen Trieb die schließliche Erfüllung seines rechtlichen Anspruchs garantiert. Über den Begriff des Rechts wird gesagt: „Betrachten wir diese Idee nur bloß als Begriff, ohne Rücksicht auf das durch dieselbe bestimmte Begehrungsvermögen, so kann sie uns nichts weiter seyn und werden, als ein durch die Vernunft unserer Urtheilskraft gegebenes Gesetz zur Reflexion, über gewisse Dinge in der Natur, sie auch noch in einer andern Absicht, als der ihres Seyns, nämlich der ihres Seynsollens, zu betrachten.“17 An diesem Punkt wird Fichtes idealistischer Schritt über Kant hinaus antizipiert, nämlich die Verbannung des „Dings an sich“ aus der Transzendentalphilosophie. Diese neue Betrachtung der Natur als eines in sich stehenden (und nicht bloß phänomenalen) Seins ist offensichtlich unvereinbar mit Kants kritischer Perspektive. Bekanntlich war eine der wichtigsten Absichten Kants in seiner zweiten Kritik, einen Religionsbegriff zu bilden, der aus den Postulaten der praktischen Vernunft ableitbar ist und deshalb als formale Definition einer reinen Vernunftreligion aufgefasst werden kann.18 Eine empirisch-historische Religion kann in dieser Konzeption ihre Legitimität vor dem Richterstuhl der Vernunft nur dann bewahren, wenn in ihr ein rein ethischer Inhalt als konstitutives Element aufgezeigt werden kann, d. h. insofern sie als ein notwendiges Mittel zur Beförderung des höchsten Guts erscheint.19 Alle anderen Inhalte einer bestimmten Religion werden von Kant als Irrtum, Afterdienst und Religionswahn konsequent abgewiesen. Fichte teilt weitgehend diese kritische Beschränkung des wesentlichen Inhaltes der Religion überhaupt auf das a priori gültige Moralgesetz der
16 Johann Gottlieb Fichte Versuch einer Kritik aller Offenbarung, 2. Aufl. 1793 in FW V, 39. 17 FW V, 44. 18 Im Kapitel über das Postulat vom Dasein Gottes exponiert Kant auch seine moralische Interpretation der Religion: „Auf solche Weise führt das moralische Gesetz durch den Begriff des höchsten Guts, als das Objekt und den Endzweck der reinen praktischen Vernunft, zur Religion, d. i. zur Erkenntnis aller Pflichten als gçttlicher Gebote.“ KpV, S. 261 (A 233). 19 Zur moralischen Notwendigkeit der Bildung eines „ethischen gemeinen Wesens“ als einer „unsichtbaren Kirche“ siehe das dritte Stück von Kants Werk Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft in Wilhelm Weischedel (hrsg.) Kant. Werke in zehn Bnden, Bd. 7, Teil 2, (im Folgenden: RGW) S. 751 – 815 (A 119 – 208).
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reinen praktischen Vernunft, er hieraus ihre Konsequenzen für das Phänomen der Offenbarung. Bedarf die Vernunft überhaupt einer Offenbarung, um ihre eigene, autonome Bestimmung zu finden? G. E. Lessing, dessen Einfluss auf den frühen Fichte eindeutig ist, hebt einerseits die pädagogische Funktion der Offenbarung, andererseits den wesentlichen Vorrang der autonomen, universalen Vernunft vor der Offenbarung hervor: Sie kann nichts geben, was die Vernunft selbst nicht erreichen könnte.20 Ferner formuliert er – offensichtlich aufgrund der Leibnizschen Distinktion von „notwendigen Vernunftwahrheiten“ (v rit s necessaires de raison) und „Tatsachenwahrheiten“ (v rit s de fait) – das bekannte Prinzip, dass diese letzteren „der Beweis von notwendigen Vernunftwahrheiten nie werden“21 können, welches auch für das Verständnis von Kierkegaards Climacus-Schriften von entscheidender Bedeutung ist. Kant lässt Offenbarung als eine zu bestimmten Zeiten notwendige „Introduktion“ einer höheren sittlichen Einsicht gelten. Die Offenbarung stellt für ihn eine bloße, später abzustoßende „Leiter“ zu der über sich selbst aufgeklärten Vernunft dar.22 Im § 4 der ersten Auflage definiert Fichte den Begriff der Offenbarung folgendermaßen: „Der Begriff der Offenbarung ist also ein Begriff von einer durch übernatürliche Kausalität von Gott in der Sinnenwelt hervorgebrachten Wirkung, durch welche er sich als moralischer Gesetzgeber 20 „Erziehung gibt dem Menschen nichts, was er nicht auch aus sich selbst haben könnte: sie gibt ihm das, was er aus sich selber haben könnte, nur geschwinder und leichter. Also gibt auch die Offenbarung dem Menschengeschlechte nichts, worauf die menschliche Vernunft, sich selbst überlassen, nicht auch kommen würde: sondern sie gab und gibt ihm die wichtigsten dieser Dinge nur früher.“ Gotthold Ephraim Lessing „Die Erziehung des Menschengeschlechts“ [1780] § 4., in Herbert G. Göpfert (hrsg.) Gotthold Ephraim Lessing. Werke in drei Bnden, München-Wien: Carl Hanser 1982, Bd. III, S. 638. Siehe noch §§ 21, 77. 21 „Wenn keine historische Wahrheit demonstrieret werden kann: so kann auch nichts durch historische Wahrheiten demonstrieret werden. Das ist: zufllige Geschichtswahrheiten kçnnen der Beweis von notwendigen Vernunftswahrheiten nie werden.“ Gotthold Ephraim Lessing „Über den Beweis des Geistes und der Kraft“ [1777] in Herbert G. Göpfert (hrsg.) Gotthold Ephraim Lessing. Werke in drei Bnden, Bd. III, S. 351f. In Verweyens erhellender Formulierung: „Ein Existenzvollzug mit Unbedingtheitscharakter, wie es der sittliche und der religiöse Akt sind, lässt sich nicht auf eine Evidenz gründen, die aus Wahrscheinlichkeitselementen zusammengestückelt ist.“ Verweyen „Einleitung“ in Fichte Versuch einer Kritik aller Offenbarung (s. Anm. 9), S. XII. 22 Siehe Verweyen „Fichtes Religionsphilosophie“ (s. Anm. 9), S. 199. Zur Kants Offenbarungsauffassung siehe RGV, S. 767f. (A 145f.).
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ankündigt.“23 Bei der Deduktion dieses Begriffes geht es vor allem um die Frage, ob dieser nach Prinzipien der reinen praktischen Vernunft als ein, wenn schon nicht absolut, so doch wenigstens bedingt notwendiger Begriff erwiesen werden kann. Absolut notwendig (rein a priori) kann dieser Begriff nicht sein, da nicht einmal die Vorstellung von Gott als einem moralischen Gesetzgeber absolut notwendig ist.24 Fichte versucht aber mindestens die Möglichkeit einer bedingten Notwendigkeit von Offenbarung nach Prinzipien der reinen praktischen Vernunft im § 5 (in der zweiten Auflage im § 7) seines Werkes zu begründen. Bei endlichen moralischen Wesen, die außer dem Moralgesetz noch unter Naturgesetzen stehen, ist es zu vermuten, dass die Wirkungen der Kausalitäten nach diesen voneinander unabhängigen Gesetzen in Widerstreit geraten werden. Es lässt sich dabei ein Grad der Stärke dieses Widerstreits denken, wo „das Sittengesetz seine Causalität in ihrer sinnlichen Natur entweder auf immer, oder nur in gewissen Fällen, gänzlich verliert.“25 Gott ist aber durch das Moralgesetz bestimmt, „die höchstmögliche Moralität in allen vernünftigen Wesen durch alle moralischen Mittel zu befördern, so lässt sich erwarten, dass er, wenn dergleichen Wesen wirklich vorhanden seyn sollten, sich dieses Mittels bedienen werde.“26 Sollen die Vernunftwesen in dem angenommenen Fall der Moralität nicht gänzlich unfähig werden, so müssten rein moralische Antriebe auf dem Wege der Sinne an sie gebracht werden. Dies könnte nur so geschehen, dass Gott sich als „Gesetzgeber endlicher vernünftiger Wesen“ „in der Sinnenwelt“27 ankündigte. Im § 8 der zweiten Auflage erörtert Fichte die Möglichkeit des im Begriff der Offenbarung vorausgesetzten empirischen Datums, d. h. jene 23 FAk I/1, 41. Da Fichte in der zweiten, umgearbeiteten Auflage einen neuen Paragraphen unter dem Titel „Theorie des Willens, als Vorbereitung einer Deduction der Religion überhaupt“ (§ 2) in den Text eingefügt hat, befindet sich die entsprechende Stelle hier im § 5 mit dem Titel „Formale Erörterung des Offenbarungsbegriffes, als Vorbereitung einer materialen Erörterung desselben.“ FW V, S. 65f. 24 „Die Idee von Gott, als Gesetzgeber durchs Moralgesetz in uns, gründet sich also auf eine Entäußerung des unserigen, auf Uebertragung eines Subjectiven in ein Wesen außer uns, und diese Entäußerung ist das eigentliche Princip der Religion, insofern sie zur Willensbestimmung gebraucht werden soll.“ FW V, S. 55. Mit dieser Formel scheint Fichte eindeutig den Kerngedanken von Feuerbachs Projektionslehre in Das Wesen des Christentums [1841] antizipiert zu haben. 25 FW V, 79. 26 FW V, 81. 27 FW V, 80.
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Möglichkeit, dass es „moralische Wesen geben [könne], in welchen das Moralgesetz seine Causalität für immer, oder nur in gewissen Fällen verliere.“28 Fichtes Absicht ist es hier, diese Hypothese zu begründen. Seiner Meinung nach lässt „es sich a priori wohl denken, dass die Menschheit entweder von ihrem Ursprunge an, oder duch mancherlei Schicksale in so eine Lage habe kommen können, dass sie […] genöthigt gewesen sey […] kein ander Gesetz hören zu können, als das der Noth. In so einer Lage ist es unmöglich, dass das moralische Gefühl erwache, und sittliche Begriffe sich entwickeln.“29 Obwohl die Menschheit nicht immer in einer solchen Situation bleibt, kann man zweifellos verschiedene Formen der sittlichen Verfallenheit des Menschengeschlechtes konstatieren. In der Offenbarung manifestiert sich Gott in seiner Autorität, die nichts anderes ist als seine Heiligkeit, moralische Vollkommenheit. Indem Menschen dazu gebracht werden, Gott wenigstens anzuhören, kann sich dadurch ihr moralisches Gefühl entwickeln. Diese Deduktion führt offensichtlich nicht nur zur Möglichkeit, sondern auch zur materialen Notwendigkeit der Offenbarung: Es ist nämlich möglich, aus der Erfahrung der faktischen sittlichen Verfallenheit auf die bedingte Notwendigkeit einer Selbstverkündigung Gottes zu schließen; sobald sie aber ihr Ziel, auf das Moralgesetz aufmerksam zu machen, erreicht, erübrigt sie sich als solche. Die Offenbarung ist deshalb für Fichte nur unter Voraussetzung einer bestimmten geschichtlichen Situation um der universalen Durchsetzung des Sittengesetzes willen notwendig. Auch wenn Fichtes früher Versuch in mehreren Hinsichten aporetisch bleibt, bedeutet das Werk zweifellos einen wesentlichen Beitrag zur Bildung eines rationalistischen Begriffs der Offenbarung. In dieser Konzeption wird der Wille Gottes explizit mit den Gesetzen der praktischen Vernunft identifiziert und der mögliche Inhalt seiner Selbstverkündigung auf die Bekanntgabe von Moralgesetzen reduziert. Die Wirklichkeit einer solchen Offenbarung kann nach Fichte jeweils nur in Form eines problematischen Urteils ausgedrückt werden: wenn nämlich eine historische Erscheinung den im Werk abgeleiteten praktischen Vernunftkriterien entspricht, dann kann man höchstens schließen, dass sie eine Offenbarung sein könne, keineswegs aber kategorisch festlegen, dass sie eine solche ist.30 28 FW V, 84. 29 FW V, 91. 30 „Aus der Prüfung nach den Kriterien ergiebt sich also das, was sich aus ihnen ergeben kann, nicht bloss als wahrscheinlich, sondern als gewiss, ob sie nemlich göttlichen Ursprungs seyn kçnne; ob sie es aber wirklich sey, – darüber ergiebt sich aus
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Daraus folgt, dass es keine Offenbarung geben kann, die als objektiv notwendig und allgemeingültig auftreten könnte; sie kann höchstens, falls sie inhaltlich dem Moralgesetz entspricht, eine subjektive Relevanz (als eine Motivation zur Verwirklichung dieses Gesetzes) besitzen.31
II. Von der transzendentalen zur existierenden Subjektivität: die Modifikation der Offenbarungsthematik in Kierkegaards Schriften A. Furcht statt Ehrfurcht: Johannes de silentios Destruktion der moralischen Religionsauslegung Die kritische Überwindung der objektivistischen Interpretationen der Offenbarung als einer allgemeingültigen göttlichen Wahrheitsmitteilung kognitiver Art und die transzendentale Wendung zur Subjektivität32 sind zweifellos die wichtigsten Ergebnisse von Fichtes rationalistischer Offenbarungskonzeption, die auch für Kierkegaards Position eine wesentliche Bedeutung haben. Allerdings ist bekannt, dass die Kantisch-Fichtesche Moralreligion, deren höchstes Prinzip die praktische Vernunft ist, sich bereits für den jungen Schleiermacher als inakzeptabel erwiesen hat. Seiner romantischen Auffassung nach ist die Religion wesentlich „weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl,“33 sie steht sogar ihr gar nichts, den davon ist bei ihrer Uebernehmung gar nicht die Frage gewesen.“ FW V, 147. 31 Hinsichtlich der späteren Entwicklung von Fichtes Offenbarungsverständnis bemerkt Verweyen: „In seinem Erstling von 1792 kommt Fichte nicht über den Begriff einer bedingten Notwendigkeit von Offenbarung als äußerem Anstoß zu moralischem Handels hinaus. Dafür, daß Offenbarung für menschliche Autonomie überhaupt konstitutiv ist, zeigt Fichte bereits in 1796 die entscheidende Basis auf. Erst in seiner Spätphilosophie findet er allerdings zu einem wirklich weiterführenden Offenbarungsbegriff.“ Verweyen „Fichtes Religionsphilosophie“ (s. Anm. 9), S. 201. 32 Fichtes spätere, idealistische Konzeption der Subjektivität als Tathandlung scheint einen der wichtigsten Berührungspunkte zwischen dem Deutschen Idealismus und Kierkegaard zu bilden. „Arguably, Fichte is as important as Hegel and more important than Kant in shaping the contours of Kierkegaard’s thought.“ Kangas „Fichte: From Transcendental Ego to Existence“ (s. Anm. 1), S. 68. 33 „Sie begehrt nicht das Universum seiner Natur nach zu bestimmen und zu erklären wie die Metaphysik, sie begehrt nicht aus Kraft der Freiheit und der göttlichen Willkühr des Menschen es fortzubilden und fertig zu machen wie die Moral. Ihr
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in einem „schneidenden Gegensatz“34 zu Metaphysik und Moral. Obwohl Kierkegaard diese Wesensbestimmung der Religion als die höchste Form des unmittelbaren Selbstbewusstseins bereits in einer seiner frühesten Journalaufzeichnungen scharf kritisierte35 und in Furcht und Zittern von Johannes de silentio (1843) die religiöse Existenz als eine „spätere“, vermittelte „Unmittelbarkeit“ (senere Umiddelbarhed) 36 deutete, bildete für ihn diese Überwindung der Moral- bzw. Vernunftreligion einen kritischen Ausgangspunkt für die Ausarbeitung seiner Konzeption. Ein erhellendes Beispiel hierfür ist die gegensätzliche Deutung der biblischen Geschichte des Abraham-Opfers (Gen 22,1 – 19) 37 in Kants Spätphilosophie und in de silentios „dialektischer Lyrik.“38 Kant setzt in Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft voraus, dass die Moralität das oberste Kriterium für die Beurteilung der Göttlichkeit eines historischen Phänomens bildet: „wenn etwas als von Gott in einer unmittelbaren Erscheinung desselben geboten vorgestellt wird, das doch geradezu der Moralität widerstreitet, bei allem Anschein eines göttlichen Wunders, es doch nicht ein solches sein [kann] (z. B. wenn einem Vater befohlen würde, er solle seinen, so viel er weiß, ganz unschuldigen Sohn töten).“39 Ferner betont er (in klarer Übereinstimmung mit Lessing), dass eine solche Offenbarung eben wegen ihrer Geschichtlichkeit nicht als ein apodiktisch gültiger göttlicher Wille betrachtet werden kann.40 Kant drückt diese
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Wesen ist weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl.“ Friedrich Schleiermacher ber die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verchtern [1799] in KGA, Abt. I., Bd. 2., S. 211. Ibid. „Das was Schleiermacher ,Religion’ nennt, die Hegelschen Dogmatiker ,Glauben’, ist im Grunde nichts anderes als die erste unmittelbare Bedingung für alles – das lebendige Fluidum – die Luft, die wir im geistigen Sinne einatmen – und was sich deshalb nicht zu Recht mit diesen Wörtern bezeichnen lässt.“ T I, 50 / Pap. I A 273 (um 1836). „Der Glaube ist nämlich nicht die erste Unmittelbarkeit, sondern eine spätere“ (FZ, 91f. / SKS 4, 172). Zum Überblick über die philosophische Rezeptionsgeschichte von Gen 22,1 – 19 siehe: Peter Tschuggnall Das Abraham-Opfer als Glaubensparadoxon. Bibeltheologischer Befund – Literarische Rezeption – Kierkegaards Deutung, Frankfurt-Bern-New York-Paris: Lang 1990, S. 75 – 83; Xavier Tilliette „Bible et Philosophie: le sacrifice d’Abraham“ in Gregorianum, 77/1, 1996, S. 133 – 146. FZ, 1 / SKS, 4, 99,2. RGV, S. 744 (A 112). „Daß einem Menschen, seines Religionsglaubens wegen, das Leben zu nehmen unrecht sei, ist gewiß: wenn nicht etwa (um das Äußerste einzuräumen) ein göttlicher, außerordentlich ihm bekannt gewordener Wille es anders verordnet
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Position später in Der Streit der Fakultten (1798) noch schärfer aus: „Zum Beispiel kann die Mythe von dem Opfer dienen, das Abraham auf göttlichen Befehl durch Abschlachtung und Verbrennung seines einzigen Sohnes – (das arme Kind trug unwissend noch das Holz hinzu) – bringen wollte. Abraham hätte auf diese vermeinte göttliche Stimme antworten müssen: ,Daß ich meinen guten Sohn nicht tödten solle, ist ganz gewiß; daß aber du, der du mir erscheinst, Gott sei, davon bin ich nicht gewiß und kann es auch nicht werden’, wenn sie auch vom (sichtbaren) Himmel herabschallte.“41 Gegenüber dieser rationalistischen Auffassung macht Johannes de silentio in seiner divinatorischen Interpretation der Abraham-Geschichte die radikale Unterscheidung zwischen Moral und Religion geltend, er erklärt es sogar als seine Absicht, „aus der Geschichte von Abraham das Dialektische, das darin liegt, in Gestalt von Problemata herauszuziehen, um zu sehen, was für ein ungeheuerliches Paradox der Glaube ist, ein Paradox, welches einen Mord zu einer heiligen, Gott wohlgefälligen Handlung zu machen vermag, ein Paradox, das Isaak Abraham wiedergibt, – etwas, dessen sich kein Denken bemächtigen kann, weil der Glaube eben da beginnt, wo das Denken aufhört.“42 Auch wenn es sich hier freilich keineswegs um eine theoretische Abhandlung über das Paradox des Glaubens und der göttlichen Offenbarung handelt, ist es deutlich, dass für de silentio die Situation des Gläubigen eher als eine isolierte Existenz „jenseits von Gut und Böse“ als ein rationales Verhältnis des endlichen Moralwesens zu hat. Daß aber Gott diesen fürchterlichen Willen jemals geäußert habe, beruht auf Geschichtsdokumenten, und ist nie apodiktisch gewiß. Die Offenbarung ist ihm doch nur durch Menschen zugekommen, und von diesen ausgelegt, und schiene sie ihm auch von Gott selbst gekommen zu sein (wie der an Abraham ergangene Befehl, seinen eigenen Sohn wie ein Schaf zu schlachten), so ist es wenigsten doch möglich, daß hier ein Irrtum vorwalte.“ RGV, S. 861 (A 273). 41 Immanuel Kant Der Streit der Fakultten in Wilhelm Weischedel (hrsg.) Kant. Werke in sechs Bnden, Darmstadt 1966, S. 333. Kant stellt hier wieder die empirische Unerkennbarkeit einer göttlichen Erscheinung und das Kriterium der Moralität fest: „Wenn Gott zum Menschen wirklich spräche, so kann dieser doch niemals wissen, daß es Gott sei, der zu ihm spricht. Es ist schlechterdings unmöglich, daß der Mensch durch seine Sinne den Unendlichen fassen, ihn von Sinnenwesen unterscheiden und ihn woran kennen solle. – Daß es aber nicht Gott sein könne, dessen Stimme er zu hören glaubt, davon kann er sich wohl in einigen Fällen überzeugen; denn wenn das, was ihm durch sie geboten wird, dem moralischen Gesetz zuwider ist, so mag die Erscheinung ihm noch so majestätisch und die ganze Natur überschreitend dünken: er muß sie doch für Täuschung halten.“ 42 FZ, 56 / SKS 4, 147.
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allgemeingültigen praktischen Vernunftgeboten aufzufassen ist. Obwohl Kierkegaards Religions- bzw. Offenbarungsverständnis keineswegs auf eine romantische Position reduziert werden kann, scheint es, dass hier die Unterscheidung zwischen Religion und Moral nicht nur übernommen, sondern auch dialektisch radikalisiert wird. Daraus folgt, dass Kants und Fichtes Versuch, a priori moralische Kriterien als Wesensmerkmale für die Göttlichkeit einer Offenbarung aufzustellen, zumindest mit de silentios Intention unvereinbar ist. Während Fichte in der Urfassung seiner Offenbarungsschrift die „Ehrfurcht“ vor Gott als Achtung vor dem Sittengesetz deutet,43 stellt de silentio bezeichnenderweise in seiner Darstellung des Glaubensparadoxons das biblische und zugleich existenzerhellende Wort „Furcht“44 ins Zentrum. Für ihn ist (etwa im Sinne Pascals) der Gott Abrahams keineswegs mit dem philosophisch als Verkörperung des Moralgesetzes legitimierten Gott identisch.
B. Die Dialektik der Offenbarung Sichtet man das Kierkegaardsche Corpus, lässt sich feststellen, dass (1) das Substantiv „Offenbarung“ (Aabenbaring) und seine Verbalform „(sich) offenbaren“ (at aabenbare sig) nicht zu den häufigsten Ausdrücken gehören (dabei werden sie natürlich nicht nur in einer streng religös-theologischen Bedeutung verwendet), und dass es (2) im ganzen Œuvre anscheinend nur ein einziges Werk gibt, welches die Offenbarungsproblematik als ein zentrales Thema behandelt, nämlich das – aus persönlichen Gründen unveröffentlichte45 – Buch ber Adler. 46 Dieser Umstand hat aber seinen 43 „Wir sind bestimmt, das Moral-Gesetz zu verehren; wir können also einem Wesen, das dasselbe in sich völlig darstellt, unsre höchste Ehrfurcht nicht versagen […].“ FAk, II/2, S. 32. Siehe dazu: Folkart Wittekind „Theologie und Offenbarung in J. G. Fichtes Offenbarungsschrift“ in Neue Zeitschrift fr Theologie, Bd. 39, 1997, S. 96f. 44 „Furcht und Zittern (vgl. Phil. 2:12) ist nicht der erste Antrieb (primus motor) im christlichen Leben, denn das ist die Liebe; aber es ist, was die Unruhe in der Uhr ist – es ist die Unruhe des christlichen Lebens.“ T I, 186 / SKS 18, 14. (EE:25) 45 Siehe dazu SKS 20, 196f. (NB2:138). 46 Adolf Peter Adler (1812 – 1869), Kierkegaards ehemaliger Schulkamerad, berichtete im Vorwort zu Nogle Prædikener von 1843, dass er eine göttliche Offenbarung gehabt habe, in welcher Christus ihm geboten habe, seine Hegelschen Manuskripte zu verbrennen und sich in Zukunft an die Bibel zu halten. Ferner behauptete er, dass Christus ihm eine neue Lehre über die Entstehung des Bösen unmittelbar in die Feder diktiert habe. Kierkegaard hat den Fall Adlers für ein
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Grund keineswegs darin, dass Offenbarung für Kierkegaard ein untergeordnetes Thema wäre, sondern eher darin, dass ihr subjektives Korrelat, der Glaube, ipso facto als eine Existenzmöglichkeit aufgefasst werden kann und daduch unmittelbar in die Existenzthematik involviert wird. Von einem Versuch einer vollständigen Rekonstruktion von Kierkegaards Offenbarungsverständnis muss im vorliegenden Beitrag freilich abgesehen werden. Es scheint aber angebracht, einige charakteristische Aspekte des Kierkegaardschen Offenbarungsverständnisses provisorisch hervorzuheben, um dadurch die diesbezügliche Analyse der Climacus-Schriften schematisch vorzubereiten. Bereits in einer Aufzeichnung von 1839 wird die Transzendenz der Offenbarung plastisch dargestellt und mit der natürlichen Gotteserkenntnis konfrontiert: Die Philosophen meinen, alle Erkenntnis, ja selbst das Dasein der Gottheit sei etwas, was die Menschheit selbst hervorbringt, und nur im uneigentlichen Sinne könne von einer Offenbarung die Rede sein, ungefähr im gleichen Sinne, wie man sagen kann, dass der Regen vom Himmel herabfällt, während doch dieser Regen nichts anderes ist als der von der Erde hervorgebrachte Nebel; aber sie vergessen, um im Bilde zu bleiben, dass Gott am Anfang die Wasser des Himmels und der Erde schied, und dass es etwas Höheres gibt als die Atmosphre. 47
Es fällt unmittelbar auf, dass die hier betonte Differenz zwischen der transzendenten, unableitbaren Offenbarung und der Immanenz des Denkens auf einem genuin theologischen Axiom, und zwar auf jenem dem Geschöpflichkeit basiert. Dieser Unterschied wird in den späteren Texten und besonders in den Climacus-Schriften nicht nur übernommen, sondern aus hamartiologischen Gründen sogar dialektisch verabsolutisiert. Kierkegaards Offenbarungsverständnis gründet zweifellos auf der theologischen Anthropologie Luthers, der den Menschen nicht nur als ein endliches Geschöpf mit Unendlichkeitsanspruch, sondern – und vor allem – als einen vor Gott stehenden Sünder auffasst, welcher deshalb von Gott und von der erlösenden Wahrheit absolut geschieden ist. Die christliche aufschlussreiches Zeichen der damaligen religiösen Verwirrung gehalten. In seinen – in verschiedenen Versionen verfassten – Reflexionen auf diese vermeintlichen Privatoffenbarungen begegnet Kierkegaard Adlers Autoritätsanspruch mit einem entschiedenen Protest gegen die Vermischung der Kategorien von Apostel und Genie, ferner reflektiert er auch auf die Merkmale einer möglichen Offenbarung. Siehe dazu: Søren Kierkegaard Das Buch ber Adler, Gütersloh: Gerd Mohn 1995 / Pap. VIII 2 B 235, S. 5 – 127, 173 – 230. 47 T I, S. 212 / SKS 18, 53,18 – 26 (EE:151).
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Offenbarung als eine sensu eminentiori Existenzmitteilung ist deshalb vom Sündenbewusstsein wesentlich unabtrennbar. In einem Journaleintrag aus der Zeit zwischen 1845 und 1848, mit dem Titel „Etwas über die Vergebung der Sünden“, wird behauptet, dass „kein Mensch aus sich selbst darauf kommen [kann], ein wie großer Sünder er sei. Folgerichtig lehrt die Augsburgische Konfession, dass dem Menschen offenbart werden müsse, ein wie großer Sünder er sei. Denn ohne den göttlichen Maßstab ist kein Mensch der große Sünder (das ist er nur – vor Gott).“48 In einer anderen Aufzeichnung, die eindeutig in die Entstehungszeit der Philosophischen Brocken fällt, wird das Sündenbewusstsein geradezu als konstitutiv für das christliche Bewusstsein betrachtet: „Wie sich die Gottesvorstellung aus dem menschlichen Geist entwickelt durch dessen Verhältnis zu sich selbst und zur Welt, ebenso die Christusvorstellung durch das Sündenbewusstsein. Das war es, was dem Heidentum fehlte, und nicht so sehr die geschichtliche Offenbarung.“49 In der oben zitierten Journalpassage „Etwas über die Vergebung der Sünden“ wird noch ein anderer Aspekt der Offenbarung betont und sein enges Verhältnis zum Sündenbewusstsein hervorgehoben, nämlich die Liebe Gottes, dessen Offenbarung die Bedingung des Sündenbewusstseins bildet: Wie der erste Ausdruck einer wahren und tiefen Verliebtheit das Gefühl der eigenen Unwürdigkeit ist, ebenso ist das Verlangen nach der Vergebung der 48 T II, S. 243 / Pap. VIII A 675. In einer Aufzeichnung von 1846/47 wird diese theologische Einsicht Luther zugeschrieben: „Es ist deshalb so folgerichtig von Luther, daß er lehrt, der Mensch müsse durch eine Offenbarung belehrt werden, wie tief er in Sünden lebt.“ T II, S. 71 / SKS 20 69,29 – 33 (NB:79). Vgl. Luthers Huuspostil, übers. von J. Thisted, Kopenhagen 1828. Ebenso werden Luthers Schmalkaldischen Artikel bereits in Der Begriff Angst (1844) zitiert: „Solche Erbsünde ist so gar ein tief böse Verderbung der Natur, daß sie kein Vernunft nicht kennt, sondern muß aus der Schrift Offenbarung gegläubet werden.“ (BA, 23 / SKS 4, 333). Die Offenbarung wurde von Kierkegaard auch in den Jahren 1842 – 44 als eine Bedingung des Sündenbewusstseins aufgefasst: „Was die Betrachtung der Natur für das erste (humane) Gottesbewusstsein ist, das ist die Betrachtung der Offenbarung für das zweite unmittelbare Gottesbewusstsein (Sündenbewusstsein).“ (T I, 324 / SKS 18, 205 ( JJ:203)). Letztlich wird in den „Reden beim Altargang am Freitag“ auch die Notwendigkeit der Offenbarung für das Sündenbewusstsein hervorgehoben: „Dergestalt muss es sich wohl verhalten, und darum wird es nötig sein, daß die Offenbarung lehrt, was der Mensch auch aus sich selber nicht wissen kann, nämlich, wie tief die Menschheit gesunken ist.“ (Kierkegaard Christliche Reden 1848, Gütersloh: Gerd Mohn 1992, S. 277 / SKS 10, 272. 49 T I, S. 322 / SKS 18, 201,26 – 30 ( JJ:191).
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Sünden das Kennenzeichen dafür, dass man Gott liebt. Aber aus sich selbst kann kein Mensch darauf kommen, dass Gott ihn liebt. Das muß dem Menschen verkündigt werden. Dies ist das Evangelium, die Offenbarung. Aber eben weil kein Mensch aus sich selbst darauf kommen kann, daß Gott ihn liebt, deshalb kann auch kein Mensch aus sich selbst darauf kommen, ein wie großer Sünder er sei.50
Im Journal NB:8 (1848) wird auch die andere Seite des Zusammenhanges von Offenbarung und subjektiver Liebe dargestellt. Kierkegaard weist hier auf das biblische Wort yadac (Gen 4,1) hin, welches die semantische Identität von Lieben und Erkennen ausdrückt. Aufgrund dieser Gleichheit wird die Liebe als eine Offenbarung und zugleich als eine Selbstoffenbarung ausgelegt. Das Christus-Logion „wer mich liebet, dem werde ich mich offenbaren“ ( Joh 14,21) wird von Kierkegaard als ein allgemeingültiges Prinzip interpretiert und die Liebe als eine Aktivität des Rezipienten in der Aufnahme der Offenbarung aufgefasst: Was man liebt, das offenbart sich einem; wer die Wahrheit liebt, dem offenbart sie sich usw., denn man denkt sich gern den Empfänger als unwirksam, und dann das Offenbarende als ihm sich mitteilend, aber das Verhältnis ist dies: der Empfänger ist der Liebende, dann wird das Geliebte ihm offenbart, denn er wird selber umgebildet zur Gleichheit mit dem Geliebten, um selber zu werden, was man versteht, und man versteht nur im Verhältnis dazu, wie man es selber wird.51
Kierkegaards Demispredigt, gehalten im Jahre 1844, erhellt einen weiteren bedeutenden Aspekt der Offenbarung, worauf wir nur noch kurz hinweisen. Es wird hier hervorgehoben, dass obwohl Gott wesentlich Licht und Klarheit ist, er für uns selbst in seiner Offenbarung auch dunkel ist, „gleich einem Geheimnis, das wir nicht aussagen können.“52 Daraus folgt einerseits, dass das Empfangen der Offenbarung primär kein kognitiver Akt 50 T II, S. 243 / Pap. VIII A 675. In der Aufzeichnung wird ferner die innere Dialektik der Liebe Gottes und des Sündenbewusstseins nuanciert vorgelegt: „Beides entspricht einander: Wenn der Mensch nicht begreift, ein wie großer Sünder er sei, dann kann er Gott nicht lieben; und wenn er nicht Gott liebt (dadurch daß ihm verkündigt wird, wie sehr Gott ihn liebt), so kann er nicht begreifen, ein wie großer Sünder er ist. Die Innerlichkeit des Sündenbewußtseins ist eben die Leidenschaft der Liebe. Denn das Gesetz macht einen zwar zum Sünder – aber die Liebe macht einen zum weit größeren Sünder; zwar kann einer, welcher Gott fürchtet und zittert, sich als Sünder fühlen; aber einer, der in Wahrheit liebt, fühlt sich als noch größerer Sünder.“ Ibid. 51 T III, S. 115 / SKS 21, 172,4 – 11 (NB 8:63). 52 Kierkegaard Erbauliche Reden 1843/44, Gütersloh: Gerd Mohn 1992, S. 77 / Pap. IV C 1, S. 355.
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ist, da das objektive Wissen in der Beziehung zur Offenbarung zu einem negativ-dialektischen Moment wird,53 andererseits dass die Offenbarung selbst keineswegs als ein objektives Ereignis, sondern eher als eine subjektiv-dialektische Wahrheits- bzw. Existenzmitteilung aufzufassen ist. Diese Dimension der Offenbarungsproblematik wird in den ClimacusSchriften mit einer imponierenden dialektischen Schärfe ausgearbeitet.
III. Das Problem der Offenbarung in den Climacus-Schriften Der Vergleich des Standpunktes von Kierkegaards Pseudonym Johannes Climacus mit jenen des frühen Fichte und Kant scheint nicht nur aus dem Grunde berechtigt, weil es klare thematische Berührungspunkte zwischen diesen Autoren gibt, sondern weil die Figur des Climacus für Kierkegaard ein äußeres, philosophisch reflektiertes zugleich aber leidenschaftliches Verhältnis zum Problem der Wahrheit und Aneignung des Christentums repräsentiert. Er ist ein scharfer Dialektiker, „junger Zweifler“ (dubitans im Sinne Descartes’), der einerseits in den Philosophischen Brocken (1844) die echt philosophische Aufgabe übernimmt, die Offenbarung in Form eines Gedanken-Experiments rein formell als eine heuristische Fiktion einzuführen und die Frage nach ihren Bedingungen und Konsequenzen radikal zu durchdenken. Andererseits erörtert er in seinem opus magnum, in der Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift (1846), die subjektive Dialektik der Aneignung der Offenbarung mit gleichem dialektischen Ernst, so dass beide Werke durchaus als eine Einheit, nämlich als eine Erhellung desselben Problems unter verschiedenen Aspekten betrachtet werden können.
A. Die Grenzen der bloßen Vernunft: die Unmçglichkeit einer jeden theologia naturalis und das Geheimnis der Offenbarung Bekanntlich hat Kant die Unmöglichkeit allen theoretischen Wissens von Gott als Noumenon in der „Transzendentalen Dialektik“ seiner ersten Kritik überzeugend demonstriert. In der Dialektik der Philosophischen Brocken ist diese Negativität einerseits völlig bewahrt, andererseits aber auch ins Extrem getrieben. Während nämlich Kant das praktische Wissen von 53 Climacus hebt hervor: „Selbst das Allergewisseste: die Offenbarung wird eo ipso dialektisch, wenn ich sie mir aneignen soll.“ UN I, S. 31.
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Gott in seiner zweiten Kritik in einer hypothetischen Form, als eine Forderung der reinen praktischen Vernunft, postulierte, läuft Climacus’ apophatische Theologie darauf hinaus, dass Gott für den Verstand „das Unbekannte“ (det Ubekjendte),54 das „schlechthin Verschiedene“ (det absolut Forskjellige) 55 ist. Diese Begriffe entsprechen ganz und gar einander, da beide sowohl für den Verstand als auch für die Philosophie56 weitgehend problematisch sind. Dieser Problematik ist sich aber Climacus schlechterdings bewusst, und er hat auch die Konsequenzen daraus gezogen: der Verstand kann „die schlechthinnige Verschiedenheit […] nicht einmal denken; denn schlechthin kann er sich selbst nicht verneinen, sondern er benützt sich selber dabei und denkt mithin die Verschiedenheit an sich selbst, die er mit sich selbst denkt.“57 Climacus sagt ausdrücklich, dass diese Verschiedenheit sich nicht greifen lässt.58 Mit diesen negativen Behauptungen werden selbstverständlich alle Formen philosophischer Theologie radikal negiert. Während in Kants Postulatenlehre die Möglichkeit einer im praktischen Sinne konzipierten theologia naturalis bewahrt bleibt, indem die Idee von Gott als Gesetzgeber und als Möglichkeitsbedingung der Realisierung des höchsten Gutes mit dem Bewusstsein des Moralgesetzes unmittelbar verbunden ist (d. h. für ihn gibt es ein immanentes, obschon praktisches „Wissen“ von Gott), schließt Climacus die Möglichkeit einer jeden natürlichen Kenntnis von Gott in allen ihren Formen ab ovo aus. Climacus ist mit Kant und Fichte weitgehend darin einig, dass Gott sich nicht als ein Objekt der menschlichen Erkenntnis denken lässt, da er nicht zur phänomenalen Welt gehört und deshalb eine unaufhebbare 54 PhB 37 / SKS 4, 245,3. Zur Interpretation der Kategorie des „Unbekannten“ und zum geschichtlichen Kontext ihrer Verwendung bis Kierkegaard siehe: István Czakó „Das Unbekannte. Die Aufhebung der klassischen theologia naturalis in der negativen Theologie des Johannes Climacus“ in KSYB 2004, S. 235 – 249. Bemerkenswerterweise nennt auch Kant Gott an einer Stelle der Prolegomena den „Unbekannten“: „Wenn ich sage, wir sind genötigt, die Welt so anzusehen, als ob sie das Werk eines höchsten Verstandes und Willens sei, so sage ich wirklich nichts mehr, als: wie sich verhält eine Uhr, ein Schiff, ein Regiment, zum Künstler, Baumeister, Befehlshaber, so die Sinnenwelt […] zu dem Unbekannten.“ Immanuel Kant Prolegomena zu einer jeden knftigen Metaphysik die als Wissenschaft wird auftereten kçnnen in Wilhelm Weischedel Kant. Werke in zehn Bnden, Bd. V, S. 232. 55 PhB, 42f. / SKS 4, 249,30ff. 56 Man denke nur an Hegels Position, derzufolge „der absolute Unterschied“ an sich ein inhaltloser Begriff ist. Vgl. Hegel Wissenschaft der Logik in id. Hauptwerke in sechs Bnden, Bd. III, Hamburg: Felix Meiner 1999, S. 265 – 278. 57 PhB, 42 / SKS 4, 249,33ff. 58 PhB, 43 / SKS 4, 250,8.
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„Grenze“(Grændse) 59 für die Erkenntnis bildet. Für Climacus aber ist der wesentliche Grund für Gottes Unerkennbarkeit nicht die Endlichkeit und die konstitutive Verwiesenheit (auf die menschlichen Sinnlichkeit des Erkenntnisvermögens), sondern die theologische Kategorie der Snde. Er betont ausdrücklich, dass der absolute Unterschied vom Menschen selbst verschuldet ist.60 Daraus folgt für Climacus, dass Gott sich nicht nur kategorial, sondern auch transzendental nicht denken lässt, und zwar seiner Transzendenz zufolge, die aus hamartiologischen Gründen als absolut und unableitbar aufzufassen ist. Erst infolge der Sünde kommt der unendliche, qualitative Unterschied zustande und ist der Mensch endgültig darauf angewiesen, aus der Offenbarung überhaupt erst zu erfahren, wie sündig er ist. Jene negative Position, die Climacus in den Philosophischen Brocken erreicht, wird in der Nachschrift von der Seite der existierenden Subjektivität weitergeführt, und zwar so, dass Gottes Unerkennbarkeit durch die Kategorie des Geheimnisses ausgedrückt wird. In der Nachschrift unterscheidet Climacus zwischen zwei Formen der Offenbarung: Während die Offenbarung sensu strictissimo allein daran kenntlich ist, dass sie das Geheimnis ist, bedeutet die Offenbarung sensu laxiori „das Zurücknehmen durch Wiedererinnen ins Ewige hinein, eine Offenbarung im unmittelbaren Sinne“,61 welche zweifellos mit der Sokratischen Position identisch ist. Da das Christentum laut Climacus gar nicht verstanden werden will, und das Höchstmaß eines Verständnisses darin liegt, zu verstehen, dass es gar nicht verstanden werden kann, ist die Offenbarung für den Existierenden ein unaufhebbares Geheimnis.62 Die existenziale Aufgabe des Einzelnen ist demzufolge nicht, zu einem objektiven Wissen von Offenbarung zu gelangen, sondern sie sich subjektiv anzueignen. Da die wesentliche Wahrheit direkt nicht mitteilbar ist, muss die Offenbarung wesentlich die Form dieser Negativität an sich tragen: „das Geheimnis ist 59 PhB, 42 / SKS 4, 249,24f. Indessen ist es klar, dass, während im Kantischen System die Idee von Gott in einem erkenntnislogischen Sinn als Grenzbegriff interpretiert ist, die Verwendung der Kategorie „Grenze“ bei Climacus starke theologische Implikationen hat. Allerdings hebt Green hervor, dass Kierkegaard das Kantsche Erbe nicht nur tief verstanden, sondern in wesentlichen Aspekten auch bewahrt hat: „Kierkegaard was one of Kant’s best nineteenth-century students.“ Ronald M. Green, Kant: „A Debt both Obscure and Enormous“ in Jon Stewart (hrsg.), Kierkegaard and His German Contemporaries, Tome I: Philosophy (s. Anm. 1), S. 195. 60 PhB, 45 / SKS 4, 252,28. 61 UN I, S. 205 / SKS 7 195f. 62 Ibid.
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der Ausdruck dafür, daß die Offenbarung Offenbarung im strengen Sinne ist; das Geheimnis ist gerade das einzige, woran man sie erkennt.“63 Während also Fichte a priori Vernunftkriterien für eine jede mögliche Offenbarung aufstellt und die empirisch-historische Erscheinung der Offenbarung der universalen Vernunft unterordnet, hebt Climacus – so wie de silentio – die Unableitbarkeit und Transzendenz der Offenbarung in beiden Schriften hervor.
B. Die Geschichtlichkeit der Offenbarung Für Climacus ist – ebenso wie für den jungen Fichte – das Denken G. E. Lessings von wesentlicher Bedeutung; während aber in Fichtes Rezeption die Lessingsche Idee der notwendigen Vernunftmäßigkeit der Religion und der Offenbarung im Vordergrund steht, ist Climacus durch Lessing vor allem dazu motiviert, die dialektische Schwierigkeiten der Wahrheit des Christentums – die von der Geschichtlichkeit absolut untrennbar ist – in Form einer Hypothese voller Ernst und Leidenschaft zu durchdenken und das Verhältnis des Einzelnen zu dieser wesentlichen Wahrheit als einen „Sprung“ (Spring) 64 aufzufassen. Lessing war bekanntlich eine zentrale Figur der deutschen Aufklärung, und seine Kritik am Absolutheitsanspruch der Religionen sowie sein Offenbarungsverständnis erregten einen grossen Widerhall. Er gehört zu den wenigen Denkern, über die Kierkegaard sich in seinen veröffentlichten Schriften stets mit einer unverhohlenen Anerkennung äußert. Sein Name und die Würdigung seiner ästhetischen Abhandlung Laokoon (1760) erscheint bereits in EntwederOder,65 aber auch Johannes de silentio ist ihm für seine Hamburgische Dramaturgie (1767 – 69) dankbar.66 Es ist kein Zufall, dass am Anfang des zweiten Teiles der Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift, in welchem das subjektive Problem des Christwerdens ausgearbeitet wird, ein ganzer Abschnitt in Form von Thesen ihm gewidmet wird.67 Hier wird Lessings wichtigste These bezüglich der Offenbarung wie folgt zusammengefasst: „Lessing hat gesagt (S. W., 5. Bd., S. 80), daß zufällige ge63 UN I, S. 238 / SKS 7 223,14 – 16. Siehe noch dazu UN I, S. 258 / SKS 7 239,21; UN II, S. 140 / SKS 7, 393,25. 64 UN I, S. 86 / SKS 7, 92,21. 65 E-O I, S. 181 / SKS 2, 167,1ff. 66 Siehe FZ, S. 99 / SKS 4, 178,17ff. 67 UN I, 55 – 117 / SKS 7, 72 – 120.
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schichtliche Wahrheiten nie Beweis für ewige Vernunftwahrheiten werden können; sowie (S. 83), daß der Übergang, wodurch man auf eine geschichtliche Nachricht eine ewige Wahrheit gründen will, ein Sprung sei.“68 Die Relevanz dieser für Climacus fundamentalen These zeigt sich schon daran, dass sie bereits auf dem Titelblatt der Philosophischen Brocken in Form eines Problems auftaucht, um am Ende des Buches in geklärter Form beinahe als Zusammenfassung wiederholt zu werden.69 Die rein erkenntnislogische Darstellung der Geschichtlichkeit der Offenbarung und ihres subjektiven Korrelats, des Glaubens, ermöglicht es Climacus, auf das ungeheure Paradox des Christentums und folglich auf die unaufhebbare Disjunktion zwischen Glauben und Wissen, Spekulation und Christentum, hinweisen zu können. Während Lessing die Offenbarung als eine nützliche, aber nicht vernunftnotwendige pädagogische Maßnahme gilt, deren Absolutheitsanspruch eben wegen ihrer wesentlichen Geschichtlichkeit zurückzuweisen ist, und während für Fichte die bedingte Notwendigkeit der Offenbarung bloß auf dem empirischen Datum der moralischen Verfallenheit basiert, wird die Offenbarung bei Climacus als ein aus der Vernunft unableitbares Faktum erörtert, welches für diese ein unlösbares Paradox bildet. Das rationalistische Primat der Vernunft, demgegenüber die Geschichte als ein empirisches und phänomenales Moment immer nur als zweitrangig galt, kehrt sich also bei Climacus um: Obwohl die Vernunft nicht einfach negiert wird, da sie eine conditio sine qua non des Glaubens bildet (indem sie verstehen muss, dass man ihn nicht verstehen kann),70 ist sie dem Paradox und der Geschichtlichkeit eindeutig untergeordnet. In den Philosophischen Brocken hat Climacus die dialektische Aufeinanderbezogenheit des paradoxen Glaubens als subjektives Korrelat der 68 UN I, S. 86 / SKS 7, 92,18 – 21. 69 „Wie bekannt ist nämlich das Christentum die einzige geschichtliche Erscheinung, welche dem Geschichtlichen zum Trotz, ja eben vermöge des Geschichtlichen, dem Einzelnen für sein ewiges Bewußtsein hat Ausgangspunkt sein wollen, ihn anders als bloß geschichtlich hat interessieren wollen, ihm seine Seligkeit hat gründen wollen auf sein Verhältnis zu etwas Geschichtlichem.“ PhB, S. 106 / SKS 4, 305,14 – 18. 70 „Der gläubige Christ hat sowohl als auch gebraucht er seinen Verstand, respektiert das Allgemein-Menschliche, erklärt es nicht mit Mangel an Verstand, wenn jemand nicht Christ wird, aber im Verhältnis zum Christentum glaubt er gegen den Verstand und gebraucht auch hier den Verstand – um darauf aufzupassen, daß er gegen den Verstand glaubt.“ UN II, S. 279f. / SKS 7, 516,19 – 23. „[D]as Höchstmaß des Verständnisses, von dem die Rede sein kann, wäre zu verstehen, dass es nicht verstanden werden kann.“ UN I, 205 / SKS 7, 196,10f.
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Offenbarung und der Geschichte als ihres wesentlichen Ortes gründlich ausgearbeitet. Der Ausgangspunkt seines Gedankenganges ist eine Reflexion auf das sokratische unmittelbare Verhältnis des Erkennenden und der Wahrheit (Anamnesis als Wiedererkennen), wohingegen der Glaube sich als ein „Verhältnis des Paradoxes zum Verstande“71 erweist. Für Climacus ist dieser Glaube nicht identisch mit dem rationalistischen Vernunftglauben, er bildet auch keine bloße Vorstufe des begrifflichen Denkens, sondern er ist eine leidenschaftliche Haltung des Verstandes, eine Leidenschaft, die paradox72 und zugleich glücklich73 ist: Der Glaube stößt an das Paradox und versöhnt sich zugleich mit ihm. Aber was konstituiert dieses Paradoxon, ohne welches der Glaube, die paradoxe Leidenschaft des Verstandes, schlechthin unzugänglich wäre? Es ist eigentlich nichts anderes als die Geschichte selbst, die Aporie eines Wissens von der Geschichte (der mögliche Gegenstand des Wissens ist ja immer das Notwendige), ferner jener absolute Widerspruch, dass die Zeit und die Ewigkeit in der Geschichte, im Augenblick zusammengesetzt worden sind – deshalb konzentriert sich das Pathos des Projekts von Climacus auf den Augenblick,74 den Vigilius Haufniensis etwas später „Atom der Ewigkeit“ (Evighedens Atom) 75 genannt hat. In der mit Recht berühmt gewordenen Polemik des „Zwischenspiels“ gegen die Hegelsche Applikation der Modalkategorie der Notwendigkeit auf die Geschichte exponiert Climacus zugleich auch seine eigene Geschichtsauffassung, die für sein Verständnis von Glaube und Offenbarung relevant ist. In seiner Analyse erweist sich der Begriff „notwendiges Werden“ als contradictio in adjecto: Während nämlich die „Veränderung des Werdens“ (kinesis) als Übergang von Möglichkeit zur Wirklichkeit sich nicht auf das Wesen, sondern auf das Sein bezieht, ist die Notwendigkeit eine reine Wesensbestimmung, welche jede Änderung begrifflich aus71 PhB, S. 46 / SKS 4, 252,32. Malantschuk meint, dass Kierkegaard Kants Unterscheidung zwischen dem Verstand, und der Vernunft im Wesentlichen teilt, und er benutzt den Begriff Verstand um die Begrenztheit der Erkenntnis zu betonen. Beide gehören aber zur Immanenz des Denkens und stehen deshalb der Offenbarung gegenüber: „Da forstand og fornuft trods deres forskellighed væsentlig ligger inden for samme område, d. v. s. immanensen, bruger SK af og til begge disse udtryk som modsætning til troen, som peger mod det transcendente.“ Gregor Malantschuk Nøglebegreber i Søren Kierkegaards tænkning, hrsg. von Grethe Kjær und Paul Müller, Kopenhagen: Reitzel 1993, S. 49f. 72 PhB, S. 37 / SKS 4, 244,35. 73 PhB, S. 51 / SKS 4, 275,27. 74 PhB, S. 19 / SKS 4, 229,18. 75 BA 90 / SKS 4, 391,8.
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schließt. Daraus folgt, dass die Unveränderlichkeit des Vergangenen an sich keine Notwendigkeit bedeutet und sich mit der Unveränderlichkeit des Notwendigen nicht identifizieren lässt. Der Grund für den Übergang des Werdens kann also keine Notwendigkeit sein, sondern die Wirklichkeit der Freiheit. Wie das Sein das Wesen des Notwendigen ist, so ist das Werden das Wesen der Geschichte: „alles was geworden ist, ist eben damit geschichtlich.“76 Diese genuine Geschichtskonzeption ist nicht nur wegen ihrer philosophischen Relevanz bedeutend, sondern auch deshalb, weil sie zugleich die wichtigste Grundlage der Glaubensauffassung von Climacus bildet. Wenn man nämlich feststellt, dass die Geschichte aufgrund der Kontingenz des Werdens weder zum Gegenstand der sinnlichen Erfahrung noch zum Objekt eines begrifflichen Wissens werden kann, muss man ein solches „Organ“ suchen, das als „Sinn für das Werden“ dem Geschichtlichen gemäß gebildet und zur Auffassung der Geschichte fähig ist. Dieses „Organ“ ist für Climacus nichts anderes als der Glaube – aufgrund der Konnaturalität jener Ungewissheit, die dem Werden und dem Glauben gleicherweise zukommt. So ist die Geschichtlichkeit für Climacus ein Gegenstand des Glaubens, der nicht so sehr ein Erkenntnisprinzip, sondern vielmehr ein „Entschluss“ (Beslutning) 77 ist. In diesem Kontext ist also der Glaube als Glaube „an das So-Sein des Gewordenen“78 gar keine religiöse Haltung, sondern ein allgemeinmenschlicher Akt, der streng zur Situation des Existierenden gehört, der genötigt ist, das zu glauben, was er nicht sehen kann. Der Gegenstand des sensu eminentiori genommenen, paradoxen Glaubens ist dagegen nicht das geschichtliche Werden in seiner allgemeinen Bedeutung, sondern ein geschichtliches Werden (welches den Inhalt der christlichen Offenbarung bildet), und zwar jenes, von Climacus „absolutes Paradoxon“ genannte Faktum, dass das Absolute, das Ewige (zeitlich) geworden ist, sein „Wesen in die dialektischen Bestimmungen des Werdens hineinkonjugiert“79 wurde und durch dieses Werden ein Gegenwärtiges geworden ist. Deshalb ist der Gegenstand dieses Glaubens nicht mehr die Lehre, sondern der Lehrer80 bzw. seine Wirklichkeit. Diese Gegenwart des Ewigen in der Zeit eröffnet dem Existierenden jene pa76 77 78 79 80
PhB, S. 72 / SKS 4, 275,23. PhB, S. 80 / SKS 4, 283,3. PhB, S. 80 / SKS 4, 282,17. PhB, S. 84 / SKS 4, 286,14. PhB, S. 59 / SKS 4, 264,11.
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radoxe Möglichkeit, sich in der Zeit – unabhängig von der geschichtlichempirischen Distanz – in der Autopsie81 des Glaubens stets unmittelbar zum Ewigen verhalten zu können. Das absolute Faktum ist folglich Gegenstand des Glaubens in zweifacher Hinsicht: erstens, als ein geschichtliches Faktum, zweitens als jenes Paradoxon, dass das Ewige trotz seines Wesens geschichtlich geworden ist und dadurch eine neue Existenzform, die Gleichzeitigkeit (Samtidighed) 82 des Glaubens eröffnet hat.
IV. Subjektivität und Offenbarung: Fichtes frühe Offenbarungskonzeption im Spiegel von Kierkegaards Reflexionen Fichtes berühmtes Diktum, „was für eine Philosophie man wähle, hängt sonach davon ab, was man für ein Mensch ist,“83 scheint sowohl für ihn selbst als auch für Kierkegaard schlechterdings zutreffend zu sein. Fichtes Standpunkt in seiner frühen Offenbarungskritik ist jener eines aufgeklärten, vernunftgläubigen Denkers, für den die Autonomie der Vernunft eine absolute Voraussetzung bildet. Daraus folgt der Versuch einer konsequenten Eliminierung jeder Form der Heteronomie und sogar die kritische Reinigung des religiösen Begriffes der Offenbarung. Sie lässt sich für Fichte nur denken, wenn ihr Inhalt mit dem allgemeingültigen praktischen Vernunftsgesetz identisch ist. Dadurch kommt man zu einer genuin rationalistischen Konzeption, die das religiöse Phänomen der Offenbarung in die Immanenz des Denkens einbezieht und alle ihre Inhalte, die aus der Vernunft nicht deduzierbar sind, vom Begriff der Offenbarung kritisch abgrenzt. Obwohl auf diese Weise die notwendige Vernunftmäßigkeit der Offenbarung philosophisch erwiesen wird, scheint zumindest für dieses Bewusstsein selbst die kritische Reduktion der möglichen Inhalte des religiösen Bewusstseins fragwürdig zu sein, wodurch dieser Erweis erst zustande kommt. Kierkegaards früher, oft zitierter Journaleintrag, wonach „Philosophie und Christentum sich doch niemals vereinen lassen“84 scheint auch in diesem Kontext relevant zu sein, da durch ihn eine klare Grenzbestimmung (die auch und vor allem für die Beziehung der Immanenz der 81 PhB, S. 99 / SKS 4, 299,7. 82 PhB, S. 67 / SKS 4, 270,36. 83 J. G. Fichte „Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre“ in Philosophisches Journal, Bd. V, 1797, S. 23 / FW V, S. 434. 84 T I, S. 23 / SKS 17, 30,28 (AA:13).
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Vernunft zur Transzendenz der Offenbarung gilt) deutlich ausgedrückt wird. Eindeutig aber ist, dass diese Grenzbestimmung letztlich auf theologischen Voraussetzungen basiert.85 An diesem Punkt zeigt sich, dass, obwohl Kierkegaard mit der Kantschen Vernunftskritik im Wesentlichen einig war – er teilte sogar die Kantsche Unterscheidung zwischen Verstand und Vernunft –, die transzendentale Selbstkritik der Vernunft für ihn immer noch innerhalb des Kreises der Immanenz bleibt. Wenn Climacus die Frage nach der Wahrheit des Christentums erörtert, tut er einen religiösen-kritischen Schritt weiter, indem er behauptet, dass Gott und die Offenbarung keineswegs zur Immanenz des Denkens gehören; sie lassen sich auch – gerade wegen der absoluten Transzendenz des „Unbekannten“ – transzendental gar nicht denken. Dieser Standpunkt von Climacus scheint eine entschiedene theologische Kritik und Grenzbestimmung der Kompetenz der Philosophie im Bereich des Christlichen zu sein, welche allerdings für die idealistische Philosophie zumindest problematisch ist, insofern – mit Hegels bekanntem Wort – die Grenze im „Hinausseyn über die Schranke“86 des Sollens aufgehoben wird und die Vernunft selbst „das Hinausgehen über die Schranke ist.“87 Demgegenüber lässt sich die von Climacus aus theologischen Gründen vorausgesetzte Grenze keineswegs vermitteln oder aufheben. Obwohl es klar ist, dass der historische Kontext dieses negativen Standpunktes die zeitgenössische dänische Debatte über die Positionen von Rationalismus und Supranaturalismus sowie über die Hegelsche Kategorie der Vermittlung ist,88 scheint mir Climacus’ Kritik indirekt auch Fichtes frühe Konzeption zu treffen, insofern sein Versuch gerade die Vernunftsautonomie gegenüber dem religiösen Phänomen der Offenbarung zur Geltung bringt. Eine weitere Differenz zwischen Fichtes frühem Standpunkt und Climacus’ Konzeption betrifft die Interpretation der Geschichtlichkeit der Offenbarung. Während nämlich der frühe Fichte die Offenbarung aus 85 „Überhaupt, hier liegt der klaffende Abgrund: Das Christentum behauptet die Mangelhaftigkeit der menschlichen Erkenntnis aufgrund der Sünde und ihre Berichtigung im Christentum; der Philosoph sucht sich gerade Rechenschaft zu geben über das Verhältnis von Gott und Welt als Mensch […].“ T I, S. 24 / SKS 17, 31,28 – 31. (AA:13) 86 Hegel Wissenschaft der Logik (s. Anm. 56), S. 121. Berühmt ist die Polemik, die Hegel hier gegen jene Position richtet, die behauptet, „es könne über die Schranke nicht hinausgegangen werden.“ 87 Hegel Wissenschaft der Logik, S. 122. 88 Stewart Kierkegaard’s Relations to Hegel Reconsidered (s. Anm. 6), S. 336 – 355.
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der reinen Vernunft abzuleiten versucht und die Geschichte folglich als einen bloß phänomenalen Ort ihrer Erscheinung auffasst,89 begreift Climacus die Offenbarung sensu eminentiori hypothetisch gerade in ihrer unaufhebbaren geschichtlichen Faktizität. Eben daraus folgt, dass die Offenbarung für den Verstand stets als ein absolutes Paradox erscheinen soll. Dieser Unterschied hängt zweifellos auch mit Fichtes und Climacus’ unterschiedlichen anthropologischen Auffassungen zusammen: Die von Kant übernommene Konzeption des Menschen als eines endlichen Vernunftwesens, das zugleich ein sinnliches Wesen sei, ist für Climacus nämlich eine reine Abstraktion, die von der Wirklichkeit der Existenz wesentlich absieht. Der Unterschied zwischen dem Vernunftwesen und der Existenz liegt gerade in der Faktizität, in der Geschichtlichkeit der Existenz, die für die Offenbarung im christlichen Sinne eine Möglichkeitsbedingung bildet. Allerdings soll sich der Vergleich von Fichtes frühem Standpunkt mit Climacus’ Konzeption keineswegs in einer bloßen Konstatierung der Wesensdifferenzen erschöpfen. Obwohl für Fichte die Offenbarung eine „übernatürliche Wirkung in der Sinnenwelt“90 ist, wird seine kritische Behauptung der subjektiven Gültigkeit der Offenbarung in Climacus’ existenzdialektischer Erörterung der Subjektivität nicht nur formal bewahrt, sondern auch inhaltlich weitergeführt. Obgleich Climacus die Möglichkeit eines natürlichen Wissens von Gott aus hamartiologischen Gründen konsequent ausschließt, wird in einer änigmatischen Aufzeichnung aus der Entstehungszeit der Philosophischen Brocken auf eine – in jedem anwesende, obschon nicht bewusste – Erinnerung (Erindring) hingewiesen, die sich auch auf Gottes Dasein bezieht.91 Wenn diese Terminologie auf die platonische Anamnesis im Menon (81 d 4f.) Bezug nimmt, dann kann man daraus auf ein allgemeines, obgleich unbewusstes Wissen von Gott bei Kierkegaard schließen. Obwohl diese Kenntnis zweifellos nicht mit den a priori praktischen Vernunftgesetzen zu identifizieren ist, bildet sie auch keinen Antipoden hierzu. Vielleicht sollte man aber die fundamentale Frage nach dem Verhältnis von Ver89 Zur späteren Entwicklung von Fichtes Konzeption über das Verhältnis von Offenbarung und Geschichte siehe: Verweyen „Fichtes Religionsphilosophie“ (s. Anm. 9), S. 219 – 224. 90 FW V, S. 106. 91 „Med Hensyn til Guds Tilværelse, Udødeligheden o:s:v: kort med Hensyn til alle Immanentsens Problemer gjelder Erindringen, det er altsammen til i ethvert Menneske kun veed han ikke af det.“ Pap. V B 40,11, S. 93.
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nunft und Offenbarung eher auf Hölderlins dichterische Weise beantworten: „Ist unbekannt Gott? Ist er offenbar wie der Himmel? dieses glaub’ ich eher.“92
92 Erstdruck in: S. W. Waiblinger Pha ton, Zwei Theile, Stuttgart, Friedrich Franckh 1823, S. 154.
Abkürzungen
BA
Kierkegaard Der Begriff Angst, übers. v. E. Hirsch, Düsseldorf 1952. BI Kierkegaard ber den Begriff der Ironie mit bestndiger Rcksicht auf Sokrates, übers. v. E. Hirsch, Düsseldorf/Köln 1961. DSKE Deutsche Søren Kierkegaard Edition, hrsg. von H. Anz, N.-J. Cappelørn, H. Deuser und H. Schulz in Zusammenarbeit mit dem Søren Kierkegaard Forskningscenter in Kopenhagen, Berlin/NewYork 2005 ff. E-O I/II Kierkegaard Entweder-Oder, übers. v. E. Hirsch, 2 Bde., Düsseldorf 1957. FAk Johann Gottlieb Fichte-Gesamtausgabe, hrsg. von der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Stuttgart/Bad Canstatt 1962 ff. FW Fichtes Werke, hrsg. von I. H. Fichte, Nachdruck in 11 Bden., Berlin/New York 1971. FZ Kierkegaard Furcht und Zittern, übers. v. E. Hirsch, Düsseldorf 1950. HW Hegel Werke, hrsg. v. E. Moldenhauer und K. M. Michel, 20 Bde., Frankfurt a. M. 1970. KT Kierkegaard Die Krankheit zum Tode, übers v. E. Hirsch, Düsseldorf 1958. Pap. Kierkegaard Papirer, Anden forøgede Udgave ved N. Thulstrup og N. J. Cappelørn, Bd. I-XVI, Kopenhagen 1969 – 78. PhB Kierkegaard Philosophische Brocken. De omnibus dubitandum est, übers. von E. Hirsch, München 1960. SKS Søren Kierkegaards Skrifter, udg. af Søren Kierkegaard Forskningscenteret, Kopenhagen 1997 ff. SKS K Kommentarband zu SKS. SV Kierkegaard Samlede Værker, udg. af A. B. Drachmann, J. L. Heiberg og H. O. Lange, Anden Udgave, Kopenhagen 1920 ff. T Kierkegaard Die Tagebcher, ausgewählt, neugeordnet und übers. v. Gerdes, 5 Bde., Düsseldorf/Köln 1962 – 74.
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Abkürzungen
UN I/II Kierkegaard Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den philosophischen Brocken, übers. v. H. M. Junghans, 2 Bde., Düsseldorf/Köln 1957/58.
Autoren István Czakó, PhD Univ.-Doz., Lehrstuhlleiter Katholische Pázmány-Péter-Universität Philosophische Fakultät Lehrstuhl für Praktische Philosophie H-2087 Piliscsaba, Egyetem út 1 Hungaria [email protected] Edith Düsing, Prof. Dr. Institut für Bildungsphilosophie, Pädagogik und Anthropologie der Lebensspanne Humanwissenschaftliche Fakultät der Universität Köln Albertus-Magnus-Platz D-50912 Köln Deutschland [email protected] Uta Eichler, Dr. phil. Seminar für Philosophie der Universität Halle-Wittenberg Schleiermacherstr. 1 D-06114 Halle Deutschland [email protected] Jørgen Huggler, Dr. phil. Lektor für Religionsphilosophie The Danish University of Education Tuborgvej 164 DK-2400 Kopenhagen NV Dänemark [email protected]
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Autoren
Richard Purkarthofer, Dr. phil. Søren Kierkegaard Forskningscenter der Universität Kopenhagen Farvergade 27D 1463 Kopenhagen K Denmark Smail Rapic, PD Dr. Philosophisches Seminar der Universität Köln Albertus Magnus-Platz D-50923 Köln Deutschland [email protected] Hartmut Rosenau, Prof. Dr. Institut für Systematische Theologie und Sozialethik Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Leibnizstr. 4 D-24118 Kiel Deutschland [email protected] Jürgen Stolzenberg, Prof. Dr. Seminar für Philosophie der Universität Halle-Wittenberg Schleiermacherstr. 1 D-06114 Halle Deutschland [email protected] Peter Wolsing, PhD, Lektor Institut für Philosophie, Pädagogik und Religionsstudien Syddansk Universitet Odense Campusvej 55 DK-5230 Odense M Denmark [email protected]
Personenregister Adler, A. P. 248f. Ansel, M. 30 Aristophanes 24, 201 Aristoteles 48, 129, 174, 198 Augustinus, A. 164, 166, 168, 171, 182, 191, 195, 201, 203ff., 229 Baggesen. J. 238 Barth, U. 219 Bauer, B. 144 Baumanns, P. 52, 239 Benjamin, W. 45 Beyrich, T. 224 Blaß, J. L. 186, 198 Buber, M. 172 Camus, A. 225 Capel, L. M. 146 Cappelørn, N. J. 32 Claesges, U. 97, 101, 122, 139, 144 Cicero 158 Cieskowski, A. v. 144 Czakó, I. 253 Dawkins, R. 161 Derrida, J. 224 Descartes, R. 33, 164, 207, 209f., 221, 252 De Pascale, C. 159 Düsing, E. 8, 77, 84, 101, 159f., 162, 165, 167, 171, 174, 176, 180f., 196, 198f., 207 Düsing, K. 155, 176, 197 Eckhart, Meister 170 Eichendorff, J. v. 152f. Erasmus von Rotterdam 170 Erdmann, J. E. 29, 33
Fahrenbach, H. 70, 75, 188, 191, 198 Feuerbach, L. 143f., 225, 243 Fichte, I. H. 156, 167, 177, 236 Frankena, W. K. 155 Freud, S. 141, 206, 226 Fuchs, E. 238 Garve, Chr. 158 Geismar, E. 200 Gerdes, H. 237 Goethe, J. W. 55 Green, R. M. 254 Greve, W. 7, 75f., 129, 176f., 188, 190, 198 Gurwitsch, G. 159 Hamann, J. G. 112f., 177 Hauschildt, F. 203 Haym, R. 30, 43, 141 Hegel, G. W. F. 24 – 25, 27 – 32, 34, 38f., 42 – 47, 49f., 55f., 59f., 66 – 69, 73, 75, 85, 96, 98 – 106, 110 – 112, 114f., 129 – 131, 141, 143 – 147, 152, 173, 177, 180f., 195, 197, 202, 209f., 221, 233, 235, 237, 245f., 253, 257, 260 Heidegger, M. 70f. Heimsoeth, H. 157, 177 Heine, H. 30 Helvétius, C. A. 161 Hennigfeld J. 209 Henrich, D. 36f., 71 Heß, M. 144 Hettner, H. 30 Hirsch, E. 19, 23, 30, 32, 38, 40, 78, 81, 97, 105, 136, 142, 146, 150f., 173, 176, 181, 192, 200f., 205, 225, 236f. Hobbes, Th. 33
268 Hochenbleicher-Schwarz, A. Honneth, A. 138f. Hölderlin, F. 262 Hufeland, F. 238 Huggler, J. 97f. Hühn, L. 37 Hume, D. 33
Personenregister
75
Jacobi, F. H. 164f., 180f., 186 Jacobs, W. G. 159 Janke, W. 75, 80, 82, 157, 163, 173, 180, 197, 199, 223, 234 Jergius, H. 86f., 89 Kangas, D. J. 97f., 100, 103, 144 – 146, 151, 235 – 237, 245 Kant, I. (kantisch) 2, 5 – 7, 19, 33f., 38, 40, 42, 83 – 86, 89, 92, 108, 114, 117, 129f., 155 – 162, 164f., 167, 169, 171, 175f., 180, 191, 194, 196 – 198, 207, 209, 212, 216, 223, 233, 235 – 242, 245 – 248, 252 – 254, 260f. Kaufmann, K. 221 Klibansky, R. 191 Kloeden, W. v. 47, 55, 142 Kosch, M. 76, 145 Kramme, R. 88 Krichbaum, A. 15 Kroner, R. 144 Leibniz, G. W. 177, 202, 211, 242 Lessing, G. E. 186, 236, 242, 246, 255f. Levinas, E. 172 Lohmann, P. 88f. Luther, M. 126, 161, 170, 229f., 233, 249f. Mader, J. 141 Malantschuk, G. 257 Manz, v. G. H. 173 Martensen, H. L. 47, 146, 180, 209 Marx, K. 144 Meckenstock, G. 240 Medicus, F. 52, 236, 238 Mynster, J. P. 142
Nietzsche, F.
178, 184f., 199, 206
Oesterreich, P. L.
165
Panaitios 158 Pascal, B. 6, 226, 248 Paulus 195, 202 Platner, E. 164 Platon (platonisch) 24f., 27, 33, 92, 136, 158, 161, 168, 173, 179, 182, 188, 196, 261 Plessner, H. 88 Plotin 185 Prutz, R. 30 Pulmer, K. 90 Rapic, S. 75, 85, 193, 198 Ratschow, C. H. 210 Ringleben, J. 4, 19 Rohs, P. 86 Rosenau, H. 233 Rousseau, J.-J. 175 Sartre, J. P. 70 Schaeder, H. H. 23, 30, 32, 34, 39f. Schaller, J. 33 Schelling, F. W. J. 33f., 47, 69, 179, 207, 209f., 233, 235 Schiller, F. 193 Schlegel, A. W. 30 Schlegel, F. 25, 28 – 30, 32, 43, 45, 180f., 185 Schleiermacher, F. 15, 128, 186, 197, 203, 238, 240, 245f. Schmidinger, H. M. 23, 41, 76, 79, 235, 237 Schmitt, C. 88 Schopenhauer, A. 159 Schrader, W. 165 Schweitzer, A. 224 Sibbern, F. C. 180 Sløk, J. 60, 209 Sokrates (sokratisch) 24 – 29, 32f., 43, 81, 92, 112 – 114, 177 – 180, 201 Solger, K. W. F. 23, 25, 29f., 32 Speck, J. 86
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Personenregister
Spinoza, B. de 33, 39, 165, 172, 209f. Stewart, J. 97, 145, 209, 235, 237f., 254, 260 Stirner, M. 144 Stolzenberg, J. 2, 5, 7, 12f. Strohschneider-Kohrs, I. 179 Theunissen, M. 75, 176 Thulstrup, N. 142, 146, 209, 237 Tieck, L. 25, 28 – 30, 43, 45, 181 Traub, H. 165f. Tschuggnall, P. 246
Verweyen, Hj.
239f., 242, 245, 261
Wahl, J. 176 Widmann, J. 239 Wittekind, F. 11, 239, 248 Wittgenstein, L. 71, 116 Xenophon
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Zöller, G.
165
Sachregister Abstraktion, abstrakt 96 – 98, 100, 111, 119, 129, 178 Absolutes, Absolutheit, absolut (s. a. Ich, absolutes) 14, 22, 69, 72, 80, 86, 164, 166f., 171 – 175, 197 – 199, 206f. Absurdes 222 Achtung 162, 182f. Allgemeines, Allgemeinheit 3, 25, 83f., 89f., 105 – 111, 135 – 137 Allgemeingültigkeit 157f., 163 Anamnesis 136, 182, 257 Anerkennung 101, 158, 166, 169, 172f., 183, 200, 202, 206, 219 Angst 50, 62f., 65, 70, 90f., 111, 133f., 165, 204f., 209 Anschauung 54, 124, 135, 159, 212, 245 – intellektuelle 80, 163, 217, 219 Anonymität 177 Anstoß 54, 123f., 145 Anthropologie 28, 44, 48, 88, 249 Ästhetik, ästhetisch 39, 56 – 58, 63, 78, 80, 89f., 193 – 195, 196f., 212, 233 Atheismus 1, 218 Aufforderung 104f., 121, 124 – 126, 132, 135, 138f., 188, 197, 212, 219 Augenblick 40, 44, 57, 59f., 64, 104, 194, 202, 204, 207 Außenwelt 99, 214 Autarkie 169, 223 Autonomie, autonom 2 – 4, 7, 18, 60, 108, 160, 170, 175, 204, 207, 212f., 245, 259 Bedingung der Möglichkeit 37, 123f.,151, 214, 239f., 261
Begriff 52, 106, 125, 134 – 137, 209f., 216f., 219, 221f., 226, 233, 241 Bestimmung 2, 10f., 77, 79, 88, 92, 193, 210 – 220, 225, 229 Bewusstsein 14, 36, 42f., 54, 62f., 69, 73, 86f., 92, 116, 122, 133, 135f., 212f. – moralisches 1f., 5 – 10, 16, 19, 21, 85 – religiöses 1f., 4 – 6, 9, 13, 16, 19, 21, 172, 260 Bild 52, 72, 164f., 171 – 173, 198, 206, 217, 219f. Bildung 39, 55, 165, 171, 179, 183f., 202, 207 Böses 34, 53, 58, 62f., 65, 69, 79, 126 – 127 Charakter 52, 161f., 181, 194 – empirischer 159 – intelligibler 158f. Christentum, christlich 21, 49, 73, 91f., 105, 112f., 129, 132, 143, 173, 177, 209f., 221, 226 – 229, 255f., 259 Christenheit 221, 226 Denken 17, 39f., 52, 57, 66f., 73, 110f., 115, 126, 166f., 198, 209, 212f., 217, 221, 226, 228, 233 Determination, Determinante 120, 132, 157, 219 Determinismus, Determinist, deterministisch 51, 160, 195f., 210 – 213 Dialektik, dialektisch 25f., 63, 78, 81, 112, 143f., 147, 181, 191, 228 – 230, 232, 248
272
Sachregister
Ding, Dingvorstellung 52, 211 – 213, 216, 217, 219, 224, 226 Ding an sich 34, 38, 52, 241 Dogma 49, 61 – 63, 67, 112, 125 Dogmatik 34, 48, 61, 68, 70, 112, 127f., 133, 160 Dogmatismus 33f., 38, 52, 54 – 56, 213, 232 Egoismus 155, 161, 164, 180 Einbildungskraft 39, 123, 145, 159f., 212 Einheit 156 – 158, 165 – 168, 211, 215, 220 Einstimmigkeit 157f. Endlichkeit 19, 25, 39, 44, 49, 58, 62 – 64, 77, 79, 145f., 148, 150, 192, 195, 205, 215, 222, 225, 227, 232, 254 Endzweck 53, 214 Erbsünde (s. a. Snde) 49, 61f., 67, 70, 72, 105, 111, 114, 126, 131 Erkenntnis 1, 55, 58, 81, 86, 165, 174, 180, 197, 202, 211f., 214, 217 – 219, 224 Erscheinung 5, 22, 174, 216 Erziehung 65, 101, 122, 125, 215 Ethik, ethisch 19, 47 – 50, 54 – 62, 64, 66, 68 – 70, 73f., 75 – 81, 83 – 87, 88 – 93, 104, 116f., 128f., 133, 155, 157, 161 – 164, 181, 194, 201, 211, 213, 223, 225, 228, 233, 240 Ethikotheologie 167 Eudaimonismus 122, 155 Ewiges, Ewigkeit 19, 21, 50, 57f., 63f., 69, 168, 195, 204, 208, 254, 257 – 259 Existenz, Existieren 20f., 50, 64, 66, 70, 78, 80, 102f., 115 – 117, 119, 136, 178, 193, 197f., 202, 204, 209f., 220f., 223, 225f., 228, 233, 248f., 261 Faktum der Vernunft 159 Fatalismus 196, 211 Freiheit 2 – 6, 10f., 13 – 18, 48, 50 – 54, 56 – 58, 61 – 67, 69f., 72f., 77, 80, 86, 88, 90f., 103, 116f., 118f.,
127, 209 – 217, 219, 220, 225, 228, 258 Freiheitsbewusstsein 21, 48, 61, 63f., 70, 159, 172 Furcht 132, 213, 221f., 227f., 245, 248 Gattung(sbestimmung) 107 – 109 Gebot 54, 85, 217f. Gefühl 7, 86 – 88, 91, 126, 174, 212, 218, 244 – der Abhängigkeit 2, 15f., 19, 21 – der Gewissheit 16 Geist 43, 48, 54f., 61f., 63– 65, 70, 89f., 99, 101, 105f., 110, 134, 148f., 159, 190, 193, 195, 198, 201, 209f., 212f., 215, 229 Gemeinschaft 65, 130, 172, 212, 232 Genuss 161, 168, 194f. Geschichte, Geschichtlichkeit (s. a. Weltgeschichte) 57, 60, 82, 90, 93, 107, 109, 133, 137, 161, 177, 203f., 210, 222, 233, 246, 255 – 258, 260f. Geschichte des Selbstbewusstseins 43, 139 Gesellschaft 90, 131, 139, 215 Gesetz 5, 10f., 13, 18, 48, 85, 89, 106, 156 – 159, 163, 212 – 216, 219, 245 Gesetzlichkeit 3, 9, 10 – 14, 19 Gewissen 7f., 48, 54f., 72, 75f., 80, 86 – 89, 161, 163, 187, 217 – 219 Gewissheit 6, 9, 17, 39, 67, 73, 86f., 90, 97 – 100, 102, 166, 171, 173, 185, 198, 200, 209 – 213, 216, 218, 219, 221f., 224, 226, 228 – 233 Glaube 5, 20f., 53, 92, 128, 167, 169, 171, 175, 182, 192, 200, 207, 209f., 214, 216 – 219, 221 – 233, 237, 246 – 249, 256 – 259 Gott 1f., 5, 7, 9, 16f., 20, 57f., 68, 72, 92, 106, 127f., 162, 164 – 167, 169 – 172, 174f., 177f., 182 – 187, 196 – 198, 200 – 206, 208 – 210, 215, 220 – 223, 225f., 228 – 232,
Sachregister
234, 239f., 246, 248 – 251, 253f., 261f. Gottesbeweis 6f., 66, 164, 239 Gottesferne 230 Gottesverhältnis 127, 227, 294f. Gut(es) 19, 48, 53, 58, 61 – 66, 70, 79, 87, 93, 126f., 160, 196 – höchstes 6, 196, 239 – 241, 253 Handlung 3f., 41, 53, 57 – 60, 68f., 96, 115 – 117, 119, 225 Hedonismus, hedonistisch 56, 155, 161, 168f. Heteronomie 160, 259 Hoffen, Hoffnung 165, 171f., 205 Humanität 180, 182, 216 Humor 156, 201 Ich
3, 34, 36 – 44, 51 – 54, 59f., 62, 64, 69, 71, 75, 80, 82, 88, 97 – 104, 160 – 162, 164 – 168, 180, 192, 202, 205, 207, 211 – 220, 227, 232 – – absolutes 30, 32, 59, 62, 64, 77, 82, 85, 93, 97f., 100f., 104, 122f., 139, 152, 156 – 158, 164, 180f., 214 – empirisches 27f., 39, 85 – 88, 158, 214 – ewiges 27f. – praktisches 27f., 157, 169 – reines 86, 98, 103, 156 – 158, 181, 214 Ichheit 213f. Ich-Identität 42f., 156 – 158, 181, 202f. Idealität 48, 50, 53, 57, 61 – 64, 67, 71, 92, 114, 122, 125, 128 – 135, 138, 158, 179f., 202, 228 Idealismus, idealistisch, Idealist 34, 38f., 42 – 45, 48 – 50, 54, 61, 67, 72, 75, 81f., 85, 95 – 97, 99f., 196, 209, 213 Idee 25f., 27f., 45, 110, 134 – 136 Identität 31, 39f., 55, 69, 82, 92, 97, 156f., 213, 231 Imperativ, kategorischer 130, 155f.
273
Individualität 55, 57f., 60, 69, 73, 77, 84, 95, 106, 177, 181f., 186f., 199, 202, 232 Individuum 19 – 21, 51, 55, 57 – 59, 61 – 63, 65 – 67, 69f., 72f., 77, 86, 89, 95f., 101, 105 – 110, 115f., 130f., 137, 160, 178, 185, 196, 214 Intelligenz 50, 53, 61, 66 Intellekt 159, 175 Intersubjektivität, intersubjektiv 69, 95, 101, 121, 125, 139, 158, 219 Ironie 23 – 30, 34, 41, 45, 82, 84, 90, 92, 156, 179 – 183, 190, 231 – romantische 25, 27f., 43, 181 – 183 – sokratische 24 – 28, 113, 181 Kategorie 116, 119, 145, 150 – 152, 177 – 179, 205, 212, 127 Kirche 229 Konsens 120f. Kontemplation, kontemplativ 57, 95f., 119 Körper 62, 65, 79 Kosmos 169 Kritizismus 33f., 38 Kunst 179, 215 Leben 48, 72, 76, 81, 89f., 166f., 174f., 205, 210, 216, 220 – 222, 224f., 228, 230 – 232 – bürgerliches 59 – substantielles 26, 40, 55, 59, 101, 158, 165, 171 Lebensaufgabe 54, 221, 226 Lebensgeschichte 81 Lebensorientierung 209, 231 Leib (s. a. Kçrper) 161 Liebe 58f., 72, 165f., 168 – 171, 173, 175, 199, 202f., 206, 248, 250 Logos 158 Lust 87, 160f., 189, 206, 228 Mäeutik 177 Materialismus 196 Maxime 117, 156, 161, 216 Metanoia 114, 131, 207
274
Sachregister
Metaphysik, metaphysisch 28, 72f., 118, 246 Mitteilung, indirekte 231 Möglichkeit 62 – 64, 89, 91, 103f., 109, 116 – 121, 133f., 136 – 138, 214, 227, 229, 231, 233, 257 Moral, Moralität, moralisch (s. a. Bewusstsein, moralisches; Selbstbewusstsein, moralisch-praktisches) 24, 48f., 58, 76, 85 – 89, 92, 209f., 217 – 224, 226, 229, 233, 243, 246 – 248 Mystik, Mystiker 175, 202f., 220 Mythos 61, 210, 225 Natur 57, 64, 72, 86, 159, 161, 167, 176, 192f., 201, 210f., 214 – 216, 220, 239 Naturalismus 159 Naturwissenschaft 201 Negativität 25, 39f., 55, 87, 146, 180 Nicht-Ich 32, 54, 59f., 64, 122f., 145f., 192, 202, 214f., 219f. Nichts 63, 133, 181, 196 Nihilismus 164, 180, 185, 217 – 220 Notwendigkeit 3, 57, 96, 210, 212, 243 – 245, 258 Objekt 11 – 13, 17, 36, 39, 51 – 54, 58f., 99f., 123f., 211 – 213, 215, 230f. Objektivismus 51f. Offenbarung 126f., 210, 231f., 235 – 238, 242 – 245, 248 – 262 Pantheismus 128, 177 Paradox(ie) 21, 200, 203, 225f., 247f., 256f., 259, 261 Person, Persönlichkeit 19, 29, 54, 59, 69, 112, 116, 138, 177f., 189 – 191, 199, 214 Pflicht 1, 5, 9, 54, 58, 83f., 87 – 89, 129, 156, 162, 184f., 191, 193, 198, 214, 216, 218, 223 Politik, politisch 88, 216 Postulat 43, 172, 196, 239, 241, 254 Praxis 142, 144f., 152
Prinzip 9f., 17, 53, 56, 85, 211, 216, 220f., 229 Psychologie 111, 133 Rationalität, rational 22, 72, 126f., 226, 247 Realität 14, 50, 54, 57, 61f., 64, 67, 71, 133 – 135, 138, 164, 166, 179, 185, 196, 206, 209, 212f., 216 – 220, 228 Realitätsgewissheit 217 – 219 Recht 181, 215, 240f. Reflexion 15, 18, 21, 27, 34 – 36, 55, 123f., 135f., 160, 166, 175, 187, 192, 194f., 210, 212, 216, 218, 219, 224, 225, 229, 231 – 233 Religion, Religiosität, religiös (s. a. Bewusstsein, religiçses) 8, 10, 20f., 60, 68, 72, 92, 111f., 155, 166 – 168, 174, 200f., 203, 209f., 222 – 224, 228, 231, 233. 238, 241f., 245 – 248 Resignation, unendliche 222, 224f., 227, 229, 231 Reue 54, 58, 67, 72, 195 – 197, 199f. Romantik, romantisch (s. a. Ironie, romantische) 24, 29f., 41, 44 – 46, 152 Schweben 15f., 21, 119 Sein 15f., 20f., 77, 117, 147, 173, 209, 211, 214, 217, 220, 228, 232, 258 – absolutes 13f., 16, 19, 21 Selbst 3 – 5, 16 – 19, 21, 56, 60, 62, 75f., 79 – 81, 85, 101, 105 – 109, 115, 148 – 151, 155, 159f., 166f., 175, 177f., 183f., 191, 196f., 199, 201, 207, 219f., 224, 235 Selbstbestimmung 19, 77 – 79, 84, 86, 91, 96, 99, 119, 125, 130f., 213 – 216 Selbstbewusstsein 12, 32, 35 – 37, 52, 56, 63, 65, 71f., 76, 83, 95 – 98, 100 – 106, 111, 122 – 125, 133, 135, 139, 174, 193, 207, 246
Sachregister
– konkretes 95, 101, 104, 115 – 117, 119 – 122, 133, 138f. – moralisch-praktisches 13f., 156 – 163, 199 – reines 81f., 95, 105 Selbsterkenntnis 106, 171, 180, 192, 199 Selbstgewissheit 209 – 211, 215, 219f., 229 Selbstverhältnis 4, 50, 60, 63, 67 – 69, 71 Selbstvernichtung 170, 203 – des Wissens 14f., 18 Selbstwahl 56 – 59, 69, 116 – 120, 125, 132, 167, 190 – 192, 194, 198f., 202 – 206, 235 Selbstzweck 130, 214 Sittengesetz 84 – 87, 158f., 162, 164, 169, 191, 218, 240f., 244 Sittlichkeit 26, 45f., 49f., 53, 66, 85, 129, 156, 169f., 181, 186, 203, 219f., 239f. Skepsis, Skeptizismus 33, 190, 195, 210, 212, 218 – 221, 223 – 227, 229, 233 Solipsismus 101f. Sollen 7, 19, 31, 40, 43, 48, 54, 63, 83, 85, 146, 215 Spekulation, spekulativ 34f., 55, 167, 170, 174, 197 Spießbürger(lichkeit) 45f., 59 Sprung 57, 127f., 132, 193, 222, 224 – 226, 233 Staat 131, 181, 215 Stadienlehre 56, 155f., 177f., 183, 186, 207 Streben 31, 39f., 48f., 53 – 55, 61 – 63, 65, 67, 70, 72, 99, 123, 145 – 147, 156, 158, 180, 210, 215, 219 Subjekt, Subjektivität 26f., 36, 39 – 41, 43f., 47 – 56, 58f., 64, 66 – 68, 70f., 73, 75 – 77, 79 – 81, 84, 143f., 148, 152, 159, 167, 178, 181, 186f., 191, 198, 202, 211 – 214, 229 – 233, 235, 245 Sünde (s. a. Erbsnde) 92, 112, 114, 126 – 129, 131 – 134, 136f., 226, 250f., 254
275
Sündenbewusstsein 63f., 127f., 222, 250 Sündenfall 50, 61, 63, 73, 114, 126 – 128, 133f., 161 System 34f., 51f., 99, 112, 115, 124, 148, 209f., 217f., 220f., 229 Tathandlung 32, 35 – 37, 64, 100, 123, 198, 203, 214, 245 Theologie 6, 126, 131, 210, 232f., 237, 253 transzendental 36, 80, 212, 214, 235, 239 Transzendentalphilosophie 42, 52, 88, 220, 241 Trieb 52, 86, 124, 146, 156, 159 – 163, 169 Übersinnliches 2f., 6, 9f., 48 Unbedingtes 6f., 19, 72, 93 Unendlichkeit, Unendliches 19, 31, 39, 99, 123, 145f., 148, 150, 152, 179, 182, 201, 239 Unmittelbarkeit 134f., 181, 233, 246 Verantwortung, verantwortlich 53, 104, 108 – 110, 119, 121, 132, 159, 187, 188, 194, 199f., 202, 205, 210f. Vernunft 3, 8f., 11, 53, 55, 68, 108, 126, 143, 159f., 198, 216f., 219 – 221, 233, 238f., 241 – 243, 245, 253, 255f., 260f. Vernunftglaube 6, 217f., 220 Versöhnung 181, 185, 188, 200 Verstand 35, 211f., 217, 220, 224 – 226, 233, 253, 257, 260f. Verzweiflung 17 – 19, 51, 151f., 211, 221, 223, 229, 231f. Vorstellung 35, 123f., 211 – 213, 216f., 219, 231 Wahl (s. a. Selbstwahl) 51, 189, 196 – 200, 205 – 207 Wahrheit 12, 39f., 55, 59, 66 – 68, 73, 98f., 213, 218, 221, 230 – 232, 242, 249, 252, 255f.
276
Sachregister
Wahrnehmung 123, 211f. Welt 5, 51 – 53, 64, 68, 77, 210f., 213 – 215, 217f., 220, 223f., 226, 229f. Weltanschauung 51, 54, 57, 211 Weltgeschichte 26f., 53, 180 Weltgewissheit 209, 219, 221, 229 Weltordnung 51f., 55 – göttliche 5 – moralische 2, 5f., 8, 210, 218 – 220 Widerspruch 50, 63, 106 – 108, 114, 122, 128 – 132, 135, 138, 147, 157f., 179, 181, 187, 198, 200, 211, 214, 241 Wiederholung 134 – 136, 222 Wille 7 – 9, 20f., 53f., 68, 109, 124, 156f., 170, 191f., 198, 211, 224 – freier 126 – unbedingter 8, 162, 218 Willkür 55, 213 Wirklichkeit 26 – 29, 39, 45, 52, 55, 61, 63, 65, 68, 78, 81f., 100, 108,
114, 117, 128 – 131, 151, 153, 209, 211, 217, 220, 228, 257 – 261 Wissen 12 – 14, 18, 81f., 175, 210, 212 – 214, 216 – 218, 252f., 254 – 257, 262 – absolutes 14 – 17,19f. Wissenschaft 39f., 61, 81f., 92, 106, 111f., 114, 128, 137, 179, 209f., 215, 230 Zeit(lichkeit) 21, 57, 63, 86, 156, 163, 167, 193, 199, 203f., 209f., 221, 223f., 226, 230, 258f. Zukunft, Zukünftiges 63f., 67, 102f., 109, 115, 117, 119 – 121, 123, 136 – 138 Zweck(setzung) 2 – 5, 7 – 9, 20, 53, 58, 86, 156, 215, 217f. Zweifel 17f., 54, 174, 176, 179, 192f., 195f., 197f., 205, 209 – 214, 217, 220 – 229, 232f.