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German Pages 313 [314] Year 2015
Karolingische Klöster
Materiale Textkulturen
Schriftenreihe des Sonderforschungsbereichs 933 Herausgegeben von Ludger Lieb Wissenschaftlicher Beirat: Jan Christian Gertz, Markus Hilgert, Bernd Schneidmüller, Melanie Trede und Christian Witschel
Band 4
Karolingische Klöster Wissenstransfer und kulturelle Innovation Herausgegeben von Julia Becker, Tino Licht und Stefan Weinfurter
DE GRUYTER
ISBN 978-3-11-037123-9 e-ISBN (PDF) 978-3-11-037122-2 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-038614-1 ISSN 2198-6932
Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 3.0 Lizenz. Weitere Informationen finden Sie unter http://creativecommons.org/licenses/ by-nc-nd/3.0/. Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/München/Boston Einbandabbildung: Ausschnitt aus Gregor von Tours, Decem libri historiarum, Heidelberg, Universitätsbibliothek, Pal. lat. 864, fol. 26v (Lorsch, ausgehendes 8. Jahrhundert) Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort Mit der Auflösung des weströmischen Reiches zerfiel im 5./6. Jahrhundert auch die Einheit des lateinischen Kulturraums. Wechselnde Herrschaftsbildungen auf dem Boden des ehemaligen Imperium Romanum führten zu einer Segmentierung, deren Auswirkungen bis in die Buchkultur hinein erkennbar sind. Politisch und kulturell wurde dieser Prozess erst in karolingischer Zeit aufgefangen und umgekehrt. Man versuchte, auch in den Wissenschaftsdisziplinen an die Verhältnisse vor dem Zusammenbruch des Imperiums anzuknüpfen. Bis auf Ausnahmen ist von der antiken, teilweise sogar von der spätantiken Literatur nur das erhalten, was die karolingischen Gelehrten bei Hof und in den Bildungszentren des Reiches überliefern konnten und wollten. Sie erschlossen die Reste des spätantiken Wissensreservoirs, ergründeten entlegene und vergessene Bestände, sammelten und sicherten das Schrifttum durch eine intensive Kopiertätigkeit in den karolingischen Skriptorien, sorgten für Kommentare und philologische Kontrolle der gewonnenen Texte. Der Wechsel von Papyrus zu Pergament begünstigte diesen Transfer entscheidend, da ‚Wissen‘ von nun an ‚dauerhaft‘ bereitgestellt werden konnte: Die europäische Wissensgesellschaft basiert auf der Synthese von antiker Bildungstradition und frühmittelalterlicher Schriftlichkeit in den karolingischen Klöstern. Die Untersuchung dieses Wissens- und Kulturtransfers stand im Mittelpunkt der internationalen Tagung, die das im Heidelberger SFB 933 „Materiale Textkulturen“ angesiedelte Teilprojekt A04 „Wissenstransfer von der Antike ins Mittelalter. Bedingungen und Wirkungen dauerhafter Verschriftlichung am Beispiel des Klosters Lorsch“ vom 31. Oktober bis 2. November 2012 im Museumszentrum Lorsch veranstaltet hat. Der Tagungsort war nicht zufällig gewählt, denn unter den Bibliotheken des Karolingerreiches hat die alte Klosterbibliothek von Lorsch den Moment der Wiedergewinnung antiken und spätantiken Erbes besonders deutlich bewahrt. Die Reichsabtei wies in karolingischer Zeit eine einzigartige Bibliothek auf und repräsentierte einen Idealbestand vor allem des spätantiken Wissens. Die Referenten waren von den Tagungsorganisatoren eingeladen worden, in ihren Ausführungen vor allem die Materialität der Textträger, die im Zentrum des Forschungsprogramms des SFB 933 stehen, zu berücksichtigen. Der SFB geht von der Prämisse aus, dass die überlieferten Texte und die Deutung ihrer Inhalte nicht genügen, um den kulturellen Zuschreibungen historisch gerecht zu werden. Wichtige Informationen über ihre ursprüngliche Funktion liefert vielmehr die Materialität und Anordnung der texttragenden Artefakte. Daher standen die Analyse der Textträger, das Layout der Handschriften und die an den Artefakten vorgenommenen Rezeptionspraktiken im Mittelpunkt der vier Sektionen: Die erste hatte die literarischen Rezeptionspraktiken in karolingischer Zeit zum Gegenstand. Hier wurde der Aspekt der Entstehung der karolingischen Literatur aus dem antiken und spätantiken Reservoir, insbesondere die Frage nach der Reintegration der antik-klassischen Autoren
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Vorwort
und des antik-paganen Wissens in den karolingischen Bildungskanon diskutiert. Die karolingischen Bibliotheken als Wissensspeicher und Wissensordnungen standen in der zweiten Sektion im Vordergrund. Besprochen wurde die Rolle der karolingischen Klöster als ‚Wissensorte‘, wo in Form von handschriftlichen Artefakten Wissensobjekte produziert, konzentriert und transformiert sowie die Vorgaben der karolingischen Correctio umgesetzt wurden. Die dritte Sektion „Zeichen, Schriften, Artefakte“ galt den karolingischen Handschriften, der Schriftentwicklung am Oberrhein und den resultierenden Anhaltspunkten für Datierung und Überlieferungswege der Artefakte. In der vierten und letzten Sektion wurde nach den Trägern und Akteuren der karolingischen Klosterlandschaft gefragt und beispielsweise die Rolle von Äbten und Mönchen bei der Vermittlung von Rechtstexten, die Grenzen und Möglichkeiten der Weltgeistlichkeit bei der Umsetzung der karolingischen ‚Bildungsoffensive‘ oder der Einfluss der karolingischen Gelehrten bei der Wiederbelebung der römischen Epigraphik untersucht. Fast alle Beiträge dieser Tagung haben Eingang in den vorliegenden Sammelband gefunden. Den Referentinnen und Referenten, die sich die Mühe gemacht haben, ihren Vortrag in schriftliche Form zu bringen und damit zum Entstehen dieses Bandes beigetragen haben, sei vom Herausgeberteam herzlich gedankt. Besonderen Dank schulden wir dem SFB 933 „Materiale Textkulturen“ – und damit der Deutschen Forschungsgemeinschaft – für die großzügige Finanzierung der Tagung, die es uns ermöglichte, erste Ergebnisse der Arbeit in unserem Teilprojekt A04 einer breiteren Öffentlichkeit vorzustellen. Wir freuen uns, dass der Tagungsband nach Begutachtung durch den Vorstand des SFB 933 in die Reihe „Materiale Textkulturen“ aufgenommen werden konnte. Ein eigener Dank gebührt unseren SFB-Hilfskräften, Frau Theresa Jäckh und Lisa Horstmann, die die verschiedenen Korrekturphasen des Bandes mit großer Geduld ertragen haben.
Inhalt Stefan Weinfurter Wissenstransfer und kulturelle Innovation in karolingischer Zeit – Einleitung 3 Ulrich Eigler Überlieferung durch die Hintertür? Die Tradition klassischer lateinischer Autoren als Rekonstruktion des Wissenshintergrunds der Kirchenväter 7 Kirsten Wallenwein Subscriptiones in karolingischen Codices 23 Carmen Cardelle de Hartmann Bücher, Götter und Leser. Theodulfs Carmen 45 39 Michael Embach Die Bibliothek des Mittelalters als Wissensraum. Kanonizität und strukturelle Mobilisierung 53 Julia Becker Präsenz, Normierung und Transfer von Wissen. Lorsch als „patristische Zentralbibliothek“ 71 Sita Steckel Von Buchstaben und Geist. Pragmatische und symbolische Dimensionen der Autorensiglen (nomina auctorum) bei Hrabanus Maurus 89 Stefan Morent Musikkultur des Mittelalters im Kloster Lorsch. Aspekte der Überlieferung und Rekonstruktion 131 Tino Licht Beobachtungen zum Lorscher Skriptorium in karolingischer Zeit 145 Natalie Maag Alemannische Spuren in Lorsch 163 Martin Hellmann Stenographische Technik in der karolingischen Patrologie 175
Matthias Becher Ut monasteria … secundum ordinem regulariter vivant. Norm und Wirklichkeit in den Beziehungen zwischen Herrschern und Klöstern in der Karolingerzeit 195 Wilfried Hartmann Äbte und Mönche als Vermittler von Texten auf karolingischen Synoden 211 Steffen Patzold Correctio an der Basis. Landpfarrer und ihr Wissen im 9. Jahrhundert 227 Florian Hartmann Karolingische Gelehrte als Dichter und der Wissenstransfer am Beispiel der Epigraphik 255 Sebastian Scholz Bemerkungen zur Bildungsentwicklung im Frühen Mittelalter. Zusammenfassung 275 Abbildungsverzeichnis 291 Abkürzungsverzeichnis 292 Autorenverzeichnis 295 Handschriftenregister 299 Personenregister 303
Stefan Weinfurter
Wissenstransfer und kulturelle Innovation in karolingischer Zeit – Einleitung Lass’ Deine Stimme ertönen, Flöte, und mache süße Verse für meinen Herrn. David liebt Verse! Erhebe Dich und lass’ Verse erklingen! David liebt Dichter. Kommt alle zusammen Und singt meinem David süße Lieder. David liebt Dichter, David ist der Ruhm der Dichter. (…) David liebt es, die geheiligten Gedanken der Alten zu erkunden, Die Reichtümer der Alten kundigen Herzens zu durchstreifen. Er frohlockt, wenn er die Geheimnisse der heiligen Weisheit erforscht. (…) David sehnt sich danach, Gelehrte und kluge Köpfe um sich zu haben, Zur Zierde und zum Lob einer jeden Wissenschaft an seinem Hof, Um die Weisheit der Alten durch gelehrten Geist wiederherzustellen.“1
Diese Verse stammen von dem Franken Angilbert, dem Laienabt von St. Riquier, niedergeschrieben vor mehr als 1200 Jahren. Und sie führen uns mitten hinein in die Welt der Bildungs- und Wissensoffensive unter Karl dem Großen, der hier wie in anderen Quellen als David erscheint: „David sehnt sich danach, Gelehrte und kluge Köpfe um sich zu haben“! Um diese ungewöhnliche Bildungs- und Wissensoffensive geht es in unserer Tagung über „Karolingische Klöster. Wissenstransfer und kulturelle Innovation“.2 Damit wird ein Forschungsprojekt vorgestellt, das unter dem Titel „Wissenstransfer von der Antike ins Mittelalter. Bedingungen und Wirkungen dauerhafter Verschriftlichung am Beispiel des Klosters Lorsch“ steht und dem Heidelberger Sonderforschungsbereich 933 (Materiale Schriftkulturen) angehört. Es kann als „Scharnier“ für den kulturellen Übergang vom Altertum in die Welt Europas gelten. Mit dieser Tagung stellen wir unser Projekt zum ersten Mal umfassend zur Diskussion. Das Kloster Lorsch steht im Mittelpunkt. Aber es soll auch als Exempel zu verstehen sein für den gewaltigen Transfer antiken Wissens und antiker Wissens- und Wissenschaftsmethoden in karolingischer Zeit. Es geht um Wissensbeschaffung, Wissensträger, Wissensaufbereitung, Wissensselektion, Wissenssicherung und Wissensspeicherung. Dies alles wurde durch ein Unternehmen in Gang gesetzt, das wir mit „karolingischer Bildungsreform“ umschreiben. Darüber ist viel geschrieben worden,3 doch ebenso sind viele Fragen offen. Woher stammten die Texte, die man in den karo-
1 Angilbert, Carmina, ed. Dümmler, 360–361. 2 Tagung vom 31. Oktober bis zum 2. November 2012 im Museumszentrum Lorsch. 3 Fried 2014, 319–371; Weinfurter 2014, 178–204. © 2015, Weinfurter. Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 3.0 Lizenz.
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Stefan Weinfurter
lingischen Klöstern übernahm? Nach welchen Kriterien hat man die Vorlagen ausgeschrieben, neu geordnet oder zusammengestellt? Gab es gezielte Schwerpunktfelder der Texte und Literatur in bestimmen Klöstern und wie ist Lorsch hier einzuordnen? Wie weit ist das Bildungsprogramm in die Bevölkerung eingedrungen? Welche neuen Texte sind in jüngerer Zeit entdeckt worden und wie sind sie zu bewerten? Und nicht zuletzt: Welche Rolle spielte Karl der Große selbst bei diesen Vorgängen? Solche Fragen führen uns auch immer wieder zurück zu dem Normen- und Wertegefüge, von dem das Denken und Handeln der Menschen dieser Epoche geleitet war. In der geistigen und politischen Führungselite waren es Begriffe wie rectitudo, norma, iustitia und veritas, aber auch fides und oboedientia, mit denen die Grundpfeiler der Gesellschaftsordnung markiert wurden. Sie stehen in einer Wechselbeziehung zu den Texten, die in den Skriptorien für bedeutsam und relevant angesehen wurden. Damit ist auch ein wesentlicher methodischer Ansatz für unser Projekt angesprochen: Text- und Buchproduktion der Karolingerzeit, deren Gestaltung und Ordnungsprinzipien nur im Verbund mit der vorherrschenden Ordnungskonfiguration erschlossen werden können. Diese lenkte die Auswahl aus den Vorlagen der Antike, auch der Väterschriften, und vor allem die Auszeichnung, Gliederung und Gesamtkomposition der Abschriften. Grundsätzlich wird man zu beachten haben, dass Präzision, Korrektheit und Eindeutigkeit die Normierung der „Rechtheit“ – die norma rectitudinis – gewährleisten sollten. Dazu mussten die Methoden und das Instrumentarium der Kommunikation verfeinert werden: Sprache, Begrifflichkeit und Schrift. Nur die Eindeutigkeit der „Artefakte“ und die Sicherheit im Umgang mit ihnen – so könnte man es allgemein formulieren – garantierte ihre Wirksamkeit. Daraus entstand nicht zuletzt die eindeutigste aller Schriften, die karolingische Minuskel,4 die wir heute noch benutzen. Dass es auch ganz andere Zielsetzungen in Schrift und Sprache früher Kulturen gab, hat der Heidelberger Assyrologe Markus Hilgert gezeigt.5 Sein Beispiel sind die mesopotamischen Keilschriftzeichen. Hier kann man erkennen, dass es sich um Schriftzeichen, also „Grapheme“, handelt, die als Wortzeichen („Logogramme“) oder als Silbenzeichen („Phonogramme“) verstanden werden konnten. Darüber hinaus war es möglich, sie auch als stumme, nicht ausgesprochene Klassifikationen zu verwenden. Ein Beispiel: Das Graphem gis bedeutete als Logogramm das sumerische Wort für Holz. In der Verwendung als Silbenzeichen stand es für die Silbe /is/ und wurde im Akkadischen als „Los“ oder „Anteil“ übersetzt. Als einem Wort vorangestellter Klassifikator schließlich bekam das Zeichen im Sumerischen die Bedeutung „Keule“ oder „Waffe“. Dies macht deutlich, dass Schrift im Zweistromland völlig anders eingesetzt wurde als im Reich Karls des Großen. Mit den sumerischen und akkadischen Schrift-
4 Licht 2012, 337–346. 5 Hilgert 2009, 277–309.
Wissenstransfer und kulturelle Innovation in karolingischer Zeit
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zeichen sollten möglichst weitgefasste Wissens- und Bedeutungsfelder abgedeckt werden. Das ging sogar so weit, dass ganze Gruppen von Komposit-Graphemen entstehen konnten, bei denen eine Komponente, zum Beispiel die erste Silbe, identisch war. So bildeten sich ganze Cluster von Wissensgeflechten. Für diese Schrift und den Sinn, den sie transportierte, war ein hoher Grad von Mehrdeutigkeit und von Unbestimmtheit kennzeichnend. Mit ihr konnte Wissen gespeichert werden, das dann in ganz unterschiedlichen Kontexten abrufbar und einsetzbar und daher im Hinblick auf kulturelle Veränderungsprozesse anschlussfähig war. Markus Hilgert spricht daher vom „rhizomatischen“ oder „rhizomorphen“ Charakter dieser Schrift. Eine der frühen und bedeutendsten Hochkulturen der Menschheit hat sich demnach gerade nicht für die Eindeutigkeit der Sprache und der Schrift entschieden, sondern für „Multidimensionalität, Variabilität, Instabilität und namenlose Offenheit“ von vielfältig verflochtenen, aber nicht linearen Wissensinhalten und Wissensobjekten.6 Mit solchen Gegenüberstellungen bekommt die Eindeutigkeits-Offensive Karls des Großen ein besonders scharfes Profil im Sinne einer spezifischen Entwicklung. Wissen und Wissenschaft wurden mit dem Anspruch zusammengefügt, dass nur die Eindeutigkeit eine kollektive Ordnung der „Rechtheit“ (rectitudo) hervorzubringen vermag.7 So vermeinte man, den Weg dafür zu bereiten, das Richtige vom Falschen zu trennen, und war davon überzeugt, auf diese Weise auch die Wahrheit zu erkennen. So markiert das hier vorgestellte Projekt eine mächtige Weichenstellung in der Entwicklung der „materialen Textkulturen“ in der westlichen Zivilisation, ein Prozess, dessen „kulturelle Innovation“ kaum überschätzt werden kann.
Quellen Angilbert, Carmina, ed. Ernst Dümmler, MGH Poetae latini aevi Carolini 1, Berlin 1881 (Nachdruck 1964, 1978, 1997).
Literatur Fleckenstein (1953): Josef Fleckenstein, Die Bildungsreform Karls des Großen als Verwirklichung der Norma rectitudinis, Bigge-Ruhr. 4 Fried ( 2014): Johannes Fried, Karl der Große. Glaube und Gewalt. Eine Biographie, München. Hilgert (2009): Markus Hilgert, „Von ‚Listenwissenschaft‘ und ‚epistemischen Dingen‘. Konzeptuelle Annährungen an altorientalische Wissenspraktiken“, Journal for General Philosophy of Science 40, 277–309.
6 Ebd., 307. 7 Fleckenstein 1953.
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Stefan Weinfurter
Licht (2012): Tino Licht, „Die älteste karolingische Minuskel“, Mittellateinisches Jahrbuch 47, 337–346. Weinfurter (22014): Stefan Weinfurter, Karl der Große. Der heilige Barbar, München.
Ulrich Eigler
Überlieferung durch die Hintertür? Die Tradition klassischer lateinischer Autoren als Rekonstruktion des Wissenshintergrunds der Kirchenväter1 In der Zürcher Zentralbibliothek befindet sich ein Lorscher Codex (Ms. Car. C 131), geschrieben Mitte des 9. Jahrhunderts im jüngeren Lorscher Stil,2 welcher die circa 387 von Hieronymus angefertigte Übersetzung der Schrift des Didymus Alexandrinus De spiritu sancto unvollständig enthält.3 Schlägt ein Leser die Handschrift auf, ist er unmittelbar mit Hieronymus’ Polemik gegen den Übersetzungsversuch der Schrift des Didymus durch Ambrosius konfrontiert, mit der Hieronymus sich von ihm ohne Namensnennung im Prolog (fol. 1v) distanziert. Er kritisiert die cuiusdam libellos vor allem deswegen, weil die Übersetzung aus dem Griechischen so schlecht sei: Legi dudum de spiritu sancto cuiusdam libellos et iuxta comici sententiam ‘ex grecis bonis Latina vidi non bona’ [Ter. Eun. prol. 7–8] nihil ibi dialecticum, nihil virile atque districtum, quod lectorem vel gratis in adsensum trahat… Dydymus vero meus oculum habens sponsae de cantico canticorum [cant. 1, 14; 4 1. 9; 6, 4] et illa lumina, quae incandentes segetes sublimari Iesus praecepit [Joh. 4, 35].
Wie für viele Schriften der Kirchenväter typisch, die der sowohl traditionell als auch christlich orientierten Bildungskultur entstammen,4 werden im Prolog5 zwei verschiedene Corpora aufgerufen: spezifisch christliche beziehungsweise biblische Texte, die genauer zitiert werden durch den Verweis auf das Hohelied oder eine Äußerung Jesu sowie – meist ohne klare Herkunftsnennung – die klassische Bildungsliteratur, die hier durch ein wörtliches Zitat mit dem unbestimmten Beleg iuxta comici sententiam vertreten ist. In beiden Fällen dienen derartige Bezugnahmen, produktionsästhetisch betrachtet, gegenüber dem zeitgenössischen Publikum der Autoritätsstiftung
1 Die Ausführungen in den Abschnitten 2–4 beruhen auf früheren Arbeiten (Eigler 2003 und besonders Eigler 2013), da hier wie dort mit dem gleichen Modell zu Textüberlieferung und Wissenskultur gearbeitet wird. Die älteren Arbeiten mögen zu einer umfassenden Einordnung herangezogen werden. Längere Passagen sind besonders aus Eigler 2013 übernommen, wurden aber überarbeitet und gedanklich weiterentwickelt. 2 Bischoff 1989, 52, 134–135; Häse 2002, Nr. 270–271. 3 Zum Zusammenhang der Schrift genauer: Mülke 2008, 199–201; Gemeinhardt 2007, 444. 4 Vgl. dazu besonders Hagendahl 1958; 1967; 1983. 5 Hieronymus zitiert zum Beispiel auch im Prolog zu seinem Kommentar zu Hosia dieselbe Terenzpassage: Hieronymus, Commentariorum in Osee Prophetam, II, ed. Adriaen, 55. © 2015, Eigler. Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 3.0 Lizenz.
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Ulrich Eigler
und Legitimation, fordern und bekräftigen zugleich die Kenntnis der Herkunftstexte, die in unterschiedlichen Kontexten kanonischen Status beanspruchen dürfen, hier aber nebeneinander stehen. Der Bezug auf die klassische Bildungstradition verlangt keinen besonderen Ausweis, die biblischen Texte werden dagegen pietätvoll spezifischer zitiert. In rezeptionsästhetischer Sicht, das heißt in diachroner Perspektive, bedeutet dies allerdings, dass im Zuge des Rückgangs der traditionellen Kultur derartige Klassikerzitate zu einem vagen Memento an einen vergangenen Text- und Wissenshintergrund degenerierten, der unter Umständen überhaupt nicht mehr wahrgenommen wurde. Im vorliegenden Fall wurde dann wohl die Textgemeinschaft der Komödien des Terenz mit der Bibel nicht mehr realisiert; gleichwohl erfolgte mit dem Hieronymustext eine indirekte Überlieferung von Verweisen auf den klassischen Bildungshintergrund der Kirchenväter.6 Nachweislich ging aber auch die sprachlich anspruchsvolle Kirchenväterlektüre auf dem Kontinent zurück und erlebte bekanntlich erst Ende des achten Jahrhunderts eine signifikante Wiederbelebung – und mit ihr implizit der Bildungshintergrund, vor dem diese Texte entstanden waren.7 Dies betraf den allgemein sprachlich-grammatischen Charakter ihrer Schriften wie die in ihnen enthaltenen indirekt überlieferten Reminiszenzen an klassische Autoren wie Terenz, aber auch Vergil, Horaz oder Cicero. Es erfolgte eine Überlieferung durch die Hintertür.8 Diese ist im Falle der Zürcher Handschrift auch äusserlich zu erkennen.9 Das Deckblatt präsentiert nämlich ein ganzseitiges incipit in roter breit auseinandergeschriebener Capitalis Rustica, wie es sich beispielsweise auch zu Beginn einer zeitgleich entstandenen Lorscher Handschrift des Johannesevangeliums findet (Bamberg, Staatsbibliothek, Msc. Bibl. 93, fol. 79v).10 Auch hier wird implizit ein Merkmal spätantiker Klassikerhandschriften – man denke an den Vergilius Mediceus (fol. 61v) – tradiert, das an prominenter Stelle mit einem durchaus zu überlesenden, unter bestimmten Gegebenheiten aber auch aktualisierbaren Signal auf die Herkunft aus seiner spätantiken Bildungskultur verweist. Diese Deckblattgestaltung verband traditionelle und christliche Texte,11 bildet für Spätere ebenfalls ein Memento an die Zeit, in der christliche Literatur in der traditionellen Schriftkultur eingebettet war.
6 Grundsätzlich zur impliziten Vermittlung von Wissen in der spätantiken literarischen Kultur vgl. Eigler 1999 (hier philosophisches Wissen). 7 Brown 1975, 263. 8 Häse 2002, 5 bringt diesen Gedanken für die Lorscher Bibliothek des 8./9. Jahrhunderts ganz ähnlich zum Ausdruck: „Die heidnischen Schriften waren aber eher ein Nebenprodukt des fleißigen Sammelns der Lorscher Mönche, das auf ein Erfassen der patristischen Literatur zielte.“ 9 Zürich, Zentralbibliothek, Ms. Car. C 131, fol. Iv. 10 Bischoff 1989, 45–46. Zur Titelseite in den Lorscher Handschriften vgl. den Beitrag von Tino Licht (in diesem Band), 153–157. 11 Zu einem ähnlichen incipit (allerdings mit etwas gedrungener, schwarzer Capitalis) im Vergilius
Überlieferung durch die Hintertür?
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Wir wollen im Folgenden daher – freilich nur skizzenhaft – der Frage nachgehen, welche Rolle die impliziten Verweise auf den spätantiken Bildungshintergrund in Kirchenväter- und verwandten Handschriften12 spielten. Dessen Wahrnehmung rückte auch materiell in einer Bibliothek die als Memento innerhalb der Texte auftretenden Autoren wieder in die Nähe der Träger dieser Appelle. Wir stellen also die Frage, wie in einem Kloster, in dem man sich verstärkt – dem Zug der Zeit entsprechend – der Kirchenväterabschrift widmete, auch den Bildungsautoren der Spätantike wieder größere Bedeutung zukam, die sich auch in einer erkennbaren Bibliotheksgemeinschaft niederschlug. Ich gehe davon aus, dass die besondere Pflege der Kirchenväter die Rückkehr von antiken Autoren stimulierte, die seit dem 6. Jahrhundert in den Hintergrund traten, ja in Vergessenheit gerieten. Ich sehe in diesem Vorgang eine Möglichkeit, Wissenstransfer und kulturelle Innovation in der Karolingerzeit zu beschreiben. Dazu sollen zunächst (1.) einige Bemerkungen zum Potential der KirchenväterLiteratur als Auslöser der Beschäftigung mit ihrem spätantiken Bildungshintergrund gemacht werden. Ein zweiter Abschnitt ist der materiellen Nachbarschaft der Kirchenväterschriften, wie sie sich in einer Bibliotheksvision des Sidonius Apollinaris ausdrückte, gewidmet (2.). Es soll damit ein Modell bibliothekstechnischer und epistemischer Nähe entwickelt werden, das in karolingischen Handschriften noch spürbar ist, wenn man beispielsweise an die behandelte Hieronymus-Übersetzung denkt, das in der Bibliothek als Ganzes, wie das Beispiel Lorsch zeigt, in anderem Rahmen wiedergewonnen wird. In einem kurzen Abschnitt (3.) soll daher ein Blick auf die Bedingungen geworfen werden, welche die Kirchväterrezeption blockierten. Im vierten Abschnitt (4.) muss dagegen illustriert werden, wie denn bei Wiederaufnahme der Kirchenväterlektüre die Einlösung des ihnen inhärenten Appells vorstellbar, das Potential einlösbar, das heißt der Wissenstransfer möglich wurde. Anschließend seien unsere sehr allgemeinen Überlegungen anhand einiger Beispiele aus Lorsch durchgespielt (5.) und kurz eingeordnet.
Mediceus vgl. die Abbildung in Giardina 1986, Tav. 44. Ein ebenso gestaltetes Eingangsblatt findet sich in der Lorscher Abschrift von Hieronymus’ Kommentar In ecclesiasten. Die direkte Abschrift von einem spätantiken Exemplar ist durchaus vorstellbar. Zur Wahrscheinlichkeit, dass zahlreiche Lorscher Handschriften dieser Zeit direkt von spätantiken Vorlagen abgeschrieben wurden vgl. McKitterick 2003, 171. 12 Man muss zu den von Kirchenvätern verfassten theologischen Schriften auch historiographische Werke zur Kirchengeschichte oder Chroniken hinzuzählen, zumal sie wie im Falle des Hieronymus von diesen selbst verfasst oder wie die Weltgeschichte des Orosius durch Augustinus angeregt sind. Aus dieser Nähe resultiert das Problem der genauen Benennung christlicher Historiographie in der Spätantike, die man sinnvoll zunächst nur von heidnischer Geschichtsschreibung abgrenzt. Vgl. McKitterick 2003, 160.
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Ulrich Eigler
1 Die Kirchenväter und die Überlieferung durch die Hintertür In einer Bibliothek, die man wie im Einladungstext zur Tagung als „patristische Zentralbibliothek“ bezeichnet hat, muss die Frage von besonderer Bedeutung sein, welche Sekundäreffekte die erneute Pflege dieser Texte generierte. Was steuerte die Zusammenstellung dieser Bibliothek, die ja als kulturgeschichtliches Zeugnis einen eigenen Quellen-Wert hat? Uns interessiert dabei weniger die Frage, woher die Vorlagen für die Abschriften beziehungsweise die von außerhalb erworbenen Codices kamen,13 als die Frage, was das Interesse an der Erweiterung der Kirchenväterbestände, besonders aber an heidnischer Literatur ausgelöst haben könnte. Ich meine hier, dass man unter Umständen dem impliziten Appell der Kirchenväter folgte, der sich aus dem in der Lektüre wahrgenommenen Memento ergab oder auch aus der schieren Präsenz von Kirchenväterhandschriften.14 Im Falle der Zürcher Handschrift würde dies bedeuten, dass man Terenz gesucht und abgeschrieben hätte (wofür es leider soweit ersichtlich keinen Nachweis gibt) oder dass zumindest die Bereitschaft, sich mit dem literarischen Hintergrund der spätantiken Kirchenväter zu beschäftigen, durch ihre Präsenz in der Bibliothek gefördert wurde. Schon die materiellen Bücher enthalten einen generellen Appell, der die Berücksichtigung des ganzen spätantiken Wissensraums anmahnt. Der Sinnpflege geht die Textpflege voraus. Wie ein erratischer Block steht eine vor allem im 9. Jahrhundert gepflegte und offenbar systematisch erweiterte Bibliothek vor uns.15 Zeugnisse zur „Sinnpflege“ in Schule und Unterrichtspraxis fehlen, so dass man die evidente Dynamik der Bibliothek in ihrer Blütezeit mangels Zeugnissen wie besonderer Markierung, Kommentierung oder Verwendung nur implizit erahnen kann. Insofern ist dieses Kloster, das sich durch seine Bibliothek hervortut, auch Beispiel einer Aporie. Es tritt uns lediglich als potentiell realisierbarer, in seiner Materialität gelegentlich sehr gut greifbarer Wissensspeicher entgegen. Mit dieser Potentialität wollen wir uns im Folgenden beschäftigen,16 ist sie doch Ausdruck des durch Katalog und konkrete Codices repräsentierten „Idealbestand[s] vor allem des spätantiken Wissens“,17 ohne dass sich die „epistemische Operativität“ dieser „Arte-
13 Zu den historischen Werken, die in Lorsch im 8./9. Jahrhundert abgeschrieben wurden, stellt McKitterick 2003, 171–174 ganz ähnlich diese Frage. 14 Zu Begriffen und Formen der Sinn- und Textpflege vgl. Assmann 1987, 12–15. 15 Ausdruck dieses Zustands sind die Kataloge. Vgl. dazu Häse 2002. 16 Bischoff 1989, 61 betont zu Recht: „Denn einmal geschaffen, hat die Bibliothek sich weniger als andere erneuert, und da Lorsch nur spärliche literarische Dokumente hinterlassen hat, erhalten selbst bescheidene Spuren der späteren Generationen, die sich in den Codices niedergeschlagen haben, erhöhten Wert.“ 17 Ich folge hier dem Einladungstext.
Überlieferung durch die Hintertür?
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fakte“ präzise belegen, die Funktion des Materiellen als „Aktant“ und „Instrument“ genau trennen ließe.18 Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang die Gedichtzeilen des Hrabanus Maurus zum Stand des Klosters in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts (Hrabanus Maurus, Carmen 23, 3–6): Quicquid ab arce deus caeli direxit in orbem, Scripturae sanctae per pia verba viris Illic invenies, quicquid sapientia mundi Protulit in medium temporibus variis.19
Neben den pia verba scripturae sanctae steht quicquid sapientia mundi protulit in medium temporibus variis, was eine duale Wissenssystematik, jedoch keine Gegenüberstellung evoziert. Neben den scripturae sanctae steht das Wissen aller Zeiten, legitimiert durch den einleitend genannten Willen Gottes. Übertragen auf die Lorscher Bibliothek, könnte man die Kataloge als repräsentativ für diesen Befund ansehen: Die biblischen Schriften stehen zusammen mit einem enormen Fundus von patres, was die Bibliothek zum Zeugnis der Wiederbelebung der Autorität der patres als Garanten des Wissens aller Zeiten (quicquid sapientia mundi / Protulit in medium temporibus variis) macht.20 Dazu gehörte aber auch sprachlich-kulturelles Wissen der Antike, welches, wie auch Cassiodor betonte, die Kirchenväter auszeichnete. So ordnet er diese in der Doppelfunktion als christliche Autoren wie auch als antike Redner respektvoll in eine als ill[e] chor[us] sanctissim[us] atque facundissim[us] Patrum bezeichnete Sondergruppe ein.21 Das Attribut sanctissimus qualifiziert sie als herausragende christliche Autoren, die Bezeichnung facundissimus gesellt sie antiken Autoren wie Cicero als Schriftsteller höchster sprachlich-rhetorischer Qualität bei. Als chorus sanctissimus führen sie zur genaueren Bibellektüre:
18 Vgl. Konzept der Jahreskonferenz des SFB 933 „Wissen in materialen Textkulturen. Zum epistemischen Status von Geschriebenem in vergangenen und heutigen Gesellschaften“ (13. /14. 06. 2013): http://www.materiale-textkulturen.de/dokumente/kalender/2013-06_SFB_933_Programm_Jahrestagung_2013.pdf (Stand 10. 3. 2014): „Aktuelle Tendenzen der Wissenschaftstheorie werden nach ihrer Übertragbarkeit auf die gegenwärtige geisteswissenschaftliche Forschung befragt – unter Berücksichtigung der relevanten Fragestellungen im Hinblick auf die spezielle Problematik der epistemischen Operativität schrifttragender Artefakte: Welche Schlüsse lassen sich aus den (materiellen) Überlieferungsträgern für die Konstituierung des betrachteten wissenschaftlichen Gegenstands ziehen? Welche Rolle kommt dem Materiellen zu, das in der epistemischen Praxis sowohl Wissensobjekt und Repräsentation als auch Wissenssubjekt, Aktant und Instrument differenzieller Iteration ist?“ 19 Hrabanus Maurus, Carmina, ed. Dümmler, 187. 20 Bischoff 1989, 63 verweist bezeichnenderweise auf Alkuins Verse auf die Bibliothek von York als Vorbild. Auch Alkuin entwirft mit seinem Gedicht eine Vision umfassenden (spätantiken) Wissens, in der die Kirchenväter eine entscheidende Rolle spielen. Vgl. auch Häse 2002, 21–22. 21 Cassiodor, Institutiones, I, 17, 3, 228.
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Ulrich Eigler
Difficile quoque dictu est, quam frequenti occasione reperta Scripturas sanctas locis aptissimis potenter aperient, ut subito transiens discas, quod te neglegenter praeterisse cognosces.22
Dieselben Autoren führen als chorus facundissimus aber auch sprachlich, was ornatus, Zitate und Syntax betrifft, zu den klassischen Normautoren Vergil, Cicero et cetera, nur wird das von Cassiodor nicht weiter thematisiert. Immerhin betont er im selben Kapitel die andere Sprache der Kirchenväter, die neben Belehrung auch ein ästhetisches Vergnügen bereitet: cum quo suavissime colloquaris.23 Wie die ästhetische Qualifizierung deutlich macht, ist Cassiodor der ständige Appell bewusst, der bei der Lektüre der Kirchenväter den spätantiken Bildungsraum eröffnet. Die Kirchenväter machen eine Gemeinschaft von Autoren möglich und führen zu Autoren zurück, die nun nicht mehr unverstandene Mementos hinterlassen haben, sondern in einem gewissen Maße gesucht und den Kirchenvätern bibliothekarisch beigesellt werden. So finden sich in der Lorscher Bibliothek Klassikerhandschriften, wie diese auch im Gedicht Theodulfs De libris quos legere solebam… im unmittelbaren Anschluss an die Kirchenväter begegnen.24 Auf die Nennung von Hieronymus, Ambrosius, Isidor oder Cyprian folgt nämlich die Bemerkung: Legimus et crebro gentilia scripta sophorum Rebus, qui in variis eminuere satis.25
Wichtig ist hier wie auch in dem eingangs genannten Beispiel der Hieronymus-Handschrift in Zürich zu bemerken, dass die Referenz auf die christliche Literatur spezifisch vorgenommen wird, diejenige auf die gentilia scripta nur allgemein.26 Dies akzentuiert die nachgeordnete Bedeutung der spätantiken traditionellen Kultur, deren Präsenz aber latent anerkannt und in Erinnerung gehalten wird. Theodulf beschreibt so wenig wie Hrabanus Maurus oder Cassiodor eine bibliothekarische Anordnung der Bücher, sondern eine epistemische, die den Wissenskosmos der Zeit umschreibt und strukturiert. Dieser konvergiert mit dem der christlichen Spätantike, welchem der folgende Abschnitt gewidmet ist.
22 Cassiodor, Institutiones, I, 17, 3, 228. 23 Ebd. 24 Vgl. dazu den Beitrag von Carmen Cardelle (in diesem Band), 39–51. 25 Theodulf, Carmina, ed. Dümmler, 543. 26 Theodulf nennt danach explizit die Namen christlicher Dichter der Spätantike: Theodulf, Carmina, ed. Dümmler, 543.
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2 Kanon und Regal: Lateinische Literatur bei Sidonius Apollinaris In gleicher Weise bietet für die Spätantike Sidonius Apollinaris ein Bild von Bücherund Wissensordnung, als er im Jahre 465 die Bibliothek in der Villa des Ferreolus, des praefectus praetorio Galliarum von 451, beschreibt. In ihr befanden sich mehrere Regale, zwei werden hervorgehoben:27 sic tamen quod, qui inter matronarum cathedras codices erant, stilus his religiosus inveniebatur, qui vero per subsellia patrumfamilias, hi cothurno Latiaris eloquii nobilitabantur; licet quaepiam volumina quorumpiam auctorum servarent in causis disparibus dicendi parilitatem: nam similis scientiae viri, hinc Augustinus, hinc Varro, hinc Horatius, hinc Prudentius lectitabantur. Quos inter Adamantius Origenes Turranio Rufino interpretatus sedulo fidei nostrae lectoribus inspiciebatur; pariter et, prout singulis cordi, diversa censentes sermocinabamur...
Und es war so, dass in den Büchern (codices), die sich zwischen den Sitzen (cathedrae) der Frauen befanden, ein religiöser Stil (stilus religiosus) zu finden war, die aber, die bei den Sitzen (subsellia) der Herren standen, durch den hohen Stil lateinischer Sprache geadelt wurden (hi cothurno Latiaris eloquii nobilitabantur); [war es doch so, dass] jede Rolle beliebiger Autoren (licet quaepiam volumina), wenn auch in verschiedenen Angelegenheiten, den gleichen Stil (dicendi parilitatem) wahrte. Denn Autoren gleicher sprachlicher Gewandtheit (similis scientiae viri), Varro und Augustinus, Horaz und Prudentius wurden da gelesen. Unter diesen wurde fleissig von Lesern unseres Glaubens Origenes in der Übersetzung des Rufinus konsultiert. Obwohl unterschiedlicher Meinung, diskutierten wir in ausgeglichener Atmosphäre und wie dem Einzelnen der Sinn stand...
Hier verhält es sich freilich anders als in den bisher behandelten Fällen von Bücherordnungen. Der noch ganz in der traditionellen Kultur verhaftete Aristokrat bleibt, was die spezifisch christlichen Bücher betrifft, unklar. Sie werden allgemein als Gruppe von libri charakterisiert, die wegen ihres stilus religiosus hervorgehoben, aber auch optisch durch die Codexform identifiziert sind. Es liegt also genau die gegenteilige Situation wie in den christlichen Texten vor, die wir bisher behandelt haben. Dort wurden die biblischen Bezüge genau benannt, Reminiszenzen an die traditionelle Literatur, wie zum Beispiel an Terenz bei Hieronymus, blieben unbestimmt. Sidonius lässt dagegen die ‚spezifisch’ christliche Literatur unklar, nimmt aber die Kirchenväter bezeichnenderweise explizit in eine entgegengesetzte Gruppe hinein. Er konstruiert einen durch Metaphern und Symbole sowie literatur- und kulturgeschichtliche Semantik geprägten Gegensatz. So werden beispielsweise die Geschlechter bestimmten Regalen, aber auch Sitzen zugeordnet. Wird mit diesen Symbolen bereits eine religiöse Sphäre von einer weltlich-laikalen separiert, so erfährt dies noch eine
27 Sidonius Apollinaris, Epist. 2, 9, 4–5, ed. Loyen, 64.
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Verstärkung durch die suggestive Buchmetaphorik. Sidonius platziert die Frauen vor den codices und wählt damit für die ihnen zugeordneten Bücher eine Mediengestalt, die man mit christlicher Literatur assoziiert.28 Entsprechend werden die Männer vor volumina, das heißt Buchrollen, gesetzt, die einen materiellen Kontrast konstituieren, der für diese Zeit bereits anachronistisch ist,29 da sich der Codex als Buchform schon generell durchgesetzt hat. Sidonius inszeniert eine Differenz traditionell-lateinischer und christlicher Literatur gegenüber spezifisch christlichen Texten. Die erste Gruppe befindet sich im Regal vor den Herren. Dort stehen Autoren, die durch den gemeinsamen hohen Stil verbunden sind. Varro rangiert auf einer Stufe mit Augustinus, Prudentius mit Horaz. Prosa und poetische Sprache sind vertreten: Hi cothurno Latiaris eloquii nobilitabantur. Die im Herrenregal versammelten Bücher sind der kanonischen literarischen ‚spätantiken’ Kultur verpflichtet, die im Westen des römischen Reiches etabliert ist und die gemeinsame sprachliche Grundlage (parilitas dicendi) der Kirchenväter-Literatur wie auch der Schulautoren bildet. Ebenso gilt Prudentius wegen der steten Präsenz seines Vorbilds Horaz als christlicher Horaz und ist diesem gleichgestellt. Im Herrenregal ist also Literatur für Christen enthalten, eine Unterscheidung der Regale nach heidnischen Klassikern und christlichen Büchern greift zu kurz.30 Den Texten im hohen Stil steht im Frauenregal eine Gruppe von libri gegenüber, die einerseits wegen ihres stilus religiosus hervorgehoben, andererseits optisch durch die Codexform identifizierbar ist. Im Sprachniveau liegt denn auch, folgt man der antithetischen Ordnung, der Unterschied gegenüber den libri religiosi des Frauenregals. Diese müssen dem klassischen Kanon und seiner christlichen Transformation stilistisch und inhaltlich entgegengesetzt sein. So können wir vermuten, dass es sich um Schriften handelt, deren Inhalt in der Lektüre unmittelbar evident ist, das heißt der religiösen Praxis entspricht oder lokale Themen wie Heiligenviten bietet. Sie sind sprachlich einfach gehalten und setzen nicht den Besuch des Grammatikunterrichts beziehungsweise die Vermittlung einer elaborierten Sprache oder Wissen um Intertexte oder antike Geschichte beziehungsweise Mythologie voraus.31 Dies erklärt auch, warum Sidonius keinen alternativen Kanon formuliert, die Frage nach dem Inhalt des Frauenregals offen lässt. Die dortigen codices sind noch nicht durch eine Institution kanonisch allgemein fixiert.
28 Vgl. Jochum 1999, 52 zum Zeichencharakter von Codex und Rolle in der Unterscheidung von christlicher und heidnisch-traditioneller Literatur. 29 Roberts 1970, 57 geht davon aus, dass an der Wende vom 3. zum 4. Jahrhundert 73,95 % der heidnischen Literatur in Codexform vorlag. Allgemein vgl. Cavallo 1999, 99–133. 30 Dies macht beispielsweise Manguel 2000, 155, der den Inhalt der beiden Regale als „lateinische Klassiker für Männer, Gebetbücher für Frauen“ charakterisiert. 31 Dies ist zum Beispiel für Prudentius’ allegorische Dichtungen und allemal für Horaz der Fall, ebenso für Augustinus, der die Kenntnis von Livius, Varro, Sallust, Vergil und Cicero für das Verständnis von De civitate Dei voraussetzt und sich deshalb auch im Herrenregal mit diesen Autoren befindet.
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Aristokratische Villen besaßen wohl durchweg derartige Bibliotheken,32 die eine spätantike Reichskultur reflektieren, mit deren Schwinden aber lokale Interessen in den Vordergrund treten und das Herrenregal an Boden verliert. Der innertextliche Appell der Kirchenväter, nach den Regalgenossen zu greifen, wird nicht mehr vernommen. Zugleich aber schwindet mit der traditionellen literarischen Bildung die Kompetenz, mitunter auch der Wille, sich der Weisheit der Kirchenväter zu bedienen und sich sprachlich oder wie auch immer geartet dem impliziten Appell auszusetzen, sich die spätantike Bildungskultur als Voraussetzung dieser Texte zu vergegenwärtigen.
3 Libri religiosi oder die Verengung des Kanons Viele Umstände trugen dazu bei, dass das Herrenregal, also Kirchenväter und in der Spätantike präsente Klassiker verschwand. Zu ihnen gehören politische und soziale Veränderungen, aber auch explizite religiös motivierte Bildungsfeindlichkeit.33 Nur ein Beispiel unter vielen sei hier genannt. So fordert, um in Gallien zu bleiben, Caesarius von Arles (470–542), ein 491 ins Kloster Lérins eingetretener Aristokrat, der 502 Bischof von Arles geworden war und 512 dort ein Männerkloster gründete, in einem nur kurze Zeit nach Sidonius’ Schreiben verfassten Brief:34 Si expositiones sanctarum scripturarum eo ordine et illo eloquio, quo a sanctis patribus sunt expositae, caritatis vestrae auribus voluerimus intimare, non nisi ad paucos scolasticos cibus doctrinae poterit pervenire, reliqua vero populi multitudo ieiuna remeabit; et ideo rogo humiliter, ut contentae sint eruditae aures verba rustica aequanimiter sustinere, dummodo totus grex domini simplici et, ut ita dixerim, pedestri sermone pabulum spirituale possit accipere. Wenn wir die Auslegungen der Heiligen Schriften in dieser Ordnung und jenem Stil, in dem dies die heiligen Väter getan haben, Euren geschätzten Ohren vermitteln wollen, dann wird die Speise des Wissens nur zu wenigen, die Schulbildung genossen haben, gelangen, die übrige große Schar des Volkes wird hungrig davon gehen; und darum bitte ich demütig, dass die gebildeten Ohren sich damit zufrieden geben, gleichmütig bäurische Worte zu ertragen, solange nur die ganze Herde des Herrn die geistliche Speise in einfachem und sozusagen Fußgängerstil aufnehmen kann.
Die Schriften der Kirchenväter zeichnen sich durch einen gebildeten, nur für die aures eruditae weniger Absolventen der Grammatik-Schule (scholastici) bewältigbaren Stil (eloquium) aus. Gerade wegen ihres eloquium lehnt Caesarius, der selbst noch eine
32 Vgl. auch Vessey 2001 zur Reminiszenz an einen Bibliotheksbesuch in einer gallischen Villa in einem Brief des Rusticus an Eucherius. 33 Vgl. zur ‚Bildungsfeindlichkeit‘ Gregors des Grossen ausführlicher Eigler 2013, 411–414. Es wären auch die canones der lokalen Konzilien heranzuziehen. 34 Caesarius von Arles, Sermones, ed. Morin, 353.
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grammatisch-rhetorische Ausbildung erhalten hatte, die Orientierung an den Kirchenvätern bei der expositio der Heiligen Schrift ab. Caesarius fordert also die Lösung des Bandes, das christliche Lehre mit spätantiker Bildungstradition verknüpfte. Um im Bild des Sidonius zu bleiben, distanziert er sich zugunsten einer lokal orientierten Verkündigung von den christlichen, patristischen Autoren des bei Sidonius skizzierten Herrenregals, die einer globalen spätantiken literarischen Kultur entstammen. Beide gallischen Autoren bedienen sich derselben Dichotomie, Caesarius freilich privilegiert die Aufgabe des Kirchenväterbezugs in der kirchlichen Lehre, indem er die Aufgabe des globalen Standards spätantiker Kultur zugunsten der Verengung einer rein Bibel-orientierten Verkündigung des Wortes Gottes verlangt. Die Bedeutung der Kirchenväter gerade für die genaue Erkenntnis des Schriftsinns, wie es später Cassiodor formulierte, negiert er.
4 Alkuin und der Appell der Spätantike Wie aber kann das Potential der Kirchenväter als Vermittler spätantiken Wissens aktualisiert werden? Wie könnte sich der Weg vom Appell beziehungsweise Memento – zur Suche – zum Wissen gestalten? Was sich in Lorsch beim Aufbau der Bibliothek vollzog, entsprach der allgemeinen intellektuellen Bewegung der ‚karolingischen Renaissance’. Die Autoren des ‚Herrenregals’ kehrten ins Zentrum des kulturellen Interesses zurück, nicht zuletzt angemahnt durch die wieder aktuelle Lektüre von Hieronymus’ De viris illustribus, der Institutiones des Cassiodor aber auch von De doctrina christiana Augustins. Damit sind die erneute Etablierung eines grammatischrhetorischen Sprachstils und die Rückkehr spätantiken inhaltlichen Kulturwissens neben der etablierten lateinischen literarischen Kultur verbunden. Zugleich kehren in der aktuellen literarischen Produktion wieder intertextuelle Bezüge mit antiken und patristischen Autoren, eine neue Themenvielfalt und auch eine rudimentäre römische historische Perspektive zurück.35 Das Kirchenväterstudium führt nämlich zum sprachlichen Hintergrund dieser klassisch gebildeten Autoren. Dies verschafft Horaz, Vergil, Cicero und Terenz als Normautoren des klassischen Stils wieder ein Heimatrecht im karolingischen Wissens- und Lebenskosmos. Ständig wurden die Leser auf diese Garanten des kulturellen Hintergrunds der Kirchenväter hingewiesen, die in der Lektüre durch die Hintertür antikes Wissen zurückbrachten. So schreibt Alkuin 799 in einem an Karl den Großen gerichteten Brief:36 Legitur quendam veterum dixisse poetarum, cum de laude imperatorum Romani regni, si rite recordor, cecinisset, quales esse debuissent, dicens: Parcere subiectis et debellare superbos [Verg.
35 Eigler 2003, 271–275. 36 Alkuin, Epistolae, ed. Dümmler, 294.
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Aen. 6, 853] quem versiculum beatus Augustinus in libro de civitate Dei [Aug. civ. 1, 6] multa laude exposuit. Man liest, dass einer der alten Dichter, als er, wenn ich mich recht erinnere, zum Ruhme der Kaiser des römischen Reiches ein Gedicht verfasste, gesagt habe – er sprach nämlich darüber, wie sie sein sollten: „Schonen die Unterworfenen und bekämpfen die Hochmütigen“. Diesen Vers behandelte in großartiger Weise der Heilige Augustinus in einem Buch seines Werks De civitate Dei.
Die Beschäftigung mit dem Thema der misericordia des christlichen Königs lässt Alkuin an das Kapitel 6 des ersten Buches von Augustins De civitate Dei (Quod ne Romani quidem ita ullas ceperint civitates, ut in templis earum parcerent victis) denken, zumal Karl genau diese Schrift sehr schätzte.37 Dies führt zum berühmten Vergilzitat aus dem sechsten Aeneisbuch gleichsam durch die Hintertür. Es begegnet dieselbe Praxis, die wir bereits eingangs bei Hieronymus beobachten konnten. Der heidnische Autor wird nur ganz allgemein als quidam veterum poetarum genannt, obwohl Alkuin ihn bestens kannte.38 Damit wird Karl also mit dem Appell konfrontiert worden sein, sich mit Vergil zu beschäftigen. Zu Augustinus gesellt sich damit zunächst virtuell Vergil, als Hintergrund des Augustinus, rückt aber auch bibliothekstechnisch näher. Gleichsam durch den Kirchenvater legitimiert erhält nun Vergil wieder Heimatrecht in derselben Bibliothek. Sidonius hatte Varro und Augustinus’ De civitate in ein Regal gestellt, um die Nähe antiker Bildung zu den Kirchenvätern zu illustrieren, bei Alkuin wird das imaginäre Regal mit dem quidam veterum poetarum bestückt, von dem aber mittlerweile jeder wieder weiß, wer er ist. Dies gilt auch für die Gemeinschaft verschiedener Autoren im Codex. Hadoard stellte zum Beispiel in Corbie Florilegien zusammen aus Augustinus und Cicero.39 Nebeneinander und in derselben Schrift, der karolingischen Minuskel, werden die römischen Autoren mit den christlichen abgeschrieben, ja in Miscellanhandschriften zusammengebunden. Auch kodikologisch wird die Wiedergewinnung der Regalgemeinschaft dokumentiert, wenn die Regula Benedicti in derselben karolingischen Minuskel abgeschrieben wird wie die Aeneis Vergils.
37 Einhard vermerkt in der Vita Caroli Magni: Legebantur ei [sc. Carolo] historiae et antiquorum res gestae. Delectabatur et libris sancti Augustini, praecipueque his qui de civitate Dei praetitulati sunt. Einhard, Vita Caroli Magni, ed. Holder-Egger, 29. 38 In der von einem unbekannten Verfasser in den 20er Jahren des 9. Jahrhunderts geschriebenen Vita Alcuini heisst es von Alkuin, er sei Virgilii amplius quam psalmorum amator gewesen. Heinzer 2012, 95 weist darauf hin, dass der Vitenschreiber „sich der Zäsur, die der karolingische Reformabt markiert, ... bewusst“ gewesen sei. Vgl. auch Berschin 1991, 176–177. 39 Bischoff 1975, 71.
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5 Lorsch und die Rekonstruktion des Wissenshintergrunds der Kirchenväter Die enge Beziehung zum Hof förderte maßgeblich die Entstehung der Lorscher Bibliothek unter Adalung, Richbod und Samuel. Zweifellos hat die allgemeine geistige Entwicklung einen großen Einfluss ausgeübt. Allmählich finden auch die bei Sidonius stilistisch nebeneinandergestellten Autoren wieder zu einer Gemeinschaft.40 Wir haben uns allerdings eher mit dem Appell der Codices selber beschäftigt, die einerseits durch ihre pure Präsenz erst Lücken sichtbar werden und Buchwünsche entstehen lassen, andererseits einen impliziten Appell enthalten, der seinerseits auf Autoren ‚hinter’ den gerade gelesenen deutet und gleichsam auf diese Weise einen Suchauftrag erteilt. Die daraus entstehende Eigendynamik ist auch für die Lorscher Bibliothek denkbar. Dass zum Beispiel die Anwesenheit eines Vergilcodex weitere Abschriften beziehungsweise Erwerbungen provoziert, wie den Kommentar des Fulgentius,41 ist denkbar, auch wenn die Motive rein bibliothekarischer Natur und nicht durch das Bedürfnis einer Schule bedingt sind. Auch vorhandene Kirchenväter provozieren den Erwerb weiterer Handschriften derselben Autoren, wenn man zum Beispiel die Excerptio Eugippii ex libris sancti Augustinis zur Orientierung besaß.42 Man sah Lücken und konnte sie zu füllen versuchen, bibliothekarische und epistemische Ordnung gehen hier ineinander über. Für die Einlösung textinterner Appelle bewegt man sich natürlich auf noch unsichererem Boden. Selten sind die Hinweise auf klassische Autoren besonders gekennzeichnet wie zum Beispiel in der Handschrift von Augustinus’ De civitate Dei [Aug. civ. 19, 1] (Rom, BAV, Pal. lat. 200, fol. 36r). Augustinus setzt sich dort mit De finibus bonorum et malorum auseinander. Am Rand der Handschrift findet sich die Kapitelüberschrift, die evident auf die hinter Augustinus’ Erörterungen stehende Tradition und insbesondere auf Varro verweist: Quod in quaestione, quam de finibus bonorum et malorum philosophica disputatio ventilavit, ducentas octoginta et octo sectas esse posse Varro perspexerit. Explizit wird damit auf Varro, den Regalgenossen des Augustinus bei Sidonius, verwiesen, dieses Mal geht es um seine (verlorene) Schrift Liber de philosophia. Im Akt der Abschrift wird in Lorsch diese Gemeinschaft der Bildung wiederhergestellt und in Erinnerung gerufen. Zumindest wird der spätantike Hinter-
40 Auch Origenes begegnet wieder in der Übersetzung des Rufinus wie zum Beispiel die Homiliae in librum Iudicum aus dem zweiten Viertel des 9. Jahrhunderts (Bamberg, Staatsbibliothek, Msc. Bibl. 37). 41 Der Codex Rom, BAV, Pal. lat. 1579 umfasst am Anfang die aus dem 9. Jahrhundert stammende Abschrift der Expositio Virgilianae continentiae secundum philosophos moralis des Fulgentius Planciades (ca. 500). 42 Vgl. zum Eintrag im Katalog Häse 2002, 60.
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grund des Augustinus hervorgehoben und konnte bei entsprechender Motivation wie beim Vergilzitat in Alkuins Brief aktualisiert werden. Der Appell, der von der Kirchenväter-Lektüre ausgeht, ihrer alten ‚Regalgenossen’ vielleicht auch nur im Sinne einer allgemeinen Akzeptanz zu gedenken, muss für den gründlichen Leser oft deutlich spürbar gewesen sein. Der in der eingangs besprochenen Zürcher Hieronymus-Handschrift zu lesende implizite Verweis auf Terenz (iuxta comici sententiam) konnte noch überlesen werden, die massive Intertextualität, die aber zum Beispiel die Briefe des Hieronymus auszeichnet, drängte die Regalgenossen geradezu auf, insbesondere, wenn die Auflösung des Zitats für das Verständnis des Briefes unabdingbar war. Las man zum Beispiel in der ebenfalls im jüngeren Stil verfassten Lorscher Handschrift der Briefe des Hieronymus seine epistola 2 (Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Aug. perg. 105), so wurde man am pointiert formulierten Ende mit der kunstvollen Verwendung einer Aeneis-Passage durch Hieronymus konfrontiert: nunc me novis diabolus retibus ligat, nunc nova impedimenta proponens‚ maria undique et undique pontum [Verg. Aen. 5, 9; vgl. aber auch 3, 193], nunc in medio constitutus elemento nec regredi volo nec progredi possum.43 Hieronymus veranschaulicht seine innere Zwangslage durch den Vergleich mit Aeneas, der sich auf seinen Irrfahrten zwischen Italien und Africa befindet. Das tiefere Verständnis für Hieronymus in einer Entscheidungssituation als alter Aeneas ergibt sich erst, ist man mit Vergils Aeneis vertraut. Zugleich gibt derjenige, der bei der Lektüre der Handschrift an Vergil denkt, diesem Heimatrecht im Kreise des Kirchenvaters. Der Wunsch nach dessen Verständnis provoziert einen Lernprozess, dessen Ergebnis auch durch eine Vergilhandschrift repräsentiert sein kann. Ein weiterer Weg zum spätantiken Hintergrund eröffnete sich bei der Lektüre von kirchenhistorischen Schriften. Als abschließendes Beispiel sei hier der Lorscher Orosius (Rom, BAV, Pal. lat. 829) aus dem 8. / 9. Jahrhundert genannt, der auf den foll. 1r–113r den Beginn der Historia adversum paganos (Oros. hist. 1–4, 1, 1) enthielt und, soweit seine Darstellung die Anfänge Roms betraf, mit Livius- und besonders Aeneiszitaten durchdrungen war.44 Der Raub der Sabinerinnen wird zum Beispiel mit Hilfe Vergils kurz abgehandelt (Oros. hist. 2, 4, 2): Cuius regnum continuo Romulus parricidio imbuit, parique successu crudelitatis, sine more raptas Sabinas’ [Verg. Aen. 8, 635], inprobis nuptiis confoederatas maritorum et parentum cruore dotavit.45
43 Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Aug. perg. 105, fol. 41v (=Hieronymus, Epistola 2,4). 44 Eigler 2003, 216–224. 45 Orosius, Historia, ed. Zangemeister, 88.
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Dass diese Form der Aneignung, die bereits auch spätantike Modelle besitzt, in Lorsch reflektiert wurde, belegt die praefatio der Defensio artis medicinae im Lorscher Arzneibuch:46 Quod ipsi non ad dei sed ad suum favorem fecere, vos ad dei gloriam omnipotentis agite. Itaque quando in scriptis eorum aliquid utile sumitur, quasi aurum, quod sepe contigit, in sterquilinio repperitur, sicut quidam vir dei interrogatus, cur gentilem legeret, ostendit dicens: aurum in sterquilinio quaero [Phaedr. 3, 12].
Der Verfasser rechtfertigt damit seine Verwendung (spätantiken) Wissens, das auch in der christlichen Wissenswelt seinen Platz haben sollte, wobei er klar zwischen erlaubtem, edlem Wissen (aurum) und wertlosem (sterquilinium) unterscheidet. Durch die Hintertür tritt allerdings nicht nur das Wissen, sondern mit dem Fabeldichter Phaedrus auch derjenige antike Autor ein, der diese Sentenz geprägt hat (Phaedr. 3, 12 Pullus ad Margaritam), wobei aber das Zitat durch Verweis auf die vermittelnde Instanz eines vir quidam dei legitimiert wird. So wird aber die Möglichkeit eröffnet, das Memento in seiner Komplexität zu begreifen und eventuell einmal den ganzen Kontext bei Phaedrus nachzusehen. Das Zitat wird vom Memento zum impliziten Appell, diesen zu suchen: In sterculino pullus gallinacius dum quaerit escam margaritam repperit. „Iaces indigno quanta res“ inquit „loco! Hoc si quis pretii cupidus uidisset tui, olim redisses ad splendorem pristinum. Ego quod te inueni, potior cui multo est cibus, nec tibi prodesse nec mihi quicquam potest.“ Hoc illis narro qui me non intellegunt.47
Rückblickend muss man allerdings bemerken, dass es in Lorsch vor allem die Kirchenväter waren, aus denen man Perlen beziehungsweise Gold fischte. Sie bildeten keinesfalls eine Textumgebung, die sich mit Mist vergleichen ließe. Als viri Dei per se sanktionierten und empfahlen sie alles in ihnen enthaltene Wissen. Man musste in Lorsch Anfang des 9. Jahrhunderts nur die Regale entlang gehen und ihre Handschriften aufschlagen. Bibliothekarische und epistemische Ordnung spielten einander in die Hände, repräsentiert in der bloßen Materialität der Codices oder im Rahmen des impliziten Mementos. In diesem Prozess zeigt sich eine Wissens-Ordnung, die diejenige von Katalogen ergänzt, dieser unter Umständen überlegen ist und dieser auch konkurrierend gegenübersteht.
46 Stoll 1992, 48. 47 Phaedrus, Fabeln, ed. Brenot, 45.
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Kirsten Wallenwein
Subscriptiones in karolingischen Codices Hört man den Begriff subscriptio, öffnet sich ein weites Bedeutungsspektrum. Man versteht „Unterschrift“ und denkt an Unterschriften in Urkunden, die sich in der Signums- und Rekognitionszeile am Ende des rechtlichen Dokuments finden; vielleicht erinnert man sich aber auch an Unterschriften und Vermerke von Schreibern, die diese nach getaner Arbeit unter den von ihnen abgeschriebenen Codex setzten und den Leser nicht selten zur Fürbitte aufrufen. Für letztere findet man die Bezeichnung „Kolophon“. Und eine begriffliche Abgrenzung ist in der Tat notwendig. Wer nicht schreiben kann, glaubt, das sei keine Arbeit: Drei Finger schreiben, zwei Augen sehen, eine Zunge spricht und der ganze Körper plagt sich ab. Und alle Arbeit hat ein Ende, aber der Lohn dafür ist unendlich. So lieb, wie dem Segelnden der beste Hafen, so lieb ist dem Schreiber die letzte Zeile. Ich, der Kleriker Jonathan, habe mich mit dem Beistand des Herrn bemüht, diesen Codex abzuschreiben. Bete für mich, den Schreiber, wenn du Gott zum Beschützer hast. Amen.1
Dieses Beispiel eines Kolophons findet sich im Pal. lat. 46, der sich einst im Besitz der Lorscher Klosterbibliothek befand. Der Schreiber thematisiert die Anstrengungen, die die Abschrift eines Codex mit sich bringt, nennt sich beim Namen und bittet um ein Gebet. Derartige Äußerungen von Schreibern sind hier nicht gemeint; in diesem Beitrag werden unter subscriptiones allein Vermerke der Textkontrolle in Handschriften verstanden. An ihnen soll das Nachwirken der antiken Qualitätssicherung und des antiken Schriftwesens in der karolingischen Überlieferung sichtbar gemacht werden. Subscriptiones sind als Praxis der Spätantike und des Frühmittelalters der Forschung seit längerer Zeit bekannt. In ihnen wird über eine Kontrolle des Textes Rechenschaft abgelegt, wobei idealerweise Ort, Datum und Namen desjenigen, der die Überprüfung durchgeführt hat, genannt sind. Liegen sie im Original vor, liefern sie Anhaltspunkte zum Datieren und Lokalisieren der Handschriften und sind hervorragende Zeugnisse für die Schriftentwicklung. Datierte Handschriften gelten als „Rückgrat“, „Lebenselixier“ und „Meilensteine“ der Paläographie.2
1 Rom, BAV, Pal. lat. 46, fol. 137v: Qui scribere nescit, nullum putat se esse laborem. Tres digiti scribunt, duo oculi vident, una lingua loquitur, totum corpus laborat. Et omnis labor finem habet et praemium eius non habet finem. Quam dulcius [sic] est naviganti optimus portus, ita sriptori [sic] novissimus versus. Ego Ionatham clericus domino opitulante hunc codicem scribere studui. Ora pro me scriptorem, si deum habeas protectorem. Amen. Vgl. auch Colophons III, 11984. 2 CLA VII, VI: „Since dated manuscripts are the backbone of palaeography“; CLA VIII, VIII: „Dated and placed manuscripts are the life-blood of palaeography“ und CLA XI, IX: „Dated manuscripts are of prime interest to the palaeographer. […] milestone in palaeography“. © 2015, Wallenwein. Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 3.0 Lizenz.
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Zu den ältesten mit Datierung und Lokalisierung versehenen subscriptiones, die uns im Original vorliegen und in der sich der Korrektor namentlich nennt, zählen die des Victor von Capua (541–554).3 Sie finden sich im unzial geschriebenen „VictorCodex“ (CLA VIII, 1196) aus Süditalien, der unter der Signatur Bonifatianus I in der Hochschul- und Landesbibliothek von Fulda liegt. Victor, der sich als „Diener Christi und durch dessen Gnade Bischof von Capua“ bezeichnet, gibt an, dass er in der basilica Constantiniana am 13. Tag vor den Kalenden des Mai in der neunten Indiktion fünf Jahre nach dem Konsulat des vir clarissimus und consul Basilius die Handschrift Korrektur gelesen habe.4 Der Eintrag kann somit auf den 19. April 546 datiert werden, und der topographische Hinweis führt ebenso wie Victors Episkopat nach Capua. Nach einer zweiten Durchsicht vermerkt Victor unter dem zitierten Kontrollvermerk, dass er den Codex in der zehnten Indiktion ein weiteres Mal durchgesehen habe – und zwar am 12. April 547.5 Obwohl im ebengenannten Beispiel die subscriptiones durch den Einsatz von Reagenzien schwer lesbar geworden sind,6 handelt es sich um einen überlieferungsgeschichtlichen Glücksfall, denn in den meisten Fällen sind die Originale verloren gegangen, und erst die karolingischen Abschriften tragen die subscriptiones weiter. Ein prominentes Beispiel ist die subscriptio des Securus Melior Felix. Der datierte Kontrollvermerk findet sich nach dem ersten Buch von Martianus Capellas enzyklopädischen Lehrwerk De nuptiis Philologiae et Mercurii. Wie in spätantiken subscriptiones üblich, erfolgt die Datierung nach römischem Kalender und Konsulat. Die Mehrzahl der Handschriften hat consulatu Paulini viri clarissimi sub die nonarum martiarum und bietet somit eine auf den Tag genaue Datierung: den 7. März unter dem Konsulat des vir clarissimus Paulinus. Die Schwierigkeit liegt in der Ermittlung des Jahres, denn es kommen insgesamt vier verschiedene Konsuln namens Paulinus in Betracht und zwei von ihnen wiederum in die engere Auswahl. Die subscriptio nennt nur einen Konsul und muss folglich zu einer Zeit abgefasst worden sein, in der es im Westen üblich geworden war, selbst wenn es einen östlichen Amtskollegen gab, diesen nicht mehr in der Datierung anzuführen. Denkbar ist dies erst nach 476 und so kommen nur die Konsuln der Jahre 498 und 534
3 Zu Victor von Capua, vgl. PCBE II, 2, 2280–2281. 4 Fulda, Hochschul- und Landesbibliothek, Bonifatianus I, fol. 502v: Victor, famulus Christi et eius gratia episcopus Capuae, legi apud basilicam Constantinianam die XIII kalendas maias, indictione nona, quinquiens post consulatum Basilii viri clarissimi consulis. Zitiert nach Steffens 21929, Taf. 21. (Fl.) Anicius Faustus Albinus Basilius war 541 consul ordinarius, vgl. PLRE III A, 174–175. 5 Fulda, Hochschul- und Landesbibliothek, Bonifatianus I, fol. 502v: Iterato legi indictione X, die pridie iduum aprilium. Zitiert nach Steffens 21929, Taf. 21. Eine weitere subscriptio findet sich auf fol. 433r im Anschluss an die Apostelgeschichte. Zu den subscriptiones, vgl. auch Colophons V, 18407 sowie die Miszelle von Corssen 1909, 175–177. 6 Hausmann 1992, 6. Die subscriptio auf fol. 433r lässt sich gut lesen, während die beiden subscriptiones auf fol. 502v nicht mehr zu erkennen sind.
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in Frage.7 Bereits Otto Jahn wies in seiner grundlegenden Studie „Über die Subscriptionen in den Handschriften römischer Classiker“ von 1851 auf die Möglichkeit zweier Datierungen – 498 und 535 (sic) – hin. Er entschied sich, vor allem weil in der nach 527 entstandenen subscriptio zu Horaz ein Felix, orator urbis Romae belegt ist, für die spätere von beiden.8 Cameron dagegen votiert wegen des fehlenden Zusatzes iunior für 498.9 Eine Gegenüberstellung der beiden Standpunkte findet sich bei Shanzer, die sich Jahns Entscheidung anschließt und dessen Argumentation bekräftigt, indem sie nochmals ausdrücklich auf die Übereinstimmung dreier Elemente in den beiden subscriptiones hinweist: Name, Ort und Amt.10 Auch wenn sich die Frage nach der exakten Datierung in diesem Fall nicht mit letzter Sicherheit beantworten lässt, sprechen mehrere Punkte für das Jahr 534: Erstens die Übereinstimmungen mit und die zeitliche Nähe zur Horaz-subscriptio, zweitens die Möglichkeit, dass der Verfasser den Zusatz iunior nicht als notwendig erachtete und drittens gibt es Parallelfälle, die genau dies belegen, da in ihnen ein Zusatz iunior möglich, wenn nicht mit Cameron zu erwarten gewesen wäre: „There can be no doubt that the consuls of 480 [Caecina Decius Maximus Basilius] and 541 [Anicius Faustus Albinus Basilius] were both styled iunior in the western documents“.11 In der oben zitierten subscriptio des Victor von Capua wird nach dem Konsulat des letzten Jahreskonsuls – ohne Verwechslungsgefahr und ohne iunior – datiert. Dem könnte man kritisch entgegnen, dass die Datierung post consulatum (zumal quinquies) und die zusätzliche Angabe der Indiktion diesen Zusatz nicht erfordern würden, die letzten Zweifel wären dadurch nicht beseitigt. So kann das Vorkommen von iunior zwar eine zusätzliche Datierungssicherheit gewähren, das Fehlen hin-
7 Cameron 1984, 160–161 und ders. 1986, 320. 8 Jahn 1851, 353–354. Securus Melior Felix subskribierte Horaz als „Zweitkorrektor“: Vettius Agorius Basilius Mavortius, vir clarissimus et inlustris, excomite domesticorum, exconsule ordinario legi et, ut potui, emendavi conferente mihi magistro Felice, oratore urbis Romae. Diese subscriptio findet sich in den Handschriften: Brüssel, Bibliothèque royale de Belgique, Ms. 9776–9778, fol. 68v (saec. XI); Gotha, Forschungsbibliothek, Chart. B 61, fol. 204r (saec. XV); Hamburg, Staats- und Universitätsbibliothek, Cod. 53b in scrin., fol. 1v (saec. IX ex., foll. 1r–2v gehörten einst zu Paris, Bibliothèque nationale de France, Lat. 7900A); Leiden, Universiteitsbibliotheek, B. P. L. 28, fol. 77r (saec. X2); Oxford, Queen‘s College, Ms. 202, fol. 88v (saec. XII in.); Paris, Bibliothèque nationale de France, Lat. 7972, fol. 83v (saec. X); Paris, Bibliothèque nationale de France, Lat. 8216, fol. 73r (saec. XII2); Turin, Biblioteca nazionale universitaria, I.VI.2, fol. 30r (saec. XI/XII). Es gibt Hinweise, dass sie, wenn auch als Beigabe, einst im Cheltenhamensis Phillippsianus 16392 membranaceus (heute Cologny, Fondation Martin Bodmer, 88) enthalten war. Vgl. Keller 21899, XXVI und LXVII. Des Weiteren wurde vermutet, dass die 17. Epode samt Korrekturvermerk von St. Gallen, Kantonsbibliothek, VadSlg 312 einem Subskriptionensammler zum Opfer gefallen sein könnte. Vgl. Keller 1879, 416; ders. 21899, XL; ihm folgend Bick 1906, 4. 9 Cameron 1986, 320–324. 10 Shanzer 1986, 8–12. 11 Cameron 1984, 165 und CLRE, 44.
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gegen nicht, wie die Herausgeber der Consuls of the Later Roman Empire einräumen: „All inscriptions by Basilius, without iun., have been listed under this year; but it is possible that the omission of iun. is a scribal error in some cases, in which event 480 or 541 would be possible“.12 Warum sollte das nicht auch im Falle Paulinus gelten? Und in der Tat lässt sich ein Beispiel anführen: Caesarius von Arles unterschreibt seine Statuta sanctarum virginum und datiert sub die X kalendas iulii Paulino consule tempore.13 Im Vorwort seiner Nonnenregel nennt er sich episcopus. Dies ist erst unter dem Konsulat von Paulinus iunior, 534, möglich. Nicht nur die früheste Überlieferung dieser Textkontrolle, sondern auch die früheste Überlieferung von De nuptiis Philologiae et Mercurii überhaupt stammt aus dem 9. Jahrhundert. Daher hat die subscriptio des Securus Melior Felix seit jeher das Interesse der Forschung auf sich gezogen und wurde zur approximativen Datierung des spätantiken Werks herangezogen. Claudio Leonardi hat 1960 in einem mehrteiligen Beitrag in der Zeitschrift Aevum eine Liste von 241 Handschriften aufgestellt.14 27 von ihnen überliefern die subscriptio15 – darunter elf Handschriften aus dem 9. Jahrhundert.16 Dass Lorsch in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts im Besitz eines Martianus Capella-Exemplars war, wissen wir aus einem der im Pal. lat. 1877 enthaltenen Lorscher Bibliothekskataloge. Auf fol. 2v findet sich unter den Nachträgen der Eintrag Liber Felicis Capellae. Bernhard Bischoff und Angelika Häse identifizieren „das Buch des Felix Capella“ mit der Leidener Handschrift, die in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts in Lorsch entstanden ist.17 Leonardis Vermutung, dass die Handschrift im Lorscher Skriptorium entstanden sei,18 konnte durch die paläographische Analyse Bischoffs über die Identifizierung
12 CLRE, 461. 13 Caesarius von Arles, Statuta sanctarum virginum, ed. de Vogüé/Courreau, c. 73, 272. 14 Die Handschriftenliste findet sich bei Leonardi 1960, 1–99 und 411–524. Diesen beiden Teilen ging 1959 ein Beitrag in der gleichen Zeitschrift voraus, in dem Leonardi 23 Handschriften angibt, die die subscriptio überliefern, vgl. ders. 1959, 446, Anm. 8. Dieser Auflistung fügt er selbst Rom, BAV, Barb. lat. 130, fol. 9r hinzu; vgl. ders. 1960, 458. 15 Jean Préaux hat die Auflistung der subscriptiones um drei auf 27 erhöht und den Kontrollvermerk des Securus Melior Felix anhand von zwölf Handschriften kritisch ediert; vgl. Préaux 1975, 103–104 und 1978, 77–78. 16 Bamberg, Staatsbibliothek, Class. 39 (M. V. 16), fol. 19r (saec. IX3/4, Umkreis von Fleury?); Brüssel, Bibliothèque royale de Belgique, Ms. 9565–9566, fol. 28r (saec. IX ex., Bodenseegebiet); Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Aug. perg. 73, fol. 9v (saec. IX2/4, Lorsch?); Leiden, Universiteitsbibliotheek, B. P. L. 36, fol. 11v (saec. IX ex., Lorsch); Leiden, Universiteitsbibliotheek, B. P. L. 87, foll. 15r–v (saec. IX ex., Ostfrankreich?); London, British Library, Harley 2685, fol. 44r (saec. IX ex., Ostfrankreich?); München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 14729, fol. 83v (saec. IX ex., Bodenseegebiet: St. Gallen?); Orléans, Bibliothèque municipale, Ms. 191 (168), p. 272 (saec. IX4/4); Paris, Bibliothèque nationale de France, Lat. 8670, fol. 11r (saec. IX2, Corbie); Rom, BAV, Reg. lat. 1535, fol. 10v (saec. IX3/4, Auxerre); Rom, BAV, Reg. lat. 1987, fol. 12v (saec. IX2/4, Nordfrankreich?). 17 Leiden, Universiteitsbibliotheek, B. P. L. 36. Bischoff 21989, 54; Häse 2002, 179. 18 Leonardi 1960, 61. Korrekturen hd/hl: foll. 21r, 49v etc.
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Lorscher Hände und das Aufspüren des Verweispaares hd/hl (hic deest/hic lege), das als Lorscher Ohrmarke gilt,19 bestätigt werden.20 Im Text wird die Auslassung durch ein hic deest – „hier fehlt“ – kenntlich gemacht, am unteren Rand wird die fehlende Textpartie nach hic lege – „hier lies“ – ergänzt. Bischoff hielt bereits 1989 die Entstehung einer weiteren Handschrift im Lorscher Skriptorium für denkbar. Der heute in der Badischen Landesbibliothek in Karlsruhe liegende Augiensis LXXIII wird von ihm als wichtigster Textzeuge charakterisiert.21 Auf fol. 9v findet sich die subscriptio von Securus Melior Felix:22 Securus Melior Felix, vir spectabilis, comes consistorianus, rethor urbis Romae ex mendosissimis exemplaribus emendabam contralegente (ms. contralegenae)23 Deuterio scolastico, discipulo meo Romae ad portam Capenam consulatu (ms. consist) Paulini viri clarissimi sub nonarum martiarum Christo adiuvante. Ich, Securus Melior Felix, vir spectabilis, Mitglied des kaiserlichen consistorium und Rhetor der Stadt Rom habe aus höchst fehlerhaften Vorlagen heraus verbessert, während mein Schüler, der gelehrte Deuterius, gegenlas. In Rom bei der Porta Capena während des Konsulats des vir clarissimus Paulinus am Tag der Nonen des März, mit Christi Hilfe.
Nahezu alles, was wir über Securus Melior Felix wissen, wurde uns durch diese subscriptio überliefert. Dass er als Mitglied des kaiserlichen Staatsrates der zweiten senatorischen Rangstufe angehörte und Redner der Stadt Rom war, teilt der Subskribent uns ebenso mit, wie den Ort und das Datum der Korrektur, die er nicht alleine zu verantworten hatte. So bieten subscriptiones, wenn sich in ihnen der Korrektor mit seiner Ämterlaufbahn nennt, Informationen, die für die Personengeschichte von Bedeutung sind. Die Kopisten – vielleicht beeindruckt von der Aufzählung der prestigeträchtigen Ämter24 – tradieren die subscriptiones. Durch das in ihnen beglaubigte Vergleichen mit und das Verbessern nach der Vorlage erfolgte eine gewisse Qualitätssicherung.25 Derjenige, dem ein subskribiertes Exemplar vorlag, konnte sich sicher sein, eine Handschrift, die bestimmten Maßstäben genügte oder zu genügen versuchte, vor sich zu haben. Vermutlich auch aus diesem Beweggrund und nicht nur aus bloßem Unver-
19 Wallace M. Lindsay machte die Lorscher Ohrmarke als „best criterion of Lorsch products“ ausfindig, vgl. Lindsay 1924, 43–44; demgegenüber kritisch Bischoff 21989, 30. 20 Bischoff 21989, 54. 21 Bischoff 21989, 83–84, Anm. 49a. 22 Die kopialüberlieferte subscriptio der Handschrift Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Aug. perg. 73 (saec. IX2/4, Lorsch?) lässt sich online einsehen unter: http://digital.blb-karlsruhe.de/blbhs/ content/pageview/208081. 23 Bereits Licht sprach sich in Anlehnung an ThLL IV, 765 für die Lesart contralegente aus: vgl. ders. 2006, 115, Anm. 20. Vgl. dagegen contra legente in der Edition bei Préaux 1975, 104. 24 Cameron 2011, 492. 25 Licht 2006, 114.
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ständnis ist die Übernahme dieser spätantiken und frühmittelalterlichen Textzeugen in spätere Abschriften zu erklären. Der umgekehrte Fall lässt sich ebenso beobachten: Der um 800 in Lorsch entstandene Pal. lat. 814 hat auf fol. 145r eine bis zur Unkenntlichkeit radierte subscriptio – so Bischoff.26 Eigentlich lässt sich nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob es sich um den Eintrag eines Korrektors oder Schreibers handelt. Der ursprünglich achtzeilige Vermerk findet sich am Ende der lateinischen Übersetzung der Antiquitates Iudaicae des Flavius Iosephus. Lediglich die abschließenden Zierzeichen lassen sich noch gut erkennen. Eine subscriptio zu den „Jüdischen Altertümern“ ist bisher nicht bekannt.27 Zu einem anderen Werk von Flavius Iosephus, das ebenfalls vom Griechischen ins Lateinische übertragen wurde, ist eine metrische subscriptio überliefert, die gleich zwei Handschriften aus dem 9. Jahrhundert tradieren.28 Nach dem Ende des fünften Buches des Bellum Iudaicum subskribierte der Korrektor, der sich im letzten Vers selbst nennt (tuus famulus Cyprianus):
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Ecce pater dulcis, ut potui, tua iussa peregi Plus prompto vellę plane quam posse valente. Quodque tuis sanctis fidens orationibus actum Quodcumque fuerit placitum in corde receptum, Omne hic offensum mihi deprecor esse donandum. Denique percurrens sine auctoreque retractans, Correxi, ut valui, distinguendoque notavi. Ambigua quęque virgis signata reliqui. Monstrandas [et] causas breviter in limine promsi. Sit, rogo, iste labor placidus, sit corde receptus Sit tuus hic animus gratus, sit semper amoenus Ut fiat ethereo satius et munere plenus, Quod promas, Stephane sacer, obtima dindima letus, Quodque tuus famulus Cyprianus gaudeat actus. Finiunt versi feliciter.
2 prompto] promto (S) ǁ vellę] vellae (A) ǁ plane] planae (A) 3 Quodque] Quoque (A) 7 correxi] corexi korrigiert zu conrexi (A) ǁ distinguendoque] distingendo korrigiert zu distinguendo (A, S) 8 quęque] quaequę (A) 10 placidus] placi ds korrigiert zu placi dus (S) 11 amoenus] amenus korrigiert zu amoenus (S)
26 Bischoff 21989, 32. Den radierten Vermerk von Rom, BAV, Pal. lat. 814, fol. 145r findet man in digitalisierter Form unter: www.bibliotheca-laureshamensis-digital.de/bav/bav_pal_lat_814/0299. 27 Im Papyruscodex Mailand, Biblioteca Ambrosiana, Cimelio 1 (saec. VI, Norditalien: Mailand?) findet sich lediglich zweimal der Vermerk contuli in Verbindung mit der Lagensignatur: vgl. Reifferscheid 1872–1873, 3, einmal auf p. 56; vgl. CLA III, 304. 28 Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Aug. perg. 82, fol. 134v (saec. IX in., Sigle: A); St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 626, p. 312 (saec. IX in., Sigle: S). Letztere ist online zugänglich unter: http:// www.e-codices.unifr.ch/de/csg/0626/312.
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Abb. 1: Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Aug. perg. 82, fol. 134v (Ausschnitt).
Sieh, gütiger Vater, ich habe deine Befehle, so gut ich konnte, ausgeführt, eher freilich voll guter Absicht, als im Stande dazu. Was immer vertrauend auf deine heiligen Gebete von mir bewirkt wurde, und welches Urteil auch immer im Herzen gefasst werden wird, ich bitte, dass mir alle Fehler angelastet werden – schließlich bin ich ohne Vorlage den Text durchgegangen und habe ihn mir nochmals vorgenommen. Ich habe [ihn], wie ich es vermochte, korrigiert, gegliedert, zweideutige Stellen habe ich gekennzeichnet, und sie, nachdem ich sie markiert habe, stehen lassen. Anzuzeigende Besonderheiten habe ich am Rand kurz angegeben. Ich bete, dass diese Arbeit gefällt und von Herzen angenommen wird, dass du mir dankbar und immer gewogen bist, auf dass dein Geist auch von himmlischer Gabe noch mehr angefüllt werde, weil du, heiliger Stephan, heiter die besten Geheimnisse verkündest, und weil sich auch dein Diener Cyprian der Taten erfreut. Die Verse sind zu Ende. Feliciter.
Vierzehn Hexameter nennen den Auftraggeber der Korrektur, thematisieren den mehrteiligen Korrekturvorgang und drücken in topischer Form die Hoffnung aus, dass das vollbrachte Werk gefalle. Hinter dem Verfasser der subscriptio hatte bereits Holder Cyprian von Toulon (524–546) vermutet. Ihm folgt Morin, der im pater dulcis und Stephanus sacer zwei voneinander zu unterscheidende Adressaten sieht. Den „gütigen Vater“ identifiziert er mit Caesarius von Arles († 542), dem Cyprian als Schüler, Freund und Biograph verbunden war und auf dessen Initiative hin auch die
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Korrektur des Bellum Iudaicum erfolgt sein soll.29 Wenn Cyprian sich an den heiligen Stephan wendet, sei als Schutzpatron von Arles der Erzmärtyrer Stephan gemeint.30 Die subscriptio zeigt auf beeindruckende Weise den Versuch, den Inhalt, den man auch einfacher beispielsweise mit – … contuli, annotavi, distinxi. Deo gratias.31 – hätte fassen können, in eine höhere Stilform zu transponieren. Dass es hier bei einem Versuch blieb und Cyprian von Toulon „mehr gut gemeinte als metrisch lobenswerthe Verse“ verfasst hat, merkte Wilhelm Wattenbach an;32 und in der Tat passen in einigen Fällen Längen und Kürzen nicht ins Versmaß. Dennoch ist die subscriptio eines der seltenen Zeugnisse, die eine Überprüfung des Textes in Versform attestieren. Forderungen nach einer solchen Überprüfung – ob ihre Beglaubigung nun in metrischer Form erfolgte oder nicht – werden in adiurationes, admonitiones oder obtestationes laut, mit denen der Schreiber dazu angehalten werden soll, nach der Abschrift die Kopie mit der Vorlage zu vergleichen. Eine in ihrem Wortlaut auf Irenäus von Lyon († 202) zurückgehende adiuratio, ist bei Eusebius von Cäsarea († 339/340) überliefert. Hieronymus († 419/420), der mit den Werken des Eusebius vertraut war und dessen Chronik ins Lateinische übertrug, führt sie in seinem bio-bibliographischen Werk De viris illustribus unter dem Eintrag zu Irenäus an.33 Rufinus von Aquileia († 411/412) transportiert sie durch seine Übersetzung der Kirchengeschichte ins lateinische Schrifttum. Diese Ermahnung hat Eingang in die karolingischen Handschriften gefunden; wir finden sie beispielsweise im Pal. lat. 822, der um 800 in Lorsch entstanden ist. Der Schreiber setzte die adiuratio in insularer Majuskel unter das Explicit des fünften Buches der Kirchengeschichte von Rufinus von Aquileia: Ich beschwöre dich, der du diesen Band abschreiben möchtest, bei unserem Herrn Jesus Christus und bei seiner ruhmvollen Wiederkehr, bei der er kommt, um die Lebenden und Toten zu richten, dass du, was du abgeschrieben hast, vergleichst und nach den Vorlagen korrigierst von denen du abgeschrieben hast, und all dies mit Sorgfalt tust. Auch diese Art von Beschwörung sollst du auf gleiche Weise kopieren und sie so in den Codex, den du abschreibst, übertragen.34
29 Der Bischof Cyprian von Toulon gilt als Hauptverfasser der Autorenkollektiv entstandenen Vita S. Caesarii; vgl. Berschin 1986, 249. Zur Vita vgl. ebd., 249–258. 30 Holder 1906, 224 und Morin 1921–1928, 157–158. 31 Vgl. beispielsweise eine der kopialüberlieferten subscriptiones des Rusticus Diaconus zu seinen redigierten Akten des Konzils von Chalcedon in Paris, Bibliothèque nationale de France, Lat. 11611, fol. 97r, hier distincti. 32 Wattenbach 31896, 332. 33 Hieronymus, De viris illustribus, ed. Ceresa-Gastaldo, c. 35, 5, 130. 34 Rom, BAV, Pal. lat. 822, fol. 88r: Adiuro te quicumque hos descripseris libros per dominum nostrum Iesum Christum et gloriosum eius adventum in quo veniet iudicare vivos et mortuos, ut conferas quod descripseris et emendes ad exemplaria ea de quibus transscripseris diligenter; et hoc adiurationis genus similiter transscribas et transferas in eum codicem quem descripseris.
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Einige Seiten zuvor war im fünften Buch der Kirchengeschichte zu lesen: Derselbe Irenäus verfasste auch noch eine Schrift über die Achtzahl. … Dieser Schrift hat er eine sehr feinsinnige Bemerkung angefügt (subscriptionem satis eleganter adfixam), die ich für würdig erachte, hier zu zitieren.35
Die darauf wiedergegebene adiuratio ähnelt trotz orthographischer und lexikalischer Abweichungen derjenigen, die sich in der Handschrift nach dem Explicit des fünften Buches findet. Wie letztere an ihren Platz gekommen ist, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Bedenkt man die lange Tradition, die Irenäus’ Vermerk zur damaligen Zeit bereits ausgebildet hatte, ist eine Übernahme aus der Vorlage, die ihn an dieser Stelle tradiert haben könnte, wahrscheinlich. Der Vermerk wird in und nach Büchern der Historia ecclesiastica überliefert. Bisweilen wird die adiuratio des Irenäus von Lyon anderen Werken beigegeben:36 Beim Weißenburgensis 91 handelt es sich um eine Sammelhandschrift verschiedener liturgischer und katechetischer Texte. Nach dem Initienverzeichnis der 22 Homilien Gregors des Großen über das Buch Ezechiel wird Irenäus Ermahnung mit Adiuro te eingeleitet. Der Eintrag schließt mit: Docet hoc Hireneus Lugdunensis Galliarum episcopus. „So lehrt es Irenäus von Lyon, Bischof in Gallien.“37 Nicht nur Irenäus, sondern auch Augustinus war um die Verbesserung und Sicherung des Wortlautes seines Werks besorgt. Mit der Epistula 174, die heute als Proömium der Ausgabe von De trinitate vorangestellt ist, übersendet er dem Aurelius von Karthago sein Werk. Sie findet sich auf fol. 6r–v des um 800 entstandenen Pal. lat. 202. Augustinus beklagt in dem Brief, dass einige Bücher bereits ohne sein Wissen und seine Zustimmung in Umlauf gebracht worden seien und er diese nicht mehr durchsehen und korrigieren habe können. Nun schicke er dem Bischof von Karthago das ganze Werk einschließlich der korrigierten, bereits in Umlauf gebrachten Bücher in der Hoffnung, dass diejenigen, die bereits im Besitz der Bücher seien, wenn sie Kenntnis von dieser Ausgabe erhielten, sie danach verbessern würden. Er beschließt seinen Brief folgendermaßen: „Ich bitte inständig darum, dass dieser Brief, obwohl er dir getrennt zugesandt wurde, dennoch auf deine Anordnung hin an den Anfang des Werks gesetzt werde. Bete für mich.“38 Demnach kann durch adiurationes eine Textsicherung in dreierlei Hinsicht erfolgen:
35 Ebd., fol. 83r. Rufinus/Eusebius, Historia ecclesiastica, ed. Mommsen, lib. V, 20, 1–2, 481–483. 36 Bischoff 42009, 63, Anm. 28. 37 Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Weiss. 91, fol. 159r. 38 Rom, BAV, Pal. lat. 202, fol. 6v: Peto sane, ut hanc epistolam seorsum quidem sed tamen ad caput eorundem librorum iubeas anteponi. Ora pro me.
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Zum einen auf der Ebene der Skriptorien: Die Kopisten werden zu sorgfältiger Abschrift aufgerufen; ist diese abgeschlossen, soll die Kopie mit der oder den Vorlagen, nach denen sie angefertigt wurde, verglichen werden. Dies kann vom Autor oder aber anonym – unter oder ohne Berufung auf eine Autorität – gefordert werden. Der zitierte Augustinus-Brief zielt zusätzlich auf eine Authentifizierung ab. Die Übernahme der Epistula 174 erbringt den Nachweis, dass es sich bei der jeweiligen Handschrift um eine vom Verfasser autorisierte Abschrift handelt.
Der Pal. lat. 202 gehört zu den vier ältesten – noch dazu fast gleichzeitigen – Textzeugen, die uns den Brief an Aurelius im Verbund mit De trinitate überliefern.39 Wie Augustinus es erbeten hatte, wurde dem Codex das ursprüngliche Begleitschreiben vorangestellt. Die Handschrift ist gleichfalls ein Zeuge dafür, dass auch zeitgenössische Korrektoren in karolingischen Codices ihre Spuren hinterlassen. Auf fol. 175v findet sich der mit Kreuz markierte Vermerk hucusque relegi. Die korrespondierende Textstelle wurde ebenfalls mit einem Kreuz gekennzeichnet. Über 100 Seiten zuvor hatte eine andere Hand am linken oberen Rand bereits usque hic notiert.40 Beide Einträge bezeugen eine Durchsicht des Codex, die in mindestens zwei Schritten erfolgte. Eine weitere Beobachtung lässt sich in der gleichen Handschrift machen: Nach dem fünften Buch von Augustinus De trinitate wurde der Vermerk contulit, wenn auch nicht vollständig, getilgt.41 Vermerke wie contuli („ich habe verglichen“) oder emendavi („ich habe verbessert“) – mit oder ohne feliciter – attestieren ebenso wie die ausführlicheren subscriptiones eine Kontrolle, die ursprünglich in den Skriptorien der Spätantike stattgefunden hat. Über die Abschrift einer spätantiken Vorlage finden auch sie bisweilen Eingang in spätere Handschriften. Im gerade erwähnten Beispiel sah man den übernommenen contulit-Vermerk als überflüssig an und beschloss, ihn zu entfernen. Das Gleiche, nämlich die Tilgung des contuli, lässt sich an der Handschrift Cod. 2147 der Österreichischen Nationalbibliothek zeigen.42 Doch hat man in diesem Codex die Vermerke auch einfach stehen lassen oder graphisch hervorgehoben, indem man sie bisweilen eingerahmt oder umkreist hat.43
39 Die anderen drei sind Oxford, Bodleian Library, Laud. misc. 126 (saec. VIII med., Chelles; CLA 2II, *252), Cambrai, Bibliothèque municipale, Ms. 300 (282) (saec. VIII ex., Umgebung von Meaux; CLA VI, 739) und Montecassino, Archivio e Biblioteca dell’Abbazia, Ms. 19 (saec. VIII/IX, Spanien; CLA III, 373). 40 Lindsay 1896, 60. 41 Rom, BAV, Pal. lat. 202, fol. 75r. 42 Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 2147, fol. 209r. 43 So beispielsweise ebd., foll. 190v und 211v.
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Eine Kuriosität aus der Lorscher Klosterbibliothek soll am Ende dieses Beitrags stehen:
Abb. 2: Rom, BAV, Pal. lat. 285, fol. 59r (Ausschnitt). © [2014] Biblioteca Apostolica Vaticana
In einer Handschrift aus der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts findet sich nach dem Ende des zweiten Buches von Bedas Hoheliedkommentar ein Zeichen, das durch seine „bienenkorbähnliche Gestalt“ an ein Rekognitionszeichen erinnert, welches sich im Eschatokoll von Urkunden findet und die Rekognitionszeile beschließt.44 In ihr wird der Kanzler, der überprüft (recognovit) und unterzeichnet hat (subscripsit), genannt. Ursprünglich bestand dieses Zeichen selbst aus tironischen Noten, die diesen Vorgang bezeichneten. Erst im Laufe der Zeit wurde die Herkunft des Zeichens aus dem Wort subscripsi unkenntlich.45 In Tours vermerkte man im Frühmittelalter den Korrekturvorgang am Lagenende mittels tironischer Noten und brachte so beispielsweise nach der Lagensignatur den Vermerk requisitum oder requisitum est an.46 In einer Handschrift – Épinal, Biblio-
44 In den Handschriften Paris, Bibliothèque nationale de France, Lat. 12161 (saec. VII/VIII) und Nouv. acq. lat. 1597 (saec. VIII/IX) findet sich bisweilen am Ende eines Kapitels oder Abschnittes „a curious flourish like a monogram of SS“, vgl. CLA V, 624 und 687. 45 Vgl. beispielsweise Worm 2004, v. a. 76, 143–152 und 159. 46 Vgl. hierzu CLA VI, XXVIII–XXVIIII und vor allem Bischoff 1966, 9–14, dem es nicht zuletzt durch die „eigenartige Sitte der tironischen Kollationsvermerke“ (ebd., 13) gelang, eine Handschriftengruppe zusammenführen. Die Vermerke finden sich in CLA V, 682, 683; VI, 762; VIII, 1157; IX, 1394; X, 1571, 1584. Nach Bischoff „wohl auch in London, B. M. Egerton 2831“, vgl. ebd., 10, Anm. 31. Im dazugehörigen Eintrag CLA 2II, 196a werden zwar Notae Tironianae (foll. 19v, 56v, 91v) vermerkt, nicht aber
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thèque municipale, Ms. 149 (68) (CLA VI, 762) – nennt sich zusätzlich der Korrektor am Ende einiger Lagen in tironischen Noten, zum Beispiel nach Lage VIIII (fol. 70v) und XVII (fol. 134v). Die Herausgeber der CLA identifizieren ihn als „an abbot Aricus who himself collated the manuscript and noted the fact in the familiar Tours manner“ und datieren die Handschrift mit Hilfe eines kopialüberlieferten Auftragvermerks „ricus hunc librum scribere abba rogavit anno III regni Childirici regis.“ auf 744 / 74547. Nimmt man allerdings das dritte Regierungsjahr Childerichs II. (und nicht Childerichs III.) nicht in Austrasien, sondern in Neustrien beziehungsweise im Gesamtreich an, ergibt sich eine Datierung in das Jahr 675. Im gleichen Zeitraum ist für Tours ein Abt namens Agyricus (Agiricus / Aegiricus) belegt.48 Dies und der paläographische Befund der ligaturenreichen Minuskel, die der Halbkursive nahesteht, sprechen für eine frühere Datierung und erlauben die Identifizierung des Korrektors. Bei unserem Beispiel lädt eine Handschrift der St. Galler Stiftsbibliothek zum direkteren Vergleich ein: Im Codex 731 wurde vom Schreiber Wandalgarius ein Rekognitionszeichen an das Ende seines Kolophons gesetzt.49 Weil Wandalgar das Zeichen an dieser Stelle platzierte, ist von den Herausgebern der CLA angenommen worden, dass er selbst wahrscheinlich Kanzleibeamter war.50 Vielleicht trifft das auch für den Schreiber des Pal. lat. 285 zu. Vermerke von Schreibern und Korrektoren lassen sich sowohl inhaltlich, als auch begrifflich deutlich voneinander abgrenzen. Im Kolophon nennt sich der Schreiber, in der subscriptio der Prüfer einer Handschrift. Subscriptiones beglaubigen die Durch-
in Verbindung mit dem Lagenende gebracht. Das Gegenteil ist bei der Anfang des 9. Jahrhunderts entstandenen Handschrift CLA V, 528 der Fall: Hier nennt sich der Schreiber (wie die Herausgeber der CLA vermuten) gleich viermal jeweils am Ende einer Lage nach deren Signatur in tironischen Noten (Iacob auf foll. 52v, 60v, 68v, 76v). In der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts finden sich die tironischen Prüfvermerke auch in anderen französischen Skriptorien. Bischoff 1966, 10, Anm. 31. 47 Der Vermerk findet sich auf fol. 208v. 48 Vgl. die Auflistung der Äbte von St. Martin in Gallia christiana XIV, 159–160. Das von Papst Adeodatus II. (672–676) verliehene Privileg der Exemption „Aequitatis nos admonet“ nennt Aegiricus religiosus presbyter et abbas monasterii S. Martini; ebd., instr. III, 5. Es wird hier um 674 datiert, vgl. auch JE 2105 (1621). Zu Agyricus vgl. besonders die „Documents comptables“ aus Tours (ChLA XVIII, 659 I, VI, VII, XII), die 1975 erstmals von Pierre Gasnault herausgegeben und von Jean Vezin paläographisch beschrieben wurden. 49 St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 731, p. 342: Expleto libro tertio die veneris kalendas novembris anno XXVI rigni domno nostro Carolo regi. Deus domine, tu ho [sic] qui legis hunc librum istum vel hanc pagina [sic] ora in pro [sic] Vandalgario scriptore, quia nimium peccabilis sum. Vandalgarius. Vgl. auch Colophons V, 18623. Während im Kolophon die Fertigstellung der Handschrift auf das Jahr 793 datiert wird, ist ihre Lokalisierung bis heute umstritten. Bischoff verortet die Handschrift paläographisch nach Burgund, möglicherweise in die Westschweiz. Bischoff 1981, 19. Wegen der Namensgleichheit mit einem im Reichenauer Verbrüderungsbuch auftauchenden Wandalgar sind zunächst Besançon und zuletzt Lyon angenommen worden. Schott 1993, 305. 50 CLA VII, 950: „where he adds the recognition sign in the manner of notaries“ und weiter „Wandalgarius, presumably a notary, to judge by the recognition sign“.
Subscriptiones in karolingischen Codices
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sicht einer Abschrift; bisweilen wird in ihnen ein mehrteiliger Korrekturprozess thematisiert. Originalüberlieferte subscriptiones bieten einerseits einen Anhaltspunkt für Entstehungsort und -zeit ihrer Überlieferungsträger, andererseits können sie als paläographisches Vergleichsmaterial zur Datierung oder Lokalisierung anderer Handschriften dienen. Subscriptiones enthalten Informationen, die sowohl für die Personen- als auch Kulturgeschichte aufschlussreich sein können. Die mikroskopischen Textzeugen überliefern biographische Angaben zu den in ihnen genannten Personen, die oftmals nur in dieser Form erhalten sind. Durch ihre Datierungen oder Lokalisierungen sind subscriptiones selbst in Kopialüberlieferung unverzichtbare Zeugen für die Rezeptionsgeschichte eines Textes. Dessen Überlieferungsprofil lässt sich durch sie skizzieren, durch sie erhält man zum Teil direkten, zum Teil indirekten Zugang in die Skriptorien der Spätantike und des Frühmittelalters. Schriftlich festgehaltene Textkontrollen sind ein Reservoir ersten Ranges bei der Rekonstruktion der Überlieferungsgeschichte. Subscriptiones illustrieren im Kleinen den Wissenstransfer, der am Übergang von der Spätantike ins Frühmittelalter stattfand. Ihre Übernahme in karolingische Abschriften verdeutlicht, auf welche Vorlagen noch in dieser Zeit zurückgegriffen werden konnte.
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Bücher, Götter und Leser: Theodulfs Carmen 45 Wenn wir über das Wissen einer Epoche sprechen, meinen wir eine abstrakte Größe, nämlich die Summe aller Kenntnisse, die in dieser Zeit verfügbar waren und rezipiert wurden. Allerdings ist uns bewusst, dass der Zugang zum Wissen sich an jedem Ort und in jeder sozialen Gruppe unterschiedlich gestalten kann und dass es erst in jedem einzelnen Rezipienten zum konkreten Wissen wird und so die Möglichkeit der Innovation entfaltet. In der karolingischen Zeit konzentrierten sich die Literaturrezeption und die Wissensvermittlung auf einige Orte: den Hof, bestimmte Bischofskirchen und einige Klöster, in denen Bibliotheken unterhalten wurden. Die Verbindungen zwischen diesen Zentren ermöglichten die Zirkulation von Büchern und somit die Erhöhung der Wahrscheinlichkeit, an einem einzelnen Ort ein breites Angebot an Literatur zu finden. Die Bestände der Bibliotheken wurden aber von ihren Benützern nicht in gleichem Maße rezipiert: Manches Werk war lange verfügbar, ohne dass man danach gegriffen hätte oder der Schritt zu einer praktischen Umsetzung oder zu einem Weiterdenken der dort vermittelten Ideen getan worden wäre. Die Auswahl der gelesenen Texte war von den Prioritäten der Zeit beeinflusst, von der Sorge um einen reinen Glauben und um eine reibungslose Kommunikation innerhalb des Reiches. Ein einzelner Leser konnte aber diese Auswahl erweitern und wenig beachtete Texte berücksichtigen oder gar zu einer häufigen Lektüre machen. In diesem Aufsatz möchte ich ein Gedicht Theodulfs von Orléans interpretieren, in dem der Dichter seine bevorzugten Lektüren vorstellt und dabei auch Vergil und Ovid, heidnische Autoren, die in seiner Zeit nur von wenigen gelesen wurden, präsentiert. Dies führt ihn zu einer Verteidigung der Allegorese, die eine Überlegung über die Rolle des Lesers und die besondere Wahrheit der Dichtung impliziert. Das Carmen 451 Theodulfs von Orléans ist auf den ersten Blick ein Doppelgedicht mit zwei unterschiedlichen Themen, nämlich die Bücher, die der Dichter früher gelesen hatte, (vv. 1–20) und die allegorische Interpretation von Dichtung (vv. 21–64). Beide Teile scheinen nur lose zusammenzuhängen; der zweite Teil wirkt außerdem wenig kohärent, denn darin werden Beispiele von verschiedenen Spielarten allegorischer Deutung2 scheinbar ohne inneren Zusammenhang aneinander gereiht. Bereits
1 Theodulf, Carmina, ed. Dümmler, 543–544. Text von Dümmler abgedruckt in: Godman 1985, 168–171 (mit englischer Übersetzung), und Klopsch 1985, 114–121 (mit deutscher Übersetzung und Kommentar 471–473), s. auch Anhang. 2 Genaue Diskussion der verschiedenen Modi der Allegorese, die im Gedicht gezeigt werden, bei Bretzigheimer 2004, 200. © 2015, de Hartmann. Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 3.0 Lizenz.
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Seznec wies auf dieses Gedicht als Beispiel einer Verteidigung der Allegorese hin3. In einer allzu hastigen Lektüre interpretierte Nees es hingegen als eine Warnung vor der Lektüre heidnischer Autoren.4 Wenig später las Chance c. 45 wiederum als eine Verteidigung der Klassikerlektüre, wobei sie auch darin eine Dämonisierung des Mythos zu entdecken glaubte: Der Leser – der von Herkules symbolisiert wird – geht durch die Hölle der heidnischen Götter (Amor), um dank seiner moralischen Qualitäten mit Aeneas zu entkommen.5 Auf Nees antwortete Staubach und zeigte, „dass Theodulf die Allegorese als ein Instrument der Rehabilitierung und Aneignung des Mythos schätzt und empfiehlt“6 und dass das ganze Gedicht als Verteidigung der allegorischen Lektüre, die von einem der angeführten Beispiele, Proteus, symbolisiert wird, verstanden werden soll.7 Einige wertvolle Hinweise für die Interpretation des Gedichtes hat Bretzigheimer 2004 gegeben, die Staubachs Ansatz folgt. In derselben Linie soll hier die Einheitlichkeit des Gedichtes gezeigt werden, denn sein eigentliches Thema ist die Lektüre, die als ein Auslegungsprozess durch den Leser dargestellt wird; nicht nur Proteus, sondern alle angeführten Beispiele beziehen sich darauf. Der Titel De libros quos legere solebam et qualiter fabulae poetarum mystice pertractentur kündigt ein Gedicht mit zwei Themen an: die Lektüren des Dichters und die allegorische Interpretation von Dichtung, oder genauer, von Erdichtungen. Ob dieser Titel auf Theodulf zurückgeht, ist allerdings ungewiss. Zwei Codices mit einer Sammlung von Theodulfs Gedichten waren in der Frühen Neuzeit bekannt und wurden von Sirmond und Mabillon ediert beziehungsweise teilediert, sind aber heute verschollen.8 Für einige Gedichte Theodulfs gibt es eine Einzelüberlieferung, Carmen 45 zählt jedoch nicht zu ihnen: Es ist für uns nur in Sirmonds Edition aus dem Jahr 1646 greifbar, die von Dümmler im ersten Band der Poetae so gut wie unverändert nachgedruckt wurde. An der Echtheit des Gedichtes besteht allerdings kein Zweifel. Schaller fand in seiner sorgfältigen Untersuchung von Theodulfs Gedichten außerdem keinen Anlass, den Text Dümmlers in irgendeiner Form zu verändern.9
3 Seznec 1980, 85. 4 Nees 1991, 65–68. Staubach 1994, 388–390, hat den methodischen Fehler Nees’ genau gezeigt: „Um den Text ad malam partem lesen zu können, vermischt er zwei Aspekte des Allegorie-Modells, die verschiedenen Begriffsebenen angehören: die Deutbarkeit und Signifikanz des Mythos als Umschlag von der ‚Lüge’ zur ‚Wahrheit’ und die ethische Wertigkeit der jeweils durch ihn bezeichneten Tugenden oder Laster, also des Signifikats“. Staubach 1994, 389. 5 Chance 1994. Trotz guter Beobachtungen krankt ihre Interpretation an einer wenig sorgfältigen Lektüre (z.B. listet sie unter den von Theodulf in diesem Gedicht genannten Dichter auch Horaz, Lukan und Cicero auf) und an der mangelnden Differenzierung zwischen Isidors und Theodulfs Einstellung gegenüber dem Mythos. 6 Staubach 1994, 389. 7 Dazu auch Staubach 1998, 683–685. 8 Kurze Darstellung der Textüberlieferung bei Schaller/Brommer 1995, 766, ausführlicher bei Schaller 1962, 17–19. 9 Schaller 1962, 22.
Bücher, Götter und Leser: Theodulfs Carmen 45
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Bereits der erste Vers macht klar, dass das lesende Ich in seiner Auseinandersetzung mit den Büchern im Mittelpunkt des Gedichtes steht: Namque ego suetus eram hos libros legisse frequenter
Er beschäftigte sich häufig mit ihnen, worauf nicht nur suetus und frequenter im ersten Vers hinweisen, sondern auch die nachdrückliche Wiederholung von saepe am Anfang und Ende des dritten Verses. In v. 2 fügt Theodulf hinzu, dass diese Arbeit (labor) Tag und Nacht in Anspruch genommen habe. Daraufhin werden die gelesenen Autoren spezifiziert. Als erste werden Gregor der Große und Augustinus genannt, gefolgt von Hieronymus, Ambrosius, Isidor, Johannes Chrysostomus, Cyprianus sowie andere, die der Dichter unerwähnt lässt. In einem weiteren Distichon (vv. 9–10) erwähnt er heidnische Gelehrte aus verschiedenen Wissensgebieten, ohne sie jedoch namentlich zu nennen. Es bleibt in der Schwebe, wer diese Gelehrten waren. Der Leser kann an die Fachschriften denken, die in vorkarolingischer Zeit als fast einzige antike Schriften und noch in karolingischer Zeit eifrig abgeschrieben wurden (Schriften über die Artes, über Medizin oder Recht).10 Deren Studium galt nach Augustinus und Cassiodor als nützlich für die Auslegung der Bibel und war deshalb unumstritten. Es ließe sich aber auch an andere Texte denken, wie zum Beispiel historiographische Schriften.11 Anschließend geht Theodulf zu den Dichtern über, von denen zuerst die Christen aufgezählt werden: Paulinus,12 Arator, Avitus, Fortunatus, Juvencus und schließlich Prudentius, den er als seinen Verwandten (parens) bezeichnet. Die Liste der Dichter wird von zwei Grammatikern unterbrochen, Donatus und seinem Kommentator Pompeius13, und endet mit zwei heidnischen Dichtern, Vergil und dem gesprächigen Ovid (Naso loquax). Carmen 45 gehört zu den Gedichten, die man zur Gewinnung von Informationen über Theodulfs Leben herangezogen hat. Das Ich, das in dem Gedicht spricht, hat einiges mit dem historischen Theodulf gemeinsam: Es erinnert sich an eine Zeit
10 Holtz 1998, 1097–1101. 11 Alkuin zählt in seinem Gedicht De patribus, regibus et sanctis Eboricensis ecclesie, vv. 1536–1562, die Bücher, die Erzbischof Aelberht (767–780) für die Bibliothek von York gesammelt hat, auf und führt Plinius, die Epitome des Pompeius Trogo durch Justinus, und Cicero (wohl die Schriften zur Rhetorik) an (Godman 1982, lxxi–lxxii und 122–127, kritische Diskussion dieser Verse mit Berücksichtigung anderer Quellen in Bullough 2004, 252–293). Zu den antiken Texten, die im 7. und 8. Jahrhundert kopiert wurden, siehe Holtz 1998, 1095–1099. 12 Mit Paulinus ist Paulinus von Nola gemeint, dessen Werk weit verbreitet war (so identifiziert von Godman 1985, p. 168, Anm. zu vv. 13–14, und Klopsch 1985, 472). Die Werke von Paulinus von Périgueux und Paulinus von Pella waren weniger verbreitet und in mittelalterlichen Bibliothekskatalogen häufig für Werke des Paulinus von Nola gehalten. 13 Bei Pompeius ließe sich zwar an die Epitome des Pompeius Trogo (wie im Fall von Alkuin, Bullough 2004, 259–260 und 283) denken, viel wahrscheinlicher ist es im Zusammenhang von Theodulfs Gedicht, dass es sich um den Grammatiker Pompeius, der die Ars maior des Donatus kommentierte, handelt (so identifiziert von Godman, 1985, 169, Anm. zu v. 17, und Klopsch 1985, 472).
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der intensiven Lektüre, die nun abgeschlossen ist, weil es wohl andere, dringlichere Dinge beschäftigen; es nennt außerdem Autoren, die Theodulf häufig zitiert,14 als seine Lektüre und bezeichnet Prudentius, den spätantiken Dichter aus der provincia Tarraconensis, als noster et ipse parens, was eine Herkunft aus dem Gebiet dieser römischen Provinz nahelegt, die für den Westgoten Theodulf möglich ist. Ann Freeman hat vermutet, dass Theodulf aus Caesaraugusta stammte, woraus etliche Christen in den Jahren 778–782 ins Frankenreich flohen.15 In Caesaraugusta dürfte es zu dieser Zeit eine gut bestückte Bibliothek gegeben haben, denn dort hatte der belesene Braulio etwa 150 Jahre früher gearbeitet. Auf diese Bibliothek, so Freeman, habe sich Theodulf im Carmen 45 bezogen.16 Freemans Vorschlag zu Theodulfs Herkunft ist gut argumentiert und plausibel. Für die Interpretation des Gedichtes ist aber wichtig, dass darin keinesfalls eine real existierende Bibliothek angedeutet wird: Es gibt keine deutlichen Hinweise auf einen konkreten Ort, genauso wenig auf die historische Zeit, in der der Dichter sich mit diesen Autoren beschäftigte. Eine Lektüre, die sich über viele Jahre und verschiedene Orte erstreckte, wäre durchaus mit dem Gedicht vereinbar. Die Schriften, die darin vorkommen, sind erinnerte Schriften, von denen nur in der Vergangenheitsform gesprochen wird; da sie oft gelesen wurden, können wir weiter sagen, dass sie in doppeltem Sinne im Gedächtnis des Dichters anwesend sind, nämlich als Erinnerung an die Lektüre und als verinnerlichte Schriften, als eine Art innere Bibliothek. Der Dichter hat nicht nur die Werke dieser Autoren gelesen, wie der Hinweis auf andere, nicht genannte Autoren, sowohl christliche (vv. 7–8) als auch heidnische (vv. 9–10) zeigt, aber sie werden vom ihm als besonders wichtig erachtet. Einige dieser Autoren überraschen uns nicht: Die Kirchenväter, der Märtyrer Cyprian und die spätantiken christlichen Dichter wurden zu Theodulfs Zeit häufig abgeschrieben und werden in Bibliothekskatalogen aus der Karolingerzeit erwähnt.17 Die zwei Grammatiker sind an sich nicht befremdlich, eher schon ihre Positionierung im Gedicht, zwischen den christlichen und den heidnischen Dichtern.18 Sie weisen
14 Die Zitate aus älterer Dichtung in Theodulfs Gedichten werden in der Edition Dümmler 1881 nachgewiesen, Nachträge in MGH Poetae 2, ed. Dümmler, 694–697, Manitius 1886, 561–563 und Schaller 1962. Der einzige Dichter, der von Theodulf häufig zitiert und in Carmen 45 nicht genannt wird, ist Dracontius. 15 Freeman 1990, 185–187. 16 Freeman 1990, 186. 17 Zum Beispiel finden sie sich alle in den Katalogen der Bibliothek von Lorsch aus dem 9. Jahrhundert (siehe dazu das Register der Autoren und Werke in Häse 2002, 391–405); im Murbacher Katalog des 9. Jahrhunderts fehlt nur Papst Leo (siehe das Register in Milde 1968); im St. Galler Katalog aus der Mitte des 9. Jahrhunderts werden alle bis auf Papst Leo und Venantius Fortunatus genannt (Lehmann 1918, 66–82). In den drei Bibliotheken waren auch Donatus und sein Kommentator Pompeius vorhanden. 18 Alkuin nimmt in seinem Gedicht De patribus, regibus et sanctis Eboricensis ecclesie, vv. 1536–1562 eine ähnliche Aufteilung der Autoren vor: christliche Prosaisten – heidnische Prosaisten – christliche Dichter – heidnische Dichter – Grammatiker (Godman 1982, 122–127).
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auf eine Zeit der Ausbildung hin und daher suggerieren dem Leser, dass die darauffolgenden heidnischen Dichter wegen ihrer Sprache gelesen wurden. In einem anderen Gedicht (c. 44, Cur modo carmina non scribat) wird die Lektüre antik-heidnischer Autoren mit diesem Argument, das hier nur angedeutet wird, gerechtfertigt. Die Erwähnung Vergils ist in diesem Zusammenhang zu erwarten: Er wurde ja häufig von den antiken Grammatikern, die in karolingischer Zeit zur Erlernung des Lateins herangezogen wurden, zitiert und gehört überhaupt zu den römischen Autoren, die im 8. Jahrhundert gelesen und abgeschrieben wurden.19 Ovid hingegen hat keinen so sicheren Status. Einerseits war die Beschäftigung mit seinen Werken dadurch sanktioniert, dass viele christliche Autoren bis hin zu Venantius Fortunatus ihn häufig zitierten, wohl, wie Klopsch vermutet, wegen seiner rhetorischen Qualitäten. Andererseits sind es in der Hauptsache nur zwei Werke aus Ovids umfangreichen Oeuvre, die herangezogen wurden, nämlich die Fasti und die Metamorphosen.20 Für die karolingische Zeit schätzt Munk Olsen wegen der wenigen erhaltenen Handschriften und der seltenen Erwähnungen in Bibliothekskatalogen, dass Ovid kaum in den Schulen gelesen wurde.21 Obwohl Lendinara 1998 dieses Bild durch den Fund zweier Glossare zum ersten Buch der Metamorphosen etwas korrigiert hat, kann man weiterhin davon ausgehen, dass die Beschäftigung mit Ovids Werken weitaus seltener als die Lektüre Vergils war. In den zwei folgenden Distichen wird die Lektüre heidnischer Autoren mit dem Argument gerechtfertigt, dass auch in ihren Werken Wahres gefunden werden könne. Wir lesen sie genau, denn der Text ist nicht frei von Ambiguitäten. Die Verse 19 und 20 lauten: In quorum dictis quamquam sint frivola multa, plurima sub falso tegmine vera latent.
Das nächste Distichon scheint vorerst eine Korrektur daran anzubringen. Während v. 20 Wahres und Falsches in einem einzigen Text verortet, trennt Theodulf im nächsten Vers das Falsche, das die Dichter vorbringen, vom Wahren, was die sophi schreiben: Falsa poetarum stilus affert, vera sophorum. Im nächsten Vers (v. 22) sagt Theodulf: falsa horum in verum vertere saepe solent. Klopsch übersetzt beide Verse: „Irrtum trägt der Griffel der Dichter auf, Wahres der der Denker, und sie wenden die Irrtümer jener oft zur Wahrheit“. Vers 22 macht wieder klar, dass Wahres und Falsches im selben Text zu finden sind, doch geht beides nicht gleichermaßen auf die Dichter zurück: Die Dichter fabulieren, die sophi hingegen sind in der Lage, in diesen Erdichtungen das Wahre zu finden. Wen hat nun Theodulf mit sophi gemeint? Es könnten die heidni-
19 Holtz 1985. 20 Klopsch 1986, 99-100. 21 Munk Olsen 1987, passim, und 1992, 198 (= 1995, 36).
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schen Kommentatoren sein, die eine allegorische Interpretation der Dichter aufzeigen (z. B. Servius und Macrobius, die zu Theodulfs Zeit bekannt waren) oder auch allgemein die Philosophen, die Mythen interpretierten (zum Beispiel Varro, den Augustinus in De civitate Dei in diesem Zusammenhang erwähnt).22 Die Vorstellung, dass die Philosophen das Wahre im Werk der Dichter finden, hat ihre Wurzeln in der Antike, sie wurde allerdings von den christlichen Apologeten ins Negative gewendet: Die Interpretation der Philosophen finde in den Erdichtungen eine Wahrheit, die in ihnen gar nicht angelegt sei; sie sei deshalb auch eine Lüge und diene nur dazu, die Mythen zu rechtfertigen.23 Diese Rigorosität wurde später abgemildert, nachdem das Heidentum keine reale Gefahr mehr darstellte, so dass ein christlicher Autor wie Fulgentius Mythographus allegorische Interpretationen mit Hinweis auf die Philosophen weiter tradieren konnte.24 Wie mir scheint, nimmt Theodulf hier indirekt Stellung in dieser Diskussion. Die sophi, mit denen wohl allgemein die verständigen Leser gemeint sind, finden durchaus eine Wahrheit hinter den Lügen. Die allegorischen Interpretationen, die er im Folgenden als Beispiele vorbringt, zeigen ferner, wie diese verständige Lektüre vorgehen muss. Die drei ersten Beispiele für versteckte Wahrheiten, die Theodulf vorbringt – Proteus, Virgo (das Sternbild, das Dike oder Astraea darstellt) sowie Herkules und Cacus – geben die Schlüssel zu einer weisen Lektüre. Das erste Beispiel, Proteus, ist Vergil entnommen (Georgica 4, 387–414), das zweite und dritte, Vergil oder Ovid (Virgo: Vergil, Eclogae 4, 6; Ovid, Metamorphoses 1, 149–150; Herkules: Vergil, Aeneis 8, 184–272, Ovid, Fasti 1, 543–586).25 Proteus, sagt Theodulf, stelle die Wahrheit dar, die sich unter tausend Lügen verbirgt, aber ihre Gestalt dann zeigen muss, wenn man sie fest im Griff hält.26 Die Jungfrau repräsentiere den Gerechten, den der Ungerechte nicht zu besudeln vermag. Bei Herkules und Cacus stellt sich ein kleines Interpretationsproblem ein. Vers 29 lautet: Gressibus it furum fallentum insania versis, Klopsch übersetzt „Mit den umgedrehten Füßen trügerischer Diebe schreitet die Unvernunft“. Die Übersetzung ist plausibel, trotzdem möchte ich eine andere vorschlagen. Wenn
22 Zur Diskussion der Mythen-Allegorie bei Varro siehe Pépin 1976, 236–307; zu seiner Verwendung durch Augustinus in De civitate Dei, Pépin 1976, 280–289. 23 Demats 1973, 37–54, Pépin 1976, 315–322, 365–392, 431–442. 24 Demats 1973, 54–60. Es gibt eine lange Diskussion über die mögliche Identität von Fulgentius Mythographus und dem Bischof Fulgentius von Ruspe. Die letzte, äußerst gründliche Durchsicht der Evidenz von Hays 2003 kommt zum Schluss, dass es sich um zwei verschiedene Personen handelt und datiert den Mythographen später als den Bischof (467–533), nämlich irgendwann in der Zeitspanne von Mitte des 6. zur Mitte des 7. Jahrhunderts. 25 Auf die Stellen bei Vergil wies Dümmler 1881 in seiner Edition hin, auf Astraea bei Ovid Klopsch 1985, 472–473. Zu Herkules in den Fasti Bretzigheimer 2004, 188–189. 26 Die Zuordnung von vv. 255 und 256 zu Proteus wird in etlichen Übersetzungen verdeckt, wie Staubach 1998, 684, angemerkt hat. In der Deutung von Proteus entfernt sich Theodulf von Servius, der in ihm die prudentia sieht (dazu Staubach 1998, Anm. 36 und Bretzigheimer 2004, 203).
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man den Vers vorträgt, lädt die Zäsur dazu ein, fallentum zu insania zu beziehen: „Mit den umgedrehten Schritten der Diebe schreitet die Unvernunft der Lügner“. Bretzigheimer hat gezeigt, dass mit Proteus und Cacus zwei verschiedene Formen der Lüge aufgezeigt werden: Proteus stellt einen unschädlichen Betrug dar, hinter dem eine Wahrheit steckt; Cacus hingegen den böswilligen.27 Aber auch böswillige Lügner können besiegt werden, wie Theodulf vv. 31–32 sagt: Die Geisteskraft vermag sie bloßzustellen, so dass ihre Bosheit offensichtlich wird. Staubach hat als erster darauf hingewiesen, dass Proteus für eine die Allegorie aufdeckende Lektüre steht: „Mit der Gestalt des Proteus hat Theodulf sogar – wie es scheint – eine durch die Tradition nicht vorgegebene neue Deutung, nämlich gleichsam eine Allegorie der Allegorese kreiert“.28 Meines Erachtens gibt Theodulf nicht nur mit Proteus, sondern mit allen drei Beispielen Anweisungen für die korrekte Lektüre: Der christliche Leser, der sich heidnischen Texten zuwendet, soll in der Lage sein, mit seinem Geist die verborgene Wahrheit zu erfassen, ohne sich von den oberflächlichen Lügen beirren zu lassen; moralisch kann er nicht von diesen Erdichtungen besudelt werden, wenn er ein Gerechter ist; ferner soll er die rein lügnerischen Erfindungen als solche offenlegen können.29 Es folgen zwei Beispiele, welche die Ergebnisse einer die Wahrheit aufdeckenden Lektüre zeigen: der Gott Amor und die zwei Tore der Träume. Letzteres bezieht sich erneut auf Vergil (Aeneis 6, 893–896). Die Deutung des Gottes Amor wird von den Beispielen aus Vergil eingeschlossen. Vergil war der heidnische Autor, der bereits als Lektüre akzeptiert war. Amor hingegen verweist schon mit seinem Namen auf Ovids Amores, die Theodulf kannte und in seinen Gedichten mehrmals zitiert. Die moralische Interpretation von Amor soll nahelegen, dass es möglich ist, auch Ovids Amores einer moralischen Lektüre zu unterziehen. Die moralische Deutung von Amor konnte Theodulf sowohl bei Servius (Commentarius in Vergilii Aeneida I, 663) als auch bei Isidor (Etymologiae 8, 11, 80) in ihren
27 Bretzigheimer 2004, 201–203. Sie weist in diesem Zusammenhang auf Augustins Unterscheidung zwischen fallax und mendax: ... omnis fallax appetit fallere, non autem omnis vult fallere qui mentitur: nam et mimi et comoediae et multa poemata mendaciorum plena sunt, delectandi potius quam fallendi voluntate, et omnes fere, qui iocantur, mentiuntur (Soliloquia 2, 9, 16, zitiert in Bretzigheimer 2004, 203, Anm. 60). Es ließe sich auch an Macrobius denken, der in seinem Commentum in somnium Scipionis I,2,7-21 zwischen rein lügnerischen Mythen und Mythen, die eine Wahrheit verstecken, unterscheidet (dazu Pépin 1976, 210–214). 28 Staubach 1998, 684. 29 Astraea als Allegorie des Gerechten ist naheliegend, da sie die Gerechtigkeit darstellt. Hercules wurde von Fulgentius Mythographus als die virtus interpretiert (im zweiten Buch der Mitologiae, c. 2–4). Vis mentis ist jedoch präziser und hat einen Bezug zum intellektuellen Vermögen, nicht zur moralischen Qualität. In dieser Deutung sieht Bretzigheimer 2004, 203, Anm. 65 den Einfluss von Servius, Commentarius in Vergilii Aeneida, VI, 395: Hercules a prudentioribus mente magis quam corpore fortis inducitur. Servius, Commentarius II, Thilo/Hagen, 60; Jeunet-Mancy 2012, 104.
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Grundzügen finden, er entwickelt sie allerdings weiter.30 Theodulf scheint hier vor allem Isidor gefolgt zu sein, denn sein Text steht demjenigen Isidors näher.31 Es ist aufschlussreich zu sehen, inwieweit sich die Deutung des Cupido und der heidnischen Götter allgemein zwischen Isidor und Theodulf verschoben hat. Isidor gesteht den Dichtern in einem anderen Kapitel desselben Buches (Etymologiae 8, 7, 10) zu, auch Wahres zu vermitteln: Officium autem poetae in eo est ut ea, quae vere gesta sunt, in alias species obliquis figurationibus cum decore aliquo conversa transducant.32 Isidor scheint sich hier vor allem auf die poetische Wiedergabe von res gestae in der Epik zu beziehen, was die anschließende Nennung von Lukan, der auf Fiktives verzichte und deshalb als historicus zu gelten habe, bestätigt. In dem Kapitel, in dem Isidor Amor behandelt (Etymologiae 8, 11 über die heidnischen Götter), weht hingegen ein Geist des Misstrauens gegen die Dichter.33 Isidor lehnt sich eng an Augustinus in De civitate Dei an34 und interpretiert die Götter euhemeristisch als Menschen, die wegen ihrer herausragenden Qualitäten verehrt wurden. Die Dichter sind an deren Vergöttlichung mitschuldig.35 So in Etymologiae 8, 11, 2: In quorum etiam laudibus accesserunt et poetae, et conpositis carminibus in caelum eos sustulerunt.36 Eine Schuld trifft auch die Bildhauer, die Statuen dieser Menschen bildeten. Die Teufel profitierten von der Vorarbeit der menschlichen Künstler und bemächtigten sich dieser Statuen, um die Menschen zu täuschen und sie zu ihrer Anbetung und Verehrung zu bewegen. Die Aufdeckung philosophischer Wahrheiten in den Mythen sieht Isidor – hier auch Augustinus folgend – ebenfalls als Täuschung, die eine nicht existierende Wahrheit in reinen Lügengeschichten finden will. So in Etymologiae 8, 11, 29:
30 Auf Isidor wies Dümmler hin, auf Servius Staubach 1998, 684, Anm. 34. Staubach erwähnt in diesem Zusammenhang auch Augustinus, Contra Faustum 20,9, darin ist jedoch eine viel knappere Anspielung. 31 Isidor erklärt die fax, Servius nicht. Außerdem sagt Isidor wie Theodulf, dass Cupido als Kind dargestellt wird, weil er unvernünftig sei; Servius erklärt dies mit der stockenden Sprache der Liebende ... item quia imperfectus est in amantibus sermo, sicut in puero, ut incipit effari mediaque in voce resistit. Servius, Commentarius I, Thilo/Hagen, 190. 32 Übersetzung: „Die Aufgabe des Dichters besteht darin, das, was wirklich geschehen ist, durch eine bildliche Ausdrucksweise elegant überformt, in eine andere Gestalt zu überführen.“ 33 Von einer dezidiert polemischen Einstellung Isidors zu sprechen, ginge hingegen zu weit. Im Vergleich zu früheren Autoren (vor allem zu seiner Quelle De civitate Dei) fällt seine Polemik milde aus, und hält ihn von der langen, kommentarlosen Auflistung aller allegorischen Deutungen nicht ab (dazu Korte 2012, 77–94). Fontaine 1989, 339–400, sieht darin vor allem eine Desakralisierung antiker Mythologie in der Folge von Varro und von Dichtern wie Ovid und Horaz, die Isidor auch zitiert. 34 Zu den Quellen siehe die gründliche Untersuchung von MacFarlane 1980. 35 Sie sind freilich nicht die einzigen Schuldigen: Isidor nennt auch ausdrücklich die teuflische Täuschung (z. B. 8,11, 4: persuadentibus demonis). 36 Übersetzung: „In deren Lob – d. h. in das Lob auf hervorragende Menschen – stimmten auch die Dichter ein und erhoben sie in den Himmel, indem sie Gedichte verfassten.“
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Quaedam autem nomina deorum suorum gentiles per vanas fabulas ad rationes physicas conantur traducere, eaque in causis elementorum conposita esse interpretantur. Sed hoc a poetis totum fictum est, ut deos suos ornarent aliquibus figuris, quos perditos ac dedecoris infamia plenos fuisse historiae confitentur.37
Nach dieser Behauptung findet sich eine ganze Reihe von Interpretationen, welche die Eigenschaften der einzelnen Götter auf die Eigenschaften der Naturphänomene, Vorgänge oder menschlichen Tätigkeiten, die sie darstellen sollen, zurückführen. Isidor hat aber ausgeführt, dass diese Erklärungen sekundär sind: Die Götter waren nur Menschen und werden wegen der Mitwirkung der Teufel verehrt. Im Fall von Juno unterscheidet er sogar zwischen einer philosophischen Interpretation – aufgrund der Etymologie ihres Namens – und einer poetischen, in der die Geschwister und Gatten Jupiter und Juno jeweils die Elemente Feuer und Luft (Jupiter) sowie Erde und Wasser (Juno) darstellen (Etymologiae 8, 11, 69). Im Fall von Amor stellt der erste Satz klar, dass er nicht einmal ein verdorbener Mensch gewesen ist, sondern der Teufel der Fleischeslust selbst: Cupidinem vocatum ferunt propter amorem. Est enim daemon fornicationis. Qui ideo alatus pingitur, quia nihil amantibus levius, nihil mutabilius invenitur. Puer pingitur, quia stultus est et inrationabilis amor. Sagittam et facem tenere fingitur. Sagittam quia amor cor vulnerat; facem, quia inflammat. (Etymologiae 8, 11, 80).38
Theodulf kehrt die Reihenfolge um: Er legt zuerst die Attribute Amors dar und identifiziert ihn erst dann mit dem Teufel der Unzucht. Das letzte Distichon (vv. 51–52) legt sogar nahe, dass die Liebe kein echter Teufel ist, sondern dass sie die Macht, die Wirkung und die Gewohnheiten eines solchen hat. Während für Isidor der heidnische Gott Cupido ein höchst realer Teufel ist und die Auslegung seiner Eigenschaften lediglich den Versuch darstellt, ihn zu verharmlosen, zeigt Theodulf umgekehrt, wie in den Werken der Dichter eine Warnung vor der – in ihren Eigenschaften teuflischen – Liebe entdeckt werden kann. Allerdings kann diese Warnung nur vernommen werden, wenn der Leser seine Vernunft gebrauchen kann und gerecht – also frei von Sünde – ist, wie die vorangehenden Beispiele (Proteus, Virgo und Hercules) gezeigt hatten. Da die Liebe den Liebenden der Vernunft beraubt (vv. 43–44), darf man schlussfolgern,
37 Übersetzung: „Die Heiden versuchen einige Namen ihrer Götter mit Hilfe von eitlen Erdichtungen auf eine natürliche Ursache zurückzuführen. Aber dies wurde alles von den Dichtern erlogen, um ihre Götter, von denen die Geschichte bekennt, dass sie verdorben und voll schändlicher Laster waren, mit einigen Redefiguren zu schmücken.“ 38 Übersetzung: „Es heißt, Cupido werde so (d. h. Begierde) wegen der Eigenschaften der Liebe genannt, denn er ist der Teufel der Unzucht. Er wird beflügelt dargestellt, weil sich nichts Leichtsinnigeres und Wankelmütigeres als die Liebenden findet. Er wird als Kind dargestellt, weil Liebe dumm und unvernünftig ist. Man bildet sich ein, er trage einen Pfeil und eine Fackel. Einen Pfeil, weil die Liebe das Herz verletzt, eine Fackel, weil sie das Herz in Brand setzt.“
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dass Liebende diese Gedichte nicht lesen dürfen, denn ihnen fehlt in ihrem Zustand die Geisteskraft, die in den Texten verborgene Warnung zu entschlüsseln. Das letzte Beispiel schließlich fasst den Inhalt des Gedichtes zusammen. Es handelt sich um die zwei Tore der Träume. Eines ist aus Horn und lässt wahre Träume durch, das andere ist aus Elfenbein, wodurch die falschen Träume kommen. Theodulf folgt hier dem Servius-Kommentar, in dem das erste Tor als das Auge, das zweite als der Mund interpretiert wird: Physiologia vero hoc habet: per portam corneam oculi significantur, qui et cornei sunt coloris et duriores ceteris membris: nam frigus non sentiunt, sicut et Cicero dicit in libris de deorum natura. per eburneam vero portam os significatur a dentibus. et scimus quia quae loquimur falsa esse possunt, ea vero quae videmus sine dubio vera sunt.39
Theodulf nimmt die Idee auf: os fert falsa, oculus nil nisi vera vidit, ohne die Lügen dem Dichter ausdrücklich anzulasten. Dieser Vers fungiert als Schluss und fasst das Vorherige zusammen: Der Mund der Dichter bringt Lügen hervor, das Auge des Lesers kann aber die darin verborgene Wahrheit entdecken. Im Carmen 45 streift Theodulf einige wichtige Themen: Die Bedeutung heidnischer Mythen, ihre allegorische oder naturkundliche Auslegung, die Rolle der Dichter in ihrer Entstehung, die mögliche Anwesenheit von Wahrheit in der heidnischen Dichtung. Im zweiten Teil des Gedichtes zeigt er die Möglichkeit, diese Wahrheit zu enthüllen, und rechtfertigt so die Lektüre der Werke heidnischer Dichter, doch ist diese Rechtfertigung nicht das Ziel des Gedichtes. Argumente dafür, die er ausdrücklich in Carmen 44 Cur modo carmina non scribat vorbringt – die Schönheit der Sprache und ihr Wert für die Bildung von jungen Leuten – werden hier höchstens angedeutet. Theodulf verlagert dezidiert die Verantwortung für die Aufdeckung der Lüge und die Entdeckung der Wahrheit auf den Leser. Deshalb sind der Leser und seine Lektüre das zentrale Thema des Gedichtes, das ihm seine Einheit verleiht. Im ersten Teil geht es um die persönliche Auswahl, nämlich um die Texte, die häufig gelesen und deshalb zum Wissensbestand des einzelnen Lesers werden. Während einige dieser Texte die Wahrheit als klaren und offenen Gegenstand haben, findet sich diese in anderen nur verborgen. Wie der Leser sie enthüllen kann, ist das Thema des zweiten Teils. Die richtige Art des Lesens hängt von den Eigenschaften des Lesers ab, von seiner Geisteskraft, seiner Vernunft, seinem moralischen Sinn, der ihn vor der Sünde bewahrt. Ein solcher Leser wird sogar erotische Dichtung lesen können und in ihr die Warnung
39 Servius, Commentarius in Vergilii Aeneida VI, 893. Übersetzung: „Die Naturkunde aber bringt dies zutage: Das Tor aus Horn bedeutet die Augen, welche die Farbe des Horns haben und härter sind als die anderen Glieder, denn sie spüren die Kälte nicht, wie Cicero in den Büchern über die Natur der Götter sagt. Das Tor aus Elfenbein bezeichnet durch die Anspielung auf die Zähne den Mund. Und wir wissen, dass das, was wir reden, falsch sein kann, dass hingegen das, was wir sehen, zweifellos wahr ist.“ Servius, Commentarius II, Thilo/Hagen, 122–123; Jeunet-Mancy 2012, 200.
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vor der verheerenden Wirkung der Liebe finden. Das Gedicht lässt sich zwar nicht auf eine Rechtfertigung der Lektüre von heidnischer Literatur reduzieren, in der dezidierten Art, wie Theodulf dem Leser die Verantwortung zuweist, findet sich aber die beste Verteidigung für die Lektüre aller verfügbaren Texte, auch derjenigen, die aus der heidnischen Antike stammen. Diese Aufwertung des Lesers, der vom passiven Rezipienten zum sophus (wie in v. 21) und Erforscher der Wahrheit werden soll, impliziert außerdem, dass auch den zeitgenössischen Dichtern die Möglichkeit zu Fabulieren zugestanden wird. Sie müssen in ihren Erdichtungen zwar eine Wahrheit verstecken, aber es ist nicht an ihnen, sondern an den verständigen Lesern, sie zu entdecken. In diesem Zusammenhang ist die zuletzt evozierte Szene der Aeneis wichtig, denn Aeneas und die Sibylle gehen durch die elfenbeinerne Tür heraus, durch die in der Aeneis die falschen Träume in die Welt kommen und die in der naturkundlichen Auslegung den Mund bezeichnet, durch den ja die Lügen hervorgebracht werden. Dazu beobachtet Servius: et poetice apertus est sensus: vult autem intellegi falsa esse omnia quae dixit („die poetische Bedeutung ist klar: Er möchte verständlich machen, dass alles, was er sagt, erdichtet ist“).40 Diese Überlegung nimmt Theodulf zwar nicht ausdrücklich auf, sie wird aber einem Leser, der die Aeneis kennt, nahegelegt: Vergil warnt damit den Leser und Theodulf tut es auch. Auch er bedient sich nämlich in diesem Gedicht der Allegorie und zeigt so, dass die Freiheit des Dichters, sich durch Bilder zu äußern, noch aktuell ist. Diese Freiheit – sich der Allegorie zu bedienen, dunkel, ja zweideutig zu sein – nahm Theodulf bekanntlich auch in anderen Gedichten für sich in Anspruch. Theodulf, Carmen 45 (Ed. Dümmler, MGH Poetae 1, 543-544) De libris quos legere solebam et qualiter fabulae poetarum a philosophis mystice pertractentur
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Namque ego suetus eram hos libros legisse frequenter, extitit ille mihi nocte dieque labor. Saepe et Gregorium, Augustinum perlego saepe, et dicta Hilarii seu tua, papa Leo. Hieronymum, Ambrosium, Isidorum, fulvo ore Iohannem, inclyte seu martyr te, Cypriane pater. Sive alios, quorum describere nomina longum est, quos bene doctrinae vexit ad alta decus. Legimus et crebro gentilia scripta sophorum, rebus qui in variis eminuere satis. Cura decens patrum nec erat postrema piorum, quorum sunt subter nomina scripta, vide: Sedulius rutilus, Paulinus, Arator, Avitus, Et Fortunatus, tuque, Iuvence tonans;
40 Servius, Commentarius II (VI, 893), ed. Thilo / Hagen, 122–123; Jeunet-Mancy 2012, 200.
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Diversoque potens prudenter promere plura metro, o Prudenti, noster et ipse parens. Et modo Pompeium, modo te, Donate, legebam, et modo Virgilium, te modo, Naso loquax. In quorum dictis quamquam sint frivola multa, plurima sub falso tegmine vera latent. Falsa poetarum stilus affert, vera sophorum, falsa horum in verum vertere saepe solent. Sic Proteus verum, sic iustum virgo repingit, virtutem Alcides, furtaque Cacus inops. Verum ut fallatur, mendacia mille patescunt, firmiter hoc stricto pristina forma redit. Virginis in morem vis iusti inlaesa renidet, quam nequit iniusti conmaculare lues. Gressibus it furum fallentum insania versis,, ore vomunt fumum probra negando tetrum. Vis sed eos mentis retegit, peremitque, quatitque, nequitia illorum sic manifesta patet. Fingitur alatus, nudus, puer esse Cupido, ferre arcum et pharetram, toxica, tela, facem. Quod levis, alatus, quod aperto est crimine, nudus, sollertique caret quod ratione, puer. Mens prava in pharetra, insidiae signantur in arcu, tela, puer, virus, fax tuus ardor, Amor. Mobilius, levius quid enim vel amantibus esse quit, vaga mens quorum seu leve corpus inest? Quis facinus celare potest quod Amor gerit acer, cuius semper erunt gesta retecta mala? Quis rationis eum spiris vincire valebit, qui est puer effenis et ratione carens? Quis pharetrae latebras poterit penetrare malignas, tela latent utero quot truculenta malo? Quo face coniunctus virosus prosilit ictus, qui volat et periment vulnerat, urit, agit? Est sceleratus enim moechiae daemon et atrox, ad luxus miseros saeva barathra trahens. Decipere est promptus, semper nocere paratus, daemonis est quoniam vis, opus, usus ei. Somnus habet geminas, referunt ut carmina, portas, altera vera gerit, altera falsa tamen. Cornea vera trahit, producit eburnea falsa, vera vident oculi, falsa per ora meant. Rasile nam cornu, tener et translucet ocellus, obtunsumque vehit oris hiatus ebur. Non splendorem oculis, non sentit frigora cornu, par denti atque ebori visque colorque manet. Est portis istis virtus non una duabus, os fert falsa, oculus nil nisi vera videt. Pauca haec de multis brevibus constricta catenis exempli causa sit posuisse satis.
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Quellen Theodulf, Carmina, ed. Ernst Dümmler, MGH Poetae latini aevi Carolini 1, Berlin 1881 (Nachdruck 1964, 1978, 1997). Theodulf, Carmina, Addenda ad tomum I, ed. Ernst Dümmler, MGH Poetae latini aevi Carolini 2, Nachträge zu MGH Poetae latini aevi Carolini 1, Berlin 1884 (Nachdrucke 1964, 1978, 1999), 694–697. Servius, Commentarius I: Servii grammatici qui feruntur in Vergilii carmina commentarii. Vol. I. Aeneidos librorum I–V commentarii, ed. Georg Thilo/Hermann Hagen, Leipzig 1881. Servius, Commentarius II: Servii grammatici qui feruntur in Vergilii carmina commentarii. Vol. II. Aeneidos librorum VI–XII commentarii, ed. Georg Thilo/Hermann Hagen, Leipzig 1884.
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Michael Embach
Die Bibliothek des Mittelalters als Wissensraum Kanonizität und strukturelle Mobilisierung
1 Vorbemerkungen Wenn man sich dem Thema „Die Bibliothek des Mittelalters als Wissensraum“ nähert, dann sind zunächst zwei Vorbemerkungen zu machen, die den Gegenstandsbereich genauer in sich abgrenzen und schärfer ausprofilieren können.1 Erstens gilt, dass der Begriff „Wissensraum“ eine Schöpfung der Neuzeit ist. Eine Bildung wie spatium scientiae oder spatium rationis ist für das Mittelalter nicht belegt, und nach Äquivalenten zu suchen, dürfte schwierig sein. Selbst die Umschreibung des Teilbegriffs Wissen birgt für das Mittelalter Probleme in sich. Begriffe dieser Art haben nicht selten einen längeren Bedeutungswandel durchlaufen, der ihre terminologische Fixierung kaum möglich erscheinen lässt. Insofern liegt mit dem Begriff „Wissensraum“ eine epistemologische Kategorie vor, der zumindest in diachronischer Hinsicht kein unmittelbar fassbarer Inhalt zugeordnet werden kann. Zweitens sei hervorgehoben, dass an dieser Stelle ausschließlich der Typus der mittelalterlichen Klosterbibliothek thematisiert werden soll. Eine Untersuchung entsprechender Phänomene für den Bereich der Amts-, Adels- oder Universitätsbibliothek kann hier nicht geleistet werden. Ich verweise stattdessen auf entsprechende Forschungen von Frank Fürbeth zu den Sachordnungen der Bibliotheken des Mittelalters.2
1 Das Thema der Historischen Wissensräume ist Gegenstand des Historisch-Kulturwissenschaftlichen Forschungszentrums Trier (Geschäftsführender Leiter: Prof. Dr. Martin Przybilski, Universität Trier/Ältere Deutsche Philologie). Auch die nachfolgenden Ausführungen basieren auf einem Teilprojekt des Forschungszentrums, dem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekt „Virtuelles Skriptorium St. Matthias“. Ziel des von Frau Prof. Dr. Claudine Moulin (Universität Trier/ Ältere Deutsche Philologie und Kompetenzzentrum für elektronische Erschließungs- und Publikationsverfahren in den Geisteswissenschaften), Frau Prof. Dr. Andrea Rapp (Technische Universität Darmstadt/Germanistische Computerphilologie) und meiner Person (Stadtbibliothek Trier) geleiteten Vorhabens ist es, die Handschriften der mittelalterlichen Bibliothek der Benediktinerabtei Trier-St. Matthias/St. Eucharius zu digitalisieren und damit die Bibliothek virtuell zu rekonstruieren. 2 Fürbeth 2008; ders. 2009. © 2015, Embach. Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 3.0 Lizenz.
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2 Der Wissensbegriff am Beginn der monastischen Bibliotheksgeschichte In einer geistesgeschichtlichen Betrachtung gilt das Jahr 529 gemeinhin als ein sogenanntes Sammeljahr. Damit ist eine Zeitspanne gemeint, in der verschiedene Ereignisse von epochaler Bedeutung eine augenfällige zeitliche Koinzidenz aufweisen.3 So ergriff Kaiser Justinian im Jahr 529 Maßnahmen, die zur Aufhebung der platonischen Akademie in Athen führten, und Benedikt von Nursia (ca. 480–547) trat mit der Stiftung des Klosters Montecassino den Siegeszug des Benediktinerordens an. Da fällt es nicht schwer, zwischen diesem zunächst rein zeitlichen Zusammenhang eine kausale Verbindung herzustellen und den Übergang von der paganen Bildung der Antike hin zur christlichen Bildung des Mittelalters als einen teleologischen Prozess zu betrachten, dessen Entwicklungsgang einer höheren Zweckmäßigkeit unterliegt. Wie es der Benediktiner Johannes Trithemius (1462–1516) in seiner 1494 erschienenen Schrift De laude scriptorum insinuiert, avancieren durch einen solchen Paradigmenwechsel die Mönche des heiligen Benedikt zu Erben und Testamentsvollstreckern der antiken Philosophen und frühchristlichen Väter: Sapientia latet in cucullis, so lautet die zusammenfassende Legitimation dieser Auffassung, wobei man anstelle von sapientia hier wohl eher von scientia sprechen sollte.4 Dass eine solche Sichtweise allerdings nicht unproblematisch ist, erweist schon ein Blick auf das wichtigste Basisdokument der monastischen Wissenskultur, die Regula Benedicti. Damit wir uns recht verstehen: Keineswegs soll die Tatsache geleugnet werden, dass die europäische Bildungsgeschichte des Mittelalters in weiten Teilen von den Monasten, und insbesondere von den Benediktinern, getragen wurde. Doch dürfte ohne die Berücksichtigung einer entwicklungsgeschichtlichen Perspektive die These einer primär monastisch akzentuierten Bildungsgeschichte des Mittelalters nicht zu halten sein. Schauen wir zunächst, welche Aussagen die Regula Benedicti zum Thema Bildung und Wissen getroffen hat.5
3 Jochum 2010, 62. 4 Embach 2000. In seinem gedruckt erschienenen Werk De laude scriptorum macht Johannes Trithemius sich zu einem leidenschaftlichen Anwalt der alten monastischen Tradition des Abschreibens von Texten. In einer Zeit, in der der Buchdruck sich längst etabliert hatte, verteidigt Trithemius diese Tradition als einen Akt kontemplativer Versenkung in die Originalquellen der klösterlichen Lebenskultur. Zur Bedeutung des Phänomens Klosterhumanismus vgl. Müller 2006. 5 Benediktsregel 1982. Unsere Auswertung muss sich auf die wichtigsten Stellen der Regel beschränken. Eine Berücksichtigung der verschiedenen Consuetudines und ihrer Aussagen zum Lektürekanon der jeweiligen Konvente ist nicht möglich.
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3 Bildung und Wissen in der Regula Benedicti Die Regula Benedicti ist in mehr als 300 Handschriften überliefert, von denen die älteste um 700 in Südengland entstanden ist (Oxford, Bodleian Library, Ms. Hatton 48).6 Volkssprachliche Ausgaben der Regel sind ab dem frühen 9. Jahrhundert in einer althochdeutschen Übersetzung bezeugt, der eine angelsächsische Übersetzung Bischof Aethelwolds von Winchester († 984) aus dem späten 10. Jahrhundert folgt. Romanische Fassungen finden sich erst ab dem 13. Jahrhundert.7 Es ist bekannt, dass der Siegeszug der Benediktsregel ein über Jahrhunderte sich erstreckender, mühsamer Prozess gewesen ist, der durch die Reformanstöße Karls des Großen und Benedikts von Aniane (ca. 750–821) zwar kräftige Impulse erhielt, der sich „auf dem flachen Land“ aber teilweise bis ins 10. Jahrhundert und weit darüber hinaus hinzog. Und obwohl Benedikt von Aniane es auf den Reformsynoden von Aachen (816/19) erreichte, dass die Regula Benedicti zur alleinigen Mönchsregel im Frankenreich erklärt wurde, verzögerte sich ihre Einführung – um nur ein Beispiel zu nennen – in der Abtei Trier-St. Matthias bis in die Zeiten des ottonischen Bischofs Egbert (977–993).8 Benedikt selbst hatte in Rom ein Studium der Septem artes begonnen, es aber nicht zu Ende geführt, da er in ihm einen potenziellen Weg zum Laster erblickte. „Er zog sich also zurück, mit Wissen unwissend und aus Weisheit ungebildet“, so heißt es in den Dialogi Gregors des Großen über den Ordensstifter.9 Damit erscheint Benedikt als eine Gestalt, die in der Tradition des theodidaktos steht, eines Menschen also, der allein von Gott unterrichtet ist. Dieses auf die Vita Antonii des Athanasius von Alexandrien (ca. 295–373) zurückgehende Ideal wurde in der Patristik geradezu topisch apostrophiert und fand im Mittelalter bei Gestalten wie Hildegard von Bingen (1098–1179) und anderen Visionären eine bereitwillige Wiederaufnahme. Ansonsten gilt, dass als Leitbild eines Mönchs, wie ihn die Regula Benedicti beschreibt, Christus selbst erscheint, der damit in die Rolle eines Proto- oder Krypto-Benediktiners schlüpft. In Bezug auf das Thema Wissen und Bildung bedeutet dies nicht eben viel: Dem Zeugnis der Bibel zufolge konnte Christus zwar lesen und schreiben, doch sind die einzigen von ihm tatsächlich geschriebenen Worte, wie die neutestamentliche Erzählung von der Ehebrecherin (Joh 8,6) belegt, mit dem Finger in den Sand geschrieben. Der Lesekanon Christi wiederum erschöpfte sich, soweit uns dies bekannt ist, in den Schriften des Alten Testaments beziehungsweise Teilen daraus. So berichtet die Perikope Lk 4,16, Jesus habe in der Synagoge von Nazareth vorgelesen, und zwar aus dem Buch Jesaja.
6 Ruh 1978, 703. 7 Ebd. 704. 8 Zu den Trierer Benediktinerabteien vgl. Die Söhne des heiligen Benedikt 2009. 9 Gregor der Große, Dialogi. Zitiert nach Benediktsregel 1982, 244.
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Hinsichtlich des Themas Wissen, genauer gesagt hinsichtlich der Punkte Schreiben und Lesen, äußert sich die Regula Benedicti vor allem in ihrem 48. Kapitel.10 Hier wird, angepasst an den natürlichen Jahresablauf von Sommer und Winter und das liturgische Tagesoffizium, ein Lektüreprogramm ausgebreitet, das sich zeitlich zwar recht ausgreifend, inhaltlich jedoch eher eng, und zwar vollständig auf den Bereich der Bibel bezogen, darstellt. Neben dem Alten und Neuen Testament werden Erklärungen zu den biblischen Büchern genannt, die „von anerkannt rechtgläubigen katholischen Vätern“11 stammen sollten, ansonsten nur noch der Psalter und der Text der Regula Benedicti selbst.12 Und wenn Benedikt von der scola oder der bibliotheca spricht, so geschieht auch dies nicht in einem wissensspezifischen Sinn. Vielmehr meint scola das Kloster als Schule des Herrn (dominici scola servitii) und bibliotheca die Heilige Schrift als das Buch der Bücher. Wie streng dieser Lektürekanon im monastischen Alltag beobachtet wurde, beweist die Tatsache, dass während der Fastenzeit zwei Brüder im Kloster umhergehen mussten und darauf zu achten hatten, dass die Lesung auch tatsächlich erfolgte. War dies nicht der Fall, so drohte Strafe.13 Die gesamte monastische Conversio zielte demgemäß auf die Kenntnis und Verinnerlichung der Bibel ab. Eine nach heutigem Verständnis autonome, auf Sachliteratur, Wissensaneignung oder Antikenrezeption gemünzte Lektüre war dagegen nicht vorgesehen. Noch drastischer fällt der Befund aus, wenn man die Bestimmungen der Benediktsregel zu den Schreibutensilien in den Blick nimmt. So heißt es in Kapitel 33, das über die Frage handelt, ob die Mönche Eigentum besitzen dürften: „Keiner nehme sich heraus, ohne Geheiß des Abtes etwas wegzugeben oder zu empfangen oder etwas zu eigen zu besitzen, durchaus nichts“ – und dann weiter „weder Buch, noch Täfelchen, noch Griffel, nein, überhaupt nichts.“14 Diese Regelung wird in Kapitel 55, Vers 18–19 im Zusammenhang des Sonderbesitzes der Mönche noch einmal wiederholt: „Um dieses Laster des Sonderbesitzes mit der Wurzel auszurotten, stelle der Abt alles Notwendige zur Verfügung, nämlich Kukulle, Tunika, leichtes und schweres Schuhwerk, Gürtel, Messer, Griffel, Nadel, Tüchlein, Täfelchen, damit sich keiner entschuldigen kann, es fehle ihm etwas Notwendiges.“15 Damit ist klar, dass auch das Schreiben und Anfertigen von Texten als eine Tätigkeit betrachtet wurde, die sich der Verfügungsgewalt des einzelnen Mönchs entzog. Sie besaß keinen autonomen, subjektiven Status, sondern wurde gewissermaßen offiziell vom Kloster beziehungsweise
10 Benediktsregel 1982, 235–245. 11 Ebd. 139 [Kapitel 9, Vers 8]. 12 Ebd. 311 [Kapitel 66, Vers 8]: Wir wollen, dass diese Regel öfter in der Gemeinschaft gelesen wird, damit sich kein Bruder mit Unkenntnis entschuldigen kann. 13 Ebd. 242. 14 Ebd. 197 [Kapitel 33, Vers 3]. 15 Ebd. 263 [Kapitel 55, Vers 18–19].
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dem Abt an den einzelnen Schreiber delegiert und bedurfte von daher der Genehmigung der Klosteroberen. Soweit die in puncto Wissensaneignung doch recht restriktiven Bestimmungen der Benediktsregel. Schauen wir nun, in welcher Weise sich dieser frühe Bildungsikonoklasmus auf die Zusammensetzung und die geistige Ausrichtung benediktinischer Bibliotheken des Mittelalters ausgewirkt hat.
4 Der Maximiner Bibliothekskatalog von circa 1125 Ein in der Trierer Handschrift 2209/2328 2°, Bd. 2 (fol. 1r) niedergelegter Bibliothekskatalog der Abtei Trier-St. Maximin aus der Zeit um 1125 weist im Ganzen 151 Codices nach.16 Der nachträglich in die Handschrift eingetragene Katalog findet sich auf der Rectoseite von fol. 1 des zweiten Bandes. Beide Bände zusammen enthalten eine aus dem dritten Viertel des 10. Jahrhunderts stammende Abschrift der Moralia in Iob Gregors des Großen. Der mit reichhaltigen Verzierungen ausgestattete Text gilt Hartmut Hoffmann zufolge als „das Hauptwerk des Skriptoriums von St. Maximin in der Zeit vor dem Egbertcodex“.17 Die Initialkunst der beiden Bände weist deutliche Spuren einer Beeinflussung durch das Skriptorium von Tours auf. Die Systematik und die aufgezählten Schriften des Maximiner Katalogs geben noch sehr deutlich die grundlegenden Vorschriften der Regula Benedicti zu erkennen. Im Zentrum stehen die Bibel und ihre Kommentierungen, während der Bereich der profanen Wissensliteratur nahezu vollständig ausgeblendet bleibt. Der Bestand der Bibliothek ist in neun Sachgruppen eingeteilt, von denen acht im Katalog über entsprechende Rubriken auch terminologisch ausgewiesen sind. Nur die letzte Abteilung versammelt ohne eigene Überschrift Schriften heterogenen Inhalts. Sie könnte unter der Rubrik „Quodlibetica“ zusammengefasst werden. Zu Beginn erscheinen die Libri de armario Sancti Maximini. Hierbei handelt es sich um besonders geschützte und separat aufgestellte Codices, die Ausgaben der Bibel oder biblischer Bücher enthalten. Im Einzelnen werden aufgeführt: zwei Pandekten (Bibliothecae due maiores perfectae), eine Ausgabe des Alten Testaments mit den Paulusbriefen (item alia minor in qua vetus tantum testamentum cum epistolis Pauli), ein
16 Kentenich 1910, 158–159. Der Maximiner Katalog ist ediert bei Kraus 1869, Becker 1885, 178–181 (Nr. 76) sowie bei Knoblich 1996, 120–124 mit Abb. 147. Zur Bibliothek von St. Maximin vgl. auch Knoblich 1999, 1040–1041. 17 Hoffmann 1986, 497.
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Abb. 3: Trier, Stadtbibliothek, Hs. 2209/2328 2°, Bd. 2, fol. 1r: Bibliothekskatalog von Trier-St. Maximin, ca. 1125.
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Textus evangelii unus auro scriptus, hinter dem sich das berühmte Ada-Evangeliar der Stadtbibliothek Trier (Hs 22) verbergen dürfte, sowie fünf weitere Evangeliare.18 Als nächste Hauptkategorien folgen die Schriften der vier westlichen Kirchenväter Augustinus, Hieronymus, Ambrosius und Gregor der Große (Augustiniani Libri, Ieronimiani Libri, Ambrosiani Libri, Gregoriani Libri). Sie beinhalten das, was die Benediktsregel unter die Erklärungen der Bibel durch „anerkannt rechtgläubige katholische Väter“ zählt. Die weiteren Rubriken sind zunächst zwei bedeutenden Vermittlern spätantiken Wissens an das Mittelalter gewidmet, Beda Venerabilis (ca. 672–735) und Isidor von Sevilla (ca. 560–636). Bei Beda, der mit stattlichen 14 Codices vertreten ist, überwiegen die Bibelkommentare (von der Apokalypse bis zu Markus und Lukas), gefolgt von den komputistischen Schriften (De temporibus tres) und der Geschichte des englischen Volkes. Isidor erscheint mit einem Kommentar zu den fünf Büchern Mose, den Etymologien und einem nicht genauer zu identifizierenden Werk scottice scriptus. Es folgen homiletische und exegetische Schriften des Johannes Chrysostomus und des Haimo von Auxerre (Jesaja-Kommentar) sowie eine circa 50 Nummern starke Abteilung gemischten Inhalts. Sie besteht aus historischen Schriften (Historia Romana, Historia tripartita, Gesta Karoli et eius successorum), anderen Ordensregeln (Smaragd von St. Mihiel, Diadema monachorum; Glosae super regulam sancti Benedicti), liturgischen Texten (Ordo romanus, Amalarius [?], Liber de officiis ecclesiasticis), weiteren Vätertexten (Vitas patrum) sowie einigen wenigen Abhandlungen zur Theologie (Athanasius, De sancta trinitate). Zu erwähnen sind ferner eine Expositio Psalterii scottice scripta und ein singulärer Liber theutonicus. Bei letzterem könnte es sich um ein noch heute in der Stadtbibliothek Trier liegendes Fragment der althochdeutschen Lex salica handeln.19 Die Literatur des Mittelalters ist außer durch Beda Venerabilis und Amalarius von Trier (Metz) nur durch zwei weitere „moderne“ Autoren vertreten, Hrabanus Maurus (De ecclesia catholica) und Alkuin (Johannes-Kommentar). Kein einziger Autor jenseits der karolingischen Renaissance ist vorhanden, und die zeitgenössische Literatur des 11. und frühen 12. Jahrhunderts bleibt vollständig ausgeblendet. Damit erweist sich der Maximiner Bestand als extrem konservativ, oder, um beim Thema zu bleiben, den Anweisungen der Regula Benedicti konform, eine Aussage, die naturgemäß unter dem Vorbehalt steht, dass die Bibliothekstopographie eines mittelalterlichen Klosters durch Aufsplitterung der Bestände nach spezifischen Standorten gekennzeichnet war. So müssen wir mit eigenen Buchbeständen in der Sakristei, der
18 Zum Ada-Evangeliar vgl. Embach 2010. Das um 795/810 entstandene Ada-Evangeliar gilt als das typenbildende Hauptwerk der Hofschule Karls des Großen. Die Handschrift enthält den ganz in Gold geschriebenen Text der vier Evangelien. Berühmt sind die vier Bilddarstellungen der Evangelisten. Der Name Ada-Evangeliar leitet sich von einer angeblichen Schwester Karls des Großen her, die den Codex gestiftet und in Auftrag gegeben haben soll. 19 Embach 2012, 426–427.
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Infirmarie, der Abtsstube und im Refektorium, möglicherweise auch in der Schule, rechnen. Vor allem aber überrascht im Maximiner Katalog das vollständige Fehlen von Autoren der Antike, der Septem artes-Literatur sowie von Kompilationswerken in der Deszendenz des Isidor von Sevilla. Andere Klöster besaßen zu dieser Zeit längst Ausgaben von Hrabans De natura rerum, des Liber Floridus Lamberts von Saint Omer, des Summarium Heinrici oder vergleichbarer Kompendien der post-isidorischen Realienliteratur. Die Absenz antiker Autoren und von Werken der Schulliteratur wiederum kann eigentlich nur zwei Gründe haben: Entweder waren die Schultexte separat aufgestellt oder die akademische Ausbildung der angehenden Mönche war in St. Maximin nicht so wichtig wie etwa in Trier-St. Matthias und Echternach, Klöstern, die durch eine reiche Ausstattung mit Werken der antiken Literatur, lateinischen und griechischen Grammatiken und Schriften der semi-profanen Wissensliteratur gekennzeichnet sind.20 Vergleicht man den Maximiner Katalog von circa 1125 mit den Beständen von St. Gallen, Trier-St. Matthias (Eucharius) oder Echternach, so erhärtet sich der Eindruck einer stark konservativen Ausrichtung. Die Sankt Galler Handschrift, Stiftsbibliothek, Cod. 728, eine Zusammenstellung der Kapitularien des Ansegis, der Lex salica und der Lex Ribuaria, enthält auf S. 4 einen Bibliothekskatalog, der unter der Überschrift Libri Scottice scripti circa 30 verschiedene Codices aufführt.21 Das in die Jahre 884 bis 888 datierte Verzeichnis enthält den ältesten erhaltenen Katalog der Stiftsbibliothek St. Gallen. Es weist zwar auch die üblichen Bibeltexte mit ihren Kommentaren, ferner patristische, hagiographische, liturgische und kirchenrechtliche Schriften nach, doch sind zudem bereits Schulbücher vorhanden. Genannt seien Beda Venerabilis mit seiner Schrift De arte metrica oder Boethius mit seinem Werk De arithmetica. Es findet sich sogar ein Metrum Vergilii mit einer zugehörigen Glosse, vermutlich dem Kommentar des Servius. Im Zwischenbereich von Christentum und Antike angesiedelt sind zwei Werke des Juvencus (306–337) und des Sedulius († 450). Ersterer ist als Verfasser einer in lateinischen Hexametern geschriebenen Evangelienharmonie, der Evangeliorum libri quattuor, letzterer als Schöpfer einer ebenfalls metrischen Nacherzählung des Lebens Jesu, des berühmten Carmen paschale, bekannt. Das Verzeichnis ist umso interessanter, als es lediglich die insular geprägten Bestände St.
20 Zur Bibliothek der Abtei Trier-St. Matthias (Eucharius) vgl. Becker 1996, 76–240, sowie Embach/ Moulin 2012. 21 Beschreibung der Handschrift vgl. Scherrer 1875, 233–235. Die Handschrift ist mittlerweile in digitaler Form über das Portal e-codices. St. Gallen, Stiftsbibliothek benutzbar. Der Bibliothekskatalog wurde mehrfach ediert. Vgl. Becker 1885, 43–53 (Nr. 22) und Lehmann 1918, 66–82 (Nr. 16). Vom Bibliothekskatalog der Handschrift 728 wurde gegen Ende des 9. Jahrhunderts eine Abschrift hergestellt, die sich im Codex St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 267 erhalten hat. Zur Systematik des Kataloges vgl. Umstätter/Wagner-Döbler 2005, 26–30.
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Gallens (Libri scottice) aufführt, vermutlich eben deshalb, weil diese gegen Ende des 9. Jahrhunderts aufgrund ihrer altertümlichen Schriftart nicht mehr gut lesbar waren. Möglicherweise sollten sie zur Makulierung ausgesondert und durch neue Abschriften ersetzt werden, möglicherweise besaßen sie aber auch einen besonderen Status, da sie auf die iro-fränkische Gründung St. Gallens zurückverwiesen. Wie dem auch sei, es ist damit zu rechnen, dass die „moderne“ Klosterbibliothek St. Gallens mit den „Non-Scottica“ noch sehr viel stärker an der Antike und der aufsprießenden Wissensliteratur der Zeit orientiert war als dies für die Libri scottice galt. In diesem Zusammenhang hat Andrea Zur Nieden darauf hingewiesen, dass die Bibliothek von St. Gallen ihren stärksten Aufschwung im 9. Jahrhundert erfahren hat. Ebenso wie das Kloster Reichenau habe auch St. Gallen zu dieser Zeit bereits „das Doppelte von 200 Bänden, die als Richtgröße für eine große frühmittelalterliche Bibliothek angesetzt wurden“22, besessen. Dabei falle auf den ersten Blick der hohe Anteil an Klassikerausgaben auf, der insbesondere zum Studium in der Schule gedient habe.23 Wie manifest das Thema Bildung und Wissen im Laufe der Zeit tatsächlich in die Bestandsprofile benediktinischer Bibliotheken einbrechen konnte, beweisen die Bestände der Bibliotheken von Trier-St. Matthias (Eucharius) und Echternach. Sie machen deutlich, dass gegen Ende des 10. und zu Beginn des 11. Jahrhunderts ein kräftiger Aufschwung in den akademischen Studien eintrat, der vermutlich mit der Einführung der Benediktsregel zusammenhing. Ein in Trier derzeit laufendes Projekt zur Digitalisierung und virtuellen Rekonstruktion der Bibliothek von St. Matthias (Eucharius) eröffnet die Möglichkeit, sich hierüber einen detaillierten Einblick zu verschaffen (www.stmatthias.uni-trier.de). Bemerkenswert ist die Tatsache, dass der Aufschwung der Bibliotheken von St. Matthias und Echternach mit der Entwicklung der Klosterschulen zusammenhing, mögen daneben auch andere Gründe wie die inner-benediktinische Reform des 10. Jahrhunderts (Gorze und St. Maximin) oder der Einfluss Gerberts von Aurillac (ca. 950–1003), des späteren Papstes Silvester II., hinzukommen.24 Die Echternacher Klassikergruppe mit ihren kommentierten Ausgaben des Vergil, Horaz, Arator, Avian, Persius, Juvenal, Lukan, Statius, Terenz und vieler anderer mehr spricht hier für sich.25 Hinzu kommen Grammatiken des Priscian, die Disticha Catonis, Kommentarwerke des Boethius zu Aristoteles sowie zahlreiche Schriften zu einzelnen Disziplinen der Septem artes liberales.
22 Zu Bibliothek und Skriptorium von St. Gallen: Zur Nieden 2008, 281–304, hier 284. 23 Zum Kanon der mittelalterliche Schullektüre vgl. Glauche 1970. Henkel 1988, insbesondere 56–64 (Verzeichnis lateinischer Texte, die im Mittelalter im deutschen Sprachraum als Schultexte verwendet wurden). 24 Zur Schule und zum geistigen Leben in der Abtei Trier St. Matthias vgl. Becker 1996, 456–476. 25 Zu den Echternacher Klassiker-Handschriften vgl. Schroeder 1975.
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Doch ist es keineswegs nur der Bestand der Bibliothek, der sich ändert und erweitert. Entscheidende Bedeutung besitzen, und damit komme ich zum Begriff der strukturellen Mobilisierung von Wissen, die intensiven Eingriffe in den Grundtext einer Handschrift, die sich in Form von Glossen, Scholien und Kommentierungen äußern. Ich sehe in diesen Eingriffen eine potenzierte Form der Wissensaneignung beziehungsweise Wissensvermittlung, da es durch sie zur Herausbildung eines ergänzenden semantischen Systems kommt, innerhalb dessen auf eine „wissenschaftliche“ Weise Meinungen artikuliert, Standpunkte ausgetauscht und neue Erkenntnisse formuliert werden. Der Rezipient beginnt, sich als eigenständiges Erkenntnissubjekt von der alleinigen Autorität des Autors oder eines normsetzenden Masterminds, dessen Kommentierungen als kanonisch angesehen werden, zu emanzipieren und sich Wissen in einer ihm gemäßen Form anzueignen, mögen die Glossen und Scholien auch häufig noch in schulmäßiger Weise tradiert worden sein. Der Text und das in ihm zugrunde gelegte Wissen entwickeln sich zu einer Art Aktivpotenzial, das einen höheren Grad von Wirkung zu entfalten vermag als die „nackte“ Vorlage allein. Nichtglossierende und glossierende Textlektüre unterscheiden sich daher nicht nur graduell, sie unterscheiden sich systematisch voneinander. Während erstere primär mit dem Autor dialogisiert, ist letztere auf ein zusätzliches Referenzsystem unterschiedlicher Meinungen und Inhaltsebenen bezogen, deren Berücksichtigung die Lektüre in den Rang einer „Wissenschaft“ erhebt. Damit ist zugleich gesagt, dass diese Wissenschaft ein Hortus conclusus ist, der nur den Eingeweihten, das heißt den Gebildeten oder Lateinkundigen, offenstand. Es wäre reizvoll, diese Gesichtspunkte anhand einer großen Glossenhandschrift, etwa des aus Echternach stammenden Trierer Codex, Hs. 1093/1694 gr. 2°, einer bedeutenden Schulhandschrift mit zentralen Texten der lateinischen Antike sowie zahlreichen lateinischen und deutschen Glossen, näher zu beleuchten.26 Aus Raumgründen muss dies hier unterbleiben. Ich verweise stattdessen auf eine kurz vor dem Abschluss stehende Dissertation von Falco Klaes (Universität Trier/Ältere Deutsche Philologie) über die althochdeutsche Glossographie in Handschriften aus dem Raum Trier. An dieser Stelle sollen zumindest kurz zwei weitere Sachverhalte angesprochen werden, die mir im Hinblick auf eine genauere Umschreibung des Begriffs „Wissensraum“ im Mittelalter wichtig erscheinen. Zum einen sei hervorgehoben, dass die Glossatoren der antiken Texte ihre Tätigkeit keineswegs nur in lateinischer Sprache verrichtet haben. Gerade am Beispiel der eben genannten Glossenhandschrift lässt sich zeigen, dass die Praxis des Glossierens auch in der Volkssprache stattfand. Der Codex enthält circa 780 Glossen in althochdeutscher Sprache. Dies bedeutet zugleich, dass die Glossatoren wortschöpferisch aktiv waren. Nicht selten waren sie Pioniere in der Herausbildung einer volkssprach-
26 Zur Handschrift 1093/1694 gr. 2° vgl. Keuffer 1931, 22–26 sowie Embach/Nolden 2010, 18–19.
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lichen Wissenschaftssprache. Ähnliches trifft auf den Bereich der Übersetzungen zu, wie wir ihn ja insbesondere für Bibliothek und Skriptorium der Abtei St. Gallen belegen können. Zahlreiche Erstverwendungen aus der spätalthochdeutschen und frühmittelhochdeutschen Epoche finden sich in Glossen- und Übersetzungswerken. Der volkssprachliche Wortschatz dieser Epoche ist, dies haben die Untersuchungen von Rolf Bergmann und seiner Schule hinlänglich bewiesen, bis zu etwa zwei Dritteln sogar ausschließlich aus der glossatorischen Überlieferung geschöpft.27 Was damit geleistet wurde, kann als eine gewaltige Inkulturation antiken Wissens und zeitgenössischer Bildung in den Bereich der indigenen Sprachen und Literaturen des Mittelalters bezeichnet werden. Wie weit dieser Prozess der Inkulturation gehen konnte, mag eine Glossenhandschrift des 11. Jahrhunderts aus Trier-St. Matthias (Eucharius) zeigen (Bibliothek des Bischöflichen Priesterseminars, Hs. 61, foll. 39–41, 115v).28 Der Codex enthält nicht nur Glossen, sondern auch Runen. Dies ist sehr ungewöhnlich. Runen waren etwa seit dem Jahre 800 nicht mehr im Gebrauch. In germanischer Zeit dienten sie vor allem als Zeichen im Rahmen von kultischen Zusammenhängen. Hier in unserer Handschrift greift nun ein Mönch des 11. Jahrhunderts zur Feder und trägt am oberen Rand seines Textes vier verschiedene Runenalphabete ein. Es sind dies: Isrunen, Lago-, Hahal- und Stopfrunen.29 Ja mehr noch, er beginnt sogar, selbst Texte in Runenschrift zu verfassen. Auch wenn ihm hierbei manche Fehler unterlaufen, so gewährt sein dokumentarisches Wirken doch ein deutliches Zeichen für den Bildungshunger und die Aufgeschlossenheit der Mönche gegenüber allem, was Wissen betrifft. Auch das „heidnische“ Ausdrucksverhalten längst vergangener Zeiten ist es noch wert, festgehalten zu werden. Hierzu passt, dass zahlreiche Handschriften, insbesondere aus St. Maximin, lateinische und volkssprachliche Zauber- und Segenssprüche überliefern, die zum Teil auf paganem, zum Teil auch auf christlichem Traditionsgut basieren. Für die volkssprachlichen Sprüche gehen diese Denotate bis in die Zeit des Althochdeutschen beziehungsweise Altsächsischen zurück.30 Die emsigen Benediktinermönche offenbaren sich hierin als Paläontologen des Geistes, die ihre Aufgabe darin erblicken, Wissen zu archivieren und – ohne jegliche Rücksicht auf seine weltanschauliche Ausrichtung – vom Aussterben zu bewahren. Wir sind damit bei der Frage angekommen, wo die Grenzen einer solchen Form wissensbasierter Aktivitäten lagen. Waren die Bibliotheken, Skriptorien und Schulen der
27 Bergmann/Stricker 2005, Bd. 1, 58. Siehe auch Bergmann/Stricker 2009. 28 Marx 1912, 50–51; Rapp/Embach 2007, 48–52 [mit Abb.]. Zur Entzifferung der Runen wurde eine Tabelle verwendet, die den Buchstaben- bzw. Lautwert der Runen darstellte. 29 Zu den verschiedenen Runenschriften, ihrer Verwendung und Geschichte vgl. die einschlägigen Einträge im Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 25 (Müller 2003), 499–596. 30 Zu den Zauber- und Segenssprüchen aus dem Raum Trier vgl. Embach 2007, 61–108.
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Abb. 4: Trier, Bibliothek des Bischöflichen Priesterseminars, Hs. 61, fol. 39r: Runenschrift
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Klöster jener Zeit embryonale Vorstufen der Universitäten des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit oder gab es Mauern, die nicht mehr zu überspringen waren?
5 Grenzen des monastischen Bildungshungers Ich möchte versuchen, Antworten auf diese Fragen anhand zweier Beispiele aus dem 12. und 15. Jahrhundert zu geben, wobei dies hier allerdings nur noch in aphoristischer Kürze geschehen kann. Nimmt man den Hortus Deliciarum der gelehrten Stiftsdame Herrad von Hohenburg (ca. 1125–1196) zur Hand, so begegnet man im vorderen Teil ihres Werkes einer Miniatur der Septem artes liberales.31 Die zugehörigen Texte und Bilder sind von programmatischer Aussagekraft, bedürfen aber auch der Interpretation. Einerseits liefert die Miniatur ein pathetisches Bekenntnis zum Bildungskanon der Antike mit den seit langem zum Kurrikulum der akademischen Ausbildung gehörenden Fächern des Trivium und des Quadrivium. Andererseits werden die weltlichen Wissenschaften durch die Gestalt der Philosophia christiana, aus deren Herzen die sieben Ströme der Weisheit fließen, gewissermaßen getauft und christianisiert. Hierzu passt, dass Sokrates und Plato als Repräsentanten der antiken Philosophie das Suppedaneum, die Fußbank der thronenden Philosophia christiana, bilden und die poetae vel magi als Vertreter der weltlichen Literatur aus dem Kosmos der christlichen Wissensgesellschaft kategorisch ausgeschlossen sind. Krähen als mythische Vögel des Todes flüstern ihnen Verderben bringende Botschaften ins Ohr. Sie erweisen die weltlichen Dichter und Gelehrten als Kontratypen zu den vier Evangelisten, denen die Taube des Heiligen Geistes die Botschaft des Lebens einhaucht. Wir erkennen in dieser Miniatur eine bewusst gebrochene, weltanschaulich gereinigte Form des antiken und mittelalterlichen Bildungskanons, auch wenn der weitere Text des Hortus Deliciarum die Einschränkung auf rein christliches Bildungsgut keineswegs durchhält und antike Mythologeme wie die Odyssee des Homer in großem Stil herbeizitiert. Der Schritt weg von der Schule des Klosters und hin zur Universität der Stadt, in der die Freien Künste unbeanstandet gefeiert werden, ist aber noch nicht vollzogen. Noch problematischer stellt sich die Situation im 15. Jahrhundert dar, als der auf das Ziel der Bildung hin fokussierte Humanismus geistlicher Kreise manche Klosterstube in ein rein weltliches Studierzimmer zu verwandeln drohte. Es ist
31 Green/Evans 1979, Bd. 1, 33. Die Originalhandschrift des Hortus Deliciarum wurde von den preußischen Truppen im Krieg von 1870/71 bei einem Bombardement der Stadt Straßburg zerstört. Auf der Grundlage zuvor erstellter Abbildungen konnten jedoch weite Teile der Handschrift rekonstruiert werden.
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Abb. 5: Herrad von Hohenburg, Hortus Deliciarum; aus: Green/Evans 1979, Bd. 2, 57, Abb. 33: Miniatur der Septem artes liberales
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bekannt, dass der bereits erwähnte Klosterhumanist Johannes Trithemius, ebenfalls ein Sohn des heiligen Benedikt, in seinem Heimatkloster Sponheim eine der größten Bibliotheken seiner Zeit aufbaute.32 Allein gut 100 Codices in griechischer Schrift waren Bestandteil der als achtes Weltwunder geltenden Sammlung. Auf der anderen Seite führten gerade diese Bibliomanie und der sich darin verkörpernde Bildungsfuror zur Absetzung und Vertreibung des großen Humanisten sowie zur bewusst vollzogenen Zerstreuung seiner Bibliothek durch die Nachfolger im Amt, eine geradezu krasse Form der Damnatio memoriae. Es wird an diesen Beispielen deutlich, dass die Spielräume monastischer Bibliotheken im Spannungsfeld von Kanonizität und struktureller Mobilisierung in den circa eintausend Jahren zwischen 500 und 1500, die wir in den Blick genommen haben, zwar gewaltig erscheinen, dass ihnen jedoch auch deutliche Grenzen gesetzt waren. Um es auf den Punkt zu bringen: Die latent drohende Entwicklung von der Scientia Dei zur Scientia mundi konnte und durfte nicht vollständig zum Tragen kommen, wollten monastische Bibliotheken das bleiben, was sie der Ursprungsintention ihres Stiftervaters Benedikt von Nursia gemäß sein sollten: nicht Räume des Wissens, sondern Rüstkammern der Erkenntnis Gottes.
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32 Arnold 1991, 76–73.
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Präsenz, Normierung und Transfer von Wissen Lorsch als „patristische Zentralbibliothek“
1 Einleitung Quamvis enim melius sit bene facere quam nosse, prius tamen est nosse quam facere.1 Dieses ursprünglich aus der vierten Predigt des Erzbischofs Caesarius von Arles (502– 542) stammende Zitat findet sich in gekürzter Form in der Epistola de litteris colendis, die Karl der Große wohl um das Jahr 787 zunächst an Abt Baugulf von Fulda (779–802) richtete, um sie später als Rundschreiben an alle Bischöfe und Äbte seines Reiches zu vermitteln.2 Darin ist kurz und knapp das Motto der karolingischen Bildungsreform auf den Punkt gebracht. Diese wurde durch die zentralen und richtungweisenden Kapitularien Karls des Großen – die Epistola de litteris colendis (um 787), die Admonitio generalis von 7893 und die Epistola generalis (zwischen 786 und 800)4 – eingeleitet.5 Ihr Inhalt scheint zunächst allgemein auf die Förderung der „Wissenschaften“ (litterarum studia)6 beziehungsweise auf das Studium der artes liberales abzuzielen.7 Doch Karl dem Großen und seinen gelehrten Ratgebern ging es grundsätzlich nicht nur um die Wiederbelebung der Wissenschaften, sondern vor allem um die Richtigkeit und die korrekte Weitergabe von „Wissen“.8 Aus diesem Grunde sollten fehlerhafte Bücher korrigiert9 beziehungsweise die fehlerhafte Ausfertigung von Büchern
1 MGH Capit. 1, 78–79, Nr. 29: Obwohl es nämlich besser ist, was richtig ist, zu tun, als es zu wissen, kommt dennoch das Wissen vor dem Handeln. 2 Zur Epistola de litteris collendis vgl. Urkundenbuch des Klosters Fulda, ed. Stengel, 251–254, Nr. 166; Berschin 1991, 101–113. 3 Jüngst kritisch ediert und übersetzt von Mordek/Zechiel-Eckes/Glatthaar 2012. 4 MGH Capit. 1, 80–81 Nr. 30. 5 Vgl. auch Berschin 1991, 101. 6 Quamobrem hortamur vos litterarum studia non solum non neglegere, verum etiam humillima et deo placita intentione ad hoc certatim discere … MGH Capit. 1, 79, Nr. 29. 7 Igitur quia curae nobis est, ut nostrarum ecclesiarum ad meliora semper proficiat status, oblitteratam pene maiorum nostrorum desidia reparare vigilanti studio litterarum satagimus officinam, et ad pernoscenda studia liberalium artium nostro etiam quos possumus invitamus exemplo. MGH Capit. 1, 80, Nr. 30. 8 … ut, qui Deo placere appetunt recte vivendo, ei etiam placere non negligant recte loquendo. […] Et bene novimus omnes, quia, quamvis periculosi sint errores verborum, multo periculosiores sunt errores sensuum. MGH Capit. 1, 79, Nr. 29. 9 Inter quae iam pridem universos veteris ac novi instrumenti libros, librariorum imperitia depravatos, Deo nos in omnibus adiuvante, examussim correximus. MGH Capit. 1, 80, Nr. 30. Ähnlich auch in der Admonitio generalis: Psalmos, notas, cantus, compotum, grammaticam per singula monasteria vel epi© 2015, Becker. Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 3.0 Lizenz.
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grundsätzlich vermieden werden,10 um das richtige Verständnis der „göttlichen Schriften“ nicht zu gefährden.11 Bereits Cassiodor (ca. 485–580) forderte in seinen Institutiones divinarum et saecularium litterarum, einer Einführung in die geistlichen und weltlichen Wissenschaften, beim Lesen der Heiligen Schrift eine gewisse Vorsicht ein und riet dazu, Worte, die keinen Sinn ergaben, zu verbessern.12 Im Mittelpunkt der karolingischen Bildungsreform stand folglich die „Eindeutigkeit“ und richtige Tradierung von „Wissen“.13 Die karolingische Bildungsreform strebte daher nicht nach der Wiederherstellung eines früheren Zustandes,14 sondern nach der Verwirklichung des rechten Zustandes – der norma rectitudinis.15 Dabei bildeten die renovatio von Sprache, Schrift sowie der weltlichen und geistlichen Wissenschaften eine untrennbare Einheit.16 Denn die zentrale Forderung war die Reinheit der biblischen Überlieferung und die richtige Interpretation der patristischen Werke, in deren Dienst die artes liberales gestellt wurden.17 Daneben standen die Vereinheitlichung von liturgischer Praxis und kirchlichem Leben, die Ausbreitung und bessere Zugänglichkeit des Schulwesens sowie die Tradierung und Wiederbelebung des antiken Wissens auf der Tagesordnung.18 Die Verchristlichung des Reiches und damit die Stabilisierung der Herrschaft Karls des Großen konnte nur durch die bewusste Verknüpfung
scopia et libros catholicos bene emendate; quia saepe, dum bene aliqui Deum rogare cupiunt, sed per inemendatos libros male rogant. MGH Capit. 1, 60, Nr. 22. 10 Et pueros vestros non sinite eos vel legendo vel scribendo corrumpere; et si opus est evangelium, psalterium et missale scribere, perfectae aetatis homines scribant cum omni diligentia. MGH Capit. 1, 60, Nr. 22. 11 … ut facilius et rectius divinarum scripturarum mysteria valeatis penetrare. MGH Capit. 1, 79, Nr. 29. 12 Cassiodor, Institutiones I, 15 (Sub qua tutela relegi debeat caelestis auctoritas), 11, 204–205: Quod si tamen aliqua verba reperiuntur absurde posita, aut ex his codicibus quos beatus Hieronymus in editione septuaginta interpretum emendavit, vel quos ipse ex Hebreo transtulit, intrepide corrigenda sunt. 13 Zum Begriff der „Eindeutigkeit“ vgl. Weinfurter 2012, 73–74. 14 Vor allem die ältere Forschung sprach von der karolingischen Renaissance: vgl. Burdach 1918; Patzelt 1924. Der Begriff der Renaissance wird den Zielen der Bewegung aber nicht gerecht, denn es ging weniger um eine Wiederbelebung der klassischen Antike, sondern die gelehrte Tradition sollte gewahrt und ihr neue Anwendungsfelder erschlossen werden. Vgl. hierzu Kintzinger 2007, 92; Hartmann 2010, 204. 15 Bereits Papst Zacharias (741–752) hatte in seinem Brief an Bonifatius im Jahr 744 gefordert: … stude ad normam rectitudinis reformare. Die Briefe des heiligen Bonifatius und Lullus, ed. Tangl, 108, Nr. 58. Nach Josef Fleckenstein stand hinter dem dreifachen Bemühen Karls des Großen, die Irrtümer zu korrigieren (errata corrigere), das Überflüssige abzutrennen (superflua abscindere) und das Richtige zu bekräftigen (recta cohartare) die norma rectitudinis als Wertmaßstab: vgl. Fleckenstein 1953, 52–53. 16 Vgl. Fleckenstein 1953, 84-85; Steckel 2011, 80–81. 17 „Die sieben freien Künste verloren, das folgt daraus, durch Karls Zugriff ihre Freiheit; sie waren zielgerichtet, einem Zweck unterworfen. Gleichwohl legitimierte dieser Freiheitsverlust, die Rezeption der religionsfernen Künste. […] Denn die sieben „Artes“ stärkten den Glauben und führten zu Gott; sie, die einst unchristlichen, halfen nun mit, das Reich zu verchristlichen.“ Fried 1997, 37. 18 Vgl. Schieffer 1997, 16.
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von gelehrtem Wissen und religiöser Lehre erzielt werden.19 Doch inwieweit können der handschriftliche Bestand und die Organisation der Lorscher Bibliothek über die Wissensvorstellungen der Zeit und die zentralen Forderungen der karolingischen Bildungsreformer Auskunft geben? Für die Klärung dieser Frage sollen vor allem die Untersuchungsmethoden des Heidelberger Sonderforschungsbereichs 933 „Materiale Textkulturen“ hinsichtlich der Materialität der in Lorsch entstandenen und aufbewahrten Artefakte sowie deren Rezeptionspraktiken fruchtbar gemacht werden. Denn wenn wir die Lorscher Codices als „kulturgeschichtlich relevante Quellen“ betrachten und uns die Frage stellen, welche Bedeutung den Artefakten in ihrem „ursprünglichen sozial-kulturellen Umfeld“ zugeschrieben wurde, können wir wertvolle Informationen über die kulturhistorischen Gegebenheiten und die „Wissensordnungen“ der karolingischen Zeitgenossen in Erfahrung bringen.20 Denn der Zugang zum Wissen war vom sozialen und kulturellen Kontext abhängig und konnte sich erst im jeweiligen Rezipienten zu konkretem Wissen entfalten. Die gelehrte Vermittlung von Bildung und Wissen war in der Karolingerzeit vor allem die Aufgabe der Klöster und monastischen Gemeinschaften.21 Denn in den karolingischen Klöstern befand sich die „Bildungselite“ beziehungsweise die Sondergruppe derjenigen Personen, die sich speziell der Aufgabe verschrieben hatten, der Wahrheit zu dienen, wie es ebenfalls in der Epistola de litteris colendis heißt.22 Die Vervielfältigung von Schriftzeugnissen durch die Tätigkeit der klösterlichen Skriptorien führte zur Weitergabe eines seit Jahrhunderten tradierten Wissensbestandes und zu einer dauerhaften Verschriftlichung von Wissensinhalten. Dabei dienten die Klöster als Wissensspeicher, auf deren Wissensreservoir die karolingische Elite zurückgreifen und ihre Reformmaßnahmen umsetzen konnte.23 Um die Qualität der Wissensvermittlung in den Klöstern zu steigern, wurden meist namhafte Persönlichkeiten aus dem Gelehrtenzirkel um Karl den Großen in die klösterlichen Gemeinschaften geschickt.24 So auch im Reichskloster Lorsch, das wohl bereits um das Jahr 763 als adeliges Eigenkloster von Graf Cancor und seiner Mutter, der Witwe Williswinth am Fluss Weschnitz gegründet und bald darauf ihrem Verwandten Bischof Chrodegang von Metz über-
19 Vgl. Fried 1997, 36-37; Steckel 2011, 78–91. 20 Vgl. Hilgert 2010, 1–4. 21 Vgl. Kintzinger 2006, 24–25; Steckel 2011, 89; Diem 1998, 27, stellt die dreifache Funktion der karolingischen Klöster als „intellectual centres“ heraus: „they offered space and resources to produce, copy and preserve books, they organised the institutionalised transmission of knowledge in monastic schools, and finally they enabled learned monks to indulge in scholarly work and the exchange of ideas.” 22 … qui ad hoc solummodo probantur electi, ut servire specialiter debeant veritati. MGH Capit. 1, 79, Nr. 29. 23 Vgl. Diem 1998, 27–30. 24 Vgl. Steckel 2011, 89.
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tragen wurde.25 Die Klostergründung diente zunächst einmal der Sicherung des Seelenheils der Gründerfamilie. Mit Chrodegang von Metz, der zu den engen Vertrauten König Pippins gehörte und bei der Neuorganisation der fränkischen Kirche eine entscheidende Rolle spielte, erhielt das Kloster einen einflussreichen Förderer.26 Im Jahr 765 wurde das mit Benediktinermönchen aus Gorze besiedelte und nach der römischfränkischen Kirchenreform ausgerichtete Kloster mit der Nazariusreliquie ausgestattet, wie die Fortsetzung der Annales Petaviani und der Annales Laurissenses minores belegen.27 Im Jahr 772 wurde Lorsch zur Reichsabtei erhoben und unter königlichen Schutz gestellt. Damit waren die engen Beziehungen zum karolingischen Königshof im Folgenden vorgezeichnet. Lorsch blieb bis ins Jahr 1232 Reichsabtei.28 Die Lorscher Handschriftenproduktion begann wohl bereits vor Abt Richbod (784–804), der unter dem Pseudonym „Macharius“ Teil des Gelehrtenkreises um Karl den Großen und ein Schüler Alkuins von York (735–804) war.29 Enge Beziehungen zum karolingischen Hof unterhielt auch Adalung, der der Abtei von 804 bis 834 als Abt vorstand und dem ab dem Jahre 808 auch noch die Abtei Saint-Vaast bei Arras in Personalunion anvertraut wurde.30 Unter ihm, wie auch unter seinem Nachfolger Abt Samuel (837–856), einem Freund des Hrabanus Maurus und später Bischof von Worms, wurde der Bestand der Lorscher Bibliothek weiter ausgebaut.31 Sowohl über die engen Beziehungen seiner Äbte zum karolingischen Hof als auch durch die Bereitstellung von Wissen, das vor allem dem richtigen Verständnis der heiligen Schriften und der patristischen Werke dienen sollte, hatte Lorsch Anteil an der karolingischen Reform. Dabei ging es neben der Korrektheit von Wissen vor allem auch um die Reinheit des Glaubens, wie es Alkuin von York in einem Brief an Rado, den Vorgänger des Adalung als Abt von Saint-Vaast (790–808) und Erzkanzler Karls des Großen (776– 795), auf den Punkt brachte.32 Er schrieb an Rado, der ebenfalls mit dem Skriptorium von Lorsch eng verbunden war:33
25 Codex Laureshamensis, ed. Glöckner, 267. 26 Scholz 2004, 769–770. 27 Hruotgangus Metensis urbis archiepiscopus postulavit a Paulo Romanae sedis apostolico corpora sanctorum martyrum Gorgonii, Naboris et Nazarii, et impetravit, adduxitque ab urbe Roma cum honore; et condidit sanctum Gorgonium in monasterio suo, quod ipse a novo aedificaverat, cui vocabulum est Gorzia, sanctum Naborem in monasterio alio quod dicitur Novacella, sanctum vero Nazarium in monasterio nostro Lauresham. Annales Laurissenses minores, ed. Pertz, 117. Vgl. Annales Petaviani, ed. Pertz, 11. 28 Vgl. Scholz 2004, 798. 29 … substituitur Richbodo, vir plane dilectus deo et hominibus, simplex et sapiens, atque tam in divinis quam in secularibus disciplinis adprime eruditus. Codex Laureshamensis, ed. Glöckner, 288. 30 Bischoff 1989, 62; Scholz 2004, 773–774. 31 Vgl. Deutinger 2004, 79–87. 32 Rado ist zwischen 772 und 784 in Urkunden Karls des Großen für das Kloster Lorsch als Invenient belegt: vgl. Codex Laureshamensis, ed. Glöckner, 276 und 283–285. 33 Ergänzungen in der charakteristischen Handschrift Rados finden sich vor allem in Codices, die in
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Fordere die Brüder auf, dass sie die heiligen Schriften sehr gewissenhaft lesen. Sie mögen nicht auf das mündliche Wissen vertrauen, sondern auf die Erkenntnis der Wahrheit, damit sie gegenüber denen, die der Wahrheit widersprechen, Widerstand leisten können. Wir leben in gefährlichen Zeiten, wie es die Apostel prophezeit haben, denn es treten viele falsche Gelehrte auf – und neue Sekten entstehen, die danach streben, die Reinheit des „rechten“ Glaubens durch frevelhafte Behauptungen zu besudeln. Daher braucht die Kirche viele Verteidiger, die nicht nur durch die Heiligkeit des Lebens, sondern auch durch die Lehre der Wahrheit die Festungen Gottes tatkräftig zu verteidigen verstehen.34
Alkuin betont in seinem Brief die Bedeutung des Geschriebenen für die Reinheit des Glaubens, der nur über das richtige Verständnis und die richtige Auslegung der heiligen Schrift bewahrt werden könne. Und dazu benötigte man einen „idealen“ Bestand an Bibelversionen, Bibelkommentaren und exegetischen Schriften der Kirchenväter.
2 Bestand der Lorscher Bibliothek Genau auf diesen von Alkuin geforderten Werken lag auch eindeutig der Schwerpunkt des Lorscher Bibliotheksbestandes, den man aufgrund der uns überlieferten vier karolingischen Bibliothekskataloge, die jüngst von Angelika Häse kritisch ediert wurden, rekonstruieren kann.35 Der ausführlichste, um 860 entstandene Katalog Ca und Cb verzeichnet allein etwa 470 Codices, worunter auch die liturgischen Bücher der Sakristei und die Handschriften für die Klosterschule aufgenommen sind.36 Heute sind insgesamt noch rund 300 Handschriften und Handschriftenfragmente erhalten, die mit Lorsch in Verbindung gebracht werden können. Die in Lorsch vorhandenen Handschriften werden in den vier Katalogen mit kleinen Unterschieden nach folgender Sachordnung verzeichnet: Bibel, historische Schriften (u. a. Orosius, Eusebius, Flavius Josephus, Hegesippus, Epiphanius, Gregor von Tours), Kirchenväter (Augus-
der frühen Produktionsphase des Skriptoriums, d.h. im älteren Lorscher Stil angefertigt wurden: so in Pal. lat. 207 (Augustinus, Tractatus in evangelium Iohannis), Pal. lat. 822 (Eusebius-Rufinus, Historia ecclesiastica) und Pal. lat. 1753 (Marius Victorinus, Grammatica, etc.), die sich alle drei heute in der Biblioteca Apostolica Vaticana in Rom befinden. Zu Rado vgl. auch den Beitrag von Tino Licht (in diesem Band), 149–151. 34 Alkuin, Epistolae, ed. Dümmler, 117, Nr. 74: Fratres quoque cohortare, ut sanctas diligentissime legant scripturas. Non confidant in linguae notitia, sed in veritatis intellegentia, ut possint contradicentibus veritati resistere. Sunt tempora periculosa, ut apostoli praedixerunt, quia multi pseudodoctores surgent, novas introducentes sectas, qui catholicae fidei puritatem impiis adsertionibus maculare nituntur. Ideo necesse est ecclesiam plurimos habere defensores, qui non solum vitae sanctitate, sed etiam doctrina veritatis castra Dei viriliter defendere valeant. (Übersetzung d. Verf.). 35 Vgl. Häse 2002. Im Folgenden wird sich an der von Angelika Häse vorgenommen Einteilung der Kataloge in A, B, Ca und Cb, D orientiert, die von der Zählung bei Bischoff 1989 (I–IV) abweicht. 36 Rom, BAV, Pal. lat. 1877, foll. 1–34. Vgl. Häse 2002, 38.
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tinus, Hieronymus, Gregor der Große, Beda Venerabilis, Ambrosius und Origenes) und verschiedene Theologen und frühmittelalterliche Gelehrte (Cassiodor, Isidor von Sevilla, Hilarius von Poitiers, Alkuin etc.).37 Danach folgen ohne eine erkennbare feste Ordnung Briefsammlungen und antike Autoren (wie beispielsweise Seneca, Cicero, aber auch Tertullian und Petrus Chrysologus), Grammatiker, wieder antike Autoren (vermischt mit Arianus Candidus, Einhard und Frechulf von Lisieux), christliche Dichtung (u. a. Severus von Malaga, Avitus von Vienne, Cyprianus Gallus), aszetische Literatur, Gesetzbücher und Canones, Glossare und Hagiographie.38 Auffallend ist bei dieser Einteilung vor allem, dass die kirchenhistorischen Schriften direkt nach den Büchern der Bibel und noch vor den Kirchenvätern aufgeführt werden. Dies ist dadurch zu erklären, dass die historia sacra im Mittelalter selbst als Exegese der Heiligen Schrift verstanden wurde.39 Denn seit Origenes hatten sich vor allem drei Formen der Bibelexegese (historisch, moralisch, allegorisch-pneumatisch) durchgesetzt, von denen die historia an erster Stelle stand.40 Rosamond McKitterick vermutete aufgrund der hohen Konzentration der kirchenhistorischen Schriften außerdem, dass die karolingischen Bildungsreformer in der Frühphase vor allem diese historiographischen Werke stark „beworben“ hätten, womit uns ein weiteres Indiz dafür vorliegen würde, dass Lorsch mit dem Zentrum der karolingischen Reform eng verbunden war.41 Anhand der einzelnen Kataloge können wir die „Entwicklung“ der Lorscher Bibliothek gut erkennen, deren größte Wachstumsperiode zwischen der Erstellung des zweiten und dritten Kataloges (B und C) anzusetzen ist.42 Allerdings muss dabei beachtet werden, dass im frühesten Katalog nicht alle Schriften registriert und diese
37 Vgl. dazu auch Bischoff 1989, 24. 38 Vgl. ebd. 39 „Die Historiographie trug nicht nur das historische Wissen für die Bibelexegese, und besonders für die historische Auslegung, zusammen, sie wurde vielmehr selbst als Exegese verstanden. […] Die historia als mittelalterliche Geschichtsschreibung hatte – und darin die eigentliche Geschichtstheorie des Mittelalters – wie die gesamte Exegese einen theologischen Bezug, und die Geschichtsschreiber waren zum großen Teil Theologen.“ Goetz 1985, 203 und 204. 40 Vgl. Goetz 1985, 194. 41 McKitterick 2004, 207: „I argue below that it is possible that the remarkable concentration of early church history manuscripts and the very wide dissemination of ecclesiastical history texts, especially of the Eusebius-Rufinus Historia ecclesiastica and the Historia tripartita across the Carolingian empire, could reflect the deliberate promotion of these books at an early stage of the Carolingian reform movement.“ 42 Der früheste Lorscher Bibliothekskatalog A, um 830 zu datieren, verzeichnete etwa 30 AugustinusTitel, der auf ihm aufbauende Katalog B (um 830-840) bereits 70, der ausführlichste dritte Katalog (Ca und Cb) sogar etwa 85 und der vierte, etwas weniger ausführliche Katalog D nur noch ca. 73, wobei sich darunter jedoch viele Zweitexemplare befinden. Ein ähnliches Bild ergibt sich bei den Hieronymus-Bänden: in Katalog A finden sich nur drei Hieronymus-Titel, in B schon 25, in Ca und Cb 32 und in D nur noch 26. Machen wir eine Stichprobe bei einem nicht-patristischen Autor, z. B. Alkuin von York, ergibt sich ein ganz ähnliches Bild: Katalog A nennt drei Einträge zu Alkuin, Katalog B bricht vorher ab, Katalog Ca und Cb führt elf und Katalog D nur noch neun Schriften Alkuins auf.
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dann teilweise zum ersten Mal in Katalog B aufgenommen wurden.43 Schauen wir detaillierter in die einzelnen Abteilungen, lassen sich einige Lorscher „Spezialitäten“ erkennen: Das Hauptaugenmerk lag sicherlich im Bereich der patristischen Autoren. Die Werke des Augustinus waren um die Mitte des 9. Jahrhunderts fast vollständig vertreten, und hierin übertraf Lorsch fast alle anderen wichtigen Klöster der Zeit, zu nennen sind nur die Reichenau, St. Gallen, Murbach, Bobbio, Fulda und Corbie.44 Eine weitere Besonderheit, die sich unter der Rubrik Grammatici des Lorscher Katalogs Ca entdecken läßt, ist unter anderem die Tatsache, wie stark christliche Dichtung aus der Spätantike in Lorsch vertreten war, die sich in etwas geringerer Konzentration nur noch in Murbach und St. Gallen findet.45 Leider haben sich heute, außer einigen Fragmenten, so gut wie keine Handschriften mit den Werken des Severus von Malaga, Arator, Avitus von Vienne oder Cyprianus Gallus mehr erhalten.46 Während Leges und karolingische Kapitularien in St. Gallen stark vertreten sind, sucht man hingegen in Lorsch Handschriften, die säkulare Rechtstexte enthalten, fast vergebens. Außer dem Eintrag der Lex Gothorum in uno codice und Lex Ripuaria et Lex Salica in uno codice im dritten Katalog scheinen in Lorsch keine Leges vertreten gewesen zu sein.47 Bei dem Blick in die Handschriften der ersten drei Bibliothekskataloge fällt auf, dass jeweils nach den Einträgen zu Augustinus – bevor die Aufzählung der Werke des Hieronymus beginnt – eine größere Lücke gelassen wurde, was bei den anderen Autoren nicht der Fall ist.48 Vielleicht hatte man absichtlich diesen Platz für „Nachträge“ gelassen, da man hier zum Zeitpunkt der Katalogerstellung noch den größten Zuwachs der Bibliothek erwartete. Leider hat sich ausgerechnet die Handschrift der Retractationes des Augustinus aus dem Lorscher Bestand nicht mehr erhalten,49 so dass nicht mehr überprüft werden kann, wie diese von den Verfassern der Lorscher Kataloge rezipiert wurde und ob sie noch in der Bibliothek fehlende Stücke dort vermerkten, wie Bernhard Bischoff dies für Mainz und Murbach nachweisen konnte.50 Allerdings ist feststellen, dass sich keiner der Kataloge bei der Anordnung der Augustinus-Werke an der Reihenfolge, wie diese in den Retractationes wiedergegeben werden, orientiert.
43 Vgl. Bischoff 1989, 22. 44 Vgl. Becker 1885. 45 Bischoff 1989, 78. 46 Vgl. dazu Bischoff/Schetter 1994, 9–10; Licht 2008, 171–172. 47 Häse 2002, 166. 48 Katalog A: Rom, BAV, Pal. lat. 1877, foll. 75r–v; Katalog B: Rom, BAV, Pal. lat. 1877, fol. 61r; Katalog Ca: Rom, BAV, Pal. lat. 1877, foll. 17v–18r. In Katalog A wurde fol. 74 mit Ergänzungen zu Augustinus nachträglich eingefügt. Vgl. auch Häse 2002, 55–56. 49 Dass Lorsch ein Exemplar der Retractationes besessen haben muss, geht aus den Bibliothekskatalogen hervor, die Kataloge Ca und D verzeichnen sogar jeweils noch ein Zweitexemplar der Handschrift. Vgl. die Einträge bei Häse 2002: A 22, B 66, Ca 124 und 125, D 43 und 44. 50 Vgl. Bischoff 1989, 72.
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Vergleicht man den Lorscher Bestand mit den Vorstellungen Cassiodors von einer „idealen“ Bibliothek wird deutlich, dass Lorsch bei den von Cassiodor geforderten Augustinusschriften fast die doppelte Menge vorzuweisen hatte und auch bei den übrigen Kirchenvätern und anderen christlichen Autoren gut mit den Forderungen Cassiodors Schritt halten konnte.51 Bei der profanen Literatur jedoch, vor allem bei den von Cassiodor genannten Autoren der artes liberales und den historiographischen Werken fallen viele Lücken ins Auge. Hier sieht man deutlich, dass das Kloster Vivarium von Cassiodor als Schulkloster konzipiert war, welche Funktion im Fall von Lorsch wesentlich unwichtiger gewesen zu sein scheint. Außerdem hatte sich die Ausgangssituation seit der Gründung von Vivarium, wo Cassiodor noch an die spätantiken Wissensideale anknüpfen konnte, inzwischen grundlegend verändert. Abgesehen davon konnte die Präsenz des Wissens, das die Lorscher Klosterbibliothek Mitte des 9. Jahrhundert vor allem hinsichtlich der patristischen Schriften zu bieten hatte, durchaus – wenn auch eine gewisse Zeitverzögerung festzustellen ist – den Anliegen der karolingischen Bildungsreformer gerecht werden und es mit den anderen monastischen Wissenszentren seiner Zeit aufnehmen.
3 Normierung von patristischen Texten Auch der eingangs genannten Reformforderung nach der Weitergabe von „richtigem“ beziehungsweise „eindeutigem“ Wissen, die sich vor allem durch die Korrektur von fehlerhaften oder durch die Ergänzung von fehlenden Passagen in den Handschriften ausdrückte, kam man im Lorscher Skriptorium nach. Handschriften aus dem eigenen Skriptorium oder aus anderen karolingischen Klöstern wurden in Lorsch oder durch Lorscher Schreiber auf ihre Richtigkeit überprüft. Dabei standen die Korrektheit und die eindeutige Verständlichkeit des Textes im Vordergrund, der ästhetische Gesamteindruck der Handschrift trat dahinter meist zurück. Als Beispiel lässt sich hier unter anderem der um 800 in Lorsch entstandene Codex Pal. lat. 207, der sich heute in der Biblioteca Apostolica Vaticana in Rom befindet, anführen. Diese Handschrift wurde im sogenannten älteren Lorscher Stil verfasst, sie weist noch viele Doppelformen und Ligaturen auf und es lassen sich zahlreiche insulare und alemannische Einflüsse im Schriftbild nachweisen.52 Der Text der Augustinus-Handschrift Tractatus in evangelium Iohannis wurde an mehreren Stellen durch Lorscher Schreiber korrigiert, so etwa auf fol. 8v, wo die Phrase caput enim omnium peccatorum superbia am Rand korrekterweise in caput omnium morborum superbia est, quia caput omnium peccatorum super-
51 Zum Bestand des Klosters Vivarium vgl. Cassiodor, Institutiones, 488–500; Troncarelli 1998. 52 Vgl. Bischoff 1989, 31, 33, 35.
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bia verbessert wurde.53 Am Ende des gleichen Blattes wurde eine weitere ergänzende Änderung durch dieselbe Hand, die dem bereits erwähnten Rado zuzuschreiben ist, vorgenommen. Charakteristisch für die Handschrift des Rado sind die ausgeprägten Ober- und Unterlängen, die schlaufenförmigen Verdickungen an den Oberlängen, das über die Zeile geführte e und die knospenartigen Verdickungen am Ansatz des f. Eingefügt ist eine im Text der Handschrift ausgelassene Passage, die jedoch für das richtige Verständnis der Stelle von zentraler Bedeutung ist.54
Abb. 6: Rom, BAV, Pal. lat. 207, fol. 8v: Augustinus, Tractatus in evangelium Iohannis. © [2014] Biblioteca Apostolica Vaticana
Rado, zunächst Erzkanzler am Hof Karls des Großen, war also auch im Lorscher Skriptorium nicht als einfacher Schreiber, sondern in leitender Funktion tätig und kontrollierte die korrekte Ausführung und Weitergabe der patristischen Texte.55
53 Rom, BAV, Pal. lat. 207, fol. 8v. 54 Nach der Phrase: ergo quia humilitatem docet deus, dixit: non ueni facere uoluntatem meam, sed eius uoluntatem qui me misit, ist eingefügt: haec enim commendatio humilitatis est. Superbia quippe facit uoluntatem suam; humilitas facit uoluntatem dei. Ideo qui ad me uenerit, non eiciam foras. Quare? quia non ueni facere uoluntatem meam, sed uoluntatem eius qui me misit. Danach geht es wieder korrekt oben im Text weiter mit: humilis ueni, humilitatem docere ueni … Augustinus, Tractatus in evangelium Iohannis, 25, 16, ed. Willems, 257. 55 In Rom, BAV, Pal. lat. 822 (Eusebius-Rufinus, Historia ecclesiastica) hat Rado, wie es dem Leiter eines Skriptoriums zustand, einige Kapitelüberschriften geschrieben (vgl. foll. 121v, 125v, 126v). In Rom, BAV, Pal. lat. 1753 (Marius Victorinus, Grammatica, etc.) stammen ganze Passagen aus seiner Hand (vgl. foll. 21r, 40r-42v, 43v-47v) wie auch in Pal. lat 487 (Ordo Romanus), wo er foll. 20r–24r geschrieben hat.
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Durch die für Lorsch in dieser Zeit typischen Korrekturmerkmale – hl (hic lege) und hd (hic deest) mit Kreuzstrich durch den Schaft von hd und hl –, die Wallace Lindsay als Lorscher „Ohrmarke“ bezeichnet hat, lassen sich Verbesserungen durch das Lorscher Skriptorium oder durch Lorscher Schreiber auch in Handschriften aus anderen Bibliotheken nachweisen.56 So beispielsweise in der in St. Gallen entstandenen Handschrift (Codices Sangallenses 165) mit dem Psalmenkommentar des Augustinus, die zahlreiche Lorscher Korrektureinträge hic lege und hic deest enthält und die daher entweder in Lorsch oder durch einen Lorscher Schreiber korrigiert wurde.57 Um ein ganzes Doppelblatt wurde der Reichenauer Augustinus-Codex De Genesi contra Manichaeos ergänzt, der heute in der Badischen Landesbibliothek in Karlsruhe aufbewahrt wird.58 Der Augustinus-Handschrift fehlte zum richtigen Verständnis sogar eine längere Passage des ersten Buches, die auf einem im jüngeren Lorscher Stil ausgefertigten Doppelblatt nachgetragen und dann – wenn auch an falscher Stelle – in den Reichenauer Codex eingefügt wurde.59 Aber auch bei Handschriften, die nicht in Lorsch produziert, sondern „nur“ für die dortige Bibliothek erworben wurden, war die richtige Ausführung der Texte wichtig. Dies belegen beispielsweise die Korrekturen im Codex Pal. lat. 183 (Hieronymus, Quaestiones Hebraicae), der wohl im ersten Viertel des 9. Jahrhunderts in der Loire-Gegend entstanden war und wenig später in Lorsch korrigiert wurde,60 oder im Codex Pal. lat. 202 (Augustinus, De trinitate), der um 800 in einem deutsch-angelsächsischen Skriptorium geschrieben und kurz darauf durch Lorscher Hände in der Benediktinerabtei an der Weschnitz berichtigt wurde.61 Der Blick in die Handschriften belegt, dass die korrekte Weitergabe patristischen Wissens für die karolingischen Gelehrten eine zentrale Rolle spielte und sich andere zeitgenössische Skriptorien (St. Gallen, Reichenau) durchaus am Wissensstand der Lorscher Bibliothek orientierten. Daraus ergibt sich die Frage, inwieweit das Lorscher Skriptorium auf die Produktion von korrekten patristischen Handschriften spezialisiert war oder diese vorwiegend korrigierte? Von den circa 25 Codices, die Bernhard Bischoff dem älteren Lorscher Stil zuordnete, handelt es sich nur bei neun Handschriften um patristische Texte, vor allem Werke des Augustinus und Hieronymus. Daneben
56 Vgl. Lindsay 1924, 13; Bischoff 1989, 30. 57 St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 165 (Augustinus in psalmos), foll. 56, 66, 79, 86, 92, 120, 124, 140, 144, 152, 157, 169, 172, 177, 195, 214, 234, 275. 58 Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Aug. perg. 187, foll. 11r–v. 59 Der Nachtrag, der mit sic fortasse endet, hätte allerdings erst nach fol. 12r eingeordnet werden dürfen. Diese Lorscher Korrektur muss vor dem Jahr 847 entstanden sein, da am Ende des Nachtrags noch ein Gruß an den Reichenauer Lehrer Tatto (Vale frater, fidelissime Datto) angefügt ist, der im Jahre 847 starb. Vgl. auch Bischoff 1989, 47. Der im jüngeren Lorscher Stil ausgefertigte Nachtrag weist bereits mehrere Merkmale des Lorscher Spätstils auf (unziales D, tiefgespaltene re-Ligatur) und kündigt daher einen nahenden Stilwechsel im Skriptorium an. 60 Rom, BAV, Pal. lat. 183, foll. 4r, 10r, 11r, 18v, 28r, 32v, 33r. Vgl. Bischoff 1989, 60. 61 Rom, BAV, Pal. lat. 202, foll. 6v, 14r, 14v, 23r. Vgl. Bischoff 1989, 60; CLA I, 83.
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galt in der frühen Lorscher Produktionsphase die Aufmerksamkeit des Skriptoriums vor allem den kirchenhistorischen Schriften (Hegesippus, Flavius Josephus, Eusebius, Orosius, Gregor von Tours und Beda Venerabilis).62 Ganz ähnlich sieht es auch bei den Handschriften der Übergangszeit und im Saint-Vaast Stil aus: Von den insgesamt 38 Codices enthalten 20 Texte oder exegetische Auslegungen der Bibel.63 Im jüngeren Lorscher Stil beträgt das Verhältnis zwischen den Werken der patristischen Autoritäten und den anderen Textgattungen sogar bereits knapp die Hälfte.64 Auch wenn man hier natürlich die Verzerrung berücksichtigen muss, die sich durch die Verluste in der Handschriftenüberlieferung ergibt, lässt sich doch eine klare Tendenz feststellen. Während zunächst vor allem patristische Handschriften durch Lorscher Schreiber korrigiert wurden, konnten sich die bereits eingangs erwähnten Reformforderungen nach der Bereitstellung eines möglichst vollständigen und korrekten Bestandes an Bibelversionen, Bibelkommentaren und exegetischen Schriften durchsetzen und das Lorscher Skriptorium erhöhte gegen Mitte des 9. Jahrhunderts stetig seine Produktion an patristischem Wissen.
4 Transfer von Wissen Allerdings gab man sich mit dem vor Ort vorhandenen Wissen durchaus nicht zufrieden, sondern versuchte gezielt, bestehende „Wissenslücken“ zu stopfen. Ein schönes Beispiel für den Transfer von patristischem Wissen bietet uns die heutige Pariser Handschrift, Bibliothèque nationale de France, Lat. 12226. Der Pariser Codex, der eine Sammlung von Augustinus Briefen enthält, ist in einer frühen karolingischen Minuskel geschrieben und wohl um 800 in Corbie entstanden.65 Die Schrift weist noch einen frühen Entwicklungsstand auf, wir können zahlreiche Doppelformen – unziales a/oc-a, gerades d/unziales D – und auch den Gebrauch von Majuskel-N nicht nur in Spezialpositionen feststellen. Auch finden sich zahlreiche rt-, st-, or-Ligaturen sowie die et-Ligatur in Wortmitte und es lässt sich noch kein einheitliches Alphabet der Auszeichnungsschriften nachweisen. Besonders interessant ist jedoch der mehrfache Gebrauch der –ur Kürzung. Hieran können wir erkennen, dass die klare Unterscheidung der Kürzungen von –us und -ur, deren Erfindung Bernhard Bischoff vor
62 Vgl. Bischoff 1989, 31–33. 63 Vgl. ebd. 38–42. 64 Vgl. ebd. 48–52. 65 Das als Rückseite verwendete fol. 114 enthält ein Fragment aus Gregors des Großen, Moralia in Iob, und ist in einer frühen karolingischen Minuskel im Maurdramnus-Typ verfasst. Die Vorderseite besteht aus einem Titelblatt des Ps.-Ambrosius, Commentarius in Epistolas Pauli ad Galatas, die genau mit dem Codex Amiens, Bibliothèque municipale, Ms. 88, fol. 1v übereinstimmt. Vgl. Ganz 1990, 139; CLA V, 637.
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800 im Umkreis des Hofes vermutete, um 800 bereits in das Skriptorium von Corbie eingedrungen war.66 Ein karolingischer Rezipient, dessen Identität leider nicht mehr endgültig festzustellen ist, hat diese Handschrift besonders intensiv gelesen und an fast allen Stellen, an denen ein neuer Augustinusbrief beginnt, in tironischen Noten vermerkt,67 ob er über diesen Brief bereits verfügte (ibi est)68 oder noch nicht (non habemus in aliis69 oder non habemus in aliis et est inferius in isto).70 In einem Fall notierte er auch, wo der eine Augustinusbrief endet und der folgende beginnt (hic deest finis istius epistulae et principium sequentis).71 Aus welchem Umfeld dieser aufmerksame und in den tironischen Noten geschulte Leser kam, kann nicht mehr eindeutig geklärt werden. Es ist jedoch anzunehmen, dass er aus dem westfränkischen Kontext stammte, da die Verwendung der tironischen Noten bisher vor allem für diesen Bereich nachgewiesen werden konnte.72 Die Tatsache, dass der Vermerk non habemus hier im Plural und nicht im Singular steht, wie dies in der heute in der Biblioteca Apostolica Vaticana aufbewahrten Handschrift Pal. lat. 211 der Fall ist,73 könnte dahingehend interpretiert werden, dass die Corbier Augustinus-Briefsammlung von einem Skriptoriumsleiter oder Bibliothekar gezielt auf in seiner Klosterbibliothek noch fehlende oder bereits vorhandene Texte durchgesehen wurde. Daher ist es besonders interessant, dass die Kataloge B74 und Ca75 der Lorscher Bibliothek,
66 Vgl. Bischoff 2009, 152. 67 Das Auflösen der tironischen Noten wäre ohne die Hilfe von Dr. Martin Hellmann und seinem Hypertext-Lexikon auf www.martinellus.de nicht möglich gewesen, dem ich an dieser Stelle dafür herzlich danke. 68 Paris, Bibliothèque nationale de France, Lat. 12226, foll. 7r, 9r, 39r, 42r, 53r, 56v, 66r, 71r, 81v, 82v, 86v, 97v, 105r, 109r, 111rv, 113r. 69 Ebd. foll. 2v, 5r–6r, 7v, 8v, 12v, 13r, 17r, 17v, 20r, 21r, 41r, 45v, 58v, 60r, 61r, 61v, 63r, 100r, 102v, 103v, 104r. 70 Ebd. foll. 49r, 51r, 52r, 52v. 71 Ebd. fol. 71r. 72 Vgl. Hellmann 2000, 19–22. 73 Die Handschrift Rom, BAV, Pal. lat. 211, die ebenfalls verschiedene Epistulae et Sermones des heiligen Augustinus enthält, wurde im älteren Lorscher Stil der Übergangszeit und im Saint-Vaast-Stil wohl nach dem Jahre 808 in Lorsch geschrieben. Am Beginn des darin enthaltenen Briefes an Marcellinus (fol. 19r), der Augustinus Regel (fol. 117r) und seiner Schrift De vita et moribus clericorum (foll. 121r und 124v) ist am Rand in tironischen Noten non habeo vermerkt. Bei diesen, dem gelehrten Leser noch unbekannten Augustinus-Titeln kann man nachvollziehen, dass sie ganz intensiv studiert wurden. Denn am Rand wird – wiederum in tironischen Noten vermerkt – bis wohin der Rezipient gelesen hatte, wo er aufhören mußte, dimisi (foll. 5r, 90r, 98v, 104v, 106r, 109v, 113v, 118r, 121v,122r,124r), und wo er wieder angefangen hat, incipe (foll. 18r, 20r, 22v, 24r, 26r, 30r, 33r). Vgl. dazu den Beitrag von Martin Hellmann (in diesem Band), 181–182. Bernhard Bischoff, der fälschlicherweise non habemus las, folgerte daraus, dass diese Handschrift im gleichen Zentrum wie Paris, Bibliothèque nationale de France, Lat. 12226, auf fehlende Texte durchgesehen wurde (vgl. Bischoff 1989, 39). Dies ist jedoch aufgrund des ganz anderen Anmerkungssystems zu bezweifeln. Vgl. auch Hellmann 2000, 13–14. 74 Rom, BAV, Pal. lat 1877, foll. 60v–61r. Vgl. Häse 2002, 125–126. 75 Rom, BAV, Pal. lat. 1877, foll. 15r–v. Vgl. Häse 2002, 148.
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deren Entstehung um die Jahre 830–840 beziehungsweise um 860 zu datieren ist, jeweils einen Codex dieser Augustinusbriefe verzeichnet: Epistulae sancti Augustini XLI in uno codice: I. Ad Valerium episcopum Hipponiensem. II. Ad Aurelium episcopum de vitandis conviviis… Im ersten Lorscher Bibliothekskatalog A, der um das Jahr 830 in Lorsch entstanden sein muss,76 ist die Handschrift mit den Epistulae von Augustinus noch nicht aufgeführt. Zwischen dem in den Lorscher Bibliothekskatalogen verzeichnetem Codex und der heute in Paris aufbewahrten Handschrift Lat. 12226 gibt es hinsichtlich der Reihenfolge und Zusammenstellung der einzelnen Augustinus Briefe kaum Unterschiede. Leider ist das Lorscher Exemplar heute verloren, so dass die Handschrift nicht mehr auf aussagekräftige Übernahmen von der Vorlage aus Corbie überprüft werden konnte.77 Doch die beinahe identische Anordnung der einzelnen Augustinus-Briefe sowie die engen Beziehungen von Corbie zum karolingischen Königshof sprechen durchaus dafür, dass die Corbier Handschrift der Lorscher Kopie als Vorlage gedient haben könnte.78 Denn Abt Adalhard (781–814, 821–826), ein Sohn des Karolingers Bernhard und ein Enkel Karl Martells, wurde am Hof erzogen und schließlich zum Abt von Corbie und Corvey ernannt.79 Adalhard könnte die Anschaffung der Augustinus-Briefe für die Corbier Bibliothek veranlasst haben. Die Anfertigung der Lorscher Kopie dieses Augustinus-Codex ist vielleicht der Initiative Gerwards († 860), der als Pfalzbibliothekar Ludwigs des Frommen wiederum eine enge Verbindung zum karolingischen Hof unterhielt und seine Ausbildung in Lorsch erfahren hatte, zu verdanken.80
5 Fazit Die gezeigten Beispiele lassen deutlich werden, dass die karolingischen Zeitgenossen durchaus ein Gespür für die einzigartige Präsenz des Wissens besaßen, das die Lorscher Klosterbibliothek – vor allem hinsichtlich der patristischen Werke – aufzuweisen hatte und dieses auch dementsprechend rezipierten. Doch die Lorscher Bibliothek wurde nicht nur wegen ihrer patristischen Werke konsultiert. Der irische Gelehrte Sedulius Scottus († ca. 860) beispielsweise schätzte den Lorscher Bestand vor allem für den Horazkommentar des Pomponius Porphyrio (Anfang 3. Jahrhundert): Lies die Auslegung des Pomponius zu Horaz, die ich in Lorsch gesehen habe, empfahl der Ire seinem Schülerkreis, wie eine heute in Bern liegende
76 Rom, BAV, Pal. lat. 1877, foll. 67ra–79vb. Vgl. Häse 2002, 60; Bischoff 1989, 26. 77 Vgl. Häse 2002, 230–232, Nr. 141. 78 Dies vermutete bereits David Ganz: vgl. Ganz 1990, 45. 79 Zu Adalhards Hofnähe und Bemühen, die Bestände der Corbier Klosterbibliothek anzureichern, vgl. Kasten 1986, 63–68. 80 Vgl. Häse 2002, 75; McKitterick 1989, 190.
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Handschrift belegt.81 Bei dieser Handschrift handelt es sich um eine Sammelhandschrift eines Schülers des Sedulius Scottus, der die Ergänzungen seines Lehrers zum Vergil-Kommentar des Servius aus der Vorlage mitabgeschrieben und diese „Zitate“ am Rand entsprechend gekennzeichnet hat.82 Ein Kommentar des Pomponius Porphyrio zu Horaz ist in den Lorscher Katalogen jedoch gar nicht verzeichnet, in Katalog Ca findet sich lediglich der Eintrag: Libri Oratii poete in uno codice.83 Tino Licht folgert daraus, dass der Kommentar des Pomponius sich wohl in der gleichen Handschrift befand, wie auch das Lorscher Horazexemplar, aber nicht eigens in den Katalogen der Lorscher Bibliothek verzeichnet wurde.84 Dieses Beispiel belegt, dass man den karolingischen Gelehrten eine gewisse Sensibilität für wertvolle beziehungsweise seltene Exemplare im „Wissensbestand“ der Klosterbibliotheken zuschreiben kann. Daneben wurden auch Versuche unternommen, durch den Transfer und Tausch von Handschriften „Wissenslücken“ in der „eigenen“ Bibliothek zu beseitigen.85 Über den Abbruch des wissenschaftlichen Austausches beklagte sich beispielsweise Alkuin in einem seiner Briefe an den Lorscher Abt Richbod und ließ daran gleich die Bitte folgen, ihm die Homeliae Papst Leos I. und die Expositio in librum Tobiae des Beda Venerabilis auszuleihen,86 die beide in den Lorscher Katalogen verzeichnet sind.87 Abschließend können wir festhalten, dass die Bereitstellung und Weitergabe von eindeutigem Wissen mittels „korrigierter“ Handschriften eine der zentralen Aufgabe der karolingischen Klöster war. Welche Art von Wissen in einer karolingischen Bibliothek um die Mitte des 9. Jahrhunderts verfügbar sein sollte, war wesentlich durch die karolingische Bildungsreform festgelegt worden. Zu dem „idealen“ Bestand einer karolingischen Klosterbibliothek gehörte neben Bibelversionen und Bibelkommentaren ein nahezu lückenloses Verzeichnis an exegetischen Schriften der Kirchenväter. Alles, was darüber hinaus angeschafft wurde, war bis zu einem gewissen Grad auch
81 Bern, Burgerbibliothek, Ms. 363, fol. 25v: Lege Pomponii expositionem in Oratium, quam vidi in Lorashaim. Zu einer ausführlichen Beschreibung der Handschrift vgl. Licht 2006, 122–124. Außerdem Bischoff 1989, 65. 82 Vgl. hierzu Licht 2006, 124; Häse 2002, 34. 83 Vgl. Häse 2002, 165 und 309, Nr. 345. 84 „Verzeichnet ist also der (leider nicht erhaltene) Lorscher Horazcodex, nicht aber der (dort ja mit Sicherheit befindliche) Kommentar, er gehörte eben dazu oder war sogar in die Handschrift integriert.“ Licht 2006, 125. 85 Hinter dem Eintrag zu den Epistulae Austrasiacae im Lorscher Katalog A ist – wohl vom Verfasser des Katalogs selbst – der ursprüngliche Fundort dieser Briefsammlung vermerkt: Liber epistularum diversorum patrum et regum, quas Treveris inveni, in uno codice XLIII, um die dann die Lorscher Bibliothek angereichert wurde. Vgl. Häse 2002, 98; Bischoff 1989, 21 und 75. 86 Omeliam sancti Leonis et tractatum beati Baedae in Tobia, deprecor, ut ad horam prestes nobis. Alkuin, Epistolae, ed. Dümmler, Nr. 191, 318 (der Brief Alkuins ist zwischen die Jahre 796 und 800 zu datieren). 87 Vgl. Häse 2002, 136.
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von den persönlichen Vorlieben und Kontakten der Klöster und vor allem ihrer Äbte abhängig.88 Die These von Felix Heinzer, dass „Zeiten geistlicher Reform im Mittelalter immer auch Epochen intensiver Pflege von Schriftlichkeit seien“, findet beim Blick auf die Entwicklung der Lorscher Bibliothek im 9. Jahrhundert Bestätigung.89 Die enge Verbindung der Lorscher Äbte zum karolingischen Hof bestimmte letztendlich den Anteil des Lorscher Skriptoriums am Reformvorgang und trug damit, wenn auch mit einer gewissen Zeitverzögerung, zur einzigartigen Präsenz von patristischem Wissen in der Lorscher Klosterbibliothek bei.
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88 Vgl. Ganz 1990, 67. 89 Heinzer 2002, 125. Nach Heinzer ist Schriftlichkeit ein „wesentliches Mittel zur Durchsetzung von Erneuerung“, aber zugleich auch „eines ihrer originärsten Produkte“. Ebd.
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Von Buchstaben und Geist Pragmatische und symbolische Dimensionen der Autorensiglen (nomina auctorum) bei Hrabanus Maurus
1 Fußspuren der Gelehrsamkeit: Wissenstransfer in der Exegese der Karolingerzeit Der Fuldaer Mönch und Gelehrte Hrabanus Maurus (ca. 780–856), der nach Jahren der Ausbildung als Oblat in Fulda, am Hof und beim berühmten Alkuin von York († 804) selbst Lehrer in Fulda geworden war, stellte mit ungefähr vierzig Jahren seinen ersten großen Bibelkommentar fertig.1 Im Widmungsbrief dieses Matthäuskommentars an Erzbischof Haistulf von Mainz († 825) führt Hrabanus in einprägsamer Weise vor Augen, welche kulturellen und materiellen Parameter im Frühmittelalter Wissenstransfer und Innovation bestimmten. Er beschrieb nicht nur den intellektuellen Hintergrund, vor dem er arbeitete – die Werke der Kirchenväter – und seine eigene Tätigkeit. Er trug auch Sorge um das Resultat seiner Arbeit, einen exegetischen Text, der die Autorität seiner Quellen in besonderer Weise abbildete: Ich habe sorgfältig beschaut und im Folgenden also hier versammelt, was die bedeutendsten und würdigsten Künstler der heiligen Lesungen in ihren Werken über die Worte des seligen Matthäus gedacht und geschrieben haben. Ich nenne Cyprian und Eusebius, Hilarius, Ambrosius, Hieronymus, Augustinus, Fulgentius, Victorinus, Fortunatianus, Orosius, Leo, Gregor von Nazianz, Gregor den römischen Papst, Iohannes Chrysostomus, und die übrigen Väter, deren Namen im Buch des Lebens stehen. So gut ich konnte, war ich ihrer Lektüre ergeben, insofern mir das zwischen den unzähligen Belastungen des monastischen Dienstes möglich war – und neben der Belehrung der Kleinen, die uns nicht wenig Mühe kostet und Lesezeit verbraucht. Mir selbst als Diktator, Notar und Bibliothekar dienend, ließ ich auf Zettel schreiben, was ich an Auslegungen auffand, entweder in ihren eigenen Worten oder auch einmal aus Gründen der Kürze in meinen eigenen. Da es mühevoll war, jeweils einzeln die Worte einzusetzen und zu zeigen, was wörtlich von welchem Autor gesagt war, hielten wir es für bequemer, immerhin am
Im Rahmen der in diesem Band dokumentierten Lorscher Tagung erhielt ich für diesen Beitrag wertvolle Hinweise und Anregungen von Mariken Teeuwen, Irene van Renswoude, Janneke Raaijmakers, Evina Steinová, Carla Meyer und Walter Berschin, für die herzlich gedankt sei. Genauso bedanke ich mich bei Christel Meier-Staubach für die Überlassung eines unveröffentlichten Vortragsmanuskripts zur mittelalterlichen Ambiguitätstoleranz. 1 Vgl. zu Leben und Werk des Hrabanus Maurus grundlegend Kottje/Zimmermann 1982; Kottje 1991; Schaller 1971; sowie zuletzt Raaijmakers 2012, 175–265. Zu Hrabans Widmungen an Haistulf vgl. auch Steckel 2011b; Steckel 2014a. © 2015, Steckel. Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 3.0 Lizenz.
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Rand die ersten Buchstaben der Namen einzutragen und so einzeln mitzuteilen, wo jeweils eine Aussage der Väter beginnt und wo der Ausschnitt, den ich übertragen habe, endet. So habe ich dafür gesorgt, dass man mir nicht nachsagen kann, ich hätte die Aussagen der Großen gestohlen und quasi als meine eigenen ausgegeben. [...] Ohne anderen etwas absprechen zu wollen, füge ich aber hinzu, dass ich auch einiges eingetragen habe, das mir der Quell des Lichts selbst zu eröffnen geneigt war und das ich zur Bezeichnung meiner eigenen Arbeit, wo passend, durch die Notiz meines Beinamens gekennzeichnet habe.2
Hrabanus Maurus sammelte also in Fulda die Aussagen der Väter, stellte sie neu zusammen und ergänzte sie. Das so zusammengestellte Wissen versah er dann zwar nicht mit Fußnoten, aber sozusagen mit Fußspuren, meist geradezu buchstäblichen vestigia patrum, Spuren der Kirchenväter in Form von Autorensiglen wie AG, B, GG, HR, ISD.3 Diese hochinteressanten symbolischen Markierungen sind vielfach heute noch sichtbar, da in einer ganzen Reihe von Handschriften Siglen der von Hrabanus benutzten Autoritäten im Randbereich eingetragen sind. Unter ihnen ist auch der Buchstabe M durchaus häufig, also die Sigle, die Hrabanus für eigene Formulierungen unter dem von seinem Lehrer Alkuin verliehenen Beinamen Maurus4 verwendete. Ein schönes Beispiel ist die soeben in der Bibliotheca Laureshamensis digital zugänglich gemachte vatikanische Handschrift Rom, BAV, Pal. lat. 293 aus Lorsch oder der ebenfalls dort einsehbare Codex München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 8108 aus Fulda, der direkt auf Exemplare Hrabanus’ zurückgehen dürfte. Weitere Handschriften lassen sich leicht auffinden und mittlerweile auch vielfach digital einsehen.5
2 Hrabanus Maurus, Epistolae, ed. Dümmler, 389–390: Adgregatis igitur hinc inde insignissimis sacrae lectionis atque dignissimis artificibus, quid in opusculis suis in beati Mathei verbis senserint, quid dixerint, diligentius inspicere curavi: Cyprianum dico atque Eusebium, Hilarium, Ambrosium, Hieronimum, Augustinum, Fulgentium, Victorinum, Fortunatianum, Orosium, Leonem, Gregorium Nazanzenum, Gregorium papam Romanum, Iohannemque Crisostomum et ceteros patres, quorum nomina sunt scripta in libro vitae. Horum ergo lectioni intentus, quantum mihi pro innumeris monasticae servitutis retinaculis licuit, et pro nutrimento parvulorum, quod non parvam nobis ingerit molestiam et lectionis facit iniuriam, ipse mihi dictator, simul notarius et librarius, existens, in scedulis ea mandare curavi, quae ab eis exposita sunt vel ipsis eorum syllabis vel certe meis breviandi causa sermonibus. Quorum videlicet quia operosum erat vocabula interserere per singula, et quid a quo auctore sit dictum nominatim ostendere, commodum duxi eminus e latere primas nominum litteras inprimere, perque has viritim, ubi cuiusque patrum incipiat, ubi sermo quem transtuli desinat, intimare, sollicitus per omnia, ne maiorum dicta furari et haec quasi mea propria componere dicar. [...] Preter haec quoque nonnulla, ut sine laesione aliorum dicam, quae mihi auctor lucis aperire dignatus est, proprii sudoris indicia per notas vocabuli agnominisque mei, ubi oportunum videbatur adnexui [...]. (Übersetzung d. Verf.). 3 Das Wortspiel Fußnote – Fußspur im Bezug auf Beda schon bei Hill 2006, 228–229. 4 Vgl. zum Beinamen Hrabanus Maurus, Epistolae, ed. Dümmler, 402 sowie Judic 2010. 5 Die Handschrift Rom, BAV, Pal. lat. 293 (Hrabanus Maurus, Commentarium in libros Regum I–IV) ist auf der Seite der Bibliotheca Laureshamensis unter der persistenten URL http://bibliotheca-laureshamensis-digital.de einzusehen. Vgl. in der Bibliotheca Laureshamensis sowie beim Digitalisierungszentrum der Bayerischen Staatsbibliothek (http://www.digitale-sammlungen.de) auch München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 8108 (Commentarium in epistulam beati Pauli ad Romanos V–VIII),
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Abb. 7: München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 8108, fol. 29r (Rhabani Mauri expositionis super epistolam S. Pauli ad Romanos libri V–VIII), aus Fulda, Mitte des 9. Jahrhunderts.
nur in München, Clm 14384 (Hrabanus Maurus, In libros Regum), Clm 6260 (In Genesin), Clm 6261 (In librum Numerorum), Clm 6262 (In libros Paralipomenon).
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Diese eigentümlichen Beinahe-Fußnoten Hrabanus’ stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit seiner exegetischen Tätigkeit und enthalten wichtige Aussagen über seine Vorstellung von Wissenstransfer, gelehrter Autorität und Innovation. Sie sind in der Forschung aber bislang – wie das für Marginalien frühmittelalterlicher Handschriften leider oft der Fall war – nur am Rande thematisiert worden. Ganz wesentlich scheint dies mit der bekanntermaßen ambivalenten Wahrnehmung des Hrabanus Maurus zusammenzuhängen, der darin auch stellvertretend für die frühmittelalterliche Exegese insgesamt steht: Fast seit Beginn der wissenschaftlichen Forschung blieb Hrabanus’ Bild umstritten. Wie schon Paul Lehmann schrieb, „preist man ihn [bald] als den Praeceptor Germaniae, bald verunglimpft die Welt dieselbe Persönlichkeit als Plagiator.“6 Vor allem bezweifelte die ältere Forschung auf der Basis genieästhetischer Vorstellungen von Individualität und intellektueller Leistung oftmals Hrabanus’ Originalität. Wie andere frühmittelalterliche Exegeten stellte er sein Werk ja häufig aus Aussagen der Kirchenväter zusammen, die er teils mosaikartig kombinierte, ohne eigene Zusätze zu machen. Andererseits verteidigte man Hrabanus schon früh intensiv. Letztere Sichtweise hat sich mittlerweile durchgesetzt, und der Anlass des 1150. Todestags 2006 hat uns erfreulicherweise einen regelrechten Schub einschlägiger Publikationen beschert.7 Auch in neuesten Arbeiten scheint allerdings noch das Bemühen durch, Hrabanus Maurus gegen Ernst Robert Curtius’ Verdikt des ‚öden Kompilatorentums’ und den älteren Vorwurf des Plagiats in Schutz zu nehmen.8 Tatsächlich weisen fast alle Kommentatoren auf die Tatsache hin, dass ja schon Hrabanus Maurus selbst den Verdacht des Plagiats weit von sich wies – und mit den Autorensiglen sogar entsprechende Maßnahmen ergriff, um Neues und Altes voneinander abzuheben.9 Silvia Cantelli Berarduccis großes Repertorium Fontium zu Hrabanus’ exegetischen Werken oder Detlef Zimpels Studie und Edition seines De institutione clericali von 819 gehen darüber hinaus ausführlich auf den Eigenanteil Hrabanus’ an seinen Werken und auf seine kompilatorische Technik ein.10 Wie Cantellis ausführliche Studien zeigen,
6 Vgl. Lehmann 1954, 198. 7 Vgl. Depreux 2010, Aris/Bullido del Barrio 2010; Kottje 2007; Felten/Nichtweiß 2006. Bibliographien zu Hrabanus Maurus in Aris/Bullido del Barrio 2010 sowie bei Spelsberg 1984. Raymund Kottje hat zuletzt ein Verzeichnis der Handschriften mit Werken Hrabans vorgelegt, Kottje 2012. Überlegungen zu Hrabans exegetischem Werk und zu seiner Arbeitsweise bes. in Zimpels Edition (De institutione clericali, ed. Zimpel 1996) und Cantelli 2006 sowie bei den Beiträgern in Depreux 2010; Felten/Nichtweiß 2006, insbesondere Felten 2006; Dreyer 2006 und Aris 2006; den Beiträgern in Schrimpf 1996, insbesondere Aris 1996 und Enders 1996; De Jong 1995, 2000, 2001; Spilling 1992; Richenhagen 1989; Rissel 1976; Müller 1973; Heyse 1969. 8 Die Bezeichnung „Hrabanus Maurus, der öde Kompilator“ bei Curtius 1948, 93. 9 Vgl. zum Konzept des Plagiats in Bezug auf Hrabanus Cardelle de Hartmann 2000, 93-95 sowie die Stellungnahmen von Brunhölzl 1982; Kottje 1975; Lehmann 1954. Allgemein Ziolkowski 2001; Constable 1983, 26–40. 10 Vgl. Cantelli 2006, Bd. 1, 7–124 sowie Zimpel in Hrabanus Maurus, De institutione clericali, ed.
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stellte sich Hrabanus mit seiner sammelnden Arbeitsweise bewusst in eine spezifische Tradition Bedas und Alkuins:11 Schon seit seinen ersten Werken verfolgte er den bereits aus der Zeit der Bildungsreformen Karls des Großen stammenden Plan eines ‚colligere in unum’. Die vorliegenden Auslegungen der Väter zur gesamten Bibel sollten gesichert, zusammengeführt und, wo nötig, durch weitere Auslegung ergänzt werden. Diesen Plan setzte Hrabanus im Laufe seines Lebens weitgehend in die Tat um, wobei er ein zunehmend eigenständiges exegetisches Profil entwickelte. Sowohl in seinen sammelnden collectanea wie in einigen vorrangig von ihm selbst kommentierten Büchern der Bibel zeigt sich starkes Interesse für die allegorische Auslegung und eine intensive Beschäftigung mit der Einheit der Kirche und dem Konzept der Häresie. Wie zudem Mayke De Jong hervorhebt, positionierte Hrabanus’ starker Bezug auf die Bibel als ‚Gesetz’ und auf deren traditionsorientierte Auslegung ihn an einer für das 9. Jahrhundert essentiellen Quelle politischer und intellektueller Legitimität. Er schreckte gerade in politisch aufgeladenen Situationen auch nicht davor zurück, aus ihr innovative Deutungen zu schöpfen.12 Während Hrabanus’ Ruf als Gelehrter somit hinreichend etabliert erscheint, ist das Phänomen der Autorensiglen (nomina auctorum, signa nominum) bislang meist nur als Beweis für die Tatsache zitiert worden, dass Hrabanus Maurus selbst sich der Gefahr des Plagiats bewusst war. Gerade das große Repertorium Fontium Cantellis zu Hrabanus’ exegetischem Werk setzt sich zwar punktuell mit den Siglen auseinander, geht aber nicht auf das Phänomen selbst ein. Insbesondere fehlt daher ein direkter Vergleich der von Cantelli erschlossenen Quellen Hrabanus’ mit den handschriftlich überlieferten Siglen.13 Doch scheint die gesamte Praxis derartigen ‚Zitierens’ im 9. Jahrhundert überraschend weit verbreitet und wir kennen Vorbilder und Parallelen zunehmend genauer. Es liegt also nahe, die nomina auctorum mit zeitgenössischen Vorstellungen zu Wissen und Erkenntnis, mit der materiellen Entstehung der Werke Hrabanus’ und nicht zuletzt seinem Selbstverständnis als Exeget im Rahmen der patristischen Tradition in Verbindung zu bringen. Die vorliegende Skizze möchte Anregungen für solche Querverbindungen geben. Sie kann anhand weniger Stichproben an den Handschriften lediglich Fragen für künftige Forschungen aufwerfen. Dies mag aber angesichts des
Zimpel 1996, 37-95; an älteren Studien vgl. zum Umgang mit Quellen spezifisch Blumenkranz 1977; Rissel 1976; Heyse 1969. 11 Vgl. Cantelli 2006, Bd. 1, 7-14 und 79–124. Zur Charakteristik von collectanea siehe nochmals unten. 12 De Jong 1995, 2000. Hrabans starke Fokussierung auf die Bibel ist schon früher hervorgehoben worden, etwa von Kottje 1975, 538; Brunhölzl 1982, 4. 13 Auf die Möglichkeit, anhand des Repertorium fontium bei Cantelli 2006 nach ‚Arbeitshandschriften’ Hrabanus’ zu suchen, wies etwa Klaus Zechiel-Eckes in seiner Rezension hin, vgl. Zechiel-Eckes 2008.
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aktuell wachsenden Interesses an der Materialität von Texten14 und speziell an karolingerzeitlicher Gelehrsamkeit und deren materiellem Niederschlag legitim sein.15 Als Zugang soll hier der Gedanke verfolgt werden, dass im 9. Jahrhundert keineswegs nur eine Logik der literarischen Originalität zur Erklärung gelehrter Arbeitstechnik bemüht werden darf. Ihr stand vielmehr offensichtlich schon für die Zeitgenossen eine Logik der authentischen Wiedergabe höherer Wahrheit gegenüber. Vielen älteren, grundlegend auf moderne, säkular gedachte Wissenschaft ausgerichteten Forschungen erschien diese eindeutig religiöse Aufladung gelehrter Kultur des Frühmittelalters weniger interessant.16 Doch Hrabanus Maurus gewann seine Bedeutung als Exeget vor den Zeitgenossen nicht im Kontext heutiger Wissenschafts- und Individualitätsvorstellungen. Seine Marginalsiglen müssen im Gegenteil im Spannungsfeld frühmittelalterlicher Logiken gelehrten Wissens und religiöser Weisheit verortet werden: Jenseits der hinreichend diskutierten anachronistischen Vorwürfe von Plagiat und Kompilation ist zu fragen, wie zeitgenössische, möglicherweise stark sakral aufgeladene Konzepte der Ordnung und Vermittlung von Wissen mit der Materialität der Texte interagierten. Welcher Geist spricht, um das im 9. Jahrhundert gern verwendete Paulus-Zitat (2 Kor 3,6) zu adaptieren, aus den litterae am Rande der Codices? Zur Beantwortung dieser Frage soll im Folgenden zunächst auf Vorstellungen der Erkenntnis und die Rolle des Exegeten bei Hrabanus Maurus und anderen Exegeten (2.) sowie auf die konkrete Arbeitsweise frühmittelalterlicher Bibelkommentatoren (3.) eingegangen werden. Dies soll helfen, technische und symbolische Nutzungen der Autorensiglen (4.) genauer zu deuten, bevor abschließend Funktionen der Autorensiglen und offene Fragen zusammengefaßt werden (5.).
2 Zwischen Wissen und Wahrheit: Exegese im Kontext frühmittelalterlicher Erkenntnistheorie Welche Erkenntnistheorie steht also hinter Hrabanus’ Umgang mit den patristischen Autoritäten? Einen wichtigen Einblick in epistemologische Überlegungen bietet sein
14 Vgl. exemplarisch für aktuell laufenden Projekte etwa Hilgert 2010 aus dem Heidelberger Sonderforschungsbereich 933 ‚Materiale Textkulturen’; Kwakkel 2012, darin bes. McKitterick 2012, aus dem niederländischen VIDI-Projekt „Turning over a new leaf“ an der Universität Leiden, geleitet von Erik Kwakkel. 15 Vgl. das VIDI-Forschungsprojekt „Marginal scholarship. The practice of learning in the early Middle Ages (c. 800 – 1000)“ von Mariken Teeuwen (Leitung), Irene van Renswoude und Evina Steinová am Huygen ING. Vgl. auch Teeuwen 2011a und den Berichtband eines Vorgängerprojekts zur karolingischen Kommentartradition zu Martianus Capella Teeuwen/O’Sullivan 2011. 16 Vgl. so die Grundüberlegung meiner Dissertation (Steckel 2011a), aus der hier Gedanken weiterentwickelt werden. Siehe aber auch Aris 1996; Enders 1996; Dreyer 2006.
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Werk De institutione clericali. Dieses wohl 819 für die Fuldaer Brüder wie für ein breiteres Publikum angefertigte Handbuch zu Fragen der Klerikerausbildung entstand im Nachgang der Aachener Reformen von 816–819 und behandelte viele der dort diskutierten Fragen.17 Doch fasste Hrabanus auch die für ihn wichtigsten Überlegungen zur Wissensvermittlung zusammen, wofür er vielfach auf Überlegungen Augustins, Cassiodors und Isidors von Sevilla zum Erwerb christlichen Wissens zurückgriff. Wie Hrabanus deutlich herausstellte, mussten Geistliche – und zumal solche im geistlichen Lehr- und Hirtenamt – vorrangig Wissen um die göttliche Wahrheit besitzen. Dieses Wissen umfasste vielerlei scientia, die im Umgang mit der Heiligen Schrift und sonstigen gelehrten Traditionen nötig war, blieb aber auf veritas und sapientia gerichtet. Ihr Verständnis konnte man gerade nicht an den Buchstaben allein gewinnen, sondern nur durch Vermittlung des Heiligen Geistes. Mit Paulus gesprochen war es der Geist, der belebte, während der Buchstabe allein tötete. Wie Augustinus formulierte, war es Gott selbst, der im Innern des Menschen lehrte.18 Hrabanus fasste in De institutione clericali zusammen: Fundament, wahrer Zustand und Vollendung der Klugheit aber ist das Wissen der Heiligen Schriften. Es fließt aus jener ewigen und unveränderlichen Weisheit hervor, die aus dem Munde des Allerhöchsten hervorgeht, ja, die als seine Erstgeborene vor der geschöpften Kreatur erschaffen wurde. Sie leuchtet durch die Zuteilungen des Heiligen Geistes durch die Gefäße der Schriften als unauslöschliches Licht und erhellt wie durch Lampen den ganzen Erdkreis. Und wenn es noch weiteres gibt, was zu Recht mit dem Namen Weisheit bezeichnet werden kann, ist es aus demselben Quell der Weisheit abgeleitet und erblickt in ihr den Ursprung.19
Diese Vorstellung unterschiedlicher Wissensebenen ist offensichtlich stark sakralisiert: Gott schafft die mit Christus identische sapientia, und durch den Heiligen Geist geht sie über die Schriften als ‚Gefäß’ in die Welt hinaus. Man könnte hier durchaus vom Heiligen Geist als ‚Medium’ der Wissensvermittlung sprechen, denn durch ihn treten unermessliche göttliche Wahrheit und begrenztes menschliches Wissen zueinander in ein Verhältnis.20
17 Vgl. zum Handbuch und seinen Kontexten die Studie von Detlev Zimpel in seiner Edition Hrabanus Maurus, De institutione clericali, ed. Zimpel. 18 Vgl. 2 Kor. 3,6 Littera occidit, spiritus autem vivificat und Aurelius Augustinus, De Magistro liber unus, ed. Daur, 198: Ergo ne hunc quidem doceo uera dicens vera intuentem; docetur enim non uerbis meis, sed ipsis rebus deo intus pandente manifestis…; zu Augustinus auch Schumacher 2010. 19 Hrabanus Maurus, De institutione clericali, ed. Zimpel, III, 2, 438: Fundamentum autem, status et perfectio prudentiae scientia est sanctarum scripturarum, quae ab illa incommutabili aeternaque ‚sapientia profluens, quae ex ore altissimi prodiit, primogenita scilicet ante omnem creaturam, spiritus sancti distributionibus per vasa scripturae lumen indeficiens’ quasi per lanternas orbi lucet universo, ac si quid aliud est, quod sapientiae nomine rite censeri possit, ab uno eodemque sapientiae fonte derivatum ad eius respectat originem. (Hervorhebungen im Original). 20 Die ‚Medienqualität’ der Vermittlung von Wissen/Wahrheit durch den Heiligen Geist ist erst in
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Die resultierende Vorstellung eines mehrschichtigen, entweder oder gleichzeitig göttlichen und menschlichen Wissens musste starke Konsequenzen für die Rolle von Gelehrten und besonders von Exegeten der Bibel haben: Auch ihnen konnte nach zeitgenössischen Vorstellungen wahrheitsgemäßes Wissen nie allein durch die Buchstaben zufallen, sondern stets nur durch den Geist. Hrabanus formulierte im Anschluss an seine Überlegungen zur Vermittlung der sapientia daher eine Theorie, nach der alle Gelehrten – sogar die Heiden unter ihnen – ihr Wissen stets nur aus der ewigen göttlichen Wahrheit schöpften und schöpfen konnten: Was immer nämlich an Wahrem von jemandem aufgefunden wird, ist bekanntlich nur durch die Wahrheit und in Abhängigkeit von ihr wahr [...]. Und auch jenes, was in den Büchern der Gelehrten dieser Welt an Wahrheit und Weisheit zu finden ist, darf nichts Anderem als der Wahrheit und Weisheit selbst zugeschrieben werden. Denn diese Dinge sind nicht zuerst von denen festgelegt worden, in deren Äußerungen man sie liest. Sie wurden vielmehr aus dem von Ewigkeit her Feststehenden entdeckt, soweit die Lehrerin und Erleuchterin aller, die Wahrheit und Weisheit selbst, die Fähigkeit zur Entdeckung zugestand. Und daher ist auf einen einzigen Ausgangspunkt zurückzuführen, was in den Büchern der Heiden als nützlich und was in der Heiligen Schrift als heilsam gefunden wird [...]. 21
Mit der engen Verbindung, die Hrabanus Maurus durch diese Überlegungen zwischen der Ebene der göttlichen Wahrheit und derjenigen des menschlichen Wissens konstruierte, wird die Rolle des Exegeten stark aufgewertet und sakralisiert. Autoren und Autorinnen, die mit dem Text der Heiligen Schriften und deren Auslegungen umgingen, arbeiteten an einem Ort der Vermittlung zwischen göttlicher und menschlicher Sphäre. Sie lasen oder hörten nicht nur Worte, sondern nahmen – wenn die Weisheit ihnen dies ‚zugestand’ (concessit)! – an einem Prozess teil, durch den Gott in ihnen wirkte und ihnen göttliche Weisheit und Liebe direkt, offenbar körperlich, einschrieb. Wie die christliche Liebe (caritas) wurde der Heilige Geist im 9. Jahrhundert meist als einströmend gedacht. Er erschien als Inspiration, teils aber auch als Illumination
letzter Zeit als Forschungsproblem behandelt worden, vgl. etwa Kiening 2009, bes. 7-9; Bedos-Rezak 2012. 21 Hrabanus Maurus, De institutione clericali, ed. Zimpel, III, 2, 438–439: Quicquid enim veri a quocumque reperitur, a veritate verum esse per ipsam veritatem dinoscitur [...]. Nec enim illa, quae in libris prudentium huius saeculi vera et sapientia reperiuntur, alii quam veritati et sapientiae tribuendae sunt, quia non ab illis haec primum statuta sunt, in quorum dictis haec leguntur, sed ab aeterno manentia magis investigata sunt, quantum ipsa doctrix et inluminatrix omnium veritas et sapientia eis investigare posse concessit. Ac ideo ad unum terminum cuncta referenda sunt, et quae in libris gentilium utilia et quae in scripturis sacris salubria inveniuntur, ut ad cognitionem perfectam veritatis et sapientiae perveniamus, qua cernitur et tenetur summum bonum.
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und Öffnung der inneren Augen.22 Der Tugend des Menschen kam daher eine entscheidende Rolle als Voraussetzung für die Erkenntnis der göttlichen Wahrheit zu.23 Wer nur Wissen besaß, die göttlichen Gebote aber nicht in seinem Verhalten verwirklichte, konnte also keine Teilhabe an der Weisheit haben. Wer dagegen am richtigen, zur Auslegung der Schriften befähigenden Geist teilhatte, verfügte über sapientia und bekleidete eine nicht nur intellektuelle, sondern auch religiöse Autoritätsposition. Als ‚Gelehrte’ mochten Exegeten des 9. Jahrhunderts damit Spezialisten für bestimmte Wissensbestände sein. Sie erscheinen heute zu Recht als Experten mit ansatzweise funktional ausdifferenzierten Rollen. Sie wurden von den Zeitgenossen allerdings stets auch als religiöse Experten gesehen, denen man ein spezifisches Charisma zuschrieb.24 Nicht aus sich selbst, sondern durch besondere Begnadung konnten sie aus der göttlichen Wahrheit schöpfen und die Vielfalt des in der Heiligen Schrift enthaltenen Sinns ausdeuten – denn dabei ging es ja auch darum, Auslegungen im richtigen Geist von solchen ohne diesen zu unterscheiden.25 Auch Hrabanus Maurus sah sich als Exeget offenbar in spezieller Weise vom Heiligen Geist geleitet. Wie sich aus verschiedenen Werken schließen lässt, sah er seine Tätigkeit als Bibelkommentator (im Gegensatz zum Unterricht der parvuli) nicht als Aufgabe eines bloßen Lehrers (doctor). Im Anschluss an Gregor den Großen und andere erschien ihm die Schriftauslegung vielmehr als besondere Aufgabe innerhalb der Kirche und als eine Art Fortsetzung des alttestamentlichen Prophetentums.26 Doch wie beeinflussten derartige Konzeptionen von Autorität und Autorschaft27 die Art und Weise, in der sich Exgeten wie Hrabanus Maurus zur Tradition positionierten? Spezifische Vorstellungen dazu wurden nicht nur von Hrabanus Maurus entwickelt, sondern auch von anderen karolingerzeitlichen Gelehrten, die teils expliziter ihre eigene Position innerhalb der Tradition ansprachen. Abt Paschasius Radbertus von Corbie (ca. 790–865) legitimierte etwa sehr ausführlich seine Autorität als Exeget. Er fügte seinem Matthäuskommentar nicht nur eine Widmung, sondern eine richtiggehende Autorisierungserzählung an.28 In ihr berichtete er zunächst über den
22 Vgl. zum Konzept der Inspiration Thraede 1998; Evans 1998, 66–77; Grosse 2009; Frey 2009; eine genauere Untersuchung zum Konzept der Inspiration im Frühmittelalter fehlt leider. 23 Vgl. Steckel 2011a, 116–124. 24 Charisma hier verstanden im paulinischen Sinne der Begnadung. Vgl. für ausführlichere Bestimmung des Begriffs Ratschow 1981; Andenna u.a. 2005; Rychterová u.a. 2008. 25 Vgl. so etwa Hrabanus Maurus, De institutione clericali, ed. Zimpel, III, 12, 456–457. Zur Gesamteinschätzung Hrabans auch Dreyer 2006, 43–47. 26 Vgl. zu Hrabans Konzeption der Prophetie und seiner Rolle als Prophet Pollheimer 2010; Schlosser 2000, 200–201; zu gelehrter Autorschaft als Fortsetzung alttestamentlicher Prophetie insbesondere Meier 2014a. 27 Vgl. zur Erforschung von Autorschaftskonzepten zuletzt die Beiträge in Meier/Wagner-Egelhaaf 2011, für die Karolingerzeit Steckel 2011a, 531–569; 602–650; zu Autorität im Zusammenhang mit Materialität vgl. auch Garipzanov 2008. 28 Vgl. zu Paschasius Radbertus Ganz 1990, 82–83; De Jong 2009, 102-111; zu seinem Autorschaftskon-
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Schreibanlass und demonstrierte dabei eine auf Gott, die Erkenntnis der Weisheit und die Erbauung seiner Mitbrüder ausgerichtete, äußerst demütige Einstellung, wie sie auch Hrabanus in Vorreden meist sorgfältig anzeigte. Paschasius verteidigte jedoch dann in dieser Vorrede recht offensiv sein Recht zur Bibelauslegung in ‚modernen Zeiten’. Er nahm dabei ähnlich wie Hrabanus auf eine als ewig und unveränderliche gedachte Wahrheit Bezug, die von verschiedenen Exegeten aufgefunden und vermittelt würde: [I]ch habe dies nicht aus Unbesonnenheit entschieden, sondern aus Liebe zur Religion, in dem Wunsch, von der Gnade Christi benetzt die Vorsätze der Väter weiterzuführen. Tatsächlich hat ja kein Lehrer bislang ausgeschlossen, dass Künftigen die Gabe des Heiligen Geistes und Geistesschärfe zuteil wird; niemand hat verboten, die himmlischen Lehren zu befolgen. [...] Auch wir müssen also nicht schweigen. Denn die Schriftsteller der verschiedenen Kirchen haben in ihren Erwiderungen klar deutlich gemacht, dass es nützlich ist, wenn viele verschiedene Bücher von Verschiedenen geschrieben werden, in unterschiedlichem Stil, doch im selben Glauben, so dass die eine, einheitliche Lehre des Heiligen Geistes verkündet an viele dringen soll, an die einen so, an die anderen aber so. Und es ist auch nicht anzunehmen, dass in unserer Zeit gar niemand das Verständnis dazu gewährt würde [...]. 29
Wissen konnte in den irdischen Vermittlungen, in denen es vorlag, also immer wieder neu entdeckt werden und war dann in seinen unterschiedlichen Formen anzueignen und weiterzugeben. Die historischen Exegeten, in deren Tradition Hrabanus oder Paschasius sich stellten, hatten an der Wahrheit quasi immer von neuem teil und konnten sie ihrem Publikum in spezifischen, besonders klug ausgewählten, zeitgemäßen oder nützlichen Selektionen präsentieren. Paschasius stellte seine Rolle innerhalb dieses Prozesses sehr selbstbewusst dar. Er schmetterte nicht nur Vorwürfe der Tätigkeit ultra terminos patrum mit dem kühlen Hinweis ab, es gebe ja kein Verbot der Auslegung. Er fand bei Cicero auch eine faszinierende Metapher für seine Tätigkeit, das er ausdrücklich nicht als ‚Kompilation’ angesehen haben wollte (nec compilator veterum appellandus). Wie der Maler Zeuxis von Croton nämlich nicht eines, sondern vielmehr fünf schöne Mädchen auswählen ließ, um aus ihren Zügen ein Porträt der schönen Helena herauszudestillieren, so wählte auch Paschasius das Beste aus den Schriften der Alten aus und fügte es so zu
zept Steckel 2011a, 539–546. 29 Paschasius Radbertus, Epistolae, ed. Dümmler, 139–140: Quod si quispiam econtra invidorum opponere temptaverit, moderno tempore post auctoritatem patrum priorum ut quid nisus sim evangelium exponere, noverit, quod non temeritate usus hoc praeelegerim, sed amore religionis, cupiens paterna subplere vota Christi gratia respersus. Profecto quia hactenus nemo doctorum proscripsit donum sancti Spiritus et mentis efficatiam futurorum, nemo qui interdixerit caelestibus parere doctrinis. [...] nos tacere non debuisse; cum auctores ecclesiarum suorum in responsione luce clarius demonstraverint utile quidem esse plures a pluribus fieri libros diverso quidem stilo, sed non diversa fide, ut ad plurimos una eademque doctrina sancti Spiritus promulgata perveniat, ad alios sic, ad alios autem sic. Neque enim putandum est nulli nunc temporis gratiam intelligentiae largiri [...].
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einem neuen Ganzen zusammen.30 Er folgte wie andere vor ihm also den Fußspuren der Lehrer und Autoren, suchte aber auch selbst, für den Heiligen Geist ‚Frucht zu erbringen’. Die Rolle des Exegeten wurde also wesentlich dadurch definiert, die Tradition zu durchdringen, auf Wahrheits- und Weisheitsgehalt zu beurteilen, und aus ihr für ein zeitgenössisches Publikum auszuwählen.
3 Der Ausleger im Gehäus. Wissensorganisation in der karolingerzeitlichen Exegese Bevor Hrabanus Maurus oder Paschasius Radbertus ihren Lesern neue Schriften präsentieren konnten, galt es also, durch Beherrschung der älteren Schriften auf die Wahrheit zuzugreifen. In der Verwendung der marginalen signa werden dabei auch ererbte Techniken des Sammelns und Verarbeitens von Wissensliteratur greifbar.31 Zwar haben wir aus dem Frühmittelalter keine Bilddarstellungen von Gelehrten ‚im Gehäus’, wie sie in späteren Jahrhunderten gängig wurden.32 Doch Hrabanus Maurus wie Paschasius Radbertus arbeiteten offensichtlich von Codices der Kirchenväter umgeben, die selbst wiederum andere Autoritäten zitierten. Wie Michael M. Gorman und andere erarbeitet haben, mussten karolingerzeitliche Exegeten dabei bereits auf Techniken des ‚Zitierens’ und der Markierung von Autoritäten durch Siglen stoßen.33 Der Urheber des Autoritätenverweises durch nomina auctorum scheint der angelsächsische Gelehrte Beda († 735) gewesen zu sein, der sie zuerst in seinem Lukaskommentar anwandte. Insgesamt nutzte er sie jedoch nur in seinem Lukasund Matthäuskommentar sowie in De locis sanctis (dort übrigens für ein anderes
30 Paschasius Radbertus, Epistolae, ed. Dümmler, 141: Nec ideo profecto compilator veterum appellandus, quando, ut Tullius refert, ipse rex eloquentiae quendam Eleusynum est imitatus, qui ex omnibus Crotoniensium virginibus quinque delegit pulchriores, quas statuit coram oculis, dum Elenae imaginem illis petentibus mirabile opus pingeret, ut quod uni earum minus esset pulchritudinis, ex his decorosius, quicquid singillatim in se pulcrius exprimerent, totum picturae suae coloribus conferret: ita praefatus orator insignis, sicut in suo testatur opere, ex omnibus qui ante se fuerunt filosophis, coram se constituens, delegit unde rethoricae artis formaret mirabile documentum [...]. 31 Vgl. zur karolingerzeitlichen Bibelexegese allgemein die Beiträge in Boynton/Reilly 2011; Contreni 2011; Van’t Spijker 2009; Gorman 2007; Shimahara 2007; Chazelle/Edwards 2003; Contreni/Casciani 2002; Lobrichon 1999; Contreni 1992; Iogna-Prat u.a. 1991; Riché 1984 sowie viele der oben Anm. 7 genannten Beiträge, bes. aus Depreux u.a. 2010. 32 Vgl. zu frühmittelalterlichen Bilddarstellungen von Gelehrten Meier 2000. 33 Die intensivste Behandlung der marginalen Autorensiglen in verschiedenen in Gorman 2007 versammelten Aufsätzen sowie einprägsam Hill 2006 zu Beda; Rädle 1974, 137–142 zu Smaragdus von St. Mihiel; Stoll 1991 mit einem Vergleich. Ältere Literatur wie Sutcliffe 1926; Laistner 1933 oder Souter 1908; Souter 1917; Souter 1922; Souter 1933; Schönbach 1903 katalogisierte dagegen meist nur. Lediglich allgemeinste Überlegungen zu mittelalterlichen Zitierweisen bei Eco 1999.
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Autoritätensystem).34 Wie Beda im Widmungsbrief zu seinem Lukaskommentar schilderte, sollte ihn die Bezeichnung von wörtlich übernommenen Stellen vor dem Vorwurf des Ideendiebstahls schützen, war aber auch ein Produkt seines Arbeitsprozesses: Er hatte aus den verschiedenen Kirchenvätern auf Zetteln (schedulae) Passagen notiert, wobei er teils wörtlich abschrieb, teils zur Kürzung in eigenen Worten zusammenfasste. Diese stellte er dann zu seinem neuen Werk zusammen. Da es umständlich erschien, die Namen ständig im Text zu wiederholen, bezeichnete er die Zitate durch die Anfangsbuchstaben der Autornamen am Rand als solche; er wollte unbedingt, dass sie sauber abgeschrieben würden.35 Beda nutzte diese Markierungen im Gegensatz zu den meisten seiner Nachahmer übrigens als genuine Zitatmarkierungen: Der erste Buchstabe eines Kürzels wie AG oder HR für Augustinus und Hieronymus stand jeweils beim Anfang des Zitats, der letzte beim Ende (ubi sermo quem transtuli desinat). 36 Eine ganze Reihe von Exegeten des 9. Jahrhunderts orientierte sich an dieser Methode. Doch es stellten sich schnell Schwierigkeiten ein, die einiges über Potentiale und Grenzen des Autoritätenverweises durch Randsiglen aussagen. Aufschlussreich sind die knappen Aussagen bei Claudius von Turin († nach 827), einem recht eigenständigen und eigenwilligen Exegeten.37 In seinem Kommentar zum Buch Genesis verfuhr er anfangs nach dem Vorbild Bedas und übernahm für die ‚Blüten’, die er auf den Wiesen der Väter gesammelt hatte, jeweils Anfangsbuchstaben der zitierten Autoren als Verweise am Rand:
34 Vgl. Gorman 2002, 260 und insges. 258–261; Kaczynski 2001, 20–23. 35 Vgl. Beda Venerabilis, In Lucae Evangelium Expositio, ed. Migne, Sp. 304C–305A: Aggregatisque hinc inde quasi insignissimis ac dignissimis tanti muneris artificibus, opusculis Patrum, quid beatus Ambrosius, quid Augustinus, quid denique Gregorius vigilantissimus (juxta suum nomen) nostrae gentis apostolus, quid Hieronymus sacrae interpres historiae, quid caeteri Patres in beati Lucae verbis senserint, quid dixerint, diligentius inspicere sategi; mandatumque continuo schedulis, ut jussisti, vel ipsis eorum syllabis, vel certe meis, breviandi causa, sermonibus, ut videbatur, edidi. Quorum quia operosum erat vocabula interserere per singula, et quid a quo auctore sit dictum nominatim ostendere, commodum duxi eminus e latere primas nominum litteras imprimere, perque has viritim ubi cujusque Patrum incipiat, ubi sermo quem transtuli desinat, intimare, sollicitus per omnia, ne majorum dicta furari, et haec quasi mea propria componere dicat. Multumque obsecro, et per Dominum legentes obtestor, ut si qui forte nostra haec qualiacunque sunt opuscula transcriptione digna duxerint, memorata quoque nominum signa, ut in nostro exemplari reperiunt, affigere meminerint. Nonnulla etiam quae (ut verbis tuae sanctitatis loquar) mihi auctor lucis aperuit, proprii sudoris indicia, ubi opportunum videbatur, annexui [...]. 36 Vgl. die Abbildung der ältesten erhaltenen Handschrift des Lukaskommentars mit den Randsiglen bei Gorman 2002, 383. Wie Rädle 1974, 141, bemerkt, führte diese Technik im Werk Smaragds von St. Mihiel zu fälschlichen Verwendungen der Randsigle ‚R’, die bei Beda das Ende eines HieronymusZitats markiert, aber als Autorenbezeichnung missverstanden wurde. 37 Vgl. zu Claudius und seiner Verweis- und Arbeitstechnik Gorman 1997; allg. Boulhol 2002.
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[D]er Leser liest hier nicht meine, sondern ihre Worte, denn wie schöne Blüten habe ich ihre Worte aus den diversen Feldern zusammengesucht und es ist ihre Auslegung in meiner Schrift. Und damit ich nicht von anderen als anmaßend und tollkühn beurteilt werde, weil ich Waffen aus dem Schrank eines anderen genommen habe, habe ich jeweils den Namen eines jeden Lehrers mit seinen Anfangsbuchstaben unten annotiert, so wie es auch der selige Priester Beda getan hat.38
Claudius bezeichnete dabei auch selbstverfasste Passagen, und zwar mit dem Kürzel CLN oder NCL, was Gorman als Claudii nota oder nota Claudii auflöst. 39 Doch Claudius’ idyllische Blütenlese geriet bald in technische Schwierigkeiten. Eine seiner Hauptquellen, die auch die zitierte Passage seines Widmungsbriefes fast wörtlich inspirierte, war Isidor von Sevilla († 636). Isidor hatte in Spanien – ähnlich wie Beda im nordhumbrischen England – von einer guten Überlieferungssituation profitieren können und bemühte sich erfolgreich, eine Auswahl der wichtigsten älteren Schriften in eigenen Zusammenstellungen zu tradieren. Doch Isidor scheint keine gewissenhaften Randsiglen genutzt zu haben und dies führte zu einem bei heutigen Editoren gut bekannten Problem: Wie Claudius konstatieren musste, stellten sich Passagen Isidors als unmarkierte Zitate aus anderen, älteren Werken heraus, vor allem aus Werken des Augustinus und Ambrosius. Anscheinend darüber verunsichert, kombinierte er Isidors Namen zunächst mit dem des Ambrosius, in Abkürzungen wie ysd et ambrosi. 40 Doch schließlich ließ er den Namen des von ihm sehr ausführlich benutzten Isidor zunehmend weg. Teils verwies er stattdessen noch auf dahinterstehende Quellen. In einer weiteren, späteren Widmung, in der er auf den Wunsch seines Schülers Theutmirus von Psalmodi nach einem ausführlich mit Autoritäten bezeichneten Kommentar reagierte, schrieb Claudius aber schließlich ernüchtert: Da Du aber befiehlst, in unseren Auslegungen die Sätze eines jeden Lehrers auf der Seite zu markieren: Ich habe von niemandem gelesen, der das getan hat, außer dem seligen Beda, und dieser führte es über zwei Bücher hinaus (nämlich die Auslegung der Evangelisten Markus und Lukas) nicht weiter. Ich habe es also unterlassen, denn ich fand bald heraus, dass die Sätze von einigen, die ich zunächst unter bestimmten Namen annotiert hatte, sich bei genauerer Nachforschung als Sätze von anderen herausstellten. 41
38 Claudius von Turin, Epistolae, ed. Dümmler, 592: Has autem rerum gestarum sententias de mysticis thesauris sapientium inquirendo et investigando in unum codicem conpendio brevitatis coartavi, in quibus l(ector) non mea legit, sed illorum relegit, quorum ego verba quae illi dixerunt veluti speciosos flores ex diversis pratis in unum collegi et meae litterae ipsorum expositio est. Et ne ab aliquibus praesumptor et temerarius diiudicarer, quod (ab) alieno armario sumpserim tela, uniuscuiusque doctoris nomen cum suis characteribus, sicut et beatus fecit presbiter Beda, subter in paginis adnotavi. Vgl. zur Überlieferung dieses Widmungsbriefs die Bemerkungen von Gorman 1997, 288 mit Anm. 45. 39 Gorman 1997, 315. 40 Nachweis ebd. 41 Claudius von Turin, Epistolae, ed. Dümmler, 603: Quod vero sententiam uniuscuiusque doctoris
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Claudius stellte also den Verweis auf Autoritäten am Rand ein. Interessanterweise wissen wir von ihm auch, dass er teils – allerdings vermutlich nur aus Zeitmangel – auf den Arbeitsschritt einer Verzettelung der exzerpierten Zitate verzichtete. Einen Kommentar schrieb er ganz direkt aus seinen Codices der Bibel und Kirchenväter zusammen und entschuldigte sich dann für den etwas unordentlichen Text – er habe dieses Mal ohne Exzerpte auf Wachstafeln (tabellae) und Anordnung auf Zetteln beziehungsweise losen Blättern (scedulis digesta) gearbeitet.42 Weitere Variationen des Umgangs mit nomina auctorum können mangels systematischer Forschungen nur grob skizziert werden. Sedulius Scottus († nach 858) benutzte Randsiglen in seinen Collectanea in Epistolas Pauli.43 Smaragd von St. Mihiel (fl. 809–819) benutzte Randsiglen für die Kirchenväter in seinem Liber Comitis, das Bibelperikopen mit patristischen Exzerpten zusammenstellte; auch er übernahm die Praxis direkt von Beda.44 Paschasius Radbertus von Corbie kündigte in seinem Matthäuskommentar an, Randsiglen nutzen zu wollen, wiewohl de facto keinerlei Handschriften mit Randsiglen von seinen Werken erhalten sind.45 Paschasius wollte allerdings anders als Beda, Claudius von Turin und Hrabanus offenbar seinen eigenen Namen nicht mit eingeschlossen haben. Möglicherweise steht dies mit seinem Autorschaftskonzept als kreativer ‚Auswähler’ in engem Zusammenhang.46 Deutlicher lässt sich dies für Angelomus von Luxueil (fl. 825–855) postulieren: Gorman rekonstruiert, dass er eine mit Autoritätenverweisen versehene Arbeitskopie seiner Auslegungen besessen haben muss.47 In der Widmung seines Hoheliedkommentars verzichtete Angelomus aber bewusst auf die Verzeichnung von Autoritäten am Rand.48 Stattdessen stellte er sich im Text durch vielfache Verweise auf die Autori-
in paginis adnotare praecipis in expositionibus nostris: neminem hoc fecisse legi, excepto beatissimum Bedam; quod quidem nec ille amplius quam in duobus codicibus fecit, in expositione videlicet evangelistarum Marci et Lucae. Quod ego ideo omisi facere, quia sententias quorundam, quas adnotaveram prius sub nomine aliorum, diligentius perquirens, aliorum eas esse repperi postea. 42 Claudius von Turin, Epistolae, ed. Dümmler, 595: Quod vero quaedam minus ordinata quam decet in hoc codice multa repperiuntur, non omnia tribuas imperitiae, sed quaedam propter paupertatem, quaedam ignosce propter corporis infirmitatem et meorum oculorum inbecillitatem, quia non fuerunt in tabellis excepta vel scedulis digesta, sed ut a me inveniri vel disseri potuerunt, ita in hoc adfixa codice sunt. Date itaque veniam inprudentiae meae, quam extorsistis. 43 Vgl. Souter 1917. 44 Vgl. zu Smaragd Rädle 1974, bes. 137-142 sowie zuletzt Ponesse 2010; Ponesse 2012 war mir leider noch nicht zugänglich. 45 Vgl. Ganz 1990, 82–83. 46 Vgl. ähnlich die Andeutungen bei Cantelli 2006, Bd. 1, 11. 47 Vgl. Gorman 1999b, 578–579. 48 Vgl. Angelomus von Luxueil, Epistolae, ed. Dümmler, 627: Sed sciendum vero, quia ut moris est quorundam scriptorum, non in pagella e regione singulorum doctorum viritim litteris insignitis assignaverimus nomina omnia, sed ex eorum dictis profecto expositorum nonnulla compaginare ex multimodis, breviter recidendo videlicet demptis superfluis, multimoda, nonnulla vero ex prolixioribus sensum eorum sequentes coniungere decerpendo, aliqua nostra interpolando augmentare censuimus longiora.
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täten wie durch Angebote eigener allegorischer Deutungen selbst als Ausleger in den Vordergrund, der für Leser und Hörer eine Palette an ‚Medikamenten’ und ‚Gewürzen’ zusammengestellt hatte.49 Gerade bei Angelomus gewinnt man den Eindruck, dass er keinen besonderen Wert auf die umständliche wörtliche Wiedergabe der Autoritäten legte, sondern eher deren Sinn zusammenfassen wollte.50 Vor diesem Hintergrund lassen sich die Intentionen des Hrabanus Maurus bereits genauer einordnen: Schon die knappen Kommentare zu seiner eigenen Arbeitsweise führen vor allem eine intensive ‚Zettelwirtschaft’ vor Augen, die karolingerzeitliche Gelehrsamkeit vielleicht stärker auszeichnete als bislang wahrgenommen.51 Aus mehreren seiner Widmungsbriefe geht etwa hervor, dass Hrabanus kürzere Texte und exzerpierte Passagen aus den Kirchenvätern auf schedulae notiert hatte. Ein gutes Beispiel ist sein De institutione clericali: Zwar hat Zimpel für dieses Werk eine sehr spezifische Schreibabsicht im Zusammenhang mit den Reformen von 816–819 festgestellt, die Hrabanus in der Widmung glatt unterschlug. Doch wird man seinen einleitenden Worten soweit glauben dürfen, als das Werk offensichtlich auch auf gestückelte Informationen zurückging, die Hrabanus anlässlich von Anfragen einzelner Fuldaer Kleriker herausgesucht und teils bereits schriftlich als Antworten notiert hatte. Unter anderem handelte es sich um folia, auf denen er offenbar Zitate und Problemlösungen situationsgebunden festhielt und die er dann für das Gesamtwerk neu zusammenstellte und ergänzte.52 Wie Zimpel argumentiert, muss dieses Arbeiten mit Zetteln dann der in De institutione clericali beobachtbaren Tatsache zugrundeliegen, dass Hrabanus zwar Passagen aus den Kirchenvätern komplett verwertete, dabei aber völlig neu zusammen-
49 Vgl. Gorman 1999b für Bemerkungen zu Angelomus’ Autorschaftskonzept (567–568) und zu seinem verweisenden Duktus (589–592). Die Metaphern des Darreichens von Medikamenten und Gewürzen in Angelomus’ zitiertem Widmungsbrief (vorige Anm.). 50 Siehe seine Überlegungen zu Kürzungen in der gerade zitierten Stelle. 51 Ich hoffe, zum Umgang mit schedulae in der karolingerzeitlichen Wissensvermittlung demnächst weitere Überlegungen vorzulegen, da sich dieses Thema in der Tagungsdiskussion als besonders weiterführend erwies. Schedulae und Einzelblätter sind im Rahmen codicologischer Forschungen zwar behandelt worden, etwa schon von Lehmann 1936, doch sind mir aktuell keine Arbeiten zu Zetteln als Medium der Wissenorganisation für das Frühmittelalter bekannt, anders als für die Neuzeit. Hier wäre also einiges zu tun; vgl. z.B. Blair 2010, 210, die zu bezweifeln scheint, dass Zettel im Mittelalter überhaupt öfters zu Kompilationszwecken genutzt worden seien. 52 Hrabanus Maurus, Epistolae, ed. Dümmler, 385: Quaestionibus ergo diversis fratrum nostrorum, et maxime eorum, qui sacris ordinibus pollebant, respondere conpellebar, qui me de officio suo et variis observationibus, quae in aecclesia Dei decentissime observantur, saepissime interrogabant. Et aliquibus eorum tunc dictis, aliquibus vero scriptis, prout oportunitas loci ac temporis erat, secundum auctoritatem et stilum maiorum ad interrogata respondi, sed non in hoc satisfacere potui, qui me instantissime postulabant, immo cogebant, ut omnia haec in unum volumen congererem, ut haberent quo aliquo modo inquisicionibus suis satisfacerent, et in uno codice simul scriptum repperirent, quod antea non simul, sed speciatim singuli, prout interrogabant, in foliis scripta habuerant. Quibus consensi et quod rogabant feci quantum potui. Nam de hoc tres libros edidi.
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stellte, ohne einzelne Sätze zu wiederholen. Auch der Blick über die anwachsende Reihe seiner späteren Bibelkommentare lässt den Eindruck entstehen, dass Hrabanus Maurus inmitten eines anwachsenden Zettelkastens biblischer und patristischer Weisheiten arbeitete. Wie Silvia Cantelli zeigt, setzte Hrabanus etwa häufig Querverweise auf andere biblische Bücher und parallele patristische Auslegungen ein.53 Sie nimmt auch an, dass er möglicherweise eine Arbeitskopie seiner anwachsenden Zahl von Bibelkommentaren in Fulda behielt,54 die aus losen Blättern bestanden haben könnte. Auch andere Exegeten der Zeit arbeiteten offenbar mit Hilfsmitteln wie schedulae und tabellae, „the 3 × 5 cards and Post-it notes of their day“ (Gorman).55 Tatsächlich scheint es, dass Zettel und Leim für seine Zusammenstellungen zunehmend die Rolle spielten, die Papier, Schere und Kleber auch noch im 20. Jahrhundert für die Erstellung von wissenschaftlichen Arbeiten zukam – und die erst aktuell weitgehend vom digitalen Copy and paste und von Listen- und Zettelverwaltungsprogrammen wie Evernote abgelöst wird.56
4 Auf den Spuren der Spuren der Väter. Die nomina auctorum in Theorie und Praxis Welche Intentionen der Nutzung von Autorensiglen lassen sich vor diesen epistemologischen wie technischen Hintergründen bei Hrabanus Maurus rekonstruieren? Angesichts vorliegender Forschungen zu Hrabanus’ oft geradezu subtiler Verwendung von Autoritäten dürfen wir von vornherein eines ganz sicher annehmen: Bei der Verwendung von nomina auctorum am Rand muss sich Hrabanus Maurus etwas gedacht haben. Allein die Studie Zimpels zu De institutione clericali57 zeigt, dass Hrabanus Maurus wie Claudius von Turin und Angelomus von Luxueil genau um die technischen Problematiken des Verweisens auf Autoritäten wusste. Doch er konnte wörtliche Zitate der Kirchenväter nach Bedarf genau markieren oder aber höchst wirkungsvoll ‚stumm’ einsetzen – und schließlich die Sätze der Alten auch einmal so zusammenstellen, dass aus drei Augustinus-Zitaten eine Stellungnahme gegen die Ansicht des Augustinus wurde.58 Auf den Spuren der Väter zu wandeln bedeutete bei Hrabanus Maurus niemals, einem eingetretenen Pfad zu folgen.
53 Cantelli 2006, Bd. 1, 72–73, 79–80. 54 Vgl. Cantelli 2006, Bd. 1, 61, Anm. 256 mit Verweis auf Spilling 1982, 167. 55 So Gorman 1997, 316. 56 Vgl. Zimpel in Hrabanus Maurus, De institutione clericali, ed. Zimpel, 74-75. Der Ausdruck „scissors and paste“ bei Saltman 1973, 46. Zu note-taking und Wissensmanagement in der Vormoderne Blair 2010. 57 Vgl Hrabanus Maurus, De institutione clericali, ed. Zimpel, bes. 62–94. 58 Vgl. zu letzterem bereits Blumenkranz 1977; die inhaltliche Innovativität Hrabanus’ bei gleich-
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Eine genauere Betrachtung seiner Widmungsbriefe ergibt, dass Hrabanus laufend zwischen pragmatischen und epistemologischen, religiösen wie profanen Konzepten der Erkenntnis und Praktiken des exegetischen Schreibens vermittelte. In vielschichtigen Positionierungen setzte er sich dabei mit mehreren Problemkomplexen auseinander, die sich im Verlauf seiner gelehrten Karriere auch mehrfach wandelten. Immer jedoch scheint seine Selbstdarstellung und seine Handreichung für Leser und Widmungsempfänger um die Rolle des Exegeten als Auswähler zu kreisen. In den frühen Werken Hrabanus’ stand seine eigene, noch unsichere Stellung als Vermittler transzendenter Wahrheit sehr weit im Vordergrund. In seinem Erstlingswerk, dem kunstvollen Liber sanctae crucis von 814,59 stellte er den Lesern in betonter Sorgfalt eine Prüfung anheim, ob seine Auswahl von Inhalten auch richtig und orthodox sei. Diese Geste der Demut erscheint gleichzeitig als paradoxe Selbstaufwertung, denn die kundigen Leser sollten nun in einer aktiven Lektüre ebenfalls eine Auswahl treffen:60 Was nicht ganz richtig oder unbesonnen scheine, so Hrabanus, solle man seiner eigenen Schwäche zuschreiben. Doch strebe er nach dem richtigen und katholischen Glauben und sei willig, seinen Text auch zu korrigieren. Was man im Text aber rechtgläubig und im Vergleich mit den Heiligen Schriften richtig finde, so die zweite Hälfte einer typischen und topisch gewordenen Aufforderung zur Auswahl, das solle direkt dem zugeschrieben werden, von dem alles Gute komme, also Gott. Wo immer Hrabanus nicht verbessert werden konnte, hatte er sich somit als Teilhaber an der göttlichen Wahrheit selbst in die Gruppe der inspirierten sapientes eingeschrieben und einschreiben lassen. Als einfacher Mönch in seinen Dreißigern noch eher zurückhaltend, als Abt aber bald relativ selbstbewusst, sprach er auch selbst davon, dass er schreibe, was ihm die göttliche Gnade (oder auch die Inspiration, der Quell des Lichts, die ipsa veritas etc.) eröffnet habe. Diese relative – nämlich im Gegensatz zu der anerkannten Inspiration der Kirchenväter noch ungeprüfte – Autorität seiner eigenen Aussagen blieb für Hrabanus weiter präsent. Nicht zuletzt zu ihrer Markierung dienten die Siglen mit nomina auctorum: In seinem ersten exegetischen Werk, dem Matthäuskommentar von 821/822, erklärte er die Abbildung von Autoritäten durch Siglen noch als Mechanismus der Abwehr von Plagiatsvorwürfen. Doch formulierte er diese oben zitierte Beteuerung bei genauem Hinsehen im direkten wörtlichen Anschluss an Beda, der offensichtlich
zeitiger imitierender Verwendung typischer Stilelemente z.B. von Beda und Cassiodor betont auch Cantelli 2006, Bd. 1, 120–122. 59 Vgl. Ferrari 1999. 60 Hrabanus Maurus, Epistolae, ed. Dümmler, 383: rogo, ut quicumque textum huius operis perspexerit [...] si velit et possit, legat et oculo sanae fidei intuendo atque per auctoritatem divinarum scripturarum diiudicando, quod in eo catholice et recte repperierit disputatum, ei hoc tribuat, a quo est omne bonum. Si quid autem minus recte atque inconsiderate invenerit prolatum, magis meae inperitiae quam malitiae deputet, qui catholicae fidei quantum possum rectitudinem semper desidero et inhianter disco, eiusque iura, quantum superna gratia concedit, servare contendo.
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sein Vorbild für diese Technik war (und nicht, wie in einigen Arbeiten angenommen, Alkuin61). Hrabanus erklärte sie an dieser Stelle nicht weiter. In seinen nächsten Widmungen finden wir dagegen eine leicht präzisierte Erklärung: An Bischof Frechulf von Lisieux (fl. 825–852) widmete er einen Kommentar zur Genesis mit der Erläuterung, er habe auf dessen Wunsch einzelne Auffassungen der Väter zur Bibel zusammengestellt: [I]ch habe sie inseriert, wobei deren Namen vorher auf der Seite angemerkt sind. Wenn aber die göttliche Gnade mir Unwürdigem selbst etwas zu erleuchten geneigt war, habe ich dies am nötigen Ort gleich mit einem Zeichen meines Namens bezeichnet. So weiß der Leser, was er aus der Tradition der Väter hat, und was er nur von unserer Wenigkeit, in ungeschliffener Sprache aber doch, wie ich glaube, in katholischem Sinn, ausgelegt findet.62
Hrabanus transponierte den Gedanken einer möglichen, aber keineswegs sicheren Inspiration also nun in eine Hierarchie der Autoritäten, innerhalb derer er sich in vorbildlicher Demut einen geringeren Status zuschrieb. Diese Überlegung steht jedoch in engem Zusammenhang mit Bemühungen, die Autoritäten möglichst korrekt zu zitieren. Im Jahr 829 widmete Hrabanus seinen Kommentar zu den Königsbüchern an Abt Hilduin von St. Denis. Wie Mayke de Jong wahrscheinlich macht, versuchte er mit der Widmung an diese wichtige und selbst hochgelehrte Persönlichkeit wohl, über den Umkreis von Fulda und Mainz hinauszugelangen und durch gelehrte Geschenke wieder einen Anschluss an den Kaiserhof herzustellen.63 In der Widmung erläuterte Hrabanus nunmehr, dass die Siglen ausweisen sollten, was wie zu gewichten sei, quidve in singulis sentientum sit.64 Er sprach
61 Gorman 1997, 313; Aris 1996, 451, Anm. 88; Hill 2006, 231 behaupten, dass Hrabanus die Verwendung von Siglen von Alkuin gelernt habe, was allerdings auf einer Fehlübersetzung zu beruhen scheint: Hraban erläutert an der von ihnen stets zitierten Stelle (hier unten in Anm. 64 zitiert), Alkuin habe ihm den Beinamen Maurus beigelegt (nomen ... quod meus magister beatae memoriae Albinus mihi indidit). Dass Hrabanus die Technik aus Bedas Schriften lernte, ist dagegen mit guten Gründen anzunehmen, da er dessen Texte kannte und bei den meisten anderen Autoren des 9. Jahrhunderts sogar explizite Bezüge auf Beda auftreten (und da schließlich von Alkuin keine Bibelkommentare mit Autorensiglen überliefert sind). 62 Hrabanus Maurus, Epistolae, ed. Dümmler, 394: Feci enim sicut postulasti, et sanctorum patrum libros, in quibus rebar aliquid de sententiis legis expressum esse, quantum licuit perlegi et singula secundum oportunitatem loci, prout mihi satis esse videbatur, inserui, eorum nominibus ante in pagina praenotatis. Si quid vero gratia divina indigno mihi elucidare dignata est, in locis necessariis simul cum nota agnominis mei interposui, quatinus sciret lector, que ex patrum traditione haberet, et que ex parvitate nostra, licet sermone rustico, tamen ut credo sensu catholico exposita inveniret. 63 De Jong 2000, 203–204. 64 Hrabanus Maurus, Epistolae, ed. Dümmler, 14, 402: Quorum omnium sententias aut, sicut ab ipsis conscripte sunt, posui aut sensum eorum meis verbis breviando explanavi. Praenotavique in marginibus aliquorum eorum nomina, ubi sua propria verba sunt; ubi vero sensum eorum meis verbis expressi aut ubi iuxta sensus eorum similitudinem, prout divina gratia mihi concedere dignata est, de novo dictavi, M litteram Mauri nomen exprimentem, quod meus magister beatae memoriae Albinus mihi indidit, pra-
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also ganz direkt eine Autoritätenhierarchie an, die er selbst als Hüter des Wissens handhabte und den Lesern darbot. Er erläuterte jedoch auch – wiederum mit Anklängen an Worte und Arbeitstechniken Bedas –, dass es sich bei den mit Autorensiglen bezeichneten Stellen um wörtliche Zitate handele. Es geht also nicht nur um Autorität, sondern auch um textuelle Authentizität. Dieser Wunsch, die Worte der Väter sogar wörtlich wiederzugeben, verdient, festgehalten zu werden.65 Marc-Aeilko Aris hat bereits hervorgehoben, dass in Hrabanus’ intensivem Bemühen um „Wahrheitssicherung“ durch genauen Umgang mit den Texten der Tradition letztlich sein „Wissenschaftsverständnis“ zu suchen ist.66 Wiewohl das 9. Jahrhundert streng genommen einen ausgebildeten Begriff von Wissenschaft höchstens im Zusammenhang mit religiöser Weisheit entfaltete, erweist sich Hrabanus’ Arbeit in diesem Aspekt tatsächlich als stark regelgeleitet und ‚methodisch’, im Sinne stringenter, durchgehaltener Arbeitsweise. Nicht nur entwickelte Hrabanus im Verlauf seiner exegetischen Tätigkeit immer deutlicher eine Neigung, aus der Bibel bestimmte Normen zu abstrahieren und diese als Leitprinzipien für die Auslegung bislang ungeklärter Stellen einzusetzen, ging also zunehmend systematisierend vor.67 Er investierte auch beträchtliche Mühen, um die Authentizität der exzerpierten Textpassagen durch Siglen gewissermaßen zu beglaubigen. Wenn man Randbemerkungen Zimpels und Cantellis zu Hrabanus’ Arbeitsweise Ernst nimmt, drängt sich tatsächlich der Eindruck auf, dass Hrabanus von dem Problem, das Claudius von Turin hatte verzweifeln lassen, lediglich zu Höchstleistungen angespornt wurde: Wiewohl auch Hrabanus die Intertextualität der patristischen Tradition nicht vollständig entwirren konnte, versuchte er doch zumindest, nicht nur Quellen anzugeben, sondern auch deren Quellen. Wie Cantelli bemerkt, notierte Hrabanus etwa offenbar Randsiglen und Querverweise bereits aus seinen Vorlagen mit.68 Zimpel stellt es (offenbar noch unter dem Eindruck moderner Plagiatsvorwürfe) dann teils sogar als ‚vorgetäuschte Belesenheit’ Hrabanus’ dar, dass dieser viele namentlich genannte Quellen seines De institutione clericali indirekt aus wenigen Hauptquellen wie Augustinus, Cassiodor und Isidor bezog. Zimpel gibt jedoch gleichzeitig zu bedenken, dass Hrabanus in einigen Fällen deren Verweise offenbar gewissenhaft nachschlug und teils ergänzte.69 Dass Hrabanus somit offenbar bemüht war, die ursprüngliche Quelle einer Aussage aufzufinden, und Zitate aus Zitaten sorgfältig benannte (zumindest zum Teil, denn für die Exegese haben wir dazu leider keine systematischen Beobachtungen), spricht für ein Verständnis von Textualität, das man
enotare curavi, ut diligens lector sciat, quid quisque de suo proferat quidve in singulis sentientum sit, decernat. 65 Vgl. auch Cantelli 2006, Bd. 1, 65-66 mit Hinweisen auf weitere Stellen. 66 Aris 1996, 445. 67 Vgl. Cantelli 2006, Bd. 1, 87–124, bes. 123. 68 Vgl. so Cantelli 2006, Bd. 1, 68, Anm. 263. 69 Zimpel in Hrabanus Maurus, De institutione clericali, ed. Zimpel, 89–94, bes. 93–94.
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eigentlich erst im 11. und 12. Jahrhundert erwarten würde. Als sichtbare Markierungen, die einen fortlaufenden, äußerlich kontinuierlichen Text in Stücke unterschiedlicher Qualität gliederten, dürften die Autorensiglen zeitgenössischen Lesern zumindest eine Ahnung der dahinterstehenden Probleme vermittelt haben. Hrabanus’ Hochschätzung wörtlicher Zitation bildet zudem die Basis für die anderen Bedeutungsebenen der Autorensiglen, die auch auf seine eigene Rolle hinführen. Für die mit seinem eigenen Namen Maurus bezeichneten Stellen gab er etwa eine noch genauere Erklärung, die zu epistemologischen Überlegungen zurückführt: Seine Aussagen waren entweder der Kürze halber in eigenen Worten zusammengefasst, enthielten aber eine Bedeutung, die von den Vätern vorgegeben wurde – oder sie enthielten eine Bedeutung, deren Erkenntnis Hrabanus selbst von der göttlichen Gnade ‚zugestanden‘ worden war, die aber derjenigen der Väter ähnlich sei und von ihm lediglich neu formuliert werde.70 Befragt man die Passage auf zeitgenössisches Wissensverständnis und nicht auf moderne Vorstellungen von Originalität, zeigt sich, dass Hrabanus sich hier wiederum in eine Gemeinschaft der begnadeten Ausleger einschrieb: Nicht nur stand sein Name, in nichts von den ihren unterschieden, mit auf einem Blatt und beglaubigte seinen Text im Wortlaut – deutlich zu sehen etwa auf Folio 15r des Codex München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 14384 (Abb. 8). Hrabanus schrieb auch ganz explizit, dass er (wie er hoffte) durch dieselbe Instanz, nämlich die göttliche Gnade, an derselben Wahrheit teilhatte. Er war buchstäblich Kind desselben Geistes, der auch die Kirchenväter inspiriert hatte. Wie sie „brachte“ er eine sakralisierte Wahrheit „aus dem Seinen hervor“ (de suo proferat). Da er eine übergeordnete, transzendente Wahrheit annahm, die sich durch verschiedene Akteure in mannigfaltiger Weise manifestierte, aber letztlich mit sich identisch blieb, wenn der Exeget nur voll an der göttlichen Gnade teilhatte, zielte Hrabanus bei aller Demut also hoch: Er versprach nicht nur nebenbei, das Alte wo nötig neu zu formulieren (de novo dictavi) – in seinem Insistieren, mit Hilfe der Gnade nur Aussagen zu machen, die dem Sinn der Kirchenväter ähnlich seien (iuxta sensus eorum similitudinem), verortete er sein eigenes Schreiben gleichzeitig auf der höchsten denkbaren Ebene: Genauso wie aus den Worten der Kirchenväter sprach aus seinen Worten letztlich Gott, die veritas und sapientia selbst. Nicht nur seine untergeordnete Autorität, sondern unterschwellig auch der sakrale Status seiner eigenen Worte wurde wiederum durch die Sigle M am Rand materiell herausgehoben. Mit der Bezeichnung forderte Hrabanus den Leser auf, das Geschriebene zu beurteilen – und es, wo es nicht abzulehnen war, im vorliegenden Wortlaut zu approbieren und so mit den Aussagen der Kirchenväter auf eine Ebene zu stellen. Die symbolisch herausgestellte sakrale Dimension des Auswählens als Vermittlung zwischen göttlicher Wahrheit und menschlichem Wissen durchdringt also die pragmatische Arbeitstechnik der bearbeitenden und ergänzenden Kompilation.
70 Vgl. hier und für die folgenden Zitate oben Anm. 64.
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Abb. 8: München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 14384, fol. 15r (Hrabanus Maurus, In libros Regum), aus St. Emmeram in Regensburg, 3. Viertel des 9. Jahrhunderts.
Die von Hrabanus Maurus öfters hervorgehobene ‚rein kompilierende’ Zusammenstellung von Väterautoritäten gewinnt weitere Bedeutung, wenn man mögliche Rezeptionskontexte einbezieht: Wie Cantelli betont, wollte Hrabanus zumeist
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collectanea schreiben, also Zusammenstellungen aller bekannten Auslegungen zu einem bestimmten Buch der Bibel, eine Gattung, die seit den Bildungsreformen Karls des Großen programmatisch gepflegt wurde.71 Er selbst bezeichnete seine zeitsparend zusammengestellten Väterschriften teils als compendium.72 Es war daher nicht Zeichen der eigenen Geistesarmut, sondern bester Ausweis des guten Exegeten, den Lesern eine möglichst vollständige Vielzahl von inspirierten und inspirierenden Interpretationen der einen Wahrheit bieten zu können. Ein Angelomus von Luxueil mochte dabei sein Wissen um die Tradition der Väter mit vagen Verweisen auf sie etablieren. Hrabanus Maurus hatte das nicht nötig: Aus der anwachsenden Bibliothek Fuldas73 und eigenen, ständig vertieften Kenntnissen schöpfend, konnte er den Lesern und Hörern die Weisheit der Väter im genauen, sorgfältig bezeichneten Wortlaut bieten. Hrabanus verwies ganz ausdrücklich auch auf die praktische Nutzbarkeit seines Kommentars jenseits eines im engeren Sinne gelehrten Umfelds. Dieser Verweis gewinnt Konturen, da Hrabanus in der Widmung des für Abt Lupus von Ferrières bestimmten Pauluskommentars sogar Anweisung gab, die von ihm so sorgfältig notierten Autorensiglen sollten beim Vorlesen des Textes unbedingt mitgelesen werden.74 Hrabanus Maurus wollte also nicht nur Lesern, sondern auch Hörern verschiedene Vätermeinungen im Original nahebringen. Gemäß seiner auf göttliches Einwirken auf den Menschen ausgelegten Epistemologie dürfte Hrabanus davon ausgegangen sein, dass die Lektüre bzw. das Hören von Schrift- und Väterpassagen quasi spirituelle Nahrung bot. Wie er in De institutione clericali mit Augustinus schrieb, könnten etwa auch Gebete vom häufigen Hören der Liturgie zusätzliche Wirkung gewinnen, da sie, von der Bedeutung der Schrift buchstäblich gemästet, fetter (pinguior) würden.75 Auch den Lesern und Hörern seiner Kommentare gab er eine ‚angereicherte‘ Version der Bibel zu verdauen. Solche Leser
71 Vgl. Cantelli 2006, Bd. 1, 11–13, 59–64. 72 Vgl. an Kaiser Lothar Hrabanus Maurus, Epistolae, ed. Dümmler, 443: habeatque satis commodum compendium, quando id, quod in multis codicibus patrum scrutari debuit, in unum reppererit collectum: nec iam sibi laborare necesse esse inquirendo, ubi aliorum labore quieti sue invenerit consultum. An Abt Hilduin von St. Denis ähnlich, ebd., 402: Aestimo enim, si illud relegeritis, per omnia vobis non displicere, cum cognoveritis me ad hoc laborare velle, ut sanctorum patrum dicta, quae de predicto libro exposita in pluribus exemplaribus dispersa sunt, in unum ob commoditatem legentis colligerem. 73 Vgl. Raaijmakers 2012, 189-198; Aris 2006; Spilling 1982. 74 In seiner Widmung des Pauluskommentars an Lupus von Ferrières, vgl. Hrabanus Maurus, Epistolae, ed. Dümmler, 429–430: Unde necessarium reor, ut intentus auditor per lectorem primum recitata singulorum auctorum nomina ante scripta sua audiat, quatenus sciat, quid in lectione apostolica unusquisque senserit, sicque in mentem suam plurima coacervans possit de singulis iudicare, quid sibi utile sit inde sumere. 75 Hrabanus Maurus, De institutione clericali, ed. Zimpel, II, 52, 411–412 (mit Isidor von Sevilla, De ecclesiasticis officiis): Nec putes parvam nasci utilitatem ex lectionis auditu; siquidem oratio ipsa fit pinguior, dum mens recenti lectione saginata per divinarum rerum, quas nuper audivit, imagines currit.
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und Hörer dürften aus den Mönchen aus Fulda und anderen Klöstern, aus Klerikern wie denjenigen im Umfeld der zahlreichen bischöflichen Widmungsempfänger und möglicherweise sogar aus weltlichem Adel im Umkreis der königlichen Dedikatare bestanden haben. Die nährende Fülle der Auslegungen sollte Hörer und Leser zudem noch selbst zum Denken und Meditieren anregen, und dabei war Aufmerksamkeit geboten: Wie Hrabanus ausdrücklich in der Widmung zu seinem Pauluskommentar insistierte, gab es bereits viele Schriften der Alten. Nun ging es darum, aus dieser Vielzahl für sich Nutzen zu ziehen. Daher war die relative Autorität der Väter wichtig: Ich ermahne den, der meine Lesungen nutzen will, die Namen der Autoren, deren Worte ich aus ihren Büchern exzerpiert und außen an der Seite mit ein, zwei oder drei Buchstaben gekennzeichnet habe, auch beim Lesen vor anderen immer dort laut mit auszusprechen, wo er sie findet. So wird er den Leser nicht verwirren, der vielleicht nicht weiß, wer dies oder jenes vorgebracht hat, und es dann für Worte eines anderen hält, obwohl die Wahrheit anders liegt. Denn ihre Auslegungen stimmen in einigem überein, weichen aber in einigem auch voneinander ab. Daher halte ich es für notwendig, dass dem aufmerksamen Hörer durch den Leser zuerst die Namen der jeweiligen Autoren vorgelesen werden, bevor er deren Text hört, denn so wird er wissen, was ein jeder über die apostolische Lesung dachte, und kann so selbst im Geist mehreres ansammeln und schließlich beurteilen, was er selbst Nützliches für sich herausziehen kann.76
Diese Passage führt weniger den Gelehrten ‚im Gehäus‘ oder die kleine Lehrer-Schüler-Gruppe vor Augen als vielmehr den Alltag der Klostergemeinschaft, deren Mitglieder in der Liturgie, anlässlich von Lesungen bei Tisch oder an Sonntagen sowie in individueller Lektüre, besonders in der Fastenzeit, ebenfalls die Bibel hörten oder lasen und angehalten waren, über sie zu meditieren.77 Die von Hrabanus angedeutete Interpretationsoffenheit und der problemlose Umgang mit widersprüchlichen Aussagen der Väter mögen übrigens für denjenigen überraschend wirken, der das Frühmittelalter als Periode traditionshöriger, eng auf Orthodoxie orientierter Auslegung einstuft, etwa im Vergleich mit der stärker spekulativen, dialektischen Theologie der Frühscholastik oder den problemorientierten Standardwerken des 13. Jahrhunderts. Doch da die karolingerzeitliche Exegese nicht die wörtlichen und sprachlogischen Aussagen der Bibel und Väterschriften systematisieren, sondern zunächst deren normativen Gehalt sichern wollte, konnte sie eine
76 Hrabanus Maurus, Epistolae, ed. Dümmler, 429: Illum autem, qui lectione nostra uti elegit, admoneo, ut ubicumque conspexerit auctorum nomina, quorum dicta ex libris suis excerpsi, forinsecus in pagina singulis literis aut binis seu etiam ternis praenotata non pigeat eum in legendo coram aliis illa pronunciare, ne forte auditorem confundat, cum nescierit, quis hoc vel illud ediderit, et alterius scripta arbitretur, quam se veritas habet. Sunt enim eorum sensus in aliquibus concordantes, in aliquibus vero discrepantes, und weiter wie Anm. 74. 77 Vgl. für monastische Lesungen hier nur Cochelin 2011.
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ganz eigene Signatur des Umgangs mit Diversität, Widersprüchen und Innovation entwickeln. Zunächst lässt sich auf den Spuren von Autoritäten wie Augustinus und Cassian eine Hochschätzung der Bedeutungsvielfalt der schier unerschöpflichen Bibel und ihrer gewissermaßen ‚changierenden‘ Auslegungen auffinden.78 In De institutione clericali schrieb Hrabanus Maurus etwa mit Augustinus, dass gerade die Vielfältigkeit möglicher Bedeutungen der Bibel die Macht und den Reichtum der göttlichen Vorsehung belegte.79 Paschasius Radbertus hatte, wie oben geschildert, formuliert, dass es positiv sei, wenn die Wahrheit immer wieder diverso quidem stilo, sed non diversa fide erklärt würde. Sogar in einer Frage spekulativer Theologie hielt der Hrabanusschüler Lupus von Ferrières († nach 862) fest, dass innerhalb der Grenzen des Glaubens das Vertreten unterschiedlicher Standpunkte (diversa sentire) kaum eine Sünde darstellen könne.80 Darüberhinaus wurden Widersprüche im Bereich des Sprachlichen oder des bloß profanen Wissens anscheinend nur selten als problematisch empfunden. Angelomus von Luxueil erklärte etwa, dass es kaum einen Unterschied mache, ob Johannes der Täufer (Joh 3, 23) nun in ‚Salem’ oder ‚Salim‘ getauft habe.81 Auch im brieflichen Austausch unter Gelehrten ließ man Probleme teils offen stehen oder verhandelte Meinungsverschiedenheiten, wofür karolingerzeitliche Autoren übrigens richtiggehende Vorsichts- und Höflichkeitsregeln entwickelten.82 Materiellen Niederschlag solcher Diskussionen hat aktuell Mariken Teeuwen in ihren detaillierten Untersuchungen karolingerzeitlicher Glossentraditionen zu Martianus Capella genauer identifiziert. Wie sie betont, ließ man in der gelehrten Auseinandersetzung mit seinem Werk, das Schwierigkeiten in fast allen Wissensgebieten aufwarf und intensive Nutzung aller möglichen Referenztexte auslöste, einander widersprechende Lösungen und Verweise teils unverbunden in Randglossen stehen.83 Wie Hrabanus’
78 Vgl. demnächst ausführlich Meier 2014b. 79 Hrabanus Maurus, De institutione clericali, ed. Zimpel, III, 15, 462 (nach Augustinus, De doctrina christiana): Nam quid in divinis eloquiis largius et uberius potuit divinitus provideri, quam ut eadem verba pluribus intellegantur modis, quos alia non minus divina contestantia faciant adprobari? 80 Vgl. Lupus von Ferrières, Epistolae, ed. Marshall, 37–38, über die beata visio nach dem Tode: quoniam de isdem quaestionibus diversa sentire quousque contra fidem non est, aut nulla ut parva culpa est […]. 81 Vgl. Angelomus von Luxueil, Commentarius in Genesin, ed. Migne, 176 B: Inde dicit Joannes evangelista: Erat Joannes baptizans in Ennon juxta Salim, quia multae sunt ibi aquae (Joan. III, 23). Nec differt utrum Salem an Salim dicatur, cum vocalibus in medium perraro utuntur Hebraei, et pro voluntate lectorum ac diversitate regionum eadem verba diversis sonis et accentibus proferunt [Z., proferuntur]. Nos enim opiniones diversorum ponimus; sed prudenti lectori, quid horum verius elegerit, derelinquimus. Gorman 1999, 599, zieht diese Stelle und v.a. die letzte Zeilen her, schließt jedoch ohne Bezug auf die verhandelte Thematik (nämlich bloß die Lautung eines Worts), dass Angelomus Interpretationen generell gerne offen gelassen habe. 82 Vgl. Steckel 2011a, 584–589. 83 Teeuwen 2011b, bes. 32–33. Inwiefern dies auf Gebrauchskontexte außerhalb der ‚Schule’ schlie-
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Bemerkung suggeriert, scheint man derartige offene Fragen eher als Bereicherung denn als Problem empfunden zu haben. Der geschilderten Offenheit steht jedoch ein weiteres, ebenso wichtiges Kennzeichen karolingerzeitlicher Exegese gegenüber, das wiederum die Rolle des Auslegers als Auswähler entscheidend definiert: Bei aller Begeisterung für den unerschöpflichen Bedeutungsreichtum der Bibel und die nährende Wirkung der Meditation über ihre unterschiedlichen Auslegungen hielten karolingerzeitliche Exegeten doch eine ständige, strikte Grenzziehung zwischen Orthodoxie und Heterodoxie für nötig. Die Betonung dieser Grenze ist bei Hrabanus Maurus, wie Cantelli meint, fast „obsessiv“. Tatsächlich entwickelt er ein sehr breites Konzept der Häresie, die er neben der unrichtigen Auslegung der Heiligen Schrift auch mit Abweichungen von der Einheit der Kirche in Zusammenhang bringt.84 Doch auch die oben diskutierten erkenntnistheoretischen Problematiken dürften zu Buche schlagen: Da die zwischen Gott und Menschen vermittelnde Auswahl der Wahrheit durch Exegeten von deren göttlicher Begnadung abhing und verlustig gehen konnte, blieb die Exegese ein gewagtes Geschäft. Die Möglichkeit von Fehlinterpretationen war stets präsent, etwa in Anlehnung an Augustinus, der insbesondere vor falscher wörtlicher bzw. übertragener Auslegung warnte.85 Da das Frühmittelalter antike Konzepte menschlicher Wissenschaft dezidiert einer christlichen Dichotomie göttlicher Wahrheit und menschlichen Irrtums unterordnete, bedeutete eine Fehlinterpretation zudem nicht nur Unrichtigkeit, sondern Irrtum und, falls dieser verteidigt wurde, Häresie.86 Hrabanus Maurus zog entsprechend besonders in seinen früheren Werken die Möglichkeit eigener Irrtümer stets in Betracht und suchte ihr unter anderem durch die Autorensiglen vorzubeugen. Seine sorgfältigen Erläuterungen zu möglichen Irrtümern, die ja sogar bei Kirchenvätern anzutreffen seien, rückten jedoch gleichzeitig stets die Tatsache in den Vordergrund, dass er selbst für die Wahrheit der ausgewählten Passagen garantierte. In seiner Erläuterung zum Pauluskommentar, in dem Hrabanus Lesern und Hörern teils unterschiedliche Meinungen der Väter zur Meditation vorsetzte, fügte er etwa vorsorglich hinzu: Die Lehrer selbst waren nämlich alle katholisch, außer Origenes, von dem ich jedoch nur Sentenzen ausgewählt habe, die er in katholischem Sinn vorgebracht hat, während ich die anderen außen vor gelassen habe. Tatsächlich habe ich im vorliegenden Werk auch gar nicht besonders viel von meinen eigenen Anschauungen vorgebracht, wie ich dies in anderen kleinen Werken
ßen lässt, wie Teeuwen argumentiert, wäre eine interessante Frage, da dies weitgehend von der Definition von ‚Schule’ abhängt. Es wäre etwa zwischen der Lektüre jugendlicher Schüler und fortgeschrittener Schüler von ca. 20 Jahren und aufwärts zu unterscheiden. 84 So Cantelli 2006, Bd. 1, 124 (Zitat) und 102–106. 85 Vgl. etwa Hrabans ausführliche Zitate aus De doctrina Christiana in De institutione clericali, ed. Zimpel, III, 6–15, 446–463. 86 Vgl. mit Verweisen auf die weitere Literatur Steckel 2011a, 571–673.
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tat, denn ich glaubte, dass dem ernsthaften Leser genügt, was er in den Sentenzen der Väter vorgebracht findet.87
Demut und Selbstaufwertung werden hier von Hrabanus Maurus eng verschränkt: Seine Beteuerung, kaum Eigenes vorzubringen, leistet einem Eindruck bloßen Kompilierens Vorschub und rückt seine selbstlose Rolle als demütiger Schüler der Väter in den Vordergrund. Dies dürfte den Lesern nicht zuletzt demonstriert haben, dass Hrabanus Maurus die nötigen Voraussetzungen zum Empfang göttlicher Begnadung mitbrachte, nämlich Demut und ein auf Gott und nicht etwa den eigenen Ruhm ausgerichtetes Schreibinteresse. In diesem Sinne stellte sich Hrabanus Maurus noch öfters dar, etwa wo er sich gegen den Anwurf verteidigte, kaum Eigenes zu schreiben.88 Doch im zitierten Absatz erklärte Hrabanus auch, dass er höchstpersönlich ausgewählt habe, welche Stellen des zweifelhaften Kirchenvaters Origenes katholisch seien. Die moderne Forschung hat allzu oft nur die eine Hälfte dieser Selbstdarstellung als ‚Kompilator‘ wahrgenommen und kaum bemerkt, dass die Selbststilisierung Hrabanus’ als begnadeter Grenzwächter der Orthodoxie für zeitgenössische Vorstellungen wohl wichtiger war.89 Gerade sie hebt die Tätigkeit des Exegeten als Auswähler des Sinnvollen, Erbaulichen und Orthodoxen über die rein menschliche und profane Ebene eines Wissenschaftlers oder Literaten hinaus. Diese symbolische Konstruktion von Autorität war zudem bei weitem nicht ‚bloß’ symbolisch: Hrabanus Maurus arbeitete ja an verschiedenen Stellen auch de facto an den Grenzen der catholica fides. Neben dem problematischen Kirchenvater Origenes nutzte er beispielsweise auch den als Häretiker verurteilten Augustinus-Gegner Pelagius – unter seinem eigenen Namen Maurus und ohne Leser darauf hinzuweisen.90 Für seinen Kommentar zu den Königsbüchern wählte er zudem zu substantiellen Teilen aus einem später als Pseudo-Hieronymus bekannten Werk aus, das ein gewisser Ebraeus moderni temporis verfasst hatte, wie wir seit Längerem wissen, offenbar
87 Hrabanus Maurus, Epistolae, ed. Dümmler, 430: Doctores enim ipsi omnes catholici fuerunt excepto Origene, cuius tamen sententias tantummodo, quas catholico sensu prolatas credidi, sumpsi, caeteras autem praetermisi. Nec ex meo sensu in hoc opere plura protuli, sicut in aliis opusculis meis feci, credens sobrio lectori sufficere quod in patrum sententiis editum repererit. 88 Vgl. etwa an Kaiser Lothar Hrabanus Maurus, Epistolae, ed. Dümmler, 477: Nec etiam illud silendum arbitror, quod quibusdam narrantibus comperi, quosdam sciolos me in hoc vituperasse, quod excerptionem faciens de sanctorum patrum scriptis, eorum nomina prenotarem, sive quod aliorum sententiis magis innisus essem, quam propria conderem; quibus ad hoc facile respondere possum. Quid enim peccavi in hoc, quod magistros aeclesie veneratione dignos iudicabam et eorum sententias, prout ipsi eas protulerant, oportunis locis simul cum nota nominum eorum in opusculis meis interposueram? Magis enim mihi videbatur salubre esse, ut humilitatem servans sanctorum patrum doctrinis inniterer, quam per arrogantiam, quasi propriam laudem quaerendo, mea indecenter proferrem [...]. 89 Auch Cantelli 2006, Bd. 1, 123–124, hebt Hrabans Beschäftigung mit dem Konzept der Häresie zwar stark hervor, deutet sie aber kaum als Teil seiner Autoritätskonstruktion. 90 Vgl. Heil 2003, 83.
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ein konvertierter Jude, der aus der Tradition der jüdischen Exegese schöpfte.91 Obwohl Hrabanus dem Leser anheimstellte, diese Passagen selbst zu beurteilen, nahm er sie doch in seine Auswahl auf. Sie waren allerdings wiederum sorgfältig gekennzeichnet, mit der Sigle EB für Ebraeus (Abb. 8) sowie oft auch im Text selbst. Wenn Hrabanus beispielsweise dem einflussreichen Abt Hilduin von St. Denis diesen Kommentar widmete, beurteilte er damit vor prominentem Publikum die Rechtgläubigkeit eines Wissens, das nicht aus der Quelle der Kirchenväter oder des Beinahe-Kirchenvaters Beda stammte. Damit machte Hrabanus sich zum Richter über eine Autoritätenhierarchie, die von den sancti patres bis zu einer von ihm selbst oft als zweifelhaft gekennzeichneten jüdischen Auslegungstradition reichte. Hrabanus’ Urteil über diese Hierarchie war als Ordnungsleistung sein wesentlicher Beitrag zur doctrina. Es zeigte eine deutlich übergeordnete Stellung des Exegeten an – und gerade diese über den Autoritäten schwebende Position Hrabanus’ wurde an den Autorensiglen sehr augenfällig zu Pergament gebracht.
5 Antworten und offene Fragen zu den nomina auctorum und ihren Funktionen Wie sich gezeigt hat, hinterließen auf den Rändern karolingerzeitlicher Bibelkommentare nicht nur die Kirchenväter, sondern vor allem deren zeitgenössische Erben eigene Spuren. Treffend beobachtet Bernice M. Kaczynski, dass die intensive Aneignung des spätantiken und frühmittelalterlichen Wissens in der Karolingerzeit weniger als ‚Autoritätshörigkeit’, sondern vielmehr als dynamische Formierung eines Autoritätenkanons erscheint. Wie sie hervorhebt, wurde auch die Reihe der Kirchenväter in der Karolingerzeit noch wesentlich verändert und schloss am Ende – in halboffiziellem Status – Beda ein.92 Vor diesem Hintergrund stellen sich die hier untersuchten nomina auctorum als Materialisierungen pragmatischer, intellektueller und religiöser Verweiszusammenhänge heraus. Grundsätzlich waren die Autorensiglen Markierungen von personaler Autorität und textueller Authentizität. Sie dienten etwa bei Hrabanus Maurus als Zeichen wörtlicher Übernahmen aus den Kirchenvätern. Doch darüber hinaus verwies die Präsenz der Buchstabengruppen auf der Buchseite nicht nur auf eine Form von Autorität, sondern machte die komplexe frühmittelalterliche Formation verschiedener Wissensebenen insgesamt materiell greifbar und anschaulich. Letztlich dienten die Autorensiglen auf der Textseite als Verankerung für einen eigenen Rezeptionsrahmen, der die Leser und Hörer von vornherein auf ein gestuftes, ins-
91 Vgl. Saltman 1973. 92 Vgl. Kaczynski 2001; Kaczynski 2006; Mühlenberg 1999; zu Beda Hill 2006 mit weiteren verweisen.
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gesamt auf die Transzendenz verweisendes zeitgenössisches Wissen hinlenkte: Von Menschenhand geschriebenes Wissen verwies auf göttliche Wahrheit, die durch die Schriften und deren Ausleger erkannt wurde. Der Ausleger war somit die zentrale vermittelnde Instanz zwischen Wahrheit, Tradition und Leser. Der Text wurde Ort der Vermittlung, Prüfung und Auswahl – und nicht nur Autoren, sondern auch Leser und Hörer mussten in der Rezeption aktiv mentale Verbindungen knüpfen und am Prozess der Vermittlung zwischen Wahrheit und menschlichem Wissen teilnehmen (was dann teils meditatio genannt wurde ).93 Hrabanus Maurus signalisierte durch die Siglen stärker als seine Zeitgenossen, dass der Text im Rezeptionsprozess auf Wahrheit und Irrtum zu prüfen blieb. Mit Hilfe der Siglen stellte er auf der Buchseite jedoch auch sein Bestreben dar, die Tradition der Kirchenväter möglichst vollständig zu erfassen und nur nötigenfalls durch eigene Auslegungen zu ergänzen. Wie von Cantelli etabliert, dürfte seine starke Ausrichtung am Prinzip der collectanea zu einzelnen Bibelbüchern dabei auf Impulse der Reformen Karls des Großen und seiner Umgebung zurückgehen.94 Die über Alkuin und dessen geistigen Urgroßvater Beda vermittelte angelsächsische Tradition, die in Fulda ja sehr stark war,95 dürfte Hrabanus aber auch aus eigenem Antrieb weitergeführt haben. Hrabanus zielte zudem mit seinen Überlegungen zur auditiven Rezeption durch Hörer sowie seinem intensiven Bemühen um pragmatischen Nutzen für möglichst viele Rezipienten auf ein Publikum jenseits von Schulen und Hof. Diesem Publikum in Kirchen und Klöstern wollte Hrabanus den Zugang zu einer ‚nährenden’ Vielzahl von Interpretationen der Bibel ermöglichen. Die Notation der Siglen schloss ihnen die von Hrabanus geordnete vielstimmige Autoritätenhierarchie auf. Diese Intention erforderte jedoch im Gegenzug eine Schärfung seines eigenen Profils als Hüter der Orthodoxie, der die angebotene Vielfalt zunächst sorgfältig auf Wahrheit und Irrtum geprüft hatte. Wie im Falle des Ebraeus sichtbar, konnte auch diese Stiftung von Autorität, Authentizität und schließlich Orthodoxie im Zusammenspiel erklärender Vorrede und knapp symbolisierender Siglen anschaulich gemacht werden. Die karolingerzeitliche gelehrte Kultur legte mit solchen Elementen essentielle Grundlagen für spätere Modi der Wissensorganisation. Gerade wenn man Hrabanus’ Bibelkommentare des 9. Jahrhunderts mit ihren Marginalsiglen neben die wohlorganisierten Codices der Glossa ordinaria zur Bibel oder die zunehmend untergliederten und indexierten Lehrbücher des 13. Jahrhunderts legt, schneiden sie nicht schlecht ab. Frühmittelalterliche, noch nicht durch Abschreiben verzerrte Kommentare Hrabanus’ dürften sich für die Lehre fortgeschrittener Schüler und besonders für gelehrtes Nachschlagen durchaus geeignet haben: Den Gesamtinhalt konnte ein
93 Vgl. so öfter Hrabanus Maurus, Epistolae, ed. Dümmler 1899, 394, 395 (an Frechulf von Lisieux) u.ö. 94 Vgl. Cantelli 2006, Bd. 1, 14–22. 95 Zur Bedeutung Bedas in Fulda seit Bonifatius vgl. Hill 2006, 230–232.
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Gelehrter auf der Suche nach Querverweisen durch die als Sachindex lesbaren ausführlichen durchgezählten Capitula erschließen (auf die Hrabanus etwa eigens und etwas umständlich hinwies).96 Die gesuchte Bibelpassage innerhalb des optisch markierten und durchgezählten Kapitels war dann leicht zu finden, da der Bibeltext, wie in einem St. Emmeramer Codex aus dem dritten Viertel des 9. Jahrhunderts, durch rote Hervorhebung und Zitatmarkierungen am Rand gekennzeichnet war (Abb. 8). Anhand der Siglen konnte man dann zum gewünschten Kirchenvater vorstoßen oder die von Hrabanus Maurus sorgfältig zusammengestellte Überlieferung zu wörtlicher und übertragener Bedeutung der Passage insgesamt befragen. Auch die eher Erbauung suchenden Leser oder Hörer, oder gar Anfänger unter ihnen, wurden durch Hrabanus’ auf Vollständigkeit zielende Arbeitsweise bis zu einem gewissen Grad in das vergleichende, problemorientierte Vorgehen eingeführt. Gerade solche Rezipienten dürften in erster Linie aber etwas Grundlegenderes mitgenommen haben: das Wissen um die ungeheure Wichtigkeit der Autoritäten, die die Bibel erst erschlossen und erklärten – und das Wissen um die Notwendigkeit und Bedeutung des Auslegers. Die von Hrabanus anvisierten Lesungen, in denen Rezipienten systematisch die unterschiedlichen Überlegungen der Kirchenväter zu wörtlichen und übertragenen Bedeutungsebenen einzelner Textpassagen erklärt wurden, dürften nicht nur diese als ‚Autoritäten’ vor Augen gestellt haben: Einerseits hörte man von den großen Auslegern und Erläuterern der Spätantike, die bei Beda meist in der Vierzahl Hieronymus, Ambrosius, Augustinus und Gregor erschienen,97 in Texten wie dem sogenannten Decretum de libris recipiendis et non recipiendis verzeichnet waren oder aus älteren gelehrten Schriften entnommen werden konnten. Andererseits waren es nun aber auch Ausleger wie Beda, Alkuin und Hrabanus Maurus selbst, die auf deren Spuren wandelten und deren Präsenz auf der Buchseite – ganz buchstäblich in einem ‚Raum’ der Autoritäten – sie mit ihnen auf eine Ebene stellte. Solche jüngeren Autoren, die moderni doctores der Karolingerzeit, erschienen zwar nicht als neue Kirchenväter. Doch sie waren nur eine Nuance von den Kirchenvätern entfernt, denn sie positionierten sich selbst typischerweise als ‚Schüler’ der Väter. Paschasius Radbertus schrieb etwa, er behaupte nicht, an das Wissen oder die Verdienste der Väter heranzureichen, doch er freue sich, von ihnen den Glauben und die Wahrheit gelernt zu haben und ein Zögling ihrer Lehre zu sein.98 Damit stellte er
96 Vgl. zu exegetischen Capitula mit weiteren Verweisen Gorman 2002, 263–270; Hrabanus fügt eine lange Erläuterung zur Benutzung von durchgezählten Capitula (die ihm offenbar als Errungenschaft erscheinen) in den Widmungsbrief seines Matthäuskommentars ein, vgl. Hrabanus Maurus, Epistolae, ed. Dümmler, 390. 97 Vgl. Kaczynski 2001; Kaczynski 2006. 98 Paschasius Radbertus, Epistolae, ed. Dümmler, 140: Veruntamen, etsi ita loquar, non adeo fastum iactantiae diligo, ut me ad eorum scientiam aut merita attigisse polliceam, sed quod fidem, quam ipsi docuerunt, et veritatem adprehendisse ipsorumque doctrina enutritum me esse gaudeo.
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sich sozusagen als letzten einer nicht abreißenden Reihe von Autoritäten vor, die er in seinem Widmungsbrief übrigens von den Kirchenvätern bis zu Beda führte: [A]lle Lehrer zogen es vor, den Spuren der katholischen Vorgänger zu folgen und durch ihren Geist den Strom der Lehre auszuweiten [...]. Ihnen folgend habe ich die hervorragenden ausgewählt, Hieronymus, Ambrosius, Augustinus und den seligen Gregor sowie Bischof Johannes [Chrysostomus] von Konstantinopel und als ihren letzten den Priester Beda, und glaube, ihren Spuren folgend von ihnen in nichts abgewichen zu sein, auch wenn ich ab und an der Wahrheit Gemäßes von anderswo eingefügt habe.99
Hrabanus Maurus sah sich offenbar sehr ähnlich. Er formulierte in einem seiner Kommentare: „[I]ch habe dies nämlich nicht als ein Nachfolger Papst Gregors getan, oder als Prediger des Gottesvolks [...], sondern nur quasi als Nachahmer und Schüler, der nicht nur den Fußspuren des genannten Papstes, sondern auch denen der anderen heiligen Doktoren folgt“. 100
In seinem Widmungsbrief zum Matthäuskommentar, der die Kommentare Bedas zu Lukas und Markus sowie Alkuins zu Johannes ergänzte, stellte er sich dann zwar nicht explizit in die Reihe der Autoritäten. Doch bestand dieser Widmungsbrief zu großen Teilen aus wörtlichen Zitaten aus den Prologen von Bedas Lukas- und Markuskommentaren.101 Ähnlich wie er in Dichtungen verschiedentlich spielerisch oder pointiert die Verse seines Lehrers Alkuin wiederverwendete und abwandelte, 102 stellte Hrabanus, der über Alkuin Bedas Ur-Urenkelschüler war, sich hier als getreuer Schüler Bedas dar – zumindest für Gelehrte, die sein Pastiche des angelsächsischen Vorbilds entschlüsseln konnten.103 Während Gelehrte sich also im Hochmittelalter als Zwerge auf den Schultern von Riesen sahen, mit deren Status sie sich nicht messen konnten, waren frühmittelalterliche Exegeten als ‚Söhne’ der Kirchenväter diesen durchaus wesensverwandt. Die Rede von Söhnen und Schülern zielt ja darauf, dass letztere allmählich zur selben
99 Ebd., 141: doctorum […] omnes praedecessorum catholicorum sequi maluerunt vestigia et suis ampliare semper ingeniis fluenta doctrinae Christi, ut quod in divinis litteris occultatur necessarium, Dei reserante gratia copiosius patesceret ad fructum. Quos ego secutus elegi egregios Hieronimum, Ambrosium, Augustinum et beatum Gregorium necnon Iohannem Constantinopoleos episcopum eorumque ultimum Bedam presbiterum, quorum adherens vestigiis, ab eorum sensibus credo me in nullo deviasse, licet ex aliis interdum veritatis concordi nonnulla interponerem. 100 Hrabanus Maurus, Epistolae, ed. Dümmler, 476–477: feci enim non quasi successor papae Gregorii et predicator plebis Dei [...], sed quasi imitator et discipulus, non solum ipsius memorati papae, sed et aliorum sanctorum doctorum vestigia sequendo. 101 Vgl. die beiden Stellen hier oben, Anm. 1 und 35. 102 Vgl. dazu Aris 2006, 57–61. 103 Vgl. zu Hrabans Imitation von Beda und Alkuin als highest form of compliment die Überlegungen von Ziolkowski 2001.
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Statur heranwachsen wie die Väter und Lehrer. Wenn man die Rezeption der Zeitgenossen miteinbezieht, erweist sich die Demut der karolingerzeitlichen Ausleger tatsächlich als Grundlage späterer Hochschätzung durch ihr Publikum, das sie oft in Parallele zu den Kirchenvätern wahrnahm oder sie in eine Genealogie orthodoxer Auslegung einordnete. Solche Traditionsketten imaginierte Alkuin etwa als longa series ecclesiasticae eruditionis. 104 Noch zu seinen Lebzeiten gelang es Hrabanus Maurus, von niemand Geringerem als Kaiser Lothar die Stellung zugewiesen zu bekommen, die er sich selbst nur symbolisch zuschreiben konnte: Wie Lothars Schreiben formulierte, hatten seine Vorgänger unter den Kaisern zwar als Ratgeber Hieronymus, Augustinus, Ambrosius und Gregor gehabt. Ihm aber habe Gott Hrabanus Maurus zugewiesen, einen Lehrer von gleichem Verdienst und Wissen.105 Zwar wurde Hrabanus auch Kritik zuteil – im Kontext des Prädestinationsstreits wurde er vom schlagkräftigen Polemiker Florus von Lyon († ca. 860) hart angegriffen, interessanterweise mit dem Argument, er habe irrelevante Stellen ausgewählt und renne daher offene Türen ein, benutze außerdem auch eine gefälschte, nämlich pseudo-augustinische Schrift als echt.106 Das musste einen Experten für die Auswahl von Text schmerzhaft treffen. Andere Teilnehmer des Streits verteidigten Hrabanus jedoch als Gewährsmann der Orthodoxie. Hinkmar von Reims († 882) zitierte ihn etwa als ‚ehrwürdigen Vater und katholischen Schriftsteller’, der vom großen, orthodoxen Lehrer Alkuin mit der Milch der orthodoxen Lehre genährt worden sei.107 Die letztere Wahrnehmung sollte sich auf lange Sicht durchsetzen. Tatsächlich wurde Hrabanus Maurus – wie übrigens auch Alkuin – bis ins Hochmittelalter häufig als Autorität angeführt, unter anderem noch von Thomas von Aquin († 1274).108 Es fällt sogar auf, dass karolingerzeitliche Autoren im Hochmittelalter deutlich als Fortsetzer der christlichen Tradition der Spätantike verstanden wurden, denen man nachzueifern trachtete und in deren schriftstellerische Tradition man sich stellte. Abt Wibald von Stablo und Corvey († 1158) schrieb um 1140 etwa, dass er selbst nur auf den Spuren der Alten wandele, unter denen er nach Eusebius, Hieronymus, Isidor und Gennadius
104 Vgl. Alkuin, Epistolae, ed. Dümmler, 126. 105 Hrabanus Maurus, Epistolae, ed. Dümmler, 504: inmensas omnipotenti Deo laudes gratiasque rependimus, qui [...] non dispari nos quoque quam predecessores nostros doctrinae suae iubare inradiare dignatus est. Nam si illis Hieronimum, Augustinum, Gregorium Ambrosiumque et ceteros quam plurimos prebuit, et nobis idem opifex eiusdem meriti et scientiae contulit Rhabanum Maurum. 106 So Zechiel-Eckes 1999, 322. 107 Hinkmar von Reims, Epistolae, ed. Perels, 14, in der Anklage Gottschalks von Orbais, der gegen Hrabanus geschrieben hatte: [Erg.: Gotescalcus scripsit] contra Rhabanum venerabilem archiepiscopum et iam aevosum in sancta religione patrem et catholicum scriptorem – ut videlicet ab ortodoxo et magno doctore domno Alchuino in sanctae ecclesiae utilitatibus uberibus ipsius catholico lacte nutritum [...]. 108 Vgl. Hrabanus Maurus, De institutione clericali, ed. Zimpel, 130–133.
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dann Beda, Ambrosius Autpertus, Haimo von Auxerre und Hrabanus Maurus nannte. Wiederum als deren Fortsetzer erschienen Wibald die frühscholastischen Theologen seiner Zeit, Anselm von Laon († 1117), Wilhelm von Champeaux († 1121) oder Alberich von Reims († 1141), als Höhepunkt der Reihe empfahl er schließlich Bernhard von Clairvaux († 1153).109 Das Einsetzen solcher teils definitorisch-kanonisierenden, teils genealogischen Reihungen ist bereits im frühen 10. Jahrhundert zu verzeichnen. Ein gewisser Gautbert stellte eine ‚Erbfolge der Grammatiker’ (Grammaticorum Diadoké) auf.110 Er führte darin die Gelehrsamkeit seiner Zeit bis zu Hadrian und Theodor zurück, den im Lateinischen und Griechischen versierten Gelehrten, die im 7. Jahrhundert von Papst Gregor dem Großen zu den Angelsachsen geschickt worden waren. Von ihnen aus konstruiert er eine Reihe, in der auf Aldhelm und Beda direkt Hrabanus Maurus folgt, bevor weitere karolingerzeitliche Gelehrte sich anschließen. Interessanterweise ist Alkuin, Hrabanus’ Lehrer, in der Grammaticorum Diadoké aus Versehen zu seinem Schüler geworden – vielleicht insofern nicht ganz unpassend, als Hrabanus das Bild Alkuins stark mitgeprägt und geformt hat.111 Die derart intensiv wahrgenommene Autorität der ‚Lehrer’ und Ausleger, die als Nachfolger der Propheten und Kirchenväter göttliche Wahrheit an das menschliche Wissen ihrer Zeit vermitteln konnten, ist eine der wichtigsten kulturellen Innovationen der Karolingerzeit. Gerade die häufige Zitierung karolingerzeitlicher Gelehrter bei Hrabanus und bei anderen Autoren des 9. Jahrhunderts wie Smaragdus von St. Mihiel lässt den Eindruck entstehen, dass wir es beim Autoritätenkanon des Frühund Hochmittelalters weniger mit einem ‚patristischen’ Autoritätenkanon als mit einer fortgesetzten Reihe kirchlicher Gelehrsamkeit zu tun haben. Für solche Vorstellungen einer longa series ecclesiasticae eruditionis dürften die von Beda, Hrabanus, Smaragd und anderen verwendeten Autorensiglen wichtige materielle Verankerungen dargestellt haben. Es wäre insofern als Desiderat auszuweisen, dass wir anscheinend keine handschriftenbasierte Gesamtdarstellung des Phänomens der Randsiglen haben, während einige Fragen durchaus offen bleiben. Neben Beda, dessen Aufstieg zum ‚Kirchenvater ehrenhalber’ von der anglophonen Forschung intensiv beleuchtet wurde,112 ist beispielsweise nicht nur Hrabanus Maurus, sondern auch sein Lehrer Alkuin in den autoritativen Rändern frühmittelalterlicher Bibelkommentare präsent. Eine Stichprobe an der Handschrift München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 6260, einer Freisinger Abschrift von Hrabanus’ Kommentar zum Buch Genesis (um 860, einem von drei erhaltenen Freisinger Hrabanus-Kommentaren mit relativ sorgfältigen Rand-
109 Wibald von Stablo, Briefbuch, ed. Hartmann, 292–303. 110 Vgl. Berschin 1980, 149–152. 111 Vgl. Steckel 2011a, 197–202; demnächst Steckel 2014b zur bekannten Bilddarstellung Hrabans mit Alkuin. 112 Vgl. Hill 2006 mit Verweisen.
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Abb. 9: München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 6260, fol. 55v: Hrabanus Maurus, In Genesin, Freising, um 860.
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siglen113) zeigt aber, dass Alkuin, wiewohl nur in Ergänzung der älteren Kirchenväter verwendet, immerhin 18-mal mit Sigle aufgeführt wird (vgl. Abb. 9). Beda erhält mit 19 nur wenig mehr Siglen, Hrabanus selbst wie Gregor der Große 29, also viel weniger als die häufiger zitierten Autoritäten Hieronymus (83), Isidor (84) und Augustinus (97), aber mehr als die nur einmal erwähnten Autoren Orosius und Plinius. So drängt sich die Frage auf, ob Hrabanus seinen Lehrer Alkuin, dessen noch zu ‚junge’ Autorität er in De institutione clericali öfter einmal durch seinen eigenen Namen verdeckte, 114 in seinen Bibelkommentaren stärker als Autorität etablierte – oder ob Abschreiber den Namen hervorhoben. Wenn wir solche Fragen beantworten könnten, wäre nicht nur für die Untersuchung frühmittelalterlicher Wissenstransfers einiges gewonnen. Eine Beschäftigung mit der Frage, wie genau es Hrabanus Maurus und andere Autoren der Karolingerzeit mit dem wortwörtlichen Zitieren von Autoritäten wirklich hielten und welches Verständnis von Textualität sich darin offenbart, wäre auch für diachron-vergleichende Untersuchungen hochgradig relevant. Tatsächlich ist ‚Autorität’ ein immer noch zu vage operationalisierter Begriff, wenn man die Innovativität karolingerzeitlicher Wissenskultur nuanciert beschreiben oder sie sogar mit den Umwälzungen des 11. und 12. Jahrhunderts genauer in Bezug setzen möchte. Denn dass etwa zwischen der sammelnden und abgleichenden Arbeit der karolingerzeitlichen Gelehrten und der begrifflich-definitorischen Klärung der mit der frühen Glossa ordinaria zur Bibel befassten frühscholastischen Theologen enge Bezüge bestehen, ist nur zu deutlich.115 Doch die graduellen Verschiebungen frühund hochmittelalterlicher Wissenskulturen verschwimmen, wo man sie in ein lineares, modernisierungstheoretisch beeinflusstes Schema eines ‚autoritätshörigen’, wenig originellen Frühmittelalters und eines ‚rationalen’ Hochmittelalters presst. Es bleibt also viel zu erforschen, wenn man die Handschriften nicht nur auf ihren Textgehalt, sondern auch auf Materialität, technische Kontexte und symbolische Bedeutungsebenen befragte. Dies kann gleichzeitig nicht nur gelehrte und literarische, sondern auch religiöse Formen von Autorität als kulturelles Phänomen erschließen.
113 Vgl. zu den Handschriften München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 6260, 6261, 6262 Bischoff 1960, 118, 122. Clm 6260 scheint zu zeigen, dass der Schreiber das Siglensystem erst lernen musste: Eine erste Sigle mit B für Beda, der jedoch zunächst keine weitere folgt, da Hrabanus Beda über Seiten hin ausschrieb, ließ der Schreiber weg oder übersah sie. Vom hinteren Teil von Buch I an werden die Siglen dann jedoch aufgeführt, teils übrigens als volle Namen (Albinus vs. ALB). 114 Vgl. Hrabanus Maurus, De institutione clericali, ed. Zimpel, 50–51. 115 Sichtbar etwa an den karolingerzeitlichen glossierten Psaltern; vgl. Gibson 1994 sowie zur Glossa ordinaria Smith 2009.
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Stefan Morent
Musikkultur des Mittelalters im Kloster Lorsch: Aspekte der Überlieferung und Rekonstruktion Die Kultur mittelalterlicher Klöster, ihr geistiges Profil samt den intellektuellen Rahmenbedingungen für Bildung und Schriftlichkeit lässt sich zu einem großen Teil anhand ihrer Bibliotheken und Handschriften erschließen.1 Dies gilt auch für die Musik, deren Klang längst vergangen und nur in Schriftform in liturgischen Codices erhalten ist. Das Schicksal der Bibliotheken und ihrer Handschriften kann hierbei völlig verschieden sein: von der fast vollständigen Bewahrung am Ort der Entstehung bis heute, wie beispielsweise in der Stiftsbibliothek Sankt Gallen, bis zur völligen Zerstörung, wie im Fall der Reichsabtei Corvey,2 oder zur Auflösung und Zerstreuung, wie im Falle des Klosters Reichenau oder auch der Bibliothek des 764 zunächst als Eigenkloster der Rupertiner gegründeten Lorsch, das bereits 772 unter Karl dem Großen zur reichsunmittelbaren Abtei erhoben wurde. Für Lorsch verteilen sich die Bestände heute auf ca. 70 Bibliotheken in Europa und USA, wobei die meisten Handschriften immer noch im Palatina-Fonds der Vaticana in Rom liegen, gefolgt von Beständen in der Bayerischen Staatsbibliothek München und in der Oxford Bodleian Library, wohin die Handschriften über die Abtei Eberbach gelangten, nachdem Lorsch 1233 unter Papst Gregor IX. mit Zisterziensern aus Eberbach besiedelt worden war.3 Das Schicksal der Klosterbibliothek wurde um 1550 maßgeblich vom damaligen Pfalzgrafen und nachmaligen Kurfürsten Ottheinrich beeinflusst, der, wie es die Zimmersche Chronik formuliert, „tanquam alter Nabucadnezar“ in das Kloster einfiel und „die kaiserliche uralte bibliothek sampt butzen und still, wie man sagt“ abtransportieren ließ und seiner Bibliothek einverleibte.4 Dies sollte nicht die letzte unfreiwillige Reise der Lorscher Handschriften bleiben,5 denn nachdem Heidelberg im 30-jährigen Krieg 1622 von den Truppen Tillys eingenommen worden war, ließ sein Herr, Herzog Maximilian I. von Bayern, die berühmte Bibliotheca Palatina Ottheinrichs ebenso gründlich durch den päpstlichen Legaten Leone Allacci aus Heidelberg abtransportieren, um sie fast vollständig 1623 Papst Gregor XV. beziehungsweise dessen Nachfolger Urban VIII. zu überlassen, der sie dort gesondert in der Vatikanischen Bibliothek aufstellen ließ. Nach dem Frieden von Tolentino 1797 mussten wiederum Palatini vom
1 Hierzu Embach/Moulin/Rapp 2011, 486. 2 Schmalor 2009. 3 Palmer 1998. 4 Barack 1881, 590; Berschin 1992, 27. 5 Zum Folgenden vgl. Berschin 1992, 11–14. © 2015, Morent. Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 3.0 Lizenz.
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Kirchenstaat an Frankreich zurückgegeben werden und schließlich gelangte nach dem Sieg über Napoleon ein Viertel der ehemaligen Heidelberger Handschriften 1816 nach dem Wiener Kongress von Paris aus zurück nach Heidelberg, darunter die Palatini Germanici, aber auch einige Graeci und Latini, so beispielsweise die um 800 entstandene Lorscher Kopie der Historiae Gregors von Tours und der Fredegar-Chronik im Palatinus latinus 864 (Heidelberg, UB, Pal. lat. 864), die sich deshalb heute wieder im Besitz der Universitätsbibliothek Heidelberg befindet. Besser als alle Worte es vermögen könnten, sind allerdings die Handschriften selbst beredte Zeugnisse ihrer wechselvollen Geschichte. So zeigt der Gregor-Codex auf dem ersten Folio6 unter verschiedenen Nachträgen und Federproben einen Besitzvermerk aus dem 9. oder frühen 10. Jahrhundert mit Nennung des Klosternamens (Lauresham) und des Klosterpatrons, des Heiligen Nazarius, sowie einen weiteren aus dem 15. oder frühen 16. Jahrhundert. Auf dem Umschlagblatt prangt stolz das Ex-libris Kurfürst Maximilians I. von Bayern,7 das von der schmachvollen Niederlage Heidelbergs und der Übergabe als Kriegstrophäe an Papst Gregor XV. kündet und das Maximilian 1623 extra in einer Auflage von über 8.000 Exemplaren drucken ließ, nachdem es ihm gelungen war, Kurfürst Friedrich V. auch die Würde des Erztruchsessen und Kurfürsten abzunehmen.8 Der geprägte Ledereinband der Handschrift9 zeigt die Wappen der Familie des römischen Kardinalsbibliothekars Alessandro Albani aus dem 18. Jahrhundert und verweist damit auf den Aufenthalt der Handschrift in Rom. Der untere Bereich von Folio 1 zeigt schließlich links den Stempel der Bibliothèque nationale de France in Paris, rechts den der Universitätsbibliothek Heidelberg sowie unten die alte durchgestrichene Signatur 124 und die neue 864. Insgesamt sind bisher 330 Handschriften und Fragmente aus dem 5. bis 15. Jahrhundert aus der Bibliothek beziehungsweise dem Skriptorium von Lorsch nachgewiesen, wobei sich die Zuschreibungen hauptsächlich auf die Expertise und die Forschungsarbeiten der Paläographen Bernhard Bischoff und Hartmut Hoffmann stützen. Für den Zugang sind die seit kurzem online zugänglichen HandschriftenDigitalisate innerhalb des von der UB Heidelberg, der Welterbestätte Kloster Lorsch und vom Land Hessen geförderten Projekts „Bibliotheca Laureshamensis digital“ überaus hilfreich, erlauben sie doch, vor allem die zahlreich vorhandenen Bestände der Vaticana einfach und in vorher nicht gekannter Qualität zu konsultieren.10 Ein Kloster vom Rang und Namen Lorschs, gegründet im 8. Jahrhundert und mit engen Verbindungen zu den karolingischen Herrschern und in der Person Chrodegangs von Metz zu einem der Zentren liturgischen Gesangs im frühen Mittelalter,
6 Heidelberg, UB, Pal. lat. 864, fol. 1r. 7 Heidelberg, UB, Pal. lat. 864, fol. 1**r. 8 Berschin 1997a, 13–15. 9 http://bibliotheca-laureshamensis-digital.de/view/ubhd_cpl864/0285. 10 http://bibliotheca-laureshamensis-digital.de/de/index.html.
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muss die Aufmerksamkeit des Musikhistorikers auf sich ziehen. Da Lorsch mit Fulda, der Reichenau, Murbach und St. Gallen im 9. Jahrhundert zu den führenden Klöstern im ostfränkischen Raum gehörte, muss ihm ebenso wie diesen die Pflege des liturgischen Gesangs als eine der obersten Aufgaben gegolten haben. Auf den ersten Blick stellt sich allerdings zunächst Ernüchterung ein: Wer etwa auf prachtvolle musikalische Handschriften gehofft hat, wird enttäuscht.11 Dass die Lorscher Bibliothek durchaus Handschriften von hohem künstlerischem Rang besaß, wenn auch nicht unbedingt selbst herstellte, belegt bereits einer der vier Lorscher Bibliothekskataloge aus der Mitte des 9. Jahrhunderts (Katalog „C“), der gleich zu Beginn ein Evangelium pictum cum auro scriptum habens tabulas eburneas nennt,12 in dem wohl das sogenannte „Lorscher Evangeliar“ (Rom, BAV, Pal. lat. 50) zu sehen ist, das circa 810 in der Hofschule Karls des Großen entstanden und der Katalog-Beschreibung gemäß mit prachtvollen ganzseitigen Miniaturen etwa der Evangelisten und mit Gold und Silber geschriebenen Textseiten sowie mit Elfenbein-Platten als Einbänden glänzt.13 Ähnlich kostbar ausgestattete Handschriften für die Gesänge der Messe, als Chrysographen auf mit Purpur getränktem Pergament noch ohne Notation geschrieben, wie beispielsweise das Cantatorium von Monza aus dem 2. Drittel des 9. Jahrhunderts (Monza, Museo del Duomo, Inv. Nr. 88) scheinen aus Lorsch nicht überliefert zu sein. Dass das Kloster auf jeden Fall Gesangshandschriften besessen hat, belegt der bereits genannte Bibliothekskatalog mit den Einträgen Antifonarium integrum unum. gradalum unum. Antifonarios .II. de cantu nocturnali.14 Auch die Bücherliste (tabula librorum) des Lorscher Priesters Heilrad aus der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts verzeichnet mehrere Exemplare eines antefonarius sowie eines gradal.15 Mit ersterem Eintrag des Lorscher Katalogs ist wohl ein Antiphonar für die gesamten Gesangstexte des Stundengebets gemeint, während der letzte Eintrag auf zwei Codices mit den Gesangstexten zur Liturgie der Vigil in der Nacht verweist. Mit gradalum könnte entweder ein Graduale, also eine Handschrift mit den Gesangstexten für die Messe, gemeint sein, oder – in diesem Kontext der Aufzählung – auch mit denen des Stundengebets am Tage. Denn in eben dieser Formulierung gemahnt auch ein Passus aus der berühmten Admonitio generalis Karls des Großen von 789 die vollständige und der Ordnung gemäße Ausführung der Offiziumsgesänge für die Nacht- und Tagzeiten an (pro nocturnale vel gradale officium).16
11 Erste Vorstudien zu den neumierten Handschriften aus Lorsch liegen vor von Bannister 1913 und Münch 1993, die allerdings in Teilen stark verbesserungswürdig sind. 12 Rom, BAV, Pal. lat. 1877, fol. 1r. 13 Rom, BAV, Pal. lat. 50: Darstellung des Evangelisten Johannes (fol. 67v), Beginn des JohannesEvangeliums (fol. 70v). 14 Rom, BAV, Pal. lat. 1877, fol. 1v. 15 Rom, BAV, Pal. lat. 175, fol. 66va. 16 Vgl. etwa Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 496a Helmst., fol. 12v: Ut cantum
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Hier wird zum einen deutlich, dass ein Kloster zur Absolvierung des täglichen Opus dei mit einem Grundbestand an Handschriften ausgestattet sein musste, der auch für den Gründungskonvent von Lorsch aus 16 Mönchen aus Gorze unter Gundeland, dem Bruder Chrodegangs, anzunehmen ist (wozu, wie es später etwa die Summa cartae caritatis der Zisterzienser formuliert, „psalteri[um], hymnari[um], … antiphonari[um], gradal[um], regula“ und „missali“ gehörten,17 die auch im Lorscher Bibliothekskatalog erwähnt werden). Zum anderen ist der Passus ein Zeugnis für die karolingischen Bestrebungen, den Gesang der päpstlichen Liturgie in Rom (cantus romanus) auch im fränkischen Reich einheitlich und flächendeckend einzuführen. Nach der Admonitio generalis begann dieser Prozess, den man als musikalischen Kulturtransfer oder mit einem englischen Terminus „globalization of chant“ nennen könnte, bereits unter Karls Vater Pippin und schloss die euphemistisch als „Abschaffung“ formulierte Unterdrückung bereits vorhandener Lokal-Liturgien, wie etwa der gallikanischen, mit ein. Wie sich diese Einführung der cantilena romana, des römischen Liturgiegesangs, von der auch etwa Walahfrid Strabo rückschauend auf die Zeit Pippins und Papst Stephans II. berichtet,18 genau vollzogen hat, wirft für die musikbezogene Mittelalterforschung seit langem viele und im Detail bis heute ungeklärte Fragen auf: Wie kann etwa das enorme Repertoire von mehreren tausend Gesängen für Messe und Stundengebet übermittelt worden sein, ohne dass offenbar musikalische Notation benutzt wurde? Denn vor 900 sind zumindest keine vollständig notierten Gesangshandschriften überliefert, dann aber beinahe gleichzeitig praktisch aus dem Nichts aus verschiedenen Orten des fränkischen Reiches (St. Gallen, Einsiedeln, Laon, Chartres) und mit – bis auf kleinere Varianten in Details – identischen Fassungen der Gesänge. Auch hier stellt sich die Frage, wie und woraus sich die sogenannte Neumenschrift entwickelt hat und wie sich der Übergang von mündlicher Tradierung zur Fixierung im Medium der Neumenschrift gestaltet hat.19 Dass Melodieverläufe zunächst als nicht aufschreibbar galten, war etwa in den Etymologiae des Isidor von Sevilla (um 600) nachzulesen. So heißt es in der wohl in Lorsch um 800 entstandenen Kopie dieses enzyklopädischen Werkes in Buch III, c. 15, dass die Musen Töchter des Iupiter und der Memoria seien und die Töne deshalb vergehen, wenn sie nicht vom Menschen im Gedächtnis behalten werden, da sie nicht
romanum pleniter discant et ordinabiliter pro nocturnale vel gradale officium peragatur secundum quod beate memorie genitor noster pippinus rex decertavit ut fieret quando gallicanum tulit ob unanimitatem apostolice sedis. 17 Häse 2002, 19 Anm. 4. 18 Walahfrid Strabo, Liber de exordiis, ed. Knöpfler, c. 26, 84: Cantilenae vero perfectiorem scientiam, quam iam pene tota Francia diligit, Stephanus papa, cum ad Pippinum, patrem Caroli magni imperatoris, in Franciam pro iusticia Sancti Petri et Langobardis expetenda venisset per suos clericos petente eodem Pippino invexit, indeque usus eius longe lateque convaluit. 19 Philips 2000, 529–533.
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geschrieben werden können (quia scribi non possunt).20 Damit meint Isidor wohl: Die genaue Gestaltung der Musik in der Zeit, das heisst ihr genauer Vortrag kann nicht aufgeschrieben, sondern nur in der Erinnerung tradiert und bewahrt werden. Denn bereits die griechische Antike kannte sehr wohl eine musikalische Notation, die allerdings aus dem Alphabet abgeleitet war und so auch von Boethius dem Mittelalter überliefert und von ihm adaptiert wurde. Sie bezeichnet aus der musiktheoretischen Reflexion kommend strukturelle Tonorte und nicht die praktisch ausgeführte melodische Linie.21 Gleichzeitig wird hier schon klar, dass Notation, wenn überhaupt, als Gedächtnisstütze verstanden wird und nicht als präskriptive Aufführungsanweisung. Und doch war es Karl dem Großen und seinen Nachfolgern ein mit größtem Nachdruck verfolgtes Anliegen, die Einheit mit Rom nicht nur im politischen sondern auch im liturgischen Bereich herzustellen. Am Ende dieser als Ideal angestrebten unitas et consonantia in regno et provincia, wie sie Notker Balbulus in seinen Gesta Karoli Magni bezeichnet,22 steht freilich eine vom Vorbild abweichende fränkische Redaktion des römischen Chorals, der sogenannte „Gregorianische Choral“. Entscheidend ist die geglaubte auctoritas Papst Gregors des Großen als des angeblichen Urhebers der Choralmelodien, wie sie etwa im Prolog des bereits erwähnten Cantatoriums von Monza zum Ausdruck kommt.23 Johannes Diaconus und Notker Balbulus berichten satirisch vom Austausch römischer und fränkischer Sänger, um die neue Singweise zu lehren und zu lernen und erklären die Differenzen in diesem „Sängerkrieg“ wechselweise mit der Unfähigkeit der fränkischen Sänger, die Feinheiten der cantilena romana mit ihren barbarischen, trinkfesten Kehlen auszuführen beziehungsweise mit der bösen Absicht der römischen Sänger, möglichst verschieden und falsch zu singen. Diese Texte sind als Reflex auf die Schwierigkeiten beim Aufeinandertreffen zweier musikalischer Kulturen und ihrer gegenseitigen Amalgamierung sowie auf die Rolle Karls des Großen in diesem Prozess, der nach beiden Autoren die musikalischen Unterschiede wahrnimmt und kritisiert, zu verstehen.24 Jedenfalls müssen wir uns Europa im 8. und 9. Jahrhundert in seinen kulturellen Zentren als ein im Wesentlichen singendes Europa vorstellen, dem die einheitliche und korrekte Ausübung des liturgischen Gesangs eines der wichtigsten Anliegen war. Und dies passt sich ein in das allgemeine Bestreben karolingischer Kultur des corrigere et superflua abscindere. Nicht nur weil es politisch gewollt war, sondern auch weil Benedikt von Nursia in seiner Regel bereits ermahnt, die Mönche sollen eines Herzens und mit einer Stimme singen und sich dabei immer vor Augen halten, dass
20 Quaru[m] sonus, quia sensibilis res est praeterfluit in praeteritum tempus inprimiturque memoriae. Inde a poetis iovis et memoriae filias musas esse confictum est. Nisi enim ab homine memoria tenea[n]tur soni pereunt quia scribi non possunt. Rom, BAV, Pal. lat. 281, fol. 53v. 21 Hierzu Philips 2000, 549–560. 22 Notker Balbulus, Gesta Karoli Magni, ed. Haefele, I, 10, 14. 23 Hierzu Stäblein 1968. 24 Vgl. Haug 2005.
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sie in Gegenwart der Engel (in conspectu angelorum) sängen.25 Dieser Brückenschlag zwischen irdischer und himmlischer Liturgie ereignet sich im Sanctus der Messe, dessen einleitende Worte lauten: una voce dicentes. Die Musik, in ihrer mittelalterlichen Begrifflichkeit als musica den heutigen Begriff von Musik um vieles transzendierend, hält Welt und Himmel grundlegend zusammen. So bildet die musica auch die Quelle aller Erkenntnis. Wiederum bei Isidor ist nachzulesen, keine disciplina sei ohne die musica vollkommen und selbst die Welt und das Weltall seien in einer Zusammenstimmung der Klänge komponiert und sogar der Himmel drehe sich in tönender Ordnung. Diese von Gott geschaffene Ordnung, die Zeit und Raum bestimmt und gliedert, klingt in ihrer liturgischen Dimension etwa in den als Probatio pennae gekennzeichneten Anfangsworten von Notkers Weihnachtssequenz Natus ante secula dei filius unter den Nachträgen einer in der 1. Hälfte des 9. Jahrhunderts geschriebenen Faustus-Handschrift aus Lorsch an.26 Diese Sequenz Notkers, die mit zu seinen berühmtesten zählt und seinen Liber hymnorum eröffnet, wie in der ältesten erhaltenen, vollständigen Handschrift dieses Werkes aus St. Gallen aus dem 2. Viertel des 10. Jahrhunderts,27 war auch in Lorsch bekannt, wie der Beginn eines um 1000 in Lorsch geschriebenen Sequentiars, das sich heute in Wien befindet, zeigt.28 Die Verse per quem fit machina caeli ac terrae verweisen hierbei auf jenes aus antiken Vorstellungen übernommene Konzept der Sphärenharmonie, wie es in einer Kopie des Macrobius-Kommentars zum Somnium Scipionis aus Lorsch aus der 2. Hälfte des 9. Jahrhunderts visualisiert und auf die musikalischen Intervalle bezogen wird.29 Die Haltung der Aneignung und gleichzeitigen Adaption antiker Lehrinhalte, die die karolingische Kultur allgemein kennzeichnet, ist auch für die musica entscheidend: Die grundlegende Rolle der musiké im griechischen Denken beruht auf der pythagoräischen Erkenntnis der Relation zwischen rationalen Zahlverhältnissen und den musikalischen primären Konsonanzen von Einklang, Quart, Quint und Oktave. Da die Töne so im Unterschied etwa zu den Farben als Sinneseindrücke an die rational fassbaren Zahlen rückgebunden sind, wird ihnen im philosophischen Denken ein höherer Rang zugesprochen. Die musica gehört deshalb auch im Wissenschaftsverständnis des Mittelalters zu den quattuor matheseos disciplinae des erstmals so von Boethius benannten Quadriviums (beziehungsweise zunächst quadruvium bei Boethius) wie es eine schematische Darstellung in einer um 800 in Lorsch geschriebenen grammatischen Sammelhandschrift verdeutlicht,30 wobei die verehrende Aneig-
25 Regula Benedicti, c. XIX. 26 Rom, BAV, Pal. lat. 241, fol. 37r. 27 St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 381, p. 333. 28 Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 1043, fol. 1r. 29 Rom, BAV, Pal. lat. 1341, fol. 78v. 30 Rom, BAV, Pal. lat. 1746, fol. 60v.
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nung griechischen Denkens hier dadurch besonders zum Ausdruck kommt, dass die Namen der einzelnen Disziplinen mit griechischen Buchstaben geschrieben sind. Vermittelt wird dieses Wissen dem Mittelalter durch Boethius, dessen Institutio arithmetica zwar in der Lorscher Handschrift Pal. lat. 1341, die sich heute in der BAV in Rom befindet, vorhanden ist, seine Institutio musica jedoch weder durch eine Handschrift noch durch einen Eintrag in einem der karolingischen Bibliothekskataloge bezeugt ist. Obwohl Boethius’ Schrift über die Musik offenbar erst generell einiges später als die Institutio arithmetica in karolingischen Klöstern rezipiert wurde,31 ist ihr Fehlen in Lorsch doch erstaunlich. Während der griechischen Philosophie die praktische Musikausübung als Handwerk gegenüber der gelehrten Spekulation als inferior galt – weshalb uns auch über die Praxis antiker Musik so wenig bekannt ist – und Boethius auch diese Wertung mit seiner Unterscheidung zwischen dem wissenden musicus und dem nur ausübenden cantor an das Mittelalter weiter gab, sahen sich die Kantoren karolingischer Klöster der Herausforderung gegenüber, dass sie einerseits diese antike Haltung der rationalen speculatio übernahmen, andererseits mit dem Choral mitten in einer täglichen und für die Liturgie unabdingbaren Musikpraxis standen. Die eigentliche schöpferische Leistung von Autoren wie etwa Hucbald von St. Amand um 900 besteht darin, die tonsystematische Erkenntnis mit der gesungenen Praxis zu verschränken, den Choral auf die Musiktheorie hin durchhörbar zu machen und damit die Musik rational zu durchdringen.32 Hierhin begründet sich das eigentliche Movens für die gesamte abendländische Musikgeschichte. Aus Lorsch selbst sind aber keine solchen Traktate bekannt, so dass eigene Leistungen in der Musiktheorie bisher nicht anzunehmen sind. Immerhin bezeugt im 11. Jahrhundert eine Abschrift des Tonarius des Bern von Reichenau (Rom, BAV, Pal. lat. 1344) eine Rezeption dieses einflussreichen musiktheoretischen Werkes des Reichenauer Abtes auch in Lorsch.33 Aber auch nach vollständigen Handschriften, die die bereits erwähnte um 900 einsetzende Fixierung des Gesangsrepertoires für Messe und Stundengebet in Gestalt der Neumenschrift dokumentieren, sucht man in den erhaltenen Lorscher Beständen vergeblich: Kein einziges vollständiges Graduale oder Antiphonar – etwa dem St. Galler Cantatorium (St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 359) und Codex Hartker (St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 390/391) oder den Gradualien von Einsiedeln (Einsiedeln, Stiftsbibliothek, Cod. 121), Laon (Laon, Bibliothèque municipale, Ms. 239) und Chartres (Chartres, Bibliothèque municipale, Ms. 47) vergleichbar, die zu den frühesten und kostbarsten Zeugen dieser ersten Phase von musikalischer Schrift gehören – scheint aus Lorsch erhalten.
31 Duchez 1980. 32 Traub 1989. 33 Beziehungsweise in St. Michael, für das die Handschrift eventuell von Abt Uodalrich (1056–1075) gestiftet wurde. Häse 2002, 24 Anm. 38.
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Die eingangs bereits erwähnten Gesangshandschriften, die der Lorscher Bibliothekskatalog auflistet, waren sicherlich noch nicht mit Notation versehen: Nach allem was wir wissen, tauchen vollständig neumierte Gesangshandschriften erst um 900 auf. Dass Lorsch nicht eine einzige solche besessen haben sollte, ist schlichtweg nicht vorstellbar. Selbst wenn man Überlieferungsverluste, unter anderem durch die dokumentierten Klosterbrände von 1090, 1247 und 1358 und durch die Odyssee der Handschriften von Lorsch, nach Heidelberg, Rom, Paris und zurück nach Heidelberg einrechnet, bleibt diese Lücke ein gewisses Rätsel. Einen kleinen Einblick gibt es neben dem bereits erwähnten Sequentiar (Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 1043) allerdings doch: Im Fürstlich Leiningenschen Archiv in Amorbach hat sich ein (verstümmeltes) Pergamentdoppelblatt erhalten, das offenbar ein Fragment eines Graduales aus Lorsch aus dem zweiten Drittel des 11. Jahrhunderts darstellt und die neumierten Messgesänge zu den Sonntagen XIV bis XVII und XXIII nach Pfingsten, der Feria III und V in den SeptemberQuatembern, den Beginn der Totenmesse sowie eine Alleluia-Serie für das Commune sanctorum enthält. Der Alleluia-Reihe der Sonntage nach Pfingsten nach ist für die unvollständige Dominica XIV p. Pent. das Alleluia Venite exultemus mit Vers Preoccupemus zu erwarten.34 Die am oberen Blattrand von fol. 1r noch lesbaren abgeschnittenen unteren Buchstaben-Hälften lassen tatsächlich die Worte in psalmis iubilemus ei aus dem Alleluia-Vers rekonstruieren, wozu auch die entsprechenden Abstände für die Neumierung passen.35 Jenseits der festen Kategorien von geschlossen und vollständig überlieferten Gesangs-Repertoires für Messe und Offizium finden sich jedoch umfangreiche Zeugnisse in Gestalt neumierter Fragmente, Nachträge und Marginalien. Sie belegen, dass das Medium der Neumenschrift in Lorsch natürlich nicht unbekannt war, ja eine Lorscher Quelle bietet sogar den ersten Nachweis für den Terminus neuma im Sinne von Notationszeichen: Unter den Nachträgen zu einer Handschrift mit den Carmina des Paulinus Nolanus, die in die Lorscher Bibliothek gelangte,36 findet sich ein Musiktraktat mit dem Incipit Quid est cantus?, der wohl zwischen dem Ende des 10. Jahrhunderts und 1100 in Lorsch geschrieben wurde. Die Formulierung de accentibus toni oritur nota que dicitur neuma setzt hier zum ersten Mal den schon von Boethius verwendeten Terminus nota für musikalische Notation mit neuma gleich, während neuma im 9. und frühen 10. Jahrhundert eine melismatische Melodiebewegung, oft als Erweiterung bestehender Gesänge, meint. Das von einer späteren Hand hinzugefügte figura deckt sich mit anderen frühen Bezeichnungen von Notationszeichen
34 Zu Konkordanzen für die Reihenfolge der Alleluias für die Sonntage XV, XVI, XVII, XXIII nach Pfingsten vgl. die Datenbank http://www-app.uni-regensburg.de/Fakultaeten/PKGG/Musikwissenschaft/Cantus/Alleluia/index.html. 35 Amorbach, Fürstlich Leiningensches Archiv, Schublade 1, Fragment 23. 36 Rom, BAV, Pal. lat. 235, fol. 38v.
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als figura musica. Gleichzeitig scheint diese Stelle einen genetischen Zusammenhang zwischen den prosodischen Akzentzeichen der Grammatiker und den Neumen herzustellen: Die erwähnten Akzente acutus, gravis und circumflexus rekurrieren auf Erklärungen, wie sie etwa Isidor, dabei selbst Donats Ars maior paraphrasierend, bietet.37 Allerdings lassen sich die Beschreibungen des acutus (mit Verweis auf die griechische Vorstellung oxys = spitz, scharf) und des gravis (barys= stumpf, schwer) als Verlauf von schräg unten nach schräg oben beziehungsweise umgekehrt nur mit dem System der sogenannten paläofränkischen Neumenschrift in Einklang bringen, die allerdings wohl zu den ältesten Neumensystemen gehört.38 Andere Neumenschriften lassen sich damit nicht erklären – und so bleibt die auch in der Musikwissenschaft aufgegriffene sogenannte „Akzentthese“ nur eine unter mehreren Ansätzen zur Erklärung der Genese der Neumenschrift.39 Die speziellen Charakteristika der Lorscher Neumenschrift, wie sie sich aus den Fragment-Befunden ergeben, sind bisher nur ansatzweise erfasst:40 Sie gehört jedenfalls zur Familie der sogenannten deutschen Neumenschriften, mit denen in der Forschung die Neumen im deutschen Sprachgebiet in Abgrenzung zur eigenständigen St. Galler Neumenschrift bezeichnet werden, und wozu auch etwa die Reichenau oder Regensburg gehören, deren Differenzierung allerdings bisher relativ unscharf bleibt.41 Erschwerend kommt hinzu, dass bei Nachträgen jeweils zu entscheiden ist, ob der Trägercodex selbst in Lorsch entstanden ist oder nur zu einem bestimmten Zeitpunkt in die Lorscher Bibliothek gelangte, und ob die Neumierung außerhalb von Lorsch oder in Lorsch und jeweils ursprünglich mit dem Text oder nachträglich erfolgte. Hier ist oft die paläographische Expertise für die Texte von entscheidender Bedeutung. Die folgenden Überlegungen können also nur einen ersten Überblick an ausgewählten Beispielen darstellen. Zu den ältesten Neumendokumenten aus Lorsch könnte eine liturgische Sammelhandschrift aus dem 3. Viertel des 9. Jahrhunderts gehören, die eine neumierte Passage über den Worten O mira circa nos aus dem OsterExultet oder Preconium paschale (Osterankündigung) enthält.42 Obwohl der Text offenbar nicht ursprünglich für Neumierung vorgesehen war, scheinen die Neumen aufgrund ihrer Formgebung noch aus dem 9. Jahrhundert zu stammen.43 Einen zweifelhaften Fall stellen die neumierten Nachträge mit Carmina aus De consolatione philosophiae von Boethius im sogenannten „Ludwigspsalter“ dar.44 Die
37 Hierzu Atkinson 1995. 38 Philips 2000, 463–465. 39 Ebd. 505–526. 40 Münch 1993, 32–33; Möller 1997. 41 Philips 2000, 433–442. 42 Rom, BAV, Pal. lat. 485, fol. 48v. Zur Handschrift: Paxton 1990; Möller 1997, 29–30. 43 Hiley 1980, 346. 44 Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Theol. lat. 58, fol. 1v.
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Trägerhandschrift, ein Psalterium gallicanum, wurde wohl in St. Omer Anfang des 9. Jahrhunderts für Ludwig den Deutschen oder Ludwig den Frommen geschrieben. Einige Anhaltspunkte sprechen dafür, dass die Boethius-Nachträge in Lorsch Ende des 9. Jahrhunderts entstanden sein könnten, vielleicht im Zusammenhang mit der Abdankung Karls des Dicken zwischen 887 und 888.45 Sie würden sich damit in eine Reihe von Neumierungen zu Boethius’ Consolatio aus dem 9. oder frühen 10. Jahrhundert einreihen, wie etwa in einer Handschrift mit Versus der Pariser Bibliothèque nationale de France, die wohl in einem Martins-Kloster in Aquitanien entstand und im 11. Jahrhundert in St. Martial in Limoges an den lokalen Usus adaptiert wurde.46 Die in Lorsch nachgewiesene Kopie der Consolatio (Rom, BAV, Pal. lat. 1581) enthält allerdings keine Neumierungen und stammt zudem nicht aus Lorsch selbst. Insgesamt sind allerdings die erhaltenen Neumierungen zur Consolatio mehrheitlich nicht direkt im Text enthalten, sondern als Nachträge in Handschriften mit anderen Texten. Die beiden Zeugnisse aus Lorsch würden damit zu den ältesten bisher bekannten Neumendenkmälern überhaupt gehören. Und sie fügen sich auch insofern in das typische Bild dieser Zeugnisse ein, als es sich nicht um größere Bestände aus dem Repertoire der Messe oder des Offiziums handelt, sondern um einzelne Stücke, die spezielle Texte am Rande oder gar außerhalb der Liturgie betreffen: So etwa das bis heute wohl älteste bekannte Zeugnis für Neumenschrift, die Prosula Psalle modulamini aus Regensburg, die das Oster-Alleluia Christus resurgens textiert, zwischen 820 und 840 datiert wird und deren Schreiber Enguldeo sich in der letzten Zeile sogar beim Namen nennt.47 Oder ein teilweise neumiertes griechisches Gloria in paläofränkischen Neumen, auf 875/876 datiert.48 Oder neumierte Passagen aus Martianus Capellas De nuptiis Mercurii et Philologiae, wie etwa in einer französischen Handschrift (Oxford, Bodleian Library, MS. Laud. Lat. 118, fol. 11v) aus dem 9. Jahrhundert, die wiederum auf die Rezeption spätantiker Schriftsteller und ihre grundlegende Bedeutung für die Herausbildung einer Musiktheorie verweisen. Mit zu den frühesten dokumentierten Gattungen für Neumen gehören auch die Erweiterungen der kodifizierten Gesänge für Messe und Offizium in Text und Musik, die fast gleichzeitig mit der Übernahme der Repertoiregesänge entstanden sind: Tropen, die einen Bezugsgesang, besonders den Introitus, mit textlichen und/oder musikalischen Erweiterungen ergänzen und kommentieren und Sequenzen, die zu einer textlosen Melodie nach dem Vorbild des Alleluia-Melismas neue Dichtungen adaptieren und zu einer eigenen Gattung nach dem Alleluia und vor dem Evangelium werden. Auf das um 1000 geschriebene Lorscher Sequentiar wurde bereits hingewiesen. Es bezeugt die Rezeption des St. Galler Sequenzen-Repertoires in Lorsch und ist,
45 Jammers 1955; Philips 2000, 432. 46 Paris, Bibliothèque nationale de France, Lat. 1154, fol. 118r. 47 Möller 1990; Philips 2000, 436–438. 48 Paris, Bibliothèque nationale de France, Lat. 2291, fol. 16r.
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wenn auch mit nur acht Blättern, aber immerhin einem vollständigen Quaternio, die einen Faszikel aus einer verlorenen umfangreicheren Handschrift oder eben einen eigenständigen Libellus darstellen, das umfangreichste neumierte Dokument aus Lorsch überhaupt.49 Einzelbeispiele bilden die in der bereits erwähnten Grammatischen Sammelhandschrift wohl aus dem 10. Jahrhundert stammende, auf dem letzten Blatt nachgetragene und kaum mehr lesbare Sequenz zur Nativitas Johannis Baptistae Sancti baptistae Christi von Notker auf das Melodiemodell Iustus ut palma maior mit Marginal- und Interlinear-Neumierung.50 Oder die in einer Handschrift mit den Orationes des Gregor von Nazianz nachgetragene, Alkuin zugeschrieben Sequenz Summi regis archangele Michahel aus der Zeit um 900.51 Der einzige eigene Beitrag Lorschs zur Gattung Sequenz scheint zumindest in der Sequenz Gaudia diei celebremus auf den Klosterheiligen Nazarius vorzuliegen, die in die Lorscher Beda-Handschrift (Rom, BAV, Pal. lat. 833, fol. 83r) nachgetragen wurde, allerdings ohne Neumen, aber mit Verweis auf das zugrunde liegende Melodiemodell Beatus vir qui suffert.52 In derselben Handschrift wurde auch der Tropus Hodie sanctissimi virgo zum Introitus Vultum tuum für Mariä Himmelfahrt ebenfalls um 900 nachgetragen, der auch aus dem St. Galler Tropenrepertoire bekannt ist.53 Ein anderer Fall liegt bei einer um 800 in Lorsch geschriebenen Hieronymus-Brief-Handschrift vor.54 Im Inselkloster Reichenau wurde ein Abschnitt der epistula 14 zu einem tropierenden Vers des Responsoriums Libera me aus dem Totenoffizium umgearbeitet. Nachträglich neumiert wurde dann auch die Stelle im Brief selbst, die teilweise von der tropierenden Fassung abweicht, und am unteren Blattrand ist die Erweiterung des Tropus nur mit den Vokalen des Abschnitts mit Neumen versehen notiert.55 Den einzigen bisher bekannten eigenen Beitrag Lorschs zur Gattung Tropus stellt der in die ganz zu Beginn vorgestellte Handschrift mit den Historiae Gregors von Tour und der Fredegar-Chronik nachgetragene Tropus Hodie beatus Uodalricus auf den Heiligen Ulrich von Augsburg dar, dem noch zwei weitere lateinische kurze hymnische Texte zur Nacht und zum Morgen folgen.56 Der Tropus hebt mit der für Tropen fast topischen Wendung Hodie an, die auf den wohl bekanntesten und weit verbreiteten Tropus Hodie cantandus est zur Weihnacht des Tuotilo aus St. Gallen zurückgreift. Mit ihr wird der Introitus als Eingangsgesang der Messe aktualisiert und ins Hier und Jetzt versetzt. Der Tropus
49 Zur Handschrift: Zühlke. 50 Rom, BAV, Pal. lat. 235, fol. 67v. 51 Oxford, Bodleian Library, MS. Laud. misc. 276, fol. 65r. 52 Münch 1993, 94 gibt fälschlicherweise als Melodiemodell Adducentur an, das sich auf fol. 82v aber auf die vorhergehende Sequenz bezieht, weist aber auf das richtige Melodiemodell Beatus vir qui suffert hin. 53 Rom, BAV, Pal. lat. 833, fol. 24r. 54 Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Aug. perg. 105, foll. 3v/61v. 55 CLA VIII, 1080; Klaper 2003, 206–226. 56 Heidelberg, UB, Pal. lat. 864, fol. 134v; Berschin 1997b.
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kommentiert nicht nur die Antiphon des für das Fest des Heiligen Ulrich vorgesehenen Introitus Os iusti, deren Stichworte nur als nicht neumierte Incipits angegeben sind, sondern setzt auch nach dem Psalmvers und dem Gloria patri an. Die Kunst des in diesem Fall anonymen Tropendichters bestand hierbei darin, die neu verfassten Passagen in Wort und Melodie so anzupassen, dass sie mit dem bereits Bestehenden eine organische Einheit bilden und es neu beleuchten. Fasst man die bisher bekannten Musikzeugnisse aus dem Kloster Lorsch überblicksartig zusammen, so lässt sich bisher daraus nicht ablesen, welche Rolle Lorsch etwa bei der Aneignung und Verbreitung des Gregorianischen Chorals oder bei dessen Erweiterungen in Dichtung und Musik und in der Musiktheorie eingenommen hat. Vielleicht positionierte es sich im Unterschied zur Reichenau und zu St. Gallen eher in der Bewahrung? Einschränkend muss hierzu natürlich gesagt werden, dass uns offenbar der größte Teil der musikalischen Handschriften aus Lorsch verloren ist. Von den erhaltenen Zeugnissen kann aber in einem gewissen Rahmen, jedenfalls je nach Überlieferungslage, die ursprüngliche klangliche Gestalt in vielen Fällen zumindest näherungsweise rekonstruiert werden. So ist es möglich, die bereits erwähnte Nazarius-Sequenz über das zugrunde liegende Melodiemodell Beatus vir qui suffert wiederzugewinnen. Die mit diesem Melodiemodell verbundene ColumbanSequenz A solis occasu liegt neumiert im Lorscher Sequentiar (Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 1043, fol. 4v) vor. Freilich muss hier auf spätere und geographisch entferntere Handschriften mit Notation auf Linien als Ergänzung zurückgegriffen werden, um den Melodieverlauf in seinen Tonhöhen wiederzugewinnen, da aus Lorsch selbst solche Handschriften nicht erhalten sind. Im Fall des Ulrichs-Tropus sind aber bisher keine auf Linien notierten und damit in Tonhöhen lesbaren Fassungen bekannt geworden. Gewisse Wendungen, wie das einleitende Hodie, das auch im Melodischen topische Züge in der Überlieferung annimmt, ließen sich vielleicht rekonstruieren, während der Bezugsgesang, der Introitus Os iusti, als Bestandteil des Standardrepertoires für die Messgesänge breit überliefert ist und aus späteren Notationen auf Linien wiedergewonnen werden kann, wenn auch keine spezielle Lorscher Überlieferung weder in Neumen noch in Linien dafür bekannt ist. Auf Linien notierte Handschriften aus Lorsch sind überhaupt nicht überliefert, das Kloster scheint bereits vor diesem Schritt in der Entwicklung der Notation im 11. Jahrhundert im Niedergang begriffen gewesen zu sein. Der am oberen Blattrand einer Handschrift mit den Sermones von Augustinus, die um 900 nach Lorsch kam und auch den berühmten „Lorscher Bienensegen“ enthält, nachgetragene neumierte Introitus Laudate pueri dominum57 lässt sich dagegen durch Vergleich mit anderen zeitgenössischen Fassungen, wie etwa der im Graduale 121 der Stiftsbibliothek Einsiedeln, und späteren Liniennotationen, die die Basis für die gedruckte Fassung im Graduale Romanum von 1908 bilden, in seinem melodischen
57 Rom, BAV, Pal. lat. 220, fol. 38r.
Musikkultur des Mittelalters im Kloster Lorsch
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Verlauf als spezifische Lorscher Variante rekonstruieren. Auf solche Weise gewonnene Fassungen stehen dann der musikalischen Interpretation offen, um die verlorene klangliche Wirklichkeit wiederzugewinnen, die vergangenen soni, von denen Isidor spricht, wieder zum Leben zu erwecken. Damit überschreitet der Musikhistoriker die Grenze hin zur Musikpraxis, was aber ein notwendiger Schritt ist, um die Musik des Mittelalters in der Gesamtheit ihrer Erscheinungsweise zu verstehen.
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Tino Licht
Beobachtungen zum Lorscher Skriptorium in karolingischer Zeit Wie kaum eine zweite karolingische Schreibschule ist das Lorscher Skriptorium durch eine beispielhafte jüngere Monographie erschlossen worden, für die sich mit Bernhard Bischoff der vielleicht beste Kenner der karolingischen Schriftlichkeit verantwortlich zeigte.1 Man mag sich angesichts dieser Publikation fragen, was es zur Lorscher Schriftgeschichte in karolingischer Zeit noch zu sagen gibt. Bischoffs Untersuchungen ermöglichen es dem Benutzer, die Lorscher karolingische Produktion in den Bibliotheken der Welt ebenso wiederzufinden, wie die Handschriften, die in der Lorscher Klosterbibliothek vorhanden waren, ohne dort hergestellt worden zu sein, also wie etwa das berühmte „Lorscher Evangeliar“,2 das aus der Hofschule stammt, zwar Lorscher Bibliotheksheimat, aber nicht Lorscher Schriftheimat hat. In einigen Fällen mußte Bischoff hinsichtlich der Herkunft ein Fragezeichen stehen lassen, etwa bei einem der wenigen nach Heidelberg zurückgekehrten Palatini latini.3 Bischoffs Fragezeichen sind selten, er war sich, obwohl er nicht zu vorschnellen Urteilen neigte, in den meisten Fällen sicher. Wenn hier dennoch neue Beobachtungen präsentiert werden sollen, so liegt das neben einem Neufund, der zu Anfang kurz skizziert werden soll, an den Möglichkeiten der digitalen Erschließung der Lorscher Bibliothek („Bibliotheca Laureshamensis – digital“).4 Sie bietet Kulturhistorikern, Philologen und Paläographen nicht nur die einzigartige Wiederherstellung einer der bedeutendsten karolingischen Bibliotheken, sondern auch ein außerordentliches Forschungsreservoir zur Überlieferungsund Schriftgeschichte in karolingischer Zeit. Was nur Bernhard Bischoff einmal gelungen ist, die Lorscher Bestände in den Bibliotheken der Welt zu erreisen, wird nun schrittweise jedem Interessierten ermöglicht, und zwar als beliebig wiederholbarer Vorgang. Aus diesem Reservoir neue Erkenntnisse zu gewinnen, ist Ziel dieses Beitrags. Die Beobachtungen betreffen drei Komplexe: 1. Die Neudatierung des älteren Lorscher Stils 2. Die Lorscher Titelseite 3. Den Lorscher karolingischen Spätstil als vierte Produktionsperiode.
1 Bischoff 1989. 2 Das Evangeliar ist inzwischen in zwei Codexteilen und separierten Elfenbeintafeln verteilt auf die Standorte Bukarest, Biblioteca Naţională României, Ms R II 1; London, Victoria and Albert Museum, Inv.-Nr. 138–1866 und Rom, BAV/Museo Sacro, Pal. lat. 50. 3 Es handelt sich um den Codex Heidelberg, UB, Pal. lat. 894 mit zwei Epitomisierungen von Ab urbe condita des Livius „großenteils von einer sicher fremden, etwas flüchtigen Hand“; Bischoff 1989, 40 und 104. 4 Abrufbar unter: http://www.bibliotheca-laureshamensis-digital.de. © 2015, Licht. Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 3.0 Lizenz.
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1 Anfänge Für den ersten Teil sind einige Daten zur allgemeinen Schriftgeschichte zu korrigieren, welche die Entwicklung der karolingischen Minuskel betreffen. Das Lorscher Skriptorium beginnt, auch wenn regionale, vor allem insulare (daneben auch alemannische) Züge in den frühen Handschriften zu erkennen sind, mit dieser Schrift, über deren Ursprung es seit langer Zeit Unsicherheiten gibt. Diese Unsicherheiten erwachsen aus den ältesten datierten Zeugnissen, die etwa in den gleichen Zeitraum führen. Da ist zum einen eine mehrbändige Bibel in Amiens (CLA VI, 707) deren Herstellungsort und Datierung durch eine Auftragsnotiz im Makkabäerband Amiens, Bibliothèque Municipale, Ms. 11, fol. 96r bestimmt werden kann: EGO MAVRDRAMNVS ABBAS PROPTER DEI AMOREM ET PROPTER CONPENDIVM LEGENTIVM HOC VOLVMEN FIERI IVSSI. „Ich, Abt Maurdramnus, habe um der Liebe zu Gott willen und für den Dienst am Leser diesen Band herstellen lassen“. Der Auftraggeber Maurdramnus war Abt von Corbie, und zwar von 772 bis 781, bis er durch den karolingischen Kandidaten Adalhard ersetzt wurde. Der Codex ist damit datiert und lokalisiert, Corbie zwischen 772 und 781. Und man trifft auf eine karolingische Minuskel, die weit entwickelt ist, kaum noch Ligaturen hat und die Kennbuchstaben mustergültig erkennen läßt: unziales a, ein zum Schließen neigendes g und ein Minuskel-n. Das zweite, konkurrierende, datierte Zeugnis der karolingischen Minuskel ist einer der frühen Chrysographen, also Handschriften in Gold und Silbertinte, die in der Hofschule Karls des Großen entstanden sind, das „Godesscalc Evangelistar“ in Paris, Bibliothèque nationale de France, Nouv. acq. lat. 1203 (CLA V, 681). Dieses Evangelistar steht im Hauptteil in Unziale, nur im Widmungsgedicht auf foll. 126v–127r findet sich karolingische Minuskel. Aus diesem erfährt man den Namen des Schreibers Godesscalc, man erfährt das Auftragsjahr 781, das 14. Herrschaftsjahr Karls des Großen, und man erfährt, dass Karls Gattin Hildegard bei der Niederschrift noch am Leben war. Sie starb 783, der Codex ist damit auf die Jahre 781 bis 783 eingegrenzt. Herstellungsort ist die Hofschule, die übrigens noch immer nicht lokalisiert werden kann. „Maurdramnus Bibel“ zwischen 772 und 781, „Godesscalc Evangelistar“ zwischen 781 und 783, das waren bisher die beiden ältesten datierbaren, möglicherweise gleichzeitig entstandenen Zeugnisse der karolingischen Minuskel. Von den beiden hat das zweite, das Hofexemplar, die stärkere Anziehungskraft ausgeübt, auch auf Bernhard Bischoff. Nach anfänglicher Zurückhaltung spricht er später einmal von der „Hofschrift“.5 Über den Gesamtbefund hatte sich die europäische Perspektive gelegt und nach und nach das attraktivste Ergebnis ins Bewußtsein gerückt: Die Hauptschrift Europas entstand am Hof von Europas Vater Karl.6
5 Bischoff 1980, 265; freundlicher Hinweis von Prof. Walter Berschin, (Heidelberg). 6 Das ist der Stand, der auch aktuell referiert wird, jüngst etwa bei Cherubini/Pratesi 2010, 368: „I
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Und doch existiert das Zeugnis, welches geeignet ist, der Hofthese den Boden zu entziehen. Auch in dieser Handschrift ist die karolingische Minuskel nicht Hauptschrift, sonst hätte sie nicht verborgen bleiben können, sondern nur Zusatz. Hauptschrift ist die Halbunziale, in einem späten markanten Typ, dem sogenannten ‚Leutchar-Typ‘. Handschriften in dieser Halbunziale sind selten. Erhalten sind nur drei, und zwei davon gleichen bis in Abmessung und Initialkunst hinein einander. Sie sind, obwohl sie unterschiedliche Texte enthalten, ‚kodikologische Zwillinge‘:7 Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Theol. lat. fol. 354 (CLA VIII, 1067a) und St. Petersburg, Publichnaja Biblioteka, F.v.I.6. Man gewinnt durch die St. Petersburger Handschrift eine Datierung und Lokalisierung, denn dort ist auf fol. 211r der Auftraggeber genannt: Leutcharius abba iussit fieri. Beide Handschriften entstanden also in Corbie unter Abt Leutchar, der längstens bis 769 dort gewirkt hat, mit Sicherheit aber im Jahr 762 Abt in dem alten Königskloster war.8 In dem „Berliner Leutcharcodex“ nun ist für zwei Seiten die Halbunziale mit einer karolingischen Minuskel vertauscht worden, ohne dass die Schrift auf Rasur steht, ohne dass die Seitengrenzen Übergangsprobleme signalisieren, ja sogar so, dass der Wechsel nicht beim Übergang von Blatt zu Blatt, sondern beim Übergang von der Vorder- zur Rückseite (recto/verso) erfolgte. Die Schrift läuft durch, ein experimenteller Wechsel; die Innovationsschrift wurde probiert, bevor man zur herkömmlichen Schrift, zur Halbunziale zurückkehrte. Wir sind bei vorsichtiger Datierung in den 760er Jahren, möglicherweise sogar im Jahrzehnt davor und demnach erheblich früher, als man bisher erlauben wollte. In dem Jahr, als Lorsch gegründet wurde, hat die karolingische Minuskel wohl schon existiert. Corbie ist mit Sicherheit der Ort, an dem sich die entscheidenden Entwicklungsschritte vollzogen haben.9
primi codici in carolina sono gli Evangeliari [!] di Godes[s]calco e di Ada e il Salterio di Dagulfo, tutti riconducibili in qualche modo agli ultimi due decenni del secolo VIII e ad ambienti di corte“. Ganz 1987, 36 entscheidet sich für die „Maurdramnus Bibel“ als „probably the earliest datable specimen of Caroline minuscule“, vertritt aber ein merkwürdiges, analoges Entwicklungsmodell: „... Caroline minuscule ... developed independently at various centers and was not imposed by one center upon others“ (ebd. 24). An dieses (wenig wahrscheinliche) Modell ‚unabhängiger Analogie‘ scheint anzuknüpfen Schieffer 2005, 37: „sie wurde nirgends angeordnet und ist als Leistung verschiedener Skriptorien allein aus dem paläographischen Befund zu erschließen“. 7 Eindrucksvoll ist dieser Zusammenhang anhand zweier identischer Initialen demonstriert bei Zimmermann 1916, Tafel 118. 8 Leutchar war Bischof von Amiens und Abt von Corbie in Personalunion; die Daten zu ihm muß man nachschlagen bei Cousin 1963, 19–46, der ebd. 30 den Abbatiat auf die Jahre 750–765 festlegt; eine erste Bestätigungsurkunde, die das belegt, datiert auf die Jahre 751/752 (ebd. 38, Anm. 61); Leutchars Nachfolger Haddo ist für das Jahr 768 (ebd. 24) nachgewiesen; Ganz 1990, 21–22 ergänzt einen sicheren Nachweis für Leutchar aus dem Jahr 762 (Gebetsbund von Attigny), verschiebt aber das Zeugnis für Haddo in das Jahr 769. 9 Ausführlich dazu Licht 2012, 337–346.
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Welche Auswirkungen hat das auf die Schriftgeschichte in Lorsch? Das Datengerüst der dortigen karolingischen Schreibschule nach Bischoff war bisher das folgende: Sie beginnt mit Richbod († 804), dem Vergilliebhaber und Träger des Hofnamens Macharius,10 Abt von Lorsch seit dem Jahr 784. Die ältesten Beispiele datiert Bischoff immer römisch „VIII/IX“, das heißt um das Jahr 800. Unter Adalung († 837), im Jahrzehnt nach 804 wird ein zweiter, ein Übergangsstil erkennbar, dem die markante stäbchenfömige Rustica als Auszeichnungsschrift fehlt. Dieser wird bald von einer nordostfranzösischen karolingischen Minuskel begleitet, die auch in Lorsch geschrieben worden ist. Dieser Stil ist der sogenannte Saint-Vaast-Stil. Er steht mit Adalung in Verbindung, der ab 808 auch den Abbatiat der Abtei Saint Vaast in Arras innehatte. Ab den 820ern ist das Skriptorium auf seinem Höhepunkt und tritt in die lange und ertragreiche Phase der karolingischen Minuskel im jüngeren Lorscher Stil ein. Die Produktion wird um 860 in dem umfangreichsten Bibliothekskatalog Ca von Lorsch registriert und ebbt dann langsam ab.11 Älterer Lorscher Stil (784–ca. 810), Übergangstil (ca. 810–ca. 825), Saint-Vaast-Stil (ca. 810–ca. 825), jüngerer Lorscher Stil (ca. 825 bis zum Ende des Karolingerzeit). Mit welchem Argument ist der Beginn des Skriptoriums unter Richbod festgelegt? Bischoffs Begründung lautet: „Die Datierung muß sich zunächst darauf beschränken, dass ein Ansatz vor Gode[s]scalcs erstaunlicher Leistung (zwischen 781 und 783) unwahrscheinlich ist ...“.12 Für die Datierung der ältesten Handschriften wird also mit der ‚Hofthese‘ argumentiert, wovon man sich nun im Wissen um den „Berliner Leutcharcodex“ und um die Existenz der karolingischen Minuskel schon in den 760ern befreien darf. Paläographisch spricht nichts dagegen, dass das Lorscher Skriptorium von Anbeginn produktiv gewesen ist.13 Eigentlich ist schon das Gründungsjahr 764 nicht mehr auszuschließen. Vielleicht ist es für manchen leichter, den Beginn mit dem Bezug der neuen Konventsgebäude im Jahr 774 anzusetzen. Und es gibt zusätzliche Argumente. Es sei mit einem Fall begonnen, den auch Bischoff sich nicht erklären konnte, mit dem Fall des Schreibers Donadeus. Dieser hat einen der wenigen Kolophone hinterlassen, die sich in Lorscher Codices der Karolingerzeit finden. Der Codex Rom, Biblioteca Apostolica Vaticana, Pal. lat. 200 ist eine Handschrift von Augustinus De civitate Dei. In ästhetischem Wechsel von schwarz und rot und in Traubenform (bot-
10 So spricht ihn Alkuin in Epist. 13 seines Briefcorpus an; vgl. Alkuin, Epistolae, ed. Dümmler, 38–39. 11 Die Datierungsargumentation, bei der die Paläographie durch Beobachtungen zur Personengeschichte gestützt wird, ist entwickelt bei Bischoff 1989, 23–24; die Signaturangabe Ca folgt der Edition von Häse 2002, 136–167. 12 Bischoff 1989, 31. 13 Man kann den frühen Entwicklungsstand der karolingischen Minuskel etwa gut an der Handschrift Rom, BAV, Pal. lat. 238 nachvollziehen (CLA I, 88), deren Schrift durch e- und r-Ligaturen, nt-Ligaturen (als Majuskel- und Minuskelligatur auch in Wortmitte) und Doppelformen a und n gekennzeichnet ist.
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rionis formula)14 hat Donadeus auf fol. 138v um eine Fürbitte nachgesucht. Ora pro me scribtore Donadeo seruo tuo si Deum habes adiutorem. ‚Wenn Du Gott zum Helfer hast, dann bete für mich, deinen Knecht, den Schreiber Donadeus.‘ Bischoff kommentiert: „Der nicht häufige Name Donadeus ist in Lorscher Urkunden zwischen 765 und 804 für Schreiber bezeugt ...; wenn alle diese Zeugnisse bis zum letzten sich auf den einen, wohl aus Gorze stammenden Schreiber beziehen ..., kann der Donadeus der Handschrift, der eine untadelige karolingische Minuskel und eine verständnisvoll klassischen Mustern nachgebildete Rustica beherrscht, nicht mit ihm identisch sein.“15 Warum war trotz des nicht häufigen Namens Donadeus dieser nicht mit dem Urkundenschreiber zu identifizieren? Bischoffs paläographische Datierung der Handschrift stand davor. Die Handschrift ist Zeuge des Übergangsstils. Ihre Datierung würde nach dieser Zuordnung in die 810er fallen, da war der Urkundendonadeus verstummt, und es mußte eben einen zweiten, einen jüngeren Donadeus gegeben haben. Da sich mit der Verschiebung des älteren Lorscher Stils auch der Zeitraum nach von verlagert, indem der Übergangsstil geschrieben worden ist, sei der Vorschlag unterbreitet, die Handschrift neu zu datieren und die Namensidentität zu akzeptieren: Pal. lat. 200 entstand um 800 im Übergangsstil durch den Schreiber Donadeus (Abb. 10). Aufschlußreich könnte ein zweiter, bisher nicht diskutierter Fall sein. Zu den Eigenheiten einiger Handschriften des älteren Lorscher Stils zählt eine eigenwillige Auszeichnungsschrift, eine diplomatische Kursive. Diese diplomatische Kursive findet sich einmal als Textabschluß bei einem Hauptschreiber des Codex Rom, BAV, Pal. lat. 1753, fol. 47v. Auf diesem Blatt geht die Hand aus der karolingischen Minuskel in die diplomatische Kursive über, und danach wird der Text mit einem kuriosen konzentrischen Explicit abgeschlossen. Am unteren Rand gibt es noch einen Schreibereintrag in diplomatischer Kursive. Die Schrift hat eine markante Eigenheit, die teils ihre Lesbarkeit erschwert: Das l wird unter die Linie geführt und wie ein Majuskel-L betont (Abb. 11). Unter den karolingischen Kanzleischreibern zeigt dieses l mit Vorliebe der Schreiber und spätere Kanzleileiter Rado († 808), und zwar sowohl in der Kontextschrift als auch in den Auszeichnungszeilen der litterae elongatae.16 Weitere Auffälligkeiten in den betreffenden Lorscher Handschriften, das gekerbte d und das doppelläufige g, sind bei ihm ebenfalls zu belegen. Die Kombination dieser Schriftmerkmale findet sich meines Wissens bei keinem anderen überlieferten Kanzleischreiber, so dass sich hinter diesem Lorscher Kopisten der spätere Leiter der karolingischen Königskanzlei Rado verbergen könnte. Man liest diese diplomatische Kursive ebenfalls in den
14 So lautet der terminus technicus für die sich nach unten verjüngende Anmerkung bei Cassiodor, Institutiones, I, 3, 1, 132. 15 Bischoff 1989, 39. 16 Zu Rado vgl. die Angaben und Bibliographie in ChLA XV, 612 (S. [75], Anm. 7); eine jüngere Arbeit zur karolingischen Kanzlei mit Würdigung Rados liegt vor von Worm 2004, 35–44.
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Abb. 10: Rom, BAV, Pal. lat. 200, fol. 138v (Ausschnitt der linken Spalte); Lorsch, ca. 800; am Ende des XXII. Buches von Augustinus’ De civitate Dei hat der für mehrere Lorscher Urkunden verantwortliche Schreiber Donadeus einen Kolophon eingetragen. Die karolingische Minuskel weist Frühsymptome auf (z.B. ‚liegende‘ nt-Ligatur Z. 2 agant) und auch die verwendete Capitalis rustica ist – man beachte das gedeckte L (Z. 4 legis catholicae) – nur mit Abstrichen als ‚musterhaft‘ zu bewerten. © [2014] Biblioteca Apostolica Vaticana
Auszeichnungszeilen des Codex Rom, BAV, Pal. lat. 822 auf foll. 121v, 125v und 126v; auch dort fallen die unter der Zeile wie Majuskelbuchstaben ausgeführten l ins Auge (Abb. 12). Wie könnte man sich Rados Verhältnis zu Lorsch vorstellen? Rado hat selbst für Lorsch geurkundet. Er ist Subskribent der Königsurkunden (das ist natürlich kein Indiz), er ist namensgleich mit einem Zeugen der Urkunden 228 und 268 aus dem Jahr 782 im „Codex Laureshamensis“ und hat vielleicht eine Schenkung an Lorsch („Codex Laureshamensis“ 1605) unter Richbod getätigt. Bei der Beschreibung der Mark Heppenheim im „Codex Laureshamensis“ 6a wird erwähnt, das Rado als Königsbote
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Abb. 11: Rom, BAV, Pal. lat. 1753, fol. 47v (Ausschnitt); Lorsch, saec. VIII ex.; Abschluß eines Metriktraktats mit ‚konzentrischem‘ Explicit. Der Schreiber wechselt in der letzten Textzeile aus seiner karolingischen Minuskel in eine diplomatische Kursive (Z. 3 super hoc adhuc non parua lis est). Am unteren Rand folgt ein wohl vom Schreiber selbst (mit gleich zwei Abweichungen in der lateinischen Formenbildung) formuliertes Kolophon: Ego me misello, qui in decurso (!) sedebam, manibus nardum tangebo (!), digitus oculum lambebat. Auffällig sind die unter der Zeile nach Art von Majuskelbuchstaben abgewinkelten l (misello). Weitere Schriftmerkmale sind das doppelläufige g (ego) und das gekerbte d (digitus). © [2014] Biblioteca Apostolica Vaticana
(regis missus) bei der Fixierung der Gemarkung anwesend war und eine Grenzmarkierung vornehmen lassen hat. Wenn man die Anfangsworte der Notiz in Pal. lat. 1753, fol. 47v Ego me misello, qui in decurso sedebam... vor dem Hintergrund von Ps 136 Super flumina Babylonis illic sedimus et flevimus ... zu verstehen versucht, dann hat der Schreiber sich an fremdem Ort befunden. Stimmt die Identifizierung, war Rado kein Konventsmitglied, sondern in Lorsch zu Gast und hat bei diesen Gastaufenthalten (in dem Jahr 773, in dem die Mark Heppenheim fixiert worden ist, oder im Jahr 782, wo er als möglicher Zeuge zweier Lorscher Urkunden auftaucht?) im Skriptorium mitgewirkt. Rado war ab 790 übrigens Abt von Saint Vaast in Arras; sein Nachfolger in diesem Abbatiat wird ab 808 der Lorscher Abt Adalung sein. Für den Codex hätten wir dann einen terminus ante quem in Rados Todesjahr 808, einen wahrscheinlichen terminus ante quem in der Ernennung zum Abt von Saint Vaast im Jahr 790, denn den Abt einer nordfranzösischen Königsabtei mag man sich kaum beim Kopieren in der Lorscher Schreibschule vorstellen (Abb. 13). Abschließend sei erwähnt, dass Bischoff noch ein weiteres Mal über Datierungsschwierigkeiten reflektiert hat, welche die
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Abb. 12: Litterae elongatae Rados im Diplom Marburg, Hessisches Staatsarchiv, Kaiserurkunden Hersfeld, 775 VIII 3 (ChLA XII, 535) aus dem Jahr 775. Markant sind das doppelläufige g (signum) und das unter der Zeile abgewinkelte l (Caroli).
Abb. 13: Kontextschrift Rados im Diplom Paris, Archives Nationales, K 6, no 1A (ChLA XV, 612) aus dem Jahr 772 mit unter der Zeile abgewinkeltem l (Z. 1 nullus) und gekerbtem d (Z. 2 audiendum).
frühen Jahre des Skriptoriums betreffen, nämlich bei der Abhängigkeit der Lorscher karolingischen Minuskel von Metzer Vorbildern: „Wenn in Metz wirklich … die Arbeit des Skriptoriums ... mit dem Tode Angilrams 791 fast zum Erliegen kam, so müßte
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auch für Lorsch gelten, dass die Schreiber des ‚älteren Lorscher Stils‘ schon vor 790 in voller Tätigkeit waren“.17
2 Titelseite „Die mittelalterlichen Handschriften und die frühen Inkunabeln kannten noch kein Titelblatt“,18 so oder ähnlich darf man es in den Lexika zum Buchwesen nachlesen. Warum sich dagegen nicht schon längst Widerstand erhoben hat, ist kaum zu erklären.19 Jeder Handschriftenforscher ist schon einmal einer Titelseite in mittelalterlichen Codices begegnet. Der Charakter einer Titelseite ist erkennbar, wenn für die Nennung des erhaltenen Werkes (und sei es auch nur in einer Incipitformel) eine ganze Seite reserviert ist. Solche Beispiele sind schon aus der Spätantike bekannt, etwa der berühmte „Vergilius Sangallensis“ CLA VII, 977, eine von nur drei erhalte-
Abb. 14: St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 1394, p. 34; Umzeichnung (titulum in subsequenti pagina sic lege) durch Ildefons von Arx († 1833) einer im 13. Jahrhundert palimpsestierten Titelseite (p. 35) des ca. a. 500 in Italien geschriebenen „Vergilius Sangallensis“.
17 Bischoff 1989, 37. 18 Marwinski 1988, 340–341. 19 Inzwischen gibt es immerhin einen ersten Versuch von Derolez 2008, 17–36; allerdings mit sehr weit gefasstem Verständnis von Titelseite.
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nen Handschriften in Capitalis quadrata, konkret wohl aus der Ostgotenzeit Italiens um 500. Der Codex ist im 13. Jahrhundert, dem ‚secolo senza Roma‘,20 palimpsestiert worden, weshalb man die Umzeichnung benötigt, um einen Eindruck vom ursprünglichen Aussehen der Titelseite zu gewinnen. Bischoff hat eine ähnliche Vorlage bei der Gestaltung einer Titelseite für den Codex Rom, BAV, Pal. lat. 175 angenommen, die Titelseite fol. 2v abgebildet und kommentiert: „Titelblatt nach spätantiken Vorbild“.21 Inzwischen aber kann man durch die Digitalisierung erfahren, dass die Titelseite eine Spezialität des Skriptoriums von Lorsch war, dass Titelseiten seit Anbeginn der Lorscher Eigenproduktion beigegeben worden sind und dass die spätantike Ästhetik des bei Bischoff abgebildeten Blattes eine Lorscher Ästhetik ist, ein Klassizismus. Schon beim gegenwärtigen, vorläufigen Stand der Digitalisierung sind mehrere Dutzend Lorscher Codices mit Titelseiten erkennbar. Aus ihnen erwächst die Möglichkeit, deutlicher als in den reinen Schriftveränderungen den Wandel der Handschriftenästhetik sichtbar zu machen (Abb. 15). Lorsch beginnt mehrfarbig, wenn man so will vorkarolingisch, mit manierierter und verspielter Buchstabenpräsentation: Ligaturen, Mischalphabet, Verschränkungen, Enklaven, über und untergestellte Buchstaben verdichten den Schmuck und erschweren die Lesbarkeit. Der Augustinuscodex Rom, BAV, Pal. lat. 207 mit dem Tractatus in Iohannem ist ein Vertreter des älteren Lorscher Stils. Im zweiten Beispiel Rom, BAV, Pal. lat. 1449 erkennt man die Reduzierung. Nur noch ein Buchstabe ist untergestellt, die Schrift ist einfarbig, das Alphabet unvermischt. Die Titelseite ist übersichtlich geworden und enthält knappste Informationen; man erblickt den Klassizismus des jüngeren Lorscher Stils (Abb. 16). Der stilistische Wandel im Skriptorium ist an diesen Titelseiten leicht nachzuvollziehen. Erheblich schwieriger wäre es gewesen, denselben an den Buchstabenformen der karolingischen Minuskel zu vermitteln. Die Lorscher Titelseiten sind das markante Reservoir zur Demonstration der Stilveränderung. Sie können darüber belehren, wie lange der karolingische Klassizismus gebraucht hat, bis er in der Wirklichkeit der Handschriften angekommen ist. Beim zweiten Beispiel, dem Pal. lat. 1449, befinden wir uns schon in den späten Regierungsjahren Ludwigs des Frommen († 840).22 Die Titelseite ist, auch wenn hin und wieder andere Skriptorien Titelseiten produziert haben,23 wegen ihres dichten Auftretens ein Lorscher Symptom. Der in Heidelberg,
20 So lauten Titel und Erkenntnis von Toffanin 1942 (und zahlreiche spätere Auflagen). 21 Bischoff 1989, Taf. 10. 22 Ein terminus ante quem ergibt sich daraus, daß der Tod Abt Adalungs († 837) im Kalendar der Handschrift auf fol. 6v nachgetragen wurde. 23 Das Skriptorium der Reichenau hat unter Reginbert († 846) einen Alkuinkommentar zu drei Paulinischen Briefen kopiert (KFH I, 1114; Einsiedeln, Stiftsbibliothek, 182 und 168), für den Reginbert selbst in seiner charakteristischen Capitalis rustica das Titelblatt geschrieben hat (p. 2); unter Bischof Iesse von Amiens († 836) wurde einer im bischöflichen Skriptorium angefertigten Kopie von Hieronymus’ Adversus Iovinianum (CLA VIII, 1030; KFH I, 235; Bamberg, Staatsbibliothek, Msc. Patr. 86)
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Abb. 15: Rom, BAV, Pal. lat. 207, fol. 1v; Lorsch, saec. VIII ex.; dreifarbige (rot, grün, schwarz im Wechsel) Titelseite (die erste Zeile ist ein Nachtrag) mit manierierter Buchstabenanordnung und -formung vor allem in den vergrößerten Zeilen (Z. 2–4 AVRELII AVGVSTINI TRACTATVS AD POPVLVM IN IOHANNEM). © [2014] Biblioteca Apostolica Vaticana
ebenfalls eine Titelseite (fol. 1v) vorangestellt.
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Abb. 16: Rom, BAV, Pal. lat. 1449, fol. 27v; ante a. 838; einfarbig rote Titelseite in Capitalis quadrata. © [2014] Biblioteca Apostolica Vaticana
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Universitätsbibliothek, Pal. lat. 894 beheimatete Codex mit den Liviusabkürzungen, der keine Lorscher Haupthand erkennen läßt, trägt durch die Titelseite einen Hinweis auf Schriftheimat in Lorsch.24
3 Spätstil Auch für den Lorscher Spätstil ist der Ausgangspunkt bei Bischoff zu nehmen, bei dem die meisten Beobachtungen schon zusammengetragen sind, die das Profil eines solchen entwerfen helfen. In der Buchproduktion von Lorsch gibt es etwa mit der Erstellung des großen Katalogs um 860 (Katalog Ca nach Häse) eine Zäsur. Diese Zäsur ist zunächst an der Quantität abzulesen, es gibt nur zehn Handschriften mit Lorscher Schriftheimat, die in diese späte Phase zwischen den 860ern und der Jahrhundertwende datiert werden können, „ein schwacher Nachhall des Eifers der vorangegangenen Zeit“.25 Für Bischoff war diese Zehnergruppe eine Fortsetzung des jüngeren Lorscher Stils, mit einigen, gewissermaßen uneinheitlichen Veränderungen. Doch es gibt Gemeinsamkeiten. Man sammelt diese am leichtesten auf der Eingangsseite fol. 1r der Handschrift München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 21218, die De baptismo von Augustinus enthält. Merkmale der Hauptschrift sind Wiederkehr und Dominanz des unzialen d, die häufigere Verwendung von Majuskel-N auch jenseits der Verneinung, f und s mit einem kurzen Abschlußhaken (Bischoff spricht von ‚langhalsig‘).26 Bei den Auszeichnungsschriften erhalten die Schäfte der Capitalis quadrata gespaltene Basen. Die Unziale hat jetzt haarfeine Buchstabenbestandteile die bei A, E und G erkennbar sind. Eine neue Buchstabenform taucht fast durchgängig auf, der Auszeichnungsbuchstabe Q mit gebrochenem Bogen (Abb. 17). Der Stil hat sich gewandelt; man erkennt es auch an der wieder erwachten Initialkunst. Dieser Wechsel im Stilempfinden ist jenseits des Lorscher Skriptoriums in zahlreichen weiteren Fällen belegbar: in der Literatur an den Dichtungen eines Heiric von Auxerre, in der Schrift am St. Galler Spätstil,27 in der Buchmalerei an der sogenannten franko-sächsischen Schule, die einen markanten Umbruch im Stil repräsentiert. Fast schlagartig wandelt sich zwischen 860 und 870 das Stildeal vom Klassizismus zum Manierismus.28 Am schärfsten hat der Kunsthistoriker Wilhelm Köhler angesichts
24 Bischoff 1989, 40 erkennt nicht die Titelseite an sich, sondern deren Capitalis rustica als charakteristisch für Lorsch an: „Für Entstehung in Lorsch spricht die Titelseite 1**v mit der typischen leichten Rustica“. 25 Ebd. 52–53. 26 Ebd. 53–54. 27 Zusammenfassend beschrieben bei Daniel 1973, 29–33. 28 Ausführlich besprochen und dokumentiert ist diese „Epochengrenze mitten in der ‚Karolingerzeit‘“ bei Berschin 1991, 337–341.
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Abb. 17: München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 21218, fol. 1r; Handschrift im Lorscher Spätstil (saec. IX ex.); markant sind wiederkehrendes Majuskel-N auch außerhalb der Verneinung, die langhalsigen f und s (rechte Spalte Z. 2 nobis flagitantibus) und die Wiederaufnahme des unzialen d (rechte Spalte Z. 7 donatistae). Bei den Auszeichnungsschriften erhalten die Schäfte der Capitalis quadrata gespaltene Basen (linke Spalte Z. 5 IN EIS LIBRIS); die Unziale hat jetzt (wieder) haarfeine Buchstabenbestandteile bei A, E und G in der linken Spalte Z. 13/14 diligentius quęstionem baptismi); eine charakteristische Buchstabenform, das Q mit gebrochenem Bogen (rechte Spalte Z. 4 Quapropter), dominiert in den Auszeichnungsalphabeten.
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Abb. 18: Augsburg, Universitätsbibliothek, Cod. I.2.4° 1, fol. 2v (Ausschnitt), „Lorscher Sakramentar“ (saec. IX ex.); in den beiden Auszeichnungszeilen sind Merkmale des Lorscher Spätstils zu erkennen, besonders die hauchdünnen Buchstabenbestandteile beim unzialen A und das Capitalis-Q mit dem gebrochenen Bogen (Z. 2 qui apostolis).
des franko-sächsischen Stils diesen Wechsel gefaßt: „Um 870 ist die karolingische Bewegung tot in Frankreich“. In dieser Drastik ist das nicht leicht zu verdauen, und doch bleibt auffällig, dass auch in Lorsch sich der Stilwechsel in den Handschriften belegen läßt. Und wie andernorts besteht er zu einem gewichtigen Teil in der Wiederaufnahme alter, vorkarolingischer beziehungsweise frühkarolingischer Formen. Neu ist, dass es in Lorsch nun sogar eine Buchmalerei mit einer insular beeinflußten Ästhetik gibt. Paradebeispiel ist das sogenannte Lorscher Sakramentar, von dem nur noch Fragmente existieren. Wenn man auf die Auszeichnungsschrift dieses Sakramentars schaut, wird man die Unziale mit den Symptomen des Spätstils erkennen und auch das Q mit gebrochenen Bogen sehen, was im Ideal einer unvermischten Auszeichnungsschrift gar nicht zugelassen sein dürfte, denn es ist ein Capitalisbuchstabe. Der Stil hängt also zusammen und ergibt ein einheitliches Bild (Abb. 18). Kann man mehr gewinnen, als nur die Beschreibung eines Spätstils des Lorscher Skriptoriums? Die Schriftmerkmale geben Datierungs- und Lokalisierungssicherheit und helfen, Zuweisungen kritisch zu prüfen. Erst in den letzten Jahren wurde das Sakramentarfragment New York, Columbia University Library, G.A. Plimpton Coll. Ms. 59 in die Liste der Handschriften mit Lorscher Schriftheimat inskribiert und die Einschätzung gegeben, es sei von einem „Lorscher Schreiber etwa im 3. Viertel des 9. Jahrhunderts“ geschrieben worden, was sich an der Verwandtschaft zum Lorscher Rotulus und zum Lorscher Sakramentar zeige.29 Es mangelt der Auszeichnungsschrift aber an allen Lorscher Symptomen (gespaltene Basen, Q mit gebrochenem Bogen, feine Buchstabenbestandteile, die insbesondere das markante unziale A formen), und auch in der Hauptschrift gibt es keine gemeinsamen Besonderheiten. So fehlt etwa die typische Lorscher re-Ligatur, die eine Einordnung in den Lorscher Spätstil stützen könnte. Angesichts der im New Yorker Fragment auftauchenden Anschiebungen bei ff und ss in der Hauptschrift und der Verwendung roter Spaltleisteninitialen muß die Datierung des Fragments erheblich, nämlich ins XI. Jahrhundert verschoben werden.
29 Hoffmann 2004, 178.
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4 Zusammenfassung Mit hoher Wahrscheinlichkeit nimmt das Lorscher Skriptorium früh, spätestens in den neuen Konventsgebäuden seine Tätigkeit auf. Die Mauer, die bisher vor einer Frühdatierung aufgebaut war, darf eingerissen werden. Die karolingische Minuskel existiert schon seit der Mitte der 760er Jahre und Lorsch durfte von Anfang an partizipieren. Damit verschiebt sich die Periodisierung des älteren Lorscher Stils vor die Zeit um 800, vorsichtig also von den 770ern bis in die 790er Jahre, und der Übergangsstil schließt schon in dieser Zeit an. Der Schreiber Donadeus, der aus vielen Lorscher Urkunden bekannt ist, dürfte demnach das Colophon in Pal. lat. 200 eigentragen haben, weshalb die Handschrift auf die Zeit um 800 vorzudatieren wäre. Den Leiter der Königskanzlei Rado finden wir vielleicht in den 770ern oder 780ern als Schreiber in den Lorscher Codices Pal. lat. 822 und 1753. Eine Spezialität des Lorscher Skriptoriums war die Titelseite. Man darf diese Titelseite künftig als Lorscher Symptom ins Feld führen, wenn die Lokalisierung durch weitere Argumente befestigt werden muss, auch wenn die Gewohnheit, Titelseiten anzufertigen, nicht exklusiv für Lorsch reklamiert werden kann. Der Wandel in der Ästhetik dieser Titelseiten ist deutlicher als der Schriftwandel in der Hauptschrift. Er kann der Veranschaulichung der Entwicklung dienen und ist gewissermaßen das ‚kunsthistorische‘ Reservoir in einer ansonsten an Initialen und Buchmalerei armen, wissenschaftlich-theologischen Produktion. Erst mit dem Lorscher Spätstil kehren Initiale und pleonastische Schriftästhetik in die Schreibschule zurück und führen den spätkarolingischen Manierismus nach Lorsch. Der Spätstil darf als vierte Produktionsperiode beschrieben werden und betrifft die Handschriften ab den 860ern. Seine Sonderformen können jenseits der bei Bischoff angebotenen Merkmale der genaueren Handschriftendatierung dienen. Abschließend sei betont, dass diese neuen Beobachtungen nicht als Beitrag zum modernen ‚Bischoffbashing‘ verstanden werden dürfen, wie vor allem die jüngere Profilierungspaläographie es betreibt, und bei dem selbst so glasklare paläographische Erkenntnisse wie das Skriptorium von Chelles mit großer Geste und mangelnden Argumenten weggewischt werden. Alle Beobachtungen standen auf den Schultern eines hervorragenden und nur in Nuancen zu korrigierenden Grundlagenwerkes quasi nani gigantum umeris insidentes.
Quellen Alkuin, Epistolae, ed. Ernst Dümmler, MGH Epistolae 4 (Epistolae Karolini Aevi II), Berlin 1895 (Nachdruck 1994), 1–481. Cassiodor, Institutiones: Cassiodor, Institutiones divinarum et saecularium litterarum. Einführung in die geistlichen und weltlichen Wissenschaften, übers. und eingel. von Wolfgang Bürsgens, Fontes Christiani 39/1-2, Freiburg u.a. 2003.
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ChLA VII: Chartae Latinae Antiquiores, Bd. 7: The United States of America III, ed. Albert Bruckner/ Robert Marichal, Zürich 1975. ChLA XII: Chartae Latinae Antiquiores, Bd. 12: Germany III, ed. Albert Bruckner/Robert Marichal, Zürich 1978. ChLA XV: Chartae Latinae Antiquiores, Bd. 15: France III, ed. Bruckner/Robert Marichal, Zürich 1986. CLA I: Codices Latini Antiquiores, Bd. 1: The Vatican City, ed. Elias Avery Lowe, Oxford 1934. CLA V: Codices Latini Antiquiores, Bd. 5: France, Paris, ed. Elias Avery Lowe, London 1951. CLA VI: Codices Latini Antiquiores, Bd. 6: France, Abbeville – Valenciennes, ed. Elias Avery Lowe, Oxford 1953. CLA VII: Codices Latini Antiquiores, Bd. 7: France, Switzerland, ed. Elias Avery Lowe, Oxford 1956. CLA VIII: Codices Latini Antiquiores, Bd. 8: Germany, Altenburg – Leipzig, ed. Elias Avery Lowe, Oxford 1959. KFH I: Katalog der festländischen Handschriften des neunten Jahrhunderts (mit Ausnahme der wisigotischen), Teil 1: Aachen – Lambach, ed. Bernard Bischoff, Veröffentlichungen der Kommission für die Herausgabe der Mittelalterlichen Bibliothekskataloge Deutschlands und der Schweiz/Bayerische Akademie der Wissenschaften, Wiesbaden 1998.
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Natalie Maag
Alemannische Spuren in Lorsch Was heißt hier alemannisch? Gemeint ist weder der alemannische Dialekt noch ein alemannisches Gräberfeld oder gar ein alemannisches Königreich. Alemannisch bezieht sich auf eine Schrift, die alemannische Minuskel, deren Geschichte noch vor der Spurensuche an der Bergstraße erzählt werden muß. Die alemannische Minuskel wird als Regionalschrift um das Jahr 744 fassbar.1 Sie ist Nachfahre der jüngeren römischen Kursive, hat sich jedoch von dieser durch Kalligraphierung und individuelle Merkmale emanzipiert. Vielerorts ist dieser Umbruch im abendländischen Schrifttum des 7. und 8. Jahrhunderts zu beobachten: In Corbie, Luxeuil, Chelles, im Benevent und Rätien entstehen charakteristische Minuskelschriften, die einige Zeit die Vorherrschaft in den Codices übernehmen. Jean Mabillon war der erste, der sich mit diesem Phänomen beschäftigte und das Konzept der sogenannten Nationalschriften entwickelte.2 Dahinter verbarg sich die Vorstellung, dass jedes Volk, beispielsweise die Langobarden oder Westgoten, eine eigene Schrift eingebracht hätte. Scipione Maffei widerlegte diese These und etablierte den Stand, der noch heute gilt und von den unterschiedlichen regionalen Ausprägungen und Entwicklungen der römischen Schrift ausgeht.3 Diese entstehenden Minuskeln weisen signifikante Merkmale auf, so dass man sie von anderen unterscheiden und als eigene Regionalschrift betrachten kann. Die alemannische Minuskel ist in der Bodenseeregion heimisch und konnte sich vor allem in St. Gallen und auf der Reichenau entwickeln.4 Den Namen gab ihr der Schweizer Forscher Albert Bruckner, der sie aus den Verwirrungen der Benennungsversuche wie ‚langobardische Schrift‘, ‚merovingica‘ oder ‚karolingische unausgebildete Minuskel‘ löste.5 Sie ist die erste stilisierte Schrift, die wir in den überlieferten Zeugnissen der beiden großen Zentren St. Gallen und Reichenau finden; sie begleitet die Skriptorien, wenn diese ihre Arbeit aufnehmen. Unter ihrem ersten namentlich bezeugten Schreiber Winithar macht sie noch einen ungelenken Eindruck, da Buchstabenformen und -proportionen stark variieren und auch die Zeilenführung schwankt oder weitgehend ignoriert ist. Bereits in der ersten und einzigen erhaltenen Urkunde von der Hand Winithars sind die Schriftmerkmale der alemannischen Minuskel vorhanden (Abb. 19).
1 Vgl. die erste erhaltene Urkunde in alemannischer Minuskel: St. Gallen, Stiftsarchiv, Bremen 2 (ChLA II, 159). 2 Mabillon 21709, 45. 3 Vgl. das Vorwort von Maffei 1847, 1311. 4 Zur Einführung vgl. Berschin 22005c, 80. 5 Bruckner 1937, 7. © 2015, Maag. Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 3.0 Lizenz.
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Abb. 19: St. Gallen, Stiftsarchiv I 23 (ChLA I, 57); a. 761; Schenkung Hungaers an das Kloster St. Gallen. Winithar (Z. 11–12 uuinitharius) schreibt eine sehr individuelle alemannische Minuskel, die weder bei zeitgenössischen noch bei späteren Schreibern ihre Entsprechung findet. Hauptmerkmal der alemannischen Minuskel ist die nt Ligatur in Wortmitte und das 3-förmige g, das meist linksschräg auf der Zeile steht (Z. 8–9 argento). Typische Ligaturen sind ra (Z. 1 trado), re (Z. 3 credo) und ri (Z. 12 scripsi). Seltener sind die Ligaturen mit f (z.B. fi in Z. 10–11 firma).
Das a wird aus zwei Bögen gebildet, das sogenannte doppel-c a. Wichtigste Merkmale sind das meist linksschräge 3-förmige g und eine nt Ligatur in Wortmitte, bei der das t auf seinem Deckbalken liegt. Hinzu kommt die Vorliebe für bestimmte Ligaturen, z.B. re, ri, ro oder ti, te aber auch solche mit f, die Bernhard Bischoff als preziöse Verbindungen bezeichnete, da sie seltener gebraucht werden.6 Die paläographische Arbeit mag hier kleinteilig erscheinen, schlägt aber eine Brücke von der mikroskopischen zur makroskopischen Ebene. Nicht nur in den St. Galler Urkunden ist die Überlieferungslage günstig, auch einige frühe Codices sind unter der Mitarbeit Winithars in der zweiten Hälfte des achten Jahrhunderts entstanden.7 Obwohl es zahlreiche Schwächen im Latein Winithars gibt – und seine Schrift für uns ungezügelt und teils nachlässig erscheinen mag – teilen seine Zeitgenossen unsere Perspektive nicht.8
6 Bischoff 2009, 154. 7 Die Codices St. Gallen, Stiftsbibliothek Cod. 70, 238 und 907 sind sogar ausschließlich von der Hand Winithars. 8 Vgl. die Überschrift De voces (sic) varium animancium im Codex St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod.
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Ihm kommen organisatorische Arbeiten zu: Er versieht die einzelnen Lagen mit einer alphabetischen Signatur, so dass sie beim Binden korrekt aufeinander liegen. Hinzu kommt das Vorschreiben der ersten Zeilen, die von einem anderen Mitarbeiter fortgesetzt werden. Auch Kapiteleinteilungen und Überschriften werden von Winithar vorgenommen, meist in einer historisch korrekten Unziale, die keine Fremdelemente aus anderen Schriften aufweist. Winithar nimmt Aufgaben wahr, die man einem Skriptoriumsleiter zuschreiben würde, und erweist sich als wichtige Persönlichkeit des jungen St. Galler Skriptoriums. Wir verlassen St. Gallen und gehen auf die Reichenau, wo die alemannische Minuskel zu Beginn des 9. Jahrhunderts einen namentlich bekannten Vertreter hat. Es ist Reginbert von der Reichenau († 846), der uns über die dortigen Verhältnisse unterrichtet. Als Leiter des Skriptoriums und der Bibliothek war er unter vier Äbten bis zu seinem Tod tätig.9 Auf ihn geht der erste große Bibliothekskatalog (Brevis librorum) von 821/822 zurück,10 und sein Exlibris in Prosa und Versen ist in zahlreichen Handschriften zu finden.11 Doch vor allem ist er scriptor, wie er sich selbst nennt, und damit auch nutritor der alemannischen Minuskel, die unter seinen Händen zur Perfektion gelangt. Hier kann sie ihre größten Erfolge feiern und ist in Sammelhandschriften wie in liturgischen Codices vertreten. Das Erscheinungsbild der Schrift Reginberts und seiner Schreiber ist in der ersten Phase des Skriptoriums sehr geschlossen. Der Wirkung einer von Reginbert gestalteten Seite (Abb. 20) kann sich der Leser nicht entziehen: Eine mehrzeilige rote Initiale mit geometrischem Muster im Schaft fängt den Blick des Lesers und leitet über zu einer kunstvollen Capitalis quadrata: Pauci admodum dies, Wechsel zur zweiten Zeile in Unziale sunt, quod sancti ex urbe fratres cuius, dann die dritte Zeile in Capitalis Rustica (cuius)-dam mihi ioviniani commentariolos, Wechsel zur vierten Zeile transmiserunt. Rogantes, ut eius ineptiis responderem und zur Hauptschrift in Zeile fünf, et epycurum christianorum – hier als adjektivisch gebrauchtes Nomen sacrum geschrieben, eingeleitet durch das griechische χ und ρ – evangelico atque apostolico rigore contererem. Es ist der Anfang des Hieronymus Werkes Adversus Iovinianum, der hier in vier verschiedenen Schriften von Reginbert auf höchstem Niveau umgesetzt wird. Seine Hauptschrift, die alemannische Minuskel, besitzt einen hohen Wiedererkennungseffekt, nicht zuletzt durch die gleichförmigen Buchstabenproportionen und die unten nach links gebogenen Ligaturen re und ro, beides zu sehen in Zeile 9, im Wort probare.
225, p. 132 (CLA VII, 928). Die Form varium lässt sich vielleicht durch eine Verwechslung der Deklinationsklasse erklären und würde sich dann auf animancium beziehen. 9 Lehmann 1918, 258. 10 Der Katalog lag in einem heute verschollenen Rotulus vor. Lehmanns Edition (vgl. ebd. 244) beruht auf einer Abschrift des 17. Jahrhunderts. 11 Zur prosaischen und metrischen Form des Exlibris vgl. Berschin 2005a, 169–178, hier 169–171.
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Abb. 20: Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Aug. perg. 94, fol. 2v; ca. a. 830; Hieronymus Adversus Iovinianum, apolegeticum ad Pammachium. Die Initiale ist (wie Z. 1–3 der Auszeichnungsschriften) in roter Tinte gehalten und Schaft in geometrisches Muster. Die Hierarchie der Schriften besteht aus Capitalis quadrata, Unziale und Capitalis rustica. Auch hier ist Reginberts formschöne alemannische Minuskel zu sehen (Z. 5), die trotz der vielen Ligaturen nichts von ihrem hohen kalligraphischen Standard einbüßt.
In einer späteren Phase erleben wir die Ankunft der karolingischen Minuskel auf der Reichenau. Reginbert und die älteren Schreiber zeigen sich gegen diese Entwicklung unempfindlich und behalten die alemannische Minuskel bei. Doch eine neue Schreibergeneration setzt die Innovation um und schreibt parallel zur Hausschrift karolingische Minuskel. Bei den Auszeichnungszeilen bleibt Reginbert jedoch federführend und verwendet am häufigsten seine stilisierte Capitalis rustica (vgl. Abb. 20, Z. 3–4). Er ist der letzte Vertreter der alemannischen Minuskel und mit ihm stirbt sie im Jahre 846 auf der Reichenau. Doch die gewonnene Sicherheit in den Auszeichnungsschriften, das hohe kalligraphische Niveau und die umfassende Bibliothek blieben. Das schon damals bedeutende Skriptorium brachte es in den folgenden Jahrhunderten – nicht zuletzt wegen seiner Buchmalerei – zu großem Ansehen. Doch nicht nur im Bodenseegebiet war die alemannische Minuskel verbreitet. Ihre erste Spur fernab Alemanniens entdeckte Bischoff in Freising, im Bestand der ältesten Handschriften, die das ansässige Skriptorium im ausgehenden 8. Jahrhundert hervorbrachte.12 Auch in seiner mustergültigen Rekonstruktion der Lorscher
12 Bischoff 21960, 63.
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Bibliothek wird Bischoff auf eine alemannische Hand aufmerksam.13 Sie taucht in den frühesten Handschriften auf, die von Bischoff als „älterer Lorscher Stil“ gefasst werden. Er charakterisiert die Schrift in dieser ersten Phase als „runden Typ“ und betont den Einfluss, den einige insular geschulte Schreiber in Lorsch hinterlassen haben. Als Auszeichnungsschrift begleitet diesen Stil eine „stäbchenhafte [Capitalis] Rustica“. Rund 25 Handschriften gehören zu dieser Gruppe, deren Entstehungszeit Bischoff um das Jahr 800 ansetzt.14 Jüngste Forschungsergebnisse zeigen, dass der ältere Lorscher Stil bereits in den 70er Jahren des 8. Jahrhunderts im Skriptorium zu belegen ist.15 Da dem Bestand dieser Handschriften eine chronologische Ordnung fehlt, sich also weder Jahresangaben noch Nennungen der Abbatiate finden lassen, ist die Forschung auf die paläographische Analyse verwiesen. Die alemannische Spur sah Bischoff im Codex Rom, BAV, Pal. lat. 207 (Abb. 21).
Abb. 21: Rom, BAV, Pal. lat. 207, fol. 56r; saec. VIII–IX; Augustinus Tractatus in evangelium Iohannis. Die alemannische Hand beginnt in Z. 2 bei iustius und fällt zunächst durch ihren runden Duktus ins Auge. Von den Hauptmerkmalen sind nur noch cc-a und 3-förmiges g in Z. 6 gloriam und die Ligaturen mit r (Z. 4 iudicare und Z. 6 gloriam) zu erkennen. Eine insular beeinflusste Hand ergänzt mit der typischen ‚Lorscher Ohrmarke‘ hl [hic lege] mit Kürzungsstrich durch die Schäfte eine Textpassage. Das Verweiszeichen hd [hic deest] ist mittig ergänzt (hier nicht zu sehen). © [2014] Biblioteca Apostolica Vaticana
Die karolingische Minuskel (Z. 1) wird in der zweiten Zeile ab iustius von der alemannischen Minuskel abgelöst. Auffällig sind zunächst die breiten Buchstabenformen die im Vergleich zum ersten Schreiber raumgreifend wirken. Die Kennzeichen der alemannischen Minuskel (bis auf die nt Ligatur in Wortmitte) finden sich bereits im Wort gloriam (Z. 6). Das linksschräge 3-förmige g, eine typische ri Ligatur und das cc-a.
13 Bischoff 1989, 31. 14 Ebd., 35. 15 Vgl. auch den Beitrag von Tino Licht (in diesem Band), 145–162; zur Datierung der ältesten karolingischen Minuskel vgl. Licht 2012, 337–346.
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Abb. 22: Rom, BAV, Pal. lat. 218, fol. 58v; saec. VIII–IX; Augustinus In Iohannis epistulam ad Parthos tractatus X. Die karolingische Minuskel des Schreibers ist geprägt von frühen bzw. regionalen Merkmalen. Am auffälligsten ist die Nutzung der preziösen Verbindung fi in Z. 3 finem, ebenso eine nt Ligatur in Wortmitte in montem (Z. 1), wie sie in der alemannischen Minuskel charakteristisch ist. © [2014] Biblioteca Apostolica Vaticana
Hier sind die Merkmale und auch der runde, breite Duktus noch gut zu erkennen, was sich jedoch im Laufe der Handschrift ändert. Der alemannische Schreiber passt sich seiner Umgebung an, benutzt wenige Ligaturen und gibt schließlich auch das typische offene 3-förmige g auf, um die karolingische Form zu verwenden.16 Ein Blick auf die karolingischen Hände im Codex zeigt, dass diese bisweilen eine nt Ligatur in Wortmitte verwenden, wie in der alemannischen Minuskel üblich.17 Eine weitere These soll Bischoff Raum zur Erklärung der gehäuft auftretenden alemannischen Symptome geben. Im Codex Pal. lat. 218 sieht Bischoff eine Abschrift, die vielleicht von einer alemannischen Vorlage stammen könnte, da sie preziöse Verbindungen enthält, also Ligaturen mit f, in diesem Fall fi.18 Die Häufigkeit fällt ins Auge und auch die Sicherheit in der Umsetzung zeigt, dass der Schreiber diese Ligatur beherrscht. Auf fol. 58v ist sie zu sehen in finem, fidem, magnificabant, finem und confitetur. Hinzu kommt eine weitere alemannische Spur (Abb. 22), die mittlerweile vertraute nt Ligatur in montem, korrigiert zu monte. Doch es gibt noch weitere Codices mit alemannischen Schreibern oder solchen, die zwar karolingische Minuskel schreiben, aber gelegentlich alemannische Symptome zeigen. Ein Beispiel für den ersten Fall, gibt der Palatinus latinus 487. Hier sind auf fol. 3v die ersten Zeilen von einem alemannischen Schreiber vorgeschrieben. Liest man den Anfang, so hat man alle Kennzeichen zusammen: Das offene 3-förmige g, das cc-a, die Ligatur fi, die nt Ligatur in Wortmitte und eine der häufigen Ligaturen mit r. Der zweite Fall, in dem alemannische Symptome in der karolingischen Minuskel zu sehen sind, ‚versteckt‘ sich in Bischoffs Angaben häufig unter Beschreibungen wie „flüchtige Hand“ oder „fortgeschrittene Hand“.19
16 Vgl. Rom, BAV, Pal. lat. 207, fol. 73r, Z. 11 intellegimus. Die Handschrift ist wie die folgenden – geordnet nach Bibliotheksstandort – in der Bibliotheca Laureshamensis digital der Universitätsbibliothek Heidelberg einzusehen: http://bibliotheca-laureshamensis-digital.de/de/virtuelle_bibliothek. html (Stand: 23.11.2012). 17 Ebd., fol. 79v. 18 Bischoff 21989, 31. 19 Ebd., 31–32.
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Der Codex Palatinus latinus 1753 enthält neben alemannischen Komponenten in der karolingischen Minuskel noch eine weitere Besonderheit: Im Vorsatz fällt eine kleine Zeile ins Auge, wieder eine Federprobe: Ad nexique globum. Es ist der Anfang des bekannten Merkverses, der wenn man ihn vollendet, alle Buchstaben des lateinischen Alphabetes enthält. Adnexique globum ziphyri freta kana secabant. „Und die aschgrauen Meerengen durchschnitten die Masse des [an Sizilien] hängenden Zephyrium[-Gebirges in Brutium]“. Dieses Pangramm wird zum ersten Mal fassbar in der Grammatik Julians von Toledo († 690) und war im Mittelalter weit verbreitet.20 Auffällig ist jedoch die große Anzahl der Handschriften in St. Gallen, die diesen Vers tragen, wie Karl Schmuki nachweisen konnte.21 Es ist im Lorscher Frühbestand der einzige Codex, der auf diese Weise eine Affinität zu St. Gallen zeigt. Bei genauer Betrachtung der ältesten Lorscher Produktion lässt sich feststellen, dass der alemannische Einfluss nicht marginal, sondern in zahlreichen Handschriften sichtbar ist. Die folgenden enthalten mindestens eine, teils auch mehrere Hände mit alemannischen Symptomen: Die in Rom verbliebenden Palatini latini 170, 195, 207, 218, 238, 487, 560, 814, 822, 1746, 1753 und der nach Heidelberg zurückgekehrte Pal. lat. 864.22 Die Verbindungen des Lorscher Skriptoriums zum alemannischen Raum sind in der Zeit vor 800 nur durch den paläographischen Befund nachzuweisen. Später kann man den konkreten Austausch des Klosters Lorsch mit St. Gallen und der Reichenau belegen.23 Der auf der Reichenau entstandene Augustinuscodex mit dem Werk De Genesi contra Manichaeos enthält ein nachträglich eingeheftetes Blatt in jüngerem Lorscher Stil. Dieser ist am x zu erkennen, das am Fuß der Rechtsschräge nach rechts gebogen wird.24 Das Blatt ist beidseitig beschrieben und ergänzt eine fehlende Textstelle. Am Ende des Blattes findet sich eine Arbeitsanweisung und ein Gruß: et sic fortasse, sicut in superiora (sic) pagina continetur; vale frater fidelissime datto. Die Zeile et sic fortasse gibt die Stelle im Text an, nach der der fehlende Text eingesetzt werden soll. Dann folgt die Arbeitsanweisung „wie auf der vorigen Seite enthalten“. Dann ein „leb wohl, teuerster Bruder Tatto“. Der angesprochene Tatto ist ein Gelehrter auf der Reichenau, der um das Jahr 817 an einer kritischen Ausgabe der Benediktsregel für seinen Lehrer Reginbert beteiligt war und sich vom jungen Walahfrid Strabo ein Gedicht für den Trierer Chorbischof Thegan schreiben ließ.25 In den 30er Jahren wurde er Abt in Kempten und starb dort im Jahre 847. Der Abbatiatsbeginn Tattos
20 Berschin 2005b, 392. 21 Schmuki 2006, 42. 22 Exemplarisch seien hier angeführt: Pal. lat. 170, foll. 23r, 28v; Pal. lat. 195, fol. 12v; Pal. lat. 207, foll. 56r, 73r, 79v (vgl. Bischoff 21989, 31); Pal. lat. 218, foll. 17v, 56r, 86v (zu fol. 86v vgl. ebd. 31); Pal. lat. 238, fol. 8v; Pal. lat. 487, foll. 13v, 20v; Pal. lat. 560, foll. 25r, 64r, 89r; Pal. lat. 814, fol. 118v; Pal. lat. 822, foll. 59v, 127r, 148v; Pal. lat. 864, fol. 26v; Pal. lat. 1746, fol. 81v; Pal. lat. 1753, fol. 40r. 23 Vgl. Holder 1970, 429–430 und Bischoff 21989, 30. 24 Vgl. die Handschrift Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Aug. perg. 187, fol. 11v, Z. 9 exercemur. 25 Berschin 1991, 172 und 226.
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bildet einen terminus ante quem für diesen Kurzbrief und die Textergänzung. Dieser Fall dokumentiert das Bemühen um Texte, die Wichtigkeit eines vollständigen und korrekten Textes, ganz im Sinne der karolingischen Correctio. Dass dieser Anspruch auch noch unter Karls Nachfolgern an der grammatikalischen Wirklichkeit scheitern kann, zeigt die metaplastische Deklination von superiora, da nicht der grammatisch korrekte Ausgang der konsonantischen Deklination -e gewählt wird, sondern der Ausgleich zur a-Deklination erfolgt. Klagen über schlechten Stil und mangelhafte Grammatik äußert auch ein Lorscher Schreiber am Ende des 12. Jahrhunderts. Es ist der erste Schreiber der Chronik im Codex Laureshamensis, der zwischen 1170 und 1175 nach einer Urkundenabschrift über Grammatik aber auch über Schrift reflektiert.26 Er beschreibt die vorgefundene Schrift in manchen Dokumenten als so geartet, dass sie kaum ab studiosis earum legi dinoscique valeant, dass sie also kaum von Experten oder Kundigen derselben gelesen und verstanden werden können. Dass die frühen Lorscher Codices bereits im 11. Jahrhundert Leseschwierigkeiten bereithielten, zeigt der Eingriff eines weiteren Schreibers im Pal. lat. 218 auf fol. 56r. Die ti Ligatur, die sich aus einem epsilonförmigen t und einem unter die Zeile geführten i zusammensetzt, ist in vielen Regionalschriften, auch in der alemannischen Minuskel, präsent und oft genutzt. An der genannten Stelle ist sie zweimal zu sehen, doch der spätere Benutzer war nicht mehr an diese Ligatur gewöhnt und schrieb die Einzelbuchstaben über die für ihn problematische Stelle. Neben der Eigenproduktion gelangten auch Codices aus anderen Skriptorien in die Lorscher Bibliothek, wie beispielsweise der Palatinus latinus 245 (Abb. 23). Es ist der erste Band der Moralia in Iob Gregors des Großen († 604), der um 800 in St. Gallen in alemannischer Minuskel geschrieben ist. Das zweitälteste Lorscher Bücherverzeichnis, entstanden zwischen 830 und 840, registriert den ersten Band der Moralia und fünf weitere Bände, so dass der Leser zuerst von einer sechsbändigen Ausgabe ausgehen mag, also in sex codicibus wie es Gregor selbst für sein Werk vorgesehen hatte.27 Addiert man jedoch die einzelnen Bücher in den Bänden, so muss man eine siebenbändige Ausgabe voraussetzen, wie sie ab 800 verbreitet war. Walter Berschin hat in seinen zahlreichen Studien zur Schrift- und Literaturlandschaft im Bodenseeraum auch auf ein St. Galler Ausleihverzeichnis des 10. Jahrhunderts verwiesen, das den ersten Band der Moralia – ebenfalls Teil einer siebenbändigen Ausgabe – als entliehen meldet.28 Lediglich den letzten Band in alemannischer Minuskel (St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 210) konnten die St. Galler in ihrer Bibliothek halten. Vermutlich verlieh das Kloster deshalb den ersten alemannischen Band, weil er zu Zeiten Abt Grimalts (841–872), Erzkanzler Ludwigs des Deutschen, in die Jahre gekommen war. Die alte Ausgabe musste einer „modernen“, karolingischen weichen.
26 Vgl. Codex Laureshamensis, ed. Glöckner, III, c. 4, 273. 27 Gregorius Magnus, Moralia in Iob, ed. Adriaen, 3. 28 Berschin 22005c, 79.
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Abb. 23: Rom, BAV, Pal. lat. 245, fol. 2r; saec. VIII–IX; Gregorius Magnus Moralia in Iob. Der Codex enthält die für den Bodenseeraum typische Regionalschrift, die alemannische Minuskel mit den folgenden Merkmalen: Das 3-förmige g ist in Z. 2 igitur zu sehen, die charakteristische nt Ligatur in Wortmitte bei intellectum (Z. 2–3). Die Federprobe in der letzten Zeile nennt Lorsch als Bibliotheksheimat. © [2014] Biblioteca Apostolica Vaticana
Dem in Lorsch angekommenen Palatinus latinus 245 wird seine neue Bibliotheksheimat durch eine Federprobe auf fol. 2r eingeschrieben (Abb. 23). Sie gibt den Text des Lorscher Exlibris wieder, das in vielen Codices in großer Formelvielfalt durch die Jahrhunderte zu beobachten ist. Der Eintrag wiederholt das Exlibris auf dem verlorenen Schmutzblatt, auf dem es häufig anzutreffen ist. Der Satz bricht mitten im Text ab: Codex de monasterio sancti nazarii quod nomi – ergänzt zu (nomi)-natur Lauresham.
Zusammenfassung Erst im 9. Jahrhundert lassen sich Verbindungen zwischen dem Kloster Lorsch und den Bodenseeklöstern nachweisen, obwohl ein Austausch schon zuvor stattgefunden haben muss. Betrachtet man die frühe Lorscher Buchproduktion, so kann man folgendes festhalten: Das Skriptorium sucht noch nach dem idealen Layout einer Seite und steht erst am Anfang der Optimierung von Design und Logistik. Vielfach gibt es Schreiberwechsel, doch nicht nur von Lage zu Lage, sondern auch auf derselben Seite. Unterschiede in Schrift, Stil und Schriftgrad zeigen, dass sich im Skriptorium noch keine ‚Norm‘ durchgesetzt hat.29 So ist es auch zulässig, dass sich Regionalschriften oder Merkmale derselben in die frühen Lorscher Codices mischen. Was nun ist in den frühen Handschriften in Lorsch zu sehen und wie Bischoffs Einschätzungen
29 Vgl. Rom, BAV, Pal. lat. 207, fol. 73r.
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zu werten? Es kann festgehalten werden, dass es mehrere alemannische Hände in den Lorscher Codices gibt und rund zehn Schreiber, die in ihrer karolingischen Minuskel alemannische Merkmale führen.30 Zwei Drittel der Handschriften sind von alemannischen Symptomen geprägt; das Ergebnis legt nahe, dass sich die Spuren nicht durch alemannische Vorlagen erklären, da die Schreiber zu regelmäßig von den Gewohnheiten Gebrauch machen. Wie der Befund zu erklären ist, muss die weitere Forschung zeigen, die hier erst am Anfang steht und durch die Leistungen Bischoffs und der Digitalisierung ideale Arbeitsbedingungen vorfindet. Zu diesem Zeitpunkt bleibt nur festzuhalten, dass in der Frühphase des Lorscher Skriptoriums neben dem insularen Einfluss der alemannische der stärkste ist.
Quellen Albert Bruckner/Robert Marichal, Chartae latinae antiquiores. Facsimile-Edition of the Latin Charters Prior to the Ninth Century, Bd. 2, Olten/Lausanne 1956. Codex Laureshamensis, Erster Band: Einleitung, Regesten, Chronik, ed. Karl Glöckner, Darmstadt 1929. Scipione Maffei, „Vorwort“, in: Jacques-Paul Migne, Patrologia Latina, Bd. 70, Paris 1847. Gregorius Magnus, Moralia in Iob libri I–X, ed. Marc Adriaen, CCSL 143, Turnhout 1979.
Literatur Berschin (1991): Walter Berschin, Biographie und Epochenstil im lateinischen Mittelalter, Bd. 3: Karolingische Biographie 750–920 n. Chr., Quellen und Untersuchungen zur lateinischen Philologie des Mittelalters 10, Stuttgart. Berschin (2005a): Walter Berschin, „Vier karolingische Exlibris“, in: ders., Mittellateinische Studien 1, Heidelberg, 169–178. Berschin (2005b): Walter Berschin, „Lachmann († 1851) und der Archetyp“, in: ders., Mittellateinische Studien 1, Heidelberg, 389–394. Berschin (22005c): Walter Berschin, Eremus und Insula. St. Gallen und die Reichenau im Mittelalter – Modell einer lateinischen Literaturlandschaft, Wiesbaden. Bischoff (21960): Bernhard Bischoff, Die südostdeutschen Schreibschulen und Bibliotheken in der Karolingerzeit, 1, Die bayrischen Diözesen, Wiesbaden. Bischoff (21989): Bernhard Bischoff, Die Abtei Lorsch im Spiegel ihrer Handschriften, Geschichtsblätter Kreis Bergstrasse, Sonderband 10, Lorsch. Bischoff (42009), Paläographie des römischen Altertums und des abendländischen Mittelalters, Grundlagen der Germanistik 24, Berlin.
30 Von den 25 Handschriften im älteren Lorscher Stil sind der Forschung bereits 19 in der Bibliotheca Laureshamensis digital zugänglich, so dass diese die Basis der bisherigen Recherchen bilden konnten (Stand: November 2012).
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Bruckner (1937): Albert Bruckner, Paläographische Studien zu den älteren St. Galler Urkunden, ND Turin/St.Gallen (vorher in: Studi Medievali N. S. 4 [1931], 119–130, 360–370, 6 [1933], 279–293). Holder (1970), Die Reichenauer Handschriften 1, Die Handschriften der Badischen Landesbibliothek in Karlsruhe 5, Wiesbaden. Lehmann (1918): Paul Lehmann, Mittelalterliche Bibliothekskataloge Deutschlands und der Schweiz 1, Die Bistümer Konstanz und Chur, München. Licht (2012): Tino Licht, „Die älteste karolingische Minuskel“, Mittellateinisches Jahrbuch 47, 337–346. Mabillon (21709): Jean Mabillon, De re diplomatica libri VI, Paris. Schmuki (2006): Karl Schmuki, „Adnexique globum zephyri…: Federproben“, in: Peter Erhart/Lorenz Hollenstein (Hgg.), Mensch und Schrift im frühen Mittelalter, St. Gallen, 41–47.
Martin Hellmann
Stenographische Technik in der karolingischen Patrologie Um die 800 Handschriften lassen sich benennen, die tironische Noten, Schriftbeispiele der lateinischen Stenographie enthalten.1 Die überwiegende Anzahl stammt aus dem 9. Jahrhundert. Noch wenig untersucht ist die Frage, wer die Personen im karolingischen Buchwesen waren, die sich der Mühe unterzogen haben, dieses Schriftsystem mit vielen tausend Zeichen und einer komplexen Morphologie zu erlernen und sinnvoll einzusetzen, die Frage, welches intellektuelle Profil mit der stenographischen Schreibpraxis der Karolingerzeit verbunden war. Am deutlichsten treten hier die Grammatiker hervor, deren Arbeit sich in der sprachlichen Erklärung, der Glossierung, vor allen Dingen der klassischen lateinischen Literatur manifestiert. Ein zweiter wichtiger Bereich für den Einsatz der Stenographie zeichnet sich in dem mehr technischen Feld der Buchherstellung ab, besonders bei der für die karolingische Buchkultur so zentralen Correctio, die man mit einem allgemeineren zeitgenössischen Terminus technicus auch Requisitio nennen könnte, der ganz genauen philologischen Prüfung und Verbesserung eines abgeschriebenen Textes. Im Hinblick auf die thematische Ausrichtung dieser Tagung, insbesondere ihren impliziten programmatischen Gegenstand, die Lorscher Bibliothek, nehme ich einen dritten Bereich in den Fokus, die historische Theologie. Exzerpte aus der Väterliteratur, meist auf frei gebliebenen Seiten am Ende eines Codex, kommen unter den erhaltenen Schriftzeugnissen der tironischen Noten mehrfach vor.2 Die Beispiele zeugen nicht nur von der inhaltlichen Auseinandersetzung mit den Texten, sondern auch davon, dass eine Reihe von Gelehrten, die sich mit den Kirchenvätern beschäftigten, der Stenographie mächtig waren. In der Handschrift Paris, Bibliothèque nationale de France, Nouv. acq. lat. 1595, fol. 136v, findet man Exzerpte aus der AugustinusVita von Possidius. Unter dem Titel ‚Programma eius‘ hat der betreffende Gelehrte beispielsweise das Dichter-Epitaphium von Augustinus herausgeschrieben, das Possidius (Vita sancti Augustini c. 31,7) überliefert: Vivere post obitum vatem vis nosse viator, Quod legis, ecce, loquor, vox tua nempe mea est.
1 Eine Liste von etwa 600 Handschriften ist in Hellmann 2000, 219–264, veröffentlicht und wird seitdem kontinuierlich von mir weitergeführt. 2 Bern, Burgerbibliothek, Cod. 109, foll. 136r–v, vgl. Contreni 2003, 373; Bern, Burgerbibliothek, Cod. 611, foll. 90v–91r, vgl. Schmitz 1891. © 2015, Hellmann. Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 3.0 Lizenz.
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„Ob ein Dichter nach dem Tod weiterlebt, willst du wissen, Passant? Schau! Wenn du vorliest, spreche ich, deine Stimme ist dann nämlich die meine.“ Es ist das vierte in einer Reihe von sechs immer kürzer ausfallenden Exzerpten, von denen Châtelain die ersten fünf identifiziert und in seinem Lehrbuch der tironischen Noten herausgegeben hat.3 Das sechste und letzte ist am linken Seitenrand hinzugesetzt und auf Châtelains Tafel nicht zu erkennen. Es betrifft das Alter von Augustinus nach Possidius (Vita sancti Augustini c. 31,1): LXX sex vixit. „Er wurde 76.“ Die vorliegende Untersuchung widmet sich der Überlegung, ob in einem patrologischen Großprojekt, dem Aufbau einer zentralen Kirchenväterbibliothek in Lorsch, ihrer Pflege und Benutzung, stenographische Technik eine Rolle spielte. Ich suchte daher nach Notizen, die sich mit den Inhalten der Texte auseinandersetzen, weniger mit ihrer sprachlichen Gestalt. Doch die tironischen Noten in Lorscher Handschriften, die im Mittelpunkt dieser Untersuchung stehen sollen, hielten auch noch Überraschungen bereit, die über diesen eng gefassten thematischen Rahmen hinausgehen. Um eine Kirchenväterbibliothek aufzubauen, benötigt man unter anderem die Vita sancti Augustini von Possidius mit ihrem Verzeichnis der Werke des heiligen Augustinus, dem Indiculum, oder – wie es in der Handschrift Kiel, Universitätsbibliothek, Cod. ms. KB 144, fol. 36v, heißt – dem Indicium omnium librorum sancti Augustini.4 Zwar handelt es sich um eine Handschrift, die nicht in Lorsch, sondern nach Bernhard Bischoff in Nordostfrankreich, wahrscheinlich in der Umgebung von SaintAmand geschrieben wurde.5 Doch der nicht gut erhaltene Besitzvermerk auf der Rückseite der Handschrift (fol. 44v) bekräftigt, was schon zuvor vermutet wurde, dass es sich nämlich um ein Buch der Lorscher Bibliothek handelt, das auch in den Bibliothekskatalogen verzeichnet ist.6 Die eine oder andere tironische Note kommt in den Titeln des Indicium vor, stets am Zeilenende und meist als Abschluss eines Titels, zum Beispiel fol. 42v: De versu psalmi CIIII ‚lętetur cor quaerentium dominum‘. Das Wort dominum habe ich ergänzt, damit der Anfang des Psalmverses verständlich wird, das vorausgehende Wort quaerentium ist als tironische Note geschrieben. Als Zusammensetzung aus der Stammnote von quaerit (CNT 29, 23) und der Endungsnote entium (CNT 14,43) ist es keine ganz einfache Notenbildung und beweist Schreiberfahrung. Ihre Funktion ist eine zweifache: zum Einen wird der Platz am Zeilenende optimal ausgenutzt, zum Anderen wird angedeutet, dass der anzitierte Psalmvers noch weitergeht. Zweifellos ein mageres Ergebnis. Dies kann nicht die Motivation für den immensen Aufwand gewesen sein, den es für den Schreiber bedeutete, die Stenographie zu erlernen.7
3 Châtelain 1900, Tafel 3; Online-Digitalisat der Handschrift unter Bibliothèque nationale de France. 4 Über die Zugehörigkeit des Indiculum zur Vita vgl. Berschin 2005, 1–7. 5 Bischoff 1998, Nr. 1844. 6 Hoffmann 1999, 553; Hoffmann 2004, 176; Palmer 1998, 98, 238 (Nr. G 7) und 280; Häse 2002, 238. 7 Siehe die Zusammenstellung der tironischen Noten dieser Handschrift im Anhang S. 188.
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Als Ausgangspunkt des patrologischen Prozesses nehme ich das Lesen. In der Sankt Galler Handschrift, Stiftsbibliothek, Cod. 171, einer Sammlung verschiedener Augustinus-Schriften, die unter dem Abbatiat Grimalts 841–872 geschrieben wurde, hat ein weniger versierter Schreiber, aber umso mehr inhaltlich interessierter Leser seine Notizen angebracht.8 Er hat die Kurzschrift vielleicht gelernt, um sie als nützliches Handwerkzeug zu verwenden. Auf p. 139 befinden sich drei typische stenographische Bemerkungen aus seiner Feder. Auf der vorausgehenden Seite schreibt Augustinus (De baptismo IV 19): Ad Corinthios enim singula enumerat, in quibus singulis subauditur quod regnum dei non possidebunt. Nolite, inquid, errare, neque fornicatores neque idolis servientes neque adulteri neque molles neque masculorum concubitores neque fures neque avari neque ebriosi neque maledici neque rapaces regnum dei possidebunt. „Im Korintherbrief (I Cor 6, 9–10) zählt Paulus im Einzelnen auf, wer alles das Reich Gottes nicht besitzen wird. Täuscht euch nicht, sagt er, weder die Hurenböcke, noch die Götzenverehrer, noch die Ehebrecher, noch die Verwöhnten, noch die Kinderschänder, noch die Diebe, noch die Geizigen, noch die Trunkenbolde, noch die Lästerer, noch die Räuber werden das Reich Gottes besitzen.“ Ein Stück weiter, an der ersten annotierten Stelle auf p. 139 heißt es dann: Nec dubitandum est quidem poenas ipsas, quibus cruciabuntur qui regnum dei non possidebunt, pro diversitate criminum esse diversas et alias aliis acriores. „Zwar ist kein Zweifel, dass die Strafen, mit denen diejenigen gequält werden, die das Reich Gottes nicht besitzen werden, aufgrund der Unterschiedlichkeit der Vergehen auch verschieden sind, und die einen härter als die anderen.“ – Optima ratio. „Sehr gute Überlegung.“ So lautet das Urteil des Augustinus-Lesers in der Randnotiz.
Abb. 24: St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 171, p. 139, Ausschnitt (www.e-codices.unifr.ch).
Sed tamen „Aber dennoch“, schreibt Augustinus wenige Zeilen weiter unten, et non possidendum regnum dei tantundem valet ex viciis illis quod elegeris mitius, quantum vel plura vel unum quod perspexeris gravius. Et quia illi possessuri sunt regnum dei quos ad dexteram constituet ille iudex, nec eis qui ad dexteram constitui non merebuntur aliquid aliud quam ad sinistram esse remanebit. „Das Reich Gottes nicht zu besitzen bedeutet genauso viel aufgrund von Fehlern, die du milder beurteilen würdest, wie das Viele oder das Eine, das du für schwerwiegender erachtest. Und weil die das
8 Bruckner 1935–1978, Bd. 3, 77–78.
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Reich Gottes besitzen werden, die er als Richter zu seiner Rechten aufstellt, bleibt denen, die es nicht verdienen zu seiner Rechten aufgestellt zu werden, nichts anderes übrig, als sich zu seiner Linken zu finden.“ – Terribilis sententia. „Schrecklich ist dieser Satz.“ Der Leser hadert mit der oftmals erschütternden Konsequenz, wenn die Gesetze der Logik allzu streng auf religiöse Fragen angewandt werden.
Abb. 25: St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 171, p. 139, Ausschnitt (www.e-codices.unifr.ch).
Weiter unten auf derselben Seite wird beispielhaft die Trunksucht behandelt: Vel ut ebriositas… Hier notierte der Leser am Rand lediglich das Thema: De ebrietate. „Über die Trunksucht.“ Auch ihm kann man fundierte Kenntnisse der tironischen Noten attestieren, denn die äußerlich dreiteilige Note ebrietas (CNT 70, 17), bei der die Stammnote in zwei unflektierbare Bestandteile zerfällt, zu denen als dritter die flektierbare Endungsnote tritt, gehört gewiss nicht zum Standardrepertoire.
Abb. 26: St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 171, p. 139, Ausschnitt (www.e-codices.unifr.ch).
Eine beachtliche Anzahl, nämlich 32 von insgesamt 67 Notizen in dieser Handschrift, sind inhaltliche Urteile.9 Die häufigste Notiz heißt utilis ratio „die Überlegung ist nützlich“, wie beispielsweise p. 111, wo es heißt (De baptismo III 15): Sacramenta tamen si eadem sunt ubique, sunt integra, etiam si prave intelleguntur et discordiose tractantur. „Die Sakramente, wenn es ein und dieselben sind, sind immer und überall voll gültig, auch wenn sie falsch verstanden oder zwieträchtig behandelt werden.“ Auch utillima ratio „die Überlegung ist äußerst nützlich“ kommt als Urteil vor, ferner utilis quaestio
9 Siehe die Zusammenstellung der Notizen im Anhang S. 188.
Stenographische Technik in der karolingischen Patrologie
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„die Fragestellung ist nützlich“, utilis comparatio „der Vergleich ist nützlich“, optima comparatio „der Vergleich ist sehr gut“, wie oben bereits erwähnt optima ratio „die Überlegung ist sehr gut“ und schließlich optimum exemplum „das Beispiel ist sehr gut“. Markierungen, mit denen eine Stelle ohne Urteil inhaltlich hervorgehoben wird, wie p. 142 de latrone „über den Räuber“ oder das erwähnte de ebrietate „über die Trunksucht“, sind mit 25 Beispielen vertreten. Arbeitstechnische Markierungen wie p. 119 usque hic „bis hier“ an einem Buchende fand ich an sechs Stellen. Das Juwel ist eine kommentierende Notiz auf p. 363 zu folgender Augustinus-Stelle (De spiritu et littera 7): Ideo Paulus apostolus qui cum Saulus prius vocaretur, non ob aliud, quantum mihi videtur, hoc nomen elegit, nisi ut se ostenderet parvum. „Der Apostel Paulus, der zuvor ja Saulus hieß, hat, wie mir scheint, diesen Namen nur gewählt, um klein zu erscheinen.“ Die inhaltliche Hervorhebung dieser Stelle geschah mit einem Paragraphenzeichen und in Langschrift: Quur Saulus vocatus est Paulus. „Warum Saulus sich Paulus nannte.“ Darunter steht in Kurzschrift der Kommentar quia paulus diminutivum est „weil ‚paulus‘ eine Verkleinerungsform ist“. Bemerkenswert erscheint es, dass Albert Bruckner seiner Beschreibung der Handschrift in den ‚Scriptoria medii aevi helvetica‘ eine Abbildung beigegeben hat, die genau diese Notiz zeigt.10 Sie war bis zur Digitalisierung im Rahmen der e-codices die einzige aus dieser Handschrift abgebildete Notiz. Insofern wurden bei der Lektüre der übrigen Notizen meine Erwartungen einerseits enttäuscht, doch ergaben sich auf der anderen Seite überraschende Querverbindungen. Das Anbringen inhaltlicher Urteile und thematischer Hervorhebungen mit tironischen Noten – als Form, sich Kirchenvätertexte zu erschließen – hatte Tradition. Insbesondere ist an die in Bobbio im 7. oder 8. Jahrhundert entstandenen Notizen zu den Augustinus-Predigten in der Handschrift Rom, BAV, Vat. lat. 5758 zu erinnern. Utilis ad legendum „nützlich zum Lesen“ ist dort mehrfach zu einzelnen Predigten vermerkt, brevis et bona „kurz und gut“ zu anderen. Mitunter tritt zum Urteil eine Themenangabe hinzu: brevis et bona, ubi dicit de humilitate et confessione „kurz und gut, es geht um Demut und Bekenntnis“. An anderen Stellen wurde bloß der Titel einer Predigt am Rand stenographisch wiederholt und somit herausgestellt. Der Zweck derartiger Notizen besteht meines Erachtens im Herausziehen der inhaltlichen Information, die dann beispielsweise in ein Kapitelverzeichnis, eine Capitulatio aufgenommen werden kann. Gut zu erkennen in der folgenden Beispielnotiz zu einer Stelle der Enarrationes in psalmos im Codex Rom, BAV, Vat. lat. 5757: de eo quod dicit ‚semel nati sunt et bis mortui‘ „davon dass es heißt ‚einmal wurden sie geboren, nur tot sind sie zweimal‘“ – gemeint sind damit die von Jesus Wiedererweckten.11 Hiermit komme ich zu einem weiteren Eckpunkt des patrologischen Prozesses, dem Gliedern der Texte. Es fällt auf, dass die thematischen Hervorhebungen sowohl
10 Bruckner 1935−1978, Bd. 3, Tafel 7. 11 Hellmann/Weidmann 2011.
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Abb. 27: Rom, BAV, Pal. lat. 246, fol. 15r, Ausschnitt. © [2014] Biblioteca Apostolica Vaticana
in den karolingischen Beispielen aus Sankt Gallen als auch in den älteren aus Bobbio in aller Regel mit beginnen, der tironischen Note für das Wort ‘de’, deren Gestalt kaum von dem Unzialbuchstaben ‚d‘ abweicht. Diese tironische Note hat als Kürzel für das Wort ‚de‘ ein gewisses Eigenleben auch außerhalb des Systemzusammenhangs der lateinischen Kurzschrift entwickelt.12 Es findet unter anderem in zwei Lorscher Handschriften der Moralia in Iob Gregors des Großen Anwendung, von denen Bernhard Bischoff sagt, dass sie in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts wohl nicht in Lorsch, aber in der Umgebung von Lorsch geschrieben wurden. Die beiden Handschriften wurden gründlich durchgearbeitet, wobei es vor allem um die textliche Strukturierung ging. Die Bibelstellen aus den Prophetenbüchern waren nämlich häufig nicht graphisch ausgezeichnet. Sie wurden identifiziert, mit Paragraphenzeichen und Zitatzeichen markiert und am Rand mit einem Vermerk wie zum Beispiel im Codex Rom, BAV, Pal. lat. 246, fol. 15r, de Esaia (zu Is 64, 6) versehen.13 Hinzugesetzt ist zur Orientierung die Angabe der Buchzählung innerhalb des Moralia-Werks, hier libro XI. In derselben Handschrift, fol. 103v, war die graphische Auszeichnung des Iob-Zitats (Iob 24, 5) durch Unzialschrift in Ordnung: Alii quasi onagri in deserto egrediuntur ad opus suum. „Andere gehen wie die Esel in die Wüste hinaus, um ihr Geschäft zu verrichten.“ An dieser Stelle ist am Rand ausnahmsweise eine inhaltliche Hervorhebung eingebaut: de onagro in Iob sub hereticorum spetie „über den Esel bei
12 In Hellmann 2000, 13, hatte ich mich dafür ausgesprochen, in diesem Zeichen nichts anderes als eine gewöhnliche unziale d-Form der Minuskel zu sehen. Eine Beobachtung in einer Reichenauer Handschrift (Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Aug. perg. 194) lässt mich diese Einschätzung revidieren. Dort nämlich tritt in der Capitulatio foll. 1r–2v mehrfach das unziale Minuskel-d in dieser Funktion auf, in der Passage de centurione (fol. 1r, letzte Zeile) jedoch unter weiterer Verwendung der tironischen Silbennoten ri und ne. Online-Digitalisat der Handschrift unter Badische Landesbibliothek. 13 Siehe die Zusammenstellung der Vermerke im Anhang S. 189.
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Iob als Bild für die Häretiker“. Graphisch eingeflochten ist hier die Angabe der Buchnummer libro XVI für Buch 16 der Moralia in Iob. Ebenso und von gleicher Hand wie im Palatinus latinus 246 finden sich entsprechende Vermerke im Codex Rom, BAV, Pal. lat. 249, der die Bücher 32–35 der Moralia in Iob umfasst. Zum Beispiel finden wir dort, fol. 89r, wieder im Text am Anfang des Prophetenzitats das Paragraphenzeichen, am linken Rand fünf Zitatzeichen an den fünf Zeilen, über die das Zitat reicht, am rechten Rand den Vermerk eines Propheten de Hieremia (falsch zu Os 2, 6–7) und schließlich darunter die Buchzählung libro XXXIIII. Die hier vorliegenden de-Kürzel sind nach bisherigem Kenntnisstand die einzigen tironischen Noten, die mit einiger Sicherheit von einem Lorscher Schreiber stammen, und zwar allem Anschein nach von einem Bibliothekar.
Abb. 28: Rom, BAV, Pal. lat. 211, fol. 19r, Ausschnitt. © [2014] Biblioteca Apostolica Vaticana
Die Benutzung der Lorscher Bibliothek dokumentiert eine dritte Phase im Zyklus des patrologischen Prozesses, das Sammeln. Im Codex Rom, BAV, Pal. lat. 211, einer Handschrift mit Augustinus-Briefen, befindet sich bei insgesamt vier Stücken jeweils am Textbeginn bei der Titelnummer die Notiz non habeo. Ein Textjäger und -sammler war fündig geworden und konnte in einem ersten Schritt so seine Fundstücke markieren. Weitere Spuren der Beschäftigung mit dieser Handschrift sind an anderen Stellen auf dem Seitenrand zu finden. Der Vermerk incipe steht an insgesamt sieben Stellen, allerdings ohne dass an diesen Stellen irgendetwas Gemeinsames erkennbar wäre. Dasselbe gilt für den Vermerk dimisi, der an elf Stellen auftaucht. Auch die Verteilung der Notizen auf die Seiten der Handschrift ergibt kein klares Bild, allenfalls eine
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lockere Gruppierung der incipe- und dimisi-Noten um die mit non habeo gekennzeichneten, von dem Benutzer für sich entdeckten Stücke.14 Was könnte „incipere“ beziehungsweise „dimittere“ in diesem Zusammenhang bedeuten? Wenigstens für „dimittere“ gibt es einige Belege für die Verwendung in der Praxis des Buchwesens. Dabei kommen drei unterschiedliche Bedeutungen vor: 1. „weglassen“, das heißt: nicht abschreiben. Im Codex München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 5508, einer Sammlung von Konzilsakten, sind in den Kapitelverzeichnissen einige Kapitel am Rand mit dem gekürzten Vermerk dim. versehen. Bernhard Bischoff liest dimitte, was heißen soll, dass das betreffende Kapitel beim Abschreiben auszulassen war.15 2. „abbrechen“, das heißt: bis hier abschreiben. In den berühmten autographen Vermerken Alkuins, mit denen er im Codex Paris, Bibliothèque nationale de France, Lat. 1572, Stellen markiert hat, die er als Exzerpte in seiner Streitschrift Adversus haeresin Felicis verwendete, bedeutet d für dimitte das Ende der Stelle.16 3. „absetzen“, das heißt: hier einen Absatz machen. Diese Bedeutung ist einer stenographischen Notiz der ehemals Berliner Handschrift, Lat. quart. 150, zu entnehmen, die heute in Krakau aufbewahrt wird. Der Vermerk befindet sich auf fol. 155v an einer Stelle, wo in der annotierten Vorlage ein Absatz fälschlicherweise nicht vorhanden war, und lautet: dimitte hic et incipe ibi et adpraehende ad ‚Praelatis‘ „hier absetzen und neu beginnen und zum folgenden Abschnitt ziehen, der mit ‚Praelatis‘ beginnt“.17 Noch ein weiteres Mal fand ich dimisi als alleinstehende tironische Note am Seitenrand, nämlich in der Handschrift Lyon, Bibliothèque municipale, Ms. 466, fol. 90v, in deutlicher Übereinstimmung mit den Zeichen im Pal. lat. 211.18 Es handelt sich um eine Handschrift der Commentarii in Esaiam von Hieronymus. An der betreffenden Stelle (zu Is 23, 15) kann man interpretieren „ich habe einen Absatz gemacht“. Denn dieser ist mit einem Haken hinter possit eingetragen. Der Kommentar des Hieronymus geht nämlich bis possit, und erst dann – nicht etwa schon mit Alii, wie die graphische Auszeichnung der Handschrift suggeriert – beginnt mit Post septuaginta die nächste Isaias-Stelle, was am Rand auch mit Zitatzeichen gekennzeichnet wurde. Da keine dieser speziellen Bedeutungen bei den Notizen des Codex Rom, BAV, Pal. lat. 211 greift, bin ich zum Schluss gekommen, dass man dimisi hier mit der sprachlich weniger spezifischen Bedeutung „ich habe aufgehört“ und als persönliche Markie-
14 Siehe die Zusammenstellung der Notizen im Anhang S. 190. 15 Bischoff 1967, 17 Anm. 41; Online-Digitalisat der Handschrift unter Münchener DigitalisierungsZentrum. 16 Bischoff 1967, 17–18. 17 Tangl 1908, 102. 18 Bischoff 2004, Nr. 2557, liest dimittat; Online-Digitalisat der Handschrift unter Bibliothèque municipale de Lyon.
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rung verstehen muss: „hier habe ich aufgehört“, „hier musste ich meine Arbeit unterbrechen“, „hier muss ich später weitermachen“. Incipe hieße dementsprechend „hier fang an“, „mach da weiter, wo du aufgehört hast“, bedeutete pragmatisch gesehen also genau dasselbe wie dimisi. Zwei weitere Lorscher Handschriften sind auf ihre Tironiana zu prüfen. Ein etwas längeres Stenogramm findet man in dem Lorscher Produkt Rom, BAV, Reg. lat. 118, einer Cyprianus-Handschrift mit dessen Werk Ad Quirinum testimonia, einer thematischen Zusammenstellung von biblischen Zeugnissen. Bernhard Bischoff hatte das Tironianum als eine Textergänzung angezeigt, mit dem Hinweis ‚vielleicht von erster (also Lorscher) Hand‘.19 Ein Kreuzchen vor der Notenreihe, die sich am unteren Seitenrand befindet, lässt die Textergänzung an der betreffenden Stelle vermuten, die Suche nach dem korrespondierenden Kreuzchen im Text blieb jedoch erfolglos. Die daraufhin angestellte Textprüfung ergab, dass überhaupt keine Fehlstelle im Text vorliegt, sondern sich der herausstenographierte Psalmvers (Ps 33, 10) auch im Text und dort genau an der richtigen Stelle in der linken Textspalte ein wenig unterhalb der Mitte befindet. Die falsche Psalmnummer 32 steht sowohl im Text als auch in der Randnotiz: Item in psalmo XXXo IIo ‚Timete dominum sancti eius quoniam non est inopia eis qui eum metuunt‘. Das sperrige Ende in Cyprians Vetus-latina-Version eis qui eum metuunt „für diejenigen, die ihn fürchten“ heißt im etwas eleganteren Latein der Vulgata timentibus eum. Das Stenogramm ist aber eine wortwörtliche Wiederholung, wobei die Ordinalzahlen nicht mit den Zahlzeichen, sondern umständlich mit den tironischen Noten für die Zahlwörter wiedergegeben sind: Item in psalmo trigesimo secundo ‚Timete dominum sancti eius quoniam non est inopia eis qui eum metuunt‘. Für Bischoffs ‚Lorscher Hand‘ spricht nicht viel, denn gerade diese Handschrift dokumentiert eine zehn Stücke umfassende Bücherschenkung durch ein Widmungsgedicht auf seinem Deckblatt. Es ist nicht gut erhalten, doch gut genug, um zu erkennen, dass es sich um eine Bücherschenkung handelte, die zehn Stücke umfasste, von denen dieses das erste war. André Wilmart hat in seiner Beschreibung der Handschrift das gelesen, was noch zu erkennen ist:20 … Cęlesti fieret conversus amore salutis Illi dona decem dedit … … Primo Ciprianum praesentem nosse vocatum Mittentem Christi documenta fidelibus alma.
„…er bekehrt wurde durch die himmlische Liebe zum Heil. Ihm widmete er zehn… Als erstes sei dieser Cyprianus genannt, der den Gläubigen die wohltuenden Zeugnisse
19 Bischoff 1989, 52; die Folioangabe ist in fol. 74r zu korrigieren. 20 Wilmart 1937, 260.
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Christi verteilt.“ Wahrscheinlich ging die Schenkung nach Fleury, denn die Handschrift hat einen späteren Besitzvermerk Aurelii „Orléans“, und Orléans gehört zu den Orten, an denen tironische Noten geschrieben wurden. Eine weitere von diesen früh nach Frankreich gekommenen Lorscher Handschriften ist möglicherweise der Codex, Rom, BAV, Ottob. lat. 259. Das wunderschöne Tironianum auf Vorder- und Rückseite seines Deckblatts hat Matthias Tischler wiederentdeckt. Zwar kannte Bernhard Bischoff diese Besonderheit, doch hat er sie für sich behalten. In seinem Werk über die Lorscher Handschriften schrieb er äußerst knapp: ‚Zusatz auf fol. 1rv französisch‘, und erwähnt die Registrierung in Katalog I, nach Angelika Häses Edition der Bücherverzeichnisse also Katalog A, dem ältesten, um 830 entstandenen.21 Der dort zusammengestellte Inhalt entspricht dem ersten Faszikel der heutigen Handschrift, der die Blätter 1–29 umfasst: Augustinus, De disciplina Christianorum; Valerianus ep. Cemeliensis, De bono disciplinae; und dann müsste es an Stelle von id est De praelatis, De iustitia principum usw. eigentlich heißen: aus den Sententiae des Isidor von Sevilla die Abschnitte De praelatis, De iustitia principum usw.22 Auch im Text der Handschrift ist an der betreffenden Stelle fol. 23v ursprünglich kein neuer Textanfang beziehungsweise Autor vermerkt, allerdings von einem Humanisten der Einschnitt eingetragen und entsprechend bezeichnet. Die Schrift wurde von Bernhard Bischoff dem jüngeren Lorscher Stil der karolingischen Minuskel zugerechnet. Demzufolge wurde die Handschrift im 9. Jahrhundert in Lorsch und für die Lorscher Bibliothek geschrieben; das Deckblatt war noch leer. Heute dokumentiert das Deckblatt eine ganze Reihe von Eckpunkten in der Geschichte dieses Buches. Ganz oben steht: Ex libris Petri Danielis Aurelii 1564. Die Handschrift dürfte also zu den vielen Büchern gehören, die Pierre Daniel aus der Bibliothek des Klosters Fleury in seinen Besitz gebracht hat. Darunter steht ausradiert, ebenfalls von der Hand Pierre Daniels: Libri duo monstrorum. Ein solcher einstmaliger zweiter Teil dieses Buches lässt sich in einem Liber monstrorum aus Fleury aus dem 9. oder 10. Jahrhundert nachweisen, dem heutigen Voss. lat. O 16 der Universitätsbibliothek Leiden.23 Es gibt also starke Indizien dafür, dass der französische Zusatz mit den tironischen Noten in Fleury geschrieben wurde und die Handschrift sich schon im 9. Jahrhundert in Fleury befand, beziehungsweise demzufolge noch im 9. Jahrhundert von Lorsch nach Fleury überging. Pierre Daniel hat die Handschrift neu zusammengestellt, denn der heutige zweite Faszikel, der am Ende des 14. Jahrhunderts geschrieben wurde, trägt ebenfalls dessen Besitzvermerke. In dieser Gestalt kam die Handschrift dann über Paulus Petavius – von dem die Nummer N. 55 stammt –, seinen Bruder Alexander, Königin Christina von Schweden und Pietro Ottoboni in die Vatikanische Bibliothek. Michael Kautz, dem wir die Beschreibung der Handschrift im Rahmen der Bibliotheca Laures-
21 Bischoff 1989, 51; Häse 2002, 209. 22 Katalogeinträge A32, B76 und Ca161 nach Häse 2002, 94–95, 123 und 138. 23 Kautz 2011.
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hamensis digitalis verdanken, verzeichnete den Zusatz auf fol. 1r–v als unidentifizierte Verse. Aus den langschriftlich ausgeführten ersten Zeilen lässt sich verifizieren, dass es sich um eine unedierte Dichtung handelt: Amor Christi dulcis almus et suavis, pius felix castus iustus et beatus, carus mitis simplex altus et aeternus omni plenus caritate bonitatis, super omnes sine fine caelos manet.
Beachtet man die Interpunktion der Handschrift, so ergeben sich diese fünf Verse zu je 12 Silben, die zusammen eine Strophe ausmachen. In den folgenden, teilweise stenographisch ausgeführten Passagen setzt sich genau diese Strophengestalt fort: Ille mentes quas suaviter incendit a rubigine peccati purgat atque aurat, more liquefacti pulchrum facit, plumbum solvit, liquat stannum, solem urit velut aureum globellum fulgescentem.
Die akzentrhythmische Struktur dieser Verse tritt deutlich hervor und präsentiert sich in einem strengen trochäischen Aufbau, der dem Gedicht einen monumentalen Charakter verleiht. Betonte und unbetonte Silben wechseln sich ohne rhythmische Wendung über insgesamt 16 Strophen ab, über 16 × 5 = 80 Verse, über 80 × 12 = 960 Silben. Das jambische Gegenstück dieser Strophenform (5 × 6 Jamben pro Strophe) gehört zu den am häufigsten verwendeten Schemata in der mittelalterlichen Hymnologie. Doch gibt es kein zweites Beispiel mit dieser trochäischen Architektur. Ein Monument der Liebe hat der Autor hier entworfen oder beschrieben. Je weiter man liest, desto deutlicher zeigt sich der ikonographische Charakter des Textes: Der christliche Amor schickt drei Pfeile über Venus hinweg. Der Superbia in Gestalt eines Trinkgelages steht ein geistliches Festmahl gegenüber. Ganz oben auf dem Thron sitzt das Gotteslamm, zu seinen Füßen die drei purpurbekleideten Schwestern Caritas, Spes und Fides. Die einzelnen Strophen kann man als Bildausschnitte begreifen, zum Beispiel Strophe 10: Inperterrita stat Fides triumphale portat tropheum sed fortis. De rosetis et purpureis rosellis florulenta habent serta super caput agni tincta de cruore quem ab arce crucis fudit. Unerschrocken steht die Fides da, doch kräftig stemmt sie hoch die Siegtrophäe. Blütenkränze halten sie aus rosa und aus purpur Röslein übers Haupt des Lamms, die mit dem Blut gefärbt sind, das es von der Kreuzeshöhe hat vergossen.
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Abb. 29: Rom, BAV, Ottob. lat. 259, fol. 1r. © [2014] Biblioteca Apostolica Vaticana
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Äußerst blumig ist das Vokabular des Dichters, dessen Name zum Greifen nah erscheint. Für das Röslein hat er zwei unterschiedliche Wörter, in dieser Strophe (10.3) rosella, an anderer Stelle (14.3) rosula. Man könnte spekulieren, dass er den Geschmack seiner Zeit nicht getroffen hat, denn bislang lässt sich keine zweite Überlieferung des Stücks ausmachen. Dem entgegen steht das Urteil des hier tätigen, stenographisch bewanderten Bewahrers, das sich am Ende einer vertikalen Zeichenfolge findet, die er vor das Gedicht gehängt hat. Es lautet nämlich valde bonus „sehr gut“. Darüber steht als Themenangabe de caritate „über die Liebe“. Voraus geht eine bislang unbekannte tironische Note, in der allerdings die Buchstabenbestandteile PRC und die Endungsnote ae erkennbar sind. Das oberste klar erkennbare Zeichen setzt sich aus der Stammnote von paulus (CNT 49, 62) und der Endungsnote ni (CNT 1, 20) zusammen, so dass man den ersehnten Autornamen im Genitiv annehmen darf: Paulini patriarchae. Die Zuschreibung an Paulinus, Patriarch von Aquileia, den einstigen Dichter am Hof Karls des Großen, lässt sich erhärten.24 Links oberhalb der Note Paulini befindet sich noch ein y-förmiges Zeichen oder Reste davon, die für hymnus stehen könnten. Damit ergäbe sich ein abgerundeter Text für dieses Kurzgutachten: Hymnus Paulini patriarchae de caritate valde bonus. „Ein sehr guter Hymnus des Paulinus von Aquileia über die Liebe.“ Als Fazit zum eigentlichen Thema dieser Untersuchung lässt sich feststellen, dass die Arbeit mit Kirchenvätertexten – das inhaltliche Erarbeiten, das Durchstrukturieren, das Sammeln der Texte – ein Feld war, in dem die Stenographie sinnvolle Anwendung fand, für dessen Akteure es sich lohnen konnte, die tironischen Noten zu erlernen. Damit verknüpften sich zwei große karolingische Kulturprojekte: die Wiederbelebung der antiken Stenographie und die Aufarbeitung des Erbes der lateinischen Kirchenväter. Stenographische Schreibtechnik gehörte jedoch nicht zum Standardrepertoire der karolingischen Patrologie, wie das Beispiel von Lorsch zeigt, in dessen Handschriften die Spuren der tironischen Schreibkunst fast ausnahmslos auf auswärtige, und das heißt französische Akteure zurückgehen.
Anhang Der folgende Editionsteil bietet eine Zusammenstellung der tironischen Noten in den behandelten Handschriften, soweit sie nicht bereits im Aufsatztext vollständig wiedergegeben wurden. Die stenographisch geschriebenen Textteile sind kursiviert.
24 In den Analecta Hymnica digitalia ist rosula vor dem Jahr 900 dreimal belegt. Alle drei Belege befinden sich unter den Dichtungen des Paulinus von Aquileia: AH 50, 131 (nr. 99, 38); AH 50, 144 (nr. 104, 7): pulchris liliis mixtumque palmis lauro atque rosulis; AH 50, 149 (nr. 107, 14): mixta rosulis lilia. Besonders die beiden letzteren Stellen zeigen deutliche Anklänge an 9.1 f. violis mixtis liliis und 14.2 f. garbis liliorum et violis atque rosolis.
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Kiel, Universitätsbibliothek, Cod. ms. KB 144 – Online-Digitalisat unter Bibliotheca Laureshamensis – In Klammern sind die Textpositionen im Indiculum des Possidius angegeben. fol. 38v De testimoniis scripturarum contra supra scriptos et contra idola (6, 41) fol. 41v De versu psalmi LXVII ‚sicut deficit fumus‘ (16, 44) De muliere quae sanguinis fluxum patiebatur (16, 50) fol. 42v De versu psalmi CIIII ‚lętetur cor quaerentium‘ (16, 110) fol. 43v De versu psalmi LXX ‚libera me de manu‘ (16, 166) St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 171 – Online-Digitalisat unter e-codices – p. 17 p. 19 p. 31 p. 35 p. 55 p. 64 p. 65 p. 68 p. 72 p. 74 p. 77 p. 78 p. 79 p. 89 p. 93 p. 111 p. 112 p. 113 p. 114 p. 119 p. 121 p. 129 p. 139
p. 141
p. 142 p. 144 p. 156 p. 165
1 ab hinc requisitum est 2 notandum 3 quid sint sodales 4 quid sit cyreneus 5 optima ratio 6 de presbyteris utilis ratio 7 notandum 8 exemplum 9 et hic 10 exemplum 11 terribilis sententia 12 utilis ratio 13 exemplum 14 terribilis sententia 15 terribilis sententia 16 bonum consilium 17 utilis ratio 18 utilis ratio 19 notandum 20 terribilis sententia 21 optima comparatio 22 usque hic 23 utilis ratio 24 utilis ratio 25 optima ratio 26 terribilis sententia 27 de ebrietate 28 de Cornelio 29 utillima ratio 30 optimum exemplum 31 de latrone 32 utilis … 33 utilis quaestio 34 utilis ratio 35 de manus inpositione
p. 167 p. 169 p. 171 p. 172 p. 173 p. 174 p. 231 p. 232 p. 247 p. 252 p. 269 p. 281 p. 282 p. 286 p. 301 p. 315 p. 324 p. 325 p. 334 p. 361 p. 363 p. 382 p. 385 p. 394 p. 396 p. 398 p. 402
36 utilis ratio 37 notandum 38 utilis comparatio 39 exemplum 40 utilis ratio 41 utilis ratio 42 de baptismo 43 utilis ratio 44 notandum 45 exemplum 46 optima ratio 47 notandum 48 utilis ratio 49 hic 50 hic 51 utilis comparatio 52 … 53 hic 54 … 55 de declinatione dextre aut sinistre 56 de sancto Ieronimo 57 optima ratio 58 optimus 59a sententia 59b sententia 60 quia paulus diminutiuum est 61 utilis ratio 62a sententia 62b sententia 63 et hic 64 … … 65 semel locutus est deus 66 usque hic 67 utilis ratio
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Rom, BAV, Pal. lat. 246 – Online-Digitalisat unter Bibliotheca Laureshamensis – fol. 5v fol. 8r fol. 12r fol. 15r fol. 37r fol. 37v fol. 39r fol. 51v fol. 59r fol. 60r fol. 72v fol. 73r fol. 78r fol. 83r fol. 86v fol. 87v fol. 103v
de Abbacuc libro XI de Osee lib. XI de Hieremia proph. lib. XI de Hier. lib. XI de Esaia lib. XI de Esaia lib. XIII de Hierem. lib. XIII de Osee lib. XIII de Esaia lib. XIIII de Hieremia lib. XIIII de Hieremia lib. XIIII de Zacharia proph. lib. XV de Esaia proph. lib. XV de Hiezech. lib. XV de Ezechiel proph. lib. XV de Hierem. lib. XV d. Ezech. lib. XV de onagro in {lib.} Iob {XVI} sub hereticorum spetie
Hab 3,5–6 Os 7,8 Lam 2,5 Ier 31,30 Is 64,6 Is 18,1 Lam 1,2 Os 4,2 Is 47,1 Ier 14,8 Ier 5,4 Za 5,2 Is 59,5 Ez 24,7 Ez 18,2 Lam 1,12 Ez 32,22 Iob 24,5
Moralia in Iob XI 10 XI 10 XI 16 XI 33 XI 44 XIII 10 XIII 12 XIII 17 XIV 17 XIV 41 XIV 46 XV 14 XV 15 XV 31 XV 51 XV 57 XV 59 XVI 47
Ez 16,4 Lam 4,7 Ez 31,8 Ez 28,12 Ez 34,5 Is 13,2 Is 42,3 Is 44,4 Am 7,4 Is 5,18 Is 11,15 Is 12,3 Ier 15,19 Lam 3,64 Na 1,10 Ioel 1,44 Ier 1,13 Dn 8,25 Os 2,6 Os 7,9
Moralia in Iob XXXII 14 XXXII 22 XXXII 23 XXXII 23 XXXII 23 XXXIII 1 XXXIII 3 XXXIII 5 XXXIII 6 XXXIII 10 XXXIII 10 XXXIII 10 XXXIII 17 XXXIII 28 XXXIII 31 XXXIII 37 XXXIII 37 XXXIV 2 XXXIV 2 XXXIV 3
Rom, BAV, Pal. lat. 249 – Online-Digitalisat unter Bibliotheca Laureshamensis – fol. 15v fol. 31v fol. 33v fol. 34r fol. 35v fol. 38r fol. 42r fol. 45r fol. 49r fol. 53r fol. 53v fol. 54r fol. 65r fol. 76r fol. 79v fol. 84v fol. 85v fol. 88v fol. 89r fol. 91r
de Ezechi. li. XXXII in Hieremia proph. lib. XXXII d. Ezechiele proph. lib. XXXII lib. XXXII de Ezechih. de Esaia lib. XXXII de ... lib. XXXIII de Esaia proph. lib. XXXIII de Esaia lib. XXXIII de Esaia proph. lib. XXXIII d. Esaia lib. XXXIII de Esaia lib. XXXIII de Esaia lib. XXXIII de Hieremia lib. XXXIII d. Hierem. lib. XXXIII de Naum proph. lib. XXXIII de Iohel lib. XXXIII de Hierem. lib. XXXIII Danihele prop. lib. XXXIIII de Hierem. lib. XXXIIII d. Osee proph. lib. XXXIIII
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fol. 99v fol. 102v
de Heremia proph. lib. XXXIIII d. Esaia lib. XXXIIII de Hierem. lib. XXXIIII de Abbacuc lib. XXXIIII de Danihele lib. XXXIIII d. Ezechih. lib. XXXV de Abbacuc lib. XXXV
fol. 103r fol. 114r fol. 119v fol. 132v
Ier 50,23 Ier 51,7 Lam 4,1 Hab 2,6 Dn 4,26 Ez 1,25 Hab 3,5–6
XXXIV 12 XXXIV 15 XXXIV 15 XXXIV 15 XXXIV 23 XXXV 2 XXXV 14
Rom, BAV, Pal. lat. 211 – Online-Digitalisat unter Bibliotheca Laureshamensis – In der ersten Spalte der nachstehenden Übersicht steht die korrespondierende Nummer in den übereinstimmenden Aufnahmen der Bibliothekskataloge A15, B59 und Ca187 (vgl. Häse 2002, 90, 118, 147 f.), in der zweiten Spalte die Nummer in der Aufnahme der Capitulatio auf fol. Av, dann folgen die Folionummern der Textanfänge mit den Kurzbezeichnungen der Augustinus-Texte und schließlich die tironischen Vermerke. 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19
1r 10r 14v 19r 27r 31r 33v 38v 62v 63v 65v 68v 82r 83r 94r 106v 117r 121r 124v
Epist. 137 Epist. 98 Epist. 127 Epist. 138 Epist. 243 Epist. 92 Epist. 143 Epist. 147 Epist. 16 Epist. 17 Epist. 215 Epist. 102 Epist. 152 Epist. 153 Epist. 149 Epist. 130 Regula 2 Sermo 355 Sermo 356
5r
dimisi
18r non habeo 20r 30r 33r
incipe incipe incipe incipe
90r 98v 109v non habeo 118r non habeo 121v non habeo
dimisi dimisi dimisi dimisi dimisi
22v
incipe
24r
incipe
104v dimisi 113v dimisi
106r dimisi
122r dimisi
124r dimisi
26r
incipe
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Rom, BAV, Ottob. lat. 259, fol. 1r–v – Online-Digitalisat unter Bibliotheca Laureshamensis –
Hymnus Paulini patriarchae de karitate valde bonus.
Ein sehr guter Hymnus des Paulinus von Aquileia über die Liebe.
1. Amor Christi dulcis almus et suavis, pius felix castus iustus et beatus, carus mitis simplex altus et aeternus, omni plenus caritate bonitatis, super omnes sine fine caelos manet.
Wahrlich süß und hold und fromm und glücklich, selig, keusch, gerecht und achtsam, mild und tief und einfach, ewig ist der hier gelobte Amor Christi und erfüllt von aller Wertschätzung des Wohlstands bleibt er über allen Himmeln ohne Ende.
2. Ille mentes quas suaviter incendit a rubigine peccati purgat atque aurat, more liquefacti pulchrum facit, plumbum solvit, liquat stannum, solem urit velut aureum globellum fulges
Jene Herzen, die er süß entfacht, die reinigt er vom Rost der Sünde und vergoldet sie und macht sie schön, auf eine Art wie zarter Schmelz, ja löst das Blei, ja schmilzt das Zinn, erhitzt die Sonne, wie ein goldnes Kügelchen lässt er sie funkeln.
3. Aureum dum torquit arcum mittit ternas super Venerem sagittas faculentam quae arudines argenti superductas habent bracteas mucronem sed acutum quod resecat omne vulnus vitiorum.
Während er den goldnen Bogen spannt, da schießt er schon auf Venus, welche Fackeln trägt, drei Pfeile, welche Silberschäfte, einen Überzug aus Blattgold, aber eine scharfe Spitze haben, weil er jede Sündenwunde so beschneidet.
4. Hic superbiam replicat potatorum quae est omnium regina vitiorum cuius surgit de radice venenosum omne germen maledictum peccatorum quod detruncat vero amor mox virtutum.
Hier weist er zurück den Übermut der Trinker, der als Herrscher aller Laster gilt, aus dessen Wurzel auch der ganze giftige, verfluchte Keim der Sünden aufgeht, doch genau denselben stutzt die Tugendliebe schon zurück bis unten.
5. Hic convivium praeparat spiritale, in circuito perfectae mentis gulas aepularum, quater dapis mensam sacram, ponit pocula, mellito tradit vinum, stipat fercula flaventi plena favo.
Hier gibt er ein Festbankett dem Geist zur Stärkung, einen Schmaus im Kreis des reinen Herzens, ja ein heiliges Gedeck von vierfachem Genuss, er stellt die Becher auf, schenkt honigsüß den Wein ein, bringt Tabletts, die voller gelbem Honig stehen.
6. Sanctus candido in throno sedet agnus, ille species sacratas cunctas manu benedicit et invitat ad vescendum eius sanguine signati qui sunt ostro qui sunt veste nuptiali decorati.
Heilig sitzt das Lamm auf seinem weißen Throne, segnet alle seine heiligen Geschöpfe mit der Hand, lädt ein zum Essen jene, die mit seinem Blut als Purpurfarbe ausgezeichnet, jene, die mit einem Hochzeitskleid geziert sind.
7. Ibi sedent purpuratae tres sorores, habent singule coronas aureolas, habent crines de argento blacteolas investitos et vermiculis sub vittis super summum religatos frontem strictim.
Dort in Purpurkleidern sitzen die drei Schwestern, haben jeweils ihre goldverzierte Krone, haben ferner Silberhaare, die in Blattgold eingefasst und mit geknüpften Bändern auf die hohe Stirn gestreng zurückgebunden wurden.
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Martin Hellmann
8. Karitas vocatur una maior natu. Ipsa secus agnum tenet principatum. Alterae Spes atque Fides vocitantur. Ambe tales iuxta pedes agni sedent. Tres victoriae per manus palmas tenent.
Caritas, so heißt die älteste von ihnen. Abgeseh‘n vom Lamm hat sie die Vorrangstellung. Spes und Fides nennen sich die andern beiden, die dem Lamm zu Füßen ihre Plätze haben. In den Händen halten sie drei Siegespalmen.
9. Stat Virginitas a dextris quae violis mixtis liliis insertis blacteolis numquam florem marescentem super summum gestat evulsum coronam pretiosam quam de manu sumpsit agni gloriosi.
Rechts da steht Virginitas und trägt in Lilien mit in Blattgold eingefassten Veilchen oben eine Blume, welche nie verwelkt, mit Wurzel als die teure Krone, die sie aus der Hand des hochgerühmten Lamms hat in Empfang genommen.
10. Inperterrita stat Fides triumphale portat tropheum sed fortis. De rosetis et purpureis rosellis florulenta habent serta super caput agni tincta de cruore quem ab arce crucis fudit.
Unerschrocken steht die Fides da, doch kräftig stemmt sie hoch die Siegtrophäe. Blütenkränze halten sie aus rosa und aus purpur Röslein übers Haupt des Lamms, die mit dem Blut gefärbt sind, das es von der Kreuzeshöhe hat vergossen.
11. Abstinentia pallenti sub aspectu Spei dextera retentans stricta manu, ibi ante thronum agni laetabunda hausit hydria de fonte gemmis picta, quae manabat desub throno vivas undas.
Abstinentia mit ihrem bleichen Antlitz weist mit kampfbereiter Rechten Spes zurück, sie schöpfte derweil vor dem Thron des Lamms voll Freude aus dem Quell mit edelsteinverziertem Kruge, welcher rauschend unterm Thron lässt Wasser fließen.
12. Tulit angeli de manu deauratum discum omnibus repletum bonis amplo dono dei cumulatum ore sacro laudis agno referebat et prostrata ante sedem clara voce adorabat.
Nahm aus Engels Händen einen goldnen Teller, angefüllt mit all den guten Sachen, brachte ihn dem Lamm gehäuft als reiche Gottesgabe mit geweihten Lobesworten, vor ihm zu ihm betete ergeben sie mit heller Stimme.
13. Largitas benigno usu gaudebunda latere subnexa stabat Karitatis aurea sibi donatam possidebat aulam trino super angulo fundatam, erant fusiles et septem super basem.
Voller Freude über ihre Nützlichkeit stand Largitas ganz nah der Caritas zur Seite, weilte golden auf dem Hof, der ihr gestiftet, auf dem Dreiecksfundament errichtet wurde, ferner standen sieben Güsse auf der Basis.
14. Per pacifica gestabat nam canistros plenos garbis liliorum et violis atque rosolis rubratis pulchriores cuthii maniplis seu cinnamoma redolentibus virgultis myrrhae flore.
Durch das Friedensreich trug sie die Körbe nämlich, welche voller Liliengarben, voller Veilchen, und mit rotgefärbten Röschen noch verschönert, auch mit Palmstrauchbündeln und gewissen Sträuchern, die nach Zimt und die nach Myrrheblüten duften.
Stenographische Technik in der karolingischen Patrologie
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15. Pax Humilitas me castuoso contra stabant vultu et sorores blandientes subsistebant ne caderent quia gressu satis tenero scandebant, saliendum nusquam utra fulciebant forti manu.
Pax, Humilitas, die reizenden Geschwister, standen beide da vor mir mit keuscher Miene, hielten ein, um nicht zu fallen, denn sie stiegen vorsichtig genug im Gang hinauf und stützten sich mit starker Hand, um nirgendwo zu stolpern.
16. Magna turba circa thronum dealbati assistebat quae feliciter clamabant salvum deo nostro virtus et potestas agno decus honor sancto super thronum qui sedet et regnat trinus unus deus.
Um den Thron des weiß Getünchten standen viele, welche glücklich riefen Heil sei unserm Gott und Tugendkraft und Macht sei ihm, und Zier und Ehre sei dem Lamm, dem heiligen, das auf dem Throne oben sitzt und herrscht als dreifach eine Gottheit.
1.5 caelos manet wiederholt 2.4 liquat belegt bei Diefenbach – stannum] CNT 113,76 stagnum − solem] Endungsnote -um 4.1 potatorum] unbelegte tironische Note mit der Organik P(o)-torum 5.1 spiritale] tironische Note spiritalem 5.2 gulas] auch gulae möglich 5.3 dapis] auch dapes möglich 8.4 tales] CNT 5,47 talis 13.5 erant] CNT 4,86 erat über der Zeile ergänzt 14.3 rubratis habe ich aus rhythmischen Gründen für rubricatis angenommen, die Handschrift hat rubriatis 14.4 cuthii für cuci (indecl.) 15.2 blandientes] CNT 115,21 blandus mit der Endung -entes 15.3 subsistebant] CNT 47,2 mit abweichender Endungsposition caderent] Endungsnote -re oder -runt 16.1 dealbati] de alb-i tironisch, ati über der Zeile langschriftlich ergänzt.
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Martin Hellmann
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Matthias Becher
Ut monasteria … secundum ordinem regulariter vivant Norm und Wirklichkeit in den Beziehungen zwischen Herrschern und Klöstern in der Karolingerzeit Im Sommer 774 war Karl der Große als Sieger über die Langobarden aus Italien ins Frankenreich zurückgekehrt. Ende August weilte er in Speyer. Diese Gelegenheit nahm Abt Gundeland von Lorsch wahr, reiste in die Bischofsstadt und bat den König, an der Weihe der neuen Klosterkirche teilzunehmen.1 Der Herrscher entsprach dem Wunsch des Abtes: Am 1. September 774 wurde die Lorscher Klosterkirche in Karls Beisein feierlich vom zuständigen Ortsbischof Lul von Mainz geweiht. So harmonisch dieser Verlauf erscheint, lediglich zwei Jahre zuvor hatte die Existenz der Abtei noch auf dem Spiel gestanden: Graf Heimerich, der Sohn des Klostergründers, hatte erbrechtliche Ansprüche auf Lorsch gestellt. Um diese Forderung abzuwehren, hatte Gundeland sich im März 772 an das Königsgericht gewandt, das ihm in allen Punkten Recht gegeben hatte. Heimerich insistierte nicht weiter und gab seine Ansprüche auf. Kurz darauf unterstellte der Abt seine geistliche Gemeinschaft Karl dem Großen, um endgültig sicher vor den Ansprüchen des Grafen zu sein. Der König wiederum nahm das Kloster in seinen Schutz und verlieh ihm das Recht der freien Abtswahl sowie Immunität.2 Dieses hier nur stark verkürzt wiedergegebene Geschehen demonstriert schlaglichtartig, wie gefährdet Klöster der Karolingerzeit waren und wie abhängig sie sowohl von ihrer adligen Gründerfamilie als auch von übergeordneten kirchlichen Autoritäten waren, vor allem aber, wie wichtig der König für die Stellung einer Abtei sein konnte. Er erscheint als Garant monastischer Freiheit; so rettete Karls Eingreifen Lorsch, wie eben skizziert, vor dem Zugriff der adligen Gründerfamilie und damit vor einem ungewissen Schicksal. Von einer solchen Betrachtungsweise, so sehr sie sich im Einzelfall einmal aufdrängen mag, ist die Forschung jedoch längst abgekommen. Nicht immer, so hat Franz Felten gezeigt, wirkte der König positiv im Sinne der ihm anvertrauten Klöster und des Mönchtums insgesamt, und auch seine übergeordnete Position als Inhaber dessen, was man früher als Staatsgewalt bezeichnet hätte, wurde von der Forschung relativiert.3 Aber immerhin drängte er auch auf Reformen in diesem
1 Codex Laureshamensis, ed. Glöckner, c. 7, 282. 2 MGH DD Kar. 1, 97–99; Codex Laureshamensis, ed. Glöckner, c. 4, 274–275. 3 Felten 1980. Dabei gilt die Karolingerzeit als Epoche einer starken Königsgewalt; anders etwa Nitschke 2001. © 2015, Becher. Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 3.0 Lizenz.
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Bereich, wie Josef Semmler, der im Oktober 2011 verstorbene Nestor der Erforschung des karolingischen Mönchtums, nicht müde wurde zu betonen.4 Es ging den Karolingern um die Durchsetzung der Regula Benedicti als einzige Mönchsregel im Frankenreich, in dem in dieser Beziehung eine große Vielfalt herrschte. Wie durchschlagend die Bemühungen der Herrscher waren, darüber gehen die Auffassungen in der Forschung jedoch weit auseinander.5 Soviel zeichnet sich jedoch ab: Die Beharrungskraft derjenigen, die an den althergebrachten Lebensformen festhalten wollten, war oft stärker als der Wille zur Veränderung. Der Herrscher konnte zwar ambitionierte Vorschriften erlassen, aber letztlich verfügte er gar nicht über die organisatorischen Voraussetzungen, um seine Vorstellungen auf Dauer flächendeckend durchzusetzen. Die Frage, welcher Regel die Mönche folgen sollten, war aber nur ein Teil des Problems: Die innere Ordnung der karolingischen Klöster war nicht nur von der gerade angesprochenen großen Vielfalt von Vorschriften geprägt, sondern auch von der Tatsache, dass diese in vielen Konventen nicht befolgt wurden. Das lag vor allem an ihren Äbten, die eigentlich die innere Ordnung eines Klosters zu gewährleisten hatten. Doch sie gaben sich oft einem weltlichen Leben hin, gingen auf die Jagd und zogen sogar in den Krieg, mehr noch: Sie veruntreuten und verschleuderten den Besitz ihres Klosters.6 Diese Missstände wurden als skandalös empfunden und manche waren es wohl auch. Dennoch war es ein zähes Ringen, jeden einzelnen Konvent und damit das Mönchswesen insgesamt zu reformieren. Dass die Klöster oft Widerstand leisteten und an ihrer hergebrachten Lebensform festhalten wollten, bedarf wohl keiner näheren Begründung und wird im Folgenden daher auch nicht thematisiert. Vielmehr geht es um die Karolinger selbst, die zwar die Reformen einerseits anstießen und förderten, aber andererseits viele Klöster politisch instrumentalisierten, etwa zur Ausstattung ihrer Getreuen. Damit leisteten sie einen Beitrag zu der Verweltlichung, die sie eigentlich bekämpfen wollten. Angesichts dieser Diskrepanz zwischen Norm und Wirklichkeit scheint es angemessen, die wichtigsten Aspekte des Themas erneut in den Blick zu nehmen: die Verbindung der Karolinger zu den Klöstern, ihre Versuche, das monastische Leben stärker zu reglementieren und zu vereinheitlichen, aber auch der Rückgriff auf das Klostergut als Machtressource bis hin zur Einsetzung von Laienäbten.
4 Vgl. Semmler 1959; ders. 1965; ders. 2000. 5 Vgl. grundsätzlich etwa Felten 1992/93; zur Frage, wie wirksam die von Benedikt von Aniane angestoßenen Reformen Ludwigs des Frommen gewesen sind, vgl. Geuenich 1989; Kettemann 1999; Semmler 1965; Felten 1980. 6 Dazu MGH Conc. 2, 1, 290, Nr. 38, can. 25; siehe auch grundlegend Semmler 1965; Felten 1980.
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1 Zu den Anfängen der engen Verbindung zwischen den Karolingern und einzelnen Klöstern Zum Zeitpunkt der Gründung von Lorsch hatten die Karolinger gerade einmal ein gutes Jahrzehnt die Königwürde inne. Bis dahin waren sie zwar das mächtigste, aber eben nur ein Adelsgeschlecht neben anderen gewesen. Ihr Aufstieg im 8. Jahrhundert war eng mit der direkten Kontrolle über zentrale Klöster des Frankenreiches verknüpft gewesen. Wie viele andere adlige Familien der ausgehenden Merowingerzeit gründeten sie Klöster zur Rettung ihres Seelenheils, zur Pflege ihrer Memoria und zur besseren Strukturierung ihres Besitzes. Bald aber griffen sie auch darüber hinaus. Pippin der Mittlere und seine Frau Plektrud übergaben dem Missionserzbischof Willibrord das auf ihrem Besitz gegründete Kloster Echternach und räumten diesem auch das Recht der freien Abtswahl ein, sofern der Gewählte ihnen und ihren Erben die Treue halte und unter ihrem Schutz verbleibe.7 Auf ähnliche Weise privilegierten die beiden im Jahr 714 das Kloster Susteren.8 Pippins Sohn Karl Martell bediente sich dann verschiedenster Klöster zur Stabilisierung seiner Macht, indem er Verwandte und Gefolgsleute an ihre Spitze stellte. Das beste Beispiel dafür ist Hugo, ein schon früh zum Priester geweihter Neffe Karl Martells, der die Abteien Saint-Denis, SaintWandrille und Jumièges leitete sowie den Bistümern Paris, Rouen, Bayeux, Lisieux und Avranches vorstand. Karl Martell hatte ihn damit zur wohl mächtigsten Person in Neustrien gemacht und zu einer Art Statthalter im westlichen Reichsteil. Den monastischen Idealen – wie bescheiden diese auch immer gewesen sein mögen – entsprach Hugos Stellung keinesfalls. Weder stammte er aus den Konventen seiner Klöster, noch war er von diesen gewählt worden. Zwar war er ein Kleriker, weshalb die Bezeichnung Laienabt verfehlt wäre, aber das von Franz Felten geprägte Wort vom „irregulären Abt“ trifft auf ihn wohl zu.9 Karl Martell griff also auf viele Klöster zu, insbesondere in Neustrien, das sich ihm lange widersetzt hatte. Die übrigen Äbte mussten vermutlich eindeutig Stellung beziehen – und zwar für den Hausmeier, wollten sie ihr Amt behalten. In diesen Kontext ist möglicherweise das Testament des Abtes Widerad von Flavigny aus dem Jahr 719 einzuordnen, der verfügte, dass nach seinem Tod kein Bischof oder anderer kirchlicher Würdenträger die Herrschaft (dominatus) über sein Kloster ausüben solle; zum Garanten dieser Bestimmung berief er den Hausmeier, der damit gleichsam zum Herrn des Klosters wurde.10 Dies äußerte sich auch darin, dass der Konvent für Karl,
7 MGH DD Arn., 14–15, Nr. 5. 8 Ebd. 16–17, Nr. 6. 9 Felten 1980, 47. 10 Diplomata, ed. Pardessus, 399, Nr. 587; beziehungsweise Formula Salica Merkiliana, ed. Zeumer, 480, Nr. 43; zu der hier verwandten gewundenen Formulierung zur Bezeichnung des Hausmeiers vgl. Semmler 1959, 4.
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Matthias Becher
seine Familie und sein Heer beten sollte. Auch die Klöster St. Gallen und Honau nahm er unter seinen Schutz.11 Der Hausmeier steigerte damit seine Macht – die Frage, wie die Mönche dieser Konvente ihr Leben gestalten sollten, war für ihn wohl nicht von Interesse. Eine noch geringere Rolle spielte sie für seine Vertrauten, die er mit der Leitung von Klöstern betraute. Dafür bietet die Chronik der Äbte von Saint-Wandrille, die Gesta abbatum Fontanellensium aus dem 9. Jahrhundert, eine Vielzahl von Beispielen. Ein Abt soll ein Drittel des Klostergutes an seine Verwandten und an Leute des Königs – gemeint war hier sicher der Hausmeier – vergeben haben.12 Ein anderer führte das Leben eines adligen Laien und ging etwa mit einer Meute Hunde auf die Jagd.13 Ein weiterer Abt war Bischof Raginfrid von Rouen, der Taufpate von Karl Martells Sohn Pippin. Wegen seiner Amtsführung verklagten ihn die Mönche nach Karls Tod bei Pippin und erhielten Recht: Der Hausmeier entzog Raginfrid die Abtei wieder.14 Seine geistliche Verwandtschaft mit Pippin bot dem Abt also keinen Schutz vor der Absetzung. Aber nicht nur dies ist bemerkenswert, sondern auch die Tatsache, dass er auf die Klagen des Konvents hin abgesetzt wurde. Zum ersten Mal scheint in SaintWandrille also die Frage nach der inneren Ordnung eines Klosters eine größere Rolle gespielt zu haben. Dieser Wandel trat anscheinend mit dem Wechsel von Karl Martell zu seinem Sohn Pippin ein, der – möglicherweise unter dem Einfluss der angelsächsischen Mission mit Bonifatius an der Spitze – die Verhältnisse völlig anders sah als sein Vater. Diese neue Sichtweise auf die kirchlichen Verhältnisse fand ihren ersten bedeutenden Niederschlag im sogenannten Concilium Germanicum. Es wurde wohl im Jahr 743 von Karls ältestem Sohn Karlmann, dem als Hausmeier vor allem der Osten des Frankenreiches zugefallen war, zusammen mit Bonifatius abgehalten. Im Mittelpunkt standen Maßnahmen zur Verbesserung der Kirche im Allgemeinen: Neben der Rückerstattung entfremdeter Kirchengüter ging es insbesondere um die Lebens- und Amtsführung der Priester. Die Klöster wurden nur kurz und knapp thematisiert: Alle sollten die Regel des heiligen Benedikt einführen.15 Allem Anschein nach wurde diese Vorschrift aber nicht befolgt – warum auch, gab es doch im Frankenreich eine reiche monastische Tradition, die lange vor der Lebenszeit Benedikts von Nursia eingesetzt hatte und sich auf Persönlichkeiten wie den Heiligen Martin berufen konnte, den Schutzheiligen der Franken. Auch andere auf dem Concilium Germanicum formulierte Forderungen wurden nur zurückhaltend in die Tat umgesetzt. Dies gilt insbesondere
11 Semmler 1959, 4; Walahfrid Strabo, Vita sancti Galli, ed. Krusch, 319; vgl. auch Ratpert, Casus s. Galli, ed. Steiner, c. 3, 160–162; dazu Mayer 1952, 489–491; MGH DD Arn., 45, Nr. 20. 12 Gesta abbatum Fontanellesium coennobii, ed. Lohier/Laporte, c. VI, 1, 48. 13 Ebd. c. VII, 57. 14 Ebd. c. VIII, 2, 62. 15 MGH Conc. 2,1, 4, Nr. 1 can. 7.
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für die Rückgabe der Kirchengüter, die Karlmanns Bruder Pippin auf seiner Synode in Soissons 744 für seinen Reichsteil erst gar nicht eigens thematisieren ließ – zu groß waren vermutlich die Widerstände seiner Gefolgsleute, die vor allem davon betroffen gewesen wären.16 Aber nicht immer nahm Pippin auf diese Rücksicht, wie sein bereits erwähntes Eingreifen in Saint-Wandrille zugunsten der Mönche lehrt. Er legte im monastischen Bereich anscheinend auch Wert auf eine korrekte Amtsführung der „legitimen“ Äbte: Ihnen wurde untersagt, persönlich an Kriegszügen teilzunehmen; ihre bewaffneten Aufgebote waren Pippin natürlich trotzdem willkommen. Auch nach seiner Thronbesteigung 751 griff Pippin in die inneren Verhältnisse der Klöster ein. Das Konzil von Ver 755 forderte, dass das monastische Leben sich an der Regel zu orientieren habe.17 Gemeint war vermutlich die Regula Benedicti. Thematisiert wurde auch, wer für das Festhalten an hergebrachten Lebensformen verantwortlich war: Widersetzliche Äbte sollten zuerst vom Bischof, dann vom Metropoliten ermahnt und, falls dies ohne Wirkung blieb, schließlich von einer Synode abgesetzt werden.18 Außerdem wurde das Recht der Äbte, ihre Mönche zum Verbleiben in ihrem Kloster zu verpflichten, an einem entscheidenden Punkt eingeschränkt. Es sollte nur gelten, sofern die Äbte ihren Amtspflichten nachkamen, falls nicht oder falls das Kloster in Laienhand geraten war, durften die Mönche in einen anderen Konvent wechseln – allerdings nur mit Einverständnis des Bischofs.19 Sicherlich im Einvernehmen mit dem König griff das Konzil also die Forderungen des Concilium Germanicum hinsichtlich der Lebensführung auf und ging damit deutlich über die Position der Synode von Soissons hinaus. Pippin gab somit zwar Normen für das monastische Leben vor, war aber selbst nicht ganz konsequent bei ihrer Verwirklichung. So verpflichtete er die Mönche des 762 von ihm zusammen mit seiner Gemahlin wiedererrichteten Klosters Prüm nicht ausdrücklich auf die Benediktsregel, sondern auf die althergebrachte Lebensweise dieser Abtei.20 Im Übrigen nahm er das Kloster unter seinen Schutz und verlieh ihm das Recht der freien Abtswahl. Andere Klöster wie Honau und Saint-Calais strebten ebenfalls nach diesem Rechtsstatus. Dem Ausmaß der karolingischen Klosterherrschaft wird die Fokussierung auf diese Schutzfunktion freilich nicht ganz gerecht. Wie schon Karl Martell betraute auch Pippin vor allem seine Getreuen – insbesondere Angehörige der Hofkapelle – mit der Leitung wichtiger Abteien.21 Am bekanntesten ist sicher Abt Fulrad von Saint-Denis, der um 750 zusammen mit Bischof Burchard von Würzburg jene Gesandtschaft Pippins nach Rom leitete, die das Plazet des Papstes für
16 Ebd. 33–36, Nr. 4. 17 MGH Capit. 1, 33, Nr. 14. 18 Ebd. c. 6, 34, Nr. 14. 19 Ebd. c. 10, 35, Nr. 14. 20 MGH DD Kar. 1, 22, Nr. 16. 21 Vgl. Voigt 1917, 59–61; Fleckenstein 1959, 106–108.
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den sogenannten Dynastiewechsel aushandelte. Dafür förderte Pippin Saint-Denis nach Kräften. Dies setzte sich auch nach Pippins Tod 768 unter dessen Söhnen Karlmann II. und Karl dem Großen fort.22 Also auch unter Pippin als König bestätigt sich, was wir für die Zeit der Hausmeier bereits konstatieren konnten: die von der Forschung schon längst beobachtete Diskrepanz von Norm und Wirklichkeit. Auf der einen Seite nutzte der Herrscher die Klöster und insbesondere ihre Güter für die Ausstattung der eigenen Gefolgsleute. Auf der anderen Seite unterstützte er die Forderung nach einem regelgemäßen Leben im Sinne Benedikts von Nursia. Angesprochen waren hier nicht nur einfache Mönche, sondern vor allem auch die Äbte, deren Aufgabe es schließlich war, in ihrem Konvent auf die Einhaltung der Regel zu drängen. Diese moderate Haltung passt zu Pippins sonstigen Positionen in vielen kirchenpolitischen Fragen: Er stand der Kirchenreform vorsichtig aufgeschlossen gegenüber, solange diese seine Interessen nicht tangierte.
2 Karl der Große und die Klöster Wie sein Vater nahm auch Karl der Große Klöster unter seinen Schutz: Hersfeld, Fritzlar, Ansbach, Charroux, Aniane, Ellwangen, Lorsch und viele andere mehr.23 Jedoch benutzte auch Karl viele Klöster zur Ausstattung seiner Gefolgsleute und seiner gelehrten Freunde, die an seinem Hof wirkten. Als herausragende Beispiele seien nur Alkuin und Angilbert genannt. Alkuin erhielt schon bei seinem ersten Aufenthalt im Frankenreich die Klöster Ferrières und Saint-Loup bei Troyes.24 796 erhielt er zudem Saint-Martin in Tours und ein Jahr später Flavigny und Saint-Josse-sur-Mer.25 Angilbert, Alkuins Schüler und Partner von Karls Tochter Bertha, stand Saint-Riquier vor. Selbst wenn diese Personen sich um ihre Konvente verdient gemacht haben sollten, im Vordergrund stand doch der Aspekt der Versorgung beziehungsweise angemessenen Belohnung durch den König. Noch 775 hatte der irische Gelehrte Cathwulf den König in einem im Stile eines Fürstenspiegels gehaltenen Brief ermahnt, Klöster nicht an Laien zu vergeben.26 Nicht immer hielt sich Karl der Große daran. Einer Formula Salica Merkiliana zufolge klagten die Mönche eines Klosters über die Missstände, die als Folge der Verleihung ihres Klosters als beneficium eingetreten waren.27
22 Vgl. Felten 1980, 216–218. 23 Semmler 1959, 5–6, mit der Unterscheidung zweier Rechtsformen: Kommendation in den Schutz des Königs, die schon in der Merowingerzeit vorkommt, und dem Übergang des Klosters mit allem Zubehör in die dominatio des Königs; Semmler 1965, 720–721. 24 Bullough 2004, 342. 25 Zu St. Martin in Tours Schieffer 2010, 25; Hartmann 2004; Tremp u.a. 2004, 19–20; Sot 2002, 29. 26 Epistolae Karolini aevi II, ed. Dümmler, 503, Nr. 6; zu Chathwulf insgesamt vgl. Story 1999. 27 Formula Salica Merkiliana, ed. Zeumer, 261–262, Nr. 61.
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All dies scheint den König nicht allzu sehr beeindruckt zu haben, obwohl er sich doch viel stärker als sein Vater Pippin für ein korrektes monastisches Leben einsetzte.28 Entschiedener als dieser und als sein Onkel Karlmann erklärte Karl spätestens seit 789 die Benediktsregel zur alleinigen Richtschnur. Weiter forderte er von den Klostervorstehern, ihre Gemeinschaften nicht zu verlassen und auch das dormitorium der Regel gemäß mit ihren Untergebenen zu teilen. Sie sollten sich um die Ausbildung der Novizen kümmern, und niemand sollte um eines materiellen Vorteils willen in ein Kloster aufgenommen werden. Erst recht sollte niemandem gestattet werden, das Gebot der persönlichen Armut zu brechen und sich Besitz für den persönlichen Gebrauch vorzubehalten.29 Nach der Kaiserkrönung, als Karl dem Zeugnis der Lorscher Annalen zufolge eine Reform der inneren Verhältnisse seines Reiches anging, beschäftigte er sich erneut mit dem Mönchtum. Auf der Aachener Reichsversammlung im Frühjahr 802 wurden die Klostervorsteher aufgefordert, ihre Gemeinschaft gemäß der Regel zu leiten, den Bischöfen zu gehorchen und deren Aufsichtsrecht zu akzeptieren. Aber damit nicht genug: Die Einhaltung seines zentralen Anliegens ließ Karl von missi überprüfen: War die Regel den Mönchen nur im Wortlaut bekannt, oder verstanden und vor allem richteten sie sich bei ihrer Lebensführung auch nach ihr? Nachdem die missi im Oktober des gleichen Jahres auf einer neuerlichen Reichsversammlung über ihre – allem Anschein nach negativen – Erkenntnisse berichtet hatten, stand die Verbesserung des monastischen Lebens erneut auf der Tagesordnung: Feierlich wurde die Regula Benedicti verlesen und damit erneut als die allein verbindliche Regel anerkannt.30 Danach verfügte die Reichsversammlung, Mönche und Nonnen sollten künftig das Chorgebet nach den Vorschriften der Benediktsregel feiern.31 Laut Josef Semmler haftete „diesem Beschluß der Versammlung von Aachen in Anbetracht der damaligen Situation des fränkischen Mischregelmönchtums der Charakter des Revolutionären“ an.32 Dies wird umso deutlicher, als die Versammlung die Benediktsregel zur Grundlage ihrer Beschlüsse über wichtige Einzelfragen wie die Dauer des Noviziats oder das Verhältnis von Abt und Konvent machte.33 Das Interesse des Kaisers an Veränderungen im klösterlichen Bereich war also offenkundig. Allerdings gab es großen Widerstand, weshalb Karls Vorstellungen nicht in die Tat umgesetzt wurden. So soll Abt Adalhard von Corbie heftig widersprochen und sich einen hitzigen Wortwechsel mit Benedikt von Aniane geliefert haben.34 Der Versuch, das Mönchtum zu vereinheitlichen, geriet – wieder einmal – ins Stocken.
28 Vgl. Semmler 1965, 263–264. 29 Vgl. Admonitio generalis, ed. Mordek/Zechiel-Eckes/Glatthaar. 30 Annales Laureshamenses, ed. Pertz, a. 802, 38–39. 31 Chronicon Moissacense, ed. Kettemann, a. 802, 103. 32 Semmler 1965, 266–276. 33 MGH Capit. 1, c. 23–24, 108–109, Nr. 34; zur Einordnung vgl. Eckhardt 1955, 21–23. 34 Semmler 1963, 48–49.
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Die Vielfalt der monastischen Lebensformen muss Karl daher weiterhin als Problem empfunden haben. 811, also fast zehn Jahre nach den Reformplänen von 802, verlangte er von den einzelnen Klöstern eine Erklärung darüber, welcher Regel sie folgten. Gerade dieser Punkt entschied in den Augen des alten Kaisers über die Frage, ob ein Abt als zuverlässig gelten konnte oder nicht.35 Da das gesamte Kapitular in diesem Ton gehalten ist, hat François Louis Ganshof vermutet, der alte Kaiser sei an diesem Tag ausgesprochen schlechter Stimmung gewesen.36 Auf jeden Fall spricht ein tiefes Misstrauen gegen die Äbte aus dem Text: Es solle untersucht werden, ob derjenige tatsächlich die Welt aufgegeben habe, der einfache Leute unter Hinweis auf eine himmlische Belohnung beziehungsweise die Qualen der Hölle dazu bringe, ihre Güter zugunsten der Kirche zu stiften, oder aber ob dieser nur an den eigenen Vorteil dächte. Anscheinend gelangten gestiftete Güter oftmals nur formal in das Eigentum der Kirche, faktisch aber in den Besitz der Äbte. Außerdem gab es noch eine zweite unerwünschte Nebenwirkung dieser Praxis: Die auf diese Weise um ihr Hab und Gut gebrachten Erben der frommen Stifter verarmten und wurden zu Dieben und Räubern.37 Weiter war es anscheinend gerade unter Äbten recht verbreitet, den eigenen Status nach Bedarf zu variieren. Einmal traten sie als Grundherren mit stattlichem Gefolge auf, und ein andermal als Mönche, um nicht zum Kriegsdienst herangezogen zu werden.38 Die Auswirkungen solcher Verhaltensweisen auf das Klosterleben liegen auf der Hand und werden in dem Kapitular mit klaren Worten angesprochen. Wohl als Reaktion auf diese Initiative Karls des Großen tagten 813 im Reich fünf Synoden, die sich mit diesen und anderen Missständen in der Kirche befassten. Was die Klosterregel anbelangt, so wollte man etwa auf der Mainzer Versammlung die Benediktsregel für alle Klöster verbindlich machen, während man in Arles lediglich anmahnte, überhaupt eine Regel zu befolgen.39 Insgesamt ging es damals wohl vor allem um die „Minimalforderung […], nach seiner eigenen Regel, entweder der kanonischen oder der monastischen zu leben.“40 Wie Lotte Kéry gezeigt hat, erhoffte man sich 813 die Lösung dieser Probleme von den Bischöfen. Diese sollten die Äbte kontrollieren und zwar nicht in erster Linie als deren kirchliche Vorgesetzte, sondern im Auftrag des Herrschers.41 Dieses Kontrollrecht sollte freilich den Klosterbesitz in keiner Weise tangieren, über den ja auch Karl – zumindest im Falle der ihm tradierten Klöster – ganz selbstverständlich selbst verfügte. Zusammenfassend wird man daher auch für Karl feststellen dürfen: Trotz des gestiegenen Interesses an einer Verbesserung des monastischen Lebens blieb es auch
35 Capitula, ed. Ganshof, c. 2, 21; vgl. Kéry 2006, 14. 36 Ganshof 1967, 16. 37 Capitula, ed. Ganshof, c. 5, 22. 38 Ebd. c. 8, 23; vgl. Felten 1980, 168–169, 171; Kéry 2006, 15. 39 MGH Conc. 2,1, can. 11, 1, 263, Nr. 36; ebd. Nr. 34, can. 6, 251. 40 Kéry 2006, 19. 41 Ebd. 30–40.
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unter ihm bei der schon mehrfach genannten Diskrepanz: Er hielt an seiner Herrschaft über die Klöster fest und drängte 802 zugleich auf eine Umgestaltung des klösterlichen Lebens im Sinne der Reform, ohne dabei einen offenen Bruch mit der traditionalistischen Partei um seinen Vetter Adalhard von Corbie zu riskieren. Die Bischöfe für diese Zwecke einzubinden, war 813 wohl ein geschickter Schachzug des Kaisers, entsprach dies doch sowohl dem Kirchenrecht als auch dem konkreten Eigeninteresse der Bischöfe. Ihnen eröffnete sich die Möglichkeit, sowohl die Idealvorstellungen in den Klöstern ihrer Diözese durchzusetzen als auch diese insgesamt fester an sich zu binden.
3 Ludwig der Fromme und die Klöster Karls Bemühungen, das Klosterleben zu reformieren und die Benediktsregel zur alleinigen Richtschnur monastischen Lebens zu erheben, blieben zu seinen Lebzeiten insgesamt erfolglos. Das mag auch damit zusammenhängen, dass sein Vetter Adalhard von Corbie einer seiner maßgeblichen Berater war. Wie schon erwähnt, war Adalhard stärker an der Einhaltung althergebrachter Traditionen interessiert denn an einer monastischen Reform. Nach Karls Tod 814 verwies sein Nachfolger Ludwig der Fromme den alten Abt des Hofes. An seine Stelle traten Vertraute Ludwigs, die diesen bereits während seiner Zeit als Unterkönig von Aquitanien beraten hatten. Für monastische Angelegenheiten wurde nun Abt Benedikt von Aniane maßgeblich. Unter Benedikts Einfluss ging Ludwig die Klosterreform bald sehr entschieden an. Auf den Aachener Reformsynoden von 816 bis 819 wurde die Benediktsregel für alle Mönche und Nonnen verpflichtend gemacht und diese konsequent von den gemeinschaftlich lebenden Kanonikern und Kanonissen unterschieden. Diesen war nach den in Aachen erlassenen institutiones zwar das gemeinschaftliche Leben, die vita communis, vorgeschrieben, aber dem einzelnen Kanoniker war etwa privates Eigentum gestattet.42 Alle geistlichen Gemeinschaften sollten sich für eine spezifische Regel entscheiden: Kanoniker- beziehungsweise Damenstifte für die Aachener Kanonikerregel, Mönchs- beziehungsweise Nonnenklöster für die Benediktsregel sowie für die von Benedikt von Aniane verfasste consuetudo. Spezielle missi monastici kontrollierten die Durchführung der Aachener Beschlüsse, die keineswegs überall freudig aufgenommen wurden. Viele Konvente bedeutender Klöster, welche die Benediktsregel nicht akzeptieren wollten, entschieden sich für die Umwandlung in ein Kanonikerstift oder ignorierten die Anordnungen des Kaisers womöglich ganz, um an ihren althergebrachten Regeln und Gewohnheiten festzuhalten. Jedenfalls lässt
42 MGH Conc. 2,1, can. 115, 397, Nr. 39; vgl. Semmler 1963.
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die Quellenlage oft kein Urteil über die Frage zu, ob ein Konvent eine Entscheidung gemäß der in Aachen vorgegebenen Alternative traf.43 Auch jenseits der Gesetzgebung bemühte sich Ludwig der Fromme um eine Förderung der Klöster im Speziellen und aller Kirchen im Allgemeinen. Laut Thegan ließ er alle Privilegien erneuern, die seine Vorgänger den Kirchen ausgestellt hatten.44 Dabei verschmolzen Königsschutz und Immunität zu einer Einheit.45 Dazu kam ein generelles Recht der freien Wahl des Vorstehers, wie es zumindest aus dem Capitulare ecclesiasticum von 818/19 hervorzugehen scheint.46 Es mag sein, dass Ludwig sich davon eine Besserung insbesondere der monastischen Zustände erhoffte, doch hielt er sich selbst nicht an seine eigene Vorgabe. Ausgerechnet diejenigen Äbte, auf die er sich bei der Durchsetzung der Klosterreform stützte, waren selbst oft gerade keine Mönche.47 Ganz pragmatisch stand also die Loyalität des Klostervorstehers über den allgemein eingeforderten benediktinischen Vorgaben. Allem Anschein nach war der Kaiser sogar der erste Karolinger, der Laien im eigentlichen Sinne des Wortes mit der Funktion des Abtes betraute.48 Damit kam gerade unter Ludwig eine Praxis auf, die den monastischen Idealen ganz sicher nicht entsprochen hat. Zudem wurde der Fortgang der Klosterreform auch von äußeren Faktoren negativ beeinflusst. Anfang des Jahres 821 starb Benedikt von Aniane, und kurz darauf kehrte Adalhard von Corbie nicht nur an den Hof zurück, sondern er wurde zusammen mit seinem Bruder Wala zum wichtigsten Berater des Herrschers. Man kann bezweifeln, ob die Reform des Mönchtums im Sinne Benedikts nach wie vor ganz oben auf dessen Agenda stand. Dazu kommt, dass die seit der Geburt Karls des Kahlen 823 in Frage gestellte Nachfolgeregelung alle anderen Angelegenheiten zu überlagern begann. Ludwig bemühte sich, seinen Sohn aus zweiter Ehe zu Lasten seiner drei Söhne aus erster Ehe mit einem Reichsteil auszustatten, und vernachlässigte dadurch anscheinend andere Vorhaben, insbesondere die kirchlichen Angelegenheiten. Die Kritik an seiner Herrschaft wurde laut, gerade auch in kirchlichen Kreisen. So formulierten einige Bischöfe um 825 brieflich eine vorsichtige Beanstandung des Laienabbatiats.49 Auf der dem Kaiser gegenüber äußerst kritisch eingestellten Pariser Synode von 829 war das Laienabbatiat jedoch kein zentrales Thema.50 Die Unzufriedenheit mit Ludwig steigerte sich zunehmend, und 830 kam es zu einem ersten Aufstand der älteren Söhne, gefolgt von einem zweiten 833, der sogar zur vorübergehenden Absetzung des Kaisers führte. An dieser Stelle auf die Motive der Aufständischen ein-
43 Ausgesprochen skeptisch Felten 1992/93. 44 Thegan, Gesta, ed. Tremp, c. 10, 192. 45 Vgl. Semmler 1982; Boshof 1996, 108. 46 MGH Capit. 1, c. 5, 276, Nr. 138. 47 Vgl. Geuenich 1988. 48 Felten 1980, 280–288. 49 Vgl. Felten 1980, 294. 50 Vgl. MGH Conc. 2,2, 596-680, Nr. 50.
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zugehen, würde zu weit führen.51 Konstatieren lässt sich allerdings, dass in diesen Kämpfen und auch in den folgenden Auseinandersetzungen die Klöster und ihre Äbte nicht umhin kamen, für einen Angehörigen der zerstrittenen Dynastie Partei zu ergreifen. So standen nicht mehr Fragen des monastischen Lebens im Vordergrund, sondern Anforderungen der praktischen Politik. Seit 833 erhob etwa Ludwig der Deutsche Anspruch auf die Gebiete rechts des Rheins. Ludwig der Fromme erkannte dies nicht an, was seine Urkunden für Klöster in den strittigen Gebieten, also im östlichen Franken, Sachsen und Alemannien belegen.52 Ludwig der Deutsche blieb bei seiner Urkundenvergabe weitgehend auf sein angestammtes Unterkönigreich Bayern beschränkt. Bei der Neubesetzung vakanter Posten kam der Anspruch des Kaisers noch deutlicher zum Tragen. 837 bestimmte er mit Samuel einen neuen Abt von Lorsch, der bald darauf auch das Bistum Worms erhielt.53 Im gleichen Jahr setzte Ludwig der Fromme in St. Gallen einen neuen Vorsteher ein.54 838 wiederholte sich dies auch auf der Reichenau, zu deren Abt Walahfrid Strabo aufstieg, ein enger Vertrauter Ludwigs des Frommen.55 Damals überwarfen sich Vater und Sohn endgültig, und es kam zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen ihnen. Samuel und seine Mitäbte standen auf der Seite des alten Kaisers und, nachdem dieser 840 gestorben war, auf der seines ältesten Sohnes, Kaiser Lothar.56 Dieser übernahm den Anspruch auf die Gebiete rechts des Rheins und wurde dort auch weithin anerkannt, zumindest von den führenden geistlichen Großen. In den nun folgenden Kämpfen konnte Ludwig der Deutsche sich allerdings durchsetzen und verdrängte die kaisertreuen Äbte St. Gallens und der Reichenau aus ihren Gemeinschaften.57 Samuel von Lorsch und Worms gelang es allerdings, sich mit den neuen Verhältnissen zu arrangieren und im Amt zu bleiben.
4 Die Diskrepanz von Norm und Wirklichkeit. Ein Erklärungsversuch Ludwig der Fromme ging bei seinen Versuchen, die Regula Benedicti als einzige Mönchsregel durchzusetzen, viel weiter als seine Vorgänger. Zudem hat er zahlreiche Privilegien ausgestellt, in denen er Klöstern das Recht der freien Abtswahl zugesichert hat. Und dennoch behielt er zugleich die eingeführte Praxis bei, Klöster an Per-
51 Dazu grundlegend Patzold 2006; vgl. auch De Jong 2009. 52 Bigott 2004, 123-124 Anm. 11–13. 53 Gensicke 1973, 253; Hartmann 2002, 32; Bigott 2004, 126. 54 Hartmann 2002, 32; Bigott 2002, 67. 55 Bigott 2004, 126. 56 Ebd., 129-130; MGH Conc. 2,2, 793, Nr. 61. 57 Bigott 2004, 130; ders. 2002, 81-83; Ratbert, Casus sancti Galli, ed. Steiner, c. 18, 186.
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sonen seiner Wahl zu vergeben. Das Ringen um das rechte monastische Leben wurde durch die innerpolitischen Wirren unter seinen Söhnen in den Hintergrund gedrängt. Auch weiterhin benutzten die Karolinger viele Klöster vor allem zur Belohnung ihrer Getreuen. Einfluss auf die inneren Verhältnisse der Konvente scheinen sie aber nur selten genommen zu haben, meist dann, wenn es zu Konflikten zwischen Äbten und Konventen gekommen ist. Wie aber ist die unter Pippin, Karl dem Großen und Ludwig dem Frommen zu Tage tretende Diskrepanz zwischen dem Bemühen dieser Herrscher, die Klöster im Sinne der Regula Benedicti zu reformieren, und ihrem machtpolitischen Umgang mit dem Posten des Abtes beziehungsweise mit den Gütern vieler Klöster zu erklären? Nach Semmler ging es Karl dem Großen bei seiner monastischen Gesetzgebung um das Reich, nicht eigentlich um die Klöster und Mönche. Ihre rechte Ordnung sollte demnach dem Wohlergehen des Reiches dienen, sie blieben sozusagen in dienender Funktion. Erst unter Ludwig dem Frommen habe eine echte Reform stattgefunden.58 Zumindest die letzte These kann man bezweifeln. Kéry hat ergänzend hinzugefügt, Karl habe die Mönche in dem Moment kritisiert, da sie sich im eigenen Interesse nicht an die Regel hielten. Geschah dies dagegen im Interesse des Königs, akzeptierte er auch deutliche Verstöße gegen die Regel.59 Woher kommt dieser Pragmatismus, so kann man weitergehend fragen. Ein Grund verbirgt sich vermutlich hinter der Gebetsklausel für König und Reich, auf die bereits Eugen Ewig hingewiesen hat: pro stabilitate regni nostri sollten die Mönche beten, so kann man in Königsurkunden seit der Merowingerzeit lesen.60 Schon Pippin der Mittlere stellte sich mittels einer etwas abgewandelten Form in diese Tradition, und unter Pippin, Karl dem Großen, Ludwig dem Frommen und ihren Nachfolgern begegnet diese Gebetsklausel geradezu stereotyp. Mit der zunehmenden Verchristlichung des Königsamtes seit dem Dynastiewechsel von 751 scheinen die Herrscher die Gebetshilfe der Mönche ernster genommen zu haben. Bedachte ein Herrscher dabei, wie wirksam – beziehungsweise unwirksam – ein solches Gebet war, wenn es von unwürdigen Mönchen gesprochen wurde, so lag auf der Hand, was er zu tun hatte: Er musste für ein gottgefälliges Leben der Mönche sorgen, wenn diese wiederum wirksam um den Segen des Höchsten für das Reich bitten sollten. Wenn aber das Reich und damit der König sozusagen die eigentliche Daseinsberechtigung der Klöster darstellten, dann hat es für die Zeitgenossen die von uns empfundene Diskrepanz zwischen der Setzung von Normen und ihrer Umsetzung vielleicht gar nicht gegeben. Der König war dann berechtigt, die Güter eines Klosters, ja dieses selbst zu verwenden, um dem irdischen Nutzen des Reiches zu dienen, solange dies die Mönche nicht daran hinderte, wirksam für das Seelenheil Verstorbener, aber auch für die Beständigkeit des Reiches zu beten.
58 Semmler 1965, 289. 59 Kéry 2006, 48; vgl. auch Semmler 1965, 288. 60 Ewig 1982, 46–48.
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Wilfried Hartmann
Äbte und Mönche als Vermittler von Texten auf karolingischen Synoden Synoden sind Versammlungen von Bischöfen, auf denen Streitfälle geschlichtet werden, Gericht über Mitbischöfe gehalten wird und oftmals auch Entscheidungen über Fragen der liturgischen Praxis sowie des täglichen Lebens von Klerikern und Laien getroffen werden.1 Diese Entscheidungen oder Beschlüsse der Synoden, die Synodalkanones, wurden in vielen Fällen zu häufig zitierten und in die Praxis umgesetzten Normen des kirchlichen Rechts. In der Karolingerzeit, vor allem in der Mitte und der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts, waren diese Synodalkanones häufig nicht frei formulierte kurze Texte, sondern sie waren vielfach mit Zitaten aus der Tradition angereichert, um ihre Geltung in dieser Tradition zu verankern. Es kam auch öfter vor, dass ältere Texte übernommen wurden, ohne dass dies gekennzeichnet wurde. Aus welchen Vorlagen wurden diese Zitate übernommen und warum kommen hier Äbte und Mönche ins Spiel, die ja gar keine stimmberechtigten Teilnehmer an diesen Synoden waren? Dass Äbte an Synoden teilgenommen haben, wissen wir aus den Unterschriftslisten der Teilnehmer, die entweder zusammen mit den Akten oder Beschlüssen überliefert sind oder die am Ende einer von den Teilnehmern der Synode erlassenen Urkunde erscheinen.2 Welche Rolle die Äbte bei den synodalen Verhandlungen aber spielten, ist fast immer unklar, so wie wir überhaupt nur wenig über die „inneren“ Vorgänge auf einer Synode sagen können.3 Wer hat die Kanones formuliert und wer hat die Zitate aus der Tradition des Kirchenrechts bereitgestellt: das würden wir gern wissen, aber Aussagen über diese uns interessierenden Tatbestände machen die Quellen zu den Synoden nicht. Immerhin wissen wir, dass auch die teilnehmenden Äbte am Ende einer Synode mit einem Exemplar der Konzilsbeschlüsse ausgestattet und dass diese Texte dann in die Klosterbibliothek aufgenommen wurden: wir besitzen nämlich noch einen kleinen Codex mit den Kanones der Synode von Mainz 847 in der Stiftsbibliothek St. Gallen (heute St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 296), der wahrscheinlich von einem Mainzer Schreiber geschrieben und von Abt Grimalt ins Kloster gebracht wurde.4
1 Allgemeine Bemerkungen über das Wesen der Synoden finden sich vor allem bei Hinschius 1883, 325–332 und bei Barion 1931, 146–166 (zu den Aufgaben der Synoden). 2 Einige derartige Listen habe ich in einem Aufsatz untersucht: Hartmann 1982, 124–139. 3 Einen Einblick über eine kleine Episode auf der Synode von Attigny 870 gewährt ein kurzer Abschnitt im c. 33 des Libellus expostulationis Hinkmars von Reims, den dieser auf der Synode von Douzy im August 871 vorlegte, vgl. Hartmann 1995/96, 137–145. 4 MGH Conc. 3, 79–80. © 2015, Hartmann. Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 3.0 Lizenz.
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Wir wollen uns in diesem kleinen Beitrag mit den Zitaten in den karolingischen Konzilskanones beschäftigen und dabei vor allem mit der Frage, aus welchen Vorlagen diese Zitate entnommen wurden. Dabei muss man zwischen den eigentlichen Quellen, also den Kanones früherer Synoden, den Briefen von Päpsten oder den Aussagen von Kirchenvätern und den unmittelbaren Vorlagen, aus denen diese Exzerpte entnommen wurden, unterscheiden. Zitate aus den alten Konzilien und aus Papstdekretalen können aus zwei unterschiedlichen Arten von Vorlagen übernommen worden sein: entweder aus den sogenannten Sammlungen historischer Ordnung oder aus systematischen Sammlungen. Die ersteren, also die Sammlungen historischer Ordnung, beginnen mit den Kanones der Konzilien seit dem Konzil von Nicaea (325) in chronologischer Abfolge, dann folgen – wiederum chronologisch gereiht – Kapitel aus päpstlichen Dekretalen, also aus Papstbriefen des ausgehenden 4. bis 6. Jahrhunderts mit rechtlichem Inhalt. Die wichtigste derartige Sammlung in karolingischer Zeit war die Collectio Dionysio-Hadriana, eine Sammlung, die auf den berühmten Gelehrten Dionysius Exiguus († vor 556) zurückgeht und die – in einer aktualisierten Fassung – Papst Hadrian I. Karl dem Großen bei seinem ersten Besuch in Rom im Jahr 774 übergeben hat. Diese Sammlung erhielt im Frankenreich eine geradezu „offizielle“ Funktion, was sich in ihrer riesigen Verbreitung und Überlieferung zeigt: aus dem 9. Jahrhundert haben sich 60 Handschriften und 7 Fragmente ehemals vollständiger Codices erhalten.5 Damit ist die Dionysio-Hadriana das mit Abstand am häufigsten überlieferte kirchenrechtliche Werk aus der Karolingerzeit. Von ähnlicher Bedeutung ist unter den systematisch geordneten Sammlungen die sogenannte Collectio Dacheriana, die ihren Namen nach ihrem ersten Herausgeber Luc d’Achery († 1685) erhalten hat. Sie besteht aus knapp 400 Kapiteln und wurde wahrscheinlich von dem bedeutenden Bischof Agobard von Lyon (816-835/40) zusammengestellt. Aus dem 9. Jahrhundert haben sich von diesem Werk 29 Codices erhalten.6 Unter den systematischen Collectiones canonum sollen hier nur noch die Collectio Vetus Gallica und die Collectio Hibernensis, die Irische Kanonessammlung, erwähnt werden. Von der Vetus Gallica sind aus dem 9. Jahrhundert 13 Codices erhalten;7 von der Hibernensis besitzen wir neben vier Codices mit dem vollständigen Text zahlreiche Exzerpthandschriften.8 Beide Sammlungen finden sich vor allem in Klosterbibliotheken, das kommt wohl daher, dass die Vetus Gallica sich ausgiebig mit dem Mönchswesen befasst,9 während die Hibernensis als Produkt aus Irland
5 Vgl. Kéry 1999, 14–18. 6 Ebd. 87–91. 7 Ebd. 51–52. 8 Ebd. 73–77. 9 Vgl. Mordek, 1975 bes. Index auf 705 (s.v. Mönche).
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besonders in den von irischen Mönchen geprägten Klöstern wie St. Gallen beheimatet war. Von dort ist ein am Beginn des 9. Jahrhundert geschriebener Codex mit dieser Sammlung erhalten (St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 243); aus derselben Zeit stammt ein Fragment von der Reichenau (heute: Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Aug. perg. 18). Ein zweiter Aspekt, der wenigstens kurz erwähnt werden soll, ist die Bedeutung des Klosterwesens in der Synodalgesetzgebung der Karolingerzeit: Da das Klosterwesen im 8. und 9. Jahrhundert einen großen Aufschwung nahm, haben sich die Synoden in zahlreichen Normen mit diesem Thema befasst.10 816 wurden auf einem Konzil in Aachen zwei große Kapitularien für die Mönche und die Nonnen erlassen; erst kürzlich ist wieder ein Versuch gemacht worden, die dafür benutzten Vorlagen näher zu bestimmen.11 Ein dritter Punkt ist die Frage, welche Bedeutung den Mönchen für die Weiterentwicklung des kanonischen Rechts im 9. Jahrhundert zukam. Hier ist vor allem die großartige Entdeckung des allzu früh verstorbenen Klaus Zechiel-Eckes zu nennen, wonach die bedeutende Fälschung der Sammlung des sogenannten Pseudoisidor in wesentlichen Teilen im Kloster Corbie unter Federführung von Paschasius Radbertus (Abt von Corbie 844-849/853) hergestellt wurde.12 Zechiel-Eckes hat nämlich entdeckt, dass in einer Reihe von Handschriften, die zentrale Vorlagen für die pseudoisidorischen Dekretalen enthalten, übereinstimmend aussehende Nota-Zeichen sich finden und zwar gerade an den Stellen, an denen diesen Werken Texte entnommen wurden, die für die Fabrikation der falschen Dekretalen herangezogen wurden. Es dürfte daher bewiesen sein, dass diese Handschriften, die im 9. Jahrhundert unzweifelhaft im Kloster Corbie lagen, vom Fälscher und seinen Helfern benutzt wurden. Damit dürfte das Kloster Corbie unter seinem Abt Paschasius Radbertus als Werkstatt für die Großfälschung Pseudoisidor erwiesen sein. Im Fall dieses Fälschungswerks können wir sogar noch sagen, warum es in einem Kloster und nicht an einer bischöflichen Bibliothek entstanden ist: der Anlass für die Fälschung war die 830/835 erfolgte Absetzung der gegen Kaiser Ludwig den Frommen agierenden Erzbischöfe und Bischöfe; nach der Verdrängung Ebos von Reims, Agobards von Lyon und ihrer Verbündeten von ihren Bischofssitzen blieb ihren Anhängern nur noch der Rückzug ins Kloster, wo sie in den Jahren nach 835 die große Fälschung angefertigt haben dürften.
10 Vgl. Hartmann 1989, 422–426. 11 Vgl. Schmitz 2012, 23–51. 12 Vgl. zuletzt Zechiel-Eckes 2011, 13.
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Nun aber zu einigen bedeutenden Synoden aus der Mitte und der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts und zu der hier interessierenden Frage, ob dabei Äbte und/oder Mönche als Vermittler von Texten aufgetreten sind: Die große Synode von Meaux-Paris, die 845 und 846 an zwei Orten und über mehrere Monate hindurch tagte, war wohl vor allem von Bischöfen bestimmt. Wahrscheinlich sind die Verfasser der Kanones unter solchen Bischöfen zu suchen, die enge Kontakte zu den Männern besaßen, die mit der Anfertigung der falschen Dekretalen zu tun hatten.13 Man könnte etwa an Bischof Rothad von Soissons zu denken. Hinkmar von Reims, der 845 auf den Reimser Bischofsstuhl gelangt war und damit eine Position einnahm, die Ebo 835 hatte räumen müssen, spielte damals wahrscheinlich noch keine bedeutende Rolle. Unter den 80 Kanones von Meaux-Paris gibt es nicht sehr viele, die sich mit dem Mönchswesen befassen; eigentlich sind das nur die drei Kapitel 57, 59 und 60.14 Wenn wir nach den Vorlagen für die (insgesamt eher wenigen) wörtlichen Zitate in den 56 Kanones (cc. 25–80) fragen, die in Meaux und Paris formuliert wurden, dann zeigt sich, dass es nur in acht Kanones überhaupt solche Zitate gibt. Von diesen stammen sechs aus Papstbriefen (Leo I. und Gregor I. in cc. 31, 41, 61, 65 und 72), vier aus Konzilien (in cc. 40, 52 und 61) und eine aus den Homilien Gregors I. (in c. 39). Da es sich bei den Zitaten nur um jeweils wenige Wörter handelt, kann die direkte Vorlage nicht bestimmt werden, auch deshalb, weil die Zitate aus den Papstdekretalen und aus den alten Konzilien zumeist in der Collectio Dionysio-Hadriana zu finden sind, die in zahlreichen Codices vorlag. Nichts spricht dafür, dass ein aus einem Kloster stammender Codex benutzt wurde. Auffallend ist die Nähe einiger Beschlüsse des Konzils zu den pseudoisidorischen Fälschungen. Das gilt einmal für Kapitel 44, das gegen die Chorbischöfe gerichtet ist, dann für die Kapitel 61 und 62, die sich mit dem Raub an Kirchengut befassen. Dabei gibt es enge Berührungen mit falschen Dekretalen (Ps.-Lucius)15 und den falschen Kapitularien des Benedictus Levita.16 Die Kenntnis der pseudoisidorischen Fälschungen dürfte durch einen Bischof oder mehrere Bischöfe der Synode vermittelt worden sein.
Ostfrankenreich Die beiden Synoden von Mainz 847 und Mainz 852 waren durch Hrabanus Maurus (Erzbischof von Mainz 847–856) bestimmt, der lange Zeit im Kloster Fulda gewirkt
13 Vgl. Hartmann 1983, bes. 83–91. 14 MGH Conc. 3, 111–112. 15 Vgl. ebd. 113, Anm. 182. 16 Ebd. 113, Anm. 185 und 114, Anm. 187.
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hatte, zuerst als Leiter der dortigen Schule (seit 818), dann als Abt (822–842). Unter den auf diesen Synoden herangezogenen Vorlagen17 ragen die Kanones der Reformsynoden von 813 heraus. Wenn wir nach möglichen handschriftlichen Vorlagen fragen, so müssen wir feststellen, dass diese Kanones nur schwach überliefert sind: sie sind nur in zwei Handschriften aus dem 9. Jahrhundert überliefert. Die eine, Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 751, wurde in der Mitte des 9. Jahrhunderts in Westdeutschland geschrieben; die andere, Novara, Biblioteca Capitolare, LXXI, in der Mitte oder dem dritten Viertel des 9. Jahrhunderts, sie stammt aus Oberitalien.18 Aufgrund ihrer Entstehungszeit und ihres Herkunftsgebiets könnte am ehesten die Handschrift Wien 751 als Vorlage für die Kanones von Mainz 847 und 852 in Frage kommen. Ihr ursprünglicher Aufenthaltsort ist allerdings bisher ungeklärt. Die nächste große Synode im Osten des Frankenreichs, das Konzil von Worms 868, habe ich vor längerer Zeit näher untersucht.19 In meinem vor 35 Jahren erschienenen Buch hatte ich vermutet, dass die Kanones von einem Mitglied des ostfränkischen Episkopats zusammengestellt und mindestens zum Teil auch bearbeitet worden seien.20 Da aber neben über 20 Bischöfen auch mindestens sieben Äbte aus dem Ostfränkischen Reich an der Synode teilgenommen haben, könnte man auch zu der Ansicht gelangen, dass es ein Abt oder Mönch gewesen ist, der die Zitate für die Synodalkanones herbeigeschafft hat. Die 45 echten Kapitel von Worms sind fast alle aus Vorlagen übernommen: 15 Kapitel stammen aus drei Briefen Papst Nikolaus’ I., weitere vier entsprechen Teilen von zwei Briefen Papst Gregors II., und mindestens 17 Kapitel wurden aus den Akten spanischer Synoden entnommen, die in der Collectio Hispana überliefert sind. Vielleicht gilt das auch für die fünf Kapitel, die aus gallischen Synoden stammen. Als mögliche handschriftliche Vorlage dieser spanischen und gallischen Konzilskanones könnte also ein Codex der Collectio Hispana Gallica gedient haben, der im westlichen Teil des Ostfrankenreichs vorhanden war: noch erhalten ist der heute im Vatikan liegende Codex Pal. lat. 575, der wahrscheinlich aus Mainz kommt; er wurde allerdings erst am Ende des 9. oder am Beginn des 10. Jahrhunderts geschrieben. Eine alte Handschrift der gallischen Form der Hispana, der sogenannte Rachio-Codex, lag bis 1870 in Straßburg; dieser Codex wurde wahrscheinlich am Ende des 8. Jahrhunderts geschrieben.21 Aus Corbie stammen die beiden Codices der Hispana Gallica, die von den Pseudoisidorianern umgearbeitet und verfälscht wurden (Berlin, Staatsbi-
17 Vgl. dazu ebd. 157–156 und 239–240. 18 Vgl. MGH Conc. 2,1, 247. 19 Vgl. Hartmann 1977. 20 Ebd. 105–106. 21 Vgl. ebd. 41 Anm. 85.
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bliothek, Hamilton 132 und Rom, BAV, Vat. lat. 1341).22 Eine Handschrift aus einem ostfränkischen Kloster hat sich nicht erhalten. Neben den Kanones wurde auf der Synode von Worms – vielleicht sollte man besser sagen: für diese Synode – eine Schrift gegen einige von den Bräuchen und dogmatischen Vorstellungen der Westkirche abweichende Ansichten und Praktiken der Ostkirche verfasst, die sogenannte Responsio contra Grecorum heresim.23 Unter den Quellen für diese polemische Schrift gegen die Griechen sind hervorzuheben: 1. Cresconius, Collectio canonum, eine systematische Kirchenrechtssammlung, die im 9. Jahrhundert recht verbreitet war (erhalten sind aus dieser Zeit 10 Codices und 3 Fragmente).24 Eines dieser Fragmente (heute Paris, Bibliothèque nationale de France, Lat. 3851) kommt aus dem Kloster Lorsch.25 Und dieses Fragment zeigt genau die Besonderheiten, die die Vorlage der Verfasser der Responsio aufgewiesen haben muss! Klaus Zechiel-Eckes hat diesen Tatbestand so kommentiert: „... keine 20 km vom Konzilsort (also von Worms) entfernt, in der überaus reich ausgestatteten Bibliothek des Klosters Lorsch, (war) ein Exemplar des gesuchten Cresconius-Überlieferungszweigs greifbar“.26 2. Das Florileg des Eugippius († nach 533) aus den Werken des Augustinus: auch von diesem nach 511 entstandenen Werk war in Lorsch eine Handschrift vorhanden.27 Da der Verfasser der Responsio neben dem Florileg des Eugippius die Werke des Augustinus auch direkt herangezogen hat, muss man nach einer Bibliothek suchen, in der diese Werke vorhanden waren: und auch dies war in Lorsch der Fall! Es könnte also so aussehen, als ob die Responsio in Lorsch entstanden sei. Allerdings war das Florileg des Eugippius auch in anderen bedeutenden Klosterbibliotheken des Ostfrankreichs, besonders auf der Reichenau und in St. Gallen, greifbar. Dazu kommt, dass es noch einige Zitate gibt, die selten überlieferten Werken entnommen sind, und damit ändert sich die Sachlage ganz wesentlich: 3. Der Liber officialis des Amalarius von Metz († um 850) ist ein liturgisches Werk, das in zahlreichen Handschriften überliefert ist, von denen die meisten allerdings aus der Zeit ab dem 11. Jahrhundert stammen. Ein alter Codex aus Lorsch von diesem Werk hat sich nicht erhalten, wir besitzen aus dem 9. Jahrhundert aus dem Gebiet des Ostfränkischen Reiches heute nur noch die Handschrift St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 278.28
22 Vgl. Mordek 1995, 29 (zur Berliner Hs.) Kuttner/Elze 1986, 80-81 (zur Handschrift Rom, BAV, Vat. lat. 1341). 23 MGH Conc. 4, 291–307. 24 Vgl. Kéry 1999, 33–36 und Zechiel-Eckes1992, 313–354. 25 Ebd. 334–335. 26 Ebd. 203. 27 Vgl. Becker 1885, 119 Nr. 588. 28 Vgl. Amalarius, Opera liturgica omnia, ed. Hanssens, 120–126, bes. 123. – Es gab jedoch eine Handschrift dieses Werks in Mainz, die noch 1549 von Cochlaeus benutzt wurde, und ein Bibliothekskata-
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4. Ein sehr langes Zitat der Responsio ist aus einer Predigt entnommen, die nur in drei Handschriften des 9. Jahrhunderts überliefert ist (München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 18524b, 14776 und 14540), von denen zwei in Salzburg in den 820er oder 830er Jahren geschrieben wurden, während die dritte (Clm 14540) im zweiten Viertel des 9. Jahrhunderts in Regensburg (Kloster St. Emmeram) entstanden ist. 5. Zwei längere Zitate stammen aus einem Brief Karls des Großen an Alkuin,29 der sich u.a. in drei Handschriften findet, die aus dem Ostfrankenreich kommen: Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 795 (um 800 geschrieben), die ursprünglich in Salzburg lag, und die beiden St. Gallener Codices 677 und 899, die nach dem alten Katalog von Gustav Scherrer allerdings erst im 10. Jahrhundert entstanden sein sollen.30 Die Versionen des Textes der Responsio stimmen an mehreren Stellen mit den Handschriften aus Salzburg und aus St. Gallen überein. Wenn wir der Frage nach einem möglichen Entstehungsort der Responsio näher kommen wollen, müssen wir fragen, ob es auch alte Handschriften des Cresconius und des Eugippius aus Salzburg oder aus St. Gallen gibt. Für Cresconius sieht es so aus, dass im 9. Jahrhundert außer der oben erwähnten Lorscher Handschrift mindestens vier weitere Codices im Ostfränkischen Reich zur Verfügung standen: Heute noch erhalten sind Manuskripte dieser Collectio aus Würzburg (Oxford, Bodleian Library, MS. Laud. misc. 436; aus dem 1. Drittel 9. Jahrhundert); Mainz (Rom, BAV, Pal. lat. 579; 2. Viertel 9. Jahrhundert); Fulda (Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. 842 Helmst., 2. Viertel 9. Jahrhundert) und Kloster Weißenburg/Elsass (Rom, BAV, Reg. lat. 423, 2. Hälfte 9. Jahrhundert).31 In Klöstern wurde diese Sammlung demnach eher selten aufbewahrt. Vom Florileg des Eugippius besitzen wir noch eine Handschrift aus St. Gallen (Stiftsbibliothek, Cod. 176; 9. Jahrhundert), und auch auf der Reichenau gab es einen Codex mit diesem Werk.32 Wenn man die Überlieferung dieses Werks mustert, gewinnt man den Eindruck, als ob es fast nur in Klosterbibliotheken vorhanden war. Aus Dombibliotheken hat sich wenigstens kein Codex des Eugippius erhalten. Es muss demnach offen bleiben, ob die Responsio in einem Kloster oder in einer Dombibliothek verfasst wurde, wenn auch manches eher für ein Kloster zu sprechen scheint. In mehreren Handschriften sind zusätzlich zu den 45 echten Wormser Kanones weitere 36 Kapitel überliefert, für die völlig andere Vorlagen herangezogen wurden
log aus Salzburg bezeugt, dass das Werk in der Bibliothek von Erzbischof Friedrich (958–991) vorhanden war, vgl. ebd. 126 und 129. 29 Alkuin, Epistolae, ed. Dümmler, 229–230. 30 Vgl. Scherrer 1875, 221 und 315. 31 Vgl. Zechiel-Eckes 1992, 332, 338, 352 und 339–340. 32 Vgl. Becker 1885, 10 Nr. 350.
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als für die 45 authentischen Kapitel. Die wesentlichen Vorlagen dieses Anhangs33 sind die Collectio Dionysio-Hadriana, der 11 Kapitel entnommen wurden, und die Kapitulariensammlung des Abts Ansegis von Fontenelle, aus der 10 Kapitel stammen. Von den verbleibenden 15 Kanones sind vielleicht weitere vier aus einer Sammlung der historischen Ordnung (Dionysio-Hadriana oder Hispana) bezogen, zwei sind Kanones gallischer (cc. 60 und 61), weitere zwei frühkarolingischer Synoden (cc. 62 und 63), drei kommen aus dem Konzil von Mainz 847 (cc. 78–80). Besonders interessant sind die Kapitel 64 und 65, weil sie einem sehr selten überlieferten Bußbuch, dem Paenitentiale Martenianum, entnommen sind. Von diesem Bußbuch hat sich nur eine Handschrift erhalten, die im 9. Jahrhundert im Kloster Fleury geschrieben wurde (Florenz, Biblioteca Medicea Laurenziana, Ashburnham 82).34 Von der Dionysio-Hadriana besitzen wir aus dem Ostfrankenreich eine ganze Reihe von Handschriften. Davon stammen aus Klosterbibliotheken: Düsseldorf, Universitätsbibliothek, E.2 aus Werden; Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Aug. perg. 103 von der Reichenau; Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Weißenburg 3 aus Weißenburg und Würzburg, Universitätsbibliothek, M.p.th.f. 72 aus Fulda;35 aus Dombibliotheken: Köln, Erzbischöfliche Diözesan- und Dombibliothek, Mss. 115, 116 und 117 aus Köln; Frankfurt, Universitätsbibliothek, Ms. Barth. 64, aus Mainz; Freiburg, Universitätsbibliothek, Ms. 8, wohl aus Konstanz; München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 6242 und 6355, aus Freising; Clm 14008 (2. Hälfte 9. Jahrhundert) und 14517 (um 800), aus Regensburg; Rom, BAV, Pal. lat. 578, aus Mainz sowie Vat. lat. 7222 (Anfang 9. Jahrhundert) aus Salzburg.36 Die Zahl der Ansegis-Handschriften aus dem Osten des Frankenreichs ist dagegen nicht sehr groß: eigentlich kommen nur drei in Frage, die alle aus Klöstern stammen: – Hamburg, Staats- und Universitätsbibliothek, Cod. 141a in scrinio: aus Corvey – St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 727 aus St. Gallen und – Sélestat, Bibliothèque municipale, Ms. 14 (104) aus Weißenburg im Elsass.37 Es kann also gut sein, dass dieser Anhang von 36 Kapiteln – über dessen Entstehungszeit wir nichts Genaues wissen (die älteste Handschrift ist Bamberg, Staatliche Bibliothek, Can. 2 aus der 1. Hälfte des 10. Jahrhunderts und lag im Kloster Michelsberg)38 – in einem Kloster angefertigt wurde.
33 Vgl. MGH Conc. 4, 282–283. 34 Vgl. Mordek 1975, 200 Anm. 525. 35 Vgl. Kéry 1999, 15 und 17. 36 Ebd. 15–17. 37 Ebd. 93 und 96. Vgl. Mordek 1995, 152–153, 664–665 und 708–709. 38 MGH Conc. 4, 250.
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Wie das Konzil von Worms 868 ist auch die 20 Jahre später tagende Synode von Köln (888) wesentlich durch Erzbischof Liutbert von Mainz (863–889) geprägt worden. Auch in dieser Synode sind die Mehrzahl der Kanones entweder vollständig aus Vorlagen übernommen (14 Kapitel: cc. 2, 3, 4, 5, 6, 11, 12, 13, 14, 16, 17, 20, 21 und 22) oder sie enthalten längere Zitate (6 Kapitel: cc. 9, 19, 23, 24, 25 und 26).39 Eine wichtige Vorlage waren die Synoden von 813 (wie in Mainz 847 und in Mainz 852), aus denen einzelne Kapitel der Synoden von Tours, Mainz, Reims, Arles und Chalon sowie aus der Concordia episcoporum übernommen wurden (in cc. 5, 13, 17, 20, 21, 22, 34 und 25). Diese sogenannte Concordia ist nur in den Handschriften München, Bayerische Staatsbibliohek, Clm 27246 und Novara, Biblioteca Capitolare, Ms. LXXI überliefert.40 Schwer zu erklären ist die Herkunft der langen Zitate aus dem 2. Buch der Akten von Paris 829 (in cc. 2 und 3).41 Die vollständigen Akten von Paris 829 sind nur in den Codices Rom, BAV, Vat. lat. 3827 (3. Viertel 9. Jahrhundert, Nordfrankreich) und Paris, Bibliothèque nationale de France, Lat. 5516 (10. Jahrhundert) auf uns gekommen;42 eine ostfränkische Handschrift hat sich nicht erhalten. Außerdem wurden die Konzilien von Toledo 589 (in c. 4), von Orléans 549 (in c. 6) und von Worms 868 (in c. 16) benutzt.43 Das ältere Kirchenrecht spielt dagegen keine große Rolle, vor allem fehlen Zitate aus den echten Papstdekretalen. Diese Quellengattung ist nur durch falsche Dekretalen und anderes pseudoisidorisches Material vertreten, das zum großen Teil aus der Sammlung des sogenannten Ps.-Remedius übernommen wurde (in cc. 9, 11 und 12).44 Einige Zitate aus den alten Konzilien gibt es dennoch: in cc. 19, 23 und 26. Diese Zitate wurden wohl aus der Dionysio-Hadriana entnommen. Die von den Konzilsvätern von Mainz 888 herangezogenen Vorlagen weichen jedenfalls vollständig von den in Worms 868 benutzten Vorlagen ab. Während die Dionysio-Hadriana sowohl in Kloster- als auch in Dombibliotheken zur Verfügung stand, besitzen wir von der Sammlung des Ps.-Remedius heute nur noch einen Codex aus dem ausgehenden 9. Jahrhundert, der aus der Dombibliothek Freising stammt und im letzten Drittel des 9. Jahrhunderts geschrieben wurde (München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 6245).45 Man wird also mit aller Vorsicht sagen können, dass 888 in Mainz wahrscheinlich keine Texte aus Klöstern benutzt wurden.
39 MGH Conc. 5, 255–263. 40 Vgl. MGH Conc. 2,1, 297. 41 MGH Conc. 5, 255–257. 42 Vgl. MGH Conc. 2,2, 606. 43 MGH Conc. 5, 257 mit Anm. 16, 257–258 mit Anm. 18 und 260 mit Anm. 27. 44 Ebd. 258–259 mit Anm. 21, 23 und 24. – Diese Sammlung ist ediert als: Collectio canonum, ed. John. Vgl. ebd. 94–95. 45 Vgl. ebd. 30–33.
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Die bedeutendste Synode am Ende des 9. Jahrhunderts tagte 895 in Tribur (heute Trebur bei Groß-Gerau, nur ca. 40 km von Lorsch entfernt). Die Beschlüsse dieses Konzils sind in drei Fassungen überliefert, die jeweils eine unterschiedliche Anzahl von Kapiteln aufweisen. Wörtliche Zitate von größerem Umfang gibt es nur in der Versio Vulgata. Von den 58 Kapiteln dieser Version enthalten 35 Kapitel wörtliche Zitate, die meist ausdrücklich als solche gekennzeichnet und mit einer Quellenangabe versehen sind. In einigen Kapiteln kommen sogar mehrere Zitate vor. Viele dieser Zitate stammen aus den alten Konzilien und aus Papstdekretalen der Päpste des 5. Jahrhunderts. Welcher Vorlage diese Zitate entnommen sind, kann – wegen der Kürzungen und Umarbeitungen der Texte – nur in wenigen Fällen genau gesagt werden, so etwa dann, wenn die Quellenangabe Kapitelnummern enthält, die auf die Collectio Dionysio-Hadriana als Vorlage hindeuten.46 Die Zitate aus den Pseudoisidorischen Dekretalen in den Kapiteln 2, 4, 7–9, 19, 22, 31 und 32 sind ausnahmslos aus der Sammlung des sogenannten Pseudo-Remedius entnommen.47 Weitere Zitate aus den Schriften der Kirchenväter, die sich nicht in den Kanonessammlungen historischer Ordnung finden und die zum Teil recht umfangreich sind, stammen wahrscheinlich aus diesen Schriften selbst (z.B. Martin von Braga48; Ps.-Augustinus = Caesarius von Arles, Sermo 3349; Gregor I., Dialogi50 und Beda, Homilie II, 2351). Eine Reihe von Zitaten wurden der Collectio Hibernensis entnommen, nämlich die kurzen Texte in den Kapiteln 3, 4, 39, 41 und 46.52 Aus Schriften der Karolingerzeit stammen die Zitate aus der Admonitio generalis (789) in der Praefatio53, aus den Bischofskapitularien Theodulfs von Orléans54 und Haitos von Basel55, aus der Schrift De exordiis et incrementis des Walahfrid Strabo56 sowie aus den Konzilien von Worms 868 oder Mainz 888.57 Rudolf Pokorny hat bereits vor einigen Jahren die einleuchtende These aufgestellt, dass diese Version der Triburer Kanones in Bayern hergestellt wurde.58 Ich selbst habe einige bairische Bischöfe des ausgehenden 9. und beginnenden 10. Jahrhundert daraufhin betrachtet, ob sie als Verfasser dieser Version in Frage kommen.59
46 Vgl. MGH Conc. 5, 356, Anm. 77 und 358, Anm. 92. 47 Vgl. Collectio canonum, ed. John, 98. 48 MGH Conc. 5, 344, Anm. 13. 49 Ebd. 350, Anm. 47 und 351, Anm. 49. 50 Ebd. 353, Anm. 57. 51 Ebd. 355, Anm. 67. 52 Ebd. 346 Anm. 22, 347 Anm. 26, 363 Anm. 124, 364 Anm. 127 und 365 Anm. 134. 53 Ebd. 343 Anm. 9 und 10, 344 Anm. 13 a, 14 und 15 sowie 345 Anm. 16. 54 Ebd. 352 Anm. 56. 55 Ebd. 350 Anm. 44. 56 Ebd. 353 Anm. 58 und 354 Anm. 64. 57 Ebd. 347 Anm. 27. 58 Pokorny 1992, 477–478 und 484–485. 59 Vgl. Hartmann 2005, 87.
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Wenn wir aber etwas anders an die Sache herangehen und nicht fragen, welchen Teilnehmern der Synode von Tribur kirchenrechtliche Kenntnisse zuzutrauen wären, sondern wenn wir untersuchen, an welchem Ort die Vorlagen von seltenen Zitate greifbar waren, dann kommen wir vielleicht weiter: Von der Dionysio-Hadriana gibt es – wie schon gesagt – zahlreiche Handschriften aus dem 9. Jahrhundert, die Dombibliotheken von Freising, Regensburg und Salzburg besaßen alle sogar mehrere Codices dieser wichtigen und umfangreichen Sammlung. Dagegen fehlt die Dionysio-Hadriana in den Bibliothekskatalogen der bayerischen Klöster. Zitate aus den Pseudoisidorischen Dekretalen wurden nicht direkt der vollständigen Sammlung Pseudoisidors entnommen, sondern der schon erwähnten Exzerptsammlung des Pseudo-Remedius. Unter den erhaltenen Handschriften dieser Sammlung, die vor dem Ende des 9. Jahrhunderts entstanden sind, ist hier allein die Handschrift München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 6245 zu nennen: sie kommt aus der Dombibliothek in Freising und wurde im dritten Viertel des 9. Jahrhunderts geschrieben. Zitate aus der Collectio Hibernensis, die sich in fünf Kapiteln finden, könnten am ehesten aus den Codices 243 aus der Stiftsbibliothek St. Gallen oder Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Aug. perg. 18 von der Reichenau bezogen worden sein. Bayern ist in der Überlieferung dieser Sammlung nur vertreten durch eine Reihe von Exzerptwerken. Dabei wäre noch zu untersuchen, ob die Zitate in der Vulgatversion von Tribur hier überhaupt vorhanden sind. Einige der Zitate wurden recht selten überlieferten Werken entnommen. Es sind diese: 6. Das Werk des Martin von Braga, Formula honestae vitae, aus dem in der Praefatio zitiert wird,60 war im Ostfrankenreich des 9. Jahrhunderts allein in der Handschrift München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 14492 greifbar, die aus dem Kloster St. Emmeram in Regensburg stammt. Sie wurde dort im zweiten Viertel des 9. Jahrhunderts geschrieben.61 Aus dem 9. Jahrhundert haben sich außerdem noch erhalten: die Codices Den Haag, Museum Meermanno-Westreenianum, 10 D 10 (2. Hälfte 9. Jahrhundert) und Cambrai, Bibliothèque municipale, Ms. 204, um 900, der vielleicht aus Sachsen stammt62. Es gibt auch einen Codex mit diesem Werk Martins von Braga, der im ausgehenden 10. oder im 11. Jahrhundert in Lorsch geschrieben wurde und der heute in der Vatikanischen Bibliothek liegt (Rom, BAV, Pal. lat. 253).63
60 Vgl. MGH Conc. 5, 344 bei Anm. 13. 61 Vgl. Barlow 1950, 210, der die Handschrift auf das 3. Viertel des 9. Jahrhundert datiert, und Bischoff 2004, 259. 62 Vgl. Barlow 1950, 210–211. 63 Ebd. 216.
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Die langen Zitate in c. 1364 aus dem Sermo 33 des Caesarius von Arles65 könnten aus einem der beiden alten Codices entnommen sein, die heute in Würzburg, Universitätsbibliothek, M. p. th. f. 28 beziehungsweise München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 6298 liegen. Beide Codices wurden noch im 8. Jahrhundert geschrieben, beide entstammen Dombibliotheken, nämlich der von Würzburg beziehungsweise von Freising. 8. Von den Dialogen Gregors I., die in Kapitel 17 zitiert sind,66 haben sich nur zwei Handschriften aus dem Rheingebiet erhalten, nämlich die Codices Rom, BAV, Pal. lat. 260 und 261 aus dem 10. bzw. dem 9. Jahrhundert.67 Der Codex Pal. lat. 261 wurde in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts geschrieben und stammt aus dem Stephanskloster auf dem Heiligenberg bei Heidelberg.68 Dieses Kloster war eine Tochtergründung von Lorsch; daher dürfte diese Handschrift ursprünglich in Lorsch gelegen haben. 9. Aus der Homilie II, 23 Bedas ist am Schluss von c. 21 zitiert;69 von diesem Text besitzen wir noch eine Handschrift aus dem Kloster Reichenau (heute: Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Aug. perg. 19).
7.
In der Versio Vulgata von Tribur 895 werden auch einige Quellen aus der Karolingerzeit zitiert, nämlich: 10. Die Schrift des Walahfrid Strabo, De exordiis et incrementis, die in der Handschrift St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 446 erhalten ist. Dieser Codex wurde im dritten Drittel des 9. Jahrhunderts geschrieben.70 Den vollständigen Text des Werkes bieten noch: Rom, BAV, Vat. lat. 1146 (11. Jahrhundert) und Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 914 (ebenfalls 11. Jahrhundert),71 also Codices, die wegen ihrer späten Entstehungszeit als Vorlage nicht in Frage kommen. 11. Die Admonitio generalis von 789, aus der an mehreren Stellen der Praefatio zitiert wird, ist in mehreren Handschriften aus Bayern erhalten, so in München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 14468 aus Regensburg (821 geschrieben), in Clm 19416 (aus Tegernsee, 9. Jahrhundert) und in Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 2232 (Anfang 9. Jahrhundert, aus Niederaltaich), aber auch in St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 733 (erstes Viertel 9. Jahrhundert): das sind also fast ausschließlich Handschriften aus Klosterbibliotheken!
64 MGH Conc. 5, 350 Anm. 47 und 351 Anm. 49. 65 Caesarius von Arles, Sermones, ed. Morin, 145-146. 66 MGH Conc. 5, 353 Anm. 57. 67 Vgl. Gregor der Große, Dialogi, ed. Moricca, LXXXIII. 68 Vgl. die Homepage der Bibliotheca Laureshamensis digital: URL: http://bibliotheca-laureshamensis-digital.de. 69 MGH Conc. 5, 355 Anm. 67. 70 Vgl. Langosch/Vollmann 1999, Sp. 589. 71 Ebd. Sp. 589.
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12. Die beiden Bischofskapitularien Theodulfs von Orléans und Haitos von Basel, die je einmal zitiert werden, könnten am ehesten aus der Handschrift St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 446 (entstanden im 3. Viertel des 9. Jahrhundert) entnommen sein. In diesem Codex sind nämlich beide Texte vorhanden. Codices aus bairischen Dombibliotheken mit diesen Texten gibt es nicht. 13. Worms 868 oder Mainz 888: Handschriften der Kanones von Worms 868 in der ursprünglichen Reihenfolge gibt es nur aus Dombibliotheken: Köln, Erzbischöfliche Diözesan- und Dombibliothek, Cod. 118 (Ende 9. Jahrhundert) und Straßburg (1870 verbrannt).72 Dazu kommt eventuell noch München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 3851 (nach 882 entstanden), der allerdings in Lothringen entstanden sein soll und im 10. Jahrhundert in Kloster Ellwangen lag, ehe er in die Dombibliothek Augsburg gelangte.73 Von den Kanones von Mainz 888 hat sich überhaupt keine Handschrift aus dem 9. oder 10. Jahrhundert erhalten.74 Das Fazit über die Entstehung der Vulgatversion der Kanones von Tribur 895 ist also nicht eindeutig: Sowohl einige Dombibliotheken (vor allem die von Freising) als auch Klosterbibliotheken (besonders St. Gallen und Reichenau) kommen als Textmagazine in Frage, aus denen der oder die Redaktoren der Versio Vulgata der Kanones von Tribur 895 geschöpft haben. Und auch meine Schlussbemerkung muss offen bleiben und ist damit wenig befriedigend: Das Kloster Lorsch als möglicher Entstehungsort von Synodalkanones konnte nicht sicher bestätigt werden – aber auch kein anderes Kloster. Vielleicht sind zu viele Handschriften verloren gegangen, um eine klare Aussage machen zu können. Und vielleicht müssen wir eher davon ausgehen, dass verschiedene Autoren – Weltkleriker und Mönche – daran gearbeitet haben, Zitate herbeizuschaffen, wenn es galt, die Synodalkanones zusammenzustellen oder andere Texte für eine Synode zu verfassen.
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72 Vgl. MGH Conc. 4, 248–249. 73 Vgl. ebd. 249 mit der dort angegebenen Literatur. 74 Die einzige Handschrift, die immerhin 19 der 26 Kanones von Mainz 888 enthält, München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 5541, wurde in der 1. Hälfte des 11. Jahrhundert im Raum Mainz oder Trier geschrieben, vgl. MGH Conc. 5, 250–251.
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Wilfried Hartmann
Collectio: Collectio canonum Remedio Curiensi episcopo perperam ascripta, ed. Herwig John, Monumenta Iuris Canonici, Serie B: Corpus Collectionum 2, Vatikan 1976. Gregor der Große, Gregorii Magni Dialogi. Libri IV, ed. Umberto Moricca, Fonti per la Storia d’Italia 57, Rom 1924. MGH Conc. 2,1: Concilia aevi Karolini, ed. Albert Werminghoff, MGH Concilia 2,1, Hannover/Leipzig 1906. MGH Conc. 3: Concilia aevi Karolini 843–859, ed. Wilfried Hartmann, MGH Concilia 3, Hannover 1984. MGH Conc. 4: Concilia aevi Karolini 860–874, ed. Wilfried Hartmann, MGH Concilia 4, Hannover 1998. MGH Conc. 5: Concilia aevi Karolini 875–911, ed. Wilfried Hartmann/Isolde Schröder/Gerhard Schmitz, MGH Concilia 5, Hannover 2012.
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Steffen Patzold
Correctio an der Basis: Landpfarrer und ihr Wissen im 9. Jahrhundert 1 Einleitung Frederick Paxton hat 1990 in einer eindringlichen Analyse gezeigt: Der Palatinus Latinus 485 der Vatikanischen Bibliothek, ein Codex aus Lorsch aus dem 9. Jahrhundert, ist gezielt als Handbuch für die Ausbildung von Klerikern zusammengestellt worden. Das Buch enthält Texte verschiedenster Art, die aber doch eines verbindet: Sie alle sind von Interesse für Priester. Am Anfang stehen Texte zur Buße, darunter auch einer in der Volkssprache. Dann folgen Materialien zum Computus und ein Kalender, anschließend Erklärungen zum Messkanon und zur Taufe, Segenssprüche und andere Texte bei Krankheit und Tod, auch weitere Benedictiones, schließlich kirchenrechtliche Texte: Canones des Konzils von Nikaia 325, die sogenannten „Canones apostolorum“ und frühe bischöfliche Diözesanstatuten (von Theodulf von Orléans sowie Ghaerbald und Waltcaud von Lüttich). Am Ende des Codex stehen Bußbücher: die Paenitentialia Ps.-Bedas und Ps.-Egberts, das „Paenitentiale Cummiani“ und das erste Buch derjenigen Fassung der „Canones Theodori“, die der sogenannte Discipulus Umbrensium verantwortet.1 Paxton hat codicologisch überzeugend argumentiert, dass das Lorscher Buch in dieser Zusammenstellung kein Zufall ist, sondern das Ergebnis gezielter Planung. Die Texte dienen allesamt der Ausbildung von Priestern; und sie dürften schon in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts in dieser Weise zusammengeführt worden sein. Einige Gedenk-Einträge im Kalender erlauben es, den Zeitpunkt der Komposition genauer einzugrenzen: Die einzelnen Teile der Handschrift wurden wohl zwischen 860 und 875 geschaffen. Bei alledem haben die Lorscher Mönche, so weiter Paxton, ihre Vorlagen sorgfältig ausgewählt; es handelt sich nämlich um ausnehmend gute, korrekte Texte. Mehr noch: Die Fratres in Lorsch haben die Vorlagen zum Teil sogar in Kleinigkeiten für ihre eigenen Zwecke noch gezielt überarbeitet. Irgendwann in den letzten zwei Jahrzehnten des 9. Jahrhunderts wurden die einzelnen Teile der Handschrift dann zu ihrem heutigen Stand zusammengefügt. Der Codex blieb aber weiterhin in Benutzung: Auch jetzt noch kamen kleinere Nachträge hinzu.2
1 Alles Voranstehende nach Paxton 1990; eine detaillierte Beschreibung des Codex von Michael Kautz (mit umfangreicher Bibliographie) sowie ein Digitalisat der gesamten Handschrift finden sich in der bibliothecalaureshamensis-digital.de/bav/bav_pal_lat_485 (eingesehen am 1. Oktober 2013). 2 Paxton 1990, 7–8. © 2015, Patzold. Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 3.0 Lizenz.
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Steffen Patzold
Ein Buch also für Priester! Menschen mit Priesterweihe gab es im 9. Jahrhundert viele, nicht zuletzt auch unter den Lorscher Mönchen selbst. Aber Paxton hat mit Blick auf den Inhalt des Buches überzeugend argumentiert: Der Codex war gedacht für Priester, die nicht hinter den Klostermauern von Lorsch lebten, sondern draußen, in der Welt, als Pfarrer in einer Gemeinde wirkten. Schon der althochdeutsche Bußtext macht das deutlich: Er behandelt Sünden im Umgang mit den Eltern, dem Herrn, den Nachbarn, den Kindern oder bei der Zahlung des Zehnten. „The audience“, so hat Paxton zu Recht formuliert, „is the secular clergy, and the intent is pastoral, even didactic“.3 Die Handschrift, so lautet Paxtons These daher, erkläre sich aus dem Engagement der Lorscher Mönche bei der Erschließung des Odenwalds. Im späteren 9. Jahrhundert, als die Handschrift entstand, wird in der Lorscher Grundherrschaft im Odenwald ein Villikationssystem erkennbar – mit mehreren Herrenhöfen, an die jeweils auch eine Pfarrkirche angegliedert war. Eben dieser Zusammenhang, so hat Paxton vermutet, habe der Handschrift ihren Sitz im Leben gegeben: Sie habe dazu gedient, diejenigen Priester auszubilden, die an diesen Pfarrkirchen der Lorscher Grundherrschaft Dienst tun sollten.4 Der Palatinus Latinus 485 eignet sich gut als Einstieg in das Thema dieses Beitrags. Mein Ziel ist es nämlich im Folgenden, dieses Lorscher Einzelbeispiel in seinen größeren historischen Zusammenhang einzuordnen, in die karolingische Correctio.5 Eine solche Einbettung des Befundes zu der Lorscher Handschrift, so lautet meine These, kann helfen, Paxtons Vermutungen über den konkreten Zweck und Gebrauch dieser einen Lorscher Handschrift zumindest im Detail noch etwas zu erweitern. Vor allem aber fällt damit neues Licht auf die Correctio selbst, zumal auf ihre Breitenwirkung und Ausstrahlung jenseits eines kleinen Zirkels von Gelehrten mit mehr oder minder engem Kontakt zum Hof.6 Mein Argument gliedert sich in zwei Teile: Der Beitrag handelt zunächst von den Pfarrern auf dem Lande, in denen man wichtige Träger der Correctio sehen darf; danach geht es um deren Wissen und deren Bücher.
2 Zu den Landpfarrern der Karolingerzeit Die Priester auf dem Lande zählten lange Zeit eher zu den Stiefkindern der Mediävistik. Das lässt sich wissenschaftsgeschichtlich durchaus erklären: Die Priester waren
3 Ebd., 9. 4 Ebd., 28–29. 5 Vgl. dazu aus der reichen Literatur zu den karolingischen Reformen beispielsweise den klassischen Beitrag von: Schramm 1964; den breiten Überblick über die weitere ältere Forschung bei Brown 1994; sowie Contreni 1995; Fried 1997; Depreux 2002; McKitterick 2005. 6 Skeptisch mit Blick auf die Reichweite ist Nelson 1986.
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Ende des 19. Jahrhunderts Ulrich Stutz7 und seiner Theorie der Eigenkirche zum Opfer gefallen.8 In Stutzens Perspektive waren die Geistlichen, die er als „Eigenpriester“ bezeichnete, recht armselige Kreaturen: freigelassene Sklaven, die ihren Grundherren ausgeliefert blieben und ihrer Herrin das Pferd, ihrem Herrn die Hunde führten.9 Derart zurechtge“stutzt“, hat man den Geistlichen nicht mehr viel zugetraut. Um es zuzuspitzen: Die „Eigenpriester“ galten jahrzehntelang als zwar notwendiges, aber doch im Grunde stark von ihren Herren abhängiges Zubehör zu Eigenkirchen, die folglich auch weit stärker im Zentrum des Interesses der Forschung standen10 als die Priester selbst.11 Diese ältere Perspektive ist freilich – im Zuge von Untersuchungen zur Entwicklung der Pfarrei und des Zehntgebots12, zur Grundherrschaft13 sowie durch die Erschließung und Edition der sogenannten Bischofskapitularien14 – zunehmend fragwürdig geworden.15 Diese normativen Texte zeigen uns Priester (und gerade die Pfarrpriester auf dem Land) als wichtige Agenten der karolingischen Correctio: Gerade sie sollten es übernehmen, durch Predigt, Belehrung und Aufsicht die Gemeinden vor Ort zu jenem populus christianus zu formen, der Gott gefiel. Das war aus Sicht der Zeitgenossen wichtig: Denn es entlastete die Eliten in ihrer Verantwortung für die ihnen von Gott anvertrauten Menschen vor dem Allmächtigen; und es verlieh letztlich auch
7 Zur Person vgl. Bader 1984. 8 Grundlegend: Stutz 1895a (im Folgenden verwende ich den Nachdruck der dritten Aufl., Aalen 1972); präzisierend: Stutz 1911; zusammenfassend: Stutz 1895b, 1913; eine französische Zusammenfassung bei Fournier 1897, 486–506. 9 Vgl. dazu etwa Stutz 1972, 231–233. 10 Zum Stand der Diskussion in den 1980er Jahren vgl. etwa Landau 1982; Schieffer 1986; Hartmann 1982; Borgolte 1985. – Aufgegeben war damals schon die These von Stutz 1972, 89-95, dass die Eigenkirche eine germanische Institution sei und sich von dem Eigentempel herleiten lasse; statt dessen hat sich die Forschung zu guten Teilen eher Dopsch 1924, 230–246, angeschlossen, demzufolge das Eigenkirchenwesen „national indifferent“ (245) und ein „Attribut der Grundherrschaft“ (232) war; vgl. dazu noch nuancierend etwa Schäferdiek 1982. 11 Zu ihnen vgl. etwa Aubrun 1995, bes. 18–22 zur Karolingerzeit; Aubruns Skizze beschränkt sich freilich auf eine systematisierende Zusammenfassung ausgewählter normativer Quellen. Zu Spätantike und Frühmittelalter bis ins 6. Jahrhundert hinein vgl. Predel 2005. 12 Fournier 1982; Semmler 1982, 1983. – Zum Zehnten vgl. jetzt den chronologisch wie räumlich sehr breit angelegten Band La dîme, dessen Schwerpunkt freilich zeitlich eher nach dem 9. Jahrhundert liegt. 13 Für eine grundlegende Differenzierung von Stutzens Konzept wichtig ist zumal: Hedwig 1992; zuletzt im breiten diachronen Überblick: Hartmann 2011. 14 MGH Capitula episcoporum 1, ed. Brommer; MGH Capitula episcoporum 2, ed. Pokorny/Stratmann; MGH Capitula episcoporum 3, ed. Pokorny; MGH Capitula episcoporum 4, ed. Pokorny. 15 Grundsatzkritik am Stutz’schen Eigenkirchenkonzept, freilich ohne eigene Untersuchung, hat Reynolds 1994, 418-419, geäußert; für eine regionale Untersuchung, die zeigt, dass die Eigenkirche im Frühmittelalter weniger Bedeutung hatte, als zuvor von der Forschung oft angenommen vgl. Hartmann 2003; skeptisch zum 9. Jahrhundert auch: Patzold 2007.
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der Herrschaft der Karolinger erst jene Stabilität, die aus Perspektive der Zeit ohne die Gnade Gottes nun einmal nicht sein konnte.16 Priester also waren den Zeitgenossen des späten 8. und des 9. Jahrhunderts wichtig. Als der sogenannte Astronomus in seiner Biographie Ludwigs des Frommen Anfang der 840er Jahre die Ereignisse schilderte, die Historiker heute gemeinhin die „Aachener Reformen“ von 816 bis 819 nennen17, da erwähnte er nicht nur Mönche und Kanoniker; er nannte auch noch eine dritte Gruppe – die ministri Christi. Nach Ludwigs Willen, so berichtete der Astronom, sollten diejenigen, die doch „Knechte Christi“ waren, nicht menschlicher Knechtschaft unterworfen bleiben dürfen. Deshalb sollten sie, sofern sie unfrei waren, vor der Weihe zum Priester freigelassen werden. Außerdem habe Ludwig angeordnet, daß jede Kirche ihr eigenes Vermögen besitzen sollte: mindestens eine Hufe, außerdem wenigstens einen Knecht (servus) und eine Magd (ancilla). Auch den Zweck der Bestimmungen nannte der Astronom ausdrücklich: Es sollte verhindert werden, dass der cultus divinus vernachlässigt wird.18 Für den zeitgenössischen Geschichtsschreiber betrafen die „Aachener Reformen“ also nicht nur zwei, sondern drei Gruppen: die Mönche, die Kanoniker und jene ministri Dei, die wir wohl als „Landpriester“ oder „Pfarrer“ bezeichnen dürfen. Tatsächlich hatte Ludwig der Fromme in einem Kapitular von 818/819 im Kern eben jene Bestimmungen getroffen, die der Astronomus später in seiner Biographie als dritte große Neuerung der Aachener Maßnahmen resümierte:19 Der Aufbau einer Pfarrorganisation auf dem Land war ein zentraler Bestandteil der karolingischen Reform, die Priester selbst wurden im Zuge dessen zu Schlüsselfiguren der Correctio. Carine van Rhijn hat die „rural priests“ sehr treffend als „bottlenecks“, als „Flaschen-
16 Dazu grundlegend: van Rhijn 2007; vgl. außerdem Patzold 2009. 17 Noch immer wichtig: Semmler 1963, 1983; zusammenfassend: Boshof 1996, 108–128. 18 Astronomus, Vita Hludowici, ed. Tremp, c. 28, 376/378: Considerans etiam isdem piissimus imperator, non debere Christi ministros obnoxios esse humanae servituti, sed et multorum avaritiam abuti ministerio ecclesiastico ad proprium questum, statuit, ut quicumque ex servili conditione conciliante scientia et morum probitate ad ministerium adsciscerentur altaris, primum manumittantur a propriis dominis, vel privatis vel ecclesiasticis, et tunc demum gradibus indantur altaris. Volens etiam unamquamque ecclesiam habere proprios sumptus, ne per huiuscemodi inopiam cultus neglegerentur divini, inseruit praedicto edicto, ut super singulas ecclesias mansus tribueretur unus cum pensatione legitima et servo atque ancilla. 19 MGH Capit. 1 (Capitulare ecclesiasticum), Nr. 138, c. 9, 277: Statutum est, ut sine auctoritate vel consensu episcoporum presbyteri in quibuslibet ecclesiis nec constituantur nec expellantur; et si laici clericos probabilis vitae et doctrinae episcopis consecrandos suisque in ecclesiis constituendos obtulerint, nulla qualibet occasione eos reiciant; ebd., c. 10, 277: Sanccitum est, ut unicuique ecclesiae unus mansus integer absque alio servitio adtribuatur, et presbyteri in eis constituti non de decimis neque de oblationibus fidelium, non de domibus neque de atriis vel hortis iuxta ecclesiam positis neque de praescripto manso aliquod servitium faciant praeter ecclesiasticum. Et si aliquid amplius habuerint, inde senioribus suis debitum servitium impendant.
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hals“ der Correctio bezeichnet20: Sie waren es, die die hohen Ziele, die auf Synoden und anderen Versammlungen formuliert wurden, im Alltag konkret in den einzelnen Gemeinden den Menschen vermitteln und vor Ort umsetzen sollten. Die Stutz’schen Eigenpriester allerdings – jene erbärmlichen Gestalten, die ihrer Herrin das Pferd, ihrem Herrn die Hunde führen – wollen zu diesen hohen Ansprüchen nicht recht passen. Schon Carine van Rhijn hat deshalb dafür plädiert, dass wir mit besser materiell abgesicherten und auch besser ausgebildeten Priestern rechnen sollten.21 Dieses Plädoyer kann man noch mit einem weiteren Argument unterfüttern: Es lässt sich nämlich zeigen, dass Ulrich Stutz, um seine armseligen Eigenpriester zu kreieren, mindestens drei verschiedene Typen von weltgeistlichen presbyteri in methodisch höchst fragwürdiger Weise miteinander vermengt hat. Einen ersten Hinweis gibt ein Text aus dem frühen 9. Jahrhundert, der eine Aufzeichnung eines Missus für eine inquisitio sein dürfte. Der Mann notierte sich, mit welchen Fragen er alle Geistlichen der ihm zugewiesenen provincia auf ihre eruditio und doctrina hin prüfen und zugleich die Laien auf ihre Bereitschaft hin kontrollieren sollte, Gerechtigkeit zu üben. Dazu gehört nun auch dieser Punkt: Kein Laie sollte es ohne Erlaubnis des Bischofs wagen, einen Priester oder Geistlichen „bei sich zu haben oder für seine Kirchen zu bestellen“; dies sollte deshalb ausgeschlossen sein, damit der Bischof den Kandidaten zuvor auf seine Eignung prüfen konnte. Das Kapitel unterscheidet demnach offenkundig zweierlei: presbiterum secum habere einerseits und presbiterum ad ecclesias suas ordinare andererseits.22 Man könnte zunächst geneigt sein, die Formulierung als eine typische, redundante Doppelung zu überlesen. Tatsächlich sind hier aber bewusst zwei verschiedene Typen von Priestern angesprochen, die uns auch in anderen Quellen als distinkt gegenübertreten. Der erste Typ von Priestern – der Priester, den man „bei sich hat“ – war den karolingerzeitlichen Reformern zutiefst suspekt. Agobard von Lyon hat eine Generation später, wohl zwischen 822 und 829, in einem Schreiben an den Erzbischof Bernhard von Vienne über diese Priester erbittert Klage geführt: Es sei ja mittlerweile üblich, dass jeder, der auch nur ein wenig nach Ruhm und Ehren in der Welt strebe, sich einen domesticus sacerdos halte – aber nicht etwa, um diesem Geistlichen dann zu gehorchen, sondern um ihn wie einen Diener zu benutzen! Viele dieser Priester dienten bei Tisch, mischten Wein, versorgten Landsitze und führten Hunde oder die Pferde, auf denen die Frauen ritten. Dabei sei es den Leuten ganz egal, welche Qualitäten solche Geistlichen hätten – solange sie nur „ihre eigenen Priester“ (presbyteri
20 Van Rhijn 2006. 21 Van Rhijn 2007, 171–212. 22 MGH Capit. 1 (Capitula de examinandis ecclesiasticis), Nr. 38, c. 12, 110: Ut nullus ex laicis presbiterum vel diaconem seu clericum secum habere praesummat vel ad eclesias suas ordinare absque licentiam seu examinatione episcopi sui, ut ipse sciat, si recte possit appellari clericus aut presbiter et sit absque repraehensione.
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proprii) hätten, die es ihnen ermöglichten, die ecclesiae seniores und officia publica hintanzusetzten. Solche Leute kämen zu den Bischöfen, so klagte Agobard, und „sagen oder befehlen“: „Ich habe einen clericio, den ich mir aus meinen Knechten oder meinen Benefiziaren oder meinen pagenses großgezogen habe, oder den ich von dieser oder jener Person oder von diesem oder jenem pagus erhalten habe. Ich will, dass Du ihn mir zum Priester weihst“. Und danach, so weiter Agobard, glaubten sie, dass die maioris ordinis sacerdotes für sie nicht mehr notwendig seien, und schwänzten deshalb die publica officia und die Predigten.23 Agobard stand mit dieser Klage nicht allein. Über eine ähnliche Praxis beschwerte sich beispielsweise auch Theodulf von Orléans. Er beschrieb folgenden pessimus usus in seiner Diözese: Manche Leute hörten sich an Sonn- und Feiertagen früh morgens eine missa peculiaris an (und sei es eine Totenmesse); und mit diesem Argument erschienen sie dann nicht zur Messe und Predigt in der publica mater ecclesia, sondern sprächen stattdessen schon vormittags dem Alkohol zu und gäben sich ihren Gelagen hin. Das wollte Theodulf unterbinden: Deshalb verpflichtete er alle Gläubigen zum Besuch der publica mater ecclesia und verbot zugleich den Priestern, in den „Oratorien“ Messen so zu lesen, dass sie Gemeindemitglieder vom Besuch des Gottesdienstes samt Predigt abhielten.24 Ein drittes Beispiel: Theodulfs Nachfolger Jonas beklagte in seiner Schrift „De institutione laicali“, daß jene Priester, die materiell arm und von niederer Herkunft seien, von manchen Laien so sehr verachtet würden, daß sie diese Geistlichen als ihre administratores und procuratores benutzten, sie zwängen, ihnen zu dienen, und sich weigerten, sie als Tischgenossen zu haben. Das schien Jonas ein Unding, ja gera-
23 Agobard von Lyon, Epistolae, ed. Dümmler, Nr. 11, c. 11, 203-204: Haec pauca veteris et novi testamenti collegimus testimonia, in quibus quasi in speculo contueri valeamus foeditatem nostri temporis, omni lacrymarum fonte plorandam; quando increbuit consuetudo impia, ut pene nullus inveniatur anhelans et quantulumcunque proficiens ad honores et gloriam temporalem, qui non domesticum habeat sacerdotem, non cui obediat, sed a quo incessanter exigat licitam simul atque illicitam obedientiam, non solum in divinis officiis, verum etiam in humanis; ita ut plerique inveniantur, qui aut ad mensas ministrent, aut saccata vina misceant, aut canes ducant, aut caballos, quibus feminae sedent, regant, aut agellos provideant. Et quia tales, de quibus haec dicimus, bonos sacerdotes in domibus suis habere non possunt (nam quis esset bonus clericus qui cum talibus hominibus dehonestari nomen et vitam suam ferret?), non curant omnino quales clerici illi sint, quanta ignorantia caeci, quantis criminibus involuti; tantum ut habeant presbyteros proprios, quorum occasione deserant ecclesias seniores, et officia publica. […] quando volunt illos ordinari presbyteros, rogant nos aut iubent, dicentes: „Habeo unum clericionem, quem mihi nutrivi de servis meis propriis, aut beneficialibus, sive pagensibus; aut obtinui ab illo vel illo homine, sive de illo vel illo pago. Volo ut ordines eum mihi presbyterum.“ Cumque factum fuerit, putant ex hoc quod maioris ordinis sacerdotes non eis sint necessarii, et derelinquunt frequenter publica officia et praedicamenta. 24 MGH Capit. episc. 1 (Theodulf von Orléans, Erstes Kapitular), c. 45, 141.
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dezu gefährlich: Denn wie sollten solche Leute die Priester als ihre Vermittler bei Gott akzeptieren, wenn sie die Geistlichen doch derart verachteten?25 Zu solchen Nachrichten passen die vielen Verbote, die sich über Jahrzehnte durch die karolingischen Synodalbeschlüsse und Kapitularien ziehen: Priester sollten nicht conductores sei; sie sollten nicht als Meier fungieren, sollten nicht an Jagden teilnehmen, nicht Hunde führen, nicht für ihre Herren Urkunden schreiben.26 Schon im sogenannten ‚Concilium Germanicum‘ von 742/43 hieß es allerdings auch: Jeder Graf solle auf dem Kriegszug einen Priester „bei sich haben“ (auch hier: secum habere), der den Männern die Beichte abnehmen und Bußen auferlegen könne.27 Auch in einem schlecht überlieferten Kapitel, das dem Jahr 802 zugeschrieben wird, hören wir von solchen Geistlichen: Die Priester und die übrigen canonici, welche die Grafen in ihren Diensten hielten (in ministeriis habent), sollten ganz und gar den zuständigen Diözesanbischöfen unterworfen bleiben.28 Solche „Hauspriester“ waren gewissermaßen ein verkleinertes Abbild der Hofkapelle des Königs. Die Eliten des Frankenreichs waren mobil; sie verfügten über weiten Streubesitz und waren in halb Europa unterwegs. Leute dieses Schlages ließen sich nur schlecht in das Pfarreisystem eingliedern, das sich seit dem 8. Jahrhundert verdichtete und zugleich territorialisierte.29 So hielt sich ein hoher Herr einen Priester in seiner engeren Umgebung, der mit ihm zu reisen hatte, ihn bei der Verwaltung der Güter unterstützte und den lästigen Besuch des officium publicum an Sonn- und Feiertagen unnötig erscheinen ließ, weil er ja selbst früh morgens eine Messe in einem Oratorium lesen konnten (etwa in einem solchen, wie es Einhard in seinem Haus in Aachen hatte30). Auf dem Konzil von Meaux-Paris 845/846 wurden diese Priester ausdrücklich als „Kapläne“ bezeichnet – oder genauer: als diejenigen presbyteri, die mit den viri potentes (und den potentes feminae) in capellam vadunt. Diese Priester werden in den Konzilsbeschlüssen aber – und das ist bezeichnend – zugleich eindeutig abgegrenzt von den parrochiani presbyteri.31 Das heißt: Die presbyteri proprii und sacerdotes dome-
25 Jonas von Orléans, De institutione laicali, ed. Migne, c. 20, 208 D – 209 A. 26 MGH Capit. 1 (Capitula ecclesiastica a. 810/13?), c. 13, 179; MGH Conc. 2,1 (Concilium Moguntiniense a. 813), c. 14, 264; MGH Conc. 2,1 (Concilium Cabillonense), c. 12, 276 und c. 44, 282; MGH Conc. 3 (Konzil von Pavia a. 850), c. 18, 227–228. 27 MGH Conc. 2,1 (Concilium Germanicum a. 743?), c. 2, 3: Id est unum vel duos episcopos cum capellanis presbiteris princeps secum habeat, et unusquisque praefectus unum presbiterum, qui hominibus peccata confitentibus iudicare et indicare poenitentiam possint. 28 MGH Capit. 1 (Capitulare missorum generale a. 802), c. 21, 95: Ut presbiteros ac caeteros canonicos, quos comites sui in ministeriis [codex unicus: misteriis] habent omnino eos episcopis suis subiectos exhibeant, ut canonica institutio iubet; zu dem Text und seiner Überlieferung: Patzold 2007. 29 Vgl. zu diesem Prozeß die oben, Anm. 12, angegebene Literatur. 30 Einhard, Translatio SS. Marcellini et Petri, ed. Waitz, lib. 3, c. 3, 246, Z. 60–61; dazu ausführlicher: Flach 1976, 56–58; Falkenstein 2002, 168. 31 MGH Conc. 3 (Konzil von Meaux-Paris 845), Nr. 11, c. 77, 124: Provideant viri potentes et maxime
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stici, über die Agobard klagt und die uns auch sonst immer wieder in Quellen der Zeit begegnen, waren gerade nicht jene Pfarrpriester, die wir etwa als Adressaten in den Diözesanstatuten angesprochen finden. Die „Capitula episcoporum“ nämlich sind sicher nicht an Kapläne mächtiger Magnaten gerichtet. Die Texte setzen in aller Regel voraus, dass ihre Adressaten eine Gemeinde haben – eine plebs oder einen populus.32 Innerhalb dieser zweiten Gruppe von Priestern – solchen mit Gemeinde – sind nun aber wiederum zwei Typen zu unterscheiden: Es gab Priester, die eine Gemeinde hatten und zugleich über Zehnt- und andere Pfarrrechte verfügten; und es gab Priester, die zwar eine Gemeinde hatten, aber über keine Zehnt- und anderen Pfarrrechte verfügten. Das konnte beispielsweise dann der Fall sein, wenn im Zuge des Landesausbaus eine capella neu errichtet wurde, etwa für den Gottesdienst und die Seelsorge einer lokalen Gemeinschaft, der man den weiten Weg zu einer schon bestehenden Pfarrkirche nicht länger zumuten wollte. Hinkmar von Reims hat diese Situation in seinem Traktat „De ecclesiis et capellis“ ausdrücklich behandelt – und dabei hohen Wert darauf gelegt, daß solche neuen capellae keine Zehnt- und Pfarrrechte haben sollten.33 Einschlägige Bestimmungen dazu ziehen sich außerdem auch durch die Kapitularien und Synodalbeschlüsse der Zeit.34 In der Diözese Freising lassen sich sowohl in Urkunden als auch in Bischofskapitularien schon terminologisch ecclesiae baptismales einerseits von den sogenannten tituli andererseits unterscheiden – untergeordnete Kirchen, die kein Taufrecht hatten. Ein Bischofskapitular aus der Zeit um 840 geht außerdem davon aus, daß den Priestern an den Taufkirchen andere Priester unterstellt waren, die hier als presbiteri subiecti bezeichnet werden;35 der Text regelt
potentes feminae, ut in suis domibus adulteria et luxuriae concubinaticae et incesta adulteria non vigeant. Et suos presbyteros, qui cum eis in capella vadunt, huiusmodi virtutem habere faciant, quatinus omnia vitia in domibus suis resecent et orationem dominicam ac symbolum cunctos tenere et frequentare compellant, quia parrochiani presbyteri et episcoporum ministri de minoribus et vilioribus personis hoc providere studebunt. 32 Hier müssen wenige Beispiele genügen: MGH Capit. episc. 1, c. 14, 31 (Theodulf von Orléans, Erstes Kapitular, Prolog, 103): Obsecro vos, fratres dilectissimi, ut erga subditarum plebium profectum et emendationem vigilantissima cura laboretis […]; Ghaerbald von Lüttich forderte in seinem zweiten Kapitular dazu auf, zu überprüfen, welchen Ruf die Priester im populus genossen; vgl. außerdem Walter von Orléans, Kapitular: Ut plebibus suis denuncient, ne iuramentis assuescant; Haito von Basel, Kapitular, ebd., Inscriptio, 210: Haec capitula, quae sequuntur, Haito Basilensis ecclesiae antistes et abbas coenobii, quod Augia dicitur, presbyteris suae dioceseos ordinavit, quibus monerentur, qualiter se ipsos ac plebem sibi commissam caste et iuste regere atque in religione divina confirmare deberent; MGH Capit. episc. 3 (Capitula Frisingensia tertia), c. 2, 222: […] et qui scit, docere populum sibi subiectum non retardet et doctrinam cum exemplo bonorum operum ostendat. 33 Hinkmar von Reims, Collectio de ecclesiis et capellis, ed. Stratmann, hier bes. 75–8. 34 Vgl. statt anderer nur MGH Conc. 2,1 (Concilium Arelatense a. 813), Nr. 34, c. 20, 252. 35 MGH Capit. episc. 3 (Capitula Frisingensia tertia), c. 14, 226: Iubemus et canonica auctoritate praecipimus, ut presbiteri baptismalis ęcclesię adeo a suis titularibus et sibi subiectis presbiteris in omni more honorentur, ut nil extra normam canonicam acturi inveniantur; vgl. auch ebd., c. 35 und c. 37, 230. – Auch in den Traditionen des Hochstifts Freising, ed. Bitterauf, findet sich regelmäßig die Un-
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ausdrücklich, dass insbesondere die Priester der Taufkirchen eine Kopie der zuvor verzeichneten Bestimmungen besitzen sollen.36 Halitgar von Cambrai unterschied um 830 Priester, qui vicos tenent, von solchen, die keinen vicus innehatten; dabei ging er davon aus, dass nur in den vici Taufkirchen (baptismales ecclesiae) stünden.37 Dieselbe Unterscheidung findet sich auch in einem Diözesanstatut Radulfs von Bourges: Er forderte, daß die sacerdotes in cellis, wenn sie denn taufen wollten, zu diesem Zweck ad vicos zusammenkommen sollten.38 Hinkmar von Reims behauptete, der Priester des Landguts von Follanaebrayus namens Ottericus habe gleichzeitig noch an drei weiteren Kirchen die Messe gelesen (cantavit). Diese drei Kirchen waren jedoch untergeordnet: titulus autem ipsius, in quo et residuus erat, fuit in Follanaebrayo.39 Zudem legte Hinkmar im Streit mit seinem gleichnamigen Neffen, dem Bischof von Laon, großen Wert auf den Nachweis, daß die Kirche in Folembray keiner anderen Kirche unterstand (was demnach prinzipiell als möglich betrachtet wurde).40 Wir müssen folglich mindestens drei Typen von Priestern auseinanderhalten: 1) presbyteri parrochiani, die wir „Pfarrer“ nennen können; 2) Priester, die capellae, cellae oder oratoria versahen, zwar für eine Gemeinde Verantwortung trugen, aber an ihrer Kirche keine Zehnt-, Tauf- und anderen Pfarrrechte hatten; 3) presbyteri proprii, „Hauspriester“ oder Kapläne von Angehörigen der Elite, ohne eigene Gemeinde. Ulrich Stutz hat die Unterschiede zwischen diesen drei Typen mit seiner Theorie der „Eigenkirche“ ganz und gar verwischt41: Er kannte nur „Eigenpriester“, die den Auftrag hatten, eine Kirche nach Art einer grundherrlichen Mühle zu betreiben – und zugleich als Verwalter, Hundeführer, Urkundenschreiber für ihre Herren tätig waren. Dieses Bild vermengt, was Zeitgenossen des 9. Jahrhunderts strikt zu trennen wussten!
terscheidung zwischen ecclesiae parrochiales bzw. ecclesiae baptismales auf der einen Seite und tituli auf der anderen Seite. – Ecclesiae baptismales werden außerdem erwähnt in den MGH Capit. 1 (Capitula ecclesiastica ad Salz data), c. 2, 119. 36 MGH Capit. episc. 3 (Capitula Frisingensia tertia), c. 35, 230: Volumus, ut unusquisque presbiter baptismalis ęcclesię ista praenotata capitula secum habeat in pergamena scripta […]. 37 MGH Capit. episc. 3 (Capitula Neustrica secunda), c. 15, 61: Ut prescriptis duobus temporibus, id est pascha et pentecosten, in vicis baptizent, quibus in locis baptismales ecclesias antiqua consuetudo appellat (vgl. auch Capitula Neustrica quarta, ebd., c. 7, 71). – In der Zuschreibung des Textes an Halitgar folge ich (gegen die Skepsis von Pokorny, ebd., 63-64.) Hartmann 1979, 376. 38 MGH Capit. episc. 1 (Radulf von Bourges, Kapitular), c. 20, 249: His itaque duobus temporibus, pascha scilicet et pentecosten, omes ex cellis sacerdotes ad vicos convenire debent et ibi officio peracto cum summa diligentia baptizandos quosque baptizent. Et tunc ad proprias ecclesias cum baptizatis suis et ceteris subiectis remeantes missarum sollemnia persolvant. – Danach auch: MGH Capit. episc. 1 (Ruotger von Trier, Kapitular), c. 21, 68; vgl. außerdem noch MGH Capit. episc. 2 (Herard von Tours, Kapitular), c. 31, 134. 39 Hinkmar von Reims, Epistola, ed. Migne, 538 B. 40 Ebd., 539 A. 41 Vgl. dazu die knappe Bemerkung bei Stutz 1972, 238, Anm. 7, in der er die Existenz eines „Hauskaplanats“ zwar anerkennt, aber die einschlägigen Klagen von Agobard und anderen darauf gerade nicht beziehen will.
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Die Differenzierungen werden nun spätestens dann interessant, wenn wir nach der Position der Priester fragen: Wie kamen die Priester des ersten Typs, also die Pfarrer, ins Amt? Welche Stellung, welches Ansehen genossen sie innerhalb ihrer Gemeinde? Und welche Qualifikation durfte man von ihnen erwarten? Die Theorie der Eigenkirche rechnet bei der Auswahl und Einsetzung aller Priester fast ausschließlich mit dem jeweiligen Grundherrn, der bestenfalls noch mit dem zuständigen Bischof über die Besetzung „seiner“ (Pfarr-)Kirche in Streit geraten kann. Dieses Bild ist jedoch in dramatischer Weise unterkomplex: Das Modell der „Eigenkirche“ blendet mit seiner Konzentration auf Eigenkirchenherren und Bischöfe die Interessen und Handlungsspielräume sowohl der Pfarrgemeinden als auch der Priester selbst aus. Das Modell setzt voraus, dass eine lokale Gemeinschaft – eine Gemeinde also – immer nur einen einzigen Grundherrn hatte. Das mag vielleicht für den Lorscher Landesausbau im Odenwald im späteren 9. Jahrhundert denkbar sein. Aber es geht schwerlich zusammen mit unserem Wissen über adligen Streubesitz in anderen Gegenden des karolingerzeitlichen Frankenreichs; und es passt auch schlecht zur Existenz der kleineren freien Eigentümer, die etwa in Kapitularien zur Heeresorganisation auch noch in den ersten Jahrzehnten des 9. Jahrhunderts vorausgesetzt wird.42 So könnte sich ein frischer, unvoreingenommener Blick in die Quellen lohnen. Stutzig macht dann schon das, was das Konzil von Arles 813 beschloss: „Dass Laien es nicht wagen, von Priestern für die Betrauung mit einer Kirche eine Gabe zu fordern, weil ja Kirchen doch häufig wegen der Gier von Laien an solche Priester vergeben werden, die nicht geeignet sind, das Priesteramt auszufüllen.“43 Ganz ähnlich bestimmten es 813 auch die Konzilien in Reims, Mainz und Tours44 – oder auch die „Capitula“ des Bischofs Theodulf von Orléans45. Alle diese Bestimmungen sind nur schlecht vereinbar mit der Vorstellung, daß im Regelfall ein Grundherr einen von ihm abhängigen Mann als Priester seiner Eigenkirche eingesetzt habe: Denn wie hätte ein solcher Habenichts seinem Herrn überhaupt eine attraktive Bestechungssumme zahlen sollen? Unvoreingenommen gelesen, weisen die Texte vielmehr auf Priester hin, die von sich aus nach einer neuen
42 Vgl. MGH Capit. 1 (Memoratorium de exercitu in Gallia occidentali praeparando a. 807), Nr. 48, c. 2, 134–135; ebd. (Capitulare missorum de exercitu promovendo a. 808), Nr. 50, c. 1, 137; MGH Capit. 2 (Capitula ab episcopis in placito tractanda a. 829), Nr. 186, c. 7, 7; ebd. (Capitulare missorum a. 829), Nr. 188, c. 5, 10. 43 MGH Conc. 2,1 (Concilium Arelatense a. 813), c. 5, 251: Ut laici omnino a praesbiteris non audeant munera exigere propter commendationem eclesiae, quia propter cupiditatem plerumque a laicis talibus presbiteris eclesiae dantur, qui ad peragendum sacerdotale officium indigni sunt. 44 MGH Conc. 2,1 (Concilium Remense a. 813), c. 21, 255; ebd. (Concilium Turonense a. 813), c. 15, 288; ebd. (Concilium Moguntiniense a. 813), c. 30, 268. 45 MGH Capit. episc. 1 (Theodulf von Orléans, Erstes Kapitular), c. 16, 114. – Vgl. im übrigen MGH Capit. episc. 3 (Capitula ecclesiastica a. 810/813?), c. 1, 178; und ebd. (Statuta Bonifatii 819/829), c. 7, 361.
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Position in einer Gemeinde strebten.46 Und mit den laici, die regelmäßig im Plural genannt werden, muss hier auch gar nicht zwangsläufig jeweils ein einzelner Grundherr gemeint gewesen sein; es könnte genauso gut eine Gruppe, eine lokale Gemeinschaft, eben eine Pfarrgemeinde angesprochen gewesen sein, die kollektiv einen Pfarrer für sein Amt auswählte.47 Kollektive Entscheidungen einer Gemeinde über die Besetzung von Pfarrkirchen haben in unserem Eigenkirchen-dominierten Bild der kirchlichen Organisation auf dem Lande bisher keinen Platz. Schon Dietrich Kurze hat allerdings in seinem Buch über die Pfarrerwahlen einschlägiges Material auch aus dem Frühmittelalter zusammengetragen.48 Bekannt ist der Titel I,9 der „Lex Baiwariorum“: Hier werden zwei Arten benannt, wie ein Priester ins Amt komme, nämlich: quem episcopus in parochia ordinavit – vel qualem plebs sibi recepit ad sacerdotem. Es ist sprachlich nicht klar, ob die Konjunktion „vel“ hier auf eine Alternative oder auf zwei gleichermaßen notwendige Bedingungen für den Weg ins Priesteramt verweist. Genannt werden aber ausschließlich Bischof und Gemeinde (plebs); von einem Grundherrn ist mit keinem Wort die Rede.49 Für Sachsen bestimmte Karl der Große in der sogenannten „Capitulatio de partibus Saxoniae“: Jede Kirche solle einen Hof und zwei Mansen Land erhalten – und zwar ausdrücklich von den pagenses ad ecclesiam recurrentes. Jeweils 120 Männer sollten gemeinsam der Kirche einen Knecht und eine Magd zur Verfügung stellen.50
46 Vgl. dazu etwa MGH Capit. episc. 1 (Ghaerbald von Lüttich, Erstes Kapitular), c. 13, 19 (= MGH Capit. 1 [Capitula a sacerdotibus proposita], Nr. 36, c. 13, 107): Ut nullus presbyter a sede propria sanctae ecclesiae, sub cuius titulo ordinatus fuit, admonitionis causa ad alienam pergat ecclesiam, sed in eadem devotus usque ad vitae permaneat exitum. (Der Charakter des Textes ist strittig: Pokorny 2005, 93–96, hat gegen den Editor Brommer bezweifelt, daß es sich überhaupt um ein Bischofskapitular handele; vgl. dagegen aber wieder van Rhijn 2007, 219–228, die zwar Pokornys Zweifel an Ghaerbalds Autorschaft für berechtigt hält, den Text aber sehr wohl als von einem Bischof, nicht vom König erlassen betrachtet.) – Vgl. außerdem beispielsweise noch: MGH Capit. episc. 1 (Ghaerbald von Lüttich, Drittes Kapitular), c. 7, 39. 47 So etwa, wenn es in den MGH Capit. episc. 3 (Statuta Bonifatii), c. 1, 360, heißt: Ut nullus presbiter creditam sibi ecclesiam sino [sic!] consensu episcopi derelinquat et laicorum suasione ad aliam transeat. 48 Kurze 1966, 42–73, der freilich seine Belege noch ganz im Lichte der Stutz’schen Eigenkirchenlehre interpretierte. 49 Lex Baiwariorum, ed. Schwind, tit. I, 9, 279-780: De presbiteris vel diaconibus, quomodo conponantur. Si quis presbytero vel diacono quem episcopus in parochia ordinavit vel qualem plebs sibi recepit ad sacerdotem, quem ecclesiastica sedes probatum habet, iniuriam fecerit vel plagaverit, tripliciter eos conponat. – Zu der Stelle schon: Kurze 1966, 45–51. 50 MGH Capit. 1 (Capitulatio de partibus Saxoniae), Nr. 26, c. 15, 69: Ad unamquamque ecclesiam curte et duos mansos terrae pagenses ad ecclesiam recurrentes condonant, et inter centum viginti homines, nobiles et ingenuis similiter et litos, servum et ancillam eidem ecclesiae tribuant. Zu einer möglichen Datierung in die Mitte der 790er Jahre vgl. jetzt Hen 2006, 38–44; skeptisch dagegen Nelson 2013, 23–24; zur Interpretation der Capitulatio bleibt wichtig: Schubert 1993.
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Zweifellos, das erst noch zu christianisierende Sachsen hatte im 8. Jahrhundert eine Sonderstellung; auch geht es in dem Kapitel nicht eigens um die Bestellung des Priesters. Immerhin suchten aber fränkische Eliten für Sachsen die Lösung bei der Organisation und Ausstattung der Kirchen auf dem Land offenbar nicht in der Macht einzelner nobiles, sondern im gemeinschaftlichen Handeln aller nobiles, ingenui und liti auf lokaler Ebene. Doch nicht nur in normativen Texten wird ein kollektives Interesse am Pfarrer sichtbar. Auf dem Rückweg von einer gemeinsamen Zechtour nach Mouzon schlug Ende der 860er Jahre der Priester Trisingus in volltrunkenem Zustande seinem Schwager Livulf mit dem Schwert zwei Finger ab. Daraufhin wurde Trisingus von Hinkmar von Reims mehrfach zu Synoden vorgeladen, um sich in dieser Sache zu rechtfertigen. Auch nach eineinhalb Jahren war der Fall noch nicht geklärt, Trisingus aber hatte sich mittlerweile auf den Weg zum Papst nach Rom gemacht. In dieser Situation wandte sich nun nicht etwa ein Stutz’scher Eigenkirchenherr, der die Verluste seiner grundherrlichen Kirche beklagt hätte, an den Reimser Erzbischof. Es beschwerte sich vielmehr die Gemeinde: Die parociani, die nicht länger ohne Priester sein wollten, führten bei Hinkmar Klage. So jedenfalls berichtete es der Erzbischof selbst in einem Brief an Papst Hadrian II.51 Dasselbe aber können wir auch noch in einem zweiten Fall beobachten, über den uns ebenfalls Hinkmar berichtet: Auch hier klagte nicht ein einzelner Grundherr über die Vakanz einer Pfarre, sondern die homines in ipsa villa – und zwar quia non haberent presbyterum in sua ecclesia.52 Wenn wir schließlich den Blick über die Alpen nach Italien weiten, so treffen wir in Urkunden relativ häufig auf Belege für Priesterwahlen.53 Und so dürfen wir zumindest fragen: Ist dieses Phänomen eine Besonderheit Italiens? Oder sehen wir dort solche Pfarrerwahlen vielleicht nur deshalb häufiger, weil wir eine erheblich dichtere und zugleich auch etwas anders ausgerichtete urkundliche Überlieferung für die lokale Ebene haben? Im Jahr 832 interpretierte Kaiser Lothar jedenfalls jene eingangs zitierten, grundlegenden Bestimmungen seines Vaters von 818/81954, die auch der Astronomus erwähnt hatte, für Italien in recht eindeutiger Weise: Nicht etwa ein einzelner Grundherr, sondern die gesamte Gemeinde, der populus, sollte seine Pfarrkirche jeweils mit einer Hufe Land ausstatten.55
51 Hinkmar von Reims, Epistola, ed. Migne, 641 B – 648 D, hier 646 C – 648 C, bes. 648 A: Post annum et sex menses reclamantibus parochianis ecclesiae ipsius, in qua idem presbyter fuerat ordinatus, se non habere presbyterum; zu dem Fall auch Schmitz 2004, 7–8. 52 Hinkmar von Reims, Epistola, ed. Migne, 538 D; vgl. Kurze 1966, Anm. 52. 53 Vgl. schon Kurze 1966, 57–71. 54 Vgl. oben, Anm. 19. 55 MGH Capit. 2 (Capitulare Papiense a. 832), Nr. 201, c. 1, 60: Quodsi forte in aliquo loco aecclesia sit constructa, quae tamen necessaria sit et nihil dotis habuerit, volumus, ut secundum iussionem domni et genitoris nostri unus mansus cum duodecim bunuariis de terra arabili ibi detur et mancipia duo a liberis hominibus, qui ad eandem ecclesiam officium Dei debeant audire, ut sacerdotes ibi possint esse
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Doch auch nördlich der Alpen lassen sich noch deutliche Indizien für kollektives Handeln von Gemeinden nennen – ja sogar für eine kollektive Auswahl des Priesters durch seine parrochiani. Im Codex Paris, Bibliothèque nationale de France, Lat. 8508 findet sich auf foll. 155v bis 157r ein Priesterexamen, das Wilfried Hartmann mit guten Gründen Halitgar von Cambrai zugeschrieben hat. Der Text regelt, wie Geistliche (clerici) vor ihrer Weihe zum Priester zu prüfen seien – und was sie bei dieser Gelegenheit vor dem Bischof, der Geistlichkeit und dem populus zu versprechen hatten. Demnach sollte der Bischof einen jeden Kandidaten fragen, si natura prudens vel si electus a populo sit, si literatus, si bene doctus. Ein Priester sollte also nicht nur klug und gut ausgebildet sein, sondern auch „von der Gemeinde erwählt“.56 Die bisherigen Indizien bereiten den Boden für das, was in einer Handschrift wohl des ausgehenden 9. Jahrhunderts aus St. Maximin in Trier dokumentiert ist.57 Darin findet sich nämlich eine kleine Zusammenstellung von Texten, die Priester betreffen: Fol. 109r enthält ebenfalls Fragen, die typisch sind für ein Priesterexamen vor der Weihe des Kandidaten. Sie zielen vor allem auf die räumliche und soziale Herkunft des künftigen Priesters und auf sein Wissen: Stammt er aus der Gemeinde? Ist er frei geboren, aus einer legitimen Ehe? Kennt er die Psalmen, die Weihegrade und ihre Bedeutung, das Glaubensbekenntnis, das Vaterunser? Kann er lesen – und versteht er auch, was er da liest? Weiß er zu predigen?58 Ähnliches findet sich einige Jahrzehnte früher schon im Pariser Latinus 101259 und andernorts60; und dieselben Themen werden auch in etlichen Bischofskapitularien des 9. Jahrhunderts angesprochen. (Der Trierer Codex selbst enthält passenderweise auch die „Capitula“ Theodulfs von Orléans.61) Interessant ist nun in unserem Zusammenhang die Rückseite desselben Blattes 109: Sie stammt von anderer Hand; Hubert Mordek hat trotzdem den ersten Absatz der Rückseite noch für den Schluss des Fragenkatalogs gehalten, der auf der Vorderseite beginnt.62 Sicher ist das nicht, es könnte sich auch schon um den Beginn eines zweiten kleinen Textes handeln. Von seiner Funktion her wäre er allerdings eng ver-
et divinus cultus fieri; quodsi hoc populus facere noluerit, destruatur. 56 Institutio ecclesiasticae auctoritatis, ed. Hartmann 1979, 392. 57 Zum Folgenden vgl. Mordek 1995, 127–129, zur Provenienz aus St. Maximin, die durch einen entsprechenden Besitzvermerk und einen Eintrag im Bibliothekskatalog spätestens für das ausgehende 11. Jahrhundert gesichert ist: ebd., 127. – Ich danke ganz herzlich Herrn Dr. Charles West, der mich auf den Codex aufmerksam gemacht hat. 58 Gent, Rijksuniversiteit, Centrale Bibliotheek, Ms. 506, fol. 109r. 59 Paris, Bibliothèque nationale de France, Lat. 1012, foll. 27v–29r; der Text ist gedruckt bei Vykoukal 1913, 85–86. (die orthographischen Fehler der Handschrift sind hier stillschweigend verbessert). 60 Im selben Codex, Gent, Rijksuniversiteit, Centrale Bibliotheek, Ms. 506, folgt etwa foll. 103r–104r eine weitere Liste von Fragen, die offenkundig an einen Priester adressiert sind; zu den Priesterexamen der Karolingerzeit vgl. jetzt grundlegend: van Rhijn 2012. 61 Gent, Rijksuniversiteit, Centrale Bibliotheek, Ms. 506, foll. 87r–94r. 62 Mordek 1995, 128.
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bunden mit dem Examen auf der Vorderseite des Blattes: Hier geht es nämlich nun um die Auswahl von Diakonen und Priestern. Interessanterweise wird dazu festgehalten, dass der Priester von den boni homines jener Pfarrei zu wählen sei, für die er geweiht werden soll.63 Dann folgen die Kriterien, an denen sich die Kandidaten für die Priester und die Diakonsweihe messen lassen müssen. Diese Kriterien sind fast wörtlich aus dem Paulus-Brief an Timotheus übernommen (1 Tim. 3, 2–4) – obwohl sie dort bekanntlich auf episcopi und diaconi, nicht auf presbiteri bezogen sind.64 Am Ende steht in unserem Trierer Codex sogar noch eine Formel, mit der offenbar die boni homines (oder ihr Sprecher?) auf einer Versammlung das Ergebnis ihrer Wahl verkünden und die Anwesenden dazu auffordern sollten, berechtigte Einwände gegen den Gewählten offen vorzutragen – so sie denn Einwände hätten.65 Wahrscheinlich wird sich das Material noch weiter verdichten lassen. Schon jetzt aber deutet der Befund in eine bestimmte Richtung: In den Weiten des Frankenreichs des 9. Jahrhunderts sind offenbar zumindest nicht überall Pfarrkirchen von Grundherren mit deren freigelassenen Sklaven als abhängigen „Eigenpriestern“ besetzt worden. Wir dürfen stattdessen auch an Priester mit Eigeninitiative denken, an Priester, die wohlhabend genug waren, um Gemeinden zu bestechen. Und wir dürfen – zumal in Regionen mit vielen kleineren freien Eigentümern – mit Gemeinden rechnen, die kollektiv, repräsentiert durch die boni homines, über die Wahl ihres Pfarrers entschieden.
3 Ausbildung und Wissen der Pfarrer Diese Pfarrer aber brauchten, damit das zentrale politische Projekt der Correctio ein solides Fundament hatte, eine vernünftige Ausbildung; sie brauchten Bücher. Im Priesterexamen der Handschrift aus St. Maximin wird gefragt: Ob der Kandidat das Glaubensbekenntnis und das Vaterunser gut kenne? Denn ohne dies könne man Gott nicht gefallen! Auch soll der Priester daraufhin geprüft werden, wie gut er die
63 Dies und das folgende nach Gent, Rijksuniversiteit, Centrale Bibliotheek, 506, fol. 109v: Si sciat quam gra[n]dis honor est diaconalis uel sacerdotalis et quam graue pondus utriusque sit honoris et si habeat impetratam ecclęsiam in cuius titulo ordinetur. Ut presbiter eligatur per electionem hominum bonorum in illa parrochia degentium in cuius ecclesię titulo ordinatur. 64 Ebd.: Oportet presbiterum inreprehensibilem esse, sobrium, prudentem, pudicum, ornatum, hospitalem, doctorem, non uinolentum non percussorem, sed modestum, non litigiosum, non cupidum, suę domui bene praepositum, non neophytum ne in superbia elatus in iudicium incidat diaboli. Oportet autem illum et testimonium habere bonum ab his qui foris sunt, ut non in obprobrium incidat et laqueum diaboli. 65 Ebd.: Auxiliante domino deo et saluatori nostro Iesu Christo eligimus in ordine diaconi hos ill. in titulo illo et in ordine presbiteri .i. hos in titulo illo. Si quis autem habet aliquid contra hos uiros pro deo propter deum cum fiducia exeat et dicat, uerum tamen memor communionis suę.
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Psalmen kennt und die capitula – die ihrerseits erklärt werden als die lectiones per singula tempora congruas ad dicendum in horis canonicis.66 Priester mußten Kenntnisse haben über die Messe, über das Vater-Unser und das Glaubensbekenntnis, aber auch über die weitere Liturgie und die Sakramente, zumal über die Taufe und die Buße. Sie brauchten Grundkenntnisse des Kirchenrechts und des Computus (besonders mit Blick auf die kirchlichen Feiertage), aber auch ein Wissen über die rechte, gottgewollte Ordnung der Geistlichkeit, etwa mit Blick auf die verschiedenen Weihegrade und deren Bedeutung. Und schließlich mußten Priester in der Lage sein, ihre Gemeinden zu belehren: Sie mussten zu predigen wissen. Musterpredigten waren ein angemessenes Mittel, um dafür Orientierung und Halt zu bieten. Überliefert sind nicht nur Priesterexamen67, sondern auch eine ganze Reihe früher Bischofskapitularien, die fordern, dass Priester über diejenigen Texte verfügen, die ihnen solche Kenntnisse vermitteln.68 Die Übereinstimmungen dessen, was die verschiedenen frühen bischöflichen Capitula hierzu fordern, sind so groß, dass Rudolf Pokorny sogar angenommen hat, schon in der Spätzeit Karls des Großen sei eine Art Wissenskanon zentral definiert und als Norm ausgegeben worden.69 Das Ergebnis dieser normativen Vorgaben ist ganz konkret in der Überlieferung zu beobachten: Es sind einerseits Codices, die dem Palatinus latinus 485 aus Lorsch gleichen, also Schulbücher, die von ihrem Inhalt her darauf ausgerichtet sind, angehenden Pfarrern das notwendige Wissen zu vermitteln – recht sorgfältig gearbeitete Codices mit einschlägigen Texten von guter Qualität. Das Ergebnis sind andererseits aber auch Bücher, die Susan Keefe als „instruction-reader“ für Landpriester bezeichnet hat: Handbücher, die den Priestern wohl tatsächlich ganz konkret bei ihrer Arbeit in ihrer Gemeinde helfen sollten.70 Wir kennen schon jetzt eine beachtliche Zahl
66 Ebd., fol. 109r. 67 Vgl. Vykoukal 1913; van Rhijn 2012. – Ein einschlägiges Beispiel bieten etwa auch MGH Capit. episc. 3 (Interrogationes examinationis), 214–215; vgl. außerdem unten, Anm. 78. 68 Eine karge Liste, überliefert in drei Freisinger Handschriften des 9. Jahrhunderts, stellt in 15 knappen Kapiteln Wissensinhalte zusammen: Haec sunt, quę iussa sunt discere omnes ecclęsiasticos: Der Kanon reicht eben vom Glaubensbekenntnis und Vaterunser über die Sakramente, die Meßtexte und den Computus bis hin zur Fähigkeit, Urkunden und Briefe zu schreiben (MGH Capit. episc. 3 [Capitula Frisingensia prima], 204–205.). In einem Codex aus der Mitte des 9. Jahrhunderts, der wohl in Mainz geschrieben wurde (Sélestat, Bibliothèque municipale, Ms. 132), findet sich in zehn Punkten bündig formuliert, wie die Archipresbyter das Wissen der sacerdotes überprüfen sollten – eine Fragenliste, die vielleicht noch aus der Zeit Richulfs von Mainz († 813) datiert (gedruckt in: ebd. [Capitula Moguntiensia], 179–180); weitere enge Parallelen bestehen zur Kapitelliste Waltcauds von Lüttich, MGH Capit. Episc. 1, 45–49. 69 Pokorny 2005, 36. 70 Vgl. dazu grundlegend: Keefe 2002; Hen 1999, 2001. – Buchbesitz von Priestern ist uns auch vielfach in anderen Quellen bezeugt: So führte beispielsweise Hinkmar von Reims bei seinem Neffen darüber Klage, daß der Priester Haimerad die Kirche in Follanaebrayus, an der der Priester Bertfrid die Messe las, zerstört habe und bei dieser Gelegenheit nicht nur liturgische Gewänder, sondern auch
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solcher Codices;71 und hinter so manchem Manuskript des 9. Jahrhunderts, das im Bibliothekskatalog als „theologische Sammelhandschrift“ oder „mélanges théologiques“ verzeichnet ist, könnte sich ein weiteres Buch dieses Typs verbergen. Dieses Material bildet den größeren Kontext für unser Lorscher Schulbuch für die Priesterausbildung. Es ist von der historischen Forschung bisher erst in Ansätzen erschlossen.72 Die betreffenden Codices sind in der Regel recht klein und handlich. Manche sind sichtlich aus Pergamentresten gefertigt, die bei der Produktion anderer Codices als Beschnitt übriggeblieben sind.73 Das sprachliche Niveau schwankt stark. Dasselbe lässt sich aber auch über den Textbestand sagen: Zwar kehren bestimmte Texte häufig wieder; typisch sind etwa Erklärungen zur Messe, zum Vaterunser, zum Glaubensbekenntnis, zur Taufe, auch Gebetsformeln, Musterpredigten, Lehrdialoge, dazu Priesterexamen, Bischofskapitularien und Auszüge aus Lehrbüchern zu kirchlichen Institutionen wie etwa Isidors „De ecclesiasticis officiis“. Aber kein erhaltener Codex gleicht in seiner Zusammenstellung genau dem anderen, bestenfalls lassen sich gewisse Gruppenähnlichkeiten namhaft machen; und schon die einzelnen Texte schwanken, wo sie wiederkehren, in ihrem Wortbestand von Codex zu Codex stark. Die Varianz ist hierbei so groß, dass es bisweilen schwerfällt, überhaupt die Grenze zwischen Text und Rezension scharf zu ziehen. Eines dieser Büchlein, das Susan Keefe als „instruction reader“ bezeichnet hat, sei hier exemplarisch etwas näher vorgestellt. An diesem Beispiel nämlich lässt sich zumindest in Ansätzen erkennen, wie solche Bücher für Priester hergestellt worden sein könnten. Der betreffende Codex liegt heute in der Bibliothèque Municipale in Laon. Und schon ein flüchtiger Blick auf den Inhalt legt den Verdacht nahe, daß das Buch zur Gruppe der Handbücher für Priester gehört. Es enthält jedenfalls eine Zusammenstellung typischer Texte: zwei Erklärungen zum „Vater Unser“74, je eine Erklärung zum „Symbolum Apostolorum“75 und zum „Symbolum Athanasii“76, eine
unum librum gestohlen habe: Hinkmar von Reims, Epistola, ed. Migne, 539 D. 71 Vgl. die Liste in Anhang I. 72 Grundlegend vor allem Keefe 2002; Pokorny 2005; van Rhijn 2012. 73 Dies gilt in besonderer Weise für Wien, Österreichischische Nationalbibliothek, Cod. 1370; aber auch in Paris, Bibliothèque nationale de France, Lat. 1012, finden sich derlei Beschnittreste verarbeitet, etwa für fol. 39 und fol. 53. 74 Laon, Bibliothèque municipale, Ms. 288, foll. 1v–2r; ähnlich auch in Paris, Bibliothèque nationale de France, Lat. 13440, foll. 217r–219r und mindestens 20 weiteren Handschriften. 75 Laon, Bibliothèque municipale, Ms. 288, foll. 2v–6r (unediert?); der Text ist häufig überliefert, etwa in Paris, Bibliothèque nationale de France, Lat. 1012, foll. 55v-59r; Paris, Bibliothèque nationale de France, Lat. 13440, foll. 222r–v (hier Fragment); Madrid, Real Biblioteca de San Lorenzo de El Escorial, L. III. 8, fol. 19v sq. 76 Laon, Bibliothèque municipale, Ms. 288, foll. 6r–15r (ähnlich beispielsweise auch in Paris, Bibliothèque nationale de France, Lat. 1012, foll. 60r–66v).
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Expositio missae77, in die ein sehr kurzes Priesterexamen78 eingewoben ist, sowie Worterklärung zum Canon Romanus79, eine Erklärung zu Gebeten des Taufritus80, inklusive einem kleinen Text mit Prüfungsfragen und Antworten zur Taufe81. Daran schließt sich noch eine Reihe von zehn Predigten an; sie behandeln grundlegende Themen christlicher Moral: Warum wir gute Werke tun müssen; was der Unterschied zwischen den Guten und den Bösen ist; wie Gottesfurcht die Sünde vertreiben kann; Warnungen vor dem Jüngsten Gericht und dergleichen mehr.82 Die Serie dieser Predigten wird allerdings unterbrochen von einem kleinen Text, der sich am Anfang als Lehrdialog ausgibt, tatsächlich aber die Dialogform im weiteren nicht durchhält: Der Text handelt vom Körper Adams, der Erschaffung der Welt durch Gott und von Sünden;83 zumindest der erste Teil, der die Substanzen aufführt, aus denen Adams Körper gemacht ist, wird ähnlich sonst auch in medizinischen Zusammenhängen überliefert.84
77 Laon, Bibliothèque municipale, Ms. 288, foll. 15r–22v. 78 Laon, Bibliothèque municipale, Ms. 288, foll. 16v–17r: […] pro qui[corr. d] dititur benedictus benedictus dicitur ad adnontiandum uerbum diuinum et tradendum baptismum uel penitente lauacrum et hostias hofferendum omnipotentem domino pro salute uiuorum et requiem defunctorum ; pro quid cantas missa in cummorationem morti domini que mors christi facta est uita mundauit offerendum proficiat ad salutem uiuorum et requiem defunctorum adque medella animarum et corporum quid cantis misa . Offero panem in corpore christi ipso dicente [corr. ad] apostulos accipite et manducate hoc [corr. est] enim corpus meum ; offero uinum q[corr. ua]si in sanguinem eius ipso dicente ad apostolos hic enim sanguis meus qui pro uobis et pro multis efundetur in remissionem peccatorum uinum aut com aqua mixto offero; ähnlich, aber im einzelnen mit großer Varianz, z.B. auch in: Paris, Bibliothèque nationale de France, Lat. 1008, foll. 30r–31r; Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Weißenburg 91, foll. 149r–v; Albi, Bibliothèque municipale, Ms. 43, foll. 15v–16r; St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 40, p. 304 (hier übrigens unter der Inskription Ioca episcopi ad sacerdotes). 79 Laon, Bibliothèque municipale, Ms. 288, foll. 22v–28v. 80 Laon, Bibliothèque municipale, Ms. 288, foll. 28v–37v (ed. Keefe 2002, Bd. 2, Nr. 31, 430–436, nach dieser Handschrift). 81 Laon, Bibliothèque municipale, Ms. 288 foll. 37v-38r; nach dieser Hs. gedruckt bei Keefe 2002, Bd. 2, Nr. 31, 436, Z. 22, 437, Z. 9. Der Anfang entspricht in etwa dem, den Keefe ebd., Nr. 49, 576, Z. 1–5, abgedruckt hat; anders als Reynolds 1983, 124, angibt enthält der Codex aber gerade nicht den Ritus des pedilavium, das in Nordwestfrankreich tatsächlich ja auch unüblich war: Vgl. Keefe 2002, Bd. 1, 135. 82 Laon, Bibliothèque municipale, Ms. 288, foll. 38r sqq. – Die Predigten werden teils Hieronymus, zum größeren Teil aber Augustinus zugeschrieben und bleiben im einzelnen noch zu identifizieren; Parallelen bestehen etwa zu den Homilien, die die Hs. Madrid, Real Biblioteca de San Lorenzo de El Escorial, L. III. 8, überliefert; Keefe 2002, Bd. 1, 18-19, nimmt an, die Predigten seien „clearly intended as instruction for the cleric himself“ – ein Urteil, dem ich in dieser Schärfe nicht folgen kann. 83 Laon, Bibliothèque municipale, Ms. 288, foll. 55r–59r. 84 Der Anfang jedenfalls ist ähnlich überliefert in Berlin, Staatsbibliothek, Preußischer Kulturbesitz, Ms. Phill. 1790, Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 1118 und weiteren Handschriften: Vgl. dazu Fischer 1996 (mit Druck des Textes auf 223–226), der allerdings unsere deutlich ältere Handschrift aus Laon nicht berücksichtigt.
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Das Format des Buches ist – typischerweise – recht handlich: 91 Blätter, ca. 21 × 14 cm klein. Die Handschrift ist über Initialen und Tituli strukturiert; man erkennt durchaus einen Willen, von vornherein ein gegliedertes und benutzbares Buch zu schaffen (Kustoden sind vorhanden, aber jüngeren Datums). Doch laufen Texte auch über das Ende einer Lage und einen Wechsel der Hand hinaus. Bernhard Bischoff hat die verschiedenen Hände datiert auf „ca. 2. Viertel des 9. Jahrhunderts“ und ins nördliche Frankreich verortet.85 Susan Keefe setzt die Handschrift in das erste Drittel des 9. Jahrhunderts.86 Die Provenienz des Buches ist Laon, laut Bischoff stammt es aus Saint Vincent.87 In jedem Falle handelt es sich – und das könnte wichtig sein – um einen monastischen Überlieferungskontext. Zur Schrift hat Bischoff treffend notiert: „Mehrere meist etwas schwerfällige Hände“.88 Außerdem weist der Codex einige wenige Glossen und sehr viele Korrekturen auf, und zwar schon des 9. und dann noch einmal des 11. Jahrhunderts. Bei näherer Betrachtung stechen zuallererst die überaus zahlreichen Schwächen in der Orthographie und Grammatik ins Auge.89 Die Fehler betreffen letztlich alle Scheiber und können hier nur anhand weniger Beispiele angedeutet werden: – o und u werden sehr häufig verwechselt (nos > nus, communionem > cummunionem, mundum > mondum, secundum > secondum, dux > dox); das betrifft auch Stellen, an denen der Unterschied die Grammatik berührt (omnes homines iustus et peccatores uiuos et mortuus ipse erit iudicaturos / sanctos iob dicit). – h vor Vokal kann stehen oder auch nicht (opere > hopere); – geschlossenes e und i werden häufig verwechselt: (dimitte > demite, quicumque > queconque, adscribe > adscrebe); – ebenso d und t (teneat > tenead); – manche Schreibformen verweisen offenbar auf Nasale (permansit > permanxit; mansio > manxio); – x und s werden aber auch sonst verwechselt: (remissionem peccatorum > remixionem peccatorum – umgekehrt: crucifixus > crucifisus; poscit > posxit; possit > poxit); – nicht selten sind ganze Silben verschliffen: (maiestas > maistas; peccavit > peccait; crucifisus, mortuus et pultus). Der Befund spricht wohl für Schreiber, die eine frühe Form des Romanischen sprachen und durchaus fähig waren, Buchstaben zu Pergament zu bringen (wenn auch etwas „schwerfällig“). Mit der Orthographie und der Grammatik jenes korrekten Lateins,
85 Bischoff 2004, Nr. 2102, 31–32. 86 Keefe 2002, Bd. 2, 429. 87 Bischoff 2004, 31. 88 Ebd. 89 Bischoff 2004, 31, kommentierte knapp: „Text sehr verderbt“.
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das Karl der Große, Ludwig der Fromme und die Eliten des Hofes forderten90, standen unsere Schreiber dagegen auf Kriegsfuß – und zwar selbst dort, wo Kernbestände religiösen Wissens91 betroffen waren. Als Einzelfall, je für sich genommen wäre jeder dieser Fehler sicherlich wenig erstaunlich, ja vielleicht sogar geradezu zeittypisch; doch ihre Dichte ist in der Handschrift ungewöhnlich hoch – und geht weit über das Maß hinaus, das man in anderen Codices der Zeit findet. Tatsächlich ließe sich die Liste der Beispiele fast beliebig verlängern. In den hinteren Abschnitten des Buches werden allerdings dann auch die Korrekturen intensiver: Wir finden etliche Rasuren, Ergänzungen, Korrekturen mindestens zweier Zeitschichten. So ergibt sich als Zwischenfazit folgendes Bild: 1. Die einzelnen Teile des Buches dürften von vornherein als eine zusammengehörige Kompilation geplant gewesen sein; es handelt sich um eine zweckmäßige Zusammenstellung von Texten, die für einen Priester, der außerhalb des Klosters für eine Gemeinde zuständig war, einen hohen pragmatischen Nutzen hatten. Es spricht zumindest nichts dagegen, mit einer von vornherein geplanten Produktion des Buches zu rechnen. 2. Es waren mehrere Personen an der Zusammenstellung beteiligt; der erste Schreiber verantwortete den Löwenanteil, die Blätter 1–39, aber auch weite Passagen des Predigtteils. Dort wechseln die Hände allerdings rascher, und zwar teilweise auch innerhalb einer Lage, manchmal sogar in kurzen Abständen. Mindestens ein Korrektor hat schon im 9. Jahrhundert die Texte durchgesehen und die schlimmsten Schnitzer ausgebessert – im ersten Teil noch eher sporadisch, später intensiver. 3. Die meisten Fehler deuten auf Romanen hin. Sie sind so häufig und so schwerwiegend, dass sie nicht selten geradezu den Text entstellen und den Sinn verdunkeln – und zwar selbst an Passagen, in denen es sich um grundlegende Texte handelt (wie etwa das Vaterunser oder das Symbolum). Wie kann man den Befund erklären? Angesichts unseres – sicher unzureichenden – Forschungsstandes zu derartigen Büchern sind zurzeit mindestens zwei verschiedene Szenarien denkbar. Zum einen ruft das Manuskript geradezu zwangsläufig die Erinnerung an ein berühmtes Kapitel der „Admonitio generalis“ wach: Kinder sollten nicht durch Diktieren und Schreiben das Latein der Bücher verderben; zumindest die heiligen Texte – Psalter, Evangelium und Missale – sollten deshalb von Erwachsenen geschrieben werden, und zwar cum omni diligentia.92
90 Vgl. dazu statt vielem anderen nur programmatisch die sogenannte Epistola de litteris colendis (Urkundenbuch des Klosters Fulda, ed. Stengel, Nr. 166, 246-254); zur quellenkundlichen Einordnung immer noch grundlegend: Martin 1985. 91 Zu dem Begriff als Forschungskonzept: Holzem 2013, 247–262. 92 Admonitio generalis, ed. Glatthaar/Mordek/Zechiel-Eckes, c. 70, 224.
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Liest man die Handschrift aus Laon, dann könnte man also vielleicht an pueri im Kloster denken: Die Kleinen haben zwar die Buchstaben schon gelernt, sie sind auch schon in der Lage, auf Pergament zu schreiben (wenn auch noch etwas schwerfällig). Dem Sinn der Texte aber wissen sie noch nicht viel abzugewinnen. Ihr Lehrer lässt sie im Diktat reihum das Schreiben üben, der Fortgeschrittenere darf etwas mehr, die weniger Guten dürfen vorerst nur wenig zu Pergament bringen. Anschließend korrigiert der Lehrer die schlimmsten, grob sinnentstellenden Fehler. Das Ergebnis solcher Übungen aber, so durchwachsen die Qualität auch ist, wird dann weiterverwendet und wird auf diese Weise über die Jahrhunderte tradiert: Es kann einem Priester auf dem Lande als „instruction-reader“ dienen. Denkbar wäre aber auch noch ein zweites Szenario. Es ergibt sich vor allem aus der minderen sprachlichen Qualität einer ganzen Reihe von schwer entstellten Passagen, die ihren ursprünglichen Sinn kaum noch erahnen lassen. Ein gutes Beispiel für diesen Befund bietet ein kleiner Text zum „Symbolum Apostolorum“, der sich nicht nur in der Handschrift aus Laon, sondern ähnlich auch noch in anderen Büchern dieses Typs findet: Laon, BM, Ms. 288, foll. 2v–3r
Paris, BnF, Lat. 1008, foll. 19v–20r
Symbolum grece dicitur quod in latino interpretatur conlatio siue indicio: conlatio qui xii apostoli xii uerba symbuli conpusuerunt. Inditio per quod indicatur omnis estientia ueritatis per quem posimus peruenire ad uitam eter eternam. in ista duodecim uerba symbuli tota essis excluditur et omni sapientia demunstratur omnipotens deus.
Symbolum greca lingua dicitur quod in latino interpretatur conlatio siue placitum inter deum et hominem. Conlatio quia duodecim apostoli in duodecim uersibus composuerunt et cunctis credentibus tradiderunt. indicio uero per quam indicatur omnis sapientia ueritatis per quam aetiam possit homo fidelis ad uitam peruenire aeternam. In his duodecim uersibus symboli omnes hereses excluduntur et plenitudo fidei demonstratur.
Durchaus typisch an diesem Beispiel sind grob sinnverändernde Fehler (wie verba statt versus) und Wortbildungen wie estientia und essis93, auch die wiederholte Auslassung von Halbsätzen. Kann man all das noch als simple Hörfehler bei einem Diktat oder gar als Lesefehler eines ungeübten Kopisten erklären? Hat hier also wirklich jemand legendo uel scribendo den Text entstellt, wie es die „Admonitio generalis“ verhindert wissen wollte? Oder dürfen wir angesichts solcher Befunde eher folgendes Szenario annehmen: Könnte hier ein Priester, der einmal Jahre zuvor Schreiben gelernt und damals auch einschlägige Texte auswendig gelernt hatte, das aufgeschrieben haben, was er vom
93 Tino Licht hat mich dankenswerterweise darauf aufmerksam gemacht, dass estientia von scientia mit Prothesis gebildet sein dürfte (vgl. scuola>école). Bei essis könne es sich um eine synkopierte Form von heresis handeln.
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einst Gelernten noch im Kopf hatte? Seine Schrift blieb – ob mangelnder Praxis im Alltag – recht ungelenk; als Romane waren ihm zudem Orthographie und Grammatik jenes Lateins fremd, das sich der Hof von Geistlichen wünschte; und auch sein Gedächtnis ließ den Mann häufig genug im Stich. Das betraf bezeichnenderweise komplizierte „Fachwörter“ wie haeresis, aber beispielsweise auch fremde Eigennamen – und zwar selbst im Kernbestand des Glaubensbekenntnisses selbst, wie etwa bei dem Versuch, über Pontius Pilatus Auskunft zu geben: pasus sopontiopilato pas qui ipse erat notierte der Schreiber hier.94 Gab der Mann also einstmals auswendig Gelerntes wieder? Was mag er selbst sich dann unter den verballhornten Wörtern, wenn er sie murmelte, konkret vorgestellt haben? Sein Zeitgenosse, der Bischof Halitgar von Cambrai, wollte sicherstellen, dass jeder Priester die documenta fidei pleniter sciat. Jeder Kandidat hatte vor dem Bischof, der Geistlichkeit und dem populus daher zu versprechen, dass er das Vaterunser und das Symbolum Apostolorum versteht, außerdem das Symbolum Athanasii „vollständig kennt und der Gemeinde in vernünftiger Weise übersetzt“.95 Ähnliche Bestimmungen finden wir in mehreren Bischofskapitularien.96 Aber mehr noch: Wir haben Indizien dafür, dass solches Wissen in regelmäßigen Abständen auf Diözesansynoden abgeprüft worden ist – und die Priester aufgefordert wurden, gute, korrigierte Bücher zu haben.97 Haben wir es also bei den Schreibern unseres Buchs mit Priestern zu tun, die hier ihr mehr oder minder richtiges Wissen aus dem Kopf niederschrieben? Entstand das Büchlein vielleicht sogar bei einer Überprüfung des Wissens dieser Männer, etwa bei einer Visitation oder im Rahmen einer Diözesansynode? Die Fragen lassen sich vorerst angesichts des desolaten Forschungsstandes zur Ausbildung und zum Wissen von Priestern im 9. Jahrhundert noch nicht beantworten. Fest steht aber immerhin, dass auch andere „instruction-reader“ für Priester, die im 9. Jahrhundert entstanden, Gemeinschaftswerke waren. Und auch in anderen dieser Büchlein (allerdings längst nicht in allen!) finden sich in dramatischer Dichte schwere, sinnentstellende Fehler im Latein.98
94 Laon, Bibliothèque municipale, Ms. 288, fol. 3v. 95 Institutio ecclesiasticae auctoritatis, ed. Hartmann 1979, 392. 96 Vgl. oben, Anm. 68–69. 97 Vgl. Patzold 2009, 387–388, zu einem Mechanismus der Kontrolle des Wissens von Pfarrpriestern. – Zur von Bischöfen geforderten Korrektur von Büchern vgl. etwa auch: MGH Capit. episc. 3 (Capitula Frisingensia tertia), c. 3, 222: Admonemus, ut unusquisque presbiter librum suum vitio scriptorum falsatum emendare studeat, quatenus laudem dei recte et rationabiliter in ęclesia sancta populo fideli assistente recitare queat. – Der Singular (librum suum) sticht ins Auge: Ob die Mahnung auf das jeweilige Handbuch des Priesters abzielt? 98 Vgl. etwa Paris, Bibliothèque nationale de France, Lat. 1012, fol. 86r: Incipit omilia sancti agustini episcopi de illas sex peccata originalis quod commisit adam primus homo.
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4 Fazit Es bedarf weiterer Grundlagenforschung, um entscheiden zu können, ob wir es hier eher mit einem typischen Befund zu tun haben oder mit einer seltenen Ausnahme; ja, letztlich ist zur Zeit nicht einmal sicher zu belegen, ob überhaupt eines der beiden hier vorgeschlagenen Szenarien zutrifft. Immerhin weist die Provenienz unseres Büchleins aber einmal mehr auf eine These hin, die Susan Keefe in ihrer Untersuchung von karolingerzeitlichen Texten zur Diskussion gestellt hat: Offenbar waren Klöster seit dem ausgehenden 8. Jahrhundert in einem sehr hohen Maße an der Ausbildung auch von Weltgeistlichen beteiligt, und hier insbesondere an der Ausbildung der neuen Pfarrpriester.99 Theodulf von Orléans hielt in seinem Kapitular ausdrücklich fest, dass Priester, die einen Neffen oder anderen Verwandten zur Schule schicken wollten, dafür entweder die Kathedralkirche Sainte-Croix selbst oder die Klöster Saint-Aignan, Fleury oder Saint-Liphard de Meung-sur-Loire oder andere coenobia der Diözese wählen sollten.100 In Klöstern sind zudem oft genug Schulbücher tradiert worden für die Unterrichtung von Priestern, Bücher von hoher Qualität – wie der Palatinus latinus 485 aus Lorsch. Bei ihnen könnte es sich zugleich um Vorlagen gehandelt haben für die Herstellung jener Kompilationen, die – in höherer Zahl – als Handbücher für den Pfarrklerus in den Pfarreien gebraucht wurden. An der Produktion solcher Bücher könnten (zumindest bisweilen) pueri oblati oder andere Klosterschüler beteiligt gewesen sein, vielleicht aber auch die angehenden Pfarrpriester selbst. Karl der Große und seine Eliten haben solche Verfahren 789 als gegeben geradezu vorausgesetzt; sie hatten allerdings Zweifel, ob die Produkte, die daraus hervorgingen, immer auch eine ausreichende Qualität hatten – und wollten diese Form der Produktion zumindest für Texte der Heiligen Schrift und für das Missale verboten wissen. Zugleich forderten sie eine Korrektur der liturgischen Bücher für die Priester. Ein solcher Korrekturgang bildet sich im hier näher vorgestellten Codex aus Laon augenfällig ab. Vielleicht greifen wir also in den Texten vor der Korrektur sogar, gewissermaßen als Überrest, ganz unmittelbar das Wissen karolingerzeitlicher Landpfarrer? Bei alledem bleibt noch viel zu tun: Die Texte in den Schul- und Handbüchern für den Pfarrklerus des 9. Jahrhunderts könnten Historikern langweilig erscheinen, die Bücher selbst aber sind als materielle Überreste der Karolingerzeit jedenfalls ein sehr lohnendes Forschungsobjekt. Ihre Adressaten, Eigentümer und Benutzer waren keine Stutz’schen Eigenpriester, keine erbärmlichen Freigelassenen, die doch stets ihrem Herrn ausgeliefert geblieben wären. Sie waren Geistliche mit eigenem Handlungsspielraum, die zumindest in manchen Gegenden des Frankenreichs vielleicht sogar von den Gemeinden selbst gewählt wurden. Sie verfügten über eine solide
99 Keefe 2002, Bd. 1, 149 u.ö. 100 MGH Capit. episc. 1 (Theodulf von Orléans, Erstes Kapitular), c. 19, 115–116.
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Grundausbildung, die sie nicht zuletzt auch in Klöstern wie Lorsch erlangen konnten – und zwar auch noch im ausgehenden 9. Jahrhundert. Und sie besaßen für ihren Alltag Handbücher, die zumindest einen gewissen Standard an Inhalten wahren helfen sollten. Deren Orthographie und Grammatik freilich ließen bisweilen so sehr zu wünschen übrig, dass der Hof mit Recht Sorge haben durfte, ob nicht auch der Sinn entstellt wurde. In Kapitularien und Bischofskapitularien wiederholten Könige und Bischöfe wieder und wieder: Es sollten gute, fehlerlose Bücher sein. Wie weit diese Forderung vor Ort, in der Pfarrei, umgesetzt wurde, wie also die Correctio konkret in der Breite in das Land hineinwirkte – darüber wird uns erst eine systematische Analyse der Schulbücher und „instruction readers“ für Priester nähere Auskunft geben.101
Anhang I: Arbeitsliste von Büchern für Pfarrer im 9. Jahrhundert Als „K“ sind diejenigen Codices gekennzeichnet, die Keefe 2002 als „instruction-readers for priests“ bezeichnet hat; unter der Sigle „P“ firmieren Bücher, die Pokorny 2005, 9 als „Handbücher für den Landpfarrer“ aufgeführt hat. 1) Albi, BM, Ms. 38 bis 2) Albi, BM, Ms. 43 3) Basel, UB, F III 15e 4) Bern, Burgerbibliothek, Cod. 289 5) Madrid, RBSL, L. III. 8 6) Gent, BR, Ms. 506 (83) 7) Laon, BM, Ms. 288 8) St. Petersburg, RNB, Q.V.I.34 9) London, BL, Addit. 19725 10) Mailand, BA, L 28 sup. 11) Merseburg, DStiBi, Cod. 136 12) Montpellier, BI, Méd. 387 13) München, BSB, Clm 6324 14) München, BSB, Clm 6325 15) München, BSB, Clm 14410 16) München, BSB, Clm 14461 17) München, BSB, Clm 14508 18) Orléans, BM, Ms. 116
s. IX med. s. IX 4/4 s. IX med. s. IX 2/4 s. IX 2 s. IX 3/4 s. IX 1/3 s. IX ex. s. IX ex. s. IX 3/3 820-840 s. IX 2/3 s. IX 3-4/4 s. IX 1/3 s. IX 1/3 s. IX1 s. IX 3/4 s. IX 3/4
K K P P P102 P K K P K K K K+P K+P P103 P K K
101 Carine van Rhijn (Utrecht) und ich bereiten zurzeit ein Projekt hierzu vor; vieles in diesem Beitrag verdankt sich unseren gemeinsamen Diskussionen und Gesprächen in diesem Zusammenhang. 102 Keefe 2002 hält den Codex für ein „bishop’s pastoral manual“. 103 Keefe 2002 hält den Codex für ein „bishop’s pastoral manual“.
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19) Paris, BnF, Lat. 1008 20) Paris, BnF, Lat. 1012 21) Paris, BnF, Lat. 1248 22) Paris, BnF, Lat. 10741 23) Rom, BAV, Pal. lat. 485 24) St. Gallen, StiBi, Cod. 40 25) Sélestat, BM, Ms. 132 26) Wien, ÖNB, Cod. 1370
s. IX-X s. IX 1/3 s. IX med. s. IX 3/3 s. IX 2 s. IX 2-3/3 s. IX med. s. IX 1-2/4
K K+P K K P (K: „schoolbook“) K K+P K
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Karolingische Gelehrte als Dichter und der Wissenstransfer am Beispiel der Epigraphik Vor wenigen Jahren hat Nick Everett die gut begründete These aufgestellt, dass der langobardische König Liutprand in bis dahin unbekanntem Maß Epigraphie als ein Mittel königlicher Propaganda genutzt habe, um allen sein Wohlwollen, seine Frömmigkeit und die rechtmäßige Erfüllung seiner königlichen Pflichten zu demonstrieren.1 Laut Rudolf Kloos „wurde erstmals in Pavia, der langobardischen Königsstadt, um 700 eine erfolgreiche Wiederbelebung epigraphischer Schriftkultur ins Werk gesetzt“.2 Diese öffentlichen, auf die Propagierung königlicher Ideale zielenden Inschriften richteten sich demnach unmittelbar an die literaten Rezipienten. Gleichwohl wurde materiell Geschriebenes auch von nur partiell literaten oder gar illiteraten Akteuren rezipiert, für welche die Ikonizität des Gesamtsbildes in den Vordergrund trat.3 Der Inschriftentext hat zwar primär eine verbale Botschaft, aber die figurale Anordnung transportiert daneben eine ganze Reihe assoziativer Bedeutungen, die für die illiteraten Rezipienten erkennbar waren.4 Die Materialität und die Präsenz der Epigraphik verbinden deswegen in ganz spezifischer Weise die Visualisierung basaler Botschaften mit der klassisch-christlichen Gelehrsamkeit im Umfeld der gebildeten Elite am Hof eines Königs. Die erwähnten langobardischen Inschriften sind sowohl in der epigraphischen Technik als auch in der literarischen Gestaltung bemerkenswert.5 Ihre neuartigen Formen wurden bald auch andernorts, vor allem in Süditalien übernommen, auch wenn man bis heute die konkreten Vermittlungswege nicht rekonstruieren konnte.6 Nach Liutprands Tod könnte diese königliche Propaganda durch Inschriften auch von weiteren Kreisen der langobardischen Elite kopiert worden sein.7 Denn nun traten
1 Everett 2001, 180; ders. 2003; de Rubeis 2000; vgl. auch Mitchell 1990; ders. 1994; allgemein zur mittelalterlichen Epigraphik Favreau 1979; ders. 1997; dazu auch Kloos 1992; für den Übergang von spätantiker zur frühmittelalterlichen Epigraphik vgl. Bern 1968. 2 Kloos 1981, 898; eine ausführliche Bestandsaufnahme mit der Kommentierung der erhaltenen Inschriften bei Panazza 1953. 3 Krämer 2006, 77; eine Diskussion über die Fähigkeit im langobardischen Italien, die Inschriften, insbesondere antiken Ursprungs, zu verstehen, bei Everett 2003, 238–240. 4 Everett 2003, 240. 5 Zur Innovation auf dem Feld der langobardischen Epigraphik vgl. etwa Mitchell 2001; Everett 2001; sehr knapp de Rubeis 2000. 6 Zum Kulturtransfer zwischen dem Norden und dem Süden des langobardischen Italiens vgl. Pantoni 1951; mit anderem Fokus Belting 1967. 7 Zum möglichen Transfer norditalienisch-langobardischer epigraphischer Formen in den Süden, insbesondere in das Kloster San Vincenzo al Volturno, vgl. Mitchell 2001. © 2015, Hartmann. Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 3.0 Lizenz.
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sie untereinander in Wettstreit um Autorität und Prestige, den sie auch mit Mitteln der Malerei und Schrift als Symbolen kultureller Autorität und als Vehikel kultureller Kontrolle zu nutzen verstanden.8 In diesen Zusammenhang ist beispielsweise die Inschrift des langobardischen dux Liguriae Audoald einzuordnen: Sub regibus Liguriae ducatum tenuit audax Audoald armipotens, claris natalibus ortus Victrix cuius dextra subegit naviter hostes Finitimos et cunctos longeque lateque degentes Belligeras domavit acies et hostilia castra Maxima cum laude prostravit Didymus iste Cuius licet corpus huius sub tegmine cautis Lateat non fama silet vulgatis plena triumphis Quae virum qualis fuerit quantusque per urbem Innotuit laurigerum et virtus bellica ducem Sexies qui denis peractis circiter annis Spiritum ad aethera misit et membra sepulchro Humanda dedit prima cum indictio esset Die nonarum iuliarum feria quinta.9
Der Herzog inszeniert sich hier fast königsgleich in Anlehnung an sprachliche Formen, die vorher bereits für König Liutprand in Pavia nachzuweisen sind. Die allerwenigsten dieser langobardischen Inschriften von geistlichen und weltlichen Würdenträgern haben sich bis heute in situ erhalten;10 aber sie erschienen damals zumindest einigen Betrachtern wichtig genug, um sie zur späteren Verwendung in anderen Zusammenhängen abzuschreiben. Auf die in diesem Kontext entstandenen Sammlungen von Inschriften wird im Folgenden noch zurückzukommen sein. Gerade in Bezug auf geistliche Epitaphien in Kirchen ist wohl von einer hohen Anzahl von Inschriften auszugehen, die auch eine große und zudem aufmerksame Rezipientenzahl fand;11 schließlich bot der Kirchenraum, der der Meditation über eine Buchreligion geweiht war, genau jenen ruhigen Ort, an dem sorgsam die geistlichen Inschriften gelesen werden konnten.12 Nick Everett und John Mitchell haben ihre Thesen zur Breitenwirkung der langobardischen Epigraphik und zu einer „politico-epigraphic strategy“ im Wesentlichen auf Italien und auf die Zeit König Liutprands beschränkt; über das Ende des selbständigen langobardischen Reiches sowie über die Eroberung durch Karl den Großen im
8 Mitchell 1994, 951. 9 Panazza 1953, Nr. 80; dazu auch Everett 2003, 258–260. 10 Für die erhaltenen frühmittelalterlichen Inschriften in den Abteien Montecassino und San Vincenzo vgl. Pantoni 1980; Mitchell 1990; de Rubeis 1996. 11 Everett 2003, 237. 12 Everett 2001, 181.
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Jahr 774 hinaus haben sie das Phänomen nicht weiter verfolgt. Im Folgenden soll die Frage im Mittelpunkt stehen, wie Karl der Große und die Gelehrten des Karolingerreiches im ausgehenden 8. und zu Beginn des 9. Jahrhunderts auf diese langobardischen Entwicklungen reagierten, inwieweit sie Facetten dieser Politisierung von Epitaphien wahrnahmen und übernahmen sowie welche Rolle dabei, wie zuvor unter Liutprand, dem Hof des Königs zukam.
1 Motivationen für den Transfer langobardischer und römischer Epigraphik Mit der Eroberung des Langobardenreiches durch Karl den Großen im Jahr 774 kamen Franken in größerer Zahl erstmals für lange Zeit nach Italien und ließen sich hier zum Teil nieder, bekleideten örtliche Würden und blieben dennoch in Kontakt zu ihrer fränkischen Heimat.13 Schon der erste Italienzug 773/774 dürfte die Gelegenheit geboten haben, die örtlichen Inschriften in Augenschein zu nehmen; vor allem aber die folgenden Jahre mit der zunehmenden personellen Vernetzung zwischen dem nordalpinen und südalpinen Teil des Karlsreiches dürften den Einfluss der langobardischen Epigraphik vergrößert haben. Schließlich sind spätestens ab dem Ende des 8. Jahrhunderts eine Vielzahl begabter Epigraphiker im Umfeld des Frankenkönigs nachweisbar, angefangen mit den Langobarden Paulus Diaconus und Petrus von Pisa. Ihnen folgten später Alkuin, Theodulf von Orléans bis hin zu Paschasius Radbertus, um nur einige zu nennen. Als Alternative zur langobardischen Epitaphienproduktion kamen die Karolinger freilich gleichzeitig auch mit den römischen, insbesondere päpstlichen Epitaphien aus Alt St.-Peter, aber auch aus anderen Kirchen der ewigen Stadt in Kontakt.14 Rudolf Schieffer hat in seinem wegweisenden Beitrag zu Rom als Ort authentischer Überlieferung im frühen Mittelalter nachgezeichnet, wie die Ewige Stadt „durch die Übermittlung konkreter Bücher und Texte“ immer wieder von Neuem bestätigte, der „Hort authentischer Überlieferung“ zu sein.15 Aus dem Frankenreich, besonders aber aus England richtete man Bitten an die Päpste um innumerabilium librorum omnis generis copia.16 Diese Nachfrage betraf neben Büchern aller Art – also Kirchenrechtssamm-
13 Beispiele dafür bei Tellenbach 1988, 802-803; Hlawitschka 1960, 25; auch italienische Bischofssitze gingen in diesem Prozess wohl auf fränkische Geistliche über; am Beispiel Pavias vgl. dazu Hoff 1943, mit dem tabellarischen Überblick S. 4; vgl. zum gesamten Prozess auch Hartmann 2006, 202–206. 14 Für die Inschriften, die auch außerhalb von Kirchen wahrgenommen wurden, vgl. etwa die Einsiedler Inschriftensammlung: Walser 1987; nützlich immer noch Schneider 1933. 15 Schieffer 1989, 54; vgl. auch Tellenbach 1934/35, 24; Kottje 1965, 327; Mordek 1977, 240–241. 16 Beda, Vita, ed. Plummer, c. 6, 369–370.
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lungen, Sakramentaren, historischen Werken sowie klassischen antiken Texten17 – auch Reliquien und bildliche Darstellungen, wie beispielsweise jene picturas imaginum sanctarum, die Benedict Biscop im frühen 8. Jahrhundert zur Ausschmückung seiner Kirchenbauten aus Rom mitbrachte.18 Diese Fixiertheit auf Rom und die Vermutung, alles was aus Rom kam, sei rein und richtig, gingen bekanntlich zurück auf die „Tradition des in Rom hingerichteten und bestatteten Apostelfürsten Petrus“.19 Diese Tatsache wurde unter anderem für die Propagierung des hierarchischen und ideellen Vorrangs des apostolischen Stuhles gegenüber allen anderen Bischofssitzen genutzt. Dieser Vorrang wurde freilich noch nicht in der Konsequenz eingefordert wie es seit dem 11. Jahrhundert der Fall war. Rudolf Schieffer hat mit zahlreichen Belegen für die schriftlichen, insbesondere theologischen, liturgischen und kirchenrechtlichen Sammlungen in Rom nachgewiesen, dass – unabhängig von der tatsächlichen Qualität der Texte20 – die Richtigkeit der römischen Überlieferung allein deswegen außer Zweifel stand, weil sie aus Rom kam.21 Deutlich hat Schieffer dabei auch auf die Diskrepanz zwischen tatsächlicher und unterstellter Qualität hingewiesen.22 Damit rücken die Texte und Bücher assoziativ in die Nähe der römischen Reliquien. „Bücher aus Rom, der Stadt der Apostel und Märtyrer, und selbst deren Abschriften seien kostbarste Träger und Verbreiter des mit so vielen Heiligen verbundenen Segens“.23 Ähnliches könnte für römische Bilder gelten. Wenn Beda Venerabilis davon berichtet, dass Benedict Biscop Bilder, also wohl Abzeichnungen von römischen imagines, mit nach England brachte, um nach ihrem Vorbild die dort neu zu errichtenden Kirchen bildlich auszustatten,24 dann haben solche Bilder Vorbildcharakter. Mit entsprechenden Intentionen ließen sich wohl auch römische Inschriften in sprachlichstilistischer, aber vielleicht auch in spiritueller Hinsicht als idealtypische Muster mit apostolischer Aura verstehen. Aus zwei Gründen könnte also Karl der Große Interesse daran gehabt haben, zur Repräsentation und Visualisierung seiner eigenen Herrschaft Fachleute auf dem Feld der Epigraphik aus Italien an seinen Hof kommen zu lassen. Zum Einen existierte dort das Vorbild langobardischer Königspropaganda durch Epigraphik, wie sie seit Liutprand belegt ist. Zum Anderen ist die ideologische Propagierung päpstlicher Ansprü-
17 Belege bei Schieffer 1989, 51. 18 Meyvaert 1979, 66–67. 19 Schieffer 1989, 47. 20 Zu den erkennbaren Mängeln der römischen Überlieferung im Einzelnen ebd., 58, dort in Bezug auf das Sacramentarium Hadrianum; vgl. Sacramentarium Gregorianum, ed. Lietzmann; vgl dazu auch Hen 2001, 74–81; Hartmann 2006, 273–277. 21 Schieffer 1989; vgl. aber auch Mordek 1977; Hen 2001, 77–78. 22 Schieffer 1989, 67. 23 Ebd. 68. 24 Vgl. Anm. 16; dazu den Beitrag von Meyvaert 1979.
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che und die Heiligkeit der römischen Inschriften anzuführen, die deren Rezeption im Frankenreich begünstigt haben dürften. Beide Facetten politisch-ideologischer Epigraphik wahrzunehmen, hatte Karl der Große seit 774 persönlich Gelegenheit. Es überrascht dann wenig, wenn er nach dieser Erfahrung die Imitation italienischer Inschriften vorantrieb. Schließlich ist beispielsweise auf dem Felde der Baupolitik längst bekannt, dass der Frankenkönig Baumaterial aus Italien ins Frankenreich importieren ließ. Dabei zeigte er besonderes Interesse an solchen antiken Stücken, die zur Demonstration kaiserlicher Würde dienten. Bewusst begnügte sich Karl der Große dabei nicht mit irgendwelchen Spolien, sondern forderte ausgerechnet jene aus Rom und Ravenna an. Papst Hadrian erteilte ihm auf Anfrage schriftlich die Erlaubnis, mosiva et marmores aus Rom und Ravenna ins Frankenreich transportieren zu lassen.25
2 Wege und Formen des Transfers am Beispiel der Epigraphik Waren der Eroberungszug Karls des Großen in den Jahren 773/774 und sein kurzer Feldzug gegen aufständische Langobarden im Friaul 775/776 vielleicht noch stark von ihrem militärischen Charakter geprägt, so durfte der fränkische Langobardenkönig 781 Gelegenheit gehabt haben, die Inschriften in Kirchen und an Gebäuden26 in Augenschein zu nehmen; schließlich hielt er sich 781 länger in Rom auf. Nach dem hektischen und unvorbereiteten Rombesuch 77427 stand nämlich die von langer Hand geplante Taufe seiner Söhne Ludwig und Karlmann/Pippin an.28 Der Aufenthalt in Rom war also ungleich entspannter als sieben Jahre zuvor. Ausgiebig konnte Karl die Wirkung der römischen Inschriften studieren. Vor allem im Kontext seiner Aufenthalte in Pavia, aber wohl auch an anderen Zentralorten langobardischer Könige wie dem Kloster San Salvatore in Brescia 781 war er möglicherweise mit den verbreiteten Inschriften konfrontiert.29 Gerade in Pavia hatten die Langobardenkönige ihre epigraphische Propaganda präsentieren können. Die Diskrepanz zwischen der Materialität langobardischer Königsideologie in Pavia und jener im Frankenreich, von der uns vor 781 nur wenig ambitionierte Beispiele vor-
25 Codex Carolinus, ed. Gundlach, Nr. 81, 614; vgl. auch Einhard, Vita Caroli Magni, ed. Holder-Egger, 20. 26 Vollmann 2007, 166 spricht in Bezug auf diese langobardischen Gebäudeinschriften von „politisch motivierte[r] ‚Öffentlichkeitsarbeit‘“. 27 Vgl. Hartmann 2006, 114–118. 28 Zur Bedeutung der Taufe Angenendt 1980; zum zweiten Rombesuch Karls des Großen Hartmann 2006, 222–224. 29 Einen Überblick über die noch heute bekannten Inschriften bei Panazza 1953.
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liegen, muss dabei auch auf den Frankenkönig Wirkung gehabt haben. Hans Belting hat gezeigt, in welcher Weise noch Arichis von Benevent als princeps Langobardorum in betont langobardischer Tradition30 die Epigraphik zur Präsentifizierung seiner Herrschaft zu nutzen verstand.31 Und es entsprach inhaltlich geradezu karolingischer Ideologie,32 wenn beispielsweise Liutprand in einer der langobardischen Inschriften in den Worten gelobt wird: Ecce domus domini perpulchro condita textu emicat et vario fulget distincta metallo. Marmora cui pretiosa dedit museumque columnas Roma caput fidei, illustrant quam lumina mundi. euge auctor sacri princeps leutprande laboris. te tua felicem clamabunt acta per aevum qui proprie gentis cupiens ornare triumphos his Titutlis patriam signasti denique totam.33
Wie bei den Franken wird auch hier bei Liutprand die Nähe zu Rom, zum caput fidei, als Beleg der Orthodoxie und als Sinnbild für die Rolle des Königs als Verteidiger des rechten Glaubens etabliert. Liutprand symbolisiert zudem – zumindest nach Aussage der Inschriften –in besonderer Weise die weltlichen Triumphe seines Volkes. Galt das alles nicht auch für Karl den Großen? Bedenkt man also die Wirkung, die diese Materialität und Präsenz königlicher beziehungsweise apostolischer Ideologie vor Karl damals in Italien entfaltet hat, dann ist es durchaus bemerkenswert, dass Karl just 781, während dieses Italienaufenthaltes, und möglicherweise sogar in Pavia selbst, mit Paulus Diaconus einen Gelehrten an seinen Hof berief, der unter den letzten langobardischen Königen – und sogar noch danach am Hof des Arichis von Benevent – eine Art Chefepigraphiker war: Für Desiderius’ Frau Ansa und dessen Schwiegersohn Arichis von Benevent verfasste er jeweils eine Grabinschrift. Für Arichis, der als selbsternannter princeps Langobardorum gewissermaßen zu Desiderius’ Nachfolger wurde,34 verfasste er darüber hinaus etliche Gebäudeinschriften in der Hauptstadt Benevent, die der epigraphischen Ideologisierung Liutprands recht nahe kamen.35 Paulus hatte sogar schon zu König Ratchis in Kontakt gestanden, unter dem die Inschriften bereits als bedeutsa-
30 Zur Bedeutung dieses auffälligen Titel vgl. Paulus Diaconus, Historia Romana, ed. Crivellucci, XXXI, der zudem auf die Anrede Arichis als excellentissimus verweist, die Arichis erst nach der Absetzung Desiderius’ 774 geführt habe; zu diesem Titel vgl. auch Garms-Cornides 1973; Kaminsky 1974, 81–92. 31 Belting 1962, 141–193. 32 Vgl. etwa Nelson 1994, 52–87. 33 Inscriptiones Christianae Urbis Romae, ed. De Rossi, 168–169, Nr. 21. 34 Vgl. oben Anm. 30. 35 Vgl. zur Baupolitik des Arichis in Benevent Belting 1962.
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mes Instrument der Machtpräsentation genutzt wurden. Da Paulus zudem Lehrer von Desiderius’ Tochter Adelperga war, unterhielt er möglicherweise auch Verbindungen zur Familiengründung San Salvatore in Brescia,36 der eine Tochter von Desiderius als Äbtissin vorstand. Deswegen ist auch nicht ausgeschlossen, dass Paulus selbst die Inschrift in der Basilika im Hauptschiff über den Arkaden verfasst hat, die, wenn auch kurz nach 774 entstanden, durch und durch langobardischen Charakters ist.37 Kaum durch Karls Anwerben im Frankenreich angekommen, stand Paulus zunächst als Epigraphiker im Dienst des Königs: Er, nicht Alkuin, verfasste in den 780er Jahren die Grabinschriften für die verstorbenen Karolinger Hildegard († 783), für zwei ihrer Töchter sowie für zwei Schwestern Karls des Großen.38 Mit dem Transfer langobardischer epigraphischer Traditionen in das Frankenreich setzte dann auch Karl vermehrt Inschriften als Symbole kultureller Autorität und kulturellen Führungsanspruchs ein.39 Deswegen liegt die Vermutung nicht fern, dass es zunächst vor allem diese Fähigkeit war, die Karl dazu bewegte, Paulus in den Kreis seiner Gelehrten aufzunehmen. Latein unterrichten konnten auch andere; die Geschichtswerke hatte Paulus für seine langobardischen Auftraggeber geschrieben, sein Donatuskommentar war hilfreich, aber nicht zwingend für Karls Bildungsprogramm im Reich. Die Komposition von Epitaphgedichten für Karls Herrscherfamilie musste hingegen höchsten Ansprüchen genügen, erst recht, nachdem Karl in Pavia vermutlich gesehen hatte, wie andere Könige die Epigraphik zu nutzen verstanden. Es entspricht deswegen wohl Paulus’ eigenem Interesse, wenn er in seine Historia Langobardorum Inschriften besonders hohen stilistischen Anspruchs inserierte, die er in Ravenna von dem angelsächsischen König Caedwalla und von Drotculf von Ravenna vorgefunden und für eigene Zwecke abgeschrieben hatte.40 Neben Paulus dominierten als Epigraphiker im Frankenreich zunächst Paulus’ Landsleute: Fardulf, Paulinus von Aquileia und Petrus von Pisa. Alkuin erreichte diese Stellung erst wesentlich später, bezeichnender Weise wohl erst nachdem Paulus, Petrus und vielleicht auch Paulinus das Frankenreich bereits verlassen hatten.
36 Hartmann 2009, 78. 37 Mitchell 1994, 894, mit weiteren Angaben. 38 Das betont auch Bullough 2004, 344. 39 Vgl. Mitchell 1994, 950–951. 40 Paulus Diaconus, Historia Langobardorum, ed. Bethmann/Waitz, 125–127 (Drotculf); ebd. 217–219 (Caedwalla).
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3 Netzwerke des Kulturtransfers Bislang hält sich in der Forschung die Vorstellung, Paulus habe sich aus eigenem Antrieb mit einem Gedicht an den Frankenkönig gewandt, in dem er den König um die Freilassung seines Bruders bat.41 So recht überzeugen kann diese Sicht aber kaum, denn wie konnte er mit dem Gedicht überhaupt bis zum Ohr des Königs durchdringen? Paulus muss auf dem Weg zum König auf Fürsprecher vertraut haben, die für dessen Berufung an den Hof wichtiger waren als das Gedicht, das bislang als Auslöser galt. Einer dieser Fürsprecher könnte Adalhard gewesen sein, der Abt von Corbie. Er war mit der Krönung Pippins zum König von Italien Regent geworden,42 also gerade im Jahr 781, als Paulus an Karls Hof kam. Alle dürften sich damals in der Königsstadt Pavia aufgehalten haben. Dieser Adalhard hatte sich nun zuvor für Jahre in Montecassino aufgehalten, auffälliger Weise genau in jenen Jahren, in denen sich dort auch Paulus Diaconus aufhielt.43 Ein später verfasster Brief des Paulus an Adalhard belegt die lange Freundschaft, die beide auch noch in den späten 780er Jahren verband.44 Diesem Text ist auch zu entnehmen, welche Autorität in philologischer Hinsicht Paulus in Adalhards Augen war. Adalhard, seit Jahren aus Montecassino bekannt und geschätzt, könnte als Fürsprecher des Paulus Diaconus gewirkt haben. Dass Adalhard bei Karl dem Großen damals über die erforderliche Autorität verfügte, um den Berufslangobarden Paulus am fränkischen Hof akzeptabel erscheinen zu lassen, ist durch den Beitrag von Tino Licht in diesem Band auf anderem Feld belegt worden. Wenn nämlich mit Licht Corbie als Brutstätte der karolingischen Minuskel zu gelten hat, dann war es offensichtlich der Abt dieser Abtei, dem es zukam, diese intern ausgearbeitete neue Schrift zum Vorbild einer reichsweiten Vereinheitlichung zu machen. In beiden Fällen wird man Adalhard als einen der einflussreichsten Ratgeber des Frankenkönigs anzusehen haben. Adalhard stand damals in Italien (und zuvor bereits im Frankenreich) zudem in Kontakt mit Angilbert, dem Abt von St. Riquier. Angilbert, wegen seiner dichterischen Vorlieben später mit dem Beinamen ‚Homer‘ geschmückt,45 hatte ab 781 die Hofkappelle Pippins in Italien geleitet. Ebenso wie Karl der Große dürften also auch Adalhard und Angilbert während ihrer Tätigkeit in Italien seit 781 in ganz besonderer Weise die Bedeutung langobardischer Epigraphik erkannt haben. Dass sich Paulus Diaconus auf diesem Feld in langobardischer Zeit in besonderer Weise ausgezeichnet hatte, wird ihnen sicher bewusst gewesen sein. Ist es dann ein Zufall, dass in Corbie,
41 So wegweisend Neff 1908, 53; Menghini 1904, 321–322; Godman 1985, 82; McKitterick 1999, 323; Hartmann 2009, 75–77. 42 Vgl. Kasten 1986, 43; Paschasius Radbertus, Vita Adalhardi, ed. Migne, Sp. 1526C. 43 Zu den wenig begründeten Zweifeln an dem Eintritt in das Kloster Montecassino vgl. Plassmann 2006, 192, mit weiterer Literatur. 44 Neff 1908, 129–130, Nr. 31. 45 Kasten 1986, 48; vgl. auch Brown 1994, 31.
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wo Adalhard Abt war, um 800 eine Handschrift nachgewiesen ist, die eine Fülle italienischer Inschriften enthält?46 Ist es ein Zufall, dass diese Inschriftensammlung aus Corbie auf eine – heute verlorene – Vorlage aus dem Kloster St. Riquier zurückgeht, jenem Kloster, in dem Angilbert als Laienabt und Epigraphiker tätig war? Derselbe Angilbert, zudem seit 781 Kanzler in Italien, war es auch, der der Bibliothek in St. Riquier 200 Bücher geschenkt hatte;47 unter ihnen dürfte dann wohl auch jene Inschriftensammlung gewesen sein, deren italienischer Ursprung außer Frage steht. Für den Transfer dieser italienischen Sammlung ins Kloster St. Riquier ließe sich leicht der dort tätige Kanzler, Dichter und Literat Angilbert verantwortlich machen. Wozu konnte diese Sammlung dienen, wenn nicht zur Ausbildung, wo doch laut der Klosterordnung Angilberts in St. Riquier mindestens 100 Schüler unterrichtet werden sollten.48 Von einer heute verschollenen Vorlage aus St. Riquier erhielt die Bibliothek des Klosters Corbie eine Kopie, die heutige Sylloge Centulensis.49 Diese Kopie datiert aus der Zeit, als sowohl Angilbert in St. Riquier als auch Adalhard in Corbie tätig waren.
4 Medien des Transfers – Die handschriftlichen Inschriftensammlungen Gerade in dieser Zeit um 800 wurden also im Frankenreich Sammlungen von italienischen Inschriften kopiert oder angelegt. Neben der Sylloge Centulensis aus Corbie, die ursprünglich aus St. Riquier kam und eine Reihe petrinisch argumentierender Inschriften enthält,50 ist die insgesamt bekanntere Sylloge Laureshamensis zu nennen, heute Codex Rom, BAV, Pal. lat. 833. Heinrich Fichtenau vermutet, der Lorscher Abt Richbod habe das Interesse für Inschriften mit Alkuin und Angilbert geteilt und die Lorscher Sylloge angelegt.51 Bernhard Bischoff hat dagegen mit guten Argumenten dessen Nachfolger Adalung zum Urheber erklärt, der seine gut belegte Romreise 823 zur Abschrift dieser Inschriften genutzt haben könnte.52 Nach dem Urteil des Herausgebers De Rossi ist die Sylloge Laureshamensis aus vier separaten Sammlungen zusammengesetzt.53 Dagegen hat jüngst Nick Everett Einwände erhoben, da sich De
46 So das Urteil des Editors De Rossi, in: Inscriptiones Christianae Urbis Romae, 168–169, Nr. 76. 47 Vgl. Nonn 2012, 23. 48 Dass diese Zahl je erreicht wurde, zieht Nonn 2012, 24, allerdings mit guten Gründen in Zweifel. 49 Inscriptiones Christianae Urbis Romae, ed. De Rossi, 72–94. 50 Vgl. Everett 2003, 244. 51 Fichtenau 1953, 300–301. 52 Bischoff 1989, 99, Anm. 52. 53 Karl Strecker hat sich dem Urteil in seiner Teiledition, Rhythmi Langobardici, ed. Strecker, 718 angeschlossen.
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Rossi allein auf paläographische Argumente in der Lorscher Handschrift beziehe: Jede neue Hand nimmt De Rossi als Beleg für den Beginn einer neuen Sammlung mit je ganz eigener Entstehungsgeschichte. Mit diesem Einwand kann Everett zwar die ältere These anzweifeln, eine neue Entstehungsgeschichte der Sylloge Laureshamensis lässt sich allerdings ebenfalls nicht plausibel entwerfen.54 Die Datierung der gesamten Syllogae auf die Zeit zwischen 821 und 846 ergibt sich aus einer Inschrift in der erst von Paschalis I. errichteten Basilica Santa Cecilia in Trastevere und aus dem Verweis auf Gebäude, die durch die Einfälle der Sarazenen im Jahr 846 zerstört wurden. Der terminus post quem, 821, gilt freilich nur für die sogenannte erste Sylloge urbana, die stadtrömische Inschriften enthält. Für die drei andere Teile der gesamten Sammlung lassen sich je unterschiedliche Entstehungszeiten postulieren. Die zweite, Inschriften aus der Petersbasilika enthaltende Sammlung wird gemeinhin auf das 7. oder 8. Jahrhundert datiert; die dritte enthält norditalienische Inschriften und geht auf das ausgehende 8. Jahrhundert zurück, während die vierte Sylloge weit verstreute Inschriften aus Rom, Spoleto und Ravenna überliefert. Sie stammt wohl aus dem 7. Jahrhundert.55 Die Motivationen, diese Sammlungen anzulegen, waren jeweils unterschiedlich. 1853 hat Edmond Le Blant aufgrund von Anomalien in erhaltenen mittelalterlichen Inschriften vorgeschlagen, dass die Verfasser diese Fehler nur begangen haben könnten, indem sie auf unzulängliche Formulare oder in unzulänglicher Weise auf korrekte Formelsammlungen zurückgegriffen hätten.56 Zwar hat 1889 René Cagnat dem widersprochen unter dem Hinweis, die Verfasser hätten in ihrer Umwelt so viele Inschriften vor Augen gehabt, dass sie auch aus denen für eigene Formulierungen hätten schöpfen können, ohne auf Formelsammlungen zurückgreifen zu müssen. Doch konnte jüngst Cécile Treffort zeigen, dass zumindest einige Verfasser von Inschriften auf Formulare zurückgegriffen haben.57 Sie berief sich dabei auch auf eine wegweisende Miszelle Bernhard Bischoffs, der im Jahr 1984 aus einer Berner Handschrift „Epitaphienformeln für Äbtissinnen“ bekannt gemacht hat.58 Er deutete diese allerdings nicht als Formelsammlung im engeren Sinn, sondern als Abschriften von „echten Epitaphien“.59 Treffort führt selbst eindrucksvoll Beispiele dafür an, wie in Inschriften wörtlich Formulierungen aus den Carmina, nicht aber aus anderen Inschriften übernommen wurden. Nur stammen die Vorlagen gerade nicht aus Formularen, sondern aus den Carmina Alkuins.
54 Everett 2003, 243, Anm. 31. 55 Vgl. auch die Zusammenstellung bei Strecker in seiner Edition der Rhythmi Langobardici, ed. Strecker, 718. 56 Treffort 2007, 188. 57 Ebd. 58 Bischoff 1984. 59 Ebd., 150.
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Treffort ist zweifelsohne darin zuzustimmen, dass die Verfasser von Epitaphien auf textliche Vorlagen zurückgegriffen haben. Doch dürfte es sich dabei in der Regel nicht um explizite Formelsammlungen nach der hochmittelalterlichen artes dictandi gehandelt haben, sondern um schlichte Sammlungen von Inschriften, wie sie in den oben beschriebenen Sylloge überliefert sind. Denn immerhin kann Treffort nach bemerkenswert detaillierter Analyse erhaltener Epitaphien gerade einmal für zwei Fälle die Benutzung von solcherlei Vorlagen nachweisen. Und in diesen Fällen handelt es sich um Entlehnungen aus unterschiedlichen Carmina und nicht aus Epitaphien. So dürften nicht nur die Sylloge Laureshamensis, sondern all die Inschriftensammlungen aus dem 8. und 9. Jahrhundert zumindest teilweise als Musterbeispiele und Lehrwerke gedacht gewesen sein. Einige von ihnen fokussierten auf klassisch-antike Inschriften; andere konzentrieren sich auf spätantike christliche Monumente. Robert Favreau hat zwar darauf hingewiesen, dass in den karolingischen Epitaphien antike literarische Vorbilder wiederzufinden seien.60 Noch wesentlich griffiger dürften aber die vorgefertigten und bereits auf den Stil christlicher Totenmemoria justierten Formulierungen mittelalterlich-christlicher Inschriften gewesen sein. Dafür brauchte man nur eine große Anzahl und Varianz von „erfolgreichen“ Inschriften, um aus einem möglichst großen Pool von Musterformulierungen schöpfen zu können. Inschriften aus Italien boten sich hier schon allein deswegen an, weil sie dort in besonderer Zahl anzutreffen waren; die römischen Inschriften bürgten zugleich für die richtige, liturgisch, theologisch und sprachlich korrekte Form. Der Vorzug römischer Inschriften steht parallel zu den oben erörterten Bemühungen der karolingischen Kanonistik, in Rom authentische Vorlagen des Kirchenrechts zu erhalten. Wenn man um 800 in Rom nach Handschriften des Kirchenrechts suchte und aus Rom und Ravenna Spolien anforderte, die zur Demonstration kaiserlicher Ansprüche dienen sollten, dann ist es an sich nur konsequent, im Zuge der karolingischen Correctio auch gleich mustergültige Inschriften zum Zweck ihrer Imitation aus Rom zu übernehmen.
5 Zum stilistischen Vorbildcharakter römischer und langobardischer Inschriften Die sprachliche und ideelle Vorbildhaftigkeit, welche die karolingischen Epigraphiker damals in den Inschriften der Syllogae gesehen haben dürften, kommt darin zum Ausdruck, dass die Sylloge Centulensis mit einer Inschrift schließt, die Angilbert selbst auf den in St. Riquier bestatteten Schotten Chaidocus verfasst hatte. Dieses Gedicht
60 So in der Diskussion auf Nachfrage von Jacques Monfrin, Favreau/Michaud 1981, 258.
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zitiert wiederum wörtlich die von Alkuin verfasste Grabinschrift für Erzbischof Angilram von Metz. Aus Angelramnus ovans fretus pietate magistra macht Angilbert: Angilbertus, fretus pietate magistra.61 Das Arbeiten mit Versatzstücken aus anderen Inschriften war, wie auch folgende Beispiele lehren, üblich.62 Hrabanus Maurus, dessen kompilatorische Arbeitsweise ebenso auf anderem Feld belegt ist, übernahm auch in der Dichtung Versatzstücke aus Alkuins Epitaphien. So heißt es in Alkuins Epitaph auf der Grabplatte Papst Hadrians: Tu memor est mei, sequitur te mens mea semper Cum Christo teneas regna beata poli Te clerus populus magno dilexit amore.63
Hrabanus übernahm Teile davon in folgender Variante: Et post hanc vitam conscendes lucis ad arcem, Illic quo teneas regna beata poli.64
Ernst Dümmler sah in der Junktur beata regna noch eine direkte Entlehnung aus Ovid,65 da sie aber mehrfach von Hrabanus’ Lehrer Alkuin verwendet wurde, dürfte er hier wohl eher von seinem Lehrer abgeschrieben haben. Hrabanus Maurus schöpfte allerdings nicht nur aus dem Werk von Alkuin, sondern auch aus jenem Angilberts oder direkt aus der Sylloge Centulensis, wenn es bei ihm heißt: Patronosque sibi exoptans fieri arte magistra Ornavit tumulum condidit et titulum.66
Denn schon die Inschrift Angilberts, mit der die Sylloge Centulensis schließt, lautet ganz ähnlich: Huic Angilbertus fretus pietate magistra Et tumulo carmen condidit et tumulum.67
61 Alkuin, Carmina, ed. Dümmler, 329, Nr. 102, Z. 2: Angelramnus ovans fretus pietate magistra; und Angilbert, Carmina, ed. Dümmler, 365, Nr. 3, Z. 7: Angilbertus, fretus pietate magistra. 62 Neff 1908, 45; vgl. Bullough 2004, 246 und 278. Bei Alkuin wird die Zitation aus den Syllogae schon länger vermutet. 63 Epitaphium Hadriani, in: Schneider/Walther 1933, 25–26, Z. 19–21; dazu Scholz 1997, 373–394; vgl. ähnlich auch Alkuin, Carmina, ed. Dümmler: versus ad Leonem apostolicum urbis Romae, 255, Z. 34. 64 Hrabanus Maurus, Epistolae, ed. Dümmler, 500–501, Nr. 46. 65 Hrabanus Maurus, Carmina, ed. Dümmler, 161, Nr. III, Anm. 7; vgl. Publius Ovidius Naso, Epistolae Heroidum ed. Dörrie, XII, 24; zu einzelnen, immer wiederkehrenden Junkturen karolingischer Epigraphik vgl. auch Favreau/Michaud 1981, 251–253. 66 Hrabanus Maurus, Carmina, ed. Dümmler, 213, Nr. XLVII, Z. 15–16. 67 Angilbert, Carmina, ed. Dümmler, 365, Nr. III, Z. 7–8. = Inscriptiones Christianae Urbis Romae, ed.
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Noch ein weiteres karolingisches Epitaph kannte nachweislich Inschriften, die in der Sylloge Centulensis überliefert werden. Man vergleiche die Grabinschrift für Karls fidelis Eggihard und in ähnlicher Formulierung auch für seinen Sohn Lothar: Pallida sub parvo clauduntur membra sepulcro Ardua sed caeli spiritus astra petit.68
Mit dem in beiden Syllogen und auch sonst übernommenen Epitaph Gregors I.: Spiritus astra petit leti nil iura nocebunt Cui vitae alterius mors magis ipsa vita est Pontificis summi hoc clauduntur membra sepulcro.69
Diese Beispiele sollen hier genügen. Man muss in all diesen Fällen nicht an bewusstes Abschreiben denken, als habe der Autor gewissermaßen mit den Syllogae in der Hand eigene Gedichte verfasst. Vielmehr konnten durch auswendig gelernte Inschriften metrisch passende Phrasen beliebig angepasst werden.70 Insbesondere aus den damasianischen Epigrammen, von denen zahlreiche in den Syllogae überliefert werden, „[schöpften] die christlichen Inschriften … in ganz hohem Maß“.71 Denn hier fanden Epigraphiker eine Vorlage, in der klassisch-römische, vor allem augusteische Dichtung zitiert und systematisch im christlichen Sinn umgedeutet wurde.72 Neben den tatsächlich im Einzelfall schwer nachzuweisenden Zitaten ist es aber allemal bemerkenswert, dass der karolingische Homer Angilbert von St. Riquier, sein Freund Adalhard von Corbie und Paulus Diaconus vor ihrem epigraphischen Engagement im Umfeld Karls des Großen eine langobardische Vergangenheit gemein hatten. Dass an den späteren Wirkungsstätten von Angilbert und Adalhard Mustersammlungen italienischer Inschriften im Umlauf waren, belegt recht anschaulich den Transfer epigraphischen Wissens aus Italien in das Frankenreich.
De Rossi, 94, Nr. 68, Z. 7–8. 68 Neff 1908, 176. 69 Inscriptiones Christianae Urbis Romae, ed. De Rossi, 78, Nr. 3, u.ö. 70 So zitiert die Inschrift auf dem Grab Einhards in Seligenstadt, die Hrabanus Maurus verfasst hat, zwei in der Lorscher Sylloge überlieferte nacheinander stehende Inschriften aus Pavia. So heißt es im von Hrabanus Maurus verfassten Epitaph, Hrabanus Maurus, Carmina, ed. Dümmler, 237–238, Nr. LXXXV: Conditus ecce iacet tumulo vir nobilis isto. In der Lorscher Sylloge dagegen lautet die Paveser Inschrift, Inscriptiones Christianae Urbis Romae, ed. De Rossi, 165, Nr. 12: sed non est flendus qui iacet in tumulo. Und weiter heißt es auf dem Grab Alkuins: Ipsiusque animae regna poli tribuant bei Hrabanus; zum Vergleich in Pavia, Inscriptiones Christianae Urbis Romae, ed. De Rossi, 165, Nr. 13: prendite regna poli. 71 Reutter 1999, 65. 72 Ebd., 65–66.
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Angilbert und Adalhard, sowie die Langobarden Petrus von Pisa73 und Paulus Diaconus waren personell oder materiell am Transfer kulturellen Wissens auf dem Feld der Epigraphik unmittelbar beteiligt.74 Paulus und Petrus, die beiden Langobarden, waren zudem als Lehrer tätig.75 Die Sylloge Centulensis und die Sylloge Laureshamensis wird man ebenfalls in diesem schulischen Kontext zu verorten haben. Später bemühte man sich auch hier, in Lorsch, wo vielleicht auch Alkuin76 tätig war, um jene Inschriftensammlungen, die es ermöglichten, das Abfassen von Inschriften auf dem entsprechenden Niveau und mit entsprechender Autorität zu lehren. Es ist bezeichnend, dass auch diese Sylloge Laureshamensis ausschließlich langobardische und römische Inschriften enthält. Ist es dann ein Zufall, dass man nur in Lorsch zu berichten wusste, dass Karl der Große für den verstorbenen Papst Hadrian I. ein ebitaffium aureis litteris in marmore conscriptum anfertigen ließ?77 Die Inschriften wurden bei der Aufnahme in die Sylloge freilich von ihrem ursprünglichen Aufstellungsort getrennt; die Autoren hatten beim Abfassen also eine ganz andere Materialität und einen anderen Rezipientenkreis vor Augen. In den Syllogae verloren die Inschriften ihren unmittelbar auf Präsentierung und Publizierung zielenden Zweck. Mit dem Wandel der Materialität und Präsenz durch die Abschrift in den Syllogae verloren sie zudem einen Teil ihrer Bedeutung, nämlich jene Bedeutung, die an den ursprünglichen Aufstellungsort gekoppelt war, so wenn beispielsweise Bilder oder Skulpturen durch die Inschrift kommentiert wurden oder, was häufig vorkam, die Skulpturen gewissermaßen selbst zu dem Leser sprachen.78 Trotz dieses Bedeutungsverlustes durch Medienwechsel wurden diese Inschriften in die Sylloge aufgenommen, weil es nämlich nicht um die Aufrechterhaltung oder Archivierung des ursprünglichen Sinnzusammenhanges ging, sondern um den Nutzen und um den Vorbildcharakter einzelner Texte für künftige Epigraphiker. Offenbar bestand einige Nachfrage nach Hilfsmitteln zur Gestaltung von Inschriften. Dagegen waren die Syllogae für die künstlerisch-handwerkliche Gestaltung einer Inschrift natürlich kaum geeignet. Es ist deswegen bezeichnend, dass Einhard im Jahr 836 von Lupus von Ferriéres um die graphische Vorlage von Buchstaben gebeten wurde, die als Vorlage einer Capitalis quadrata geeignet waren.79 Ein solches Muster-
73 Neff 1908, 163–164. 74 Bernt erwähnt, „dass [Alkuin] handschriftliche Sammlungen römischer Inschriften zur Verfügung [standen]“. „Alkuin hat seinerseits diese Tradition weitergegeben an seine Schüler und Nachahmer, denen er wiederum als Vorbild gedient hat, an Angilbert, Walahfrid und andere“, vgl. Bernt 1968, 195. 75 Ähnliche Tätigkeiten sind für Alkuin in den 780er Jahren noch nicht belegbar, vgl. Bullough 2004, 345. 76 Vgl. ebd., 344–345. 77 Annales Laureshamenses, ed. Pertz, 22–39, ad a. 795, S. 36. 78 Belege dazu bei Everett 2003, 247–248. 79 Lupus abbas Ferrariensis, Epistolae, ed. Dümmler, 17, Nr. V: Praeterea scriptor regius Bertcaudus dicitur antiquarum litterarum, dumtaxat earum quae maximae sunt et unciales a quibusdam vocari
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alphabet hat sich in einer zeitgenössischen Handschrift aus der Burger-Bibliothek in Bern erhalten, auf die Bernhard Bischoff aufmerksam gemacht hat.80 Dieses Musteralphabet ist gewissermaßen die graphische Ergänzung zu den sprachlich-stilistischen Vorbildern in den handschriftlichen Inschriftensammlungen und dokumentiert zugleich, dass man sich im Karolingerreich damals um die Verbreitung von epigraphischen Grundkenntnissen Gedanken machte. Denn diese Epigraphiker waren gefragt. Zwar sind nur die allerwenigsten Inschriften in situ erhalten.81 Aber sehr vielsagend ist es, dass sogar der ansonsten völlig unbekannte Eggihard eine eigene Inschrift erhielt, die eher zufällig überliefert ist. Karl Neff hat sie ediert.82 In diesem Zufallsfund greifen wir wahrscheinlich eine von zahlreichen Inschriften, die in literarisch weniger anspruchsvoller Form dem nicht unmittelbar höchsten Adel gewidmet wurden. Anders gesagt: Wenn sogar jemand wie der unbekannte Eggihard eine Grabinschrift erhalten hat, dann galt das möglicherweise für zahllose Adlige des Karolingerreiches. Da ja sogar die berühmteren Epitaphien nicht in situ, sondern nur in Abschriften überliefert sind, ist leicht erklärbar, warum die ursprünglich in großer Zahl verfassten minder gelehrten Inschriften für den niederen Adel heute verloren sind. Dass in diesen Fällen, anders als in den Epitaphien für führende Gelehrte des Reiches, Inschriften auch minderen literarischen Anspruchs akzeptabel erschienen und deswegen häufiger eklektisch aus Versatzstücken von anerkannten Vorbildern zusammengesetzt wurden, kann man sich leicht ausmalen. Wenn also im gesamten Reich auch für niedere Adlige Epitaphien zu verfassen waren, musste auch das epigraphische Wissen gewissermaßen popularisiert werden; das heißt mithilfe der Inschriftensammlungen wurden auch minder begabte Kleriker befähigt, Inschriften zumindest in kompilatorischer Arbeitsweise zu verfassen. Aber das wird eher ein Nebeneffekt der Inschriftensammlungen gewesen sein. Ursprünglich galt der Import durch die Gelehrten den Gelehrten des Reiches.
existimantur, habere mensuram descriptam. Itaque si poenes (!) vos est, mittite mihi eam per hunc, quaeso, pictorem, cum redierit, scedula tamen diligentissime sigillo munita; vgl. Neumüllers-Klauser 1989, 135 mit der Abb. 105, 136. 80 Bischoff 1965, 222–223. 81 Vgl. zur Quantität Everett 2003, 237, der die geringe Zahl an Inschiften, die in situ oder in Sylloge erhalten sind, als Spitze des Eisbergs bezeichnet, „for several fragments of inscriptions preserved in the Casa Anelli in Pavia suggest that there was a far greater number of ‚Pavese’ style inscriptions produced in this period“, Zitat 237–238. 82 Neff 1908, 176–177, Anhang, Nr. II.
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6 Fazit Mit der Eroberung des Langobardenreiches im Jahr 774 intensivierte sich der Kontakt zwischen den Franken und Langobarden. Geistliche und weltliche Ämter wurden in Italien nun an Franken übertragen, und der neue rex Langobardorum selbst machte sich in seinen Italienzügen mit dem Land vertraut. In diesem Zusammenhang wurden die Franken auch mit der quantitativ wie qualitativ überlegenen epigraphischen Produktion konfrontiert, die in Rom und im regnum Langobardorum auf ältere Traditionen zurückzuführen waren. Sowohl für Rom als auch für Pavia und beispielsweise für Benevent, das unter Arichis zur „letzten Bastion“ langobardischen Selbstverständnisses avancierte, ist eine quantitativ wie qualitativ bemerkenswerte Produktion nachgewiesen. Das ideell-spirituelle Kapital der römischen, zumal apostolischen Inschriften auf der einen Seite und die Propagierung königlicher Herrschaftsideale in den langobardischen Inschriften auf der anderen wiesen den italienischen Inschriften einen besonderen Vorbildcharakter zu. So verwundert es nicht, wenn im Zuge der intensivierten Kontakte nach 774 eine Reihe von Sammlungen italienischer Inschriften den Weg in fränkische Klöster fand. Mit den Äbten Angilbert von St. Riquier und Adalhard von Corbie lassen sich zwei karolingische Gelehrte ausmachen, die aufgrund ihrer persönlichen Bindungen für den Transfer epigraphischen Wissens verantwortlich gewesen sein könnten. Sie haben während ihrer Aufenthalte in Italien nach 774 Kontakt zu den langobardischen Gelehrten aufgenommen und deren Fähigkeiten zu schätzen gelernt. Wenn gerade in ihren Klöstern wenige Jahre später handschriftliche Sammlungen von Inschriften dokumentiert sind, dann wird man die beiden Gelehrten persönlich mit diesem Transfer epigraphischen Wissens in Verbindung bringen können. Wenn zudem in diesen Abteien Klosterschulen mit besonderem Anspruch nachgewiesen sind, dann liegt es nicht fern, diesen Inschriften einen Vorbildcharakter auch im schulischen Umfeld zuzuschreiben. Anhand weniger Beispiele lässt sich wahrscheinlich machen, dass die Verfasser von Inschriften damals auf solche Sammlungen zurückgegriffen und diese in ihren eigenen Inschriften zitiert haben. Solche Inschriften wurden nachweislich auch für ansonsten unbekannte Adlige mittleren Standes oder Geistliche niederer Weihen in den Stiften und Klöstern verfasst. In diesen Fällen durfte das stilistische Niveau auch mal geringer sein; Kompilationen und Entlehnungen aus älteren Vorlagen waren dann auch akzeptabel. Der Nutzen von Inschriftensammlungen ist angesichts des so zu erschließenden hohen Bedarfs zweifellos groß gewesen. Zugleich eigneten sich die anspruchsvollen Epitaphien der Päpste und der langobardischen Könige, die in den Syllogae überliefert wurden, auch als Vorlagen für die Gräber von Vertretern der Elite des fränkischen Reiches. Die karolingischen Gelehrten konnten daher die Sammlungen als Muster für ihre epigraphischen Auftragsarbeiten nutzen. Deswegen waren sie es auch, die für den Transfer der Handschriften ins Frankenreich verantwortlich waren. In den karolingischen Klöstern wurden also mithilfe
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von Sammlungen italienischer Inschriften, kurz vermittels transferierten Wissens, von gelehrten Lehrern junge Kleriker zu Dichtern ausgebildet, die auf dem Fundament dieses spezifischen Wissens in die Lage versetzt wurden, eigene, den Geist römischer Heiligkeit atmende und langobardische Königsideologie aufgreifende Epitaphien zu verfassen und damit – dank der charakteristischen Materialität der Epitaphien – zur Präsentifizierung karolingischer Autorität und Ideologie vor einem erweiterten Rezipientenkreis beizutragen.
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Bemerkungen zur Bildungsentwicklung im Frühen Mittelalter. Zusammenfassung Im Folgenden geht es darum, einerseits die Ergebnisse des vorliegenden Bandes zu bündeln, und andererseits die Bildungsentwicklung im 6. und 7. Jahrhundert, der kein eigener Beitrag gewidmet ist, in die Überlegungen mit einzubeziehen. Der Blick ist dabei auf das Frankenreich gerichtet, während die zumindest in Teilen anders verlaufende Entwicklung in Italien hier nicht behandelt wird. Am Anfang der Überlegungen steht Sidonius Apollinaris, jenes Mitglied der gallorömischen Senatsaristokratie und späterer Bischof von Clermont, in dessen Werken und Briefen der Bruch des antiken Bildungsideals wohl am deutlichsten wird. Ulrich Eigler hat einen Text des Sidonius vorgestellt, in dem dieser eine Bibliothek in der Villa eines Aristokraten beschreibt. Varro und Augustinus sowie Horaz und Prudentius stehen hier in einem Bücherregal. Ihre Schriften sind nicht Gegensätze, sondern Zeichen einer bestimmten Geisteshaltung und Bildung. Literarische Bildung und hoher Sprachstil waren wichtig für die galloromanische Senatorenschicht, weil sie verbindende Elemente dieser Gruppe waren, für die literarische Bildung ein bedeutendes soziales Distinktionsmerkmal war. Es gab hier eine Identität von Sprachnorm und Lebensnorm. Doch bereits zur Zeit des Sidonius Apollinaris gab es innerhalb der Kirche Kritik an Bischöfen, die sich mit den antiken römischen und somit heidnischen Autoren beschäftigten.1 Die Statuta ecclesiae antiqua, ein apokrypher Text, der zwischen 475 und 485 vermutlich in Südfrankreich entstand und aus zahlreichen älteren Vorlagen schöpfte,2 schrieben im fünften Kanon vor, „der Bischof soll die Bücher der Heiden nicht lesen, die Bücher der Häretiker aber nach der Notwendigkeit und den Zeitumständen.“3 Die Vorlage für den Kanon stammte aus den ebenfalls apokryphen, um 400 entstandenen Constitutiones apostolicae, wurde aber deutlich abgeändert. In den Constitutiones ist die Anweisung, heidnische Bücher zu meiden, auf Laien (!) bezogen.4 Daran wird deutlich, dass es innerhalb der Kirche Strömungen gab, die der tradierten Schulbildung mit ihrem an klassischen Autoren und antiken Bildungsinhalten ausgerichteten Stoff ablehnend gegenüberstanden. Auch Sidonius selbst fühlte
1 Die Darstellung von Illmer 1979, 75–80, basiert auf einer ungenauen Textanalyse und verzerrt dadurch die Entwicklung. Bei den von ihm angegeben Stellen für „lehren“ (docere) geht es um die Vermittlung des christlichen Glaubens, nicht um Schulunterricht. 2 Munier 1960, 105–169; Gaudemet 1985, 85–86. 3 Concilia Galliae (Statuta ecclesiae antiqua), ed. Munier, can. 5, 167: Ut episcopus gentilium libros non legat, haereticorum autem pro necessitate et tempore; vgl. Riché 1989, 37. 4 Vgl. Munier 1960, 130–131. © 2015, Scholz. Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 3.0 Lizenz.
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sich verpflichtet, auf gewisse Vorbehalte innerhalb der christlichen Gemeinschaft Rücksicht zu nehmen. Als ihn Oresius um 481 um ein neues Gedicht bat, antwortete ihm Sidonius: „Von Beginn meiner religiösen Aufgabe an habe ich vor allem diese Beschäftigung aufgegeben, weil man mir ohne Zweifel Leichtsinn anlasten könnte, wenn mich, für den die Bedeutung der Handlungen entscheidend geworden waren, die Geschliffenheit der Verse ergriffen hätte.“5 Gedichte zu schreiben, schien mit dem Charakter des Bischofsamtes nicht vereinbar zu sein. Gut hundert Jahre später kritisierte dann Papst Gregor I. in seinem Brief an Bischof Desiderius von Vienne dessen Grammatikunterricht anhand antiker Autoren: Das Lob Christi dürfe nicht zugleich mit dem Lob Jupiters in einem Mund Platz haben.6 Wichtig ist eine Äußerung des Caesarius von Arles, der nicht die klassische Bildung an sich kritisierte, den Einsatz rhetorischer Elemente in einer Predigt aber ablehnte. Die Auslegung der heiligen Schriften solle in der Weise geschehen, dass „die Speise der Bildung nicht nur zu den wenigen Gelehrten (scolastici) gelangt und die übrige Menge des Volkes hungrig bleibt. Und deshalb bitte ich demütig darum, dass die gebildeten Ohren damit zufrieden sind, die bäuerischen Worte geduldig zu ertragen, wenn nur die ganze Herde des Herrn durch eine einfache und eine, wie ich gesagt haben möchte, gewöhnliche Predigt das geistliche Futter empfangen kann. Und weil die ungebildeten und einfachen Menschen nicht zur Höhe der Gelehrten hinaufsteigen können, mögen sich die Gebildeten zur Unwissenheit jener hinabneigen.“7 Eine am Sprachstil Ciceros oder Vergils orientierte Predigt war also nach Caesarius nicht geeignet, die große Masse des Volkes zu erreichen. Für die Vermittlung der christlichen Botschaft musste der Sprachstil der Zuhörer- oder Leserschaft angemessen sein und durfte diese nicht überfordern. Das Bildungsniveau im Frankenreich war im 6. Jahrhundert offenbar sehr ungleichmäßig. Die Wohlhabenden waren nach wie vor in der Lage, die Ausbildung ihrer Kinder durch Privatlehrer zu finanzieren, während die vor allem durch Stiftungen finanzierten öffentlichen Schulen massiv zurückgegangen zu sein scheinen. Dafür ergeben sich aus den Kanones mehrere Hinweise. So heißt es im 1. Kanon der Synode von Vaison aus dem Jahr 529:
5 Sidonius Apollinaris, Epist. 9,12,1, ed. Loyen, 160: Primum ab exordio religiosae professionis huic principaliter exercitio renuntiavi, quia nimirum facilitati posset accommodari, si me occupasset levitas versuum, quem respicere coeperat gravitas actionum. Übersetzung: S. Scholz. 6 Gregor der Große, Registrum Epistularum, ed. Ewald/Hartmann, Reg. XI, 34, 303. 7 Caesarius von Arles, Sermo 86,1, ed. Morin, 353: non nisi ad paucos scolasticos cibus doctrinae poterit pervenire, reliqua vero populi multitudo ieiunia remanebit; et ideo rogo humiliter, ut contentae sint eruditae aures verba rustica aequanimiter sustinere, dummodo totus grex domini simplici et, ut ita dixerim, pedestri sermone pabulum spiritale possit accipere. Et quia inperiti et simplices ad scolasticorum altitudinem non possunt ascendere, eruditi se dignentur ad illorum ignorantiam inclinare; Übersetzung: S. Scholz; vgl. Abel 1974, 116–117; Eigler 2013, 413–414 und den Beitrag von Ulrich Eigler (in diesem Band), 7–22.
Zusammenfassung
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„Es hat dies Gefallen gefunden, dass alle Priester, die in den Pfarreien eingesetzt worden sind, gemäß der Gewohnheit, die bekanntlich in ganz Italien mit erheblichem Vorteil eingehalten wird, jüngere Lektoren, wie viele auch immer sie haben, die noch ohne Frauen sind, zu sich ins Haus aufnehmen, wo sie selbst wohnen. Und wie gute Väter sollen sie diese geistlich erziehen und sich anstrengen, diese auf die Psalmen vorzubereiten, sie mit den heiligen Texten vertraut zu machen und sie im Gesetz des Herrn zu unterrichten, damit sie für sich würdige Nachfolger vorbereiten und vom Herrn den ewigen Lohn empfangen. Wenn diese aber zur Volljährigkeit gelangt sind, und einer von ihnen wegen der Schwachheit des Fleisches eine Frau haben will, soll man ihm die Möglichkeit, eine Ehe zu führen, nicht verweigern.“8 Die Priester sollten also junge, unverheiratete Männer in ihrem Haus aufnehmen, um sie auszubilden. Doch stand nicht der klassische Bildungskanon auf dem Programm. Nicht klassische Autoren, Grammatiker oder das römische Recht wurden gelehrt, sondern das Singen der Psalmen, die Texte der Heiligen Schrift sowie die kirchlichen Vorschriften. Ob und in welcher Weise die hier erwähnten jungen Männer schon vorher eine Schulbildung erhalten hatten, bleibt allerdings unklar.9 Dieses Problem wird aber im 16. Kanon der Synode von Orléans 533 angesprochen: „Kein Presbyter oder Diakon darf geweiht werden, wenn er ohne Ausbildung ist oder die Taufvorschriften nicht kennt.“10 Damit wird innerhalb des Frankenreichs das Problem einer mangelhaften Ausbildung zum ersten Mal in einem offiziellen kirchlichen Dokument behandelt. Da die Bestimmungen der Kanones in der Regel Reaktionen auf entsprechende Vorfälle sind, muss es entsprechende Probleme gegeben haben. Wie verbreitet sie waren, lässt sich nicht genau feststellen,11 doch immerhin formulierte 589 eine westgotische Synode im an der Grenze zum Frankenreich liegenden Narbonne eine ganz ähnliche Vorschrift: „Keinem der Bischöfe soll es erlaubt sein, einen Diakon oder Presbyter zu weihen, der nicht Schreiben kann; aber wenn sie geweiht worden sind, sollen sie gezwungen werden, es zu lernen. Wer aber als Diakon
8 Concilia Galliae (Konzil von Vaison 529), ed. de Clercq, can. 1, 78: Hoc placuit, ut omnes presbyteri, qui sunt in parrociis constituti, secundum consuetudinem, quam per totam Italiam satis salubriter teneri cognouemus, iuniores lectores, quantoscumque sine uxoribus habuerent, se cum in domo, ubi ipsi habitare uidentur, recipiant et eos quomodo boni patres spiritaliter nutrientes psalmis parare, diuinis lectionibus insistere et in lege domini erudire contendant, ut et sibi dignos successores prouideant et a domino proemia aeterna recipiant. Cum uero ad aetatem perfectam peruenerint, si alequis eorum pro carnis fragilitate uxorem habere uoluerit, potestas ei ducendi coniugium non negetur. Übersetzung: S. Scholz; vgl. Riché 1989, 40; Godding 2001, 60–63. 9 Nach Gregor von Tours, Liber vitae patrum, ed. Krusch, c. 20, 291 gab es im 6. Jahrhundert auch kirchliche Schulen für Kinder, doch lässt sich die Lebenszeit des von ihm in diesem Zusammenhang erwähnten heiligen Leobard nicht sicher datieren. 10 Concilia Galliae (Synode von Orléans 533), ed. de Clercq, can. 16, 101: Presbyter uel diaconus sine literis uel si baptizandi ordinem nesciret nullatenus ordinetur. Übersetzung: S. Scholz; Godding 2001, 51–52. 11 Vgl. auch Godding 2001, 53.
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oder Presbyter im Schreiben ungebildet ist und es träge aufschiebt, zu lesen oder sein Amt zu erfüllen, und in der Kirche nicht zu allen Dingen bereit ist, muss vom Lebensunterhalt (der Kleriker) entfernt werden … Aber was wird er in der Kirche sein, wenn er nicht zum Lesen ermuntert worden ist? Aber wenn er träge dabei bleibt und nicht nützlich sein will, soll er ins Kloster geschickt werden, weil er das Volk außer durch Lesen nicht erbauen kann.“12 Es scheint, dass der Zugang zur elementaren Ausbildung im Lesen und Schreiben nicht mehr überall gewährleistet war. Das gilt, wie gesagt, nicht für die aristokratische Oberschicht, doch lässt sich auch hier eine Veränderung im Umgang mit Bildungsinhalten feststellen. Der zur Zeit des Sidonius Apollinaris noch vorhandene feste Bildungskanon, der mittels der gemeinsamen Lektüre der gallorömischen Senatorenschicht einen gemeinsamen Sprachstandard erzeugte und damit identitätsstiftend wirkte, löste sich im 6. Jahrhundert allmählich auf. So sind die Briefe des Bischofs Desiderius von Cahors aus der ersten Hälfte des 7. Jahrhunderts immer noch der Romanitas verpflichtet, ohne aber bei den Adressaten noch einen klar profilierten Bildungskanon vorauszusetzen.13 Entsprechend gering bleiben die Bezugnahmen auf die klassische Bildung. Der Kontakt mit den klassischen Autoren blieb jedoch bestehen, da sie auch weiterhin zur regelmäßigen Lektüre der Oberschicht gehörten. In einem Brief an einen unbekannten Empfänger schreibt Desiderius von Cahors: „Ich wünschte oft, die Umstände wären uns gewogen, so dass Du an unseren Gesprächen teilnehmen könntest, damit es Dir erlaubt sei, so, wie wir früher im weltlichen Stand in der Gesellschaft des huldreichsten Fürsten Chlothar uns gegenseitig Geschichten (fabellae) zu erklären pflegten, jetzt, nachdem wir jenes nichtige Tun völlig aufgegeben haben, die süßen Vorschriften Christi mit uns zu erörtern.“14 Der Hof war offenbar ein Ort, an dem sich der König mit den Söhnen führender Familien traf, um gemeinsam über wichtige Themen zu reden und klassische Texte zu lesen, denn etwas anderes kann mit fabellae kaum gemeint sein. Zugleich wird deutlich, dass Desiderius als Bischof von Cahors es für nicht mehr angemessen hielt, sich mit der heidnischen römischen Literatur zu beschäftigen. Dies war für ihn jetzt „nichtiges Tun“, das der Beschäftigung mit den Bibeltexten weichen musste. Damit
12 Concilia Galliae (Synode von Narbonne 589), ed. de Clercq, can. 11, 256: Qui uero diaconus aut presbiter fuerit literis inheruditus et desidiose legere uel implere officium distulerit, et in ecclesia paratus ad omnia non fuerit, ab stipendio reiciendum, ... Aut quid erit in ecclesia dei, si non fuerit ad legendum exercitatus? Et si perseuerauerit desidiose, et non uult proficere, mittatur in monasterio, quia non potest nisi legendo edificare populum. Übersetzung: S. Scholz. 13 Schwitter 2013; für die Überlassung des Druckmanuskripts möchte ich Raphael Schwitter (MGH, München) ganz herzlich danken. 14 Desiderius von Cahors, Epistulae, ed. Norberg, Nr. I, 10, 28: Optarem frequenter, si possibilitas adrideret, sacris vestris interesse conloquiis, ut, sicut nos sub saeculi habitu in contubernio serenissimi Flothari principis mutuis solebamus revelare fabellis, ita iam nunc, illa ad plenum deposita vanitate, dulcia Christi liceret ruminare praecepta. Übersetzung: S. Scholz.
Zusammenfassung
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werden hier die Auswirkungen einer Entwicklung sichtbar, die im 5. Jahrhundert ihren Anfang nahm und sich im erwähnten 5. Kanon der Statuta ecclesiae antiqua niederschlug, der den Bischöfen verbot, die Bücher der Heiden zu lesen.15 Insofern überrascht es kaum, dass in den Werken der Bischöfe des 7. Jahrhunderts nur wenige Zitate klassischer Autoren zu finden sind. Man kann daraus aber nicht schließen, diese Texte seien in Vergessenheit geraten. Die Entwicklung von der Mitte des 7. bis zur zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts ist in den Quellen nur schlecht zu greifen. Einige Nachrichten bieten die Heiligenviten, deren Überlieferung jedoch aufgrund der karolingischen réécriture oft problematisch ist.16 Die Vita Bischof Leodegars von Autun († 677–679) berichtet etwa, er sei von seinem hochgebildeten Onkel Bischof Dido von Poitiers in verschiedenen Bereichen unterrichtet worden, „welche die weltlichen Großen zu studieren pflegen.“17 Demnach müsste man davon ausgehen, dass die klassischen Autoren auch in dieser Zeit nicht nur durch die Grammatiker und die Kirchenväter vermittelt wurden, sondern dass sich eine kleine Elite weiterhin mit diesen Texten befasste. Das ist schon deshalb naheliegend, weil die karolingische Renovatio, welche die Beschäftigung mit diesen Texten auf eine neue Basis stellte, auf vorhandenen Grundlagen aufgebaut haben muss. Zweifellos gehört es aber zu den wesentlichen Errungenschaften der karolingischen Bildungsreform, die Normautoren des klassischen Stils wieder einem breiteren Publikum zugänglich gemacht zu haben. Eine Voraussetzung dafür war, wie Ulrich Eigler gezeigt hat, das neue Interesse an Augustinus und anderen Kirchenvätern, die immer wieder auf antike Autoren Bezug nahmen. Das Studium der Kirchenväter führte zwangsläufig zu einer Auseinandersetzung mit deren sprachlichem Hintergrund. Horaz, Vergil, Cicero und Terenz erlangten nun als Normautoren des klassischen Stils neue Bedeutung. So kam es zur Entstehung eines grammatischrhetorischen Sprachstils und zur Rückkehr zum Kulturwissen der Spätantike. Auf dieser Basis rekonstruierte man, und das ist das eigentlich Neue, sprachlich eine alte Kultur, welche als Norma rectitudinis verpflichtend wurde.18 Ein identitätsstiftender Sprach- und Lektürestandart wie zur Zeit des Sidonius Apollinaris entstand aufgrund der andersartigen gesellschaftlichen Voraussetzungen zwar nicht mehr, aber immerhin lassen sich in der literarischen Produktion des späten 8. und des 9. Jahrhunderts wieder intertextuelle Bezüge mit antiken und patristischen Autoren sowie eine neue Themenvielfalt erkennen. Die Idee der Norma rectitudinis hatte weitreichende Konsequenzen, denn entsprechend sollten nun die Abschriften von Texten sorgfältig und genau sein, wie
15 Concilia Galliae (Statuta ecclesiae antiqua), ed. Munier, can. 5, 167. 16 Vgl. Heinzelmann 2010, passim. 17 Leodegar von Autun, Passio, ed. Krusch, c. 1, 283: fuisset strinue aenutritus et ad diversis studiis, quae saeculi potentes studire solent …; zur Überlieferung vgl. Heinzelmann 2010, 50–51 mit Anm. 105. 18 Vgl. Fleckenstein 1953, 52–53; vgl. auch den Artikel von Julia Becker in diesem Band.
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es Karl der Große und seine Berater mehrfach forderten. In der möglicherweise 787 geschriebenen Epistola de litteris colendis heißt es: „Es sei … bekannt, dass wir mit unseren Getreuen überlegt haben, dass nützlicherweise in den Bistümern und Klöstern, die durch Gottes Gnade unserer Leitung anvertraut wurden, diejenigen, die durch das Geschenk des Herrn lernen können, ein jeder nach seinem Auffassungsvermögen, ihre Lernanstrengungen außer auf die Vorschrift des geregelten Lebens und die Lebensweise des heiligen Glaubens auch auf die Beschäftigung mit der Literatur richten sollen. Und ebenso, wie die regelhafte Norm die Ehre der Sitten regeln soll, soll der Eifer des Lehrens und Lernens die Reihenfolge der Wörter regeln und schmücken, damit die, welche sich bemühen, Gott durch ein rechtes Leben zu gefallen, es nicht vernachlässigen, ihm auch durch richtiges Reden zu gefallen. Es steht nämlich geschrieben: ‚Entweder wirst du aufgrund deiner Worte gerechtfertigt, oder du wirst aufgrund deiner Worte verdammt werden‘ (Mt 12,37). Obgleich es nämlich besser ist, gut zu handeln als etwas gut zu kennen, ist es doch nötig, erst etwas gut zu kennen als es zu tun. Es soll also ein jeder lernen, was er zu tun wünscht, damit sein Geist umso reichlicher das erkennt, was er tun soll, damit sich seine Stimme umso mehr ohne die Hindernisse der Täuschungen zum Lob Gottes erhebt. … Denn weil in diesen Jahren von etlichen Klöstern öfters Schreiben an uns gerichtet wurden, in denen uns mitgeteilt wurde, dass die Brüder ebendort unser in ihren heiligen und frommen Gebeten gedenken, haben wir in sehr vielen der genannten Zuschriften dieser sowohl eine richtige Ansicht als auch eine ungebildete Sprache gefunden. Was die fromme Demut innerlich treu vorsagte, das konnte die ungebildete Sprache wegen der Vernachlässigung des Lernens äußerlich nicht ohne Tadel ausdrücken. Deshalb begannen wir zu fürchten, dass vielleicht, so wie ziemlich wenig Kenntnis beim Schreiben vorhanden war, noch viel weniger Kenntnis, als in der Tat erlaubt wäre, beim Verständnis der heiligen Schriften vorhanden sei. Und wir wissen alle gut, dass, wenn auch die Irrtümer bei den Worten gefährlich sind, die Irrtümer bei den Ansichten umso gefährlicher sind.“19 Papst Gregor der Große (590–604) hatte im Widmungsschreiben zu seinem Werk Moralia in lob noch erklärt, er meide die Verwirrung der Barbarismen nicht und halte es für völlig unwürdig, die Worte der himmlischen Weissagung unter die Regeln des Grammatikers Donat zu zwingen, da diese auch nicht von den Interpreten der Autorität der heiligen Schrift beachtet worden seien.20 Doch in der karolingischen Renovatio wurde das richtige Verständnis der Heiligen Schrift und anderer Texte zur Voraussetzung für den richtigen Glauben. Das Wissen um die korrekte Grammatik und der
19 Epistola de litteris colendis, Urkundenbuch des Klosters Fulda, ed. Stengel, 251–252, Nr. 166; Übersetzung: S. Scholz; zur Datierung vgl. Bullough 2004, 336–346, der davon ausgeht, dass Alkuin die Zeit nach 781 auf Reisen und in York verbrachte und erst 786 an Karls Hof kam. 20 Gregor der Große, Registrum Epistularum, ed. Ewald/Hartmann, Reg. V, 53a, c. 5, 357; vgl. Eigler 2013, 412.
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richtige Glauben waren nun nicht mehr voneinander zu trennen. Wer die Worte der Schrift nicht richtig verstand und falsch wiedergab, der war aufgrund seiner Missverständnisse der Häresiegefahr ausgeliefert.21 Doch das richtige Verständnis der Bibel oder anderer Texte war unter anderem auch davon abhängig, ob man die Vorlage gut lesen konnte. Im 8. Jahrhundert wurden ganz verschiedene Minuskelschriften, die Halbunziale und die Capitalis rustica nebeneinander benutzt. Eine gute Lesbarkeit der Schriften war oft nicht gegeben. Man hat deshalb stets angenommen, die Entwicklung und Verbreitung der karolingischen Minuskel sei im Rahmen der karolingischen Renovatio unter Karl dem Großen erfolgt. Tino Licht konnte jedoch zeigen, dass in einer Handschrift, die in Corbie unter Abt Leutchar zwischen 762 und 769 entstand, auf zwei Seiten statt der sonst benutzten Halbunziale eine karolingischen Minuskel verwendet wurde.22 Es handelte sich offenbar um ein Experiment, doch erwies sich die neue Schrift als äußerst erfolgreich. Im Kloster Lorsch scheint man die neue Schrift sehr schnell, spätestens wohl 774 übernommen zu haben. Mit diesem Ergebnis stellt sich allerdings die grundsätzliche Frage nach den Anfängen der karolingischen Renovatio. In seinem Brief an die Lektoren (786–800) hatte Karl erklärt, durch die Nachlässigkeit seiner Vorfahren sei die „Werkstatt der Wissenschaft“ beinahe ausgelöscht worden.23 Die hier vorgenommene Analyse der Bildungsentwicklung hat jedoch gezeigt, dass von einem radikalen Bildungsverlust keine Rede sein kann. Wenn man zwischen 762 und 769 in Corbie mit der karolingischen Minuskel experimentierte, deutet dies vielmehr darauf hin, dass es in den bedeutenden Bildungszentren des fränkischen Reichs schon unter Karls Vater Pippin Überlegungen zu einer Verbesserung der Wissensvermittlung gab. Unter Karl wurden diese Überlegungen gebündelt und gewannen dadurch erheblich an Dynamik. Die Norma rectitudinis wurde zur grundlegenden Voraussetzung für den richtigen Glauben und die richtige Kultausübung und damit letztlich für das Wohl des Reiches. „Eindeutigkeit“ und die richtige Tradierung von „Wissen“ standen im Mittelpunkt der karolingischen Bildungsreform. Vor diesem Hintergrund wird klar, warum es den Skriptorien der karolingischen Klöster nicht nur darum gehen konnte, Schriftzeugnisse, besonders patristische Schriften, zu vervielfältigen und weiterzugeben. Julia Becker hat gezeigt, wie im Skriptorium des Klosters Lorsch intensive Korrektur- und Ergänzungsarbeiten an den Texten vorgenommen wurden, um so ganz im Sinne der karolingischen Bildungsreform „richtige“ Texte herzustellen, die für den Benutzer nicht die Gefahr der Täuschung boten. Durch die Bereitstellung und Weitergabe von „richtigem“ Wissen mittels „korrigierter“ Handschriften schufen die karolingischen
21 Vgl. auch Steckel 2011, 84–85. 22 Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Theol. lat. fol. 354, fol. 1v (CLA VIII, 1067a). 23 MGH Capit. 1 (Epistola generalis), 80, Nr. 30.
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Klöster einen enormen Wissensspeicher, der den seit Jahrhunderten tradierten Wissensbestand durch immer neue Abschriften und Korrekturen bewahrte. Tatsächlich lässt sich auch der Korrekturvorgang in einigen Handschriften nachverfolgen, weil die Korrektoren ihre Kontrolle eines abgeschriebenen Textes durch entsprechende Vermerke sichtbar machten. Kirsten Wallenwein hat gezeigt, dass es sich dabei um die Übernahme einer spätantiken Praxis handelte, welche den Text als zuverlässig ausweisen sollte. In der Wiederaufnahme dieser Praxis wird ebenso wie in der neuen vertieften Beschäftigung mit den klassischen und spätantiken Autoren ein neuer Umgang mit den Grundlagen des Wissens deutlich. Die Kontrollvermerke sind somit wertvolle Zeugen der Rezeptionsgeschichte und können als ein wichtiger Baustein für die Rekonstruktion der Textgeschichte dienen. Auf einen anderen Aspekt der Textkontrolle hat Natalie Maag hingewiesen. Der auf der Reichenau geschriebene Codex mit dem von Augustinus verfassten Werk De Genesi contra Manichaeos enthält ein nachträglich eingeheftetes Blatt, dessen Text in den 830er Jahren in jüngerem Lorscher Stil geschrieben wurde. Der Text des Blattes ergänzt eine im Codex versehentlich ausgelassene Textstelle. Eine Anweisung am Ende des Blattes gibt an, wo das Blatt eingefügt werden soll. Offenbar hatte man in Lorsch den auf der Reichenau geschriebenen Codex kontrolliert und war dabei auf die Textauslassung gestoßen. Die Stelle wurde ergänzt und der Codex auf das Inselkloster zurückgeschickt. Somit zeigt sich hier das Bemühen um vollständige und korrekte Texte im Sinne der karolingischen Correctio. Die Vorgaben der karolingischen Bildungsreform hatten nur den Kernbestand der Bibliotheken festgelegt, der neben der Bibel und den Bibelkommentaren die exegetischen Schriften der Kirchenväter umfasste. Welche Werke sonst noch in die Bibliotheken gelangten, war unter anderem von den Erfordernissen des Unterrichts und von den persönlichen Vorlieben und Kontakten der Mitglieder des Konvents abhängig. Diese Kontakte ermöglichten es, dass Bücher zirkulierten, wodurch die Möglichkeit stieg, an einem Ort ein breites Angebot an Literatur zu finden. Ob und in welchem Maße diese Literatur dann rezipiert wurde, war jedoch stark von den individuellen Lesern abhängig. Aber war es überhaupt richtig und nötig, dass alles gelesen werden konnte? Galt die Vorgabe, die Bischöfe sollten keine klassischen Autoren lesen, nicht mehr? Eine Antwort findet man im Carmen 45 des Bischofs Theodulf von Orléans, das Carmen Cardelle de Hartmann analysiert hat. Theodulf geht in diesem Gedicht auf seine bevorzugte Lektüre ein, worunter sich auch Vergil und Ovid befinden. In dem Gedicht wird eine für die karolingische Zeit einmalige Definition von Wissenskultur sichtbar. Sein Thema ist die Lektüre, die als ein Aneignungs- und Auslegungsprozess durch den Leser dargestellt wird. Erst im Leser werde Wissenskultur zu Wissen, womit die Bedeutung des einzelnen Lesers stark betont wird. Theodulf stellt die korrekte Lektüre und Auseinandersetzung des Lesers mit den Büchern vor, wobei es ihm besonders um die Unterscheidungsmöglichkeit von falsa et vera durch den Leser geht. Wahres und Falsches sei in ein- und demselben Text zu finden, doch die
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sophi, die gebildeten Leser, seien in der Lage, dies zu unterscheiden. Theodulf zeigt in seinem Gedicht, wie eine verständige Lektüre auszusehen hat und bietet damit eine Anweisungen für die korrekte Lektüre heidnischer Dichter, bei der die Geisteskraft des Lesers das Falsche entlarven muss. Der Dichter weist also dem Leser die Verantwortung zu und schließt ihn somit nicht von den Texten der heidnischen Antike aus. Diese Forderung nach einem freizügigeren Umgang mit den heidnischen Autoren ist ein wichtiges Element der karolingischen Renovatio. Hrabanus Maurus vertrat sicher den Typus des von Theodulf von Orléans geforderten sophus, des kompetenten Lesers, der über genügend sapientia verfügte, um Wahres von Falschem zu unterscheiden. Seiner Meinung nach konnte man nämlich auch in den Büchern der Heiden Nützliches finden.24 Allerdings war die Auseinandersetzung mit der antiken Literatur für ihn zweitrangig. Ihm ging es um die Erkenntnis- und Wissensvermittlung durch Exegese, wie Sita Steckel zeigt. Seiner Meinung nach mussten die Geistlichen Wissen um die göttliche Wahrheit besitzen, um ihr Lehr- und Hirtenamt ausfüllen zu können. Für das Verständnis der Heiligen Schrift und der gelehrten Traditionen war ein breites Wissen notwendig, das allein jedoch nicht ausreichte, denn für ein wahrhaftes Verständnis bedurfte es der Vermittlung durch den Heiligen Geist. Die Bedeutung des Exegeten wurde durch diese Vorstellung stark aufgewertet, denn er beschäftigte sich mit einer Materie, in der sich die menschliche und die göttliche Sphäre überschnitten. Wenn es seine Weisheit zuließ, und nur dann, wirkte in ihm auch die göttliche Weisheit. Damit war aber ein breites Wissen, das sich keinesfalls nur auf die Kenntnis der Heiligen Schrift und der patristischen Texte beschränken durfte, Voraussetzung, um überhaupt in diesen Prozess einzutreten. Hrabanus Maurus und der von ihm entworfene Typus des Exegeten bedurften ganz besonders einer umfangreichen Bibliothek mit möglichst „korrekt“ abgeschriebenen Texten. Nur auf der Basis eines solchen Wissensreservoirs konnte Hrabanus als Ordner von gelehrtem Wissen auftreten. Die für Hrabanus Maurus als Mönch geltende Benediktregel war allerdings für diese Form der Wissensaneignung nicht sehr hilfreich, denn in ihr ging es um die Verinnerlichung der Bibel. Der Mönch sollte kein Buch, kein Täfelchen und keinen Griffel besitzen.25 Schreiben, aber wohl auch die selbständige Lektüre, sind Tätigkeiten, die sich der Verfügungsgewalt des einzelnen Mönchs entzogen. Aber nicht nur in der Person des Hrabanus Maurus, der eigene Libelli und natürlich auch einen eigenen Griffel besaß, zeigen sich Abweichungen von den Vorgaben der Benediktsregel. Matthias Becher hat darauf hingewiesen, dass in vielen Bereichen eine Diskrepanz zwischen der Norm der Benediktsregel, an die immer wieder auf Synoden und in den
24 Hrabanus Maurus, De institutione clericali, ed. Zimpel, III. 2, 439: Ac ideo ad unum terminum cuncta referenda sunt, et quae in libris gentilium utilia et quae in scripturis sacris salubria inveniuntur, ut ad cognitionem perfectam veritatis et sapientiae perveniamus, qua cernitur et tenetur summum bonum. 25 Benediktsregel 1982, 197, c. 33,3.
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Kapitularien der Karolinger erinnert wurde, und ihrer Umsetzung bestand. Offenbar nahm man diese Diskrepanz aber nur dann wahr, wenn dadurch das korrekte Gebet für den Herrscher und das Reich gefährdet schien. Damit ein Gebet wirksam war, durfte es nicht von unwürdigen Mönchen gesprochen werden und es musste korrekt gesprochen werden. So dienten die Regulierung der mönchischen Lebensweise und die Maßnahmen zur Verbesserung der Bildung letztlich demselben Ziel. Ähnlich wie Hrabanus Maurus lassen auch die Nutzer tironischer Noten, die durch ihre in dieser Kurzschrift abgefassten Kommentare eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Texten bezeugen, einen eigenständigen Umgang mit den Texten erkennen. Martin Hellmann hat aufgezeigt, dass die Bemerkungen, die in tironischen Noten in die Handschriften geschrieben wurden, Exzerpte und inhaltliche Urteile festhielten, aber auch der textlichen Strukturierung dienten. Gerade tironische Noten mit inhaltlichen Urteilen waren freilich keine Neuerung der karolingischen Renovatio, sondern lassen sich schon im 7. oder 8. Jahrhundert in Bobbio in der Handschrift Vat. lat. 5758 nachweisen, die Notizen zu den Augustinus-Predigten enthält. Wie groß oder, vielleicht besser, wie klein der Kreis der Mönche und gelehrten Spezialisten war, die sich solcher Techniken bedienen konnten, entzieht sich allerdings unserer Kenntnis. Es ist aber zu bedenken, dass der Brief Karls des Großen De litteris colendis forderte, die litterarum studia nicht zu vernachlässigen, um dadurch die Geheimnisse der heiligen Bücher besser durchdringen zu können.26 Und auch Alkuin forderte in seinem Brief an Rado, die Brüder sollten die heiligen Schriften möglichst sorgfältig lesen und dabei auf die Einsicht in die Wahrheit vertrauen, damit man denen, die der Wahrheit widersprächen, Widerstand leisten könne.27 Dies setzte eine organisierte Wissensvermittlung innerhalb der Klosterschulen voraus, die den Lernenden genau jene Kompetenzen vermitteln sollte, die wir bei Hrabanus Maurus und den Nutzern der tironischen Noten wiederfinden. In dem Moment, in dem die korrekte Weitergabe von Wissen als Grundlage für die korrekte christliche Lebensweise und das richtige Verständnis der Bibel verstanden wurden, musste dies auch zu einem neuen Konzept von Wissen und Wissensaneignung führen. Denn die richtig verstandene Verinnerlichung der Bibel war von einem breiten, korrekt überlieferten Wissen abhängig. Die von Michael Embach behandelten Glossatoren, die im 11. und 12. Jahrhundert in verschiedenen Benediktinerabteien tätig waren, scheinen in dieser Tradition zu stehen. Sie wurden der Forderung Theodulfs nach verständiger Lektüre durchaus gerecht. Die Glossen, die sie unter anderem in den Handschriften mit Texten antiker Autoren hinterließen, machen eine besondere Form der Wissensaneignung sichtbar. Die aus der Lektüre und der Auseinandersetzung mit dem Text gewonnenen Erkennt-
26 Epistola de litteris collendis, Urkundenbuch des Klosters Fulda, ed. Stengel, 251–252, Nr. 166. 27 Alkuin, Epistolae, ed. Dümmler, 117, Nr. 74; vgl. den Artikel von Julia Becker (in diesem Band), 74–75.
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nisse wurden vermerkt und mitgeteilt und zwar nicht nur in Latein, sondern auch in Althochdeutsch. Hier wird die Aneignung von Wissen in der Sicht des Lesers sichtbar. Es war bereits davon die Rede, dass die karolingischen Klöster durch die Bereitstellung und Weitergabe von Handschriften einen enormen Wissensspeicher schufen. Auch für die Überlieferung von Kanonessammlungen war dieser Speicher von erheblicher Bedeutung wie Wilfried Hartmann gezeigt hat. Vor allem die systematischen Sammlungen vetus Gallica und Hibernesis sind durch Handschriften überliefert, die in Klöstern entstanden. Aber die Kenntnis und Verfügbarkeit von kanonistischem Material reichte weit über diese Sammlungen hinaus. Das macht unter anderem die von Zechiel-Eckes nachgewiesene Herstellung der großen, unter dem Namen PseudoIsidor bekannten Fälschung im Kloster Corbie deutlich.28 Die Herstellung dieser Fälschung setzt einmal mehr den von Theodulf geforderten sophus als Leser voraus, der das Material selbständig ordnen und erfassen konnte, auch wenn er hier nicht Falsches von Wahrem trennte, sondern Wahres und Falsches gekonnt vermengte. Allerdings lässt sich nicht feststellen, wie das klösterliche Wissensreservoir in der synodalen Praxis genutzt wurde. Wer auf den Synoden in welcher Form daran mitwirkte, das Textmaterial für die Erstellung der Synodalkanones zu beschaffen und bereitzustellen, kann aufgrund der schwierigen Quellenlage nicht beantwortet werden. Bei den Bemühungen der Karolinger, den Gesang der päpstlichen Liturgie in Rom (cantus romanus) im fränkischen Reich einheitlich und flächendeckend einzuführen, besaßen die Klöster unzweifelhaft ebenfalls eine wichtige Funktion. Sie waren zugleich Orte der Rezeption und Verschriftlichung sowie der Ausbildung in den Gesängen. Stefan Johannes Morent hat allerdings gezeigt, dass die einheitliche und korrekte Ausübung des liturgischen Gesangs im späten 8. und im 9. Jahrhundert zwar ein wichtiges Anliegen war, die Wege der Rezeption der Gesänge und der Einführung von Neumenschriften, die als Hilfe bei der praktischen Musikausübung dienten, bisher aber nur bruchstückhaft rekonstruiert werden konnten. Etwas besser lässt sich die Vermittlungsfunktion der Klöster bei der epigraphischen Produktion zeigen. Karl der Große beauftragte anlässlich des Todes seiner Frau Hildegard 783 Paulus Diaconus, für sie ein Epitaph zu verfassen. Paulus verfasste nicht nur das Grabgedicht für Hildegard, sondern auch Epitaphien für Karls bereits verstorbene Schwestern Rothaid und Adelheid sowie für seine Töchter Adelheid und Hildegard, die alle in St. Arnulf in Metz bestattet worden waren.29 Damit führte er die epigraphische Tradition der Langobarden am fränkischen Hof ein. Natürlich war auch nördlich der Alpen die epigraphische Tradition nie abgebrochen und die Klöster haben die Produktion der Inschriften schon lange vor Karl dem Großen beeinflusst. Die insular geprägten Skriptorien einer Reihe von Klöstern haben ihre Spuren in den
28 Zechiel-Eckes 2001. 29 Paulus Diaconus, Liber de episcopis Mettensibus, ed. Kempf, 78–84.
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Schriftformen der Inschriften hinterlassen.30 Doch unter dem Einfluss der Langobarden am Hofe Karls erhielt die epigraphische Produktion neue Impulse, wie Florian Hartmann gezeigt hat. In Klöstern wie St. Riquier, Corbie oder Lorsch bemühte man sich um Mustersammlungen von Inschriften oder legte sie sogar neu an. Diese Inschriftensammlungen, die teils antike, teils mittelalterliche Inschriften aus Italien enthielten, dürften zumindest teilweise als Musterbeispiele und Lehrwerke gedacht gewesen sein. Durch sie wurde es möglich, den Aufbau und Inhalt älterer Inschriften kennen zu lernen und auf dieser Basis Inschriftentexte auf einem sprachlich guten Niveau zu verfassen. Mit Hilfe der Sammlungen wurde in den karolingischen Klöstern das Wissen weitergegeben, das man brauchte, um vor allem für die Totenmemoria geeignete Inschriften zu verfassen, aber auch, um politische Aussagen mittels Inschriften dauerhaft zu vergegenwärtigen.31 Die auf diese Weise sichtbar werdende Vermittlerfunktion der Klöster lässt sich ebenso im Zusammenhang mit der Ausbildung von Priestern belegen. Steffen Patzold hat dargelegt, dass die Klöster auch für jene Weltgeistlichen zu wichtigen Ausbildungsstätten geworden waren, die später als Gemeindepriester wirkten. Dafür sprechen die Schul- und Lehrbücher im Bestand der Klosterbibliotheken. Denn um die Correctio in die Gemeinden hineintragen zu können, brauchten die Pfarrer eine gute Ausbildung und geeignete Bücher. Beides konnten sie in den Klöstern erhalten. Um das Wissen der Priester überprüfen zu können und so die Correctio zu sichern, wurden Priesterexamina entwickelt, mit denen ihre Fähigkeiten kontrolliert werden sollten. Bischof Theodulf von Orléans wies in seinem wohl noch vor 813 entstandenen 1. Kapitular, das sich an die Priester seiner Diözese richtete, auf die zentrale Aufgabe der Gemeindepriester bei der Ausbildung des Nachwuchses hin: „Die Priester sollen in den kleinen Orten und in den Dörfern Schulen unterhalten. Wenn irgendeiner der Gläubigen ihm seine kleinen Kinder zum Lesenlernen anvertrauen will, sollen sie diese aufnehmen und sich nicht weigern, sie zu unterrichten … Wenn sie also diese unterrichten, sollen sie dafür keine Belohnung fordern und sie sollen nichts von ihnen annehmen außer das, was ihnen die Eltern der Kinder freiwillig und aus freundlicher Zuneigung darbringen.“32 Die in den Klöstern ausgebildeten Priester waren also ihrerseits wieder in die Ausbildung junger Menschen eingebunden und damit in doppelter Hinsicht wichtige Akteure bei der Vermittlung der karolingischen Correctio. Einerseits sollten sie dem Volk die christliche Lebensweise nahebringen. Bezeichnenderweise forderte die
30 Koch 2007, 98–102. 31 Vgl. etwa das Gedicht Abt Fardulfs an Karl den Großen: Fardulf, Carmina, ed. Dümmler, 353, Nr. 1 und dazu Scholz 2011, 99–100 sowie das Epitaph für Papst Hadrian I., vgl. Scholz 1997, 376–386. 32 MGH Capit. episc. 1, c. 20, 116: Presbyter per villas et vicos scolas habeant. Et si quilibet fidelium suos parvulos ad discendas litteras eis commendare vult, eos suscipere et docere non rennuant … Cum ergo eos docent, nihil ab eis pretii pro hac re exigant nec aliquid ab eis accipiant excepto, quod eis parentes caritatis studio sua voluntate obtulerint; Übersetzung: S. Scholz.
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Synode von Tours 813, die Predigt habe entweder in der Lingua Romana rustica (Frühromanisch) oder in der „Thiotisca“ zu erfolgen, denn nur so war das Volk wirklich zu erreichen.33 Andererseits dienten die Gemeindepriester der Correctio, indem sie als Lehrer für einen bestimmten Ausbildungsstand der Kinder sorgten. Es ist insofern nicht verwunderlich, wenn sich zahlreiche Kapitularien Karls des Großen mit der Ausbildung und dem Kenntnisstand der Kleriker beschäftigen. Zu wichtig war ihre Stellung innerhalb der Bemühungen um die Correctio, als dass man ihre Ausbildung hätte vernachlässigen können. Zu denken gibt hier allerdings der von Steffen Patzold vorgestellte Befund, dass die Handbücher für den Pfarrklerus zum Teil erhebliche orthographische und grammatikalische Mängel aufweisen, obwohl es doch gute und fehlerlose Bücher sein sollten. Wie dieser Befund zu interpretieren ist und welche Folgerungen er zulässt, werden künftige Forschungen zeigen müssen. Überblickt man die hier skizzierte Entwicklung, dann zeigt sich, dass es bereits in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts innerhalb der Kirche Bestrebungen gab, die Ausbildung des Klerus und der Bischöfe von der antiken Bildungstradition abzukoppeln und sie stärker an dem Idealbild einer weltabgewandten Geistlichkeit und den Anforderungen der geistlichen Ämter auszurichten. Da die Kirche ab dem 6. Jahrhundert verstärkt Ausbildungsaufgaben übernahm, konkurrierte bald ein neues christliches Bildungskonzept mit dem herkömmlichen. Für die Kirche war dabei wichtig, eine gute Grundausbildung zu sichern, da es von höchster Wichtigkeit war, dass gerade die höheren Weihegrade wie Diakone und Priester gut lesen konnten. Denn um den Sinngehalt der Heiligen Schrift zu vermitteln, war es notwendig, diese selbst lesen zu können. Auch mussten die Priester die Anordnungen für die unterschiedlichen Arten der Messen kennen. Zudem war die gesamte Organisation der Kirche auf Schriftlichkeit aufgebaut. Die Kenntnis der kirchenrechtlichen Vorschriften war für die Ausübung des priesterlichen Amtes ebenso wichtig wie die Kenntnis der Bibel und der Gebete, da es darum ging, alle Kleriker auf eine Norm, eine einheitliche Auslegung des Glaubens zu verpflichten. Nur diese durfte dem Volk gepredigt und vermittelt werden. Wer dagegen verstieß, war in der Gefahr zum Häretiker zu werden und die Gemeinschaft mit der Kirche zu verlieren. Die karolingische Renovatio ist somit Ergebnis einer Entwicklung, die bereits im 6. Jahrhundert einsetzte. Durch die Schaffung der Norma rectitudinis und durch das große Interesse des Hofes an einer verbesserten Bildung von Klerus und Laien gab die Renovatio aber wesentliche und neue Impulse. Die Klöster waren von Anfang an in diese Entwicklung eingebunden. So war etwa im Kloster Lérins vom 5. bis zum 7. Jahrhundert die traditionelle antike Bildung mit asketisch-monastischen Vorstellungen verbunden worden. Da dort zahlreiche Geistliche ausgebildet wurden, die im gesamten Frankenreich als Bischöfe wirkten, verbreitete sich so die Bildungstradition Lérins auch im Norden des fränkischen Reiches.34 Unter
33 MGH Conc. 2,1 (Synode von Tours 813), can. 17, 288. 34 Prinz 1988, 47–87.
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Karl dem Großen wurden die Klöster zu wichtigen Trägern der Renovatio. Da ihre Skriptorien für die neuen korrekten, an der römischen Überlieferung ausgerichteten Texte zu sorgen hatten, und ihre Bibliotheken die Verfügbarkeit dieser Texte garantierte, waren sie von entscheidender Bedeutung für eine erfolgreiche Umsetzung der Reformen. Denn von der Qualität der dort hergestellten Texte hing die Gnade Gottes und damit das Wohl der Reiches in doppelter Weise ab: Sie waren sowohl die Voraussetzung für einen sprachlich und liturgisch korrekten Kultvollzug als auch für die adäquate Ausbildung der Geistlichen, denen die Ausübung des Kultes oblag.
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Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Aug. perg. 82, fol. 134v Abb. 2: Rom, BAV, Pal. lat. 285, fol. 59r Abb. 3: Trier, Stadtbibliothek, Hs. 2209/2328 2°, Bd. 2, fol. 1r Abb. 4: Trier, Bibliothek des Bischöflichen Priesterseminars, Hs. 61, fol. 39r Abb. 5: Herrad von Hohenburg, Hortus Deliciarum; aus: Green/Evans 1979, Bd. 2, 57, Abb. 33 Abb. 6: Rom, BAV, Pal. lat. 207, fol. 8v: Augustinus, Tractatus in evangelium Iohannis Abb. 7: München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 8108, fol. 29r: Rhabani Mauri expositionis super epistolam S. Pauli ad Romanos libri V–VIII, aus Fulda, Mitte des 9. Jahrhunderts Abb. 8: München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 14384, fol. 15r: Hrabanus Maurus, In libros Regum, aus St. Emmeram in Regensburg, 3. Viertel des 9. Jahrhunderts Abb. 9: München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 6260, fol. 55v: Hrabanus Maurus, In Genesin, Freising, um 860 Abb. 10: Rom, BAV, Pal. lat. 200, fol. 138v (Ausschnitt der linken Spalte); Lorsch, ca. a. 800 Abb. 11: Rom, BAV, Pal. lat. 1753, fol. 47v (Ausschnitt); Lorsch, saec. VIII ex. Abb. 12: Marburg, Hessisches Staatsarchiv, Kaiserurkunden Hersfeld, 775 VIII 3 (ChLA XII, 535): Litterae elongatae Rados im Diplom aus dem Jahr 775 Abb. 13: Paris, Archives Nationales, K 6, no 1A (ChLA XV, 612): Kontextschrift Rados im Diplom aus dem Jahr 772 Abb. 14: St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 1394, p. 34 Abb. 15: Rom, BAV, Pal. lat. 207, fol. 1v; Lorsch, saec. VIII ex. Abb. 16: Rom, BAV, Pal. lat. 1449, fol. 27v; ante a. 838 Abb. 17: München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 21218, fol. 1r; Handschrift im Lorscher Spätstil (saec. IX ex.) Abb. 18: Augsburg, Universitätsbibliothek, Cod. I.2.4° 1, fol. 2v (Ausschnitt), „Lorscher Sakramentar“ (saec. IX ex.) Abb. 19: St. Gallen, Stiftsarchiv I 23 (ChLA I, 57); a. 761 Abb. 20: Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Aug. perg. 94, fol. 2v; ca. a. 830 Abb. 21: Rom, BAV, Pal. lat. 207, fol. 56r; saec. VIII–IX; Augustinus, Tractatus in evangelium Iohannis Abb. 22: Rom, BAV, Pal. lat. 218, fol. 58v; saec. VIII–IX; Augustinus, In Iohannis epistulam ad Parthos tractatus X Abb. 23: Rom, BAV, Pal. lat. 245, fol. 2r; saec. VIII–IX; Gregorius Magnus, Moralia in Iob Abb. 24: St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 171, p. 139, Ausschnitt www.e-codices.unifr.ch Abb. 25: St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 171, p. 139, Ausschnitt www.e-codices.unifr.ch Abb. 26: St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 171, p. 139, Ausschnitt www.e-codices.unifr.ch Abb. 27: Rom, BAV, Pal. lat. 246, fol. 15r, Ausschnitt Abb. 28: Rom, BAV, Pal. lat. 211, fol. 19r, Ausschnitt Abb. 29: Rom, BAV, Ottob. lat. 259, fol. 1r
Abkürzungsverzeichnis a.
anno
AH
Analecta hymnica medii aevi
BA
Biblioteca Ambrosiana
BAV
Biblioteca Apostolica Vaticana
BI
Bibliothèque interuniversitaire
BL
British Library
BM
Bibliothèque municipale
BnF
Bibliothèque nationale de France
BR
Rijksuniversiteit, Centrale Bibliotheek
BSB
Bayerische Staatsbibliothek
can.
Canon
CCCM
Corpus Christianorum. Continuatio mediaevalis
CCSL
Corpus Christianorum. Series Latina
ChLA
Chartae Latinae Antiquiores
CLA
Codices Latini Antiquiores
Clm
Codex latinus Monacensis
CLRE
Consuls of the Later Roman Empire
CNT
Commentarii Notarum Tironianarum
CSEL
Corpus scriptorum ecclesiasticorum Latinorum
DStiBi
Domstiftsbibliothek
epist.
Epistula
fl.
floruit
fol./foll.
folio/folia
JE
Jaffé/Löwenfeld/Kaltenbrunner/Ewald, Regesta pontificum Romanorum
KFH
Katalog der festländischen Handschriften des neunten Jahrhunderts
MGH
Monumenta Germaniae Historica
Capit.
Capitularia
Capit. episc.
Capitula episcoporum
Conc.
Concilia
DD
Diplomata
SS
Scriptores
SS rer. Germ.
Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum
SS rer. Merov.
Scriptores rerum Merovingicarum
ND
Neudruck
N. F.
Neue Folge
N. S.
Neue Serie
ÖNB
Österreichische Nationalbibliothek
PCBE
Prosopographie chrétienne du Bas-Empire
PLRE
The Prosopography of the Later Roman Empire
Abkürzungsverzeichnis
RBSL
Real Biblioteca de San Lorenzo de El Escorial
RNB
Russische Nationalbibliothek
StiBi
Stiftsbibliothek
ThLL
Thesaurus Linguae Latinae
UB
Universitätsbibliothek
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Autorenverzeichnis Matthias Becher: Geboren 1959, Studium der Geschichte und der Politischen Wissenschaften an der Universität Konstanz, Promotion 1990 in Konstanz, Habilitation 1995 in Paderborn, seit 1998 Professor für Mittelalterliche und Neuere Geschichte an der Universität Bonn; seit 2013 Mitglied der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste. Forschungsgebiete: Geschichte des frühen und hohen Mittelalters, insbesondere politische und Verfassungsgeschichte des Frankenreiches und des werdenden Deutschen Reiches.
Julia Becker: Geboren 1977 in Heidelberg. Studium der Fächer Mittlere und Neuere Geschichte, Alte Geschichte und Soziologie an den Universitäten Passau und Cassino, 1998-2002. Promotion an der Universität Passau, 2005. Von 2006 bis 2010 wissenschaftliche Mitarbeiterin am DHI Rom. Von 2010 bis 2011 Forschungsstipendiatin der „Max Weber Stiftung – Deutsche Geisteswissenschaftliche Institute im Ausland“. Seit Juli 2011 wissenschaftliche Mitarbeiterin im SFB 933 „Materiale Textkulturen“ an der Universität Heidelberg, Teilprojekt A04. Forschungsschwerpunkte: normannische Herrschaftsbildung in Süditalien im Hochmittelalter, lateinische und griechische Diplomatik und Paläographie.
Carmen Cardelle de Hartmann: Carmen Cardelle de Hartmann studierte Klassische Philologie in Santiago de Compostela, promovierte in Saarbrücken und habilitierte sich in München mit einer Schrift über Dialogliteratur (Lateinische Dialoge 12001400. Literaturhistorische Studie und Repertorium) für das Fach Lateinische Literatur der Antike und des Mittelalters. Sie war Akademische Rätin an der Universität Heidelberg und hat seit 2008 den Lehrstuhl für Lateinische Philologie des Mittelalters und der Neuzeit sowie Historische Hilfswissenschaften an der Universität Zürich inne. Sie arbeitet unter anderem über antijüdische Polemik, Klassikerrezeption und literarische Parodie.
Ulrich Eigler: Geboren 1959. Studium der Fächer Geschichte, Latein, Griechisch und Mittellatein an den Universitäten Freiburg, Kiel, Wien, Pittsburgh und Rom. Seit 2005 Professor für Klassische Philologie (Latinistik) an der Universität Zürich. Promotion an der Universität Freiburg/Brsg., 1986, Habilitation Universität Bamberg, 1994. Von 1995 bis 1998 Professor für Klassische Philologie an der Universität Freiburg/Brsg., von 1998 bis 2005 Professor für Klassische Philologie an der Universität Trier. Forschungsschwerpunkte: Literatur der augusteischen Epoche, der frühen Kaiserzeit und der Spätantike, Antikenrezeption insbesondere in der modernen Literatur und
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im Film, Überlieferung der antiken Literatur und ihre medialen Bedingungen, Antike Sklaverei in antiker und moderner Literatur und Kunst.
Michael Embach: Prof. Dr. Michael Embach ist Leiter der Stadtbibliothek und des Stadtarchivs Trier. Nach einem Studium der Katholischen Theologie und der Germanistik in Trier und Freiburg i. Br. folgten die Promotion und die Habilitation in den Fächern „Neuere Deutsche Literatur“ und „Ältere deutsche Philologie“. Die wissenschaftlichen Publikationen des Verfassers betreffen in erster Linie das Werk Hildegards von Bingen, die deutsche und lateinische Literatur des ehemaligen Erzbistums und Kurfürstentums Trier sowie die Buch- und Bibliotheksgeschichte des Mittelalters.
Florian Hartmann: Florian Hartmann studierte Geschichte, Latein und Erziehungswissenschaften in Berlin und Bonn. Nach der Promotion 2005 in Bonn mit einer Arbeit über Papst Hadrian I. (772–795) war er drei Jahre Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut in Rom. Mit seiner in Rom verfassten Studie zur Ars dictaminis (11.–13. Jh.) wurde er 2012 habilitiert. Es folgten Lehrstuhlvertretungen in Chemnitz und Aachen.
Wilfried Hartmann: Geboren 1942, lehrte bis zu seiner Emeritierung 2007 an der Universität Tübingen. Seit 1993 ordentliches Mitglied der Zentraldirektion der Monumenta Germaniae Historica in München. Wichtige Veröffentlichungen zur Karolingerzeit: Edition: Die Konzilien der karolingischen Teilreiche 843-911 (3 Bände, MGH Concilia 3-5, Hannover 1984, 1998, 2012). Monographien: Ludwig der Deutsche (Darmstadt 2002), Kirche und Kirchenrecht um 900 (Schriften der MGH 58, Hannover 2008), Karl der Große (Stuttgart 2010).
Martin Hellmann: Martin Hellmann wurde 1969 in Landau in der Pfalz geboren. Er studierte in Heidelberg Mathematik und Physik, sowie Lateinische Philologie des Mittelalters und der Neuzeit. Bei Walter Berschin promovierte er über „Tironische Noten in der Karolingerzeit“. Zur Zeit unterrichtet er am Dietrich-Bonhoeffer-Gymnasium in Wertheim. Die Schwerpunkte seiner wissenschaftlichen Tätigkeit liegen im Bereich der Textedition.
Tino Licht: PD Dr. Tino Licht war nach Studium der Geschichte, Germanistik und des Mittel- und Neulatein bis 2008 Assistent am Mittellateinischen Seminar in Heidelberg. (2004 Promotion mit „Untersuchungen zum biographischen Werk Sigeberts von Gembloux“). Im Jahr 2008 bekleidete er eine Studiendozentur für „Abendländische Litera-
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tur- und Kulturgeschichte“ am Germanistischen Seminar und übernahm im Wintersemester 2008/09 die Leitung der Abteilung Mittellatein am Historischen Seminar. Seit 2006 ist er auch Dozent für Paläographie und Mittellatein beim SCRIPTO-Programm der Universität Erlangen. 2013 erfolgte die Habilitation (Venia legendi: Historische Grundwissenschaften und Mittellatein). Sein Forschungsschwerpunkt ist die lateinische Kultur des Früh- und Hochmittelalters.
Natalie Maag: Natalie Maag studierte Lateinische Philologie des Mittelalters und der Neuzeit und Germanistik an der Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg und an der Università degli Studi „Tor Vergata“ in Rom. Seit August 2011 ist sie Akademische Mitarbeiterin im Teilprojekt A04 des Sonderforschungsbereiches 933 ‚Materiale Textkulturen‘ in Heidelberg. Im Februar 2013 wurde sie mit einer Arbeit zur frühen Schriftkultur im Bodenseeraum und Voralpenland promoviert.
Stefan Morent: Prof. Dr. Stefan Morent studierte Musikwissenschaft und Informatik an der Universität Tübingen (dort Promotion 1995 und Habilitation 2004) sowie Blockflöte und Historische Aufführungspraxis in Trossingen und Musik des Mittelalters bei Andrea von Ramm und Sterling Jones. Er lehrte in Trossingen, Hamburg, Wien, Mannheim, Köln und Berkeley und nahm Professurvertretungen in Heidelberg, Saarbrücken und Detmold wahr. Umfangreiche Konzerttätigkeit mit seinem Ensemble „Ordo virtutum“ für Musik des Mittelalters. Forschungsinteressen: Musik des Mittelalters (Aufführungspraxis und Rezeption), Musikgeschichte im deutschen Südwesten, Musik im 19. Jahrhundert in Frankreich, Digital Musicology.
Steffen Patzold: Steffen Patzold hat Geschichte, Kunstgeschichte und Journalistik in Hamburg studiert und lehrt mittelalterliche Geschichte und historische Hilfswissenschaften an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen im Früh- und Hochmittelalter. Er hat zur mediävistischen Konfliktforschung, zur Kirchengeschichte, zu Wahrnehmungs- und Deutungsmustern und zum Lehnswesen publiziert. Zur Zeit arbeitet er gemeinsam mit Kollegen an einer Neuedition der Kapitularien der Karolingerzeit.
Sebastian Scholz: Geboren 1962 in Münster/Westfalen, Studium der Geschichte und der lateinischen Philologie in Münster und Köln, 1991 Promotion, von 1990 bis 2007 wissenschaftlicher Angestellter der Inschriften-Kommission der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz, 2003 Habilitation in Mainz, 2007 Berufung auf einen Lehrstuhl für Allgemeine Geschichte des Mittelalters/Schwerpunkt Frühmittelalter an der Universität Zürich.
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Sita Steckel: Sita Steckel studierte Mittlere Geschichte, Neue Geschichte und Englische Sprachwissenschaft an der LMU München. Sie promovierte dort 2006. Die Dissertation erschien als Kulturen des Lehrens im Früh- und Hochmittelalter Autorität, Wissenskonzepten und Netzwerken von Gelehrten. Nach Tätigkeit an der WWU Münster und Harvard University ist sie seit 2012 Juniorprofessorin für die Geschichte des Hoch- und Spätmittelalters an der WWU Münster und Dilthey Fellow der Volkswagen Stiftung.
Kirsten Wallenwein, geb. Tobler: Geboren 1983 in Zug (Schweiz). Studium der Fächer Geschichte, Mathematik und Historische Grundwissenschaften an den Universitäten Heidelberg und Paris, ab 2008 auch der Lateinischen Philologie des Mittelalters und der Neuzeit sowie der Romanistik. Seit August 2012 wissenschaftliche Mitarbeiterin im SFB 933 „Materiale Textkulturen“ an der Universität Heidelberg, Teilprojekt A04 (Zusatzprojekt). Promotion 2014 in Heidelberg bei Walter Berschin mit einer Arbeit über „Corpus subscriptionum. Verzeichnis der Beglaubigungen von spätantiken und frühmittelalterlichen korrigierten Textabschriften“.
Stefan Weinfurter: Geboren 1945 in Prachatitz und aufgewachsen in München, lehrt seit 1999 als Ordinarius an der Universität Heidelberg Mittelalterliche Geschichte und ist dort auch Direktor der Forschungsstelle für Geschichte und Kulturelles Erbe sowie Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Unter anderem leitet er im Heidelberger Sonderforschungsbereich 933 ein Projekt zum Wissenstransfer in der Epoche Karls des Großen. Zu seinen erfolgreichen Veröffentlichungen zählen u. a. „Das Reich im Mittelalter“ und „Canossa. Entzauberung der Welt“.
Handschriftenregister Albi, Bibliothèque municipale –, Ms. 38 bis 249 –, Ms. 43 243, 249 Amiens, Bibliothèque municipale –, Ms. 11 146 –, Ms. 88 81 Amorbach, Fürstlich Leiningensches Archiv, Schublade 1, Fragment 23 138 Augsburg, Universitätsbibliothek, Cod. I.2.4° 1 159 Bamberg, Staatsbibliothek –, Can. 2 218 –, Class. 39 (M. V. 16) 26 –, Msc. Bibl. 37 18 –, Msc. Bibl. 93 8 –, Msc. Patr. 86 154 Basel, Universitätsbibliothek, F III 15e 249 Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz –, Phill. 1790 244 –, Theol. lat. fol. 58 140 –, Theol. lat. fol. 354 147, 281 –, Theol. lat. quart. 150 (z.Zt. in Krakau) 182 –, Hamilton 132 216 Bern, Burgerbibliothek –, Cod. 109 175 –, Cod. 289 249 –, Cod. 363 84 –, Cod. 611 175 Brüssel, Bibliothèque Royale de Belgique –, Ms. 9565–9566 26 –, Ms. 9776–9778 25 Bukarest, Biblioteca Naţională României, Ms R II 1 145 Cambrai, Bibliothèque municipale –, Ms. 204 221 –, Ms. 300 32 Chartres, Bibliothèque municipale, Ms. 47 137 Cologny, Fondation Martin Bodmer, Cod. 88 25 Den Haag, Museum Meermanno– Westreenianum, 10 D 10 221 Düsseldorf, Universitätsbibliothek, E.2
218 Einsiedeln, Stiftsbibliothek –, Cod. 168 154 –, Cod. 121 137 –, Cod. 182 154 Épinal, Bibliothèque municipale, Ms. 149 (68) 34 Florenz, Biblioteca Medicea Laurenziana, Ashburnham 82 218 Frankfurt, Universitätsbibliothek, Ms. Barth. 64 218 Freiburg, Universitätsbibliothek, Ms. 8 218 Fulda, Hochschul– und Landesbibliothek, Bonifatianus I 24 Gent, Rijksuniversiteit, Centrale Bibliotheek, Ms. 506 239f., 249 Gotha [/Erfurt], Universitäts– und Forschungsbibliothek, Chart. B 61 25 Hamburg, Staats– und Universitätsbibliothek –, Cod. 53b in scrin. 25 –, Cod. 141a in scrin. 218 Heidelberg, Universitätsbibliothek –, Pal. lat. 864 132, 141, 169 –, Pal. lat. 894 145, 157 Karlsruhe, Badische Landesbibliothek –, Aug. perg. 18 213, 221 –, Aug. perg. 19 222 –, Aug. perg. 73 26f. –, Aug. perg. 82 28f. –, Aug. perg. 94 167 –, Aug. perg. 103 218 –, Aug. perg. 105 19, 141 –, Aug. perg. 187 80, 169 –, Aug. perg. 194 180 Kiel, Universitätsbibliothek, Cod. ms. KB 144 176, 188 Köln, Erzbischöfliche Diözesan– und Dombibliothek –, Cod. 115 218 –, Cod. 116 218 –, Cod. 117 218 –, Cod. 118 223 Laon, Bibliothèque municipale –, Ms. 239 137 –, Ms. 288 242f., 246f., 249 Leiden, Universiteitsbibliotheek
300
Handschriftenregister
–, B.P.L. 28 25 –, B.P.L. 36 26 –, B.P.L. 87 26 –, Voss. lat. O 16 184 London, British Library –, Addit. 19725 249 –, Egerton 2831 33 –, Harley 2685 26 London, Victoria and Albert Museum, Inv.–Nr. 138–1866 145 Lyon, Bibliothèque municipale, Ms. 466 182 Madrid, Real Biblioteca de San Lorenzo de El Escorial, L. III. 8 243, 249 Mailand, Biblioteca Ambrosiana –, Cimelio 1 28 –, L 28 sup. 249 Marburg, Hessisches Staatsarchiv, Kaiserurkunden Hersfeld, 775 VIII 3 152 Merseburg, Domstiftsbibliothek, Cod. 136 249 Montecassino, Archivio e Biblioteca dell’Abbazia, 19 32 Montpellier, Bibliothèque interuniversitaire, Méd. 387 249 Monza, Museo del Duomo, Inv. Nr. 88 133 München, Bayerische Staatsbibliothek –, Clm 3851 223 –, Clm 5508 182 –, Clm 5541 223 –, Clm 6260 91, 120-122 –, Clm 6261 91, 122 –, Clm 6262 91, 122 –, Clm 6242 218 –, Clm 6245 219, 221 –, Clm 6298 222 –, Clm 6324 249 –, Clm 6325 250 –, Clm 6355 218 –, Clm 8108 90f. –, Clm 14008 218 –, Clm 14384 91, 108f. –, Clm 14410 250 –, Clm 14461 250 –, Clm 14468 222 –, Clm 14492 221 –, Clm 14508 250 –, Clm 14517 218 –, Clm 14540 217
–, Clm 14729 26 –, Clm 14776 217 –, Clm 18524b 217 –, Clm 19416 222 –, Clm 21218 157f. –, Clm 27246 219 New York, Columbia University Library, G.A. Plimpton Coll. Ms. 59 159 Novara, Biblioteca Capitolare, LXXI 215, 219 Orléans, Bibiothèque municipale –, Ms. 116 250 –, Ms. 191 (168) 26 Oxford, Bodleian Library –, Ms. Hatton 48 55 –, Ms. Laud. Lat. 118 140 –, Ms. Laud. misc. 126 32 –, Ms. Laud. misc. 276 141 –, Ms. Laud. misc. 436 217 Oxford, Queen‘s College, Ms. 202 25 Paris, Archives Nationales, K 6, n° 1A 152 Paris, Bibliothèque Nationale de France –, Lat. 1008 243, 246, 250 –, Lat. 1012 239, 242f., 248, 250 –, Lat. 1154 140 –, Lat. 1248 250 –, Lat. 1572 182 –, Lat. 2291 140 –, Lat. 3851 216 –, Lat. 5516 219 –, Lat. 7900A 25 –, Lat. 7972 25 –, Lat. 8216 25 –, Lat. 8508 239 –, Lat. 8670 26 –, Lat. 10741 250 –, Lat. 11611 30 –, Lat. 12161 33 –, Lat. 12226 81-83 –, Lat. 13440 242f. –, Nouv. acq. lat. 1203 146 –, Nouv. acq. lat. 1595 175 –, Nouv. acq. lat. 1597 33 Rom, Biblioteca Apostolica Vaticana –, Barb. lat. 130 26 –, Ottob. lat. 259 184, 186, 191 –, Pal. lat. 46 23
Handschriftenregister –, Pal. lat. 50 –, Pal. lat. 170 –, Pal. lat. 175 –, Pal. lat. 183 –, Pal. lat. 195 –, Pal. lat. 200 –, Pal. lat. 202 –, Pal. lat. 207 –, Pal. lat. 211 –, Pal. lat. 218 –, Pal. lat. 220 –, Pal. lat. 235 –, Pal. lat. 238 –, Pal. lat. 241 –, Pal. lat. 245 –, Pal. lat. 246 –, Pal. lat. 249 –, Pal. lat. 253 –, Pal. lat. 260 –, Pal. lat. 261 –, Pal. lat. 281 –, Pal. lat. 285 –, Pal. lat. 293 –, Pal. lat. 485 –, Pal. lat. 487 –, Pal. lat. 560 –, Pal. lat. 575 –, Pal. lat. 578 –, Pal. lat. 579 –, Pal. lat. 814 –, Pal. lat. 822 –, Pal. lat. 829 –, Pal. lat. 833 –, Pal. lat. 1341 –, Pal. lat. 1344 –, Pal. lat. 1449 –, Pal. lat. 1579 –, Pal. lat. 1581 –, Pal. lat. 1746 –, Pal. lat. 1753 –, Pal. lat. 1877 –, Reg. lat. 118 –, Reg. lat. 423 –, Reg. lat. 1535 –, Reg. lat. 1987
133, 145 169 133, 154 80 169 18, 148-150, 160 31f., 80 75, 78f., 154f., 166-169, 171 82, 181f., 190 167, 169f. 142 138, 141 148, 169 136 170-172 180f., 189 181, 189 221 222 222 135 33f. 90 139, 227f., 241, 248, 250 79, 168f. 169 215 218 217 28, 169 30, 75, 79, 150, 160, 169 19 141, 263 136f. 137 154, 156 18 140 137, 169 75, 79, 149, 151, 160, 168f. 26, 75, 77, 82f., 133 183 217 26 26
–, Vat. lat. 1146 –, Vat. lat. 1341 –, Vat. lat. 3827 –, Vat. lat. 5757 –, Vat. lat. 5758 –, Vat. lat. 7222
301
222 216 219 179 179, 284 218
St. Gallen, Kantonsbibliothek, VadSlg 312 25 St. Gallen, Stiftsarchiv –, Bremen 2 163 –, I 23 165 St. Gallen, Stiftsbibliothek –, Cod. 40 243, 250 –, Cod. 70 164 –, Cod. 165 80 –, Cod. 171 177f., 188 –, Cod. 176 217 –, Cod. 210 170 –, Cod. 225 164 –, Cod. 238 164 –, Cod. 243 213, 221 –, Cod. 267 60 –, Cod. 278 216 –, Cod. 296 211 –, Cod. 359 137 –, Cod. 381 136 –, Cod. 390/391 137 –, Cod. 446 222f. –, Cod. 626 28 –, Cod. 677 217 –, Cod. 727 218 –, Cod. 728 60 –, Cod. 731 34 –, Cod. 733 222 –, Cod. 899 217 –, Cod. 907 164 –, Cod. 1394 153 St. Petersburg, Publichnaja Biblioteka –, F.V.I.6 147 –, Q.V.I.34 249 Sélestat, Bibliothèque municipale –, Ms. 14 (104) 218 –, Ms. 132 241, 250 Trier, Bibliothek des Bischöflichen Priesterseminars, Hs. 61 63f. Trier, Stadtbibliothek/Stadtarchiv –, Hs. 22 59 –, Hs. 2209/2328 2° 57f.
302
Handschriftenregister
–, Hs. 1093/1694 gr. 2° 62 Turin, Biblioteca nazionale universitaria, I.VI.2 25 Wien, Österreichische Nationalbibliothek –, Cod. 751 215 –, Cod. 795 217 –, Cod. 914 222 –, Cod. 1043 136, 138, 142 –, Cod. 1118 244 –, Cod. 1370 242, 250 –, Cod. 2147 32
–, Cod. 2232 222 Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek –, Cod. 496a Helmst. 133 –, Cod. 842 Helmst. 217 –, Weiss. 3 218 –, Weiss. 91 31, 243 Würzburg, Universitätsbibliothek –, M. p. th. f. 28 222 –, M. p. th. f. 72 218 Zürich, Zentralbibliothek, Ms. Car. C 131 7f.
Personenregister
303
Personenregister Adalung, Abt von Lorsch 18, 74, 148, 151, 15422, 263 Adalhard von Corbie 83, 8379, 146, 201, 203f., 262f., 267f., 270 Adelheid 285 Adelperga 261 Adeodatus II., Papst 3448 Aeneas 19, 40 Aelberht von York 4111 Aethelwolds von Winchester 55 Agobard von Lyon 212f., 231f., 234, 23541 Agyricus 34, 3448 Albani, Alessandro 132 Alberich von Reims 120 Aldhelm 120 Alkuin von York 1120, 16-18, 1738, 4111, 13, 4218, 59, 74-76, 7642, 84, 8486, 89f., 93, 106, 10661, 116-120, 118103, 119107, 120111, 122, 141, 14810, 15423, 182, 200, 217, 257, 261, 263f., 266, 26662, 26770, 268, 26874f., 28019, 284 Allacci, Leone 131 Amalarius von Metz/Trier 59,216 Ambrosius von Mailand 7, 12, 41, 59, 76, 89, 90², 10035, 101, 117-119, 11899, 119105 Ambrosius Autpertus 120 Angelomus von Luxueil 102-104, 10349, 110, 112, 11281 Angilbert von St. Riquier 3, 200, 262f., 265-268, 26661, 26874, 270 Angilram von Metz 152, 266, 26661 Ansa 260 Ansegis von Fontenelle 60, 218 Anselm von Laon 120 Arator 41, 61, 77 Arianus Candidus 76 Arichis von Benevent 260, 26030, 35, 270 Aris, Marc-Aeilko 107 Aristoteles 61 Athanasius von Alexandrien 55, 59 Audoald 256 Augustinus von Hippo 912, 13f., 1431, 16-18, 31f., 41, 44, 4527, 46, 4630, 59, 76-83, 7642, 8273, 89, 90², 95, 9518, 100, 10035, 104, 107, 110, 112-114, 117-119, 11899, 119105, 122,
142, 148, 150, 154, 157, 167f., 175-177, 179, 181, 184, 216, 24382, 275, 282, 284, 290 Aurelius von Karthago 31f. Avian 61 Avitus von Vienne 41, 76f. Baugulf von Fulda 71 Basilius, Anicius Faustus Albinus 24-26, 244 Basilius, Caecina Decius Maximus 25 Becher, Matthias 283 Becker, Julia 27918, 281, 28427 Beda Venerabilis 33, 59f., 76, 81, 84, 903, 93, 99-102, 10036, 10138, 10241, 105, 10558, 10661, 107, 115-118, 11592, 11695, 11899, 103, 120, 122, 122113, 220, 222, 258 Belting, Hans 260 Benedikt von Aniane 55, 1965, 201, 203f. Benedikt von Nursia 54-56, 66f., 135, 198, 200, 204 Benedict Biscop 258 Benedictus Levita 214 Bern von Reichenau 137 Bernhard 83 Bernhard von Clairvaux 120 Bernhard von Vienne 231 Bernt, Günter 26874 Berschin, Walter 89, 1465, 170 Bertfrid 24270 Bertha 200 Bischoff, Bernhard 1016, 1120, 26-28, 3346, 77, 80f., 8273, 132, 145f., 148f., 154, 157, 15724, 160, 164, 166-168, 171, 172, 176, 182-184, 18218, 244, 24489, 263f., 269 Boethius 60f., 135-138, 140 Bonifatius 7215, 11695, 198 Bretzigheimer, Gerlinde 40, 45, 4527, 29 Brommer, Peter 23746 Bruckner, Albert 163, 179 Burchard von Würzburg 199 Cagnat, René 264 Caedwalla 261 Caesarius von Arles 15f., 26, 29, 71, 220, 222, 276 Cameron, Alan 25
304
Personenregister
Cancor 73 Cantelli Berarducci, Silvia 92f., 104, 10558, 107, 109, 113, 11489, 116 Cardelle de Hartmann, Carmen 282 Cassian 112 Cassiodor 11f., 16, 41, 72, 76, 78, 95, 10558, 107 Cathwulf 200 Chaidocus 265 Chance, Jane 40, 405 Châtelain, Émile 176 Childerich II. 34 Childerich III. 34 Chlothar 278 Christina von Schweden 184 Chrodegang von Metz 73f., 7427, 132, 134 Cicero 8, 11f., 1431, 16f., 405, 4111, 48, 4839, 76, 98, 276, 279 Claudius von Turin 100-102, 10037, 104, 107 Cresconius 216f. Curtius, Ernst Robert 92 Cyprian von Karthago 12, 41f., 89, 90², 183 Cyprian von Toulon 28-30, 3029 Cyprianus Gallus 76f. Daniel, Pierre 184 David 3 De Jong, Mayke 93, 106 De Rossi, Johannes Baptista 263f., 26346 Desiderius 260f., 26030 Desiderius von Cahors 278 Desiderius von Vienne 276 Deuterius 27 Dido von Poitiers 279 Didymus Alexandrinus 7 Dionysius Exiguus 212 Donadeus 148-150, 160 Donatus, Aelius 41, 4113, 4217 Dracontius, Blossius Aemilius 4214 Drotculf von Ravenna 261 Dümmler, Ernst 40, 4425, 4630, 266 Ebo von Reims 213f. Egbert von Trier 55, 57 Eggihard 267, 269 Eigler, Ulrich 275, 279 Einhard 1737, 76, 233,
26770, 268 Embach, Michael 284 Epiphanius 75 Eugippius 216f. Eusebius von Cäsarea 30, 75, 81, 89, 90², 119 Everett, Nick 255f., 263f., 26981 Ewig, Eugen 206 Fardulf von Saint-Denis 261, 28631 Favreau, Robert 265 Felten, Franz 195, 197 Ferreolus 13 Fichtenau, Heinrich 263 Flavius Josephus 28, 75, 81 Fleckenstein, Josef 7215 Florus von Lyon 119 Fortunatianus 89, 90² Fortunatus 41 Frechulf von Lisieux 76, 106 Fredegar 132, 141 Freeman, Ann 42 Friedrich von Salzburg 21728 Friedrich V. von der Pfalz 132 Fürbeth, Frank 53 Fulgentius Mythographus 44, 4424, 4529 Fulgentius Planciades 1841 Fulgentius von Ruspe 4424, 89, 90² Fulrad von Saint-Denis 199 Ganshof, François Louis 202 Gasnault, Pierre 3448 Gautbert 120 Gennadius 119 Gerbert von Aurillac 61 Gerward 83 Ghaerbald von Lüttich 227, 23432, 23746 Godesscalc 146, 1476, 148 Gorman, Michael 99, 101f., 104 Gottschalk von Orbais 119107 Gregor der Große, Papst 1533, 31, 41, 55, 57, 59, 76, 8165, 89, 90², 97, 10035, 11281, 117-120, 11899f., 119105, 122, 135, 170f., 180, 214, 220, 222, 267, 276, 280, 290 Gregor II., Papst 215 Gregor IX., Papst 131 Gregor XV., Papst 131f. Gregor von Nazianz 89, 90², 141 Gregor von Tours 75, 81, 132, 141, 2779 Grimalt von St. Gallen 170, 177, 211
Personenregister Gundeland, Abt von Lorsch 134, 195 Hadrian 120 Hadrian I., Papst 212, 259, 266, 268, 28631 Hadrian II., Papst 238 Hadoard von Corbie 17 Häse, Angelika 88, 26, 75, 184 Haimerad 24270 Haimo von Auxerre 59, 120 Haistulf von Mainz 89, 891 Haito von Basel 220, 223 Halitgar von Cambrai 235, 23537, 239, 247 Hartmann, Florian 286 Hartmann, Wilfried 239, 285 Hegesippus 75, 81 Heinzer, Felix 85, 8589 Hellmann, Martin 8267, 73, 284 Herrad von Hohenburg 65f., 290 Heilrad 133 Heimerich 195 Heiric von Auxerre 157 Helena 98 Hieronymus 7-9, 75, 911f., 12f., 12 16f., 19, 30, 41, 59, 72 , 76f., 7642, 80, 89, 90², 100, 10035f., 117-119, 11899, 119105, 122, 141, 15423, 166, 182, 24382 Hilarius von Poitiers 76, 89, 90² Hildegard, Gemahlin Karls des Großen 146, 261, 285 Hildegard, Tochter Karls des Großen 285 Hildegard von Bingen 55 Hilduin von Saint-Denis 106, 11072, 115 Hilgert, Markus 4f. Hinkmar von Reims 119, 2113, 214, 70 234f., 238, 242 Hoffmann, Hartmut 57, 132 Horaz 8, 13f., 1431, 16, 25, 258, 405, 4633, 61, 83f., 8481, 275, 279 Hosia 75 Hrabanus Maurus 11f., 59f., 74, 89-99, 891, 927-9, 9312f., 9725f., 102-122, 10458, 10661, 11385, 11489, 11796, 118103, 119105, 120111, 122113, 266, 26770, 283f., 290 Hucbald von St. Amand 137 Hugo von Rouen 197 Hungaer 164 Iacob 3446 Iesse von Amiens 15423
305
Ildefons von Arx 153 Irenäus von Lyon 30f. Isidor von Sevilla 12, 405, 41, 45-47, 4630f., 33, 35, 59f., 76, 95, 101, 107, 119, 122, 134-136, 143, 184, 242 Jahn, Otto 25 Johann t‘Serclaes Graf von Tilly 131 Johannes der Täufer 112, 141 Johannes Chrysostomus 41, 59, 89, 90², 118, 11899 Johannes Cochlaeus 21628 Johannes Diaconus 135 Johannes Trithemius 54, 544, 66 Jonas von Orléans 232 Jonathan 23 Julian von Toledo 169 Justinian I. 54 Justinus 4111 Juvenal 61 Juvencus 41, 60 Kaczynski, Bernice 115 Karl der Dicke 140 Karl der Große 3-5, 16f., 55, 5918, 71-74, 7215, 7432, 79, 93, 110, 116, 131, 133-135, 146, 170, 187, 195, 198, 200-203, 206, 212, 217, 237, 241, 245, 248, 256-262, 25928, 267f., 280f., 28019, 284-288, 28631 Karl der Kahle 204 Karlmann 198-201, 259 Karl Martell 83, 197-199 Kautz, Michael 184, 2271 Keefe, Susan 241f., 244, 248 Kéry, Lotte 202, 206 Klaes, Falco 62 Kloos, Rudolf 255 Klopsch, Paul 43f. Köhler, Wilhelm 157 Kottje, Raymund 927 Kurze, Dietrich 237 Kwakkel, Erik 9414 Lambert von Saint Omer 60 Le Blant, Edmond 264 Lehmann, Paul 92 Lendinara, Patrizia 43 Leo I., Papst 4217, 84, 89, 90², 214 Leobard 2779 Leodegars von Autun 279
306
Personenregister
Leonardi, Claudio 26 Leutchar von Corbie 147f., 1478, 281 Licht, Tino 2723, 84, 16615, 24693, 262, 281 Lindsay, Wallace M. 2719, 80 Liutprand 255-257, 260 Livius 1431, 19, 145³, 157 Livulf 238 Lothar I. 11072, 11488, 119, 205, 238, 267 Ludwig der Deutsche 140, 170, 205 Ludwig der Fromme 83, 140, 1965, 203-206, 213, 230, 245, 259 Lukan 405, 46, 61 Lukas 59, 99-101, 10035f., 118 Lul von Mainz 195 Lupus von Ferriéres 110, 11074, 112, 268 Maag, Natalie 282 Mabillon, Jean 40, 163 Macrobius, Ambrosius Theodosius 44, 4527, 136 Maffei, Scipione 163 Martianus Capella 24, 26, 9415, 112, 140 Martin von Braga 220f. Martin von Tours 198 Matthäus 89, 90², 97, 99, 105, 11796 Maurdramnus von Corbie 8165, 146, 1476 Maximilian I. von Bayern 131f. Meier-Staubach, Christel 89 Meyer, Carla 89 Mitchell, John 256 Monfrin, Jacques 26560 Mordek, Hubert 239 Morent, Stefan 285 Morin, Germain 29 Munk Olsen, Birger 43 Napoleon Bonaparte 132 Nazarius 132, 141f., 171 Neff, Karl 269 Nees, Lawrence 40, 404 Nikolaus I., Papst 215 Notker Balbulus 135f., 141 Origenes 13, 1840, 76, 113f. Oresius 276 Orosius 912, 19, 75, 81, 89, 90², 122
Ottericus 235 Ottheinrich von der Pfalz 131 Ottoboni, Pietro 184 Ovid 39, 41, 43-45, 4425, 4633, 266, 282 Paschalis I., Papst 264 Paschasius Radbertus 97-99, 9728, 102, 112, 117, 213, 257 Patzold, Steffen 286f. Paulinus 24, 26f. Paulinus von Aquileia 187, 18724, 191, 261 Paulinus von Nola 41, 4112, 138 Paulinus von Pella 4112 Paulinus von Périgueux 4112 Paulus 94f., 11074, 111, 113, 177, 179, 240 Paulus Diaconus 257, 260-262, 267f., 285 Paxton, Frederick 227f. Pelagius 114 Persius 61 Petavius, Alexander 184 Petavius, Paulus 184 Petrus von Pisa 257, 261, 268 Petrus Chrysologus 76 Phaedrus 20 Pippin der Jüngere 74, 134, 13416, 18, 198-201, 206, 262, 281 Pippin der Mittlere 197, 206 Plektrud 197 Plinius 4111, 122 Pokorny, Rudolf 220, 23746, 241 Pompeius Grammaticus 41, 4113, 4217 Pompeius Trogo 4111, 13 Pomponius Porphyrio 83f., 8481 Pontius Pilatus 247 Possidius von Calama 175f., 188 Préaux, Jean 2615 Priscian 61 Prudentius 13f., 1431, 41f., 275 Raaijmakers, Janneke 89 Rado 74, 7432f., 79, 55 16 79 , 149-152, 149 , 160, 284, 290 Radulf von Bourges 235 Raginfrid von Rouen 198 Ratchis 260 Reginbert von der Reichenau 15423, 165-167, 169
Personenregister Renswoude, Irene van 89, 9415 Rhijn, Carine van 230f., 249101 Richbod, Abt von Lorsch 18, 74, 7429, 84, 148, 150, 263 Richulf von Mainz 24168 Rothad von Soissons 214 Rothaid 285 Rufinus von Aquileia 13, 1840, 30 Rusticus Diaconus 3031 Sallust 1431 Samuel, Abt von Lorsch 18, 74, 205 Schaller, Dieter 40 Scherrer, Gustav 217 Schieffer, Rudolf 257f. Schmuki, Karl 169 Schwitter, Raphael 27813 Securus Melior Felix 24, 258, 26f., 2615 Sedulius 60 Sedulius Scottus 83f., 102 Semmler, Josef 196, 201, 206 Seneca 76 Servius Honoratius, Maurus 44f., 4426, 4529, 4630f., 48f., 60, 84 Severus von Malaga 76f. Seznec, Jean 40 Shanzer, Danuta 25 Sidonius Appollinaris 9, 13-18, 275f., 278f. Silvester II., Papst → Gerbert von Aurillac Sirmond, Jacques 40 Smaragd von St. Mihiel 59, 9933, 10036, 102, 10244, 120 Statius, Publius Papinius 61 Staubach, Nikolaus 40, 45 Steckel, Sita 283 Steinová, Evina 89, 9415 Stephan 28-30 Stephan II., Papst 134, 13418 Strecker, Karl 26353, 26455 Stutz, Ulrich 229, 22913, 15, 48 231, 235, 237 , 238, 249 Tatto 8059, 169 Teeuwen, Mariken 89, 9415, 112, 11383 Terenz 75, 8, 10, 13, 16, 19, 61, 279 Tertullian 76 Thegan von Trier 169, 204
307
Theodor 120 Theodulf von Orléans 12, 1226, 39-49, 405, 4113, 4214, 4426, 4631, 220, 223, 227, 232, 236, 239, 248, 257, 282-286 Theutmirus von Psalmodi 101 Thomas von Aquin 119 Tilly → Johann t‘Serclaes Timotheus 240 Tischler, Matthias 184 Treffort, Cécile 264f. Trisingus 238 Tuotilo von St. Gallen 142 Ulrich von Augsburg 141f. Uodalrich, Abt von Lorsch 13733 Urban VIII., Papst 131 Valerian von Cimiez 184 Varro 13f., 1431, 17f., 22 33 44, 44 , 46 , 275 Venantius Fortunatus 4217, 43 Vergil 8, 12, 1431, 16f., 19, 39, 41, 43-45, 4425, 49, 61, 84, 276, 279, 282 Vettius Agorius Basilius Mavortius 258 Vezin, Jean 3448 Victor von Capua 24f., 243f. Victorinus von Pettau 89, 90² Wala von Corbie 204 Walahfrid Strabo 134, 169, 205, 220, 222, 26874 Wallenwein, Kirsten 282 Waltcaud von Lüttich 227, 24168 Wandalgar 34, 3449f. Wattenbach, Wilhelm 30 West, Charles 23957 Wibald von Stablo 119f. Widerad von Flavigny 197 Wilhelm von Champeaux 120 Willibrord 197 Williswinth 73 Winithar 163-165, 1647 Zacharias, Papst 7215 Zechiel-Eckes, Klaus 9313, 213, 216, 285 Zeuxis von Croton 98 Zimpel, Detlef 92, 9517, 103f., 107 Zur Nieden, Andrea 61