Katholizismus und Antisemitismus im Deutschen Kaiserreich 9783666357855, 3525357850, 9783525357859


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Katholizismus und Antisemitismus im Deutschen Kaiserreich
 9783666357855, 3525357850, 9783525357859

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Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 122

VÖR

Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft Herausgegeben von H e l m u t Berding, Jürgen Kocka Hans-Peter Ullmann, Hans-Ulrich Wehler

Band 122 Olaf Blaschke Katholizismus und Antisemitismus im Deutschen Kaiserreich

Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen

Katholizismus und Antisemitismus im Deutschen Kaiserreich

von

Olaf Blaschke

Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen

Umschlagbild: Karikatur, veröffentlicht unter dem Titel »Ein Privatvergnügen« in: Berliner Wespen Nr. 36, 8. Jahrgang 1875.

Meinen Eltern

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufhahrrie Blaschke, Olaf: Katholizismus und Antisemitismus im deutschen Kaiserreich / von Olaf Blaschke. - 2., durchges. Auflage Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1999 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; 122) Zugl.: Bielefeld, Univ., Diss., 1995 ISBN 3-525-35785-0

© 1999, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. - Printed in Germany. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. J e d e Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Z u s t i m m u n g des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Umschlag: J ü r g e n Kochinke, Holle. Satz: Text & F o r m , Pohle. Druck und Bindung: Guide-Druck, Tübingen.

Inhalt

Vorwort

9

Einleitung I.

II.

III.

11

Die Fiornierung des katholischen Milieus und die Fusion mit derrAntisemitismus

36

Die Feuertaufe des Milieus im Kulturkampf und die Bewälhnngsprobe des Antisemitismus

51

1. Die ftrehe im Machtkampf gegen den modernen Staat und die; »Jidenherrschaft« 2. Der iatholizismus im Ideologiestreit gegen Liberalismus unidjidentum 3. Die Fatholiken im Glaubenskrieg gegen Protestanten und Juder

64

Die Bewahrung des Bewährten: Konturen der Ghettomentalitit und die Kontinuität ihres Antisemitismus

70

1. Dualimus und die zwei ewigen Lager: Gottesfürchtige und Cottesmörder 2. Integialismus im umzingelten Turm: Glauben in einer ungläibigen und »veijudeten« Welt 3. RevisDnismus gegen die Abwege der Heilsgeschichte: Die Cekatholisierung als Ursache und die Rekatholisierung als Lösung der »Judenfrage« IV.

52 59

71 75

79

Der doppelte Antisemitismus

86

1. Der gate, katholische Antisemitismus oder: der »Christenschutz«

87

a) Relgion statt Rasse

88

b) Herrschaft, Wirtschaft und Kultur oder: Weltmacht, GeUmacht und Gel tungsmacht des Judentums

104

5

2. Der schlechte, widerchristliche Antisemitismus oder: die »Judenhatz«

V

113

a) Der Begriff Antisemitismus oder: »Wir sind keine Antisemiten, aber...«

113

b) Abwehr des Antisemitismus?

117

Die Funktionen des Antisemitismus im Katholizismus

131

1. 2. 3. 4. 5.

132 134 137 139 141

Kontermodernisierung Komplexitätminimierung Kohärenzmaximierung Kompensation Konkurrenzbewältigung

VI.

Hochphasen: Periodische Schwerpunkte des Antisemitismus

144

VII.

Hochburgen: Geographische Schwerpunkte des Antisemitismus

155

1. Ein nationaler Uberblick: Der Katholizismus in den Regionen 2. Ein internationaler Seitenblick: Der Katholizismus in Osterreich, Frankreich, den USA und der Schweiz VIII. Die Konturen des katholischen Antisemitismus im Kontrast: Eine Kontrolle

IX.

174

192

1. Der Kulturkatholizismus: Die Alternative von links und der Abweg nach rechts 2. Der Protestantismus: Der kleine Unterschied und die große Gemeinsamkeit 3. Das Judentum: Die gute Miene und das böse Spiel

208 218

Soziale Träger, Interessenten und Rezipienten des katholischen Antisemitismus

229

1. Die Kleriker: Päpste und Bischöfe, Priester und Jesuiten 2. Die Katholiken: Adel und Bürger, Kleinbürger, Arbeiter und Landbevölkerung 3. Der Antisemitismus im Alltag von Katholiken und Juden: Kontakt und Konflikt, Gefühl und Gewalt 4. Der politische Katholizismus

6

157

194

229 246 274 283

a) Das Zentrum in den Parlamenten

286

b) Politik als Fortsetzung des Glaubens mit anderen Mitteln

303

Resümee: Kontinuitäten v o m Kulturkampf z u m »Kirchenkampf« oder zwiscbn Syllabus und Shoa?

314

Anhang: Tatellen

339

Abkürzungin

352

Q u e l l e n - uid Literaturverzeichnis I. Qiellen Π. Litratur Register

355 355 380 431

7

Verzeichnis der Tabellen u n d Grafiken im Text Tab. 1: Tab. 2: Tab. 3: Tab. 4: Grafik 1: Grafik 2: Grafik3.1: Grafik 3.2: Grafik 4:

Die politische Orientierung der Juden 1867-1914 (in %) Wachstum der katholischen Presse und Verteilung pro Person Mitglieder wichtiger katholischer Bücher- und Pressevereine Mitglieder in Bauernorganisationen Intensitatsphasen des Antisemitismus 1835-1919 Antisemitische Stereotypenmuster (Veränderungen 1870-1919) Publikationen judenfeindlichen Inhalts und ihre Autoren Antisemitische Publikationen und ihre Autoren Antisemitische Stereotypenmuster: Verteilung auf Klerus und Laien

225 255 256 267 146 153 234 234 251

Verzeichnis der Tabellen im A n h a n g Tab. 1: Tab. 2:

Tab. 3: Tab. 4: Tab. 5: Tab. 6:

8

Die Auflage untersuchter katholischer Pcriodika Publikationen judenfeindlichen Inhaltes (88), antisemitische Publikationen (56), ihre Stcrotypcn und ihre Autoren Antisemitische Stereotypenmuster im Katholizismus und ihre Veränderung 1870-1919 Stereotypenmuster und ihre Verteilung auf Klerus und Laien Trägerschichten des katholischen Antisemitismus Intensitätsphasen des katholischen Antisemitismus 1820-1919

339

340 348 349 350 351

Vorwort

Jede Dissertation hat ihre eigenen Probleme. Diese überstieg einmal die Grenze von tausend Seiten. U n d damit hatte sie ein Problem. Gut, das war vielleicht wirklich ein bißehen übertrieben. Wer liest schon solche Wälzer von Anfang bis Ende? Aber dahinter stand der selbstauferlegte Druck, alles >richtig< machen und gründlich belegen zu wollen, weil ich meinte, anders würde man meinen Funden nur mit blanker Skepsis begegnen. Dieses Gefühl hat sich längst beruhigt, und der Riese des Sommers 1995 schrumpfte auf ein geradezu anmutig schlankes Format von rund 336 Textseiten, die Ende 1995 an der Fakultät für Geschichtswissenschaft und Philosophie der Universität Bielefeld eingereicht wurden. Wer es noch genauer wissen möchte, kann gerne den Riesen zur Hand nehmen oder darauf warten, bis ich einst den hinausgeworfenen, noch stärker mentalitäts- als sozialgeschichtlich geprägten Teil als weitere Monographie oder wenigstens in Aufsätzen nachgeschoben habe. Daß aus einem gleich zwei Werke werden konnten, verdanke ich auch Professor Hans-Ulrich Wehler, der sich standhaft weigerte, die tausendseitige Urfassung als letztes Wort zu akzeptieren und sich trotzdem voller Aufmerksamkeit durch sie wie später durch die Endfassung hindurchgearbeitet hat. Ihm als meinem Doktorvater bin ich zu tiefem Dank verpflichtet: für seine vielfältige Unterstützung, sein ungebrochenes Interesse an meinem Thema und die erhellenden Anregungen, die sich aus seinem schier unerschöpflichen Erfahrungs- und Wissensreservoir speisten. Auch Professor Josef Mooser zolle ich jede Dankbarkeit, weil er seine profunde Kennerschaft über den Katholizismus als Zweitgutachter und wichtiger Diskussionspartner in den Dienst dieser Arbeit stellte. Unter den Katholizismusexperten bin ich auch Dr. Thomas Mergel verpflichtet, der mich ermutigte, lieber klare Thesen vorzubringen, statt nach 100 Zitaten ein bedächtiges Halbargument zu formulieren. Als anregendes und angenehmes Diskussionsforum bewährte sich seit 1988 auch der »Schwerter Arbeitskreis Katholizismusforschung« sowie natürlich das notorische Bielefelder Freitagskolloquium. Ihre Kapazität auf dem Gebiet der Antisemitismusforschung brachten Dr. Rainer Erb und Till van Rahden ein. Sie haben die ganze Arbeit kritisch gelesen, wie auch Dr. U w e Barrelmeyer, mit dem ich jedoch, statt zu promovieren, genausogern Fußball spielte. Michael Spehr und Michael KnaufF besorgten die Grafiken. Rudolf Blaschke und Bernd-Stefan Grewe unterzogen die Druckfahnen ihrem überaus kritischen Blick, womit sie

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dem Leser die Irritation über einige dumme Fehler (wie Forschungs-tand) ersparten. Ihnen allen sowie vielen weiteren Freunden und Experten darf ich ohne Namensliste aufrichtigen Dank aussprechen. Ihn verdienen ferner die Kräfte der bischöflichen Archive in Freiburg, Köln, Mainz und Trier, vor allern aber die stets hilfsbereiten Mitarbeiter der Erzbischöflichen Bibliothek in Paderborn. Auch Moppel verdanke ich viel, weil er mit seinen Visiten seit 1988 tagein, tagaus fur Abwechslung in meiner Doktorandengruft sorgte. Ohne sich jemals von meiner Wissenschaft beeindrucken zu lassen, konnte mir der schwarze Kater stundenlang beim Schreiben zuhören. Geradezu von Herzen muß ich dem Herz-Jesu-Experten und vor allem lieben Freund Dr. Norbert Busch danken, der sich bald täglich das telephonisch durchgegebene >Zitat des Tages< anhörte und obendrein alles später nochmal schriftlich vorgesetzt bekam. Das beruhte auf zuverlässiger Gegenseitigkeit, so wie unser jahrelang anhaltendes Vergnügen an der Beschäftigung mit dem Ultramontanismus, über den wir oft auch erschraken. Die Mitgliedschaft im Graduiertenkolleg »Sozialgeschichte von Gruppen, Schichten, Klassen und Eliten« der Universität Bielefeld schützte seit 1991 nicht nur vor etwaigen Einzelkämpfersyndromen, sondern dank eines Stipendiums der Stiftung Volkswagenwerk auch vor materiellen Sorgen. Mein Dank gebührt auch den Herausgebern der »Kritischen Studien« für die Aufnahme in die Reihe, vor allem Professor Helmut Berding für seine hilfreiche Kritik sowie der Axel Springer Stiftung, die spontan und unbürokratisch die Druckkosten in ihrer vollen Höhe übernahm. Einer generösen Zuwendung des »Vidal Sassoon International Center for the Study of Antisemitism« an der Hebrew University in Jerusalem verdanke ich, daß ich die in Kapitel VIII.3. zusammengefaßten Ergebnisse vertiefen konnte und an anderer Stelle ausführlicher präsentieren darf Ganz besonderen Dank schulde ich meinen Eltern. Sic haben mich in jeder erdenklichen Hinsicht überall und immer unterstützt, ohne je Entsagung und Mühe zu scheuen. Ihnen ist diese Arbeit gewidmet. Trier, im August 1997

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Olaf Blaschke

Einleitung

Auch wenn in den letzten Jahren die Debatte über den deutschen Antisemitismus wieder neu entfacht worden ist, versteigt sich niemand mehr dazu, eine Diskussion darüber anzustellen, ob Judenfeindschaft gut oder schlecht, gerecht oder ungerecht sei. Vielmehr geht es allein um ihre Ursachen, um ihre Kontinuität und Verbreitung. Das war nicht immer so. Der Paradigmenwechsel nach >Auschwitz< ist evident: Von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts überwog der antisemitische Konsens in der deutschen Gesellschaft. Die Verteidigung der Juden bildete eine Ausnahme. Nur wenige wagten es, ihre Stimme zu erheben, weil sie prompt denselben Zorn auf sich ziehen konnten, der die Juden traf Heute ist das umgekehrt: In der öffentlichen Meinung herrscht Ubereinstimmung, daß der Antisemitismus ein gefahrliches Übel ist. Nur wenige judenfeindliche Stimmen lassen sich öffentlich vernehmen, und wenn, entgehen sie nicht dem geschärften Blick des sensibilisierten Beobachters. Konnte der Zeitgenosse der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts täglich neue Schmähschriften gegen >das Judentum< verschlingen, erscheinen heute fortwährend neue Ausführungen gegen den Antisemitismus. Während die Alarmsirenen damals gegen Juden und ihre angeblichen Untaten schrillten, warnen sie heute vor Antisemiten und ihren Ausschreitungen, vor Demokratie- und Ausländerfeinden, und 1997 wurde sogar zum >Jahr gegen den Rassismus< ausgerufen. Der Kontrast zum Kaiserreich ist offenkundig. Zur Euphorie besteht jedoch kein Anlaß. Unter der Decke öffentlicher Betroffenheitsbekundungen erstarken beunruhigende Tendenzen. Zunächst fällt der neue >Mut< rechtsextremistischer, nationalistischer und revisionistischer Kreise auf Weniger exponiert sind die latenten Strukturen der Xenophobie. Jedem fünften Deutschen sind Juden als Nachbarn unerwünscht, jedoch wollen sogar 36% nicht neben Türken leben. Unvermutet taucht der Antisemitismus in der Friedensbewegung, im Feminismus und in christlichen Subkulturen wieder auf Auch der neue Fundamentalismus in der katholischen Kirche ist ein Nährboden für solche Deutungsmuster. Sie knüpfen an Traditionen des 19. Jahrhunderts an und scheinen die Kontinuitätsthese eines »ewigen Antisemitismus« zu bestätigen. Dagegen steht die evidente Diskontinuität. Die Gesellschaft reagiert empfindlich auf den Antisemitismus. Er hat immer mehr Boden verloren, ist fragmentiert, in seinen ideologischen Versatzstücken inko11

härent und an keine relevante Trägergruppc gebunden. Mit dem Niedergang der Großideologien verlor der Antisemitismus seine Attraktivität. 1 Das >lange< 19. Jahrhundert von 1789 bis 1914 w u r d e durch den Konflikt solcher Ideologien bestimmt. Z u ihnen gehören der Nationalismus und der Rassismus, der Liberalismus und der Nationalprotestantismus, der Katholizismus und der Konservativismus, während der politische Antisemitismus als eigenständige Bewegung zweitklassig blieb. Wie konnte er gleichwohl für die Juden zur Katastrophe und für das deutsche Selbstvcrständnis zu einem zentralen Bezugspunkt werden? Weder aus der jüdischen noch aus der christlichjüdischen noch aus der deutschen Geschichte läßt er sich ausklammern. An der Shoa entzündete sich die Diskussion über »Hitlers willige Vollstrecker«, über die Konsensbereitschaft der Deutschen und ihre Vorgeschichte sowie einen deutschen »Sonderweg« und auch über das Modernitätsdefizit und die Milieubildung. Das Ressentiment gegen Minderheiten hat so viel Schaden angerichtet wie die verzögerte politische Demokratisierung und Modernisierung. Auch die sozialen, ideologischen, mentalen und konfessionellen Verwerfungen erwiesen sich als Belastung. Ein oft vernachlässigter Z u g dieser gesellschaftlichen Zerklüftungen ist die Religion. Ihr Gewicht wird mit d e m üblichen Verweis auf Luthers Reformation nicht hinreichend erfaßt. Entscheidend ist vielmehr zum einen die Rekonfessionalisierung im 19. Jahrhundert, die es nahelegt, im Vergleich mit den zahlreichen Parallelen des »konfessionellen Zeitalters« im 16. Jahrhundert (Konfessionsstreit, Disziplinierung der Laien, Politisierung von Religion) von einem »zweiten konfessionellen Zeitalter« zu reden. Sodann ist die Ausbildung religiöser Milieus zentral. Rainer Lcpsius hat 1966 die These vertreten, die Weimarer Republik sei an der Kompromißunfähigkeit >sozialmo-

1 Brüsten; Umfrageergebnisse: Bergmann, Antisemitismus; ders., Effekte; ders. u. Erb, Antisemitismus; Rosen. Einen internationalen Uberblick z u m gegenwärtigen Antisemitismus bietet: Antisemitism World Report 1993. Kontinuitäts- u n d Universalitätsthese bei Oilman u. Kau. Introduction, in: dies. ( H g ). Anti-Semitism, S. 2-18, bes. 2 - 4 , 1 8 ; Braun u. Heid (Hg.), Broder, Antisemit. Z u m Antisemitismus im Katholizismus heute: Weiss, Antijudaismus; Lielitenstein, »AuschwitzLüge«, S. 300. Antijüdische Motive finden sich in der Katechese (Katechismus von 1985; Passionsspiele), in der Theologie (Dichotomie zwischen alttcstamentlichem Gesetzesglauben u n d neutestamentlicher Liebesbotschaft, j ü d i s c h e m Rachegott u n d evangelikaler Vergebung) u n d in der kirchlichen Diplomatie ( N i c h t a n e r k e n n u n g Israels). Vgl. Czertnak-, Langer, S. 508-510; Brutnlih. Anti-Alt, hat in bissiger Weise nachgewiesen, wie der F e r n s e h m o d e r a t o r Franz Alt in der Tradition eines n u n m e h r »neuen christlichen Antijudaismus« gefangen ist. Z u m populären »linkskatholischen« T h e o l o g e n Eugen D r e w e r m a n n Rubeli; vgl. Rothgangel·, Heschel: die feministische Theologie gewinne die »Weiblichkeit« auf Kosten des jüdisch-patriarchalischen Faktors. Der Begriff »Judentum« birgt Probleme. Er hat im D e u t s c h e n drei Bedeutungsebenen, die im Englischen d u r c h verschiedene Begriffe gedeckt sind. 1. Die j ü d i s c h e Religion - J u d a i s m u s {Judaism), 2. Die G e m e i n schaft der J u d e n {Jewry) und 3. j ü d i s c h e Qualitäten - Judenheit(Judesein (Jewishness); vgl. Rose. Antisemitism, S. xvii, 34; Maurer, Entwicklung, S. 1. U m eine gestelzte Begrifflichkeit zu vermeiden, wird der gebräuchliche Begriff »Judentum« hier beibehalten. Im Antisemitismus war diese Differenz gleichgültig.

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ralischer< Milieus gescheitert. Alle vier Milieus maßen der Religion eine spezifische Bedeutung zu: Während das katholische Milieu durch die konfessionelle Komponente definiert war, fand sich der religiöse Faktor auch im bürgerlichprotestantischen und im konservativen Milieu, aber selbst das sozialistische Milieu bezog einen Teil seiner Identität aus einer entschieden religionskritischen Position sowie einer pseudoreligiösen Verbrämung des Marxismus. Seit einigen Jahren beschäftigt sich die Forschung sorgfältig mit der Entstehung und der Erosion des Katholizismus als Milieu und hat sich jetzt auch auf die Suche nach einem protestantischen Pendant begeben. 2 Während die Katholizismusforschung in der Milieudiskussion einen deutlichen Vorsprung erreicht hat, muß sie einen großen Rückstand in der Frage nach dem Antisemitismus aufholen. Fast scheint er eine protestantische Eigenart zu sein. Zwar ist die Literatur über die Haltung der Kirchen zu den Juden in der Weimarer Republik und in der Diktatur beinahe >paritätischBeitrag< zu dieser verhängnisvollen Tradition. Wer die Vorgeschichte jedoch ausblendet, braucht sich nicht wie manche Katholizismusforscher zu wundern, daß er vor der Frage kapitulieren muß, warum die Kirche später zur Entrechtung und Vernichtung der Juden geschwiegen hat.3 Deshalb muß das Augenmerk der entscheidenden Epoche gelten, in der sowohl der moderne Antisemitismus als auch der moderne Katholizismus als spezifische Sozialform des Christentums ihr Gepräge erhielten. Im 19. Jahrhundert entwickelte sich aus dem traditionellen Antijudaismus der moderne und der rassistisch begründete Antisemitismus, der im Kaiserreich, nicht erst in den Jahren vor 1933, Verbreitung fand. Gleichzeitig erstarkte der Katholizismus, nachdem er durch die Säkularisation erhebliche machtpolitische und materielle Einbußen erlitten hatte. Auch er erfuhr im Kaiserreich den Höhepunkt einer erfolgreichen Entwicklung. Diesen Zenit an Geschlossenheit und Handlungskompetenz erreichte er nie vorher und sollte er nie wieder danach erfahren. In der Epoche zwischen Judenemanzipation, Erstem Vatikanum und Erstem Weltkrieg trafen beide >Ideologien< vehement aufeinander. Darüber liegen n u r wenige Arbeiten vor, was angesichts der guten Forschungslage im Hinblick auf den Katholizismus dieser Phase paradox ist. Schließlich wird man von

2 »Zweites konfessionelles Zeitalter«: Blaschke, Das 19. Jahrhundert; Diskussion der Konfessionalisierung im 16.Jh.:H. R. Schmidt; Lepsius, Parteiensystem; B/ascWee u. Kuhlemann, Religion. 3 Verwundert: Härten, Deutsche Katholiken, S. 437. Z u r Weimarer Republik/Kimann, Judenfrage, Hanno!, Judenfrage; Greive, Theologie; ders., Anti-Judaism; Repgett, Catholicism; Bester, AntiBolscbewism. Ein Großteil der Untersuchungen zum Antisemitismus im Katholizismus verbirgt sich in der Literatur zum Nationalsozialismus insgesamt. Scholder, Kirchen; Denzler u. Fabricius (Hg.); Gotto u. a.; ders. u. Repgen (Hg.); Repgen, 1938; Hurten, Deutsche Katholiken, S. 425-440, 501-522; Volk, Nationalsozialismus. Als neuen Überblick zu älteren Titeln: Erichen u. Heschel.

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der Historiographie beinahe ganz im Stich gelassen, wenn es u m die erste Hälfte des 19. J a h r h u n d e r t s geht. Die herkömmliche Kirchen- u n d Katholizismusforschung hat dieses Problem dezent mit d e m Mantel des Schweigens umhüllt, die Antisemitismusforschung hat es unterschätzt u n d die Sozialgeschichte es übersehen. Zweifellos fallen zunächst die exponierten Protestanten u n d Nichtkatholiken als geräuschvolle Propagandisten des Antisemitismus auf - allen voran der agile Hofprediger Adolf Stoecker. Die Katholiken dagegen scheinen weniger anfällig gewesen zu sein. Sie befanden sich selber in der Minderheit u n d fürchteten, die Diskriminierung der J u d e n könne auf sie als >Reichsfeinde< zurückschlagen. Ihr Anspruch auf Toleranz u n d Nächstenliebe schien mit d e m Antisemitismus inkompatibel. Von diesem Eindruck haben sich alle historischen Disziplinen leiten lassen, sei es, weil sie v o m Protestantismus als dominierender Zeitkultur des Kaiserreichs beeindruckt sind, sei es aus einem apologetischen Interesse. Lange Zeit hat die Sozialgeschichte den Katholizismus noch m e h r vernachlässigt als die kulturelle u n d religiöse Dimension überhaupt. H e u t e hat sich die Situation deutlich verbessert. Manche feiern die »triumphale Rückkehr des KulturbegrifFs« u n d n e h m e n ihn genauso ernst wie sozioökonomische Prozesse. Tatsächlich stellt die Kultur eine konstitutive Kraft für Vergesellschaftungsprozesse dar. So hat etwa die katholische Deutungskultur eine spezifische Subkultur erzeugt, der sich inzwischen verschiedene sozialgeschichtlichen Studien zugewandt haben. Hervorzuheben ist die Arbeit T h o m a s Nipperdeys, der die Sozial- u n d Mentalitätsgeschichte der Katholiken aus d e m Schatten der protestantismuslastigen Forschung geholt hat. Aber auch er hielt daran fest, »die M e i n u n g von der N ä h e des J u d e n t u m s zu Liberalismus, Börse u n d Kulturkampf - feindlichen Welten also« - sei im Katholizismus »nie m e h r als eine Unterströmung« gewesen. »Der konservative Kirchenprotestantismus [dagegen] war v o m Stoeckerschen, v o m Treitschkeschen, vom studentischen Antisemitismus stärker eingefärbt, es gab Pfarrer, die sich da engagierten.« N u r David Blackbourn wies bereits 1981 auf das Interesse der Zentrumspartei an antisemitischen Ideen für die politische Mobilisierung hin. D e n katholischen Antisemitismus in Baden haben Aufsätze von H e l m u t Walser Smith und den in Bayern Arbeiten von James F. Harris in Erinnerung gebracht. 4

4 Daniel, Kultur, S. 70,93; Nipperdey, Machtstaat, S. 306,308; ders., Religion; Blackbourn, Catholics; Smith, Religion; ders., Discourse; vgl. Dietrich; zu Bayern (bis 1870) Harris (alle); Greiue, Geschichte, S. 50, schreibt, das Gewicht der katholischen antisemitischen Äußerungen sei vergessen worden, weil die Geschichtsschreibung zum Antisemitismus »in ihrer Grundtendenz noch heute meist die Bewußtseinslage des majoritären preußisch-deutschen Protestantismus widerspiegelt«. Ahnlich zur Bürgertumsforschung (und der »Verwissenschaftlichung des liberalen Antikatholizismus«): Mergel, Klasse, S. lf.; Heilbronner, Reich, S. 220; vgl. W.J. Mommsen, Kultur (eine Seite zum Katholizismus). Noch 1983 war die Forderung (von Thadden, Kirchengeschichte) nach einer verstärkten Einbeziehung der Kirchengeschichte in die Sozialgeschichte berechtigt; vgl. jedoch:

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Auch die Antisemitismusforschung zehrt von der Gewißheit, die judenfeindliche Agitation im frühen Kaiserreich sei »vorherrschend eine protestantische Angelegenheit« (Greive) gewesen und auch »in der Wilhelminischen Ära vornehmlich eine Angelegenheit der protestantischen Mehrheit des deutschen Volkes« (Jochmann) geblieben. Angesichts der protestantischen oder nichtkatholischen Besetzung der auffälligen Posten in der antisemitischen Bewegung überrascht dieses Urteil nicht. Ihre exponierten Protagonisten stehen im Mittelpunkt der Forschung: Eugen Dühring, Wilhelm Marr und seine »Antisemitenliga«, seine Gesinnungskonkurrenten Otto Bockel, Theodor Fritsch und Ernst Henrici, und immer wieder der unvermeidbare Stoecker. Jeder Griff in die Masse der »ständig wachsenden und von einem einzelnen Wissenschaftler kaum noch zu überschauenden Literatur« (Rürup) zum Antisemitismus bestätigt diese Orientierung. Damit wurde seine Analyse gleichzeitig zu einer impliziten Protestantismusforschung, obwohl, sieht man genauer hin, jenseits der klassischen Höhenkammquellen die Erkenntnis über den protestantischen Antisemitismus dramatisch sinkt. Daher ist es sehr zu begrüßen, daß Daniel J . Goldhagen die horizontale und vertikale Dimension des Antisemitismus, seine »größere Kontinuität und Verbreitung« wieder in die Diskussion gebracht hat, sei es schichten- oder konfessionsübergreifend.5 Es ist kein Zufall, daß sich die Arbeiten über den katholischen Antisemitismus auf die spektakulären Themen spezialisieren, besonders auf die Ritualmordlegende. Offensichtlich waren die Katholiken auf diesem Gebiet Experten. Nach wie vor fehltjedoch eine Gesamtdarstellung. Allein Hermann Greive kommt das Verdienst zu, wichtige Aspekte des katholischen Antisemitismus in unvoreingenommenerWeise zusammengestellt zu haben, obwohl auch er über die Ritualmordgeschichten kaum hinauskommt. 6 Langewiesche, Liberalismus und Region. Als Indiz fiir das gewachsene Interesse an Religion, Kirche und Konfession vgl. die neuen Reihen: A. Doering-Manteuffei u. a. (Hg.), Konfession und Gesellschaft. Beiträge zur Zeitgeschichte, Stuttgart (seit 1989) oder G. Hübinger u. F. W. Graf (Hg.), Religiöse Kulturen der Moderne, Gütersloh (seit 1996). Hier ist die Katholizismusforschung der Protestantismusforschung weit voraus, die vorwiegend noch von Theologen betrieben wird. Forschungsüberblick: Liedhtgener, Katholizismus; W. Schieder (Hg.), Religion;dm. (Hg.), Sozialgeschichte; Lilt, Der deutsche Katholizismus, in: Hehl u. Repgen (Hg.), sowie den ganzen Band; Arbeitskreis fiir kirchliche Zeitgeschichte (AKKZG, Münster); Altermatt, Kirchengeschichte; Blaschke u. Kuhlemann, Religion. 5 Greil«, Geschichte, S. 67;Jochmann, Struktur, S. 120; den., Traditionen, S. 269; ebenso: Czermak, S. 102; v. Rahden, Ideologie; Rürup, Bibliographie, S. 237; bereits als »Ergebnis einer strengen Auswahl« führte er 500 Titel an (bis 1974). Längst fünfstellig wird die Zahl der Publikationen zum Antisemitismus sein. Kritik an der Protestantismusforschung: Kremers-Sper, S. 222; typisch dagegen: Greschat, Antisemitismus; Kaiser u. Greschat (Hg.); Brakelmann u. a. (Hg.), Protestantismus; erschütternd apologetisch: F.-H. Philipp; mehr noch Nowak, Kulturprotestantismus. Forschungsstand: Smid, S. 207-219; vgl .Altgeld; Heinrichs; Tal, Protestantism; Hübinger, Kulturprotestantismus und Politik; Goldhagen, S. 10. 6 Vgl. Rohrbacheru. Schmidt; Erb (Hg.), Legende. Greive, Bedeutung; das., Geschichte, S. 48f.

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Allzu durchsichtig ist das Interesse, mit d e m viele Kirchen- und Katholizismusforscher die Idee v o m p r i m ä r protestantischen A n t i s e m i t i s m u s befriedigt aufgreifen. Z u g e g e b e n , das ist ein u n b e q u e m e s T h e m a . M a n k a n n m i t i h m j e d o c h auch anders als apologetisch u m g e h e n . Selbst die katholische Kirche hat m e h r fach ihre >Mitschuld< an der A u s b r e i t u n g dieses U n h e i l s b e k a n n t . M a n c h e christlich motivierte Arbeit beklagt pflichtschuldig das Defizit an >NächstenliebeFreispruch< des K a t h o l i z i s m u s v o m A n t i s e m i tismus anbietet, wird d u r c h solche F o r s c h u n g genährt, die sich lange Z e i t einseitig auf d e n parteipolitischen Sektor k o n z e n t r i e r t e . Tatsächlich standen sich das Z e n t r u m u n d die Antisemitenparteien als K o n k u r r e n t e n gegenüber, u n d der politische K a t h o l i z i s m u s hatte gute G r ü n d e , mit der J u d e n f e i n d s c h a f t vorsichtig u m z u g e h e n . Wer j e d o c h glaubt, die w e n i g e n Verlautbarungen der Abgeordneten gegen den radikalen A n t i s e m i t i s m u s repräsentierten u n m i t t e l bar die Mentalität von 22 Millionen Katholiken, m a c h t es sich zu einfach. Einige Studien sind d e n antisemitischen Topoi d e r Katholiken auf ausgewählten Feldern, etwa d e r Presse u n d der Predigt, n a c h g e g a n g e n . Belegreich ist A m i n e Haases Dissertation über vier katholische Blätter in vier Stichjahren. Ihre akribische »Teilerhebung« v o n S t e r e o t y p e n m u s t e r n v e r s u c h t e erstmals, ein antisemitisches >Profil< des Katholizismus zu erstellen, bleibt j e d o c h deskriptiv.

7 Li//, Katholiken u n d J u d e n , S. 385; die Hälfte des Aufsatzes spricht von der »Abwehr des Antisemitismus d u r c h deutsche Kardinäle und Bischöfe«, von der Zentrumspartei als Gegnerin des Antisemitismus oder von der »Katholikenfeindschaft der Rassenantisemiten«. Auch von »den w e nigen deutschen Katholiken, welche die radikale J u d e n h e t z e aktiv befördert haben« (S. 390) ist die Rede: ausgewogenerjetzt: d m , Antisemitismus. Als protestantisches Pendant: F.-II. Philipp, Protestantismus, S. 299f.; Repgen, 1938, S. 125; n a c h a h m e n d : Hannot, S. 285. »Schuldbewußt«: die d e u t schen und polnischen Bischöfe, vgl.: H e r d e r - K o r r e s p o n d e n z , Jg. 49, 1995, S. 139-141; Rothgaiif;cl: Langer, Czerniak; Beck, S. 66, 289, n e n n t den »Antisemitismus« in der protestantischen Kircheiipresse wie selbstverständlich ein »verbindendes Glied« z u m Nationalsozialismus, w ä h r e n d der katholische »Antijudaismus« nicht »Antisemitismus« g e n a n n t w e r d e n dürfe.

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Schließlich haben die Arbeiten von Walter Zwi Bacharach über die Predigt und von Ernst Heinen über den Kulturkampf das antisemitische Potential im Katholizismus benannt." Gleichwohl hält die apologetische Literatur der These die Treue, der Katholizismus sei antisemitisch unbefleckt, oder sie behauptet, die katholische Einstellung zum Judentum sei nicht aversiv, sondern höchstens >ambivalent< gewesen. Am liebsten rückt sie die Resistenz gegenüber dem politischen Antisemitismus in den Vordergrund. Jubelschriften und epigonale Untersuchungen verbreiten dieses Bild. Ursprünglich hatte die fehlende Forschung die vorliegende Analyse erforderlich gemacht. Dann fuhr mitten in die versunkene Forschungstätigkeit jäh der Schrecken jedes Doktoranden: Plötzlich erschienen in zwei katholischen Verlagen die ersten beiden Monographien über wichtige Aspekte des katholischen Antisemitismus. Doch sie machten, wie sich schnell herausstellte, die vorliegende Analyse nur um so notwendiger, nicht nur, weil sie die Ambivalenzthese wieder aufgelegten. Anhand einiger Modellpredigten und Theologen gibt Michael Langer die judenfeindlichen Argumentationsmuster in der katholischen >Volksbildung< und Katechese wieder. Trotz üppiger Zitate bleibt das Resümee widersprüchlich. O b die Katholiken eher judenfeindlich oder judenfreundlich waren, möchte er nicht entscheiden, es gab dieses und jenes, und nur die wissenschaftliche Darstellung ergebe den »Uberhang dieser thematisierten Judenfeindschaft«. Langer begnügt sich damit, alles in seiner »Widersprüchlichkeit festzuhalten« und fordert, »den untauglichen ... Versuch aufzugeben, die »katholische Position< zur >Judenfrage< auf einen Nenner zu reduzieren«. Diesem Verlangen zum Trotz versucht die vorliegende Arbeit, das dominierende katholische Deutungsmuster herauszuarbeiten. Sie prüft die These, ob »das Zentrum unter der Führung von Ludwig Windthorst und Ernst Lieber in die direkte Abwehr des Antisemitismus eintrat« und stellt sich der beliebten, aber unbelegten Behauptung entgegen, das katholische Ressentiment lasse sich als Folge eines »katholisch-jüdischen Konflikts im 19. Jahrhundert« darstellen. 9 8 Haase, Presse (zeitungswissenschaftlich); die Organe: AP, KVZ, Germania und HPB1; Untersuchungsjahre: 1880/81 (Antisemitenpetition), 1894 (Dreyfus-AfFäre), 1900 (Ritualmordfall in Könitz). Bacharach, Bild; Heinen, Strömungen; vgl. außerdem: die nationalsozialistisch motivierte Diss, von Schmidt-Clausing, Strömungen (unveröffentl.; es .existiert nur noch die Originalfassung), deren Quellenmaterial brauchbar ist, die jedoch beklagt, der Katholizismus sei nicht mehr antisemitisch, obwohl er im Mittelalter und noch im 19. Jahrhundert so vielversprechend angesetzt habe. Populärwissenschaftlich: Kuhner, zu konfessionellen Fragen: Tal, Christians; Lehr, Eckert u. Ehrlich (Hg.); voller Detailkenntnisse die Rezension von Klauck, Kirche (zu Rengstorfu. Kortzjleisch (Hg.)); neuerdings Worm·, vgl. Dietrich. 9 Langer, S. 309, 292, 6, 298 (zu Stolz, Martin, Rebbert, Rohling, Ratzinger; Katechese und Predigt). Rezension: Blaschke, Kontraste. Vgl. die Gedenkschrift zu Windthorst, darin bes.: Altgeld, Windthorst.

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Provokant und verharmlosend ist die Untersuchung von U w e Mazura über die Zentrumspartei und die »Judenfrage« von 1870 bis 1933. Sie greift die »kritischen« Historiker an, die den Katholizismus »antimodern« nennen und es wagen, ihm obendrein »auch Antisemitismus zu unterstellen«. Zwar finde man auch antisemitische »Ausnahmen«. Doch dominierte »sowohl in der katholischen Publizistik als auch bei katholischen Gelehrten und Bischöfen insgesamt eine - w e n n auch nicht >philosemitische< - so doch neutral bis positive Haltung, die jegliche Vorurteile gegenüber den J u d e n ablehnte«. Jedoch hat Mazura die Publizistik, die Presse, den Klerus, den außerparlamentarischen Katholizismus oder die Vereine nicht untersucht, sondern sich auf die Parlamentsprotokolle konzentriert. Weil die Abgeordneten die Aufhebung der Judenemanzipation u n d rassistisch motivierte Ausnahmegesetze nicht unterstützten, sei der Katholizismus nicht antisemitisch gewesen. Diese positive Haltung verdanke sich der Prinzipientreue u n d Toleranz des Z e n t r u m s und habe nichts mit ein e m politischen Kalkül zu tun. Brisant ist Mazuras Versuch, die »judenfeindlichen Tendenzen« durch eine zugespitzte Konfliktthese zu erklären, nach der nicht die Katholiken, sondern die Juden die Ursache für den Antisemitismus bildeten.' 0 O b w o h l von einem gähnenden Forschungsloch nicht mehr die Rede sein kann, aber auch: gerade weil solche Studien vorliegen, bleibt eine Analyse erforderlich, da die entscheidenden Fragen noch offen sind oder einseitig beantwortet werden. Die vorliegende Studie erhebt Einspruch gegen ein E n s e m ble von sieben Thesen, die sich in der Literatur behaupten. 1. Besonders die Apologeten erfreuen sich an der Resistenzthese, die besagt, der Katholizismus sei ein Bollwerk gegen den Antisemitismus und später gegen den Nationalsozialismus gewesen. Mit der bekannten Reichstagswahlkarte von der Volkszählung 1925 und der Märzwahl 1933 läßt sich auf beeindruckende Weise veranschaulichen, wie sich n u r die nichtkatholischen Gebiete braun färbten." Unbestritten, unter den Wählern der Antisemitenparteien u n d der N S D A P blieben Katholiken unterrepräsentiert. Daraus jedoch abzuleiten, daß sie »nicht-judenfeindlich« gewesen seien, ist voreilig und unseriös. Erstens informieren Wählerbewegungen nicht über die Motive der Wähler, die sich statt von einem Anti-Antisemitismus von ganz anderen G r ü n d e n leiten lassen

10 Mazura, S. 29, 81, 187; die »Mehrheit jüdischer Literaten [habe] eine der katholischen Bevölkerung sehr feindliche Stellung eingenommen«. Deshalb sei das antijüdische Ressentiment der Katholiken gewachsen. Vgl. Emst Noltes Versuch, Auschwitz auf die jüdische »Kriegserklärung« von 1939 zurückzuführen; Grab, S. 153; Kritik: Blaschke, Kontraste. Wehler, Entsorgung, S.

\4S(., Luhtenstein, »Auschwitz-Lüge«, S. 298f. 11 Karte prominent piaziert bei Hürten, Katholiken, Einbanddeckel vorn und hinten; außerdem als unkommentierte Beilage: Wahlverhalten der katholischen Bevölkerung Deutschlands 19321933, in: Erinnerung und Verantwortung. 30. Januar 1933 - 30. Januar 1983, hg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1983.

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konnten. Zweitens übersieht die Resistenzthese, daß die Katholiken mit dem Antisemitismus, den ihnen ihre Zentrumspartei bot, völlig zufrieden sein konnten. Darüber hinaus konzentriert sich die apologetische Interpretation einseitig auf die Resistenz gegen den Antisemitismus, blendet aber die Affinität ihm gegenüber aus und übersieht, daß die Ablehnung des einen Antisemitismus mit der Verpflichtung gegenüber einem anderen, besseren Antisemitismus einhergehen konnte. Dessen ungeachtet behaupten Schönfärber, daß die antisemitischen Ausfälle einzelner nur Ausnahmen seien oder umgekehrt: daß doch alle im 19. Jahrhundert Vorbehalte gegen Juden gehabt hätten. Dagegen können sogar tausend in blindem Forschungseifer zusammengetragene Zitate nicht davor schützen, daß ihnen der Apologet gelassen entgegenhält, es handele sich um »nicht repräsentative« Belege, die eher das Resultat einer in den Jahren gewachsenen >Betriebsblindheit< statt eine adäquate Bestandsaufnahme seien. Nimmt man dagegen das Denken, die kirchlichen Sozialisationserfahrungen und den engen Deutungsspielraum der Katholiken ernst, mutet jede authentisch-positive Äußerung über Juden - es finden sich nur dramatisch wenige - wie ein Bruch innerhalb der Milieumentalität an, während die judenfeindlichen Topoi nahtlos in sie verwoben waren.12 2. Einen Schritt weiter als die Resistenzbehauptung geht dic Ambivalenzthese, die sich auch bei kirchlich nicht gebundenen Historikern findet und auf einen breiten Konsens stößt. Im Gegensatz zur Aversionsthese besagt sie, daß es sowohl antisemitische als auch philosemitische oder wenigstens judenfreundliche Meinungen bei den Katholiken gegeben habe. Weil sie den Judenhaß häufig von sich wiesen, seien sie nicht eindeutig als Antisemiten zu identifizieren. Hier muß man jedoch genauer hinsehen, gegen was sie sich tatsächlich wandten, und welche Gründe sie dafür vorbrachten. Gegen die These, die Katholiken hätten ein ausgeglichenes, ambivalentes Verhältnis zu den Juden gehabt, wird hier unterstrichen, daß ihre Haltung überwiegend aversiv war. Dafür muß man jedoch von den Kontroversen im Parlament abrücken, als etwa die Zen-

12 Gegen Langer, S. 31 lf., der sich weigert, eine »abschließende« Antwort zu geben, weil sie »tendenziös« werde, »sei es apologetisch, sei es pauschalierend«. Besonders aber gegen Mazura, S. 191-216; Lill, Katholiken und Juden, S. 390-392, wo katholische Antisemiten zu »Ausnahmen« werden. Erst die Einsicht in die Regeln und Grenzen des katholischen Diskurses lassen erkennen, wer wirklich eine »Ausnahme« ist. Die entscheidenden Differenzen zwischen »Ausnahme« und »Normalfall« liegen im Reflexionsgrad und im Artikulationswillen. Jeder Katholik, der ein antisemitisches Buch schrieb, ist eine »Ausnahme« - nichtjedoch, weil er etwas dachte, was seine Gesinnungsgenossen nicht gedacht hätten, sondern nur, weil er sagte, was sie nicht sagten oder sagen konnten, aber ebenfalls dachten. Sonst wäre auch jeder Theologe eine »Ausnahme«, weil er die Kunst beherrschte, die christliche Soteriologie systematisch in Worte zu kleiden, während die meisten Gläubigen »nur« in naiver Weise dem »Sohn Gottes« anhingen. Beide sind jedoch Teilnehmer desselben Glaubenssystems. Sie unterscheiden sich nicht in seinen Prämissen oder Motiven, sondern lediglich im Grad der Reflexionsfähigkeit und Artikulationskunst. Vgl. A. Hartmann, Kulturanalyse, S. 24; Betger u. Luckmann, Konstruktion, S. 120.

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trumsabgeordneten 1880 darüber uneinig waren, wie weit ihr Antisemitismus beziehungsweise seine Ablehnung gehen dürfe. Tatsächlich handelte es sich n u r u m eine Frage der Reichweite des Antisemitismus. Seine Prämissen wurden nicht tangiert, eine »Ambivalenz der christlichen Haltung zu den Juden« (Lill) ist nicht zu erkennen. Vielmehr ist der bislang vernachlässigte Bereich der >Weltanschauungnachrangige< Antisemitismus der Masse durchaus vorrangig zu behandeln ist. 4. Umgekehrt ist auch mit einer bestimmten Art der Dramatisierung des katholischen Antisemitismus niemandem geholfen. Wie die Bagatellisierung ist auch sie ein Ergebnis der häufig geübten isolierten Betrachtung des Antisemitismus, die ihn zu einem einheitlichen Phänomen verdinglicht und seine multiplen Erscheinungen vom Antijudaismus bis zum Rassismus nivelliert. 14 Besonders manche Katholizismusforscher erklären erleichtert, im Zentrum und der ΒVP habe die »Judenfrage... in keiner Weise zu den zentralen Programmpunkten« gehört, der Antisemitismus sei nicht das »Hauptanliegen« der Katholiken gewesen: Mazura, S. 166,217; vgl. Hannot; Liü, Katholiken und Juden. Wer aber, außer einigen fanatischen Judenfressern, stützte seine Identität allein auf die Judenfeindschaft und machte sie zum »Hauptanliegen«? Gegen die Verharmlosung auch Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 1065f. 15 Suche nach dem antisemitischen »Weltbild«: Schoeps u. Schlör, Einleitung, S. 10-12.

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Wenn der Antisemitismus als »kulturell-kognitives Modell« (Goldhagen) dargestellt wird, das die »Sichtweise, die Menschen von allen Aspekten des Lebens und der Welt entwickeln«, bestimmte, geht seine eigentliche Bedeutung innerhalb des Katholizismus verloren. N o c h einmal: Die Katholiken brauchten kein solches »kulturell-kognitives Modell«, sie besaßen längst eines: den Katholizismus. N u r im R a h m e n dieses Modells läßt sich der Platz, der d e m Antisemitismus darin zukam, bestimmen. Paradoxerweise kann die Isolation des Antisemitismus, etwa als »kognitiv-kulturelles Modell«, nicht nur seine Bagatellisierung zur Folge haben, sondern auch ihr Gegenteil: Mit ihr tritt rasch ein Dramatisierungseffekt ein, weil der katholische Antisemitismus trotz des radikalen und rassistischen Radauantisemitismus ebenso »mörderische Züge« erhält. Tatsächlich verfehlt diese Isolierung j e d e Differenzierung u n d die eigentlichen Motive und Ziele der Katholiken. Wenn außer der Antisemitismusforschung die Katholizismusforschung nicht herangezogen und der Kontext - der katholische Diskurs - ignoriert wird, führt die Fixierung auf die Suche allein nach antisemitischen Stereotypen prompt dazu, sie in der Relevanzhierarchie viel zu hoch zu veranschlagen und zum »zentralen Faktor« der Politik (Goldhagen) zu stilisieren. Lassen sich im Rückblick von der durch die N a tionalsozialisten verursachten Katastrophe tatsächlich Kontinuitätsstrukturen ausmachen, die jene erklären, ist es nicht allein der vermeintliche »eliminatorische Antisemitismus«, der nach Goldhagens »Ultra-Intentionalismus« (Pohl) in den Genozid mündet, sondern dann sind es ebenso die verbreitete Modernitäts- und Demokratiefeindschaft sowie die durch das zweite konfessionelle Zeitalter bewirkte Errichtung von »Ekelschranken« zwischen den Milieus. 16 Erst der durch die Erforschung des Katholizismus gewährleistete Kontext verhindert zugleich eine Bagatellisierung und Dramatisierung des Antisemitismus und ermöglicht es zu beurteilen, ob die antisemitische Aussage eines katholischen Autors eine bloße >Ausnahme< oder ein repräsentatives Beispiel für den Katholizismus ist. 5. Die Realkonfliktthese konzediert zwar die Existenz antisemitischer Tendenzen, erklärt sie aber aus einer Spannung zwischen den J u d e n und denen, die sich gegen sie >verteidigtenGhetto< hineinlavierte, war der Weg des J u d e n t u m s ein Aufbruch »aus d e m Ghetto in die bürgerliche Gesellschaft«. Ü b e r diese Kluft, die im Z u g e der Emanzipationsphase zwischen 1780 u n d 1870 wuchs, entschied die sozioökonomisch erfolgreiche Entfaltung der jüdischen Minderheit und ihre Auf16 Goldhagen, S. 52f., 468,490f.; Kritik: Schoeps (Hg.), Volk; D. Pohl, S. 22; Bergmann u. a. (Hg.), Goldhagen; Blasehke, Elimination; zum zweiten konfessionellen Zeitalter vgl. ders., Das 19. Jahrhundert; »Ekelschranken«: Langewiexhe, Volksbildung, S. 110.

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geschlossenheit gegenüber der Moderne. Vor 1800 lebten die meisten Juden in Armut, während nur zwei Prozent zu den Oberschichten zählten. Nach der Reichsgründung umfaßte die jüdische Unterschicht nur noch zehn Prozent, und den bürgerlichen Oberschichten gehörten 60% der Juden an. 1907 waren 15% der Anwälte jüdisch und 8% der Journalisten.17 Im Gegensatz zu der gewonnenen ökonomischen Sicherheit stand die eklatante Inferiorität der Katholiken, die kaum Unternehmer stellten, durchschnittlich die geringsten Steuern zahlten und auch im Bildungswesen dramatische Defizite aufwiesen. 1850 waren 70% der deutschen Studenten Protestanten, nur etwa 20% Katholiken und 10% Juden, obwohl 36% der Bevölkerung katholisch und nur etwa 1% jüdisch waren. Außer der sozialen und ökonomischen Diskrepanz gab es kulturelle und mentale Kontraste, die sich schon vor dem Emanzipationsgesetz von 1871 rapide verschärften. Während die Katholiken die Kulturkämpfe ausstanden, favorisierten die meisten Juden liberale Parteien, während diese auf dem Land lebten, verkörperten jene die Urbanisierung, während der katholische Kinderreichtum blühte, neigten die Juden zur >modernen< Geburtenkontrolle, während der Katholizismus unter klerikale Kontrolle geriet, wurde das Judentum zu einem >Paradigma< des Verbürgerlichungsprozesses, und während dieser antiliberal und fundamentalistisch wurde, verhielt sich jenes liberal und innovationsfreudig. Angesichts dieser Gegensätze drängt sich manchen Forschern die Realkonfliktthese förmlich auf, die schon die Katholiken verteidigten. Die besseren Argumente sprechen jedoch gegen sie. Erstens war der jüdische Erfolg oft nur eine Verlegenheitslösung für den auf anderen Feldern versagten Aufstieg; wenn 17 Die Realkonfliktthese ist für viele Vorurteilsfälle anwendbar (ethnische und nationale Konflikte), nicht aber für den katholischen Antisemitismus. Vgl. jedoch Langer (gedankenlos eingestreut); Mazura (gezielt zurechtgeschnitten); zum marxistischen Ansatz (Juden dominierten die Wirtschaft, daher sei der Antisemitismus nur eine »antikapitalistische Reaktion«): Haug-, Rürup, Entwicklung, S. 148-151; besonders kraus die marxistisch-psychoanalytische Verinnerlichungsthese von Claussen; vgl. aber auch Reichmann; dagg.: Lichtblau, Antisemitismus; übel: E. Nolle, Nietzsche, S. 100-102, der die »Antisemitismen« im 19. Jahrhundert als durchschnittliche Konflikte sieht: »Es ist unangebracht, diese >Antisemitismen< mit einem moralischen Bannfluch zu belegen. Sie waren Bestandteile weltgeschichtlicher Auseinandersetzungen und sind nur zu verwerfen, wenn alle geschichtlichen Konflikte verworfen werden.« Dann stünde jedoch der Judenhaß auf einer Stufe ζ. B. mit dem Kampf um das Frauenwahlrecht. ZurJudenemanzipation:J. Katz, Ghetto. Wichtige Faktoren widersprechen einer gradlinigen Integration in die bürgerliche Gesellschaft sowie einer glatten »Erfolgsgeschichte« der Juden: die Minderheitenlage, das Identitätsproblem und der Antisemitismus. Elbogen u. Sterling; Rürup, Judenemanzipation; Sterling, Kampf; Schoeps, Emanzipation; Bertling, S. 20-34,38f.; Erb u. Bergmann, Nachtseite, S. 66-96 (bes. zu den süddeutschen Staaten). Baden: Rürup, Baden. Als internationaler ÜberblickP.Jofiruon, S. 311-422. Der jüdische Aufstieg: Nipperdey, Bürgerwelt S. 252; Richarz, Mobility, S. 69; zur sozialen Schichtung von 1871 bis 1939 Mai, Bedingungen; Α Prinz, S. 22; Ruppin; Henning, Juden, S. 108-119; Nipperdey, Arbeitswelt, S. 399f. Zum Journalismus Suchy, Presse; Koszyk, Beitrag. Zu den Unternehmern: D. Schumann, Unternehmer, S. 87-92,167f.; Α Prinz, S. 38,46; Barkai, Minderheit u. ders., Wirtschaftsgeschichte; Maurer, S. 85-100.

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Juden keine Richter werden durften, mußten sie eine Anwaltspraxis öffnen. Je höher die Position in der Beamtenlaufbahn oder in der Verwaltung war, desto bescheidener fiel der jüdische Anteil aus. Die Offizierslaufbahn blieb ihnen ganz verschlossen. Zweitens erschwerte die »Nachtseite der Judenemanzipation«, der wachsende Antisemitismus, ihre Integration. 18 In der sozialen und wirtschaftlichen Situation der Juden fanden die Antisemiten einen willkomm e n e n Ansatzpunkt ihres Ressentiments. Aber darin liegt nicht die Ursache, sondern vielmehr die Pseudorationalisierung des Antisemitismus. Drittens zeigt der Prozeß, der zur Verschmelzung von Ultramontanismus und Antisemitismus führte, daß die Ursachen und Motive dieses Ressentiments allein in den Tätern und Trägern, nicht in den Juden und Opfern zu suchen sind. Die Fusionsgeschichte, die im ersten Kapitel behandelt wird, verlief nicht parallel zu jüdischen >Provokationenmodeme< Judenthum«. 19 Den tiefsten Einschnitt und die endgültige Verzahnung von Ultramontanismus und Antisemitismus brachte ein Ereignis des Jahres 1858. Längst waren die Rahmenbedingungen gesteckt: Die Juden Roms mußten wieder ins Ghetto (1850), aus dem sie 1848 befreit worden waren, und das Mariendogma, ein wichtiger Test der Unfehlbarkeit, war verkündet, auf der anderen Seite hatte die »liberale Ara< begonnen. Da versetzte die gewaltsame Entfuhrung des siebenjährigen Juden Edgar Mortara durch die päpstliche Polizei die aufgeklärte Welt in Schrecken. Mortara war heimlich von der christlichen Dienstmagd in Bologna getauft worden, weil sie glaubte, er leide an einer tödlichen Krankheit. Der europäische Liberalismus sah in der Affare einen jede Humanität verhöhnenden Akt und nutzte sie, um zugleich den Papst, der sich des Knaben annahm, und den Kirchenstaat anzugreifen. Umgekehrt war nun die katholische Ö f fentlichkeit herausgefordert. Sie benutzte den Fall zur Verteidigung des päpstlichen Vorgehens und gleichzeitig zur Polemik gegen den Liberalismus, den modernen Staat und gegen die >jüdisch< beeinflußte Öffentlichkeit.

hann Andreas Eisenmenger und seine jüdischen Gegner, Parchim 1834. Hartmann war Theologieprofessor in Rostock. Vgl. Erb u. Bergmann, S. 168 u. zu Martin S. 206. 19 Pawlikowski, Bogen, S. XLIX; Zitate: S. XIX, XLVIII, LI; Martin: S. 566-568. Vgl. dm., Talmud; vgl. Wurzbach, Bd. 21. S, 294; zu Eisenmenger Suchy, Lexikographie, S. 200f. [V. Thalhover) Zur Judenfrage, in: HPB1 45 (1860), S. 1102-1108, 1105; Thalhover (1825-91): 1850-63 Exegeseprofessor in Dillingen, danach in München und 1876 Domdekan in Eichstätt, Albrecht u. Weher, S. 121. Vgl. Juden; Jüdische Literatur, in: Herders Conversations-Lexikon, Bd. 3, Freiburg 1855, S. 505-508; 509-511, 508. Ein Jahr vor Pawlikowskis Buch wetterte Beda Weber, Stadtpfarrer in Frankfurt, gegen die Freimaurer und die »jüdelnden Literaten«, weil sie »von Juden und Christen gut bezahlt« im »Dienste der Synagoge und der Revolution« stünden und »das jüdische Königthum, sei es im Staate oder in der Kirche«, errichten wollten. B. Weber, Cartons, S. 237239; auch zit bei Pawlikowski, S. XXVIIf.; Rez.: Beda Weber's letzte Charakter-Zeichnungen und ihr praktischer Nutzen, in: HPB1 42 (1858), S. 265-284; Angerer zeichnet Weber als toleranten Geistlichen. Dagegen: Preissler, S. 299-302. Vgl. den oberflächlichen Überblick vonJ. Heil, Dom, bes. S. 77. Zu Weber vgl. Roegele, Presse, S. 412, Schmolte, Schlechte Presse, S. 82f„ 86.

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Sogleich sprang der Mainzer »Katholik« in den Ring. Während er noch 1824 den »Judenspiegel« von Hartmut von Hundt-Radowsky voller Abscheu als peinliches »Machwerk« verurteilt hatte, führte er sich jetzt ungeschminkt antisemitisch auf. Hinter allen liberalen Protesten verberge sich »ein schlecht maskirter Haß gegen das Papstthum und die katholische Kirche«. Die Taufe in einer Notlage (»periculum mortis«) sei gültig. Daher gehöre das Kind nicht mehr den jüdischen Eltern, sondern der Kirche, auch gegen den ungeheueren »Mortara-Lärm« fanatisierter Juden. Während der »Katholik« - wie auch das »Freiburger Katholische Kirchenblatt« - zynisch auf die kirchenrechtliche Seite pochte, weiteten die »Gelben Hefte« die Argumentation auf die Politik und den Antisemitismus aus. Joseph Edmund Jörg widmete der Angelegenheit 1859 seine »Zeitläufe«. »Gegen die Thatsache des einzig noch übrigen christlichen Staates - hat sich die jüdische Furie im Mortara-Handel gerichtet ...: es soll absolut keinen christlichen Staat ... mehr geben, darum muß vor Allem die Souveränität des Papstes selber untergehen.« Jörg nutzte die Gelegenheit, heftig gegen den »Emancipationsschwindel« zu polemisieren. Überall wirkten die Juden »als corrosives Gift«, sie brächten »die halbe Welt in Aufruhr«.20 Der tragische Mortara-Fall, auf den auch im Kaiserreich häufig zurückgegriffen wurde, gab der Spaltung zwischen Judentum, aufgeklärtem Liberalismus und Katholizismus den letzten Schub. Auf der einen Seite war es das Zentralereignis für die Profilierung derjüdischen Identität. Es führte zu verschiedenen Zusammenschlüssen in mehreren Ländern und 1860 zur »Alliance Israelite Universelle«.21 Auf der anderen Seite festigte es die Solidarität innerhalb des Katholizismus und verband ihn, zwölfjahre vor der Reichsgründung, fest mit dem Antisemitismus. Beide Parteien mußten >Farbe bekennenNeue Ara< an, die dem Liberalismus in einigen europäischen Staaten Auftrieb gab. Schmerzhaft mußten die deutschsprachigen Katholiken erleben, wie die kirchlichen Privilegien des wunderbaren österreichischen »Modellkonkordates« von 1855 Stück für Stück demontiert wurden. Der Konflikt zwischen beiden >Parteien< verschärfte sich. Die Enzyklika Q U A N TA CURA und ihr berüchtigter SYLLABUS ERRORUM besiegelten 1864 die Unvereinbarkeit von Liberalismus und Katholizismus endgültig. In Bayern wurde eine liberale und als kirchenfeindlich erlebte Politik betrieben, 1868 wurde die geistliche Schulaufsicht abgeschafft, das Volksschulwesen verstaatlicht und die Jesuitenmission untersagt. Die Katholiken reagierten und gründeten 1869 die »Patriotische Partei«, die prompt den Landtag eroberte. Aus politischen Gründen und aus Furcht vor der Judenemanzipation kam es 1866 in Bayern zu antijüdischen Ausschreitungen.23 Auch der Krieg zwischen Preußen und Österreich trug zur Aufheizung der Atmosphäre zwischen den Katholiken hier, den Protestanten und Juden dort bei. Nachbarn, die jahrelang friedlich zusammengelebt hatten, mieden sich, Freunde grüßten sich nicht mehr, und Priester warnten vor dem Umgang mit Protestanten und Juden. In den Wirtshäusern katholischer Orte habe man hören können, daß »sobald die Österreicher gesiegt und das Land besetzt hätten, den Juden der Hals ab- und den Ketzern [den Protestanten] der Leib aufgeschnitten werden« müsse. Die Zeit der Kulturkämpfe hatte begonnen. In ihnen kulminierte das katholische Bedrohungsgeftihl, das sich auch gegen Juden richtete, die allein als Koalitionspartner der liberalen und kulturkämpferischen Regierungen wahrgenommen wurden, nicht jedoch als »bündnisfahige« Minderheit.24 Die Voraussetzung für eine rasche und umfassende Mobilisierung antisemitischer Affekte im Ultramontanismus war schon vor dem preußisch-deutschen Kulturkampf gegeben, und auch die Konturen des Milieus zeichneten sich in22 Schatz, Vaticanum, Bd. 1, S. 20f., 29f., 60, spricht von »Neo-Ultramontanismus«; nach der Schwächung staatskirchlicher und gallikanistischer Kräfte kamen ab etwa 1850 binnenkatholische Differenzen auf, die der »Neo-Ultramontanismus« glätten sollte. Vizegott: Rütjes, Jesuiten, S. 38. Vgl. zur Mortara-Aflare: LiU, Katholiken und Juden, S. 359f., 368; Stolz, Mörtel, S. 62.; [E.Jörg], Streiflichter auf die Neue Ära in Preußen, in: HPB144 (1859), S. 743-755. 23 QUANTA CURA (8.12.1864), in: Huber u. Huber (Hg.), Bd. 2, S. 395-406,397f., 406; auch in: Schnalz, S. 1-45; LiU, Kontroversen, S. 755. iVestermayer, S. 2. Z u m Antisemitismus: J. Harris, Bavarians; vgl. Schatz, Vaticanum, S. 80. Z u r »neuen Ära« Langewiesche, Liberalismus, S. 85-93. Zum Konkordat vgl. Kap. VII. 2 über Österreich. 24 Vgl. »Rückblick auf eine überstandene Gefahr«, in: Süddeutsches Wochenblatt, N r . 37,10. Sept. 1866; vgl. Die Katholiken in Baden, S. 16-27,23.

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zwischen ab. Zuerst wurde es durch die Nivellierung der Subkultur vorbereitet; die durch die kirchliche Ultramontanisierung und anschließend durch die Politisierung homogenisierte Deutungskultur prägte die Entwicklung des Milieus auf der Mesoebene, auf der sich in den 1860er Jahren etwa im Rheinland, in Baden oder im Raum Fulda längst feste Strukturen erkennen ließen. Sie verbanden sich schon vor der Reichsgründung als Makromilieu miteinander, dem jedoch immer weniger als die 36 Prozent der katholischen Deutschen angehörten. Seit 1848 sorgte das Vereinswesen für die Sammlung der Katholiken, zunächst die Piusvereine, sodann die Katholikentage, aber erst in den 1890er Jahren entstand ein beinahe lückenloses Vereinsnetz; die Casinos bereiteten in den 1860er Jahren die politische Repräsentationsfähigkeit vor, ihnen folgte die Zentrumspartei, und seit 1867 nahm auch das milieuinterne Kommunikationssystem nach anfanglicher Skepsis gegen die »moderne Presse« einen rapiden Aufschwung. Weil die vier wichtigsten Kanäle (die Presse, die Vereine, das Zentrum und natürlich die Kirche) zusehends in klerikale Hand gerieten, konnten die Milieumitglieder wie nie zuvor kontrolliert und auf eine normierte Mentalität sowie ein konformes Sozialverhalten verpflichtet werden. 25 Obwohl der Katholizismus und das Zentrum »verdammt heterogene Elemente« einschloß, wie Peter Reichensperger 1870 konstatierte, gewannen die einheitsstiftenden Faktoren die Oberhand. Das gelang durch die religiöse Mobilisierung und durch die Dramatisierung der Außengrenze. Darüber hinaus hoben sich die Katholiken als Ergebnis eines langwierigen U m b r u c h prozesses sowohl kulturell-weltanschaulich als auch sozialstrukturell von der Majorität der deutschen Gesellschaft ab. Die spezifische Subkultur des Milieus zeichnete sich durch eine religiöse Renaissance (Fundamentalisierung und Ultramontanisierung) aus, durch eine politische und ideologische Abwendung von der Moderne (Liberalismus und Fortschritt), durch eine rückwärtsgewandte Wirtschaftsmentalität mit offener Industrialisierungsskepsis und eine Ablehnung säkularer Kulturwerte. 26 25 Z u m Vereinswesen: Mooser, Milieu; zur Presse: Schmolke-, eine präzise Phasenbeschreibung der Milieuentfaltung bei IVeichlein, Konfession; weitere Längsschnitte: Mergel, Klasse; ders., Grenzgänger; eine kurze chronologische Übersicht von 1803 bis 1928bietetD. Kaufmann, Milieu, S. 1138. Z u m Konzept des Mikro-, Meso- und Makromilieus im interkonfessionellen Vergleich: Blaschke u. Kuhlemann, Religion, S. 46f.; vgl. Gabriel, Christentum; zur Klerikalisierung: Blaschke, Kolonialisierung. 1822 lebten 16193 000 Protestanten (63,09%) und 9 091 500 Katholiken (35,42%) im Gebiet des späteren Reiches. 1900 (mit Elsaß-Lothringen): 25 231 104 Protestanten (62,51%), 20 327 913 Katholiken (36,06%), 586 833 Juden (1,04%) sowie 203 793 (0,36%) andere Christen. Zahlen für 1822: H. Maier, Standort, S. 58; für 1900: H. Krose, Deutschland, in: Buchberger, Bd. 1, S. 1085-1091, 1090; Härten, Deutsche Katholiken, S. 18f„ schätzt das Volumen des katholischen Milieus fur 1915 auf die »größere Hälfte« aller (nominellen) Katholiken. Rohe, Wahlen, S. 14-22. Allermatt, Subgesellschaft. 26 Peter an August Reichensperger, 27. 11. 1870, zit. bei Pastor, Bd. 2, S. 2; Lolh, Katholiken, S. 38.

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Der simple Zuschnitt der ultramontanen Ideologie erleichterte die Nivellierung der Milieumentalität und förderte den Antisemitismus. Der Ultramontanismus trat mit universalem Anspruch auf, glaubte an Gott und den Teufel, trennte Gläubige und Ungläubige, und er unterwarf die Wahrnehmung aller Probleme einem dualistischen Code, der als Subtext in jedem katholischen Text auszumachen ist und den Charakter eines Paradigmas annahm. Paradigmen liegen als feste Denkschemata der Ideologie oder Mentalität einer Gruppe oder einer Epoche zugrunde. Bis zu einem Paradigmenwechsel kann ihre Dauer Jahrhunderte betragen, auch wenn sich einzelne Elemente in der von ihnen geprägten Mentalität verändern. Sie erlauben, gesellschaftlichen oder wissenschaftlichen Wandel ohne Anpassung zu überstehen, und unterwerfen ihn wie alle Phänomene ihrem Deutungsraster. Das dualistische Dissoziationsparadigma trennte. Es verhinderte die Harmonie zwischen Kirche und Welt, Körper und Geist, leistete aber Kontingenzbewältigung. Doch es hatte auch fatale Folgen für den Antisemitismus. Während der Versuch einer Synthese die Versöhnung zwischen Christentum und Moderne, Religion und Welt ermöglichte, besonders etwa im Kulturprotestantismus, postulierte das Dissoziationsparadigma ihre Scheidung. Dieses im Ultramontanismus zur Perfektion angewendete dualistische Schema schied zwischen Himmel und Hölle, Christ und Antichrist, Jenseits und Diesseits. Es führte diesem Raster alle zeitgenössischen Probleme zu: hier Kirche, dort moderne Kultur, hier Wahrheit, dort Aufklärung, hier der Kirchenstaat, dort der moderne Staat. »Die ganze denkende und wollende Welt teilt sich in zwei große Gruppen«, versicherte noch 1906 Pfarrer Mathies, »von denen die eine Christus und seine Kultur befördert, die andere sie bekämpft.«27 Das ebnete dem Katholizismus seit der Jahrhundertmitte den Weg zu einem starren Fundamentalismus, der unter päpstlicher Regie auf alle außerkirchlichen Sphären auszugreifen versuchte, auf den Staat und die Wirtschaft, auf die Kultur und die Gesellschaft. Dieser expansive Anspruch des Ultramontanismus, der den »katholischen Staat« verlangte, weist erstaunliche Parallelen zum >Fundamentalismus< auf. Der Fundamentalismus ist eine »Abschließungsbewegung, die als immanente Gegentendenz zum modernen Prozeß der generellen Öffnung des Denkens, des Handelns, der Lebensformen und des Gemeinwesens absolute Gewißheit, festen Halt, verläßliche Geborgenheit und unbezweifelbare Orientierung durch irrationale Verdammung aller Alternativen zurückbringen soll«.28 Beides, Fundamentalismus und Ultramontanismus, sind Reak27 A. /4[lbing(= P. Mathies)], Kulturfeindlichkeit, in: HPB1138 (1906), S. 249-262,260. Zur Rolle von Paradigmen in der Mentalitätsgeschichte vgl. Burke, S. 138, der auf Thomas Kuhn verweist und gute Fallstudien anführt. Blaschke u. Kuhlemann, S. 17-19. Vgl. A. Heller, Hölle, S. 49f.; Schulz, Kirche; Frank, Geschichte; Nitschke, Verhaltensforschung. 28 Fundamentalismus ist »der selbstverschuldete Ausgang aus den Zumutungen des Selberdenkens, der Eigenverantwortung, der Begründungspflicht, der Unsicherheit und der Offenheit

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tionen auf die Gefahrdung der Religion durch die Moderne. Sie gleichen sich im Autoritarismus mit seinem blinden Gehorsam gegenüber den religiösen Funktionsträgern, im Konservativismus, im religiösen Fanatismus, im Dualismus, der die Geschichte als »Kampf der Guten mit den Bösen« deutet, im ökonomischen Romantizismus, im Ritualismus und in der Wissenschaftsfeindlichkeit sowie in einer eklatanten Unfähigkeit, Humor und Selbstkritik aufzubringen. 29 Der ultramontane Universalanspruch betraf nicht nur die Kirchgänger, sondern auch diejenigen Katholiken, die den Tempel nicht mehr aufsuchten, ja sogar die sogenannten »Heiden« und die emanzipierten Juden. Wer die Rekatholisierung erstrebte, nahm die Reghettoisierung in Kauf Spätestens seit der Mortara-Krise waren die Fusion von Ultramontanismus und Antisemitismus endgültig besiegelt und alle >judenfreundlichen< Stimmen im Katholizismus zum Schweigen verurteilt. Dieselben Einschnitte, die den Ultramontanismus prägten, formten auch seinen Antisemitismus. 1837 war noch vieles möglich, etwa der trikonfessionelle Dialog, bevor die mobilisierten Katholiken den innerkirchlichen, dann den ganzen Liberalismus verwarfen, jeden Dialog abbrachen und sich für die Konteremanzipation entschieden. Seitdem dividierten sich - grob gesagt - antisemitische Ultramontane und andere Katholiken auseinander. Spätestens seit 1858 avancierte die Judenfeindschaft zu einem Signum in den nun anbrechenden Kulturkämpfen. Parallel zur Reglementierung und Klerikalisierung der >Volksfrömmigkeit< und der Mittelaltertümelei wurde auch die populäre Judenfeindschaft modelliert. Zwar knüpften die Katholiken an alte Traditionen an und nahmen >bewährte< Topoi auf. Aber es reicht nicht, einfach auf die Tradition zu verweisen, wie auch die Neoscholastik sich nicht aus einer ungebrochenen scholastischcn Tradition speiste. Es war nicht die überkommene antijudaistische Tradition, die aller Geltungsansprüche, Herrschaftslegitimationen und Lebensformen, denen Denken und Leben durch Aufklärung und Moderne unumkehrbar ausgesetzt sind, in die Sicherheit und Geschlossenheit selbsterkorener absoluter Fundamente«. T. Meyer, Fundamentalismus, S. 157f. (seine Studie wirkte begriffsbildend). 29 Vgl. den ersten Lehrentscheid des Ersten Vatikanums über die Kirche, Kap. 3, in: Neuner u. Roos, S. 298f.: Der römischen Kirche komme der »Vorrang der ordentlichen Gewalt über alle anderen Kirchen« zu. D e m Papst gegenüber »sind Hirten und Gläubige jeglichen Ritus und Rangs, ... zur Pflicht hierarchischer Unterordnung und wahren Gehorsams gehalten, nicht allein in Sachen des Glaubens und der Sitten, sondern auch der O r d n u n g und Regierung der über den ganzen Erdkreis verbreiteten Kirche.... Der römische Bischof ist der oberste Richter aller Gläubigen ... [es gebe] keine höhere Amtsgewalt.« L I B E R T A S PRAESTANTISSIMUM (1888): Weil »der Staat notwendig Einheit des religiösen Bekenntnisses fordert, so hat er sich zu der allein wahren, der katholischen nämlich, zu bekennen«. Vgl. die Enzyklika I M M O R T A L E D E I (1885); Dokumente: Schnalz (Hg.), Verlautbarungen, S. 97-188, vgl. bes. 125-129, 167. Vgl. C. Weber, Ultramontanismus, S. 27-33. Weber fuhrt insgesamt zwölf gemeinsame Strukturmerkmale an; vgl. Beinert (Hg.), S. 15-52, 25; besser der Band von Kochanek (Hg.); darin zum Naturrecht und zur Neoscholastik als Fundamentalismus Böckle-, D. Alexander, Fundamentalism; Palaver.

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dem ultramontanen Antisemitismus seinen Charakter gab, sondern ihre Traditionalisierung. Auch der Antisemitismus wurde intensiviert und klerikalisiert sowie durch den Rückgriff auf das Mittelalter traditionalisiert. Das fand zunehmend Aufnahme in den katholischen Periodika und in EinzelveröfFentlichungen. Der Antisemitismus Eisenmengers aus dem 18. Jahrhundert wurde ebenso neu entdeckt wie der des Wiener Hofpredigers Abraham a Sancta Clara aus dem 17. Jahrhundert und Thomas von Aquins Judenfeindschaft des O . J a h r h u n derts. Die Verehrung lokaler »Ritualmordopfer« wurde neu belebt, die Kirche legitimierte die Blutschuldlegende offiziell und kleidete ihren mittelalterlichen Antijudaismus in eine zeitgemäße Form, um ein Angebot zur »Lösung der Judenfrage« vorzuweisen. Je mehr die Kirche den Antisemitismus traditionalisierte, desto intensiver wurde seine Klerikalisierung. Steinwürfe und Exzesse von Katholiken, die sich gegen Juden und den Ortspriester richteten, gehörten ebenso der Vergangenheit an wie eigensinnige, >wilde< Frömmigkeitskulte, welche die Autorität des Klerikers untergruben. 30 Der Fusionsprozeß widerlegt die Konfliktthese und bestätigt, daß der katholische Antisemitismus rein innerkatholische Ursachen hatte. Zwar wuchs im 19. Jahrhundert die Asymmetrie zwischen den erfolgreichen Juden und den inferioren Katholiken. Hier gab es viele, dort wenige Unternehmer, hier viele, dort wenige Studenten, und die jüdischen Akademiker waren fleißiger und schneller als die Katholiken. Aber nicht der jüdische Aufstieg war für den Antisemitismus verantwortlich, sondern der Abstieg der Katholiken. Die Juden trugen die »Last des Erfolgs«, aber er war nur der Anlaß für seine antisemitische Verzerrung. Schon in der Mitte des Jahrhunderts klagte man über die jüdische »Herrschaft in der Presse«, obwohl es sie nie gab. Vielmehr verursachte die eigene Last des Mißerfolgs den Antisemitismus unter Katholiken. Ihre sozioökonomische Inferiorität machte sie mißtrauisch gegenüber den Erfolgreichen. Zweitens bildete der erklärte Wille zum Milieu und zur Verringerung der »Intragruppen-DifFerenz« einen Grund für den Antisemitismus. Der Klerus wußte, wie wichtig seine Glaubenspropaganda war, weil »die Kirche schon nach dem Triebe und der Pflicht der Selbsterhaltung jene übernatürlichen socialen Verbindungsmittel« stärken müsse. Aber »je hartnäckiger das Fremdartige andringt«, erkannte der Jesuit Johann Wieser schon 1869, desto mehr sei der Katholizismus »nach außen scharf abgegrenzt und nach innen einheitlich geschlossen«. In dieser Frontmentalität lag der Nährboden für Feindbilder und für die chimärische Konstruktion des »Fremdartigen«. Drittens spricht gegen die Realkonfliktthese, daß die Schritte, die den Antisemitismus an den Katholizismus banden, nicht mit dem Erfolg der Juden, sondern mit der Durchsetzung des Ultramontanismus erfolgten. Für diesen Antisemitismus war in erster Linie die Subkultur verantwortlich, die das ultramontane Makromilieu 30 Zu Abraham vgl. Weinzieri, Katholizismus, S. 484f., 4%; Farias, S. 65-81.

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prägte. Die Asymmetrie in der Mentalität war im Kaiserreich tatsächlich immens. »Stellen wir uns mal den Gegensatz zwischen einem Ultramontanen und einem jüdischen Reformer vor«, spöttelte der Altkatholik Joseph Kolkmann 1876, »größere Gegensätze sind fast nicht denkbar.«31 Der Vergleich mit nichtultramontanen und liberaleren Katholiken wird noch deutlicher zeigen, daß der polarisierende Antisemitismus im bipolar verfahrenden Ultramontanismus seinen Platz angewiesen bekommen hatte, daß aber auch umgekehrt die Kohärenz des katholischen Milieus und die hohe Klerusloyalität antisemitischen >Protest< dann nicht mehr zuließ, wenn er antiklerikal und nicht kanalisiert war. Mit dieser >ausgereiften< Form des »besseren« Antisemitismus stellte sich der Katholizismus unbeschadet der inzwischen erfolgten Judenemanzipation den Herausforderungen des neuen Reiches.

31 Kolkmann, S. 26. Antisemitismus als normaler »Konflikt«: E. Nolte, Nietzsche, S. lOOf.; Mazura; Reichmann, Flucht; dagg.: Lichtblau, Antisemitismus. Wieser, S. 64f., zit. n. Busch, Frömmigkeit. Vgl. Tajfel. Z u r Inferioritätsdiskussion einschlägig: Schell, Katholizismus. Vgl. Baumeister, Parität, S. 85; Bachem u. Hankamer, Rost, Parität; ders., Lage; ders., Katholiken; M. Weber, Ethik; zu Baden Offenbacher, Konfession. Gegen die Säkularisationsthese, die den katholischen Rückstand auf externe Gründe verlegt: {dueling, Folgen;Ν. Hammerstein, Antisemitismus, S. 27-39; W. Rösetter, Berufszählungen für 1895: SDR Bd. 111; fur 1907: SDR, Bd. 211 .D. Schumann, Unternehmer, S. 89,166 u. insges. S. 86-93,165-170; zum Rheinland: Zankel, S. 29-31,69-72,85. Vgl. Nipperdey, Bürgerwelt, S. 206f. Liedhegener, Marktgesellschaft; M. Kiöcker, Bildungsdefizit. Z u r sich verschärfenden Diskrepanz: Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2, S. 195

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II. Die Feuertaufe des Milieus im Kulturkampf und die Bewährungsprobe des Antisemitismus

Im Kulturkampf als verdichteter Säkularisierungserfahrung suchten alte Ängste und Erinnerungen die Katholiken heim. Die schlimmsten Befürchtungen schienen sich zu bestätigen. Mehrfach schon waren die Jesuiten verboten oder verfolgt worden; bereits 1837 stritten Kirche und Staat über den Zugriff auf die Ehe, und in einigen Ländern gab es schon die Zivilehe; um die Schulaufsicht war lange gerungen worden, und die Maßnahmen in Baden, etwa das den Geistlichen auferlegte »Kulturexamen« (1867), wurden als tiefer EingrifFin die Rechte der Kirche angesehen. Aber jetzt kam alles auf einmal, es kam kompromißlos und schnell: Die Zivilehe, die staatliche Schulaufsicht, der Kanzelparagraph, das Jesuitenverbot, Verfolgung, Strafe und Zensur. In nur einem halben Jahrzehnt waren die wichtigsten Probleme zwischen Staat und Kirche >gelöstReligionskriegGegnerheiße< Jahrdutzend, denn als prägendes Ereignis bündelte er Strukturen und Prozesse, die das 19. Jahrhundert, das »zweite konfessionelle Jahrhundert«, insgesamt kennzeichneten und bis in die 1950er Jahre wirkten.

1. Die Kirche im Machtkampf gegen den modernen Staat und die »Judenherrschaft« Herkömmliche Darstellungen konzentrieren sich auf den »Kulturkampf zwischen Staat und Kirche«. Sie halten die Frage nach dem Rangverhältnis von Staats- und Kirchengesetz für »die Kernfrage des Kulturkampfes schlechthin«. Diese Dimension war wichtig. Aber man kann aus dem Zusammenstoß der beiden absolute Geltung beanspruchenden Systeme keinen nachgezogenen »Investiturstreit« machen; er war weniger und zugleich viel mehr als das, etwa hinsichtlich der mentalitätsgeschichtlichen Ebene. Am wenigsten läßt er sich als »das persönliche Werk Bismarcks« ausgeben.1 Nachdem das Unfehlbarkeitsdogma einen Keil zwischen die >legitimen< und die >neukatholischen< Kirchenmitglieder getrieben hatte, war der Zusammenprall unvermeidbar. Prekär wurde die Lage einiger Religionslehrer und Theologieprofessoren. Waren sie nicht von der soeben formulierten päpstlichen Autorität überzeugt, verfielen sie der Exkommunikation, und die Kirche verlangte ihre Absetzung. Andererseits waren sie im Dienst des Staates, den das

1 Born, S. 82; Lonne, S. 152; Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 4, S. 690; das »persönliche Werk«: Bomkamm, Staatsidee, S. 294; ähnlich: Sacher, Bismarck, in: LThK Bd. 2, S. 510f.; Rauscher, Einleitung in: ders. (Hg.), Katholizismus, Bd. 1, S. 10. Vgl.Jedin, Kirche, S. 73; Nipperdey, Machtstaat, S. 371: Bismarck habe »den Kulturkampf begonnen«. Zu Bismarck Morsey, Bismarck; zum KulturkampfW. Becker, Kulturkampf-Positionen; ders., Kulturkampf; Blackbourn, Zentrumspartei; Bomkamm, Staatsidee; Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 4, S. 637-831; LM, Kulturkampf; Morsey, Kulturkampf; Anderson, Windthorst, 130-205, hier (S. 4f.) auch zur Kontroverse um Schmidt-Volknutrs katholikenunfreundliche Studie; ältere Arbeiten: G. Franz; zeitgenössisch: Bachem, Vorgeschichte, Bd. 2-4; Kißling, Geschichte; Quellen (Gesetze, Beschlüsse) ebd., Bd 2, S. 460-483, Bd. 3, S. 438-463; ausführlicher: Huber u. Huber (Hg.), Bd. 2, S. 395-887.

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dogmatische Gezänk nicht interessierte und der seine Beamten schützte. Beide Parteien gerieten zum ersten Mal im März 1871 aneinander, als ein geistlicher Gymnasiallehrer im Ermland nicht glauben wollte, daß der Papst unfehlbar sei. Sein Bischof entzog ihm die Lehrbefugnis, aber der Staat hielt ihn. Er verwies die Schüler, die den Religionsunterricht boykottierten, von der Schule. Dem »Braunsberger Konflikt«, der als »eigentlicher Beginn des Kulturkampfes«2 bezeichnet wurde, folgten weitere, etwa über die exkommunizierten Theologieprofessoren in Bonn oder über die Rechte altkatholischer Priester. Die »gemischten Sachen«, die kirchliche und staatliche Kompetenzen berührten, mußten gelöst werden. Im Mittelpunkt standen das Eherecht und die Erziehungfrage, die durch den Braunsberger Konflikt wieder in die Diskussion gebracht worden war. Als im März 1872 das >Schulaufsichtsgesetz< verabschiedet wurde, fühlten sich die Katholiken in ihrem Recht tief beschnitten. War die Schule nicht von alters her eine kirchliche Einrichtung? Und gebührte der christlichen >Wahrheit< nicht Vorrang vor aller weltlichen >Bildung