Karl Jaspers und Plotin: Eine Untersuchung zu den Quellen von Jaspers’ Metaphysik der Transzendenz 9783495997772, 9783495997765


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1 Einleitung
2 Plotin als Denker absoluter Transzendenz
2.1 Philosophie als Transzendieren (Enn. I 3)
2.2 Metaphysik des Einen (Enn. VI 9)
2.3 Spekulative Theologie (Enn. VI 8)
2.4 Philosophie gegen Gnostizismus (Enn. II 9)
3 Jaspers’ erste Auseinandersetzung mit Plotin in der Psychologie der Weltanschauungen
3.1 Philosophische Grundlagen der Jaspers’schen Weltanschauungspsychologie
3.2 Erkenntnis des Gleichen durch das Gleiche
3.3 ›Seelenmythik‹ bei Plotin
3.4 Plotins ›metaphysisches Weltbild‹
3.5 Plotin als Mystiker
4 Jaspers’ Plotin-Lektüre
4.1 Umfang der Lektüre
4.2 Zeitraum der Lektüre
4.3 Lektüre-Schwerpunkte
5 Jaspers’ Auffassung der Philosophiegeschichte
5.1 Gegenwärtiges Philosophieren im Traditionszusammenhang
5.2 Philosophie als Medium eines existentiellen Aufschwungs
5.3 Philosophie als Prozess der Synthese
6 Jaspers’ Plotin-Bild
6.1 Nach der Metaphysikvorlesung von 1927/28
6.2 In den systematischen Werken
6.3 In den Großen Philosophen
7 Kants kritische Philosophie als Hintergrund von Jaspers’ Plotin-Rezeption
7.1 Jaspers als Kantianer
7.2 Grenzen der kantischen Philosophie nach Jaspers
7.3 Jaspers’ Rechtfertigung einer Metaphysik plotinischen Typs
8 Existenz im Aufstieg zum Einen
8.1 Grundzüge von Jaspers’ Existenzphilosophie
8.2 Der Transzendenzbezug des Gewissens
8.3 Selbstsein als Geschenk der Transzendenz
8.4 Das existentiell Eine und der Aufstieg zum Einen
8.5 Die Transzendenz des Einen
9 Das Eine in Vernunftphilosophie und Logik
9.1 Jaspers’ Vernunftphilosophie im Werkkontext
9.2 Vernunft als Bezug auf das Eine
9.3 Vernunft, Eros und Glaube
9.4 Kommunikation als Erscheinung des Einen
9.5 Philosophische Logik als Selbsterhellung der Vernunft
9.6 Denken und Erfahrung des Umgreifenden
9.7 Die Wirklichkeit des Einen
9.8 Die »lebendige Erfahrung« des Einen
10 Negative Theologie und kategoriales Transzendieren
10.1 Plotin als Meister der Spekulation
10.2 Negative Theologie
10.3 Negative Dialektik
10.4 Transzendieren in besonderen Kategorien
10.5 Grenzen und Möglichkeiten affirmativer Theologie
10.6 Der Vorrang des Einen vor den übrigen Chiffren
11 Gegen den Gnostizismus
11.1 Jaspers’ Herausarbeitung des Gnostikertypus an Plotins Enneade II 9
11.2 Polemischer Gebrauch des Gnostikerbegriffs durch Jaspers
11.3 Antignostische Motive in Jaspers’ Heidegger-Kritik
12 Schluss
Quellen und Literatur
Werke von Karl Jaspers
Archive und Nachlassbibliotheken
Werke Plotins (Ausgaben)
Werke Plotins (zweisprachige Ausgaben und Übersetzungen)
Sonstige Werkausgaben
Textsammlungen
Sonstige Literatur
Briefe
Dokumente
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Karl Jaspers und Plotin: Eine Untersuchung zu den Quellen von Jaspers’ Metaphysik der Transzendenz
 9783495997772, 9783495997765

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& Religio

Scientia 

| 23

Tolga Ratzsch

Karl Jaspers und Plotin Eine Untersuchung zu den Quellen von Jaspers’ Metaphysik der Transzendenz

https://doi.org/10.5771/9783495997772 .

https://doi.org/10.5771/9783495997772 .

Scientia & Religio Herausgegeben von Markus Enders Bernhard Uhde Wissenschaftlicher Beirat Peter Antes Reinhold Bernhardt Hermann Deuser Burkhard Gladigow Hubert Seiwert Reiner Wimmer Band 23

https://doi.org/10.5771/9783495997772 .

Tolga Ratzsch

Karl Jaspers und Plotin Eine Untersuchung zu den Quellen von Jaspers’ Metaphysik der Transzendenz

https://doi.org/10.5771/9783495997772 .

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Zugl.: Heidelberg, Univ., Diss., 2020 u.d.T.: Karl Jaspers und Plotin. Philosophen des Einen und der Transzendenz ISBN 978-3-495-99776-5 (Print) ISBN 978-3-495-99777-2 (ePDF)

1. Auflage 2023 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2023. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet verlag-alber.de https://doi.org/10.5771/9783495997772 .

Vorwort

Die neuplatonische Philosophie und vor allem das Denken Plotins haben mich seit vielen Jahren fasziniert. Plotins wohldurchdachte Argumente gegen jede Form des metaphysischen Materialismus haben meines Erachtens genauso wenig an Überzeugungskraft ver­ loren wie sein Denken Gottes als des absolut Einen. Noch immer anziehend wirkt der Ernst seines philosophischen Ethos. Durch Karl Jaspers habe ich gelernt, wie produktiv und intel­ lektuell gewinnbringend es ist, neuplatonische Philosopheme mit neuzeitlichem und modernem Denken ins Gespräch zu bringen. Mit Erstaunen habe ich gesehen, dass Jaspers das drängendste philosophi­ sche Problem seiner Zeit, die Frage, was den Menschen in seinem Selbstsein ausmacht und wie er dieses Selbstsein gegen die Zwänge moderner Massengesellschaften bewahren kann, auch im Rückgriff auf Plotin beantwortet. Denn für Jaspers gewinnt sich der Mensch im Bezug auf Transzendenz; diese Transzendenz aber denkt er ganz im Sinne Plotins als das absolut Eine, zu dem wir einen Aufstieg vollziehen können und sollen. Dass Jaspers kein ›reiner‹ Neuplatoniker, sondern zutiefst von Denkern wie Kant und Kierkegaard, aber auch von Husserl und Max Weber beeinflusst ist, macht diese Antwort nur interessanter. Denn hierdurch gelingt es Jaspers, philosophische Problem- und Sachzu­ sammenhänge aufzuweisen, die im akademischen Diskurs sonst oft unterbelichtet bleiben, weil sie die gewohnten Abgrenzungen der Traditionen und Denkschulen überschreiten und infrage stellen. Ich kann nicht beanspruchen, der Erste zu sein, der auf eine Ver­ wandtschaft von Jaspers’schem und plotinischem Denken hingewie­ sen hat. Einen präzisen Nachweis zu führen, dass Jaspers in wesent­ lichen Aspekten seines Denkens durch Plotin beeinflusst ist, ist aber eine andere und schwierigere Aufgabe. Diesen Einfluss, die Bedin­ gungen seines Zustandekommens und seine Bedeutung für Jaspers’ Denken möchte ich in der vorliegenden Arbeit aufzeigen. Sie wurde im Juli 2020 unter dem Titel »Karl Jaspers und Plotin. Philosophen des Einen und der Transzendenz« als Dissertation von der Philoso­

5 https://doi.org/10.5771/9783495997772 .

Vorwort

phischen Fakultät der Universität Heidelberg angenommen, die mündliche Prüfung hat am 26. März 2021 stattgefunden. Für die Ver­ öffentlichung wurde die Dissertation geringfügig erweitert und über­ arbeitet. Meine im Juni 2015 am Philosophischen Seminar der Universität Heidelberg eingereichte Masterarbeit mit dem Titel »Plotins Meta­ physik des Einen in der Rezeption bei Karl Jaspers« kann als eine Vorarbeit zu dieser Abhandlung gelten. Einige Passagen der Master­ arbeit sind in sie eingeflossen, und zwar insbesondere in Kap. 5 und Kap. 6, Abschn. 3. Die vorliegende Arbeit war ursprünglich von Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. Jens Halfwassen, meinem langjährigen Mentor, betreut worden, bis dieser im Februar 2020 viel zu früh und überraschend verstorben ist. Durch die Gründlichkeit seines Denkens und die Liberalität seiner Persönlichkeit war er für mich, wie für viele seiner Schüler, ein Vorbild. Ihm verdanke ich mein Verständnis des Platonismus in seinen zahlreichen Ausprägungen. Hierfür und für vieles andere gilt Herrn Prof. Halfwassen mein dankbares Andenken. Nach dem Tod von Prof. Halfwassen hat Herr PD Dr. Tobias Dangel die Betreuung meiner Dissertation übernommen. Ich danke Herrn Dr. Dangel nicht nur dafür, dass er mir in dieser schwierigen Lage zu Hilfe gekommen ist, sondern auch für die wertvollen philoso­ phischen Einsichten, die ich aus dem langjährigen Austausch mit ihm gewonnen habe. Als Zweitgutachter dieser Arbeit hat Herr apl. Prof. Dr. Peter König fungiert, dem ich nicht nur hierfür, sondern auch für so man­ chen wertvollen Rat danke. Danken möchte ich ebenso Herrn PD Dr. Roberto Vinco, der den Vorsitz der mündlichen Prüfung übernom­ men hat. Besonderen Dank schulde ich meinen Kollegen, den Mitarbeitern der Karl-Jaspers-Gesamtausgabe, Herrn Dr. Dirk Fonfara, Herrn Georg Hartmann M.A., Herrn Dr. Oliver Immel, Herrn Dr. Dominic Kaegi und Herrn Dr. Bernd Weidmann, die das Entstehen dieser Arbeit mit außerordentlichem, selbstlosem Engagement unterstützt haben. Dem Austausch mit ihnen verdanke ich viel für mein Verständ­ nis der Jaspers’schen Philosophie. Ganz praktisch haben mir einzelne Kollegen immer wieder Hilfestellung bei der Auswertung von Jaspers’ Nachlass gegeben und mich bei der Entzifferung seiner mitunter schwierigen Handschrift unterstützt.

6 https://doi.org/10.5771/9783495997772 .

Vorwort

Für die Erlaubnis, aus diesen Nachlass zu zitieren, danke ich der Karl-Jaspers-Stiftung. Herr Dr. James Dowthwaite, Frau Mailin Hebell-Dowthwaite M.A., Herr PD Dr. Max Rohstock und Frau Ines Woide-Paulokat M.A. haben Teile dieser Arbeit in verschiedenen Entstehungsstadien gelesen und mit mir diskutiert. Ihnen allen möchte ich herzlich für die hilfreichen Anregungen danken, die ich von ihnen empfangen habe. Für die Aufnahme in die Reihe »Scientia & Religio« danke ich Herrn Prof. Dr. Dr. Markus Enders und Herrn Prof. Dr. Dr. Bernhard Uhde. Ich habe mich hierüber auch deshalb besonders gefreut, weil die Forschungen von Herrn Prof. Enders eine unentbehrliche Grundlage der in dieser Arbeit entwickelten Thesen waren. Frau Dipl.-Theol. Maria Saam vom Alber-Verlag danke ich für die freundliche und vertrauensvolle Zusammenarbeit im Vorfeld der Veröffentlichung. Meiner Frau, Maria Ratzsch, danke ich dafür, dass sie diese Arbeit korrekturgelesen und wiederholt gründlich mit mir durchgesprochen hat, vor allem aber für die liebevolle Nachsicht, mit der sie die Belastungen auf sich genommen hat, die deren Abfassung unserem Familienleben auferlegt hat. Ihr möchte ich diese Arbeit widmen. Neckargemünd, 14. Februar 2023

Tolga Ratzsch

7 https://doi.org/10.5771/9783495997772 .

https://doi.org/10.5771/9783495997772 .

Inhaltsverzeichnis

1

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

2

Plotin als Denker absoluter Transzendenz

. . . . .

25

2.1

Philosophie als Transzendieren (Enn. I 3) . . . . . . .

25

2.2

Metaphysik des Einen (Enn. VI 9) . . . . . . . . . . .

36

2.3

Spekulative Theologie (Enn. VI 8) . . . . . . . . . . .

50

2.4

Philosophie gegen Gnostizismus (Enn. II 9) . . . . . .

57

Jaspers’ erste Auseinandersetzung mit Plotin in der Psychologie der Weltanschauungen . . . . . . . . .

65

3.1

Philosophische Grundlagen der Jaspers’schen Weltanschauungspsychologie . . . . . . . . . . . . .

66

3.2

Erkenntnis des Gleichen durch das Gleiche . . . . . .

71

3.3

›Seelenmythik‹ bei Plotin . . . . . . . . . . . . . . .

72

3.4

Plotins ›metaphysisches Weltbild‹ . . . . . . . . . . .

76

3.5

Plotin als Mystiker

. . . . . . . . . . . . . . . . . .

79

Jaspers’ Plotin-Lektüre . . . . . . . . . . . . . . . .

89

4.1

Umfang der Lektüre . . . . . . . . . . . . . . . . . .

89

4.2

Zeitraum der Lektüre . . . . . . . . . . . . . . . . .

93

4.3

Lektüre-Schwerpunkte

95

3

4

5

. . . . . . . . . . . . . . . .

Jaspers’ Auffassung der Philosophiegeschichte

. .

99

5.1

Gegenwärtiges Philosophieren im Traditionszusammenhang . . . . . . . . . . . . . . .

99

5.2

Philosophie als Medium eines existentiellen Aufschwungs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

102

9 https://doi.org/10.5771/9783495997772 .

Inhaltsverzeichnis

5.3

Philosophie als Prozess der Synthese . . . . . . . . .

105

Jaspers’ Plotin-Bild . . . . . . . . . . . . . . . . . .

109

6.1

Nach der Metaphysikvorlesung von 1927/28 . . . . .

109

6.2

In den systematischen Werken

. . . . . . . . . . . .

112

6.3

In den Großen Philosophen

. . . . . . . . . . . . . .

114

Kants kritische Philosophie als Hintergrund von Jaspers’ Plotin-Rezeption . . . . . . . . . . . . . . .

139

6

7 7.1

Jaspers als Kantianer

. . . . . . . . . . . . . . . . .

140

7.2

Grenzen der kantischen Philosophie nach Jaspers . . .

147

7.3

Jaspers’ Rechtfertigung einer Metaphysik plotinischen Typs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

152

Existenz im Aufstieg zum Einen . . . . . . . . . . .

161

8 8.1

Grundzüge von Jaspers’ Existenzphilosophie

. . . . .

161

8.2

Der Transzendenzbezug des Gewissens . . . . . . . .

164

8.3

Selbstsein als Geschenk der Transzendenz

. . . . . .

166

8.4

Das existentiell Eine und der Aufstieg zum Einen . . .

173

8.5

Die Transzendenz des Einen . . . . . . . . . . . . . .

178

Das Eine in Vernunftphilosophie und Logik . . . . .

183

9.1

Jaspers’ Vernunftphilosophie im Werkkontext . . . . .

183

9.2

Vernunft als Bezug auf das Eine . . . . . . . . . . . .

184

9.3

Vernunft, Eros und Glaube

. . . . . . . . . . . . . .

190

9.4

Kommunikation als Erscheinung des Einen . . . . . .

193

9.5

Philosophische Logik als Selbsterhellung der Vernunft

194

9.6

Denken und Erfahrung des Umgreifenden

. . . . . .

199

9.7

Die Wirklichkeit des Einen . . . . . . . . . . . . . .

203

9.8

Die »lebendige Erfahrung« des Einen . . . . . . . . .

206

9

10 https://doi.org/10.5771/9783495997772 .

Inhaltsverzeichnis

10 Negative Theologie und kategoriales Transzendieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

213

10.1 Plotin als Meister der Spekulation . . . . . . . . . . .

213

10.2 Negative Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . .

215

10.3 Negative Dialektik

. . . . . . . . . . . . . . . . . .

219

10.4 Transzendieren in besonderen Kategorien . . . . . . .

223

10.5 Grenzen und Möglichkeiten affirmativer Theologie . .

228

10.6 Der Vorrang des Einen vor den übrigen Chiffren

. . .

230

11 Gegen den Gnostizismus . . . . . . . . . . . . . . .

235

11.1 Jaspers’ Herausarbeitung des Gnostikertypus an Plotins Enneade II 9 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

235

11.2 Polemischer Gebrauch des Gnostikerbegriffs durch Jaspers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

239

11.3 Antignostische Motive in Jaspers’ Heidegger-Kritik . .

241

12 Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

253

Quellen und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

263

Werke von Karl Jaspers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

263

Archive und Nachlassbibliotheken . . . . . . . . . . . . . .

264

Werke Plotins (Ausgaben) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

265

Werke Plotins (zweisprachige Ausgaben und Übersetzungen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

265

Sonstige Werkausgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

265

Textsammlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

266

Sonstige Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

266

Briefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

276

Dokumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1 Einleitung

Karl Jaspers gilt neben Martin Heidegger als der wichtigste deutsch­ sprachige Vertreter der Existenzphilosophie. Diese Bewegung, die sich vor allem an das Denken Søren Kierkegaards anschließt, rückt den einzelnen Menschen in den Mittelpunkt der Reflexion – nicht den Menschen überhaupt in seinen allgemeinen Charakteristika, sondern den Einzelnen, sofern er unvertretbar er selbst ist. Dieses Selbst wird von Jaspers mit einem Ausdruck Kierkegaards Existenz genannt. Hierdurch ist es vom Wesen des Menschen im Allgemei­ nen unterschieden. Zugleich ist Existenz nicht mit der empirischen Individualität zu verwechseln, vielmehr differenziert Jaspers streng zwischen dem eigentlichen Selbst (der Existenz) und dem, was der Mensch empirisch als leib-seelisches Einzelwesen ist (dem Dasein).1 Es ist gewiss kein Zufall, dass die Existenzphilosophie mit ihrem Fokus auf das menschliche Selbst im späten 19. Jahrhundert aufgetreten ist und ihren größten Einfluss um die Mitte des 20. Jahrhunderts entfaltet hat. Dieser Fokus hat es ihr erlaubt, die zu jener Zeit besonders drängenden Erfahrungen von Selbstverlust und Selbstentfremdung philosophisch zu bearbeiten. Das Entstehen der modernen Massengesellschaften, der Verlust traditioneller, v.a. reli­ giöser Bindungen, schließlich die geistig-moralischen Verwerfungen beider Weltkriege haben im existenzphilosophischen Denken ihre Spuren hinterlassen. Indessen wird man nicht bestreiten wollen, dass die Frage nach dem menschlichen Selbst und der Möglichkeit authentischen Selbstseins über diesen Zeitkontext hinaus auf eine Problematik von überzeitlicher Bedeutung verweist.2 Existenzphilo­ 1 Ph I, 13–17; Ph II, 1–2. – Jaspers’ Abhebung der Existenz vom Dasein nimmt Kier­ kegaards Begriff eines geistigen Selbst des Menschen auf, das als Selbstverhältnis das Verhältnis von Leib und Seele übergreift (Kierkegaard, GWb XXIV/XXV, 8–9). Dane­ ben berücksichtigt Jaspers Kants Konzeption eines vom empirischen Ich zu unter­ scheidenden intelligiblen Selbst (Kant, AA V, 162). Zu Parallelen mit Plotins Begriff einer ›höheren‹ Seele (vgl. Enn. IV 7, 10; VI 4, 14, 16–26) s.u., Abschn. 7.3 und 8.1. 2 Zu den Grundcharakteren existenzphilosophischen Denkens vgl. Bollnow 1960; Janke 1982.

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1 Einleitung

sophisches Denken wirkt aus diesem Grund noch immer anziehend; angesichts der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gilt ihm gegenwärtig ein erneuertes Interesse.3 Um eine erste Orientierung zu gewinnen, ist es üblich, die Vertreter der Existenzphilosophie grob in zwei Gruppen einzuteilen: theistische und atheistische Existenzphilosophen.4 Offenbar macht es in Bezug auf den Selbstentwurf eines Menschen einen entscheidenden Unterschied, ob er sich von einer höchsten Macht getragen und ihr verantwortlich weiß oder nicht. Jaspers gehört, wie Kierkegaard selbst und Gabriel Marcel, eindeutig zur ersten Gruppe. Er hätte dies nicht deutlicher machen können als durch die Veröffentlichung eines philo­ sophischen Glaubensbekenntnisses, dessen erster und grundlegender Artikel lautet: »Gott ist.«5 Anders als bei Kierkegaard und Marcel ist Jaspers’ Gottesbegriff aber nicht primär der christliche, sondern der der philosophischen Theologie seit Anaximander. Ganz äußerlich zeigt sich dies daran, dass er deren klassische Terminologie oft anstelle der Gottesbezeichnung verwendet; statt von ›Gott‹ spricht er dann vom Sein, vom Einen, der eigentlichen Wirklichkeit, dem Absoluten und insbesondere von der Transzendenz.6 Jaspers entwickelt eine eigentümliche Metaphysik, die sich als ein Denken im Ausgriff auf jene Transzendenz versteht. Wie Markus Enders gezeigt hat, bedeutet ›Transzendenz‹ für Jaspers weder (anthropologisch) ein wie immer geartetes Transzendieren des Menschen noch (epistemologisch) das unserem Erkennen bloß Unzugängliche, sondern (metaphysisch) einen letzten Grund allen endlichen Seins, der den Menschen und seine Welt radikal übersteigt.7 Zuletzt hat Jens Halfwassen darauf hingewiesen, dass Jaspers vor diesem Hintergrund nicht nur als Existenzphilosoph, sondern auch und insbesondere als einer der wenigen großen Metaphysiker des 20. Jahrhunderts zu gelten hat.8 Dabei ist Jaspers’ Metaphysik in einem Vgl. Bakewell 2018, 43–45. Vgl. Sartre, EH, 147–148, der Jaspers’ theistischen Ansatz allerdings nicht vom spezifisch christlichen Standpunkt Marcels und anderer unterscheidet; zu dieser Einteilung insgesamt kritisch Janke 1982, 3–4. 5 KJG I/12, 30. 6 Vgl. W 111 zu den unterschiedlichen Konnotationen einiger dieser Termini nach Jas­ pers. 7 Enders 1998, 1450–1451; ders. 1999, 55–56; ders. 2004, 524–527; konträr dazu Pieper, A. 2019, 17. 8 Halfwassen 2021, 173–174; vgl. Ratzsch 2018b, 89. 3

4

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1 Einleitung

Maße Fundament und Bezugspunkt seiner übrigen Überlegungen, das es ihm erlaubt, sein Denken geradezu mit dieser Metaphysik zu identifizieren.9 Wie Kierkegaard10 ist auch Jaspers der Ansicht, dass Existenz allein im Transzendenzbezug zu sich findet und sich verliert, wo dieser ausbleibt. Grundlegend ist dabei für Jaspers die Erfahrung eines Sichgeschenktseins der Existenz durch die Transzendenz: Transzendenz ist für Existenz das Andere, an dem sie ihren Halt hat. Wo ich eigentlich ich selbst bin, bin ich es nicht durch mich selbst. Ich habe mich nicht selbst geschaffen. Wo ich eigentlich ich selbst bin, weiß ich, daß ich mir geschenkt werde. Je entschiedener meine Freiheit mir bewußt wird, desto entschiedener zugleich auch die Transzendenz, durch die ich bin. Ich bin Existenz nur in eins mit dem Wissen um Transzendenz als um die Macht, durch die ich ich selbst bin.11

Von Kierkegaard unterscheidet Jaspers jedoch, dass er seine Philoso­ phie – obgleich er sich als einen Protestanten bezeichnen konnte12 und lebenslang Kirchenmitglied geblieben ist13 – ausdrücklich als nicht-christliche Philosophie entwickelt. Jaspers hat der christlichen Gottesvorstellung gegenüber vielmehr von Anfang an Vorbehalte. In diesem Sinne schreibt der junge Jaspers, der bereits das »Wollen eines umfassenden Geistes«14 hinter den Wechselfällen des Schicksals ahnt, seinen (ebenfalls kirchenfernen) Eltern: [S]chade, dass durch die officiellen Confessionen der Name »Gott« so in Misskredit geraten ist, man müsste doch die Kraft haben, diese einzig zutreffende Bezeichnung, trotz der Verhunzung ihrer Bedeutung durch die Pastoren, beizubehalten.15

Die Beanspruchung des Gottesbegriffes für einen spezifisch philoso­ phischen Glauben kann durchaus als ein Programm von Jaspers’ späterer Philosophie gelten – auch wenn er die im zitierten Brief zentrale willenstheoretische Bestimmung Gottes weitgehend fallen­ lassen wird. Erst viel später, in den gefahrvollen Jahren des national­ Ph I, 27: »Existenzphilosophie ist im Wesen Metaphysik. Sie glaubt, woraus sie entspringt.« 10 Vgl. Kierkegaard, GWb XXIV/XXV, 9–10. 11 W 110. 12 KJG I/12, 176. 13 Vgl. Saner 2008, 222. 14 Jaspers an seine Eltern, 01.05.1905, DLA, A: Jaspers. 15 Jaspers an seine Eltern, 01.05.1905, DLA, A: Jaspers. 9

15 https://doi.org/10.5771/9783495997772 .

1 Einleitung

sozialistischen Terrors, wird Jaspers sich, unter dem Einfluss seiner jüdischen Frau Gertrud, den Gehalten der ›biblischen Religion‹ öff­ nen. Freilich gelten ihm diese auch dann noch als objektiv unverbind­ liche Chiffren der Transzendenz; Jaspers wird auch im Alter nicht eigentlich religiös.16 Stattdessen stützt Jaspers seinen Glauben auf die philosophi­ sche Überlieferung: Warum glaubst Du? – mein Vater hat es mir gesagt. Diese Antwort Kierkegaards gilt in Verwandlung auch für das Philosophieren. Der philosophische Glaube ist in Überlieferung. […] Daher ist die Philosophie durch ihre Geschichte bestimmt und wird die Philoso­ phiegeschichte jeweils ein Ganzes aus dem Philosophieren, wie es gegenwärtig geschieht. Nirgends ist in der Zeit schon gewonnen die philosophia perennis, und doch ist diese stets da in der Idee des Philosophierens und im Gesamtbild der Wahrheit der Philosophie als ihrer Geschichte von drei Jahrtausenden, die zu einer einzigen Gegenwart werden.17

Jaspers ist seinem Selbstverständnis nach ein Bewahrer und Ausle­ ger dieser perennischen Tradition: »[I]ch habe mein Leben in dem Bewußtsein des Findens der uralten Wahrheit verbracht.«18 Wenn er besagte Tradition zu erneuern sucht, dann nicht durch die Entwicklung neuartiger philosophischer Theorien – »[i]n der Philosophie spricht Neusein gegen das Wahrsein«19 –, sondern indem er den authenti­ schen Gehalt der Überlieferung von Neuem in Bezug auf gegenwär­ tige Interessen und Fragestellungen sprechend macht. Daher kann Jaspers insbesondere in der Existenzphilosophie keinen eigentlich neuen Ansatz erkennen: Nur infolge der propagandasüchtigen Gewohnheit der Neuzeit, Phi­ losophie mit einem kennzeichnenden Beinamen zu versehen, erhielt die moderne Philosophie vorübergehend den Namen Existenzphiloso­ phie. Sie kann diesen Namen entbehren. Denn das ihr Wesentliche

Zum Verhältnis von philosophischem Glauben und Offenbarungsreligion bei Jaspers vgl. Saner 2008; Weidmann 2016. 17 KJG I/12, 24–25. 18 W 192. 19 W 192. 16

16 https://doi.org/10.5771/9783495997772 .

1 Einleitung

ist die eine ewige Philosophie, wie sie heute unter den Bedingungen unseres Zeitalters ihre Form und Sprache sucht.20

Was die Zeitgenossen Existenzphilosophie nennen, ist für Jaspers in der Tat Philosophie überhaupt. Die große Philosophie der Vergan­ genheit, dies ist eine von Jaspers’ entscheidenden Einsichten, war nie nur wissenschaftliches Erkenntnisstreben, sondern, im Medium dieses Strebens, der Versuch, sich denkend seiner selbst und – hier­ von untrennbar – sich desjenigen Absoluten zu vergewissern, das dieses Selbst trägt und umgreift.21 Daher klagt Jaspers auch, in der zeitgenössischen, bloß wissenschaftlichen, an persönlichen Fragen desinteressierten Universitätsphilosophie seien die wesentlichen phi­ losophischen Antriebe preisgegeben.22 Stellt man diese Selbstaussagen in Rechnung, so ist Jaspers nur aus seiner Aneignung der philosophischen Überlieferung ange­ messen zu verstehen. Im Folgenden wird besonders Jaspers’ meta­ physisches Denken auf die darin wirksamen Einflüsse zu befragen sein. Seine Philosophische Autobiographie gibt uns, ebenso wie einige andere Schriften,23 Hinweise darauf, von welchen Denkern er Anre­ gungen aufgenommen hat. So liest Jaspers schon als Schüler mit Begeisterung Spinoza24, später Kant und Plotin25. Alle drei entwickeln eine jeweils eigentümliche philosophische Theologie, und zwar in selbstbewusster Distanz zu den religiösen Autoritäten ihrer Zeit. Alle drei sind in ihrem Einfluss auf Jaspers’ metaphysisches Denken kaum zu überschätzen. Der Kernbegriff seiner Metaphysik, der Begriff der Transzendenz, aber ist, so die These der vorliegenden Arbeit, vor allem anderen durch seine Auseinandersetzung mit Plotin geprägt, dem Begründer des Neuplatonismus, der im dritten Jahrhundert in Rom wirkte. Plotin ist für Jaspers eine Schlüsselgestalt der philosophia peren­ nis. Seine Metaphysik ist es demnach, die »seitdem als die eigent­ liche Metaphysik durch die Zeiten geht«, seine transzendierende Spekulation, »die unüberholbar bleibt und in irgendeiner Weise

20 21 22 23 24 25

KJG I/8, 177–178; vgl. Ph I, XXIII; KJG I/8, 103. Einf 10–11. KJG I/8, 104–105. Ph I, VIII–IX; RA 399–400. Aut 10. Aut 125.

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wiederklingt, wo immer seitdem metaphysisch gedacht wurde«.26 Diese Aussagen legen nahe, dass Jaspers die Metaphysik Plotins als ein bleibendes normatives Paradigma metaphysischen Denkens betrachtet. Das bedeutet natürlich keineswegs, dass er nicht auch bedeutende Differenzen zu Plotin gesehen hätte. Dennoch konnte Jaspers zu der folgenden, sehr weit gehenden Formulierung greifen: Der »Wahrheit, um die [es] uns für uns selbst zu tun ist […,] kommen wir in der Gestalt Plotins in der Geschichte am nächsten«27. Auch die charakteristischen Gehalte von Jaspers’ Metaphysik deuten auf eine enge Verwandtschaft seines Denkens mit der plo­ tinischen Philosophie. Wie Plotin denkt Jaspers die Gottheit als das absolut Transzendente, als die überseiende reine Einheit, die welthaftes Dasein und Ideensein dergestalt überragt, dass sie weder erkennbar noch eigentlich sagbar, sondern nurmehr indirekt durch eine negative Theologie zu vergegenwärtigen ist. Er rechnet mit mystischen Erfahrungen des Transzendenten – die er freilich nicht für sich beansprucht – und vertritt die Auffassung, der Mensch komme nur im Aufstieg zu jenem absolut Einen zu sich selbst.28 Schon früh hat Joseph Maria Bocheński, der berühmte polnische Logiker, daher einen starken neuplatonischen Zug in Jaspers’ Denken gesehen: »Jaspers ist […] nicht nur ein stark durch Kant beeinflußter Existenzphilosoph: er ist auch – und vielleicht vor allem – ein Neupla­ toniker.«29 Geradezu ein »Schüler Plotins« sei Jaspers in Bezug auf seine Gottesvorstellung: »Seine Gottheit ist verborgen, unerkennbar, das alle Kategorien überschreitende absolut Eine.«30 Dieses in Jaspers’ Denken bewahrte plotinische Erbe ist in der Folge nicht unbeachtet geblieben. So legt Constantine Michaelides in einem immer noch beachtenswerten Aufsatz dar, welche Parallelen zwischen Jaspers und Plotin im Hinblick auf ihre Bestimmung des Verhältnisses von menschlichem Selbst und transzendentem Seins­ grund bestehen.31 Die weitere Erforschung des Traditionszusammen­

Einf 151; dazu Halfwassen 2021, 183–184. Jaspers, Fragment der Metaphysikvorlesung WS 1927/28, 1927, DLA, A: Jaspers; s. dazu unten, Abschn. 6.1. 28 S. hierzu insgesamt unten, Kap. 8 bis 10. 29 Bocheński 1951, 192. 30 Bocheński 1951, 202. 31 Michaelides 1976. 26

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hangs zwischen Plotin und Jaspers benennt er dabei als Forschungs­ desiderat.32 Yang-Suk Choi ist der Verfasser der bislang einzigen Monogra­ phie zum Verhältnis Jaspers–Plotin. Seine Dissertation mit dem Titel »Philosophieren als Glaubensüberzeugung«33 birgt einige inter­ essante Ansätze und Beobachtungen. Vergleichsweise knapp, aber zutreffend benennt er die von beiden Denkern geteilten Ansätze in der Konzeption des menschlichen Selbst und seines transzendenten Grundes.34 Es ist allerdings problematisch, dass Choi diese Gemein­ samkeiten am Glaubensbegriff festmacht – denn der Glaube (pistis) spielt bei Plotin, anders als bei späteren Neuplatonikern,35 keine dem Jaspers’schen Denken vergleichbare Rolle. Auf die historische Dimension, nämlich auf Jaspers’ Beschäftigung mit Plotin und die hieraus erwachsende Plotin-Darstellung in seinem philosophiege­ schichtlichen Hauptwerk Die großen Philosophen, geht Choi leider kaum ein. Zu nennen ist schließlich Fritz-Peter Hagers hervorragender Aufsatz »The Neoplatonic Background of the Metaphysics of Karl Jaspers«36, der die Parallelen, die zwischen Jaspers’ und Plotins Begriff des Absoluten bestehen, klar herausarbeitet und plausibel belegt.37 Auch in Jaspers’ Aufstiegsgedanken sieht Hager plotinisches Erbgut.38 Dabei kontrastiert Hager Plotins Anspruch auf die ratio­ nale Gültigkeit seiner Metaphysik mit Jaspers’ Position, der in der Metaphysik den Ausdruck eines nicht mehr zwingend rational zu rechtfertigenden Glaubens sieht.39

Michaelides 1976, 46. Choi 1992. 34 Choi 1992, 239–247: Choi benennt insgesamt sechs Parallelen: (1.) Für Jaspers wie für Plotin ist die Philosophie mehr als Wissenschaft, ihr letztes Ziel ist ein Aufschwung der Seele. (2.) Beide nehmen einen letzten, allumfassenden Urgrund an. (3.) Dieser Urgrund wird als das Absolute bzw. als Transzendenz gedacht. (4.) Beide heben ein eigentliches Selbst vom empirischen Ich ab. (5.) Beide transzendieren denkend die Erscheinungswelt, um tieferer Seinsgründe innezuwerden. (6.) Ferner erkennen beide die Mystik als eine Weise der Vergegenwärtigung des Transzendenten an. 35 Zur Bedeutung der pistis bei Proklos vgl. Beierwaltes 2014b, 321–322. 36 Hager 2002. 37 Hager 2002, bes. 360–366. 38 Hager 2002, 381. 39 Hager 2002, 351, 362–363. 32

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Auf den wichtigen Beitrag von Halfwassen, der Jaspers’ PlotinRezeption als den Schlüssel zu dessen philosophischer Metaphysik benennt, wurde bereits verwiesen. Einen bedeutenden Einfluss Plotins auf Jaspers sehen auch Kurt Salamun40, Jan Milič Lochmann41, Hartmut Sitzler42 und – mit Einschränkungen – Czesława Piecuch43. Wesentlich für die vorliegende Untersuchung sind ferner zwei Arbeiten von Markus Enders44, in denen er aufweist, dass Jaspers’ Metaphysik grundsätzlich dem Typus der Einheitsmetaphysik zuzu­ ordnen ist,45 sowie eine Monographie von Artur Szczepanik46, die Jaspers’ philosophische Theologie als ein Denken im Ausgriff auf absolute Transzendenz qualifiziert – von beiden Denkern wird Jas­ pers’ Metaphysik damit typologisch dem Denken Plotins zugeordnet. Dieser kurze Überblick über den Forschungsstand zeigt, dass der Einfluss Plotins auf Jaspers von Fachgelehrten weitgehend anerkannt wird. Dennoch fehlt bislang eine Monographie zu diesem Thema, die auch die historischen Umstände von Jaspers’ Plotin-Rezeption und seine umfangreiche Plotin-Darstellung, die seine Sichtweise auf den Neuplatoniker widerspiegelt, gebührend berücksichtigt. Diese Lücke will die vorliegende Arbeit schließen. Sie erhofft es sich, ebenso als ein Beitrag zur Wirkungsgeschichte Plotins wie als eine Untersuchung zu den Quellen der Jaspers’schen Philosophie gelesen zu werden. Eine solche Untersuchung erscheint insbesondere deshalb lohnend, weil verschiedene zentrale Konzepte dieser Philosophie nur vor dem Hin­ tergrund seiner Plotin-Rezeption adäquat verständlich werden. Der hohe geistige Rang dieser Philosophie und ihre breite geschichtliche Wirkung machen eine Erforschung dieser Zusammenhänge damit zu einer unerlässlichen Aufgabe. Von systematischem Interesse dürfte sie zudem durch die zur Sprache kommenden existenzphilosophi­ schen und metaphysischen Fragestellungen sein, die um die Einheit Gottes und die Selbstwerdung des Menschen angesichts jener Einheit kreisen. Dass diese Themen nicht, wie es bei Jaspers überwiegend der Fall ist, in respektvoller Distanz zur Religion erwogen werden 40 41 42 43 44 45 46

Salamun 2006, 107; vgl. ders. 2019, 67–68. Lochmann 1986, 16. Sitzler 2012, 89, 123–125. Piecuch 2019, 198; vgl. aber ebd., 29–30. Enders 1998; ders. 2004. Vgl. hierzu auch Ratzsch 2017. Szczepanik 2005.

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müssen, sondern gerade auch für ein religiös gegründetes Denken von vitaler Bedeutung sind, dürfte auf der Hand liegen. Einen Hinweis hierauf gibt die breite Rezeption Jaspers’schen Denkens durch die christliche Theologie.47 In Bezug auf die vorliegende Fragestellung besteht eine solche Relevanz insbesondere dann, wenn diese Theolo­ gie daran interessiert ist, Gott als den absolut Einen zu denken.48 Um Jaspers’ Plotin-Rezeption historisch und systematisch ange­ messen in den Blick zu bekommen, werden im Folgenden zunächst einige Grundzüge der Philosophie Plotins referiert (Kapitel 2). Dabei wird die Bedeutung des Transzendierens als des zentralen Strukturund Entwicklungsprinzips der plotinischen Philosophie herausge­ stellt. Hierauf aufbauend wird gezeigt, wie und warum Plotin seine Metaphysik in einem absolut einheitlichen, vollkommen transzen­ denten Prinzip, dem Einen, fundiert. Die negativ-theologischen und analogischen Methoden der Vergegenwärtigung des Einen kommen dabei ebenso zur Sprache wie Plotins Auseinandersetzung mit den Gnostikern, die für ihn ein Gegenbild eigentlich philosophischen Lebens und Denkens darstellen. Hierauf aufbauend kann sich die Untersuchung dann der Rezep­ tion plotinischen Denkens durch Jaspers zuwenden. Die ältesten und – neben der Plotin-Darstellung in den Großen Philosophen – umfangreichsten Zeugnisse dieser Rezeption finden sich in Jaspers’ Psychologie der Weltanschauungen. Dieses Frühwerk wird daher gleich eingangs im Hinblick auf das dort entworfene Plotin-Bild ausgewertet (Kapitel 3). Dabei wird nicht nur deutlich, dass Jaspers schon um 1919 über erhebliche Kenntnisse der Philosophie Plotins verfügt. Auch die verschiedenen Affinitäten und Differenzen, die sich in Jaspers’ Verhältnis zu Plotin zeigen, werden herausgearbeitet. Weil die Psychologie der Weltanschauungen ihrer philosophischen Thematik zum Trotz ein in Zielsetzung und Methode psychologisches Werk ist, geschieht dies in einem präliminarischen Kapitel. Dagegen gilt der Rest der Untersuchung dem, seinem eigenen Anspruch nach, bruchlosen Ganzen49 von Jaspers’ reifer Philosophie. Im Anschluss hieran werden die historischen Umstände von Jaspers’ Plotin-Lektüre geklärt (Kapitel 4). Dabei zeigt sich, dass Jaspers’ Interesse für Plotin biographisch weit zurückreicht und in Einen wertvollen Überblick hierzu bietet Geldhof 2004. Etwa im Anschluss an Dionysius Areopagita (Div. nom. XIII, 2–3) oder Thomas von Aquin (STh I, q. 3). 49 Vgl. Aut 122–123. 47

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den Jahren des Ersten Weltkriegs in ein ernsthaftes Studium über­ geht. Spätestens ab 1927 verfügt er dann über sehr gründliche und umfassende Kenntnisse der Schriften Plotins. Ferner wird erörtert, welche dieser Schriften Jaspers für besonders wichtig hält und welche inhaltlichen Schwerpunkte seine Lektüre bestimmt haben. Allein aus diesen konkret-biographischen Faktoren ist Jaspers’ Aneignung der Philosophie Plotins allerdings nicht hinreichend zu verstehen, daher sind im Anschluss hieran die geistigen Bedingun­ gen seiner Plotin-Rezeption zu klären. Hierzu gehört insbesondere Jaspers’ Stellung zur Philosophiegeschichte überhaupt (Kapitel 5). Dabei wird gezeigt, dass ein eigenständiges Philosophieren für Jaspers nur im steten Rückbezug auf die Geschichte der Philosophie und die großen Denker, die sie geprägt haben, möglich ist. Diese Geschichte deutet Jaspers ausgehend von seiner Idee einer philosophia perennis als deren, freilich immer fragmentarisches und uneindeutiges, Zurer­ scheinungkommen. Hierauf aufbauend wird dann beleuchtet, warum Jaspers in Plotin eine Schlüsselfigur der philosophia perennis erkennt (Kapitel 6). Dabei werden verschiedene Auseinandersetzungen mit der Person Plotins in Jaspers’ Werk in den Blick genommen, insbesondere seine umfang­ reiche Plotin-Darstellung in den Großen Philosophen. Ein Ergebnis dieser Untersuchung ist, dass Plotin Jaspers als der Philosoph des Transzendenten schlechthin gilt, dessen Denken aus diesem Grund für alle spätere Metaphysik Maßstab bleibt. Schließlich wird untersucht, inwiefern Jaspers’ in vieler Hinsicht enger Anschluss an die Philosophie Kants auch sein Plotin-Verständ­ nis prägt (Kapitel 7). So orientiert sich Jaspers in seiner Auffassung der Erscheinungshaftigkeit allen Daseins wie auch in seinen erkennt­ nistheoretischen Reflexionen, die ein wissenschaftliches Wissen des Übersinnlichen entschieden verneinen, an Kant. Jaspers sieht aber auch Grenzen der kantischen Philosophie: Diese lehre demnach ein Transzendieren, im spekulativen Denken des Transzendenten aber könne und müsse man über Kant hinausgehen und sich dabei auch an der vorkantischen Metaphysik orientieren. Ausgehend von diesen Voraussetzungen werden dann die ent­ scheidenden Parallelen herausgearbeitet, die zwischen dem Denken Plotins und dem von Jaspers bestehen, zunächst im Hinblick auf dessen Konzeption des Verhältnisses von menschlicher Existenz und Transzendenz (Kapitel 8). Dass sich Existenz in ihrem Selbstsein der Transzendenz verdankt, ist das zentrale Axiom der Jaspers’schen Phi­

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losophie. Es werden verschiedene Weisen diskutiert, dieses Begrün­ dungsverhältnis zu verstehen, insbesondere Jaspers’ charakteristisch neuplatonische Auffassung, dass wir einzig im Aufstieg zum Einen zu uns kommen, wobei dieser Aufstieg als eine Einswerdung in uns selbst und zugleich hiermit als ein Berühren des absolut Einen zu verstehen ist. Hierauf aufbauend wird gezeigt, inwiefern Jaspers die Vernunft als ein existentiell getragenes, denkendes Einheitsstreben konzipiert (Kapitel 9). Eine Selbsterhellung der Vernunft leistet Jaspers zufolge die philosophische Logik. Durch den konstitutiven Einheitsbezug der Vernunft, der letztlich auf die absolute Einheit Gottes verweist, gewinnt diese Logik den Charakter einer philosophischen Theologie. Die Gottheit bleibt dabei zwar unerkennbar, wird aber in besonderen, das Erkennen überschreitenden Erfahrungen zugänglich. Schließlich wird in Bezug auf Jaspers’ negative Dialektik der Transzendenz gezeigt, inwiefern diese sich am Beispiel Plotins ori­ entiert, wenn sie eine Vergegenwärtigung des Absoluten durch ein sich selbst übersteigendes und sich schließlich in seiner gegenständ­ lichen Bestimmtheit selbst aufhebendes Denken vollzieht (Kapitel 10). Dabei soll auch reflektiert werden, wieso für Jaspers zwar alle Kategorien als Chiffren auf das Absolute verweisen können, wieso der Chiffre des Einen aber insofern ein Vorrang zukommt, als diese selbst das Überschreiten der vielen Chiffren auf den einen Urgrund hin symbolisiert. Abschließend soll diskutiert werden, in welchem Ausmaß Jas­ pers’ Gnosisbegriff durch Plotin beeinflusst ist (Kapitel 11). Dabei zeigt sich, dass Jaspers in seiner Kritik an Denkern der Vergangenheit und insbesondere an zeitgenössischen Gegenspielern wie Heidegger auf Topoi zurückgreift, die Plotin in seiner antignostischen Enneade II 9 entwickelt. Besonders Heidegger gegenüber beruft er sich dabei auf ein negativ-theologisches Transzendenzdenken neuplatonischen Typs. Ziel dieses Kapitels ist es zu zeigen, dass Plotin für Jaspers nicht nur in seiner systematischen Philosophie, sondern auch in der philosophischen Kritik und Polemik ein unentbehrlicher Orientie­ rungspunkt ist. Eine abschließende Zusammenfassung soll die Ergebnisse der Untersuchung sichern (Kapitel 12).

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2 Plotin als Denker absoluter Transzendenz

Um ein adäquates Verständnis von Jaspers’ Plotin-Rezeption zu gewinnen, sollen im Folgenden zunächst einige Grundzüge ploti­ nischen Denkens rekapituliert werden. Hierbei kann es nicht Ziel sein, eine Gesamtdarstellung der Philosophie Plotins oder auch nur eine Einführung in sein facettenreiches Denken zu geben.1 Vielmehr sollen diejenigen Aspekte der plotinischen Philosophie, mit denen sich Jaspers besonders auseinandergesetzt hat, im Vordergrund ste­ hen. Das Hauptaugenmerk wird dabei auf jenem Begriff liegen, den Jaspers Plotin vor allem anderen verdankt: dem der Transzendenz. Ähnlich wie für Jaspers ist freilich auch für Plotin das Nachdenken über Transzendenz unabdingbar in eine philosophische Lebensweise eingebettet, ohne die es sinnlos bleibt. Auch dieser Aspekt soll daher Berücksichtigung finden. Dabei wird sich die Darstellung der ver­ schiedenen Thematiken am Leitfaden jeweils einschlägiger Schriften Plotins orientieren: den Enneaden-Traktaten I 3, VI 9, VI 8 und II 9; weitere Schriften werden herangezogen, wo immer es sachgemäß und hilfreich erscheint.

2.1 Philosophie als Transzendieren (Enn. I 3) Das lateinische Verb transcendere und sein Partizip transcendens treten als philosophische termini technici erstmals bei Augustinus von Hippo auf, der sie aller Wahrscheinlichkeit nach der verlorenen Plotin-Übersetzung von Marius Victorinus entnimmt und sie ana­ log zu den plotinischen Ausdrücken anachthēnai, anabainein und anabebēkos (deutsch wörtlich: emporgeführt werden, emporgehen, 1 Hierfür sei verwiesen auf Halfwassen 2004; O’Meara 1995; Hadot 1997; Beierwal­ tes 2010, 9–88; Kremer 1995; Tornau 2001; Horn 2018. Immer noch lehrreich ist der schon von Jaspers benutzte Zeller (1868, 368–568). Zum Neuplatonismus insgesamt vgl. Beierwaltes 1985 und Remes 2008.

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2 Plotin als Denker absoluter Transzendenz

emporgegangen) gebraucht.2 Der Transzendenzbegriff lässt sich so historisch auf Plotin zurückführen, der ihn wiederum aus seiner Auseinandersetzung mit der Philosophie Platons gewinnt.3 Schon ein beiläufiger Blick auf Plotins Schriften zeigt, dass das als absolute Transzendenz konzipierte Eine den zentralen Fluchtpunkt seiner Philosophie darstellt und dass der Transzensus, das Transzen­ dieren, deren wichtigstes Struktur- und Entwicklungsprinzip ist.4 Diesem ist Plotin in einer Weise verpflichtet, die es Gerhard Huber erlaubt, ihn als »die entschiedenste Gestalt des abendländischen Transzendenzdenkens«5 zu bezeichnen. Die Bedeutung der transzendierenden Gedankenbewegung für die Philosophie Plotins zeigt sich besonders deutlich an Enneade I 3, die unter dem Titel Peri dialektikēs (Über Dialektik) überliefert ist.6 Es handelt sich um die einzige Schrift Plotins, in der er Wesen und Aufgabe der Philosophie ausdrücklich zum Thema macht. Diese wird dabei grundsätzlich als eine Weise der anagōgē, also des Aufstei­ gens oder Transzendierens, charakterisiert. Im denkenden Aufstieg erschließen sich dem Philosophierenden zunächst die Ideen, die intel­ ligiblen Gründe welthaften Seins. Da die Ideen sich aber wiederum als eine komplexe Ordnungsstruktur (kosmos) zeigen, deren Sein und deren Sosein sich keineswegs von selbst erklären, sind auch sie noch auf ihren Grund hin zu befragen. Erst dieser Grund kann dann als der wahrhaft erste Urgrund gelten, Plotin bezeichnet ihn zumeist als das Eine (to hen).7 Die genannte Aufstiegsbewegung ist also einem wissenschaftlich-metaphysischen Bemühen geschuldet, die Erschei­ nungen dieser Welt von ihren intelligiblen Gründen her zu begreifen; zugleich aber stellt sie, wie im Folgenden deutlich werden wird, ein Programm ethischer Selbsterziehung und Selbsttransformation dar.

Vgl. Halfwassen 1998, 1442. Vgl. Halfwassen 2006; ders. 1998. 4 Vgl. Halfwassen 2006, 11: Die »Grundbewegung« der plotinischen Philosophie ist demnach die »Zurückführung alles Mannigfaltigen auf absolute Einheit«; ebd., 58: der »Rückgang und Aufstieg zum alles begründenden Urgrund macht das Wesen der Plotinischen Dialektik aus«. Vgl. auch die Darstellung des von Plotin entworfenen Aufstiegswegs bei Kremer 1990, XIII–XIV. 5 Huber 1955, 17. – Hubers zitierte Abhandlung Das Sein und das Absolute ist als Habilitationsschrift von Jaspers betreut worden. 6 Zu Enn. I 3 vgl. Beierwaltes 1985, 14–31; Halfwassen 1999, 225–231. 7 Zu diesem doppelten Transzensus im Denken Plotins vgl. Halfwassen 1998, 1444. 2

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2.1 Philosophie als Transzendieren (Enn. I 3)

Beide Aspekte sind sehr wohl voneinander zu unterscheiden, gehören im Sinne Plotins aber untrennbar zusammen.8 Bereits die Ausgangsfrage von Enneade I 3 drückt einen Impuls zum Transzendenten aus. Sie lautet: »Welche Kunst, welche Methode oder welche Beschäftigung führt uns dort hinauf, wohin es zu wandern gilt?«9 Das Ziel des zu gehenden Weges steht dabei von Anfang an fest, Plotin identifiziert es als das Gute (tagathon) bzw. als den ersten Urgrund (prōtē archē).10 Beide Ausdrücke beziehen sich auf das absolut Eine; das Eine heißt Urgrund, sofern alles Seiende in ihm seinen letzten Grund hat; es heißt das Gute als das Ziel alles Strebens, insbesondere auch des philosophischen Erkenntnisstrebens.11 Während jede praktische Tätigkeit ein bestimmtes Gut im Sinn hat, zielt einzig die Philosophie auf das schlechthin Gute. Allein dieses absolute Gut ist es, das keine Wünsche mehr offenlässt; allein hier vermag der Mensch daher Erfüllung (plērōsis)12und innere Ruhe (hēsychia)13 zu finden.14 Die Philosophie hat für Plotin damit unmittelbar soteriologische Bedeutung. Das philosophische Wissen, das Plotin entfaltet, ist dem Anspruch nach ein Erlösungswissen im Sinne Max Schelers, ein »Wissen, in dem unser Personenkern an dem obersten Sein und Grund der Dinge selbst Teilhabe zu gewinnen sucht«15. Vor diesem Hintergrund ist es nur folgerichtig, dass Plotin die Philosophie als das Wertvollste, das timiōtaton16, bezeichnet, nicht als wäre sie selbst das letzte Strebensziel, sondern als der Weg dorthin Kristeller (1929, 5–6 u.ö.) und Schwyzer (1944) haben hervorgehoben, dass ein ontologischer, ›gegenständlicher‹ und ein ethischer, ›aktualer‹ Aspekt plotinischen Denkens zu unterscheiden sind. Die Zusammengehörigkeit beider Aspekte betonen Beierwaltes (1974, bes. 11–12; ders. 2011, 54–55) und Kremer (1995, 59–60). 9 Plotin, I 3, 1, 1–2. – Das plotinische »wir« (hēmeis) ist ein terminus technicus für das menschliche Selbst; vgl. Tornau 2001, 36–37. 10 I 3, 1, 3. 11 Zum Guten als Strebensziel s. I 7, 1; vgl. schon Platon, Symp. 204e–205a. 12 III 8, 11, 6–8. 13 I 3, 4, 16–17; vgl. dagegen zur Ruhe des Geistes in sich selbst V 3, 7, 12–21; dessen Ruhe ist freilich nicht absolut, weil dem Geist selbst ein ›unruhiges‹ Verlangen nach dem Einen innewohnt. 14 Vgl. I 6, 7, 25–35; I 7, 1; s. auch unten, Abschn. 2.2. Zur Gottesschau als Vollendung der Glückseligkeit vgl. Pieper, J. 2015, bes. 25–32. 15 Vgl. Scheler 1947, 26. 16 I 3, 5, 8. Der Ausdruck timiōtaton verweist in der platonischen Tradition regelmäßig auf den Prinzipienbereich, das heißt insbesondere auf das Eine; vgl. zur Stelle Halfwassen 1999, 229, sowie in Bezug auf den Gebrauch des Terminus bei Platon und in der Alten Akademie Szlezák 1993, 71–76. 8

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2 Plotin als Denker absoluter Transzendenz

und folglich als die wertvollste menschliche Betätigung.17 Der »wert­ vollste Teil« (meros to timion)18 der Philosophie ist dann wiederum – vor ihren beiden anderen traditionellen Disziplinen Physik und Ethik19 – die Dialektik, weil es dieser zukommt, zur Ideenerkenntnis und so mittelbar auch zur Schau des Einen anzuleiten.20 Obwohl das Eine grundsätzlich die Bestimmung allen mensch­ lichen Strebens ist, ist es Plotin zufolge doch nicht allen faktisch möglich, den Aufstieg zum Einen zu vollziehen.21 Hierfür ist einer­ seits eine gesteigerte Empfänglichkeit dem Schönen und Edlen (kalon) gegenüber nötig,22 das den Vorschein des Einen-Guten im von ihm begründeten Seienden oder, anders gewendet, ein Moment der Trans­ parenz des Seienden auf den Urgrund hin darstellt.23 Andererseits muss er dazu bereit sein anzuerkennen, dass die Schönheiten der Erscheinungswelt zwar bewundernswert sein mögen, dass es sich bei ihnen aber bloß um abbildhaft, nicht um eigentlich Schönes handelt.24 Dieses hat demnach allein im intelligiblen Reich der Ideen statt. Die erste der beiden Bedingungen ist für Plotin die wichtigere. Wer für das Schöne blind ist, der findet keinen Weg zum Guten; die geistige Erhebung aus der Erscheinungs- in die Ideenwelt kann Plotin zufolge dagegen auch der einüben, der kein »geborener Philosoph« (philosophos tēn physin) ist. Vgl. I 3, 5, 5–8; die Philosophie ist demnach »die wertvollste Verhaltensweise (timiōtatē hexis) in uns«, weil sie es ist, die sich mit dem an sich Wertvollsten (dem Seienden und dem transzendenten Einen) beschäftigt. 18 I 3, 5, 9; 6, 1. 19 Vgl. Hadot 1982. 20 Eine Skizze des dialektischen Verfahrens gibt Plotin in I 3, 4; s. dazu unten in diesem Abschnitt. 21 I 6, 7, 1–2; vgl. aber V 9, 1 zu den Hindernissen, die dem Aufstieg im Wege stehen. 22 Daher sind es neben dem »geborenen Philosophen« (philosophos tēn physin) der Musenfreund (mousikos) und der Erotiker, die Plotin für einer philosophischen Schulung fähig hält; vgl. I, 3, 1, 9–10. 23 Vgl. Halfwassen 2015, 265–278, bes. 273–275; ders. 2005; Schmitt 2007; Beier­ waltes 2017, 1–27. Es ist zu betonen, dass Schönheit paltonisch gesehen kein bloß ästhetisches Phänomen ist; als schön (kalon) wird nicht nur das sinnlich Anziehende bezeichnet, sondern allgemein das Werthafte, insbesondere auch das ethisch und erkenntnismäßig Werthafte; vgl. Halfwassen 2005, 161; Beierwaltes 2017, 8. Es han­ delt sich daher keineswegs um metaphorische Rede, wenn Plotin (I 3, 2, 5–13; I 6, 1, 5–6.12–14 u.ö.) wie zuvor schon Platon (Symp. 210a–e) Tugend und Wissenschaft als kala bezeichnet und sie dem sinnlich Schönen gerade in Hinblick auf ihre Schönheit vorzieht. Zum Bedeutungsspektrum des Wortes kalon vgl. Wolf 2006, 353–355 Anm. 12. 24 Für den Musiker vgl. I 3, 1, 19–35; für den Erotiker I, 3, 2. 17

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2.1 Philosophie als Transzendieren (Enn. I 3)

Entsprechend muss der Lehrer der Philosophie bei seinen Hörern ein Streben nach dem Schönen voraussetzen, für die Hinfälligkeit des sinnlich Schönen, durch die wir indirekt auf die ewige Schönheit des Intelligiblen verwiesen sind, muss er dagegen argumentieren.25 Die Schönheit sinnfälliger Gegenstände ist demnach der Veränderung unterworfen und geht mit der Zeit zugrunde; sie ist nie nur schön, sondern immer insofern schön und insofern hässlich.26 Ursache dieser beiden Einschränkungen ist Plotin zufolge die ontologische Abhängigkeit des sinnlich Schönen. Dieses ist nicht aus sich selbst heraus schön, sondern aufgrund seiner Teilhabe an Ideen,27 ebenso wie es nicht aus sich selbst heraus ist und ist, was es ist, sondern weil es an Ideen teilhat, die ihm seine Form als dieses bestimmte Etwas verleihen.28 Weil es die Ideen sind, denen alles andere sein Sein ebenso wie seine Schönheit verdankt, können diese als das wahre Seiende (ontōs on), insbesondere aber als das wahrhaft und im eigentlichen Sinne Schöne gelten.29 Der Philosoph, der zur Ideenschau gelangt, wird sich über sie daher mehr »freuen, entzückt und gepackt sein«30 als über alles sinnlich Schöne. Er wird das sinnlich Schöne an ihm selbst geringschätzen und seinen Wert allein darin erkennen, dass es zeichenhaft auf die Schönheit des Intelligiblen, damit aber indirekt auf den ersten Urgrund verweist.31 Der Philosoph kann damit für Plotin, wie es schon der platonische Sokrates für sich beansprucht hat, als der wahre Erotiker gelten, da seine Zuneigung, jedenfalls in erster Linie, nicht dem erscheinungshaften, sondern dem wahrhaft Schönen gilt.32 Plotins Philosophie des Schönen bringt, wie dies insgesamt zeigt, ein fundamentales Ungenügen an der Erscheinungswelt zum Ausdruck. Mit Platon sieht er es als das Ziel des Philosophen an, diese Welt zu »fliehen«33. Eine solche ›Weltflucht‹ impliziert Plotins Deutung zufolge freilich keine vollkommene Abwendung von der I 3, 1, 28–34; 2, 5–13. Vgl. I 6, 1, 14–16.37–40. 27 V 9, 2, 12–18; vgl. I 6, 2, 11–28. 28 V 9, 3, 9–37. 29 Ι 6, 9, 34–37. 30 I 6, 4, 13–14. 31 I 6, 8, 1–6. 32 V 9, 2, 2–9. 33 I 2, 1, 1–3; vgl. VI 9, 11, 49–51, sowie Plotins Deutung des Odysseus-Mythos in I 6, 8, 16–20; bei Platon, Tht. 176a/b und Phaid. 99e. 25

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2 Plotin als Denker absoluter Transzendenz

Welt, vielmehr ist der Philosoph aufgerufen, sein Leben in der Welt nach Grundsätzen zu führen, die selbst nicht mehr der Welt entstam­ men.34 Den Aufruf zur Weltflucht deutet Plotin in diesem Sinne wie folgt: »Als Flucht bezeichnet er [sc. Platon] nicht das Fortgehen von der Erde, sondern noch auf Erden weilend ›gerecht und fromm zu sein, mit Einsicht verbunden‹.«35 So ist das Ungenügen an der Erscheinungswelt als ein erster Schritt in Richtung auf die Erkenntnis des Intelligiblen zwar unentbehrlich; von diesem her aber vermag der Philosoph auch die Schönheiten ›dieser‹ Welt in neuer, tieferer Weise zu würdigen, weil er sie nun in ihrer Transparenz auf die Ideenwelt und auf das diese begründende Eine hin sieht, bildlich gesprochen, weil alle irdische Schönheit für ihn einen Schimmer des Göttlichen an sich trägt.36 Die in diesem Sinne ›weltflüchtige‹ Tendenz der plotinischen Philosophie sollte ebenso wenig wie die sich mit ihr verknüpfende Erlösungshoffnung dazu verführen, in Plotin einen bloßen Schwär­ mer zu sehen und das betont wissenschaftliche Selbstverständnis seines Denkens zu verkennen.37 Plotin legt größten Wert auf die Unterscheidung des philosophischen Wissens (epistēmē), das er bean­ sprucht, von bloßer Meinung (doxa).38 Und in der Tat ist die plotini­ sche Dialektik zuerst und zunächst eine leidenschaftslose Technik zur Analyse und Synthese begrifflicher Bestimmungen. Für Plotin, wie später für Hegel, ist die Philosophie wesentlich Arbeit am Begriff39 und erst hierdurch ein Mittel, »das Ewige und an und für sich Sei­ ende«40 zu erkennen. Dies zeigt insbesondere auch Plotins Darstel­ lung der Dialektik in Enneade I 3.

34 Deutlich und erstaunlich ist die Parallele zum im Johannes-Evangelium explizier­ ten christlichen Selbstverständnis, »in der Welt«, aber »nicht von der Welt« zu sein (Joh 17, 11.14). 35 I, 8, 6, 10–12 (mit Zitat aus Tht. 176b; Übersetzung nach Beierwaltes 2007, 54); vgl. die Parallelstelle I, 2, 1, 1–5; zur plotinischen ›Weltflucht‹ vgl. Beierwaltes 1985, 26–31; ders. 2007, 53–57, sowie Song 2009, 24–28. 36 I 6, 2, 2–11; 3, 9–16; zur Schönheit der Sinnenwelt insgesamt vgl. II 9, 26–32. 37 So z.B. Brentano (1876), wogegen schon Karl Hermann Kirchner (1854, bes. 169–175) die Logizität und Konsequenz von Plotins Denken hervorhebt. 38 I 3, 4, 8–9. 39 Hegel, GW IX, 48, dort wörtlich: »Arbeit des Begriffs«. 40 Hegel, TWA VIII, 70 (§ 19 Zus. 2). – Zur sachlichen wie historischen Verwandt­ schaft von neuplatonischer Geistmetaphysik und Hegel’scher Spekulation vgl. Half­ wassen 1999; zusammenfassend ders. 2011.

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2.1 Philosophie als Transzendieren (Enn. I 3)

Die grundlegende Aufgabe der Dialektik ist es demnach zu bestimmen, was eine Sache nur für sich betrachtet ist und worin ihre Unterschiede und Gemeinsamkeiten dem übrigen Seienden gegen­ über bestehen.41 In einem zweiten Schritt wird dann der Unterschied der so definierten Wesenheiten vom konkreten Dasein der Dinge reflektiert. Hierdurch ist bereits der Unterschied von geistig erfass­ barem (intelligiblem) und sinnfälligem Sein etabliert. Er erlaubt es dem Dialektiker in der Folge, alles Seiende ontologisch zu verorten, sei es im Bereich des wahrhaft Seienden, der zeitfrei ewigen Ideen, sei es im Bereich des Sinnfälligen, das nicht eigentlich ›seiend‹, sondern beständig in Veränderung, im Werden begriffen ist.42 Der fortgeschrittene Dialektiker ist auf der Grundlage dieser Einsichten dann in der Lage, sich die inneren Strukturen des Ideenkosmos zu vergegenwärtigen, die durch die Metaideen, die prōta genē (›erste Gattungen‹)43, konstituiert sind. Diese prōta genē erzeugen Plotin zufolge durch ihre wechselseitige Verknüpfung die übrigen Ideen.44 Deren Genese – die als ein zeitfreier, rein logischer Prozess zu denken ist – kann der Dialektiker denkend nachvollziehen, so dass es ihm schließlich möglich wird, die Architektur des intelligiblen Kosmos, den die Ideen in ihrer Gesamtheit bilden, aus dessen ersten Elementen, d.h. aus den strukturgebenden Metaideen, zu begreifen.45 Dem Ideenkosmos als dem ersten und höchsten Seienden kann Plotin zufolge weder Lebendigkeit noch Geistigkeit, d.h. Denken seiner selbst, fehlen.46 Es ist eben seine dynamische Selbstentfaltung aus den prōta genē, in der diese Lebendigkeit ihren Ausdruck findet.47 Weil die Ideen selbst Leben und Geist (nous) sind, kann die Ideen­ erkenntnis, die der Dialektiker erwirbt, als eine Partizipation am Denken dieses Nous verstanden werden, der dann nicht mehr Denken eines Einzelnen, sondern absoluter Geist ist.48 41 I 3, 4, 1–4. – Dies ist bereits der Grundgedanke von Platons Ideenlehre; vgl. Radke 2002. 42 I, 3, 4, 5–9. 43 I, 3, 4, 14. 44 V 1, 4, 34–43; vgl. I 3, 4, 14–15. 45 I, 3, 4, 15. 46 V 6, 6, 18–23. Ähnlich argumentiert bereits Platon, Soph. 248e. Zum Sich-Denken des Nous vgl. Szlezák 1979, bes. 120–135, sowie Halfwassen 1994, bes. 5–33, der dieses Sich-Denken überzeugend als Selbstbewusstsein auslegt. 47 Vgl. Halfwassen 1994, 26–29. 48 I 3, 5, 1–5; vgl. IV 8, 4, 1–10; V 3, 3, 10–12.

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2 Plotin als Denker absoluter Transzendenz

Die Ideenerkenntnis ist Plotin zufolge zwar durch die Dialektik, also durch eine Weise diskursiven Denkens, vermittelt, hat an sich aber den Charakter einer unmittelbar evidenten Wesensschau oder, in der Terminologie des neuzeitlichen Idealismus, einer intellektuel­ len Anschauung.49 Das Ideenwissen, das die Dialektik vermittelt, ist damit allem propositionalen Wissen heterogen; im Ideenwissen wissen wir nicht nur etwas über eine Sache, sondern wir wissen diese Sache selbst; sie ist in unserem Denken nicht nur intendiert, sondern selbst darin gegenwärtig.50 Die Dialektik steht damit insbesondere im Gegensatz zur for­ malen Logik, die zu Zeiten Plotins bereits hoch entwickelt ist und besonders in der Stoa in hohem Ansehen steht.51 Plotin grenzt die von ihm entworfene Dialektik scharf von dieser Logik ab, die demnach gar nicht zur Philosophie gehört, sondern eine eigene Disziplin (pragmateia) darstellt. Die Logik ist Plotin zufolge zwar keineswegs nutzlos, und die Philosophie mag sich ihrer bedienen, wo es ihr sinnvoll erscheint, wie etwa auch der Schreibkunst; sie braucht sich ihrem Urteil aber keineswegs zu unterwerfen.52 Jenseits aller Schulauseinandersetzungen verdeutlicht diese Polemik Plotins gegen die formale Logik, dass die Dialektik für ihn keine bloße Technik formalen Denkens ist, sondern eine Methode der Sacherkenntnis; sie erfasst Sätze und Folgerungen nur wie nebenbei, dem Wesen nach aber ist sie Erkenntnis des an sich Seienden.53 Allein hierdurch kann sie dem Philosophierenden einen ihm in der natürlichen Einstellung verborgenen, nichtsdestoweniger aber ontologisch primären Seinsbe­ reich, den Ideenkosmos, erschließen. In der geistigen Schau, zu der die Dialektik anleitet, wächst die Seele gleichsam über sich hinaus, transformiert sich und wird geisthaft, indem die Dialektik sie, wie Plotin mit einem Platon entlehnten Ausdruck sagt, »weidet auf der Wahrheit Flur«54. Im Ideenkosmos erkennt Plotin die eigentliche Heimat, das »Vaterland« (patris; patrida)55 der Seele, in welchem diese allererst ein Bewusst­ sein ihres eigenen Wesens erwirbt. Indem sie sich vergeistigt, wird die 49 50 51 52 53 54 55

I 3, 5, 1–2.10–13.21–23; vgl. Halfwassen 2015, 247–264. I 3, 5, 10–17. Zur antiken Logik vgl. Ierodiakonou 2006. I 3, 4, 18–23. I 3, 5, 14–23. I 3, 4, 11–12 (Zitat aus: Platon, Phaidr. 248b6). I 6, 8, 16; V 9, 1, 21.

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Seele aber nicht ein anderer, vielmehr streift sie nur von sich ab, was ihr an Wesensfremdem anhaftet; eben hierdurch aber verwirklicht sie ihr wahres Selbst.56 Die Dialektik ist somit von unmittelbarer ethischer Bedeutung. Durch sie erwirbt der Philosophierende die höheren Tugenden: Weisheit (sophia), durch die er das Allgemeine und Immaterielle erfasst und an der Schau der Ideen teilnimmt,57 aber auch praktische Klugheit (phronēsis), die ihn ganz allgemein zu einem guten, sachund situationsgerechten Handeln in der Welt befähigt.58 Indem die Dialektik eine Lebenshaltung einübt, die mehr am Geistigen als am Körperlichen orientiert ist, vervollkommnet sie überdies auch die übrigen, ›niedrigeren‹ Tugenden.59 Der zugleich beglückenden und transformativen Wirkung der Ideenschau und der überragenden Schönheit und Wahrheit des Ideen­ kosmos selbst zum Trotz ist der Überstieg auch dieses höchsten Seien­ den für Plotin nicht verzichtbar. Wie der Nous nicht der letzte Grund, sondern vielmehr selbst eine abkünftige und begründungsbedürftige Wirklichkeit ist, so kann auch der Transzensus über die Sinnenwelt hin zum eigentlich Seienden für den Philosophierenden nur ein erster Schritt sein, an dem er keine letzte Befriedigung findet.60 In der Schau der Ideen erwirbt die Seele zwar Wissen von höchster Gewissheit und erfährt eine sittliche Vervollkommnung. Die Ideenschau vermag es aber nicht, die tiefe, jedem Menschen eingeborene Sehnsucht nach dem Einen Urgrund zu stillen. Diese Sehnsucht lässt sich auch als Gottessehnsucht beschreiben, denn allein das Eine ist für Plotin Gott im vollsten und höchsten Sinne, wenngleich er verschiedene ›Götter‹ anerkennt, die sich vom Einen ableiten.61 Im Sinne dieser Unterscheidung bezeichnet Plotin Vgl. Beierwaltes 2001, 84–122, bes. 97–106. I 3, 6, 13–14; zur ethischen Bedeutung der Schau vgl. I 4, 6. 58 I 3, 6, 8–13; zum Aspekt der Fürsorge für das Diesseitige vgl. Song 2009, bes. 95–106. 59 I 2, 3, 1–22; vgl. I 3, 6, 14–24. 60 Hierin besteht eine wesentliche Differenz der plotinischen Metaphysik zu Hegel; vgl. Halfwassen 1999, 299–320; ders. 2015, 331–349. 61 Vgl. Arnou 1921, 128: »A vrai dire, le principe qui répond le mieux à nos idées sur la divinité, c’est l’Un puisqu’il est le seul absolument indépendant.« Beierwaltes 1974, 26: »[D]as Eine ist mit dem Guten, das an seiner Fülle neidlos teilgibt, identisch; es ist zugleich der Gott.« Kremer 1971, 274–275; zusammenfassend ders. 1989, 683 Anm. 67: »Der Gott Plotins ist das Eine bzw. Gute.« Zur Gottheit des plotinischen Einen vgl. ferner Arnou 1921, 128–138; Rist 1962; Beierwaltes 2011, 27–50. 56

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etwa den Nous als unser Vaterland, das Eine aber als unseren Vater.62 Anziehung und Herrlichkeit des Nous sind durch dessen unmittelbare Nähe zum Einen begründet, das Eine aber ist von sich aus liebeerwe­ ckend.63 Welche Bedeutung der geistigen Erhebung zum Nous in diesem Kontext zukommt, veranschaulicht Plotin am Bild des Sternenhim­ mels, der uns zwar mit seiner Schönheit beeindruckt, dessen Anblick uns aber nicht befriedigt, sondern angesichts dessen wir nach seinem Schöpfer fragen. Wie der Anblick des Sternenhimmels lässt uns dem­ nach auch die Ideenschau letztlich unbefriedigt zurück und verweist uns auf das Eine.64 Wie schon der erste Transzensus, der zur Ideenwelt, ist auch der Aufstieg zum Einen für Plotin durch ein philosophisches Liebesver­ langen (erōs) vermittelt – freilich durch ein Liebesverlangen qualitativ anderer, unüberbietbarer Art, denn wo der erste Transzensus sich auf das eigentlich Schöne gerichtet hat, ist das Ziel des zweiten dessen Urgrund, die transzendente Überschönheit (kallos hyper kallos)65 Gottes, der die Quelle von Schönheit und Sein ist. Um ihn zu erreichen, muss die Seele alles andere hinter sich lassen, auch die intelligible Schönheit des Geistes.66 So ist Plotins Dialektik von vornherein auf ein doppeltes Trans­ zendieren angelegt: Der Weg ist nun ein doppelter für alle, je nachdem, ob sie sich im Aufstieg befinden oder (schon) oben angelangt sind. Der erste geht aus vom Niedrigen, der zweite ist für die, die bereits im Geistigen angelangt sind und dort sozusagen Spuren gelegt haben und nun wandern müs­ sen, bis sie zum Äußersten (eschaton) dieses Ortes kommen, was dann 62 Vgl. Beierwaltes 2017, 14 (mit Bezug auf I 6, 8, 16–27): »›Vaterland‹ meint die intelligible Welt gegenüber der sinnlichen; ›Vater‹ steht für das Eine selbst, das mit dem sich selbst verströmenden Guten identisch zu denken ist.« – Es ist für Plotin nicht ungewöhnlich, in der Rede vom Einen manchmal Bezeichnungen im Neutrum (das Eine, das Gute, Jenes) und dann wieder solche im Maskulinum (Gott, der Vater, Jener) zu gebrauchen, letzteres offenbar, um anzudeuten, dass dem Einen, wenngleich es keine Person ist, jedenfalls gleichnisweise, in Analogie zu seinen Prinzipiaten, personenhafte Züge zugesprochen werden können; vgl. Beierwaltes 2011, 38–39; Kremer 1995, 63; anders freilich Halfwassen 2004, 88. 63 VI 7, 21–22, bes. 22,5–17; dazu Tornau 2005, 271–281; Halfwassen 2015, 273– 275; zur ›Nähe‹ des Nous zum Einen s. III 8, 11, 39–45. 64 III 8, 11, 34–40. 65 VI 7, 32, 29. 66 VI 7, 34, 1–8 u.ö.

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2.1 Philosophie als Transzendieren (Enn. I 3)

das Ziel der Wanderung ist, wenn man auf den Gipfel der geistigen Welt (ep’ akrō tō noētō) gelangt ist.67

Auch der zweite Transzensus, der zum Einen, ist für Plotin eine Forderung der Dialektik, er vollzieht sich aber nicht mehr vermittels dialektischer Tätigkeit, sondern in einer einheitsförmigen Schau: Sie [sc. die Seele des Dialektikers] wendet die Platonische Einteilungs­ kunst (dihairesis) zur Unterscheidung der Ideen an, nämlich auf die Washeit (to ti esti) und auf die ersten Gattungen (prōta genē), und das aus ihnen Kommende verknüpft sie geistig, bis sie alles Intelligible (pan to noēton) durchwandert hat; dann löst sie es wiederum auf (analy­ ousa, d.h. sie analysiert es), bis sie zum Urgrund (archē) zurückgelangt; dann aber hält sie Ruhe (hēsychian agousa), da sie doch, was das Dortige anbelangt, in Ruhe ist; sie ist frei von Geschäftigkeit, sammelt sich zur Einheit und schaut (hen genomenē blepei).68

Die Vollendung des dialektischen Weges in der Schau des Einen macht deutlich, warum die Dialektik nach Enneade I 3 insgesamt – mit Werner Beierwaltes – als ein Denken des Einen, ein peri to hen philosophein69, zu charakterisieren ist.70 Schon die Rückführung der Phänomene auf die Ideen folgt diesem Programm, denn nur im Hinblick auf eine Idee ist es möglich, ein Seiendes als eine in sich einheitlich bestimmte Sache anzusprechen. Die Ideen sind die Einheitsgründe der Einzeldinge, und umgekehrt ist deren Einheit Bedingung ihrer Teilhabe an Ideen. Auch die Zurückführung der einzelnen Ideen auf die prōta genē hat den Charakter einer Verein­ heitlichung, insofern sie verstehen lehrt, warum und inwiefern die Ideen im Geist tatsächlich ein Eines, nämlich eine lebendige, sich aus sich selbst dynamisch entfaltende Einheit sind. Aus welchem Grunde die Dialektik beim Geist nicht haltmachen kann, sondern diesen auf das Eine hin transzendieren muss, wird in Enneade I 3 freilich nur angedeutet: weil der Geist einer weiteren ›Analyse‹ fähig ist, das heißt, weil er nicht schlechthin Eines ist. Es ist ebendiese Vielheitlichkeit noch des Nous, die – wie Plotin an anderer Stelle deutlich macht – einen weiteren Transzensus fordert:

67 I 3, 1, 12–18. – Zur Deutung dieser und der folgenden Stelle vgl. Kalligas 2014, 315, sowie HBT, Bd. Ib, 573 zu § 12. 68 I 3, 4, 12–18. 69 VI 9, 3, 14. 70 Vgl. Beierwaltes 1985, 9–37, bes. 11.

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2 Plotin als Denker absoluter Transzendenz

Deshalb führt man denn auch überall die Dinge auf ein Eines zurück; bei jedem einzelnen Ding gibt es ein Eines, auf das man es zurückfüh­ ren kann [sc. seine Idee], auch das sinnliche All auf das vor ihm liegende Eine [sc. den Nous], das aber noch nicht schlechthin Eines ist, bis man schließlich bei dem schlechthin Einen anlangt: dieses aber lässt sich nicht mehr auf ein anderes zurückführen.71

2.2 Metaphysik des Einen (Enn. VI 9) Plotins Denken ist, wie das zeigt, ganz von der Einheitsproblematik bestimmt. Seine wichtigste Schrift zu diesem Thema ist Enneade VI 9 unter dem Titel Über das Gute oder das Eine. Da dieser Traktat nicht nur das fundamentalste Problem, sondern auch den höchsten ›Gegen­ stand‹ der Metaphysik behandelt, hat Porphyrios ihn gleichsam als krönenden Abschluss an das Ende seiner Plotin-Ausgabe gestellt. Zugleich hat die Abhandlung, ein relativ früher Text, den Charakter einer Programmschrift.72 Die besondere Bedeutung der Einheitsbestimmung, auf die Plo­ tin abhebt, legt er gleich eingangs dar: Alles Seiende ist durch das Eine seiend, sowohl das, was eigentlich seiend ist [sc. die Ideen], wie das, von dem nur in irgendeinem Sinne gesagt wird, dass es dem Seienden angehört [sc. die Sinnendinge].73

Plotins zentrale These lautet also, dass das Eine der Grund dafür ist, dass das Seiende insgesamt ist; es ist, mit anderen Worten, der Seinsgrund des Seienden. Für diese These argumentiert er mithilfe der platonischen Dialektik und gebraucht dabei ein Kriterium, das schon für Platon von zentraler Bedeutung gewesen ist: das Kriterium des Nicht-Mitaufgehobenwerdens. Von zwei Bestimmungen ist demnach diejenige die vorgängige, relativ prinzipienhafte, die auch dann noch Bestand hat, wenn die andere in Gedanken aufgehoben wird, während das Umgekehrte nicht der Fall ist. Beispielsweise ist der Punkt eine fundamentalere mathematische Entität als die Fläche, weil sich eine Fläche nicht ohne Punkte, wohl aber umgekehrt ein Punkt ohne Fläche III 8, 10, 20–23. Es handelt sich um Schrift 9 der chronologischen Ordnung. Natürlich ist zu beachten, dass auch Plotins ›frühe‹ Schriften bereits das Werk eines reifen, fast fünfzigjährigen Philosophen sind. – Zu Enn. VI 9 vgl. Halfwassen 2006, bes. 34–53. 73 VI 9, 1, 1–2. 71

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2.2 Metaphysik des Einen (Enn. VI 9)

denken lässt.74 Offensichtlich ist dieses Verfahren ebenso auf sinnli­ che wie auf intelligible Entitäten verschiedenster Art anwendbar,75 und Plotin wendet es in Enneade VI 9 auf die Einheitsbestimmung an, indem er fragt: »Was könnte sein, wenn es nicht Eines wäre?«76 Diese Frage stellt Plotin in Bezug auf verschiedene fundamen­ tale ontologische Klassen, die er aus der zeitgenössischen Logik übernimmt.77 Dabei ist die Reihenfolge der untersuchten Klassen bereits so gewählt, dass sie eine ontologische Hierarchie abbildet, die sich im Nachhinein als eine Hierarchie sukzessiver Vereinfachung erkennen lässt.78 Plotin beginnt seine Untersuchung also mit den Aggregaten, der am wenigsten einheitlichen Klasse, und stellt sofort fest: Ein Heer, ein Reigen oder eine Herde sind das, was sie jeweils sind, allein dadurch, dass sie ein je Eines sind.79 Fehlt ihnen diese Einheit, so braucht es nicht viel Phantasie, sich vorzustellen, was das etwa für einen Reigen bedeuten würde: Er würde sich auflösen in eine Menge sich chaotisch durcheinander bewegender Menschen. Einheitlicher als Aggregate sind »zusammenhängende Größen«, d.h. körperhafte Dinge überhaupt. Auch diese sind, was sie jeweils sind, nur durch ihre Einheit, wie Plotin am Beispiel von Haus und Schiff erläutert.80 Ein Haus, dem seine Einheit fehlt, ist nur mehr eine Ruine und kein Haus, und ein entzweigegangenes Schiff ist kein Schiff, sondern ein Wrack. Die körperhaften Dinge bestehen demnach nur aufgrund ihrer jeweiligen Einheit;81 für Plotin handelt es sich bei dieser spezifischen Einheit natürlich um die Einheit der Idee, die

Test. Plat. 33a = Aristoteles: Metaph. Δ 11, 1018b37–1019a4; dazu Krämer 1959, 259; Gaiser 1968, 504; Schmitt 2008, 185–187. Zur Dimensionsfolge bei Platon vgl. Poetsch 2019, 223–253. 75 Vgl. Halfwassen 2017, der Platons logisch-ontologisches Prioritätskriterium her­ anzieht, um zu klären, welcher der verwandten, aber nicht deckungsgleichen Bestim­ mungen Kultur, Nation und Staat primäre Bedeutung zukommt. Zugleich zeigt er damit, dass das Kriterium des Nicht-Mitaufgehobenwerdens auch in Gegenwartsdis­ kursen unvermindert in der Lage ist, rationale Orientierung zu geben. 76 VI 9, 1, 3. 77 Vgl. HBT, Bd. Ib, 468. 78 VI 9, 1, 28–34; dazu Halfwassen 2006, 41–42. 79 VI 9, 1, 4–6. 80 VI 9, 1, 6–8. 81 VI 9, 1, 8–10. 74

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diesen Dingen ihre Form verleiht, indem sie an ihr teilhaben.82 Wie für Artefakte gilt dies auch für die Leiber (sōmata) von Lebewesen überhaupt (phyta kai zōa, Pflanzen und Tieren); verlieren diese ihre Einheit, so verlieren sie ihr Leben und sind mithin nicht mehr Leiber, sondern etwas anderes, nämlich tote Körper.83 Schließlich verdanken sich die positiven Eigenschaften sowohl von Sinnendingen wie von Seelen ihrer jeweiligen Einheit.84 Für den Reigen hatte sich dies oben schon angedeutet, denn ein Reigen ist schön als in sich vielfältige Einheit; seine Schönheit geht verloren, sobald sich diese Einheit auflöst. Aber auch ein Leib kann genau insofern als gesund und schön gelten, als seine einzelnen Glieder durch ein lebendiges Formprinzip in zweckmäßiger Weise zur Einheit geformt sind.85 Entsprechendes gilt für Seelen, deren Tugend (aretē) für Plotin darin besteht, dass sie mit sich selbst eins sind,86 was, wie oben angedeutet, in einem vorläufigen Sinne durch die Mäßigung irrationaler Affekte, eigentlich aber erst durch die philosophische Vergeistigung der Seele zu erreichen ist.87 Mit der Frage nach der Tugend ist bereits der Bereich des Seeli­ schen berührt; Seelen aber fasst Plotin konsequent als vom Körper unterschiedene, immaterielle und unsterbliche Wesenheiten auf. Die Seele ist beim Menschen Träger seiner Persönlichkeit, insbesondere aber ist die Seele das einheitliche Prinzip der verschiedenen Lebens­ prozesse des Leibes, so dass dessen Einheit als lebendiger Körper durch die Seele konstituiert ist.88 Neben menschlichen, tierischen und pflanzlichen Seelen nimmt Plotin an, dass auch Gestirne beseelt sind, insbesondere aber schreibt er die vernünftige Regierung des sichtbaren Alls insgesamt einer Weltseele (psychē tou pantos) zu.89 Der Kosmos wird demnach auf ähnliche Weise von einer Seele

V 9, 3; vgl. VI 9, 1, 24–25: Der Mensch ist Mensch aufgrund seiner Teilhabe an der Form ›Mensch‹. 83 VI 9, 1, 10–14. 84 VI 9, 1, 14–17. 85 VI 9, 1, 14–16. 86 VI 9, 1, 16–17. 87 S.o., Abschn. 2.1. 88 Grundlegend zur plotinischen Seelenlehre ist Enn. IV 7; vertiefend Enn. IV 3–4; zum Thema Seele bei Plotin vgl. Blumenthal 1971; Loder 2016, 9–47, sowie einfüh­ rend O’Meara 1995, 12–43; Halfwassen 2004, 98–141; zur antiken Metaphysik der Seele insgesamt Halfwassen 2016. 89 Zur Weltseele bei Plotin vgl. O’Brien 2016. 82

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2.2 Metaphysik des Einen (Enn. VI 9)

gelenkt wie der menschliche Leib, insofern besteht eine Analogie von Mikrokosmos (Mensch) und Makrokosmos (All).90 Diese verschiedenen Bedeutungen von ›Seele‹ schwingen mit, wenn Plotin erörtert, inwiefern die Seele als ein ›Kandidat‹ für das Einheitsprinzip der Wirklichkeit insgesamt gelten kann: Müssen wir also, da die Seele alles zur Einheit bringt, indem sie es schafft und bildet und formt und zusammenfügt, bei dieser angelangt sagen, dass sie es ist, die (allem anderen) das Eine mitteilt und die selbst das (reine) Eine ist?91

Ist die Seele womöglich die schlechthinnige Einheit, die alles andere zu einem je Einen macht? Wenn ja, dann muss sie von sich aus so einheitlich sein, dass sie keines weiteren Einheitsgrundes außerhalb ihrer selbst mehr bedarf. Dies kann Plotin zufolge nicht angehen, da die Seele selbst, wie sich jeder Mensch leicht an seiner eigenen Seele vergegenwärtigen kann, vielheitlich ist, insofern »viele Kräfte in ihr sind, Denken, Streben, Wahrnehmen, die (selbst) durch das Eine wie durch ein Band zusammengehalten werden.«92 Obwohl die Seele also den Leib als dessen Einheitsprinzip zusammenhält, ist sie kein schlechthin Eines, sondern eine geeinte Vielheit, ein Eines und Vieles (hen kai polla).93 Daher muss auch für die Seele nach einem von ihr verschiedenen Prinzip gesucht werden, das ihre Einheit verbürgt und garantiert, dass sie sich nicht in ein Bündel disparater Fakultäten und Eigenschaften auflöst. Da die Seele, obgleich sie die Einheit der Leiber konstituiert, auf Grund ihrer eigenen Komplexität nicht hinreichend einheitsförmig ist, um als universales Einheitsprinzip gelten zu können, liegt es nahe, diejenigen Entitäten für die letzten Einheitsgründe zu halten, die Plotin schon eingangs als das eigentlich Seiende bezeichnet hatte, nämlich die Ideen.94 Dafür, dass sie es sind, die das übrige Seiende jeweils als Einheit konstituieren, scheinen zunächst plausible Gründe 90 Zu diesem Begriffspaar – das bei Plotin nicht verbatim auftritt, durch die analoge Struktur von Welt- und Menschenseele (vgl. V 1, 2, 44–47) aber durchaus auf die plotinische Philosophie anwendbar ist – vgl. Gatzemeier 1980. 91 VI 9, 1, 17–20. 92 VI 9, 1, 40–42. 93 IV 2, 2, 52–53; V 1, 8, 26; dazu und Halfwassen 2004, 101. Der Ausdruck ist Platon, Parm. 155e, entlehnt. Zu Plotins Auslegung des Platonischen Parmenides vgl. Dodds 1928; Volkmann-Schluck 1957, 130–147; Halfwassen 2006, bes. 183–192. 94 VI 9, 2, 1–3.

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zu sprechen. Denn die Bestimmungen, die eine Seele ihrem Leib verleiht, sind (platonisch gedacht) Ideenbestimmungen, so etwa beim Menschen die Form des Menschseins.95 So lassen sich alle Form­ bestimmungen der sinnlichen Welt vermittels der Seele auf Ideen zurückführen, wodurch diese, jedenfalls auf den ersten Blick, als letzte Prinzipien der Wirklichkeit erscheinen können. Plotin insistiert demgegenüber, die Ideen seien keineswegs solche letzten Einheitsprinzipien. Hierfür kann er schlagende Argu­ mente geltend machen. Der offensichtlichste Grund ist der, dass die Ideen selbst keine reinen Einheiten, sondern komplexe und gewis­ sermaßen zusammengesetzte Entitäten sind – zusammengesetzt frei­ lich nicht aus materiellen Bestandteilen, sondern aus intelligiblen Bestimmungsmomenten, so etwa im Falle der Idee des Menschen aus Lebendigkeit und Vernünftigkeit. Die Idee des Menschen – und analog die übrigen Ideen – können daher keineswegs als absolut einfach gelten. Ihrer eigenen Vielheitlichkeit wegen bedürfen sie vielmehr selbst eines ihnen vorgängigen Einheitsprinzips.96 Aus einem verwandten Grund ist es für Plotin auch unhaltbar, die Gesamtheit der Ideen, d.h. das eigentlich Seiende insgesamt, als die letzte Einheit anzunehmen. Denn wenn schon die Einzelideen zu komplex sind, um als das Eine gelten zu können, dann kann »das ganze Seiende« (to holon on)97, die Gesamtheit aller Ideen, erst recht nicht vollkommen einfach sein, da es die Ideen als eine Vielheit in sich enthält, zumal als eine Vielheit, deren Elemente, wie an der Idee des Menschen aufgewiesen, wiederum vielheitlich sind.98 Zwar konzipiert Plotin die Ideen keineswegs als die disparaten Bestandteile eines bloßen Aggregats. Im Gegenteil: Für ihn sind sie die Gehalte des göttlichen Nous, der wesenhaft das Denken der Ideen ist und sich selbst in diesem Denken erfasst. Die Ideen sind daher keine bloßen Denkgegenstände, sondern ein lebendiges und schöpfe­ risches Denken ihrer selbst.99 Daher kann der Nous als in hohem Maße einheitlich gelten.100 Er ist insbesondere einheitlicher als die

VI 9, 1, 24–25. VI 9, 2, 16–21. 97 VI 9, 2, 22. 98 VI 9, 2, 21–32. 99 S. o. Abschn. 2.1; vgl. VI 9, 2, 24–25. Zur Denkweise des Nous vgl. Beierwaltes 2001, 16–93; Halfwassen 2004, 59–97. 100 Vgl. VI 9, 5, 12–24. 95

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Seele, kein Eines und Vieles, sondern ein Eines-Vieles (hen polla).101 Aber auch der Nous ist nicht reine Einheit, sondern bloß geeinte Vielheit, und als solche kann er seine Einheit nicht allein sich selbst verdanken, sondern muss sie von einem anderen her erhalten haben. Dies gilt insbesondere deshalb, weil Plotin den Nous, unbeschadet seiner geistigen Einheit, als die Zweiheit von Denken und Gedachtem konzipiert, wobei das Gedachte dem ideenhaft Seienden insgesamt entspricht.102 Auch aus diesem Grund ist es Plotin zufolge abwegig, im Geist die reine Einheit erblicken zu wollen. Wie der so skizzierte Argumentationsgang zeigt, ist für Plotin alles Seiende, sofern es als Seiendes Vielheitscharakter aufweist, eines Einheitsgrundes bedürftig, der es als geeinte Vielheit konstituiert. Dieser Einheitsgrund darf selbst nicht wieder vielheitlich, sondern muss reine Einheit sein. Aus diesem Grund nimmt Plotin ein absolut Eines an, dem alles Seiende sein eigenes Einssein – zugleich damit aber sein Sein und sein Gutsein – verdankt. Dieses Eine gilt ihm dann als der »Urgrund von allem« (archē tōn pantōn)103. Zugleich ist es der »Erhalter« (to sōzon)104 des Seienden insgesamt, indem es dieses davor bewahrt, sich in disparate Mannigfaltigkeit aufzulösen. Vor einer solchen Auflösung bewahrt zu werden, ist für jegliches Seiende das Gute (to eu)105; das ist ein wesentlicher Grund dafür, dass Plotin Eines und Gutes identifiziert. Während so alles andere nach dem Einen-Guten strebt, ist dieses allein aufgrund seiner reinen Einheit vollkommen selbstgenügsam und unbedürftig.106 Dies gilt insbeson­ dere im Vergleich zum Nous, der kein solches Genügen kennt und dem daher ein intensives Liebesstreben nach dem Einen eignet, durch welches er, in einem zeitlos-ewigen Prozess, erst eigentlich Geist, d.h. erfülltes Denken seiner selbst, wird. Dass der Geist überhaupt denken kann, verdankt er demnach seiner Zuwendung zum absolut Einen, durch die er selbst erst ein Eines wird.107

V 1, 8, 26; vgl. Platon, Parm. 144e und dazu Halfwassen 2004, 41. VI 9, 2, 33–37. 103 VI 9, 3, 15. 104 VI 9, 6, 39. 105 VI 9, 6, 38; 9, 12. 106 VI 9, 6, 17–38. 107 Vgl. hierzu insgesamt VI 7, 15–17; V 3 11, 1–22; dazu Halfwassen 2006, 130–149; ders. 2015, 149–164; Rohstock 2019; bes. zu V 3, 11 Beierwaltes 1991, 138–141. Auch in Enn. VI 9 ist der Einheitsbezug des Geistes angesprochen; vgl. VI 9, 2, 33–40, 101

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Wenn weder eine Idee noch der alle Ideen umfassende Geist das Eine sind, das die Einheit alles Seienden verbürgt, so stellt sich die Frage, was das Eine sei und wie es zu denken sei, freilich in neuer Radikalität. Denn mit ›Idee‹ wird in der platonischen Tradition ja ebendas bezeichnet, was an ihm selbst intelligibel, denkend erkenn­ bar, ist; Ideen sind per definitionem diejenigen Seienden, die durch das Denken, und nur durch es, erfasst werden können.108 Die Sinnen­ dinge sind demgegenüber nur insofern erkennbar, als sie an den Ideen teilhaben, weil sie nur hierdurch eine erkennbare Form aufweisen. Wenn das Eine aber weder intelligibel noch sinnlich wahrnehmbar ist, so ist fraglich, inwiefern es überhaupt erkennbar oder auch nur denkbar sein kann. Es scheint daher keineswegs übertrieben zu sein, wenn Plotin im Hinblick hierauf meint, »was nun das Eine sein mag und was für ein Wesen (physis) es hat«, sei »nicht leicht (mē radion) zu sagen«.109 Klar ist zunächst lediglich, dass dem Einen, weil es als der Urgrund ›früher‹ ist als das Seiende, keines der Attribute des Seien­ den zukommen darf, auch kein Attribut des im vornehmsten Sinne Seienden, des Geistes. Seiendsein und Etwassein, aber auch Ruhe und (geistige) Bewegung, die Grundcharaktere des Nous, sind ihm daher abzusprechen: Es ist also Jenes auch nicht Geist, sondern vor dem Geiste. Denn der Geist ist etwas von den Seienden; Jenes aber ist nicht ein Etwas, son­ dern vor jeglichem (ou ti, alla pro hekastou), und auch kein Seiendes, denn das Seiende hat zur Form gleichsam die Form des Seienden, Jenes aber ist ohne, auch ohne geistige Geformtheit. Da nämlich die Wesenheit des Einen die Erzeugerin (gennētikē) aller Dinge ist, ist es keines von ihnen. Sie ist also weder ein Etwas noch ein Wiebeschaffe­ nes noch ein Wieviel, weder Geist noch Seele; es ist kein Bewegtes und wiederum auch kein Ruhendes, nicht Raum und nicht in der Zeit, »sondern das Eingestaltige an sich selbst«, oder ohne Gestalt, da es vor jeder Gestalt ist, vor Bewegung und vor Ständigkeit, denn die haften am Seienden und machen es zu einem Vielen.110

bes. 35–36: Der Geist wendet sich schauend auf sich selbst, indem er sich auf seinen Urgrund, das Eine, hinwendet. 108 Vgl. Radke 2002. 109 VI 9, 3, 1–2. 110 VI 9, 3, 36–45 (mit Zitat aus Platon, Symp. 211b1).

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2.2 Metaphysik des Einen (Enn. VI 9)

Dem Einen darf also gar kein Attribut beigelegt werden. Hierfür spricht noch ein weiteres Argument: Würde das Eine unter einer Bestimmung, gleich welcher, gedacht, so würde es sogleich als eine Zweiheit aufgefasst, nämlich als die Zweiheit des zugrunde liegenden Einen und des ihm zukommenden Attributs.111 Jens Halfwassen hebt diesen Aspekt in seiner Deutung der plotinischen Metaphysik hervor: Das Absolute muss als reine Einheit gedacht werden. Wird reine Einheit aber konsequent gedacht, dann weist sie jedwede Bestimmung strikt von sich ab, weil jede überhaupt denkbare Bestimmung sie in Vielheit hineinziehen würde.112

Die Schwierigkeiten, die jeder Versuch mit sich bringt, das Eine ausge­ hend von diesen Voraussetzungen zu denken, sind allerdings enorm. Denn wenn das Eine weder eine physische Gestalt noch eine geistige Form aufweist, noch irgendeine Bestimmung anzunehmen vermag, muss es dann nicht als ein bloß Unbestimmtes, als ein Diffuses gelten?113 Ist das Eine am Ende gar das Nichts (ouden)?114 Plotin verneint solche Schlussfolgerungen entschieden. Das Eine sei ja nicht das Letzte und Schlechteste, sondern das Allererste.115 Er gesteht aber zu, dass derartigen Befürchtungen eine erhebliche subjektive Bedeu­ tung zukommen kann und dass die Bestimmungslosigkeit des Einen geeignet ist, den Philosophierenden, der sich denkend scheinbar ins Nichts stürzen sieht, geradezu in Angst zu versetzen. 116 Diese Angst ist für uns Menschen, denen es als Gattung zukommt, in der Vielheit sowohl der Erscheinungswelt wie des intelligiblen Kosmos zu leben, gewissermaßen naturgemäß. Es ist beschwerlich, den Geist auf das absolut Eine zu richten, ähnlich wie es für das Auge anstrengend ist, sehr kleine Gegenstände zu betrachten.117 Angst und Beschwernis sind aber nicht das letzte Wort der plotinischen Philosophie, vielmehr

VI 9, 3, 45–49. Halfwassen 2004, 43. 113 Zu diesem Einwand vgl. Beierwaltes 1990, XXVII–XXVIII. 114 VI 9, 3, 6. 115 VI 9, 3, 16–17. 116 VI 9, 3, 6. – Beachtenswert sind die Parallelen, vor allem aber die Differenzen zu Heidegger, GA, Bd. 9, 102–122 (»Was ist Metaphysik?«). Heidegger zufolge ist es gerade die ängstigende Erfahrung des Nichts, durch die der Mensch des Seins innewird und existentiell zu sich kommt. Zum Verhältnis Heidegger’scher und plotinischer Philosophie vgl. Beierwaltes 1980, 131–143; Kremer 1989. 117 VI 9, 3, 6–10. 111

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verheißt diese einen Aufstieg der Seele zum Einen.118 Wer diesen Aufstieg allen Ernstes unternimmt, wird das Eine im Sinne Plotins keineswegs als dunkel und furchteinflößend, sondern als über alle Maßen schön und beglückend, als »mild« (ēpion) und »freundlich« (prosēnes) erfahren.119 Systematisch lässt sich diese zunächst befremdende, dann aber beglückende Qualität unserer Erfahrung des Einen (nicht des Einen selbst) darauf zurückführen, dass das Eine, auch und gerade, weil es kein Seiendes ist, doch keineswegs der Mangel (die Privation) von Form und Bestimmtheit ist, sondern vielmehr ein Überschuss, der freilich jedes Fassungsvermögen unseres Geistes – und selbst des göttlichen Nous – sprengt.120 Es ist das Nichtseiende nicht im Sinne des Nichtigen, sondern des Überseins, des Über-das-Sein-hinausSeins.121 Es entzieht sich dem Denken nicht als ein Diffuses, sondern als die ›Quelle‹ des Denkbaren,122 verglichen mit der das Denkbare selbst im Wortsinn diffus (›ausgebreitet‹) ist.123 Auch der oben zitierte Textabschnitt macht das deutlich: Das Eine ist bestimmungslos, weil es ›vor jeglichem‹, weil es die das Seiende insgesamt hervorbringende (gennētikē) Macht ist.124 Es ist kein Seiendes und kein Denkbares, weil es das ist, was der Totalität des Seienden als deren Einheitsgrund vor­ ausgeht.125 Eben als solches ist es das schlechthin Transzendente.126 Das Eine ist, wie aus diesen Überlegungen hervorgeht, an ihm selbst undenkbar. Obgleich aber eine propositionale Erkenntnis und sogar eine geistige Schau des Einen für Plotin ausgeschlossen ist, ist uns doch nicht jede Erfahrung des Einen verwehrt. Die negative Erkenntnis, dass das Eine sich dem denkenden Zugriff entzieht, VI 9, 3, 14–27. V 5, 12, 33; dazu Beierwaltes 2011, 38. 120 Vgl. Halfwassen 2004, 158–162, zur hier zugrunde liegenden Negationstheorie. 121 VI 8, 14, 42. 122 III 8, 10, 5; VI 9, 5, 36 u.ö. 123 VI 8, 18, 33–36. 124 Vgl. III 8, 10, 1; V 1, 7, 9–10 u.ö., wo das Eine als das Vermögen zu allem (dynamis pantōn), also gewissermaßen als die ›Allmacht‹, beschrieben wird. (Gemeint ist, wie aus dem Kontext jeweils hervorgeht, keineswegs eine bloß passive Möglichkeit im Sinne der aristotelischen Unterscheidung von dynamis und energeia. Denn eine solche dynamis würde eines anderen bedürfen, das sie aktualisiert, wäre also nicht das Erste.) 125 Vgl. VI 9, 11, 35: Das Eine ist »das, was vor allem ist« (to ho esti pro panta). 126 Zur Seinstranszendenz des Einen bei Plotin vgl. Huber 1955, 53–60; Halfwassen 2006, 150–157; zu historischem Ursprung und systematischer Bedeutung des Tran­ szendenzbegriffs Halfwassen 1998; ders. 2004, 43–58; ders. 2015, 27–36. 118

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erschließt dem Philosophierenden vielmehr die Möglichkeit, seine Gegenwart in einer Weise zu erfahren, die das stets in Gegensätzen operierende Denken radikal überschreitet; sie eröffnet, mit anderen Worten, einen Raum für die mystische Versenkung in das Eine: Es beruht aber diese Schwierigkeit [sc. das Eine zu erfassen] hauptsäch­ lich darauf, dass man des Einen weder auf dem Wege wissenschaftli­ chen Erkennens (epistēmē) noch auf dem Wege geistiger Schau (noēsis) inne werden kann, wie der übrigen Denkgegenstände (noēta), sondern nur vermöge einer Gegenwärtigkeit, welche von höherer Art ist als Wissenschaft (kata parousian epistēmēs kreittona).127

Auch das Denken ist angesichts des Einen nicht vollends hilflos. Zwar lässt sich dieses Plotin zufolge nicht unmittelbar erfassen, wohl aber lässt es sich gedanklich und damit auch sprachlich gleichsam umkreisen: »Wir sagen wohl etwas über Jenes, aber wir sagen Jenes nicht aus« (legomen men ti peri autou, ou mēn auto legomen)128. Hierfür schlägt Plotin in Enneade VI 9 zwei Verfahren vor: erstens die negative Ausgrenzung des Einen vom aus ihm hervorgehenden Seienden, die via negativa. Sie kann für Plotin insofern Vorrang vor jeder anderen Weise der denkenden Annäherung an das Eine beanspruchen, als es allein sie ist, die die Transzendenz des Einen über Sein und Denken rein bewahrt – eine Transzendenz, die durch jedes dem Einen beigelegte Attribut angetastet würde: »Sprichst du also das Wort ›das Gute‹ aus, so denke nichts Weiteres hinzu; denn setzt du etwas hinzu, so wirst du es um so viel, als du hinzugesetzt hast, vermindern.«129 Wenngleich das Eine an sich unerkennbar ist, lässt das aus ihm Hervorgegangene Plotin zufolge doch Rückschlüsse auf sein verborgenes Wesen zu, so dass es von diesem her, wenngleich immer nur unzureichend, analogisch benannt und in einem gewissen Sinne sogar erkannt werden kann: Es wird eher aus dem von ihm Gezeugten erkannt (gignōskomenon), dem Sein – und die Vernunft (nous) leitet uns zum Sein130 – sein Wesen ist derart, dass es Quell des Vollkommensten ist, die Kraft, welche das VI 9, 4, 1–3. V 3, 14, 1–2. 129 III 8, 11, 12–13. 130 Mit Armstrong, Enneads, Bd. 7, 320–321, ist davon auszugehen, dass Plotin hier ›unseren‹ Nous – d.h. den zur Ideenschau befähigten höchsten Seelenteil, die Vernunft, – meint. Denn der göttliche Nous leitet uns im Sinne Plotins nicht zum Sein, sondern ist selbst höchstes Sein. 127

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Seiende erzeugt, wobei es aber in sich beharrt und nicht vermindert wird, auch nicht in den aus ihm entstehenden Dingen ist, denn es ist vor diesen.131

Die Methode einer analogischen Quasi-Erkenntnis des Einen via causalitatis wird an dieser Stelle freilich nur angedacht, nicht ent­ wickelt.132 Ihre Grenze liegt darin, dass das Eine hierdurch nie an ihm selbst, sondern nur in der Weise seiner Erscheinung im Seienden, also in einem präzise bestimmten Sinne ›uneigentlich‹, erkannt wird. An ihm selbst bleibt es dagegen wesenhaft unerkennbar und unnennbar, und insofern lässt sich von ihm in der Tat »weder reden noch schrei­ ben«133. Plotins negative Theologie des Einen lässt schon die Überlegung, wie dieses am angemessensten zu benennen sei, zu einer schwierigen, freilich lohnenden philosophischen Meditation werden. Obgleich es wesentlich unnennbar ist, erscheinen die Bezeichnungen ›das Eine‹ und ›das Gute‹, die schon bei Platon eine prominente Rolle spielen, dabei am relativ angemessensten.134 Plotins bevorzugte Bezeichnung für das Absolute, ›das Eine‹, ist demzufolge selbst nur eine Hilfslösung. Sie verweist auf die Unteilbarkeit des Einen und hat damit wesentlich negative Bedeu­ tung.135 Diese Unteilbarkeit ist im Sinne radikaler Vielheitslosigkeit zu verstehen, nicht als die Unteilbarkeit einer kleinsten Quantität wie bei der Zahl Eins oder dem Punkt, denn Quantität ist eine akzidentelle Bestimmung des Seienden, die dieses als ihren Träger voraussetzt.136 Ferner wäre das Eine als Zahl Eins oder als Punkt ein Kleinstes; das Eine aber ist, wie sich Plotin in einer paradoxen Wendung ausdrückt, keineswegs das Kleinste, sondern »das Größte von allen, nicht an Größe, sondern an Macht« (megiston hapantōn, ou megethei alla dynamei)137. Wie die Bezeichnung ›das Eine‹ ist auch die ›das Gute‹ nur im übertragenen Sinne zu verstehen: Da es ganz aus der Ordnung des VI 9, 5, 34–38. Ausgeführt wird dieses Programm von Plotin in Enn. VI 8; s. dazu unten, Abschn. 2.3. 133 VI 9, 4, 11–12. 134 Zu Plotins Anknüpfung an diese Zentralbegriffe der Metaphysik Platons vgl. Halfwassen 2006, passim. 135 VI 9, 5, 38–41. 136 VI 9, 5, 41–44. 137 VI 9, 6, 7–8. 131

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Seienden herausgehoben ist, ist das Eine-Gute kein Gut (agathon) in der Reihe der übrigen Güter, sondern das Prinzip des Gutseins überhaupt, »das Gute über alle Güter« (tagathon hyper ta alla aga­ tha)138. Auch diese Formulierung drückt allerdings nur aus, dass die vielheitlichen Wesenheiten der intelligiblen wie der sinnlichen Welt das Eine als ihr Gutes begehren. Für sich selber ist es kein Gut, weil es völliges Genügen hat und daher keines Gutes irgendeiner Art, auch nicht seiner selbst, bedarf.139 Auch als den Grund (aitia) oder Urgrund (archē) können wir das Eine nur von uns her ansprechen. Wir nennen es so, weil wir ihm unser Sein verdanken, nicht weil ihm das Grundsein als ein Attribut zukäme.140 Selbst »Jener« oder »Jenes« (ekeinos bzw. ekeino) – das Demons­ trativpronomen hat im Griechischen wie im Deutschen einen Bei­ klang von Erhabenheit und wird von Plotin daher gerne verwendet – bezeichnet das Eine nicht an sich, sondern nur unseren Bezug auf es.141 Wenn keine Erkenntnis und nicht einmal eine angemessene Benennung des Einen möglich ist, eben weil es vollkommen einheit­ lich ist, dann kann keine geistige Tätigkeit uns seiner innewerden lassen. Das Eine ist kein Seiendes, kein Denkbares, insofern ist es in der Tat ›das ganz Andere‹.142 Zugleich aber ist es uns immer schon gegenwärtig, weil wir allein durch die Teilhabe an ihm ein je Einer und – wie alles Seiende – erst hierdurch seiend sind: »Denn Etwas von ihm ist auch bei uns; es gibt ja nichts, bei dem es nicht ist, soweit es an ihm teilzuhaben vermag.«143 Daher erfahren wir uns dem Einen »manchmal nahe, manchmal sind wir zurückgeworfen durch die Weglosigkeit um es«144. Die Gegenwart des Einen in uns ist die Voraussetzung der plo­ tinischen Mystik, die nichts anderes bezweckt als die Vergegenwärti­ gung der uns tragenden Wirklichkeit des Einen.145 Dies ist freilich nicht ohne Weiteres möglich, vielmehr setzt diese Erfahrung eine VI 9, 6, 57. VI 9, 6, 34–42. 140 VI 9, 3, 49–51. 141 VI 9, 3, 51–53. 142 V 4, 1, 6: pantōn heteron; vgl. III 8, 9, 40–41; dazu Kremer 1998, 683–684; Halfwassen 2004, 44–45. 143 III 8, 9, 23–24. 144 VI 9, 3, 53–54 (Übersetzung nach Halfwassen 2006, 108). 145 Zur plotinischen Mystik vgl. Hadot 1997, 73–107; Beierwaltes 1974; ders. 1985, 123–154; Halfwassen 2004, 49–58. 138

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Transformation unserer selbst voraus, in der wir uns dem Einen, und zwar gerade im Hinblick auf seine absolute Einfachheit, verähnlichen: Jenes ist gewiss niemandem fern, und doch ist es allen fern, es ist gegenwärtig und doch nur denen gegenwärtig, die es aufnehmen können und gerüstet sind, dass sie zu ihm passen und es gleichsam anfassen und berühren können vermöge einer Ähnlichkeit, d.h. einer Kraft in ihnen, die dem verwandt ist, was von ihm [sc. dem Einen] her­ stammt.146

Schon die Ideenschau transzendiert ja das diskursive Denken, ist propositional letztlich nicht mehr einzuholen und kann Plotin zufolge nur durch eine (relative) Vereinfachung der Seele bewerkstelligt werden, die hierin selber geistig und so zur Schau des Intelligiblen befähigt wird.147 Das Eine aber lässt in seiner radikalen Einfachheit auch noch den Gegensatz von Denken und Gedachtem hinter sich, der den Geist kennzeichnet. Aus diesem Grund denkt es nicht einmal sich selbst, höchstens könnte man sagen, dass es in einer Weise bei sich ist (synon hautō), die das Denken übersteigt – und des Denkens daher nicht bedarf.148 Wie also könnte die Seele das Eine schauen, ohne dieses dabei zwangsläufig in die Vielheit ihres eigenen Denkens hinabzuziehen und es damit als das Eine wiederum zu verlieren? Plotin beantwortet diese Frage nicht mit einer lehrhaften Darstellung, sondern mit einer Anleitung zum inneren Handeln. Um in die Schau149 des Einen einzutreten, muss die Seele sich demnach aller Prägungen, aller Form und Gestalt entheben150, ein Prozess, den Plotin als haplōsis151, als das Einfachwerden der Seele, bezeichnet. Von reinem Liebesverlangen nach dem Einen ergriffen, legt sie Wahrnehmung und Denken ab und richtet sich ganz auf den Einen Urgrund, der in ihr anwesend ist. Die Erfahrung des Einen bleibt freilich, solchen Vorbereitungen zum Trotz, unverfügbar, sie ereignet sich plötzlich und kann weder künstlich herbeigeführt noch willentlich beendet werden: 146 VI 9, 4, 24–28 (zu Übersetzung und Interpunktion gegen HBT vgl. H-S2 sowie Tornau, Schriften, 68; Gerson, Enneads, 887); vgl. VI 9, 7, 28–34; 8, 33–35. 147 III 8, 8, 1–8; vgl. Halfwassen 2015, 247–263, bes. 247–252. 148 VI 9, 6, 42–50, bes. 49. 149 Von Schau kann hier freilich nur in einem analogen Sinne die Rede sein, da kein Abstand von Schauendem und Schaunis mehr erfahren wird; vgl. VI 9, 10, 19–21; 11, 4–7.22–25; dazu Kirchner, A. 2016, 88–90. 150 VI 9, 7, 2–21; 9, 50–55 u.ö. 151 VI 9, 11, 23.

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2.2 Metaphysik des Einen (Enn. VI 9)

Sie erblickt ihn dann in sich, wie Er im Nu erscheint, es steht ja nichts zwischen ihnen, sie sind nicht mehr zwei, sondern beide sind Eines; du kannst sie nicht mehr sondern, solange Er beiwohnt.152

In der mystischen Erfahrung steht die Seele dann gleichsam außerhalb ihrer selbst, in ekstasis.153 Obgleich manche Formulierungen Plotins Gegenteiliges anzudeuten scheinen, bleibt die Seele in dieser Selbst­ hingabe aber doch sie selbst, das heißt, sie ›verlöscht‹ nicht und büßt ihre Individualität auch sonst in keiner Weise ein; vielmehr begreift sie erst jetzt, was sie eigentlich und zuinnerst ist.154 Dabei aber erfährt sie sich als vollkommen geeint mit dem Einen; das Eine und der Myste überlagern einander gleichsam, wie sich in der Geometrie zwei Kreismittelpunkte überlagern können, ohne hierdurch als die Mittelpunkte jeweils verschiedener Kreise aufgehoben zu werden. Im Sinne Plotins können Umschreibungen wie die folgende die mystische Erfahrung, die jede Möglichkeit begrifflicher Sprache sprengt, freilich immer nur andeuten: Wenn der Schauende nun dann, wenn er schaut, auf sich selbst schaut, wird er sich als einen so erhabenen erblicken, vielmehr er wird mit sich selbst als einem so erhabenen vereinigt sein und sich als solchen empfinden, denn er ist dann einfach geworden. Das Geschaute aber (wenn man denn das Schauende und das Geschaute zwei nennen darf und nicht vielmehr beides eines) sieht der Schauende in jenem Augenblick nicht – die Rede ist freilich kühn –, unterscheidet es nicht, stellt es nicht als zweierlei vor, sondern er ist gleichsam ein anderer geworden, nicht mehr er selbst und nicht sein eigen, ist einbezogen in die obere Welt und Jenem Wesen zugehörig, und so ist er Eines, indem er gleichsam Mittelpunkt mit Mittelpunkt berührt.155

Enneade VI 9 zeigt, wie die Rückführung alles Seienden auf seinen Urgrund im Sinne Plotins zu denken ist. Alles ist und ist, was es ist, weil und sofern es ein je Eines ist. Eines aber ist jedes Seiende durch seine Teilhabe an der einheitsstiftenden Macht des absolut Einen. Die VI 7, 34, 12–14. VI 9, 11, 23. 154 VI 9, 11, 38–42: »Läuft sie [sc. die Seele] dagegen in entgegengesetzter Richtung [sc. zum Einen], so wird sie nicht zu einem andern gelangt sein, sondern zu sich selbst, und so befindet sie sich, da sie nicht in einem andern ist, nicht in einem Nichts, sondern in sich selbst«. Vgl. VI 9, 7, 28–34. – Dass die plotinische ekstasis keine »Auslöschung« (»annihilation«) des Selbst impliziert, betonen zu Recht Beierwaltes (1974, 29) und O’Meara (1995, 106). 155 VI 9, 10, 9–17. 152

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2 Plotin als Denker absoluter Transzendenz

Seele des Philosophierenden erkennt diese Sachverhalte nicht nur, sie vollzieht sie innerlich nach und transformiert sich hierdurch sukzes­ sive in höhere Formen ihrer selbst. Das Eine selbst ist nicht mehr zu begreifen, es ist das absolut Transzendente jenseits des Seienden und jenseits des Geistes. Daher ist es wesentlich unerkennbar und nur noch negativ oder in immer ungenügend bleibenden Analogien zu umschreiben. Dennoch vermag der Philosophierende, indem er sich ganz in sich zurücknimmt, augenblickhaft die Einheit mit dem immer schon in ihm anwesenden Einen zu erfahren.

2.3 Spekulative Theologie (Enn. VI 8) Enneade VI 9 ist beispielhaft für den streng negativ-theologischen Charakter der plotinischen Metaphysik. Deren Grundsatz lautet, dass dem Einen alle denkbaren Attribute abzusprechen sind. Diese Methode kann allerdings zu schwerwiegenden Missverständnissen führen, wenn die Negationen, die die Transzendenz des Einen über das von ihm hervorgebrachte Seiende anzeigen sollen, so aufgefasst werden, als würden sie einen Mangel des Einen bedeuten. Schon in Enneade VI 9 wird diese Deutung entschieden zurückgewiesen: So wird dort betont, dass das Eine sich selbst weder denkt noch weiß; dies ist aber nicht als ein Unwissen (agnoia), also als ein Mangel an Wissen zu verstehen, es besagt vielmehr, dass das Eine des Wissens nicht bedarf, weil es über Wissen und Wissbarem steht.156 In Enneade VI 8 wird diese Thematik erneut aufgegriffen. Sie ist besonders drängend in Bezug auf den Freiheitsbegriff, denn die negative Theologie Plotins könnte zu dem Gedanken verführen, wenn dem Einen mit allen ande­ ren Attributen auch Freiheit und Selbstbestimmung abzusprechen seien, sei es folglich einer anderen Macht, dem Schicksal oder dem Zufall, unterworfen.157 Für die unter dem Einen stehenden göttlichen Wesenheiten ist es noch unproblematisch, ihnen Freiheit zuzuschreiben, denn Freiheit ist im Sinne Plotins genauer vernünftige Selbstbestimmung zum VI 9, 6, 42–50. Zu Enn. VI 8 vgl. Beierwaltes 1990, bes. XXIX–XLII, sowie Dangel 2018. Ähnlich wie Jaspers (s.u., Abschn. 6.3) betont Dangel, dass die Philosophie Plotins ihrem Wesen nach eine Philosophie der Freiheit als vernünftige Selbstbestimmung ist.

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2.3 Spekulative Theologie (Enn. VI 8)

Guten.158 Diese aber kommt den ›Göttern‹ im hervorragenden Sinne zu, und zwar insbesondere den intelligiblen Göttern, d.h. den Ideen, die zusammen den Nous bilden, der selbst nichts anderes ist als denkendes Streben nach dem Einen.159 Auch unsere Seelen sind Plotin zufolge zur Freiheit fähig; eine jede realisiert diese Freiheit, wenn sie »vermöge der Vernunft ungehindert zum Guten strebt« und – allerdings in einem abgeleiteten Sinne – auch wenn sie entsprechend handelt.160 Dem Einen dagegen scheint keine Freiheit in diesem Sinne zuzukommen. Denn wozu könnte es sich bestimmen, da es ja als das Gute selbst Ziel aller Dinge ist?161 Noch aus einem weiteren, systematisch schwerwiegenderen Grund kann Plotin dem Einen nicht ohne Weiteres Freiheit zuspre­ chen. Als Selbstbestimmung impliziert Freiheit nämlich eine Unter­ scheidung in sich selbst, zwischen Bestimmendem und Bestimmtem, Willen und Sein. Im Einen aber kann es aufgrund seiner vollkomme­ nen Einheit keine derartige Unterscheidung geben, folglich muss ihm die Selbstbestimmung abgesprochen werden.162 Der Grund, aus dem Plotin eine Selbstbestimmung des Einen verneint, ist damit derselbe, aus dem er bestreitet, dass das Eine seiend sei und dass es denke. Die genannten Bestimmungen würden seine reine Einheit antasten.163 Plotin schärft folglich auch hier den Grundsatz seiner negativen Theologie ein: »Im eigentlichen Sinne lässt sich nichts finden, was wir über ihn, geschweige denn von ihm aussagen können, denn alle, auch die herrlichsten und erhabensten Eigenschaften sind später als er«164. Diese Überlegung darf allerdings nicht den Gedanken provozie­ ren, dass gerade Gott165 unfrei sei und es sich mit ihm nicht nach seinem Willen, sondern aufs Geratewohl (hōs tychousa) verhalte,166 so als sei er entweder dem Schicksal (tychē) oder dem Zufall (to auto­ VI 8, 3, 1–8.19–24; 4, 12–14. VI 8, 4, 28–39; 6, 32–37. 160 VI 8, 7, 1–3. 161 VI 8, 7, 6–10. 162 VI 8, 7, 46–8, 8; 12, 29–37. 163 S.o., Abschn. 2.2. 164 VI 8, 8, 6–9. 165 Plotin bevorzugt in Enn. VI 8 den Terminus Gott (theos) und das Maskulinum (im Gegensatz zu Bezeichnungen im Neutrum wie das Gute oder das Eine), offenbar um den quasi-personalen Charakter des Einen zu betonen, der besonders in seiner Freiheit zum Ausdruck kommt; vgl. Beierwaltes 1990, XXIX–XXX; zur Gottheit des Einen s.o., Abschn. 2.1 mit weiteren Literaturangaben. 166 VI 8, 7, 11–19. 158

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maton) unterworfen.167 Für Plotin sind solche Vorstellungen absurd und geradezu blasphemisch, weil sie Gott, den König (basileus) und Ursprung von allem168, in die Stellung eines Knechts (doulos)169 her­ abwürdigen. Plotin versucht die Abwegigkeit der von ihm bekämpften Posi­ tion durch Vergleiche mit den intelligiblen Wesenheiten aufzuzeigen: Während der Geist und auch die Seelen tugendhafter Menschen durch vernünftige Selbstbestimmung gekennzeichnet sind – gerade hierin liegt ihre Freiheit –, sind Zufälligkeit und Sichverhalten aufs Gerate­ wohl für Plotin ein Charakteristikum des niedrigsten Seinsbereichs, der Sinnendinge. Soll das Absolute also auf einer niedrigeren Stufe stehen als seine ersten Prinzipiate?170 Für Plotin ist dieser Gedanke – der Gedanke, das Eine könnte ›weniger‹ sein als das aus ihm Hervorgegangene – unannehmbar. Umgekehrt gilt vielmehr: Jenes, als Prinzip aller Dinge, ist nicht irgendetwas beliebiges; es darf nicht nur nicht geringer, es darf nicht einmal gut in einem eingeschränkten Sinne, also in minderem Grade sein; sondern das Prinzip aller Dinge muss höher stehen als alles nach ihm.171

Auf dem Gedanken, dass dem Prinzip nicht ermangeln kann, was es seinen Prinzipiaten zuteilwerden lässt, beruht auch das folgende Argument: Unsere Freiheit ist im Streben nach dem Einen-Guten begründet. Dieses Streben ist durch eine ihm vorgängige Zugkraft des Guten motiviert, das in seiner überschönen Schönheit eine maßlose Sehnsucht erzeugt.172 Hierdurch ist das Gute der Grund unserer Freiheit, es ist unser »Befreier« (eleutheropoion)173. Würde es selbst keine Freiheit kennen, so könnte es auch unsere Seelen nicht in der genannten Weise zur Freiheit bestimmen; auch an eine Freiheit des Nous wäre dann nicht mehr zu denken, so dass schließlich, wenn Gott als Grund der Freiheit unfrei wäre, gar kein Seiendes mehr frei zu sein vermöchte.174 Freiheit ließe sich dann, so Plotin, nicht einmal VI 8, 8, 25–26. VI 8, 9, 17–21. 169 VI 8, 12, 19. 170 VI 8, 7, 32–36. 171 VI 8, 9, 6–10. 172 Vgl. VI 7, 33, 19–20; 34, 1–2; dazu Alexopoulos 2007. – Zum Begriff der Zugkraft bei Jaspers s.u., Abschn. 9.2. 173 VI 8, 12, 19. 174 Vgl. VI 8, 10, 4–12. 167

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mehr denken.175 Die Freiheit der vernünftigen Seele und des Nous aber sind der Ausgangspunkt von Plotins Gedankengang gewesen, sie können als gegeben gelten. Die These von der Unfreiheit Gottes ist so ad absurdum geführt. Ein Rückschluss von unserem Sein auf das ›Sein‹ des Einen kann für Plotin, wie dies zeigt, unter bestimmten Voraussetzungen jedenfalls nicht gänzlich sinnlos sein. Auch wenn das Eine an ihm selbst unerkennbar ist, gibt doch das, was nach ihm ist, Auskunft über sein ›Sein‹: »Das Sein (to einai) nun, so wie wir Jenem ein Sein zuschreiben, erfasst man aus den ihm untergeordneten Dingen.«176 Eine derartige Exploration des Einen via causalitatis war bereits in Enneade VI 9 angedacht worden.177 In welcher Weise ein solches Rückschließen aus der Schöpfung auf ihren Ursprung statthaben kann, erhellt sich aus Plotins Vergleich des Einen mit einer Licht­ quelle: Deren Licht ist nicht anderer Art (ou alloeides)178 als sie selbst; es ist freilich zerstreut und steht damit ab von seiner Wahrheit.179 In derselben Weise können wir annehmen, dass das aus dem Einen Hervorgegangene »Spuren« (ichnē)180 des Einen aufweist. Daher erscheint es erlaubt, dem Einen gleichnisweise die Charakteristika des wahrhaft Seienden, des Nous, zuzusprechen: So muss man also annehmen, dass der Geist und das Seiende, entstan­ den aus Jenem, gleichsam aus ihm ergossen und entfaltet und von ihm abhängend, aufgrund seiner [sc. des Geistes] geistigen Wesensart Zeugnis ablegt für den gleichsam im Einem befindlichen Geist, welcher nicht Geist ist, denn er ist Eines.181 175 Vgl. VI 8, 7, 16–22: »Diese Rede [sc. von der Unfreiheit Gottes] ist widersetz­ lich und widerspruchsvoll, sie hebt ja vollkommen das Wesen von ›freiwillig‹ und ›selbstbestimmt‹ und den Begriff der freien Verfügung auf, als wäre das unnützes Gerede und leere Worte von nichtseienden Dingen. Dieser Gegner muss dann nämlich behaupten, dass nicht nur kein Wesen irgendetwas in seiner Verfügung hat, sondern auch, dass man die Bezeichnung ›freie Verfügung‹ überhaupt nicht denken und verstehen könne.« 176 VI 8, 10, 7–8. 177 S.o., Abschn. 2.2. 178 VI 8, 18, 36. 179 VI 8, 18, 33–36. 180 VI 8, 18, 23. 181 VI 8, 18, 18–21; vgl. VI 8, 8, 1–6: »Wir aber betrachten diese Selbständigkeit nicht als eine begleitende Eigenschaft von Jenem, sondern wir gehen aus von den an den anderen Dingen befindlichen Selbständigkeiten, scheiden die Gegenteile aus und übertragen auf Jenes die geringeren Selbständigkeiten von den geringeren Wesen

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Die zitierte Stelle zeigt aber auch, wie energisch Plotin auf der Gleich­ nishaftigkeit jeder positiven Charakterisierung des Einen insistiert. Der Versuch, das Eine in dieser Weise zu umschreiben, erfolgt nicht in der Absicht, das wesenhaft unerkennbare Eine hierdurch doch gewissermaßen zu erkennen, sondern nur »der Überzeugung halber« (tēs peithous charin), z.B. um sich aufdrängende Missverständnisse über das Eine fernzuhalten. Nur im Rahmen einer Gleichnisrede und auch nur für den Moment (ta de nyn) erlaubt Plotin es sich daher, so vom Einen zu sprechen, als bestünde doch irgendeine Zweiheit in ihm; dabei betont er, dass mit dieser Setzung genaugenommen etwas Widersinniges angenommen wird (paranoēteon en tois logois).182 Alle positiven Aussagen über Gott sind daher unter Vorbehalt zu nehmen: »Man möge jedes Mal ein ›gleichsam‹ mitverstehen.«183 Wenngleich die so über das Eine getroffenen Aussagen nicht ›eigentlich‹ auf dieses zutreffen, sind sie doch philosophisch gehalt­ voll, wie Werner Beierwaltes betont: Die in VI 8 unter dem οἷον-(Gleichsam-)Vorbehalt gemachten Aussa­ gen über die denkende, wollende, tätige Selbstbezüglichkeit des Einen sind weder ein »Rückfall« in reine Affirmativität, keine metaphorische »Fiktion«, sie heben die auf das Eine zielenden Negationen nicht auf, sie stärken sie vielmehr; sie eröffnen den Blick auf dasjenige, was sich unter einer radikalen Negation von positiven Prädikaten an δύναμις und ὑπερβολή, an Mächtigkeit und Überschwang an Wirklich-Sein im »Wesen« des Einen verbirgt.184

Welche denkerischen Möglichkeiten erschließt nun Plotins gleichnis­ weise Übertragung der Seinscharaktere des Nous auf das Eine? Dies stellt sich etwa in Bezug auf eine mögliche Selbstbestimmung Gottes wie folgt dar: In Gott als dem reinen Einen kann ›eigentlich‹ kein Unterschied von Sein und Willen bestehen. Er kann sich daher weder selbst wollen noch frei sein im Sinne der Selbstbestimmung, denn beides würde voraussetzen, dass Wille und Sein zunächst als distinkte Momente seines Wesens festgehalten würden; erst infolgedessen könnte man von Gottes Willen und seinem Sein sagen: Sie sind in Übereinstimmung, also will Gott sich selbst und bestimmt sich selbst. her; da wir nicht imstande sind, dessen habhaft zu werden, was eigentlich von Jenem ausgesagt werden müsste, so lassen wir es mit dieser Aussage über es bewenden.« 182 VI 8, 13, 1–5. 183 VI 8, 13, 49–50. 184 Beierwaltes 2011, 41.

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Nur im Gleichnis erlaubt Plotin es sich, zwischen Sein und Willen Gottes zu unterscheiden, als wären sie verschiedene Aspekte desselben Wesens, was es wiederum ermöglicht, beide als miteinan­ der übereinstimmend zu denken. Auf diese Weise kommt Plotin zu Aussagen über das absolut Eine, die im Kontext seiner streng negativen Theologie kühn und erstaunlich wirken: Gott ist demnach »Ursache seiner selbst und von sich aus und um seiner selbst willen er selbst«185. »Er ist einhellig mit sich selber, er will er selber sein und ist das, was er will.«186 Er ist »das Liebenswürdige und die Liebe selbst und die Liebe seiner selbst«187. Er hat »allein Vollmacht über sich und Selbstbestimmung«188. Ja, er ist »das wahre Leben selbst«189, »gleichsam Geist«190, aber höher als der Geist, »ein Denken über dem Denken« (hypernoēsis)191. Auf dieser Grundlage kann auch das Verhältnis des Einen zum Seienden neu, nämlich in affirmativen Begriffen, beleuchtet werden: Das Eine ist demnach das Allumgrei­ fende und das Maß aller Dinge;192 es ist gleichsam der Mittelpunkt, aus dem sich der Kreis des Seienden entfaltet.193 Es ist »erste Wirklich­ keit« (prōtē hypostasis)194 und verfügt über »absolute Schöpferkraft« (apolyton poēsis)195. Insbesondere aber ist das Eine »im reinen Sinne frei« (katharōs eleuthera)196 und selbstbestimmt; er (Gott) ist »selbst durch sich selbst er selbst« (autos par’ hautou autos)197. Diese via causalitatis ausgesagten Attribute sind für Plotin sämt­ lich Metaphern, und zwar im Wortsinne, sofern sie vom Seienden auf das Eine ›übertragen‹ werden. Obwohl sie – mit Beierwaltes – keineswegs bloß fiktiv, sondern sachhaltig sind, werden sie der Erhabenheit des Einen, die in seiner reinen Einheit liegt, doch niemals gerecht. Gerade weil ihre eigene Unangemessenheit ständig in ihnen VI 8, 14, 41–42; vgl. 15, 8–10, u.ö. Zum causa-sui-Gedanken bei Plotin vgl. Beierwaltes 2001, 123–159. 186 VI 8, 13, 29–30. 187 VI 8, 15, 1. 188 VI 8, 15, 18–19. 189 VI 8, 15, 24–25. 190 VI 8, 16, 16–17. 191 VI 8, 16, 32. 192 VI 8, 18, 3. 193 VI 8, 18, 7–18. 194 VI 8, 15, 28. 195 VI 8, 20, 6. 196 VI 8, 20, 18. 197 VI 8, 20, 18–19. 185

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mitreflektiert ist, vermögen sie es dennoch, die überschwängliche, alle Möglichkeiten unseres Denkens radikal übersteigende Wirklichkeit des Einen jedenfalls anzudeuten. Als Handreichungen zu einem angemessenen Gottesverständnis sind sie damit unentbehrlich. Sie sind aber nicht in begrifflicher Sprache fixierbar, bleiben »in der Schwebe«198 und müssen schließlich – weil sie nicht ›eigentlich‹ wahr und an sich zutreffend sind – wieder zurückgenommen werden.199 So ist auch der Gedanke, dass Gott sich selbst bestimmt, im Nachhinein wieder durchzustreichen. Dann aber zeigt sich gerade »im Scheitern dieses Gedankens an seiner eigenen Unvollziehbarkeit die absolute Transzendenz«200 des Einen. So bleibt das aphele panta (lass ab von allem)201 der letzte Imperativ der plotinischen Metaphysik: Tu alles andere fort, wenn du ihn [sc. Gott] aussagen oder seiner innewerden willst. Wenn du nun alles fortgetan und nur ihn selber belassen hast, dann suche nicht danach, was du ihm beilegen könntest, sondern danach, ob du vielleicht etwas noch nicht von ihm fortgetan hast in deinem Denken.202

In diesem Sinne bleibt die einzige Freiheit, die wir Gott ›eigent­ lich‹ zuschreiben können, eine negative.203 Sie ist nicht Selbstbe­ stimmung, sondern reine unterschiedslose Selbstheit und ist gerade darum Freiheit auch noch von sich selbst: Es ist hoch über allem gelegen und ist als einziges wahrhaft frei, weil es auch sich selber nicht als Knecht dient, sondern nur es selbst und wahrhaft es selbst ist, wo doch jedes andere sowohl es selbst ist wie ein anderes.204

Enneade VI 8 kann als die Schrift Plotins gelten, in der seine philo­ sophische Theologie die größte spekulative Höhe erreicht. Sorgsam wahrt er hier die Balance zwischen einer negativen Theologie, die die absolute Transzendenz Gottes wahrt, und einer, freilich bloß Beierwaltes 1990, XXIX. Auch Jaspers betont die Bedeutung des schwebenden Aussagens und Zurückneh­ mens in der plotinischen Philosophie vgl. GP 669. 200 Halfwassen 2015, 366; vgl. Halfwassen 2006, 113–114, mit Bezug auf GP 691; die spekulative Erforschung des Einen vollendet sich demnach in einem »sinnvolle[n] Scheitern« (ebd.). 201 V 3, 17, 38. 202 VI 8, 21, 25–28. 203 Halfwassen 2004, 139–140. 204 VI 8, 21, 30–33. 198

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explorativen und gleichnishaften, affirmativen Theologie, die seine Macht und Fülle jedenfalls andeutet. Letztere macht insbesondere deutlich, dass Gott, gleichwohl er keines der Seienden ist, deren Voll­ kommenheiten keineswegs ermangelt; in welcher Weise sie ihm aber zukommen, ist aufgrund seiner absoluten Einfachheit unsagbar und unausdenkbar – daher müssen schließlich alle Gleichnisse wieder zurückgenommen werden.

2.4 Philosophie gegen Gnostizismus (Enn. II 9) Obgleich Plotin eine gewisse mystische Einsamkeit lobt, hat er seine Schriften doch nicht unter den Bedingungen sozialer Absonderung, sondern als Leiter und Mittelpunkt einer seinerzeit berühmten philo­ sophischen Schule verfasst. In dieser Weise war er unabdingbar in die philosophischen und theologischen Kontroversen des dritten Jahr­ hunderts involviert. Wie Porphyrios uns berichtet, gehörten Gnosti­ ker zum weiteren Hörerkreis der Schule Plotins.205 Diesem konkreten Umstand haben wir es wohl zu verdanken, dass Plotin mit Enneade II 9 eine längere Streitschrift Gegen die Gnostiker verfasst hat.206 Plotin scheint sich dabei kaum Hoffnungen zu machen, seine gnostischen Hörer, die er sogar als seine Freunde bezeichnet,207 zur platonischen Philosophie zu ›bekehren‹. Seine antignostische Polemik richtet sich zunächst nicht an sie, sondern an andere Hörer, von denen Plotin fürchtet, die Gnostiker könnten sie der platonischen Philosophie abspenstig machen.208 Diese möchte er vor den gnosti­ 205 Zu den Gnostikern in der Schule Plotins s. Porphyrios, Vit. Plot. 16; zum historischen Gnostizismus der Spätantike vgl. Aland 2014; zum Verhältnis von Gnosis und Platonismus vgl. ebd., 125–131, 221–227. 206 Zu Enn. II 9 vgl. Alt 1990; Halfwassen 2013. Genaugenommen handelt es sich bei Enn. II 9, der 33. Schrift der chronologischen Abfolge, um den letzten Teil einer aus den Schriften 30–33 bestehenden ›Großschrift‹. Porphyrios muss diese Schriften aus dem ursprünglichen Zusammenhang gelöst haben und führt sie in seiner Edition als Einzelschriften an; vgl. HBT, Bd. IIIb, 414–415; einen Kommentar zur Gesamtschrift bietet Roloff 1970. Durch den stark polemischen Charakter von Enn. II 9 gewinnt dieser letzte Teil der Großschrift freilich einen sehr eigenständigen Charakter, der die von Porphyrios gewählten Titel »Gegen die Gnostiker« bzw. »Gegen die, welche behaupten, dass der Weltbildner (dēmiourgos tou kosmou) und die Welt böse sind« (Vit. Plot. 5, 33; 24, 56–57), als sachgemäß erscheinen lässt. 207 Zur Freundschaft Plotins mit einigen Gnostikern s. II 9, 10, 3–5. 208 II 9, 10, 7–11.

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schen Lehren warnen, indem er einerseits die Verkehrtheiten und Inkonsistenzen, die diese Lehren seiner Ansicht nach kennzeichnen, und andererseits die Herkunft zentraler gnostischer Lehrgehalte aus dem Platonismus und damit deren Inoriginalität aufweist. Für die vorliegende Untersuchung liegt die Relevanz des antignostischen Traktates darin, dass Plotin hier grundlegend zwi­ schen einer richtigen und einer verkehrten Weise, Philosophie zu betreiben, unterscheidet, was nicht zuletzt bedeutende Rückschlüsse auf die ›existentielle Haltung‹ zulässt, aus der heraus er philosophiert und die er von aspirierenden Philosophen einfordert. In Bezug auf Jaspers sind diese Überlegungen auch deshalb relevant, weil er sich Methode und Typik der plotinischen Gnostikerkritik zu eigen macht und sie gegen eigene philosophische Gegenspieler wendet.209 Ein zentraler Vorwurf Plotins gegen die Gnostiker ist der einer Re-Mythifizierung der Metaphysik – in Umkehrung der mit Platon beginnenden Tradition der allegorisch-metaphysischen Interpreta­ tion überlieferter Mythen. Statt rational Metaphysik zu betreiben, würden die Gnostiker ein kosmisches »Schauerdrama« (tragōdia phoberōn)210 imaginieren, wobei metaphysische Begriffe – z.B. Logos, Sophia usw. – in sinnwidriger Weise als dramatis personae auftreten. Die gnostische Mythifizierung der Philosophie impliziert dem­ nach zunächst eine Multiplikation der metaphysischen Prinzipien, die dann als Akteure des Mythos vorgestellt werden. Die systematischgeschlossene Gestalt der platonischen Philosophie wird hierdurch gesprengt. Als Ursache dieser ›Hypostasenvermehrung‹ nimmt Plo­ tin zum einen ein verkehrtes, allzu wörtliches Verständnis Platons an, andererseits den Wunsch der Gnostiker, sich den Anschein zu geben, über ein genaueres Wissen zu verfügen.211 Plotin dagegen legt größten Wert auf die genaue Dreizahl der metaphysischen Prinzipien Eines, Geist und Seele.212 Freilich werden die metaphysischen Prinzipien im gnostischen Mythos nicht bloß vermehrt, sie werden vielmehr, indem sie als Akteure einer Handlung vorgestellt sind, ihres Ansichseins und der damit verbundenen Affektionslosigkeit beraubt,213 so dass sie im 209 210 211 212 213

S.u., Kap. 11. II 9, 13, 7. II 9, 6, 14–34. Vgl. II 9, 1, wo Plotin aus diesem Anlass eine regelrechte ›Systemskizze‹ gibt. II 9, 6, 62.

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Mythos als Objekt verschiedener innerer und äußerer Widerfahr­ nisse auftreten.214 Dies kritisiert Plotin insbesondere im Hinblick auf den von ihm ausführlich referierten gnostischen Sophia-Mythos.215 In der gnosti­ schen Figur der Sophia sieht Plotin die Weltseele gespiegelt, wobei es insbesondere ihre Funktion als schöpferische Gestalterin der Welt ist, die ihn zu dieser Gleichsetzung berechtigt.216 Von der Seele versucht Plotin zu zeigen, dass sie keineswegs, wie es der gnostische Mythos vorgibt, schlechthin gefallen oder ›entfiedert‹ ist.217 Insbesondere die Weltseele (psyche tou pantos), die Plotin als das lebendige Einheits-, Struktur- und Bewegungsprinzip des sichtbaren Kosmos annimmt, könne von einer solchen ›Entfiederung‹ nicht betroffen sein. Vielmehr vermag sie allein dadurch als Gestalterin der Weltwirklichkeit tätig zu sein, dass sie unvermindert und unbeeinträchtigt in der Schau der Ideen verharrt.218 Auch die Seele des Menschen ist Plotin zufolge jedenfalls nicht in ihrer Totalität gefallen, wie es der gnostische Mythos will; ein Teil der Seele, der noetische, zur Ideenschau befä­ higte Teil, verharre vielmehr stets im göttlichen Geist; diesen Teil gelte es durch die Philosophie gleichsam zur Schau zu erwecken.219 Konsequenz der gnostischen ›Missverständnisse‹ ist für Plotin die Verunglimpfung der Welt durch die Gnostiker. Sie ist demnach insbesondere darin begründet, dass die Gnostiker die metaphysische Hierarchie verkennen, der zufolge das Zweite, das Begründete, nie­ mals gleichermaßen vollkommen sein kann wie das Erste, sein Grund. Es bestehe folglich keine Veranlassung, die Welt insgesamt zu ver­ dammen, weil sie nicht Urbild ist, sondern Welt – und weil sie aus diesem Grund auch vergleichsweise Mangelhaftes in sich umfasst.220 Für Plotin besteht ein notwendiger Zusammenhang zwischen den von ihm bestrittenen gnostischen Lehren und der von ihm ebenfalls abgelehnten Lebenshaltung der Gnostiker. Er macht seinen gnostischen Gegnern dabei den dreifachen Vorwurf des Irrationalis­ mus, des Immoralismus und der Traditionsverachtung. Vgl. II 9, 4, 1–21. II 9, 10, 19–33. 216 Vgl. HBT, Bd. IIIb, 414–415. – Die plotinische Seelenkonzeption und ihr Unter­ schied zu gnostischen Auffassungen stellen dementsprechend einen Hauptgegenstand von Enn. II 9 dar. 217 II 9, 4, 1–4. 218 II 9, 4, 6–10. 219 II 9, 2, 4–18; vgl. IV 8, 8. 220 II 9, 13, 1–8. 214 215

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Zunächst zum Vorwurf des Irrationalismus: Ganz allgemein macht sich dieser für Plotin durch die Tendenz der Gnostiker bemerk­ bar, hemmungslos philosophische, mythologische und sogar magi­ sche Denkformen miteinander zu vermischen. Die so entstehenden Lehren seien dann nicht mehr rational begründungsfähig. Ausdrück­ lich kritisiert Plotin seine gnostischen Gegner daher für deren Unwil­ len, »das rein aus dem Wesen der Sache als richtig zu erweisen, was sie Eigenes zu sagen haben [...], indem sie ihre Lehren wohlwollend und in philosophischer Weise darlegen«221. Der Vorwurf ist hier genau genommen ein doppelter: Einerseits würden die Gnostiker es versäumen, ihre Thesen rational zu begründen, andererseits sei ihre Kommunikationsweise insgesamt unphilosophisch, da sie ihren Gesprächspartnern gegenüber nicht wohlwollend (eumenēs) und nicht bereit zu einer gerechten Abwägung eigener und fremder Lehren seien.222 Stattdessen würden sie besondere Einsichten ins Göttliche beanspruchen – was als Argument unzulässig sei und Plotin zufolge in seiner Unbescheidenheit vielmehr darauf deutet, dass ihnen ebenjene Einsicht fehlt: »Wer sich rühmt zu haben, der hat noch nicht« (ou gar, ei angelloito echein ho legei tis echei)223. Die Weltverachtung der Gnostiker ist für Plotin das Anzeichen eines völligen Mangels an Vernunft und sogar an Wahrnehmungs­ vermögen (pantapasin oute aisthesin oute noun echon).224 Wären sie verständig, so würden seine gnostischen Gegner die rationalen und harmonischen Strukturen in der Welt erkennen und wertschätzen. Dass sie hierzu nicht in der Lage seien, zeigt für Plotin, dass sie auch deren intelligible Urbilder nicht kennen.225 Der Anspruch der Gnostiker, sich »über den Geist« (hyper noun) zu erheben, ist daher für Plotin nur »Abfall vom Geist« (exo nou pesein); im Gegenteil realisiere der Mensch sein göttliches Potential nur »in dem Maße, als ihn Vernunft leitet« (eis hoson nous agei).226 II 9, 6, 45–48; vgl. II 9, 10, 10. II 9, 6, 48–49. 223 II 9, 9, 81–82. 224 II 9, 16, 37–38. 225 II 9, 16, 39–56. 226 II 9, 9, 51–52. – Offenbar sieht Plotin hier keinen Widerspruch zur von ihm selbst gelehrten mystischen Erhebung über den Geist zum absolut Einen. Diese ist nicht widervernünftig, sondern übervernünftig; im Versuch, den Geist auf einen tieferen Grund zurückzuführen, setzt sie dessen Einsichten voraus und bleibt ihnen als gültig verpflichtet. 221

222

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Vernunftwidrig sind Plotin zufolge auch die Versuche der Gnos­ tiker, sowohl die Seele als auch die intelligiblen Wesenheiten mit Zauberformeln zu beschwören. Dieses Verhalten taste die Reinheit von Seele und Nous in unzulässiger Weise an; es sei zudem widersin­ nig anzunehmen, eine gesprochene Formel könnte eine unkörperliche Wesenheit zu irgendetwas veranlassen.227 Als zutiefst irrational gilt Plotin ferner der übermäßige Dämonenglauben, dem die Gnostiker seiner Schilderung nach frönen, indem sie Ereignisse, die sich natür­ lich erklären lassen, z.B. Krankheiten, der Wirkung von Dämonen zuschreiben. Plotin begegnet diesen Behauptungen in der Haltung des Aufklärers; für Krankheiten verantwortlich seien vielmehr »Zustände der Überanstrengung, Zuviel oder Zuwenig der Ernährung, Fäulnis­ prozesse« und andere »Veränderungen, die außerhalb oder innerhalb des Leibes ihren Ausgangspunkt haben«228. Neben dem Irrationalismus wirft Plotin den Gnostikern Immo­ ralismus und, sich hieraus ergebend, auch praktische Immoralität vor. Die Grundlage des gnostischen Immoralismus sei dabei deren Verachtung der Erscheinungswelt: »Vom ›Hiesigen‹ gilt ihnen nichts als edel, sondern ein anderes, nach dem sie einst streben werden«229. Weil sie gar keinem Irdischen irgendeinen Wert beimessen, würden die Gnostiker auch Tugend (aretē) und Mäßigung (to sōphronein) verachten.230 Da sie allerdings, ihrer vorgeblichen Weltüberlegenheit zum Trotz, keineswegs tatsächlich von allen weltlichen Bedürfnissen frei seien, gäben sie sich vielfach nur umso hemmungsloser ihren verschiedenen Gelüsten hin.231 Die Gnostiker würden beanspruchen, die irdische Tugend sei für sie hinfällig, es gelte nur mehr die Regel: »Blicke auf Gott« (blepe pros theon)232. Demgegenüber ist eine tugendhafte Lebensweise für Plotin eine unabdingbare Voraus­ setzung der Gottesschau. Sie lässt sich nicht überspringen oder durch etwas anderes ersetzen. Das Wort ›Gott‹ dagegen sei leichthin gesagt, wahre Frömmigkeit sei hierfür nicht nötig.233 Es werde dann zu einem Mittel, sowohl sich selbst wie auch andere Leichtgläubige zu

227 228 229 230 231 232 233

II, 9, 14, 1–11. II 9, 14, 19–20. II 9, 15, 21–22. II 9, 15, 10–17. II 9, 15, 18–21. II 9, 15, 33. II 9, 15, 34–40.

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betrügen.234 Hiergegen prägt Plotin den vielzitierten Satz: »Ohne wahre Tugend ist, was sie Gott nennen, nur ein Wort.«235 Damit ist der unaufhebbaren gegenseitigen Bezogenheit von philosophischer Theologie und Ethik, die für Plotins Denken charakteristisch ist, Ausdruck verliehen. In der Tradition Platons sieht Plotin eine sittli­ che Lebensweise als Bedingung des in der Philosophie erstrebten geistigen Aufstiegs an.236 Paradoxerweise ist es somit gerade die angemaßte Weltüberlegenheit der Gnostiker, die ihnen Plotin zufolge den Weg zur wahren Weltüberwindung versperrt. Dieser Weg geht für Plotin, im Sittlichen wie im Intellektuellen, nur durch die Welt hin­ durch, nicht an ihr vorbei. Gegen die Gnostiker betont Plotin daher die Würde des Leibes und die Schönheit und Bewunderungswürdigkeit der hiesigen Welt.237 Die Überheblichkeit, die Plotin den Gnostikern vorwirft, macht sich demnach auch in deren ehrfurchtslosem Umgang mit der Tradi­ tion bemerkbar. Diese Traditionsverachtung ist sein dritter großer Vorwurf an die Lebenshaltung der Gnostiker. Er ist nicht weniger ernst als die beiden anderen, untergräbt er für Plotin doch das Fun­ dament, auf dem allein die Emporführung des Menschen in seine geistige Heimat gelingen kann. Zwar würden die Gnostiker sich, wie Plotin darlegt, in der Ausgestaltung ihrer Lehre an den Gehalten der platonischen Philosophie bedienen: »Unsterblichkeit der Seele, die geistige Welt, den ersten Gott, dass die Seele den Verkehr mit dem Leib meiden sollte, die Abtrennung vom Leibe, dass man aus dem Reich des Werdens ins Sein fliehen soll.«238 Insofern die Gnostiker diese platonischen Lehren vertreten, sieht Plotin sie der Sache nach durchaus im Recht. Platon gegenüber ließen sie sich freilich die doppelte Verfehlung zuschulden kommen, dass sie sich einerseits dessen Philosophie aneigneten, ohne ihn als deren Urheber zu wür­ II 9, 9, 53–64.80–83. II 9, 15, 39–40: aneu de aretēs alēthinēs theos legomenos onoma estin. 236 Zwar unterscheidet auch Plotin die kathartische Tugend des Philosophen, die in innerer Freiheit und Affektlosigkeit besteht (vgl. I, 2, 3, 12–23), von der bürgerlichen Tugend als der vernunftgemäßen Beherrschung der Affekte, die nichtsdestoweniger ein nach ›menschlichen‹ Maßstäben gutes und gesetzmäßiges Leben ermöglicht. Anders als für die ›gegenweltliche‹ Ethik der Gnostiker ist die bürgerliche Pflichterfül­ lung für Plotin aber Bedingung und Voraussetzung der höheren Tugend. Vgl. zu den Stufen der Tugend insgesamt Enn. I 2; dazu Omtzigt 2012, 17–30. 237 Vgl. II 9, 4, 22–32; 17, 15–21 sowie III 2, 3. 238 II 9, 6, 38–41. 234

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2.4 Philosophie gegen Gnostizismus (Enn. II 9)

digen, und dass sie andererseits Platon und die übrigen klassischen griechischen Denker »in den Staub ziehen und beleidigen« (diasyrein kai hybrizein)239. Dies, so mutmaßt Plotin, geschehe nicht aus bloßer Achtlosigkeit, sondern aus Geltungssucht, um sich Hörer zu verschaf­ fen. Aus diesem Grunde würden sie wohl auch terminologische und systematische Neuerungen gegen Platon einführen.240 Plotins Enneade II 9 gibt uns nicht nur einen einmaligen Einblick in eine der prägenden intellektuellen Debatten seines Zeitalters. Vielmehr führt sie uns vor Augen, was Plotin zufolge die Vorausset­ zungen und Bedingungen der von ihm entwickelten Philosophie in der Lebenswirklichkeit sind. Auch wenn Plotins Metaphysik auf eine Überwindung alles immanent Seienden auf ein erstes, unvordenkli­ ches Prinzip hin abzielt, ist sie doch der Rationalität verpflichtet. Sie lehnt es ab, metaphysische Systeme in der Weise einer mythologi­ schen Erzählung zu entwerfen. Ein solches Vorgehen müsse vielmehr dazu führen, dass die sinnfällige Welt mit Ansprüchen belastet wird, die allein der intelligible Kosmos zu tragen vermag, so dass im Fall der Gnostiker schließlich sogar Tugend und Vernünftigkeit als ›weltlich‹ geringgeschätzt würden. Die ehrwürdige Tradition werde dabei zugleich verkannt und vereinnahmt. Dies alles geschehe unter großartigen Redensarten, gespeist aus der irrationalen Überzeugung, in privilegierter Weise einem Göttlichen verbunden zu sein. Für Plotin dagegen setzt Gottesnähe zumindest zwei Faktoren voraus: das Ergriffensein von der Zugkraft des Guten und dann auch eigene sittliche und geistige Anstrengungen. Plotin hat sich im Durchgang durch einige seiner zentralen Schriften als ein konsequenter Dialektiker erwiesen, der in genauer Begriffsfor­ schung nach den intelligiblen Gründen besonderer Erscheinungen in der Welt fragt. Schwärmerische, exaltierte Stimmungen sind ihm fremd. Es ist die Gründlichkeit seiner dialektischen Analyse des intelligiblen Kosmos, die ihn veranlasst, auch diesen noch auf seinen Einheitsgrund zu befragen. Erst jener letzte Einheitsgrund wäre der Grund aller Wirklichkeit. Er ist nicht mehr als ein besonderes Seien­ des zu denken, sondern als das alles Seiende überragende absolut Eine, das reine Einheit sein muss, um die Einheit des Seienden zu II 9, 6, 44. II 9, 6, 1–12. – Plotin betont dabei, dass solche Neuerungen an sich nicht unzuläs­ sig seien, wären sie nicht sachlich unhaltbar und würden sie nicht in respektloser Weise vorgebracht (II 9, 6, 43–44). 239

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2 Plotin als Denker absoluter Transzendenz

verbürgen. Als reine Einheit aber ist das Eine nicht mehr positiv denk­ bar; nur eine negative Theologie, die es von allem Seienden abhebt, kann es vergegenwärtigen, indem sie ihm dessen charakteristische Attribute sämtlich abspricht. Soll das Eine positiv gedacht werden, so ist dies nur indirekt, in immer unzureichend bleibenden Analogien möglich, die an der Transzendenz des Einen scheitern und schließlich wieder zurückgenommen werden müssen. Das eigentliche Ziel der Philosophie ist für Plotin freilich nicht ein solches negatives oder analogisches Denken des Einen, sondern die mystische Erfahrung, die durch den Philosophierenden nur mehr vorzubereiten ist und sich dann unvermittelt, im Nu einstellt. Diese Vorbereitung überspringen zu wollen, ist für Plotin der Ruin des Philosophierens, wie besonders in der antignostischen Streitschrift eingeschärft wird. Denn die Philosophie ist für Plotin keineswegs nur ein Forschungsprogramm, sondern immer auch ein Lebensweg; soll das philosophische Projekt gelingen, muss dieser Weg ein Weg klaren Denkens und sittlichen Handelns sein.

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3 Jaspers’ erste Auseinandersetzung mit Plotin in der Psychologie der Weltanschauungen

Zum ersten Mal dokumentiert ist Jaspers’ Auseinandersetzung mit Plotin in seiner 1921 veröffentlichten Psychologie der Weltanschauun­ gen.1 Obgleich dieses frühe Werk als psychologische Abhandlung intendiert ist, klingen hier schon vielfach philosophische Interessen und Fragestellungen an. So deutet Jaspers es später als ein Werk des Übergangs, das seiner reifen Philosophie zwar »[s]ubstantiell«, in der tragenden »Grundverfassung« entspreche, noch nicht aber in den besonderen Gehalten.2 Die Differenz der Psychologie der Weltanschauungen zu jener Philosophie ist nicht zuletzt dadurch deutlich, dass deren Zentralbegriffe, Existenz und Transzendenz, hier erst in Andeutungen präsent sind. Immerhin ist Jaspers’ Auffassung des Menschen als »geistige[r] Existenz«3 offenbar eine Vorstufe seines späteren Existenzbegriffs; ebenso ist in dem, was Jaspers hier unbestimmt »das Unendliche«, »das Mystische« oder »das Absolute« nennt,4 eine Vorstufe seines Transzendenzbegriffs zu erkennen. Für die Erforschung der Jaspers’schen Philosophie hat die Psy­ chologie der Weltanschauungen, wie sich auch hieran zeigt, zugleich die Schwierigkeit und den Reiz, dass wir diese Philosophie hier in statu nascendi sehen. Insbesondere wird an der Psychologie der Weltanschauungen deutlich, aus der Beschäftigung mit welchen phi­ losophischen Positionen Jaspers die Grundzüge seiner eigenen Philo­ sophie erwachsen sind. Dies ist nicht zuletzt deshalb lehrreich, weil Jaspers in den systematischen Hauptwerken seiner reifen Philosophie vergleichsweise selten auf andere Philosophen verweist; aus der dreibändigen Philosophie hat er solche geschichtlichen Bezugnahmen 1 Zur Psychologie der Weltanschauungen vgl. Immel 2019; Fuchs 2021; an zeitgenös­ sischen Reaktionen sind hervorzuheben: Heidegger, GA, Bd. 9, 1–44; Cohn 1921. 2 KJG I/6, 7; vgl. Aut 32–34. 3 KJG I/6, 306. 4 S.u., Abschn. 3.1.

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3 Plotin in der ›Psychologie der Weltanschauungen‹

regelrecht getilgt, um den systematischen Charakter des Werks zu betonen.5 Für die vorliegende Arbeit ist von besonderem Interesse, wie Jaspers in der Psychologie der Weltanschauungen auf Plotin Bezug nimmt. In der Tat finden mehrere solcher Bezugnahmen statt, von denen keine einzige für Jaspers’ Fragestellung als nebensächlich gelten kann. Dabei kann er, wie mehrere ausführliche Zitate und Referate zeigen, offenbar auf nicht unerhebliche Kenntnisse der Enneaden Plo­ tins zurückgreifen.6

3.1 Philosophische Grundlagen der Jaspers’schen Weltanschauungspsychologie Bevor diese Plotin-Bezüge im Einzelnen in den Blick genommen werden sollen, wird es sich als hilfreich erweisen, Jaspers’ eigene philosophische Position zum Zeitpunkt der Abfassung der Psychologie der Weltanschauungen zu vergegenwärtigen. Dies ist schon deshalb keine triviale Voraussetzung, weil er diese Position hier weitgehend zurückhält. Seine reife Philosophie ist zum gegebenen Zeitpunkt in jedem Fall noch nicht vorauszusetzen.7 Jaspers’ Zurückhaltung in Bezug auf seine eigene Position ist keineswegs zufällig und folgt dem Wissenschaftsideal Max Webers, für das die strikte Trennung von Tatsachen- und Werturteilen von zentraler Bedeutung ist.8 Da Jaspers sich hier noch vorwiegend als Psychologen betrachtet, sieht er sich an dieses Wissenschafts­ ideal gebunden: Die Trennung von weltanschaulicher Wertung und wissenschaftlicher Betrachtung, für die er [Max Weber] nach früheren Formulierungen

5 Vgl. Ph I, XXI: »Das vorliegende Buch ist zwar Element meiner Lehrtätigkeit gewe­ sen, aber so, daß in den Vorlesungen zugleich von großen historischen Philosophen die Rede war und ihre Werke in Seminaren studiert wurden. Alles, was in meinen Manuskripten sich auf geschichtliche Interpretationen bezog, wurde jedoch bei der Redaktion dieses Buches ausgeschieden.« 6 Die Zitate aus Enn. I 6, III 8, IV 8 und V 1 sind der Übersetzung von H. F. Müller entnommen. 7 Zur Situierung der Psychologie der Weltanschauungen im historischen Kontext wie im Werkkontext bei Jaspers vgl. Immel 2019. 8 Zu Jaspers Anknüpfung an Weber vgl. Thornhill 2002, 55–73; Dege 2019.

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3.1 Philosophische Grundlagen der Jaspers’schen Weltanschauungspsychologie

doch erst das Pathos brachte, möchte auch in dem vorliegenden Versuch erstrebt werden.9

So kommt es, dass Jaspers die von ihm beschriebenen philosophischen Weltanschauungen gewissermaßen als psychologische Fälle behan­ delt, die er mit den Mitteln einer phänomenologischen Psychologie beschreibt und klassifiziert,10 wobei er eigene Wertungen so weit als möglich vermeidet. Er kann und will nicht eine Weltanschauung als die wahre darlegen.11 Aus diesen ›Fallstudien‹ wird Jaspers’ eigene Position daher fast vollständig ausgeklammert; deutlicher zutage tritt sie dagegen in den umfangreichen Methodenreflexionen, mit denen Jaspers seine unkonventionelle Forschungsarbeit flankiert. Im Rahmen dieser Reflexionen beansprucht Jaspers eine enge Anlehnung an Kant und zwar insbesondere an dessen Ideenkonzep­ tion: »Kant ist durch seine Ideenlehre der Schöpfer des Gedankens, der dieser Weltanschauungspsychologie überall zugrunde liegt«, so Jaspers.12 Dabei verweist er auf den ideentheoretischen Anhang der Psychologie der Weltanschauungen (»Kants Ideenlehre«)13, der hier­ durch in den Kontext der Untersuchung eingebunden und als deren methodologische Grundlage ausgezeichnet wird. In dem genannten Anhang werden die Ideen ganz im kantischen Sinne als die Begriffe der Vernunft bestimmt, des neben Anschauung und Verstand dritten Erkenntnisvermögens des Menschen.14 Die Ideen sind demnach nicht erkennbar wie sinnliche Gegenstände, »aber die Ideen sind uns ein Licht« durch ihre regulative Funktion für den Verstand.15 Jaspers betont dabei – gegen ›fiktionalistische‹ Interpretationen der kantischen Ideenlehre – die objektive Realität

KJG I/6, 34; vgl. Immel 2019, XXXIX–XL. Zu Jaspers’ Gebrauch der phänomenologischen Methode vgl. Luft 2008. 11 Vgl. KJG I/6, 5: »Statt einer Mitteilung dessen, worauf es im Leben ankomme, sollen nur Klärungen und Möglichkeiten als Mittel zur Selbstbesinnung gegeben werden. Wer direkte Antwort auf die Frage will, wie er leben solle, sucht sie in diesem Buche vergebens. Das Wesentliche, das in den konkreten Entscheidungen persönlichen Schicksals liegt, bleibt verschlossen.« 12 KJG I/6, 33. 13 KJG I/6, 33. Jaspers’ Kant-Deutung ist offenbar stark durch Emil Lask beeinflusst; vgl. Immel 2019, XLI–XLV, sowie ders. in: KJG I/6, 502–503 Anm. 622 und 624. 14 KJG I/6, 423. 15 KJG I/6, 424. 9

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3 Plotin in der ›Psychologie der Weltanschauungen‹

der Ideen.16 Diese Realität macht sich demnach in dreifacher Weise bemerkbar: (1.) psychologisch als in der menschlichen Seele wirksame ›Kräfte‹ oder Antriebe17 – in der Psychologie der Weltanschauungen wird Jaspers daher oft von ›Kräften‹ sprechen, wenn er Ideen im von ihm skizzierten Sinn meint –, insbesondere sind auch die Welt­ anschauungen selbst für Jaspers solche ideenhaften Kräfte;18 (2.) methodologisch als systematische »Gesichtspunkte«19 im Verstan­ desgebrauch; (3.) objektiv oder »metaphysisch« als in der »urbildli­ chen Welt« »irgendwie« – d.h. für uns im Genaueren unerkennbar – wirksame Prinzipien der Natur,20 die nicht zuletzt dafür sorgen, dass objektive Wirklichkeit und menschliche Erkenntnis kongruie­ ren.21 Besonders in Hinsicht auf die objektive, metaphysische Dimen­ sion der Ideen sieht Jaspers Kant in wesentlicher Übereinstimmung mit Platon.22 Jaspers’ eigene Position erschöpft sich allerdings nicht in der im Anhang mitgeteilten Ideenlehre. Drei weitere Aspekte, die Jaspers charakteristischerweise sämtlich im Rahmen seiner Methodenrefle­ xionen darlegt, sind hier hervorzuheben: Erstens geht Jaspers davon aus, dass die phänomenologisch am ehesten fassbaren Elemente der Weltanschauungen, Einstellun­ gen und Weltbilder, gleichsam Kristallisationsformen eines geistigen Lebensprozesses sind, der von ideenhaften Kräften geleitet wird.23 In 16 KJG I/6, 424, 437–439. Jaspers setzt sich in diesem Kontext knapp mit Hans Vaihingers Die Philosophie des Als-Ob auseinander, dessen Deutung der kantischen Ideen als nützlicher Fiktionen er als verkürzend zurückweist; vgl. KJG I/6, 436–437. 17 KJG I/6, 434–436. 18 KJG I/6, 23. 19 KJG I/6, 436–437. 20 KJG I/6, 434; vgl. ebd., 437–439. 21 KJG I/6, 438. 22 Dabei bezieht er sich auf die folgende Stelle: »Plato bemerkte sehr wohl, daß unsere Erkenntniskraft ein weit höheres Bedürfnis fühle, als bloß Erscheinungen nach synthetischer Einheit zu buchstabieren, um sie als Erfahrung lesen zu können, und daß unsere Vernunft natürlicherweise sich zu Erkenntnissen aufschwinge, die viel weiter gehen, als daß irgendein Gegenstand, den Erfahrung geben kann, jemals mit ihnen kongruieren könne, die aber nichtsdestoweniger ihre Realität haben und keineswegs bloße Hirngespinste sind« (Kant, AA III, 246 = KrV B 370–371, von Jaspers zitiert in KJG I/6, 438–439, Hervorhebungen von Jaspers). 23 KJG I/6, 211. – Als Einstellungen bezeichnet Jaspers typische Weisen menschli­ chen Denkens und Sichverhaltens im Bezug auf gegenständlich Seiendes überhaupt (KJG I/6, 65); Weltbilder nennt er die Vorstellungen, die ein Mensch von dieser Gegenständlichkeit als von ›seiner Welt‹ hat (KJG I/6, 143).

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3.1 Philosophische Grundlagen der Jaspers’schen Weltanschauungspsychologie

den einzelnen Einstellungen und Weltbildern gewinnt das geistige Leben eines Menschen demnach eine bestimmte Gestalt und löst diese Gestalt wiederum auf, wo sie allzu fest und unbeweglich, zu einem bloßen ›Gehäuse‹ geworden ist, nur um in neuer Weise formgebend zu wirken.24 Je nachdem, wie ein Mensch als ›Geist‹ beschaffen ist, das heißt, von welchen Ideen er geleitet ist, verläuft dieser Prozess Jaspers zufolge in unterschiedlicher Weise, woran sich seine Analyse verschiedener ›Geistestypen‹ anschließt. Die Geistes­ typen sind demnach diejenigen dynamischen Ganzheiten, als deren Manifestationen sich Weltbilder und Einstellungen formen und die damit im eigentlichen Sinne das ausmachen, was man die Weltan­ schauung eines Menschen nennt.25 Zu Jaspers’ Vorstellung eines die verschiedenen Einstellungen und Weltbilder umgreifenden, von Ideen geleiteten Lebensprozes­ ses gehört es auch, dass er zwischen authentischeren und weniger authentischen, bloß »abgeleiteten Gestalten« von Weltanschauungen unterscheidet, je nachdem wie deutlich (»echt«), konkret, differenziert und auf ein Ganzes hin offen (nicht »isoliert«) die lebendigen Kräfte in der Weltanschauung eines Menschen zutage treten.26 Dass derartige Kategorien in einer gewissen Spannung zu Jaspers’ Ideal wertfreier bloßer Beschreibung stehen, dürfte kaum fraglich sein und ist in der Rezeption seiner Abhandlung wohl zu Recht kritisch angemerkt wor­ den.27 Zweitens sind die Weltanschauungen für Jaspers, obwohl sie als wirksame Kräfte offenbar in Spannung zueinander stehen können, keineswegs bloß antagonistisch oder disparat. Vielmehr geht Jaspers von der Idee eines »Kosmos der Weltanschauungen« aus, an dem alle besonderen Weltanschauungen teilhaben und der insgesamt – aber für uns unerreichbar – die eine wahre Weltanschauung wäre.28 An dritter Stelle ist Jaspers’ Begriff des Absoluten zu nennen. Dieser ist zunächst in seiner Auffassung der menschlichen »Geistes­ struktur« begründet, danach kann der Mensch in der Praxis gar nicht anders, als ein Ganzes und Letztes zu intendieren: KJG I/6, 264–267. KJG I/6, 267–268. 26 KJG I/6, 48–57, bes. 51. 27 Cohn 1921, 87–90. 28 KJG I/6, 36: »Es leitet uns der Glaube, daß wir uns irgendwie auf ein natürliches System, in dem der Kosmos der Weltanschauungen anschaubar wäre, zubewegen; wir fühlen eine solche Idee. Aber wir besitzen doch nur Schemata.« 24

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3 Plotin in der ›Psychologie der Weltanschauungen‹

Die menschliche Geistesstruktur ist so, daß das Absolute gleichsam ein Ort für den Menschen ist, an den er unvermeidlich etwas stellen muß, mag er es praktisch, ohne es für sich zu wissen, in seinem Leben, oder denkend auch für sein Bewußtsein tun. Er muß (psychologisch kann er nicht anders) etwas dahin stellen und sei es das Nichts, sei es die These, es gäbe kein Absolutes.29

Auch wenn keineswegs jeder Mensch über ein metaphysisches Welt­ bild verfügt, das ein Absolutes bewusst anerkennt, ist es laut Jaspers doch unmöglich, dass der ›Ort‹ des Absoluten im Denken eines Men­ schen unbesetzt bliebe. Ein vollkommen konsequenter Atheismus ist damit unmöglich: »Man hat von fanatischen Atheisten wohl gesagt, dass sie ihren Nichtgott anbeten.«30 Der Zug menschlichen Denkens zum Absoluten macht sich insbesondere bemerkbar, wo es um die grundlegendste Struktur der phänomenalen Wirklichkeit geht, um das, was Jaspers die Sub­ jekt-Objekt-Spaltung nennt. Demnach ist die polare Unterscheidung und Bezogenheit von Subjekt und Objekt das »Urphänomen«, das allem gegenständlichen Erleben zugrunde liegt.31 Diese Polarität können wir nun aber gar nicht anders denken als so, dass beide Pole einer einzigen ursprünglichen Wirklichkeit angehören. Es bestehe daher »seit Jahrtausenden« die »Dreiteilung« in »Welt; Seele; Gott. – Objekt; Subjekt; Einheit von Subjekt und Objekt. – Das Dritte ist das Absolute, das Metaphysische oder das Ganze.«32 Jaspers macht sich diese Dreiteilung zu eigen, indem er sie seiner Einteilung der verschiedenen Weltbilder in die drei »Sphären« »sinnlich-räumlich«, »seelisch-kulturell« und »metaphysisch« zugrunde legt.33 Neben gegenständlichen Erlebnissen, die sämtlich in der Sub­ jekt-Objekt-Spaltung statthaben, kennt Jaspers auch eine Weise ungegenständlichen Erlebens, die er – in einem sehr weiten Sinn – als mystisch bezeichnet.34 Für die vorliegende Untersuchung ist dies deshalb von besonderem Interesse, weil Plotin für Jaspers, wie sich KJG I/6, 179. KJG I/6, 179. 31 KJG I/6, 40–42; vgl. ebd., 57, 98. 32 KJG I/6, 151. 33 Vgl. KJG I/6, 151–152, 153, 167, 179. 34 KJG I/6, 40: »In dem Erlebnisstrom ist das Urphänomen eingebettet, daß das Subjekt Objekten gegenübersteht. Unser Leben verläuft in dieser Subjekt-ObjektSpaltung. In ihr allein ist für uns alle Mannigfaltigkeit. Aber nicht alles Erleben geschieht in Subjekt-Objekt-Spaltung. Wo kein Objekt mehr gegenübersteht, also 29

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3.2 Erkenntnis des Gleichen durch das Gleiche

im Folgenden zeigen wird, der archetypische mystische Philosoph ist – neben Kant, dessen Denken für Jaspers ebenfalls eine Mystik ›im weiteren Sinne‹ darstellt.35 Auf Grundlage dieser, natürlich selektiven, Vergegenwärtigung von Jaspers’ eigener philosophischer Position in der Psychologie der Weltanschauungen sollen nun die darin vorkommenden Bezüge auf die Philosophie Plotins untersucht werden.

3.2 Erkenntnis des Gleichen durch das Gleiche Jaspers’ erste Bezugnahme auf Plotin führt diesen – neben Heraklit, Empedokles, Platon und Goethe – als einen der Denker an, auf die Jaspers sich für die Auffassung beruft, dass Gleiches nur durch Gleiches erkannt werden könne. Als Beleg zitiert Jaspers die bekannte, von Goethe36 so wirkungsvoll paraphrasierte Passage aus Enneade I 6: Nie hätte das Auge jemals die Sonne gesehen, wenn es nicht selber sonnenhaft wäre; so kann auch eine Seele das Schöne nicht sehen, wenn sie nicht selbst schön ist. Darum werde jeder zuerst gottähnlich und schön, wenn er das Gute und Schöne sehen will.37

Jaspers schließt sich den genannten Denkern dahingehend an, »[d]aß ein jeder aus der Unendlichkeit des möglicherweise Gegenständlichen einen Teil, nur Seiten sieht, die er auswählt«38. Die Weltanschauung eines Menschen ist daher nie bloß die Summe seiner Erfahrungen, sondern immer zugleich auch ein Ausdruck seiner »Anlage«, seines »Wesens« oder »Charakters«.39 Jaspers interpretiert Plotin hier inso­ fern treffend, als es für diesen in der Tat von der charakterlichen

jeder Inhalt fehlt, darum auch unsagbar ist und wo doch erlebt wird, sprechen wir im allerweitesten Sinne vom Mystischen.« Vgl. auch ebd., 401–405, bes. 404–405. 35 S.u., Abschn. 3.5. 36 Vgl. Goethe, HA, Bd. 13, 324: »Wär’ nicht das Auge sonnenhaft, / Wie könnten wir das Licht erblicken? / Lebt’ nicht in uns des Gottes eigne Kraft, / Wie könnt uns Göttliches entzücken?« Von Jaspers, neben der plotinischen Vorlage, zitiert in KJG I/6, 146 Anm. 37 Plotin, Enn. I 6, 9, 30–34, zitiert in KJG I/6, 146 Anm. 38 KJG I/6, 146. 39 KJG I/6, 146.

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3 Plotin in der ›Psychologie der Weltanschauungen‹

Eignung eines Menschen abhängt, ob und inwiefern er in der Lage ist, den Aufstiegsweg der Philosophie zu beschreiten.40 Der Gedanke einer Korrespondenz von Charakter und Welt­ anschauung ist keineswegs spezifisch für Plotin. Er ist aber von tragender Bedeutung für Jaspers’ Projekt einer Psychologie der Welt­ anschauungen, weil er Voraussetzung dafür ist, Einstellung und Welt­ bild eines Menschen als wechselseitige Erscheinungsformen eines durch weltanschauliche Kräfte bestimmten geistigen Lebensprozesses zu deuten.

3.3 ›Seelenmythik‹ bei Plotin Als eine Manifestation dieses Prozesses untersucht Jaspers im Fort­ gang der Abhandlung auch Plotins eigenes Weltbild, das er u.a. als »seelenmythisch« klassifiziert.41 Seelenmythische Weltbilder sind für Jaspers eine von mehreren möglichen Weisen, die Wirklich­ keit der ›seelisch-kulturellen‹ Sphäre im Weltbild zu repräsentie­ ren.42Im seelenmythischen Weltbild werden menschliche Seelen als ein Typ unter mehreren, etwa göttlichen, angelischen oder dämoni­ schen, Seelen vorgestellt. Ein solches Weltbild vertrete Plotin, und zwar in einer sublimierten, vergeistigten Form: »In sublimierter Form wird das seelen-mythische Reich denkend konstruiert. Aus Plotin sei ein Beispiel angeführt: die menschliche Einzelseele wird kontrastiert zur Weltseele, zu Gestirnseelen, der Erdseele, den Tierseelen.«43 Jaspers geht besonders auf Plotins Konzept einer Weltseele ein, bei der die »Kräfte«, die in der Einzelseele in »Gebrochenheit und Halbheit« vorkommen, in Fülle und »Harmonie« vorhanden seien, sodass die Weltseele ohne »Gedächtnis« und »Reflexion« in »zeitloser Erkenntnis« lebe.44 Er sieht hier Parallelen zu Kants Begriff eines intel­ lectus archetypus. Während der intellectus archetypus für Kant freilich einen Grenzbegriff darstelle, dessen Zweck vornehmlich darin liege, S.o., Abschn. 2.1. KJG I/6, 176. 42 KJG I/6, 167–168. 43 KJG I/6, 176; entsprechende Auffassungen Plotins sind in seiner Großschrift über Probleme der Seele (Enn. IV 3–4), daneben an vielen anderen Stellen seines Werks ausgeführt. Vgl. das Referat bei Drews, A. 1907, 198–207, das Jaspers vielleicht benutzt hat. 44 KJG I/6, 176. 40

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3.3 ›Seelenmythik‹ bei Plotin

ein klareres Bild unserer eigenen menschlichen Seelenvermögen zu gewinnen, nehme Plotin die Weltseele und ebenso Gestirnseelen usw. als Wirklichkeiten an.45 Jaspers bezeichnet dergleichen Auffassungen als mythisch, offenbar im Gegensatz zur Erfahrungserkenntnis und in Parallele zu den mythischen Weltbildern paganer Religionen, aus deren Vorstellungswelt Plotin zweifellos schöpft. Allerdings hebt Jas­ pers hervor, dass Plotins Weltbild keineswegs nur ›erzählt‹, sondern »denkend konstruiert« sei, und zwar ähnlich wie bei Kant durch Extrapolation spezifisch menschlicher Seelenvermögen.46 Letztlich erschöpft für Jaspers allerdings weder dieser konstruk­ tive noch der narrative Zug den Sinn des seelenmythischen Weltbil­ des. Derartige mythische Wirklichkeiten seien demnach keineswegs einfach »ausgedacht«, sondern ursprünglich »erlebt«, es handle sich bei ihnen um eine »Projektion« der »innersten Erfahrungen der Selbstreflexion«.47 In seelenmythischen Vorstellungen sind demnach die grundlegenden Erfahrungen des menschlichen Daseins versinn­ bildlicht. In welcher Weise dies der Fall ist, erläutert Jaspers wiederum am Beispiel Plotins: Die Seele hat eine mythische Geschichte, die den jetzigen Zustand begreiflich macht, z.B. hat sie eine übersinnliche Heimat, ist aus dieser durch Frevel, durch tollkühnen Hochmut, Werdelust und das Verlangen, sich selbst anzugehören, gefallen (Plotin V, 1, 1). Hier in der Welt vergißt die Seele ihren Ursprung, vermag sich aber durch Erinnerung wieder zu erheben.48

Jaspers referiert hier das Bild des Seelenfalles, das in der Philosophie Plotins versinnbildlicht, wie die menschliche Seele aus der ursprüng­ lichen Wirklichkeit des Geistes (Nous) hervorgegangen und zu ihrem besonderen irdischen Dasein gekommen ist, nämlich aus »Vorwitz« (tolma) und durch den »Willen, sich selbst zu gehören«.49 Jaspers ist keineswegs gewillt, einen solchen Abfall der Seele aus dem Nous als Wirklichkeit anzuerkennen, allerdings seien derartige Lehren auch mehr als bloße Einbildungen. Plotins Mythos vom Seelenfall fasse nämlich ein ursprüngliches menschliches Erleben, das begrifflich nicht zureichend ausgesagt werden kann, in Bilder: 45 46 47 48 49

KJG I/6, 176. KJG I/6, 176. KJG I/6, 176. KJG I/6, 176. V 1, 1, 4–5.

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3 Plotin in der ›Psychologie der Weltanschauungen‹

Solche mythische Geschichte ist keineswegs nur intellektuell erdacht, sie findet vielmehr, wenn nicht ihren Beweis, doch ihre Quelle in Erlebnissen, welche in dieser Welt gegeben sind. Plotin beschreibt es z.B. (IV, 8, 1): »Oft, wenn ich aus dem Schlummer des Leibes zu mir selbst erwache und aus der Außenwelt heraustretend bei mir selbst Einkehr halte, schaue ich eine wundersame Schönheit, ich glaube dann am festesten an meine Zugehörigkeit zu einer besseren und höheren Welt, wirke kräftig in mir das herrlichste Leben und bin mit der Gottheit eins geworden ...«50

Für Jaspers ist die zitierte Stelle eine paradigmatische Schilderung mystischen Erlebens.51 In Bezug auf sie deutet er Plotins Lehre vom Seelenfall als den Ausdruck eines mystisch begründeten Bewusstseins davon, dass wir ursprünglich einem Transzendenten verbunden sind – uns diesem Ursprung im täglichen Leben aber fern fühlen, was durch das Bild des Falls ausgedrückt wird. Der verwandte Gedanke, dass menschliche Existenz in einem transzendenten Ursprung begründet ist, der philosophierend zu vergegenwärtigen ist, ist ein essentieller Bestandteil von Jaspers’ eigener späterer Philosophie.52 Jaspers’ Wertschätzung der plotinischen ›Seelenmythik‹ ist aller­ dings durchaus nicht vorbehaltlos. Für ihn ist es klar, dass derarti­ gen Vorstellungen keine unmittelbare gegenständliche Bedeutung zukommen kann. Ihren Wert hätten sie, unabhängig davon, wie sie gemeint seien, einzig und allein als Ausdruck menschlichen Seelen­ lebens.53 Jaspers’ Deutung Plotins korrespondiert hier mit seinem Verständnis des Buddhismus. Die übersinnlichen Welten der bud­ dhistischen Lehre bedeuten für Jaspers keine gegenständlichen Reali­ täten, sondern in der Meditation erreichte Bewusstseinszustände.54 Derartige ›mythische‹ Vergegenwärtigungen des Seelenlebens sind für Jaspers keineswegs unangemessen. Zu beanstanden sei es nur, wenn sie sich in unklarer Weise mit weltorientierendem empirischen Wissen vermengen, wie dies bei zeitgenössischen ›theosophischen‹ Strömungen geschehe.55 KJG 1/6, 176 (Auslassung von Jaspers). Vgl. Einf 33–34; zur Problematik der Deutung dieser Stelle im Kontext der plotinischen Philosophie vgl. O’Meara 1974. 52 S.u., Kap. 8 bis 10. 53 KJG I/6, 185–186. 54 KJG I/6, 186; Jaspers beruft sich hierfür auf Beckh 1916, Bd. 2, 52. – Eine vergleich­ bare Auffassung der plotinischen Philosophie findet sich später bei Kristeller 1929. 55 KJG I/6 160. 50 51

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3.3 ›Seelenmythik‹ bei Plotin

Jaspers’ Auseinandersetzung mit der plotinischen Seelenlehre ist, wie dies alles zeigt, von beachtlicher Ernsthaftigkeit und Vielsei­ tigkeit; sie ist offenbar durch eigene philosophische Interessen infor­ miert, denen Plotin in einem ganz allgemeinen Sinn entgegenkommt, insofern seine Metaphysik auf ein philosophierendes Zusichkommen und eine Erfahrung des Transzendenten abzielt. Auch auf der Grund­ lage dieser Affinitäten verneint Jaspers die platte Disqualifikation der philosophischen ›Mythen‹ Plotins als bloßer Einbildungen. Der Kontrast von Jaspers’ Deutung zu Plotins eigener Position ist freilich immens, denn von Plotin ist seine Seelenlehre keineswegs als bloße Vergegenwärtigung innerer Erfahrungen gemeint. Der objek­ tive Anspruch, der sich mit dieser Seelenlehre verknüpft, wird sowohl in seinen Überlegungen zur Immaterialität und Unsterblichkeit der Seele wie in seinen naturphilosophischen Spekulationen, die die Seele als universales Lebensprinzip in Anspruch nehmen, sehr klar artikuliert.56 Ob es vor diesem Hintergrund gerechtfertigt sein kann, Plotins Seelenlehre insgesamt als ›mythisch‹ zu deklarieren, muss daher zweifelhaft erscheinen. In jedem Fall drückt diese Bezeichnung eine Distanz zur ploti­ nischen Psychologie aus, sofern deren Gehalte als objektives Wis­ sen beansprucht werden. Eine solche Distanzierung kommt in der Tat schon in der Einleitung zur Psychologie der Weltanschauungen zum Ausdruck: Daß die Seelen fallen, ihre Heimat verlassen, hier auf der Erde Fremd­ linge sind, daß frühere Tat aus vergangenen Existenzen als Karman fortwirkt und dies gegenwärtige Leben bestimmt, daß es Dämonen gibt, daß es eine Menschheitsgeschichte übersinnlicher Zusammen­ hänge, einen gefahrvollen einmaligen Prozeß gibt usw., solche Gedan­ ken mögen falsch, unsinnig, täuschend sein, die menschliche Seele hat eine Artung, die sich in solchen Gedanken ausdrückt.57

Die genannten Lehren – zu denen zweifellos auch die plotinische Seelenlehre gehört – haben für Jaspers sämtlich keine objektive Gül­ tigkeit; vielmehr sieht er in ihnen nicht mehr als einen »treffende[n] Ausdruck« für Aspekte des menschlichen Seelenlebens, für »[s]ubjek­ tive Erfahrungen«, an denen als solchen kein Zweifel bestehen kann.58 56 Zu Plotins Seelenlehre s.o., Kap. 2, sowie zusammenfassend Halfwassen 2004, 98–141. 57 KJG I/6, 26. 58 KJG I/6, 26.

75 https://doi.org/10.5771/9783495997772 .

3 Plotin in der ›Psychologie der Weltanschauungen‹

Auch wenn der Mythos vom Seelenfall nicht akzeptiert und der Dämonenglaube verworfen werde, müsse daher gelten: Ein solches Weltbild »kann nicht absolut nichtig sein. Es war einmal als Kraft da, und kehrt zu allermeist auf typische Weise einmal wieder.«59

3.4 Plotins ›metaphysisches Weltbild‹ Neben dem seelenmythischen Weltbild, oder vielmehr dieses über­ greifend, sieht Jaspers bei Plotin ein bestimmtes metaphysisches Weltbild als gegeben an. Die Ablehnung der Metaphysik, die die zeitgenössische Diskus­ sion oft kennzeichnet, teilt Jaspers keineswegs und distanziert sich in der Psychologie der Weltanschauungen von derartigen Sichtweisen.60 Als Versuche eines Ausgriffs auf das Absolute hätten metaphysische Weltbilder zumindest grundsätzlich, wenngleich nicht in allen beson­ deren Inhalten, ihre Berechtigung.61 Vor diesem Hintergrund kommt Jaspers auf das ›metaphysische Weltbild‹ Plotins zu sprechen, das er als »mythisch-spekulativ« klassifiziert und das in ähnlicher Weise auch Platon und Hegel vertreten hätten.62 Für Jaspers handelt es sich dabei um das letzte Weltbild in einer Entwicklungsreihe, die er wie folgt entwirft: Das der geschichtlichen Entwicklung nach erste Weltbild ist demnach (1.) das »mythisch-dämonische«. Es ist das Weltbild der paganen Religionen, etwa des antik-griechischen Volksglaubens; jedoch schlägt Jaspers auch Goethes Glauben an ›das Dämonische‹ diesem Typus zu, für den die übernatürlichen Mächte als Kräfte bestehen, die an der Grenze KJG I/6, 25. KJG I/6, 179: »Daß neben das sinnlich-räumliche und das seelisch-kulturelle Weltbild noch ein metaphysisches gestellt wird, muß dem unerlaubt erscheinen, der in diesem nur eine Menge von Fabeln, Phantasien, Begriffsdichtungen sieht. Uns kommt es nicht auf Rechtfertigung irgendwelcher Bilder, sondern auf ihre Darstellung und Charakteristik an; es kommt nur darauf an, zu sehen, was in der menschlichen Seele Kraft hat. Was jener Dichtungen nennt, ist aber zu allen Zeiten, gerade auch bei den großen Menschen, das psychologisch Wirksamste gewesen. Daß die Welt nicht erschöpft ist mit dem, was sinnlich in Raum und Zeit vorhanden ist, und dem, was verstehbar, sinnhaft, innerlich ist, das hat der Mensch immer wieder evident erlebt, obgleich ihm seine Organe anscheinend keine anderen anschaulichen Welten offenbaren.« 61 KJG I/6, 179. 62 KJG I/6, 195. 59

60

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3.4 Plotins ›metaphysisches Weltbild‹

des sinnlich Erfahrbaren unmittelbar als wirklich erlebt werden.63 Mit dem Einsetzen der philosophischen Reflexion stellt sich diesem (2.) das »philosophische« Weltbild entgegen; der Philosophierende postuliert demnach, »vom philosophischen Trieb zum Absoluten und zum Ganzen erfaßt«, einen bestimmten Aspekt der Wirklichkeit als das Absolute.64 Jaspers macht dabei mehrere konkurrierende Hauptstränge des philosophischen Weltbildes aus. Demnach werde das Absolute (2.a) entweder einseitig im (2.a.i) Geistigen (Spiritualis­ mus) oder aber im (2.a.ii) Körperlichen (Materialismus) erblickt.65 Eine alternative Richtung (2.b) gehe davon aus, dass die Form unserer Bezugnahme auf die Wirklichkeit das eigentlich Absolute sei, insbe­ sondere die mathematische oder die kategoriale Form, was Jaspers als »Rationalismus« bzw. »Panlogismus« bezeichnet.66 Eine weitere Position (2.c), die der »negativen Theologie«, entwickelt sich Jaspers zufolge aus der Einsicht, dass der Mensch »denkend das, was er denkt, sich zum Objekt macht, daß er es damit begrenzt, daß er es nicht mehr als das Ganze hat, daß sein Gegenstand endlich geworden ist«.67 Demnach kann das Absolute gar nicht positiv erfasst, sondern nur in »Negationen und Paradoxien« indirekt aufgewiesen werden.68 Jaspers sieht diesen negativ-theologischen Weg bei Augustin, Cusanus und Kant verwirklicht.69 Von den genannten Möglichkeiten grenzt Jaspers das (2.d) »mythisch-spekulative Weltbild« ab, dem er auch Plotin zuordnet. Dieses zeichne sich dadurch aus, dass es die zuvor genannten Momente in ein einziges Weltbild integriere. Zwar berücksichtige die­ ses Weltbild die Einsicht der negativen Theologie, dass das Absolute unerkennbar sei, in ihrer Konsequenz werde diese Einsicht aber rela­ tiviert. Hierdurch komme das mythisch-spekulative Weltbild einem Bedürfnis der menschlichen Natur entgegen: Daß das Ganze da ist, daran zweifelt auch die negative Theologie nicht. Aber das Ganze als Weltbild, als die äußersten Horizonte unseres Seins auch gegenständlich vor uns zu haben, es zu denken und es auch anzuschauen, ist ein Bedürfnis der menschlichen Natur, welches 63 64 65 66 67 68 69

KJG I/6, 184–192. KJG I/6, 192. KJG I/6, 192–193. KJG I/6, 193–194. KJG I/6, 194. KJG I/6, 194. KJG I/6, 194–196.

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3 Plotin in der ›Psychologie der Weltanschauungen‹

die negative Theologie nie dauernd überwindet. Daher treten immer wieder die großen philosophischen Bildungen auf, die nur die Gipfel dessen sind, worin die Menschen faktisch als in ihrem Weltbild mehr oder weniger leben – auch meist dann, wenn sie sich die negativ-theo­ logischen Formeln zu eigen gemacht haben. Diese großen philosophischen Weltbilder, wie sie von Platon, Plotin, vom Mittelalter, von Hegel gelehrt werden, sind alles zugleich: Sie haben mythisch-dämonische Elemente, sie haben Verabsolutierungen, den Panlogismus und sie haben als ein Element auch die negative Theo­ logie.70

Obgleich die Philosophie Plotins unzweifelhaft in einer negativen Theologie des absoluten Einen kulminiert, ordnet Jaspers Plotin also nicht dem negativ-theologischen, sondern einem synthetischen Typus zu, der die verschiedenen Ausformungen des metaphysischen Bewusstseins ineins zu fassen sucht. Jaspers trifft diese Einordnung vermutlich im Hinblick auf Plotins Philosophie des Nous und der Seele, die in seinem Sinne wohl panlogistische bzw. spiritualistische Züge aufweisen. Plotins eigener Auffassung zufolge schränken diese allerdings keineswegs seine negative Theologie des Einen ein, son­ dern entfalten nur deren Konsequenzen.71 Trotz Jaspers ausdrücklicher Anerkennung ›mythisch-spekula­ tiver‹ Weltbilder als eines Gipfels dessen, was Menschen in welt­ anschaulicher Hinsicht überhaupt möglich ist, kann Jaspers solche Weltbilder doch nicht vorbehaltlos bejahen – im Gegensatz zur Nähe, die zum rein negativ-theologischen Ansatz von Denkern wie Cusanus und Kant fühlbar wird.72 Zwar betont Jaspers die Anziehung derarti­ ger Weltbilder auch auf diejenigen, die sie nicht für »richtig« halten, jedoch haben ›mythische‹ Weltbilder für Jaspers ausschließlich als »Projektionen geistiger Kräfte« des Menschen Wirklichkeit,73 so dass deren ›übersinnliche‹ Elemente, anders als ihre Vertreter es wahr­ haben wollen, keinen objektiven Bestand haben. Jaspers bestreitet damit keineswegs die Wirklichkeit des Übersinnlichen, wohl aber dessen Erkennbarkeit und begriffliche Bestimmbarkeit, weswegen die

KJG I/6, 194–195. Zum Verhältnis von Seele, Geist und Einem bei Plotin s.o., Abschn. 2.2. 72 Für Jaspers’ bisweilen engen Anschluss an das Denken Kants s.u., Kap. 7; für sein Verhältnis zu Cusanus vgl. Wisser 1965; ders. 1995, 29–49, bes. 46–49; Ratzsch 2018a; ders. 2022. 73 KJG I/6 195. 70 71

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3.5 Plotin als Mystiker

negative Theologie – nicht das mythisch-spekulative Weltbild – für ihn in letzter Instanz Recht behält. Jaspers wird es Plotin in späteren Äußerungen zur Sache nicht mehr unterstellen, in Bezug auf die Transzendenz des Absoluten Kompromisse einzugehen, und vielmehr dessen konsequentes Trans­ zendieren loben.74 Hier wird also eine deutliche Weiterentwicklung in Jaspers’ Plotin-Bild zu vermerken sein.

3.5 Plotin als Mystiker Die für Jaspers’ eigene, hier noch im Entstehen begriffene Philosophie wichtigste und grundlegendste Bezugnahme auf Plotin gilt freilich weder dessen Seelenlehre noch dessen ›metaphysischem Weltbild‹. Vielmehr betrifft sie den für das Denken Plotins insgesamt fundamen­ talen Bezug der Seele auf das absolut Eine. Jaspers bezeichnet diesen Aspekt insgesamt als Mystik. Plotin ist für Jaspers wohl schon zu diesem Zeitpunkt der philosophische Mystiker schlechthin, so dass er es ist, den Jaspers heranzieht, um den im engeren Sinne mystischen Geistestypus zu exemplifizieren.75 Dieser mystische Typus im engeren Sinne bildet, zusammen mit dem sogenannten ideenhaften Typus, den mystischen Geistestypus im weiteren Sinne, dem Jaspers das letzte abschließende Kapitel seiner Psychologie der Weltanschauungen widmet.76 Schon diese ausgezeich­ nete Stellung im Werk deutet eine besondere Relevanz des Themas für Jaspers’ Projekt an. In der Tat ist die Mystik für Jaspers ein geistiges Phänomen sui generis. Schon rein äußerlich hebt sie sich durch ihre globale Verbreitung und relative Gleichförmigkeit von den übrigen Weltanschauungen ab: »Vielleicht ist nichts in den Gestalten des menschlichen Geistes so allgemein und in allen Zeiten und Kulturen so ähnlich wie die Mystik.«77 Ihre eigentliche Begründung hat die einzigartige Bedeutung der Mystik für Jaspers’ Weltanschauungspsy­ chologie freilich in deren inneren Charakteristika. S.u., Kap. 6. Dagegen erläutert Jaspers die ›mystische Einstellung‹ am Beispiel Meister Eckharts (KJG I/6, 94–96). – Für Jaspers’ spätere Einschätzung der philosophischen Mystik Plotins vgl. Einf 33; s. dazu unten, Abschn. 6.2. 76 KJG I/6, 400–419. 77 KJG I/6, 400. 74

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3 Plotin in der ›Psychologie der Weltanschauungen‹

An dieser Stelle ist in Erinnerung zu rufen, dass es für Jaspers der Geistestypus eines Menschen ist, der bestimmt, welche welt­ anschaulichen Ideen in seinem Lebensprozess vor allem wirksam werden. Wenn die durch den Geistestypus gegebene Weltanschauung hierdurch für den Einzelnen, der in ihr lebt, ein Absolutes ist, so ist sie doch an sich, objektiv psychologisch betrachtet, nur eine unter vielen Weltanschauungen, die nebeneinander und vielfach miteinander im Konflikt stehen. So kommt es in jedem Geistestypus zu einer »Verab­ solutierung einzelner Einstellungen, Weltbilder oder Werte«78. »Das Heil liegt z.B. nach entgegengesetzten Lehren in der Praxis, sei es der Selbstgestaltung, sei es der Weltarbeit, oder in der Erkenntnis, sei es der Gnosis, sei es der relativistischen Forschung oder der Mystik.«79 Die Mystik unterscheidet sich von den anderen ›Heilswegen‹ nun allerdings dadurch, dass in ihr nicht Einzelnes verabsolutiert ist, son­ dern das Absolute als solches intendiert wird. Aus der Erfahrung des Absoluten, nicht aus einer besonderen Lehre, gewinnt der Mystiker die Kraft, aus der heraus er sein Leben führt.80 Die Mystik ist Jaspers zufolge die einzige Weltanschauung, welche das umgreifende Ganze der Subjekt-Objekt-Relation in den Blick nimmt und als die für das Leben des Einzelnen wesentliche Wirklichkeit auszeichnet. »Weil alle anderen Heilsrezepte ein Einzel­ nes, Endliches zum Ziel machten, erschien schließlich immer wieder diese Mystik, in der alle Subjekt-Objekt-Spaltung aufgehoben, die Unendlichkeit als Fülle und Totalität gegenwärtig ist, als das letzte Heil.«81 Die Mystik kann also insofern Vorrang vor den übrigen Weltanschauungen beanspruchen, als sie den Menschen nicht auf ein Partikulares abstellt, sondern sein geistiges Dasein umgekehrt auf das Absolute hin öffnet. Sie ist damit für Jaspers dasjenige weltanschauli­ che Phänomen, das in paradigmatischer Weise verwirklicht, was er als »Leben aus dem Ganzen und Unendlichen«82 sowohl dem Nihilismus wie dem Leben im endlich fixierten ›Gehäuse‹ entgegenstellt. Weil die Mystik ein Jenseits aller Gegensätze intendiert, ist sie nicht angreifbar wie die Weltanschauungen, die einseitig ein bloß Relatives verabsolu­ tieren: 78 79 80 81 82

KJG I/6, 400. KJG I/6, 400. KJG I/6, 405–406. KJG I/6, 400. KJG I/6, 321.

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3.5 Plotin als Mystiker

In der Subjekt-Objekt-Spaltung läßt sich wohl irgend etwas als absolut setzen, die räumlichzeitliche Realität, der Sinn oder Wert, die Welt oder die Seele usw.; aber jede solche Verabsolutierung findet ihre Feinde in entgegengesetzten Verabsolutierungen und dadurch ihre Auflösung. Nur im Mystischen glaubt der Mensch das Absolute zu erfahren und ist ohne Gegner, sofern er nichts als Objekt behauptet, nicht das Ding an sich sich gegenüber, sondern in ungeschiedener Subjekt-Objekt-Einheit gegenwärtig hat.83

Allerdings hat auch die Mystik Jaspers zufolge ihre Fragwürdigkei­ ten. So klingt vielleicht schon in der Formulierung, diese könne als »das letzte Heil« erscheinen, eine gewisse Skepsis mit. Aus Jaspers’ Sicht dürfte diese Skepsis schon dadurch gerechtfertigt sein, dass die Mystik – der relativen Einförmigkeit ihrer Erscheinungsformen zum Trotz – ein heterogenes Phänomen ist, so dass unter dem Begriff ›Mystik‹ unterschiedliche, selbst konkurrierende Weltanschauungen zusammengefasst sind. Zwar eint der Bezug aufs Absolute alle ›sub­ stantiellen‹ Formen der Mystik im weiteren Sinne. Jaspers zufolge sind allerdings auch hier zwei gegensätzliche Weisen denkbar, das mystische Erlebnis zu deuten und im eigenen Lebensprozess zu berücksichtigen, die demnach den mystischen Typus im engeren Sinne einerseits und den ideenhaften Typus andererseits kennzeich­ nen. Die jeweiligen Charakteristika beider Typen arbeitet Jaspers an repräsentativen Vertretern, namentlich an Plotin und Kant, heraus.84 Dabei werden beide Philosophen zugleich parallelisiert und kontras­ tiert: Der Gegensatz der Weltanschauungen, die aus den im weitesten Sinne »mystisch« genannten Erlebnissen und Erfahrungen den eigentlichen Mystiker und den Ideen entfaltenden dämonischen Menschen machen, oder die den Unterschied rational zum Ausdruck bringen, der vielleicht in einer ursprünglichen Andersartigkeit der Erlebnisse mitbegründet ist, kann durch eine antithetische Gegenüberstellung von Plotin und Kant illustriert werden. Von Plotin her ist der mystische Typus, von Kant her der dämonische, ideenhafte Typus zu bejahen.85

KJG I/6, 40. Dass Kant Jaspers als ein Mystiker, und sei es im weiten Sinne, gilt, mag verwunderlich scheinen; dennoch ist diese Einordnung ist nicht ohne inhaltliche Anhaltspunkte; vgl. Manstetten 1995. 85 KJG I/6, 407.

83 84

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3 Plotin in der ›Psychologie der Weltanschauungen‹

Zwar speise sich beider Denken aus einem im weiteren Sinne mys­ tischen Erleben. Jaspers sieht bei Plotin einerseits und Kant anderer­ seits aber eine »entgegengesetzte Richtung in der Verwertung«86 dieser Erfahrungen. Daher wird nur Plotin von Jaspers als Mystiker im eigentlichen Sinne, Kant dagegen als ein »Ideen entfaltende[r] dämo­ nische[r] Mensch«87 charakterisiert. Die Auffassung Kants als eines ›dämonischen Menschen‹ mag, vielleicht mehr noch als seine Einord­ nung unter die Mystiker im weiteren Sinne, verwundern; ihr Sinn klärt sich aber, wenn man berücksichtigt, dass Jaspers ›das Dämoni­ sche‹ hier im Sinne Goethes versteht. Ein dämonischer Mensch ist dann derjenige, der in einer unbestimmt erfahrenen Beziehung zum Übersinnlichen steht, der in dieser Beziehung aber nicht aufgeht, sondern, was er von dorther erfährt, unmittelbar in schöpferische Tätigkeit umsetzt und erst hierin den Sinn seines Daseins findet.88 Zwar macht er durchaus Erfahrungen, die Jaspers als mystisch wertet, an diesen hat er aber keine Befriedigung, vielmehr geht sein Bestreben wesentlich auf die praktische Verwirklichung – die Kraft hierzu findet er allerdings gerade in seiner Erfahrung des Übersinnlichen. Den in diesem Sinne ›dämonischen‹ Kant sieht Jaspers nun im Gegensatz zu Plotins eigentlich mystischer Geisteshaltung, für die nicht die Praxis, sondern das mystische Erleben selbst das Werthafte sei.89 Für Jaspers leitet sich der Gegensatz der kantischen und der plotinischen Form der Mystik nicht zuletzt aus den unterschiedlichen erkenntnistheoretischen Auffassungen beider ab. Um diesen Gegen­ satz zu illustrieren, zitiert Jaspers aus einer zentralen Schrift Plotins, Enneade III 8, Über Betrachtung, in welcher das Eine als der Urquell aller Dinge beschrieben wird: Denn nicht die Wirklichkeit des Lebens, d.h. das All[,] ist das erste Leben, sondern dieses ist selbst wie aus einer Quelle hervorgeströmt. Denke dir nämlich eine Quelle, die keinen Anfang weiter hat, sich selbst aber den Flüssen mitteilt, ohne daß sie erschöpft wird durch die Flüsse, vielmehr ruhig in sich selbst beharrt ... oder stelle es dir vor wie das Leben eines gewaltigen Baumes, welches das All durchströmt, indem der Anfang bleibt und nicht im Ganzen zerstreut wird, gleich­ sam festgegründet in der Wurzel. Diese also gibt das gesamte reiche 86 87 88 89

KJG I/6, 407. KJG I/6, 407. Vgl. KJG I/6, 187–192, 326–330. KJG I/6, 407–408.

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3.5 Plotin als Mystiker

Leben dem Baume, bleibt aber selbst, da es nicht die Fülle ist, sondern Prinzip der Fülle ... Und in jedem Einzelnen ist ein Eins, auf das du es zurückführen kannst, so auch das All auf das Eine vor ihm, das noch nicht einfach eins ist, bis man zu dem einfach Einen gekommen ... Erfaßt man aber das Eine der Pflanze, d. i. das bleibende Prinzip[,] und das Eine des Tiers und das Eine der Seele und das Eine des Alls, so erfaßt man jedesmal das Mächtigste und das Wertvolle ...90

Jaspers deutet diese Stelle als eine Inanspruchnahme ebendessen, was die kantische Erkenntniskritik dem Menschen versagt, einer Vernunf­ terkenntnis der Wirklichkeit im Ganzen und ihres Hervorgangs aus dem Absoluten: Plotin weiß, was es mit der Welt auf sich hat. Aus dem Ureinen ent­ springt in einer Folge von Emanationen die ausgebreitete Welt und in einem rückwärtsschreitenden Prozeß drängen die Wesen zum Ureinen zurück, einem Abstieg zur Welt der endlichen Einzelgegenstände steht ein Aufstieg gegenüber zurück zum Einen.91

Für Jaspers, der sich in diesem Punkt vollkommen an Kant anschließt,92 kann es kein solches Wissen geben; wird es behauptet, so beruht es entweder auf Trugschlüssen oder es ist nur symbolisch bzw. ›mythisch‹ zu verstehen.93 Jaspers zufolge ergibt sich aus diesem theoretischen Irrtum auch eine Desorientierung in der Praxis. Es werde nicht mehr vorrangig die Tätigkeit in der Welt gesucht, sondern die Erfahrung des Absoluten als Selbstzweck: »Das Lebensziel wird so die Vereinigung mit dem Einen, die direkte reale Berührung«94. Die Tätigkeit in der Welt und die Welt selbst werde dabei zwar keineswegs schlechthin verachtet, anerkannt aber werde sie nur als ein Schritt auf dem Weg zum Absoluten bzw. als Emanation aus demselben. Vielmehr wisse der Mystiker im engeren Sinne sich in seinem Dasein aus der Welt hinausgehoben: »Die Existenz ist ihm keine zeitliche, verantwortungsvolle, sondern eine zeitlose, übersinnliche, ewig ent­ schiedene.«95

90 III 8, 10, 3–7.10–17.20–22.23–26; zitiert in KJG I/6, 408, Auslassungen von Jas­ pers. 91 KJG I/6, 408. 92 KJG I/6, 408–409. 93 S.o., Abschn. 3.4. 94 KJG I/6, 408; Jaspers zitiert als Beleg III, 8, 10, 31–35. 95 KJG I/6, 417.

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3 Plotin in der ›Psychologie der Weltanschauungen‹

Dieses Urteil Jaspers’ erscheint im Hinblick auf Plotin kaum gerechtfertigt; individuelle Verantwortung für den eigenen Lebens­ weg kennt und bejaht dieser ja durchaus; auch und gerade weil unser höheres Selbst Plotin zufolge das zeitliche Dasein transzendiert, sind wir aufgerufen, uns hier und jetzt um Tugend und Einsicht zu bemühen. Allerdings ist es zutreffend, dass für Plotin die Schau des Einen das Ziel und die Erfüllung menschlichen Daseins ist; praktische Tätigkeit wird nur als (allerdings unumgängliche) Vorstufe oder als Konsequenz bejaht.96 Plotins Mystik des Aufstiegs stellt Jaspers seine Auffassung der Philosophie Kants gegenüber. Für den kantischen, ideenhaften Weg gelte: Nirgends können wir die Unendlichkeit zum Ende durchlaufen, als unendliche Totalität zum Gegenstand gewinnen. [...] Wir erleben aber in der Tätigkeit innerhalb der Subjekt-Objekt-Spaltung etwas, das darüber hinaus geht.97

Weil wir das Absolute mit Kant weder erkennen noch unmittelbar erleben können, liege der Fokus für ihn auf der Tätigkeit in der Welt, in der Subjekt-Objekt-Spaltung, die selbst die einzige ›Garan­ tie‹ des Absoluten sei. Insofern kann Jaspers die Mystik Kants als eine gewissermaßen innerweltliche, die Plotins dagegen als eine der Absicht nach die Welt hinter sich lassende und sich unmittelbar zum Absoluten verhaltende Mystik charakterisieren: Plotins Mystik ist eine des Absoluten, außer der Welt (die Welt wird nur als sekundäre Folge, als Ausbreitung und Abfall gewürdigt), Kants Mystik ist eine in der gegenständlichen Welt – sowohl als Überbau, wie als Quelle und Ursache des Schreitens in dieser Welt. Plotin ist in unmittelbarer Vereinigung mit dem Absoluten, Kant ist immer in Distanz zum unerreichbaren Absoluten, zu dem er wohl Beziehung der Richtung und der Aufgabe und des Sinns hat, aber mit dem er nie in Einheit ist.98

Was Jaspers’ eigene Position angeht, so macht er deutlich, dass er zwar in beiden, der ›plotinischen‹ wie der ›kantischen‹ Form des mystischen Geistestypus, »etwas Substantielles« sieht.99 Sowohl die unmittelbare 96 97 98 99

S.o., Abschn. 2.1 und 2.4. KJG I/6, 408–409. KJG I/6, 409–410. KJG I/6, 412.

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3.5 Plotin als Mystiker

Erfahrung des Absoluten nach Plotin wie die indirekte Erfahrung der Ideen nach Kant haben für Jaspers also ihren Platz in dem Kosmos der Weltanschauungen, den er annimmt. Keine ist bloß die Ableitung der anderen, vielmehr sind beide grundsätzlich legitime Weisen des Bezugs auf das Absolute. Nichtsdestoweniger liegt Jaspers’ Sympathie eindeutig mehr beim kantischen als beim plotinischen Typus – was sich, weil Jaspers sich auch hier mit ausdrücklichen Wertungen zurückhält, zwar nur implizit, aber doch unübersehbar an seiner Darstellung der beiden gegensätzlichen ›Richtungen‹ der Mystik zeigt. Für die kantische ›Richtung‹ spricht aus Jaspers’ Perspektive zweierlei: zunächst die von Kant beachtete, von Plotin dagegen nicht anerkannte Restriktion der Erkenntnis auf den Bereich der durch Sinneswahrnehmung vermittel­ ten Erfahrung, dann der relativ größere Impetus, in der Welt durch eigene schöpferische Tätigkeit zu wirken. Für Jaspers ist die Außerweltlichkeit der Mystik plotinischen Typs zwar noch nicht an sich ein Mangel. Sie ist aber der Grund dafür, dass Weltanschauungen dieses Typs leichter degenerieren und ›sub­ stanzlose‹, ›abgeleitete‹ Gestalten hervorbringen. Zwar sieht Jaspers auch beim kantischen Typus Möglichkeiten des Substanzverlusts: die positivistische Reduktion auf das bloß Endliche, »das nun den Faden zum Übersinnlichen und zur ewigen Bedeutung verliert«, und die entgegengesetzte Gefahr einer »Schwärmerei für Ideen, in der die Ideen vermeintlich direkt ergriffen werden«.100 Beim plotinischen Typus sei die Gefahr der ›Ableitung‹ aber noch größer, was für Jaspers mit der vergleichsweise größeren Subjektivität der Erfahrung des Absoluten in dieser ›Mystik im engeren Sinne‹ in Zusammenhang steht.101 In diesem Sinne sieht Jaspers in der Geschichte der Mystik »mannigfache Gestalten [...], die zwar mystisch heißen, von denen die Geschichte der Mystik voll ist, die aber als formalisierte und unechte nicht für das Mystische überhaupt genommen werden dür­ fen«102. Diese ›abgeleiteten‹ Typen werden zwar keineswegs mit der KJG I/6, 418. Vgl. KJG I/6, 418: »Mystik und Idee sind Akzentuierungen des Subjektiven, sind Appell an die subjektive Existenz, aber die Mystik ist die subjektivere, weil sie das bloße Erlebnis der als real beurteilten Vereinigung mit dem Absoluten will, die Idee ist vergleichsweise eine Akzentuierung des Objektiven, weil sie immer im konkreten Fall nur ein Bestimmtes und Endliches will und Objektivierung als Tat, Leistung, Bewahrung verlangt.« 102 KJG I/6, 416. 100 101

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3 Plotin in der ›Psychologie der Weltanschauungen‹

substantiellen Mystik Plotins identifiziert. Im Gegenteil, wir dürfen (neben Meister Eckhart) vor allem an Plotin denken, wenn Jaspers allen abgeleiteten Gestalten den »echte[n] Mystiker« gegenüberstellt: Der echte Mystiker hat etwas Freies, Geistiges. Er ist nicht auf eine Formel zu bringen. Die ekstatischen Erlebnisse sind die höchsten Gipfel eines Daseins, das jede Minute der Existenz und jede Bewegung des Menschen erfüllt. In der Entleerung zu bloßer Form und zum Unechten wird der Genuß des Erlebnisses der Ekstase immer mehr isolierter Selbstzweck. [...] An Stelle einer die Totalität des Menschen ergreifenden Lebensführung tritt eine psychologisch raffinierte Tech­ nik zur Herbeiführung zeitlich immer begrenzter mystischer Zustände. An Stelle der subjektiv erlebten unaussagbaren Fülle tritt einerseits Bewußtseinsleere mit stumpfen Glücksgefühlen, andererseits eine Menge von Materialisierungen des Mystischen in Visionen und der­ gleichen, die rationalisiert eine mystische Gnosis vermitteln, die dem ursprünglichen Wesen der Mystik [...] eine neue Verendlichung (nur ohne reale Bedeutung) ins Gesicht schlägt.103

Obgleich diese ›gnostischen‹ Formen keineswegs dem echt mysti­ schen Weg entsprechen, sieht Jaspers doch eine gemeinsame Grund­ lage beider darin, dass das mystische Erlebnis als Selbstzweck – und nicht zum Zweck der Tätigkeit in der Welt – gesucht werde. Hier sei der Weg zur ›Ableitung‹ gewissermaßen schon vorgezeichnet: »Bei Plotin ist die Konsequenz unabweislich, da das Erlebnis selbst Ziel ist, das die Hauptsache eine Technik der Ekstase werden müßte.«104 Das Suchen der Ekstase als eines bloßen Erlebnisses, entleert von den damit zusammenhängenden philosophischen Gehalten, ist für Jaspers dann tatsächlich ein Verfallsphänomen.105 Da für Jaspers – seiner genannten Vorbehalte gegen die Mys­ tik im engeren Sinne zum Trotz – beide Formen der Mystik sub­ stantielle Weltanschauungen sind, könnte man erwarten, dass er es unternimmt, eine Synthese beider Formen zu entwerfen. Eine solche Synthese hält er zum gegebenen Zeitpunkt allerdings nicht KJG I/6, 416. KJG I/6, 410. – Solch eine Technik ist im Sinne Plotins allerdings unmöglich; die ekstasis ist unverfügbar, s.o., Abschn. 2.2. Allerdings steht die Haltung Plotins in der Tat in starkem Gegensatz zu der von Jaspers vorgezogenen kantischen Position (KJG I/6, 410): »[B]ei Kant [ist] die Konsequenz einer Bewertung der mystischen Erleb­ nisse nach der ihnen zugrunde liegenden Kraft, ideenhafte Richtungen in der gegen­ ständlichen Welt schaffen und geben zu können – alles andere ist Schwärmerei.« 105 KJG I/6, 410. 103

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3.5 Plotin als Mystiker

für durchführbar, »da, soviel ich sehe, das Ganze nicht als Ganzes, sondern nur in der Kombination vorgestellt wird«106. Für ihn lasse sich daher nicht beantworten, »[o]b der Weg der Mystik und der Weg der Idee einseitige Verabsolutierungen sind, die erst in der Synthese das Ganze der menschlichen Substanz ausmachen«107. Zwar scheint Jaspers’ Vorstellung eines Kosmos der Weltanschauungen die Möglichkeit einer solchen Synthese zu implizieren, denn dieser Kosmos wäre ja als ein ordnungshaftes Ganzes zu denken, in dem die verschiedenen Weltanschauungen als besondere Formen der einen wahren Weltanschauung aufgehoben wären. Wenngleich diese immer der Erkenntnis entzogen bliebe, wäre es doch jedenfalls möglich, durch ein bloß entwerfendes Denken auf sie auszugreifen. Selbst einen solchen Entwurf zu wagen, sieht Jaspers in der Psy­ chologie der Weltanschauungen aber offensichtlich noch nicht als seine Aufgabe an. Für ihn kommt es hier allein darauf an, historisch reale Weltanschauungen zu verstehen und zu klassifizieren. Jaspers’ spä­ tere Periechontologie stellt dagegen einen eigenen Versuch dar, eine angemessene Auffassung der Wirklichkeit überhaupt zu entwickeln, so dass die verschiedenen sich bestreitenden Weltanschauungen als vereinseitigende Momente der Periechontologie gelten können.108 In diesem Kontext klassifiziert Jaspers auch verschiedene Weisen des mystischen Erlebens, wobei er sowohl der unio mystica, d.h. dem unmittelbaren Einswerden mit dem Absoluten in der von Plotin beschriebenen Weise, wie der immanenten Mystik einer auf das Absolute hin transparenten Welt ihren bestimmten Ort und Zweck in seiner Systematik zuweist.109 Die Psychologie der Weltanschauungen repräsentiert ein Entwick­ lungsstadium Jaspers’schen Denkens, in dem dieses zwar vielfach noch um Klarheit und Differenziertheit ringt, in dem die spätere Grundhaltung und die wesentlichen Elemente seiner reifen Philoso­ phie aber schon zutage treten. Einflüsse anderer Denker sind hier noch stärker präsent und besser nachzuweisen als in den späteren Werken. Plotin spielt in der Psychologie der Weltanschauungen eine bedeutende Rolle, und zwar zunächst durch sein metaphysisches Weltbild, das Jaspers sich zwar nicht zu eigen macht, in dem er aber – 106 107 108 109

KJG I/6, 412. KJG I/6, 411. W 165; vgl. dazu Ratzsch 2017, 137. S.u., Abschn. 9.8.

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3 Plotin in der ›Psychologie der Weltanschauungen‹

neben einer negativen Theologie, mit deren Anliegen er sich offenbar identifiziert – Andeutungen charakteristischer innerer Prozesse des Menschen erkennt. Dies betrifft vor allem das von Plotin artikulierte Bewusstsein einer transzendenten Herkunft und einer – ineins hier­ mit realisierten – ›Gefallenheit‹ des menschlichen Individuums. Jaspers’ größtes Interesse gilt dabei dem mystischen Aspekt der plotinischen Philosophie. Für Jaspers ist Plotin der charakteristische Vertreter des mystischen Geistestypus in der Geschichte des Denkens. Bei ihm zeigt sich demnach in reinster und höchster Form, was Mystik insgesamt ist: ein Leben aus dem Bewusstsein des Absoluten, derje­ nigen ursprünglichen Wirklichkeit, die Jaspers zufolge der SubjektObjekt-Spaltung zugrunde liegt. Allerdings zweifelt Jaspers daran, ob es mit Plotin richtig ist, im Erlebnis des Absoluten den höchsten Wert zu sehen. Seine Sympathie gilt vielmehr der kantischen Position, der zufolge Erlebnisse eines Übersinnlichen nur werthaft sind, wenn und sofern sie in der Immanenz praktische Umsetzung gewinnen. Eine Synthese aus kantischer und plotinischer Position hält Jaspers offenbar nicht für ausgeschlossen, ohne doch schon einen Weg zu ihrer Umsetzung zu sehen.

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4 Jaspers’ Plotin-Lektüre

Nach diesem kurzen Blick auf das erste Dokument von Jaspers’ Beschäftigung mit Plotin ist nun der Einfluss des Neuplatonikers auf Jaspers’ reifes philosophisches Werk zu untersuchen, der vermutlich noch größer, aber zugleich auch schwieriger aufzuweisen ist. Denn Jaspers referiert hier nicht mehr aus historischen Weltanschauungen, sondern legt eine eigene Lehre mit systematischem Anspruch dar, wobei er geschichtliche Bezüge nur in vergleichsweise geringem Umfang herstellt.1 Es hat sich daher als unerlässlich erwiesen, durch Bibliotheks- und Archivrecherchen nachzuweisen, welche Schriften Plotins Jaspers kannte, ab wann dies der Fall war, und, wenn möglich, weitere historische Umstände seiner Beschäftigung mit Plotin zu erschließen. Denn nur auf einer solchen Grundlage ist es zu verant­ worten, sprachliche und gedankliche Parallelen als Merkzeichen einer wirklichen Rezeption plotinischen Denkens durch Jaspers zu deuten.

4.1 Umfang der Lektüre Jaspers’ letztem Assistenten und späterem Nachlassverwalter, Hans Saner, ist es zu verdanken, dass dessen Bibliothek uns vollständig und zusammenhängend erhalten geblieben ist. Des großen Wertes dieser Bibliothek für die Jaspers-Forschung, besonders im Hinblick auf die Erschließung seiner Quellen, war sich Saner vollends bewusst: Was die Bibliothek insgesamt kostbar macht[,] ist das Faktum, dass Jaspers grundsätzlich mit dem Bleistift gelesen hat. Die Bücher sind voller Anstreichungen und Glossen. Man kann darin erkennen, was ihm für seine Arbeit wichtig war, wie weit er Autoren genau gelesen hat, und wo er damit aufgehört hat.2

1 2

S.o., Kap. 3 Einleitung. Saner an Hermann Havekost, 15.06.1991; vgl. Wätjen 2014.

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4 Jaspers’ Plotin-Lektüre

Dem ist mit Blick auf Jaspers’ Plotin-Lektüre nichts hinzuzufügen. Jaspers hat beide vollständigen deutschen Übersetzungen der Ennea­ den, die Übersetzung von Hermann Friedrich Müller3 ebenso wie die von Richard Harder4, besessen und gründlich studiert. Beide Ausga­ ben hat er mit zahlreichen Anstreichungen und auch mit Marginalien versehen. Diese stammen von Karl Jaspers’ eigener Hand und stellen damit einen wichtigen Beleg für dessen intensive Beschäftigung mit dem Neuplatoniker dar.5 Jaspers hat Plotin größtenteils in Übersetzung gelesen, diese aber immer wieder mit dem griechischen Originaltext abgeglichen, den er in der Ausgabe von Müller zur Verfügung hatte.6 Dies belegen die, freilich wenigen, Anstreichungen, die Jaspers auch im griechischen Text gemacht hat, und eindrücklicher die griechischen termini tech­ nici, die Jaspers in den deutschen Übersetzungen vielfach glossiert hat: νοῦς, διάνοια, εἶδος, λόγος, ἑτερότης, κακόν usw. Jaspers hat in beiden Übersetzungen Stärken und Schwächen gesehen, wobei letztere seiner Ansicht nach am ehesten durch einen wechselseitigen Gebrauch beider Übersetzungen zu kompensieren sind. Dem entspricht die Zitationspraxis in den Großen Philosophen, die beide Übersetzungen nebeneinander gebraucht und bisweilen miteinander kombiniert. In einem Brief an Erich Frank berichtet Jas­ pers: Harders Übersetzung lese ich zum ersten Mal. Sie ist wohl gut, aber stets schulmässig, ohne Stimmung. Der alte Müller ist meistens schlechter, dafür aber an den philosophisch entscheidenden Stellen von geradezu klassischer Schönheit und Wahrheit neben dem stimmungs­ losen Harder. Man muss beide Übersetzungen nebeneinander haben.7

Müller, Enneaden, KJB: KJ 1076. Harder, Schriften, KJB: KJ 1078–1082. 5 Dass Karl Jaspers selbst die Eintragungen vorgenommen hat, ist jeweils durch Ver­ merke auf dem Vorsatzblatt dokumentiert; diese wurden vermutlich von Saner vorge­ nommen. 6 Müller, Enneades, KJB: KJ 1077. – Den 1951 erschienenen ersten Band der kriti­ schen Ausgabe von Henry/Schwyzer (H-S1) hat Jaspers zwar nicht besessen, aber zur Kenntnis genommen und in den Großen Philosophen als Quelle angegeben (GP 959). 7 Jaspers an Frank, nach dem Entwurf, Herbst 1940 (Jaspers, Korr. Phil., 294–295). 3

4

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4.1 Umfang der Lektüre

Inwiefern Jaspers die Übersetzung von Müller jener Harders vorgezo­ gen hat, hat er auch auf dem Vorsatzblatt der Müller-Übersetzung ver­ merkt.8 In Jaspers’ Ausgabe der Plotin-Übersetzung von Müller wei­ sen die allermeisten Abhandlungen Unterstreichungen auf. Einige Schriften stechen heraus durch besonders zahlreiche und intensive Markierungen, oft ganzer Seiten zeilenweise.9 Schon hieraus lässt sich ein erster Eindruck darüber gewinnen, welche Texte Jaspers für besonders wichtig oder interessant gehalten haben dürfte. Nur wenige Enneaden-Traktate bleiben ganz ohne Unterstreichungen.10 Es wäre wohl übereilt zu schlussfolgern, dass Jaspers die genannten Texte gar nicht zur Kenntnis genommen hat; die fehlenden Unterstreichungen sprechen aber für eine allenfalls beiläufige Lektüre. Auch in der Harder’schen Übersetzung hat Jaspers die Enneaden gründlich durchgearbeitet. Wieder weisen die meisten Traktate zahl­ reiche Unterstreichungen auf, die Ausnahmen, also Texte, die ohne Unterstreichungen bleiben, sind hier allerdings etwas zahlreicher.11 Dort ist zu lesen: »Stellen, an denen in der philosoph[ischen] Stimmung Müller viel besser als Harder ist // IV, 8 Anfang // V, 1 Anfang // III, 8 10 Schluss«. 9 Zu nennen sind insbesondere I 1 (Über den Begriff des lebenden Wesens und den Begriff des Menschen), I 6 (Über das Schöne), I 8 (Was und woher das Böse sei), II 4 (Über die beiden Materien), II 9 (Gegen die Gnostiker), III 1 (Über Schicksal), III 2–3 (Von der Vorsehung I–II), III 5 (Über den Eros), III 8 (Von der Natur und dem Schauen und dem Einen), IV 1 (Über das Wesen der Seele oder In wiefern lässt sich sagen, dass die Seele zwischen der ungetheilten und getheilten Substanz in der Mitte steht) IV 2 (Über das Wesen der Seele), IV 7 (Über die Unsterblichkeit der Seele), IV 8 (Über das Herabsteigen der Seele in den Körper), IV 9 (Über die Frage ob alle Seelen eine sind), V 1 (Über die Unsterblichkeit der Seele) V 8 (Über die intelligible Schönheit), VI 7 (Über die Frage, wie die Menge der Ideen zu Stande kam, und über das Gute), VI 8 (Über die Freiheit und den Willen des Einen), VI 9 (Über das Gute oder das Eine). – Die Liste wurde ohne Anwendung besonderer quantitativer Verfahren nur dem Augenschein nach erstellt. Sie soll nur einen Überblick bieten. 10 Es handelt sich im Einzelnen um die Traktate I 5 (Ob die Glückseligkeit in der Länge der Zeit bestehe), II 6 (Über Substanz und Qualität), II 7 (Über die totale Mischung), II 8 (Vom Sehen), III 9 (Verschiedene Betrachtungen), IV 5 (Über die Seele III), IV 6 (Über sinnliche Wahrnehmung und Gedächtnis), V 6 (Über die Frage, dass das über das Sein Erhabene nicht denke und was das ursprünglicher und das abgeleiteter Weise Denkende sei), VI 4–5 (Über die Behauptung, dass das Seiende als ein und dasselbe zugleich überall ganz sei I–II). 11 Es handelt sich bei den nicht-unterstrichenen Traktaten um II 1 (Das Weltall), II 3 (Ob die Sterne wirken), II 7 (Die durchdringende Mischung), II 8 (Über das Sehen), III 6 (Die Affektionsfreiheit des Unkörperlichen), III 9 (Vermischte Untersuchungen), IV 2 (Das Wesen der Seele I), IV 5 (Probleme der Seele III), IV 6 (Wahrnehmung und 8

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4 Jaspers’ Plotin-Lektüre

Neben den griechischen Glossen strukturiert Jaspers in beiden Übersetzungen plotinische Gedankengänge durch Notizen wie »Ein­ leitung«, »1.«, »2.« »3.« usw. Nur gelegentlich notiert Jaspers stich­ wortartige Inhaltsangaben wie »Wiedergeburt«. Interessant ist es, wenn Jaspers zum plotinischen Text verwandte philosophische Kon­ zepte (»Karma«) und Denker (»Spinoza«) assoziiert, was allerdings nur selten der Fall ist. Speziell in der Harder-Übersetzung notiert Jas­ pers gelegentlich knappe Hinweise, v.a. zum geistesgeschichtlichen Kontext einzelner Abhandlungen. Dabei benutzt er, wie bei diesen Notizen vermerkt, Bréhier, gemeint sind vermutlich die notices aus dessen zweisprachiger Plotin-Ausgabe.12 Im Gesamteindruck sprechen Jaspers’ Marginalien wie seine Unterstreichungen für eine ernsthafte und philosophisch engagierte Auseinandersetzung mit Plotin, allerdings geben sie naturgemäß wenig inhaltliche Auskunft über Jaspers’ Plotin-Verständnis. Jaspers hat auch die Forschungsliteratur zu Plotin in relativ brei­ tem Umfang zur Kenntnis genommen. Für besonders wertvoll13 hat er offenbar die Literatur gehalten, die er in seinen Großen Philosophen angibt: Richter14, Kirchner15, Dodds16, Kristeller17, Oppermann18, Nebel19, Huber20. Weiter verweist er auf die ausführlich kommen­ tierte französisch-griechische Ausgabe durch Bréhier.21 In Jaspers’ Bibliothek finden sich weitere Monographien22 und Aufsätze23 zu Plotin. Jaspers war zudem mit der Darstellung Plotins in philosophie­

Gedächtnis), IV 9 (Die Einheit aller Einzelseelen), V 9 (Geist, Ideen und Seiendes), VI 3 (Die Klassen des Seienden III), VI 4–5 (Das Seiende, obgleich eines und dasselbe, ist zugleich als Ganzes überall I–II), VI 6 (Von den Zahlen). 12 Bréhier, Ennéades; die notices sind den einzelnen Traktaten jeweils vorangestellt. 13 Vgl. WGP 174–176: »Jede historische Darstellung bedarf der ständigen Begleitung von Literaturangaben. [...] Es sollen sparsame Literaturangaben sein [...]. Bloße Nen­ nung eines Werkes muß bedeuten, daß es erheblichen Wert hat.« 14 Richter, Neu-Platonische Studien, KJB: KJ 1317; vgl. GP 966. 15 Kirchner, K. H. 1854, KJB: KJ 1316; vgl. GP 964. 16 Dodds 1928; vgl. GP 961. 17 Kristeller 1929, KJB: KJ 1320; vgl. GP 964. 18 Oppermann 1929; vgl. GP 965. 19 Nebel 1929, KJB: KJ 1319; vgl. GP 965. 20 Huber 1955, KJB: KJ 1322; vgl. GP 964. 21 Bréhier, Ennéades; vgl. GP 959. 22 Becker 1940, KJB: KJ 1313; Heinemann 1921, KJB: KJ 1315; Volkmann-Schluck 1941, KJB: KJ 1314. 23 Brecht 1942, KJB: KJ 1321; Schwyzer 1944, KJB: KJ 1318.

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4.2 Zeitraum der Lektüre

geschichtlichen Werken, insbesondere bei Zeller24 und in verschie­ denen Auflagen des Ueberweg-Praechter25, vertraut, wie Unterstrei­ chungen in den entsprechenden Bänden seiner Bibliothek zeigen. Wenn man die Fülle und Intensität der Unterstreichungen zum Indiz nimmt, dann hat Jaspers die Forschungsliteratur mit Interesse zur Kenntnis genommen, sie aber nicht annähernd so gründlich gelesen wie die Plotin-Übersetzungen von Müller und Harder. Jas­ pers’ eigene Lektüregewohnheiten entsprechen damit offenbar den Leseempfehlungen, die er in seiner Einführung in die Philosophie gibt: »Man soll nicht immer anderes und vielerlei lesen, sondern in das Große sich anhaltend und immer wieder noch einmal vertiefen.«26 Zwar hat Jaspers die Forschungsliteratur als Hilfsmittel für die Erschließung der großen Philosophen außerordentlich geschätzt. In diesen Sinne bekundet Jaspers »große Dankbarkeit [...] für die opfervolle Arbeit der Philologen«, deren Forschungen für ihn unent­ behrliche »Voraussetzungen des Verstehens« darstellen, nicht nur weil sie Texte sprachlich zugänglich machen, sondern auch, weil sie »uns auf den Boden der historischen Realität [bringen] und [...] ein Korrektiv gegen grundlose Phantasien [sind]«.27 Nichtsdestoweniger bleibt die Forschungsliteratur für Jaspers ein bloßes Hilfsmittel, und er zeigt kaum Interesse an Forschungsproblemen als solchen. Diese Haltung entspricht Jaspers’ Selbstverständnis als Philosoph, für das er sich interessanterweise auf niemand anderen als Plotin beruft: »Wohl manchmal darf ohne Unbescheidenheit der Abstand gespürt werden, den Plotin kannte: ›Ein Philologe zwar ist Longinos, aber ein Philosoph nimmermehr.‹«28

4.2 Zeitraum der Lektüre Dass Jaspers über außerordentlich gründliche Kenntnisse der Philoso­ phie Plotins verfügte, kann, wie das zeigt, als gesichert gelten. Für Zeller 1868, KJB: KJ 1339. Ueberweg 1920, KJB: KJ 4987; Ueberweg 1926, KJB: KJ 5001. 26 Einf 162; vgl. GP 97: »Um einen Philosophen wirklich kennenzulernen, muß ich selber seine Schriften lesen. Die bloße Lektüre einer Darstellung wird gerade dann auch unbefriedigt lassen, wenn es gelingt, den Leser betroffen zu machen. Nur an den Quellen ist der ganze Ernst spürbar.« 27 GP 100. 28 GP 100 mit Zitat aus Porphyrios, Vit. Plot. 14, 19–20. 24 25

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4 Jaspers’ Plotin-Lektüre

die hier vorgenommene Deutung ist freilich nicht allein der Umfang, sondern darüber hinaus auch der Zeitpunkt von Bedeutung, von dem an mit substantielleren Plotin-Kenntnissen vonseiten Jaspers’ zu rechnen ist. Den Anstreichungen ist naturgemäß nicht anzuse­ hen, wann sie vorgenommen worden sind, so dass sie grundsätzlich fast jedem Zeitpunkt in Jaspers’ erwachsenem Leben entspringen könnten. Ein Erwerbsdatum hat er in den Büchern regelmäßig nicht verzeichnet, so dass auch aus dieser Richtung keine Hilfestellungen zu erwarten sind. Dafür ermöglichen andere Quellen eine jedenfalls ungefähre zeitliche Einordnung. So berichtet Saner in seiner Jaspers-Monogra­ phie, dieser habe Plotin schon »früh« gelesen, offenbar vor dem Jahr 1913.29 Jaspers selbst gibt in seiner Philosophischen Autobiographie an, sich in der Zeit des Ersten Weltkriegs erstmals »gründlicher« mit Plotin befasst zu haben30, davor also wohl schon beiläufig. In den ›Familienbriefen‹ aus dieser Zeit findet sich kein Hinweis auf eine Plotin-Lektüre; hieraus ist freilich kein argumentum ex silentio zu konstruieren, das die übrigen Zeugnisse in Zweifel zieht. Im Kontext einer Veröffentlichung wird Plotin das erste Mal 1919 in der Psychologie der Weltanschauungen erwähnt, innerhalb derer Plotin den Typ des Mystikers im engeren Sinne verkörpert, der aus der Erfahrung des Absoluten in der mystischen Schau lebt. Jaspers zitiert Plotin wörtlich und ausführlich und verweist auf weitere Textstellen. Dabei verwendet er die Übersetzung von Müller.31 Diese Bezugnah­ men dürften belegen, dass Jaspers zur Abfassungszeit zumindest von einigen zentralen Schriften Plotins direkte Kenntnis hatte, und zwar offenbar unmittelbar aus der genannten Übersetzung. Trotz Jaspers’ offenkundigem Interesse für Plotin wird dessen Denken in der Psycho­ logie der Weltanschauungen in einigen Punkten auch verzeichnet.32 29 Saner 1970, 31: »Dieses Hinblicken auf die Philosophie war der Einsamkeit wäh­ rend der Gymnasial- und Studienzeit und den Bewußtsein der ständigen Bedrohung durch die Krankheit erwachsen. [...] Jaspers begann darum früh, die Philosophen zu lesen: Spinoza, Lukrez, Schopenhauer, Nietzsche; Plotin, Schelling, Kant, später erst (ab etwa 1913) Kierkegaard, Hegel.« 30 Aut 125: »Während des Weltkrieges fand eine gründlichere Plotin-Lektüre statt«. 31 S.o., Kap. 3 Einleitung. 32 Dies gilt vor allem für die Gegenüberstellung mit Kant, in welcher die plotinische ekstasis unter Absehung von ihrer metaphysischen und ethischen Bedeutung als ein bloßer Erlebniszustand aufgefasst wird, der, anders als das kantische Ideendenken, zu keiner ›objektiven‹ Verwirklichung verpflichte (KJG I/6, 409–412). Ein offensichtli­ ches Missverständnis ist es auch, dass Plotins Rede vom »Einen der Pflanze« (ebd.,

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4.3 Lektüre-Schwerpunkte

Dieser Umstand muss allerdings nicht gegen die von Jaspers selbst beanspruchte »gründlichere« Kenntnis Plotins sprechen. Vielmehr dürften gewisse Einseitigkeiten und Verkürzungen der vorwiegend psychologischen Fragestellung des Jaspers’schen Werks geschuldet sein, was dieser auch ausdrücklich zugesteht.33 Angesichts dieses nicht ganz eindeutigen Befunds stellt sich die Frage, ab wann bei Jaspers sicher mit einer gründlichen und umfänglichen Kenntnis plotinischen Denkens zu rechnen ist. Einen terminus post quem stellt hier offenbar das Jahr 1927 dar, in dem Jaspers eine Vorlesung mit dem Titel »Metaphysik. Ihre Geschichte und gegenwärtige Wahrheit« hält,34 in der Plotin ein Hauptgegen­ stand, vermutlich der Hauptgegenstand, ist, denn Jaspers stellt Plotin hier als den paradigmatischen Vertreter metaphysischen Denkens überhaupt dar.35

4.3 Lektüre-Schwerpunkte Jaspers’ Nachlass umfasst etliche Aufzeichnungen zu Plotin; viele davon stammen offenbar aus dem Kontext der genannten Metaphy­ sikvorlesung. So sind einerseits Teile des Vorlesungsmanuskripts erhalten, andererseits mehrere Notizblätter, die Jaspers vermutlich im Zuge seiner Vorbereitung auf die Vorlesung angefertigt hat.36 Von besonderem Interesse für die Frage nach Jaspers’ Textgrund­ lage in der Auseinandersetzung mit Plotin ist ein aus dem Jahre 1927 stammendes Notizblatt37, auf dem er sich einige seiner Ansicht nach besonders bedeutende Texte und Stellen aus den Enneaden Plotins notiert hat: 408) durch Jaspers ›naturmystisch‹ im Sinne einer Erfahrung von Einheit mit der Pflanze gedeutet wird (ebd., 410). 33 KJG I/6, 407: »Plotin und Kant sind gewählt, nicht um ihnen historisch gerecht zu werden – sie sind beide viel zu komplexe Erscheinungen, als daß die wenigen herausgegriffenen Züge ihrer Lehren nicht ein historisch einseitiges und schiefes Bild geben müßten«. 34 Vgl. Fulda 1983, 105. 35 S.u., Abschn. 6.1. 36 Zu den erhaltenen Fragmenten und Notizen s.u., Abschn. 6.1 und 7.3. – Einen Hinweis auf die Zugehörigkeit in den Kontext der Vorlesung bietet, neben inhaltlichen Erwägungen, die auf mehreren Blättern vermerkte Jahreszahl 1927 (wohl eine nach­ trägliche Einordnung durch Saner). 37 Jaspers, Notizblatt zur Plotinlektüre, 1927, DLA, A: Jaspers.

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4 Jaspers’ Plotin-Lektüre

Stellen Plotins, von denen auszugehen ist: 1) I, 106/107 (II, 4, 10) 2) Die Stellen über Ekstase (anderes Blatt)38 3) II, 142 [d.i. Enn. V 1, 1; d. Verf.] (Ausgehen von der Seele) Die Schriften: III, 8 IV, 8 VI, 9 V, 1 Über die drei ursprünglichen Hypostasen V, 8 Intelligible Schönheit39

Auf demselben Blatt sind einige weitere Stellen vermerkt; diese wurden, aus Gründen, die für uns nicht mehr nachvollziehbar sind, durchgestrichen. Aus diesen seien nur zwei Beispiele angeführt: Jaspers notiert zu Müller, Bd. 1, S. 268 (= Enn. III 8, 10) und Bd. 2, S. 147 (= Enn. V 1, 6), wo Plotin das Eine als die Quelle und das Ziel von Leben und Bewegung reflektiert: »Aus der Erscheinung in der Welt«40. Dagegen vermerkt er zu Müller, Bd. I, S. 266 (= Enn. III 8, 9) und Bd. II, S. 441 (= Enn. VI 9, 4), wo von der Gegen­ wart des Einen in der Seele die Rede ist: »Ausgehen vom Subjekt«41. Diese methodologisch durchdachte Auswahl einzelner Stellen nach dem jeweiligen Ausgangspunkt des Gedankens verrät ein tiefes Ein­ dringen in die Grundlagen der plotinischen Philosophie. Für Jaspers sind solche Überlegungen insofern charakteristisch, als sie dessen eigene Reflexionen über die Frage, wo die Philosophie anzusetzen habe,42 widerspiegeln. Zu Bd. II, S. 172 (= Enn. V 3, 14) notiert Jaspers: »Nicht das Eine, wie es ist, sondern wie es für uns ist«43. An der genannten Stelle legt Plotin dar, wieso das Eine nicht an sich ausgesagt, wohl aber im Hin­ blick auf seine Gegenwart in uns und seine Erscheinungen für uns umschrieben werden kann. Dieser Gedanke entspricht Jaspers’ eige­

Jaspers Verweis auf »Stellen über Ekstase« könnte sich auf eine Liste von Stellen beziehen, die Jaspers sich auf dem Vorsatzblatt der Neu-Platonischen Studien Richters notiert hat. Dort ist unter anderem zu lesen: »Über die Arten der Ekstase und intellektuellen Anschauung vgl. Enn. V, 3, 4 // VI, 7, 34 // IV, 4, 1 u. 2. // VI, 2, 8 // VI, 9, 4 […] // IV, 8, 1 // V, 5, 7/8«. 39 Jaspers, Notizblatt zur Plotinlektüre, 1927, DLA, A: Jaspers. 40 Jaspers, Notizblatt zur Plotinlektüre, 1927, DLA, A: Jaspers. 41 Jaspers, Notizblatt zur Plotinlektüre, 1927, DLA, A: Jaspers. 42 Vgl. Ph I, 1–4. 43 Jaspers, Notizblatt zur Plotinlektüre, 1927, DLA, A: Jaspers. 38

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4.3 Lektüre-Schwerpunkte

ner Auffassung, der zufolge die Transzendenz uns nicht an sich, son­ dern nur in ihren Chiffren zugänglich wird.44 Abgesehen von solchen Beobachtungen, die es erlauben, Jaspers’ Interesse für Plotin an konkreten Textpassagen und damit an beson­ deren Philosophemen festzumachen, sind die notierten Stellen ein erneuter Beleg für Jaspers’ umfassende Kenntnis der Schriften Plotins und für den Ernst seiner philosophischen Beschäftigung mit dem Neuplatoniker. Dass diese Notizen aus dem Jahr 1927 stammen, besagt insbesondere, dass wir Jaspers’ im engeren Sinne philosophi­ sches Werk, mit dem er ab 1931 in die Öffentlichkeit getreten ist,45 schon vor dem Hintergrund einer engen Vertrautheit mit dem Denken Plotins deuten dürfen. Schon Jaspers’ Auseinandersetzung mit Plotin in der 1919 erschie­ nenen Psychologie der Weltanschauungen verrät eine weitgehende Kenntnis der plotinischen Philosophie. Seine Beschäftigung mit dem Neuplatoniker reicht aber offenbar noch weiter, bis in die Zeit des Ers­ ten Weltkriegs, zurück. Spätestens ab dem Jahr 1927, in dem Jaspers eine Vorlesung hält, die sich zu großen Teilen Plotin widmet, kann dann davon ausgegangen werden, dass er alle relevanten Schriften Plotins gründlich und vor dem Hintergrund aktueller Forschungsli­ teratur zur Kenntnis genommen hat. Dies belegen Notizblätter aus dem Kontext der Vorlesung, denen zudem interessante Hinweise auf mögliche Lektüre-Schwerpunkte zu entnehmen sind.

Zu den Grundlagen von Jaspers’ Chiffrenlehre vgl. Ph III, 128–168. 1931 wurde Die Geistige Situation der Zeit, 1932 die dreibändige Philosophie publi­ ziert.

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5 Jaspers’ Auffassung der Philosophiegeschichte

Jaspers’ umfassende und vergleichsweise frühe Kenntnis der Schriften Plotins ist gewiss die wichtigste Voraussetzung der hier entwickelten These. Darüber hinaus ist jedoch auch Jaspers Sichtweise der Philo­ sophiegeschichte und – hiermit zusammenhängend – der Geschicht­ lichkeit der Philosophie überhaupt von Bedeutung. Man könnte ersteres die materiale und letzteres die ideale Voraussetzung seiner Plotin-Rezeption nennen. Dieser zweite Aspekt soll im Folgenden untersucht werden.

5.1 Gegenwärtiges Philosophieren im Traditionszusammenhang Kein Mensch kann denkend von vorn anfangen, obgleich jeder echte Gedanke, von neuem gedacht, zugleich ursprünglich ist. Unmerklich erweckt der überlieferte Gedanke den eigenen Gedanken, gelingt das Denken in Entschiedenheit nur in bezug auf den anderen Gedanken, den es aneignet oder verwirft.1

Mit diesen und ähnlichen Worten hat Jaspers immer wieder auf die Bedeutung der Philosophiegeschichte für ein lebendiges, gerade auch für ein an Gegenwartsfragen interessiertes Philosophieren hingewie­ sen. Philosophisches Denken von nennenswertem Rang ist demnach überhaupt nur in enger Bindung an die große Philosophie der Vergan­ genheit möglich.2 Die Verwerfung der philosophischen Überlieferung durch viele Richtungen der zeitgenössischen Philosophie betrachtet Jaspers daher als einen für die Sache der Philosophie insgesamt gefährlichen Irrweg. Durch den Bruch mit der Tradition werden die WGP 42. S. zum Folgenden insgesamt Ph I, 281–291 (»Philosophie und ihre Geschichte«). Zu Jaspers’ Auffassung der Philosophiegeschichte vgl. Schaeffler 1959; Zeltner 1960. 1

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5 Jaspers’ Auffassung der Philosophiegeschichte

Fragen, die die großen Philosophen beschäftigt haben, ja keineswegs gelöst.3 Aufgegeben werden vielmehr nur die begrifflichen Mittel und historischen Bezüge, ohne die im Philosophieren keine Klarheit zu gewinnen ist.4 Der verlorene Traditionsbezug hat für Jaspers eine »Verwahrlosung der Philosophie« zur Folge, die sich als ein »Sturm der Willkür anarchischer Zufälligkeit des Denkens« manifestiert.5 Im Ankämpfen gegen diesen Sturm erkennt Jaspers seine vordringlichste Aufgabe als akademischer Lehrer der Philosophie.6 In diesem Kontext steht explizit auch seine Beschäftigung mit Plotin.7 Der enge Bezug von Tradition und gegenwärtigem Philosophie­ ren, von dem Jaspers ausgeht, bedeutet freilich auch, dass die Aneig­ nung der Tradition nie nur ein antiquarisches Konservieren sein kann; sprechend wird die Tradition vielmehr nur im Licht eigener philoso­ phischer Anliegen, von denen her die überlieferten Texte gedanklich zu durchdringen sind.8 Eine Preisgabe eigenen kritischen Denkens an irgendeinen Traditionsbestand verbietet sich daher nicht nur aus intellektueller Ehrlichkeit. Vielmehr würde sie das authentische Ver­ ständnis einer Überlieferung verstellen, die in ihren bedeutendsten Zeugnissen unweigerlich auf eine eigentlich philosophische, also eigenständige und kritische Rezeption ausgelegt ist. Die Aneignung der Tradition impliziert damit immer auch ihre Transformation, ihre »Verwandlung aus neuem Ursprung«9. Dieses transformative Moment wird auch in Jaspers’ Beschäftigung mit Plotin deutlich, die erkennbar durch seine eigenen philosophischen Interessen und Fragestellungen geprägt ist. 3 In dieser Sache ist Jaspers’ Differenz zur Position Wittgensteins besonders markant; vgl. Wittgenstein, TLP, 6.53; ders., PU, § 309; zu Jaspers’ kritischer Auseinander­ setzung mit Wittgenstein vgl. W 463–464. 4 Vgl. Ph I, 282: »Die wirklich ohne Kenntnis der Tradition anfingen, taten es auf Grund trüber und zersplitterter Zuflüsse aus ihr und konnten nicht zu einer wesentlichen Klarheit kommen.« 5 GP 7. 6 GP 13–14. 7 Dies gilt insbesondere für Jaspers’ umfangreiche Plotin-Abhandlung in den Großen Philosophen (GP 656–723), die im Kontext des dort unternommenen Versuchs einer Wiedergewinnung der philosophischen Überlieferung steht. 8 Vgl. GP 7: »Andrerseits ist Philosophiegeschichte nicht möglich ohne eigenes Philosophieren. Denn die äußere Orientierung über die Tatbestände und Texte führt noch nicht in die wirkliche Philosophie. Der Sinn des Eindringens in die Philosophie­ geschichte setzt voraus, daß man schon unter der Führung der Philosophie steht. Nur Philosophie versteht Philosophie, die einst war und heute ist.« 9 Ph I, 281.

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5.1 Gegenwärtiges Philosophieren im Traditionszusammenhang

Die Aneignung einer Philosophie als transformative Leistung setzt Jaspers zufolge gerade bei den großen Philosophen auch die Markierung von ›Grenzen‹ voraus, also von Aspekten ihres Den­ kens, in Bezug auf die ein Mitgehen unmöglich scheint.10 Kein Verschweigen oder Überdecken, sondern allein ein klares Benennen dieser Grenzen ist Jaspers zufolge philosophisch produktiv. Es kann dann eine ›Abstoßung‹ stattfinden, die als geistiger Impuls in die Gegenrichtung eigenen philosophischen Wert hat.11 Vorrang vor der Abstoßung hat für Jaspers, jedenfalls in Bezug auf die Klassiker, allerdings die positive Aneignung. Sie speist sich aus dem Vertrauen in die geistige Größe dieser Denker, die Jaspers nicht erschließt, sondern (dem Anspruch nach) intuitiv, aus eigenem existentiellen Ursprung, erfasst.12 Zu den Grenzen der großen Philosophen gehören Jaspers zufolge zeitbedingte Irrtümer, z.B. auf naturwissenschaftlichem Gebiet.13 Eine solche Grenze sieht er aber auch im Selbstverständnis der vorkantischen Philosophie als einer Wissenschaft vom Ganzen und ihrem Anspruch, Gott, Seele und Welt mit den Mitteln philosophi­ schen Denkens zu erkennen.14 Derartige Ansprüche verraten für Jaspers eine transzendentalphilosophische Naivität. Gesamtentwürfe des Menschen und des Kosmos seien daher ebenso wie alle Versuche philosophischer Gotteserkenntnis bestenfalls als Chiffren zu lesen, die im Kern nicht auf wissenschaftliches Verstehen, sondern auf einen Aufschwung der Existenz abzielen. Jaspers’ Auslegung der Klassiker philosophischen Denkens ist, wie auch dies zeigt, existenzphilosophisch informiert. Im Medium rationaler Positionen ist sie an den tieferen Antrieben philosophi­ schen Denkens im menschlichen Selbst interessiert. Diese hofft sie, bei den Denkern der Tradition offenzulegen, nicht in der Weise einer

GP 73–74. Ph I, 286. Zur Dynamik von Aneignung und Abstoßung bei Jaspers (im Kontrast zu Heidegger) vgl. Wisser 1996, 277–300. 12 Vgl. GP 31: »Wen ich groß sehe, offenbart mir, was ich bin. Wie ich Größe sehe, und mit ihr umgehe, dadurch komme ich zu mir selbst. Je reiner der Wille, je wahrhaftiger das Denken, desto klarer sprechen Wille und Wahrheit der Großen an. Die Möglichkeit des eigenen Wesens ist das Mittel für die Wahrnehmung der Größe.« 13 Vgl. Einf 9–10. 14 GP 619. 10

11

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5 Jaspers’ Auffassung der Philosophiegeschichte

Entlarvung, sondern als Handreichung zu einem ursprünglicheren Verständnis der betreffenden Philosophen.15

5.2 Philosophie als Medium eines existentiellen Aufschwungs Jaspers hat einen hohen Begriff von den Aufgaben und Möglichkeiten der Philosophie: »Philosophie will ewige Wahrheit ergreifen«16; sie »ist das denkende Vergewissern eigentlichen Seins«17. Diesem Ziel kann sich der Einzelne im philosophischen Denken allerdings immer nur annähern. In der Tat ist die Wahrheit in jedem philosophischen Gedankengebäude auf die ein oder andere Weise berührt, zugleich aber immer auch verfehlt, und zwar gerade da, wo sie in einer lernbaren Formel ein für alle Mal gefunden und festgehalten scheint.18 Ihre systematische Begründung hat diese Auffassung nicht zuletzt in Jaspers’ konsequent negativ-theologischem Standpunkt, der mit einem existentiellen Getragensein des Einzelnen von der Transzen­ denz rechnet, das sich zwar philosophierend aussprechen, sich aber nicht in ein gegenständliches Wissen transformieren lässt. Die Philo­ sophie ist für Jaspers daher nicht der Korpus eines solchen Wissens, sondern der Prozess des kommunikativen Zurerscheinungkommens der Wahrheit im Gespräch der Philosophierenden durch die Zeiten: Ist nun wahres Sein Eines, aber so, daß es im Wissen von diesem Einen schon unwahr gefaßt würde, so muß es als Zeitdasein sich selbst zur Erscheinung bringen, indem es von begrenztem Einzelnen zu begrenztem Einzelnen sich erweckt.19

Weil kein Wissen das Eine wahre Sein als solches ergreifen kann, kann keine Gestalt der Philosophie schon als die abschließende gelten. Ein Fortgehen der Philosophie ist daher jeder besonderen Lehre gegen­ über möglich und auch notwendig. Zugleich ist es aus ebendiesem Grund unmöglich, dass eine vergangene Gestalt des Philosophierens uns schlechthin unwesentlich würde. Wo ein Philosoph sich denkend zur Transzendenz aufgeschwungen hat, vermag sein Denken kraft 15 16 17 18 19

GP 58. KJG I/12, 94. Ph I, 37. KJG I/12, 95. Ph I, 283.

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5.2 Philosophie als Medium eines existentiellen Aufschwungs

dieses Aufschwungs immer von Neuem anzusprechen. Dieses Ange­ sprochenwerden ist kein einseitiger Vorgang, vielmehr findet in der Verbindung von überliefertem und neu erwachsenem Denken eine unwillkürliche Verwandlung statt, die die Traditionsgehalte nicht umfälscht, sondern ausfaltet und fortbildet: Dadurch daß es [sc. philosophierendes Dasein] sich aus vergangenem Dasein in gegenwärtig entspringendem ansprechen läßt, wird durch den im Ansatz neuen Lebens möglichen ursprünglichen Zusammen­ schluß mit seinem vergangenen Grunde die Erscheinung des Seins auf eine Weise offenbar, wie sie im ersten Anfang nicht sein konnte.20

So bleibt die Geschichte der Philosophie als Geschichte lebendig, entwickelt sich in immer neuen Gestalten, die, aufeinander bezogen, auseinander hervorgehen, absterben, wo sie, äußerlich angeeignet, zu bloßen Formeln herabsinken, und neu aufleben, wo mögliche Existenz durch sie zu eigentlichem Selbstsein erweckt wird. In diesem Prozess der Aneignung und Weiterbildung der Philosophie, unter Bewahrung ihrer zentralen Themen und Gehalte, sieht Jaspers die Idee einer philosophia perennis verkörpert.21 Der überzeitliche Charakter philosophischer Wahrheit ist für Jaspers der wesentliche Grund dafür, dass es in der Philosophie, anders als in den positiven Wissenschaften, keinen zeitlich linearen Fortschritt geben kann: Wir sind gewiß viel weiter als Hippokrates, der griechische Arzt. Wir dürfen kaum sagen, daß wir weiter seien als Plato. Nur im Mate­ rial wissenschaftlicher Erkenntnisse, die er benutzt, sind wir weiter. Im Philosophieren selbst sind wir vielleicht noch kaum wieder bei ihm angelangt.22

Die für die Neuzeit charakteristischen Versuche, das Ganze der Phi­ losophie umzuschaffen und die Tradition letztgültig zu überholen, hält Jaspers für geschichtsvergessen und lehnt sie ab; dies gilt selbst dann, wenn sie von Denkern ausgehen, denen Jaspers im Übrigen mit Verehrung begegnet, wie besonders Kant.23 Aus den genannten

20 21 22 23

Ph I, 283. KJG I/12, 25. Einf 9–10. Ph I, 282; vgl. NMH 45.

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5 Jaspers’ Auffassung der Philosophiegeschichte

Gründen sind derartige Versuche für Jaspers letztlich immer zum Scheitern verurteilt.24 Verfehlt ist die Verwerfung der großen Denker der Vergangen­ heit demnach zumal, wo sie sich auf einen reinrationalen Standpunkt beruft und die Großen durch den Nachweis vermeintlicher »Richtig­ keitsfehler« zu diskreditieren sucht.25 Für Jaspers sind rationale Argu­ mente und Positionen in der Philosophie nur das Medium, in dem wir uns aneignen, worin wir die Möglichkeit eines Aufschwungs erfahren. So stellt Jaspers ein existenzphilosophisches Kriterium an die Stelle des Kriteriums rationaler Gültigkeit; die Auseinandersetzung mit der Tradition hat demnach in einer Weise zu erfolgen, die das Selbstsein des Menschen im Transzendenzbezug ermöglicht und fördert: »[E]s kommt darauf an, daß dieses [philosophiehistorische; d. Verf.] Wissen werde, was Philosophieren immer ist: das sich in seiner Transzendenz erhellende Selbstsein.«26 Jaspers verwirft aus den genannten Gründen insbesondere die Auffassung, er betreibe unter dem Namen ›Existenzphilosophie‹ eine ganz neuartige Form philosophischen Denkens. Vielmehr gelte: »Was Existenzphilosophie genannt wird, ist […] nur eine Gestalt der einen, uralten Philosophie.«27 Zwar finde durch die Betonung des existieren­ den Einzelnen, seines Erlebens und inneren Handelns durchaus ein Perspektivwechsel statt. Dennoch sind die Gehalte philosophischen Nachdenkens für Jaspers fundamental dieselben geblieben, die sie von Anfang an waren. Insbesondere in seiner dreibändigen Philosophie knüpft Jaspers daher bewusst an die Themenfelder der ›alten‹ meta­ physica specialis an: Die Absicht meines Buches war umfassend unter der Führung der uralten Idee der Philosophie. Welt, Seele, Gott wurden als Weltorien­ tierung, Existenzerhellung und Metaphysik zu den Themen der drei Teile. Keinen Augenblick habe ich die Existenzerhellung zum alleinigen Thema der Philosophie machen wollen. Die Existenzerhellung war ein unerläßliches Moment des Ganzen, aber nicht das Ganze selber.28

Generell ist Jaspers Ansprüchen auf Neuigkeit in der Philosophie gegenüber äußerst skeptisch; vgl. W 192: »In der Philosophie spricht Neusein gegen das Wahr­ sein. Wahrhaft Neues tritt in Jahrtausenden einmal auf.« 25 Ph I, 282. 26 Ph I, 284. Für eine Kritik dieser Position vgl. Zeltner 1960, bes. 299–303. 27 KJG I/8, 103; s. dazu oben, Kap. 1. 28 Ph I, XXIII; vgl. Ratzsch 2019, bes. 307. 24

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5.3 Philosophie als Prozess der Synthese

5.3 Philosophie als Prozess der Synthese Philosophie ist mit Jaspers niemals wahr in der Isolierung, sie lebt von der Konfrontation mit Gegensätzlichem und wird erst da eigentlich Philosophie, wo sie dieses Gegensätzliche anzueignen und dabei in seinem besonderen Wahrheitssinn zu bewahren vermag. Ihr Wesen ist es, beständig Einseitigkeiten zu überwinden und auf ein stets noch ausbleibendes Ganzes hinzudenken. Vor diesem Hintergrund entwirft Jaspers die »Idee«29 – im kantischen Sinne wohl eher das Ideal30 – einer Philosophie, welche alle vergangene [Philosophie] so auf den Grund erleuchtete, daß sie taghell zu gegenwärtiger Lebenswirklichkeit würde. Diese Philosophie würde die wahre sein, in der nicht nur Wahrheit in geschichtlicher Besonderheit sich erschiene, sondern Wahrheit in aller Geschichte als die Eine sich erfaßte. Sein und Erscheinen würden in ihr identisch.31

Die Verwirklichung einer solchen umfassenden synthetischen Philo­ sophie muss zwar immer ausbleiben. Die Zeitlichkeit menschlichen Daseins lässt eine Erweiterung des philosophischen Verstehens ins Grenzenlose nicht zu.32 Dennoch ist die Vorstellung einer Philoso­ phie, die jeden Wahrheitssinn in sich zu begreifen und zu vermitteln vermag, der im Laufe der Denkgeschichte aufgeschienen ist, nicht nichtig. Sie ist das Bild einer Vollendung, auf die der Philosophierende hinzuarbeiten hat, freilich in dem kritischen Bewusstsein, dass eine solche Synthese nie abgeschlossen sein kann. In diesem Sinne entwirft Jaspers etwa eine Synthese von idea­ listischer und positivistischer Philosophie.33 Der Idealismus lehre das Verstehen der Geistesgeschichte, der Positivismus Weisen natur­ wissenschaftlichen Erkennens. Bloß für sich genommen seien beide fruchtlos. Beide verkennen, so Jaspers, die Existenz in ihrer Unbe­

Ph I, 284. Vgl. Kant, AA III, 383–384 = KrV B 595–598. 31 Ph I, 284. 32 Ph I, 284: »[S]olche Philosophie wäre nur möglich mit vollendeter Geschichte. Das heißt, mit solcher Philosophie wäre kein Philosophieren mehr als Erscheinung möglicher Existenz im endlichen Dasein, sondern es wäre das eine wahre Sein, das als es selbst für uns nicht ist.« 33 Ph I, 212–239; vgl. Ratzsch 2019, bes. 312–313. 29

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5 Jaspers’ Auffassung der Philosophiegeschichte

dingtheit;34 beide können sich aber zu Momenten eines wahrhaften und lebendigen Philosophierens entwickeln, wenn sie in ihrer Gegen­ sätzlichkeit aus existentiellem Antrieb ergriffen werden.35 Jaspers nimmt für sich in Anspruch, diesen Prozess so weit als möglich vorangetrieben zu haben: Ich sehe in meinem Denken die natürliche und notwendige Konklusion des bisherigen abendländischen Denkens, die unbefangene Synthesis vermöge eines Prinzips, das in seiner Weite aufzunehmen vermag alles, was in irgendeinem Sinne wahr ist.36

Jaspers weist sein eigenes Denken hier als maximal synthetisch und inklusiv aus. Eine Grenze hat diese Inklusivität allerdings in Jaspers’ entschiedener Verwerfung dessen, was er »Unphilosophie«37 nennt. Wenn Philosophie wesenhaft das Medium eines existentiellen Aufschwungs ist, dann kann ein Denken, das diesen Aufschwung nicht befördert, sondern verstellt, nicht Philosophie, sondern nur­ mehr Unphilosophie heißen. Bei der Unphilosophie handelt es sich Jaspers zufolge um ein »Scheinphilosophieren«, das »im Gewande von Philosophie« doch eine »Verneinung der Philosophie« darstellt.38 Charakteristisch für jede Weise der Unphilosophie ist Jaspers zufolge ein »Unglaube«39, der Transzendenz verneint, entweder schlechthin, d.h. im Nihilismus40, oder »in Verabsolutierung partikularer Realitä­ ten«41. Beides schließt sich für Jaspers nicht aus, vielmehr sieht er im unsicheren Schwanken zwischen einem Nihilismus, der Existenz keinen zuverlässigen Halt geben kann, und der fanatischen Verabso­ lutierung von Endlichem, das letztlich immer enttäuschen muss, eine Ph I, 212–213; ebd., 232–233. Ph I, 236–237. 36 W 192. 37 KJG I/12, 75 u.ö. 38 KJG I/12, 75. 39 KJG I/12, 75. 40 KJG I/12, 84–89. 41 KJG I/12, 75. Näher unterscheidet Jaspers hier »Dämonologie« (KJG I/12, 76–82) und »Menschenvergötterung« (KJG I/12, 82–84). – Die drei genannten Weisen der Unphilosophie stellen offenbar die Verkehrung je eines der drei Felder der Philosophie dar, die Jaspers annimmt: Dämonologie ist als Verabsolutierung inner­ weltlicher Mächte die Perversion der Weltorientierung; Menschenvergötterung steht der Existenzerhellung gegenüber, die im Menschen eine mögliche Erscheinung der Transzendenz erkennt, ohne ihn mit dieser zu verwechseln; Nihilismus ist schließlich evidentermaßen das Gegenteil erfüllter Metaphysik. 34 35

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5.3 Philosophie als Prozess der Synthese

Art existentiellen circulus viciosus, der nur durch den freien Glauben an Transzendenz durchbrochen werden kann.42 Zu beachten ist dabei allerdings, dass die Unphilosophie für Jaspers keine bloß äußerliche Bedrohung eigentlicher Philosophie darstellt. Latent und gleichsam als Versuchung ist sie vielmehr in jedem Philosophieren gegenwärtig: »Der philosophische Mensch verwirklicht sich im Überwinden der ständig gegenwärtigen Unphilo­ sophie in ihm selber.«43 Die Perspektive, die Jaspers in Bezug auf die Geschichte der Philoso­ phie einnimmt, ist in Rechnung zu stellen, wenn im Folgenden seine philosophische Auseinandersetzung mit Plotin in den Vordergrund rücken soll. Denn diese Auseinandersetzung ist von Jaspers’ Überzeu­ gung getragen, dass eigentliches Philosophieren das Gespräch mit der Tradition suchen muss und dass Existenz philosophierend nicht zu sich zu kommen vermag, wo sie nicht durch das Denken eines der ›Großen‹ erweckt wird. Jaspers’ Auseinandersetzung mit diesen Klassikern ist dabei von einer existenzphilosophischen Methode getragen, die die Bedeutung rationaler Gültigkeit im Philosophieren für zweitrangig hält und das Denken der großen Philosophen vor allem im Hinblick darauf betrachtet, ob Existenz in ihm einen Tran­ szendenzbezug zu gewinnen vermag. Nicht zuletzt ist zu bedenken, dass sich Jaspers’ Aneignung der philosophischen Überlieferung im Hinblick auf die Idee einer perennischen Philosophie vollzieht, die zur Zusammenschau noch disparatester philosophischer Ansätze anleitet. Sein Ideal einer umfassenden synthetischen Philosophie erklärt nicht zuletzt, warum er in seinen eigentlich philosophischen Werken umzusetzen versucht, was er sich in der Psychologie der Weltanschauungen noch versagt hatte: den Versuch einer Integration kantischer Einsichten mit zentralen Gehalten der Philosophie Plotins.

42 43

KJG I/12, 87. KJG I/12, 75.

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6 Jaspers’ Plotin-Bild

Nach diesem Überblick zu Jaspers’ Auffassung der Philosophiege­ schichte im Allgemeinen soll nun, ausgehend von verschiedenen Zeugnissen, nachgezeichnet werden, welches Bild er sich von Plotin als einer zentralen Figur dieser Geschichte macht. Hierfür sollen zunächst Jaspers’ Metaphysikvorlesung aus dem Wintersemester 1927/28, dann verschiedene Äußerungen in seinen systematischen Werken und schließlich die umfangreiche Plotin-Darstellung aus den Großen Philosophen in den Blick genommen werden.

6.1 Nach der Metaphysikvorlesung von 1927/28 Jaspers’ Vorlesung zum Thema »Metaphysik. Ihre Geschichte und gegenwärtige Wahrheit«1 erlaubt es uns nicht nur, seine Plotin-Lek­ türe zeitlich genauer zu verorten. Sie kündigt auch inhaltlich eine neue Periode in Jaspers’ Auseinandersetzung mit Plotin an, nicht mehr aus psychologischer Perspektive als Mystiker, sondern aus philosophischer Perspektive als Metaphysiker. Von der Vorlesung ist nur der erste Vortrag annähernd vollstän­ dig erhalten.2 Daneben finden sich einige kürzere Fragmente und Notizen. Es ist davon auszugehen, dass erhebliche Teile der Vorlesung im Plotin-Kapitel der Großen Philosophen aufgegangen sind.3 Auch Zu dieser Vorlesung s.o., Abschn. 4.2 und 4.3; vgl. Fulda 1983, 105, für den Titel der Vorlesung. 2 S.u., Abschn. 7.3. 3 Hierauf deutet der Titel »Plotin. Reste«, unter dem die Vorlesungsmanuskripte sowie die zugehörigen Fragmente und Notizen im DLA ursprünglich (vor der kürzlich erfolgten systematischen Erschließung und Katalogisierung des Nachlasses) abge­ legt waren. – Grundsätzlich hat es Jaspers’ Arbeitsweise entsprochen, Vorlesungs­ manuskripte vielfach weiterzuverwenden, Blätter auszugliedern, gegebenenfalls zu zerschneiden und neu zusammenzukleben und sie so in neue Kontexte einzubetten. Wurden die so entstandenen Manuskripte abgeschrieben und die Vorstufen verwor­ fen, gingen die darin enthaltenen Fragmente zumeist verloren. 1

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6 Jaspers’ Plotin-Bild

wenn nur Bruchstücke der Metaphysikvorlesung erhalten sind, lassen diese den Schluss zu, dass Plotins Denken ein Hauptgegenstand – vermutlich der Hauptgegenstand – der Vorlesung war, denn in diesen Fragmenten und Notizen wird Plotin mehrfach als der paradigmati­ sche Vertreter der gesamten abendländischen Metaphysiktradition benannt. In diesem Sinne führt Jaspers aus: »Seine [Plotins; d. Verf.] Gedanken verstehen sich selbst als Aneignung der grossen vergangenen Philosophie. In der Tat sind Grundgedanken Plato’s, Aristoteles, der Stoiker verwendet und continuiert und sind wohl alle bestimmten Gedanken Plotins überkommenes Erbgut. Aber der Ursprung, aus dem sie alle verwandelt sind, die Wahrheit, die Plo­ tin zunächst als Geheimnis behandelt, die er seinem Lehrer Ammonius Sakkas (von dem nichts Geschriebenes existiert) zu verdanken glaubt, ist ein äusserstes, so von Griechen bis dahin nur vorübergehend[,] nicht consequent vollzogenes Transcendieren, des Gedankens bis zum Undenkbaren, des Bewusstseins zur Ekstase, in der sich die Seele mit der Gottheit eint.«4

Weiter notiert Jaspers zur Wirkungsgeschichte Plotins: »Als ein Beispiel: Plotin. Der Metaphysiker schlechthin in der Geschichte der Philosophie. Von grosser historischer Wirkung; auf dem Umweg über Dionysius Areopagita auf die christliche Mystik; seit der Renaissance auf das moderne metaph[ysische] Denken, Gestalt, in der Plato als Metaphysiker recipiert wurde (Marsilio Ficino); das Inter­ esse der Zeit Goethes und Hegels; Im 19. Jahrh[undert] Gegenstand der Forschung, jedoch wenig. Übersetzung von Müller (1878–1880).«5

Die besondere Bedeutung Plotins für Jaspers hat, wie die zitierten Notizen zeigen, sowohl eine historische wie eine systematische Dimension. In historischer Hinsicht stellt Plotin gewissermaßen einen Knotenpunkt der Philosophiegeschichte dar, indem er das Den­ ken der antiken griechischen Welt – besonders Platons, Aristoteles’ und der Stoa – aufnimmt, synthetisiert und es auf verschiedenen Wegen direkt und indirekt an Mittelalter und Neuzeit vermittelt. Die entscheidende Innovation der plotinischen Philosophie erkennt Jaspers dabei in dem »consequent vollzogenen Transcendieren«, an dem im metaphysischen Denken der Folgezeit kein Weg mehr vorbei­ geführt hat. Die besondere historische Stellung Plotins ist damit für 4 5

Jaspers, Notiz zur Metaphysikvorlesung WS 1927/28, 1927, DLA, A: Jaspers. Jaspers, Notiz zur Metaphysikvorlesung WS 1927/28, 1927, DLA, A: Jaspers.

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6.1 Nach der Metaphysikvorlesung von 1927/28

Jaspers kein Zufall der Geschichte, sondern verdankt sich der heraus­ ragenden systematisch-philosophischen Bedeutung seiner Metaphy­ sik. Wenn Plotin für Jaspers als »[d]er Metaphysiker schlechthin in der Geschichte der Metaphysik« gelten kann, dann offenbar, weil er die zentrale Aufgabe der Metaphysik, die Vergegenwärtigung der Trans­ zendenz in einem sich selbst übersteigenden Denken, in beispielhafter Weise verwirklicht. Diese Deutung bestätigt ein weiteres, offenbar dem Vorlesungsmanuskript entstammendes Fragment: Obgleich scheinbar nur eine Gestalt der Geschichte herausgegriffen, doch fast alle Momente metaphysischen Denkens berührt. Plotin ist uns ein Repraesentant, in dem geschichtlich viele Ströme zusammen­ laufen – von dem viele Ströme ausgehen. Unser Sinn geht nicht auf die Mannigfaltigkeit geschichtlicher Abhängigkeiten und Beeinflus­ sungen, sondern auf die Wahrheit, um die [es] uns für uns selbst zu tun ist. An diese kommen wir in der Gestalt Plotins in der Geschichte am nächsten, weil er geradezu »der Metaphysiker« unter den Philosophen ist, und weil er zugleich in typischer Weise Positionen verwirklicht, in Contrast zu denen wir selbst denken. Er ist uns Orientierung nicht nur durch Wegzeige, denen auch wir folgen, mehr noch durch den Gegensatz, an dem wir uns selbst besser verstehen.6

Das zitierte Fragment bestätigt die außerordentliche Bedeutung, die Jaspers Plotin sowohl allgemein als auch in Bezug auf sein eigenes Denken zuspricht. Plotin ist hier wiederum nicht nur als philoso­ phiegeschichtliche Schlüsselfigur benannt, sondern als Denker von anhaltender systematischer Bedeutung. Als »der Metaphysiker« ist Plotin, wie das Fragment belegt, zugleich der wichtigste historische Bezugspunkt von Jaspers’ eigenem metaphysischen Denken. Dass Jaspers der »Wahrheit, um die [es] uns für uns selbst zu tun ist [...,] in der Gestalt Plotins in der Geschichte am nächsten« kommt, stellt ein entschiedenes, wenngleich keineswegs vorbehaltloses Bekenntnis zur Philosophie Plotins dar. Denn das Verhältnis zu Plotin ist durchaus eines der kritischen Auseinander­ setzung, in dem geteilte »Wegzeige« ebenso eine Rolle spielen wie die Klärung von Gegensätzlichkeiten, – und das damit, in Jaspers eigener Terminologie, durch ein Wechselspiel von Aneignung und Abstoßung geprägt ist.7 Nichtsdestoweniger belegt das Fragment zweifelsfrei die

6 7

Jaspers, Fragment der Metaphysikvorlesung WS 1927/28, 1927, DLA, A: Jaspers. Zu diesen beiden Schlüsselbegriffen s.o., Abschn. 5.1.

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6 Jaspers’ Plotin-Bild

erstrangige Bedeutung Plotins sowohl für Jaspers’ Auffassung der Philosophiegeschichte wie für sein eigenes metaphysisches Denken.

6.2 In den systematischen Werken Jaspers’ Einschätzung der besonderen Bedeutung Plotins sowohl als einer Figur der Philosophiegeschichte wie auch für sein eigenes Denken bleibt nach 1927 in ihren Grundzügen stabil. Das beginnt damit, dass Jaspers Plotin im Vorwort zur Philosophie als zweiten nach Kant unter den »erlauchten Namen« der Philosophen nennt, »in deren aneignendem Verständnis« sein eigenes Denken »wie natürlich [...] erwachsen ist«.8 In der Einleitung desselben Werks wird Plotin dann als der Philosoph benannt, bei dem in paradigmatischer Weise Logik »[um]schlägt [...] in ein formales, metaphysisches Transzendie­ ren«9. Beide Bemerkungen sind zusammen als ein Hinweis darauf zu lesen, in welcher Hinsicht Jaspers sein Denken Plotin vor allem zu verdanken glaubt: nämlich in Bezug auf seine Metaphysik der Transzendenz und dabei insbesondere auf die von ihm in Anlehnung an Plotin entwickelte Denktechnik des formalen Transzendierens. Diese besteht im systematischen Gebrauch logischer Formen, die, auf das Absolute bezogen, ihren kategorialen Gehalt ablegen und so, durch ein sich selbst übersteigendes Denken, den Seinsgrund erfahrbar machen, ohne ihn dabei in den Bereich gegenständlichen Wissens herabzuziehen.10 In Bezug auf Plotins metaphysische Spekulation heißt es dem­ entsprechend auch in Von der Wahrheit: Ich vollziehe – mit Plotin, Eckart, Cusanus – die sublimen Gedanken, in denen zwar alles Gegenständliche verloren wird, aber eine Musik der Abstraktion die tiefste Offenbarkeit des Seins zu bringen scheint. Die gedanklich disziplinierte Spekulation bringt die mystische Erfahrung des Einen in allem. Die Unendlichkeit wird gegenwärtig auf einem Wege, auf dem nichts Greifbares in der Hand bleibt.11

8 9 10 11

Ph I, VIII. Ph I, 12. Zum formalen Transzendieren bei Jaspers s. auch unten, Abschn. 10.3 und 10.4. W 897–898.

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6.2 In den systematischen Werken

Die zitierte Stelle macht deutlich, dass Jaspers seine metaphysische Spekulation vom Denken einer neuplatonischen Tradition herleitet, an deren Spitze Plotin steht. Der zentralen Bedeutung, die Jaspers Plotin als Anreger eigenen metaphysischen Denkens zuspricht, korrespondiert auch weiterhin seine Wertschätzung für dessen herausragenden Rang als systema­ tischer Denker und als Schlüsselfigur der Philosophiegeschichte. Bezeichnend hierfür ist die knappe Charakteristik Plotins, die Jaspers in seiner Einführung in die Philosophie als Lektüreempfehlung für Anfänger gibt: Plotin benutzt die gesamte Überlieferung der antiken Philosophie als Mittel, eine wundersame Metaphysik auszusprechen, die, in ihrer Stimmung original, seitdem als die eigentliche Metaphysik durch die Zeiten geht. Die mystische Ruhe ist in der Musik einer Spekulation mittelbar geworden, die unüberholbar bleibt und in irgendeiner Weise wiederklingt, wo immer seitdem metaphysisch gedacht wurde.12

Jaspers betont hier wiederum Plotins Aneignung der antiken Überlie­ ferung, welche die Originalität seines Denkens freilich keineswegs mindert, sondern vielmehr die Grundlage bildet, auf der er ein exis­ tentiell ursprüngliches metaphysisches Denken entwickeln konnte. Plotins Metaphysik ist für Jaspers die »eigentliche Metaphysik«, offenbar weil ihr in paradigmatischer Weise gelingt, was für Jaspers Aufgabe aller Metaphysik ist, die denkende Vergewisserung der Transzendenz. Dass diese Metaphysik »durch die Zeiten geht«, ist als Hinweis auf Jaspers’ Begriff einer philosophia perennis zu lesen, als deren Vertreter er Plotin sieht, – in der Tat kann ja ›durch die Zeiten gehend‹ als eine lose Übersetzung von ›perennis‹ ins Deutsche gelten. Indem Plotins Philosophie eine »mystische Ruhe« denkend erfahrbar macht, verwirklicht sie, worin Jaspers selbst Anfang und Ende jedes gehaltvollen Philosophierens erkennt: die »Ruhe aus dem Grunde, zu der die Philosophie geht, und aus der sie entspringt«13. Auch die Bezeichnung der plotinischen Metaphysik als Musik ist keineswegs pejorativ zu verstehen. Sie verweist auf die großer Philosophie wie großer Kunst zukommende Fähigkeit, das Transzendente im Zeitda­ sein erfahrbar zu machen, wobei die Philosophie dies im Medium

12 13

Einf 151. Ph I, XXXVII.

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des Begriffs, die Kunst in einem sinnlichen Medium vollbringt.14 Von »metaphysische[r]« bzw. »philosophische[r] Musik« spricht Jaspers schon in seiner Philosophie.15 Neben Kant, Hegel und Schelling wird hier auch Plotin als einer der Philosophen genannt, deren Metaphysik ein »Analogon der Kunst« darstellt.16 Wenn Jaspers die Philosophie Plotins als »unüberholbar« bezeichnet, so besagt dies nicht zuletzt, dass sie einen bleibenden Maßstab metaphysischen Denkens überhaupt darstellt. Dies bedeu­ tet ein implizites, aber deutliches Bekenntnis zur Wahrheit der plotinischen Philosophie. Denn was unüberholbar ist, kann auch durch Jaspers selbst nicht übertroffen, sondern nur angeeignet und in gewandelter Form, aber unter Bewahrung seiner wesentlichen Gehalte wiederholt werden. Neben Plotins Bedeutung als spekulativer Denker gilt dieser Jas­ pers auch weiterhin als »der größte der mystischen Philosophen des Abendlandes«17, wobei Jaspers unter Mystik wie schon in der Psycho­ logie der Weltanschauungen ein ungegenständliches Bewusstsein des umgreifenden Seins jenseits der Subjekt-Objekt-Spaltung versteht.

6.3 In den Großen Philosophen Jaspers’ Plotin-Darstellung in den Großen Philosophen ist seine bei weitem gründlichste – und mit einem Umfang von knapp 70 Druck­ seiten – auch seine ausführlichste Auseinandersetzung mit dem Ph I, 331. Ph I, 132; ebd., 340. 16 Ph I, 340. – Keinesfalls will Jaspers mit diesem Vergleich unterstellen, die Meta­ physik könne, wenn überhaupt, bloß ästhetischen Wert haben, wie es die geläufige Rede von der Metaphysik als ›Begriffsdichtung‹ nahelegt. Vielmehr lehnt Jaspers diesen Vergleich ab, wenn er auf eine vermeinte Unverbindlichkeit und Unwahrheit der Metaphysik zielt (KJG I/6, 179). Der Wert der Metaphysik liegt für ihn keineswegs im bloß ästhetischen Genuss. Vielmehr gilt: Die metaphysischen »Visionen von Welt und Transzendenz [...] sind nicht Dichtungen, sondern mit der Subjektivität des Denkenden verbindliche Wahrheit« (GP 619). Der Vergleich von Spekulation und Musik bezieht sich vielmehr darauf, dass ›große‹ Musik – wie große Kunst im Allgemeinen – zuletzt darauf abzielt, dass sie »das Sein im Dasein [...] zur Gegenwart bringt« (Ph I, 331). Metaphysik wie Kunst sind also Wege der Vergegenwärtigung des Absoluten, das in ihnen, allerdings in verschiedener Weise und immer nur vorläufig, erfahrbar wird. 17 Einf 33. 14

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Begründer des Neuplatonismus. Da sie nur aus dem Kontext des Gesamtwerks ganz verständlich wird, seien hierzu eingangs einige Anmerkungen gemacht. Der Titel »Die großen Philosophen« für Jaspers’ philosophie­ geschichtliches Hauptwerk ist keineswegs zufällig gewählt. Weil eigentliche Philosophie für Jaspers immer daran gebunden ist, vom Einzelnen als möglicher Existenz aus eigenem Ursprung verwirklicht zu werden, ist die Geschichte der Philosophie für ihn wesentlich eine Geschichte der Philosophen.18 Unter diesen wiederum sind die Weni­ gen, die die Möglichkeiten philosophischen Denkens in origineller Weise weitergebildet haben, von der größeren Zahl derer abzuheben, die zwar aus eigenem Ursprung philosophiert, hierbei aber keine neuen Wege beschritten haben.19 Bei den großen Philosophen macht sich Jaspers zufolge eine Spannung zwischen der zeitlosen Gültigkeit der von ihnen artikulier­ ten Gehalte und ihrer jeweils besonderen zeitgebundenen Erschei­ nung bemerkbar. Obwohl sie gleichsam in ihren »historischen Klei­ der[n]« auftreten, ist bei ihnen, »was in seiner Greifbarkeit auch bedeutenden ihrer Zeitgenossen eigen ist [...,] übersetzt in einen zeitlosen Sinn«.20 Diese Überzeitlichkeit liegt für Jaspers im Wesen der Philosophie selbst begründet. Alle wahre Philosophie greift dem­ nach auf eine »ewige Wahrheit«21 aus, ohne sie doch gegenständlich in ihren Besitz bringen zu können. Schon durch dieses Ausgreifen aber verweisen die eigentlich Philosophierenden auf ein Absolutes und werden in ihrem Philosophieren so selbst zu einer »Sprache der Transzendenz«22. Gegen Hegels bekannten Satz, Philosophie sei »ihre 18 Dies gilt, obgleich Jaspers neben dieser personalen auch über eine ›weltgeschicht­ liche‹ Perspektive auf die Philosophiegeschichte verfügt, der er eine eigene Abhand­ lung, eine Weltgeschichte der Philosophie, zu widmen gedachte (vgl. Saner 1982, 5–6). Die Einleitung zu diesem Werk wurde von Hans Saner aus dem Nachlass veröffentlicht (= WGP). Von der genannten weltgeschichtlichen Perspektive ist auch Jaspers’ geschichtsphilosophisches Hauptwerk, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte (KJG I/10), geprägt. 19 Vgl. GP 39: »Jeder echte Denker ist wie jeder Mensch ursprünglich, wenn er wahr und wesentlich ist. Aber der große Denker ist in seiner Ursprünglichkeit original. Das heißt, er bringt eine Mitteilbarkeit in die Welt, die vorher nicht da war. Die Originalität liegt im Werk, in der schöpferischen Leistung, die nicht identisch wiederholbar ist, aber den Späterkommenden zu seiner eigenen Ursprünglichkeit hinführen kann.« 20 GP 39. 21 KJG I/12, 94. 22 GP 29.

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Zeit in Gedanken erfaßt«23, wendet Jaspers in diesem Sinne ein: »Der Große ist nicht schon der, der seine Zeit in Gedanken faßt, sondern der dadurch die Ewigkeit berührt.«24 Aus dieser Überzeitlichkeit der Philosophie selbst folgt für Jas­ pers insbesondere, dass es ungemäß ist, die großen Philosophen als besondere Manifestation unter eine Zeittendenz zu subsumieren. Jaspers’ Haltung ist insofern entschieden anti-historistisch. Charak­ teristisch hierfür ist es, dass Jaspers in seinem Werk eine chrono­ logische Anordnung der Philosophen nach ihren Lebensdaten mit dem Argument ablehnt, dies wäre kaum weniger äußerlich als eine Anordnung nach dem Alphabet.25 Anders als die meisten philoso­ phiegeschichtlichen Werke hat Die großen Philosophen daher die Eigenheit, die porträtierten Denker ›quer zur Zeit‹ nach inhaltlichen Kriterien zu ordnen, nach den »für uns letzten Motiven«26 in ihrem Philosophieren. Diese letzten Motive sind Jaspers’ Auffassung zufolge nicht mehr psychologisch erforschbar, sondern, sofern sie dem für den Verstand unfassbaren innersten Selbst des Menschen, seiner Existenz, entspringen, nur mehr indirekt und gleichnishaft zu erhel­ len.27 Die Gruppenbildung unter den Philosophen ist daher nicht als »Subsumption unter Gattungen«28 gemeint. Vielmehr will sie »die Hellsicht für die persönliche Größe steigern durch Bewusstma­ chen eines Allgemeinen im je Einzigen«29. Wer zu welcher Gruppe gehört, lasse sich daher letztlich nicht rational begründen, sondern nur intuitiv erfassen: »Zusammengehörigkeiten drängen sich auf, werden nicht konstruiert«30. Jaspers betrachtet die großen Philosophen als Angehörige eines überzeitlichen Geisterreichs. Das Geisterreich steht bei Jaspers als Chiffre für das unfassbare Geborgensein der Existenz durch die

Hegel, GW XIV/1, 15. GP 39; vgl. Ph I, XXII–XXIII: »Nie aber habe ich das Bewußtsein des Zeitalters zum Ausgang des Philosophierens selbst genommen, etwa gar diesem so aufgefaßten Zeitalter genüge tun wollen. Die Philosophie galt mir, obgleich ich nicht wußte, was sie war, und weiß, daß sie niemand hat oder alle auf ihre Weise an ihr teilhaben mögen, als die ewige Philosophie.« 25 GP 50. 26 GP 45. 27 GP 52. 28 GP 51. 29 GP 53. 30 GP 51. 23

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Transzendenz über den Tod hinaus.31 Als Geisterreich der Philoso­ phen symbolisiert es zugleich die alle zeitlichen Grenzen überschrei­ tende Kommunikationsgemeinschaft der Philosophierenden, der die Denker der Vergangenheit ebenso wie ihre gegenwärtigen Pendants angehören.32 Die Idee eines solchen Geisterreichs der Philosophen sieht Jaspers in Dantes ›Limbus‹ und in Raffaels Schule von Athen versinnbildlicht.33 Er selbst visualisiert sie als einen Sternenhimmel, in dem sich Sterne unterschiedlicher Strahlkraft als Gruppen zu distinkten Sternbildern zusammenfinden, ohne ihren eigentümlichen Charakter an ein Kollektiv abzutreten.34 Die Gruppenbildung in den Großen Philosophen soll diese Konstellationen im Geisterreich so gut als möglich widerspiegeln. Aus Jaspers’ Sicht ist es einer solchen Ordnung zwangsläufig zu eigen, immer auch eine »Rangordnung«35 zu sein. Um die Bedeutung Plotins für Jaspers angemessen beurteilen zu können, ist es wichtig zu verstehen, welcher dieser Gruppen Jaspers ihn zuordnet, welchen Rang diese Gruppe aufweist und welchen Rang Plotin wiederum unter den Mitgliedern der Gruppe einnimmt. Unausgesprochen, aber deutlich spiegelt die Reihenfolge des Auftretens der verschiedenen Gruppen in den Großen Philosophen die Einschätzung ihres relativen Ranges wieder.36 Die erste Gruppe bilden die vier »maßgebenden Menschen«37, Sokrates, Buddha, Kon­ fuzius und Jesus, zu denen »man kaum einen fünften von gleicher Ph III, 210; ebd., 213–214. RA 398. Vgl. GP 71–72: »Das Unersetzliche scheint zu bedeuten: Der große Philosoph ist nur einmal, mit ihm ist erloschen, was durch ihn wirklich wurde. Später treten andere Große auf, etwas Neues, Unabhängiges. So wären die Großen eine bloße Reihe unvergleichbarer Gestalten. Aber keineswegs ist das so. Sie sind vielmehr Angehörige eines Geisterreichs, in dem jeder ganz und einzig und doch alle in Kommunikation des Sinnes miteinander stehen, sei diese durch sie selbst oder durch eine spätere Zeit vollzogen. Sie treffen sich in einem Gemeinsamen noch dann, wenn sie sich bis in die Wurzeln bekämpfen. Sie sprechen uns an, indem einer uns auf den andern weist.« 33 GP 49. Es ist vielleicht sprechend für Jaspers’ Distanz einem religiös gegründeten Philosophieren gegenüber, dass er hier an die im Limbus versammelten paganen Philosophen (Dante, Div. com., Inferno, cant. IV), nicht aber an die christlichen Weisen im vierten Himmel (ebd., Paradiso, cant. X–XIV) denkt. 34 GP 50. 35 GP 53–54. 36 Innerhalb der Gruppen ist die Reihenfolge in der Regel die des historischen Auf­ tretens. 37 GP 48. 31

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historischer Mächtigkeit nennen könnte, keinen der in gleicher Höhe noch heute zu uns spräche«38. Die vier Genannten haben demnach ein Ideal des Menschseins überhaupt verkörpert und hierdurch das Geistesleben der Menschheit in ihren jeweiligen Kulturräumen und darüber hinaus zutiefst geprägt. Auf sie folgt die Gruppe der drei »fortzeugenden Gründer des Philosophierens«39, Platon, Augustin und Kant, die prägenden Figuren der drei Großepochen der abendländi­ schen Philosophie, die noch heute »gewaltige[] Wirkungsmächte«40 entfalten. Sie sind für Jaspers keine Systematiker im eigentlichen Sinne, anstelle eines festen Gedankengebäudes stehe bei ihnen ein sich stets erneuerndes Fragen und Entwerfen, freilich vor dem Hinter­ grund einer unverlierbaren »Gegenwärtigkeit des Wesentlichen«41. Ihre Werke seien daher unabgeschlossen und in gewisser Weise vieldeutig; ihr Denken könne nicht als Lehre angeeignet werden, sondern dränge zu immer neuen Interpretationen. Für Jaspers ist aber gerade dies ein Verdienst; es zwingt uns, auf ihren Spuren selbst philosophisch denken zu lernen, statt Tradiertes nur äußerlich anzu­ eignen.42 Plotin gehört zusammen mit Anaximander, Heraklit, Parmen­ ides, Anselm, Eckhart, Cusanus, Spinoza, Laotse und Nagarjuna der dritten Gruppe an, der Gruppe der »aus dem Ursprung denkende[n] Metaphysiker«43. Diese dritte Gruppe ist für Jaspers wohl auch dem Rang nach nur die dritthöchste. Die aus dem Ursprung denkenden Metaphysiker sind ihrer Bedeutung nach aber keineswegs subalterne Figuren, vielmehr handelt es sich um Denker, die sich in hervorragen­ der Weise mit der Frage nach dem Transzendenten befasst haben, der GP 46. GP 48. 40 GP 231. 41 GP 231. – Die Auffassung Platons als eines ›suchenden‹, ›undogmatischen‹ Philosophen ist durch das Bild seiner Philosophie in den Dialogen und deren Deutung durch Schleiermacher und seine intellektuellen Erben bestimmt. Die Forschungen der sogenannten Tübinger Schule (Hauptwerke: Krämer 1959; Gaiser 1968) zur indirekten Überlieferung der Prinzipienlehre Platons lässt diese Auffassung als zweifelhaft erscheinen. Wie Jens Halfwassen (2006) gezeigt hat, erscheint Plotins Metaphysik des Einen vor dem Hintergrund dieser Prinzipienlehre als eine in ihren Grundzügen zuverlässige Deutung der Philosophie Platons. Jaspers dagegen geht von einer erheblichen Umdeutung Platons durch Plotin aus; vgl. GP 316. 42 GP 46–47. 43 GP 48; Eckhart wird merkwürdigerweise nicht in dieser Übersicht, sondern erst in der Einführung zu den ursprünglichen Metaphysikern genannt (GP 623). 38

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für Jaspers tiefsten und wichtigsten Frage der Philosophie. Von ihnen zu lernen sind demnach die »Möglichkeiten transzendierender Ver­ gewisserung des Unbedingten«44, also der Kern dessen, was Jaspers in seiner eigenen Metaphysik unternimmt. Zwar regen sie Jaspers zufolge in geringerem Maße zu eigenen philosophischen Entwürfen an als die epochalen Gestalten der ›fortzeugenden Gründer‹. In der Aneignung ihres Denkens gewinnen wir aber die Möglichkeit, durch die metaphysische Spekulation selbst einen Aufstieg zur Trans­ zendenz zu vollziehen und ein Leben aus dem »metaphysische[n] Seinsbewußtsein«45 zu führen, das in ihnen »hell wurde«46. Jaspers betont dabei, dass die Vergegenwärtigung der Transzen­ denz, die die genannten Denker vollziehen, auch dort ihre Berechti­ gung behalte, wo einige ihrer Lehren – ausdrücklich nicht die Bewe­ gung des Transzendierens selber – durch Kants »kritische Wende«47 obsolet geworden seien. Für Jaspers ist das nachkantische Zeitalter, wie dies zeigt, keineswegs ein ›postmetaphysisches‹, sondern das einer erneuerten und sich erneuernden Metaphysik, freilich auf dem Grund eines vertieften kritischen Selbstverständnisses der Philoso­ phie. Wie die »fortzeugenden Gründer« sind Jaspers zufolge auch die ursprünglichen Metaphysiker keine Systematiker in dem Sinne, dass sie ein das Weltganze bis ins Einzelne erklärendes System entworfen hätten, sie vertreten aber einen festen Kern spekulativ begründeter und dann lehrhaft fixierter Anschauungen, die freilich nicht so sehr in die Breite gehen, als vielmehr um den Mittelpunkt des absolu­ ten Ursprungs kreisen: »Sie breiten aus, wiederholen, versuchen an neuem Material, und das alles aus einer Mitte, die nicht im System erreichbar ist, und die in ihrer Vollständigkeit und Intensität überall und nirgends im Werk da ist.«48 Für Jaspers’ Auseinandersetzung mit Plotin ist es charakteris­ tisch, wie er diesen innerhalb der Gruppe der aus dem Ursprung denkenden Metaphysiker situiert. Plotin gilt Jaspers neben Spinoza als einer der beiden einzigen »reine[n] Metaphysiker unter den

44 45 46 47 48

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Großen«49; an anderer Stelle beschreibt er Plotin als den »reinste[n] […] Metaphysiker«50. Aus Jaspers’ weiteren Ausführungen lässt sich nachvollziehen, inwiefern Plotin diese Sonderstellung zukommt: Zunächst ist es der im philosophischen Gottesdenken Plotins spürbare existentielle Ernst, der ihn Jaspers zufolge von sämtlichen Vorgängern abhebt: Plotin ergriff in unvergleichlicher Hingabe den Gottesgedanken, der von Xenophanes als solcher ausdrücklich gemeint, von Parmenides (ohne Gott genannt zu werden) und von Plato gedacht, bei Aristoteles zu einer Konstruktion und in der Stoa zur Weltgöttlichkeit abgesunken war. Es ist der philosophische Gottesgedanke.51

In dieser Hinsicht sieht Jaspers in Plotin eine geschichtlich einmalige Gestalt: »Kein Philosoph hat mehr als Plotin im Einen gelebt.«52 Allein vor diesem Hintergrund lässt sich in seinem Sinne die radikale Konsequenz verstehen, mit der Plotin Gott als das absolut Transzen­ dente denkt. In ihr erkennt Jaspers – wie schon in der Metaphysikvor­ lesung – Plotins größtes historisches Verdienst: Mögen alle besonderen Gedanken Plotins überkommenes Erbgut (platonisch, aristotelisch, stoisch) sein, und mag sein Werk wie eine Kombination solcher Elemente anmuten können, in der Tat sind sie verwandelt aus dem neuen Ursprung des in dieser Unablässigkeit durch die frühere griechische Philosophie nie vollzogenen Transzen­ dierens.53

Die Bedingungen dieses Transzendierens sind aber nicht nur existen­ tiell, sondern zugleich logisch: Nur einem begrifflich klaren Denken kann ein Transzensus über dieses Denken gelingen. Diesen Aspekt betont Jaspers im Gegensatz zu den vorplatonischen Philosophen: »Im Unterschied von Heraklit und Parmenides arbeitet Plotin mit den Begriffen der inzwischen ausgebreiteten griechischen Philosophie.«54 Obgleich die Vorplatoniker in ihrer archaischen Größe bewunderns­ wert seien, müsse uns ihre Denkweise doch fremd bleiben: »So groß­ artig die vorplatonische Philosophie in ihren ehernen Gebilden, in 49 50 51 52 53 54

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ihrer Nähe zum Ursprung, in ihrer unendlichen Deutbarkeit ist, – wir vermögen sie zu bewundern, nicht in sie einzutreten.«55 Anderes gilt für Plotin, dessen geschichtliche Stellung ihm ein reiches begriffliches Instrumentarium an die Hand gibt, das er meisterlich nutzt. Unterscheidet sich Plotin von seinen Vorgängern in der vorpla­ tonischen Epoche durch die begriffliche Klarheit seines Denkens, so hebt er sich Jaspers zufolge von seinen Nachfolgern nicht zuletzt durch seine religiöse Unbefangenheit ab. Er habe noch unbeeinflusst von der Autorität der christlichen Kirche philosophieren können, die dem philosophischen Gottesdenken der Späteren allzu enge dogmatische Schranken auferlegt habe.56 Dagegen leiten sich Jaspers zufolge weite Teile der späteren christlichen Philosophie und Theologie direkt oder indirekt aus dem Denken Plotins ab: Ein Philosophieren, das den Menschen auf den Boden seiner eigenen Vernunft und der unmittelbaren Beziehung zur Transzendenz stellt, wird in seiner Begrifflichkeit vom kirchlich theologischen Denken angeeignet, das heißt für die Konstituierung der eigenen kirchlichen Dogmatik benutzt (so z.B. das Denken Plotins). Dann werden die Gedanken unter die Bedingungen der kirchlichen Autorität gestellt, als zu ihr gehörig beansprucht […].57 Plotin [wurde] von den christlichen Denkern angeeignet, an der Spitze durch Augustin. Damit wurde der philosophische Ursprung getilgt. Plotins Transzendenz des Einen war der Vernunft offenbar, der christ­ liche Gott offenbarte sich durch Christus. Nicht philosophische Verge­ wisserung als solche, sondern Glaube an die einmalige Offenbarung war Grund der neuen Glaubenserkenntnis.58 GP 249. GP 622–623. 57 GP 623. 58 GP 723. – Zum Verhältnis von philosophischer Theologie und Offenbarungs­ theologie nach Jaspers vgl. auch Ph I, XXXIV. – Eine positivere (und wohl auch gerechtere) Würdigung der Aneignung philosophischen Denkens durch die christliche Theologie und insbesondere Plotins durch Augustinus findet sich in KJG I/13, 296: »Im christlichen Denken brachte Augustin für alle Folgezeit beides, das Sein und die Persönlichkeit Gottes, zusammen. Gott ist das höchste Sein, oberhalb dessen, außerhalb dessen, ohne das nichts existiert. Nichts anderes ist von Gott zu sagen[,] als daß er das Sein selbst sei. Er ist sich selbst genügend. Die beiden Vorstellungen, die ihre Gipfel im Einen des unpersönlichen Seins des Überseins bei Plotin und im lebendigen Gott der Bibel hatten, finden sich als dasselbe. Augustin erklärt: Gott, nach seinem Namen gefragt, wie ein Mensch Gaius, Lucius, Marcus oder anders heißt, antwortete: 55

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Jaspers zufolge liegt der philosophische Gottesgedanke bei Plotin aus diesem Grund in einer Reinheit vor, die von den Späteren kaum je wieder erreicht wurde. Beispielsweise macht Jaspers es Cusanus, für den er sonst große Sympathien hegt, zum Vorwurf, dieser habe in unklarer Weise metaphysische Spekulationen mit der Auslegung christlicher Glaubensgehalte wie der Trinitätslehre vermischt.59 Erst Spinoza habe dann wieder eine rein philosophische Metaphysik der Transzendenz entworfen und damit die Feindschaft der religiösen Autoritäten auf sich gezogen.60 Plotin steht Jaspers zufolge also in verschiedener Hinsicht an der Spitze der großen Metaphysiker: Seine existentielle Hingabe ist einzigartig, die Konsequenz seines transzendierenden Denkens ist neuartig und seither unübertroffen. Er ist begrifflich klarer als seine Vorgänger und durch seine religiöse Ungebundenheit philosophisch ursprünglicher als seine Nachfolger (mit Ausnahme Spinozas). Vor diesem Hintergrund – durch den vielleicht schon deutlich wird, warum Jaspers’ Interesse für Plotin so außerordentlich ist – sollen im Folgenden einige Schwerpunkte seiner Plotin-Darstellung referiert werden. Jaspers betont den existentiellen, auf Selbstfindung und Selbst­ werdung zielenden Charakter der plotinischen Philosophie. Diese sei Ausdruck eines »Dabeisein[s] der denkenden Seele im Reiche des Wesentlichen«61, eine Beschwörung der Seele, »sich ihrer ewi­ gen Heimat zu erinnern«62. Jaspers hebt damit das erfahrungshafte Fundament der plotinischen Philosophie hervor: Nicht abstrakte Konstruktion sei deren Grundlage, sondern die lebendige Erfahrung im »Schauen des Schönen«, der »Freiheit des Handelns«, der »Bewe­ gung dialektischen Denkens« und schließlich – alles andere über­ ragend – die Erfahrung der »ekstatische[n] Vereinigung mit dem Einen«.63 Dass Plotin diese Erfahrungen artikuliert, ist der Grund dafür, dass Jaspers eine existenzphilosophische Lektüre Plotins für möglich und sinnvoll hält – denn in seinem Sinne sind diese Erfahrun­

ich bin. Sein Name ist das Sein selbst. Gehe, sagte er zu Moses, und sage den Kindern Israels: Der ist, schickte mich zu euch.« 59 KJG I/16, 43, 74–75; vgl. dazu Ratzsch 2018a; ders. 2022, bes. XXIX. 60 GP 623. 61 GP 657. 62 GP 658. 63 GP 658.

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gen Momente eines transzendent bezogenen existentiellen Selbstbe­ wusstseins, des absoluten Bewusstseins: Das Kriterium der Wahrheit bei diesem Philosophieren finden wir nicht schon in einer bloß rationalen Evidenz des Gedankens. Wo immer wir stehen, leben wir im Sehnen, Schauen, Lieben zum Höheren. Weil hier ein absolutes Bewußtsein seiner gewiß ist, weil es sich um Erhellung im Selbstverstehen, nicht um Erklärung aus einem Anderen handelt, ist die Aneignung der Wahrheit solchen Denkens nicht schon logisch-gegenständlich möglich, sondern in diesem Medium mit der eigenen Existenz erst da, wo Einstimmung und wo Widerstreit mit Erfüllungen eigenen möglichen Existierens fühlbar wird.64

Abstrakte ›Nacherzählungen‹ des plotinischen Systems, die auf diesen existentiellen Faktor keine Rücksicht nehmen, können dem Denken Plotins daher, wie Jaspers betont, nicht gerecht werden: »Die Erzäh­ lung des Systems ist angesichts Plotins eine Entstellung.«65 Der Kern der plotinischen Philosophie ist für Jaspers dessen Metaphysik des absolut Einen. Dabei hebt er die Unerkennbarkeit und Unsagbarkeit des Einen als einen Grundpfeiler dieser Philosophie hervor. Ist uns das Eine gegenwärtig, dann in anderer Weise als der bloßer Erkenntnis: »Wir sprechen vom Einen, aber sagen es nicht aus. Wir haben es nicht durch Erkenntnis, haben es aber doch nicht überhaupt nicht.«66 Vom Einen lässt sich nur über den Umweg sprechen, unsere Erfahrungen des Einen zu artikulieren.67 In der Betonung dieser subjektiven, erfahrungshaften Dimension, die alles bloße Denken hinter sich lässt, sieht Jaspers Parallelen zu Luther und Kant: Wie Plotin nicht das Eine selbst erkennt, sondern die Affektionen seiner selbst im Einen, so verwirft Luther die theologia gloria [sic] (gegenständliche Gotteserkenntnis) zugunsten der theologia crucis (der Offenbarung Gottes, die uns den Weg zu ihm zeigt), so durch­ schaut Kant die Nichtigkeit aller metaphysischen Erkenntnis, um das Bewußtsein des Intelligiblen im freien Handeln zu vertiefen. Es ist eine Analogie zwischen übrigens wesensverschiedenen Positionen.68

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GP 666. GP 664. GP 664. GP 664–665. GP 665.

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Dass Jaspers hier Plotin und Kant parallelisiert, kann als ein erster Hinweis darauf gelten, dass er die Grundposition der plotinischen Philosophie nicht für inkompatibel mit zentralen kritischen Einsich­ ten Kants hält.69 Jaspers’ Fokus auf Plotins Metaphysik des Einen unterstreicht, dass dieser für ihn vor allem anderen der Philosoph der Transzendenz und des Transzendierens ist. Dieses vollziehe Plotin in zwei Schritten, zunächst vom Wahrnehmbaren zum Intelligiblen, d.h. zum Geist, dann wiederum vom Geist zum Einen. Historisch richtig führt Jaspers die Grundform dieser Denkbewegung auf Platon zurück: »Plotin vollzieht mit Plato zwei Schritte des Transzendierens: Der erste über­ schreitet das sinnlich Wahrnehmbare und ergreift das nur Denkbare, aber nicht Sichtbare.«70 Der entscheidende Schritt sei aber der zweite, der uns »sowohl über das Sichtbare wie über das Denkbare hinaus«71 zum absolut Transzendenten, dem Einen, führt. Jaspers hebt dabei hervor, dass die Bezeichnung ›das Eine‹ nur ersatzweise gebraucht werde; das Eine werde nicht auf die Kategorie der Einheit festgelegt, vielmehr müsse vom Einen selbst die Aussage, dass es Eines sei, zurückgenommen werden.72 Diese Negativität des Einen für das Denken bedeute aber keineswegs einen Seinsmangel, sondern vielmehr »die überwältigende Fülle«73. Es ist, was es nicht ist, nicht darum nicht, weil es weniger, sondern weil es mehr ist als das, was es nicht ist. Daher wendet Plotin das »nicht« um in ein Positives. Weil das Eine mehr ist, schließt es das, was es nicht ist, in sich ein, schließt es nicht aus.74

Wenn Plotin das Eine auch Gott nennt, so widerstreitet diese Bezeich­ nung Jaspers zufolge keineswegs der absoluten Transzendenz des Einen, sondern ist gerade ihr Ausdruck, was er als ein entscheidendes Verdienst des plotinischen Gottesdenkens hervorhebt: Das Eine, die letzte Transzendenz, nennt Plotin auch Gott. Durch die Gottheit wird alles Sichtbare, alles Denkbare, der Geist, alles, was wir sind und was wir erfassen können, ein Untergeordnetes. Dieses Überschreiten jeder Immanenz, jeder Herrlichkeit und Größe in der 69 70 71 72 73 74

S.u., Kap. 7; vgl. Halfwassen 2021, 188–189. GP 667. GP 667. GP 667–668 mit Beleg aus Plotin, V 4, 1, 8–9. GP 668. GP 668.

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Welt und allen Geistes zur Gottheit hin ist gar nicht selbstverständlich und noch weniger die Radikalität, mit der bei Plotin die Transzendenz vor jeder Denkbarkeit, jedem Näherbringen, jeder Faßlichkeit und Leibhaftigkeit geschützt wird. Es ist gar nicht selbstverständlich, hier alle Tiefe und Macht und die alleinige Mitte zu sehen.75

Eine Konsequenz hiervon sei, dass Gott dem Weltsein gegenüber weder Liebe noch Zorn empfinden könne, während er sehr wohl das Ziel unseres Liebesstrebens sei.76 Indem Plotin das Eine als den Grund des Seienden denke, ohne einen besonderen Schöpfungsakt, eine eigentliche Emanation oder Ähnliches anzunehmen,77 »entschleiert sich das Grundrätsel des Daseins auf die eigentümlich Plotinische Weise, aber ohne daß eine Antwort erfolgt, die als Wissensinhalt Bestand hätte«78, also ohne den Seinsgrund in ein gegenständlich wissbares Kausalverhältnis zu stellen. Diese Zurückhaltung aller Wissensansprüche sieht Jaspers im Zusammenhang mit Plotins Hingabe an das Transzendente: »Vom Einen spricht Plotin daher aus dem Innersten der Seele, hingerissen, aber im Erkennen verzichtend.«79 Jaspers referiert Plotins Erkenntnislehre; insbesondere dessen Unterscheidung von Verstand und Vernunft bzw. Geist (nous).80 Dabei legt er den Schwerpunkt jedoch darauf, dass auch der Nous als die höchste Form des Denkens noch unvollkommen sei, da er noch in der Unterscheidung von Denken und Gedachtem bestehe. Auch über diese letzte Dualität hinauszugelangen, sei das Ziel: Entscheidend für Plotin ist nun, daß auch im scheinbar Höchsten, im denkenden Schauen des Geistes, im Denken der ewigen Formen oder Wesenheiten das Ziel nicht erreicht ist. Denn, wo Geist (Nus, Vernunft) ist, da ist schon Denken. Erst durch die Andersheit ist der Geist möglich. Das Eine des Geistes, Abbild des unterschiedslosen Einen, ist nur, indem er zugleich Denkendes und Gedachtes ist, und indem seine Gegenstände unterschieden als die einen und die anderen sind. Er ist also stets schon in der doppelten Zweiheit des Denkenden und Gedachten, und des Einen und des Anderen. Scheidet man mit der Spaltung und der Andersheit die Zweiheit aus, dann ist das Eine 75 76 77 78 79 80

GP 670. GP 670. GP 669. GP 670. GP 669. GP 671.

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nur Schweigen. […] Hinausgelangen über das Denken, über den Geist, über das Sein, hingelangen zum Einen, das ist die höchste Möglich­ keit.81

Erfüllung finde die Sehnsucht nach dem Einen in der unio mystica. – Verschiedene Beschreibungen dieser Erfahrung durch Plotin zitiert und referiert Jaspers ausführlich.82 Er betont dabei, dass die Schau des Einen für Plotin keine Sache der Wissenschaft sei und dass alle Beschreibungen dieses Erlebnisses nicht als objektive Lehre, sondern als bloße Hinweise zu gelten hätten, die zur Schau des Einen anleiten sollen.83 Interessant, weil aus Jaspers’ psychologischen Kenntnissen gespeist, ist seine Einschätzung der plotinischen Ekstasis. Nicht zuletzt gelingt Jaspers eine Widerlegung des jahrhundertealten unge­ rechten Verdikts, Plotin verdanke seine mystischen Erfahrungen einem in irgendeiner Hinsicht abnormen Seelenleben.84 Dagegen stellt Jaspers fest: Es ist nicht eine Bewußtseinstrübung wie der Rausch, nicht eine sinnliche Euphorie, die wieder verschwindet. […] Es ist nicht ein schla­ fähnlicher oder Traumzustand, aus dem ich zum normalen Bewußtsein erwache, so daß ich von diesem Wachbewußtsein her jenen abnormen, sich selbst undurchsichtigen Zustand deute.85

Insgesamt gelte damit: »Seine Schilderungen bringen nur ein Mini­ mum psychologischer und gar keine psychopathologischen Phäno­ mene.«86 Vielmehr handle es sich um einen Zustand vollkommener Klarheit und Wachheit, von »hellstem, überhellem Bewußtsein«87. Letztlich sei der Charakter der plotinischen Ekstasis aber gar nicht psychologisch fassbar, sondern nur existenzphilosophisch zu erhel­ len: Es handelt sich bei ihm nicht um ein Erlebnis, das als Vorkommnis in der Zeit genossen wird, sondern um den Ursprung allen Sinns in jedem GP 671–672. GP 672. Bei den zitierten Passagen handelt es sich um IV 8, 1,1–11; VI 9, 10, 15–16; VI 9 11, 21–22 sowie VI 9, 9, 44–52.55–58. 83 GP 673. 84 Vgl. Tiedemann 1793, Bd. 3, bes. 273–274; Ähnliches insinuiert Brentano (1876, passim). 85 GP 675–676. 86 GP 676. 87 GP 676. 81

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Moment des Daseins, um das absolute Bewußtsein, das das endliche Bewußtsein prägt. In der Wirklichkeit war als vollendet erfahren, was in der Welt bei erhaltener Zweiheit von Liebendem und Geliebtem, von Schauendem und Geschautem, als Ziel ersehnt wird, von dem her das unvollendete Sehnen seine Richtung erhält. Es bekommt seinen Sinn dadurch, daß im Augenblick die Wirklichkeit, die stets gegenwärtig ist, zwar entschleiert da sein kann, jederzeit aber von näher oder ferner berührt wird.88

Dass Jaspers hier seinen eigenen Begriff des absoluten Bewusstseins gebraucht, ist insofern bemerkenswert, als er sonst zwischen der unio mystica, in der eine Einheit mit dem Absoluten erfahren wird, und dem absoluten Bewusstsein, bei dem wir uns des Absoluten zugleich mit unserer Distanz zu ihm bewusst sind, unterscheidet.89 Dass er an dieser Stelle beides ineins fasst, folgt vielleicht einem interpretativen Interesse, die unio mystica als eine Spitzenerfahrung im Kontinuum des existentiellen Transzendenzbewusstseins zu denken, dergestalt, dass, was sonst wie von ferne erfahren wird, hier, augenblickhaft »entschleiert«, je meine einzige Gegenwart wird. In Plotins Metaphysik des Einen erkennt Jaspers ein Denken, das – teils vorbereitend, teils erinnernd – auf der Erfahrung der unio mys­ tica beruht.90 Die Methode transzendierender Spekulation, mithilfe derer Plotin diese Metaphysik entfaltet, beschreibt Jaspers detailliert und mit offensichtlichem Interesse: Das Transzendieren habe seine Voraussetzung in der Kategorienlehre Plotins. Deren Besonderheit sei es, dass sie zwei verschiedene Gruppen von Kategorien, Kategorien der sinnfälligen und der intelligiblen Welt, unterscheide.91 Sie sei schon hierdurch Ausdruck eines transzendierenden Denkens, das den Bereich des Sinnfälligen auf ein Intelligibles hin zu übersteigen sucht. Freilich sei nicht dieses Intelligible, sondern das transzendente Eine, das sich dem Denken wie der Wahrnehmung entzieht, das letzte Ziel des Aufstiegswegs.92 Weder die Kategorien der sinnlichen noch die der intelligiblen Welt seien dazu in der Lage, dieses Eine zu bestimmen. Um das Eine zu berühren, müsse daher der Bereich des in irgendeiner Weise denkend Erfassbaren verlassen werden,

88 89 90 91 92

GP 675. S.u., Abschn. 9.8. GP 677–678. GP 678–680. Eine Darlegung seiner Kategorienlehre gibt Plotin in Enn. VI 1–3. GP 680.

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6 Jaspers’ Plotin-Bild

aber dieses Überschreiten des Denkens müsse doch wiederum im Denken geschehen. »Wenn der nächste und endgültige Schritt erfolgt im Transzendieren zum Undenkbaren, wenn also das Undenkbare gedacht werden soll, so muss die Orientierung im Denkbaren dieses selbst zum Boden des Abstoßens werden lassen.«93 Dabei benutze Plotin mehr Kategorien, als er in seiner Kategorienlehre ausdrücklich entwickelt, nämlich »die Kategorien: Form und Material, Wirklichkeit und Möglichkeit, Grund, Leben und andere«94. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen versucht Jaspers eine Darstellung der verschiedenen spekulativen Gedankenfiguren, die er bei Plotin vorfindet, und ordnet sie entsprechend den Kategorien, in denen transzendiert wird. Dabei bestehen deutliche Parallelen zu seiner eigenen systematischen Philosophie, die im Fortgang der Untersuchung weiter zu beleuchten sein werden.95 Ergriffen vom »Staunen am jeweils Einen«96 entwerfe Plotin ein Prinzip aller Einheit, durch welches jegliches Seiende je eines ist. – Damit dieses Prinzip selbst als reine Einheit gedacht werden kann, müsse ihm allerdings jeder bestimmte kategoriale Sinn von Einheit abgesprochen werden, da das Eine sonst im Gegensatz zu einem anderen bestimmt würde, so auch im Fall der numerischen Einheit, die in der Reihe der Zahlen steht. »Daher hebt Plotin jeden bestimmten Sinn des Einen auf, um es nur als einen Namen (hen) übrigzubehalten für das, dessen Gedachtwerden in jedem Sinne scheitern muß.«97 Ebenso werde das Eine am Leitfaden der Formkategorie als dasjenige gedacht, was, weil ganz frei von Materie, selbst von der intelligiblen Materie der reinen Formen, noch ›über‹ diesen Formen steht. Als ein solches Jenseits der Formen aber müsse es als form- und gestaltlos gelten. In diesem Sinne – zumal Sein für Plotin immer ein aus Form und Materie zusammengesetztes Ganzes bedeutet – nenne er das Eine ein Nichtseiendes, zugleich aber, nach der ›Richtung‹ des Transzendierens, ein Überseiendes.98 Im Hinblick auf die Dualität von Wirklichkeit und Möglichkeit fasse Plotin das Eine als dasjenige, in dem diese beiden Bestimmun­ 93 94 95 96 97 98

GP 680. GP 680. Vgl. Ph III, 43–66; s. dazu unten, Abschn. 10.4. GP 681. GP 681. GP 682–683.

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6.3 In den ›Großen Philosophen‹

gen ineins fallen, da es jeder Spaltung vorausgeht. Der Eine Ursprung vor der Spaltung werde damit freilich wiederum zu einem Undenkba­ ren.99 In Bezug auf die Kategorie des Grundes lehre Plotin, dass im Einen Sein und Seinsgrund koinzidieren. Daher müsse jeder Versuch scheitern, das Eine durch diese Kategorie zu erfassen.100 Insbesondere bestehe der Grund des Einen weder im Zufall noch in der Notwendig­ keit und auch nicht in der Freiheit: »Was seinen Grund in sich hat«, ist nicht zufällig, eben weil es seinen Grund in sich hat. Man darf auch nicht sagen, es sei notwendig, denn es ist frei, weil durch sich. Aber Freiheit eignet ihm wiederum nicht, weil es Grund der Freiheit, nicht frei, sondern mehr als Freiheit ist.101

Zwar drücke schon die Freiheit im Gegensatz zum »Gegenständli­ che[n] und Erkennbare[n]« eine »Unbegreiflichkeit« aus.102 Schließ­ lich müsse aber auch die Freiheit des Einen negiert werden, »um das Undenkbare und Allbegründende entschieden vor schlechthin jeder Bestimmung zu bewahren«103. Zuletzt müsse das Eine als ein Jenseits von Leben und Tod gedacht werden. Vollendetes Leben habe für Plotin der Nous; weil das Eine den Nous übersteigt, müsse es als ein Nicht-Lebendiges gedacht werden. Hierdurch erschließe sich »die Tiefe des Todes im Übersein«104. In dieser und ähnlicher Weise müssten alle Kategorien in Bezug auf das Eine in einer Weise übersteigert werden, die die Fasslichkeit des Gedankens auflöst. Insgesamt beschreibt Jaspers dieses spekula­ tive Verfahren Plotins wie folgt:

GP 684–685 mit Verweis auf Plotin, II 9, 1, 23–25. – Plotins Auffassung, das Eine sei als die Einheit von Möglichkeit und Wirklichkeit zu denken, spielt in dessen Philosophie zwar keine systematisch zentrale Rolle, wird von Jaspers aber zutreffend erfasst. 100 GP 685. 101 GP 685. 102 GP 686. 103 GP 687. 104 GP 689. – Jaspers’ Deutung erscheint recht gewagt, denn das ›Nicht-Leben‹ des Einen lässt sich im Sinne Plotins wohl als ein ›Über-Leben‹ (s.o., Abschn. 2.3), kaum aber als ›Tod‹ auslegen. Jaspers’ Interpretation ist offenbar stark durch seine eigene Auseinandersetzung mit der Grenzsituation des Todes und der in ihr möglichen Ver­ gewisserung der Transzendenz (vgl. Ph II, 220–229) geprägt. 99

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6 Jaspers’ Plotin-Bild

Die dabei von Plotin faktisch angewandten, wenn auch nicht zu vollem methodischen Bewusstsein gelangten Wege sind: Einzelne Kategorien werden unwillkürlich verabsolutiert (die Einheit, der Grund, die Mög­ lichkeit, das Leben usw.) und gewinnen dadurch für den Augenblick eine über ihren Sinn hinausgehende Vertiefung, als ob sie seien. – Da jedoch, als objektiv gedacht, die Kategorie die bestimmte Kategorie bleibt, sie als solche nur eine unwahre Verabsolutierung ist, so nimmt das Denken eine Gestalt an, in der ein innerer Widerspruch das Gesagte wieder zerstört, oder die, daß entgegengesetzte Kategorien identisch gesetzt werden. […] Die Bestimmtheit und qualitative Eigentümlich­ keit der Kategorie wird aufgehoben durch ihre Verwandlung in den letzten Grund von allem. [...] Welche Kategorie auch immer im Denken der Transzendenz zur Anwendung kommt, sie ist als bestimmte Kate­ gorie unanwendbar, als unbestimmt werdende nicht mehr denkbar.105

Durch diese sich selbst überwindende Dialektik gelinge es Plotin, die Kategorien »in eine Schwebe«106 zu bringen, wie dies in der Tat unumgänglich sei, wenn sie zu einem Mittel werden sollen, das Tran­ szendente zu denken.107 Plotin vollziehe so ein »Sichüberschlagen des Denkens zum Nichtdenkenkönnen; ein Denken, das sich als Denken transzendiert, indem es sich aufhebt; ein Nichtdenken, das […] nicht nichts denkt, sondern das Nichts, das nicht seiend oder überseiend ist.«108 Eine solche Selbstaufhebung des Denkens ist für Jaspers die zentrale Voraussetzung dafür, denkend jene absolute Transzendenz zu berühren, in Bezug auf die wir unser Selbst erst eigentlich erfassen und verwirklichen: Solch transzendierender Gedanke erhellt in der menschlichen Existenz jenen Funken des Selbst, der in allem Zerfließen als er selbst sich weiß, dadurch, daß er es in einem Sein denkt, das über alles Sein hinaus ist, unberührt von allem kommenden und verschwindenden Sein, nicht verfallen an jenen zeitlosen Bestand intelligibler Kategorien, sondern Grund auch dieser.109

Wie dies zeigt, hält Jaspers Plotins spekulative Metaphysik nicht nur für kompatibel mit existenzphilosophischem Denken, sie gilt ihm

105 106 107 108 109

GP 689–690. GP 690. GP 690–691. GP 691. GP 688.

130 https://doi.org/10.5771/9783495997772 .

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vielmehr – ebenso wie das verwandte Denken des Cusanus und ande­ rer110 – als eine entscheidende Grundlage der Existenzphilosophie. Weil Plotins Denken des transzendenten Einen keine gegen­ ständliche Erkenntnis erzeugt, es sich vielmehr jeweils um einen »sich überschlagenden und schließlich in nichts sich auflösenden Gedanken«111 handelt, habe dieses Denken den Charakter eines »sinnvolle[n] Scheitern[s]«112. Es ist für Jaspers aber gerade die Erfah­ rung des Scheiterns des Verstandes am Einen, die einen existentiellen Aufschwung zu ihm ermöglicht. Für das Denken Plotins gelte: Es »gewinnt seine Sprachkraft gerade durch das, was im Scheitern her­ vorgeht«113. Keineswegs handle es sich um »leeres Gerede«, vielmehr mache das Scheitern des Denkens eine »Erfüllung« möglich, die »über das Denken hinausgeht«.114 Plotins Metaphysik erfüllt damit in paradigmatischer Weise, was Jaspers als die zentrale Aufgabe metaphysischen Denkens überhaupt betrachtet, sie vollzieht einen Überstieg alles gegenständlich Seienden und ermöglicht hierdurch ein Innewerden des absolut Transzendenten, in dem der Mensch allein »Ruhe findet«: Im Gegenständlichen denke ich immer wieder ein Sein. Dies ist nie­ mals das letzte Sein. [...] Nur wenn ich, statt in dieser Reihe von Gegen­ stand zu Gegenstand endlos aufzusteigen, einen Sprung mache im Transzendieren vom Gegenständlichen zum Nichtgegenständlichen, kann ich ohne Fixierung eines Gegenstandes in den Ursprung, im Denken träumend, hineingrübeln. Das tut Plotin: Sein Erstes ist kein Gegenstand, kein Denkbares, ein Prädikatloses. [...] Es zu denken, heißt, es nicht zu denken. Daher der Weg über jeweils einzelne Kate­ gorien und daher jedesmal die Notwendigkeit des Sprungs dorthin, wo das Denken aufhört. Der Gedankenweg des Verstandes führt ins Endlose. Aber das transzendierende Denken gelangt in den Ursprung oder an das Ziel, wo es Ruhe findet.115

Jaspers betont, dass ebendieser Aufstieg, nicht die Erkenntnis, der Sinn der plotinischen Metaphysik sei: »Nicht schon ein Erkennen von 110 Vgl. KJG I/16, 185: »Die Metaphysik bringt noch nicht die Freiheit. Aber sie ist Bedingung für das Bewußtsein der Freiheit, die auf ihrem Wege durch innere Bindung erfüllt wird.« 111 GP 690. 112 GP 691. 113 GP 692. 114 GP 690. 115 GP 691.

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Sein und Welt […], sondern in ihm der Aufschwung der Seele ist der Sinn der Philosophie.«116 Die Philosophie könne daher für Plotin letztlich nur Vorbereitung auf eine Ekstasis sein, die die Erfahrung der Einheit mit dem Einen bringt und die nicht bewusst hervorgebracht werden kann, sondern »kommt wie ein Geschenk«117. Weiter führt Jaspers aus, dass das Denken Plotins, wegen der zentralen Bedeutung, die es dem Aufstiegsgedanken zukommen lässt, ganz auf dem menschlichen »Freiheitsbewußtsein«118 basiere. Plotins Philosophie ist demnach wesentlich eine Philosophie der Freiheit. »Die in der Freiheit erfahrene Möglichkeit des Steigens oder Sinkens durch die eigene Aktivität erzeugt die Weltvision als Interpretations­ mittel des Lebenssinns.«119 Jaspers betont in diesem Kontext, dass Plotin sich in der Verteidigung der Freiheit gegen »den stoischen Determinismus und gegen die Astrologen«120 wendet und dass er in der Freiheit das eigentliche Wesen des Menschen sieht: Freiheit »ist unsere Natur, wenn wir allein sind«121. Weil die plotinische Philosophie in dieser Weise ein Mittel seelischen Aufschwungs sei, habe sie Voraussetzungen, die nicht nur epistemisch sind: Bedingung der Dialektik sei die »ethische[] Praxis«; die Dialektik selbst diene nicht nur der Erkenntnis, sondern »die Seele [wird] gereinigt« durch sie.122 Plotin habe begriffen, dass die Philosophie keine Sache bloßen Verstandes sei, dass sich in ihr vielmehr »die Erinnerung an ein Unvordenkliches«123 ausspreche. Für Plotin gelte daher: »Verleugnen des Verstehens im Grund des Seins bedeutet die Behauptung der eigenen Wesenslosigkeit.«124 Ausführlich geht Jaspers auf Plotins Auseinandersetzung mit konkurrierenden philosophischen Strömungen ein. Plotins Polemi­ ken unterwirft er dabei einer systematischen Einteilung, wobei er zwei distinkte Gegnergruppen ausmacht: die Materialisten einerseits, die Gnostiker andererseits.125 Dass Plotins nicht weniger bedeutende 116 117 118 119 120 121 122 123 124 125

GP 694–695. GP 695. GP 696. GP 696. GP 698. Plotin, III 1, 10, 10–11, von Jaspers zitiert in GP 698. GP 705. GP 706. GP 706. GP 706.

132 https://doi.org/10.5771/9783495997772 .

6.3 In den ›Großen Philosophen‹

kritische Auseinandersetzung mit dem Aristotelismus126 von Jaspers weitgehend unbeachtet bleibt, ist vermutlich dessen eigenen systema­ tischen Interessen geschuldet. Jaspers betont, dass es sich bei Plotins intellektueller Auseinan­ dersetzung mit dem Materialismus einerseits und dem Gnostizismus andererseits keineswegs um einen bloß historischen Konflikt han­ delt, der zu irgendeinem Zeitpunkt als abgegolten betrachtet werden könnte. Die eigentliche Philosophie – als deren Exponent Plotin hier auftritt – steht Jaspers zufolge vielmehr in einem wesensnotwen­ digen, sich daher durch die Zeitalter perennierenden Kampf gegen Materialismus und Gnostizismus.127 Diese stellen demnach zwei gegensätzliche Grundmöglichkeiten dar, sich zum Transzendenten zu verhalten, die in der Natur des Menschen angelegt sind und sich ihm, obgleich sie verkehrt sind, nichtsdestoweniger immer wieder aufdrän­ gen: Unsere Natur als Sinnes- und Verstandeswesen will entweder leibhaf­ tig und gegenständlich denken oder gar nicht denken. Dann hat sie die Wahl, entweder Transzendenz zu leugnen – das geschieht durch den Materialismus – oder die Transzendenz zu vergegenständlichen zu einem leibhaftigen Objekt und mit diesem die wirkliche Welt zu entwerten, – das geschieht in der Gnosis. Plotin hat seine Philosophie gegen beide zu verteidigen.128

Wo Materialismus die Transzendenz geradewegs leugnet, wird diese, so Jaspers, im Gnostizismus reifiziert und dadurch als Transzendenz nivelliert. Beide sind daher dem Transzendenten gegenüber ungemäß. Insbesondere sind sie dem Typus von Metaphysik diametral entge­ gengesetzt, den Jaspers bei den ›großen Metaphysikern‹ – und in reinster Form bei Plotin – verwirklicht findet, der Metaphysik als dem Denken absoluter Transzendenz. Zu den wesentlichen Merkmalen der gnostischen Weltanschau­ ung gehört dabei Jaspers zufolge neben der Verweltlichung des »Übersinnlichen«129, also des der Erscheinungswelt gegenüber (rela­

126 127 128 129

Z.B. Plotin V 1, 9, 7–27. Besonders zu letzterem s.u., Kap. 11. GP 706. GP 708.

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6 Jaspers’ Plotin-Bild

tiv) Transzendenten130, die Ablehnung dieser Welt als Ganzes. Zwi­ schen beidem sieht Jaspers – Plotin folgend – einen systematischen Zusammenhang, es ist demnach gerade die Verweltlichung des Tran­ szendenten, die umgekehrt zu einer Ablehnung der phänomenalen Wirklichkeit führt: Wer das Übersinnliche leibhaftig denkt und nun, Leibhaftigkeit gegen Leibhaftigkeit stellend, die Wirklichkeit der Welt selber verwirft, ist Gnostiker. Ihn macht das sinnliche Anschauen des Übersinnlichen blind vor der echten Sinnlichkeit, während nur das geistige Erdenken des Übersinnlichen auch den Glanz im Sinnlichen als ein Widerstrah­ len von dorther zu sehen vermag.131

Wie bei den meisten der ›großen Philosophen‹ schließt Jaspers seine Plotin-Darstellung mit einer »kritische[n] Charakteristik«132 ab. Dabei greift Jaspers zunächst gängige Kritikpunkte auf, die ver­ meintliche Widersprüche in der Philosophie Plotins betreffen. Bei­ spielsweise würden dem Einen immer wieder verschiedene Attribute zugesprochen, die es ›gleichsam‹ charakterisieren sollen, andererseits würden ihm alle denkbaren Bestimmungen abgesprochen. Ferner werde die Welt je nach Kontext teils geringgeschätzt, teils als »glück­ seliger Gott«133 verherrlicht. Solchen vermeintlichen Widersprüchen räumt Jaspers nicht viel Gewicht ein. Sie »erscheinen sinnvoll im Ganzen der Seinsvision Plotins. Wo er selbst sie bemerkt, hebt er sie auf durch die Stufenlehre oder durch das Wissen um die Unangemes­ senheit des Sagens.«134 Ein in Jaspers’ Sinne ernsterer Kritikpunkt ist, dass Plotin ver­ nachlässige, was er selbst als Weltorientierung bezeichnet: Er habe kein Interesse an der Erkenntnis der physischen Welt, seiner »natür­ liche[n] Verständigkeit«135, mit der er manchen zeitgenössischen Aberglauben durchschaue, zum Trotz. Ferner bleibe Plotin indifferent zu Fragen der politischen Philosophie. Insofern gelte: »Plotin ist der

130 Jaspers kennt sowohl einen relativen wie einen absoluten Transzendenzbegriff, vgl. W 108–109; zum Unterschied von relativer und absoluter Transzendenz vgl. Halfwassen 1998. 131 GP 708. 132 GP 712–719. 133 Plotin, III 5, 5, 8 = Platon, Tim. 34b, von Jaspers zitiert in GP 712. 134 GP 713. 135 GP 713.

134 https://doi.org/10.5771/9783495997772 .

6.3 In den ›Großen Philosophen‹

reinste und ausschließlichste Metaphysiker.«136 Als reinster Meta­ physiker, so ist Jaspers zu verstehen, habe Plotin die Transzendenz in unüberbietbarer Weise spekulativ vergegenwärtigt. Als ausschließ­ lichster Metaphysiker habe er allerdings die Reflexion auf Dasein und Lebenswelt des Menschen vernachlässigt. Ein dritter, noch tieferer Strang der Kritik widmet sich dem »exis­ tentielle[n] Sinn«137 der plotinischen Philosophie. So kritisiert Jaspers den seiner Ansicht nach harmonistischen Charakter dieses Denkens – Leid und Unheil in der Welt würden zwar nicht geleugnet, aber doch auch nicht in ihrer ganzen Schärfe gesehen, weil sie jeweils von der fragwürdigen Vision einer »Harmonie des Ganzen«138 überdeckt würden. Hiergegen insistiert Jaspers: »Gegen die plotinische Ruhe in der Harmonie empört sich das Bestehen auf den Leiden und den Ungerechtigkeiten, die nicht weggeredet werden sollen.«139 Hiermit verwandt ist ein weiterer Kritikpunkt: Die aktive, prakti­ sche Verwirklichung menschlicher Existenz im Dasein bedeute Plotin zu wenig. Sie werde der philosophischen Kontemplation jederzeit untergeordnet. Den tieferen Grund hierfür sieht Jaspers in Plotins Abwertung der Materie, die jede reale Verwirklichung zur Nebensa­ che des geistigen Aufschwungs werden lasse. Plotins Philosophie werde hierdurch »harmonischer und durchsichtiger«, aber auch »mat­ ter und unheroischer«.140 Weil das Individuum in seiner Konkretheit Plotin letztlich wenig bedeute, würden auch die Grenzsituationen von ihm nicht klar vergegenwärtigt, was nicht zuletzt Folge der ploti­ nischen Wiedergeburtslehre sei: »Der Tod ist seiner Unerbittlichkeit beraubt, wenn nur ein Szenenwechsel durch ihn stattfindet.«141 Da es Plotin letztlich nicht auf die immanente Verwirklichung ankomme, habe auch sein Freiheitsbewusstsein den Mangel, dass es »seinen ursprünglichen Ort nicht im Handeln in der Welt«142 hat. Dage­ gen steht Jaspers’ eigene Überzeugung, der zufolge »das Weltliche […] zugleich Erscheinung und unendlich wichtig«143 ist, weil jeder Mensch nur ein Leben hat, sich darin zu verwirklichen. Ebenso arti­ 136 137 138 139 140 141 142 143

GP 714. GP 714. GP 714. GP 715. GP 716. GP 716. GP 717. GP 718.

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kuliere Plotin zwar eine »großartig[e]« Gottesliebe, aufgrund seiner relativen Geringschätzung des Individuellen und Geschichtlichen würden ihr gegenüber allerdings die Bedeutung von Freundschaft und Ehebund verblassen.144 Aus diesen Gegensätzen resultiert – aller geistigen Nähe zum Trotz – Jaspers’ Beurteilung des existentiellen Sinns der Philoso­ phie Plotins als »unauflösbar zweideutig«145: Sie könne »wundersam ansprechen als offenbare Wahrheit«, jedoch könne ihre, ein Engage­ ment in der Weltwirklichkeit letztlich ausschlagende, »endgültige Ruhe auf uns wirken wie ein seliger Tod in diesem Leben selber«.146 Diesem zwiespältigen Urteil zum Trotz ist Jaspers’ Wertung der plotinischen Philosophie im Ganzen äußerst positiv; alle sie pauschal verwerfenden Urteile wehrt er ab: Plotin strahlt durch Wesen und Leistung in seiner Überzeitlichkeit. […] Man würde mißverstehen, wollte man Plotins Haltung als Müdig­ keit deuten und in Zugehörigkeit zu seinem Zeitalter verstehen, das man als zum Untergang bereit auffaßt. Sein Leben und sein Denken sind vielmehr eines der großen Beispiele der durch nichts zu hemmen­ den Kraft der Philosophie.147

Jaspers’ Auseinandersetzung mit Plotin ist, wie die verschiedenen hier betrachteten Zeugnisse zeigen, von großer Bedeutung für sein Denken. In historischer Hinsicht sieht Jaspers in Plotin einen Kno­ tenpunkt der Philosophiegeschichte, der antikes und nachantikes metaphysisches Denken miteinander vermittelt. Systematisch sieht er in Plotin den paradigmatischen Vertreter der Metaphysik über­ haupt, dessen Denken der Transzendenz sich durch unüberholbare Konsequenz und einmaligen existentiellen Ernst auszeichnet. Er ver­ gegenständliche Transzendenz nicht zu einem Wissbaren, sondern mache sie in spekulativen Operationen erfahrbar, die den Denken­ den über alles Seiende in der Immanenz hinausführen. Besondere Aufmerksamkeit widmet er Plotins kategorialer Spekulation, die zahlreiche Überschneidungen mit seinem eigenen Denken aufweist. Ferner findet er die Metaphysik bei Plotin, wie dies seiner eigenen GP 718. GP 719. 146 GP 719. 147 GP 722. – Eine Müdigkeit, wie sie für Epochen des Niedergangs charakteristisch sei, wollte Becker (1940, 101, 104) in Plotins Philosophieren ausmachen. 144 145

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6.3 In den ›Großen Philosophen‹

Konzeption entspricht, in einem existentiellen Freiheitsbewusstsein fundiert. Allerdings ist er dem Denken Plotins gegenüber nicht unkri­ tisch; für Jaspers steht anders als für Plotin nicht die Theorie, sondern die Praxis im Vordergrund; nicht nur die Schau des Schönen, sondern vor allem die Erschütterung unseres Daseins in der Grenzsituation führt demnach zum Seinsinnewerden.

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7 Kants kritische Philosophie als Hintergrund von Jaspers’ Plotin-Rezeption

Jeder Versuch aufzuweisen, inwiefern Jaspers’ Metaphysik neuplato­ nische Einflüsse aufnimmt, wird sich mit dem Einwand konfrontiert sehen, dass Jaspers in erster Linie Kantianer gewesen sei, daher sei auch seine Metaphysik vor allem von Kant her zu verstehen. Diese Auffassung dürfte Jaspers’ Selbstverständnis, die gesamte, auch vor­ kantische europäische Philosophietradition zur Synthese zu bringen, kaum gerecht werden.1 Allerdings ist die Wertschätzung, die Jaspers dem kantischen Denken entgegenbringt, in der Tat außerordentlich. In seiner Auslegung der großen Metaphysiker stellt er deren Denken, wie gezeigt wurde, unter die Bedingungen der kantischen Erkenntnis­ kritik.2 Dies gilt auch für seine Aneignung der Metaphysik Plotins, die Jaspers nur insofern akzeptieren kann, als sie den Bedingungen genügt, die Kant an alles künftige metaphysische Denken gestellt hat. Um zu verstehen, wie Jaspers diese Bedingungen auffasst, sol­ len im Folgenden zunächst einige Grundzüge von Jaspers’ Kant-Ver­ ständnis vergegenwärtigt werden.3 Dies soll in Auseinandersetzung mit Jaspers’ Kant-Darstellung in den Großen Philosophen, die ein Zeugnis seiner produktiven Aneignung Kants ist, und in stetem Bezug auf seine Plotin-Rezeption erfolgen. Im Anschluss hieran soll dann gezeigt werden, warum Jaspers in seiner Metaphysikvorlesung die Ansicht vertritt, eine Metaphysik plotinischen Typs könne der kantischen Metaphysikkritik jedenfalls grundsätzlich standhalten und sogar – als Metaphysik der Freiheit – die positiv-metaphysischen Ansätze bei Kant aufgreifen und fortset­ zen.

S.o., Abschn. 5.3. S.o., Abschn. 6.3. 3 Zu Jaspers’ Anlehnung an Kant vgl. Lichtigfeld 1961; Salamun 2006, 30–31; Lee 2004.

1

2

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7 Kants kritische Philosophie als Hintergrund von Jaspers’ Plotin-Rezeption

7.1 Jaspers als Kantianer Kant gilt Jaspers neben Platon als der bedeutendste Philosoph über­ haupt.4 In Kant sieht er denjenigen Denker, der die Naivität im Zugriff auf die Erfahrungswelt, als sei diese ein Sein an sich, nicht immer schon vorgeprägt durch unser Denken und Wahrnehmen, endgültig überwunden habe. In Bezug auf die Person Kants schätzt Jaspers dessen sittlichen Ernst und seine nüchterne Vernünftigkeit; Kant sei in dieser Hinsicht »ein Gipfel dessen, was jeder Mensch als Vernunftwesen sein kann«5. Zweifellos ist Kant zudem der Philosoph, dem sich Jaspers persönlich am nächsten fühlt.6 In seinen Großen Philosophen bezeichnet Jaspers Kant als den »schlechthin Unumgängliche[n]«7. Laut Jaspers ist Kant also derje­ nige Philosoph, dessen Aneignung der gegenwärtig Philosophierende am wenigsten entbehren kann. Vielfach schildert er, wie es gerade die Lektüre Kants ist, bei der gleichsam ein »Ruck«8 durch den Menschen geht und ihm »ein Licht auf[geht]«9, wenn er zu der entscheidenden philosophischen Einsicht der »Erscheinungshaftig­ keit des Weltseins«10 insgesamt durchdringt. Es finde hierdurch ein erstes Transzendieren statt, das dann Voraussetzung des existentiellen Transzensus zum Absoluten sei.11 Eine vergleichsweise umfangreiche Darstellung widmet Jaspers »Kants Weg zur kritischen Philosophie«12. Diesen Weg sieht Jaspers durch eine radikalisierte Unterscheidung von logischen und realen 4 Vgl. Ant 77: »Kant halte nicht nur ich für einen weltgeschichtlichen Philosophen, einen unter zweien: seine Größe steht neben Plato. Aber der Grund seiner Größe ist die Schöpfung einer Denkungsart, nicht wie bei Plato die Schöpfung von Gestalten, Bil­ dern, Spekulationen, Chiffern. Auf Kant beruht seither alle vernünftige Philosophie. Durch ihn wird die Weite offen, in der die früheren Philosophen besser und erst recht verstanden werden. Seine Philosophie ist ein Wunder wie die Platos.« 5 APol 249–250; vgl. Einf 158, wo Jaspers Kants »Humanität« und sein »adlige[s]« Wesen hervorhebt. 6 Vgl. Heidegger/Jaspers, Briefwechsel, 89 (Jaspers an Heidegger, 12.02.1928). Der Brief enthält ein sehr persönliches und zugleich philosophisch bedeutsames Bekenntnis zu Kant. 7 GP 616. 8 W 48; Einf 78; APol 247; vgl. KJG I/12, 19. 9 GP 615. 10 W 48. 11 W 49. 12 GP 404; vgl. ebd. 404–417.

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7.1 Jaspers als Kantianer

Verhältnissen geprägt.13 Wenn Begriffe, wie Kant annimmt, nur Formen sind, die wir auf ein sinnlich Gegebenes anwenden, so müsse in Frage stehen, wie sie sich überhaupt auf dieses »ganz Andere[]«14 beziehen könnten. Für Kant werde der Wirklichkeitsbe­ zug der Begriffe so insgesamt zum Problem. Vor dem Hintergrund solcher Fragestellungen habe sich seine Grundfrage herausgebildet: »Auf welchem Grunde beruht die Beziehung desjenigen, was man in uns Vorstellung nennt, mit dem Gegenstand?«15 In Beantwortung die­ ser Frage habe Kant »einen völlig neuen Weg« eingeschlagen; die »alte Ontologie«, die unseren Begriffen »unmittelbar reale Bedeutung« beigemessen habe, sei hierdurch zu Fall gebracht worden.16 Dagegen entwickle Kant den neuartigen Gedanken, dass wir selbst es sind, die die Erfahrungsgegenstände der Form nach durch Anschauungsformen und Kategorien hervorbringen. Die Anwend­ barkeit der Kategorien auf Erfahrungsgegenstände könne daher nicht mehr grundsätzlich in Frage stehen. Fragwürdig bleibe dagegen die Legitimität ihrer Anwendung auf das Transzendente.17 Jaspers betont den Gegensatz der kantischen Transzendental­ philosophie und ihres Transzendierens zu den »Bedingungen aller Gegenständlichkeit«18 zur vorkantischen Metaphysik, die ein Trans­ zendieren unmittelbar zum Sein an sich oder zu Gott vollzogen habe. Für Kant dagegen gelte: »[D]ie Frage nach dem Sein wird zur Frage nach dem Gedachtsein.«19 Das Denken ist der Frage nach dem Absoluten damit Jaspers zufolge freilich nicht enthoben, vielmehr sei es nun erst in die Lage gesetzt, diese in angemessener Weise, nämlich als Frage nach dem Umgreifenden, das Denken und Gedachtes noch umfasst, zu stellen: »Erst im Transzendieren über das Gedachtsein wäre – aber wieder im Denken – zum Bewußtsein zu bringen, was ist, ohne gedacht oder doch angemessen gedacht zu sein.«20 In Kants Ablösung der ›alten‹ Ontologie sieht Jaspers eine philo­ sophische Errungenschaft von kaum zu überschätzender Bedeutung.

13 14 15 16 17 18 19 20

GP 405. GP 412. Kant, AA X, 130 (Kant an Marcus Herz, 21.02.1772), von Jaspers zitiert in GP 413. GP 413. GP 417. GP 439. GP 424. GP 424.

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7 Kants kritische Philosophie als Hintergrund von Jaspers’ Plotin-Rezeption

Er räumt zwar ein, dass die Ontologie als »Einteilung des Weltseins«21 im Ausgriff auf ein vermeintliches Sein an sich »großartig[e] […] Bilder des Seins«22 entwerfe. Im gegenständlichen Sinn, in dem sie ausgesagt seien, seien solche ontologischen Lehren freilich immer auch ungemäß, ja, ihnen hafte eine »unausweichliche Irrung«23 an. Was heute noch gültig Ontologie heißen könne, habe daher einen anderen Sinn als die alte Ontologie: »[D]ie Ontologie ist nicht mehr ein Wissen vom Sein selbst, sondern die Kategorienlehre, ein Wissen von den Weisen und Formen, in denen Sein gegenständlich denk­ bar wird«24. Diese Neubewertung der Ontologie ist für Jaspers nicht nur als ein Kriterium von Bedeutung, durch welches unangemessene Wis­ sensansprüche abgewiesen werden können. Weil sie mit der Illusion aufräume, das Sein könne als Gegenstand begriffen werden, führe sie vielmehr zu einem klareren Bewusstsein des Transzendenten, dessen Entzogenheit und Unfasslichkeit erst hier ganz begriffen würden. Jaspers sieht hier eine Parallele zur Philosophie Plotins, der zufolge der Eine Seinsgrund nicht erkannt werden kann.25 Kants Analyse der Gegenstandserkenntnis bringt Jaspers zufolge insbesondere eine Erhellung dessen, was er als die Subjekt-ObjektSpaltung bezeichnet: »Das Bewußtsein wird hell in der Spaltung von Subjekt des Denkens und Objekt des Gedachten.«26 Diese Spaltung besteht demnach als das Gegenüber von menschlichem Bewusstsein und Erfahrungsgegenstand, wobei letzterer nicht an sich, sondern jeweils für ein Bewusstsein existiert: »[A]lle Gegenstände sind nur Erscheinungen; kein erkanntes Sein ist das Sein an sich und im Ganzen. Die Erscheinungshaftigkeit des Daseins ist von Kant zu voller Klarheit gebracht.«27

W 201. W 203. 23 W 204. 24 W 204. Ebendies ist der Typ von Ontologie, den Jaspers selbst in seiner Philosophi­ schen Logik (W und NPL) entwirft. 25 Vgl. GP 665: »Wie Plotin nicht das Eine selbst erkennt, sondern die Affektionen seiner selbst im Einen, [...] so durchschaut Kant die Nichtigkeit aller metaphysischen Erkenntnis, um das Bewußtsein des Intelligiblen im freien Handeln zu vertiefen.« S. dazu oben, Abschn. 6.3. 26 GP 418; zu Jaspers’ Kant-Bezug in Hinsicht auf die Subjekt-Objekt-Spaltung vgl. Lee 2004, 4–5, 92–94. 27 Einf 78. 21

22

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7.1 Jaspers als Kantianer

Mit dieser Erkenntnis verknüpft sich Jaspers zufolge eine zweite, philosophisch noch bedeutendere: Die Differenz und Bezogenheit von Subjekt und Objekt ist demnach erst auf der Grundlage eines Umgreifenden zu denken, das sich uns an den Grenzen des in der Sub­ jekt-Objekt-Spaltung Erkennbaren zeigt. Auch dieses werde durch Kant vielfach, wenngleich indirekt, thematisiert: Wenn es aber gelingen sollte, die Grundbeziehung unseres Subjekt­ seins zu den Objekten so aufzuhellen, daß wir uns darin der Eigentüm­ lichkeit des Umgreifenden, in dem wir uns finden, wirklich bewußt werden, dann werden wir uns mit den Grenzen unseres Bewußtseins, d.h. unseres Denkens, im Bewußtsein selber des Anderen gewiß. Dann ist die Frage möglich, wie sich im Bewußtsein, das identisch ist mit Subjekt-Objekt-Spaltung, dieses Andere indirekt zeigt. Darauf hat Kant die reichsten Antworten gegeben.28

Für Jaspers ist das Andere, Umgreifende, das sich an der Grenze der Subjekt-Objekt-Spaltung zeigt, letztlich die Transzendenz, das eigentliche Sein oder Gott. Hierauf bezogen bemerkt Jaspers in seiner Einführung in die Philosophie, Kant habe durch seine »Genauigkeit im denkenden Vollzug des Transzendierens« den »für uns« – das heißt für Jaspers selbst wie auch für den zeitgenössisch symphilosophierenden Leser – »entscheidende[n] Schritt des Seinsbewußtseins« getan.29 Hierin, nicht in seiner Erhellung des Erkenntnisvorgangs, liegt für Jaspers Kants größte Errungenschaft. Schon im Aufweis der Grenze werden wir demnach indirekt dessen inne, was uns jenseits derselben doch zugleich entzogen bleibt. Jaspers kann das Leben innerhalb der Subjekt-Objekt-Spaltung gera­ dezu mit der Haft in einem »Gefängnis der Gegenständlichkeit«30 vergleichen. Aus diesem befreie die Philosophie Kants, nicht indem sie uns zum Ausbruch verhilft, sondern indem sie es uns ermög­ licht, uns durch ein Bewusstwerden unserer Situation über diese zu erheben: »Er [Kant] zwingt uns zwar, uns klar zu werden, daß wir gleichsam in einem Gefängnis der Subjekt-Objekt-Spaltung, in Raum und Zeit und in unseren Denkformen leben, aber er zeigt, wie dieses Bewußtsein zugleich zu einer Befreiung aus dem erkannten Gefängnis wird.«31 Mit anderen Worten, schon der Aufweis der Subjekt-Objekt28 29 30 31

GP 416. Einf 158. GP 450. GP 416–417.

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7 Kants kritische Philosophie als Hintergrund von Jaspers’ Plotin-Rezeption

Spaltung birgt den Keim des freien Bezugs auf Transzendenz. Jaspers sieht daher den »Sinn dieses Denkens [...] verdorben«, wo es als eine bloße Erkenntnistheorie verstanden wird, ohne dass dabei das »Unfaßliche […] zu gesteigerter Gegenwärtigkeit kommt«.32 Während die Spaltung von Subjekt und Objekt Kant zufolge das ausschließliche Operationsfeld des Verstandes sei, greife die Vernunft über dieses Feld hinaus auf das aus, was gedacht werden muss, ohne erkannt werden zu können: »Was wir aber mit dem Verstand als ein gegenständlich Gewußtes nicht erreichen können, das ist doch unserer Vernunft gegenwärtig.«33 Durch die Vernunft finde so eine Vergewisserung der »Gegenwärtigkeit des Übersinnlichen«34 statt. Als Ausdruck einer solchen Vergewisserung deutet Jaspers sowohl den doktrinalen Glauben an Gott als »eine[n] obersten Grund[] der schöpferischen Vernunft, aus dem alle Gegenstände entspringen«35, wie insbesondere den für Kant wichtigeren moralischen Gottesglau­ ben, der Gott und Unsterblichkeit als Voraussetzungen der Sittlichkeit mit subjektiver Gewissheit affirmiert.36 In dieselbe Richtung weisen demnach auch Kants Überlegungen zu einem übersinnlichen Substrat von Natur und Freiheit in der Kritik der Urteilskraft.37 All diese Überlegungen seien letztlich Ausdruck eines Einheits­ strebens der Vernunft, welche die durch den Verstand aufgeworfe­ nen Spaltungen zu überwinden suche. Es gelte daher: »Wo immer Dualitäten von Kant fixiert sind, tritt bei ihm die Frage nach dem Verbindenden, und zwar als die Frage nach dem Mittleren auf. Dieses Mittlere ist da in der Gegenwart des Einzelnen und als das Eine des Übersinnlichen, das in jener Gegenwart sich zeigt.«38 Jaspers’ Auffassung, dass Kants Lehre letztlich auf ein Bewusst­ sein des »Unfasslichen« hinauslaufe, zudem des Unfasslichen als einer transzendenten Einheit, unterstellt Kant, trotz aller Unter­

GP 417. GP 465; vgl. GP 742–743. 34 GP 465. 35 GP 467. 36 GP 508–510. 37 GP 514. 38 GP 514. – Solche »Mittlere« sind für Jaspers auch die Ideen der kantischen Philo­ sophie; Jaspers hat Kants Ideenlehre intensiv rezipiert und schon in der Psychologie der Weltanschauungen zur Grundlage der dort entfalteten psychologischen Typologie gemacht; s.o., Abschn. 3.1. 32

33

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7.1 Jaspers als Kantianer

schiede, eine gewisse Nähe zur Mystik.39 In seiner Erhellung der Subjekt-Objekt-Spaltung aktualisiere Kant demnach ein Wissen, über das die Mystiker schon immer verfügt hätten: Die Frage nach Subjekt und Objekt ist praktisch alle Zeit von Mystikern beantwortet worden. Sie überschritten dies Verhältnis durch Erfah­ rungen, in denen es aufhörte. Ihre Sprache ist voll von tiefsinnigen Wendungen über das, was weder Subjekt noch Objekt, sondern über beide hinaus ist.40

Von den Mystikern, die die kantische Einsicht vorweggenommen hätten, erwähnt Jaspers namentlich nur Plotin: Daß das Dasein im Subjekt-Objekt-Verhältnis nicht absolut, sondern ein Zweites ist, lehrte Plotin: Das Eine ist ungeteilt eines, mehr als Denken, über das Denken hinaus. Das Zweite ist das intelligible übersinnliche Reich des Denkens in der Spaltung von Denken und Gedachtem und des Gedachten unter sich.41

Diese Erkenntnis sei analog zur kantischen, der zufolge gilt: »Das Subjekt-Objekt-Verhältnis ist nicht das absolute, allem vorherge­ hende Sein, nicht das Erste, sondern ein Zweites.«42 Dabei weist Jaspers jedoch auch auf den wesentlichen Unterschied hin, der deut­ lich macht, warum Kant kein eigentlich mystischer Philosoph ist: Diese Erfahrungen waren nur möglich durch Veränderung des Bewußt­ seinszustandes dorthin, wo Ich und Gegenstand zugleich verschwin­ den. [...] Ganz anders Kant. Er blieb in unserem natürlichen Bewußt­ seinszustand der Subjekt-Objekt-Spaltung.43

Zweifellos zieht Jaspers Kants Lösung für das Problem der SubjektObjekt-Spaltung der plotinischen vor: Kants Analyse der Bedingun­ gen des Gegenstandsbewusstseins ist für Jaspers eine (im Wesent­ lichen) gültige Erhellung menschlichen Daseins, dagegen ist die plotinische Mystik seiner Ansicht nach zwar glaubwürdig, aber nicht beweiskräftig. Dass Jaspers in dieser Grundsatzfrage Parallelen kan­ tischer und plotinischer Philosophie aufweist, ist für die vorliegende Untersuchung dennoch von großem Interesse. Es zeigt, dass Jaspers 39 Eine ähnliche Deutung gibt Jaspers auch in der Psychologie der Weltanschauun­ gen, s.o., Abschn. 3.5. 40 GP 416. 41 GP 416. 42 GP 415. 43 GP 416.

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7 Kants kritische Philosophie als Hintergrund von Jaspers’ Plotin-Rezeption

das Umgreifende jenseits der von Kant erhellten Subjekt-ObjektSpaltung an derselben ›Systemstelle‹ verortet, die bei Plotin das absolute Eine als der Grund von Denken und Gedachtem einnimmt. Diese Einschätzung lässt begreifen, wieso Plotin für Jaspers ein besonders geeigneter Gesprächspartner in Bezug auf Probleme ist, die durch Kants Transzendentalphilosophie aufgeworfen werden. Nichtsdestoweniger hält Jaspers unter Berufung auf Kant daran fest, dass es kein Wissen eines Übersinnlichen, weder Gottes (der Transzendenz) noch der Seele (der Existenz) noch der Welt als eines Ganzen, geben könne. Die Gewissheit, die ein Mensch als mögliche Existenz in Bezug auf Gott und Seele haben kann, ist demnach keineswegs hinfällig, aber sie ist wesentlich vorwissenschaftlich. Es handle sich dabei jeweils um vernünftige Glaubensüberzeugungen; diese seien aber nicht deshalb vernünftig, weil sie selbst durch Ver­ nunft beweisbar wären, sondern vielmehr umgekehrt, weil sie die Grundlage bilden, auf der ein freies und vernünftiges Selbstsein allererst möglich wird.44 Aus seiner Akzeptation der kantischen Erkenntnisrestriktion ergibt sich so insbesondere, dass viele zentrale Gehalte der plotini­ schen Philosophie für Jaspers nicht tragbar sind. Rhetorisch kann Jaspers die Frage stellen: Wird Plotins Denken als gedachtes »System« vorgetragen, [...] so wirkt es wie eine Erzählung in Begriffen und Bildern. Vor den logischen Zusammenhängen und anschaulichen Gleichnissen ersteht aber die Frage: woher weiß er das alles? Es ist doch nirgends aus seinem Grunde gezeigt, sei er empirisch, sei er logisch. Sind es nicht Märchen, die kein Erkennen bringen?45

Zwar verteidigt Jaspers Plotin im selben Atemzug: Gegen diesen Vorwurf ist zunächst zu sagen: Die Erzählung des Systems ist angesichts Plotins eine Entstellung. [...] Wie in diesen [Zügen] die eigentliche philosophische Einsicht sich vollzieht, davon sagt Plotin: Wir sollen verweilen, wo uns das Eine zur Gegenwart wird, das nichts ist von all dem, was nach ihm ist, sollen staunen und ausruhen und hinblicken.46 44 45 46

Vgl. Ratzsch 2019. GP 664. GP 664.

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7.2 Grenzen der kantischen Philosophie nach Jaspers

Dennoch ist offensichtlich, dass zahlreiche, durchaus ernste und phi­ losophisch gehaltvolle Überlegungen Plotins für Jaspers aufgrund der von ihm zugrunde gelegten kantischen Erkenntnisrestriktion als überholt zu gelten haben. Speziell Plotins Nous-Philosophie ist von dieser Verwerfung betroffen.47 Den Gedanken einer intellektuellen Anschauung lehnt Jaspers ab.48 Für ihn wie für Kant kann das bloße Denken von sich aus zu keinerlei Erkenntnissen gelangen; es ist dem­ nach leer, wo es nicht »aus einem Anderen«49 erfüllt wird. In der Annahme, wir würden Seiendes durch die denkende Erfassung von Wesensbestimmungen erkennen, ist für Jaspers ein Rest von »naive[m] Realismus«50 wirksam. Die Nous-Philosophie Plotins ist für ihn demnach bloß als eine »Konstruktion des Übersinnlichen«51 interessant, das entweder erkenntnistheoretischer Grenzbegriff oder bloße Chiffre ist, aber keine eigene, selbständige Wirklichkeit hat.

7.2 Grenzen der kantischen Philosophie nach Jaspers Seiner hohen Wertschätzung der kantischen Philosophie zum Trotz sieht Jaspers durchaus auch Grenzen dieses Denkens. Die Aneignung Kants setze voraus, Unannehmbares auszuscheiden und zugleich all jene Aspekte zu ergänzen, die in dessen Werk nicht oder nicht hinreichend behandelt sind: Niemand hat Kant angeeignet, ohne ihm an wesentlichen Stellen zu widersprechen. Niemand hat ihn verstanden, ohne Sätze von ihm zu korrigieren. Kant-Verständnis bedeutet zwar in der Tiefe eine unver­ gleichliche Einigkeit, im Vordergrund aber kritische Erörterung.52

Es gelte demnach, Kant nach dessen eigener Maxime besser zu verstehen, als er selbst es getan habe.53 Vgl. Halfwassen 2021, 188. W 384–385, 393. 49 Ph I, 246. Vgl. Kants bekannten Satz (AA III, 75 = KrV B 75): »Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.« 50 GP 415; vgl. GP 285–286 zur Kritik des platonischen Realismus. 51 GP 416. 52 GP 584. 53 GP 589. 47

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7 Kants kritische Philosophie als Hintergrund von Jaspers’ Plotin-Rezeption

Ganz grundsätzlich betrifft dies Jaspers’ Kritik am angestrebten Wissenschaftscharakter der kantischen Philosophie und gilt dabei sowohl für den in Jaspers’ Sinne verfehlten Anspruch Kants auf zwingende Gewissheit wie für den zu Unrecht erhobenen System­ anspruch.54 Es sei eine »Tragödie«55, dass Kant einen neuen Weg gefunden habe, das wissenschaftliche Wissen zu transzendieren – den Vollzug dieses Transzendierens dann aber selbst als Wissenschaft auffasse. Der letztgenannte Fehler ist Jaspers zufolge darin begrün­ det, dass Kant sein eigenes transzendentalphilosophisches Verfahren nicht gründlich genug reflektiere. Zu wenig mache sich Kant demnach die »unüberwindbare Grundschwierigkeit«56 bewusst, die in der von ihm ergriffenen Aufgabe liegt: Er befragt die Subjekt-Objekt-Spaltung, aber jede Frage und jede Antwort muß innerhalb dieser Spaltung selber stattfinden. Denn immer wird vom Denkenden etwas gedacht. Will Kant über diese Spaltung hinausdenken in den Grund, aus dem sie erwächst, so kann er es nur durch Denkformen in Gegenständlichkeit, die selber dieser Spaltung angehören.57

Gerade weil Kant die Lösung nicht in der Ekstase finde, sondern sie im gegenständlichen Denken suche, gerate er in logische Unstimmig­ keiten, die als solche nicht zu überwinden seien. Jaspers nennt neben anderen das schon von Jacobi angemerkte Problem, dass das Ding an sich unter Kategorien gedacht wird – wie der Kategorie der Realität, der Kausalität und so weiter –, die doch der kantischen Analyse zufolge allein auf Erscheinungen der Erfahrungswelt angewendet werden können.58 Zwar seien solche Unstimmigkeiten eigentlich kein Problem, sie unterliefen Kant demnach nicht beiläufig, sondern sind von der Sache gefordert und notwendig. Jaspers’ Auffassung zufolge ist es unmöglich, das Umgreifende zu thematisieren, ohne dabei die logische Form zu sprengen, diese Unumgänglichkeit sehe Kant freilich nicht. Daher brächten diese Unstimmigkeiten »in sein [Kants] Philosophieren anscheinend einen Widersinn, in der Tat eine Spannung, die zu ihm gehört«59. Jaspers selbst entwickelt seine 54 55 56 57 58 59

Vgl. hierzu insgesamt GP 590–593, 600–602. NMH 45. GP 435. GP 435. GP 445. GP 416.

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7.2 Grenzen der kantischen Philosophie nach Jaspers

Methode formalen Transzendierens60 wohl auch in Reaktion hierauf, um den logischen Spannungen im Erdenken des Transzendenten nicht länger ausgeliefert zu sein, sondern sie vielmehr zu beherrschen und bewusst zu erzeugen. Eine weitere Grenze der kantischen Philosophie ist für Jaspers das, was er als deren »Kargheit«61 bezeichnet. Bei dieser Grenze handle es sich nicht um einen eigentlichen Mangel, sondern um eine unvermeidliche Konsequenz des kantischen Grundgedankens, der eben auf eine Klärung der formalen Bedingungen unseres Welt­ zugangs abzielt und damit zwangsläufig keine inhaltliche Erfüllung zu bieten vermag: »Dieser Verzicht erst lässt die einzige Kraft des Formalen zur Geltung kommen: die Ursprünge zu erwecken, die Wege zu öffnen, die letzten Maßstäbe zur Wirklichkeit zu bringen, alles zu ermöglichen.«62 Demnach ist die »Kargheit« Kants gerade die entscheidende Stärke seiner Philosophie. Dennoch ist ebendiese Kargheit für Jaspers zugleich ein Antrieb, auf der Grundlage kanti­ scher Einsichten Themen und Fragestellungen aufzugreifen, die Kant selbst nicht berücksichtigt hat. Die kantische Philosophie fordere ein solches Weiterbauen an ihr: »Ihr Denken befriedigt nicht durch sich, sondern befragt und reinigt und bereitet vor.«63 Für die vorliegende Untersuchung sind insbesondere zwei Kritik­ punkte von Interesse, weil sie eine Erweiterung von Jaspers’ Philoso­ phie über den kantischen Rahmen hinaus durch plotinische Motive erlauben: das Fehlen einer eigentlich transzendenten Metaphysik und einer ausgearbeiteten Philosophie der Liebe bei Kant. In Bezug auf den ersten Punkt gilt demnach: Kants »[k]riti­ sche Philosophie ist Transzendentalphilosophie, nicht Philosophie der Transzendenz«64. Zwar mache Kant, wie Jaspers betont, das eigentliche Sein im transzendierenden Denken indirekt erfahrbar. Dennoch biete seine Philosophie weder die rational-überrationale Vergegenwärtigung der Transzendenz durch die Spekulation noch eine Anschauung des Transzendenten in Chiffren.65 Sie sei darum um S. dazu unten, Abschn. 10.3 und 10.4. GP 603. 62 GP 603. 63 GP 603. 64 GP 603. 65 Dies gilt Jaspers zufolge, obgleich er den Chiffrenbegriff offenbar selbst von Kant übernimmt: Bei Kant verweist das Naturschöne in unbestimmter Weise auf einen übersinnlichen Grund der Natur und ist insofern Chiffre (Kant, AA V, 301; dazu 60 61

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7 Kants kritische Philosophie als Hintergrund von Jaspers’ Plotin-Rezeption

diese Aspekte zu erweitern, aber dergestalt, dass die Erweiterung sich auf dem Grund der durch Kant gewonnenen Einsichten vollziehe, so dass »Kant nicht widerlegt [wird], sondern ergänzt, und zwar in der reinigenden Vernunft seines eigenen Denkens«66. Insbesondere dürfe diese Erweiterung – wie nicht zuletzt aus Jas­ pers’ Kritik an den Idealisten Fichte, Schelling und Hegel hervorgeht – Kants Verdikt gegen eine spekulative Seinserkenntnis nicht aufhe­ ben.67 Eine Metaphysik der Transzendenz, die nach Kant Bestand haben kann, müsse daher eine solche sein, die das Transzendente gerade in seiner Entzogenheit für das erkennende Denken vergegen­ wärtigt. Dass die kantische Philosophie einer solchen Erweiterung unab­ dingbar bedarf, wenn man sich, ohne Kants Einsichten aufzugeben, doch nicht mit der »Kargheit« seines Denkens begnügen will, betont Jaspers besonders in seinem Schelling-Buch: Durch Kant war eine philosophische Situation entstanden, die eine Aufgabe stellte. Kant selber hat seine Philosophie als Propädeutik bezeichnet. Er will neue Möglichkeiten vorbereiten. Verwirklicht und unüberbietbar war seine Denkungsart. Nicht aber war verwirklicht ein neues Ganzes inhaltlicher Philosophie, nicht ein Aufschließen der Fülle der Welt und der Geschichte. [...] Kant fordert Ergänzung, er fordert die Verwirklichung dessen, was er ermöglicht hat. […] Kant bringt keinen Entwurf einer Chiffernschrift der Transzendenz, die er aber überall berührt. Dieses Philosophieren verlangt nach sol­ cher Sprache, auf die Kant selbst fast ganz verzichtet. Die Aufgabe ist, auf Kantischem Boden, ohne gegen seine Kritik zu verfehlen, Möglichkeiten der Spekulation als Chiffernsprache zu versuchen, d.h. Aufgabe ist auch die Wiederaneignung der großen philosophischen Überlieferung metaphysischen Denkens unter den neuen Kantischen Voraussetzungen. […] Es ist mit behutsamer Kantkritik zu sehen, wo Kants Grenzen liegen. Dadurch wird die Substanz an Einsicht, die die Welt Kant verdankt, nur solider angeeignet und in gesteigerter Klarheit begriffen.68

Jaspers, GP 505). In seiner eigenen systematischen Philosophie weitet Jaspers diesen kantischen Chiffrenbegriff aus; alles Seiende kann demnach zur Chiffre werden, sofern es für Existenz auf das Absolute hin transparent wird. 66 GP 604. 67 SGV 274–323, bes. 320. 68 SGV 316–317.

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7.2 Grenzen der kantischen Philosophie nach Jaspers

Es kann kein Zweifel bestehen, dass Jaspers in diesen Zeilen auch die Aufgabe beschreibt, die er sich selbst in seinem Philosophieren gestellt hat. »[A]uf dem Kantischen Boden […] Möglichkeiten der Spekulation als Chiffernsprache zu versuchen«, und zwar in der Weise der »Wiederaneignung der großen philosophischen Überlieferung metaphysischen Denkens«, ist eine recht treffende Umschreibung der Jaspers’schen Metaphysik. Grundlegend für sein Unternehmen sind ihm dabei nun diejenigen Denker, die die kantische Einsicht in die Unerkennbarkeit des Absoluten schon vor Kant geteilt haben, also insbesondere die Denker der neuplatonischen Tradition und unter ihnen an erster Stelle Plotin. Neben diesem Hinweis darauf, dass die kantische Philosophie einer eigentlich transzendenten Metaphysik ermangle, übt Jaspers eine vergleichsweise scharfe Kritik an Kants Liebesbegriff: Von Liebe ist bei Kant kaum, und wenn, dann unangemessen, die Rede. Es ist, als ob Kant den ganzen Umfang der Vernunft erspüre und aufhelle, aber nicht in welchem Sinne Vernunft Liebe sei, und wie Vernunft in der Liebe wirke.69

Dagegen ist die Liebe in Jaspers’ eigener Philosophie von tragender Bedeutung: In seiner Existenzphilosophie ist die Liebe das zentrale Moment des ›absoluten Bewusstseins‹, also desjenigen existentiellen Selbstbewusstseins, in dem zugleich der Transzendenzbezug der Exis­ tenz realisiert ist.70 Ja, die Existenz ist nach Jaspers selbst wesentlich Liebe.71 Entsprechend weist Jaspers’ Ethik – die dieser bekanntlich nie in monographischem Umfang ausgeführt hat – in ihrem Entwurf auf eine Liebesethik.72 Schließlich vollendet sich auch Jaspers’ Logik in der Einsicht, dass die Vernunft in ihrer Bezogenheit auf das transzendente Absolute Liebe ist.73 Es dürfte an dieser Stelle klar geworden sein, wieso Jaspers es gerade als Anhänger der kantischen Philosophie für nötig hält, dessen Denken in einigen Hinsichten zu revidieren. Kants Philosophie hat Jaspers zufolge zahlreiche bedeutende Verdienste, vor allem anderen den Aufweis der Subjekt-Objekt-Spaltung, an deren Grenzen schon bei Kant ein Umgreifendes erfahrbar werde. Jaspers wirft es Kant aber 69 70 71 72 73

GP 606. Ph II, 277–279. W 988–989. Einf 59–61. S.u., Abschn. 9.3.

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vor, dass dieser weder die Transzendenz noch die Liebe als unseren Zug zum Transzendenten angemessen thematisiert habe. Theoriean­ gebote in Bezug auf beide Bereiche macht dagegen die Philosophie Plotins, die Jaspers zufolge auch wichtige Einsichten Kants in Bezug auf die Subjekt-Objekt-Spaltung vorwegnimmt. Wie Jaspers eine Metaphysik plotinischen Typs angesichts verschiedener Weisen der Metaphysikkritik, insbesondere der Kritik Kants, rechtfertigt, soll im Folgenden gezeigt werden.

7.3 Jaspers’ Rechtfertigung einer Metaphysik plotinischen Typs In seiner Metaphysikvorlesung aus dem Wintersemester 1927/28 entfaltet Jaspers eine regelrechte Apologie der klassischen Metaphy­ sik. Sie wird hier dem verwerfenden Urteil des Alltagsverstandes sowie der Kritik Nietzsches und Kierkegaards, vor allem anderen aber den Einwänden Kants ausgesetzt; Jaspers zeigt, dass sie diesen allen standzuhalten vermag, wenngleich nicht ohne Einschränkungen und nicht in jeder ihrer Gestalten. Das Manuskript, das diese bemerkenswerte Rechtfertigung ent­ hält, bildete aller Wahrscheinlichkeit nach den Anfang der Vorle­ sung.74 Der Text hat offenbar den Charakter einer Einleitung; er beschäftigt sich zunächst ganz allgemein mit dem Begriff der Meta­ physik, der Frage ihrer Möglichkeit und Berechtigung und leitet erst ganz am Schluss zu einer Betrachtung Plotins über. Jaspers geht von einer etymologischen Analyse des Wortes Metaphysik aus. Das ursprünglich »harmlose[]«, bloß »ortsbezeich­ nende[]« Wort sei demnach schon bald in einem »weiteren, tieferen und fragwürdigeren« Sinn verstanden worden: als »Wissen vom Jenseits dieser Welt«.75 Die metaphysische Frage sei im Laufe der Philosophiegeschichte in vielfacher Weise gestellt worden – mit Aristoteles als die Frage, »was das Sein überhaupt sei, was das Für diese Deutung spricht auch das auf dem Manuskript vermerkte Datum »November 1927«, da die erste Vorlesungswoche im Wintersemester 1927/28 mit dem 2. November begann; vgl. Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Vorlesungs­ verzeichnis WS 1927/28, Titelblatt. 75 Einleitung zur Metaphysikvorlesung WS 1927/28, November 1927 (im Folgenden zitiert als »Einleitung zur Metaphysikvorlesung«), S. 1, DLA, A: Jaspers. 74

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7.3 Jaspers’ Rechtfertigung einer Metaphysik plotinischen Typs

Sein alles Seins«, mit Schelling als die »weitere[] Frage: warum ist überhaupt etwas, warum ist nicht nichts«.76 Solche Fragen scheinen keine »endgültige Lösung« zu finden; sie bewirken vielmehr einen »Wirbel des Gedankens«, ein »Schwindligmachen«.77 Wir können das Sein jedenfalls nicht als ein gegenständlich bestimmtes Etwas fassen; ob demgegenüber eine Antwort im Ungegenständlichen möglich ist, lässt Jaspers zunächst offen: Was aber Sein überhaupt sei, was das Sein allen Seins, das versinkt uns als bestimmter Gegenstand und stellt sich, wenn überhaupt, nur wieder her in dem einen, ursprünglichen, transcendenten Sein, das nur als Sein unzugänglich ist und nur in der Zersplitterung der Seinsarten uns zur Erscheinung kommt.78

Nach diesem knappen Aufriss der Bedeutung von Metaphysik lässt Jaspers deren Kritiker zu Wort kommen. Allgemein werde der Meta­ physik vorgeworfen, dass sie »praktisch irrelevant« sei, dass sie keine Erkenntnisse zeitige, »mit denen ich in der Welt etwas anfangen könnte, die mich irgend einen Gegenstand, der mir in der Welt begegnen kann, besser kennen lehrte«.79 Solche Vorwürfe könnten die Metaphysik freilich nicht treffen. Denn diese entspringe nicht, wie unterstellt, »dem Interesse eines Wissenwollens ganz unpersönlich«, sonst wäre sie in der Tat ein bloßes »Gedankenspiel«, sondern »unse­ rer Betroffenheit von der Art des Seins, in dem wir uns finden«.80 Die Metaphysik gehört damit wesentlich und unauslöschlich zur mensch­ lichen Existenz; sie ist zentral im Prozess unseres Selbstwerdens, aus diesem Grund sind Kriterien praktischer Nützlichkeit hier schlicht fehl am Platz. Neben dem geläufigen Ressentiment gegen die vermeintliche Nutzlosigkeit und Weltfremdheit der Metaphysik steht der tiefer greifende Vorwurf im Raum, dem zufolge die Metaphysik insgesamt nichts anderes als eine elaborierte Selbsttäuschung sei. »Das Trans­ cendente« werde »zu einem Mittel der täuschenden Befriedigung des gierigen Lebenswillens«, der sich nicht mit seiner eigenen Hinfällig­ keit, mit »Krankheit, Alter, Tod« abfinden könne und der sich deshalb 76 Einleitung zur Metaphysikvorlesung, S. 1–2, DLA, A: Jaspers. – Jaspers erwähnt Schelling an dieser Stelle nicht ausdrücklich; vgl. aber Schelling, SW II/3, 242 (12. VL). 77 Einleitung zur Metaphysikvorlesung, S. 1–2, DLA, A: Jaspers. 78 Einleitung zur Metaphysikvorlesung, S. 1–2, DLA, A: Jaspers. 79 Einleitung zur Metaphysikvorlesung, S. 2, DLA, A: Jaspers. 80 Einleitung zur Metaphysikvorlesung, S. 2, DLA, A: Jaspers.

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7 Kants kritische Philosophie als Hintergrund von Jaspers’ Plotin-Rezeption

neben »Mysterien« und »Erlösungsreligionen« auch der Metaphysik zuwende.81 Diese Vorwürfe entspringen, auch wenn dessen Name nicht fällt, der Metaphysikkritik Nietzsches.82 Jaspers erscheint diese Kritik offenbar als verfehlt, denn erstens lasse sich gerade angesichts der Übel, die uns begegnen, wieder »nach dem Sinn des Übels, nach dem Wesen des Seins fragen, das so in die Erscheinung tritt«83. Die Metaphysik wird durch den Vorwurf, sie sei eine bloß ohnmächtige Reaktion auf innerweltliche Übel, vor denen der Metaphysiker in Illusionen Zuflucht suche, statt ihnen heroisch entgegenzutreten, also gar nicht getroffen. Die nüchterne Feststellung, dass die Übel real sind, kann vielmehr zu einem neuen Anfang metaphysischen Fragens werden. Zweitens werde die Welt im Kontext jeder solchen Metaphysikkritik als ein »bestehendes Sein« gedacht; »ich komme hinzu, in ihr wie alles zerrieben zu werden«.84 Diese Sichtweise erscheint Jaspers einseitig, daher weiß er sich hier noch nicht »an der Wurzel des Ringens um metaphysische Gehalte«85. Insbesondere verkenne sie unsere wesentlich durch die Praxis bestimmte Seins­ Einleitung zur Metaphysikvorlesung, S. 3, DLA, A: Jaspers. Der Vorwurf der Unwahrhaftigkeit an die Metaphysik ist ebenso wie die ihr entgegengesetzte Betonung des Lebenswillens für Nietzsche charakteristisch; vgl. Nietzsche, KSA II, 29: »Es ist wahr, es könnte eine metaphysische Welt geben; die absolute Möglichkeit davon ist kaum zu bekämpfen. Wir sehen alle Dinge durch den Menschenkopf an und können diesen Kopf nicht abschneiden; während doch die Frage übrig bleibt, was von der Welt noch da wäre, wenn man ihn doch abgeschnitten hätte. Diess ist ein rein wissenschaftliches Problem und nicht sehr geeignet, den Menschen Sorgen zu machen; aber Alles, was ihnen bisher metaphysische Annahmen werthvoll, schreckenvoll, lustvoll gemacht, was sie erzeugt hat, ist Leidenschaft, Irrthum und Selbstbetrug; die allerschlechtesten Methoden der Erkenntniss, nicht die allerbesten, haben daran glauben lehren. Wenn man diese Methoden, als das Fundament aller vorhandenen Religionen und Metaphysiken, aufgedeckt hat, hat man sie widerlegt.« KSA II, 110: »[N]och nie hat eine Religion, weder mittelbar, noch unmittelbar, weder als Dogma, noch als Gleichniss, eine Wahrheit enthalten. Denn aus der Angst und dem Bedürfniss ist eine jede geboren, auf Irrgängen der Vernunft hat sie sich in’s Dasein geschlichen; sie hat vielleicht einmal, im Zustande der Gefährdung durch die Wissenschaft, irgend eine philosophische Lehre in ihr System hineingelogen, damit man sie später darin vorfinde: aber diess ist ein Theologenkunststück, aus der Zeit, in welcher eine Religion schon an sich selber zweifelt.« Jaspers fasst die Haltung Nietzsches zur Gottesfrage – die er selbst keineswegs teilt – wie folgt zusammen (KJG I/18, 373): »Nietzsche will ohne Gott leben, weil seine Redlichkeit zu sehen glaubt, daß ohne Selbstbetrug ein Leben mit Gott nicht mehr möglich ist.« 83 Einleitung zur Metaphysikvorlesung, S. 4, DLA, A: Jaspers. 84 Einleitung zur Metaphysikvorlesung, S. 4, DLA, A: Jaspers. 85 Einleitung zur Metaphysikvorlesung, S. 4, DLA, A: Jaspers. 81

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7.3 Jaspers’ Rechtfertigung einer Metaphysik plotinischen Typs

weise als Menschen: »Ich finde mich ursprünglich nicht betrachtend, sondern handelnd in der Welt«86. Es ist folglich unzureichend, »das Sein schlechthin […] als Bestand« zu denken, d.h. als bloßes Objekt abstrakter Verstandeserkenntnis; vielmehr müsse das Sein so gedacht werden, »dass darin die Quelle des Werdens und der Möglichkeit ist, Freiheit«.87 Demnach ist es das Erlebnis meines je eigenen Seins als Freiheit, das mich dahinführt, auch dem Sein selbst in einem gewissen Sinne Freiheit zuzuschreiben. Eine Metaphysik dieser Form verfällt der Nietzsche’schen Kritik dann nicht mehr. Zwar mögen die beschriebenen Selbsttäuschungen vorkommen, dergleichen sei dann psychologisch einsichtig zu machen. Nichtsdes­ toweniger sei »das Transcendente« »gleichsam denaturiert«, wo es zur Beruhigung einer »Furcht und Angst im sinnlichen Dasein um das sinnliche Dasein« werde.88 Ein anderes, existentiell wahrhaftiges Verständnis von Transzendenz ist demnach zumindest möglich. Wenn unser metaphysisches Denken aus der Weise unseres Selbstseins als Menschen entspringt, dann kann es nicht mehr mit Nietzsche als eine Weise der Selbsttäuschung perhorresziert werden. Dies besagt zwar nicht, dass eine Selbsttäuschung mit den Mitteln der Metaphysik unmöglich wäre. Das Wesen der Metaphysik ist Jas­ pers zufolge jedoch keineswegs Selbsttäuschung, sondern vielmehr Selbstklärung, und zwar Selbstklärung aus der Freiheit. Ihr naturge­ mäßer (im Gegensatz zum »denaturierten«) Sinn besteht nicht darin, durch logische Schliche täuschend für eine Kontinuation unseres sinnlichen Daseins zu argumentieren, sondern uns darüber klar zu werden, dass wir als aus dem Seinsursprung mit Freiheit begabte Wesen mehr und anderes sind als dieses sinnliche Dasein. Jaspers kontrastiert zwei komplementäre, aber gleichursprüng­ liche und gleich unentbehrliche Weisen eines solchen Innewerdens der Transzendenz: einerseits in der »Erfahrung meiner Schuld« und »des Bösen in der Welt«, »der Abhängigkeit«, die ich ineins mit meiner Freiheit erfahre, und durch die ich gedrängt bin, dass ich »mich in meiner Freiheit verstehen will«.89 Gerade das Leiden an meiner Unfreiheit und schuldhaften Verstrickung ist es demnach, das mich dazu bringt, mich als wesentlich freies Selbst, mithin als Existenz, zu 86 87 88 89

Einleitung zur Metaphysikvorlesung, S. 4, DLA, A: Jaspers. Einleitung zur Metaphysikvorlesung, S. 4, DLA, A: Jaspers. Einleitung zur Metaphysikvorlesung, S. 3, DLA, A: Jaspers. Einleitung zur Metaphysikvorlesung, S. 5, DLA, A: Jaspers.

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7 Kants kritische Philosophie als Hintergrund von Jaspers’ Plotin-Rezeption

begreifen. Jaspers gibt hier offenbar eine Skizze des Kierkegaard’schen Existenzdenkens.90 Der Weg, den Kierkegaard bahnt, der des Seins­ innewerdens über das Bewusstsein eigener Schuld, ist aber, wie Jaspers betont, keineswegs der einzig gangbare: »Das Wort: Not lehrt beten, ist wohl wahr, aber nicht ausschließend wahr.«91 Nicht nur das Leid – auch das Glück könne eine »Quelle« der Erfahrung des Transzendenten werden, nicht das »sinnliche Glück«, sondern das »Glück, in dem ich mit dem Anderen zu mir selbst komme, in dem das Glück gerade in dem Bewusstsein des Gehalts, des Aufstiegs, des eigentlichen Seins sich vollzieht«.92 Ein solcher Gewinn vertieften Seinsbewusstseins werde erlebt als der Eintritt in eine andere Welt: Ich trete gleichsam aus der Zerstreutheit und Verlorenheit, aus dem Zufall und dem blassen Ablauf in eine Welt, wo ich mir bewusst bin[,] selbst zu sein. Die unbegreifliche Erfüllung, die Gewissheit des Wahren drängen zu einem Sichverstehen, das aus der Welt heraus unmöglich ist. Es ist[,] als ob der Einzelne aus der Heimatlosigkeit in eine ewige Heimat trete.93

Diese Charakterisierung des metaphysischen Seinsbewusstseins durch Jaspers ist offenbar eine Paraphrase von Plotins Enneade IV 8, 1, 1–7, die zum Vergleich hier (in der damals geläufigen Übersetzung von Müller) wiedergegeben sei: Oft wenn ich aus dem Schlummer des Leibes zu mir selbst erwache und aus der Aussenwelt heraustretend bei mir selber Einkehr halte, schaue ich eine wundersame Schönheit: ich glaube dann am festesten an meine Zugehörigkeit zu einer bessern und höhern Welt, wirke kräftig in mir das herrlichste Leben und bin mit der Gottheit eins geworden, ich bin dadurch, dass ich in sie hineinversetzt worden, zu jener Lebensenergie gelangt und habe mich über alles andere Intelligible emporgeschwungen […].94

90 Vgl. Kierkegaard, GWa VII, 212: »Eben weil es ein Existierender ist, der sich dazu [zur ewigen Seligkeit] verhalten soll, aber Schuld der konkreteste Ausdruck der Existenz ist, ist Schuldbewußtsein der Ausdruck für das Verhältnis.« Jaspers zitiert die Stelle in KJG I/6, 261 und kritisiert: »[E]r [Kierkegaard] verabsolutiert das Schuldbewußtsein in der subjektiven Existenz«. 91 Einleitung zur Metaphysikvorlesung, S. 5, DLA, A: Jaspers. 92 Einleitung zur Metaphysikvorlesung, S. 5–6, DLA, A: Jaspers. 93 Einleitung zur Metaphysikvorlesung, S. 6, DLA, A: Jaspers. 94 Plotin, IV 8, 1, 1–7 (Übs. Müller).

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7.3 Jaspers’ Rechtfertigung einer Metaphysik plotinischen Typs

Jaspers’ Paraphrase und Plotins Original ist insbesondere die Gegen­ überstellung der trüben »Außenwelt« mit jener anderen, »höheren Welt« gemeinsam, die keine bloß imaginierte Hinterwelt ist, sondern der Grund je meines Selbstseins, das hier in höchster Klarheit und Gewissheit erfahren wird. Dieser Gedanke ist plotinisch, ebenso wie die Bezeichnung der ›höheren Welt‹ als unserer eigentlichen Hei­ mat.95 Jaspers zufolge ist Metaphysik dieser zweiten Zugangsweise nach der Versuch, »wissend zu erhellen«96, was in der beschriebe­ nen Erfahrung reinen Selbstseins einen Augenblick lang offenbar geworden ist. Sie ist also wesentlich Auslegung eines im weitesten Sinne mystischen Erlebens. Diese Metaphysik ist dann Metaphysik »nicht aus der Not, sondern aus der Fülle – wenn sie dann auch der Not dient«97, nämlich in Zeiten, in denen die glückhafte Erfahrung eigentlichen Selbstseins unzugänglich erscheint. Jaspers’ Aufriss einer Metaphysik des Selbstseins, sei es in der Kierkegaard’schen, sei es in der plotinischen Prägung, steht allerdings vor der Herausforderung der Erkenntniskritik Kants, die alles Wissen von einem Jenseits der Erfahrungswelt, und damit alle in Jaspers’ Sinne metaphysischen Auffassungen als theoretisches Wissen ver­ wirft und vielmehr von einer radikalen Unwissenheit in Bezug auf das Transzendente ausgeht: Es ist nicht etwa eine Ungewissheit im Einzelnen, des etwa blos [sic] möglichen und wahrscheinlichen in der erdachten Hypothese über das Urwesen, den Grund und Sinn des Seins. Es ist die principielle Unmöglichkeit, mit unserer Erkenntnis ein objektives, zwingendes Wissen allgemeingültiger Art vom Ansichsein zu haben.98

Jaspers nimmt diesen kantischen Einwand sehr ernst; er bestreitet ihn nicht, sondern versucht, ihn in sein Metaphysikkonzept zu inte­ grieren. Demnach ist die Metaphysik als Versuch, ein wissenschaft­ liches Wissen vom Übernatürlichen zu erwerben, zum Scheitern verurteilt: »Die Metaphysik als Wissenschaft wird, weil sie unmög­ lich ist, schlechthin verneint.«99 Diese kritische Selbstbeschränkung muss für Jaspers Voraussetzung jeder künftigen Metaphysik sein: 95 96 97 98 99

S.o., Abschn. 2.1. Einleitung zur Metaphysikvorlesung, S. 6, DLA, A: Jaspers. Einleitung zur Metaphysikvorlesung, S. 6, DLA, A: Jaspers. Einleitung zur Metaphysikvorlesung, S. 7, DLA, A: Jaspers. Einleitung zur Metaphysikvorlesung, S. 7, DLA, A: Jaspers.

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7 Kants kritische Philosophie als Hintergrund von Jaspers’ Plotin-Rezeption

»Diese Unmöglichkeit [der Metaphysik als Wissenschaft] aufgezeigt zu haben[,] ist einer [sic] der grossen negativen Errungenschaften Kants, die die Voraussetzung für jede wahre metaphysische Positivität ist, welche ohne Selbsttäuschung bleiben will.«100 Hieraus wird andererseits klar, dass die Möglichkeit einer gehalt­ vollen, ›positiven‹ Metaphysik für Jaspers durch Kant nicht prinzipi­ ell destruiert ist, solange diese nicht beansprucht, als Wissenschaft aufzutreten. Dies beweise schon die Tatsache, dass Kant selbst drei metaphysische Postulate formuliert, die zwar nicht theoretisch bewie­ sen werden können, wohl aber anzuerkennen sind, wenn Moralität möglich sein soll: Freiheit, Unsterblichkeit und Gott.101 Jaspers hat gegen diese kantische Postulatenlehre und seine dahinterstehende Lehre vom höchsten Gut allerdings große Vorbehalte: Es handle sich um einen »sonderbar rationalistisch und eudämonistisch anmu­ tenden Gedankengang«102. Die Postulatenlehre bleibe hinter dem üblichen Niveau Kants zurück. »Kants Postulate sind an Gehalt arm, sie sind Geist des 18. Jahr[hunderts], nicht spezifisch Kant«103. Die Postulatenlehre Kants ist somit nicht an sich für Jaspers’ Projekt einer Erneuerung der Metaphysik relevant, sondern nur insofern, als sie aufzeigt, dass, auch wenn die Möglichkeit einer Metaphysik aus theoretischer Erkenntnis nach Kant destruiert ist, eine Metaphysik möglich bleibt, die ihre Grundlage in der Gewissheit der menschlichen Freiheit hat. In diesem Sinne stellt Jaspers fest: Nur einen Punkt kennt Kant, in dem wir uns aller Erscheinungswelt gegenüberstellen, und von ihr uns in irgendeinem Sinn unabhängig wissen: in unserer Freiheit […] Also werden wir in der Erkenntnis dieser Freiheit über die Welt hinaus ins Unbedingte, Ansichseiende gelangen. Dies ist in der Tat der nach Kant allein übrig bleibende Punkt für den Ansatz einer Metaphysik.104

Die in der Freiheit gegründete neue Metaphysik dürfe dann auch über Kants Postulate hinausgehen: »[W]enn nur ein Schritt dieser Art erlaubt wird, [ist] kein Grund [...], anzuhalten«105. Zwar behaupte

100 101 102 103 104 105

Einleitung zur Metaphysikvorlesung, S. 7, DLA, A: Jaspers. Einleitung zur Metaphysikvorlesung, S. 10, DLA, A: Jaspers. Einleitung zur Metaphysikvorlesung, S. 11, DLA, A: Jaspers. Einleitung zur Metaphysikvorlesung, S. 11, DLA, A: Jaspers. Einleitung zur Metaphysikvorlesung, S. 9, DLA, A: Jaspers. Einleitung zur Metaphysikvorlesung, S. 11, DLA, A: Jaspers.

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7.3 Jaspers’ Rechtfertigung einer Metaphysik plotinischen Typs

Kant oft, eine »positive Darstellung des Übersinnlichen«106 sei unmöglich. Dagegen zeige die Postulatenlehre, dass »Kants absolute Verneinung jeder Metaphysik von ihm selbst nicht durchgeführt ist«107. Kant lässt, so scheint es, gerade genug Raum für eine Meta­ physik, wie sie Jaspers vorschwebt, die Metaphysik eines unwissbaren Absoluten, das als der Grund unserer Freiheit sowohl in der Erfah­ rung der Schuld wie im glückhaften Selbstsein ungegenständlich gewahrt wird. Ist Freiheit als der Ansatzpunkt jeder künftigen Metaphysik etabliert, so stellt dieser Ansatz für Jaspers zugleich den angemesse­ nen Schlüssel zur Deutung der großen Metaphysiker der Vergangen­ heit dar: Gibt es für uns noch Metaphysik, so wird ihr Weg über die Existenz führen. Haben wir darin das Wahre, so wird der Weg von jeher darüber geführt haben. Daraus entspringt die Aufgabe der Interpretation ver­ gangener Metaphysik, die wir überhaupt erst aneignen, wenn wir sie als Erhellung der Existenz in ihrer Transzendenz sehen […].108

In dieser Weise sei es möglich, mit der vergangenen Metaphysik »in Communikation [zu] treten« und ihr »zugleich in wahrer Weise fremd [zu] bleiben«, offenbar vor allem insofern als die betreffende Metaphysik den Status zwingender wissenschaftlicher Erkenntnis beansprucht.109 Unter dieser Bedingung sei es dann auch möglich, die Wahrheit einer solchen Metaphysik »für uns zu ergreifen«110. Von dieser Grundlage her will Jaspers in seiner Metaphysikvorlesung »an einem grossen Beispiel«, dem Beispiel Plotins, »eine wirklich gedachte Metaphysik [vergegenwärtigen]«.111 Im Vorigen konnte gezeigt werden, wie Jaspers’ Kantianismus sich auf seine Plotin-Rezeption auswirkt. Zweifellos ist Kant derjenige Denker, der Jaspers’ Philosophie insgesamt am meisten beeinflusst hat, auch wenn Jaspers sich bei ihm, wie bei anderen großen Philo­ sophen, nicht scheut, Grenzen zu benennen. Von Kant haben wir Jaspers zufolge zu lernen, dass alles Sein für uns nur Erscheinung 106 107 108 109 110 111

Einleitung zur Metaphysikvorlesung, S. 9, DLA, A: Jaspers. Einleitung zur Metaphysikvorlesung, S. 11, DLA, A: Jaspers. Einleitung zur Metaphysikvorlesung, S. 14, DLA, A: Jaspers. Einleitung zur Metaphysikvorlesung, S. 14, DLA, A: Jaspers. Einleitung zur Metaphysikvorlesung, o.S., DLA, A: Jaspers. Einleitung zur Metaphysikvorlesung, o.S., DLA, A: Jaspers.

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7 Kants kritische Philosophie als Hintergrund von Jaspers’ Plotin-Rezeption

ist, während ein Sein an sich uns auf theoretischer Grundlage nicht zugänglich wird. In der Immanenz tritt uns alles Seiende in der Subjekt-Objekt-Spaltung entgegen. An den Grenzen dieser Spaltung werde zwar schon bei Kant ein Umgreifendes fühlbar. Allerdings entwickle er hieraus keine gehaltvolle Metaphysik der Transzendenz. Eine solche sei daher, im Ausgang von den kantischen Einsichten und in Auseinandersetzung mit der Geschichte der Philosophie, neu zu konzipieren. Die einzig mögliche Grundlage hierfür sieht Jaspers im menschlichen Freiheitsbewusstsein, das auch Kant selbst als einen Ansatzpunkt metaphysischen Denkens gelten lasse. Hierauf aufbauend sieht Jaspers (zumindest) zwei Zugänge zur Metaphysik, den der Not, der Grenzsituation, insbesondere der Schuld, und den des Glücks, des im Aufschwung erfahrenen wahren Selbstseins. Letzteren konzipiert Jaspers, wie seine enge Anlehnung an Enneade IV 8, 1 zeigt, in Orientierung an Plotin. Plotins Metaphysik kann demnach, weil sie eine Metaphysik der Freiheit ist und ihren Ausgang von einer Erfahrung existentiellen Selbstseins nimmt, jedenfalls insofern der kantischen Metaphysikkritik standhalten.

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8 Existenz im Aufstieg zum Einen

Nachdem in den vorangehenden Kapiteln wesentliche Voraussetzun­ gen von Jaspers’ Plotin-Rezeption geklärt werden konnten, sollen nun zentrale Konzepte seiner Philosophie auf ihre Verwandtschaft mit dem Denken Plotins hin untersucht werden. Zunächst soll Jaspers’ Entwurf eines Aufstiegswegs der Existenz zum transzendenten Einen thematisiert werden. Der Gedanke eines solchen Aufstiegs ist von zentraler Bedeutung für Jaspers’ im engeren Sinne existenzphiloso­ phisches Denken und stellt dessen entscheidendes Bindeglied zu sei­ ner Metaphysik dar. Zugleich lehnt Jaspers sich hier in offensichtlicher Weise an neuplatonische, insbesondere plotinische Denkfiguren an.

8.1 Grundzüge von Jaspers’ Existenzphilosophie Da die Bedeutung des Aufstiegsgedankens für Jaspers allein aus dem Gesamtkonzept seiner Existenzphilosophie verständlich wird, sei diese eingangs in einigen Grundzügen vergegenwärtigt: Unter Existenzphilosophie versteht Jaspers ein »alle Sachkunde nutzende[s], aber überschreitende[s] Denken, durch das der Mensch er selbst werden möchte.«1 Es handelt sich bei dieser Philosophie also nicht um eine Weise wissenschaftlicher Forschung – auch wenn sie die Erkenntnisse der Wissenschaften berücksichtigt –, um keine Ontolo­ gie, ja gar nicht um ein primär intellektuell interessiertes Denken. Wenn die existenzphilosophische Reflexion sich auf die menschliche Person, ihre Situation in der Welt und ihren Gottesbezug richtet, so genügt dieses Philosophieren nicht sich selbst, sondern steht im Dienst einer Wandlung des Menschen – einer Wandlung, durch die dieser nicht ein anderer, sondern allererst er selbst werden soll. Hinter diesem Anliegen steht die durchaus nicht selbstverständ­ liche und vielleicht irritierende Feststellung, dass der Mensch in 1

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8 Existenz im Aufstieg zum Einen

seiner »empirische[n] Individualität«2 – oder, wie Jaspers sagt, als Dasein – keineswegs immer schon ›er selbst‹ ist. Als bloßes Dasein steht er vielmehr unter dem Einfluss »psychische[r] Mächte«, die der Verwirklichung authentischen Selbstseins immer auch entgegenste­ hen: »libido, Angst, Sorge, Machtwille, Todesangst und Todestrieb«.3 Dagegen sieht Jaspers im Gewissen diejenige Instanz im Menschen, die ihn zur Selbstwerdung aufruft.4 Ursprung der Stimme des Gewis­ sens ist nach Jaspers das »Wesen«5 oder das »eigentliche Selbst«6 des Menschen, das sich durch sie im Dasein zur Geltung bringt. Zumeist bezeichnet Jaspers dieses eigentliche Selbst mit einem Ausdruck Kierkegaards als Existenz.7 Wenngleich die Stimme des Gewissens in der Existenz begründet und somit nicht unmittelbar eine Stimme Gottes ist, hat der Gewissensruf, wie im nächsten Abschnitt vertieft werden soll, sein Gewicht doch erst angesichts der Gottheit.8 Weil er Existenz verwirklichen kann, ist jeder Mensch für Jaspers im Dasein zugleich »mögliche Existenz«9. Existenz schlechthin ist er dagegen nur im aktualen Selbstsein und nicht dauernd, sondern in augenblickhafter Vollendung. Die Verwirklichung der Existenz im Dasein bezeichnet Jaspers als Freiheit.10 Freiheit ist also keineswegs bloße Willkür, auch wenn sie das willkürliche Entscheidenkönnen als ein Moment voraussetzt; sie ist vielmehr eine Weise der Selbstbe­ stimmung: »Unter Freiheit des einzelnen Menschen verstehen wir das Selbstdenken und das Handeln aus eigener Einsicht und damit die Führung des Lebens in der Kontinuität des eigenen Wesens.«11 Die Existenz, die sich dergestalt im Dasein verwirklicht, ist Jaspers zufolge selbst kein Dasein, wie Kants intelligibles Selbst oder die höhere Seele Plotins gehört sie einer anderen, transzenden­ ten Sphäre an,12 ohne doch schlechthin transzendent zu sein, wie Ph I, 14. Ph I, 12. 4 Ph II, 268. 5 Ph II, 46 u.ö. – Anders als für Sartre (EH, 148) ist Existenz für Jaspers also keineswegs ein Gegenbegriff zu ›Essenz‹ oder ›Wesen‹. 6 Ph II, 49 u.ö. 7 Ph I, 15. Zu Jaspers’ Existenzbegriff vgl. Hersch 1986. 8 Ph II 272; vgl. ebd., 198; s.u., Abschn. 8.2. 9 Ph I, 14 u.ö. 10 Zu Jaspers’ Freiheitsbegriff vgl. Batthyány 2011; Sitzler 2012, bes. 128–180; Ratzsch 2018b; ders. 2019, bes. 317–325. 11 RA 345. 12 W 49. 2

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8.1 Grundzüge von Jaspers’ Existenzphilosophie

es Jaspers zufolge allein die Gottheit ist.13 Die Existenz kann für Jas­ pers, der unter Berufung auf Kant jede spekulative Erkenntnis eines Übersinnlichen ablehnt,14 nicht Gegenstand eines Wissens werden. Insofern ist Existenz, die für die philosophische Reflexion der Inbe­ griff menschlichen Selbstseins ist, für die wissenschaftliche Psycho­ logie und Psychiatrie ein bloßer Grenzbegriff, der markiert, was ihnen nicht zugänglich wird.15 Die Wirklichkeit der Existenz und ihr Anspruch an uns wird Jas­ pers zufolge vor allem in den sogenannten Grenzsituationen erfahren: angesichts von Tod, Leid, Kampf und Schuld. Hier wird uns die radi­ kale Limitiertheit unseres Daseins am denkbar schärfsten bewusst. Daher können uns die Grenzsituationen in Verzweiflung stürzen. Das Entscheidende ist für Jaspers dabei aber, dass diese Grenzsituationen keineswegs nur niederdrückend sind. Indem sie dem Menschen als Dasein seine Grenze aufweisen, deuten sie vielmehr auf ein anderes, das mehr ist als Dasein, auf Existenz und Transzendenz.16 Wenngleich Existenz Jaspers zufolge der gegenständlichen Erkenntnis entzogen bleibt, nimmt er eine Art existentielles Selbstbe­ wusstsein an, durch das wir der Existenz in unobjektivierbarer Weise innewerden. Jaspers bezeichnet dieses als absolutes Bewusstsein und versteht darunter einen »Widerschein«17 der Existenz im Daseinsbe­ wusstsein. Dem absoluten Bewusstsein eignet Jaspers zufolge ein konstitutiver Transzendenzbezug, der sich positiv als eine Erfahrung des Aufstiegs zur Transzendenz oder negativ als ein Bewusstsein des Abfalls von ihr manifestiert.18

W 109. Vgl. AZM 409: »Es gibt kein spekulatives Wissen von übersinnlichen Gegenstän­ den. Wo hier ein Wissen als Erkennen von etwas sich befestigen will, bringt es den vermeintlich Wissenden um seine Freiheit. Aber die Frage bleibt, auf welche einzige, unersetzliche Weise in spekulativen Denkvollzügen, ohne Erkenntnis von etwas, eine Vergewisserung im inneren Handeln des so Denkenden stattfindet.« Für Jaspers’ dies­ bezügliche Berufung auf Kant vgl. W 393; s. auch oben, Abschn. 6.3 und 7.1. 15 Vgl. Lehnert 2006. 16 Vgl. Ph II, 203: »Grenze drückt aus: es gibt ein anderes, aber zugleich: dies andere ist nicht für das Bewusstsein im Dasein.« 17 Ph II, 257 u.ö. 18 Ph III, 83. 13

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8 Existenz im Aufstieg zum Einen

8.2 Der Transzendenzbezug des Gewissens In besonders einleuchtender Weise zeigt sich der Transzendenzbezug der menschlichen Existenz nach Jaspers im Phänomen des Gewissens. In Anlehnung an Kant bezeichnet Jaspers den Aufruf, der sich vom Gewissen an den Menschen als Dasein richtet, als eine »unbedingte Forderung«19, also als kategorischen Imperativ. Anders als für Kant ist die Forderung des Gewissens Jaspers zufolge aber keine dem Gehalt nach allgemeine, sondern eine jeweils besondere für jeden Einzelnen. Dennoch lässt sie sich in einer allgemeinen Formulierung aussagen. Eine Handlung entspricht demnach ebendann der Forderung des Gewissens, wenn der Einzelne bereit ist, sich vorbehaltlos mit ihr zu identifizieren, dergestalt, »daß ich das, was ich in meinem Tun bin, ewig sein will.«20 Diese Formulierung macht bereits deutlich, dass die unbedingte Forderung einen Bezug auf das Ewige und damit auf das Transzendente impliziert. Sie ergeht zwar von der Existenz an das Dasein; was dem Einzelnen als Existenz wesentlich ist, wird ihm aber erst vor dem Horizont der Transzendenz offenbar. Die unbedingte Forderung tritt an mich heran als die Forderung mei­ nes eigentlichen Selbst an mein Dasein, dessen, was ich gleichsam ewig vor der Transzendenz bin, an die Zeitlichkeit meines gegenwärti­ gen Lebens.21

Für Jaspers ist die Orientierung am Transzendenten somit die ent­ scheidende Voraussetzung für das existentielle Zusichkommen des Menschen. Lebte ein Mensch in der Überzeugung, sein Tun habe keine ewige Bedeutung über das endliche Dasein hinaus, so würde er sich diesem ganz verschreiben, würde im bloßen Dasein aufgehen und sich selbst darüber verlieren. Vor der Transzendenz dagegen werden alle endlichen Daseinsinteressen hinfällig; es zählt allein, angesichts dieses Absoluten je ›ich selbst‹ zu sein.22 Ohne Transzendenzbezug wäre der Wille des Einzelnen daher der Beliebigkeit preisgegeben, ein eigentliches Wollen im Bewusstsein der damit verbundenen Verantwortung würde unmöglich: »Wenn keine Transzendenz wäre, KJG I/12, 30. Ph II, 269. 21 KJG I/12, 32. 22 Dies betont Jeanne Hersch (1986, 50): »Eine existentielle Entscheidung schöpft ihre Kraft daraus, daß sie nicht willkürlich, sondern gerade notwendig angesichts eines Gegenübers vollzogen wird, das absolut ist.« 19

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8.2 Der Transzendenzbezug des Gewissens

so wäre die Frage, warum ich dann wollen sollte; es wäre doch nur noch Willkür ohne Schuld. Ich kann in der Tat nur wollen, wenn Transzendenz ist.«23 Mit dieser Einschätzung verbindet Jaspers in den frühen 1930er-Jahren auch konkrete politische Befürchtungen: »Es gibt keinen Gott, ist der anschwellende Ruf der Massen. Damit wird aber auch der Mensch wertlos, in beliebiger Zahl hingemordet, weil er nichts ist.«24 Seine spätere Auseinandersetzung mit dem Existentialismus Sartres bestätigt Jaspers in der Überzeugung, dass unser Leben uns ohne den Bezug auf Transzendenz schlechthin absurd erscheinen und wir selbst moralisch und existentiell orientierungslos werden müss­ ten. Seinen Gegensatz zu Sartre beschreibt Jaspers daher wie folgt: Der eine schwelgt in der Feststellung des Absurden in allem Dasein, der Herrschaft des Schrecklichen oder des Ekligen, des Perversen und des Verzweifelten (es bleibt nur das Standhalten vor dem Nichts, die Freiheit des Ertragenkönnens im Mittun des Absurden). Der andere findet in der Grenzsituation des Widersprechenden, Unlösbaren, Aus­ weglosen, im Scheitern selbst den Aufschwung zum Innewerden des transzendenten Seins.25

Jaspers’ Festhalten am Transzendenzbezug als der einen unerläss­ lichen Bedingung für das Zusichkommen der Existenz und seine entsprechend scharfe Ablehnung des Sartre’schen Atheismus charak­ terisieren ihn als theistischen Existenzphilosophen.26 In diesem zen­ tralen Punkt scheint seine Auffassung geradezu mit der Kierkegaards zu koinzidieren.27 Dieser ist fraglos eine maßgebliche Quelle der Jaspers’schen Existenzphilosophie, wenngleich Jaspers Kierkegaard durchaus nicht kritiklos gegenübersteht.28 So denkt Jaspers Gott in Ph II, 198. GSZ 145. 25 KJG I/8, 177; vgl. dazu Hügli 2015. 26 S.o., Kap. 1. 27 Vgl. Kierkegaard, GWb XXIV/XXV, 10: »Folgendes ist nämlich die Formel, welche den Zustand des Selbsts beschreibt, wenn die Verzweiflung ganz und gar ausgetilgt ist: indem es sich zu sich selbst verhält, und indem es es selbst sein will, gründet sich das Selbst durchsichtig in der Macht, welche es gesetzt hat.« Dazu Thurnher /Hackel 2015, bes. 56–57, dort auch zur Differenz Sartre gegenüber. 28 Für Jaspers’ Aneignung des Kierkegaard’schen Existenzdenkens s. KJG I/6, 382– 394 u.ö.; für sein reifes Kierkegaard-Bild APol 296–329 (drei Aufsätze zu Kierkegaard aus den Jahren 1951–1964); zu Jaspers’ Kierkegaard-Kritik s. Ph I, XX; Einf 159; dazu Pasqualin 2018/19, bes. 59–63. 23

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8 Existenz im Aufstieg zum Einen

bewusster Abgrenzung auch zu Kierkegaard nicht von der christlichen Offenbarung her als ein personales Gegenüber, sondern, unter Beru­ fung auf die Denker der philosophia perennis29, als ein der Vernunft offenbares »Maß aller Dinge« (pantōn chrēmatōn metron)30. Jaspers’ Verständnis des existentiellen Transzendenzbezugs ist, wie sich im Folgenden zeigen wird, maßgeblich durch diese Vorentscheidung geprägt.

8.3 Selbstsein als Geschenk der Transzendenz In der unbedingten Forderung spricht sich Jaspers zufolge der Anspruch der Existenz an das endliche Dasein aus. Sie ist aber noch nicht selbst die Verwirklichung der Existenz. Diese erfolgt vielmehr im existentiellen Entschluss, in dem der Einzelne augenblickhaft begreift, was das in ›dieser‹ konkreten Situation von ihm Geforderte, das ›hier und jetzt‹ einzig Richtige ist, und in dem er zugleich den festen Willen fasst, dieses Geforderte in die Tat umzusetzen. Ein sol­ cher Entschluss ist Jaspers zufolge mit einem Gefühl unvergleichlicher Klarheit und Selbstgegenwart verbunden: Ich will nicht nur wissen, was da ist, in Grund und Gegengrund, sondern aus der Unbegründbarkeit eines Ursprungs wissen, und habe handelnd Augenblicke, in denen ich mir gewiß werde: was ich jetzt will und tue, das will ich eigentlich selbst.31 Aus aller Reflexion geht er [der eigentlich existierende Mensch; d. Verf.] als wieder eigentlich selbst hervor, wenn er auch Zerrissenheit, Ungewißheit, Ratlosigkeit durchschreiten muß. Er kommt zu sich und weiß nicht wie. Doch kann seine unablässige Anstrengung sich selbst nicht erzwingen; er kommt zu sich wie ein Geschenk: es wird klar, es wird offenbar, nun ist es entschieden, nun ist es so unausweichlich und einfach – wie konnte so lange der Zweifel möglich sein! Selbstreflexion ist aufgehoben zum faktischen Existieren.32

Dass der Mensch sich, wie beschrieben, im existentiellen Entschluss geschenkt ist, ist für Jaspers zunächst eine elementare Erfahrung; sie Siehe hierzu oben, Kap. 1 und Abschn. 5.1. Platon, Leg. IV, 716c, zitiert bei Plotin, VI 8, 18, 3. Zu Jaspers’ Adaption dieses Gedankens s.u., Abschn. 8.3 und 8.4. 31 Ph I, 13. 32 Ph II, 44. 29

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8.3 Selbstsein als Geschenk der Transzendenz

ist nicht weiter ableitbar, sondern nur deutbar im Licht philosophi­ scher und religiöser Traditionen. Es mag paradox erscheinen, dass es für Jaspers gerade das Selbstsein ist, das wir nicht selbst hervorbringen, sondern nur als Gabe empfangen können. Wenn zugrunde gelegt wird, dass dieses Selbstsein kein absolutes ist, sondern eines, das im Dasein immer nur annähernd oder augenblickhaft zu verwirklichen ist, ist Jaspers’ Auffassung aber nur folgerichtig. Anders als für den Existentialismus Sartres, dem Jaspers vorwirft, Existenz zu verabsolutieren,33 ist die menschliche Freiheit für Jaspers ja keineswegs unbedingt, keineswegs selbstbegründet; vielmehr ist sie wesenhaft beschränkt und verwirk­ licht sich im bewussten Annehmen dieser Beschränktheit. Zu Recht ist sie daher eine spezifisch »geschöpfliche Freiheit«34 genannt worden – im Gegensatz zur absoluten Freiheit Gottes und der ebenso absoluten vermeintlichen Freiheit des Sartre’schen Subjekts. Hierfür lässt sich neben der Qualität der Erfahrung auch ein naheliegendes systema­ tisches Argument anbringen: Wären wir selbst die Quelle unseres Selbstseins, so würde uns dieses nicht immer wieder entgleiten. Erfahrungen des Selbstverlusts und der Selbstentfremdung würden uns dann erspart bleiben. Jaspers denkt das Sichgeschenktsein der Existenz unweigerlich als ein Sichgeschenktsein von der Transzendenz. Aus systematischer Perspektive scheint dieser Gedanke deshalb unumgänglich, weil kein immanent Seiendes die Existenz mit der ihr eigenen, weltüberlegenen Freiheit begaben könnte.35 Auch aus dieser Perspektive hat mensch­ liche Existenz für Jaspers ihren einzig denkbaren Grund in der Trans­ zendenz. Bezogen auf dieses Begründungsverhältnis kann Jaspers in Form einer Chiffre von einem transzendenten Willen sprechen, der die existentielle Freiheit gewollt und ins Sein gesetzt hat: Es [das Selbst] ist sich bewußt, von einer Transzendenz abhängig zu sein, die das Äußerste, was möglich scheint: ein freies Selbstsein, das sich selbst Ursprung wird, gewollt hat als ein Sein, das in der Vergänglichkeit zeitlichen Daseins zur Erscheinung kommt.36 Ph I, XXIII. Sitzler 2012, 187 u.ö. 35 Vgl. W 692: »Die absolute Transzendenz des Einen Gottes aber kommt aus der Weltüberlegenheit und bringt Weltüberlegenheit hervor.« Zur Bedeutung dieses Hervorbringens s.u. in diesem Abschnitt. 36 Ph II, 49. 33

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8 Existenz im Aufstieg zum Einen

Dass der Mensch sich gerade in seiner Freiheit durch Transzendenz gegeben ist, kann als das zentrale Axiom der Jaspers’schen Philoso­ phie gelten. Verschiedene Formulierungen seien im Folgenden aufge­ führt: Wie ich nicht da bin ohne die Welt, bin ich nicht ich selbst ohne Transzendenz. Wohl werde ich durch meine eigene Entscheidung selbst Grund, ich bringe mich im vernünftigen Erkennen und autonomen Handeln hervor. Als der Ursprung meines Selbstseins wird mein durch diese Vernunft erleuchtetes Sein in der Erscheinung nur so, dass ich mir darin zugleich gegeben bin; mir gegeben als der empirische Stoff meines soseienden Daseins, mit dem ich mich aufzubauen habe, werde ich in dem Ursprung, in dem ich mir frei entgegenkomme, geschenkt. Ich stehe vor der Transzendenz, die nicht als Dasein in der Welt mir begegnet […].37 Denn der Existenz, und nur ihr, […] erscheint als ein Höheres die Transzendenz, ohne die sich Existenz ihrer selbst nicht gewiss wird. […] Es ist das Wesen der Existenz, dass in ihr, zu ihr gehörig, ein Über-sie-Hinaus ist.38 Wo ich eigentlich ich selbst war, im Wollen, war ich mir in meiner Freiheit zugleich gegeben.39 Transzendenz als das eigentliche Sein ist nicht wie Existenz die Freiheit, sondern der Grund der Freiheit, das Sein, das diese Freiheit der Existenz […] möglich macht.40 [D]as Umgreifende, das wir sind, ist nicht aus sich selbst begreifbar, sondern weist auf ein Anderes, durch das es ist, am reinsten für die Existenz, die in ihrer Freiheit sich geschenkt weiß, und die, je heller sie sich wird, desto entschiedener vor der Transzendenz steht, durch die sie ist […].41 Transzendenz ist für Existenz das Andere, an dem sie ihren Halt hat. Wo ich eigentlich ich selbst bin, bin ich es nicht durch mich selbst. Wo ich eigentlich ich selbst bin, weiß ich, daß ich mir geschenkt werde. Je entschiedener meine Freiheit mir bewußt wird, desto entschiedener auch die Transzendenz, durch die ich bin. Ich bin Existenz nur in eins

37 38 39 40 41

Ph II, 48–49. Ph II, 144–145. Ph II, 199. Ph III, 65. W 84.

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8.3 Selbstsein als Geschenk der Transzendenz

mit dem Wissen um Transzendenz als um die Macht, durch die ich ich selbst bin.42

All diese Formulierungen besagen – teils implizit, teils explizit –, dass Transzendenz der Grund existentiellen Selbstseins ist. Die genaue Natur dieses Begründungsverhältnisses ist freilich nicht leicht zu ver­ stehen. In der Forschung hat es sich als hilfreich erwiesen,43 es in den Begriffen der klassischen, aristotelisch-scholastischen Ursachenlehre zu analysieren, deren im Gegensatz zu ›modernen‹ Auffassungen rei­ cherer Ursachenbegriff besser geeignet scheint, sich dem von Jaspers gemeinten Sinn anzunähern. Aristoteles unterscheidet bekanntlich zwischen Materialursache (causa materialis), Formursache (causa formalis), Wirkursache (causa efficiens) und Zielursache (causa fina­ lis).44 Die Neuplatoniker haben diese Liste bereichert, indem sie die paradigmatische Ursache (causa exemplaris) von der immanenten Formursache unterschieden haben.45 Als Materialgrund oder als immanente Formursache der Exis­ tenz lässt sich Transzendenz nicht deuten. Denn beides würde bedeu­ ten, dass Transzendenz ein Teil oder ein Aspekt menschlicher Existenz wäre. Jaspers verneint Derartiges aber entschieden. Zwar ist Trans­ zendenz in der existentiellen Freiheit gegenwärtig,46 sie ist aber nicht real Teil von uns. Im Sinne der Jaspers’schen Metaphysik ist unser Sein vom Sein der Transzendenz vielmehr durch den Abgrund getrennt, dass dieses das Sein schlechthin, unser Sein dagegen das eines beson­ deren, vom Seinsursprung abhängigen Seienden ist. Insofern ist Transzendenz für uns in der Tat »das schlechthin Andere«.47 Diese Differenz ist Jaspers zufolge niemandem so bewusst wie dem eigent­ lich Existierenden, der seine Abhängigkeit von der Transzendenz am radikalsten erfährt.48

W 110. Szczepanik 2005, 79. 44 Vgl. Aristoteles, Metaph. Δ 2; ders., Phys. II 3. 45 Vgl. Steel 2003; zur Exemplarkausalität in der philosophischen Theologie der Gegenwart Brugger 1979, 132–136. 46 Ph II, 199. 47 W 108: »Transzendenz ist das schlechthin Andere. Gemessen an der Seinsweise von Weltsein ist sie zwar nichts, aber dies Nichts ist das eigentliche Sein, an dem gemessen alles Weltsein ein nur zweites Sein, nicht in sich selbst gegründetes Sein ist.« Vgl. W 110: »Transzendenz ist für Existenz das Andere, an dem sie ihren Halt hat.« 48 Ph II, 145; ebd., 199; Ph III, 65. 42

43

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8 Existenz im Aufstieg zum Einen

Dagegen lässt sich wohl sagen, dass Transzendenz die causa efficiens unserer Freiheit ist. Hierauf deutet Jaspers’ allerdings gleich­ nishafte Rede von einem transzendenten Willen, der unser Selbstsein gewollt und ins Sein gesetzt hat, ebenso wie die Metapher des Sichgegebenseins. Auch die von Jaspers gebrauchte Analogie Dasein : Welt = Existenz : Transzendenz,

das heißt, wie der Mensch sich in seinem Dasein Vorgängen in der Welt verdankt, so verdankt er sich als Existenz in seiner Freiheit der Transzendenz, weist auf ein Verständnis im Sinne einer Wirkursache. Ferner kann die Transzendenz als die Exemplarursache unserer Freiheit verstanden werden: In diesem Sinne ist die Transzendenz Maß und Urbild dieser Freiheit. Daher kann Jaspers sagen, Transzen­ denz habe ihre »verschwindende Erscheinung«49 im freien Selbstsein des Menschen. »Die absolute Transzendenz des Einen Gottes […] kommt aus der Weltüberlegenheit und bringt Weltüberlegenheit hervor«50, so Jaspers. Das heißt, die relative Überlegenheit, die wir als freie und selbstbewusste Subjekte allen bloßen Gegenständen gegenüber haben, ist die abbildhafte Spiegelung einer absoluten, göttlichen Weltüberlegenheit. Diese Spiegelung aber ist notwendig defektiv. Vor der Transzendenz ist die menschliche Freiheit »noch ein Niederes« 51. Dies zeigt sich nicht zuletzt darin, dass der Mensch nur die Möglichkeit hat, Freiheit zu verwirklichen, während in der Transzendenz Freiheit und Notwendigkeit zusammenfallen.52 Die Transzendenz ist frei, ohne sich wählen zu müssen: »[S]ie entbehrt der Möglichkeit des Entscheidens, nicht aus Mangel, sondern umge­ kehrt, weil Entscheidungsmöglichkeit ein Mangel der Existenz im Zeitdasein ist«53. Schließlich, und vor allem, aber ist die Transzendenz als der Grund menschlichen Selbstseins im Sinne einer causa finalis zu denken.54 Im existentiellen Entschluss verwirklicht sich menschliches Dasein als Existenz, es wandelt sich, überwindet die Zerstreuung in sich, wird sich »selbstgegenwärtig« und hierdurch »zusammenge­ 49 50 51 52 53 54

Ph II, 199. W 692. Ph II, 200. S.u., Abschn. 10.4. Ph III, 9. So auch Szczepanik 2005, 79.

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8.3 Selbstsein als Geschenk der Transzendenz

faßt in das Wesentliche«.55 Was diesen Prozess des Einswerdens ermöglicht, ist Jaspers zufolge nichts anderes als die Transzendenz, die, gedacht als die absolut Eine, zum Ziel eines »Aufstieg[s]« oder »Aufschwung[s]« des Menschen wird.56 Jaspers’ Konzept eines Auf­ stiegs zur Transzendenz ist damit dem Aufstiegsgedanken der plotini­ schen Philosophie äquivalent, durch welche der Philosophierende sich schrittweise dem Einen verähnlicht und hierdurch schließlich bereit wird, das Eine selbst zu erfahren.57 Wie die menschliche Seele nach Plotin zum Einen strebt, ist der Drang zum Einen für Jaspers ein konstitutives Merkmal der sich im Dasein zur Erscheinung bringenden Existenz: Wir sind mögliche Existenz: Wir leben aus einem Ursprung, der über das empirisch objektiv werdende Dasein […] hinaus liegt. Dieses unser Wesen gibt sich kund: […] in dem unablässigen Drang zum Einen; denn der Mensch ist nicht zufrieden in einer Weise des Umgreifenden für sich [d.h. in einem besonderen Seinsmodus; d. Verf.], nicht in allen zusammen, sondern er drängt auf die Einheit im Grunde, die allein das Sein und die Ewigkeit ist […].58

Der Kerngedanke ist dabei, dass Freiheit, dieses Merkzeichen der Existenz, nichts anderes ist als die Einheit des Daseins mit der sich in ihm zur Erscheinung bringenden Existenz. Freiheit ist Selbstbestim­ mung, Selbstbestimmung aber bedeutet, dass Bestimmendes und Bestimmtes in Einklang kommen und der Mensch mit sich selbst eins wird. Jaspers zufolge ist dies nun keinem Menschen bloß von sich aus möglich, sondern einzig durch die ihm aus dem Einen entgegenkommende Führung und Zugkraft: Das Wesentliche ist, daß der Mensch als Existenz in seiner Freiheit sich geschenkt erfährt von der Transzendenz. Dann wird die Freiheit des Menschseins der Kern aller seiner Möglichkeiten in der Führung durch die Transzendenz, durch das Eine zu seiner eigenen Einheit.59

Die Eine Gottheit wird so als der Grund existentiellen Selbstseins, die Selbstwerdung des Menschen aber als ein Einswerden und Ein­ fachwerden seiner selbst konzipiert. Dieses Einfachwerden ist dann 55 56 57 58 59

Ph III, 83. Ph III, 83. S.o., Abschn. 2.1. KJG I/12, 22. KJG I/12, 50–51.

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8 Existenz im Aufstieg zum Einen

nicht allein seine Verwirklichung als Existenz, es ist als Selbstver­ wirklichung gleichsam eine Begegnung oder – wie schon Plotin sich ausdrückte60 – eine Berührung mit dem Einen: Wird mir als möglicher Existenz im Dasein das Eine offenbar, mit dem identisch werdend ich zu mir selbst komme, dann treffe ich aus seiner Erscheinung auf das undenkbar Eine des einen Gottes.61

Das Einswerden des Menschen ist für Jaspers also die wesentliche Voraussetzung dafür, dass sein Streben nach dem schlechthin Einen Erfüllung finden kann: [D]er eine Gott ist uns fühlbar durch die unbedingte, ausschließende Einheit unserer Lebensverwirklichung.62 Um das Eine suchen zu können, muß der Suchende selber eins wer­ den.63

In der Forderung, ein je Einer zu werden, kann Jaspers in diesem Zusammenhang den Kern der platonischen wie der kantischen Ethik erkennen: In unvergeßlichen, nicht allzu häufigen Sätzen hören wir die Forderung aus der Philosophiegeschichte. Plato sah den Menschen als ihn selbst erst dann, wenn er mit sich selbst eins sei, sich nicht widerspreche, – und sah das größte Unheil für ihn darin, daß er in sich selber zerfalle, indem er einmal dieses, einmal jenes meine und sei, ohne Bezug aufeinander, im Wirbel des Zufalls. Kant hat es wiederholt und Weininger sagt vielleicht mit Recht, Kants Ethik sei »die einzige, welche die harte und strenge innere Stimme des Einen nicht durch den Lärm des Vielen undeutlich zu machen sucht«.64

Wenn Jaspers hier, gewiss nicht ohne Berechtigung, die Bedeutung eines Strebens nach Einheit mit sich selbst als den zentralen ethischen Plotin, Enn. V 1, 11, 13–14; V 3, 17, 25–26; VI 9, 11, 24 u.ö.; vgl. W 111, 249, 695; dazu Enders 2004, 546. 61 Ph III, 121. 62 KJG I/8, 145. 63 VW 35. 64 VW 35, mit (abgewandeltem) Zitat aus Weininger 1908, 209, und Verweis auf Platon, Grog. 482b/c (vgl. dazu GP 255). – Eine Nähe Jaspers’ zu Weininger wird, trotz dieses Zitats, niemand vermuten wollen. Denn Jaspers steht nicht nur dessen abstru­ ser Misogynie denkbar fern, auch in metaphysicis nimmt er eine entgegengesetzte Position zu Weininger ein, der mit Fichte das Ich (allerdings nur das der Männer) als das Absolute setzt (vgl. Weininger 1908, 204). 60

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8.4 Das existentiell Eine und der Aufstieg zum Einen

Impuls der Philosophie Platons wie Kants heraushebt, so ist doch nicht zu vergessen, dass es Plotin ist, der die haplōsis, das Einfach­ werden, ganz ausdrücklich zu Ziel und Vollendung des Menschen erklärt.65 Vielleicht kann insofern davon gesprochen werden, dass Jaspers hier eine neuplatonisch inspirierte Interpretation Platons und Kants gibt.

8.4 Das existentiell Eine und der Aufstieg zum Einen Die zentrale Bedeutung der Einheitsbestimmung für Jaspers Den­ ken hat dazu geführt, dass insbesondere dessen Metaphysik in der Forschung als eine Einheitsmetaphysik oder Metaphysik des Einen klassifiziert worden ist.66 Ein möglicher Einwand hiergegen soll an dieser Stelle nicht übergangen werden: Jaspers’ Philosophie geht von einer Erfahrung aus, die einem an der Einheitsbestimmung orientier­ ten Denken entgegenzustehen scheint, der Erfahrung einer unaufheb­ baren Uneinheitlichkeit alles innerweltlichen Seins. Obgleich diese Uneinheitlichkeit immer besteht, zeigt sie sich Jaspers zufolge erst in den Grenzsituationen in ihrer ganzen Schärfe. Diesen ist es gemein­ sam, dass sie unsere Welterkenntnis als unkorrigierbar ausschnitthaft und unfundiert zeigen, das menschliche Glück als mangelhaft und vorübergehend und das Sein, insofern es im Zeitdasein erfahren wird, als zerrissen, d.h. als nicht mehr unter einer einheitlichen Perspektive erfassbar.67 Jaspers’ Rede von einer »Zerrissenheit des Seins für mich«68 verweist darauf, dass der letzte und grundsätzlichste Mangel, den wir im Zeitdasein erfahren, sich als ein radikaler Mangel an Einheit beschreiben lässt. Keine Einheit kann im Hier und Jetzt als die letzte und eigentliche festgehalten werden, es sei denn um den Preis der Unwahrheit. Die Einsicht in die Zerrissenheit immanenten Seins desavouiert die Einheit aber nicht; Einheit, die im Dasein immer nur flüchtig oder partiell erfahren wird, bleibt das zu Suchende: Daß die Einheit für uns nicht gewonnen wird durch eine denkbare Harmonie des Ganzen […], sondern daß wir in der Bewegung bleiben, jede fest werdende harmonische Gestalt eines Wahren auch wieder 65 66 67 68

Plotin, Enn. VI 9, 11, 23; s. dazu Abschn. 2.2. Vgl. Enders 2004; Ratzsch 2017. W 873–874. Ph III, 2.

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8 Existenz im Aufstieg zum Einen

zerstört sehen, daher diese Einheit immer noch suchen müssen, das ist eine Grundsituation unserer Wirklichkeit.69 Auch wenn wir uns die Zerrissenheit des Seins in allen Richtungen und rücksichtslos vergegenwärtigen, spüren wir doch mit unserem ganzen Wesen, daß das nicht das letzte Wort sein kann. Wir bleiben trotz allem uns der Einheit des Seins und des Wahrseins auf eine wenn auch gänzlich unbestimmte Weise bewußt. Wir fragen nach jedem Blick in die Zerrissenheit sogleich wieder nach der Einheit, weil Sein nur dann Sein, Wahrsein selbst nur dann uns wahr bleibt, wenn es für uns wieder Eines wird.70

Menschsein bedeutet für Jaspers, stets auf der Suche nach dem Einen zu sein. Und die Existenz, das eigentliche Selbst des Menschen, ist ebendas in uns, durch das wir fähig sind, ein Eines als das uns Wesentliche zu ergreifen. Umgekehrt ist es die Existenz, die verhindert, dass wir uns zerstreuen, indem wir disparaten Antrieben, einmal diesem und einmal jenem, folgen. Die Konsequenz einer solchen Zerstreuung wäre, dass uns nichts mehr ernst ist, jede eigent­ liche Verwirklichung unverbindlich bliebe. In solcher Beliebigkeit und Treulosigkeit aber lauert, wie Jaspers einschärft, die Gefahr des Selbstverlusts. Ihre Konsequenz wäre: »Ich bin gar nicht mehr selbst. Will mich jemand fassen, so bin ich schon ein Anderer«71. Dem hält Jaspers die Bindung an das »Eine[], das not tut«72, entgegen. Dieses Eine ist noch nicht das schlechthin Eine, es ist vielmehr ein Verschiedenes in den einzelnen Daseinssphären: »[d]ie eine Idee im Beruf, die eine Frau, das eine Vaterland, der eine Freund«73. Solche Bindungen sind von anderen nicht in abstrakt-moralistischem Rigorismus einzufordern – dies wäre der Unbedingtheit anderer Existenz gegenüber eine Anmaßung.74 Dennoch ist die Bindung an ein je Eines für Jaspers Bedingung des Zusichkommens der Existenz im Dasein. Erst hier, nicht in unverbindlicher Beliebigkeit, wird ihre Freiheit wirklich, die sich andernfalls verflüchtigt. Was die Existenz W 688. W 704. 71 Ph I, 243. 72 Ph II, 334; vgl. Luk. 10, 41–42. – Das Jesuswort vom Einen, das not tut, hat bei christlichen Denkern von Cusanus (vgl. De princ., h X/2b, n. 6–8) bis Kierkegaard (vgl. Eine Gelegenheitsrede, in: Erbauliche Reden in verschiedenem Geist, GWb XVIII, 7–160) eine breite Wirkung entfaltet. 73 Ph II, 334. 74 Ph II, 238. 69

70

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8.4 Das existentiell Eine und der Aufstieg zum Einen

dann als ihr Eines ergreift, wird ihr zum gegenwärtigen Symbol der Transzendenz, zu einer Chiffre, die, indem sie als besondere Einheit unser Dasein beseelt, auf das absolut Eine verweist. In besonderer Eindringlichkeit weist Jaspers dies für die monogame Ehe auf, die für ihn eine besonders sprechende Chiffre des Einen ist, weil sie die unterschiedlichen Dimensionen der Geschlechtsliebe – die Vitalität des Trieblebens, das erotische Spiel, die Ehe als vertragliche Bindung, die metaphysische Unbedingtheit der Liebe – ineins fasst und erst hierdurch ihr Wesen verwirklicht.75 Das je Eine zu finden, an das ein Mensch sich existentiell binden kann, um in ihm sein Selbstsein zu verwirklichen, ist für Jaspers dann mit dem Erlebnis eines »spezifische[n] Glück[s]«76 verbunden, d.h. eines besonderen Glücks, das durch seine metaphysische Tiefe vom Glück bloßen Lebensgenusses radikal verschieden ist. Dasjenige im Menschen, das ihn befähigt, derartige Bindungen einzugehen, bezeichnet Jaspers in diesem Kontext auch als das »exis­ tentiell Eine«77, »die Einheit der Existenz«78, »das Eine der Existenz«79 oder schlicht als »das Eine, das ich bin«80. Demnach ist es ganz grund­ sätzlich die »existentielle Einheit, die vor Zerstreuung bewahrt«81 und die hierdurch die Einheit trägt, die wir jeweils selbst sind. Jaspers macht nicht ganz deutlich, ob ›das existentiell Eine‹ nur ein anderer Name für Existenz ist – wie er Transzendenz im Hinblick darauf, dass sie alle besonderen Einheiten in der Immanenz begrün­ det, das »transzendente Eine«82 nennt – oder ob es ein noch tieferer Grund in der Existenz ist.83 In jedem Fall ist das existentiell Eine der Einheitsgrund je dieses Menschen, in diesem Sinne bezeichnet Jaspers es als die »transzendent bezogene[] Substanz des Selbstseins«84. Das Wort Substanz drückt dabei aus, dass das existentiell Eine dasjenige Wesentliche ist, das im konkreten Dasein des Menschen bloß seine Erscheinung hat, oder, anders gewendet, dass es der unveränderli­ 75 76 77 78 79 80 81 82 83 84

KJG I/13, 262–263; vgl. auch W 999–1000. Ph II, 334. Ph II, 334. Ph III, 117. W 691. W 695. Ph III, 117. KJG I/13, 431; vgl. W 681. W 695 spricht für die letztere Deutung, die meisten anderen Stellen für die erstere. Ph II, 335.

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8 Existenz im Aufstieg zum Einen

che Kern der Person ist, um den herum ihr Dasein mannigfache Veränderungen erfährt. Die transzendente Bezogenheit wiederum äußert sich darin, dass es das Eine der Existenz ist, durch welches die Einheiten, die wir im Dasein ergreifen, für uns ein »Weg« zur Transzendenz werden und durch die wir so die »Gewißheit, zu ihr [der Transzendenz] in Bezug zu stehen«, erlangen.85 Das existentiell Eine, das all dieses ermöglicht, wird dabei streng von der Transzendenz unterschieden, ist aber Manifestation der Transzendenz, was Jaspers in einer deutlich neuplatonisch gefärb­ ten Lichtmetaphorik beschreibt: Das existentiell Eine ist demnach »das schlagende Herz in der Endlichkeit des Daseins, Strahl des ungewußten Einen Lichts«; »im Gleichnis [kommen] alle Strahlen von der einen Gottheit«.86 An anderer Stelle vergleicht Jaspers das transzendente Eine mit einer Sonne und uns mit den Wassertropfen, in denen sich das Licht der Sonne reflektiert: [I]n meiner Gegenwärtigkeit wird gleichsam das Eine gespiegelt wie die Sonne in den Wassertropfen, und ein solcher Wassertropfen zu sein, ist gleichsam der Sinn der menschlichen Existenz, wenn er auf das Eine gerichtet ist. Das Eine ist also unendlich fern, ungreifbar, unerkennbar, der Grund alles Seienden, und andererseits ganz nah, wenn ich mir in meiner Freiheit geschenkt werde und auf den Weg des Mit-mir-identisch-Werdens gelange.87

An anderer Stelle gebraucht Jaspers die Metapher des Spiegels, um anzuzeigen, dass das existentiell Eine die Manifestation des unendli­ chen Einen ist: Das Eine ist uns gegenwärtig in dem unübertragbaren, nicht allgemein­ heitlich werdenden Einen der existentiellen Wirklichkeit, die sich als Spiegel erfährt des einzig Einen, das niemand weiß oder besitzt.88

Beide Gleichnisse sind offenbar so zu deuten, dass das existentiell Eine die Erscheinung eines ihm vorgängigen und es in seinem Sein allererst konstituierenden, transzendenten Einen ist. Das Zurerschei­ nungkommen des transzendenten Einen in der Existenz nimmt aber unabdingbar die Gestalt eines Strebens der Existenz nach dem Einen

85 86 87 88

Ph III, 118. Ph III, 118. Ch 54; dazu Halfwassen 2021, 186; vgl. auch KJG I/13, 261. KJG I/13, 431.

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8.4 Das existentiell Eine und der Aufstieg zum Einen

an. Im ersten Sinn ist das transzendente Eine das Urbild, im zweiten der Endzweck der Existenz.89 Jaspers’ Konzeption des existentiell Einen weist – wie Markus Enders in anderem Zusammenhang aufgewiesen hat – eine enge Verwandtschaft zur neuplatonischen Denkfigur des unum in nobis auf.90 Obgleich der Ausdruck unum in nobis (griechisch to en hēmin hen) der Philosophie des Proklos entstammt, hat der zugehörige Gedanke seinen Ursprung bei Plotin; prominent tritt er in Enneade III 8 auf, einem Text, den Jaspers früh gut kannte und aus dem er ihn womöglich gewonnen hat.91 Die angeführte, am ausführlichsten in der Philosophie entwi­ ckelte Konzeption der Existenz als einer Einheit, die sich der absolu­ ten Einheit der Transzendenz verdankt, ist durchgehend in Jaspers’ Werk präsent. In stark verdichteter Form wiederholt er sie in Von der Wahrheit, wo sie zu einer Grundlage der dort vorgenommenen Explikation der Transzendenz als des Einen Gottes wird: »Existenz wird in der Welt wirklich durch Unbedingtheit eines je Einen. [...] Das Eine der Existenz versteht sich allein im Bezug auf den Einen Gott. Nur so kann ihr Eines unbedingt und eigentliches Sein sein.«92 In diesem Sinne ist es für Jaspers »das Entscheidende für das gesamte Bewußtsein, für das innere Handeln, für das Ethos, für die Freiheit, für Existenz und Vernunft, ob und wie die Wirklichkeit Gottes das Maß aller Dinge ist« – denn nur hierdurch kann »[d]er Aufstieg zur einen Gottheit« gelingen.93 Dass Transzendenz als das Eine der Einheitsgrund je meiner selbst ist, ist ferner ein tragender Gedanke von Jaspers’ bedeutender religionsphilosophischer Schrift Der philosophische Glaube, wie die

S.o., Abschn. 8.3. Enders 2004, 546. – Jaspers nähert sich dieser Tradition auch im Ausdruck an, wenn er formuliert: »Das Eine ist zugleich für mich in der Einen Transzendenz und in mir als das Eine, dem meine geschichtliche Verwirklichung folgt. Diese Existenz in ihrer Winzigkeit wird die Chiffer jenes unendlichen Einen, das selber Chiffer ist. In meiner Gegenwärtigkeit spiegelt gleichsam das existentiell Eine, soweit es wirklich wird, das unendlich Eine wie einer der unzähligen Wassertropfen die eine Sonne.« (KJG I/13, 261). 91 Plotin, III 8, 9, 23–24; vgl. Beierwaltes 1963, bes. 264. Enn. III 8 wird schon in der Psychologie der Weltanschauungen ausführlich zitiert; s.o., Abschn. 3.5. 92 W 691. 93 W 1049. 89

90

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8 Existenz im Aufstieg zum Einen

oben zitierte Stelle zeigt, der zufolge der Mensch nur durch die Füh­ rung des absolut Einen selbst ein Einer zu werden vermag.94 Ähnlich formuliert Jaspers diesen Gedanken in seinem letzten großen systematischen Werk Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung: »Die Kraft des Einen bringt mich aus der Zerstreuung zu mir selbst«95. Wie dies zeigt, stellt Jaspers’ Vergegenwärtigung der Zerrissen­ heit allen innerweltlichen Seins keineswegs eine Antithese zu dessen Einheitsdenken dar, sie ist vielmehr der Hintergrund, vor dem seine Konzeption der Selbstwerdung als eines Aufstiegs vermittels des Einen ›in mir‹ zum absolut Einen erst ihre ganze Schärfe gewinnt.

8.5 Die Transzendenz des Einen Inwiefern menschliche Existenz für Jaspers wesentlich Eines und im Streben nach Einheit begriffen ist, dürfte an dieser Stelle hinreichend klar geworden sein. In welcher Weise aber gilt ihm die Transzendenz als eine Einheit und wie kommt er dazu, sie als das »transzendente Eine«96 zu bezeichnen? Wie Jaspers darlegt, ist die Bezeichnung der Transzendenz als ›das Eine‹ weder im Sinne der numerischen Einheit noch im Sinne der Einheit als Ganzheit noch im Sinne einer Einheit des Selbstbewusst­ seins zu verstehen. Einheit als numerische Einheit ist der Gottheit unangemessen, weil sie eine Abzählbarkeit und die Möglichkeit einer zahlenmäßigen Erweiterung suggerieren würde – so als wäre es jedenfalls denkbar, dass es mehrere Götter gäbe.97 Einheit als »Ganzheit oder Gestalt«98 ist ihr ebenso unangemessen, denn als sol­ che wäre die Transzendenz ein, wenngleich großartiger, Gegenstand. Zu einem solchen aber könnte der Mensch nicht im Verhältnis des Aufstiegs oder Abfalls stehen, er stünde gleichsam auf derselben ontologischen Ebene mit ihm, der Ebene des immanent Seienden.99 Ferner ist die Gottheit nicht als Einheit der Persönlichkeit zu denken, 94 95 96 97 98 99

KJG I/12, 50–51; s.o., Abschn. 8.3. KJG I/13, 261. KJG I/13, 431; vgl. Enders 2004, 539. Ph III, 119. Ph III, 120. Ph III, 120.

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8.5 Die Transzendenz des Einen

Persönlichkeit ist für Jaspers ein Merkmal unserer selbst als Existenz – als Persönlichkeit wäre die Gottheit somit selbst Existenz und wiederum auf ein Transzendentes angewiesen.100 Die Transzendenz ist Jaspers zufolge also keineswegs in der Weise der drei genannten Einheitsbestimmungen zu denken, sondern als dasjenige, das diese zugleich ermöglicht und übersteigt: »Transzendenz in keiner dieser Einheiten ihr selbst gemäß gedacht, wird als das Eine über alle hinaus gesucht, aber so, daß diese Einheiten in der Welt ihr verschwindender Aspekt bleiben.«101 So ist der Grund, warum Transzendenz als das Eine gedacht wird, zuletzt nicht der, dass sie selbst als Einheit denkbar würde; es ist viel­ mehr die von ihr ausgehende einheitsstiftende Macht. Insbesondere der Mensch vermag erst durch diese Macht im Transzendenzbezug selbst ein Einer zu werden: Warum ist die Gottheit als die Eine von solchem Zauber und hat das Eine eine Selbstverständlichkeit, als ob es gar nicht anders sein könnte? Warum ist es wie eine Beeinträchtigung und Verlorenheit, wenn die Gottheit nicht die Eine wäre? Weil ich im Einen der Transzendenz mein eigentliches Selbstsein finde, und weil das Selbstsein erst vor der einen Transzendenz, und nur hier wahrhaftig, vergeht.102

Dabei betont Jaspers, dass das Eine, zu dem wir uns aufschwingen, keineswegs ein Aspekt unserer Subjektivität ist, kein Vollzug unserer selbst, vielmehr ist es die eigentliche Wirklichkeit, die als der sich durchhaltende Grund alles Seienden – und insbesondere als der Grund menschlicher Existenz – zu denken ist:

100 Ph III, 120. – Markus Enders (2004, 549) und Robert Spaemann (2010, 220– 221) haben darauf hingewiesen, dass Jaspers’ abwehrende Haltung dem personalen Gottesgedanken gegenüber seinem spezifisch anthropologischen – d.h. auf mensch­ liches Dasein bezogenen und damit für theologische Fragen womöglich zu engen – Personenbegriff geschuldet sein dürfte. Unabhängig hiervon ist darauf hinzuweisen, dass Jaspers’ Insistieren darauf, dass personale Züge Gott allenfalls in symbolischer oder metaphorischer Hinsicht zukommen können, seine Parallele im Denken Plotins hat. Ähnliches gilt übrigens für Jaspers’ ›Changieren‹ im Gebrauch des Maskulinums oder des Neutrums im Bezug auf den Einen bzw. das Eine (vgl. hierzu einerseits Bei­ erwaltes 2011, 38–39, andererseits Enders 2004, 547 Anm. 93). 101 Ph III, 119. 102 Ph III, 121. Jaspers gibt hier zugleich seinem metaphysischen Unsterblichkeits­ glauben Ausdruck. In der Transzendenz – und nur hier – ist das Vergehen zugleich ein Bewahrtsein in ihr.

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8 Existenz im Aufstieg zum Einen

Es ist ein Irrweg, gegenwärtige Transzendenz nur für erdachte oder psychologisch hervorgebrachte Vorstellung zu halten, als ob es sich um eine illusionäre Funktion der allein wirklichen realen Endlichkeit des je Gegenwärtigen handle. Ich verliere dabei die eigentliche Wirklichkeit, die, als sie selbst fühlbar, in meiner Gegenwärtigkeit alles trägt, wenn ich dieses Seins gewiß bin.103

Nur weil Transzendenz schlechthin die letzte, alles umfassende und alles übersteigende Wirklichkeit ist, kann Existenz sich noch in der Grenzsituation, wo alles Weltsein vor ihr zusammenzubrechen scheint, von ihr gehalten wissen.104 Und nur weil das Eine für mensch­ liche Existenz ein von ihr Verschiedenes ist, kann es ihr Grund und Maß werden, kann es als die Grenze fungieren, die durch ihre Einheit das Einswerden der Existenz fordert und hervortreibt: Das Eine als Grenze aber ist das Sein, das in keiner Weise ich selbst bin, sondern zu dem ich mich verhalte, indem ich mich zu mir als eigentlichem Selbst verhalte. Wäre es nicht von mir verschieden, so würde ich mich nicht zur Transzendenz verhalten, sondern nur zu mir, doch ohne selbst zu sein.105

Weil Transzendenz das Eine ist, das im Menschen dessen Einheit mit sich selbst bewirkt, kann es ihm ganz nahe erscheinen.106 Diese Nähe ist für Jaspers aber keine irgendwie geartete Eigenschaft der Gottheit, vielmehr gilt: »Die Nähe des Einen ist der Aspekt meines Transzendierens«107. Indem ich angesichts der Transzendenz und unter dem Einfluss der von dorther erfahrenen Zugkraft mein Selbst­ sein erringe, wird Gott zu je meinem Gott.108 Dieser Nähe Gottes, die im Selbstwerden erfahren wird, korrespondiert aber eine Ferne Gottes in der empirischen Realität und für den Verstand, dessen Wissenwollen aus dem Bezirk der Gottheit ausgeschlossen bleibt: »Ob nah, ob fern, die Eine Gottheit ist schlechthin unerkannt.«109 Wie der Gott der neuplatonischen Tradition ist der Gott der Jaspers’schen

103 104 105 106 107 108 109

W 175. Vgl. Ph III, 88–89. Ph III, 122. Vgl. hierzu Nakayama 2019. Ph III, 121. Ph III, 121: »So ist der eine Gott durch das existentiell Eine jeweils mein Gott«. Ph III, 122.

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8.5 Die Transzendenz des Einen

Philosophie also ein verborgener Gott, ein deus absconditus.110 Wohl kann er im existentiellen Aufschwung berührt werden, »aber so, daß [er] in allem Hellwerden doch noch verborgen bleibt«111. Die vorangehenden Überlegungen konnten die These, dass Jaspers’ Existenzphilosophie erheblich durch die Philosophie des Neuplato­ nismus und insbesondere durch Plotin geprägt ist, in wesentlichen Aspekten bestätigen. Ein geteilter Ausgangspunkt ist dabei die Unter­ scheidung verschiedener Dimensionen des menschlichen Selbst, einer innerweltlichen und einer relativ dazu transzendenten, die nicht zuletzt als der Grund der Freiheit in uns gedacht wird. Tatsächlich frei werden wir Jaspers zufolge aber nur durch den Bezug auf die Gottheit. Erst hier wird uns der Impuls zuteil, vor dem Transzendenten je wir selbst zu sein. Die wesentliche Gemeinsamkeit mit Plotin liegt nun darin, dass diese Selbstwerdung als ein Einswer­ den mit sich selbst verstanden wird, wobei dieses Einswerden uns allein durch die einheitsstiftende Macht des Einen Gottes möglich wird. Jener Gott ist, wie für Plotin, das Ziel des Aufstiegsweges, auf dem der Mensch sein Selbstsein verwirklicht. Am Ende dieses Weges steht dann nicht nur die Selbstwerdung, sondern, zugleich hiermit, die Erfahrung des Einen. Die Einheit des Einen selbst wird dabei wesentlich von dessen Wirkung auf uns her verstanden. Wir werden ein je Einer im Auf­ schwung zu ihm, wobei es gleichsam als der Zielgrund (causa finalis) dieses Prozesses fungiert. Aber es selbst ist nicht Eines im kategoria­ len Sinn, vielmehr bleibt es unwissbar und unfassbar und ist erst als solches Transzendenz.

110 Vgl. Ph II, 321; Ph III, 79; ebd., 83. Auf diese Parallele weist auch Hartmut Sitzler (2012, 104) hin. Zur Denkfigur des deus absconditus im Kontext des christlichen Neuplatonismus vgl. Beierwaltes 2014a, 130–171. 111 W 111.

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9 Das Eine in Vernunftphilosophie und Logik

Nachdem das vorangehende Kapitel die grundlegende Bedeutung einheitsmetaphysischen Denkens für Jaspers’ Existenzphilosophie thematisiert hat, soll im Folgenden dargelegt werden, inwiefern auch seine Vernunftphilosophie und die hiermit eng zusammenhängende Logik in einem Bezug auf das absolut Eine fundiert sind. Je nach Kontext und besonderem theoretischen Gehalt wird dies wiederum als ein Verweis auf neuplatonische Quellen zu werten sein.

9.1 Jaspers’ Vernunftphilosophie im Werkkontext Mitte der 1930er-Jahre rückt der Zusammenhang von Vernunft und Existenz stärker in den Vordergrund von Jaspers’ Denken. Dieser ist zwar schon in der Philosophie greifbar, wo der »Mensch, der er selbst ist«, der eigentlich existierende Mensch, nicht zuletzt als ein »Vernunftwesen, das auf alle Gründe hören will«, charakterisiert wird.1 Systematisch entwickelt wird dieser Zusammenhang aber erst in den programmatisch mit Vernunft und Existenz betitelten Vorlesungen aus dem Jahre 1935.2 Vernunft und Existenz gehören demnach zusammen und sind einander unverzichtbar: Existenz ist der »Boden«3, von dem ausgehend sich unser Denken als Vernunft entfaltet; Vernunft ist das Medium, durch welches Existenz zu klarer Selbstgegenwart kommt. Jaspers findet für diesen Zusammenhang die prägnante Formel: »Existenz wird nur durch Vernunft sich hell; Vernunft hat nur durch Existenz Gehalt«4. Dass Jaspers nun die wesenhafte Vernünftigkeit menschlicher Existenz betont, ist also keine grundsätzliche Neuerung im Kontext Ph II, 44. KJG I/8, 1–98, zur Themenstellung bes. 27; vgl. zu Jaspers’ Vernunftphilosophie Mayer 1973; Diehl 2011; zu den genannten Vorlesungen Kaegi 2018. 3 KJG I/8, 49; vgl. W 114. 4 KJG I/8, 40. 1

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9 Das Eine in Vernunftphilosophie und Logik

seines Denkens – gleichwohl ist es eine Akzentverschiebung. Diese hat auch einen zeitgeschichtlichen Hintergrund; wie Jaspers später einräumt, ist sie implizit gegen den Irrationalismus der herrschenden nationalsozialistischen Ideologie gerichtet.5 Auch nach 1945 hält Jaspers daran fest, dass es stets die Vernunft ist, die die Wirklichkeit politischer Freiheit verbürgt – wogegen die Ablehnung der Vernunft, die Widervernunft, den Weg in den Totalitarismus ebnet.6 Jaspers erwägt nun sogar, seine Philosophie insgesamt nicht mehr als Exis­ tenzphilosophie, sondern als eine »Philosophie der Vernunft«7 zu bezeichnen. Das wichtigste Dokument dieser neuen Entwicklung in Jaspers’ Denken ist zweifellos seine Philosophische Logik.8 Nur den ersten Teil dieser Logik hat Jaspers zu Lebzeiten vollendet, er wurde 1947 unter dem Titel Von der Wahrheit veröffentlicht; Fragmente des auf drei Bände angelegten zweiten Teils wurden aus dem Nach­ lass herausgegeben.9

9.2 Vernunft als Bezug auf das Eine In Von der Wahrheit charakterisiert Jaspers die Vernunft von Anfang an vor allem durch ihren Einheitsbezug; Vernunft ist demnach ein sich im Denken manifestierender, existentiell getragener »Wille zur Einheit«10. Durch diesen Willen unterscheidet sich die Vernunft Jaspers zufolge vom bloßen Verstand; wo dieser auf die Erkenntnis einzelner Sachverhalte beschränkt bleibt, vermag es erst die Vernunft, systematisches Wissen zu generieren. Jaspers betont aber, dass die A 829. Vgl. VW 61: »Mit der Preisgabe der Freiheit der Vernunft bereitet die Unphiloso­ phie den Menschen vor zur politischen Unfreiheit. Im mythischen Hange läßt sie das Wissen um Freiheit versinken. Sie lehrt sich zu entziehen in den Bereich der Undiskutierbarkeit vernunftlosen Glaubens. Dann, wenn man nicht mehr aus Freiheit lebt, weiß man bald nicht mehr, was sie ist. Weil man sich leer fühlt, sich selbst und die Wahrheit verloren hat, will man in Furcht niedergeworfen werden. Ohne es zu merken, hat man, indem man auf Vernunft verzichtete, auf Freiheit verzichtet. Man ist bereit zu jedem Totalitarismus und folgt gemeinsam mit der Herde dem Leithammel in Unheil, Verbrechen und schandvollen Tod.« 7 VW 50. 8 Zum Charakter der Jaspers’schen Logik als einer Vernunftphilosophie s.u., Abschn. 9.5. 9 NPL; zum Plan des Gesamtwerks s. W 26–27. 10 W 118. 5

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9.2 Vernunft als Bezug auf das Eine

Vernunft keineswegs nur die Verknüpfung besonderer Erkenntnisse zu einem Ganzen intendiert, vielmehr greife sie wesentlich auf eine allumfassende, transzendente Einheit aus: Vernunft sucht Einheit, aber nicht irgendwelche Einheit bloß der Einheit wegen, sondern das Eine, in dem Alles ist. Dieses Eine ist wie aus unerreichbarer Ferne durch Vernunft gegenwärtig als die alle Spaltung überwindende Zugkraft.11

Diese Konzeption erinnert an Kants Bestimmung der Vernunft als eines Strebens, das »jederzeit nur auf die absolute Totalität in der Synthesis der Bedingungen [geht] und […] niemals [endigt], als bei dem schlechthin, d.i. in jeder Beziehung Unbedingten«12. Zugleich lässt sie an Plotins Nous-Philosophie denken, die die Vernunft, die des Menschen ebenso wie die des göttlichen Geistes, wesentlich als ein denkendes Einheitsstreben bestimmt, das erst im absolut Einen Ruhe und Erfüllung findet.13 Den Ausdruck »Zugkraft« entlehnt Jaspers Platon.14 Getreu seinem Vorhaben, die abendländische Philosophie insgesamt zu einer Synthese zu bringen,15 verknüpft Jaspers hier, wie es scheint, Züge verschiedener historischer Vernunftauffassungen.16 W 118. Kant, AA III, 253 = KrV B 382; vgl. Hutter 2017, 636; zum Interesse der kantischen Vernunft am Unbedingten vgl. ders. 2003. 13 S.o., Abschn. 2.1 und 2.2. 14 Vgl. Arendt/Jaspers, Briefwechsel, 384 (Jaspers an Arendt, 25.03.1958), wo Jaspers als Quelle auf Platon, Rep. 523a verweist. Der Begriff der Zugkraft spielt eine wichtige Rolle in Jaspers’ Platonverständnis; vgl. GP 300: »Platos Philosophie ist die Philosophie des Lebens der Liebe, der Liebe als der das Wissen hervorbringenden, der das Dasein verzehrenden, von der Zugkraft des Seins zum Sein hingerissenen Macht.« 15 W 192. 16 Eine solche synthetische Sichtweise auf den Vernunftbegriff der europäischen Philosophie deutet sich schon in der Psychologie der Weltanschauungen an (KJG I/6, 75–76): »Bei aller Verschiedenheit im einzelnen ist diesen Philosophen gemeinsam, daß sie unter den Erkenntnisarten mehr kennen als bloße Sinneswahrnehmung und logisches Denken, ohne daß eine übersinnliche Offenbarung von der Art des Wunders zu Hilfe genommen würde. Die Erfassung der Idee bei Plato, die Vernunft, die bemerkt, daß es noch Höheres gibt, als sie begreift, bei Eckhart, die dritte Erkenntnisgattung Spinozas, die die Dinge sub specie aeternitatis sieht, die Vernunft als Vermögen der in die Unendlichkeit Richtung gebenden Ideen Kants, das künstlerische Ideensehen Schopenhauers, das spekulative Denken Hegels, sie alle drängen in großartiger Einmü­ tigkeit auf Erkenntnisgattungen jenseits Sinneswahrnehmung und formallogischer Begreifbarkeit. Gemeinsam ist allen eine hierarchische Ordnung der Erkenntnisgat­ tungen und gemeinsam der Grundgegensatz des Intuitiven und Rationalen, wobei intuitiv und rational beide einen weiten Umfang haben, der in sich zu gliedern ist. 11

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9 Das Eine in Vernunftphilosophie und Logik

Wenn im Folgenden v.a. jene Züge der Jaspers’schen Vernunftphilo­ sophie herausgearbeitet werden, die eine platonische oder neuplatoni­ sche Herkunft nahelegen, soll der bedeutende Anteil anderer Denker, insbesondere Kants und Hegels, damit keineswegs bestritten werden. Die Betonung einer vom Einen selbst ausgehenden »Zugkraft«, die die Vernunft erst zu ihrer Tätigkeit befähigt, stellt eine deutliche Parallele zum Denken der breiteren platonischen Tradition dar. Jene Zugkraft ist es demnach, durch die das Eine, obwohl es für das Den­ ken unerkennbar ist, seine Erscheinung in der Vernunft hat. Dieser Auffassung entspricht es, dass Jaspers das Eine als die »Quelle«17 der Vernunft bezeichnet. Aus dieser Quelle stammt die Vernunft und zu ihr streckt sie sich wiederum aus, gleichsam auf dem Wege generiert sie besonderes systematisches Wissen und eilt von diesem stets zu neuem Wissen fort, »weil sie ein ständiges Ungenügen ausdrückt, angezogen von dem Einen, das sie sucht«18. In dieser Bewegung kennt die Vernunft demnach »kein Halten oder Aufhören«19, sie »findet Ruhe nur in dem schlechthin Einen der Transzendenz«20. Kraft und Reichweite der Vernunft sind dabei keineswegs auf das beschränkt, was an sich selbst vernünftig und einheitsförmig ist; noch das Disparateste und Unvernünftigste will sie dem Verstehen erschließen. Alles soll in seinem beschränkten Eigensein gelten gelas­ sen, zugleich aber zu allem anderen in Bezug gesetzt werden: Sie ist das alle Grenzen überschreitende, allgegenwärtig fordernde Denken, das nicht nur erfaßt, was allgemeingültig wißbar oder was selbst ein Vernunftsein, im Sinne von Gesetzlichkeit und Ordnung des Geschehens, ist, sondern auch das Andere zutage bringt. Sie steht vor dem schlechthin Widervernünftigen, es berührend und dadurch dieses selbst erst zum Sein bringend […].21

In ihrem Einheitsbezug ist die Vernunft getragen von Existenz, sie ist die Manifestation existentiellen Selbstseins im Denken. Wie die Existenz Jaspers zufolge nur im Aufschwung zum Einen zu sich Bestimmt ist alles nur, soweit es in die Region des Verstandes tritt. Das Anschauliche als solches ist unbestimmt; es ist als Sinnliches das Material, als Idee die Erscheinung der Kraft für die Bewegung des Verstandes.« 17 W 116. 18 W 116. 19 W 117. 20 W 121. 21 W 121.

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9.2 Vernunft als Bezug auf das Eine

kommt, so ist auch die Vernunft erst durch ihr Einheitsstreben zum Ineinssehen disparater Wirklichkeiten in der Lage.22 Durch dieses Einheitsstreben bekundet sie ihren Ursprung in der Existenz; in ihm kann sie aber nicht nur als mit Existenz identisch gelten, sondern manifestiert auch die Gegenwart des absolut Einen in ihr: Vernunft ist ihrem Wesen nach das in der Alloffenheit zum Einen Drängende. Sie will nichts beziehungslos versinken oder für sich allein bestehen lassen. Aber als solches Drängen zum Einen ist die Vernunft die Existenz selbst, die mit dem Einen verbunden ist.23

Jaspers konzipiert die Vernunft als das »Band«24, das alles Sein-füruns verknüpft und in Zusammenhang bringt, er verneint aber den Gedanken einer absoluten Vernunft, wie er in der Nous-Philosophie Plotins, aber auch in Hegels spekulativer Logik entwickelt wird. Auch dies ist eine Folge der Verknüpfung von Vernunft und Existenz, die für Jaspers immer die Existenz je dieses Menschen ist. Von einer Vernunft Gottes kann demnach nur im Sinne einer Chiffre die Rede sein; es handelt sich dann um die symbolische Übertragung einer Fakultät des menschlichen Geistes auf den alles Menschsein unendlich überragen­ den Urgrund.25 Jaspers weiß insbesondere sein eigenes Denken von der einheits­ stiftenden Kraft des absolut Einen getragen, und er gebraucht gewiss nicht zufällig den mit der platonischen Tradition assoziierten Enthu­ siasmus-Begriff26, um auf diesen Sachverhalt hinzuweisen: »Auch unser Philosophieren ist im Umgreifenden geführt von dem Enthusi­

22 Vgl. VW 35: »Auf die Einheit des Einen gerichtet, will Vernunft allem, was ist, gleichsam zu seinem Recht verhelfen. […] Vernunft weist daher auf beides: das Uner­ reichbare jenes Einen, von dem unendlich angezogen sie denkt, – und auf das Andere der Ursprünge, die, durch sie zum Leben gebracht, vernehmbar werden. Vernunft bewirkt, daß, was ist und sein kann, sich entfalten muß, sie ist das Allaufschließende. Und sie treibt das Aufgeschlossene hin zu dem Einen, auf das bezogen es nicht ins Nichtige des Zerstreuten versinkt.« 23 W 131. 24 W 50 u.ö. 25 Vgl. KJG I/13, 331–332, wo Aristoteles und Hegel dafür kritisiert werden, dass sie das reine Denken mit der Gottheit gleichsetzen und so deren Transzendenz aufheben. 26 Diese Assoziation ist freilich weniger in der Sache begründet als vielmehr das Ergebnis verschiedener Kurzschlüsse der älteren Philosophiegeschichtsschreibung; vgl. Leinkauf 1998, 37–38. Wichtig ist, dass Jaspers den ›problematischen‹, weil tendenziell irrationalistischen Enthusiasmus-Begriff hier im Sinne seiner Vernunft­ philosophie positiv (um-)deutet.

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9 Das Eine in Vernunftphilosophie und Logik

asmus des Einen.«27 In der Konsequenz weist Jaspers’ philosophisches Programm distinkt einheitsmetaphysische Züge auf: In uns drängt etwas zur Einheit: wenn das Umgreifende der äußerste im gedanklichen Transzendieren erreichbare Grund von allem ist, was wir sind und was an sich ist, dann muss das Umgreifende Eines sein. [...] Daß dieses Eine, alle Einheit Stiftende, nicht verworren, sondern klar, nicht vordergründig, sondern ursprünglich, nicht scheinhaft, sondern echt gegenwärtig werde, ist das führende Anliegen der Philosophie.28

Die denkende Vergegenwärtigung des Transzendenten, auf die Jas­ pers’ Philosophische Logik letztlich hinausläuft, kann allerdings, wie er darlegt, keineswegs schon dadurch gelingen, dass dieses bloß abstrakt als der Seinsgrund behauptet wird. So ist zunächst das Bewusstsein der Spaltungen zu vertiefen, um das alles tragende Eine erst dann, auf dieser Grundlage, angemessen thematisieren zu können.29 Daher versteht Jaspers sein Philosophieren nicht als ein Haben, sondern als ein »unendliche[s] Suchen des Einen«, das nicht zum »Besitz des Einen in der Zeit wird«.30 Das Eine bleibt der logischen Erhellung, die von ihm getragen ist und auf es ausgreift, also letztlich unzugänglich. Gleichwohl erfahren wir im logischen Prozess die Wirklichkeit des Einen als den Grund und das Ziel der Vernunfttätigkeit: Wir fühlen uns, als ob wir herkämen aus einer ursprünglichen Einheit, aber sie war unbewußt und barg wie in einem Keim alles Werden nur als Möglichkeit. Wir finden uns im Gespaltensein, wir sind ohne Ruhe, die Spaltungen und Unterscheidungen bis zum Äußersten zu treiben, aber darin drängen wir hin zur Einheit als dem, was in aller Spaltung und Unterscheidung zusammenhält und das eigentliche Sein ist.31

Die Vernunft ist für Jaspers, wie das zeigt, keineswegs ein ausschließ­ lich positives Vermögen, sie ist nicht nur das Streben nach Einheit, sondern auch das Aufsuchen der Spaltungen. Sie generiert nicht nur systematische Einsicht, sondern übt bisweilen vernichtende Kritik. Sie relativiert alles besondere Seiende in seiner Geltung, bricht alle W 166; vgl. 680: »Philosophische Logik lebt aus dem Antrieb zum Einen; ihre Denkgebilde sind Ausdruck dieses Antriebs.« 28 W 122. – Zum einheitsmetaphysischen Charakter von Von der Wahrheit vgl. Enders 2004 und Ratzsch 2017. 29 W 122: »[N]ur wenn uns die Trennungen klar bleiben, kann uns schließlich die Einheit des Ursprungs klar werden.« 30 W 222. 31 W 222. 27

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9.2 Vernunft als Bezug auf das Eine

Fixierungen auf und decouvriert alle Täuschungen. »Im Brechen aller Dinge ist sie das Vorantreibende«32, so Jaspers über die Vernunft. Aber diese Negativität manifestiert sie doch nicht um ihrer selbst willen, sondern nur um das Endliche, wo es »die Würde des Absoluten für sich usurpiert«33, auf seinen gehörigen Platz zu verweisen. Die Vernunft »fordert und wagt [...] die Loslösung von allem endlich und bestimmt Gewordenen, das verführt, an die Stelle des Einen gesetzt zu werden, und damit täuscht, selbst wenn es die ganze Welt wäre«34. Jaspers sieht hierin einen wesentlichen Unterschied der Vernunft zum bloßen Verstand: Wo letzterer, sich schließlich selbst zugrunde richtend, einen universellen Relativismus vollzieht, so dass es »[f]ür den fragenden Verstand nichts gibt, das nicht auch seinen Mangel hätte, nichts Wahres, das nicht auch Falsches in sich berge, kein Dasein, das nicht vergänglich wäre«, gilt für die Vernunft: Sie »ergreift das Negative, aber nicht um dessen zerstörende Macht sich austoben zu lassen, sondern um im Negativen das Positive zu finden.«35 So stößt die Vernunft schließlich, indem sie alles Dasein in seiner »Bodenlosigkeit« schonungslos aufdeckt, keineswegs auf das bloße Nichts, sondern auf den unvordenklichen Seinsgrund, der »vor allem Denken schon ist und auf uns zukommt«.36 Diesen Grund erkennt sie nicht, sie kann ihn aber indirekt vergegenwärtigen als die Eine transzendente Wirklichkeit, durch die ihr eigener Weg gleichsam gebahnt wird und von dem sie selbst in ihrer Tätigkeit getragen ist. Wie Plotin fasst Jaspers die Vernunft also als ein Vermögen des Menschen auf, das dem absolut Einen entstammt und wieder zu ihm hinstrebt, ohne es doch durch Vernunfttätigkeit erreichen zu können. Durch dieses Streben aber gewinnt die Vernunft die Kraft, das Disparate in seinem Zusammenhang als Einheit zu erfassen.37 Ein wesentlicher Unterschied ist dabei, dass es für Jaspers, anders als für Plotin, keine göttliche Allvernunft gibt, sondern nur die Vernunft ein­ zelner Menschen, und ferner, dass die plotinische Vernunft wesentlich

W 121. Die Formulierung ist Max Rohstock (2019, 109) entlehnt. 34 W 116. 35 W 116. – Es ist diese fundamentale Positivität der Jaspers’schen Philosophie, auf die Adorno im Jargon der Eigentlichkeit (GS VI, 427–428) in der Sache richtig, aber mit ungerechtem Hohn hinweist. 36 W 117. 37 Für Parallelen im Denken Plotins s.o., Abschn. 2.1 und 2.2. 32

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9 Das Eine in Vernunftphilosophie und Logik

intuitiv ist, während die Jaspers’sche die Form eines systematischen, aber diskursiven Denkens annimmt.

9.3 Vernunft, Eros und Glaube Eine weitere wichtige Parallele zur platonischen Tradition ist, dass der Bezug der Vernunft auf das Eine sich mit Jaspers als Liebe charakterisieren lässt.38 Liebe als Offenheit für das sich zeigende Sein ist für Jaspers der tragende Grund aller philosophischen Wahrheitserkenntnis: »Die Wahrheit erschließt sich der Liebe, sie erwächst dem in der Liebe gewonnenen Entschluß.«39 Liebe überhaupt richtet sich Jaspers zufolge auf Gegenstände vitalen Begehrens, auf das intellektuell Interessante, auf zu verwirk­ lichende Ideen und auf Menschen, denen wir existentiell verbunden sind.40 So manifestiert sich die Liebe auf allen Stufen des Daseins, ist dabei aber stets ein Signum der Existenz in ihrem Selbstsein.41 Als solches trägt die Liebe insbesondere die Vernunft in ihrem Willen, alle besonderen Wirklichkeiten zueinander in Bezug zu setzen;42 hierdurch wird sie zur »letzte[n] bewegende[n] Kraft«43 allen Philoso­ phierens, so dass das Philosophieren selbst sich als »vom denkenden Eros erwirkt[]«44 verstehen muss. Dieser Eros wird näherhin als ein Einheitsstreben, ein »Drang zum Einswerden«45, charakterisiert. In diesem Einheitsstreben fallen Liebe und Vernunft ineins: »Das Einswerden der Liebe ist ihr Grundzug als Vernunft.«46

Explizit auf Platon beruft sich Jaspers in W 1013. – Zu Jaspers’ Philosophie der Liebe vgl. insgesamt Schüßler 2016, bes. 32–42. 39 W 987; vgl. W 991: »Liebe schließt auf. Wir werden offen für das, was ist. Liebend sehe ich erst, was eigentlich ist. Liebe offenbart den ursprünglichen Gehalt. Der Kraft der Liebe erschließt sich das Wesen des Seienden in allen seinen Gestalten«. 40 W 993–1001. 41 W 988–989; vgl. Ph II, 277–279. 42 W 989. 43 W 990. 44 W 990. 45 W 991. 46 W 1004; vgl. W 992. 38

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9.3 Vernunft, Eros und Glaube

Alle Formen der Liebe können Jaspers zufolge als ein »Zeichen und Gleichnis«47 der Liebe zur Gottheit gelten. In diesem Sinne ist Liebe »Aufschwung […] in die Transzendenz« und »Teilnahme am Ursprung, ein Gewinnen an Kraft aus dem Ersten, dem alle Schöpfung entspringt«.48 Diese Gottesliebe ist Jaspers zufolge freilich von der Menschenliebe dergestalt untrennbar, dass beide, von der je anderen losgelöst, unwahr werden.49 Obgleich wir durch die Liebe den Aufschwung zur Gottheit gewinnen, vertritt Jaspers gegen die christliche Überlieferung die Ansicht, dass Gott selbst weder als ein Liebender zu denken noch gar mit der Liebe zu identifizieren sei: Nicht nur die Liebe wird dadurch ihres Wesens beraubt, sondern das Sein selbst wird fälschlich in das Menschsein verwandelt und geht seiner Transzendenz verlustig. Denn in der Liebe wird zwar Gott fühlbar, aber Gott ist nicht die Liebe.50

Jaspers ist in dieser Auffassung Plotin nahe, der dem Einen, um seine reine Einheit und Autarkie zu wahren, jegliche innere wie äußere Relation – und damit insbesondere die Liebe – abspricht.51 In enger Verbindung zu Jaspers’ Liebesbegriff steht sein Begriff des Glaubens.52 Demnach ist Glaube »die Seinsgewißheit der Liebe als ausdrücklich bewußte«53. Im Glauben verstehen wir unser Lieben­ können als eine Gabe aus der Transzendenz, bringen uns diese zu klarem Bewusstsein und erkennen sie als solche an. Glaube ist dem­ nach nicht bloß ein »unsicheres Wissen«54, sondern ein dem Wissen heterogenes Erfülltsein des Bewusstseins durch das Absolute.55 W 1003; vgl. W 1018. W 1009; vgl. W 1018: »Liebe […] ist der Weg zum Einen, in dem das Endlose aufgehoben ist zur Unendlichkeit.« 49 W 1003, 1009. 50 W 1012. 51 S.o., Abschn. 2.2; vgl. allerdings auch Abschn. 2.3 zu den Versuchen Plotins, dem Einen jedenfalls in einem metaphorischen Sinn Liebe zuzuschreiben. 52 Zur Bedeutung des Glaubens bei Jaspers vgl. Hügli 2008; Spaemann 2010. 53 Ph II, 279. 54 Ph II, 279. 55 Ph I, 246: »Es ist unmöglich, allein durch Denken die Wahrheit zu finden. Denken, als solches grundlos, ist, wenn es Wahrheit erfaßt, erfüllt aus einem Anderen. […] Ist das Andere […] das Sein, das nicht handgreiflich ist und nicht als Bestand erwiesen werden kann, sondern durch das Sein des Denkenden aus Freiheit erfahren werden muß, so gilt: was im Denken hell wird, ohne selbst nur ein Gedachtes zu sein, ist ein Geglaubtes.« 47

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9 Das Eine in Vernunftphilosophie und Logik

Das transzendente Eine, auf das die Vernunft hindenkt, kann Jaspers zufolge nicht gewusst werden, und zwar schon deshalb nicht, weil es kein Gegenstand, d.h. insbesondere, weil es nicht kategorial bestimmbar ist. Die Weise, in der wir uns seiner bewusst sind, ist der Glaube. Weil sich die Vernunft aber selbst einem »unabläs­ sige[n] Antrieb zum Einen«56 verdankt, kann der Glaube an das Eine als ein im eminenten Sinne vernünftiger Glaube gelten. Denn das Transzendente, das er affirmiert, ist nicht widervernünftig, sondern im Gegenteil übervernünftig; es ist der Grund, auf dem Vernunft allererst möglich wird: »Die Wirklichkeit, daß Gott ist, ist nicht das Widervernünftige, das als das Nichtige triumphiert, sondern das Übervernünftige, das die Vernunft einschließt und umgreift.«57 Deutlich wird dieses Verhältnis von Glauben und Vernunft ins­ besondere in Jaspers’ Auseinandersetzung mit den Gottesbeweisen der philosophischen Tradition. Diese seien demnach – mit Kant – als »Beweise für den Verstand« ungültig, wahr dagegen als »Hinweise für die Vernunft«, durch welche die Vernunft des Grundes innewird, der sie immer schon trägt und nach dem sie sich wesenhaft ausstreckt.58 Selbst das Wissen der positiven Wissenschaften hat seine Grundlage demnach im Glauben – es geht ohne diesen zwar nicht unmittelbar zugrunde, aber es versteht sich ohne den Glauben schließlich selbst nicht mehr und wird hierdurch »methodisch unzuverlässig«59. Das so beschriebene, komplementäre Verhältnis von Glauben und Wissen legt Jaspers schon in der Psychologie der Weltanschauun­ gen zugrunde: Der Glaube bezieht sich auf Totalität und Absolutes, das Wissen kann sich immer nur auf Endliches, Einzelnes, Relatives beziehen. [...] Im Glauben erfährt der Mensch Sinn und Ziel, das Wissen ist für die Seele als Ganzes letzthin nur Mittel […].60

Jaspers’ Glaubensbegriff ist Plotin zwar fremd, ist aber systematisch mit dem plotinischen Denken kompatibel, wie schon die Tatsache beweist, dass der Plotin nahestehende Neuplatoniker Proklos einen W 5. AZM 492. 58 KJG II/1, 28; vgl. ebd.: »Eine Gewissheit vom Sein Gottes, mag sie noch so keimhaft, unbestimmt unfassbar sein, ist Voraussetzung, nicht Ergebnis des Philoso­ phierens.« 59 W 676. 60 KJG I/6, 312. 56 57

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9.4 Kommunikation als Erscheinung des Einen

vergleichbaren Begriff von Glauben (pistis) als einem überrationalen Bewusstsein des Absoluten einführt.61 Dagegen weist Jaspers’ Auffassung der Philosophie als eines Liebesstrebens und insbesondere der Vernunft als einer denkenden Liebe zum Einen starke Parallelen zur Philosophie Plotins auf.62

9.4 Kommunikation als Erscheinung des Einen Jaspers kann die Vernunft als einen »totale[n] Kommunikations­ wille[n]«63 beschreiben. In ihrer Offenheit und Gerechtigkeit ebnet sie jeder eigentlich gehaltvollen Kommunikation erst den Weg.64 Diese aber ist Jaspers zufolge unentbehrlich, wenn die existentielle Selbstwerdung gelingen soll. Denn das Zusichkommen der Existenz kann, obwohl es das Zusichkommen des je Einzelnen ist, nicht von diesem allein, sondern nur im lebendigen Austausch mit anderer möglicher Existenz vollbracht werden.65 Zwar ist Jaspers zufolge keineswegs jede Kommunikation von Bedeutung für unser Selbstsein. Wird die Kommunikation aber exis­ tentiell, berührt sie einen Wesenskern in uns, so vermag sie die in ihr Verbundenen als mögliche Existenz aus der Zerstreuung zu sich selbst hervorzutreiben.66 In der Kommunikation werden wir so eins mit uns selbst, in einem anderen Sinne aber auch eins mit dem Kommu­ nikationspartner. Genau insofern verdankt sich die Kommunikation Jaspers zufolge, wie alle Formen von Einheit in der Immanenz, selbst dem absolut Einen: »Das Eine […] ist bestimmend für Vernunft und Kommunikation, für Liebe und Treue, für die Konzentration unserer Existenz, für das eigentliche Selbstsein.«67 So zeigt sich auch die Kommunikation als ein Weg vom Einen her zurück zum Einen. Denn dieses wird erst dadurch Lebenswirklichkeit für uns, dass wir, insbesondere in der Kommunikation, besondere Einheiten in der Welt verwirklichen: »Wer den einen Gott oder das Eine der Transzendenz 61 62 63 64 65 66 67

Vgl. Beierwaltes 2014b, 321–322. S.o., Abschn. 2.2. W 115. W 115. Ph II, 50. Ph II, 58. KJG I/13, 263.

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hört, kann in der Welt dem Einen sich nur dadurch nähern, dass in der Welt Einheit entsteht, vorhin [im vorhin besprochenen Zusammen­ hang; d. Verf.] Einheit mit mir selber, Identität mit mir, jetzt Einheit unter Menschen, Kommunikation. Was verbindet, das führt zum Einen.«68 Das Eine der Transzendenz wird hier also wiederum als das universal verbindende, alle Formen innerweltlicher Einheit tragende und hervortreibende Prinzip gedacht. Umgekehrt gilt: Wenn Existenz nur durch Kommunikation zu sich kommt, so tritt dieser immanente Grund unserer Selbstwerdung keineswegs in Konkurrenz zu dem Einen Urgrund, sondern ist selbst dessen Manifestation.

9.5 Philosophische Logik als Selbsterhellung der Vernunft Die vorausgegangene Klärung von Jaspers’ Vernunftbegriff erlaubt es nun, einen näheren Blick auf seine Logik zu werfen. Logik in diesem Sinne bedeutet für Jaspers eine systematische Erhellung des »Selbstbewußtsein[s] der Vernunft«69. Gemeint ist also keine bloß formale Logik, die Jaspers lieber als Logistik bezeichnet sehen möchte und die für ihn (wie für Plotin) kein eigentlicher Teil der Philosophie ist,70 sondern eine philosophisch gehaltvolle Logik, die Aspekte einer Seins- und Erkenntnislehre einschließt. Die systematisch tragende Rolle, die Jaspers der Vernunft zuweist, hat ihre Entsprechung darin, dass die Logik für ihn die dem Rang nach erste Philosophie, die prōtē philosophia, ist.71 Nicht alles Denken ist in diesem Sinne Logik, die Logik aber ist es, durch die alles Denken sich selbst klärt und versteht. In der logischen Reflexion vollzieht der Philosophierende eine Abwendung vom sinnlich Gegebenen, von der Welt, die ihm als Dasein Umwelt ist, und zugleich eine Hinwendung auf die nur denkend zu erhellenden Bedingungen von Dasein und Weltsein im Umgreifenden.72 Dieser Transzensus ist nicht leichthin zu vollziehen, sondern erfordert eine beträchtliche geistige Anstrengung. Es handelt sich aber um eine höchst lohnende Anstrengung, denn der Philoso­ phierende gewinnt durch sie eine innere Klarheit, die nicht anders als 68 69 70 71 72

Ch 55. W 9. W 406; vgl. W 19; zu Plotin s.o., Abschn. 2.1. W 15; vgl. W 20, 186–187. W 10.

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9.5 Philosophische Logik als Selbsterhellung der Vernunft

auf dem Weg der philosophischen Logik zu erreichen ist und die ihm schließlich zu einer zweiten Natur wird: Die Klarheit dieser Denkhaltung ist keineswegs natürlich, ist nicht unmittelbar da. Es ist ein Transzendieren notwendig, vermöge dessen diese Umkehrung des natürlicherweise auf den Gegenstand gerich­ teten Wissens auf sich selbst erfolgt. Die Vernunft wird sich hell in einer Anstrengung, welche die Unmittelbarkeit überwindet. Aber diese Umwendung wird, wenn sie gelingt, philosophisch natürlich; eine neue, tiefere Natur wird offenbar und zur Grundhaltung mei­ nes Wesens.73

Im Gegensatz zur populären Auffassung, die Logik sei eine lebens­ ferne Disziplin, ist sie für Jaspers die »lebensnächste«, weil sie zu Bewusstsein bringt, was menschliches Dasein immer schon »in der Tiefe« bewegt.74 Zwar ist der Eintritt in die logische Reflexion noch nicht gleichbedeutend mit dem erfüllten Selbstsein, sie ermöglicht aber das Selbstsein in klarer Bewusstheit und bringt damit gleichsam »zum Leuchten«75, was der Mensch in der Verwirklichung seines Wesens zu sein vermag. Philosophische Logik ist für Jaspers zuerst die Erhellung unseres eigenen Denkens in seinen grundlegenden Gehalten und Strukturen. Dieses Denken aber ist nicht leer und unbezüglich, in ihm ist immer schon Sein aufgeschlossen: »Jedes echte Denken ist der Art, daß im Denken Sein gegenwärtig ist«, so Jaspers.76 Anders gewendet ist die Wahrheit für ihn ein Grundcharakter des Seienden in seiner Unver­ borgenheit für das Denken – auf die fundamentale Bedeutung dieser Facette des Wahrheitsbegriffs weist demnach schon die Etymologie des griechischen Wortes alētheia.77 Auf dieser Grundlage will die Jaspers’sche Logik ein »Innewerden der Seinsgründe«78, also der grundlegendsten Strukturen und Gehalte des Seins selbst, leisten. Durch ihren Seinsbezug gewinnt Jaspers’ W 10. W 5. 75 W 6. 76 W 7. 77 W 458: »Die Wahrheit selbst ist die Offenbarkeit des uns entgegenkommenden Anderen. Wahrheit erwächst im Offenbarwerden. Wahrheit ist das Sein selbst in seinem Offenbargewordensein (das griechische Wort für Wahrheit, ἀλήθεια, heißt wörtlich Unverborgenheit).« Vgl. auch W 226: »Wahrheit ist in allen Weisen der Seinsoffenbarkeit.« 78 W 28. 73

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Logik nicht zuletzt den Charakter einer philosophischen Theologie, die es vermag, »durch ihre Abstraktheit einen Grund aller Wirklichkeit [zu] berühren, der nur durch die Erfahrung dieses Denkens selbst zu Bewusstsein kommt«79. Jaspers’ Philosophie will also ein Bewusstsein des göttlichen Seinsgrundes etablieren – erst hierdurch wird wohl ganz verständlich, warum die Philosophie für ihn ein »Weltüberwin­ den« und ein »Analogon der Erlösung« darstellen kann.80 Wo Jaspers mit seinem ontologisch gewendeten Wahrheitsbe­ griff erkennbar auf platonisches Erbgut zurückgreift,81 bleibt er zugleich der kantischen Erkenntniskritik verpflichtet. Durch diese sieht er die Vorgehensweise der ›alten‹ Ontologie diskreditiert, sofern diese abstrakt und ohne Rücksicht auf unsere Fähigkeiten zur Seinser­ kenntnis eine Lehre vom Seienden entworfen hat. Mit Kant dagegen sei es uns aufgegeben, die verschiedenen Seinssphären nicht sogleich an sich, sondern zunächst in Hinsicht auf ihre Bedeutung für mensch­ liches Erleben und Erkennen zu unterscheiden.82 Die Erste Philoso­ phie kann aus diesem Grund nicht mehr unmittelbar eine Ontologie, sondern muss zuerst und zunächst eine Logik sein. Diese hat in erster Linie die Weisen unseres denkenden Wirklichkeitsbezugs zu klären. Erst im Ausgang hiervon kann sie das Sein, sofern es Erscheinung für uns wird, in seinen Grundstrukturen sichten und erschließen. Der traditionelle Anspruch der Philosophie, das Seiende insgesamt in seinen letzten Gründen zu erhellen, wird so nicht aufgegeben, aber kritisch eingeschränkt.83 Eine Folge hiervon ist, dass die Gehalte der Jaspers’schen Logik keine beweisbare objektive Gültigkeit beanspruchen und somit auch nicht mehr als wissenschaftliches Wissen gelten können. Sie können demnach nicht erkannt, sondern nur erhellt werden; diese Erhellung aber ist nicht ›zwingend‹, sie erfordert die Bereitschaft, die von Jaspers vorgenommenen logischen Vergegenwärtigungen denkend mitzuvollziehen.84 Dennoch sind diese Erhellungen Jaspers zufolge nicht schlechthin subjektiv, sondern stehen an der Grenze möglichen Wissens. Jaspers verwehrt sich daher gegen den Vorwurf, die Logik 79 80 81 82 83 84

W 7. Einf 24. Zum Wahrheitsbegriff Platons vgl. Szaif 2009. W 158–161; zum Kant-Bezug vgl. W 209. Vgl. Sonderfeld 1990/91. W 57–58, 179–180.

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würde bei ihm »einen subjektiven, romantischen Charakter gewin­ nen«85. Vielmehr beansprucht er: »Der Bildungsprozeß der Vernunft gewinnt im persönlichen Zu-sich-selber-kommen die ganze Weite der Seinsobjektivität«86. In diesem Sinne kann Jaspers die Gehalte seiner Logik als Momente eines allem übrigen Wissen heterogenen, dieses orientierenden »Grundwissens«87 bezeichnen. Aus Jaspers’ Auffassung, dass die logische Reflexion einen besonderen inneren Mitvollzug fordert, ergibt sich zugleich positiv, dass er die philosophische Logik als Moment eines transformativen Prozesses im Denkenden selbst auffassen kann. Gleich wie sehr es sich in gedanklicher Abstraktion über das Dasein des Einzelnen erhebt, das logische Philosophieren bleibt innerer Vollzug möglicher Existenz im Zeitdasein auf dem Weg ihrer Selbstwerdung. Diese Selbstwerdung ist ihr Zweck und ihre Erfüllung, die allerdings nicht durch das Philosophieren als solches erreicht wird, sondern zu der die Philosophie bestenfalls anleiten kann. So hat der Einzelne weniger der Philosophie als vielmehr diese ihm als möglicher Existenz zu dienen: »Die Philosophie ist nicht das System des Menschen, sondern der Mensch ist er selbst und sein Philosophieren als aussagbares Denk­ gebilde Medium seiner Existenz, das ihm Mittel seiner Klärung, sei­ nes Aufschwungs, seiner Selbstführung ist, das er hervorbringt und benutzt, dem er aber nicht unterworfen ist.«88

Wenn die existentielle Selbstwerdung im oben erläuterten Sinne89 ein Prozess des Einswerdens mit sich selbst ist, dann können Vernunft und Logik als Wege gelten, das, was im einzelnen Menschen disparat ist, in einen wechselseitigen Bezug und hierdurch zu einer Form der Einheit zu bringen: »Sich konzentrierend, in-eins-bindend, was auseinanderdrängt, wird der Mensch er selbst auf dem Wege der Wahrheit.«90 Die philosophische Logik, in dem anspruchsvollen Sinn,

W 10. W 10. 87 W 28, 44; vgl. KJG I/13, 180–212. 88 W 182. 89 S.o., Kap. 8, bes. Abschn. 8.3 und 8.4. 90 W 2; vgl. W 1: »Wir leben nicht unmittelbar im Sein, daher wird Wahrheit nicht unser fertiger Besitz. Wir leben im Zeitdasein: Wahrheit ist unser Weg.« 85

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der Jaspers vorschwebt, hat so unmittelbar ethische Relevanz; sie wird zu einem Mittel der geistigen Selbstgestaltung und Selbsterziehung.91 Auf diesem Wege kann die logische Reflexion schließlich eine tiefe, metaphysisch begründete Gelassenheit bewirken: Vergegen­ wärtigen wir uns, dass unser existentielles Streben letztlich immer auf die Transzendenz gerichtet ist und dass außer dieser nichts für uns letzte Bewandtnis haben kann, dass das Transzendente aber gänzlich von unserem Wollen und Nichtwollen unabhängig ist, so vermag unser Wille sich in diesem Gedanken gleichsam selbst einzuklam­ mern und in ebendieser Selbstbeschränkung seine »Selbstverwirkli­ chung«92 zu finden. Die bloßen Daseinsinteressen treten zurück, ein letzter Halt wird in der Wirklichkeit der Transzendenz gefunden. Es gilt dann der Satz: »Es ist genug, daß Gott ist.«93 Wir legen den »isolierenden, zerstörenden, endlichen Willen« ab und erfahren die »Rettung« im »Sichanvertrauen an die Ruhe im Einen«.94 Die Logik als Selbsterhellung der Vernunft ist so für Jaspers einerseits das Innewerden der Seinsursprünge, nicht als objektive Erkenntnis im Sinne eines für jedermann zwingenden Wissens, wohl aber als philosophische Klärung und Vergegenwärtigung von Bedin­ gungen der Objektivität. Sie ist andererseits eine Funktion unserer existentiellen Selbstwerdung, deren letztes Ziel die Ruhe im Einen ist. Vergleicht man Jaspers’ Logik mit der plotinischen Dialektik95, so zeigen sich einige bemerkenswerte Gemeinsamkeiten und Differen­ zen. In beiden Fällen handelt es sich um ein nicht bloß formales, son­ dern um ein gehaltvolles, seinserschließendes Denken. Beide Denker gehen – auch wenn dieser Ausdruck in Bezug auf Plotin natürlich ana­ chronistisch ist – dabei grundsätzlich den transzendentalkritischen Weg einer Selbstvergewisserung des Denkens, das sich erst hierdurch das Seiende erschließt.96 In beiden Fällen vermag das Denken auf Vgl. W 10: »Die Logik als Organon der Vernunft wird zum Bildungsprozeß des je Einzelnen. Ich selbst muß ganz beteiligt sein, wenn solche Logik gelingen soll. Der Wille zur Klarheit, Offenheit, Gerechtigkeit ist mehr als der Wille zu irgendeinem Einzelwissen oder auch zu der gesamten gegenständlichen Erkenntnis; er ist ein Wille meines Wesens, unbedingt, keinem andern untergeordnet, vielmehr allem andern in mir Raum und Weg zeigend.« 92 W 181. 93 W 896. 94 W 181. 95 S.o., Abschn. 2.1. 96 Vgl. Graeser 1992, 242; Rohstock 2019, 95. 91

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9.6 Denken und Erfahrung des Umgreifenden

diesem Wege auch ein Göttliches zu ›berühren‹, in beiden Fällen hat es höchste ethische Bedeutung für den Denkenden. Methode und Selbstverständnis der Jaspers’schen Logik unterscheiden sich aller­ dings stark von denen der Dialektik Plotins. Wo dieser im Wesentli­ chen den von Platon entwickelten Methoden der Synthesis und Dihai­ resis folgt, propagiert Jaspers einen Methodenpluralismus97, in vieler Hinsicht bleibt er der phänomenologischen Methode98 verpflichtet. Ferner geht Jaspers davon aus, seine »Erhellung des Umgreifenden«99 sei unbeweisbar und daher nicht wissenschaftlich, während Plotin in seiner Dialektik die Wissenschaft (epistēmē) par excellence sieht.

9.6 Denken und Erfahrung des Umgreifenden Ähnlich wie in der Psychologie der Weltanschauungen100 fundiert Jaspers die Darstellung seiner Philosophie in Von der Wahrheit auf einer Analyse des »Urphänomen[s]«101 der Subjekt-Objekt-Spal­ tung. Demnach gilt: »Das Bewußtsein als ›intentionales‹ hat etwas vor sich, auf das es, es denkend, auf eine mit jeder anderen Bezie­ hung in der Welt unvergleichliche Weise, bezogen ist.«102 Genauer sind wir als selbstbewusste Subjekte auf die Gegenstände unseres Bewusstseins gerichtet, die wir sowohl von uns als auch voneinander unterscheiden. Ohne eine solche doppelte Unterscheidung wäre das Denken, wie wir es kennen, als ein bestimmendes und differenzieren­ des Denken, unmöglich.103 Allerdings ist die Subjekt-Objekt-Spal­ tung keineswegs total, wir sind ja auf Gegenstände außer uns bezogen, wie sich am entschiedensten im Erkenntnisakt zeigt. In ihm erfah­ ren wir Jaspers zufolge die »ständige Vermittlung zwischen Subjekt und Objekt«104; allein die Möglichkeit einer solchen Vermittlung verweist uns demnach auf jene umgreifende Wirklichkeit, die der Subjekt-Objekt-Spaltung vorausliegt. Dieses Umgreifende ist uns W 21. Zu Jaspers’ früher Aneignung und Benutzung dieser Methode vgl. Luft 2008. 99 W 159. 100 S.o., Abschn. 3.1. 101 W 231. 102 W 231. 103 W 234. 104 W 250. 97

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allerdings nicht mehr gegenständlich erkennbar, sondern nur noch indirekt zu erhellen, da alles Erkennen in der Spaltung statthat.105 Neben dem indirekten Offenbarwerden des Umgreifenden im gegenständlichen Erkennen gibt es für Jaspers besondere Erlebnisse, in denen, in nicht mehr objektivierbarer Weise, die Gegenwart des Umgreifenden unmittelbar erfahren wird. Dies ist zum einen in natur­ mystischen Erfahrungen der Fall, z.B. einem von Jaspers eindringlich beschriebenen Erlebnis »im Gewitter am Strande der Nordsee«106, zum anderen im spekulativen Denken, dessen Vollzüge uns auf die absolute Einheit im Grund des Seins verweisen.107 Schließlich können Menschen Jaspers zufolge in der Erfahrung der unio mystica schlechthin aus der Subjekt-Objekt-Spaltung heraustreten.108 Jaspers sieht in der Frage nach dem Umgreifenden einen Akt der Vernunft, die, ihrem Einheitsstreben geschuldet, den Gegensatz von Subjekt und Objekt nicht als einen letzten bestehenlassen will und daher nach Weisen sucht, in denen das Umgreifende sich in unserem Denken und Erleben zu erkennen gibt. Im Prozess dieser Vergegen­ wärtigung scheint das Umgreifende in verschiedenen Aspekten auf, welche Jaspers als die ›Weisen des Umgreifenden‹ bezeichnet. Jaspers versteht unter diesem Ausdruck sowohl die ›Ursprünge‹, aus denen uns Seinserfahrungen verschiedener Art entgegenkommen, wie die Sphären der Wirklichkeit, die uns von diesen Ursprüngen her eröffnet werden.109 Obgleich das Umgreifende von Jaspers als dasjenige kon­ zipiert wird, das der Spaltung von Subjekt und Objekt vorausliegt, unterscheidet er die Weisen des Umgreifenden zunächst wiederum in subjekthafte und objekthafte: »Sein, das wir selbst sind« und »Sein, das Sein an sich ist«.110 Der von Jaspers entfalteten Systematik zufolge gliedert sich das ›Sein an sich‹ in Welt und Transzendenz, das ›Sein, das wir sind‹, in Dasein, Bewusstsein überhaupt, Geist und

W 251. W 897. 107 W 897–898; vgl. W 136. Für die hier gemeinte Weise spekulativen Denkens ver­ weist Jaspers auf »Plotin, Eckart, Cusanus« (W 897); s.o., Abschn. 6.2 und unten Abschn. 10.1. 108 W 136–137. 109 Zu Jaspers’ Philosophie des Umgreifenden vgl. Knauss 1957; Sonderfeld 1990/91 (zum problematischen »Status der Weisen des Umgreifenden« ebd., 124); Salamun 2006, 67–77. 110 W 47. 105

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Existenz.111 Eine weitere, nicht in dieses Schema einzuordnende Weise des Umgreifenden ist die Vernunft, die im Vollzug der logischen Vergegenwärtigung »das Band aller Weisen des Umgreifenden in uns«112 darstellt. Vor dem Hintergrund, dass die Transzendenz von Jaspers als der Seinsgrund schlechthin konzipiert wird, mag es absonderlich scheinen, dass sie zugleich als eine der Weisen des Umgreifenden neben anderen genannt wird. In einem gewissen Sinne, betont Jas­ pers, sind alle Weisen des Umgreifenden transzendent; sie sind transzendent in dem Sinne, dass sie keine Gegenstände sind, sondern Gegenständlichkeit ermöglichen und erschließen.113 Von den anderen Weisen des Umgreifenden, die insofern auch transzendent sind, kann allerdings die Transzendenz als das »Umgreifende schlechthin, das Umgreifende alles Umgreifenden« und die »Transzendenz aller Transzendenzen« nochmals abgehoben werden.114 Die Transzendenz ist also nur vorläufig oder katachrestisch als eine Weise des Umgrei­ fenden neben anderen zu charakterisieren, in Wirklichkeit ist sie das­ jenige Unvordenkliche, das die anderen Weisen zugleich übersteigt und umfasst. Dieser zweifachen Transzendenz entspricht Jaspers zufolge eine »zweifache Transparenz«115: Das gegenständlich Seiende wird uns philosophierend einerseits transparent in Hinblick auf das umgreifende Weltsein, zum anderen kann es uns in der Gestalt von Chiffren, symbolischen Vergegenwärtigungen der Transzendenz, in Hinblick auf diese transparent werden. Obgleich die Weisen des Umgreifenden nicht rational ausein­ ander ableitbar sind, stehen sie doch in einer hierarchischen Rang­ ordnung: das Bewusstsein überhaupt über dem Dasein, der Geist über dem Bewusstsein überhaupt, Existenz über dem Geist – die Transzendenz über der Welt einerseits und der Existenz andererseits. Dabei ist es die größere Einheitlichkeit der je höheren Weisen, die es 111 W 48. ›Bewusstsein überhaupt‹ meint dabei einen durch Abstraktion vom Daseinsbewusstsein gewonnenen Raums allgemeingültigen Denkens, ›Geist‹ ein in sich dialektisch strukturiertes Gefüge kulturell vermittelter Sinngehalte (›Ideen‹). Welt ist der Ursprung der in Raum und Zeit erfahrenen, immanenten Gegenständ­ lichkeit. Zu Dasein, Existenz und Transzendenz, den Zentralbegriffen von Jaspers’ Existenzphilosophie, s.o., Kap. 8, bes. Abschn. 8.1. 112 W 50. 113 W 109. 114 W 109. 115 W 109.

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ihnen erlaubt, sich die anderen gleichsam als Material unterzuordnen. So wird bloßes Dasein zum Material allgemeinen Verstehens im Bewusstsein überhaupt, dieses wird durch den Geist als sinnhafte Ganzheit strukturiert, der Geist wiederum ist das Material, in dem sich existentielle Unbedingtheit manifestiert.116 Die Existenz, die alle anderen Weisen des Umgreifenden, das wir sind, gleichsam in ihren Dienst nimmt, weiß sich abhängig von der Transzendenz.117 Transzendenz wird aber nicht nur als der Grund alles Seienden, das wir sind, gedacht, sondern auch als der des Weltseins. Das Sein der Welt ist demnach ein »zweites Sein«118, das im absoluten Sein der Transzendenz gründet, was, so Jaspers, in der Chiffre der Schöpfung vergegenwärtigt wird.119 Auf diese Weise haben alle Weisen des Umgreifenden ihren letzten Grund in der Transzendenz, sie ist der Seinsgrund, aus dem alles Seiende hervorgeht und in dem es immer noch verbunden ist.120 In Bezug auf Jaspers’ Lehre von der Transzendenz als dem Einen Seinsgrund erscheint ein Vergleich mit Plotin besonders lohnend. Dass alles Seiende in einem solchen vollkommen einheitlichen Seins­ grund fundiert ist und durch seine eigene Transparenz wiederum auf diesen Seinsgrund verweist, ist die klassische Position jener platonisch geprägten, philosophischen Gotteslehre, als deren bedeu­ tendsten und konsequentesten Vertreter Jaspers Plotin ansieht.121 Von einem Einfluss des Neuplatonikers auf Jaspers ist daher mit Sicherheit auszugehen. Jaspers’ Lehre vom Umgreifenden hat demgegenüber zwar kein unmittelbares Pendant in der Philosophie Plotins – es handelt sich vielmehr um eine höchst originelle eigene Entwicklung. Zwischen seiner Konzeption eines Umgreifenden von Subjekt und Objekt und Plotins Ansetzung des Einen als der Einheit von Denken und Gedachtem bzw. Denken und Sein besteht allerdings eine struk­ W 674: »Es gibt eine unverbrüchliche Rangordnung der Weisen des Umgreifenden. Ihr Verhältnis des Sichergänzens ordnet sich zu einem Ganzen. Die niederen Weisen stehen unter der Bedingung der höheren, die höheren unter der Bedingung des Diens­ tes der niederen.« Einf 51: »In der Verwirklichung des Unbedingten wird das Dasein gleichsam zum Material der Idee, der Liebe, der Treue. Es wird hineingenommen in einen ewigen Sinn, gleichsam verzehrt und nicht freigelassen zur Beliebigkeit des bloßen Lebens.« 117 S.o., Kap. 8, bes. Abschn. 8.3. 118 W 108. 119 W 90. 120 Vgl. Ratzsch 2017, bes. 145–149. 121 S.o., Abschn. 6.3. 116

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9.7 Die Wirklichkeit des Einen

turelle Analogie, auf die Jaspers bisweilen selbst hinweist.122 Eine bedeutende Gemeinsamkeit ist auch, dass die Weisen des Umgrei­ fenden eine hierarchische Ordnung bilden, und zwar, wie die Seins­ stufen Plotins,123 ihrem jeweiligen Einheitsgrad entsprechend.

9.7 Die Wirklichkeit des Einen Wenn Jaspers’ Erhellung des Umgreifenden sich seinem eigenen Selbstverständnis nach einem existentiell getragenen Einheitsstreben verdankt und wenn dieses Einheitsstreben für Jaspers, wie gezeigt, ein Grundcharakter menschlicher Existenz überhaupt ist, so wird vor diesem Hintergrund die Frage drängend: Ist das Eine, nach dem wir streben, eine Wirklichkeit oder ist es lediglich unsere Natur, immer wieder auf Einheit auszugreifen – ohne dass es deshalb ein absolut Eines ›geben‹ müsste? In der Beantwortung dieser Frage differenziert Jaspers zwei Weisen, sie aufzufassen. Demnach gilt: »Ob es das Eine ›gibt‹, bleibt für das Wissen unbeantwortbar.«124 Wo aber bloßes Wissen keine Antwort auf die Frage nach dem Sein des Einen gibt, ist es die existentielle Erfahrung des Einen, die uns seiner Wirklichkeit und seiner Gegenwart versichert: Das Erfahren der Einheit ist die Höhe des Menschen. Im Einen kommt er zu sich selbst. Das Eine ist ihm in der Entfaltung zwar niemals vollendet und niemals erkannt als das, was er nun besäße, aber es ist ihm sein Ursprung, ist im Keime gegenwärtig mit seiner ersten Reflexion, ist das, worin er lebt als der eigentlichen Wirklichkeit.125

Die Frage, ob das Eine ›ist‹ – die wohl subtil von der Frage, ob es ›es gibt‹ verschieden ist –, ist daher für Jaspers mit Ja zu beantworten, auch wenn das Eine uns jederzeit unwissbar bleibt: Auf die Frage: ist denn kein Eines? ist daher zu antworten: Nein, wenn man das Eine wissen will in der Lehre vom Einen, im philosophischen Weltbild, in Metaphysik oder Wahrheitslehre. Denn das Eine ist nicht zugänglich dem Wissen, das faßlich oder gar leib­ haftig (und dann immer notwendig partikular) denken, sehen und begründen will. 122 123 124 125

Vgl. GP 416 (dazu s.o., Abschn. 7.1); Einf 33. S.o., Abschn. 2.2. W 680. W 680.

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Ja, jedoch nur erhellbar in der philosophischen Bewegung, die als reiner Gedanke die Erinnerung oder die Antizipation ist der leben­ digen Erfahrung des Einen im Einen des allumgreifenden Gegenwär­ tigseins.126

Insbesondere ist es demnach das Eine, dass uns durch seine »alldurch­ dringende[] Zugkraft«127dazu befähigt, Einheiten im Weltdasein auf­ zufassen und zu thematisieren. Jaspers zufolge ist die Wirksamkeit des Einen aber nicht bloß subjektiv128 – die Einheit von Gegenständen überhaupt, von Ideen, die Einheit der Vernunfttätigkeit und die Einheit der Existenz werden vielmehr durch das Eine der Transzen­ denz ermöglicht und von ihm getragen.129 Das transzendente Eine bezeichnet Jaspers in dieser Hinsicht als die »Angel aller Einheit«130, d.h. als den Angelpunkt, an dem, bildlich gesprochen, jede besondere Einheit ihren Halt hat. In der weiteren Diskussion der Frage verneint Jaspers die Mög­ lichkeit, das Absolute als eine harmonische Ganzheit zu denken.131 Angemessener (wenngleich immer noch nur als Chiffre) würde das Eine als die »absolute Einheit«132 bzw. als das »schlechthin Eine[]«133 vergegenwärtigt. In seiner absoluten Transzendenz weist das Eine freilich auch diese Bestimmungen von sich. Daher gilt Jaspers in Von der Wahrheit der Name ›Gott‹ als die geeignetste Bezeichnung des Einen Seinsgrundes: »Gott ist ein Name. Weil ein Name kein Gedachtes, keine Kategorie ist, scheint er am ehesten angemessen.«134 Ausgehend von dieser Überlegung bringt Jaspers seine Philosophie des Einen auf die folgende Formel: W 681. W 681. 128 Auch wenn das Eine ausdrücklich keine Idee ist, erinnert dies an Jaspers’ Ideen­ konzeption, die neben einer methodischen und einer subjektiv-psychologischen auch mit einer objektiv-metaphysischen Wirkung der Ideen rechnet; s.o., Abschn. 3.1. 129 W 680–681. 130 W 705; vgl. KJG I/8, 145: »In der Transzendenz ist die wahre Einheit als die Angel aller sich verwandelnden Einheit in der Welt, ist die Einheit als Urbild aller uns sichtbaren, spiegelnden Einheit.« 131 W 688. 132 W 690. 133 W 121. 134 W 690. – Dagegen gilt der Ausdruck ›Gott‹ Jaspers in der Philosophie noch als eine uneigentliche, quasi-mythologische Bezeichnung der Transzendenz; vgl. Ph II, 1: »Was in mythischer Ausdrucksweise Seele und Gott heißt, [heißt] in philosophischer Sprache Existenz und Transzendenz«. In diesem Werk bevorzugt er daher die Ausdrü­ cke ›Transzendenz‹ oder ›die Gottheit‹. 126

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9.7 Die Wirklichkeit des Einen

Die Einheit, als die eine wahre Einheit in der Welt und als Weltganzes unauffindbar, hat ihren Ort in der Raumlosigkeit der Transzendenz. Wahre absolute Einheit ist nur der Eine Gott.135

Zweifellos ist der Eine Gott der wesentliche Fluchtpunkt des Jas­ pers’schen Denkens. Von ihm spricht Jaspers mit einem in seinem Werk singulären Enthusiasmus: Der Eine Gott ist der hinreißendste Gedanke, der innigste Glaube, das tiefste Seinsbewußtsein, ist ergreifendste Wirklichkeit und beruhi­ gendste Gewißheit. Er ist die einzige Wahrheit der Transzendenz.136

Dabei ist zu bedenken, dass Gott als die reine Einheit für Jaspers in einem gewissen Sinne zugleich das Allumfassende ist. Weil er in keiner Relation zum Seienden steht, auch nicht in der des Gegensat­ zes, hat er »nichts außer sich«137. Der Eine Gott ist so zugleich das Nicht-Andere im Sinne der platonischen Tradition.138 Diese Denk­ figur erlaubt es Jaspers, die Transzendenz nicht nur als das Eine, sondern auch als das All-Umgreifende zu denken, ohne ihre reine Einheit zu verlieren. Die von verschiedenen Forschern geäußerte These,139 dass Jas­ pers mit seinem Begriff des Einen Gottes den neuplatonischen Begriff des absolut Einen aufnimmt, erweist sich vor diesem Hintergrund als vollends gerechtfertigt. Die Unausdenkbarkeit und Unwissbarkeit des Jaspers’schen Einen weisen ebenso in diese Richtung wie sein universaler Prinzipiencharakter, seine grenzenlose, liebeerweckende Anziehungskraft, seine reine Einheit und seine allumfassende Natur. Bocheńskis Charakterisierung ist daher zuzustimmen: Jaspers’ »Gott­ heit ist verborgen, unerkennbar, das alle Kategorien überschreitende absolut Eine«, und jedenfalls insofern kann Jaspers in der Tat als ein »getreuer Schüler Plotins« gelten.140 Nur in aller Kürze ist hier darauf zu verweisen, dass sich auch Jaspers’ einflussreiche Religionsphilosophie auf diesen neuplatonisch geprägten Begriff des Einen Gottes stützt. Dies ist von Rüdiger Hillgärtner kritisch angemerkt worden: »An die Stelle des persona­ W 690. W 690. 137 W 690. 138 Vgl. Plotin, VI 9, 8, 33–34; in stärkerer Ausarbeitung dann Nikolaus von Kues, De non aliud, h XIII; vgl. dazu Bredow 1984; Halfwassen 2006, 341 Anm. 217. 139 S.o., Kap. 1. 140 Bocheński 1951, 202. 135

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9 Das Eine in Vernunftphilosophie und Logik

len biblischen Gottes tritt das Eine, ein unpersönliches, abstraktes Gottesprinzip der griechischen Philosophie.«141 Wenn diese Gegen­ überstellung von ›griechischer‹ und biblischer Theologie auch allzu unvermittelt daherkommen mag,142 so trifft sie doch einen wesentli­ chen Zug in Jaspers’ Gottesbegriff und Religionsverständnis. Es ist demnach der Eine, vollkommen transzendente Gott, der sich in den Gottesbildern der verschiedenen Religionen widerspiegelt und zugleich verbirgt, da diese ihm schlechthin nicht gerecht zu werden vermögen. In Anlehnung an Nicolaus Cusanus formuliert Jaspers diese Sichtweise wie folgt: »Una religio in rituum varietate«143. Sind alle religiösen Kulte in irgendeiner Weise Dienst am Einen Gott, so bedeutet dies für Jaspers nicht zuletzt – ähnlich wie und doch anders als für den gläubigen Christen Cusanus –, dass sie alle eine grundle­ gende Wertschätzung und Toleranz verdienen.144

9.8 Die »lebendige Erfahrung« des Einen Obgleich der Eine Gott nicht rational zu begreifen ist, rechnet Jaspers mit der Möglichkeit einer »lebendigen Erfahrung des Einen«145. Eine solche Erfahrung ist freilich kein Datum in der Welt, auf das man sich berufen könnte, weder vor anderem Dasein noch vor sich selbst. Behauptungen einer derartigen Gotteserfahrung seien daher »hinfäl­ lig, sobald sie ein fester Boden werden sollen, sobald sie das Eine als Besitz zur Verfügung zu stellen scheinen.«146 Jaspers formuliert seine Darstellung der Gotteserfahrung daher zunächst vorsichtig im Konjunktiv. Eine derartige Erfahrung könne demnach allein »[i]n der Tiefe dieses Einen, das ich bin«, möglich werden.147 Das ›Eine, das ich bin‹, setzt Jaspers keineswegs mit der Transzendenz gleich. Es Hillgärtner 2009, 146. Man denke an die große Tradition des christlichen Platonismus; vgl. Beierwal­ tes 2014a. 143 KJG I/12, 57. 144 Zum Platonismus als einem Medium interreligiöser Verständigung vgl. Drews, F. 2018, dort bes. 334–482 zu Cusanus; zum metaphysischen Hintergrund der Jas­ pers’schen Toleranzforderung vgl. Durfee 1970; Ratzsch 2018a, dort auch zu Jaspers’ – keineswegs unkritischer – Berufung auf den Cusaner. 145 W 681. 146 W 695. 147 W 695. 141

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9.8 Die »lebendige Erfahrung« des Einen

ist nicht das schlechthin Eine, sondern die Einheit je meines Seins und daher wohl mit dem in der Philosophie erwähnten Einen der Exis­ tenz, jener »transzendent bezogene[n] Substanz des Selbstseins«148, gleichzusetzen. Systematisch entspricht es dem unum in nobis der Neuplatoniker; wie für sie ist es auch für Jaspers das ›Eine in mir‹, durch das ich in der Lage bin, das absolut Eine zu ›berühren‹.149 Zwar hebt Jaspers hervor, dass alle Beschreibungen der Gotteser­ fahrung uneigentlich zu verstehen sind, dass sie nicht mehr sein können als »Hinweis und Erinnerung«150 und dass das Erlebnis selbst nur in Paradoxien und gar nicht adäquat auszusprechen ist.151 All diesen Einschränkungen zum Trotz aber schließt Jaspers: »Und doch bleibt Wahrheit in der unmittelbaren Erfahrung des Einen.«152 Jaspers vertieft seine Darstellung der Gotteserfahrung, indem er drei verschiedene Weisen dieser Erfahrung unterscheidet, die als Stufen der Intensität des Einsseins mit dem Einen verstanden werden können.153 Dabei nennt er erstens die unio mystica als »Bewußtseins­ verwandlung«, zweitens die »helle[] Gegenwart des Unbedingten« im »absolute[n] Bewußtsein« und schließlich drittens die Gegenwart des Einen in der »Bewegung des Bewußtseins«, d.h. im auf es ausgreifenden vernünftigen Denken.154 Die unio mystica wird dabei als ein Heraustreten aus sich selbst verstanden, aus dem »gegenwärtigen Bewußtsein […] gleichsam in die Helligkeit gegenstandslosen Lichtes.«155 Es handelt sich also um eine Verwandlung des Bewusstseins, dergestalt, dass alle Spal­ tungen aufhören, insbesondere die von Subjekt und Objekt, und allein die ungegenständliche Wirklichkeit des Einen unbeschreiblich, weil »ohne Bild« und »ohne eine Weise«, erfahren wird.156 Daher »ist in der unio mystica nur das Eine«157, der Myste tritt ein in die vollkommene Abgeschiedenheit und lässt dabei ebenso die Welt wie sein eigenes Dasein hinter sich. Deutlich klingen hier Beschreibungen 148 149 150 151 152 153 154 155 156 157

Ph II, 335; s.o., Abschn. 8.4. Vgl. Enders 2004, 546 (mit Bezug auf W 695); s.o., Abschn. 8.4. W 696. W 695–696. W 696. Vgl. Enders 2004, 546–547. W 696. W 696. W 696. W 696.

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9 Das Eine in Vernunftphilosophie und Logik

der mystischen Erfahrung durch Denker wie Plotin und Meister Eckhart an.158 Jaspers bezweifelt die Wirklichkeit und Gültigkeit solcher Erfah­ rungen keineswegs. Zwar beansprucht er die unio mystica nicht für sich selbst, die Zeugenschaft der großen Menschen, die sie erfahren haben, ist für Jaspers aber unabweisbar: »Die unio mystica hat für einzelne Menschen Außerordentliches bedeutet; sie ist glaubwürdig durch den Bezug, den Menschen hohen Ranges auf diese Erfahrung hatten.«159 Dennoch kann Jaspers die unio mystica wie schon in der Psychologie der Weltanschauungen nicht ausschließlich positiv werten.160 Ob ein mystisches Erlebnis eine positive Kraft im Ganzen des Lebensvollzugs wird, hänge vielmehr vom Umgang des Einzelnen mit diesem außergewöhnlichen Erleben ab: Wird es als Kuriosität genossen, oder wird es in seiner metaphysischen Signifikanz verstan­ den als ein »Berühren des Einen, das die Welt in sich schließt«?161 Nur im letzteren Fall können Jaspers zufolge positive Antriebe von der unio mystica ausgehen. »Dann verwandelt die unio mystica den Menschen, wird Ursprung und Ziel seines Weltdaseins; in diesem kommt sie zur Erscheinung und vollendet es«162. Durch die in ihr begründete »Gestaltung des Menschen« wird die unio mystica dann sogar »indirekt kommunikabel«, sie wird ein Antrieb zu praktischer Tätigkeit und erlangt so Wirksamkeit als daseinsgestaltende Macht in uns.163 Die unio mystica ist für Jaspers die intensivste, keineswegs aber die einzige Form der Erfahrung des Einen. Neben dieser sind die Erfahrung des Einen im absoluten Bewusstsein und in der Vernunft zu nennen. Als absolutes Bewusstsein bezeichnet Jaspers in diesem Kontext die Gegenwart des Einen durch die Gespaltenheit der phänomena­ len Realität hindurch. Wir erfahren dann, dass ein Unbedingtes gegenwärtig und in uns wirksam ist, ohne dass dieses Eine unmittel­ bar erfahren oder gar gegenständlich gewusst würde. Das absolute Zu Plotin s.o., Abschn. 2.2; vgl. dazu bes. Beierwaltes 1974, 26–31; zu Meister Eckhart s. Pr. 2, DW I, 42–44. 159 W 702 vgl. W 137. 160 Jaspers’ in dieser Hinsicht zwiespältiges Verhältnis zur Mystik beleuchten Olson 1983 sowie Nakayama 2003. 161 W 697. 162 W 697. 163 W 697. 158

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9.8 Die »lebendige Erfahrung« des Einen

Bewusstsein stellt somit eine »Grundgewissheit«164 des Transzenden­ ten dar, die das Alltagsleben trägt und durchdringt. In diesem Sinne ist es auch der tragende Grund des Gewissens, durch das der Mensch zu eigentlichem Selbstsein berufen ist.165 Ferner manifestiert es sich in der Liebe und im Glauben, aber auch in der existentiellen Phantasie, durch welche die gegenständliche Realität dem Menschen gleichsam als chiffrierte Mitteilung der Transzendenz lesbar wird – z.B. das erwähnte Nordsee-Gewitter.166 Eine noch weiter vermittelte Erfahrung des Einen ist nach Jaspers die des vernünftigen Denkens, denn in der Vernunft ist das absolut Eine nur noch als ein Gesuchtes, als ein Ziel und Antrieb gegenwärtig. Die Vernunft ist daher eine Weise »[v]ermittelte[r] Unmittelbarkeit«, in der das Eine zwar tatsächlich erfahren wird, aber nicht als ein schon Zugegenes, sondern als ein Erstrebtes, aber stets noch Ausbleiben­ des.167 Die genannten drei Weisen der Gotteserfahrung sind dabei nicht als Alternativen gedacht, sondern können sich alle gleichermaßen im Dasein eines Menschen verwirklichen. Während die Erfahrung der Gegenwart des Einen im vernünftigen Denken und im absoluten Bewusstsein allen Menschen offensteht, bleibt die Erfahrung der unio mystica Jaspers zufolge aber besonderen Individuen vorbehalten. Welche Bedeutung Jaspers der Erfahrung des Einen Gottes insge­ samt zubilligt, zeigt sich vielleicht am besten daran, dass er Von der Wahrheit mit Gedanken zur Erfahrung des Einen abschließt. Ob der »Aufstieg zur einen Gottheit«168 gelingt, ist demnach die eine wesent­ liche Lebensfrage, auf die es vor allem anderen ankommt. In diesem Kontext betont Jaspers, dass alle Gotteslehren, alle symbolischen Vergegenwärtigungen, auch alle »behauptete Offenbarung« Gottes an dessen Wirklichkeit nicht heranreichen, sondern bestenfalls »Zeiger und Gleichnis« sein können.169 Wird uns die Erfahrung des Einen zuteil, so ist durch sie verwirklicht, was im Philosophieren von Anfang

W 698. W 697; vgl. Ph II, 268–269; zur Bedeutung des Gewissens bei Jaspers s.o., Abschn. 8.2. 166 Ph II, 276–284; W 697. 167 W 700. 168 W 1049. 169 W 1052. 164 165

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9 Das Eine in Vernunftphilosophie und Logik

an gesucht war: »Befreiung, Erlösung, Ruhe, de[r] Grund des Seins – die Vollendung des Wahrseins«170. In diesem Sinne reflektieren die letzten Worte des mehr als tausendseitigen Opus auf die Möglichkeiten der Gotteserfahrung und die Rolle, die der Philosophie hierbei zukommt: Der Ursprung liegt in Gott. Von ihm her muß einem jeden Menschen geschenkt werden, was er wird dadurch, daß ihm das Sein aufgeht und wie es ihm aufgeht. Sich mitteilende Philosophie gibt nicht Wirklich­ keit, sondern veranlasst, ihrer inne zu werden. Philosophie erweckt, macht aufmerksam, zeigt Wege, führt eine Stre­ cke weit, macht bereit, läßt reif werden, das Äußerste zu erfahren.171

Es ist instruktiv, diese Passage mit einem konzeptionell (nicht dem Wortlaut nach) eng verwandten Gedankengang bei Plotin zu verglei­ chen: Denn alles Schöne ist später als das Eine und kommt von ihm, so wie alles Tageslicht von der Sonne. Darum lässt sich von ihm »weder reden noch schreiben«, wie es heißt: sondern wir reden und schreiben nur davon, um zu ihm hinzuleiten, aufzuwecken aus den Begriffen zum Schauen und dem, der schauen will, gleichsam den Weg zu weisen; denn nur bis zum Wege, bis zum Aufbruch reicht die Belehrung, die Schau muss dann selbst vollbringen, wer zu sehen gewillt ist.172

Dieser direkte Vergleich mag vor Augen führen, wie viel Jaspers Plotin gerade für sein Philosophieverständnis verdankt. Jaspers’ in der Philosophie grundgelegte und dann in der Philosophi­ schen Logik weiterentwickelte Metaphysik weist, wie hier gezeigt werden konnte, distinkt einheitsmetaphysische Züge auf. Die Trans­ zendenz oder Gott ist demnach der absolut Eine Seinsgrund, in dem alles immanent Seiende fundiert ist, und zwar gerade insofern es je eines ist; hierdurch wird es zu einem verschwindenden Symbol des Einen. Zugleich ist das Eine, kraft seiner Einheit, das Allumfassende. Die verschiedenen Seinssphären, die Jaspers’ Logik erhellt, die Weisen des Umgreifenden, werden von ihm wiederum umgriffen und tran­ szendiert.

170 171 172

W 989. W 1054. Plotin, Enn. VI 9, 4, 10–16 (Zitat aus Platon, Epist. VII 341c5).

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9.8 Die »lebendige Erfahrung« des Einen

Die Vernunft, die diese Begründungsverhältnisse aufdeckt, ver­ dankt sich dabei selbst einer Intention auf das Eine, sie kann als ein Liebesstreben nach ihm charakterisiert werden. Auch die Kom­ munikation ist als Einheit der Kommunikationspartner im absolut Einen gegründet. Jaspers’ Logik umfasst, wie dies zeigt, eine philosophische Theo­ logie des Einen Gottes, zugleich hat sie eine eigene ethische Bedeu­ tung als Mittel zur Selbstgestaltung und als Weg zur »Ruhe im Einen«. Sie weist den Weg zu einem Innewerden des Einen, sei es im absoluten Bewusstsein, sei es in der unio mystica. Für diese Lehren beansprucht Jaspers keine Originalität, sondern vielmehr die Kontinuität zur philosophischen Tradition. In dieser Konstellation und vor dem Hintergrund von Jaspers’ intensiver Beschäftigung mit dem Begründer des Neuplatonismus wird klar, dass die Philosophie Plotins ihre wichtigste Quelle sein muss.

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10 Negative Theologie und kategoriales Transzendieren

In den beiden vorangehenden Kapiteln konnte gezeigt werden, dass sowohl Jaspers’ Existenzphilosophie als auch seine Logik ihre letzte Begründung im Gedanken des Einen, der absolut einheitlichen und schlechthin transzendenten Gottheit, haben. Die Parallelen dieses Denkens zu seiner vornehmlichen Quelle in der Philosophie Plotins wurden aufgewiesen. In einem dritten Schritt soll nun vertieft werden, wie Jaspers dieses Absolute selbst thematisiert, nämlich mit den Mit­ teln einer negativen Theologie und einer diese entfaltenden, ebenfalls negativen, weil sich selbst aufhebenden, dialektischen Spekulation.

10.1 Plotin als Meister der Spekulation Wenn Jaspers Plotin in seinen systematischen Schriften erwähnt, dann wird dieser zumeist als der prototypische Vertreter einer speku­ lativen Metaphysik angeführt, die jene Gedankenbewegung vollzieht, welche Jaspers selbst als ein formales oder kategoriales Transzendie­ ren bezeichnet. Ganz grundsätzlich weist Jaspers darauf hin, dass die »Bewusst­ seinsanalyse« in der Geschichte der Philosophie immer wieder in ein Denken des – an den Grenzen des Bewusstseins aufscheinenden – Transzendenten »umgeschlagen« ist. Bei Plotin geschehe dieser Umschlag ausgehend von der Logik, durch ein formales Transzendie­ ren in logischen Bestimmungen: In den Richtungen der Bewußtseinsanalyse werden konstruktive Sche­ mata für Logik (als die formale Vergegenwärtigung des für das Bewußt­ sein überhaupt Gültigen), für Psychologie (als die Erforschung empi­ risch daseienden Bewußtseins) und für die Geschichte des Bewußtseins (als die Reproduktion des geistigen Prozesses) erarbeitet. Aber diese objektivierenden Analysen, welche zum Teil in großartigen Entwürfen vorliegen, vermögen sich nirgends zu schließen. Sie stoßen

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10 Negative Theologie und kategoriales Transzendieren

an Grenzen, an denen fühlbar wird, was ihnen selbst nicht zugänglich ist. Logik schlägt um in ein formales, metaphysisches Transzendieren (Plotin), Psychologie in Existenzerhellung (Kierkegaard), Geschichte des Bewußtseins in erfüllte Metaphysik (Hegel).1

An anderer Stelle wird Plotin in Übereinstimmung hiermit als ein Denker bezeichnet, bei dem »Logik zu Erfahrungen des Seinsinne-werdens [führt], […] eine Logosmystik [wird]«2. Entsprechend wird Plotin von Jaspers als einer der »Meister« des »transzendie­ rende[n] philosophische[n] Denken[s]«3 angeführt, einer Methode, das transzendente Sein jenseits der Subjekt-Objekt-Spaltung durch ein hochgradig abstraktes, zugleich aber existentiell getragenes Denken zu vergegenwärtigen: Es ist ein seinsdurchglühtes Denken: ein Denken, in dem das Objekt als solches nicht mehr das eigentlich Gemeinte ist, sondern in dem durch das Denken und das Gedachte, beide übergreifend, das Sein selbst gegenwärtig wird. Philosophie heißt dieses Denken, wenn es nicht im Symbol verharrt, sondern in Bewegung ist als spekulatives Denken (deren Meister unsere großen Philosophen sind: der Cusaner, Schelling, Hegel – im Mittelalter Anselm – im Altertum Plato und Plotin).4

Jaspers bekundet in diesem Zusammenhang, dass er selbst sich ein spekulatives Denken dieser Art zu eigen gemacht und in ihm ein Offenbarwerden des Absoluten erfahren hat: Ich vollziehe – mit Plotin, Eckart, Cusanus – die sublimen Gedanken, in denen zwar alles Gegenständliche verloren wird, aber eine Musik der Abstraktion die tiefste Offenbarkeit des Seins zu bringen scheint. Die gedanklich disziplinierte Spekulation bringt die mystische Erfahrung des Einen in allem. Die Unendlichkeit wird gegenwärtig auf einem Wege, auf dem nichts Greifbares in der Hand bleibt.5

Ausgehend von diesem Bekenntnis zur neuplatonischen Metaphysik soll im Folgenden Jaspers’ eigene Theorie der Spekulation dargestellt und auf seine Bezüge zum Denken Plotins und der durch ihn begrün­ deten Tradition befragt werden. 1 2 3 4 5

Ph I, 12. W 20. W 248–249. W 249. W 897–898.

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10.2 Negative Theologie

10.2 Negative Theologie Der menschliche Geist kann, wenn er den Gedanken des Absoluten einmal gefasst hat, Jaspers zufolge gar nicht anders, als dieses im Denken zu intendieren. Sogar wenn er versucht, das Absolute zu leugnen, vermag er dies nur, indem er zunächst einen Begriff des Absoluten entwirft und diesen dann durchstreicht. Er kann sich des Absoluten also nicht entledigen.6 Will der Mensch das Absolute aber als ein Bestimmtes erfassen, so gelingt ihm auch dies nicht: »Auch das Sein als das an sich seiende Absolute denke ich durch das Denken als solches unvermeidlich in Kategorien.«7 Durch die kategoriale Form wird das Sein stets schon als ein Sein für uns, d.h. als ein Sein innerhalb der Subjekt-Objekt-Spal­ tung und mithin nicht mehr als das Absolute, gedacht. So können wir das Absolute paradoxerweise weder positiv denken noch von dem Versuch absehen, es zu denken.8 Der Denkende steht hiermit aber keineswegs vor einer hoffnungslosen Aufgabe. Vielmehr vermag er das Absolute negativ als jenes Sein zu vergegenwärtigen, von dem gilt: Es »ist Transzendenz, weil ich es nicht erfassen kann, sondern zu ihm transzendieren muss in einem Denken, das sich im Nichtdenkenkönnen vollendet«9. In seiner grundlegenden Form vollzieht sich ein solches Denken in Negationen. Alle denkbaren Bestimmungen werden in Bezug auf das Absolute negiert. Das Resultat eines solchen Transzendierens als aussprechbarer Satz besteht in Negation. Alles Denkbare wird zurückgewiesen als nicht gültig von der Transzendenz. Transzendenz darf durch kein Prädikat bestimmt, in keiner Vorstellung zum Gegenstand, in keinem Schluß erdacht werden, doch sind alle Kategorien verwendbar, um zu sagen, das Transzendente sei nicht Quantität noch Qualität, nicht Beziehung noch Grund, nicht Eines, nicht Vieles, nicht Sein, nicht Nichts usw.10

Mit der Feststellung, dass das Absolute am angemessensten negativ, durch die Abgrenzung vom Seienden überhaupt zu denken ist, stellt Ph III, 37; vgl. KJG I/6, 179; s. dazu Abschn. 3.1. Ph III, 37. 8 Ph III, 38. 9 Ph III, 38. 10 Ph III, 38–39. 6

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10 Negative Theologie und kategoriales Transzendieren

sich Jaspers in die Tradition der negativen Theologie.11 Diese auf Platon zurückgehende Methode des Gottesdenkens gewinnt ihre klassische Form bei Plotin. Ihr Kernanliegen ist es, das Absolute negativ durch »Wegnahme oder Aufhebung aller Denkbarkeit«12 zu vergegenwärtigen. Ganz offenbar macht sich auch Jaspers dieses Anliegen zu eigen: Der Eine Gott entzieht sich der Denkbarkeit; gedacht würde er ein Endliches unter anderem Endlichen. Er entzieht sich der Vorstellung und Anschauung; durch sie würde er ein Sinnliches. Er ist der für Gedanke und Anschauung leer werdende Punkt der Transzendenz, der Bezugspunkt von allem, was ist, der Träger, das Ziel, der Ursprung. So ist er fern und ungreifbar, so fern, daß er unerreichbar scheint, so ungreifbar, daß er zu nichts verschwindet. Sprechen wir von ihm, so sagen wir, was er nicht ist, aber in diesem Negativsein ist er das Positivste als das Ergreifendste, an das allein wir uns hinzugeben ohne Einschränkung bereit sind.13

Es wird hier deutlich, dass es gerade die absolute Erhabenheit Gottes über alles Seiende, über alles Anschauliche und Denkbare ist, die Jaspers ebenso wie die Denker der platonischen Tradition daran hindert, eine inhaltlich positive Gottesvorstellung zu entwickeln. Von uns her wissen wir die Gottheit allerdings als Anfang, Mitte und Ende alles Seienden,14 aber nicht so, als wären dies ihre besonderen Attri­ bute, sondern weil Gott der »Bezugspunkt« des immanent Seienden schlechthin ist. Vor diesem Hintergrund charakterisiert Jaspers die negative Theologie als eine Weise des Gottesdenkens, die einerseits dem bib­ lischen Gebot entspricht, die aber insbesondere auch eine Forderung der Vernunft im Philosophieren ist. Als solche ist sie unerlässlich für eine ›reine‹ Vergegenwärtigung Gottes und führt gerade in ihrer Negativität zu einem existentiellen Innewerden des Transzendenten: Vor der Transzendenz aber gilt: »Du sollst dir kein Bildnis und Gleich­ nis machen.« Diese Forderung ist Gott selbst in den Mund gelegt. Dieselbe Forderung entspringt philosophischer Einsicht. Die »negative Theologie« reinigt den Raum der Geburtsstätte, an der der Mensch, 11 Vgl. Halfwassen 2015, 35; ders. 2021, 188–189; Ratzsch 2018b (dazu Rentsch 2019, bes. 70–73); konträr hierzu Schüßler 1992. 12 Halfwassen 2015, 31. 13 W 691. 14 Vgl. Enders 2004, 543–544.

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10.2 Negative Theologie

weil er den Gottesgedanken durch das »nicht« denkt, die Wirklichkeit Gottes in seiner geschichtlichen Existenz ungreifbar erfährt.15

Man könnte unterstellen – und Hegel hat diesen Vorwurf in der Tat erhoben –, die negative Theologie sei ein bequemer, aber gehaltloser Ausweg für all jene, die die Mühe disziplinierter begrifflicher Spekula­ tion scheuen.16 Für Jaspers dagegen ist gerade das Festhalten an einer streng negativen Theologie das Herausforderndste, weil der Philoso­ phierende hier beständig gegen die unserem Verstand innewohnende Tendenz andenken muss, das von ihm jeweils Intendierte als einen besonderen Gegenstand, ein besonderes Dieses, zu fixieren. Bei der Art metaphysischer Spekulation, die sich solchen Fixierungen versagt, handelt es sich daher für Jaspers um ein seltenes, schwieriges und in seiner ständigen Gefährdung gleichsam kostbares Denken: Dieses Überschreiten jeder auch der sublimsten Immanenz ist keines­ wegs selbstverständlich. Es ist eine außerordentliche Anstrengung, die Festsetzung der Transzendenz in irgendeiner Gestalt innerhalb der Welt zu verhindern, zumal Gestalt als vorübergehende Form für die Erscheinung der Transzendenz unausweichlich ist.17

Jaspers’ Kerngedanke ist dabei, dass das Absolute nur in solchen Vorstellungen annähernd angemessen vergegenwärtigt wird, die es als das radikal Überweltliche, Transkategoriale zu begreifen suchen. Unser Denken, das immer in Kategorien operiert, findet keinen begrifflich-positiven Zugang zu ihm. Zwar bleibt die Möglichkeit eines analogischen Gottesdenkens, aber diese bleibt der Wirklichkeit Gottes immer auch unangemessen: Von ihm als einem Gedachten zu sprechen, heißt […] jedesmal, ihn in Kategorien einfangen zu wollen. Das ist vergeblich, denn jede Kategorie verfehlt ihn, und alle zusammen treffen ihn nicht. Die Kategorie kann als Gleichnis oder durch Analogie etwas Unsagbares sagen wollen. Aber in solchem Sagen muß jedesmal Falschheit sein.18

Selbst die Rede in Negationen wird in Bezug auf Gott unwahr, wenn diese »inhaltlich bestimmt gemeint werden«19, wenn also Gott durch KJG I/13, 260; vgl. Ex. 20, 4; Dtn. 5,8. Z.B. Hegel, GW XVII, 8–10; zu Hegels Auseinandersetzung mit der negativen Theologie vgl. Halfwassen 2015, 331–349. 17 Ph III, 39. 18 W 690. 19 W 111. 15

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10 Negative Theologie und kategoriales Transzendieren

sie als ein Negatives fixiert werden soll. Insbesondere darf der Ver­ such, Gott in Negationen zu vergegenwärtigen, nicht dazu verführen, ihn negativ als »das ganz Andere«20 bestimmen und dadurch dem Denken verfügbar machen zu wollen. Dem steht entgegen: [D]urch die Kategorie des Anderen verführe ich zu dem falschen Gedanken, daß Gott gegenüber dem Sein der Welt ein anderes Sein sei, als ob es zweierlei Seiendes gebe, Gott und die Welt. Diese Falschheit kann dann wieder aufgehoben werden durch den Gedanken, gemessen an der Realität des Weltseins sei Gott nicht; gemessen an der Wirklichkeit Gottes sei die Realität des Weltseins nichts.21

Konsequent durchgeführt kann die negative Theologie nicht mit dem Gedanken enden, dass Gott »das ganz Andere« sei; sie muss auch diesen Gedanken negieren und kommt so zu dem Schluss: Gott ist auch dem Anderen gegenüber ein Anderes, er ist das Nicht-Andere, das nichts von allem ist, aber auch nichts aus sich ausschließt. In seiner so verstandenen Indifferenz ist Gott allem endlich Seienden inkommensurabel, weshalb er und das Seiende nicht gegeneinander stehen, sondern, aneinander gemessen, in einem jeweils spezifischen Sinne nichts sind.22 Folglich ist das Nichtsein Gottes, die Tatsache, dass er der Ord­ nung des Seienden enthoben ist, ihrem existentiellen Sinn nach posi­ tiv: Gott ist die eine eigentliche Wirklichkeit, die absolute Hingabe verdient. Positiv ist sie aber auch ihrem metaphysischen Sinn nach: Das Nichtsein Gottes drückt seine radikale Überlegenheit über alles Seiende und Denkbare aus. Wie für Plotin23 korrespondieren daher auch für Jaspers die beiden Gottesprädikate »das Nichtseiende« und »das Überseiende«: Ich kann dieses das Überseiende nennen, wenn ich ausdrücken will, daß jede Seinskategorie ihm inadäquat ist und dadurch es herabzieht in eine partikulare Immanenz. Ich kann es das Nichtseiende nennen, wenn ich ausdrücken will, daß in keiner Kategorie, die ein Sein bedeutet, dieses Sein ist.24

W 690. W 690. 22 W 690. 23 Plotin, Enn. VI 8, 10, 35–38; 14, 42; VI 9, 3, 37–39; s. auch oben, Abschn. 2.2; vgl. Halfwassen 2004, 49. 24 Ph III, 37. 20

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10.3 Negative Dialektik

Wenn Jaspers’ philosophische Theologie Gott in dieser Weise über das kategorial bestimmte und damit über das gegenständlich erfassbare Seiende erhebt, nimmt sie selbst unweigerlich die Form eines wis­ senden Nichtwissens an.25 Das Nichtwissen Gottes, das sie ausspricht, ist demnach mehr als ein Eingeständnis der Grenzen unseres Ver­ standes, es ist vielmehr selbst eine Weise der Gotteserfahrung durch das absolute Bewusstsein. Durch das Erlebnis der Wirklichkeit der Transzendenz bringt es den Aufschwung der Existenz: Nichtwissen als nur negative Aussage wäre selbst nichts. Es ist Bewe­ gung des absoluten Bewußtseins nicht als allgemeines Wissen meines Nichtwissens, noch bevor ich weiß, sondern als das erworbene Nicht­ wissen, das jeweils in der Aufhebung eines gegenständlichen Wissens zu sich kommt.26 In diesem Nichtwissen werde ich meiner selbst gewiß, wenn unbe­ gründbar bleibt, daß ich liebe und glaube, daß ich in den Grenzsituatio­ nen doch leben kann, daß im Nichtmehrdenkenkönnen das Sein der Transzendenz fühlbar wird.27

Das Nichtwissen der Jaspers’schen Philosophie ist so ein »erfülltes Nichtwissen«28, ein Nichtwissen, »das mir indirekt das Eine als die Transzendenz zur Gegenwart bringt«29. Es ist erfüllt von einer begriff­ lich nicht mehr zureichend artikulierbaren, aber gerade hierdurch zweifelsfreien und sinngebenden Gottesgewissheit. Jaspers’ Gottes­ denken entspricht damit im Kern jener philosophischen Theologie des Platonismus, die mit Halfwassen als ein nichtwissendes Wissen zu charakterisieren ist, in dem kein Etwas gewusst, sondern eine »ekstatische Verfassung des Denkens« erfahren wird.30

10.3 Negative Dialektik Schon als negative Theologie vollzieht Jaspers’ Gottesdenken »seinen letzten transzendierenden Schritt nur in einem Sichselbstaufheben«, 25 26 27 28 29 30

Ph I, 323–324; Ph II, 264. Ph II, 261. Ph II, 263. KJG I/21, 121, 302. KJG I/21, 122, 302. Halfwassen 2015, 48.

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10 Negative Theologie und kategoriales Transzendieren

nämlich durch die Verneinung aller denkbaren Gehalte von der Transzendenz.31 Jaspers ist aber durchaus nicht auf diesen, in all seiner Diffizilität gleichsam noch statischen Weg beschränkt. Viel­ mehr verfügt er darüber hinaus über eine Methode dialektischer Spekulation im Ausgriff auf Transzendenz, die er als eine »sich selbst vernichtende Dialektik«32, mit anderen Worten als eine negativer Dialektik33 konzipiert. Die Pointe dieser Methode besteht darin, dass in ihr der (gewissermaßen fingierte) Versuch unternommen wird, das Absolute kategorial zu bestimmen, aber nur um diesen Versuch scheitern zu lassen, so dass das Denken darin seine eigene Aufhebung erfährt. Jaspers schildert diesen Prozess wie folgt: Es ist ein immer zu erzeugendes Sichüberschlagen des Denkens zum Nichtdenkenkönnen, nicht nur das Transzendieren eines Gedankens zum Undenkbaren, sondern darin das sich aufhebende Denken selbst: Ein Nichtdenken, das dadurch erhellt, daß es nicht Etwas denkt und nicht Nichts denkt.34

Diese Form der Spekulation beruht auf dem paradox anmutenden, aber folgerichtigen Gedanken, dass wir das Absolute gerade in seiner Transzendenz am ehesten dadurch vergegenwärtigen können, dass wir unser eigenes Denken bewusst und zielgerichtet am Absoluten scheitern lassen.35 Deutlich erinnert dies an Jaspers’ Charakterisie­ rung der plotinischen Metaphysik, die er sich hier – neben der spekulativen Theologie des Cusanus36 – zum Vorbild nimmt: »Im Überschreiten muß das Denkbare scheitern, aber nicht im Stammeln, sondern in den dialektischen Methoden der Spekulation.«37 Nur so nämlich lässt sich das Unbedingte, jedenfalls indirekt, denkend erfahren: »Der Gedanke des Undenkbaren ist nur im Scheitern des Verstandes vollziehbar.«38 Ph III, 38. Ph III, 39. 33 Diese Bezeichnung ist im Anklang an die Deutung der Metaphysik Plotins bei Werner Beierwaltes (1985, 104 u.ö.) und Jens Halfwassens (2006, 12 u.ö.) gewählt. Eine Anspielung auf das gleichnamige Werk Theodor W. Adornos (GS VI, 7–412) ist nicht beabsichtigt. Vgl. aber Beierwaltes 1980, 269–314, zur Differenz von plato­ nischer und Adorno’scher Dialektik. 34 Ph III, 39. 35 Ph III, 39. 36 Vgl. hierzu Ratzsch 2022, bes. XIV–XIX. 37 GP 680. 38 GP 685. 31

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10.3 Negative Dialektik

Die kategorialen Mittel, die uns für diese negative Dialektik zur Verfügung stehen, sind nach Jaspers keine anderen als die von uns alltäglich bewusst oder unbewusst gebrauchten Kategorien der Immanenz – er betont, dass uns schlicht keine anderen Kategorien zur Verfügung stehen als diese.39 Wohl aber gebrauchen wir besondere Methoden, um das Denken einen Überstieg seiner selbst vollziehen zu lassen. Da besagter Überstieg im Medium kategorial geformten Denkens statthat, gibt Jaspers diesem Verfahren die Bezeichnung formales oder kategoriales Transzendieren.40 Jaspers gibt drei beson­ dere Methoden des kategorialen Transzendierens an, die er aus der Geschichte der Philosophie aufnimmt: An erster Stelle nennt er den analogischen Gebrauch der Katego­ rien in Bezug auf das Absolute, z.B. wenn durch die Kategorie des Grundes ein Grund allen Seins gedacht werden soll. Der besondere Gehalt, der dieser Kategorie im immanenten Gebrauch eignet, wird dann durch ihre Verabsolutierung aufgehoben: Ihre qualitative Bestimmtheit, Einzelnheit, wird zu einer Wirklichkeit in der Existenz und Transzendenz, so daß das formale Transzendieren die logische Form überschreitet; dann aber wird die bestimmte Katego­ rie aufgehoben durch Umsetzung zu einer unbestimmten Bedeutung als letztem Grund und Wurzel von allem, welche jede gedankliche Verwirklichung rückgängig zu machen zwingt.41

Die Kategorien werden so zu einem Mittel, das Absolute zu den­ ken, büßen hierdurch aber ihre logische Bestimmtheit ein, wäh­ rend ihnen im Gegenzug ein spezifischer »Widerhall aus der Exis­ tenz«42 zuwächst. Die zweite von Jaspers gebrauchte Methode ist die Verwendung der Kategorien in Aussagen über das Absolute, die objektiv gehaltlos bleiben, weil sie entweder bloße Tautologien oder Paradoxien (Wider­ sprüche) sind. Zu den Tautologien zählen demnach Formeln wie Plotins »Es ist, was es ist«43, das »Ich bin, der ich bin«44 der Heiligen Schrift und womöglich auch Max Webers rätselhafte Sterbeworte: Ph III, 40. Ph III, 34; zum formalen Transzendieren bei Jaspers vgl. Szczepanik 2005, 100–105. 41 Ph III, 40. 42 Ph III, 40. 43 Plotin, VI 8, 9, 34, zitiert in Ph III, 67. 44 Ex. 3, 14, zitiert in Ph III, 67. 39

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10 Negative Theologie und kategoriales Transzendieren

»Das Wahre ist die Wahrheit«45. Der paradoxalen Form sind dagegen die Sprüche Heraklits46 und Cusanus’ Denken einer coincidentia oppositorum47 zuzurechnen. Die dritte und letzte Methode ist der zirkuläre, selbstbezügliche Gebrauch der Kategorien. Weil deren kategorialer Gehalt sich nur in Anwendung auf ein je anderes manifestieren kann, wird dieser Gehalt in der Selbstanwendung aufgehoben, ähnlich wie dies bei den Paradoxien der Fall ist. Die entsprechenden Kategorien werden so zu reinen Zeigern auf Transzendenz. Als Beispiel für einen solchen Gedankengang führt Jaspers den Begriff einer causa sui (Ursache ihrer selbst) an.48 Im Vollzug des kategorialen Transzendierens ergibt es sich aus der inneren Logik des Denkens selber, dass alle Kategorien dem Transzendenten gegenüber unangemessen sind, dass die Kategorien, wo sie Gott bestimmen sollen, vielmehr selbst ihre bestimmten Gehalte verlieren, nichts Gegenständliches mehr bedeuten und so gleichsam in die Schwebe kommen. Soll das Resultat eines solchen transzendierenden Denkens in Sätzen festgehalten werden, so formu­ lieren diese kein Wissen der Transzendenz, sondern ein wissendes Nichtwissen und verweisen so auf die einfachere Form der negativen Theologie zurück.49 Nicht verbal fixiert werden kann dagegen die Vergewisserung eigentlichen Seins, die Existenz durch dieses Denken gewinnt. Sie erfährt die Gegenwart der Gottheit, nicht ohne den Verstand, sondern im Medium des Verstandes, indem sie diesen gleichsam zwischen Denken und Nichtdenken oszillieren lässt. Die Wirklichkeit Gottes, sein ›Dass-Sein‹, wird ihr so offenbar, während sein ›Was-Sein‹ unaufhebbar verborgen bleibt: »Transzendenz ist über jede Gestalt hinaus. Der philosophische Gottesgedanke, der sich im Scheitern des Denkens vergewissert, erfasst darin das ›daß‹, nicht das ›was‹ der Gottheit.«50 Wie die Denker der neuplatonischen Tradition, auf die sich Jaspers für diese Form der Spekulation beruft, spricht er davon, dass Zitiert nach Ph I, 145. Vgl. GP 632–633. 47 Ph III, 40–41. 48 Ph III, 41. 49 Vgl. Ph III, 38. 50 Ph III, 39; vgl. Ph III, 67: »Die so erscheinende Transzendenz bleibt ohne Bestim­ mung und ist doch, obgleich ohne Erkennbarkeit und ohne Denkbarkeit, im Denken gegenwärtig in dem Sinn, daß sie ist, nicht was sie ist.« 45

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10.4 Transzendieren in besonderen Kategorien

das Denken in der Lage ist, das, was es nicht mehr begreifen kann, im transzendierenden Selbstüberstieg doch zu berühren.51 Im Ausgriff auf Transzendenz wird das Denken an seine Grenze geführt, wo es an das Unvordenkliche stößt, von dem es getragen ist. Eben an dieser Grenze ist dem Denkenden eine Erfahrung zugänglich, die Jaspers in einem gewissen Sinne als mystisch bezeichnet – auch wenn es hierbei zu keiner unio mystica kommt: »Das Transzendieren mit den schei­ ternden Gedanken ist der Weg der Mystik im Denken.«52 In seiner Einführung in die Philosophie rät Jaspers dem Leser, diesen Weg tatsächlich zu beschreiten und die spekulative Ver­ gegenwärtigung der Transzendenz in Form einer kontemplativen Übung zum regelmäßigen Teil einer philosophischen Lebensweise zu machen.53 Ein Grund hierfür ist gewiss, dass nach Jaspers nur eine solche, existentiell getragene Spekulation ebenso der »Trägheit bloßen Gefühls«54 im Transzendenzbezug wie der »Verweltlichung der Transzendenz«55 durch ein vergegenständlichendes Denken ent­ gegenzuwirken vermag. Sie steht damit ein für die Reinheit und existentielle Verbindlichkeit des philosophischen Gottesdenkens.

10.4 Transzendieren in besonderen Kategorien In Jaspers’ kategorialer Spekulation kommt zum Tragen, dass dieser grundsätzlich drei verschiedene Sphären von Kategorien annimmt: die Sphären des Gegenständlichen überhaupt (logische Kategorien im engeren Sinn), der Wirklichkeit und der Freiheit.56 Transzendierend wird nach dem Absoluten als nach demjenigen Unbedingten gefragt, das dem Sein in den drei Sphären jeweils zugrunde liegt: nach dem Grund der logischen Bestimmtheit von Gegenständen überhaupt; nach der reinen Wirklichkeit, die jede besondere Wirklichkeit begrün­ det; schließlich nach dem Transzendenten, durch das sich der Einzelne 51 Ph III, 153–154: »Der spekulative Gedanke ist die zur Mitteilbarkeit gewordene Chiffreschrift. Sie deutet, aber ihr Deuten ist kein Verstehen des Seins, sondern im Verstehen ein Berühren des eigentlich Unverstehbaren der Seinssubstanz.« S. auch Abschn. 8.4 und 9.8. 52 W 301. 53 Einf 119. 54 Ph III, 38. 55 Ph III, 39. 56 Ph III, 42–43; vgl. NPL 58.

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10 Negative Theologie und kategoriales Transzendieren

in seiner Freiheit gegeben ist.57 Letztlich »stranden«58 diese Fragen, sie finden keine gegenständliche Antwort, verweisen den Philoso­ phierenden aber auf das Absolute, das in ihnen jeweils anvisiert wird. Durch alle Kategorien scheint so gleichsam das Absolute hindurch; soll es aber durch sie erfasst werden, büßen die Kategorien ihre bestimmte Denkbarkeit ein und fallen schließlich mit ihrem Gegen­ teil ineins. Dieses Versagen der Kategorien vor dem Absoluten wird von Jaspers nicht abstrakt behauptet, sondern in besonderen Denkbewe­ gungen, den verschiedenen Weisen formalen Transzendierens, selbst vollzogen. Diese Gedankengänge können hier nur in starker Verkür­ zung wiedergegeben werden, wobei zusätzlich eine Beschränkung auf diejenigen Kategorien gelten soll, die Jaspers auch in seiner Plotin-Darstellung anführt,59 welche zahlreiche auffällige Parallelen zu den folgenden Überlegungen aufweist. Sein und Nichts: Das eigentliche, absolute Sein ist kein bestimm­ tes Sein. Es ist daher als das »Nichtsein jedes bestimmten Etwas«60 zu denken. So fallen Sein und Nichtsein im eigentlichen Sein zusam­ men;61 weil dieses alles besondere Sein transzendiert, ist es zugleich als das »Übersein«62 zu denken. Dagegen ist der Gedanke des Nichts als der schlechthinnigen Nichtigkeit zwar schauderhaft, er ist aber nicht vollziehbar: »Kann ich das Nichts als Sein des Überseins nicht denken wegen seiner Überschwenglichkeit, so dieses Nichtsein nicht, weil es schlechthin nichts ist.«63 Einheit und Dualität: Alles Seiende ist ein je Eines, als ein solches Eines aber ist es stets gegen ein Anderes bestimmt.64 Auch ich bin nur insofern Einer, als ich das in mir Zerstreute zur Einheit hin überwinde.65 Bloße Einheit und bloße Dualität sind für Jaspers keine gehaltvollen Gedanken; nur für sich genommen kann sich das transzendierende Denken weder an diese noch an jene halten.66 In 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66

Ph III, 42–43. Ph III, 43. S.o., Abschn. 6.3. Ph III, 44. Ph III, 44–45. Ph III, 45. Ph III, 45. Ph III, 46. Ph III, 47. Ph III, 47.

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10.4 Transzendieren in besonderen Kategorien

ihm muss die Einheit vielmehr mit der Dualität zusammengedacht werden, dergestalt, dass das Eine die Dualität gleichsam in sich auf­ hebt, was Jaspers mit Versen Goethes illustriert: »Und alles Drängen, alles Ringen ist ew’ge Ruh in Gott dem Herrn.«67 In dieser Weise konzeptualisiert steht die Einheit für das in der Zerspaltenheit des Daseins entbehrte und gesuchte eigentliche Sein.68 Jaspers entwickelt den Gedanken der Einheit in diesem Sinne, die als »Einheit der Transzendenz« über die »schlichte Einheit« hin­ ausgeht69 und hierdurch den formalen Gehalt der Einheitskategorie sprengt, unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Plotin: Einheit ist Sein ohne das Andere, das absolut Eine, das weder die Kategorie der Einheit ist, noch das Eine gegenüber dem Anderen der Materie, noch Zahl, sondern das nicht Denkbare (daher von Plotin ebenso μὴ ὄν genannt wie auf der anderen Seite die Materie), das vor allem Denken und Denkbaren, weil über ihm, steht und sein Grund ist […].70

Form und Material: Der Gegensatz von Form und Material prägt unsere Erfahrungswelt, wie Jaspers darlegt, in vielfacher Weise. Lebensweltlich präsent ist er in der Beziehung der äußeren Gestalt einer Sache, z.B. einer Statue, auf deren Material, z.B. den ver­ wendeten Marmor. In anderer Weise ist er in der Beziehung der Kategorien auf ein Anschauungsmaterial präsent.71 Beide Seiten des Form-Materie-Gegensatzes sind dabei jeweils gleichermaßen unent­ behrlich für das Bestehen der Sache. Werden die Kategorien ›Form‹ und ›Material‹ transzendierend gebraucht, erzeugen sie einen jeweils charakteristischen existentiellen Widerhall. Der Form eignet dabei »Helle und Klarheit«, »Schönheit ihrer Gestalt«, »Ordnung und Vernünftigkeit«, aber auch, auf der wertnegativen Seite, »Starrheit« und »hintergrundlose[] Flachheit«.72 Dem Material dagegen kom­ men »Tiefe und Unergründlichkeit«, »Gestaltlosigkeit«, aber auch »Chaos« und »Formwidrigkeit« zu.73 Zu ihm gehören »das Zerflie­ ßende und Erniedrigende des Stoffes«, aber auch »das unbegreifliche 67 68 69 70 71 72 73

Ph III, 48 (zum Goethe-Zitat vgl. ders., HA, Bd. 1, 367). Ph III, 48. Ph III, 47. Ph ΙΙΙ, 47. Ph III, 48. Ph III, 48. Ph III, 48.

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10 Negative Theologie und kategoriales Transzendieren

Göttliche im Gesetzlosen«.74 Die Transzendenz denkt Jaspers folglich nicht wie die Platoniker als eine höchste Form, sondern als die para­ doxe Identität von Form und Material.75 Anders als für Plotin ist die Materie für Jaspers keineswegs ein bloßes Nichtsein.76 Wer sie rein negativ auffasse, eine »Degradierung der Materie« betreibe, hebe »das Wagnis« auf und mache das Leben damit nicht nur »harmonischer und durchsichtiger«, sondern auch »matter und unheroisch«.77 Ein entsprechendes Denken müsse die Gestalt einer »Philosophie der Beruhigung«78 annehmen. Möglichkeit, Wirklichkeit, Notwendigkeit, Zufall: Die Frage, wie Sein möglich ist, kann in Bezug auf besonderes Sein oder, in der tran­ szendierenden Spekulation, auf das absolute Sein gestellt werden.79 Das absolute Sein kann nicht von Möglichkeiten als von einem äuße­ ren Faktor abhängig sein, weil es allumfassend ist; auch in ihm selbst kann es keine Spaltung von Möglichkeit und Wirklichkeit geben, weil es Eines ist.80 Es ist daher als die »Identität von Möglichkeit und Wirklichkeit«81 zu denken. »Möglichkeit und Wirklichkeit sind dann nicht mehr, was sie als Kategorien im Dasein sind, sondern Symbole, durch deren Identität das Sein leuchtet.«82 Die Verwirklichung von Möglichkeiten ist im endlich Seienden durch den Zufall bedingt. Im absoluten Sein spielt dieser keine Rolle mehr; das absolute Sein kann folglich als ein Notwendiges gelten.83 Weil diese Notwendigkeit ein »Nichtandersseinkönnen ohne Grund in einem Anderen« bedeutet, ist sie freilich, wie Jaspers darlegt, zugleich der »absolute Zufall«, so dass im Absoluten nicht nur Möglichkeit und Wirklichkeit, sondern auch Zufall und Notwendigkeit ineins fallen.84 Grund: Die Frage nach einem Grund allen Seins führt Jaspers zufolge nicht auf eine gegenständliche »Antwort in der Kategorie des Grundes«, sondern weist auf das Transzendente; dort aber sind »Sein Ph III, 49. Ph III, 49. 76 Ph III, 49. 77 Ph III, 49. 78 Ph III, 49; dieselben Einwände erhebt Jaspers der Philosophie Plotins gegenüber; vgl. GP 716; s. dazu Abschn. 6.3. 79 Ph III, 51. 80 Ph III, 51. 81 Ph III, 51. 82 Ph III, 51. 83 Ph III, 52. 84 Ph III, 52. 74

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10.4 Transzendieren in besonderen Kategorien

und Grund des Seins […] dasselbe«.85 Der Gedankengang führt so auf den Begriff einer causa sui. Werden Sein und Seinsgrund dergestalt ineins gesetzt, bedeutet dies für den Verstand zwar ein »Abschneiden« der Frage nach dem Grund, für Existenz aber eine mögliche Vergewis­ serung der Transzendenz »im Denken eines Nichtdenkbaren«.86 Leben: Während die vorgenannten Kategorien Jaspers’ Eintei­ lung zufolge Kategorien des Gegenständlichen überhaupt sind, zählt das Leben zu den Kategorien der Wirklichkeit. Demnach ist Leben zunächst die Kategorie, unter der wir das Organische überhaupt als einen endlichen, aber unendlich in sich selbst bezogenen, regelhaften Prozess begreifen.87 In der transzendierenden Spekulation wird das Sein als ein All-Leben, als ein unendlicher Organismus, entworfen.88 Alles Unlebendige scheint nur mehr »Abfall des Lebens«89 zu sein. Aber der Gedanke schlägt um: Ein Leben ohne Tod wäre bloße »End­ losigkeit«, nicht Transzendenz.90 Angemessener ist es für Jaspers daher, das Absolute als die paradoxale Identität von Leben und Tod zu denken, so dass »beide in einem« als das erscheinen, »was mehr ist als das Leben ohne Tod und der Tod ohne Leben«.91 Freiheit: ›Freiheit‹ ist für Jaspers keine besondere Kategorie, sondern der Titel einer Kategoriengruppe, durch die gedacht wird, was den Menschen als sich im Dasein erscheinende Existenz auszeich­ net. Die Freiheit eines Menschen manifestiert sich Jaspers zufolge im Wechselspiel mit seiner Natur, als deren Verwirklichung, aber ebenso als die kämpfende Überwindung des bloß Natürlichen in ihm.92 Insofern ist die menschliche Freiheit jederzeit eine endliche und begrenzte.93 Wird im Transzendieren versucht, eine vollendete Freiheit zu denken, eine Freiheit, die nicht gegen eine zugrunde liegende Natur bestimmt, sondern mit dieser identisch ist, dann weist der Gedanke einer solchen paradoxen Identität auf Transzendenz.94 Transzendenz aber ist nicht Freiheit, wie die Existenz, sondern der 85 86 87 88 89 90 91 92 93 94

Ph III, 53. Ph III, 53. Ph III, 61. Ph III, 62. Ph III, 62. Ph III, 62. Ph III, 62–63. Ph III, 63–64. S.o., Abschn. 8.2 und 8.3. Ph III, 64.

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10 Negative Theologie und kategoriales Transzendieren

ermöglichende »Grund dieser Freiheit«95. Charakteristisch zeigt sich dies darin, dass die höchste, existentielle Freiheit gerade in der Kom­ munikation aufscheint; dagegen ist die Transzendenz zu denken als ein »Sein, das ohne Bezogenheit es selbst ist«96. Ein Vergleich dieser Überlegungen mit den entsprechenden Passagen von Jaspers’ Plotin-Darstellung zeigt, dass beide Texte aufeinander verweisen; Jaspers greift plotinisches Denken, so wie er es versteht, auf, erweitert und kritisiert es in charakteristischer Weise. Positiv nimmt er auf: das Absolute als ein Nichtseiendes und Übersei­ endes, als das Eine der Transzendenz jenseits jedes gegenständlichen Sinns von Einheit, als den Zusammenfall von Möglichkeit und Wirk­ lichkeit und insbesondere als den Grund der Freiheit, der nicht frei, sondern der Freiheit überlegene, reine Selbstheit ist. All dies erinnert an Plotin und insbesondere an Jaspers’ Darstellung des kategorialen Transzendierens bei Plotin. Anders und doch vergleichbar sieht es beim Kategorienpaar ›Form und Material‹ aus, hier entwickelt Jas­ pers seine Position offenbar in bewusster Abgrenzung gegen Plotin. Ein Hinausgehen über Plotin ist es schließlich, dass Jaspers jeden der Gedankengänge auf die Form einer coincidentia oppositorum zuspitzt, eine Gedankenform, die Jaspers in Auseinandersetzung mit Nicolaus Cusanus gewonnen hat.97

10.5 Grenzen und Möglichkeiten affirmativer Theologie Nicht nur die negative, auch die affirmative Theologie, die Gott positive Attribute zuschreibt, gründet, wie Jaspers ausführt, in der Vergegenwärtigung der Transzendenz am Leitfaden der drei Katego­ riengruppen: Theologie [gemeint ist die philosophische Theologie; d. Verf.] lehrt am Leitfaden dieser drei Sphären, daß Gott Licht unseres Erkennens, Grund der Wirklichkeit, höchstes Gut sei. Von ihm kommt die helle Artikulation der Einsicht, die Ursache des Daseins, die rechte Ordnung des Lebens. Er ist die Wahrheit als Erkenntnis, Sein und Handeln;

95 96 97

Ph III, 65. Ph III, 65. Vgl. Ratzsch 2022, XVIII–XIX.

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10.5 Grenzen und Möglichkeiten affirmativer Theologie

Wissen, Wirklichkeit und Liebe; Logos, Natur und Persönlichkeit; Weisheit, Allmacht und Güte.98

Solche Charakterisierungen bleiben Jaspers zufolge allerdings vorläu­ fig, es sind Symbole, Chiffren, durch welche »die unerkennbare Gott­ heit«99 nicht an sich begriffen, sondern bloß für uns vergegenwärtigt wird. In besonderem Maße gilt das für die Idee einer Persönlichkeit Gottes. Auch sie kann letztlich nicht mehr sein als ein verschwinden­ des, zuletzt unangemessenes Bild, das im Vollzug des Gedankens wieder aufzuheben ist.100 Kein solches Bild kann Bestand haben, wie Jaspers auch unter Bezug auf das biblische Bilderverbot festhält.101 Vielmehr muss alles Erdenken Gottes am Ende scheitern. »Darum bleibt im formalen Transzendieren die Gottheit schlechthin verbor­ gen.«102 Jaspers hat sich mit Vorwürfen konfrontiert gesehen, die die Sinnhaftigkeit einer solchen, sich selbst beständig wieder aufheben­ den, philosophischen Theologie bestreiten. Diese Kritik nimmt er zum Anlass einer grundsätzlichen Klärung des Sinns seines Gottes­ denkens. Dieser Sinn liege nicht in einer besonderen Doktrin, sondern darin, im Philosophierenden ein ungegenständliches Bewusstsein des Göttlichen wachzurufen: Ein Einwand lautet: Ich trüge Lehren vor, entwerfe Anschauungen und behaupte doch, es sei nichts gegenständlich gemeint. Ich täte also, was zu tun ich leugne. Was ich beabsichtige, werde durch die Ausführung zunichte gemacht. Denn, was ich wolle, sei unmöglich. Daher sei das Ergebnis entweder doch eine philosophische Untersuchung und Doktrin oder sei gegenstandsloses Gerede. […] Was vorgeworfen wurde, das ist […] gerade gehörig für die eigentliche Philosophie. Die Kraft der Philosophie liegt nicht im verfestigten Gedanken, nicht in Bild, Gestalt und Denkfigur, nicht in Leibhaftigkeit der Anschauung – dies alles ist bloß Mittel –, sondern in der Ermöglichung der Erfüllung durch Existenz in ihrer Geschichtlichkeit.103 Ph III, 66. Ph III, 66. 100 Ph III, 66: »Zumal Gott als Persönlichkeit zu denken in seinem aus vollendeter Weisheit und Güte kommenden Willen, der plant und lenkt, ist fast unausweichlich. Aber auch dieses ist als Symbol ein verschwindendes Bild und im transzendierenden Denken wieder aufzuheben.« 101 Ph III, 67; s.o., Abschn. 10.2. 102 Ph III, 67. 103 Ph I, XXXI–XXXII. 98

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10 Negative Theologie und kategoriales Transzendieren

Bezüglich dieser Haltung lässt der Vergleich mit Plotin sowohl Gemeinsamkeiten wie Differenzen erkennen. Zwar erhebt auch dieser keinen Anspruch auf ein Wissen des Einen. Seine Lehre vom Einen will der Seele des Philosophierenden nur Wegweiser sein.104 Nichts­ destoweniger verteidigt er seine Metaphysik als eine objektiv gültige Lehre. Denn obgleich das Eine selbst nicht zu erkennen ist, glaubt Plotin doch zwingend beweisen zu können, dass das Seiende insge­ samt im Einen begründet ist. Jaspers’ Position ist hier radikaler: Er gibt den Anspruch der philosophischen Theologie auf rationale Gül­ tigkeit zugunsten einer Erhellung des Transzendenzbezugs von Ver­ nunft und Existenz auf, denen sich das Eine dann allerdings auch in unterschiedlicher Weise als der Seinsgrund offenbart.105 Jaspers selbst betont die Verwandtschaft zu Plotin in Bezug darauf, dass keine Doktrin das Eine zu erfassen vermag und es allein durch eine Ver­ wandlung der Seele, auf dem Weg der Selbstwerdung indirekt oder mystisch zu erfahren ist. Vorwürfe der Sinnlosigkeit gegen die ploti­ nische Lehre wehrt er vor diesem Hintergrund in ähnlicher Weise ab wie entsprechende gegen sein eigenes Denken gerichtete Einwände: Wenn man den sich überschlagenden und schließlich in nichts sich auflösenden Gedanken folgt, so kann man meinen, es sei, weil gegen­ standslos, darum auch sinnlos und leeres Gerede. Dazu ist zu sagen, daß es sich um Wege handelt, deren Sinn in einer Erfüllung liegt, die über das Denken hinausgeht.106

10.6 Der Vorrang des Einen vor den übrigen Chiffren Wenn jede Kategorie Transzendenz als Chiffre umschreiben kann, dabei aber immer unangemessen bleibt, fragt sich natürlich, was die Sonderstellung begründet, die Jaspers der Kategorie der Einheit einräumt, wenn er das Eine bzw. den Einen Gott107 als die Chiffre hervorhebt, in der sich das Wesen der Transzendenz am deutlichsten offenbart. In seinem Alterswerk Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung widmet Jaspers der Chiffre des Einen noch einmal S.o., Abschn. 2.2 und 9.8. Diese Differenz betont zu Recht Hager 2002. 106 GP 690; s. dazu oben, Abschn. 6.3. 107 ›Das Eine‹ und ›der Eine Gott‹ sind für Jaspers gleichbedeutende Ausdrücke, sofern gilt: »Wahre absolute Einheit ist nur der Eine Gott« (W 690); s.o., Abschn. 9.7. 104

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10.6 Der Vorrang des Einen vor den übrigen Chiffren

seine ganze Aufmerksamkeit. Er arbeitet sieben Punkte heraus, die die einzigartige Bedeutung dieser Chiffre offenlegen.108 Diese sieben Auslegungen der Einheitschiffre sind im Folgenden zu rekapitulieren: 1. Der existentiell getragene Wille zur Einheit wendet sich gegen die vielen ›Mächte‹, die vielen ›Götter‹, die als Symbole für die chao­ tische Mannigfaltigkeit widerstreitender Antriebe im Menschen ste­ hen.109 2. Die Zugkraft des Einen bewirkt das Selbstwerden möglicher Existenz. Sie ist es, die in ihr den Willen stiftet, mit sich selbst eins zu werden: »In dem Maße als ich dem Ursprung des Einen verbunden werde, wachse ich in das, was meinem Leben Zusammen­ hang gibt.«110 So wird das existentiell Eine zur Chiffre des absolut Einen, das sich gleichsam in ihm spiegelt. In diesem Sinne gilt: »Das ewige Eine wird Grund und Ziel in der zum Einen ihrer selbst drängenden Existenz.«111 3. Das Eine ist als Eines zugleich das Allumfassende, es ist nicht leer, sondern »erfüllte Ewigkeit«112. – Jaspers nimmt hier den Gedanken auf, dass das Eine als das Nicht-Andere zu denken ist.113 »Es schließt nichts aus, weil nichts außer ihm ist, sondern alles durch es.«114 Hierzu heißt es bereits in Von der Wahrheit: Gott ist Einer »wegen des Ranges seines Seins. Nur das Eine hat nichts außer sich«115. Zu der allumfassenden Natur des Einen gehört, dass ihm jede Parteilichkeit fern ist. Es ist dasjenige, »wo alles zu allem gehört, miteinander in Verbindung steht, wo nichts umsonst, vergeblich, überflüssig ist, wo nichts herausfällt und nichts vergessen wird«116. 4. Das Eine manifestiert sich geschichtlich, indem es jene tiefe existentielle Verbundenheit zwischen Menschen stiftet, die als ein Geschenk aus der Transzendenz erfahren wird.117 In diesem Sinne ist das Eine der Grund der existentiellen Kommunikation: »Das Eine macht keine Propaganda, sondern das Eine wirkt indirekt dadurch, 108 109 110 111 112 113 114 115 116 117

KJG I/13, 261–265. KJG I/13, 261. KJG I/13, 261. KJG I/13, 261. KJG I/13, 261. S.o., Abschn. 9.7 und 10.2. KJG I/13, 261. W 690. KJG I/13, 192. KJG I/13, 261–262.

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10 Negative Theologie und kategoriales Transzendieren

dass Menschen miteinander in Beziehung treten. In dem Maße, als Menschen unter sich Kommunikation gewinnen, ist das Eine verwirk­ licht.«118 5. Das Eine ist zwar nur eine von unzähligen Chiffren, jedoch gilt auch: »Die Chiffer des Einen drängt über alle andern Chiffern hinaus, über die Mannigfaltigkeit der Chiffern in den Grund aller Chiffern, über die Vieldeutigkeit der Chiffern in das fraglos Eine.«119 In der Chiffre des Einen ist mitreflektiert, dass alle Chiffren als solche noch zu überwinden sind, wenn der transzendente »Grund aller Chiffern« denkend berührt werden soll, der, weil er deren Vielheit enthoben ist, »das fraglos Eine« ist. Das Eine ist daher nicht als die quantitative, sondern als die qualitative Einheit zu denken, die zur Mannigfaltigkeit nicht im Verhältnis des Gegensatzes steht, sondern sie umfasst und strukturiert.120 Durch diese Facette seines Einheitsbegriffs weiß sich Jaspers in Kontinuität zur platonischen Tradition: Das Eine, seit Plato großes Thema der Philosophie, ist nicht das Eine, das dem Anderen gegenübersteht, nicht das Eine als Zahl. Das Eine als Chiffer (das transzendente Eine) wird am Leitfaden solcher Weisen des Einen gedacht, aber geht nicht in der Identifizierung mit ihnen verloren.121

6. Das Eine ist gegenwärtig im innersten Selbst des Menschen, zugleich aber ist es fern und entzogen, weil für Denken und Anschau­ ung unerreichbar. In keiner Weise steht es unter der Verfügung des Menschen. Im Konfliktfall kann sich daher niemand darauf berufen, ausschließlich für das Eine zu stehen. Es verweigert sich jeder Verein­ nahmung, sei es durch religiöse Fanatismen oder totalitäre Ideologien. Keine Nation und keine Institution kann für sich beanspruchen, die Eine zu sein, der alles untertan sein muss.122 7. Das Eine wird an ihm selbst nicht gegenständlich, seine Spra­ che in der Welt bleibt »schwebend und verschwindend«123. Wäre der Eine Gott »leibhaftige[] Realität«, würde er den Glauben gleichsam

Ch 55. KJG I/13, 262. 120 KJG I/13, 262–263; s.o., Abschn. 10.4 zur entsprechenden Deutung der Einheits­ kategorie im formalen Transzendieren. 121 KJG I/13, 262. 122 KJG I/13, 264. 123 KJG I/13, 265. 118

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10.6 Der Vorrang des Einen vor den übrigen Chiffren

erzwingen; durch die Abstraktheit des Einen dagegen ermöglicht er die freie Hinwendung im Glauben an ihn.124 Jaspers’ Charakterisierung der Chiffre des Einen weist starke Parallelen zu neuplatonischen Gedankenformen auf – und in der Tat spielt Jaspers hier ganz ausdrücklich auf Platon und seine Nachfolger an. Wie für Platon und dann für Plotin ist die vom absolut Einen ausgehende Anziehungskraft für Jaspers ein Theorieelement von zentraler Bedeutung.125 Durch sie wird das Eine zum Grund aller in der Immanenz auftretenden Einheit, insbesondere der Einheit je meiner selbst und der Einheit liebender Verbundenheit zu besonderen Menschen. Das Eine ist für Jaspers wie für Plotin fern und entzogen und doch zugleich allgegenwärtig. Dass der Name ›das Eine‹ dieses nicht tatsächlich trifft, sondern gleichsam eine Anleitung darstellt, das Absolute von allen denkbaren Bestimmungen zu befreien – hinter den Chiffren in den Grund zu blicken –, ist eine weitere Gemeinsamkeit von fundamentaler Bedeutung: Der Name ›das Eine‹ ist für das Eine noch ungenügend. Jaspers denkt das Absolute als die absolute Transzendenz, die derge­ stalt über alles besondere Sein und über unser gesamtes Denken erhaben ist, dass sie durch keine Prädikate getroffen und nur mehr negativ thematisiert werden kann. Dies entspricht dem Grundgedan­ ken der negativen Theologie Plotins. Ähnliches gilt für Jaspers’ Insis­ tieren, dass alle affirmativen Aussagen, die wir über die Transzendenz machen, lediglich metaphorischen Charakter haben können. Nach Jaspers lässt sich die Transzendenz durch eine negative Dialektik vergegenwärtigen, welche die auf das Absolute angewandten Bestim­ mungen systematisch entgrenzt und sie hierdurch in die ›Schwebe‹ bringt. Sie verlieren so ihren bestimmten Gehalt und werden zu blo­ ßen Zeigern auf das Absolute. Wie anhand zahlreicher Übereinstim­ mungen von Jaspers’ Plotin-Darstellung und seiner systematischen Exposition des formalen Transzendierens gezeigt werden konnte, ent­ wickelt Jaspers diese als kritische Aneignung plotinischen Denkens. Schließlich ist für Jaspers wie für Plotin die Bezeichnung ›das Eine‹ keineswegs ein das Absolute treffender Begriff – sie ist vielmehr als eine Handreichung zu verstehen, die das Denken anleiten will, KJG I/13, 265. Zu den im Folgenden angeführten Charakteristika der Philosophie Plotins s.o., Kap. 2. 124

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10 Negative Theologie und kategoriales Transzendieren

das Transzendente von allen ihm beigelegten Bestimmungen loszu­ sprechen. Eine wesentliche Differenz stellt Plotins Anspruch auf die rationale Gültigkeit seiner Einheitsmetaphysik dar – während Jaspers derartige Ansprüche verneint. Jaspers’ Einheitsdenken bewahrheitet sich vielmehr nur indirekt, im Aufschwung der vom Einen getragenen Existenz, in der Bewegung existentiell gegründeter und auf das Eine ausgerichteter Vernunft.

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11 Gegen den Gnostizismus

Nachdem in den vorangehenden Kapiteln gezeigt wurde, dass Jas­ pers’ systematische Philosophie der Metaphysik Plotins wesentliche Anregungen verdankt, soll nun untersucht werden, ob und inwiefern Jaspers sich auch in der philosophischen Kritik und Polemik am Beispiel Plotins orientiert. Dieser Gedanke liegt v.a. deshalb nahe, weil Jaspers sich häufig gegen ›moderne Gnostiker‹ ausspricht und dabei Motive aus Plotins antignostischer Enneade II 9 aufgreift. Eine Klärung dieser Frage ist von besonderem Interesse, weil die intellektuelle Auseinandersetzung mit dem, was Jaspers ›Unphi­ losophie‹ nennt, für ihn ein unverzichtbares Moment philosophischer Praxis ausmacht.1 Diese streitbare Haltung schlägt sich sowohl in Jaspers’ systematischen Werken wie in besonderen polemischen Schriften nieder – etwa in seiner Debatte mit Rudolf Bultmann2 oder in seinen nachgelassenen Entwürfen zu einer philosophischen Auseinandersetzung mit Heidegger3.

11.1 Jaspers’ Herausarbeitung des Gnostikertypus an Plotins Enneade II 9 Vor diesem Hintergrund geht Jaspers in seiner Plotin-Darstellung ausgiebig auf dessen Kritik an konkurrierenden, insbesondere mate­ rialistischen und gnostischen Weltanschauungen ein.4 Dabei scheint Jaspers sich nicht nur mit der Position Plotins zu identifizieren. Vielmehr sieht er in dessen Ankämpfen gegen Materialismus und Gnostizismus eine überhistorische Aufgabe aller eigentlich Philoso­ phierenden zur Abwehr von Irrtümern, die sich, weil sie in der Vgl. Ph I, XXX–XLVII; KJG I/12, 75–93; s.o., Abschn. 5.3. Vgl. Die Frage der Entmythologisierung, jetzt in KJG I/12. 3 Diese sind von Hans Saner unter dem Titel Notizen zu Martin Heidegger (= NMH) aus dem Nachlass veröffentlicht worden. 4 GP 706–711. 1

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Beschränktheit der menschlichen Natur begründet sind, stets von Neuem aufdrängen: Unsere Natur als Sinnes- und Verstandeswesen will entweder leibhaf­ tig und gegenständlich denken oder gar nicht denken. Dann hat sie die Wahl, entweder Transzendenz zu leugnen – das geschieht durch den Materialismus – oder die Transzendenz zu vergegenständlichen zu einem leibhaftigen Objekt und mit diesem die wirkliche Welt zu entwerten, – das geschieht in der Gnosis. Plotin hat seine Philosophie gegen beide zu verteidigen.5

In Materialismus und Gnostizismus erkennt Jaspers so, auch losgelöst vom Kontext seiner Plotin-Deutung, überhistorische Typen eines fundamental verkehrten Philosophierens. Dabei gilt insbesondere für den Gnostizismus: Wer das Übersinnliche leibhaftig denkt und nun, Leibhaftigkeit gegen Leibhaftigkeit stellend, die Wirklichkeit der Welt selber verwirft, ist Gnostiker. Ihn macht das sinnliche Anschauen des Übersinnlichen blind vor der echten Sinnlichkeit, während nur das geistige Erdenken des Übersinnlichen auch den Glanz im Sinnlichen als ein Widerstrah­ len von dorther zu sehen vermag.6

Die Weltverachtung der Gnostiker hat ihren Ursprung demnach in deren versinnlichender Auffassung des Übersinnlichen, die zu einer ungemäßen Gegenüberstellung von sinnlicher und übersinnlicher Wirklichkeit verführt. Der Schluss, dass die sinnfällige Welt wertlos, dass sie ein bloß zu Überwindendes und zu Negierendes sei, ist bei einem solchen Vergleich dann kaum vermeidlich. Für Jaspers werden die Gnostiker damit zu Trägern derjenigen Haltung, die Nietzsche noch den Metaphysikern überhaupt als den »Hinterweltlern«7 unterstellt hat, von der Jaspers die eigentlichen Metaphysiker aber aus gutem Grund freisprechen will.8 Dass die von den Gnostikern vorgenommene Gegenüberstellung ungemäß und GP 706. GP 708. 7 Nietzsche, KSA IV, 35–38, 256–257. 8 Vgl. Jaspers’ Unterscheidung einer existentiellen von einer bloß intellektuellen Metaphysik, wobei erstere schon deshalb den üblichen Topoi der Metaphysikkritik entzogen ist, weil sie einem Seinsbewusstsein Ausdruck verleiht, dessen Wirklichkeit für Existenz unbezweifelbar ist (GP 621–622), sowie seine Kritik an Nietzsches in dieser Hinsicht undifferenzierter Verwerfung jeglicher Metaphysik (KJG I/18, 287); s. auch oben, Abschn. 7.3. 5

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11.1 Jaspers’ Herausarbeitung des Gnostikertypus an Plotins Enneade II 9

die daraus abgeleitete Konsequenz ruinös ist, erschließt sich Jaspers zufolge vielmehr gerade dem metaphysischen Denken. Denn dieses erweist das Verhältnis des Übersinnlichen – wie immer dieses im Einzelnen bestimmt wird – zum Sinnlichen keineswegs als ein Ver­ hältnis der Ausschließung, sondern als eines der Hervorbringung und Begründung. Im Falle Plotins ist der von ihm entworfene intelligible Kosmos keineswegs eine Alternative zur Welt der Erscheinungen, in der man statt in dieser Welt leben könnte, sondern der Ursprung, aus dem die Erscheinungswelt sich herleitet und den sie in ihrer (rela­ tiven) Schönheit und Ordnungshaftigkeit widerspiegelt.9 Jaspers, der keine derartige weltkonstituierende Funktion der Ideen annimmt, kennt doch den strukturell analogen Gedanken, dass das Eine der Transzendenz Grund und Ursprung aller immanenten Wirklichkeit ist.10 Die Phänomene der Welt haben ihren letzten Sinn und Wert dann eben darin, dass sie ein Widerschein der Transzendenz, dass sie gleichsam deren chiffrierte Mitteilungen sind.11 In der Auffassung, dass das Metaphysische (das Übersinnliche) richtig verstanden kei­ neswegs die Welt entwertet, sondern sie gerade als werthaft konstitu­ iert, stimmt Jaspers also mit Plotin überein. Auch außerhalb seiner Plotin-Darstellung ruft Jaspers diesen als einen Zeugen gegen die Kurzschlüsse und Verkehrungen auf, die er als Charakteristika gnostischen Denkens betrachtet. So greift er in nachgelassenen Notizen zum Phänomen ›Gnosis‹ nicht nur auf zeitgenössische Philosophen und Forscher wie Eugen Heinrich Schmitt, Hans Leisegang, Wilhelm Bousset, Hans Jonas und Oswald Spengler zurück.12 Jaspers’ Notizen zur Gnosis enthalten vielmehr auch mehrere Seiten mit Exzerpten aus Plotins Enneade II 9.13 Von Plotin lässt er sich offenbar zu seiner Auffassung des Gnostikers als eines philosophischen ›Typus‹ anregen, über dessen negative Bewertung er sich mit Plotin augenscheinlich weitgehend einig weiß:

S.o., Abschn. 2.4. S.o., Abschn. 9.7. 11 Vgl. Ph I, 33, wo Jaspers die Chiffren als die »Handschrift eines Anderen [des Transzendenten; d. Verf.], welche, allgemein unlesbar, existentiell entziffert wird«, bezeichnet. 12 Vgl. Jaspers, Gnosis. Einleitung: Der geschichtliche und sachliche Bereich, DLA, A: Jaspers. 13 Jaspers, Gnosis. Plotin gegen Gnostiker, 3 Seiten, DLA, A: Jaspers. Zu Enn. II 9 s.o., Abschn. 2.4. 9

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Diese [gnostische; d. Verf.] Lehre verkehrt nach Plotin die Stufung des Seins in Weltverleumdung, gibt Nahrung allem Ruinösen, Hassenden, Lieblosen – eigentlich Gottlosen[.] – Daher ist sie verknüpft mit einem Typus des Philosophierens, das Plotin als ein Pseudophilosophieren kennzeichnet – es ist ein Typus für alle Zeiten, wie der Sophist Platons, – beide aber in einem Zeitalter besonders klar, vorherrschend in der Öffentlichkeit – die Namen der Vertreter in grosser Zahl da, aber vergessen, der Typus bleibt.14

Es ist anzunehmen, dass Jaspers den so skizzierten, in Auseinander­ setzung mit Plotin gewonnenen Gnostikertypus auch im Kontext anderer Schriften und Fragestellungen zugrunde legt. Dies scheint, wie Jaspers’ Charakterisierung eines vermeintlichen gnostischen Wis­ sens in Die Atombombe und die Zukunft des Menschen zeigt, jedenfalls grundsätzlich der Fall zu sein: Gnostisches Wissen ist selber ein gegenständliches, höchst anschauli­ ches Wissen. Es ist aber und will sein ein ganz anderes, als all unser alltägliches Wissen sonst ist. Als Wissen vom Ganzen hält es sich für absolut, für die eine und einzige Wahrheit. Durch sie weiß ich, was ist und was einzig zum Heile führt.15

Als gemeinsames Moment mit dem Gnostikerbegriff der Plotin-Dar­ stellung ist hier besonders die leibhaftige Anschaulichkeit des bean­ spruchten Wissens hervorzuheben, die in Verbindung mit dessen angemaßter Heilsbedeutung zur Verwerfung sowohl der Welt wie des kritisch-vernünftigen Denkens führt. Jaspers’ Sichtweise, der zufolge der Gnostizismus wesentlich durch eine vergegenständlichende, ja, versinnlichende Auffassung des Transzendenten charakterisiert ist, ist dabei weder selbstverständlich noch unwidersprochen. Sie kontrastiert mit anderen zeitgenössischen Lesarten, die dem Gnostizismus keinen verkümmerten, sondern gerade einen geschärften Transzendenzbegriff zuschreiben. Diese Position hat insbesondere der bedeutende Gnosisforscher Hans Jonas vertreten, ein Bekannter und zeitweiliger Hörer von Jaspers.16 Jonas zufolge ist es eben der neuartige, radikale Transzendenzbegriff der Gnostiker, der diese vom klassischen griechischen Denken ebenso wie von den herkömmlichen vorderasiatischen Religionen abhebt und

14 15 16

Jaspers, Gnosis. Plotin gegen Gnostiker, S. 1, DLA, A: Jaspers. AZM 406; vgl. ebd., 409. Vgl. Saner in: NMH 270 Anm. 1 zu Notiz 2.

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11.2 Polemischer Gebrauch des Gnostikerbegriffs durch Jaspers

der in seiner Konsequenz eine vollständige Entwertung der Erschei­ nungswelt impliziert.17 Daher kann Jonas auch Plotin, den Philoso­ phen der absoluten Transzendenz, seiner antignostischen Polemik zum Trotz, als einen Gnostiker bezeichnen.18 Jaspers schlägt hier den genau entgegengesetzten Weg ein, wenn Plotin für ihn kein Gnosti­ ker, sondern ein entschiedener Gegner des Gnostizismus ist, und zwar gerade aufgrund seines konsequenten Transzendenzbegriffs, der eine platte Entgegensetzung der Erscheinungswelt und der sie begründen­ den metaphysischen Prinzipien nicht zulässt. Dass Jaspers in Hinsicht auf diese Zuordnung historisch im Recht ist und Plotin in keiner Weise als ein heimlicher Gnostiker gelten kann, ist unter Fachleuten heute unumstritten.19

11.2 Polemischer Gebrauch des Gnostikerbegriffs durch Jaspers Da der Gnostizismus für Jaspers nicht bloß ein historisches Phäno­ men, sondern einen Grundtypus der ›Unphilosophie‹ darstellt, nutzt er den Gnostikerbegriff, um Zeitgenossen ebenso wie Philosophen der Vergangenheit kritisch zu charakterisieren, und zwar unabhän­ gig von möglichen Bezügen dieser Denker auf den Gnostizismus der Spätantike. Jaspers ist dabei keineswegs der erste, der den Ausdruck ›Gnosis‹ bzw. ›Gnostizismus‹ aktualisierend auf neuzeitliche Denker anwen­ det.20 Insbesondere Schelling ist in Bezug auf seine Berliner Vorle­ sungen über die Philosophie der Mythologie und der Offenbarung vielfach zum Gnostiker erklärt worden, so von Friedrich Rückert und Jacob Burckhardt. Jaspers zitiert deren Stellungnahmen in sei­ nem Schelling-Buch zustimmend.21 Wo die Genannten Schellings Berliner Vorlesungen als gnostisch bezeichnen, weitet Jaspers diesen Vorwurf auf Schellings Philosophie insgesamt aus. Ganz grundsätz­ lich kritisiert er, dass Schelling die Übergegenständlichkeit und die damit zusammenhängende Unwissbarkeit des Transzendenten nicht 17 18 19 20 21

Vgl. Jonas 1964, 96–98, 151–153 u.ö. Vgl. Jonas 1964, 6, 189 u.ö. Vgl. Halfwassen 2013; Horn 2015. Vgl. HWPh-Redaktion 1974. SGV 245.

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hinreichend berücksichtige. Jaspers kritisiert daher all solche Auffas­ sungen Schellings als gnostisch, »die ein gegenständliches Erkennen des Übersinnlichen, damit des Seins selbst, in Anschauungen und Geschichten«22 in Anspruch nehmen. Gnostisch seien Schellings Entwurf der Geschichte als eines Prozesses des Seins selbst23 und seine Ausdeutung der menschlichen Unsterblichkeit als »leiblicher Ewigkeit«24. Im Kern gnostisch ist für Jaspers aber insbesondere Schellings Bestreben, das Absolute als absolute Freiheit in Analogie zur menschlichen Freiheit positiv zu erkennen.25 Schelling anthro­ pomorphisiere hierdurch das Absolute; er verendliche es darüber hinaus durch die allzu unbefangene Anwendung der Kategorien des menschlichen Verstandes auf die den Verstand übersteigende Wirk­ lichkeit Gottes: Er überträgt Erfahrungen des Menschseins auf die Gottheit, spricht von Gottes Bewußtsein, Willen, Persönlichkeit. Er spricht von der Gottheit in Kategorien wie Notwendigkeit, Möglichkeit, Wirklichkeit. Er denkt in der Gottheit Prozesse und von ihr ausgehende Bewegungen.26

Als Gemeinsamkeit mit dem von Plotin entworfenen Gnostikerty­ pus lässt sich dabei der Vorwurf einer mythologisierenden und ver­ menschlichenden Auffassung des Absoluten herausstellen. Neben Schelling sind für Jaspers die marxistischen Philosophen Ernst Bloch und Georg Lukács moderne Gnostiker. Beide haben in den 1910er-Jahren in Heidelberg gelebt und in intellektuellen Kreisen verkehrt, in denen sie gelegentlich mit Jaspers zusammenge­ troffen sind.27 Auch bei Nietzsche, Ludwig Klages, Hans Werthmüller, H. G. Wells und Anton Böhm findet Jaspers – im Kontext seiner Refle­ xion der Atombombenproblematik – Züge gnostischen Denkens; gemeinsam sei den Genannten die quasi-mythologische Vorstellung der Weltgeschichte als eines unaufhaltbaren Unheilsprozesses.28 Vor allen anderen zeitgenössischen Denkern ist es frei­ lich Heidegger, Jaspers’ anfänglicher Weggefährte und späterer

22 23 24 25 26 27 28

SGV 130. SGV 165; vgl. SGV 262. SGV 36. SGV 178–184. SGV 177. HE 5. Zum ›Gnostizismus‹ Blochs vgl. Pauen 1994, 199–254. AZM 405–409.

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11.3 Antignostische Motive in Jaspers’ Heidegger-Kritik

»schlimmste[r] Gegner«29, der ihm als moderner Gnostiker gilt.30 Die große Bedeutung, die Jaspers’ Verhältnis zu Heidegger allgemein bei­ gemessen wird, rechtfertigt es, seine Auseinandersetzung mit dem (mutmaßlichen) Gnostizismus Heideggers hier mit größerer Aus­ führlichkeit zu behandeln. Dabei wird sich zeigen, dass Jaspers bei Heidegger genau die Züge der gnostischen Weltanschauung wieder­ findet, die Plotin am schärfsten an seinen gnostischen Gegenspielern kritisiert:31 eine Versinnlichung und Mythologisierung des Transzen­ denten, eine sich hieraus ergebende Abwertung der Welt und Gottes und in der Konsequenz Irrationalismus, oft in der Form magischen Denkens, Immoralismus und Traditionsvergessenheit. Inwiefern die von Jaspers vorgebrachte und im Folgenden refe­ rierte, teilweise sehr drastische Kritik an Heideggers Denken und Per­ sönlichkeit zutrifft, kann im Rahmen der vorliegenden Untersuchung natürlich nicht geklärt werden. Aus ihr ein umfassendes Verdikt gegen Heidegger selbst oder gegen seine Philosophie abzuleiten, wäre sicher ungemäß und wohl auch nicht in Jaspers’ Sinne. Denn dieser hat in Heidegger, aller philosophischen, politischen und auch persönlichen Gegnerschaft zum Trotz, stets einen der bedeutendsten, vielleicht den bedeutendsten Philosophen seiner Zeit gesehen.32 Die Hoffnung auf eine Verständigung mit ihm hat Jaspers bis zuletzt nicht aufgegeben.33

11.3 Antignostische Motive in Jaspers’ Heidegger-Kritik Hans Saner bemerkt in seiner Einleitung zu Jaspers’ aus dem Nachlass herausgegebenen Notizen zu Martin Heidegger: Zwei Charakterisierungen von Heideggers Philosophie wiederholt Jaspers immer wieder: Dieses Denken ist eine moderne Form der Gnosis – und: Es ist eine Form der Magie. Zuweilen werden die beiden

29 NMH 259. – Zum persönlichen Verhältnis von Jaspers und Heidegger vgl. Safran­ ski 1995; Weidmann 2011. 30 Zum ersten Mal belegt ist der Gnostizismusvorwurf Heidegger gegenüber in einer Notiz aus den Jahren 1948–50 (NMH 56). 31 S.o., Abschn. 2.4. 32 Aut 92: »In der Zunft der Philosophen war unter den Zeitgenossen Heidegger der einzige, der mich wesentlich anging. So ist es noch heute.« 33 Vgl. Aut 110–111; NMH 268.

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Momente auch vereint. Dann heißt es etwa: »Die ›Sachhaltigkeit‹« dieses Denkens sei »ein gnostischer Zauber« […].34

Jaspers’ Beurteilung der Heidegger’schen Philosophie als Gnostizis­ mus betrifft Saner zufolge, wenngleich in unterschiedlicher Qualität, alle Schaffensphasen Heideggers: Gnosis war für Jaspers schon Heideggers existenziale Analytik, sofern sie das Umgreifende des Daseins quasiwissenschaftlich objektiviert, seine Strukturen herauspräpariert, die Existenzialien dann dogmati­ siert und überall den Sprung zwischen Dasein und Existenz einebnet. Aber sie ist noch gleichsam eine nüchterne Gnosis. – Ganz und gar von einer magischen Gnosis umfangen ist indes ein Denken, das sich anheischig macht, »aus dem Sein selbst zu denken« [...] und »das Wesen des Zeitalters aus der in ihm waltenden Wahrheit des Seins zu begreifen« (Heidegger).35

Jaspers’ Charakterisierung Heideggers als eines Gnostikers ist nicht ohne historische Anhaltspunkte. So weist Jaspers darauf hin, dass Heidegger, etwa wenn er von der ›Geworfenheit‹ des Menschen spricht oder wenn er den Menschen als den ›Hirten des Seins‹ bezeich­ net, in Ausdruck und Sinn gnostische Mythen wiedergibt.36 Jaspers mag hier durch Jonas informiert sein, der eine solche Entlehnung in Gnosis und spätantiker Geist aufgewiesen hat.37 Für Jaspers wie für Jonas verweisen die genannten motivischen Übereinstimmungen auf eine tiefere innere Verwandtschaft von Heidegger’scher Philosophie und gnostischem Denken. Der Gesichts­ punkt, unter dem eine solche Verwandtschaft behauptet wird, ist bei Jaspers einerseits und Jonas andererseits allerdings geradezu entgegengesetzt. Wo der Gnostizismus Jonas zufolge Einsichten

Saner 1989, 23. Saner 1989, 23–24. – Dass Jaspers eine grundsätzlich einheitliche Deutung des Heidegger’schen Denkens vertreten hat, zeigt die folgende Notiz (NMH 188): »Diese Unfähigkeit zur Erfahrung [in Bezug auf die Ereignisse von 1933; d. Verf.] bezeugt den granitnen Grund in seinem philosophischen Denken. Er bleibt jederzeit der gleiche. Was als Entwicklung erscheint und von ihm selbst als Gang sehr wichtig genommen wird (die Datierungen, Einordnungen seiner Schriften), ist unwesentlich, aber in der Erscheinung dennoch die Abwandlungen, die Reihe der Symptome, oder der Objektivierungen, oder der Verdeutlichungen dessen, was aus ihm spricht.« 36 NMH 56. 37 Jonas 1964, 107. Zu gnostischen Motiven in Heideggers Denken vgl. Pauen 1994, 255–336. 34 35

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11.3 Antignostische Motive in Jaspers’ Heidegger-Kritik

Heideggers vorwegnimmt, wiederholt Heidegger für Jaspers die Irr­ tümer der Gnostiker. Jaspers zufolge denkt Heidegger vor allem insofern gnostisch, als er das (im weiteren Sinne) Transzendente vergegenständlichend und damit wesentlich unangemessen konzipiere. Schon in Heideggers Frühphilosophie findet Jaspers ein ›gnostisches‹ Scheinwissen der Existenz täuschend ausgesprochen. Für Jaspers ist die menschliche Existenz nicht gegenständlich, d.h. vor allem nicht unpersönlich und nicht allgemeingültig wissbar. Sie wird uns demnach nur als unser je eigenes Selbstsein inne, ist nicht zu erkennen, sondern nur indirekt zu erhellen und durch ein appellierendes Philosophieren zu erwecken. Heidegger dagegen fasse die Existenz zu gegenständlich, wenn er sie, zwar nicht in den herkömmlichen Kategorien, wohl aber in besonderen Kategorien der Existenz, den Existentialien, für objektiv erkennbar halte.38 Ist es Jaspers zufolge in Bezug auf die Existenz ungemäß, von ihr wie von einem wissbaren Gegenstand zu sprechen, so können gegenständliche Analogien doch dazu dienen, die Existenz zu erhel­ len. In Bezug auf das schlechthin transzendente Absolute ist für Jaspers dagegen jeder Versuch einer begrifflichen Bestimmung »posi­ tiv täuschend«39. Jaspers wirft Heidegger in diesem Kontext vor, er beanspruche zwar kein Wissen des Seins, wohl aber stelle er ein künftiges Wissen des Seins in Aussicht.40 Das Sein werde sich demnach in einem von Heidegger als Seinsgeschichte bezeichneten Die Stoßrichtung von Jaspers’ Vorwurf einer Vergegenständlichung der Existenz zeigt sich besonders in seiner Kritik an der von Heidegger eingeführten Unterschei­ dung von ›existentiell‹ und ›existential‹. Für Heidegger lassen sich demnach die Grundbestimmungen der Existenz durch die Existentialien festhalten, ohne dass dabei eine eigene existentielle Beteiligung stattfinden muss; wie wir uns ›existentiell‹ befinden, sei diesem ›existentialen‹ Wissen gegenüber gleichgültig (vgl. KJG I/12, 127–129). Dagegen ist für Jaspers der eigene existentielle Mitvollzug gleichsam der »andere[] Flügel« (NMH 163, 233), dessen der Mensch neben dem Verstand bedarf, um zu begreifen, was Existenz eigentlich ist. Diese innere Beteiligung ist nicht geradewegs lern- und lehrbar, sondern nur indirekt, in der Form des Appells, zu erwecken; vgl. NMH 34, 141, 233–234. 39 Ph II, 145. 40 Vgl. NMH 56: »Verspricht eine ›Lichtung des Seins‹, ein künftiges Denken des Seins, [...] Ob die ›Wahrheit des Seins‹, von der alles Heil kommen soll, nicht am Ende, da sie in dieser Philosophie leer bleibt, erfüllt wird durch eine handgreifliche Autorität des ›Objektiven‹ –?« Vgl. auch Jaspers’ (nie abgeschickten) Brief an Heidegger vom 12.10.1942 (Heidegger/Jaspers, Briefwechsel, 165) mit der dortigen Kritik an Heideggers Erwartung, »inskünftig wissen [zu] können«. 38

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11 Gegen den Gnostizismus

Prozess sukzessive offenbaren. Gegenwärtig kündige sich diese Seins­ offenbarung schon in Heideggers eigenem Denken an.41 Es sei »[d]as dunkle Raunen – ›noch nicht‹«42, ein Versprechen, das nicht eingelöst werde und nicht eingelöst werden könne. Schon in diesem Verspre­ chen werde das Sein, wenngleich gegen die Intention Heideggers, vergegenständlicht. Indem das Sein zum geschichtlichen Akteur wird, werde Heideggers Philosophie zu einer »Mythik in Begriffen«43, ganz analog zum antiken Gnostizismus oder zum ›Gnostizismus‹ Schellings.44 Ein solches quasi-mythisches Denken mag nach Jaspers zwar auf »Literaten« suggestiv wirken, jedoch »näher bedacht wird es zu Unsinn«.45 Jaspers sieht in Heideggers Historisierung des Transzendenten ein Missverständnis, das analog zu dem ist, das Plotin seinen gnos­ tischen Gegnern zuschreibt: »Heidegger verwandelt in Geschichte, was jederzeit eine Abfolge im denkenden Transzendieren [ist]«46. Es werde von ihm also als historische Abfolge missverstanden, was in Wahrheit die übergeschichtliche innere Ordnung des spekulativen Transzendierens zum Absoluten ist. Jaspers sieht daher in der Konse­ quenz bei Heidegger »[d]ie Darbietung der Seinserhellung, zwar auf dem Grunde der Existenzerhellung, aber in der Gestalt gnostischen Wissens, das sich in der Objektivierung wohl zurückhält[,] doch entschieden in objektivierenden Begriffen auftritt«47. Die Vergegenständlichung der Existenz, die Jaspers Heidegger vorwirft, führe dazu, dass dessen Philosophie »faktisch solipsis­ tisch«48 und in der Konsequenz »[k]ommunikationslos – weltlos – gottlos«49 werde. Der Vorwurf der Gottes- und Weltfeindschaft, den Plotin gegen ›seine‹ Gnostiker richtet, findet sich also, leicht abgeschwächt, auch in Jaspers’ Heidegger-Kritik wieder. Heideggers Denken will, so Jaspers, ein positives Denken dessen sein, was an ihm selbst wesentlich undenkbar ist. Damit ist der Irra­ tionalismus für Jaspers ein unabdingbares Moment dieses Denkens. So bemerkt er zum Begriff der Seinsgeschichte: 41 42 43 44 45 46 47 48 49

NMH 51, 83. NMH 63. NMH 61. NMH 57. NMH 61. NMH 231. NMH 142. NMH 38. NMH 35; ähnlich NMH 37, 38, 60.

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11.3 Antignostische Motive in Jaspers’ Heidegger-Kritik

Der Gedanke ist nicht zu begründen, nicht zu beweisen, er hat keine angebbare Methode. Er überfällt als Geschichte des Seins den Denker, der ihn auffängt. Er ist das nunmehr Vorausgesetzte. [...] Der Denker gibt sich ihm gefangen.50

In Heideggers Irrationalismus erkennt Jaspers daher das extreme Gegenteil seiner eigenen Vernunftphilosophie, die die Bedingungen des gewöhnlichen Verstandesdenkens zu erhellen sucht, ohne den Anspruch auf rationale Klarheit und die hierdurch ermöglichte Kom­ munizierbarkeit philosophischer Gehalte aufzugeben: H[eidegger]: Es verstehen wenige oder keiner. Es geschieht im großen Denker. Der »Begriff« in der Philosophie: »Sachhaltig«. J[aspers]: Über den Verstand hinaus, ohne den Verstand zu verlieren.51

Zwar beansprucht auch Jaspers, das Transzendente zu thematisieren, das kein Verstand zu fassen vermag. Aber der Verstand bleibt doch das Medium, in dem diese Vergegenwärtigung durch ein »Wissen des Nichtwissens«52 statthat und vermittels dessen, orientiert durch die Vernunft, ein spekulatives Berühren der Transzendenz53 möglich wird. Dass dagegen Heidegger die Vernunft selbst als »zur Sphäre [...] des Verbergens gehörig«54 bestimmt, muss für Jaspers einem Verrat an der Idee der Philosophie gleichkommen, impliziert es doch die Preisgabe jeder Möglichkeit gehaltvoller Kommunikation.55 Mit der Vernunft sieht Jaspers bei Heidegger auch die Wahrheit als den Maßstab des je eigenen Lebens und Denkens verworfen: Heidegger hat das Philosophieren unter dem Maßstab der Wahrheit verlassen, – nicht nur den Boden der Begründungen, Argumentationen NMH 227. NMH 208. 52 Ph II, 264; vgl. W 16, 604. 53 S.o., Kap. 10. 54 NMH 67. 55 NMH 67: »Wenn alles gegenständliche Denken in die Sphäre des Herstellens, des Verbergens, des Willens rückt, wie kann man dann noch miteinander reden?« NMH 138: »[W]enn Heidegger ›die seit Jahrhunderten verherrlichte Vernunft die hartnäckigste Widersacherin des Denkens‹ nennt [...], so scheinen solche Thesen in jenen Ort zu treiben, aus dem mich herauszuarbeiten die stete Arbeit seit meiner Jugend war. Was Vernunft ist, was sie in so verschiedenen Philosophen wie Spinoza und Kant war, und wie sie es auch noch in Nietzsche blieb, das ist die Philosophie selbst, wie sie als Beweger des existentiellen Lebens uns zur Klarheit und nie zur endgültigen Klarheit bringt, uns zum Hören nicht nur auf die Gründe der Logik und der beweisbaren Realitäten, sondern auf die Wirklichkeiten selber drängt.« 50 51

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– nicht nur den Raum der Erhellungen – sondern Wahrheit in jedem Sinne einer Verantwortung, – einer Wirklichkeit. – Zugunsten von »Aussagen«, – nicht in der Form der Verkündigung des Propheten, – sondern in der Form der Untersuchung als Magier[.] – Es spricht kein Gehalt, aber es ist eine Tiefe berührt, aus der er sprechen könnte, – Es [sic] ist ein ahnungshaftes, in Hinweis und Versprechung sich ankündigendes, – zweideutiges, – verdunkelndes Sprechen.56

Diese irrationalistische Haltung Heideggers stellt Jaspers explizit in den Kontext von dessen ›Gnosis‹. Eine Kritik dieses Denkens sei so schwierig, weil Heidegger sich bereits im Besitz eines höheren gnostischen Wissens glaube.57 Instruktiv ist dabei der von Jaspers vollzogene Vergleich des Heidegger’schen mit dem Hegel’schen Den­ ken. Zwar erheben beide Jaspers zufolge unhaltbare philosophische Wissensansprüche. Hegel aber verdiene insofern den Vorzug, als er seine Philosophie in logisch-systematischer Weise entwickle, weswe­ gen er – anders als Heidegger – nicht als Gnostiker zu gelten habe.58 Die irrationale Verschlossenheit gegen die kritische Reflexion, die Jaspers bei Heidegger ausmacht, ist sein vielleicht größter Vorbe­ halt gegen dessen Denken. Nicht dessen besondere Inhalte, sondern der verkündende, pseudo-prophetische Gestus dieser Philosophie, der keinen Widerspruch zulasse, sei es demnach, der ihre innere Nähe zum Totalitarismus ausmache.59 Eine besondere Ausprägung von Heideggers Irrationalismus ist Jaspers zufolge dessen »Vermischung von Dichtung und Philoso­ phie«60, wobei das Philosophieren sich teils als Auslegung von Dich­ tern vollzieht, teils selbst im Ausdruck dichterisch wird. Verbunden hiermit ist die Vorstellung, die Sprache als solche biete einen privile­ NMH 82–83. NMH 140: »Ist hier eine Grundhaltung des Glaubens – der Gnosis – der phäno­ menolog[ischen] Ahnung und Gegenwärtigkeit, in die einzutreten bedeutet: erfüllt und gefangen sein –, bei allem Widerstand, allem Widersprechen nur Strampeln? Ist hier überhaupt Kritik möglich?« 58 NMH 263. 59 NMH 53: »Die Grundhaltung des Diktatorischen, Verkündenden – ohne Dogma doch Gehorsam fordernd – Intoleranz«. NMH 80: »Die Methoden, Dichtung, Philo­ sophie, Wissenschaft ineinanderzuschlingen, sind Methoden der Rechtfertigung von Verwirrung und Nebel, sind Vorbereitungen einer Erzeugung der Denkungsart, die dem Totalitarismus zu verfallen bereit sind. Wer so denkt, ist innerlich widerstandslos gegen das Unvernünftige. Mehr noch: er verliert den unerläßlichen gesunden Men­ schenverstand.« Vgl. NMH 156, 157, 160, 232, 267. 60 NMH 106; vgl. NMH 80, 131, 149. 56

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11.3 Antignostische Motive in Jaspers’ Heidegger-Kritik

gierten Zugang zum Sein: »Die absolute Hochschätzung der Sprache [...], eine Metaphysik der Sprache, – dagegen [Jaspers’ eigener Ansicht nach; d. Verf.] gerade umgekehrt: die Sprache dem Absoluten stets noch unangemessen, – angemessen unserer Gegenwärtigkeit.«61 Jas­ pers setzt Heideggers Vertrauen in die Offenbarungskraft der Sprache also seine eigene Einsicht in die wesentliche Unsagbarkeit des Abso­ luten entgegen, in das Scheitern jedes Versuchs, dieses auszusprechen – eine Einsicht, die in Jaspers’ Lehre vom »erfüllten Schweigen«62 als der letztmöglichen Vergegenwärtigung der Transzendenz gipfelt. Dem ›Gnostiker‹ Heidegger gegenüber stellt sich Jaspers dabei betont auf den Standpunkt einer negativen Theologie neuplatonischer Prä­ gung. In die Mappe der »Notizen zu Martin Heidegger«, im Kontext seiner Kritik der Heidegger’schen Sprachauffassung, hat er daher die beiden folgenden Zitate von Porphyrios und Augustinus eingelegt: Porphyrius (Nestle II, 341): »Den höchsten Gott verehren wir durch reines Schweigen oder durch reine Gedanken über ihn.«63 Augustin: de doctr. christ. I, 6: »Ac per hoc ne ineffabilis quidem dicendus est Deus, quia et hoc cum dicitur, aliquid dicitur. Et fit nescio quae pugna verborum, quoniam si illud est ineffabile, quod dici non potest, non est ineffabile quod vel ineffabile dici potest. Quae pugna verborum silentio cavenda potius quam voce pacanda est.«64

NMH 58. KJG I/13, 247; vgl. NMH 253: »Wir können nicht denken, ohne zu sprechen. Wir vergewissern uns der Transzendenz unumgänglich im Hören und Prägen von Chiffern. Aber Sprache und Chiffern sind für uns der einzige Weg, des Unsagbaren gewiß zu werden in der Mitteilung. Nur durch Sprache kommen wir dorthin, wo Sprache vielmehr Schweigen wird. // Aber dieses Schweigen ist gleichsam das eindringlichste Sprechen, nicht das leere Schweigen. Es wird nicht wirklich dadurch, daß ich das Sprechen unterlasse, sondern dadurch, daß ich es zum Äußersten treibe, wo es umschlägt, uns alsbald von neuem in der Zeit wieder Sprache wird.« 63 NMH 255 mit Verweis auf Nestle 1923, Bd. 2, 341 (Zitat von Porphyrios, De abstinentia II 34). 64 NMH 256 mit Verweis auf Augustinus, Doctr. christ. I 6. (Übersetzung Mitterer, S. 18–19: »Und daher darf Gott nicht einmal der Unaussprechliche genannt werden, weil ja doch schon dadurch, daß er nur so genannt wird, etwas von ihm ausgesagt wird. Es entsteht dadurch wirklich ein gewisser Widerspruch der Worte, weil es, wenn das unaussprechlich ist, was nicht genannt werden kann, nichts Unaussprechliches geben kann, das auch nur unaussprechlich genannt werden könnte. Diesen Widerspruch soll man lieber gleich mit Stillschweigen verhüllen, als mit Worten auszugleichen suchen.«) 61

62

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11 Gegen den Gnostizismus

Eine bedeutende Parallele zum antiken Platonismus besteht auch in Jaspers’ Überzeugung, dass der Aufschwung zur Transzendenz nur dann gelingen kann, wenn ihm eine Reinigung der Seele vorausgeht, deren Voraussetzung eine sittliche Lebensweise darstellt und die durch kontemplative Übungen zu befördern ist.65 Dies stellt einen bewussten Abschied vom Ideal einer im modernen Sinne wissen­ schaftlichen Philosophie dar – denn für die modernen Wissenschaften ist es in der Tat weitgehend gleichgültig, welche sittliche Haltung der Forscher einnimmt. Es ist aber ebenso eine Wendung gegen das, was er bei Heidegger als Gnostizismus wahrnimmt: die Überzeugung, philosophisches Wissen erwerben zu können, ohne hierdurch auf eine besondere philosophische Lebensform verpflichtet zu sein: Heidegger: Totalisierend, – gnostisch, – so weit gespannte Horizonte, daß sie zerfallen, – Verlust des Bezugs zur konkreten Gegenwärtigkeit, zur Existenz, zum Ethos, – freischweben in einem existentiell gespann­ ten ästhetischen Raum – bei mir etwa das Gegenteil von allem[.]66

Im Vergleich zur klassischen Metaphysik – als Beispiel nennt Jaspers hier die »indische Spekulation« – sei Heideggers Denken daher »wesentlich unernst«.67 Besonders eindringlich wirkt diese Kritik in einem 1949 an Hannah Arendt gerichteten Brief von Jaspers. Außer der verwerfenden Haltung Heidegger gegenüber fällt dabei die typisch platonische Betonung des Zusammenhangs einer sittlich rei­ nen, oder doch um Reinheit bemühten, philosophischen Lebensweise und der Schau des Absoluten als des »Reinsten« auf: Übrigens wechselte ich gelegentlich einige Briefe mit Heidegger. [...] Er ist ganz in der Seinsspekulation, er schreibt »Seyn«. Vor 2½ Jahrzehn­ ten tippte er auf »Existenz« und verdrehte die Sache im Grunde. Jetzt tippt er noch wesentlicher, und das läßt mich wieder nicht gleichgültig. Hoffentlich verdreht er nicht noch einmal. Aber ich zweifle. Kann man als unreine Seele – d.h. als Seele, die ihre Unreinheit nicht spürt und nicht ständig daraus hinausdrängt, sondern gedankenlos im Schmutz Vgl. Einf 118: »Was die Religionen in Kultus und Gebet vollziehen, hat sein philosophisches Analogon in der ausdrücklichen Vertiefung, der Einkehr in sich zum Sein selbst. Das muß in Zeiten und Augenblicken geschehen, in denen wir nicht in der Welt für Zwecke der Welt beschäftigt sind, und in denen wir doch nicht leer bleiben, sondern gerade das Wesentliche berühren, sei es am Tagesbeginn, am Tagesabschluß, in Zwischenaugenblicken.« 66 NMH 58; vgl. NMH 142, 204. 67 NMH 174. 65

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11.3 Antignostische Motive in Jaspers’ Heidegger-Kritik

fortlebt, – kann man in Unaufrichtigkeit das Reinste sehen? Oder wird er noch eine Revolution erleben? – Ich bin mehr als zweifelhaft, aber weiß es nicht.68

Neben Irrationalismus und Immoralismus wirft Jaspers der Philo­ sophie Heideggers auch Traditionsvergessenheit vor – und liegt auch damit auf der Linie der plotinischen Gnostikerkritik. Was an Heideggers Philosophie bedeutend und wahr sei, das zehre von der großen Überlieferung der Philosophie – die freilich nur in verzerrender und verfälschender Weise wiedergegeben werde: »Er spricht in origineller Sprache alte Wahrheiten, meist unzureichend und verbogen, aus.«69 Dabei vermutet er von ihm geschätzte Denker wie »Kierkegaard, Nietzsche, Hegel, Meister Eckardt [sic], Plotin u.a.«70 als unausgesprochene Quellen. Dennoch erhebe Heidegger den Anspruch, ganz neue Einsichten zu präsentieren, eine Haltung, die Jaspers für einen schwerwiegenden Irrtum, insbesondere der neu­ zeitlichen Philosophie, hält.71 In einem (vermutlich nie abgeschick­ ten) Brief aus dem Jahr 1950 betont Jaspers auch Heidegger selbst gegenüber, dass in der Philosophie nicht bloße Originalität, sondern jene Nähe des Gedankens zum Ursprung anzustreben sei, welche, im Gegensatz zum falschen Gestus des Neuen, allein in der Aneignung der Tradition erwachsen könne.72 Vor diesem Hintergrund nimmt Jaspers Heideggers Vorwurf einer ›Seinsvergessenheit‹ der philosophischen Tradition seit Platon mit Irritation zur Kenntnis.73 Wenn Heidegger beanspruche, der Tradition gegenüber ganz Neues zu lehren, so sei dies schlicht unwahr: Jaspers an Arendt, 01 09.1949 (Arendt/Jaspers, Briefwechsel, 176–177). NMH 105. 70 NMH 233; vgl. NMH 155, 164. 71 NMH 45; vgl. Ph I, 282. 72 Vgl. Jaspers an Heidegger, 15.05.1950 (Heidegger/Jaspers, Briefwechsel, 205): »Ich suche nur ursprünglich, nicht original zu denken, glaube im Raume der philoso­ phia perennis mich zu bewegen, um von daher nach Kräften mir die Realitäten deutlich zu machen und die Mittel der Kommunikation zu gewinnen. Das Traditionelle ist so reich und wesentlich, daß seine Aneignung im größten Umfang unter ständiger Beziehung auf das Einfache, Wesentliche mir unerläßliche Förderung und Nahrung für gegenwärtige Einsicht ist.« 73 NMH 103; vgl. Jaspers an Arendt, 12.04.1956 (Arendt/Jaspers, Briefwechsel, 321): »Plato als weltgeschichtliche Ursache des Unheils der Richtigkeit, die an Stelle der Wahrheit tritt, und Wahrheit als ›Unverborgenheit‹, die Plato verlorengeht, das finden Sie großartig. Ich habe in meinem Exemplar des Aufsatzes 1942 zuletzt an den Rand geschrieben: ›etwas lächerlich‹.« 68

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11 Gegen den Gnostizismus

Heidegger will zurück, in das Zuvor, in den Grund: aus der Metaphysik in den Grund, [...] – dieses Zurück ist im Sinn, formal, nicht anders als alle Philosophie – das Überwinden der Subjekt-Objekt-Spaltung, – die Berührung des Seins selbst, der Transzendenz, des Absoluten – die Vergegenwärtigung des Ewigen[.] Und wie sonst [...] gesprochen wird: intellektuelle Anschauung, – Denken aus der Mitwisserschaft mit der Schöpfung – vorweg – Dialektik – Spekulation[.]74

Heideggers Anspruch auf Neuheit ist Jaspers zufolge also verfehlt. Vielmehr würde dieser »[a]lte metaphysische Gedanken als neu und noch nicht da gewesen vortragen – [...] Aber dabei ist von vornherein der Gehalt des Alten verloren oder verkümmert, – die Bedingungen und Folgen seines denkenden Daseins in der Welt nicht verwirklicht.«75 Ähnlich wie Plotin im Fall ›seiner‹ Gnostiker ist Jaspers der Ansicht, Heidegger verschweige seine Quellen teils aufgrund einer »hybride[n] Selbstauffassung«76, teils auch aus Berechnung, um durch den Originalitätsanspruch seine eigene Wirksamkeit zu erhö­ hen.77 Seinen Grundgegensatz zu Heidegger beschreibt Jaspers daher wie folgt, indem er diesen als Gnostiker, sich selbst dagegen als Vertreter der philosophia perennis charakterisiert: Mein Unterschied zu Heidegger: 1. er beansprucht etwas völlig Neues, – sieht gnostisch einen Geschichtsprozeß des Seins – ich lebe in der Aneignung einer philosophia perennis, lege keinen Wert auf Neue­ rung, auf einen Schritt und Schnitt – 2. Heid[egger] läßt fallen – ich möchte mit deren Sinn jeweils Wesentliches, – die Grundhaltung und Grundeinsichten, das Grundwissen bewahren und erneuern, wobei es ungewollt eine geschichtliche Wandlung des Kleides vollzieht. [...] 4. Heid[egger] ist hingerissen von einem mehr Geahnten – ich lebe in überlieferten Gehalten.78

NMH 122. NMH 145. 76 NMH 53. 77 NMH 148: »Ist es erlaubt und für die Verwirklichung gut, als ganz neu auszugeben, was uralt ist? Wenn es gar in den geschichtlich vorliegenden Gestalten reiner, klarer, vollendeter spricht?« 78 NMH 76. 74 75

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11.3 Antignostische Motive in Jaspers’ Heidegger-Kritik

In diesem abschließenden Teil der vorliegenden Untersuchung konnte festgestellt werden, dass Jaspers nicht nur Plotins positiver Lehre erhebliche Bedeutung als Paradigma konsequenten metaphysischen Transzendierens einräumt. Vielmehr stellen auch Plotins Kontrover­ sen mit Materialisten und Gnostikern für Jaspers einen paradigmati­ schen Fall dar, an dem sich zeigt, aus welcher Richtung das Transzen­ denzdenken der Metaphysik gefährdet ist und wie dieser Gefährdung mit den Mitteln eines kritischen Philosophierens entgegengewirkt werden kann. Nicht nur der Materialismus, auch der Gnostizismus ist für Jaspers ein überhistorischer Typus sich verfehlenden philosophischen Denkens. Dieses ist demnach durch die unangemessene Verdingli­ chung des Transzendenten gekennzeichnet, das in Mythen, in imagi­ nierten geschichtlichen Prozessen u.Ä. vorgestellt wird. Dabei rekur­ rieren die aus Plotins Enneade II 9 bekannten Topoi, werden aber den besonderen systematischen Interessen Jaspers’ entsprechend aus­ gelegt. Die sicherlich bedeutendste Instanz von Jaspers’ polemischem Gebrauch des Gnostikerbegriffs ist seine Auseinandersetzung mit Heidegger, für Jaspers der Prototyp eines modernen Gnostikers. Jaspers sieht Heidegger vor der Folie von Plotins Gnostikerkritik und findet in ihm wieder, was dieser am Gnostizismus seines Zeitalters kritisierte: die irrationale Verschlossenheit der kritisch prüfenden Vernunft gegenüber, ein Abgleiten ins magische Denken, einen phi­ losophischen Wissensanspruch, der sich vom Streben nach sittlicher Reinheit loszureißen sucht, und schließlich eine Traditionsverach­ tung, die Originalität vorgibt, in Wirklichkeit aber von verleugneten und verfälschten Traditionsgehalten zehrt. Gegen Heidegger bekennt sich Jaspers als Vertreter einer am Neuplatonismus orientierten negativen Theologie des Absoluten und betont seine Zugehörigkeit zur perennischen Tradition der Philoso­ phie.

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12 Schluss

In welchem Verhältnis steht die Philosophie von Karl Jaspers zum Denken Plotins? Von dieser Frage ist die vorliegende Untersuchung ausgegangen. Gleich eingangs wurde dabei bestimmt, dass es vorran­ gig – obgleich nicht ausschließlich – Jaspers’ philosophische Theo­ logie ist, in der wir mit Bezügen auf Plotin rechnen dürfen. Denn Jaspers denkt Gott als das absolut Transzendente, und Plotin ist nicht nur der Philosoph, auf den sich der Transzendenzbegriff historisch zurückführen lässt, sondern zugleich und vor allem derjenige, der absolute Transzendenz in nicht mehr zu überbietender Konsequenz und Radikalität gedacht hat. Als solchen rezipiert ihn auch Jaspers, der sehr wohl um die historisch und systematisch einmalige Stellung des plotinischen Transzendenzdenkens weiß. Der Gott Plotins ist das absolut Eine, das sich nur mit den Mitteln einer negativen Theologie oder aber in immer unzureichend bleiben­ den und daher schließlich scheiternden Analogien vergegenwärtigen lässt.1 Zugleich ist jenes Eine auf allen Ebenen der Wirklichkeit gegenwärtig durch seine alles zusammenbindende, alles miteinander in Beziehung setzende, einheitsstiftende Kraft. Weil alles Seiende nur als ein je Eines existieren kann, gilt das Eine Plotin als der Ursprung und Erhalter des Seienden insgesamt; weil das Einssein einer jeden Sache ihre Schönheit und Vollkommenheit ausmacht, erkennt er in ihm zugleich das Ur-Gute. Als Gutes ist es das Ziel allen Strebens, insbesondere aller menschlichen Bestrebungen. Das gilt sowohl in intellektueller wie in ethischer Hinsicht. Das Eine ist Ziel des intellektuellen Strebens, weil dieses darauf ausgeht, alle Phänomene auf einen letzten Urgrund zurückzuführen; es ist Ziel des ethischen Strebens, weil der Mensch Glück und Erfüllung nur durch ein Leben in Hinblick auf und in Gegenwart des Einen zu finden vermag. In beiden Fällen ist die Erfahrung des Einen die Erfüllung des Strebens, ein erster vorbereitender Schritt ist der denkende Aufstieg 1

S. hierzu und im Folgenden oben, Kap. 2.

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zu den Ideen, die Plotin als die Gehalte eines göttlichen Geistes (nous) konzipiert. Ethik und Dialektik, in denen sich das Streben nach dem Einen jeweils manifestiert, sind dabei zwar voneinander zu unterscheiden, sind aber in Zielsetzung und Methode untrennbar miteinander ver­ knüpft. Denn in der dialektischen Erforschung der Seinsgründe und des letzten Urgrundes transformiert sich die Seele, reinigt sich und wird dem Intelligiblen, ja in gewisser Weise sogar dem absolut Einen, ähnlich. Zugleich aber ist eine sittliche Lebensweise Voraussetzung der philosophischen Einsicht; wo sie verachtet wird, sind alle Versu­ che metaphysischer Spekulation hinfällig. Denn wer sich nicht dem anzugleichen vermag, was er erforschen will, der bleibt ihm nach Plotin immer fremd und kann sich allenfalls äußerlich und täuschend philosophische Redeweisen aneignen. Plotins Denken ist, wie Jaspers richtig feststellt, eines, das von konkreten Erfahrungen ausgeht. Von zentraler Bedeutung ist dabei die Erfahrung des Schönen in der Welt – des Schönen im weiten, nicht nur ästhetischen, sondern auch ethischen und letztlich im ontologischen Sinne des Wohlbestimmten und Vollkommenen. Die sinnlichen Einzeldinge haben den mittelbaren Grund ihrer jeweiligen Vollkommenheit, mag diese dem Grad nach groß oder klein sein, in den Ideen, an denen sie teilhaben. Diese Teilhabe ist durch die Seele vermittelt, deren wesentliche Aufgabe das Zurerscheinungbringen des ideenhaft Seienden in der phänomenalen Wirklichkeit darstellt. Aber weder die Ideen noch die Seelen können als der letzte Grund aller Wirklichkeit gelten, denn Ideen und Seelen sind selbst kom­ plex, gleichsam zusammengesetzt und somit begründungsbedürftig. Wieso sind in der Idee des Menschen Lebendigkeit und Vernünftig­ keit verknüpft? Hierfür muss ein Grund jenseits des Ideenkosmos angesetzt werden, ein letzter Einheitsgrund auch noch der Ideen. Die Ideen aber sind der Inbegriff des an sich selbst rein Denkbaren, und so stößt Plotin in der Frage nach dem letzten Grund aller Wirklichkeit auf das Problem, wie dieser zu denken sei, wenn er doch selbst erst Denken und Denkbares begründen soll. Dieses Problem ist keines, das sich durch ein scharfsinniges Nachdenken einfachhin beiseiteschaffen lässt, sondern eines, das immer Herausforderung bleibt, das Anlass bietet zu immer neuen Anläufen im Versuch, gleichsam gegen die Undenkbarkeit des absolut Einen anzudenken. Einige Bedenken drängen sich auf: Wenn das Eine unerkennbar und unnennbar ist, wenn es, da es alle Bestimmungen von sich

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abweist, auch kein Seiendes mehr ist – ist es dann ein Nichts? Keines­ wegs, denn obwohl wir es nicht wissen können, können wir Plotin zufolge doch wissen, dass das Seiende nicht wäre, wenn es nicht durch das Eine im Sein erhalten würde. Das Eine ist also ein Nichtseiendes, aber es steht nicht unter dem Sein wie das Nichts, sondern über ihm oder jenseits von ihm. Und müssen wir verzweifeln, weil wir das Eine niemals begreifen, es niemals mit unserem Geist umfassen können? Auch das nicht, denn die Unfassbarkeit des Einen bedeutet nicht nur, dass dieses sich allem Erkennen entzieht, es bedeutet zugleich und vor allem, dass das Glück in der lebendigen Erfahrung des Einen immer noch größer und herrlicher ist, als wir es zu fassen vermögen. Und eine Erfahrung des Einen ist für Plotin ja durchaus möglich; sie ist möglich, weil das Eine durch seine einheitsspendende Kraft überall gegenwärtig ist, auch in uns selbst. Dieser Kraft vermögen wir inne zu werden, wenn wir uns aus den Zerstreuungen und Verstrickungen der Welt befreien und in uns selbst einkehren. Indem wir so selbst Einer werden, machen wir uns bereit für die Erfahrung des absolut Einen, die von uns nicht hervorgebracht, sondern nur empfangen werden kann. Plotin zufolge verweist alle Bestimmtheit und alle Vollkommen­ heit auf das Eine. Unter den geschaffenen Wesen aber ist es neben den ›Göttern‹ allein der Mensch, der sich selbst zum Guten zu bestimmen vermag. Er tut dies vermittelst der Vernunft, und eben insofern, als der Mensch hierzu in der Lage ist, ist er Plotin zufolge frei. Die menschliche Freiheit ist damit, nach dem Schönen, ein zweiter, vielleicht tieferer Ausgangspunkt der plotinischen Spekulation, auf den Jaspers besonderen Wert legt. Von ihm ausgehend wird das Eine als der Grund der Freiheit gedacht, auch ihm wird analogisch Freiheit und, hiervon untrennbar, ein Selbstverhältnis zugeschrieben, das von Plotin u.a. als Selbstbegründung, Selbsterkenntnis und Selbstliebe ausbuchstabiert wird. Solche ihm nur gleichnisweise zugeschriebenen Selbstverhältnisse vermögen es freilich nicht, das Eine in seinem Wesen zu erfassen. Es sind bloße Hilfsmittel für uns, die am Ende wieder zurückgenommen werden müssen, weil sie der reinen Selbst­ heit des Einen noch nicht gerecht werden. Festgehalten werden kann schließlich nur, dass das Eine im negativen Sinne frei, frei auch noch von sich selbst ist. Blicken wir ausgehend von dieser Rekapitulation einiger Grund­ züge der plotinischen Philosophie auf Jaspers. Zunächst waren die historischen und biographischen Voraussetzungen zu vergegenwär­ tigen, unter denen dieser sich das Denken Plotins aneignet. Denn

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nur unter der Voraussetzung einer solchen Klärung können die systematischen Parallelen, die an zentralen Punkten zwischen dem Denken Plotins und dem von Jaspers bestehen, als Merkzeichen einer wirklichen Rezeption gelten. Neben der umfangreichen Plotin-Abhandlung in den Großen Philosophen zitiert und referiert Jaspers Plotin am ausführlichsten in der Psychologie der Weltanschauungen, seinem ersten Werk mit philosophischer Themenstellung, das doch in Absicht und Methode noch keine philosophische, sondern eine psychologische Abhandlung ist.2 Hier wird das Denken Plotins aus psychologischer Perspektive als eine Weltanschauung gefasst, deren integratives Zentrum die mystische Erfahrung des Absoluten ist, der Einen Wirklichkeit, die Jaspers als das Ganze vor der Spaltung von Subjekt und Objekt konzipiert. Jaspers stellt dabei heraus, dass nur eine Weltanschauung, die aus der Erfahrung des Unendlichen lebt, uns in der Grenzsituation Halt zu geben vermag, ohne dabei zu einem einsperrenden Gehäuse zu werden. Zugleich ist Jaspers hier mehr als in seinen späteren Werken skeptisch, ob eine Weltanschauung plotinischen Typs, die allen Wert in die ekstatische Erfahrung des Absoluten setzt, nicht notwendig zu einer Haltung passiven Selbstgenusses führen müsse. Insofern kontrastiert Jaspers Plotins Mystik im engeren Sinne hier negativ mit der Ideenlehre Kants, die für ihn ebenfalls im weiteren Sinne mystisch ist, deren Bezug auf das Absolute aber indirekt, weil praktisch und innerweltlich, ist. Die Psychologie der Weltanschauungen enthält Jaspers’ erste publizierte Auseinandersetzung mit Plotin, aus biographischen Zeug­ nissen ergibt sich aber, dass Jaspers Plotin schon lange vor Abfassung dieses Werks gekannt hat.3 Nach einer vorher beiläufigen Beschäfti­ gung mit Plotin beginnt er in den Jahren des Ersten Weltkrieges dessen Werke ernsthaft zu studieren. Im Jahr 1927, in dem Jaspers eine Metaphysikvorlesung hält, in der Plotin eine zentrale Rolle spielt, lässt er dann gründliche und umfassende Kenntnisse der plotinischen Schriften erkennen. Weil wir das Glück haben, noch über Jaspers’ Privatbibliothek zu verfügen, können wir sogar nachvollziehen, wel­ che Schriften er mit besonderem Interesse gelesen hat, ein Ausweis hierfür sind seine Unterstreichungen und vereinzelten Randbemer­ kungen in verschiedenen Plotin-Ausgaben. Sie verraten insgesamt 2 3

S.o., Kap. 3. S.o., Kap. 4.

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ein langanhaltendes und ernsthaftes Bemühen um die Philosophie des Neuplatonikers. Nicht nur diese Realia gehören freilich zu den Bedingungen, unter denen Jaspers plotinisches Denken rezipiert; die Bedeutung, die Plotin für Jaspers hat, wird vielmehr erst aus dessen Stellung zur Geschichtlichkeit der Philosophie insgesamt deutlich.4 Jaspers ist sich mit großer Klarheit dessen bewusst, was die Philosophie ihrer Geschichte verdankt. Die Möglichkeiten, sich denkend in der Welt zu orientieren; unsere Ausdrucksmittel im Versuch, unser inneres Selbst, die Existenz, zu erhellen und zu sich selbst zu erwecken; schließlich alle Formen metaphysisch-theologischer Spekulation sind ererbtes Gut. Philosophierend bringen wir sie nicht aus uns selbst hervor, sondern entdecken und gewinnen sie für uns aus dem großen Strom der philosophischen Überlieferung, aus dem sie freilich erst durch eigenes selbständiges und kritisches Denken für uns lebendig werden. Die Aufgabe des Philosophierenden, insbesondere des akademischen Lehrers der Philosophie, ist es Jaspers zufolge, die Tradition von Neuem, aus eigenem Ursprung, zum Sprechen zu bringen. Die dankbare Verehrung der großen Philosophen, mit der allerdings ein Bewusstsein für die Grenzen jedes Einzelnen einhergehen muss, ist damit ein unentbehrliches Moment der Jaspers’schen Philosophie. Jaspers sieht in Plotin eine Schlüsselgestalt der Philosophiege­ schichte.5 Plotin nimmt demnach nicht nur zentrale Gehalte der platonischen, aristotelischen und stoischen Tradition auf und gibt ihnen eine neue, synthetische Gestalt. Über Augustinus, Dionysius und andere nimmt er auch maßgeblichen Einfluss auf die im Ent­ stehen begriffene christliche Philosophie. Dieser Einfluss wird im ganzen christlichen Mittelalter nicht versiegen und sich auch in der Neuzeit immer wieder manifestieren, zumal in der Renaissance und in der Goethe-Zeit. Dass Plotin eine solche Wirkungskraft entfalten konnte, ist für Jaspers keineswegs ein Zufall der Geistesgeschichte. Der Hauptgrund hierfür ist Jaspers zufolge vielmehr Plotins philoso­ phische Theologie, die Gott mit zuvor unerhörter Konsequenz als das absolut Transzendente denkt und so jedes falsche Näherbringen Gottes in Vorstellungen der geschöpflichen Welt und Kategorien des menschlichen Verstandes verwehrt. Zugleich aber weist Plotin Wege der denkenden Vergegenwärtigung Gottes durch eine in dieser Form 4 5

S.o., Kap. 5. S.o., Kap. 6.

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neuartige spekulative Dialektik. Durch sie gelingt es ihm, das Abso­ lute denkend zu berühren, ohne es zu einem bloßen Denkgegenstand zu verendlichen, indem er das Denken sich selbst übersteigen, sich gleichsam überschlagen und aufheben lässt. Seine Dialektik versteigt sich daher nicht zu einer vermeintlichen Erkenntnis Gottes, vielmehr reflektiert sie immer wieder das Ungenügen ihrer eigenen Denk- und Ausdrucksformen, die nichtsdestoweniger als Mittel gebraucht wer­ den, um auf das Geheimnis des absoluten Ursprungs zu verweisen. Wenn diese Vergegenwärtigungen der Transzendenz bei Plotin in der Erfahrung der unio mystica kulminieren, so steht Jaspers diesem mys­ tischen Element im Denken Plotins in seinem reifen philosophischen Werk viel offener gegenüber als noch in der Psychologie der Weltan­ schauungen. Das mystische Erleben wird von ihm nun nicht mehr als ein isolierter und damit fragwürdiger Genuss, sondern als der sinnvolle Höhepunkt eines transzendent bezogenen Lebens gedeutet. Bereits in seiner Metaphysikvorlesung aus dem Jahre 1927/28 rechtfertigt Jaspers ein Transzendenzdenken plotinischen Typs aus­ führlich gegen verschiedene Formen der Metaphysikkritik.6 Nietz­ sches Einwand, die Metaphysik sei ein Mittel der Selbsttäuschung angesichts der Hinfälligkeit des Menschen in der Welt, trifft eine solche Metaphysik demnach nicht. Vielmehr stellt sie eine Vergegen­ wärtigung menschlichen Daseins in seiner höchsten Möglichkeit, dem Bezug auf Transzendenz, dar. Damit aber kann die Metaphysik keineswegs als eine Form der Selbsttäuschung, sondern im Gegenteil als ein Weg der Selbsterhellung und Selbstverwirklichung gelten. Kierkegaard auf der anderen Seite habe zwar Recht, wenn er sagt, dass wir Gott dort erfahren, wo wir eine Angst und Verzweiflung empfinden, die sich nur im Gottesglauben überwinden lässt. Aber er hat Jaspers zufolge doch nicht ausschließlich Recht. Nicht nur die Angst, auch das Glück – das Glück sich selbst aus einem transzen­ denten Ursprung gegeben zu sein –, wie es Plotin in besonderer Eindringlichkeit beschrieben hat, erschließt uns die Wirklichkeit des Absoluten. Müssen wir uns aber, so fragt Jaspers weiter, infolge der kantischen Erkenntniskritik nicht jede Form philosophisch-theo­ logischer Spekulation versagen? Dies gilt Jaspers zufolge nur dann, wenn wir durch rationale Schlüsse, ausgehend von Erscheinungen, Dasein und Wesen Gottes erkennen wollen. Kant aber erhelle zugleich einen andersartigen Zugang zum Göttlichen, den Weg über unsere 6

S.o., Kap. 7.

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Freiheit. Ist dieser, von Kant in seiner Postulatenlehre verfolgte Weg der legitimerweise gangbare, so können wir nach Jaspers jedenfalls hier auch über Kant hinausgehen. Zwar bejaht Jaspers die kantische Erkenntniskritik im Grund­ satz. Die ›alte‹ Metaphysik hält er hierdurch aber nur insofern für widerlegt, als sie versucht, das Übersinnliche rational zu erkennen, nicht in ihrem, diesem Bemühen zugrunde liegenden und in ihm Ausdruck findenden, existentiellen Transzendenzbezug. Dagegen sei es eine Grenze der kantischen Philosophie, dass diese zwar die Erscheinungen transzendieren lehre, eine Vergegenwärtigung des Transzendenten aber nur in Andeutungen leiste. Was unter den durch Kant gestellten Bedingungen an denkender Vergegenwärtigung der Transzendenz möglich ist, erkundet Jaspers vor allem im Hinblick auf die Überlieferung der klassischen Philosophie. Denn wenn wahre Metaphysik mit Kant nur als Metaphysik der Freiheit möglich ist, dann müssen die großen Denker der Vergangenheit Jaspers zufolge aus ebendieser Perspektive gedeutet werden. Jaspers unternimmt dies mit seiner existenzphilosophisch informierten Auslegung der ›großen Philosophen‹. Es ist offensichtlich, in welcher Weise die Philosophie Plotins dieser Auslegungsrichtung besonders entgegenkommt. Denn in ihrem Zentrum steht bereits das Verhältnis von Seele und transzen­ dentem Einen, wobei das vernünftige Streben der Seele nach dem einen Urgrund im Sinne Plotins gerade der wesenhafte Ausdruck ihrer Freiheit ist. Dieses Verhältnis rückt Jaspers daher in den Mit­ telpunkt seiner Plotin-Deutung, es ist für ihn gleichsam die Seele der plotinischen Philosophie, wogegen die bekannten Schemata einer Stufenfolge von Hypostasen, die die Lehrbücher damals wie heute dominieren, für Jaspers zwar nützliche Hilfsmittel zur Aneignung der plotinischen Philosophie, bloß für sich genommen aber eine Entstellung dessen sind, was diese substantiell ausmacht. Jaspers’ Wertschätzung für Plotin schlägt sich unverkennbar in seiner systematischen Philosophie nieder. Seine offensichtlichste Anlehnung an Plotin ist seine Konzeption Gottes als des absolut transzendenten Einen. Für Jaspers wie für Plotin ist Gott der imma­ nenten Wirklichkeit dergestalt enthoben, dass kein Attribut ihm gerecht zu werden, keine Kategorie ihn zu erfassen vermag. Bei beiden Philosophen nimmt das Gottesdenken daher den Charakter einer negativen Theologie an. Zugleich aber vergegenwärtigt es Gott als den Einen, der Ursprung, tragender Grund und Ziel alles Seienden ist, –

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als den Angelpunkt absoluter Einheit, an den alle Einheit in der Welt geknüpft ist. Jaspers kennt im Wesentlichen zwei Zugangsweisen zur so verstandenen Transzendenz: einerseits die im engeren Sinn existen­ tielle, andererseits die vernunfthafte, die freilich ebenso existentiell gegründet ist. Was den existentiellen Transzendenzbezug angeht, so erfasst Jaspers diesen zunächst quasi-phänomenologisch, nicht argumenta­ tiv, als ein Bewusstsein des Sichgegebenseins aus der Transzendenz.7 Diese Abhängigkeit der Existenz von der Transzendenz manifestiert sich besonders darin, dass der Mensch allein im Transzendenzbezug erfährt, wer er zuinnerst ist, was Möglichkeit und Aufgabe seines Daseins ist. Nur auf immanente Realitäten bezogen, müsste er sich dagegen verlieren, sich für ein bloßes Ding unter anderen halten. Angesichts der Transzendenz dagegen ruft das Gewissen den Einzel­ nen auf, er selbst zu werden. Diese Selbstwerdung ist für Jaspers wesentlich ein Prozess des Einswerdens mit sich selbst. Der Mensch verliert sich, wenn er sich zufälligen Antrieben, einmal diesem und einmal jenem, hingibt; er gewinnt sich in der Treue zum existentiellen Entschluss, in der Bindung an den einen Beruf, den einen Ehegatten, die eine Heimat. Die Kraft, die es uns ermöglicht, dergestalt unserem Entschluss treu zu bleiben, nennt Jaspers das existentiell Eine, es ist ihm ein Abbild und Gleichnis des transzendenten Einen in uns. Wenn wir uns von ihr führen lassen, verwirklichen wir Einheit in unserem Leben, befinden uns hierdurch aber zugleich im Aufschwung oder Aufstieg zum absolut Einen. Dass Jaspers die Selbstwerdung der Existenz dergestalt als ein Einswerden mit sich selbst und ineins hiermit als einen Aufstiegsweg zum Einen konzipiert, kann als eine deutliche Anlehnung an das Denken Plotins, und zwar besonders an den ethischen Aspekt seiner Philosophie, gelten. Als Existenz ist der Mensch Jaspers zufolge immer auch Ver­ nunftwesen, nämlich insofern die Vernunft ein sich im Denken mani­ festierendes, existentiell getragenes Streben nach Einheit ist.8 Wie Plotin kann Jaspers die Vernunft daher geradezu als eine denkende Liebe zum absolut Einen fassen. Die Vernunft manifestiert sich in der Kommunikation, die durch sie zur Erscheinung des Einen wird; sie versteht sich durch die philosophische Logik. Daher kann 7 8

S.o., Kap. 8. S.o., Kap. 9.

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12 Schluss

die Logik für Jaspers als die erste Philosophie (prōtē philosophia) gelten. Als solche erhellt sie die verschiedenen Weisen, in denen uns Seiendes erscheint, in denen wir denkend seine jeweilige Wahrheit erfassen; Jaspers bezeichnet diese umfassenden Seinssphären als die Weisen des Umgreifenden. Diese Weisen aber sind nicht die letzte Wirklichkeit, sie stellen ein in sich hierarchisch geordnetes Ganzes dar, das selbst umgriffen wird vom absolut Transzendenten, dem »Umgreifende[n] alles Umgreifenden«9. Dieses letzte Umgreifende ist Jaspers zufolge der Eine Gott, der Grund alles Seienden ist und zugleich alles umfasst, weil er in seiner reinen Einheit nichts aus sich ausschließt. Allein in ihm findet die Vernunft Ruhe. Wie sich im Gedanken eines Aufstiegs der Existenz zur Transzendenz der ethische Impuls der plotinischen Philosophie spiegelt, ist in Jaspers’ Logik das Äquivalent der henologischen Dialektik Plotins zu erkennen, die alle Phänomene auf das absolut Eine zurückführt. Weil wir das Transzendente nicht wissen können, nimmt unser intellektueller Bezug auf es, wie Jaspers betont, immer wieder die Form eines wissenden Nichtwissens an.10 Wir vergegenwärtigen es mit den Mitteln einer negativen Theologie als dasjenige, was alles Sein in der Immanenz, damit aber auch die Kapazität unse­ res Verstandes, absolut übersteigt. Die negative Theologie drückt also unser Nichtwissen aus, aber in ihr ist dieses Nichtwissen doch nicht erlebt und vollzogen. Dies geschieht erst in der kategorialen Spekulation, einer Weise philosophischen Denkens, für die Jaspers sich ausdrücklich auf Plotin und andere Denker der neuplatonischen Tradition beruft. Dabei werden die Kategorien des Verstandes auf das Transzendente bezogen, aber dergestalt, dass der Verstand an ihm scheitert und sich gerade hierin die Transzendenz des Absoluten erweist. Die Kategorien, die wir im Nachdenken über das Absolute nutzen, verwandeln sich so in schwebende Chiffren, in denen sich sein Wesen für Existenz im Zeitdasein andeutet, ohne sich zu einem Wissen zu verfestigen. Wenn der Chiffre des Einen für Jaspers in gewisser Hinsicht ein Vorrang vor den übrigen Chiffren zukommt, dann gilt dies vor allem insofern, als sie darauf verweist, dass die Chiffren in ihrer Vielfalt den Einen Urgrund bedeuten, der selbst keine Chiffre ist, unserem Denken und Vorstellen aber ebendeshalb vollkommen entzogen bleibt. 9 10

W 109. S.o., Kap. 10.

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12 Schluss

Dass Jaspers in seiner systematischen Philosophie bedeutsame Anregungen von Plotin empfängt, dürfte hiermit etabliert sein. Aber auch im Feld der philosophischen Kritik und Polemik orientiert er sich in nicht geringem Maße an Plotin.11 Dessen Schriften entnimmt er nämlich den Typus des ›Gnostikers‹, der für Jaspers ein überhisto­ rischer Typus fundamental verkehrten Philosophierens ist. Diesen Typus kennzeichnen demnach ein verendlichendes Denken des Tran­ szendenten, eine hierdurch bedingte Weltverachtung sowie, infolge­ dessen, Irrationalismus, Immoralismus und Traditionsvergessenheit. Diesen in Auseinandersetzung mit Plotin gewonnenen Gnostikerbe­ griff wendet Jaspers in kritischer Absicht auf verschiedene Vorgänger und Zeitgenossen an, wobei besonders Heidegger für ihn ein moder­ ner Gnostiker im plotinischen Sinne ist. Das Ziel dieser Untersuchung, Jaspers’ Bezüge auf Plotin und dessen Einfluss auf sein Denken unter Berücksichtigung aller relevan­ ten historischen und systematischen Kontexte zu klären, ist hiermit erreicht. Der Einfluss Plotins hat sich dabei für weite Teile der Jas­ pers’schen Philosophie als maßgeblich erwiesen. Wichtige Facetten von Jaspers’ Denken erschließen sich in ihrer ganzen Bedeutung erst aus ihrem Bezug auf die Philosophie Plotins. Dies gilt insbesondere für Jaspers’ Transzendenzbegriff und seine Theorie der Spekulation. Nach alldem lässt sich Plotins Bedeutung für Jaspers wohl am besten mit dessen eigenen, schon eingangs zitierten Worten zusam­ menfassen: Der »Wahrheit, um die [es] uns für uns selbst zu tun ist […,] kommen wir in der Gestalt Plotins in der Geschichte am nächsten«12. Dies schließt eine mitunter deutliche Distanzierung Jas­ pers’ von zentralen Positionen der plotinischen Philosophie nicht aus. Aber diese Differenzen haben doch statt vor dem Hintergrund einer von beiden Denkern geteilten Metaphysik absoluter Transzendenz. In der Erfahrung des absolut Einen erkennen beide den Gipfel des menschlichen Lebens. Zu ihm führt unser Weg. Jaspers’ Philosophie will, wie die Plotins, zuletzt nichts anderes sein als ein Hilfsmittel dieses Aufstiegs zum Einen.

11 12

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