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German Pages [205] Year 2003
Thorsten Paprotny
Das Wagnis der Philosophie Denkwege und Diskurse bei Karl Jaspers
ALBER PHILOSOPHIE
https://doi.org/10.5771/9783495997185
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Thorsten Paprotny Das Wagnis der Philosophie
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Karl Jaspers’ philosophische Denkwege und Diskurse lassen sich als Auseinandersetzung mit totalitärem Denken und als Kritik eines absoluten Anspruchs verstehen. Konstitutiv ist für den Menschen das Streben nach Erkenntnis. Das Pendant hierzu ist das Streben nach Halt – ein Streben, das zuweilen machtvoll auftritt und eine gefährliche Eigendynamik besitzt. Ein absolutes Wissen ist redlicherweise nicht erreichbar. Der Mensch bleibt immer an die Grenzen möglicher Erkenntnis verwiesen. Versucht er, diese leichthin zu überschreiten, verfestigen sich seine stets nur partikular gültigen Einsichten zu einem ›Gehäuse‹, das sich, mit absolutem Anspruch vertreten, zu einer Form totalitären Denkens mit gefährlichen Implikationen entwickeln kann. Das von intellektueller Redlichkeit getragene Philosophieren, insbesondere im Anschluß an Kant und Nietzsche, in der Spannung von Wissen und Nichtwissen, hat die Aufgabe, diese Ansprüche kritisch zurückzuweisen. Daß Jaspers’ Philosophie auch heute noch aktuell und aussagekräftig ist, zeigt Thorsten Paprotny nicht zuletzt in seiner Reflexion von dessen Ausführungen über die »Schuldfrage«. Der Autor: Thorsten Paprotny, Jahrgang 1971, Dr. phil., lehrt seit 1998 antike Philosophie, Ethik, Ästhetik und Religionsphilosophie an der Universität Hannover. Zahlreiche Veröffentlichungen: u. a. »Politik als Pflicht? Zur politischen Philosophie von Max Weber und Karl Jaspers« (1996), »Dissonante Harmonie. Zur kulturanthropologischen Bedeutung symbolischer Formen« (1999), »Kurze Geschichte der antiken Philosophie« (2003).
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Thorsten Paprotny
Das Wagnis der Philosophie Denkwege und Diskurse bei Karl Jaspers
Verlag Karl Alber Freiburg / München https://doi.org/10.5771/9783495997185 .
Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Alle Rechte vorbehalten – Printed in Germany © Verlag Karl Alber GmbH Freiburg / München 2003 www.verlag-alber.de Originalausgabe Satz und Einbandgestaltung: SatzWeise, Föhren Einband gesetzt in der Rotis SemiSerif von Otl Aicher Inhalt gesetzt in der Aldus und Gill Sans Druck und Bindung: Difo-Druck, Bamberg 2003 ISBN 3-495-48095-1
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Meinen Eltern
»Nur wissen möcht ich: wenn wir sterben, wohin dann unsre Seele geht? Wo ist das Feuer, das erloschen? Wo ist der Wind, der schon verweht?« Heinrich Heine
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Inhaltsverzeichnis
Vorwort – Karl Jaspers, ein unzeitgemäßer Denker? . . . . .
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I. Grundzüge der Philosophie von Karl Jaspers . . . . . . .
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a) Karl Jaspers – Leben und Werk . . . . . . . . . . . . . b) Resonanzvolle Aneignung – Jaspers’ Philosophie-Verständnis . . . . . . . . . . . . c) Direkte und indirekte Mitteilung . . . . . . . . . . . . d) Das Streben nach Erkenntnis und das Streben nach Halt
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II. Konstruktionen des Seins . . . . . . . . . . . . . . . . .
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a) b) c) d)
Weltanschauung als »Gehäuse« Totalitarismus als »Gehäuse« . . Der Parteienstaat als »Gehäuse« Wissenschaft als »Gehäuse« . .
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III. Von der Kritik der »Gehäuse« zum philosophischen Glauben . . . . . . . . . . . . . . . 102 a) Existentielle Bedrängnis und Kritik der »Gehäuse« . . 102 b) Hiob oder der Mensch in der Grenzsituation . . . . . . 109 c) Existentielle Gewißheit und philosophischer Glaube . . 139
IV. Philosophieren zwischen Wissen und Nichtwissen . . . . 147 a) b) c) d) e)
Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Möglichkeiten des Jaspersschen Philosophierens Der existenzphilosophische Weg . . . . . . . . Philosophieren als Wagnis . . . . . . . . . . .
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147 160 173 179 185
V. Zur Aktualität der Philosophie von Karl Jaspers . . . . . 190 A
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Inhaltsverzeichnis
Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 a) Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 b) Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201
Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204
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Vorwort – Karl Jaspers, ein unzeitgemßer Denker?
Karl Jaspers zählt zu den international bekanntesten Philosophen deutscher Sprache im zwanzigsten Jahrhundert. In der Philosophie der Gegenwart spielt sein Werk eine periphere Rolle. Der Denker scheint nahezu vergessen, sein vielschichtiges Œuvre bis zur Bedeutungslosigkeit nivelliert. Wer die großen und bedeutsamen philosophischen Strömungen des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts betrachtet, entdeckt vor allem die Renaissance der anthropologisch grundierten Kulturphilosophie, die durch die Neuentdeckung des Werks von Ernst Cassirer in den Blickpunkt des Interesses gerückt ist. Unvermindert zahlreiche Forschungen finden sich zum amerikanischen Pragmatismus und zur analytischen Philosophie sowie zu der von der »Frankfurter Schule« entwickelten kritischen Gesellschaftstheorie, die sich mit den Namen Adorno, Horkheimer und Marcuse sowie, in deren Nachfolge, Habermas verbindet. Auch die Diskurse der Postmoderne stehen nicht in Beziehung zum Jaspersschen Werk. Einen feststellbaren Einfluß auf die Philosophie der letzten Jahrzehnte und dieser Zeit hat das Denken von Karl Jaspers, wie es scheint, nicht besessen. Selbst jene Denktradition, der der bewußt selbständige Philosoph, der keiner Schule angehörte und keine Schule begründete, noch am ehesten verbunden sein könnte, der Existentialismus resp. die Existenzphilosophie, steht in Distanz zu Jaspers. In Deutschland blieb das Werk von Karl Jaspers in dieser Hinsicht stets im Schatten Martin Heideggers. Es bedeutete auch, das Jasperssche Philosophieren zu verkennen, wenn dieses unter den Begriff des Existentialismus subsumiert oder ausschließlich als eine nahezu vergessene Spielart desselben bezeichnet würde. Alle diese Beobachtungen sprechen indessen noch nicht gegen Jaspers und sein Werk. Vielleicht ist es sogar als unzeitgemäß zu beurteilen – in dem doppelten Sinne Nietzsches: unzeitgemäß im Sinne von unpopulär, aber zugleich zeitgemäß, mithin zur Lektüre und Beherzigung empfohlen, gerade am Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Dies A
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Vorwort – Karl Jaspers, ein unzeitgemßer Denker?
gilt es zu prüfen. Denn viele Fragen, die Karl Jaspers nachhaltig beschäftigt haben, sind zeitlos. Von der Philosophie werden vielleicht, mehr als von anderen Wissenschaften, Maßstäbe zur Orientierung erwartet. Kann Philosophie das leisten? Verfügt der Philosophierende über das entsprechende Wissen? Ist ein solches Wissen überhaupt möglich? Wie ist die Situation des Philosophen, ja des Menschen schlechthin in einer wechselvollen Weltgeschichte? Woran soll er sein Leben ausrichten? Wie vermag es dem Menschen heute zu gelingen, sich in der Flut der Informationen, die auf ihn allerorts einströmen, auf das Wesentliche neu zu besinnen? Was ist überhaupt das Wesentliche, das wirklich Wichtige im Leben? Insbesondere in einer Situation der existentiellen Krise – Jaspers würde diesen Zustand als »Grenzsituation« bezeichnen –, tun sich Fragen auf, die als noch nicht endgültig beantwortet und vielleicht auch nicht beantwortbar betrachtet werden können. Wir entdecken tiefsinnige Reflexionen, die uns unmittelbar angehen, wenn wir die Schriften von Karl Jaspers mit diesen oder ähnlichen Fragen konfrontieren. So diagnostizierte der Philosoph vor über fünfzig Jahren zutreffend, daß das aus sich selbst heraus »verwirrende Wissen«, das ohne inneren Zusammenhang und begleitende Reflexion als bloße Information gesammelt, aber nicht tatsächlich erworben und angeeignet wird, oftmals zu einer »irreführenden Vereinfachung« dogmatisch geordnet ist. Das »Wesentliche« hingegen verliert sich in der »Masse des Gewußten« 1 , in der etwas bloß »partikular Ergriffenes« für die alleinige »Wirklichkeit« gilt, während die »eigentliche Wirklichkeit« verkannt und die Grenzen des Wissens ignoriert werden. 2 Wer sich philosophisch mit Karl Jaspers in der Welt orientiert, ist sich bewußt, daß ein »absolutes Wissen« nicht besteht. Der philosophierende Mensch bleibt an das »absolute Nichtwissen des Wesentlichen« 3 verwiesen. Er geht jedoch in diesem »Nichtwissen« nicht haltlos unter, auch wenn er, wie er durch Vernunft einsieht, das Absolute nicht erkennen kann. Er weiß sich geborgen in dem, was ihn umgibt, im Umgreifenden, das ihn trägt. Ohne daß er auf die Fragen, die sich ihm stellen, jemals definitiv Antwort findet, erkennt er, vom Streben nach Erkenntnis wie vom Streben nach Halt erfüllt, das »eigentlich Wissenschaftliche« in dem »kritischen Wis1 2 3
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GP, 7 f. – Das Siglenverzeichnis findet sich am Ende dieser Arbeit. W, 157. PsW, 12.
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Vorwort – Karl Jaspers, ein unzeitgemßer Denker?
sen«, das als Bewußtsein der Grenzen menschlicher Erkenntnis bestimmt werden kann. 4 Was das Jasperssche Philosophieren zwischen Wissen und Nichtwissen auszeichnet – ein Philosophieren, das sich im Wissen um das eigene Wissen- und Nichtwissenkönnen vollzieht –, warum eine Beschäftigung mit diesem sinnvoll sein und welche Relevanz dieses für die Philosophie der Gegenwart haben könnte, soll in dieser Studie gezeigt werden. Hannover, im Mai 2003
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I. Grundzge der Philosophie von Karl Jaspers
a)
Karl Jaspers – Leben und Werk
Karl Jaspers wurde am 23. Februar 1883 in Oldenburg geboren. Der norddeutsche Bürgersohn entstammte einer säkularisierten protestantischen Lebenswelt. Auch war Jaspers nie kirchlich sozialisiert. Ein religiöser Bezug aber war ihm stets zu eigen. Begreift sich der gläubige Protestant in einem unmittelbaren Verhältnis zu Gott, so weiß sich Jaspers unmittelbar von der Wahrheit getragen. Als gläubiger Christ im eigentlichen Sinne hätte er sich freilich nicht bezeichnet. Er war Philosoph. Was kennzeichnet einen Philosophen nach Jaspersscher Überzeugung? Das Wichtigste ist ihm »radikale Redlichkeit«. 5 Diese Haltung verbindet das leidenschaftliche Streben nach Wahrheit, die Einsicht in die Grenzen ihrer Erkennbarkeit und die individuelle Unbeugsamkeit, die sich mit absolut gesetzten Ansprüchen, abgeleitet aus vermeintlichem Wissen, dezidiert kritisch auseinandersetzt. Karl Jaspers war zeitlebens eine eigenständige Persönlichkeit. Niemals fühlte er sich einer Denktradition existentiell verbunden und verpflichtet. Ein Philosoph zu sein bedeutete für ihn von Anfang an geistige Unabhängigkeit. In der Frühschrift über »Einsamkeit« formuliert Jaspers, auch in ständiger Rücksicht auf sich selbst: »»Ich« sein heißt einsam sein. Wer »Ich« sagt, richtet eine Distanz auf, zieht einen Kreis um sich. Aufgabe der Einsamkeit ist Aufgabe des Ich. Einsamkeit kann es nur geben, wo es Individuen gibt. Wo es Individuen gibt, aber gibt es beides: die Lust zur Individualität und damit den Drang in die Einsamkeit und das Leiden an der Individualität und damit den Drang aus der Einsamkeit. Dabei kommt es immer nicht auf das Individuum-Sein an, sondern darauf, ob einer sich als Individuum fühlt und weiß.« 6
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Karl Jaspers – Leben und Werk
Karl Jaspers aber wußte zugleich, daß Philosophie ihre Bestimmung verfehlt, wenn sie nur noch esoterisch ist, gleichsam schwer verständliches Denken von Fachleuten für Fachleute. Philosoph zu sein heißt für ihn darum insbesondere, in vertrauensvoller Kommunikation mit den Mitmenschen zu leben, aufrichtig, offen und konfliktfähig zu sein. Dieses »Leben mit den Anderen« 7 bedeutet, bewußt teilzuhaben an den Sorgen, Nöten und Problemen dieser Welt, die wahr- und ernstgenommen werden sollen. Zugleich soll er souverän bleiben. Verliert sich der Philosoph in pessimistischer Weltbetrachtung, so vermag er auch nichts zur Lösung der Fragen und Aufgaben seiner Zeit beizutragen. Dieses Bemühen ist verbunden mit dem Streben nach Erkenntnis: »Wer philosophiert, kann, wenn er es ernst meint, gar nicht anders, als sich um alle Wirklichkeiten zu kümmern, sie ursprünglich kennenzulernen. […] Es gibt nichts, was das Philosophieren nichts angeht. […] Denn es kommt nicht darauf an, viel oder alles zu wissen, sondern die Grundsätze des Wissens, die Grundsätze der Wirklichkeit sich in jedem Gebiet zur Klarheit zu bringen und sie sich zugleich in einem konkreten Detail zu vergegenwärtigen.« 8
Das Philosophieren war Jaspers zwar nicht in die Wiege gelegt. Aber schon in früher Kindheit bildet sich bei ihm eine eigentümlich philosophisch zu nennende Neugierde und ein ausgeprägtes Bewußtsein des eigenen Selbst. Er schildert in den autobiographischen Schriften das Milieu, in dem er heranwächst. Jaspers beschreibt seinen schon früh erwachten Widerstandswillen gegen nicht verstehbare Anordnungen. Der Schüler Karl Jaspers galt als eigensinnig. Bei der Entlassung bekommt er vom Rektor zu hören, daß aus ihm ja nichts werden könne, weil er organisch unheilbar krank sei. Dem Achtzehnjährigen war ein schweres Bronchialleiden diagnostiziert worden. Diese Erkrankung sollte ihn das ganze Leben hindurch begleiten. Er war gezwungen, einem streng eingeteilten Tagesablauf zu folgen. Das Leiden von Jaspers wird von seinem Schüler H. Saner wie folgt beschrieben: »Es galt, das Kranksein überall im Leben miteinzubeziehen und doch immer noch so zu leben, als ob man gesund wäre.« 9 Das
P II, 11. SchW, 35. 9 Saner, Hans: Sterben können. In: Piper, Klaus / Saner (Hrsg.): Erinnerungen an Karl Jaspers, München 1974, 319. 7 8
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Grundzge der Philosophie von Karl Jaspers
Bewußtsein der existentiellen Krise begleitet ihn beständig. Aber er geht illusionslos damit um und akzeptiert sein Los. 1901 nimmt Jaspers das Studium der Jurisprudenz in Heidelberg auf. Ein Jahr später wechselt er an die Universität von München. Dort hört Jaspers auch Vorlesungen an der philosophischen Fakultät. Sein Interesse für die Philosophie, die für ihn »die höchste, ja einzige Angelegenheit des Menschen« zu sein scheint, war so groß wie die Enttäuschung über die Vorträge der dortigen Professoren. Jaspers schildert seine Eindrücke sehr anschaulich in einem Bericht über seinen Werdegang: »Die philosophischen Vorlesungen brachten nichts von dem, was ich in der Philosophie suchte: nicht Grunderfahrungen des Seins, nicht Führung des inneren Handelns und der Selbsterziehung, sondern fragwürdige Meinungen mit dem Anspruch wissenschaftlicher Geltung.« 10
Daß ausgerechnet all jenes, das dem jungen Karl Jaspers gar nicht bedeutsam erschien, hörenswert und wichtig sein sollte, mochte er nicht einsehen. Was an der Akademie gelehrt wurde, erschien ihm lebensfern und durchaus unphilosophisch. Während einer Reise nach Sils-Maria faßt Jaspers den Entschluß, sich der Medizin zuzuwenden. Von 1902 bis 1908 studiert er in Berlin, Göttingen und wiederum in Heidelberg. 1907 lernt er seine spätere Frau Gertrud Mayer kennen. Nach Abschluß des medizinischen Staatsexamens folgt 1909 die Approbation als Arzt. Jaspers wendet sich der Psychiatrie zu und wird Assistent von Franz Nissl. Seine Krankheit dispensiert ihn von regelmäßiger Arbeitszeit. Dennoch entfaltet Jaspers große Aktivität. Daß er die Geisteskrankheiten als Krankheiten der Seele auffaßt und die Psychiatrie mit Philosophie, Psychologie und Anthropologie verbinden will, stößt auf Widerspruch und Kritik. 1913 habilitiert sich Jaspers mit der umfangreichen, noch heute von Fachleuten gerühmten Schrift »Allgemeine Psychopathologie« bei Nissl, Oswald Külpe und Max Weber. Altgediente Philosophen suchten ihm Schwierigkeiten zu machen. Auch intrigiert wurde gegen den letztlich unbeirrbaren und unbeugsamen Jaspers einigemale. Karl Jaspers wählte die Philosophie – und vielleicht wählte die Philosophie ein wenig auch ihn. Die Entscheidung zum Philosophie-
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Karl Jaspers – Leben und Werk
ren fiel sehr früh. Jaspers hat seine Wahl später, freilich nicht allein sich selbst betrachtend, als »Entschluß des Seinswillens« bezeichnet. Wer philosophiert, erkennt, daß ein vermeintlich »befriedigendes Seinswissen«, das oft absolut gesetzt wird, nur von bedingter Gültigkeit ist. Der Philosoph lebt gleichsam im Bewußtsein eines offenen Horizontes. In diesem kann er »das Sein selbst« erfahren, aber nicht mit letzter Gewißheit begreifen und erfassen. Dem Philosophen zeigen sich »Blinklichter«, über sich selbst hinausreichende Ideen oder Chiffren, die »vielleicht kundtun, was ist«, die also auf das Sein verweisen – aber ein »vielleicht«, somit auch die Möglichkeit des Irrtums, bleibt bestehen. Leicht verwandelt sich in einer gänzlich unphilosophischen Betrachtungsweise in unzulässiger Anmaßung das begrenzte Wissen in ein absolut gesetztes Wissen, aus dem sich entsprechende Ansprüche ableiten lassen. Dieses Problem erkannte Jaspers mit großer Deutlichkeit bei den von ihm studierten positivistischen Wissenschaften. Auch zahlreiche Philosophen waren dagegen nicht gefeit. 11 Karl Jaspers las mit besonderem Interesse die großen Philosophen, von Platon bis Kant. Die Philosophie seiner Zeit erschien ihm dürftig. Der Kontakt zu Max Scheler blieb unbefriedigend, die lebensphilosophische Tönung von Georg Simmels Werk behagte ihm wenig. In dem Neukantianer Heinrich Rickert erlebte Jaspers einen hartnäckigen Widerpart, der seine Absichten, als habilitierter Psychologe sich in der Philosophie zu bewähren, mit Unbehagen betrachtete. Er wurde angefeindet, geschmäht und verhöhnt. Aber Jaspers blieb standhaft und behauptete sich gegen alle, die gegen ihn, offen oder verdeckt, eingestellt waren. Mit Emil Lask gab es Begegnungen, auch mit Ernst Bloch und Georg Lukács. Aber die prophetische Attitüde dieser Denker stieß Jaspers ab. Er war sehr selbständig und niemandem Untertan. Allein in Max Weber erblickte Jaspers die herausragende Gestalt seiner Epoche. Durch ihn fand er recht eigentlich zur Philosophie. Jaspers bewunderte an Weber den von einem schier »unbändigen Temperament« beflügelten Willen zur Wahrhaftigkeit und den »anmaßenden Radikalismus« 12 einer »grenzenlosen Redlichkeit«, die sich auch noch in der »absoluten Zerrissenheit« der Moderne zu be-
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W, 187 f. AP, 414. A
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währen wußte. 13 Karl Jaspers erkannte in Max Weber eine philosophische Gestalt, eine außergewöhnliche Persönlichkeit mit einer geradezu bezwingenden Aura. Weber verstand es, die Menschen, die ihn hörten und erlebten, geistig anzuregen und zu sich selbst zu bringen. Er wirkte nicht als dogmatischer Lehrer einer absoluten Wahrheit, sondern als Wissenschaftler. Webers eigene Forschungen muteten wie »gewaltige Fragmente« und »steckengebliebene Bauwerke eines Titanen« 14 an. Dieser Mensch arbeitete scheinbar in »dämonisch ruheloser Bewegung«. 15 In der Wissenschaft jedoch entdeckte Weber, von heroischer Skepsis erfüllt, nicht die Spur einer »allgemeingültig zwingenden Wahrheit«, die den Forschern und allen Menschen zu sagen vermochte, auf welche Weise man leben soll. 16 Karl Jaspers publiziert die »Psychologie der Weltanschauungen«, ein umfängliches Werk, das Rickert boshaft verreißt, von Weber aber anerkannt und gewürdigt wird. Mithilfe dieses Buches erlangt Jaspers 1922 den Lehrstuhl für Philosophie an der Universität Heidelberg. Rickert ist verdrießlich gestimmt. Jaspers war Wissenschaftler, Psychologe und Philosoph. Besonders bei seinen Hörern findet er rasch Anerkennung und Zuspruch. Bereits zu Beginn seiner Lehrtätigkeit erweist er sich – H. Glockner hat dies eindrucksvoll beschrieben – als ein tiefernster, existentiell ergriffener Gelehrter: »An dem tödlichen Ernst des Vortragenden war nicht zu zweifeln, und darauf beruhte auch der ungewöhnlich starke Eindruck. Er sah übernächtigt aus und phosphoreszierte geradezu; es war, als spräche er mit dem Strick um den Hals vor seinem offenen Grab.« 17 Auch G. Knauss beschreibt die würdevolle Strenge, zugleich aber die Hochherzigkeit eines freien Geistes: »Eine Vorlesung hatte die Strenge einer Messe, das Seminar glich äußerlich einer Klausur. […] Aber in der Sache war er einmalig tolerant. […] Seine Toleranz war nicht unterschiedsloses Akzeptieren, sondern ein Gespür für Wichtiges, auch wenn es ihn zur Selbstkorrektur zwang.« 18 Karl Jaspers verabscheute jegliche Art von »weltlosem LebensBW I, 671. AP, 465. 15 AP, 415 f. 16 AP, 457. 17 Glockner, Hermann: Heidelberger Bilderbuch. Bonn 1969, 54. 18 Knauss, Gerhard G.: Erinnerungen an Karl Jaspers. In: Piper / Saner (Hrsg.): Erinnerungen an Karl Jaspers, a. a. O., 168. 13 14
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jubel« 19 . Er beeindruckte all die Jahre seiner Lehrtätigkeit hindurch eine Vielzahl von Studenten, die nicht allein von den Themen, über die er las, sondern auch von der Art und Weise, mit der er dies tat, fasziniert waren. H. Liepmann erinnert sich: »Dieser Mann überzeugte mich sofort davon, daß er lebte, was er vortrug.« 20 Jaspers versucht stets das Philosophieren, das auf das »Ganze der Erkenntnis« ausgerichtet ist, mit den übrigen Wissenschaften zu verbinden. Er erkennt die Torheit der »Loslösung einer wissenschaftliche Sphäre«. Ohne die Philosophie bleibt alle Erkenntnis »Technik« und »Routine«, Konzentration auf den »Einzelstoff« anstelle der »Bildung des Geistes«. Dieses Problem stellt sich für Jaspers gleichermaßen den Fachwissenschaftlern und den Philosophen, die einander lieber ignorierten und jeweils das Ihre für bedeutsam hielten, als sich wechselseitig zu bereichern. Die Konsequenz hieraus für Jaspers ist, daß die »besten Philosophen« nicht unbedingt jene ordentlich bestallten Gelehrten sind, die Philosophie studiert haben, sondern vielmehr einzelne »ungewöhnliche Fachwissenschaftler«. Er wird dabei auch nicht zu Unrecht ein wenig an sich selbst gedacht haben. So schreibt er: »Wenn der beste Philosoph heißen darf, wer am meisten universal und konkret ist – ohne bloß enzyklopädisch zu sein – und wer am weitesten den Geist der Gegenwart in sich aufnimmt, begreift, aussagt, mitgestaltet, so ist heute der beste Philosoph vielleicht ein Fachwissenschaftler, der gleichsam mit den Füßen in einem Fache steht, faktisch aber allseitig Beziehungen der Erkenntnis sucht – immer konkret – und in Wechselwirkung mit der Realität steht, wie sie leibhaftig gegenwärtig ist.« 21
Zu diesen mögen Nationalökonomen ebenso wie Historiker und Mathematiker zählen, Psychologen und Mediziner, Physiker und Chemiker, somit herausragende Gestalten wie eben auch der oldenburgische Bürgersohn Karl Jaspers. Der Philosoph aber bleibt, besonders unter Kollegen, weiterhin umstritten. Etablierte Gelehrte, darunter wiederum Rickert, tadeln seine Philosophie als psychologistisch-romantisch. Dennoch philosophiert er unverzagt weiter und gewinnt zahlreiche aufmerksame Hö-
P III, 103. Liepmann, Heinrich: Erinnerungen an Karl Jaspers in den Jahren 1925–1936. In: Piper / Saner: a. a. O., 48. 21 PsW, 1 f. 19 20
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Grundzge der Philosophie von Karl Jaspers
rer Semester für Semester hinzu. Der studierte Mediziner und Psychologe lernt erst als Professor die Philosophie im Hörsaal kennen. Jaspers selbst berichtet ausführlich über seinen Weg zur Philosophie im Vorwort der dreibändigen Schrift, die 1931 veröffentlicht wird. Sein erstes Hauptwerk erscheint mit dem schlichten, aber auch ein wenig hochgemut wirkenden Titel »Philosophie« und ist untergliedert in die Teilbände »Philosophische Weltorientierung«, »Existenzerhellung« und »Metaphysik«. Karl Jaspers’ Philosophie, die in diesen Bänden entfaltet wird, beschreibt man zuweilen als »Philosophie des Umgreifenden«. Das Umgreifende kann nicht gegenständlich gedacht werden. Es ist das »Ganze von Subjekt und Objekt, das selber weder Subjekt noch Objekt ist«. Das Umgreifende korreliert mit der »Grundstruktur unseres Bewußtseins«, die als Subjekt-Objekt-Spaltung verstanden und in der der »unendliche Gehalt des Umgreifenden« erst klar gesehen wird: »Wenn das, was ist, weder das Objekt noch das Subjekt, weder Gegenstand noch Ich ist, sondern das Umgreifende, das in seiner Spaltung sich offenbart, dann ist alles, was in der Spaltung vorkommt, Erscheinung.«
Diese »Erscheinung« bezeichnet Jaspers als das »Hellwerden des Umgreifenden«, in der »Subjekt-Objekt-Spaltung«. Das Wahrgenommene erscheint in den »Formen der Denkbarkeit«, nicht als Gegenstand »an sich«, sondern in der »Spaltung« für den Erkennenden. Trotz der unüberwindbaren »Subjekt-Objekt-Spaltung« ist die »Welt« als »Erscheinung« nicht bloßer »Schein«, sondern »Realität«. Sie ist in ihrer »Erscheinungshaftigkeit« von der unerkennbaren Wirklichkeit, die das »Umgreifende«, das selbst kein »erforschbarer Gegenstand« ist, getragen. 22 Die mögliche Wirklichkeitserkenntnis ist also begrenzt. Das Wissen, das wir über die Welt sammeln, genügt, um sich in ihr zu orientieren. Die Welt an sich ist aber niemals in einem absoluten Wissen zu erfassen. Trotzdem bestehen vielfältige absolut gesetzte Deutungsmuster, die die mögliche Wirklichkeitserkenntnis beeinträchtigen. Die »philosophische Einsicht« verdeutlicht die »Gefangenschaft in dieser Welt« 23 , indem sie die Grenzen der Erkenntnis bewußt macht. Mit der Einsicht in die »Erscheinungshaftigkeit des 22 23
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KSP, 45 ff. KSP, 50 f.
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Daseins« durchbricht der Erkennende das »Gefangensein in der Subjekt-Objekt-Spaltung«. Er bleibt in seinem »endlichen Erkennen« zwar im »Gefängnis«, verliert aber durch die Erkenntnis den »Zustand der Befangenheit«, da ihm ein jegliche Wahrnehmung der Wirklichkeit transformierendes »Licht« aufgeht, das die »Realität« unverändert läßt. 24 Das Philosophieren beginnt mit Fragen und führt wieder zum Fragen. Aber es wird nicht zirkulär. Denn die Fragen, die sich aus dem Staunen über die Phänomene der Welt ergeben, werden stets neu formuliert. Sie werden zugespitzt und deutlicher auch durch die existentielle Bedrängnis, aus der heraus sie sich ergeben. Die Fragen verschärfen sich im Zuge der individuellen Selbstvergewisserung, die begreift, daß sich der Erkennende selbst zur Klarheit bringt und nach »Wissenschaftlichkeit« strebt. Indessen erhält er hierdurch nicht die »Begründung der Wahrheit der Philosophie«, erkennt aber gleichwohl in dieser die unablässige »Bedingung der Wahrhaftigkeit im Philosophieren«. 25 Dieses Philosophieren läßt sich mit Jaspers als das »glückliche Sichtreffen Einzelner« beschreiben, die unverhofft einander begegnen und miteinander die »Wahrheit« suchen. Diese ist niemals in objektiver Gegenständlichkeit greifbar, aber sie ist, »obwohl man sie nicht hat, im Suchen nach ihr schon gegenwärtig«. 26 Dieses Philosophieren verweigert die »Sicherung« von »objektiven Garantien«, obzwar es in aller existentiellen »Ungewißheit« nach »Sicherung« sucht. So philosophierend läßt es sich wagen, das Leben zu führen, als ob es sinnvoll wäre. 27 Jaspers ist sich des eigenen Nichtwissens gewiß. Dieses behauptet er wider die mannigfaltigen Verabsolutierungen, die bloß Relatives absolut setzen. Er weiß sich von der Wahrheit getragen, obgleich ihre Unerkennbarkeit eingesteht. Niemals würde er die Existenz von Wahrheit bezweifeln. Die Wahrheit ist ihm nicht konkret gegenständlich vorhanden. Das, was der Mensch erkennt, bleibt notwendig in der Schwebe eines redlichen Philosophierens zwischen Wissen und Nichtwissen, das niemals das Absolute zu wissen sich anmaßt und ein endgültiges Wissen nicht erreichen noch fordern kann. So philosophierend erfährt der Mensch im Bewußtsein der sich von allem 24 25 26 27
KSP, 52. P I, XXVI. P I, LIV f. W, 840. A
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vermeintlichen Wissen befreienden Existenzerhellung die »Grenze meines Wissens« und weiß sich auf ein »Anderes« 28 verwiesen, das er aber niemals wissen kann. So lebt er auch nicht, als ob es diese Wahrheit gäbe, sondern im Bewußtsein ihrer Existenz, die nicht beweisbar und auch nicht erkennbar ist. Mag sich die Erkenntnis auch auf die Totalität des Seins richten, so bleibt dieses Ganze doch unerkennbar. Es kann philosophierend durch das »Innewerden der Reflexion« vermittels einer »logisch-metaphysischen Chiffre« bewußt werden. Niemals aber kann der Mensch ein bloßes »Verstandeswissen«, aus dem alles Tun hergeleitet werden könnte, besitzen. Das wäre nur eine unredliche »technische Theorie des handelnden Hervorbringens«. Auch wird das »Innewerden« unwahr, sofern es dem Ganzen einen prozessualen Charakter zuschreibt. Allein die »philosophische Einsicht« verdeutlicht, daß man dieses Ganze nicht wissen kann. Mit dieser verbunden ist ein Spektrum von Möglichkeiten und Erkenntniswegen innerhalb eines offenen Horizontes sowie das Bewußtsein der Verantwortung für das eigene Tun. Das Philosophieren ist auch mit dem »wissenschaftlichen Denken«, das eine weltgebundene »Praxis« ist, unfähig, »Welt« und »Sein« als Ganzes erkennend und wissend zu durchdringen. 29 Im Kontext der »Philosophie des Umgreifenden« prägt Jaspers den Begriff der »Chiffre«. Unter diesem Begriff sind die Vorstellungen, Gedankeninhalte und Bilder zu verstehen, die sich in der »Subjekt-Objekt-Spaltung« ergeben. Sie sind nicht einfach vorhanden, vielmehr sind sie hinweisender oder auch wegweisender Art. Sie bedeuten aber nicht ein konkretes Etwas, sie weisen, Symbolen ähnlich, über sich selbst hinaus und gleichen einer Tür, die sich in die Weite öffnet. Diese Weite wird aber nicht gegenständlich. Der Mensch verspürt dennoch einen Bezug zur Weite hin. »Chiffren« sind die »Sprache der Transzendenz«. Sie sind »Bedeutungen, die nicht aufgelöst werden können durch Aufzeigen dessen, was sie bedeuten«. 30 Sie sind objektiv, indem der Mensch in ihnen vernimmt, was ihm entgegenkommt, und subjektiv, indem sie der Vorstellungsweise des Menschen entsprechend gestaltet sind. In ihnen ist nichts endgültig festgelegt. Eine »Chiffre« kann auf verschiedene Weise gelesen wer28 29 30
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den: »Nie ist in ihr ein Schluß auf die Transzendenz, die nun gleichsam errechnet wäre.« 31 Die »Chiffreschrift« wird im »inneren Handeln« gelesen. Das »Ringen« mit den Dingen und mit sich selbst ist ein »Ringen um die Transzendenz«, die in der Immanenz als »Chiffre« erscheint. So nennt es Jaspers eine »Torheit«, das Sein als allgemein wißund erkennbar auszugeben. Voraussetzung für die Erfahrung der transzendenten Wirklichkeit ist die geglückte Selbstvergewisserung des Menschen. Ein Mensch, der »nicht selbst« ist, hat sich in einer unreflektierten Trägheit nicht seiner selbst vergewissert und lebt bloß öde und stumpf dahin. Ihm ist alles Transzendente »dunkel«. Allein die »philosophische Existenz« weiß auszuhalten, daß sie sich dem »verborgenen Gotte« niemals auf direkte Weise nähern oder in direkter Mitteilung von der existentiell erfahrenen Wirklichkeit der Transzendenz zu sprechen vermag, ohne diese zu verfehlen. Allein durch die »Chiffreschicht« angesprochen, einhergehend mit der Bereitschaft für diese Sprache, befindet sich der Philosophierende in dem Zustand der »Schwebe« zwischen der »Anspannung meiner Möglichkeiten« und dem »Geschenktwerden meiner Wirklichkeit«. Gleichwohl erscheint es ihm im schlicht »Alltäglichen« so, »als ob nichts wäre«. Aber bei vertiefter Kenntnis wird er der verborgenen Transzendenz gewiß und vermag aus dieser existentiellen Gewißheit zu leben. 32 Was dem Menschen sich durch das Lesen der »Chiffreschrift« andeutet, läßt all das, was er wissend erkennt, relativ werden durch die Wirklichkeit, die er absolut nicht erkennen kann, obzwar er ihrer Existenz gewiß ist. So ist das »absolut Bestehende« nur für ihn in dieser Weise bestehend. Es ist als »Zwingendes« in Relation auf ein Bewußtsein gegeben. Also verharrt der Mensch im Zustand der »Schwebe«, der anders zum metaphysischen Aufschwung des Erkennens führt und als »Wahrheit« im »Selbstsein« und zugleich in seiner »transzendenten Erfüllung« gegenwärtig ist. In den formulierten »philosophischen Gedanken« bereits, die objektivierend ein in sich geformtes »übertragbares Wissen« benennen, wäre dies verloren. 33 P III, 149. P III, 151 f. 33 P III, 162 f. Vgl. auch ebd., 170: »Chiffrelesen schafft nicht das geringste Wissen, das Gültigkeit in der Weltorientierung haben könnte, aber deren Fakta sind mögliche Chiffren. Was aber Chiffer ist und wie, entscheidet keine Wissenschaft, sondern Existenz.« u. ebd., 218: »Chiffren können sich für mögliche Existenz nicht mehr fixieren, und doch 31 32
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Das Entscheidende des Erkenntnisprozesses liegt im Bewußtwerden der Grenzen der Erkenntnis. Das Ganze zu wissen ist unmöglich. Wer meint, alles wissen zu können, veranschaulicht allein die uneingestandene Unwissenheit um die Grenzen menschlicher Erkenntnis. Wer ein solches redlicherweise nicht haltbares Wissen setzt, kreiert absolute Ansprüchen, die das Streben nach Erkenntnis beeinträchtigen können. Das absolut gesetzte Wissen kann sogar aggressiv gegen andere gerichtet werden, deren individuelles Streben nach Erkenntnis sich wider diesen Anspruch kehrt und denen, die ihn erhoben haben, die Grenzen desselben aufweist. Das Philosophieren umfaßt den »ganzen Menschen« in allen seinen Strebungen. Es gelangt als »Tun der Vernunft« an die Grenzen derselben, bemüht sich aber das, was darüber hinaus liegt, »in die eigene Helligkeit zu bringen«. Das Philosophieren bewahrt auch den Blick auf die »Tatsächlichkeit des Unvernünftigen« 34 , ohne ein angemaßtes und anmaßendes Wissen über das, was jenseits vernünftiger Erkennbarkeit liegt, erstreben zu wollen. Wer philosophiert, sucht die »Gewißheit«, die den Zweifel überwindet. Er akzeptiert nur eine »Gewißheit«, die im Einklang mit der »Redlichkeit« 35 des Denkens bestehen kann. Das Philosophieren bleibt stets kritisch gegen die »Vorurteile festgewordener Wissenschaft« und die »subjektiven Illusionen« 36 , an die der Mensch sich bindet. 1932, nur ein Jahr nach der Publikation des dreibändigen Opus, erscheint »Die geistige Situation der Zeit«, der tausendste Band der berühmten »Sammlung Göschen«. Der Gehalt des Stoffes, der im Hauptwerk dargelegt wurde, wird nun mit Themen der Zeit verbunden. Zugleich finden ausgeschiedene Kapitel aus dem Hauptwerk Eingang in diese Schrift. In dem schmalen Band kritisiert Jaspers die Massengesellschaft – ein vieldiskutiertes Thema der Moderne, das auch von Gustave le Bon und José Ortega y Gasset aufgegriffen wurde – und analysiert sehr hellsichtig die Situation der Weimarer Republik anhand einer sublim entfalteten Kritik der Gesellschaft und des Zeitgeistes. brauchen sie nicht nichts zu sein. Aber was sie auch sind, objektiv geworden sind sie unendlich zweideutig, und wahr sind sie nur, wenn sie sich erhalten in der Chiffre des Scheiterns, welche nach ihrer faktischen Seite mit positivistischer Rückhaltlosigkeit gesehen und existentiell in den Grenzsituationen ernst genommen ist.« 34 P I, XXXIII. 35 Einf, 17. 36 P I, 73.
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Als Hitler 1933 die Macht ergreift, glaubt Karl Jaspers an ein schnelles Ende der neuen Regierung. Wie viele Intellektuelle seiner Zeit irrt Jaspers. Erst 1934, nach dem Röhm-Putsch, begreift er, daß die NS-Gewaltherrschaft sich dauerhaft etabliert. Bemerkenswert ist diese vergleichsweise späte Einsicht schon, da Jaspers selbst 1933 von der Universitätsverwaltung ausgeschlossen wurde. Zudem erlebte er, daß jüdische Geschäfte und Arztpraxen (u. a. die seines Schwagers Ernst Mayer) boykottiert und am 6. April 1933 alle jüdischen Staatsbeamten entlassen wurden. Aber Jaspers dachte, daß all dies nur vorübergehende Phänomene eines kurzzeitig wütenden Ungeistes waren. Sich selbst rechnete er das Schweigen zu diesen Vorgängen später als »metaphysische Schuld« an. 1937 verliert Jaspers die »venia legendi«. 1938 wird er mit einem Veröffentlichungsverbot belegt. Seine Frau Gertrud Jaspers, eine Jüdin, lebt in beständiger Angst vor Verfolgung und Deportation. Das Ehepaar erwägt den Freitod. Einige Male raten NS-Machthaber dem Philosophen, sich von seiner Frau zu trennen. Jaspers lehnt brüskiert ab. In der Zeit der Bedrängnis arbeitet er weiter an philosophischen Werken, auch wenn nur wenig Hoffnung auf ein rasches Ende der NS-Herrschaft besteht. Jaspers resigniert nicht. Das Schreiben hält ihn wohl ebenso am Leben wie der Stolz, nicht aufzugeben. Ein Freund sagt ihm 1938: »Warum schreiben Sie? Es wird doch nie gedruckt werden können, und eines Tages werden alle Ihre Manuskripte verbrannt.« Jaspers erwidert, wie er selbst bemerkt, »übermütig« gestimmt: »Man kann nie wissen; das Schreiben macht mir Freude; was ich denke, wird mir klarer dabei; und schließlich: sollte einmal der Umsturz erfolgen, will ich nicht mit leeren Händen dastehen.« Der erhoffte Umsturz bleibt aus. Jaspers und seine Frau überleben dennoch die NS-Zeit – dank der Befreiung durch die US-Armee in buchstäblich letzter Minute. Als US-amerikanische Einheiten am 1. April 1945 Heidelberg befreien, war der Befehl zur Deportation des Ehepaares Jaspers am 14. April 1945 schon erteilt, nur eben noch nicht ausgeführt. In der 1953 verfaßten »Philosophischen Autobiographie« erinnert sich Jaspers an diese Zeit: »Ein Deutscher kann es nicht vergessen, daß er mit seiner Frau sein Leben den Amerikanern verdankt gegen Deutsche, die im Namen des nationalsozialistischen Staates ihn vernichten wollten.« 37 37
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Der Einmarsch der Alliierten erscheint Jaspers wie ein tief beglükkendes »Märchen«. Das erste Mal seit langer Zeit vernimmt er wieder einen »anständigen abendländischen Ton«. 38 Karl Jaspers beschäftigt sich in der Folgezeit unter dem Eindruck der Ereignisse zwischen 1933 und 1945 stärker als je zuvor mit politischen Fragestellungen. Auch wäre er selbst gern politisch tätig geworden. Doch seine Krankheit läßt dies nicht zu. 39 1945 wird Jaspers von den amerikanischen Behörden wieder auf seinen alten Lehrstuhl eingesetzt. Er hält Vorträge zur »Schuldfrage« und plädiert für eine gründliche Umerziehung, eine innere Wandlung der Menschen in Deutschland. Jaspers’ Hoffnungen erfüllen sich nicht. Zum Verdruß seiner Studenten nimmt er im Dezember 1947 einen Ruf an die Universität Basel an: »Niemand hatte einen Anspruch, daß wir bleiben sollten. Ein Staat und ein Volk, das den Juden angetan hatte, was nie hätte geschehen dürfen, und dies nach der Katastrophe nicht begriff und nicht die Folgerungen zog, hatte jeden Anspruch verloren.« 40
Karl Jaspers veröffentlicht bald darauf ein großes Werk über philosophische Logik, »Von der Wahrheit« genannt, das er in den Jahren der NS-Zeit verfaßt hat. Auch plant er, eine »Weltgeschichte der Philosophie« zu schreiben. Wie diese bleibt auch die Arbeit über die philosophische Logik unvollendet. Mit dem Werk »Die großen Philosophen« publiziert er in den fünfziger Jahren einen Bestseller, der in viele Sprachen übersetzt wird. Karl Jaspers ist als philosophische Autorität in Deutschland bekannt, aber nicht anerkannt. Teilweise wird er respektiert, zuweilen PA, 80. Herr Dr. Hans Saner schrieb mir hierzu in einem Brief am 4. Januar 1996: »Karl Jaspers wäre gerne praktisch tätig geworden. Er war der Typus des verhinderten Täters (so hat es auch Hannah Arendt gesehen). Verhindert hat ihn ausschließlich seine Krankheit, die es unmöglich machte, kämpfend an die Öffentlichkeit zu gehen.« 40 SchW, 164. Daß die Diskussion über die bald darauf publizierten Vorträge zur Schuldfrage keine Konsequenzen in Jaspersschem Sinne auslösen, hat den Philosophen, der von seinen Studenten als moralische Autorität und Stimme des Anstandes erlebt wurde, tief bekümmert. Dennoch stießen seine Vorträge auf Widerhall, indessen nicht auf jenen, den Jaspers selbst erhofft hatte. R. Augstein, der spätere Herausgeber des Nachrichtenmagazins »Der Spiegel«, hat als junger Redakteur diese Schrift von Jaspers »mit großem Interesse« studiert; während Jaspers 1965 bemerkt, seine Ausführungen hätten nur »sehr wenig Widerhall« gefunden – der Philosoph hatte sich eine breite Diskussion in Deutschland erhofft. Stattdessen fand er nur vereinzelt einsichtige Leser. Vgl. B, 43. 38 39
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Karl Jaspers – Leben und Werk
leise verachtet und auch verspottet. Innerhalb der universitären Sphäre bleibt seine Philosophie umstritten. Man neidet ihm auch den internationalen Erfolg. Wenn von Philosophie in Deutschland gesprochen wird, fällt zuerst der Name des Heidelberger Denkers Karl Jaspers. Er läßt sich von aller Mißgunst nicht beirren. Der Briefwechsel mit Martin Heidegger wird sporadisch wieder aufgenommen, die Freundschaft mit Hannah Arendt intensiviert. Mit vielen Abhandlungen zu politischen Fragen, etwa »Die Atombombe und die Zukunft des Menschen«, »Freiheit und Wiedervereinigung« und »Wohin treibt die Bundesrepublik?«, entfaltet Karl Jaspers eine rege Publizität als entschiedener Kritiker des Totalitarismus. Er gibt sich zu erkennen als ein politisch unabhängiger und überparteilicher Apologet der Freiheit. Darum vielleicht wird er von allen politischen Kräften in Deutschland skeptisch-mißtrauisch beäugt. Er tritt auf als unzeitgemäßer Denker, der die politische Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland negativ beurteilt, deren Möglichkeiten aber wohl unterschätzt. 41 1967 erwirbt Jaspers das Bürgerrecht der Stadt Basel und veröffentlicht sein letztes Werk: »Antwort«. In dieser Schrift nimmt er Stellung zu der Kritik, die seine politischen Arbeiten erfahren haben. In den letzten Lebensjahren möchte er zu den philosophischen Themen zurückkehren und die begonnenen Werke abschließen. Dazu fehlen Zeit und Kraft. Als Philosoph bemüht er sich um das »geistige Jungsein«, das einem Denker, der nie im vermeintlichen »Wahrheitsbesitz« erstarrt, eigen ist. Er begreift, daß jeder, der von sich glaubt, er könne nun erst richtig beginnen Philosophie zu treiben, die eigene Vergänglichkeit spürt. Im »Schmerz des Abschieds« von der Welt muß er das Philosophieren wiederum den »ABC-Schützen« überlassen, die gerade erst beginnen, sich philosophisch in der Welt zu orientieren. 42 Bis zuletzt appelliert Jaspers an die Vernunft. Er möchte dem Einzelnen bewußt machen, daß es wesentlich auf den Menschen selbst ankommt, auf seine Stimme, seine Handlungen, seine Art zu leben. Denn die Zukunft ist offen – sie liegt in den Händen der MenZur politischen Philosophie von Karl Jaspers vgl. auch meine Schrift: Paprotny, Thorsten: Politik als Pflicht? Zur politischen Philosophie von Max Weber und Karl Jaspers. Frankfurt/Main 1996. In dieser Schrift findet sich auch eine reichhaltige Bibliographie, in der die maßgeblichen Werke zur Rezeption der politisch intendierten Beiträge von Jaspers verzeichnet sind. 42 PG, 113. 41
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Grundzge der Philosophie von Karl Jaspers
schen. Niemand ist einem »Naturgesetz« oder einem »Geschichtsgesetz« 43 willenlos ausgeliefert. Vielmehr ist der Mensch verantwortlich für sein Handeln. Jeder für sich entscheidet über Gelingen oder Scheitern der Zukunft, jeder für sich mag sich als philosophisch oder unphilosophisch erweisen. Aber jeder hat, ganz gleich, wo er sich befindet und wie die Umstände sind, die Möglichkeit, sich philosophierend zu einem sittlich guten Menschen zu entwickeln: »Philosophie kann nicht aufhören, solange Menschen leben. Philosophie hält den Anspruch aufrecht: den Sinn des Lebens zu gewinnen über alle Zwecke in der Welt hinaus, – den diese Zwecke umschließenden Sinn zur Erscheinung zu bringen, – diesen Sinn, gleichsam quer zum Leben, gegenwärtig verwirklichend zu erfüllen, – durch die eigene Gegenwärtigkeit zugleich der Zukunft zu dienen, – niemals den Menschen oder einen Menschen zum bloßen Mittel herabzusetzen.« 44
Am 26. Februar 1969 stirbt Karl Jaspers an den Folgen eines Schlaganfalls im Alter von sechsundachtzig Jahren.
b) Resonanzvolle Aneignung – Jaspers’ Philosophie-Verstndnis Philosophieren mit Jaspers bedeutet, die Werke der großen Philosophen respekt- und resonanzvoll zu studieren, zu reflektieren und sich kritisch anzueignen. Mit dem Nachvollzug der Texte ist es nicht getan. Den Gehalt rezipiert erst, wer die philosophische Substanz in sich spiegelt und existentiell erfährt. Auf diese Weise wird das philosophische Denken früherer Epochen zu einem Teil des eigenen Philosophierens. Es gewinnt in dem Rezipienten Gestalt und vermag in die Lebensführung integriert zu werden. Statt einer distanziertnüchternen Betrachtung ist die Jasperssche Rezeption großer Philosophen intentional gerichtet auf den Prozeß der Selbsterkenntnis und -erziehung des Philosophierenden. Er muß hierbei mit Redlichkeit zu Werke gehen. Sonst unterläge er der Gefahr, in den Schriften der anderen nur wieder zu entdecken, was er selbst dort sucht. Gleichwohl ist es sekundär, Stadien eines Kontinuums der Geistesgeschichte zu erschließen. Bedeutsam ist, im Philosophieren diese Werke kennenzulernen und sich selbst aufrichtig zu bemühen, das Denken der Philosophen zu begreifen. Im Zuge dieser Vergewisse43 44
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AP, 84. PG, 119.
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Resonanzvolle Aneignung – Jaspers’ Philosophie-Verstndnis
rung gelingt es, wie Jaspers glaubt, die eigene Erkenntnis zu erweitern, sich selbst zu erziehen – und als Persönlichkeit zu bilden. Der Philosophierende reift im Studium von Denkern wie Sokrates, Platon, Kant und Nietzsche und vielen anderen, die – so Jaspers – aussprechen, »was unserem Fragen entspricht«. Können im Prozeß der aneignenden Reflexion die Fragen, die den Menschen heute bedrängen, auf eine zufriedenstellende, vielleicht gar unmißverständlich eindeutige Weise gelöst werden? Möglicherweise sind die Denkwege jener Gestalten »vorgeformte Möglichkeiten«, genau wie sie selbst als »Vorbilder« erscheinen.Wenn der Menschen sich den großen Philosophen erkennend nähert, lernt er sich selbst verstehen. Er begreift, daß er auf eindeutig artikulierte Fragen, sofern diese eben Problemfelder berühren, bei denen eindeutige Antworten kaum möglich sind, nicht leichterdings Antworten findet. Die Antwortversuche, die verbindlich zu lösen scheinen, was redlicherweise zu beantworten gar nicht möglich ist, vermag er als Trugbilder zu erkennen. So lernt er die Grenzen möglicher Erkenntnis kennen. Zugleich begreift er aber auch, daß es wichtig ist, diese Fragen zu stellen, auch wenn eine letztgültige, wissenschaftlich nachprüfbare Antwort hierauf unmöglich ist. Wer mit Jaspers philosophiert, wird immun gegen absolut gesetzte Ansprüche und Systeme. Ihm sind die Grenzen möglicher Erkenntnis vollauf bewußt. 45 Als Vorbild bietet die Sicht auf den Philosophen – so wie in umgekehrtem Verhältnis der »Anblick des Gemeinen« der »Rechtfertigung der eigenen Gemeinheit« 46 dient – die Möglichkeit einer günstigen, sittlichen Entwicklung der eigenen Persönlichkeit. Jaspers selbst schwärmt mitunter geradezu enthusiasmiert von charismatischen philosophischen Gestalten. Er würdigt den bedeutenden Denker als einen »großen Menschen«, der als »Widerschein des Ganzen des Seins« betrachtet wird. Sodann erscheint er »unendlich deutbar«. Die verbale Überhöhung dieser philosophischen Gestalt macht die diesem zugeschriebene exponierte Stellung eines Denkers deutlich. Jaspers verliert sich aber zuweilen in einer nebulös anmutenden Glorifizierung. Er bemerkt zutreffend, daß sich ein Philosoph nicht auf Vordergründiges und Nichtiges kaprizieren soll. Dann aber führt er weiterhin solenn aus, daß eine epochale Gestalt der Geistesgeschichte im Bewußtsein des »Umgreifenden« lebt und das »tragische Schei45 46
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Grundzge der Philosophie von Karl Jaspers
tern« im Bezug zur Transzendenz erlebt, die gegenständlich nicht erfaßt werden kann. 47 Gerade dieses Transzendieren ist für den Menschen der Grund, sich an Philosophen zu orientieren, die ihn aufrichten, und sich einem Denken zuzuwenden, das das Terrain bloßer Gegenständlichkeit überschreitet. Dieses Denken wird im »Bewußtseins der Erscheinungshaftigkeit allen Daseins« 48 vollzogen. Wer philosophiert, ist bewegt von einem schier unstillbaren »Drang zur Befreiung aus der Enge«. Durch diese erlebte, nicht quantifizierbare »Größe« eines anderen spürt der Mensch in »Ehrfurcht« und »Hellsicht«, wodurch er selbst »besser« wird. Mit diesen Philosophen gelangt der Mensch gleichsam zu sich selbst. Das »Dasein der Großen« ist eine »Garantie gegen das Nichts«, gegen den sich in der Beliebigkeit verlierenden Nihilismus. 49 Als Beispiel hierfür gilt Jaspers das Denken Platons: »Das philosophische Leben ist der Weg, ständig im Gegenständlichen des Verstandesdenkens darüber hinaus zu denken, und dort auf das zu treffen, was in der Erhellung des Dunkels, als das ich mir begegne, in meinem inneren Handeln mich zu mir selbst bringt. Das ist seit Plato die bewußte menschliche Aufgabe im Philosophieren. Sie ist weder durch bloßen Verstand zu lösen, noch durch bloße Gefühle, sondern allein im philosophisch erweckten ursprünglichen Denken selber.« 50
Durch die »Wahrhaftigkeit«, die in den Werken großer Philosophen, wie etwa bei Platon, Kant und Nietzsche, spürbar ist, erreicht der Philosophierende selbst »Wahrhaftigkeit« in der eigenen Lebensführung. So bildet er sich im Blick auf und mit den großen Philosophen zu einer eigenständigen, souveränen Persönlichkeit. Ihm gelingt dies, nicht indem er sich entsprechenden Denkern und ihren Schulen unterordnet, sondern indem er sich resonanzvoll aneignet, was die Philosophen bewegte und erfüllte, und auf diese Weise sich selbst in seiner Freiheit erkennt. 51 Die nicht existentiell zu eigen gemachte Philosophie hingegen bleibt unwesentlich. Die resonanzvolle Aneignung ist ohne eine entsprechend aufmerksame Gestimmtheit, eine Bereitschaft zur Empfänglichkeit resp.
47 48 49 50 51
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GP, 29. P I, 43. GP, 31. GP, 258. GP, 74.
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Resonanzvolle Aneignung – Jaspers’ Philosophie-Verstndnis
»Hellhörigkeit« 52 , nicht gegeben. In der bloßen Wiederholung tradierter Gehalte geht nach Jaspers’ Überzeugung die eigentlich philosophische Substanz verloren. Dieser Gehalt findet keinen Widerhall in dem Wissenschaftler, für den die philosophischen Werke äußerlich bleiben, mag er seine Deutung auch in einer historisierenden Klarheit referieren können. Die vordergründige Klarheit ist tatsächlich eine Trübung, wenn sie versäumt, sich jene »Präzision des Denkens« anzueignen, die den »gegenständlich denkenden Verstand« 53 transzendiert. Die »Bewährung« gelingt nur, indem die »unpersönliche Gestalt des objektivierten Denkgebildes« im »inneren Handeln« eine Widerspiegelung erfährt – und nicht in einem »Wissen von Formeln« oder einem »Anschauen ergreifender Figuren« erstarrt. 54 Jaspers beschreibt die gelingende »Arbeit der Philosophie« – und zugleich auch ihren Trost – als Gewißheit, die sich von dem »Glauben« getragen weiß, daß »wahres Philosophieren« stets seine Wirksamkeit entfalten wird, wenn dies auch weder prophetisch antizipiert noch planerisch gestaltet werden kann. Gleichwohl läßt sich ein mitschwingender Widerklang durch die unerschütterliche und historisch belegbare Kenntnis bestätigen, daß seit jeher Menschen mit und in der Vernunft »Würde« und »Wahrheit« zu entdecken wußten und dies im »inneren Handeln« deutlich machten. 55 Philosophieren als Tätigkeit wird wirklich in der »Erfüllung eines jeweils einzelnen Lebens«. Sie ist an das Individuum gebunden und zeigt sich als »geistiges Gebilde«. In der geschichtlichen Tradition findet sich der Philosophierende als »neu Heraufkommender« selbst. 56 Philosophieren bedeutet für Jaspers zunächst das Staunen über die Phänomene des Lebens, über Mensch und Welt und das Streben nach Erkenntnis. Dieses Streben überschreitet in seiner philosophischen Dimension bloße »Sachkunde« von den Phänomenen der Welt. Die »wissenschaftliche Erkenntnis« kann Fragen zur Lebensführung nicht beantworten und nicht den Sinn ihrer selbst aus sich begründen. Das Philosophieren richtet sich gegen »Tendenzen« eines bloßen »Sichgenügens im Gefühl«, wider »gedankenlose Schwärmerei« und 52 53 54 55 56
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die irrationalistische »Selbstvernichtung der Vernunft«. 57 Gerade der Enthusiast ist hier in besonderer Weise gefährdet. Die Ambivalenz, die diesem Streben innewohnt, hat Jaspers gleichwohl stets gesehen. Insbesondere diese Spannung drückt sich in einem Philosophieren zwischen Wissen und Nichtwissen aus. Sie wird geäußert als Kritik an dem, der nach Erkenntnis strebt, ein Ordnungsmuster entwirft, dieses absolut setzt, sich ein entsprechendes Wissen anmaßt und absolute Ansprüche stellt, die letztlich das Streben nach Erkenntnis und jegliches Philosophieren behindern, ja zu unterbinden trachten. Das Philosophieren ist für Jaspers zunächst eine Aufgabe des Menschen im Zuge seiner Selbstvergewisserung – oder auch seiner Selbsterkenntnis. Philosophie ist »universal«, auf das Ganze gerichtet. Zugleich aber ist sie unfähig, dieses Ganze, auf das sie sich erkennend richtet, zu umfassen. Philosophie zu treiben bedeutet, in allen Fragen des Lebens und der Welt zu Hause zu sein. Es wäre aber unphilosophisch, den »vergeblichen Weg des Alleswissens« zu beschreiten, der sich »endlos« an das Wissen verliert. Der Mensch ist unfähig, alles zu wissen. In der Zerstreuung der Gegenstände verliert er sich selbst, vor einem »Haufen« von Wissensgütern rätselnd, was diese ihm sagen können oder nicht. Es gilt, das »Wissen nutzend« 58 , sich über dieses hinaus philosophisch in der Welt zu orientieren und sich der Grenzen der Welt wie der Grenzen der Erkenntnis vollauf bewußt zu sein: »Sich wundern drängt zur Erkenntnis. Im Wundern werde ich mir des Nichtwissens bewußt. Ich suche das Wissen, aber um des Wissens selber willen, nicht ›zu irgendeinem gemeinen Bedarf‹.« 59
Das Philosophieren darf somit nicht instrumentalisiert werden. Als Medium zur »Brauchbarkeit« wäre es entfremdet. Bereits »im Ansatz des Fragens«, wozu es taugen mag, ist es mißbraucht, da Philosophie in ihrer Ursprünglichkeit untrennbar mit dem Menschen existentiell verbunden und ein das Leben begleitender Prozeß des Vergewisserns seiner selbst ist. Dieser Prozeß bleibt »offen« und »unvollendet«. 60 Als »Existenz« vermag der Mensch niemals gänzlich als »erforschbares Objekt« 61 von sich zu wissen. 57 58 59 60 61
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Resonanzvolle Aneignung – Jaspers’ Philosophie-Verstndnis
An die Eigenständigkeit des Individuums wird appelliert. Es kann das eigene Selbst entfalten und sich denkend und handelnd in der Welt verwirklichen. Indessen mag der Mensch auch unreflektiert im Strom des Vergänglichen versinken. Der Philosophierende stellt sich also der Forderung, die eigene »Denkungsart« 62 nicht an den Endlichkeiten bloßer Rationalität dieser Welt auszurichten, vielmehr sich am Wesentlichen zu orientieren, ein neues Denken, eine andere Art zu denken philosophierend zu erlernen: »Philosophie ist das Denken, in dem wir uns selbst vergewissern, woraus wir leben, – was eigentlich ist, – wodurch wir sind, – was uns unbedingt ist, – in welchem Entschluß wir gründen, – ist damit das Denken, durch das wir dieses Denken denken, seine Gewißheit prüfen, seinen Sinn und seine Kriterien erhellen. Aber wahre Philosophie bleibt offen als die systematische Klärung unseres Grundwissens, das gleichsam der Rahmen ist dessen, was wir sind und was für uns ist. Philosophie klärt die Grenzen und Ursprünge alles dessen, worin und wodurch wir das je Bestimmte wissen und verwirklichen.« 63
So beschränkt sich das Philosophieren nicht auf eine Wiederaufbereitung historischen Stoffes, auch nicht auf separate Teilgebiete. Es sucht das Verbindende und Tragende, vermag aber gleichwohl weder Lebenssinn noch Erlösung zu bieten. Indessen kann es den Menschen zu sich selbst bringen, so daß ihm der »Aufschwung der Seele« 64 gelingt und daß er in der »Selbstgegenwärtigkeit des eigenen Wesens« 65 zu sich findet, indem der Mensch sich geistig von dem, was ihn bindet, fesselt und niederdrückt, zu lösen weiß: »Das Denken, das mein Seinsbewußtsein verwandelt, weil es erweckend mich zu mir bringt in den ursprünglichen Antrieben, aus denen im Dasein handelnd ich werde.« 66
Doch dies kann nur in »originaler Erfahrung« gelingen und nicht im Zuge der »universalen Betrachtung« geschehen: »Wer Impulse verlangt, wer hören will, was recht ist, worauf es ankommt, wozu wir leben, wie wir leben sollen, was wir tun sollen, wer um den Sinn der Welt wissen möchte, wendet sich vergeblich an die universale Betrachtung, auch wenn sie unter dem Namen Philosophie geht. Die universale Betrach62 63 64 65 66
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tung spricht allerdings von den Impulsen, davon, wie Menschen ihren Sinn finden, was sie für recht halten, welche Forderungen sie als unbedingt verbindlich erfahren. Aber sie nimmt nicht Stellung, sie will nicht, wie die prophetische Philosophie irgend etwas propagieren, sie gibt dem, der Lebenssinn will, Steine statt Brot, sie verweist den, der sich anschließen, unterordnen, Schüler sein möchte, auf sich selbst zurück. Er kann nur lernen, was ihm bestenfalls Mittel ist. Worauf es ankommt, muß er in originaler Erfahrung selbst finden.« 67
Philosophierend vollzieht sich aus der »Möglichkeit des Freiseins«, die sich nicht durch die »Einsicht« ergibt, sondern erst in der Handlung, durch die »Tat«, verwirklicht wird. Diese ergibt sich aus der »Unerträglichkeit« der »Möglichkeit der Unfreiheit« und gewinnt im Innewerdens des eigenen Selbsts Gestalt, im Bewußtsein, daß es auf »etwas«, das nun unternommen wird oder nicht, »unbedingt ankommen kann«: »Das ist aber kein Schluß von einem Faktum auf seine Bedingung, sondern der Ausdruck des Selbstseins selbst, das sich seiner Möglichkeit als eines Seins bewußt ist, welches über sich noch entscheidet. Es fordert sich, indem es sich fordert.« 68
Dieser »harte Anspruch« der Selbstwerdung kann sich niemals in Gefolgschaft vollziehen. Vielmehr wird der Mensch in »heller Vernunft« ahnen, daß er sich von der »Transzendenz« in der »Freiheit« als »geschenkt« erfährt. 69 Den Begriff »Existenz« bestimmt Jaspers als ein Seiner-selbst-gewiß-Sein des Menschen, der nicht durch sich selbst frei ist, sondern sich in dieser Freiheit gleichsam »geschenkt« wird. Er kann sich auch »ausbleiben« und das »Freisein nicht erzwingen«; die »höchste Freiheit« ist die »tiefste Gebundenheit an Transzendenz«: »Daß Gott keine Greifbarkeit in der Welt wird, das bedeutet zugleich, daß der Mensch seiner Freiheit sich nicht entäußern soll zugunsten der in der Welt vorkommenden Faßlichkeiten, Autoritäten, Gewalten, daß er vielmehr die Verantwortung hat für sich selbst, der er nicht entlaufen darf, indem er, vermeintlich aus Freiheit, auf Freiheit verzichtet. Er soll sich selber verdanken, wie er sich entscheidet und den Weg findet.« 70
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Direkte und indirekte Mitteilung
Große Gestalten der Philosophen hat Jaspers auf vielfältige Weise gewürdigt. War er darum Philosophiehistoriker? Wer Positionen des Denkens als geschichtliche Systeme vergegenwärtigt, eignet sie sich noch nicht existentiell an. Jaspers unterscheidet die Philosophen von jenen Gelehrten, die von ihm selbst, kritisch und polemisch, als Katheder-Philosophen gescholten wurden. Das Merkmal ist die Art der sprachlichen Mitteilung. Jaspers freilich ist nicht daran interessiert, filigrane sprachphilosophische Studien zu schreiben, Begriffe zu zergliedern und den eigentümlichen Charakter des philosophisch Mitgeteilten in dieser Weise zu analysieren. Die direkte Mitteilung ist vielgestaltig, sowohl als moralischer Imperativ und ostentatives Bekenntnis, wie auch als informativer Ausdruck vorstellbar. Sie ist zuhanden in rational-technischer Nüchternheit, aber auch in der spontanen Unmittelbarkeit verbalisierter Emotionalität gegenwärtig. Viele Menschen scheinen die »Lehren aus Prinzipien mit Konsequenzen« zu bevorzugen. Klare und direkte Anweisungen sind rational strukturiert. Sie fixieren und prägen. Die direkte Mitteilung eines scheinbar verläßlich gegründeten Wissens kann aber auch »mechanisierend« und »tötend« 71 wirken. Dies veranschaulicht Jaspers, wie später gezeigt wird, anhand der absolut gesetzten, totalitär strukturierten »Gehäuse«. Die »inkommunikable Idee« kann, wie das eigentümlich philosophische Denken überhaupt, nur »indirekt mitgeteilt« werden. Es ist nicht möglich, daß sie »gewollt« wird. Somit ist sie auch nicht »direkt mitteilbar«. Das Philosophische verweist in der ihm eigenen Offenheit über sich selbst hinaus. Das »direkt mitteilbare Rationale« hingegen ist stets an die Grenzen gebunden, die es aufzeigen kann. Eine indirekte Mitteilung bewahrt vor »Sackgassen«, die sich durch »generell verabsolutierte Prinzipien« oder »organische Lebenslehren« ergeben. Sie macht die Grenzen des Rationalen bewußt, ohne das rational Versteh- und Darstellbare selbst einzuschränken. 72 Der direkten Mitteilung fehlt sozusagen der doppelte Boden. Sie verkündet eine offenkundige oder anscheinende Gewißheit. Somit verweist diese Mitteilung auf sich selbst, auf den Sachverhalt, den sie beschreibt oder bestimmt, aber nicht über sich selbst hinaus. Ein 71 72
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Philosoph aber vermag sich hierauf nicht zu beschränken. Über gelöste Rätsel und Probleme kann es zwar direkte Mitteilungen geben. Aber die Grundfragen der Philosophie lassen sich nicht auf diese Weise beantworten. Anders gesagt: Wer direkt mitteilt, schreibt einen Weg und ein Ziel der Erkenntnis vor. Wer auf die indirekte Mitteilung vertraut, macht zunächst die Fraglichkeiten bewußt. So hilft ein Philosoph dem Menschen, mit dem er kommuniziert, zu sich selbst zu finden und sich in Freiheit zu entwickeln. Vermittels dieser indirekten Mitteilung werden zwar Ausblicke auf die mögliche Wahrheit erlaubt, die in ihrer Totalität unerkennbar bleibt. Die direkte Mitteilung indessen besteht in unmittelbarem Bezug auf ein bestehendes System. Dieses wird als absolut gültig ausgegeben. Es ist ein rational geordnetes Lehrgebäude, in dem das wichtigste Gestaltungsprinzip die innere Konsequenz ist. Ein solches System zu entwerfen und zu verteidigen übernimmt – kantisch ausgedrückt – der »Philodox«. Ein Philosoph, diesen Begriff wendet Jaspers irreführend auch auf den Baumeister des rationalistischen Begriffssystems an, indessen lebt im Bewußtsein möglicher Krisen. Die innere »logische Konsequenz« ist ihm nicht in gleicher Weise wesentlich wie dem rationalistischen Gestalter. Der Philosoph wirkt als »Erreger« und als der »Infragestellende«, der die Begrenztheit der Lehrgebäude sieht und durch Fragen eine ihm eigentümliche philosophische Wirksamkeit, auf sokratische Weise, entfaltet. 73 Auch Karl Jaspers selbst wollte nicht als »Prinzipienlehrer« auftreten, der »Gefolgschaft und Gehorsam gegenüber der eingesehenen und formuliert vorhandenen Wahrheit« forderte. Er versuchte sokratisch die Aufmerksamkeit statt auf sich auf die Probleme zu lenken, denen das Erkenntnisstreben eigentlich gilt und auch gelten soll. Der Philosoph schätzt die »Freiheit im Anderen« 74 und »weist [die Schüler; Th. P.] von sich auf sich selbst zurück«. Er verbirgt sich gar in der »Paradoxie«. 75 Die indirekte Mitteilung ist das wesentliche sokratische Element des Philosophierens. Die »faktische Wirkung« der Persönlichkeit gewinnt ihre Größe und Bedeutsamkeit gerade darin, daß keine »fixierte Lehre« verkündet wird. Allein die »Formel« vom Wissen des Nichtwissens erzeugt die »größte Unruhe im Anderen«, im selbst73 74 75
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Direkte und indirekte Mitteilung
gewiß Meinenden. Dann tut sich eine »unerfahrene Problematik« auf. Die »geistige Verantwortung« des Philosophierenden zeigt sich im »erschütterndem Ernst«, der verbunden sein kann mit einer spielerischen Ironie. Somit gelingt es auf indirekte Weise, den philosophischen Impuls zu geben. Die ironisch maskierte Ernsthaftigkeit durchbricht die trügerische Sicherheit eines angemaßten und anmaßenden Wissens. Nun ließe sich einwenden, wer tatsächlich etwas philosophisch Gehaltvolles zu sagen habe, solle dies unmittelbar in direkter Mitteilung tun, frei heraus und unmißverständlich. Das wäre eine irrtümliche, auch abwegige Annahme, die einen Gegensatz konstruieren wollte. Die scheinbare Offenheit des direkten Mitteilens kontrastiert die gleichsam verborgene indirekten Mitteilung und unterstellt ihr, sich »willentlich« in Schweigen zu hüllen und Aussagen über das Wesentliche zu verweigern – jenes Wesentliche, das mancher in direkter Mitteilung kundzutun vorgibt. Tatsächlich aber verfehlt er dieses Wesentliche, das durch die direkte Mitteilung nicht aussagbar ist. Die philosophisch bedeutsame indirekte Mitteilung zeichnet aus, daß es ihr gelingt bei »stärkstem Klarheitsdrange« und dem »Suchen nach Formen und Formeln« auf das, was sich als wahr andeutet, zu verweisen. Ein sprachlicher »Ausdruck« kann niemals vollkommen angemessen sein. Der Philosophierende begreift aber unmittelbar, wie wenig »alles Kommunizierte« in direkter Mitteilung das Wesentliche trifft. Es stellt geradezu das »Unwesentliche« dar. Die indirekte Mitteilung hingegen vermag im Gespräch Hinweise auf das Wesentliche zu verknüpfen, ohne dieses gänzlich analysieren zu können: »Die indirekte Mitteilung, d. h. also die Erfahrung des Direkten als eines Mediums, in dem noch ein Anderes wirkt, ist etwas, als ob hier das Leben selbst kommuniziere.«
Die indirekte Mitteilung ist ein einigendes Band, das die Menschen zueinander führt, ohne daß sie dieses Wesentliche als etwas gegenständlich Erkennbares bewußt machen könnte. Gleichwohl ist der »größte Klarheitsdrang« der Selbstvergewisserung ein »Kommunikationsdrang«, der im Streben nach Erkenntnis das Verbindende sucht. Trotz der »Klarheit«, die dieses befördert, bleibt der Mensch vom »Dunklen« umgeben, »das indirekt da ist und bewegt«. Folglich läßt es sich auch allein indirekt mitteilen. Der von seinem »Daimonion« erfüllte Philosoph versucht, A
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»möglichst viel zu verstehen«, bis an die Grenzen des Wissen zu gelangen, »um zu verstehen, was nicht verständlich ist«. Das Unverständliche kann er nicht begreifen. Aber er vermag zu erkennen, daß er an der Grenze möglicher Erkenntnis das Nichtwissen als solches akzeptiert und sich nicht anmaßt, ein Wissen von dem zu haben, worüber niemand etwas redlicherweise zu wissen vermag. 76 Beispiel hierfür ist Sokrates als philosophische Idealgestalt, ein Mensch, der in der »Helle seiner Vernunft« aus dem »Umgreifenden des Nichtwissens« zu leben wußte. Er folgte unbeirrbar seinem Weg. Weder durch Leidenschaft und Rechthaberei, noch durch Empörung und Aggression oder Stumpfheit und Trägheit ließ er sich beeinflussen oder beeinträchtigen. Niemandem machte er ein Zugeständnis und starb, so Jaspers, »heiteren Sinns«. 77 Sokrates wußte von seinem »Nichtwissen«, das eine »negative Grenze« darstellt. Aber als »Chiffre« ist es »erfüllt« von der Wahrheit, die über die Grenzen menschlicher Vernunft hinausreicht. In diesem Bewußtsein wendet sich der Philosoph der »gegenwärtigen sinnlichen Wirklichkeit« zu, um diese mit anderen Augen zu sehen und in indirekter Mitteilung zu transzendieren. 78 Sokrates verstand »unerbittlich [zu] fragen«. Er verlangte nie den »Glauben« an ein »Gehäuse«. Das Philosophieren der indirekten Mitteilung will das eigenständige Reflektieren evozieren. Es fordert redliches »Fragen« und kritisches »Prüfen« auf der mit leidenschaftlichem Ernst betriebenen Suche nach der Erkenntnis der »Wahrheit«, die aber niemals absolut gewußt und direkt mitgeteilt werden kann. 79 Philosophierend und philosophisch kommunizierend finden die Menschen »miteinander zu sich selbst«. Die »Schwierigkeiten im scheinbar Selbstverständlichen«, die jene, die das vermeintliche Wissen direkt mitteilen möchten, nicht sehen oder nicht sehen wollen, machen Philosophen wie Sokrates bewußt. Kritisches Fragen kann absolut gesetzte Lehrgebäude nachhaltig erschüttern. Doch die Fragen müssen und sollen gestellt werden im Vertrauen darauf, daß die »Wahrheit« das gemeinsame Band ist, was die Menschen vereint. 80 Diese »Wahrheit« kann nicht ergriffen werden. Sie ist nicht wie ein 76 77 78 79 80
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Direkte und indirekte Mitteilung
partikulares, positivistisches Wissen oder eine erlern- und anwendbare Technik verfügbar. Das »Auf-dem-Wege-Sein im Denken« ist untrennbar verbunden mit dem »Wissen des Nichtwissens«, dem Bewußtsein der Grenzen menschlicher Erkenntnis. Sokrates vertraute fest darauf, daß durch das »unbeirrbare Infragestellen« letztlich sich das »Wahre« 81 zeigen werde: »Will der Mensch eine Garantie, ein Wissen, eine Glaubenserkenntnis von Gott, von der Unsterblichkeit, vom Ende aller Dinge, so verwehrt sie Sokrates. Des Menschen Sinn ist es, es darauf hin zu wagen, daß das Gute sei. Das positive Nichtwissen weist immer wieder an den Punkt, wo ich ich selbst bin, weil ich das Gute als das Wahre erkennne, und wo es an mir liegt, daß ich es tue.« 82
Die »tiefste Wahrheit«, von der Sokrates nach Jaspers’ Überzeugung erfüllt ist, kann nicht direkt mitgeteilt werden – doch die indirekte Mitteilung verweist auf die »großen Fragen«, die für das »Heil der Seele« bedeutungsvoll sind. 83 Das Philosophieren der indirekten Mitteilung bedeutet, daß der Philosoph sich »selbst nicht im endgültigen Besitz der Wahrheit« wähnt, zugleich aber sich von der Überzeugung getragen weiß, »daß Wahrheit sei« 84 , auf die freilich nur mittelbar verwiesen werden kann. Sokratisches Philosophieren weiß sich der indirekten Mitteilung verpflichtet und an diese gebunden. Es erstrebt gleichermaßen das »Verstehenwollen« und »Verstandenwerdenwollen«. 85 Aber die vermeintlich gültige Lehre mit absolutem Anspruch zu erteilen – die doch so häufig von der Philosophie erwartet wird –, wird verweigert. Sie kann nichts absolut Gültiges darüber sagen, »wie zu leben ist«. Aber Philosophie kann scheinbar Festgegründetes »problematisch« darlegen, den vordergründigen Schein als solchen erweisen und die vermeintlichen Gewißheiten auflösen, in dem Bewußtsein, »nichts ›Positives‹« geben zu können, aber die unzulässigen Ansprüche angemaßten Wissens aufzudecken. Ein Philosophieren ist möglich, das sich nicht auf enzyklopädische Vielwisserei kapriziert, die des wirk-
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lich Wichtigen ermangelt, sondern einen sokratisch-aporetischen und schwebenden Charakter bewahrt: »Die Philosophen indirekter Mitteilung drängen sich innerlich als Einzelne zum einzelnen Menschen, appellieren an das Leben, das im Anderen ist, dem sie durch Reize und durch Entwicklung des Mediums unendlicher Reflexion zum Wachstum helfen, das sie aber nicht als imperative Lehre selbst geben wollen. Sie stoßen zurück, wenn man anbetend in Gefolgschaft treten will, sie lieben die Freiheit im Anderen. Sie sind der Idee nach nie – wenn auch noch so sehr faktisch – überlegen, sondern leben selbst in der Kommunikation indirekter Mitteilung so gut vom Schüler, wie sie ihm helfen, ohne etwas Direktes, daß das Wesentliche wäre, zu geben.« 86
d) Das Streben nach Erkenntnis und das Streben nach Halt Das Streben nach Erkenntnis ist unauflöslich verbunden mit dem Streben nach Halt. Das Bemühen um Erkenntnis, eine stets vorantreibende Neugierde, nimmt seinen Anfang im Affekt des Staunens. Was dem Menschen unerklärlich oder neu ist, möchte er begreifen. Er versucht sich in der Welt zu orientieren und entdeckt eine Reihe von Phänomenen, die sich seinem Erkenntnisvermögen erschließen oder entziehen. Er bildet Theorien hierüber. Diese Theoriebildung zeigt zugleich, daß dem Streben nach Erkenntnis auch das Bedürfnis nicht fremd ist, einen Halt zu finden, einen Ruhepunkt in der Flucht der Erscheinungen. Der Mensch spürt, entdeckt und erkennt Grenzen, an die er zeitlebens gebunden bleibt. Er erlebt »Grenzsituationen«, die außergewöhnlich sind und ihn ganz fordern. In einer solchen Situation handelt er entsprechend dem ihm eigenen existentiellen Ernst. Dies sind die Momente der Bewährung. Bevor aber jene Zustände betrachtet werden, ist zu bedenken, daß das Wissen um das eigene Nichtwissen den ersten philosophischen Schritt auf dem Weg der Erkenntnis bezeichnet: »Der Mensch als Philosoph weiß sein Nichtwissen und strebt zum Wissen.« Die Erkenntnis ist eine Wegstrecke, auf der verschiedene Stadien zurückzulegen sind. Das Jasperssche Philosophieren ist darum als suchendes »Streben«, nicht als ein besitzanzeigendes und selbstbehauptendes »Haben« zu begreifen. Wer zu wissen glaubt, hat das »Streben« beendet. Wer aber begreift, daß er nicht 86
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mit absoluter Gewißheit weiß, wie sich eine Sache letztlich verhält, kann philosophierend auch den Anspruch des anderen, der zu wissen vorgibt, kritisch betrachten. So wird eingehend geprüft, ob der Anspruch des Wissens berechtigt ist oder ob der andere nur verweigert, sich und anderen die ihm eigene Unwissenheit einzugestehen. Gleichwohl hält auch der Strebende – sonst wäre all sein »Streben« töricht und sinnlos – Wissen für erreichbar. Aber ihm sind zugleich die Grenzen möglichen Wissens bekannt. Philosophierend versucht er die ihm sich zeigenden Phänomene zu ergründen, ohne in ein betrügerisches Scheinwissen zu verfallen, welches das Absolute als erkennbar ausgibt und verläßliche Erkenntnis hiervon zu besitzen behauptet. So ist dieses Philosophieren eine Bewegung zum Wissen hin, auf die Totalität des Seins ausgerichtet, bis an die »äußersten Grenzen« vordringend und dort die »Frage« entdeckend, die über diese »Grenze« hinausreicht. Nach dem verläßlichen »Punkt außerhalb allen Seins« sucht der Philosophierende, um das Sein erkennend zu erfassen. Er wird sich dann der antinomischen Bewegung bewußt, indem er einsieht, »Unmögliches zu wollen, und es doch nicht aufzugeben« 87 . Philosophierend mag er sich des »Seins« vergewissern, ohne es als »das Sein« erfassen zu können. Es ist ihm stets nur »ein Sein« in der unaufhebbaren »Zerrissenheit des Seins« 88 erfahr- und einsehbar. Indessen vermag er an der Grenze möglicher Erkenntnis Fragen zu formulieren, die redlicherweise unbeantwortet bleiben. So bleibt auch der Mensch letztlich ein »Geheimnis«, das »mehr als all unser Erkennen« ist. Dieses Rätsel ist unter Aspekten der Erkenntnis niemals ganz auflösbar, da wir »mit dem von uns Erkannten« gleichsam »vor einem Unerkannten« und »uns unendlich Übergreifenden« stehen. In den existentiell bedrängenden, unabweisbaren Fragen artikuliert sich das »eigentliche Leben des Menschen«. In dem errungenen »Bewußtsein seiner Existenz« und im Zuge der fortschreitenden philosophischen »Vergewisserung« seiner selbst ist dem Erkennenden »nichts mehr selbstverständlich«. So befindet er sich im »bewußten Wagnis seiner Geschichte« 89 , unaufhörlich strebend, um aus dem »Dunkel der bloßen Instinkte« zu sich selbst zu finden. Eine »endgültige Klarheit« bleibt ihm verwehrt. Deren »Besitz« wäre allein 87 88 89
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»Sache der Gottheit«. Er ist angehalten, sich dem »Dunkel« 90 , dem Nichtwissen, vertrauensvoll zuzuwenden, und in diesem gewissermaßen für das »Helle« zu leben. Dies bedeutet, sich der »Fesseln« zu entledigen, alles »Gedachte« als »befragbar« und überprüfbar zu beurteilen, mithin zu erwägen ob es den Erkennenden in seinem Streben »beflügelt« oder gar bindet und »lähmt«. Er soll somit nicht im »Dasein« als »isoliertes Selbstsein« wie in einem »Gefängnis« verkümmern. Der nun erfolgende »Aufschwung« mag aber auch in ein »neues Gefängnis« führen, in der eine andere »Konstruktion des Seins« als »absolute Wahrheit« firmiert und jegliches Freisein negiert. Diese wird er als »atemberaubende Enge« erfahren, die jedem absolut gesetztem System eigen ist: »Philosophieren würde im System, das es als Denken doch stets erstreben muß, versanden, wenn es sich vollenden würde. Wahres Philosophieren will Wege gehen, auf denen es am Ende sein Wissenwollen scheitern sieht; es will nicht durch Einsicht schon erfüllen, sondern der Freiheit Raum schaffen; es bleibt in aller Systematik am Ende als System, im Ursprung ganz, doch Fragment.« 91
Das Streben nach Erkenntnis ist ein »mächtiger Antrieb«, ein schier unzähmbarer Wille. Der Weg führt aus dem »grenzenlosen Unheil« zum »unendlichen Heil«. Der Wille hat »ein einziges Ziel« – denn der Erkennende möchte Gewißheit über den »Ursprung« erlangen, da er sich von diesem die Antwort auf die ihn bedrängende Frage nach dem Sinn des Ganzen erhofft. Er trachtet danach, in diesen heimzukehren und »Genüge darin finden, daß er ist«. Im »Ursprung« will der Erkennende das »gesuchte Ziel« entdecken. Sobald er den Weg dorthin erkennt, verspürt er, wie Jaspers bedeutungsvoll formuliert, den »Zug vom Sein«. Er kann den »Aufschwung« zu erfahren, um mitten im »Strom des Werdens« die transzendente Wirklichkeit als »Ewigkeit« zu erlangen. Dieser mächtige Antrieb, dieser »Drang zu wissen«, den das Streben nach Erkenntnis darstellt, ist ein »Wille zu sich selbst«, der das sich besinnende und fragende »Selbstsein« aus den »Fesseln« lösen und ganz zu sich selbst führen will. Es ist erfüllt von einer »unendlichen Unruhe«, die leidenschaftlich begehrt, »so denken, so handeln, so leben« will, daß die »fernste Fühlbarkeit« einer transzendenten Wirklichkeit den Erkennenden aus 90 91
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dem alltäglichen Getriebensein befreit und erlöst. Wer diesen Zustand erreicht hat, wird mit einer »unvergleichlichen Ruhe« belohnt, die alle endliche Erkenntnis nicht bieten kann. Der Mensch hofft beständig, »daß zu ihm kommt, was ihn rettet«. 92 Der nach Erkenntnis strebende Mensch verharrt unauflöslich in der Spannung von Nichtwissen und Wissen. Er ist gefährdet, diese »Möglichkeit der Freiheit« zu verspielen, indem er sich in der »Unfreiheit« durch »Fesseln« binden läßt, und das redliche Eingeständnis des eigenen Nichtwissens verweigert. Nur dem strebenden Menschen wird philosophierend zuteil, »wodurch ich frei bin« 93 . Ein »objektiver Halt« ist hiermit nicht gefunden noch verbunden. So wird der »Existenz« nicht die erstrebte »Festigkeit« 94 vermittelt. Aber eine »Rundung«, die alle bestehenden Fragen beantwortet und neue Fragen verbietet, würde dem Strebenden zum »Verhängnis«. 95 Den einzigen Halt kann der Mensch auf diese Weise im »Unendlichen« finden. Den Schwebezustand zwischen Wissen und Nichtwissen darf er nicht aufgeben. Er muß sich mit einem »labilen Zustand«, der sich auf das Unbedingte richtet, aber dieses nicht als Begrenztes und als Besitz zu erwerben trachtet, einrichten. Der »endgültige Besitz dieses Absoluten« wird ihm verweigert, da die »objektive Faßbarkeit des Absoluten« nur eine vermeintliche wäre und zu »unerwünschten Bindungen« und »Mechanisierungen« 96 führte: »Das Ganze ist nicht zu wissen.« 97 Das Streben nach Erkenntnis ist vom »unvergleichlichen Zauber« des Begriffs Wahrheit erfüllt, einer Wahrheit, die das Fundament des Lebens bilden soll. Wer die Wahrheit verletzt, wer täuscht und betrügt, legt den »Keim des Verderbens« in das Streben, das dann nicht mehr von einer Gesinnung der Wahrhaftigkeit geführt wird. In dieser Wahrheit glaubt und hofft der Mensch, einen verbindlichen »Halt« zu gewinnen. So erklärt sich sein Streben nach Erkenntnis auch als Streben nach Halt, das einhergeht mit dem Zutrauen, »daß es doch Wahrheit gibt«. Hiervon wird das Streben zunächst beflügelt. Den »Halt« aber in absoluter Erkennbarkeit kann es nicht bieten. Es besteht allein das »Vertrauen«, daß ein »reines Wahr92 93 94 95 96 97
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sein« existiert. Das Bedürfnis im Streben nach Halt mag an der Unerkennbarkeit der Wahrheit kaum Genüge finden. Manche »billige und bequeme Antwort« 98 ergibt sich. Die »Täuschung« zeigt sich dort, wo der Erkennende »zwingend zu wissen meinte«. Erst durch die unbeirrbare »Redlichkeit« wird die unabweisbare »Ungewißheit der individuellen Verläßlichkeit« erkannt. Selbst die »faktisch lebensbeherrschende Wahrheit« in ihrer hypostasierten Festigkeit wird als Irrtum erwiesen. So zeigt sich, daß das vermeintlich »Wahre« gar kein »an sich Bestehendes« 99 ist, welches erkannt werden könnte. Gleichwohl existiert die Wahrheit. Sie vermag sich im »Offenbarwerden des uns entgegenkommenden Anderen« kundzutun und auf das »schlechthin Universale«, das »Umfassende des Seins selbst«, gerichtet zu sein, ohne daß dieses erkennend erfaßt werden könnte. 100 Die zeitdiagnostisch bestimmte metaphysische Unbehaustheit und manifeste »Ordnungslosigkeit des Zeitalters« kann mit einer weithin erfahrenen »Trübung des Wahrheitsbewußtseins« einhergehen. Dies aber hebt die »Wirklichkeit der Transzendenz« nicht auf. So mag auch die triste »Leerheit des Verstandes« und die stumpfe »Blindheit des erlebten Lebens« den nach Erkenntnis strebenden und in gleicher Weise Halt suchenden Menschen gleichsam an Gestaden der Unwahrheit stranden lassen. Der Mensch, der »sich zerstreuend verliert«, beruft sich auf den »bloßen Verstand«, der ihm aber so wenig hilft wie der wahlweise diesen ersetzende »bloße InW, 453. – Verwiesen sei hier auch auf die von Erich Fromm analysierten »Fluchtmechanismen« des Menschen in »Die Furcht vor der Freiheit« und beschreibt den nach Halt verlangenden Konformisten als »seelisch tot«. Es heißt dort weiter: »[Der Mensch] möchte die Freiheit haben, nach seinem Willen zu handeln, wenn er nur wüßte, was er will, denkt und fühlt. Aber eben das weiß er nicht. Er richtet sich dabei nach anonymen Autoritäten und nimmt ein Selbst an, das nicht das seine ist. Je mehr er das tut, um so ohnmächtiger fühlt er sich, um so mehr sieht er sich gezwungen, sich anzupassen. […] Oberflächlich gesehen funktionieren die Menschen im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben recht gut. Aber es wäre gefährlich zu übersehen, wie tief unglücklich sie unter dieser beruhigenden Tünche sind. Wenn das Leben seine Bedeutung verliert, weil es nicht mehr selbst gelebt wird, gerät der Mensch in Verzweiflung.« Der Mensch sucht nach Halt. Es wächst die Bereitschaft, »jede Ideologie und jeden Führer zu akzeptieren, wenn er nur etwas Aufregendes verspricht und eine politische Struktur und Symbole anbietet, die dem Leben des einzelnen angeblich einen Sinn geben und wieder Ordnung hineinbringen«. Vgl. Fromm, Erich: Die Furcht vor der Freiheit (1941). A. d. Engl. v. Liselotte Mickel u. Ernst Mickel. 8. Aufl. München 2000, 184 f. S. dort auch 103–151. 99 W, 455. 100 W, 458 f. 98
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Das Streben nach Erkenntnis und das Streben nach Halt
stinkt«. 101 Durch »vermeintlich selbstverständliche Behauptungen« wird er die »verlorene Wahrheit« nicht wiedergewinnen und also nicht wahrhaftig leben können. Dies gelingt durch eine »Selbstverwandlung des Menschen«, der sich dem »verworrenen« und »blindbewegten« Zustand entwindet und zu einem »klaren Zustand seines Wesens in seiner von ihm erfüllten Welt« gelangt. Wer alten oder neuen Illusionen folgt, scheitert. Der Mensch muß vielmehr einen »Erziehungs- und Selbsterziehungsprozeß in einer sich bildenden Welt« durchlaufen, um auf philosophische Weise sich seiner selbst als Mensch unter Menschen und in der Welt zu vergewissern. 102 Er kann wohl den »Weg der Wahrheit« beschreiten, bleibt aber in allem »Wahrheitssuchen« auch mit dem konfrontiert, was dieser entgegensteht. Er gelangt bis an die »Grenze der Klarheit«, in der auch das »bleibende Dunkel« sich andeutet. Denn die »unlösbaren Paradoxien«, die an der »Grenze der Richtigkeit« bestehen bleiben, stellen eine »Richtigkeit«, die in den »letzten Grund« vordringen will, dar. 103 Wahrheit, insbesondere die letzte, sinngebende Wahrheit, erlangt der Mensch niemals als »fertigen Besitz«. Nur im »bewegten Bewußtsein« vermag er das »Innesein des Wahren« zu erleben. So bietet das Streben nach Erkenntnis niemals den absoluten Halt. Vielmehr zeigt es sich als »schwindelerregendes Stürzen«, das den Menschen aus den vermeintlichen Gewißheiten seiner Welt herauslöst und nachhaltig verunsichert, erschüttert und in Verzweiflung bringt. 104 Denn als Fragender löst sich der Mensch aus der Selbstverständlichkeit unreflektierter Gewißheiten. Der Fragende begreift sich als Erkennender. Er sieht sich der »allgemein gültig wißbaren Welt« gegenüber und strebt unaufhörlich, von »Leidenschaft« getrieben, voran auf dem »Weg objektiver Erkenntnis«, der nicht zur Wahrheit führt, aber die »Bedingung« ihres Erwerbs ist, erforschend, erkennend, staunend und fragend, die »Krise zum ursprünglichen Wissenwollen« als »Ursprung der Philosophie« begreifend. 105 Das Streben des Menschen ist doppelter Art. Einerseits besteht die Suche nach Erkenntnis, das Bemühen, sich im bloßen »Dasein« dessen zu vergegenwärtigen, was das »Sein« ist, ohne freilich sich auf 101 102 103 104 105
W, 2. W, 3. W, 475. W, 1. P II, 372. A
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Grundzge der Philosophie von Karl Jaspers
ein fixierbares und fest bestehendes »Ziel« hin entwickeln zu können. Andererseits gibt es die Sehnsucht nach verläßlichem, stabilem, das Leben tragenden Halt, der als »objektiver Wegweiser im Wirrsal« 106 taugt, als »Trieb in uns« wirkt, der leidenschaftlich, auch existentiell drängend und bedrängend will, »daß irgend etwas endgültig und fertig sein soll« ist, daß etwas zur Gänze »›richtig‹« 107 sein soll. Dieser läuft dem redlichen Streben nach Erkenntnis, das von einem offenbarungslosen Glauben getragen sein soll, zuwider und mündet in das »Behaupten absoluter Wahrheit«. Der Strebende sucht die »bequeme Eindeutigkeit der Wahrheit« verbunden mit einem inständig erhofften, absolut geglaubten und schließlich entschieden verfochtenen »bestehenden Reich der gültigen Wahrheit« zu erlangen. Wer einen Standpunkt unerschütterlichen Halts errungen zu haben meint, in der der »Zweifel an allem Wahrsein« negiert, aber auch das Streben nach Erkenntnis verboten ist, hat den Weg der Philosophie verlassen. Das Behaupten einer vermeintlich fest gegründeten, mit absolutem Anspruch vertretenen Wahrheit bedeutet, zu verkennen, daß die »wesentliche Wahrheit« erst jenseits des »wissenschaftlich Zwingenden« anfängt. Wer zugleich im Streben nach Halt die vermeintliche »Wahrheit eines unwandelbar Gültigen« 108 erreicht haben will, maßt sich ein Wissen an, das die gewünschte Stabilität des absolut Gültigen und vorgeblich unanfechtbar Wahren als erkennbar ausgibt, und strebt nicht mehr nach Erkenntnis. Er mag sich »einbilden«, die Wahrheit zu kennen. Er mag daraus das »volle Recht zu handeln« ableiten, »doktrinär beschränkt« oder »pharisäisch selbstgewiß« 109 handeln. Nichts anderes erscheint dem Menschen, der die fraglose Selbstverständlichkeit verloren und im Strudel der Reflexion zu versinken droht, als wünschenswert. Ein solcher Mensch mag zuweilen gar den Uneinsichtigen, der nicht erkennt und nicht akzeptiert, was als wahr gesetzt wird, mit absolutem Anspruch belehren wollen. Dieses Streben nach Halt ist durchaus verständlich. Der Mensch sucht dem Schwindel der Freiheit zu entgehen. Er möchte Gewißheit, Verläßlichkeit und Orientierung. Ist er sogar bereit, das Streben nach Erkenntnis dieser zu opfern? Es wäre eine trügerische Sicherheit, die 106 107 108 109
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P I, VII. PsW, 304. Vgl. PsW, 304; W, 456. W, 347.
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Das Streben nach Erkenntnis und das Streben nach Halt
er erwerben würde. Doch er versucht, der »neuen Verzweiflung« zu entgehen: »In jede gelebte Stunde dringt der Sinn der Wahrheit, der uns aufgegangen ist, vernichtigend oder steigernd. Durch Zweifel kommen wir zum Gewißsein, aber der Wandel in der Zeit läßt uns in neuen Zweifel geraten. Durch Verzweiflung kommen wir zum erlösenden Erfahren des Ursprungs, aber der Gang der Dinge in der Zeit bringt uns neue Verzweiflung.« 110
Der Mensch strebt nach Erkenntnis. Vor allem aber sucht er Halt, eine stabile, verläßliche Ordnung des Lebens – und entwickelt »Gehäuse«.
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II. Konstruktionen des Seins
Das menschliche Streben nach Erkenntnis geht einher mit dem schier unabweisbaren Bedürfnis, Fragen zu stellen. Diese Fragen beziehen sich auf all das, was nicht unmittelbar aus sich selbst heraus einsichtig ist. Demgegenüber läßt sich das Streben nach Halt als das nicht minder bedrängende Verlangen des Menschen beschreiben, das über das auf Erkenntnis gerichtete Fragen hinaus nach Ordnung, Ruhe und Stabilität sucht. Wer nach Halt strebt, wünscht sich, einfach ausgedrückt, nichts sehnlicher, als daß seine Fragen adäquat beantwortet werden. Nicht immer aber ist das leichterdings möglich. Insbesondere jene metaphysischen Fragen, die Immanuel Kant in der Vorrede zur ersten Auflage der »Kritik der reinen Vernunft« kenntlich macht, entsprechen jenen, durch die die »menschliche Vernunft« gleichsam »belästigt« wird. Diese Fragen sind auch in ihrer existentiellen Relevanz lebensgründend und vielleicht gar lebenswichtig. Sie müssen gestellt werden, denn sie sind unabweisbar und durch die »Natur der Vernunft selbst aufgegeben«. Sie rational zu beantworten in der Weise, daß das menschliche Bedürfnis, diese Fragen zu stellen, gestillt wird, ist aber redlicherweise unmöglich, »denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft«. 111 Obwohl sie der menschlichen Vernunft entstammen, ist es nicht möglich, auf Fragen dieser Art einsehbare Antworten zu finden, die dem Anspruch intellektueller Redlichkeit zu genügen wüßten. Das Streben nach Halt ist ausgeprägt. Jaspers hat dies bereits früh gesehen. Die Moderne ließe sich aus Jaspersscher Perspektive als Zeitalter der Orientierungslosigkeit bestimmen. Der staunende, neugierig auf die Welt und die rätselhaften Phänomene des Lebens ausgerichtete, sich und diese erkennen wollende Mensch befindet sich in der »Stimmung der Freiheit« in einer »Beziehung zwischen freien Menschen« und führt ein »Leben in der Schwebe«. Obzwar er den gesicherten Boden verläßlicher Erkenntnis begehrt, verharrt er in einem »labilen Gleichgewicht«, das allein für »Einzelnes« und 111
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»Begrenztes« festgegründete Erkenntnis möglich macht. Leicht läßt er sich mitreißen, beseelt vom »Enthusiasmus«, zu mannigfachen, vielgestaltigen Forschungen in der Welt. Das Pendant hierzu ist die Enge, das »Leben in der Stickluft von Regeln und Grundsätzen«, die nur bedingt gültig sind, aber für unbedingt genommen werden. Die »Welt der Gebundenheit« bildet den Gegenentwurf zur »Welt der Freiheit«, die hymnisch mit dem »Ozean« und »Sternenhimmel« verglichen wird, und einem »Käfig« gleichkommt. Wer sich in diesem »Käfig« befindet, mag gleichwohl hinausschauen mit einem »schnellen, erregenden, aber auch schnell vergessenden Blick«. Der Mensch in der »Welt der Gebundenheit« bleibt unvermindert durch sich selbst gefesselt. Betrachtet man diese konstrastierten Welten der »Freiheit« und »Gebundenheit«, so fällt es gewiß nicht schwer, eine der beiden Möglichkeiten zu bevorzugen. Folgen wir aber Jaspers’ Ausführungen, so ist der »Käfig« zwar nicht notwendigerweise selbstgestaltet, aber der in ihm gefesselte Mensch ist aufgrund eigener Versäumnisse in diesem gefangen. Er hat den »Käfig« gewählt und ist an diesen gebunden. Denn er ist durch sich selbst, »durch sein eigenes Wesen gefesselt«. Dies mag eine individuelle Unzulänglichkeit bezeichnen, eine selbstverschuldete Unmündigkeit, die Bequemlichkeit und Trägheit des Geistes, der sich die Mühe der Reflexion ersparen will und sich in der Behaglichkeit einer doch bei Lichte besehen bedrückenden Enge ignorant und selbstzufrieden eingerichtet hat. Vielleicht hat er das Fragen verlernt und gibt sich mit den in der »Welt der Gebundenheit« vorfindlichen Antworten zufrieden. Er strebt nicht länger nach Erkenntnis. Er hat Halt gefunden. Dieser Halt gilt absolut. Aber er befriedigt das Bedürfnis, Fragen zu stellen, nur scheinbar, bloß vordergründig. Warum wählt ein Mensch einen solchen Zustand? Warum begnügt er sich mit einer trostlosen Existenz in der »Welt der Gebundenheit« 112 , die ihm schier die Luft zum Atmen rauben müßte? Der Mensch lebt in einer rationalisierten Welt. Überall scheint ein »phantastischer Erfolg« gegenwärtig zu sein. Dennoch ist die Kehrseite dieser vermeintlichen Erfolgsgeschichte der Moderne das »Bewußtsein des Ruins« und eine stetig wachsende »Angst vor dem Ende«. Der »Apparat«, von Technik und Rationalität bestimmt, ist das Signum dieser Epoche schlechthin. Mit der Vollendung der technischer Rationalität scheint auch auch die Vernichtung, die Auf112
PsW, 332. A
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lösung jeglicher Sinnhaftigkeit menschlichen Lebens, untrennbar verbunden zu sein. So befällt den Menschen, der eigentlich nach Erkenntnis strebt, eine »Lebensangst« vor den Möglichkeiten der Zukunft, die zu einem »unheimlichen Begleiter« 113 wird. Eine diffuse, doch allumschließende »Angst« macht dem in ihr befangenen Menschen Glauben, er versänke wie ein »verlorener Punkt im leeren Raum«. 114 So erfährt er die existentielle »Verlassenheit«, die das Janusgesicht »zynischer Härte« zeigt, aber nur die Angst verbergen will, eine Angst, die von den fragilen, vermeintlichen »Sicherheiten« und Sicherungsmechanismen der Moderne kaschiert werden soll, aber letztlich zu einer inneren Lähmung führt. Nur in der religiösen oder philosophischen Orientierung wird ein Ausweg offeriert. Der Ängstliche ergreift jeden beliebigen scheinbar »objektiven Halt«, der dann doch niemals zu erfüllen weiß, was der verzweifelt nach Halt strebende Mensch sich hiervon verspricht. Im Gegenteil spürt er in der »verabsolutierten Daseinsordnung« eine noch bedrückendere, »unbeherrschbare Lebensangst« und wird von dieser ganz erfaßt. 115 Es ist somit freilich ein durchaus verständliches Streben des Menschen, eine »unvergleichbare Gewißheit« zu suchen, die Orientierung bietet. Die »Krise des Nichtwissens«, in der der Erkennende haltlos wäre, soll gar nicht erst zugelassen werden. Verständlicherweise scheut er die Fragen, die Ratlosigkeit vor »endlosen Möglichkeiten«, die sich im Stadium der Freiheit ergibt. So will er die stets »unzureichende Einsicht«, auf deren Grundlage er eine »Entscheidung« treffen müßte, vermeiden. Genauso möchte der Halt suchende Mensch der existentiell bedrohlich anmutenden »Angst in der Freiheit« entgehen, während er von einer »Angst vor der Freiheit« bestimmt ist. 116 Diese »Angst« läßt den Menschen nach einer gleichsam erlösenden inneren Stabilität suchen, nach einem Haltepunkt, an dem er sich ausrichten und aufrichten kann. An diesem Ort der Ruhe wendet er sich nun nicht mehr der Erkenntnis zu, sondern orientiert sich an »Festigkeiten, als ob sie absolut wären«. 117 Diese nimmt er freilich für absolut gültig, um das fragile Selbst, das die Frage nach 113 114 115 116 117
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GSZ, 56. GSZ, 57. GSZ, 58. P II, 183 f. W, 543.
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dem, »was denn eigentlich ist«, nicht mehr erträgt, scheinbar zu retten. Er spürt, daß alles »schlechthin vergänglich« erscheint und fragt »zwischen Anfang und Ende« unausgesetzt »nach Anfang und Ende«, um sich endlich zu stabilisieren – und Halt zu gewinnen. 118 Das Streben nach Halt ist konstitutiv für ein innerlich tief beunruhigtes, beständig suchendes und sich selbst fragliches Lebewesen. Der Mensch ist zudem der machtvollen »Daseinswirklichkeit des Trieblebens« ausgesetzt und fühlt sich in einem beständigen »Getriebensein« zur »Befriedigung« gedrängt. Er will das »Dasein« erhalten, hat »Angst vor Bedrohungen«, die er gedanklich antizipiert. Diese Gefährdungen beeinträchtigen die »Lust im Daseinsgenuß« und lähmen das »Gefühl der Daseinserweiterung«. Also strebt er nach Sicherheit, ist gleichwohl niemals »eigentlich zufrieden« und gelangt an »kein Ziel«, bis er letztlich stirbt. 119 Das Streben nach Halt ist, so läßt sich hieraus folgern, das menschliche Bemühen, diese trügerische Sicherheit zu verwirklichen und sich gegen Künftiges, das als bedrohlich beurteilt wird, zu versichern. Dieser scheinbar verläßliche Halt aber bleibt letztlich illusorisch. Die »unbestimmte Angst« drängt den Menschen voran, versetzt ihn in Bewegung und läßt ihn spüren, daß er sich »in steter Verwandlung« und Veränderung aus einem »Dunkel, in dem ich nicht war«, zu einem »Dunkel, in dem ich nicht sein werde«, hin entwickelt. Er wendet sich »Dingen« zu, über deren Bedeutung für sein flüchtiges Leben er zu zweifeln beginnt. So gleitet der Mensch dahin und hält für »ewig verloren«, was er nicht ergreift, ohne zu wissen, warum er etwas tut oder unterläßt. Beständig auf der Suche nach einem »Sein«, das bleibend ist, »das nicht nur verschwindet« und sich entzieht, währt des Lebens labyrinthisch irrer Lauf. So möchte der Strebende sein Fragen beendet sehen, ein verläßliches Wissen erwerben, eine sichere Erkenntnis sein eigen nennen. Vermittels derer könnte er sich, glaubt er, in der Welt orientieren und ruhig und gesichert leben. Er müßte sich nicht mehr in »täuschenden Fluchten« verlieren. Aber er sieht doch das »unbestimmbare Dunkel« und ängstigt sich, in diesem zu versinken. 120 Dagegen versucht der Mensch sich mit »objektiven Gedankenbauten« 121 zu schützen. Er 118 119 120 121
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ist bemüht, sich mit einer »künstlichen Enge« gegen die bedrängenden Fragen zu immunisieren. Das »vermeintliche Wissen« will er einem »Anker« gleich auswerfen, um einen »Halt« zu finden, um Sicherheit durch Stabilität versprechende »Konstruktionen« 122 zu erreichen. Diese sollen ihm zu einem wohlgeordneten Leben in einer rätselhaften Welt verhelfen. Der Freiheit in der Weite des offenen Horizontes versucht der Mensch also zu entgehen. In der Enge eines konstruierten, festgefügten Ordnungsmusters findet er aber nur eine unechte Ruhe. Er sucht in diesem konstruierten Gefüge das »Wesentliche« und »Eigentliche«. Zuweilen gebraucht er die künstlich erstellten und absichtsvoll gestalteten Ordnungsmuster als »Hilfsmittel« und »geeignete Ideologien« für ganz andere Ziele und »Zwecke« 123 und versucht sich auch mit »Illusionen« über die Wirklichkeit hinwegzutäuschen. Es mangelt ihm an Kraft, mit dem »Grunde der Dinge Fühlung zu gewinnen«. Das zeigt sich auf dreierlei Weise, in der mangelnden Bereitschaft, sich der Realität zu stellen und diese zu akzeptieren. Weiter ist dies spürbar im Bemühen, die Realität abzuwerten und so nicht-sehen-wollend über sie hinwegzukommen und in der Verdekkung der Realität durch »Halb- und Scheinrealitäten« zu verharren. Diese bleiben blind gegenüber dem »handgreiflichst Realen«. Oder er gibt im bereits erwähnten Streben nach Halt, dem »Bedürfnis nach grenzenloser Sicherung« recht eigentlich das Leben selbst preis. Sorge trägt der Mensch dafür, das Leben zu sichern. In verzweifelter Ratlosigkeit nach Halt suchend wendet er sich diesen absolut gesetzten »Gehäusen« zu, die ihm allerdings auch nicht den stabilen Halt gewähren, den er sich erhofft. 124
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Weltanschauung als »Gehuse«
Der Begriff »Weltanschauung« bezeichnet die Totalität des geschlossenen Horizontes. Wer sich an eine »Weltanschauung« gebunden weiß, besitzt vorgefertige Antworten mit dem Anspruch absoluter Gültigkeit. Ein solcher Mensch hat sich der Fraglichkeiten und Fragen des Lebens, die sich ihm selbst und seinen Mitmenschen stellen, 122 123 124
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P I, 12. PsW, 36. W, 775.
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Weltanschauung als »Gehuse«
gewissermaßen entledigt. Aus dem prozessualen-dynamischen Fortschreiten des Lebens ist er in den gleichmäßigen Rhythmus einer statischen, kritiklos akzeptierten Lebensform gewechselt. Die »Weltanschauung« bietet die Erklärung von Mensch und Welt in umfassender Weise. Sie gewährt Halt und Stabilität als Summe der »Ideen«, die vor allem im politischen Bereich wirken. Das »Letzte« wird dargestellt als lebensbegründende religiöse Antwort auf die Frage nach dem Sinn menschlicher Existenz. Dies wird als das »Totale des Menschen« bezeichnet. Es ist eine absolut gesetzte partikulare Sichtweise, die den Menschen beispielsweise zum »homo oeconomicus« stilisiert und sein Wesen wahlweise biologistisch, psychologisch oder ökonomisch verbindlich glaubt erklären zu können. 125 Die »Weltanschauung« ist durch und durch von Menschen gestaltet, aber als universell gültiges Deutungsmuster der Wirklichkeit im weiteren von dieser gelöst. Eine »Weltanschauung« ist gebunden an »rational gefaßte Prinzipien«. Sie wird sodann von allem, was sie nicht zu beschreiben versucht, aber zu erfassen und prägend zu gestalten vorgibt, getrennt. Als universelles Deutungsmuster bleibt sie unbeeinträchtigt von »Hemmungen«, »Verschiebungen« und »Umgestaltungen«, die in der Wirklichkeit, auf die sie sich eigentlich bezieht, vor sich gehen. Veränderungen werden ignoriert oder negiert. Die »Weltanschauung« nimmt den Charakter eines »Gehäuses« an, das gleichsam die gesamte Wirklichkeit umschließen und deuten will. Das Ordnungsmuster muß abgeschlossen und »fertig« gestaltet sein. Darum wird nur berücksichtigt, was sich fügt. Alles übrige wird 125 PsW, 1. – Jaspers verwendet zuweilen den Begriff der »Weltanschauung« synonym mit dem des »Weltbildes«. In der »Psychologie der Weltanschauungen« wird zunächst das »Weltbild« als »unabgeschlossen« bezeichnet, das noch nicht das »Ganze« (1) selbst ist, sondern sich nur auf dem Weg zu diesem befindet, also die stets »korrekturbedürftige«, immer »partikulare Erkenntniswelt« (Einf, 58) bezeichnet. Zugleich aber identifiziert Jaspers dann mit dem subjektiv konnotierten Begriff des perspektivischen »Weltbildes« das absolut gesetzte »Weltbild« zur einzig möglichen »Weltanschauung«, da der Mensch »unwillkürlich«, warum, schreibt Jaspers nicht, »das eigene Wissen, das eigene Weltbild auch beim anderen als irgendwie vorhanden« (PsW, 142) annimmt. Philosophiegeschichtliche Begriffsdifferenzen, die den Begriff des »Weltbildes« von dem der »Weltanschauung« dahingehend unterscheiden, daß ein »Weltbild« die letzten Fragen nach Sinn und Zweck des Lebens nicht beantwortet (so wie gemeinhin von einem naturwissenschaftlichen »Weltbild« und nicht von einer naturwissenschaftlichen »Weltanschauung« gesprochen wird), ignoriert Jaspers. Vgl. dazu auch: Ulfig, Alexander: Lexikon der philosophischen Begriffe. Eltville am Rhein 1993, 478.
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als »nichtig« und »wesenslos« betrachtet und verworfen. Es ist nur Material, das dem Bau des »Gehäuses«, für diese Ordnung des Lebens, nicht dienlich ist. 126 Nur sofern dieses »Gehäuse« vorläufig bleibt, ein aktual gültiger, gegenwärtig »›richtiger‹ Ausdruck des substantiellen Lebens«, vermag es eine bedeutsame Rolle im Lebensprozeß einzunehmen. Es gilt, trotz der Unbedingtheit, mit der es gestaltet wird, prinzipiell als »überwindbar«. 127 Aus dem altbewährten, tradierten »Gehäuse« können im Zuge eines »schöpferischen Neubeginns« auch wiederum »neue Gehäuse« entwickelt werden. 128 Der Mensch lebt in der Zeit und kann nichts zeitlos Gültiges erkennen oder sich zu eigen machen. Gleichwohl sucht er die »für immer richtige Weltanschauung« als stabilisierenden Außenhalt und Sicherung »von außen«. Das Streben nach Halt gibt sich nicht damit zufrieden, das lebensbegründende »Letzte« nur in der Intention einer »Idee« zu finden. Denn diese kann zwar im »Kreis der Betrachtung«, aus der Perspektive somit, als das individuell »Absolute« gelten, aber nur in der subjektiven Aneignung vollzogen werden. Die »Weltanschauung« bleibt rein äußerlich. Auf die Fragen, die den Menschen bedrängen, bietet diese Antworten, die dem selbsterarbeiteten »Gehäuse« 129 vorgezogen werden. Das Streben nach Halt wird befriedigt. Das Streben nach Erkenntnis hingegen ist beendet. In vollem Sinne »ernst« lebt der Mensch indessen nur, wenn er »sein Gehäuse« in ständiger Bindung an die Wirklichkeit des Lebens gestaltet. Erst an den »Grenzen« ist er »erschütternden Krisen« ausgesetzt, die das bereits Erarbeitete in Frage stellen und »neue Impulse« bieten. Der Mensch fürchtet aber, daß er den »Krisen« nicht gewachsen sein könnte. So strebt er einen verläßlichen, dauerhaften Halt an. Halt glaubt er nur in der Einstimmung mit einer absolute Geltung beanspruchenden »Weltanschauung« 130 finden zu können, die ihn von existentiellen »Krisen«, den »Grenzsituationen«, die als Orientierungs- und Bewährungspunkte des Menschen gelten, abschottet. So läßt er sich und sein Leben nicht mehr befragen, da das »fixierte Bild der Welt« und der festgefügte Kosmos der »Werte« alle Fragen klärt, noch ehe sie gestellt sind. 126 127 128 129 130
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PsW, 351. PsW, 28. PsW, 352. PsW, 28. PsW, 353.
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Weltanschauung als »Gehuse«
Das Kennzeichen eines äußerlich angenommen »Gehäuses« ist die rationalistische Struktur desselben. Das Ordnungsmuster beansprucht umfassende Gültigkeit, eine bewußte »Unbedingtheit des Begrenzten«. Der Absolutheitsanspruch zeigt sich in prinzipientreuem Fanatismus, der die Pluralität des Lebens bewußt und gewaltsam strukturiert. Das, was sich theoretisch nicht fügt, wird dem »Gehäuse« entsprechend geordnet. Die Wirklichkeit der Welt soll an die rationalistische Struktur des »Gehäuses« angepaßt werden. Die Struktur des »Gehäuses« selbst bleibt unangetastet. 131 Das Verbindende aller »Gehäuse« ist der Rationalismus. Dem Menschen wird »Allgemeingültiges« und »Notwendiges« präsentiert. Ein festes Konstrukt von Regeln, Prinzipien und Verhaltensmustern, eine hermetische »Weltanschauung«, erfaßt alle »Wertungen« und regelt die Lebensweise mit absolutem Anspruch. Sie wird dem »Bedürfnis nach Erleichterung, Beruhigung und nach Macht« in gleicher Weise gerecht. Die »Existenz« 132 wird gerechtfertigt, ihre Sinnfragen werden gedeutet. Ein »behagliches Wohnhaus« für ein verzweifelt Halt suchendes Individuum steht bereit. Unbewußt aber bleibt die »Angst vor der Reflexion«. 133 Relative Wertmaßstäbe werden absolut gesetzt, jeder Ausbruch aus dem »Gehäuse« wird sanktioniert. Der Mensch in diesem »Gehäuse« verharrt stets im »Fixierbaren« und »Endlichen«. Er bleibt an das rationalistisch Registrierbare gebunden, über das hinaus er »nichts mehr sieht«. Die »Unendlichkeiten« sind in dem »Gehäuse« allein »theoretisch gedacht«, aber sie werden »nicht erlebt«. Alles wird in eine in sich stimmige, folgerichtige, doch möglicherweise die abzubildende Wirklichkeit verkehrende »Begriffsgruppe versenkt«. Nur das begrifflich Denkbare wird für existent ausgegeben: »Nur was der Verstand in Begriffen denken kann, gibt es, und dieses ist als das Wesentliche des Weltbildes, der Einstellungen, des Handelns und der Be131 PsW, 305. Parallel zu Karl R. Poppers evolutionärer Erkenntnistheorie gesetzt bedeutet dies, daß die Theorie kritisiert, verändert oder gar überwunden werden muß. Wird beispielsweise behauptet, es gäbe nur weiße Schwäne, steht der Wissenschaftler, sofern er das erste Mal einen schwarzen Schwan zu Gesichte bekommt, vor einer Entscheidung: Er kann die Theorie mit absolutem Anspruch behaupten und sämtliche schwarzen Schwäne selektieren. Oder er selektiert gewissermaßen die Theorie und betrachtet sie als falsifiziert resp. widerlegt. Vgl.: Popper, Karl R.: Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf. Deutsch v. Hermann Vetter. Hamburg 1993. 132 PsW, 306. 133 PsW, 305.
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Konstruktionen des Seins
ziehungen zwischen den Menschen angesehen. Alles ist klar und alles hat seinen Grund. Es besteht die Forderung, daß alles verständig sein müsse, daß nur aus Zwecken gehandelt und gelebt werde, denn man weiß Zweck und Sinn und kennt die Mittel. Der Halt des Menschen liegt hier im Verstande, im objektiv Geltenden, in den Eigengesetzlichkeiten des Rationalen sowohl wie in seinem eigenen Denkenkönnen. Er fühlt sich sicher, geborgen als Denkender. Da das Denken zu allem taugt, biegsam und zu jeder aus welchem Bedürfnis auch immer stammenden Ideologie verwendbar ist, hat der Rationalismus zwar eine Menge verschiedener besonderer Inhalte. Immer aber appelliert er an den Verstand, nicht an irgend etwas anderes, immer ist er besonnen, überlegen und leicht hochmütig, immer ›im Recht‹, immer doktrinär.« 134
Bereits in dem Frühwerk »Allgemeine Psychopathologie« hat Jaspers die »Gehäuse«, wenn auch noch nicht unter diesem Begriff subsumiert, dezidiert kritisiert. Eine Theorie, die ein Moment der rationalistischen Welterklärung ist, versucht der »Endlosigkeit« des vorhandenen Materials Herr werden, indem schlechthin alles theoretisch geordnet, gegliedert und strukturiert, auch simplifiziert wird. Jeder »Schritt echten Entdeckens« wird von Jaspers als »Überwindung von Endlosigkeit« beschrieben, der notwendig, ja unvermeidlich ist. Aber er wird zu einem Fehler, sofern die »Endlosigkeit« gar nicht mehr erfahren wird, und in der »Betriebsamkeit« einer »faulen Forschungshaltung«, die das partikular Erkannte absolut setzt, nicht mehr den »Stachel der Aufgabe« verspürt wird. Die »erfahrene Endlosigkeit« ist gegen »neue Möglichkeiten« gerichtet und versucht alle vorfindlichen Phänomene in eine rationalistische Ordnung einzupassen. Für die Phänomene selbst aber ist sie blind geworden. Die »Hilfskonstruktionen« und »Hilfsvorstellungen« behindern und verhindern, statt die »vorwärtsgehenden Schritte« und die »Pulse im Rhythmus der Forschung« zu begleiten. Die »Erkenntnis«, indem sie zunächst zwar »das Endlose durch endliche 134 PsW, 307. Vgl. hierzu auch die Kritik Eric Voegelins an den absolut gesetzten Ordnungsmustern und Konstruktionen des Seins. R. Braach bemerkt hierzu: »[Voegelins] Kritik wendet sich gegen jeden Wahrheitsanspruch und gegen jeden Vollkommenheitsanspruch. Die Idee eines Weltganzen als Einheit, in der sich der unendliche Prozess der Vervollkommung des Ich abspielt, lehnt er ab. Der Mensch muss die Rolle seiner Existenz in der Ungewissheit ihres Sinnes spielen. Voeglin gibt damit zu verstehen, dass es keinen Punkt außerhalb der menschlichen Existenz gibt, von dem aus ihr Sinn betrachtet und ein bestimmter Handlungsverlauf geplant werden kann. Er fordert die Offenheit des Fragens und Suchens.« Vgl. Braach, Regina: Eric Voegelins politische Anthropologie. Würzburg 2003, 482.
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Weltanschauung als »Gehuse«
Einsichten beherrschbar« macht, will dann allen Phänomenen die bereits erkannte, vermeintlich absolut gültige Konstruktion »gewaltsam« aufzwingen. Jaspers ist überzeugt, daß eine Theorie eigentlich der »Ermöglichung von Fragestellungen« 135 , die der »Erfahrung voranhilft«, dienen soll. So aber mündet dies bloß ins »Leere der Abstraktion«. 136 Jaspers nennt die in abstrakten »Begriffskonstruktionen« Befangenen »trunkene Philosophen« 137 : »Wenn eine theoretische Erklärung ihre Mittel unmerklich so wählt, daß die Kombination der ihr zur Verfügung stehenden Faktoren und Abwandlungsmöglichkeiten jeden vorkommenden Fall begreiflich macht, derart, daß niemals irgendein Fall der Theorie widerlegen kann, dann bin ich in die Endlosigkeit geraten, die alles und darum nichts erklärt durch ein sich nur ständig in den beliebigen Kombinationen wiederholendes Spiel.«
Aber auch eine »anfänglich eindeutige Theorie« vermag niemals das Ganze zu erfassen. Sie wird stets auf »Widerstände« und »Wirklichkeiten« stoßen, die ihr unerklärlich bleiben und ihre partikulare Gültigkeit erweisen. Statt aber die »Theorie« dann zu überwinden, werden in dem »Gehäuse« ergänzende »Hilfstheorien« gebildet, obzwar die eigentlich absolut gesetzte, »anfänglich eindeutige Theorie« schon widerlegt ist. Alle »denkbaren Möglichkeiten« werden apriori für »erklärbar« gehalten. Dieses »Gehäuse«, das in einem »verwirrenden Zauberspiel« zugleich »alles« und damit freilich faktisch »nichts« erklärt, wird von »Gläubigen«, die den absoluten Anspruch dieses »Gehäuses« verinnerlicht haben, fanatisch verteidigt und gerechtfertigt. Das »endlose Spiel der Anwendung« wird betrieben, wenn auch die »Erklärungen«, die eigentlich niemals zureichend sind, »komplizierter« werden. Der in diesem »Gehäuse« befindliche Menschen in der »Endlosigkeit des Allesmöglichen« mag durch seine vermeintlichen Kenntnisse als »Allwissender« erscheinen, aber er befindet sich im »Schein eines tautologischen Zirkels«. 138 Somit verharrt er unbeweglich im »Gehäuse«, glaubt aber dogmatisch den »rechten Weg« zu kennen und meint, andere belehren zu müssen. Das »Ganze«, das wirklich der »Idee des Ganzen« und nicht einer trügerischen und gefährlichen »Verabsolutierung« 139 entstammt – 135 136 137 138 139
APsy, 28. APsy, 29. PGO, 430. APsy, 29. APsy, 30. A
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die mit dem »Rechthaben« und der »Macht«, einem nachvollziehbaren, aber gefährlichen Impetus des enthusiastisch disponierten »Schöpferischen«, einhergeht, die »Redlichkeit« 140 versäumend und vergessend –, ist als »Gehäuse« doch »nie fertig«, sondern stets nur vorläufig. Mit dem scheinbar »Vollendeten einer theoretischen Gestaltung« kontrastiert, ist es, statt eines »vermeintlich erkannten objektiven Prinzips der Sache« zu behaupten, vieldimensional und perspektivisch, auch nicht richtungslos, gar »lebendig« und »grenzenlos«, zugleich »im sicheren Besitz bis dahin erworbener Systematik« 141 , die aber stets veränderbar ist, wenn es der Sache und der Erkenntnis dient. Ein »Gehäuse« kann nur ein Stadium, doch kein Ziel der Erkenntnis sein. Könnte der Mensch nicht auch ohne solche »Gehäuse« leben, die ihm die fragile Existenz in dieser Welt sichern sollen, ihn gleichsam von der Angst im menschlichen Dasein befreien möchten? Wäre es nicht menschenfreundlicher, auf diese Ordnungsmuster zu verzichten, die doch wahrhaft beängstigende Eigengesetzlichkeiten zu besitzen scheinen und die statt der erhofften Sicherheit möglicherweise neue Ängste hervorbringen? Ein »Gehäuse« – wie wohl auch die »Weltanschauung« – dient dem Menschen, sich in der Welt zu orientieren. Solche ordnenden Strukturen sind existentiell notwendig. Denn im radikalen, jegliche Mechanismen schützenden Halts suspendierenden Subjektivismus verlöre sich der Mensch an eine existenzzerstörende nihilistische Beliebigkeit. Er ist also auf Ordnungsmuster angewiesen und kann ohne sie nicht leben. Diese »psychologische Betrachtung« – vielleicht auch eine anthropologische Einsicht – basiert auf dem Gedanken, daß der Mensch ein ziemlich schwaches Lebewesen ist und verschiedener Hilfsmittel bedarf. Hierzu zählen freilich die »Gehäuse«, die Jaspers als das »Wesentliche« ansieht, wissend, »daß wir nur in Gehäusen leben können, wenn wir überhaupt leben wollen«. In der »Kraft des Gehäusebaues« sieht der Philosoph die »Kraft des Lebens« selbst wirAPsy, 715. APsy, 30. Vgl. APsy, 715. Dort heißt es: »Ein anderer Forschertypus ist der vernünftig bewahrende, der den Raum frei hält. Gering an Schöpferkraft im Entdecken radikal neuer Erkenntnisse und im Erzeugen einer beherrschenden geistigen Bewegung, ist er fähig, eine Atmosphäre zu bilden, in der das Schöpferische gedeihen kann. Sein Sehenkönnen des Positiven, seine unbefangene Kritik, sein Vermeiden aller Verabsolutierungen macht Mut. Streng ist er in bezug auf Wahrhaftigkeit und Menschlichkeit; Niveau gilt als Maßstab.« 140 141
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Weltanschauung als »Gehuse«
ken. Wenn sich aber dieses »Gehäuse« gleichsam rundet oder schließt und zu einem System von absoluter Gültigkeit überhöht wird, verfehlt es seine eigentliche Bestimmung. Dann nämlich wird das »Überspringen der Grenzen« des »Gehäuses«, jener »Grenzen«, die das »Gehäuse« als etwas Endliches und Begrenztes zeigen, die eigentliche »Lebensrettung«. Das »Gehäuse« wird in Frage gestellt und überwunden. Denn der »Auflösungsprozeß« durch die kritische Reflexion ist ein »notwendiger Faktor im Leben«, damit nicht die »unechten Gehäusefabrikate« und »überlebten Versteinerungen« bestehen bleiben. 142 Der bergende Schutz, den das »Gehäuse« bietet kann, soll vorläufig sein. Andernfalls würde es den Erkenntnisprozeß nicht nur behindern, sondern gar beenden und den provisorischen »Halt im Begrenzten« in einen höchst unphilosophischen absolut gesetzten »Halt« umwandeln, der dem Menschen sodann eine entsprechende »Weltanschauung« bietet und dem »Drang in uns zum Festen und zur Ruhe« vollauf entspricht. Es beendete den »unendlichen Taumel aller Begriffe« jäh. Der Mensch sucht »Rezepte für sein Handeln« und verlangt »endgültige Institutionen«, wünscht sich, daß der »Prozeß« endet, möchte statt eines unaufhörlichen Wandels eine letzthin gültige »Wertrangordnung« gesetzt haben, die endlich die »Geschlossenheit« und »Ruhe« eines geschlossenen Horizontes bietet, in dem alle »Fraglichkeiten« gelöst scheinen, kurzum ein »Gehäuse«, dessen absolute Gültigkeit für ihn unumstritten ist. 143 Aber – und solcherlei verhindert ein statisches »Gehäuse« – der Mensch bewährt sich erst in der »Grenzsituation«. In der Krise wird er ganz er selbst, dann, wenn er sich den »Grenzsituationen« des Lebens »offenen Auges« stellt, was freilich in einem festgefügten »Gehäuse« nicht geschehen, ja verhindert werden soll. Die Erfahrung einer »Grenzsituation« würde nämlich die Vorläufigkeit eines jeden »Gehäuses« aufs neue erweisen. Der Mensch erkennte die antinomische Struktur des menschlichen Daseins und stieße wiederum auf unabweisbare Fragen, für die die Ordnung des »Gehäuses« keine oder doch nur sehr unzureichende Antworten besäße. So muß dem Menschen vielleicht gar verwehrt werden, die Fragen zu stellen. Innerhalb einer »Weltanschauung« mit absolutem Anspruch, wie sie etwa die stoische Philosophie kennzeichnet, wird beispielsweise das konkret erfahrene Leid eines Menschen mitleidlos als natürliches 142 143
PsW, 282. PsW, 304. A
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und somit vernünftiges Geschehen beurteilt, das den Menschen darum nicht zu untröstlicher Traurigkeit und fortdauerndem Jammer veranlassen soll. Vielmehr kann er Trost in der Einsicht in die vernunftbestimmte Natur gewinnen und die eigene Vernunft dieser anpassen, den Schmerz bejahen und das Leid ertragen. Die Alternative ist, das Ordnungsmuster selbst als unzulänglich zu beurteilen. Damit ist die Autorität desselben und seiner Exegeten erschüttert. Die »Grenzsituation« gleicht einer »Wand« 144 , einer Kollision der »Existenz« mit der »Wirklichkeit«, in der der Mensch der eigenen »Hilflosigkeit« innewird und die Endlichkeit des »Gehäuses« erkennt. In ihr kann er einen »Aufschwung des Seins« erleben und die Belanglosigkeit dessen deutlich spüren, was er bis dahin für wichtig genommen hat oder was ihm als wichtig gezeigt wurde. Der Mensch begreift, daß auch das »Gehäuse« gar keine, wie es vorgibt, »sichere Insel im Ozean« darstellt und kein zureichendes »Wissen von allem« bereithält. Die Erfahrung der »Grenzsituation« 145 zeigt, daß dieses Ordnungsmuster letzthin etwas Trügerisches, bloß scheinbare Stabilität Bietendes und zu Überwindendes darstellt. Die »Furchtlosigkeit in der Überwindung der blinden Hilfslosigkeit« wird zum »Ursprung der Furcht« um das Ergreifen des wirklich Wichtigen im Leben, das »offen« und niemals »restlos durchsichtig«146 vor dem handelnden Menschen liegt, niemals letzte logische Gewißheit, aber eine »existentiell begründete Gewißheit« bieten kann. 147 Im Wagnis der Freiheit kann der Mensch sich seiner selbst vergewissern, »auf das Ganze der Existenz« gerichtet und nicht an partikulare Interessen gebunden, die »Grenzsituation des Daseins unendlich interessiert als Existenz« 148 erfassen. Das alte »Gehäuse« wird im »Hexenkessel des Nihilismus«, der der »Zerstörer des Unlebendigen« ist, das den »Schein des Lebens« hat, überwunden. Denn »alles Tote« und »Endgültige« 149 wird radikal befragt und aufgelöst. In der »fruchtbaren Krisis« 150 bildet sich eine »neue Gestalt des Lebens« 151 , die wiederum von temporärer Gültigkeit ist. Diese »Infra144 145 146 147 148 149 150 151
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P II, 203. P II, 204. P II, 205. P III, 13. P II, 206. PsW, 303. PsW, 305. PsW, 303.
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Weltanschauung als »Gehuse«
gestellung« der bis dahin vielleicht festgefügten Lebensweise durch die »Grenzsituation« erschüttert die als »selbstverständlich« angenommenen »Lebensformen« und »Glaubensvorstellungen«, in der das bis dahin »selbstverständliche Gehäuse« zunächst als »Bindung« und »Beschränkung« bewußt wird. Es geht in einen »Auflösungsprozeß« über, aus dem dann wieder ein neues, aber ebenso vorläufiges »Gehäuse« entsteht. Das alte »Gehäuse« hat seine bindende, stabilisierende Kraft verloren, und der Mensch, dieser schützenden Ordnung beraubt, ist »wie eine Muschel, der man die Schale genommen hat« 152 , so daß er sich ein neues »Gehäuse« selbst erarbeiten muß. In der absolut gesetzten Ordnung des »Gehäuses« wird die »Härte des Wirklichen« 153 in der »Grenzsituation« nicht unmittelbar erlebt. Die »weltanschaulichen Gehäuse« isolieren den Menschen gegen die »Leiden des Lebendigen« und bieten »Ruhe« statt reflektierender »Bewegung«, »objektive Rechtfertigungen« statt »absoluter Verantwortung« des Menschen im Bewußtsein seiner Freiheit. Versucht sich der Mensch also durch stabile »Gehäuse« vom »Leiden des Lebendigen« – und zugleich von der letzte Gewißheit fordernden Reflexion, die wiederum jegliche »Gehäuse« befragen und destruieren würde – zu lösen, so soll das Meiden der »nihilistischen Prozessen«, die die Unzulänglichkeit des jeweiligen »Gehäuses« erweisen, durch eine dogmatische Weltanschauung kompensiert werden. Da der Mensch aber den »Grenzsituationen« nur ausweicht, weil er sie nicht ertragen kann oder will, die »Verantwortung« eines gestaltenden »Wachsens« und »Schaffens« scheut, entspricht der »Drang in das Gehäuse« dem »Drang in das Nichts«. Das »Gehäuse« bietet eben nicht die erwünschte und ersehnte Authenzität. Auch das Streben nach Halt wird nur scheinbar befriedigt, da die »Ruhe« nicht jener entspricht, die den von inwendiger Bedrängnis Erlösten eigen, nur äußerlich angenommen, nicht aber innerlich gegründet ist. Die Antwort auf existentielle Sinnfragen, die das Streben nach Erkenntnis nicht unterdrücken kann, bleibt aus. Wer den Zustand der Reflexion mit der Annahme des »Gehäuses« beendet, der wählt ein »endgültiges Unterkriechen«, das nichts anderes bedeutet, als daß derjenige Mensch, der bewußt dem »Nichts« entgehen will, sich dem »Nichts« in der Maske einer »Weltanschauung« anheimgibt. 154 152 153 154
PsW, 281. GSZ, 182. PsW, 283. A
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Ein solches »Gehäuse« zeigt »in unmittelbarer Selbstverständlichkeit eine Einigkeit zwischen Individuum und dem Gehäuse der Objektivitäten«. Der Mensch begreift hier das Bestehende, die »Einrichtungen der Gesellschaft« ebenso wie die »ethischen Imperative« als den »Naturgegebenheiten« vergleichbar und »absolut undiskutierbar«. Er lebt, »als ob« dieses »Gehäuse« wie »seine eigene Substanz« sei und er mit diesen existentiell »verwachsen« wäre. 155 Die Geborgenheit in dem rationalistisch strukturierten »Gehäuse« ist aber nur vordergründig. Wer diese vermeintliche Behaglichkeit vorzieht, versucht nichts anderes, als den »Grenzsituationen« auszuweichen. Er sträubt sich gegen die Einwände einer kritischen Vernunft, die den absolut gesetzten Rationalismus stetig befragt, aber innerhalb des »geschlossenen Ganzen« nicht erlaubt, da die in dem »Gehäuse« geltende Ordnung rationalistisch sanktioniert, das Wissen gesetzt und möglich, das Nichtwissen scheinbar überwunden ist. Indessen ist ein solches »Gehäuse«, mag es auch mit dem Anspruch absoluten Wissens auftreten, die »Verabsolutierung eines Endlichen« – und niemals das Absolute selbst. Es ist allein eine strukturierte Vielheit von »Endlichkeiten«, die zu einem scheinbar »unendlichen Ganzen« gefügt wurden, in dem die »letzten Impulse« genauso wie die »irrationale Lebendigkeit« verweigert werden, die eigentlich bedeutsamen, existentiell bedrängenden Fragen »Wozu?« und »Warum?« unbefriedigend beantwortet oder nicht mehr zugelassen werden. In der Sicht des rationalistischen »Gehäuses« sind alle Rätsel gelöst. So kann »überall« ein vernünftiger »Zweck« gefunden sowie ein letzter »Sinn« entdeckt werden. Dies ist nur möglich, sofern »Irrationales«, das sich nicht in die rationalistische Struktur fügt, geleugnet wird. Jenes »Irrationale« ist es, das – für Jaspers – erst die Aufgabe des »Gehäuses« begründet und alles menschliche Tun beflügeln und leiten kann. Zu leben bedeutet sehr wohl, Zwecke zu setzen und diese zu verfolgen, aber mitnichten erschöpft sich das Leben allein im »Zwekke haben«. Konkrete Zwecke zielgerichtet zu setzen, ist vernünftig, nicht aber den Zweck zu überhöhen – innerhalb einer rationalistischen Ordnung des »Gehäuses« 156 , in der alles Handeln untrennbar PsW, 280 f. PsW, 308 f. – Vgl. ebd.: »Aber gerade während dies Leben das Zweckvolle und Absichtliche auf das Äußerste steigert, sieht es dies alles eingebettet in jene Unendlichkeit, wo das Fragen kein Ende finden kann und darum auch nicht entschieden wird. Alle Zwecke sind durch eine Zwecklosigkeit überwunden, in der sie ruhen, jedoch nur in 155 156
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verknüpft ist mit den Regeln, die in diesem »Gehäuse« absolut bestehen sollen. Das gilt beispielsweise für das »Gehäuse« des »Autoritarismus«. Dieser stellt die unbedingte Bindung des Menschen an ein absolut gesetztes System und den mit diesem verbundenen Gesetzen, Konventionen, Traditionen, Ritualen und Organisationen dar. Jeglicher Widerspruch gegen das »autoritativ Objektive« ist als häretisch bestimmt. Absoluter Gehorsam wird verlangt. Eine festgefügte »Weltanschauung« besitzt die »stärkste Kraft der Prägung«. Die ihr folgende »Mehrzahl der Menschen« wird bei einer erfolgenden »Befreiung vom Autoritarismus« im »Nihilismus« 157 schier versinken. Denn die kritische Reflexion stellte die »Totalitäten« als mögliche »Gesichtspunkte« und Betrachtungsweisen heraus, aber nicht als absolut gültige »Einsichten«. Wer zuvor an die »Totalität« glaubte, mag sich nun dem Strudel nicht entziehen, indem scheinbar »alles Feste« endet. 158 Dem Autoritarismus eigentlich diametral entgegenstehend, aber gleichzeitig ein verwandtes »Gehäuse«, ist der »Liberalismus«, der hier nicht als Erscheinungsform des politischen Lebens betrachtet wird. In der Negation von Autorität wird der »Halt im Begrenzten« in der endlichen Individualität entdeckt. Es ist die »Willkür des Individuums«, die sich selbst absolut setzt. Aus dem »Bewußtsein der eigenen Kraft« und im Vertrauen auf einen absoluten subjektiven »Halt« ordnet sich das Individuum das ihm Zugefallene, etwa Glück, Gesundheit und Erfolg, als eigenes Verdienst zu. Es gibt sich dem »Bewußtsein der Macht« hin und ist tendenziell tyrannisch, »ametaphysisch« und »totalitätslos«, blind gegenüber den »Unendlichkeiten«, die es als nicht berechenbare, wertlose, somit »leere Endlosigkeiten« betrachtet. 159 Die Antworten, die ein absolut gesetztes »Gehäuse« auf die Fragen des Menschen hat, bleiben zwar schal. Doch ein solches System bietet, wie Jaspers zugesteht, ein begrenztes Behütetsein, eine Ordnung, in der der Mensch zeitweilig beruhigt leben kann. In diesem Gefüge wird ihm in »Betrachtung der zeitlosen Notwendigkeit« die intensivster Verfolgung der Zwecke, nicht im Verzicht auf sie. Leben ist Zwecke haben, aber Zwecke haben ist noch nicht das ganze Leben.« 157 PsW, 320 f. 158 PsW, 288. 159 PsW, 322. A
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eigene »zeitliche Existenz« nahezu »gleichgültig«, sofern er sich an den »zeitlosen Geltungen« und »ewigen Gesetzen« orientiert. 160 Aber – und so artikuliert sich der Einspruch gegen die rationalistischen Systeme – die Einsicht in die Notwendigkeit solcher Gesetzmäßigkeiten mag tröstlich sein. Die damit einhergehende Bedeutungslosigkeit des Lebens wird, bei näherer Betrachtung, offenkundig. Das Vergängliche erscheint als das Nichtige und die Bewährung in der Wirklichkeit wird belanglos in der »kristallenen Klarheit« des Systems. Die »Grenzsituationen« der Entscheidung lassen sich rationalistisch nicht erklären noch besitzen sie eine innere Folgerichtigkeit. Die »Erfahrung der Paradoxien«, nur als Teil der vernünftigen Ordnung gesehen und beurteilt, zeigt dem »Geist«, daß die Wirklichkeit der Welt nicht mit dem begrenzten Bild einer absolut gesetzten »Weltanschauung« identifiziert werden kann. Das »Letzte« und Wesentliche sind nicht rationalistisch auflösbare »Grenzsituationen« und »Paradoxien«. Wer diese erfährt, spürt die verändernde »Kraft« und nimmt bewußt die »Verantwortung«, die er selbst trägt, wahr, eine Verantwortung, die er als »absolut erlebt«. 161 Dieses Erlebnis läßt sich nicht rationalistisch formulieren noch verallgemeinern. Auch der rationalistisch orientierte Mensch entdeckt die »Grenze« und das »Paradoxe«. Aber gegen die »Erfahrung des absolut Irrationalen«, das die »subjektiven Kräfte unserer Existenz« 162 wecken und zu dem »Aufschwung des Seins« 163 führen kann, ist er gleichsam abgeschottet. Das Leben, das sich dem »Wagnis« stellt und das tradierte »Gehäuse« in Frage stellt, bleibt insofern aus, als daß etwa der »Tod des nächsten Menschen« oder das »Wertvernichten« in eine »Theorie«, in eine rationalistische Konstruktion, integriert ist und erklärt wird. Indem er auf diese Weise »›den Sinn deutet‹«, statt die »Bewegung des Lebens« und sich den existentiell bedrängenden Fragen zu stellen, erfährt er bloß das »Rationale einer Formel«. So wird das schier Unverständliche, das dem Menschen in der »Grenzsituation« widerfährt – wie dies exemplarisch im Abschnitt »Hiob« gezeigt wird –, rationalistisch subsumiert und mit der im jeweiligen »Gehäuse« 164 herrschenden Logik erklärt. Diese Logik übrigens setzte Hannah 160 161 162 163 164
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PsW, 309. PsW, 310. PsW, 311. P II, 204. PsW, 311.
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Weltanschauung als »Gehuse«
Arendt mit jenem »Zwang« gleich, der in ideologischen Systemen anstatt der »angeblichen Erbarmungslosigkeit der Natur« als »Unterdrückung des Menschen durch den Menschen« herrscht, ganz gleich, welche Prävalenz geltend sein sollte. In dieser Logik wird das »inhärente logische Moment« als »Zwang« für die richtungslosen, haltsuchenden Menschen als »Orientierung« 165 angeboten. Dies wird in ähnlicher Weise auch in den »Gehäusen« praktiziert, die nicht die »persönliche Einsicht« und das allein aus dieser erfolgende Handeln unterstützen und fördern, da es dort auf die »generellen Werte«, jedoch nicht auf den einzelnen Menschen ankommt. Allein die »›Sache‹« wird betont, während sich das Individuum in »Selbstverachtung« den »Werten« unterordnet, diesen dient und seine »›Würde‹« einzig in der Realisierung fremdgesetzter »genereller Werte« gewinnen soll. Die Wertmaßstäbe sind rationalistisch konstruiert und inhaltsneutral. Sie etablieren eine totalitäre Ordnung, die das Individuum vordergründig stabilisiert. Näher betrachtet wird das Individuum destabilisiert, da es im »Festhalten an den absoluten Werten« eine vermeintliche Sicherheit erreicht, die es in »individuellen Situationen«, in der diese »Werte« kaum bedeutsam sind, sofort verliert. Es ist verunsichert. Die Stabilität wird also nur innerhalb des »Gehäuses« erlangt, jenseits desselben findet es aber keinen verläßlichen Halt, auch nicht an den »absoluten Werten«. Deren offenkundige relative Gültigkeit verwandelt den Menschen, der sich an diesen orientiert, möglicherweise in einen prinzipientreuen, fanatischen Bekenner, der »absolute Werte« umso entschiedener behauptet, je unsicherer er selbst ist, da er ihre Unzulänglichkeit erkennt. Er fürchtet sich aber, die Relativität dieser Werte einzugestehen, da das »Gehäuse«, dem er folgt, sodann sichtbar in seinen Grundfesten erschüttert wäre. 166 In der Logik des rationalistisch strukturierten »Gehäuses« wird die »unendliche Reflexion«, die die »Erfahrung der Folgen des Handelns«, die Frage der Verantwortlichkeit und das Erlebnis »Grenzsituationen« vereint, aufgehoben durch ein absolut gesetztes, »verallgemeinertes Entweder-Oder«. Durch die »vermeintlich objektive Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. 4. Aufl., München 1995, 720. 166 PsW, 324. Das gilt etwa auch in dem »Gehäuse« des »Wertabsolutismus«, denn in diesem wird wiederum ein »Halt« offeriert, der aber dem Individuum gegenüber gleichgültig ist, soll es sich doch »absoluten Werten« unterwerfen, nicht aber diese aus sich selbst heraus ergreifen. Vgl. PsW, 323. 165
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Einsicht«, die das in der ihr eigenen Logik Unumgängliche als rational zwingend ausgibt, wird die existentielle »Wahl«, die sich aus dem »lebendigen Akt« ergibt, ersetzt. 167 Der Handelnde als »reale Persönlichkeit« ist aber hier gegen die »absoluten Werte« bedeutungslos in seiner Individualität, »einsam in der endlosen Welt des Allgemeingültigen«. Er hat die »erlebte Beziehung« nicht kennengelernt. So läßt er sich an »illusionäre Werte« oder an »zufällige Menschlichkeiten«, um einen Halt zu finden, den aber auch diese nicht bieten können. 168 Die Darstellung der starr strukturierten »Gehäuse« und der ihnen eigentümlichen Dogmatik verbindet sich mit der dezidierten Kritik am Totalitarismus. Die Kritik an den »Gehäusen« erreicht hier, insbesondere in der Jaspersschen Spätphilosophie, aber auch im Frühwerk, eine eminent politische Dimension. Der in der Sphäre des Politischen machtvolle Totalitarismus operiert mit einer absolut gesetzten »Weltanschauung«, die in der Regel mit paradiesischen Verheißungen verknüpft ist. So mag der »Schlechtweggekommene« als »Ersatz« für sein »elendes Dasein« den »Zukunftsglauben an ein irdisches Paradies« betrachten, der Bürgerliche als Ausgleich für das »verlorene Ethos« den Zuspruch, den er als »Literar-Revolutionär« 169 findet. Eine solche Verheißung verdeckt freilich die konkret erfahrbare und leidvoll erfahrene Realität. Sie setzt gegen Fragen die ideologisch bestimmte »reine Wahrheit«, die als »einzige Wahrheit« mit absolutem Anspruch behauptet wird. Jegliches »fragende Forschen«, das nicht die Voraussetzung teilt, diese »einzige Wahrheit« per se zu akzeptieren, ist im Hinblick auf das angemaßte »Totalwissen« gefährlich. Es unterläuft, wie bereits bemerkt, die für absolut gültig gesetzten Inhalte der Ideologie kritisch, macht das »Verharren im Schein« kenntlich und deckt »Widersprüche« auf. Umgekehrt wird aus der vermeintlichen »Totalanschauung der Dinge« kritisches Fragen als »Verkehrung« diffamiert und als »Blindheit« gescholten, anschließend aber gewaltsam in das »Gehäuse« integriert. Die mit kritischer Vernunft artikulierten Einwendungen müssen aus der Sicht derer, die den absoluten Anspruch vertreten, mit aller Macht negiert werden. 170 167 168 169 170
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PsW, 317. PsW, 325. KSP, 109. W, 482.
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b) Totalitarismus als »Gehuse« Ein besondere Spielart des geschlossenen »Gehäuses« sind die disparaten, in ihrer Technik aber verblüffend ähnlichen Systeme totaler Herrschaft. Sie manifestieren sich in der entsprechenden totalitären Ideologie. In ihnen ist jedes Streben nach Erkenntnis, das nicht der Stabilisierung des »Gehäuses« dient, verboten. Eine festgefügte Ordnung ist vorgeben, in die sich der Mensch – geistig-kulturell wie politisch – einzugliedern hat. Die Grundlage dieser totalitären Strukturen bildet wiederum das Streben nach Halt und die anthropologisch konstitutive Unzulänglichkeit, lapidar gesagt: die allgemeine Menschenschwäche. So wird aus »Träumen aus der Not« ein utopisches »Weltreich der menschlichen Gesellschaft« erdichtet und ein Ort des »ewigen Friedens« erhofft, an dem der Mensch endlich und endgültig in Freiheit leben kann. Auf dem Weg dorthin mag er allein als »Funktion des Ganzen« bestehen, das durch den in ihm wirkenden absoluten Anspruch ein würdiges »Menschsein selbst aufzuheben« 171 trachtet. Die Jasperssche Kritik fokussiert jegliche absolute Herrschaftsform gleichermaßen, die statt nach ihren humanen Ansprüchen nach ihrer inhumanen Praxis resp. praktizierten Inhumanität beurteilt werden soll. Schon das Bemühen, hier dann im Feld des Politischen, ein »abgeschlossenes Wissen von der Welt« und absolut gesetzte »wahre Vorstellungen vom Ganzen« 172 zu bieten, erscheint problematisch. Alles Antinomische, das besteht, wird gewaltsam harmonisiert. Der Mensch wird instrumentalisiert – im schroffen Gegensatz zu der kantischen Einsicht, der Mensch sei »aus so krummem Holz gemacht, daß daraus nichts ganz Gerades gezimmert werden kann«. 173 Es wird versucht, den Menschen in dieses System, in dieses »Gehäuse« paßgenau zu integrieren, um das ideologisch verheißene Paradies zu etablieren. Die »Daseinsvollendung« wird prognostiziert und als »unbestimmt« und damit »unwiderlegbar« 174 ins Künftige verlagert, ob als »fernes Jenseits« oder »verzaubertes Diesseits«. 175 P II, 372. W, 481. 173 Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784). In: ders.: Werke in sechs Bänden. Bd. VI.: Schriften zur Anthropologie. Geschichtsphilosophie. Politik und Pädagogik. Hrsg. v. Wilhelm Weischedel. Darmstadt 1983, 41. 174 W, 890. 175 P I, 35. 171 172
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Die Vision gelingenden Lebens in der Zukunft soll gegenwärtig existentiell bedrückende Zustände verschleiern. Zugleich aber drückt sich hierin die durchaus begreifliche Hoffnung der Unzufriedenen aus, die den »Glauben an die Möglichkeit einer irdischen Vollendung« hegen. Die totalitären Konstruktionen können diese Hoffnung nicht einlösen, sehr wohl aber die Einlösung versprechen. 176 Was die Ideologie als universelles Deutungsmuster des Menschen, der Welt und seiner Situation in ihr kennzeichnet, ist neben dem anmaßenden Anspruch absoluter Wahrheit die »Selbsttäuschung« dessen, der ihr folgt. Denn die Ideologie dient als »Rechtfertigung« und »Verschleierung« konkret erfahrenen Elends, auch als »Ausweichen« auf die Fragen, die sich im Zusammenhang mit diesen unabweisbaren Tatsachen stellen. Wer ideologisch denkt, versucht das verheißene Paradies zu rechtfertigen. 177 Das totalitäre Denken – und somit das »Gehäuse«, das es herausbildet – enthält also einen »teleologischen Gedanken«. Dieser sieht in der konkret erfahrenen »Negativität«, also etwa in verursachtem Leiden, Freiheitsberaubung und politischer Unterdrückung, den »Keim des Positiven«. Mit Notwendigkeit ist das Schlechte ein Stadium auf dem Weg zu dem »verborgenen Ziel«, das freilich als Träger aller positiv konnotierten Gedanken gilt. Im Gewande der Verlockung erscheint die »Drohung« des totalitären »Gehäuses«, das Versprechungen macht, die viele Menschen zunächst als erstrebenswert annehmen aufgrund humaner Ideale und Ansprüche. Es besteht auch Unkenntnis gegenüber den »totalitären Neigungen«, die sich »im Menschen überhaupt« 178 befinden, und sich in dem Streben nach Halt artikulieren. Manche erhoffen sich leichthin in »blindem Vertrauen« und »trügerischen Erwartungen« sodann »Vorteile«, erliegen auch dem »Täuschungsmittel«, das, so Jaspers, »friedliche Koexistenz« genannt ist. Der Krieg wird erst dann erklärt, wenn es dem totalitären System günstig erscheint. Wer sich mit einem totalitären System auf der politischen Ebene arrangieren will, muß wissen, daß dessen Machtanspruch eben jener totalen Herrschaft entspricht, die den Geltungsbereich der eigenen Macht auszudehnen beabsichtigt. 179 In dem »Geschichtsdenken«, das von dem totalitären System gepflegt wird und 176 177 178 179
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GSZ, 6. UZG, 169. AZ, 376. AZ, 377.
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Totalitarismus als »Gehuse«
als geltend anerkannt ist, firmiert dieses Denken als »Wissen von einer Notwendigkeit des Geschehens«. Es prognostiziert künftige Ereignisse, konstruiert einen »Sinnzusammenhang«, der sich aber nur theoretisch schließt, in dem das »Gedachte« die »mögliche Wirklichkeit« streifen, niemals aber vollständig erklären kann. Diese Theorie erinnert an ein gefährliches »Spiel«, das eine »lenkende Vorsehung«, vermeintlich höhere Einsicht oder Vernunft, als geschichtsbestimmend setzt und »teleologische Zusammenhänge« entwirft, die innerhalb des »Gehäuses« gültig sind und denen sich sich alle beugen sollen, aus Einsicht in die behauptete Notwendigkeit. 180 Allein in der »Erhellung von Möglichkeiten« hat das »vorwegnehmende Denken« seinen Sinn. Aber »einsehbare Grundlinien der Zukunft« kann es nicht aufzeigen. 181 Wer das »Totalwissen vom Geschichtsprozeß« glaubt innezuhaben, muß die »Totalplanung« für geboten halten im Hinblick auf eine »vermeintlich begriffene Notwendigkeit der Geschichte«. Er setzt damit eine »Parteilinie«, die gleich ist mit der scheinbar wissenschaftlich erwiesenen »Geschichtslinie«. Alle »Abweichungen« von dieser werden als »Auflehnung gegen den inappellablen Gott«, die Geschichte, gedeutet und sanktioniert. 182 Das der Geschichte zugeschriebene, universell gültige Geschichtsgesetz aber vermag der Mensch niemals zu erkennen, auch wenn dies massiv behauptet wird. Vielleicht erliegt er dem »Wahn«, kraft seines Tuns dem »historischen Geschehen im ganzen« dienen und es mit steuern zu können; zugleich versäumt er, im Banne des Großen, die »Ziele« und »Mittel« zu verfolgen, die »endlichem Zweckdenken« zugänglich sind. 183 Die marxistische Variante dieses teleologischen Denkens erweist sich, wie Jaspers darlegt, als Apologie der »Gewaltherrschaft«. Diese Spielart des Totalitarismus nutzt das »vermeintliche Totalwissen« und die mit diesem verbundene »Argumentationstechnik«, um nicht allein die »Welt« neu zu gestalten, sondern den Menschen selbst grundlegend zu verändern, bedingt durch die »offenbar gewordene Notwendigkeit der Geschichte«. 184 AZ, 378. AZ, 391. 182 AZ, 384. 183 AZ, 379. 184 AZ, 384. Facettenreich wie dezidiert ist die Jasperssche Kritik an Marx; niemals war, so Jaspers, Marx ein »kritischer Forscher«: »Er ist der Prophet und Agitator für die politische Herstellung eines neuen Zustands der Menschheit, ohne Blick für diejenigen Realitäten, die dazu nicht passen, und blind für die Ursprünge im Menschsein, die den 180 181
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Im Totalitarismus soll diese beste aller Welten erst am Ende der Geschichte oder in der Transzendenz angetroffen werden, was über zeitliches Unglück hinweg verhelfen mag. Darüber hinaus erklärt oder rechtfertigt es das erfahrene Leid auch und ermutigt den Menschen vielleicht, der an die utopische Verheißung glaubt, sich sogar seines Unglücks zu freuen. Denn er erleidet es für späteres Glück oder für eine Notwendigkeit, die die Begriffe von Glück und Unglück neu bestimmt. Das Glück des Menschen erscheint eigentlich als das, was sein individuelles Unglück ausmacht, aber innerhalb des totalitären »Gehäuses« und seiner perversen Logik eine Fügung ist, die zu einem Glück führt, an dem er selbst nur dadurch teilhat, daß er heute leiden muß. Das angemaßte »Totalwissen« setzt somit als gegeben, was »Menschen wollen und wollen werden«, obzwar diese Ziele niemals »im Ganzen gewußt« werden können. Um sie zu kennen, müßte der »Erkennende« das »Ganze« überblicken. Betrachtet er aber den Menschen, wie die Ordnung und innere Logik des totalitären »Gehäuses« nahelegt, als »formbares« und »verwandelbares Material«, das gebraucht wird, um das vermeintliche Ziel des Ganzen zu verwirklichen, so ginge dieses »Machenwollen« mit der »Preisgabe der menschlichen Freiheit« und dem »Ende des Menschen« 185 einher. Die »innere Haltung« des so besehen instrumentalisierten Menschen bestünde in ergebener Dienstbarkeit gegenüber dem »Wissen«, das das totalitäre System repräsentiert. So ist »geschicktes Zugreifen« innerhalb der Ordnung gefordert. Jedes »Grübeln über Sinn« 186 wird eigentlichen Menschen als ihn selbst begründen. Marx denkt diktatorisch; er propagiert eine entsprechende Politik der Gewaltakte. Während jene Einsichten ein unverlierbares Moment moderner Erkenntnis sind, wurde diese Verabsolutierung eines politischen terroristischen Willens zu einem Faktor der gegenwärtigen Geschichte. In Marx war eine Utopie des Verstandes, geboren aus Empörung, Haß und abstraktem Gerechtigkeitsenthusiasmus. Heute ist diese Utopie, unter Verlust ihres Sinns, nur noch eine Fassade der totalitären Gewalt an sich.« Vgl. AZ, 385. Was Jaspers mit den »Verlust ihres Sinns« andeutet, ist interpretierbar sowohl als Preisgabe der humanistischen Ideale des jungen Marx wie auch als Auflösung der kommunistischen Bewegung und ihrer Ziele in die Apologeten totalitärer Systeme. Der Marxismus ist für ihn somit eine »letzte verwahrloste Gestalt« und die »Widervernunft« einer Synthese aus »verabsolutiertem Verstand« und einer unlimitierten (und unlimitierbaren) »zweckhaften Gewalt«, die als »ungeheure Macht« in den entsprechenden Staaten herrscht und wie »schleichendes Gift« durch den Zauber ihres Denkens in demokratischen Staaten präsent ist. Vgl. ebd. 185 PGO, 27. 186 GSZ, 88.
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Totalitarismus als »Gehuse«
abgelehnt, da der Mensch einer umfassenden Fungibilität genügen muß, wie übrigens auch in der technizistisch gestalteten Ordnung, in der der »Zwang des logischen Gedankens« 187 herrscht. Dessen »Konstruktion« muß jeder nachvollziehen. Dieser muß man sich fügen, um konformistisch im Alltag zu leben und sich dem »aufsaugenden Typismus« zu ergeben, der, wie Jaspers schreibt, einer Herrschaft wie zu »primitivsten Zeiten« 188 vergleichbar ist. In diesem System schlägt ein jedes »Viertelwissen« sogleich in die »unwahrhaftige Unbedingtheit des Fanatismus«. 189 Die triste Wirklichkeit verschleiert ein prophetisch verheißener oder spekulativ antizipierter Idealzustand, der dem teleologischen und eschatologischen Geschichtsverständnis entsprechend realisiert werden soll. Das Ziel der Geschichte tritt aber im »Gang des Wechsels der Illusionen« 190 niemals ein. Der »vollendete Endzustand« 191 wäre für die Menschheit gleichbedeutend mit dem Verlust des Menschseins selbst. Denn der ideologisch verblendete, fanatische, »utopiengläubige Mensch«, der sich im Besitz der Wahrheit glaubt und die vorhandene Wirklichkeit daran anpassen will, ist zwar geistig »tot«, aber zugleich »betriebsam«. Er versucht »alles Lebendige« zu destruieren, das der Utopie zuwiderläuft. Zugespitzt und hellsichtig formuliert bedeutet dies – bereits vor dem machtvollen Wirken der politischen Ideologien des zwanzigsten Jahrhunderts –, mit Jaspers’ Worten: »Wo [der utopiengläubige Mensch; Th. P.] handelt, da ist alles öde, starr oder anarchisch geworden.« Was für den Glaube an die Utopien gilt, läßt sich mit jedem beliebigen absoluten Anspruch, der auf eine radikale politische Neuordnung des Lebens und einen gesellschaftlichen Wandel abzielt, übertragen. 192 Dieses utopische GSZ, 16. GSZ, 42 f. 189 GSZ, 88. 190 UZG, 271. 191 UZG, 266. 192 PsW, 242. – Vgl. hierzu auch Arendt, a. a. O., 718 f.: »Ideologien in ihrem Anspruch auf totale Welterklärung haben es erstens an sich, nicht das, was ist, sondern nur das, was wird, was entsteht und vergeht, zu erklären. […] Der Anspruch auf totale Welterklärung verspricht die totale Erklärung alles geschichtlich sich Ereignenden, und zwar totale Erklärung des Vergangenen, totales Sich-Auskennen im Gegenwärtigen und verläßliches Vorhersagen des Zukünftigen. Als solches wird ideologisches Denken zweitens unabhängig von aller Erfahrung, die ihm selbst dann nichts Neues mitteilen kann, wenn das Mitzuteilende soeben erst entstanden ist. Es emanzipiert sich also von der Wirklichkeit, so wie sie uns in unseren fünf Sinnen gegeben ist, und besteht ihr gegenüber auf 187 188
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Element innerhalb des totalitären Systems entspricht einer wirklichkeitsfernen, sogar die konkrete Wirklichkeit negierenden »Abstraktion«, die als »unwahres Denken« – im Gegensatz zu dem niemals sich in sich selbst rundenden, offenen Philosophieren – dem »gehaltvollen Denken« entgegensteht. Das »Hängenbleiben in Abstraktionen« 193 ist ein Merkmal des Totalitarismus. Es ist aber auch jenen »Gehäusen« eigen, deren Struktur nicht mit spekulativer Metaphysik gestaltet wurde. Die positivistische Wissenschaft mit ihren »mathematischen Konstruktionen« und die diese begleitenden »Messungen«, die mithilfe »statistischer Regelmäßigkeit« eine »rationalistische Dogmatik« entwerfen, führen zu »leeren begrifflichen Erfindungen«. In ihrem absoluten Anspruch, den sie aus der Exaktheit ableiten, entwerfen sie eine »Pseudophilosophie«, die ignoriert, was jenseits ihres Erkenntnisinteresses liegt. 194 So wird die Absolutsetzung kritisiert, die von bestimmten und dann vermeintlich bestimmenden »Interessen« spricht, denen sich das »konkrete Denken« zu fügen hat. Die Unterordnung soll geschehen unter ein vermeintlich höheres »Interesse« oder eine sogenannte übergeordnete Notwendigkeit, in deren Namen »Opfer« gefordert werden, für »bestehende Staaten« und absolut gesetzte Ideologien. Dies allein dient zur Verwirklichung des totalitären Anspruchs und soll für das »Glück kommender Generationen« oder für die Visionen des »›Führers‹« über diese »Opfer« geschehen. Das Individuum als Ziffer verschwindet, aufgehoben in der Totalität, als »Opfer«, das erbracht werden mußte, der inneren Notwendigkeit des »Gehäuses«, seiner Machtstruktur und seinem Machtanspruch folgend. Für die »Verstandesarbeit des Fortschritts« 195 sind Menschen schlechthin eine beliebige Verfügungsmasse für eine noch so human sich dünkende totalitäre Herrschaft. Diese spricht dann als vermeintlich übergeordnete »Instanz«. Sie stellt eine scheinbar »heilvolle Forderung«, die großes Unheil mit sich bringt. Als »doktrinales Deneiner ›eigentlicheren‹ Realität, die sich hinter dem Gegebenen verberge, es aus dem Verborgenen beherrsche, und die wahrzunehmen wir einen sechsten Sinn benötigen. Den sechsten Sinn vermittelt eben die Ideologie, jene ideologische Schulung, welche auf den eigens dafür eingerichteten Erziehungsanstalten ›politischer Soldaten‹, den Ordensburgen der Nazis oder den Schulen der Komintern und Kominform, vermittelt wird.« 193 AZ, 290 f. 194 PGO, 283 f. 195 AZ, 290 f.
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ken« glauben ihre Apologeten die Wirklichkeit zu kennen. Der »Verstand« und die ihm eigene Logik wird von der »Angst« des Individuums, das sich, nach Halt strebend, Festigkeit erhofft, zu Hilfe gerufen. Die »irreführenden Abstraktionen«, die sich den Anschein eben jener genannten »heilvollen Forderung« geben, schaffen keine Klarheit. Der Mensch verstrickt sich in diese, da er glaubt, in ihnen Halt zu gewinnen, einen Halt, den ihm die Vergewisserung seiner selbst verschaffen soll. Aber statt des »Aufschwungs zum Besseren« wird der Mensch – oft von humaner Forderung und konkreter Inhumanität begleitet – zum »Opfer« totaler Herrschaft. Ihm widerfährt genau das, vor dem er sich mithilfe dieses Ordnungsmusters eigentlich hatte schützen wollen. 196 Der einzelne Mensch ist »aufgelöst in Funktion« – ganz gleich, welcher Ideologie er genügen muß – und in das »Kollektiv« eingebunden, für das er verzichten oder sich aufopfern soll, nicht um seiner selbst, sondern um eines künftigen Heils willen. Dieses Heil wird nicht einmal ihm zuteil. Es ist allein als Ziel formuliert, dem er, unter Aufgabe seiner persönlichen Interessen, zu dienen hat. Dies fällt ihm leichter zu begreifen, wenn er die eigenen Erwartungen negiert und denen des »Kollektivs«, dem Staat, der Partei oder der Klasse, auch den Interessen des Vereins oder Betriebs, sich unterordnet bzw. die Ziele dieser als seine eigenen erkennt. Er folgt ihnen mit fanatischem Eifer, da er allein bedeutungslos ist, einzig ein »Sein als ›wir‹« 197 besitzt, für das er leben und sterben soll. Dem Menschen, der diese Ideologie nicht teilt, wird ein »falsches Bewußtsein« attestiert und unterstellt, daß er »verwerflichen Zwecken« und »Interessen« sich verschrieben hat. Er muß bekehrt werden, denn der vermeintlich »Wissende« weiß sich dem »Unwissenden« überlegen und muß in einem »kommunikationslosen Kampf« – bei einem Streit um »Wahrheit« wäre der »verbindende Kommunikationswille« gegeben – besiegt werden. Die »falsche Ideologie« soll vernichtet werden und mit dieser zugleich der Gegner. 198 196 AZ, 292 ff. Wenn von totalitärer Herrschaft gesprochen wird und Menschen als verfügbares Material betrachtet werden, das einem absoluten Anspruch unterworfen wird, so scheint es durchaus angemessen, auf einen bezeichnenden Sprachgebrauch der heutigen Wirtschaftswelt zu verweisen: »human resources«, sprich: Menschenmaterial, das ge-, miß- und verbraucht werden kann. 197 GSZ, 43. 198 AZ, 381. Positiv gewertet sind allein idealtypische Konstruktionen: »Das konstruktive Entfalten von Ideologien in objektiv werdenden Gestalten täuscht nicht und bleibt
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In der totalitären Ordnung wird die vermeintliche »Wohlfahrt des Ganzen«, die ihre Fragwürdigkeit schon darin erweist, daß die Freiheit und das Wohl des Einzelnen sie nicht zu bekümmern scheint, wie bereits erwähnt, mit dem »falschen Glauben an die Möglichkeit einer endgültig richtigen Welteinrichtung« verbunden. Die »planvolle Befriedigung der lebensnotwendigen Bedürfnisse« wird gesetzt und als lehr- wie lernbares »Wissen« formuliert, in dem das Individuum die besondere Bedeutung seines Lebens im »Dienst für das Ganze« vollauf erfüllt sieht. Nur hierdurch ist eine »Befriedigung seines Eigendaseins« erfahrbar. Das ist eine zirkuläre Argumentation, die auch für die totalitären Ideologien von Faschismus und Kommunismus in gleicher Weise Gültigkeit besitzt wie für die utilitaristische Praxis, in der der »Sinn des menschlichen Daseins« in der »ökonomischen Versorgung der größten Massen« gesehen, durch die die »reichste Befriedigung der mannigfaltigsten Bedürfnisse« 199 erzielt wird. Erkauft wird dies durch die Einfügung unter das herrschende Prinzip resp. in das existente »Gehäuse«, das, wie jede absolut gesetzte »Theorie der Welt überhaupt« 200 , totalitär strukturiert ist und Einsicht in die in ihm wirkende Notwendigkeit und Logik erwartet. Eine solche Ideologie behauptet ein Ziel der Geschichte und bedient sich des Terrors, diese vermeintlich »endgültig errungene absolute Wahrheit des Menschseins« 201 zu verbreiten – absichtsvoll verkennend, daß der Mensch »immer mehr [ist], als er von sich weiß« 202 oder als andere von ihm zu wissen vorgeben. Diese Verhaltensweise äußert sich bei »gläubigen Köpfen«, die sich diesem »Gehäuse« verschrieben haben, in der »Hartnäckigkeit« gewaltsamen Handelns. 203 selber ideologiefrei, wenn es methodisch klar bleibt: Es sind sinnkonsequente Konstruktionen (Idealtypen), die wir vollziehen – und in unübersehbaren Möglichkeiten machen können –, nicht um sie selber schon für Wirklichkeiten zu halten, sondern um an ihrer in sich geschlossenen Sinnkonsequenz die Realitäten zu messen, wieweit sie ihnen entsprechen und wo nicht. Wir überblicken mit ihnen dann nicht die wirklichen Mächte, sondern haben mit den Idealtypen Werkzeuge des Verstehens. Der Versuch mit ihnen muß jeweils erst zeigen, wie weit sie reichen. Ideologien hören auf, Ideologien zu sein, und verwandeln sich in diese Werkzeuge des Verstehens, wenn die Vernunft sich ihrer bemächtigt und alle in einem jeweils bestimmten Sinn zur Geltung kommen läßt.« Vgl. ebd., AZ, 382 f. 199 GSZ, 68 f. 200 P I, 107. 201 GSZ, 205. 202 GSZ, 147. 203 GSZ, 207. – Vgl. hierzu auch Arendt, a. a. O., 712: »Terror macht die Menschen unbeweglich, als stünden sie und ihre spontanen Bewegungen nur den Prozessen von
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Die Umgestaltung der Wirklichkeit, entsprechend der totalitären Weltanschauung, wird vorangetrieben mit einem kompliziert anmutenden, aber im Grunde einfachen Deutungsmuster, das mit dem »Gerede vermeintlicher Erkenntnis von allem« sich umgibt. Es ist »innerlich gefangen in der Absolutheit vermeintlichen Wissens«. Das »Nichtwissen« wird zwar zunächst anerkannt, aber nur als ein »Nochnichtwissen« bezeichnet, niemals als ein »prinzipielles Nichtwissenkönnen«. Somit bezeichnet das »Nochnichtwissen« einen Mangel, der ausgeglichen werden muß, auf jede mögliche Weise. 204 So scheut sich auch Jaspers nicht, 1931 auf die Parallelität der totalitären Ideologien von »Bolschewismus« und »Faszismus« hinzuweisen, die zwar als »höchst verschieden« in Aussage und Absicht beurteilt werden, gleichwohl aber die »Typisierung des Menschen« 205 auf je eigene, indessen sehr ähnliche Weise betreiben. Beide Formen des Totalitarismus präferieren einen »neuen Wahrheitsbegriff« verbunden mit dem »blinden Glauben an das absolute Recht des Ganzen«. 206 Auch der Marxismus wird von Jaspers als szientistische Religion begriffen und nicht als »wissenschaftliche Erkenntnis« auf-
Natur oder Geschichte im Wege, denen die Bahn freigemacht werden soll. Terror scheidet die Individuen aus um der Gattung willen, opfert Menschen um der Menschheit willen, und zwar nicht nur jene, die schließlich wirklich seine Opfer werden, sondern grundsätzlich alle, insofern der Geschichts- oder Naturprozeß von dem neuen Beginnen und dem individuellen Ende, welches das Leben jedes Menschen ist, nur gehindert werden kann. Populär und scheinbar harmlos äußert sich die terroristische Gesinnung bereits in dem Sprichwort: ›Wo gehobelt wird, da fallen Späne‹, einem Spruch, mit dem man bekanntlich jegliches rechtfertigen kann und gerechtfertigt hat.« 204 P I, 218. 205 GSZ, 106. Die Gleichartigkeit totalitärer Herrschaftsformen – Jaspers verweist in den Werken nach 1945 einige Male auf die Parallelen zwischen nationalsozialistischer und kommunistischer Herrschaft – ruft Kritik hervor. H. Pieper etwa verweist in ihrer 1973 publizierten Studie auf die »humane Grundidee des Kommunismus« (54), die Jaspers verkenne, und aufgrund der sich eine Gleichsetzung mit dem totalitären NSStaat und einem kommunistischen Herrschaftssystem verbiete. Zudem vernachlässige Jaspers die gesellschaftliche Entwicklung und soziale Fragen. Diese Einschätzung ist – sicherlich auch aus dem Geist der Zeit, in der die Studie verfaßt wurde, begreiflich – problematisch; Jaspers argumentierte gegen jegliche Form totaler Herrschaft und war niemals bereit ein System zu billigen, nur weil es den Anspruch auf Humanität predigte, ein Anspruch zudem, der sich aber in der Praxis nicht bewährte und bewahrheitete. Vgl. Pieper, Heidrun: Selbstsein und Politik. Jaspers’ Entwicklung vom esoterischen zum politischen Denker. Meisenheim am Glan 1973. 206 PuW, 85 f. A
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gefaßt. Der Marximus ist ein »Verstandesglaube«, der die »Ideologie einer Klasse« und »vermeintliches Wissen« 207 darstellt. 1945 wird der Totalitarismus von Jaspers als »furchtbare Drohung der Zukunft der Menschheit« 208 gesehen. In diesem System wird die »Parteilinie« oder die »wahre Lehre« gesetzt, der sich die Menschen unterordnen sollen. Im Totalitarismus sind jederzeit »Verhaftungen, Deportationen, Hinrichtungen ohne öffentliche Gerichtsverfahren« möglich. Das Leben ist »funktionalisiert, der Mensch »planmäßig« in den Arbeitsprozeß eingebunden. Individualität wird nivelliert. Jeder Mensch ist »ersetzbar«. Er wird von einer »Führung« geleitet, die in der »gegenwärtigen Gestalt« stets den Anspruch setzt, das »Monopol auf die Wahrheit« zu besitzen. Mit allen Mitteln wird die »Zensur allen geistigen Tuns« praktiziert, um das »Einströmen freien Denkens« zu verhindern. 209 Gerechtfertigt wird dies mit erdachten und konstruierten »Mythen vom Paradies«, die gewissermaßen den jeweiligen Schlußstein und das aus der inneren Logik notwendige Ende der totalitären »Gehäuse« darstellen. Als »Chiffren eines harmonischen Zustandes« verheißen sie einen »Glückzustand«. Das Bemühen, diesen hervorzubringen, wirkt sich für die Menschen innerhalb dieses Systems aber »ruinös« aus. Sie sind funktionalisiert und eingebunden in die totalitäre Herrschaft, während der betörende »Zauber eines Paradies« insbesondere wirkt, solange man den verheißenen Zustand in der »Vorstellung« antizipiert und »Wunschträume« auf weite Sicht erfüllt sieht. Er verblaßt, sofern man an der versuchten Realisierung teilhat und im »Schein der Gemeinschaft« 210 dahinlebt. Ein solches »Gehäuse« wirkt anziehend auf all jene, die nach Halt streben, die unzufrieden sind, die aber vor allem außen, in der Ferne leben, und wohlwollend zur Kenntnis nehmen, daß der Totalitarismus scheinbar »alle Ansprüche der Empörten [und] Unzufrieden« 211 einlöst und für »Gerechtigkeit, Größe und Wahrheit seines Weges« 212 wirbt. Aber dieses Werben schätzt eben besonders der, der jenseits dieser Herrschaftsform lebt. Die affirmative Betrachtung des Totalitarismus und des vermeintlichen Wissens über die anscheinend bestmögliche Gesellschaftsform findet Anklang 207 208 209 210 211 212
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GSZ, 152. PuW, 77. AZ, 159 f. AZ, 166 f. PuW. 86. AZ, 152.
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und Bewunderung, da vorgeblich in ihr die menschlichen Sorgen und Nöte gelöst sind. Darum wird eine solche Ordnung gar als erstrebenswert angesehen, obzwar der Mensch durch das »vermeintliche Totalwissen« seinen eigenen Strebungen und Interessen, seiner eigenen Würde als zweckfreies Lebewesen zuwiderlaufenden »Totalplanung der Welt« beraubt ist. Die absolut gültige Ordnung des »Gehäuses« wird mit »suggestiven Vorstellungen« als nachahmenswert ausgewiesen und durch »terroristische politische Gewalt« etabliert. Der Mensch ist im Totalitarismus in ein jegliche individuelle Freiheit beraubendes Zwangssystem eingebunden, dem er nicht entrinnen kann. 213 Wer dann einwendet, die mutmaßliche Wahrheit dieses politischen Systems sei wissenschaftlich erwiesen, den würde Jaspers – bezogen auf die vermeintlich wissenschaftliche Notwendigkeit einer solchen Ordnung – der intellektuellen Unredlichkeit zeihen. 214 Sobald ein »vermeintliches Totalwissen« gesetzt ist, wird mit der »Voraussetzung der richtigen Welteinrichtung« jegliches »Denken« unversehens »dogmatisch« und das Tun »fanatisch«, da der einzig mögliche »rechte Weg der erkannten Notwendigkeit«, die zugleich als immanentes historisches Gesetz gilt, das »Sollen für den Einzelnen« vorschreibt. Jeder Mensch kann sich mit »gutem Willen« und durch »rechte Erkenntnis« diesem »unaufhaltsamen Gang der Dinge« anschließen, nach Auffassung der Apologeten des Totalitarismus. Wer sich verweigert, bleibt von der »Wahrheit« ausgeschlossen. Er wird vielleicht belehrt, bekehrt oder selektiert. Derjenige, der sich nicht dem totalitären »Gehäuse« zugehörig fühlt und das »Wagnis« eingeht, das »Wissen vom Menschen« nicht in einer – möglicherweise mit noch so guten Absichten und humanen Ansprüchen verbundenen – »beschränkten Perspektive erstarren zu lassen«, lebt in »Horizonten des Möglichen« 215 und gegen die Verheißungen, die sich mit 213 AZ, 389. Jaspers bemerkt zu dieser Problematik andernorts in derselben Schrift: »Der Zustand des Totalitarismus sieht völlig anders aus für die, die ihn, in einer freien Welt lebend, erstreben, als für die, die darin sind und ihn erleiden. Die Phantasie der meisten Menschen reicht nicht aus, sich vorzustellen, was realiter doch in der Welt schon da ist.« Vgl. AZ, 152. 214 Vgl. VW, 15. Jaspers schreibt dort: »Die Wucht des marxistischen Denkens liegt nun offenbar gerade in der Urfalschheit, Glauben als vermeintliche Wissenschaft zu vertreten. Vom Glauben kommt der Fanatismus der Gewißheit, der Name der Wissenschaft gibt die Verschleierung. Der eigene Glaube wird Wissenschaft genannt. Er nennt sich selber niemals Glaube, verhält sich aber wie jeder dogmatische Glaube blind gegen alles, was gegen ihn ist, aggressiv, unfähig zur Kommunikation.« 215 AZ, 394 f.
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solchen absolut gesetzten »Gehäusen« verbinden. Er ist immun gegen die Versprechungen des Totalitarismus. Jede partikulare Perspektive, die als Perspektive des Wissens unerläßlich sein mag, wird – als »wahrer Weg« ausgegeben – zu einer gefährlichen Anmaßung. Die dann erfolgte Absolutsetzung erweist sich als »Irrweg«. Denn der in der »partikularen Perspektive« befangene Mensch weiß nichts mehr von der Partikularität. Er setzt eine »endlich bestimmte Zufälligkeit« als Totalität und verschließt sich in der »Enge seiner Zufälligkeit«, fixiert und gebannt in einer »endlichen Situation«. 216 Der Totalitarismus ist weder spezifisch kommunistisch, faschistisch oder nationalsozialistisch, vielmehr kann er die Maske jeder dieser Lehren tragen. Er ist »überall möglich«. So verweigert sich Jaspers nach 1945 auch optimistischen Prognosen. Denn so wie er vor 1933 nicht geglaubt hatte, daß eine totalitäre Ideologie in Deutschland dauerhaft herrschen könnte, so fürchtet und spürt er in späteren Jahren die Bedrohung dieses heraufziehenden Herrschaftssystems mit großer Sensibilität überall dort, wo das politische Ethos verfällt und durch »Intrigen«, »Gewaltakte« und dem »Schein von Verhandeln« ersetzt wird. Der Totalitarismus gleicht einer heimtükkischen Geist, einer diabolischen Macht im Verborgenen, einem »Gespenst«, welches, so Jaspers, das »Blut der Lebenden« trinkt, die in ihm als amorphe »Masse lebender Leichname« trist dahinvegetieren. 217 Mancher Menschen Streben nach Halt findet in dem Totalitarismus den scheinbar letzten Ausweg. Dieser ist aber doch gewissermaßen Grund allen Verderbens. Denn er stellt gleichsam die »Auflösung« jeglicher tragfähiger Bindungen dar, die ins »Nichts« münden, in der »Arbeiterklasse« oder »Volksgemeinschaft« eine vermeintliche Rettung offerieren, damit sich die Enttäuschten dieser Ideologie anschließen. 218 In der Forderung »totalen Gehorsams« drückt sich auch die Furcht vor dem Individuum aus, das in Freiheit zu sich selbst steht. Der Totalitarismus bietet den »Genuß bloßer Funktionen« in einem »Apparat«, nicht aber menschliche Gemeinschaft. Wer an der »unwi-
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Der Parteienstaat als »Gehuse«
derstehlichen Macht«, die als das »absolut Feste« auftritt und den Halt symbolisiert, teilhaben will, muß sich ihr willenlos fügen: »Der Totalitarismus ist an keine Anschauung gebunden. Er bedient sich jeder. Er täuscht alle und schmilzt sie ein in die Apparatur seiner Macht. […] Ein Prinzip ist die Angst, beginnend mit der Angst vor möglichen Unannehmlichkeiten, dann vor Drohungen, vor der Gewaltsamkeit und der Vernichtung. Der Zustand einer freien Demokratie kennt diese Angst schlechthin nicht. Wo sie auftritt, ist die Freiheit schon angenagt. Die eigene Meinung und Gesinnung, der Wettkampf, die legalen Bemühungen um Vorteile sind in der Freiheit nicht nur geschützt, sondern wie selbstverständlich da.« 219
Wie verhält es sich mit dem politischen System der Bundesrepublik? Jaspers diagnostizierte viele Symptome der Krise. Auch er war von einer diffusen Angst erfüllt, von der Angst nämlich, daß die jüngste Vergangenheit wiederkehrte, daß eine neue totalitäre Herrschaft entstünde und ein brüchiges Gefüge leichthin zerstörte. So läßt sich seine vornehmlich an Parteien und Politikern geäußerte Kritik begreifen, eine Kritik, die aus Sorge um die Freiheit und aus Furcht vor dem Totalitarismus formuliert wurde.
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Der Parteienstaat als »Gehuse«
Die Jasperssche Kritik am Totalitarismus fokussiert die totalitären politischen Systeme. Karl Jaspers war auch ein kritischer Beobachter der politischen Entwicklung der Bundesrepublik. Er diagnostizierte sich ausbildende und verfestigende oligarchische Strukturen in den politischen Parteien. Die Kritik äußerte er insbesondere in den sechziger Jahren anläßlich des im Bundestags ausgetragenen Streits um die »Verjährungsfrist« im Rahmen des seinerzeit publizierten Bandes »Wohin treibt die Bundesrepublik?«. Wie kann eine parlamentarische Republik zu einem oligarchischen Parteienstaat werden – und wann wird dieser Staat zu einem »Gehäuse«? Wesentlich für das Jasperssche Verständnis eines solchen »Gehäuses« ist, daß scheinbar die Verantwortung des Individuums für das eigene Handeln oder Nicht-Handeln delegiert wird an das »Gehäuse«. Das persönliche Tun scheint gerechtfertigt durch die vermeintlich in diesem »Gehäuse« geltenden, absolut gesetzten Re219
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geln. Der Mensch ist somit nur ein funktionierendes, fungibles Wesen innerhalb eines Systems, dem er alle Verantwortlichkeit zuweist. Ausgangspunkt für die Jaspersschen Überlegungen war die erwähnte Debatte. Sein »Menetekel über die Bundesrepublik« 220 ist recht eigentlich eher ein Aufweis von sich manifestierenden Tendenzen denn eine Bestimmung eines bereits an die Totalität eines geschlossenen »Gehäuses« verlorenen Staates. Jaspers wähnt die Bundesrepublik in der Streitfrage um die »Verjährungsfrist«, in der aus politischer Opportunität, parteipolitischem Taktieren und aus Gründen der Staatsräson, nicht aus persönlicher Überzeugung heraus, eine vermeintlich einhellige Position bezogen wird. Dieses Resultat macht er als Anzeichen einer sich abzeichnenden tiefgreifenden Staatskrise aus, in der er eine Entwicklung »von der Demokratie zur Parteienoligarchie« und hernach »von der Parteienoligarchie zur Diktatur« 221 angebahnt sieht. Es zeigt sich, wie Jaspers in einem Brief an Hannah Arendt schreibt, die Verweigerung »realer politischer Verantwortung«. Die Bundesrepublik entwickelt sich seiner Auffassung nach nicht zu einem »anständigen Staat innenpolitischer Freiheit«. Vielmehr wird sie zu einer »korrupten Parteienoligarchie« 222 , die sich mit einer eigenen Konstruktion, eben dann als Parteienstaat, in dem die Parteien nicht an der politischen Willensbildung allein beteiligt, sondern gleichsam zu unvermeidbaren, omnipräsenten »Organen des Staates« 223 geworden sind, die parlamentarische Republik beherrschen. Eine »kleine innerlich volksfremde Parteiminorität« 224 besetzt die Führungspositionen. Es kommt zu einer verdeckten totalen Herrschaft. Somit bildet sich ein »Gehäuse« mit gefährlichen Eigengesetzlichkeiten heraus, in der das »Überpolitische«, gewissermaßen das sittliche Ethos des Handelns, der Parteiräson und dem Machtwillen unterworfen wird: »Wenn das Politische abhängig ist vom Überpolitischen, so muß das Überpolitische selbst unabhängig bleiben von der Politik. Wenn Politik nur gut ist im Dienste des Überpolitischen, so tötet sie das Überpolitische durch Politisierung. Die Verabsolutierung der Politik führt zum Versagen selbst den
Sontheimer, Kurt: Menetekel über die Bundesrepublik. Karl Jaspers’ politische Sendung. In: Saner (Hrsg.): Karl Jaspers in der Diskussion, a. a. O., 424. 221 B, 127. 222 BW I, 527. 223 B, 133. 224 A, 86. 220
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Der Parteienstaat als »Gehuse«
politischen Aufgaben gegenüber. Bleibt Politik nicht abhängig vom Überpolitischen, so kann sie blind in den Ruin rasen.« 225
Jaspers’ zeitkritische Diagnose des politischen Systems der Bundesrepbulik evozierte zahlreiche Einwendungen. K. Sontheimer etwa fürchtete die Gefahr des »Antiparteieneffekts«, den Jaspers’ grundlegende Kritik auslöste und möglicherweise verschärfen konnte. Viele Intellektuelle sahen indessen die Entwicklung der parlamentarischen Republik durch die machtvolle Rolle der Parteien eher gefestigt denn gefährdet. Ein »hochentwickeltes sittlich-politisches Bewußtsein« 226 , wie es Jaspers eigen war, mochte dies wohl anders beurteilen. Von der Warte eines pragmatisch-illusionslosen Realismus aus betrachtet, den der Philosoph, der unbedingt an die Erziehbarkeit der Menschen glaubte, kaum teilte, betrachteten auch andere Jaspers-Kritiker jener Tage, so K. J. Newman, in den Parteien eine Bastion gegen totalitäre Versuchungen und Extremisten. Parteien ermöglichen den Interessierten Partizipation. Aber niemand ist gezwungen, sich politisch zu engagieren. Somit wurden seitens der Kritiker des Philosophen nicht »liberale Kompromisse« – die in dem konzilianten Umgang von Parlamentarier verschiedener Parteien errungen oder, negativ ausgedrückt, arrangiert wurden – als gefährlich beurteilt. Destabilisierend für die Republik seien viel eher hohe Erwartungen und das Bemühen um »perfektionistische Prinzipien« 227 , die die sich etablierende Demokratie in Deutschland gefährden könnten. Hierdurch würden die totalitären Strömungen eher verstärkt als reduziert, ebenso durch eine Kritik, die »Kompromißbereitschaft« unter den Mandatsträgern und die »gegenseitige Achtung über Fraktionsgrenzen hinweg« als »Unfähigkeit« oder gar »Korruption« diffamierte. Leicht läßt sich eine solche Kritik gegen die parlamentarische Republik sodann instrumentalisieren, wenn nicht durch den Kritiker selbst, dann durch andere, die sich seiner Kritik bemächtigten, Kritiker, die möglicherweise weitaus weniger Respekt vor den Institutionen der parlamentarischen Republik besäßen als der Moralist Karl Jaspers. 228 Was aber der Philosoph an einer Auseinandersetzung schätzte, war eben nicht das unbedingte Bemühen um Konsens, sondern viel225 226 227 228
AZ, 51. Sontheimer: a. a. O., 433. Newman, Karl J.: Wer treibt die Bundesrepublik wohin?, Köln 1968, 30. Newman: ebd., 30. A
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mehr der in Freiheit geführte »geistige Kampf« und das aufrichtige »Werben für die eigene Überzeugung« 229 , das natürlich vom Respekt gegenüber dem Andersdenkenden getragen ist. Niemals aber ist dabei ein fader Kompromiß im Bemühen um den »Schein der Gemeinschaft« 230 intendiert. Auch zeigt sich hier, an die mit fulminanter rhetorischer Schärfe kritisierte konformistische Lebensart aus der Schrift »Die geistige Situation der Zeit« erinnernd, das »Afterbild der Freundschaft«. Jaspers glaubt, dies bei Politikern wiederzuentdecken. Er sieht es gegenwärtig in »Beziehungen«, die vom Standpunkt der Nützlichkeit aus beurteilt werden. Auch vermißt der Philosoph die »Kameradschaft selbstseiender Menschen«. Stattdessen findet sich eben die degenerierte Freundschaft, die sich mit der Form »konzilianten Umgangs« maskiert, aber fern jeglicher Aufrichtigkeit ist. 231 Jaspers vermutet hier Heimlichkeiten hinter »Fassaden« und eine verborgene »Regie«, nicht aber bewußt wahrgenommene »Verantwortung«. In vielerlei Arten von »Kompromissen« beweist niemand Autorität. Allein die »Methode« als »Ordnungsregelung« funktioniert, in der jeder Politiker als »Rädchen« nur noch »mitentscheidend«, aber nicht verantwortungsvoll »entscheidend« ist. Zugleich trägt das System die »Weihe eines vermeintlichen Interesses des Ganzen«. Aber »realpolitisch« handeln bedeutet, die eigene Funktion zu sichern, das Tagesgeschäft treiben zu lassen selbst in wichtigen und wichtigsten Fragen. Das Handeln beschränkt sich dann auf die »Sanktion der blind sich entwickelnden Wirklichkeit« 232 , um die Ratlosigkeit zu verbergen, ohne eine »Pathetik des vorgetäuschten Überzeugtseins« gänzlich verdecken zu können. 233 Auch sieht Jaspers wohl politische Gestalten vor sich, die gegen den »vorteilhaften Weg« für sich selbst alle Erwägungen hintanzustellen vermochten, die »keine innere Verantwortung« kennen, obzwar sie unausgesetzt davon sprechen. Trotz des »Pathos« der »rhetorischen Entschiedenheit« verlieren sich diese Politiker in die »beliebig« anmutende »Spielerei«, die dem Ernst der Politik, die von einem tiefen Ethos getragen sein soll, in keiner Weise entspricht. 234 Jaspers mochte seinerzeit die vermeintlich oder tatsächlich sich 229 230 231 232 233 234
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AZ, 379. AZ, 166. GSZ, 49. GSZ, 52. GSZ, 75. GSZ, 169 ff.
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Der Parteienstaat als »Gehuse«
abzeichnenden oligarchischen, vielleicht gar totalitären Strukturen über- und die politischen Entwicklungsmöglichkeiten unterschätzt haben. Seiner Kritik ist dennoch nicht jede Berechtigung abzusprechen. Das Jasperssche Plädoyer für einen sittlichen Staat, der freilich nicht ohne qualifizierte Staatsmänner zu haben ist, war weniger obstruktiv gegen die Bundesrepublik gerichtet, als vielmehr gegen von ihm konstatierte Entwicklungen, die erneut, wie er fürchtete, zu einem Totalitarismus hätten führen können. So hat auch schon zu Jaspers’ Zeiten kein Geringerer als Jürgen Habermas den streitbaren Philosophen gegen seine polemisierenden Kritiker in Schutz genommen. 235 Zwar hat Jaspers selbst die Demokratie, deren »Zerfall« 236 , vielleicht auch deren schleichende Transformation in ein oligarchisch-totalitäres Gefüge er befürchtete, niemals als »absolute, unantastbare Wahrheit für immer« 237 aufgefaßt. Er optierte aber für eine innere »Umkehr«, eine Wandlung der ethischen Gesinnung des Habermas schreibt: »Vielleicht hören die Politiker eines Volkes, das sich gern seiner Dichter und Denker rühmt, auf die Stimme der Vernunft eher, wenn sie sich der Sprache des Katheders bedient.« In: Habermas, Jürgen: Philosophisch-politische Profile. Frankfurt/Main, 115. Vergessen sollte man auch nicht, daß Jaspers als mahnende Stimme der Vernunft kurz vor 1933 in der Zürückweisung der technisch gestalteten Ordnung des Lebens, der Staat einer »Riesenfabrik« gleichend, indirekt die Weltanschauung der künftigen NS-Machthaber kritisiert und als illusorisch erwiesen hat. – Wer freilich, auch das sei erwähnt, genau sucht, entdeckt auf bei Jaspers zumindest fragwürdige Ausführungen. In »Die geistige Situation der Zeit« spricht er von der »Unmöglichkeit einer beständigen Daseinsordnung« und zählt dazu auch »Eugenik« und »Hygiene«, die niemals erreicht werden könnten: »Es gibt das spezifische Unglück des technischen Versagens. Vielleicht beraubt eine dauernde Seuchenbekämpfung die Menschen aller Immunität, so daß sie einer unvorhergesehenen Seuche wehrlos preisgegeben sind. […] Eugenik wird das Erhalten der Schwachen und die in unseren Zuständen vielleicht unaufhaltsame Rassenverschlechterung nicht hindern; denn man hat keinen objektiven Maßstab zur auslesenden Wertbeurteilung […]. Organisation ruiniert, was sie sichern möchte, den Menschen als Menschen, wenn sie nicht durch Gegenkräfte in Zaum gehalten wird.« Vgl. GSZ, 64 ff. Etwas später findet sich in demselben Text eine Kritik der »planetarisch« genannten Entwicklung der »Vereinheitlichung« – wir würden heute von Globalisierung sprechen – und dem damit verbunden Prozeß einer »Nivellierung«: »Auf Weltkongressen fördert man diese Nivellierung, wenn man, statt in echte Kommunikation zu treten, sich auf das Gemeinsame in Religion und Weltanschauung einigen will. Die Rassen mischen sich. Die geschichtlichen Kulturen lösen sich von ihrer Wurzel und stürzen in die technisch wirtschaftliche Welt und eine leere Intellektualität.« Vgl. ebd., 77. Man wünscht sich freilich, daß Karl Jaspers, der gewiß niemals mit der NS-Herrschaft sympathisiert hat, hier nicht nur die Unmöglichkeit einer solchen Planung festgestellt, sondern derlei Ansinnen prinzipiell deutlich zurückgewiesen hätte. 236 A, 5. 237 A, 11. 235
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Menschen, um einen »sittlichen-politischen Staat zu gründen«. 238 Was Jaspers forderte, war ein Staat, der »Sache der Verantwortung aller Bürger« ist und dessen primäre Bestimmung nicht die »Sicherung der Positionen der bisherigen Parteienvertreter« 239 darstellt. Dies könne am besten gelingen, wenn die Staatsbürger »durch die Parteien selbst, diese verwandelnd, zur Wirkung kommen«. 240 Als wichtigste politische Ziele nennt Jaspers die Vertiefung der transatlantischen Allianz mit den Vereinigten Staaten von Amerika und die Politik der Entspannung mit den Staaten in Osteuropa. Auch in der früheren Schrift »Die Atombombe und die Zukunft des Menschen« finden sich kritische Zeitdiagnosen, aber ebenso deutlich sein klares Bekenntnis zur politischen Freiheit: »Freiheit und Gerechtigkeit sind beide nur in der politisch freien Welt möglich, hier aber wegen Unehrlichkeit und voreiliger Zufriedenheit noch gar nicht erreicht.« 241
Die Gefährdung des politischen Systems zeigt sich insbesondere, wenn der Wille und das vielfältige Streben nicht unter Führung eines politischen Ethos stehen, sondern primär, vielleicht ausschließlich auf die Macht hin ausgerichtet sind. Die Macht – wie Jaspers ausführt – ruiniert den von ihr erfaßten Menschen in seiner sittlichen Substanz und schwächt das Urteilsvermögen. Das massive Streben nach »absoluter Macht« ist immer gefährlich. Es entwickelt sich eine Macht, die »böse wird, wenn sie nicht im Dienst der Idee steht, die ihr Gehalt gibt, von der sie ihren Sinn zu Lehen trägt«, so daß jede »Sicherung«, jedes Streben nach Machterhalt und Absolutheit der Macht das zerstört, was es zu sichern vorgibt. Aber, und diese Einschränkung in der kritischen Betrachtung muß berücksichtigt sein, Jaspers ist sich bewußt, daß er eine Entwicklung, einen »möglichen Weg« skizziert, nicht aber einen unveränderlichen Verlauf aufweist, A, 5. B, 171. 240 A, 86. 241 AZ, 377. Wie es um die Ehrlichkeit in totalitären Staaten bestellt war, muß Jaspers nicht eigens erwähnen. Diese selbst sind schon jener entgegengesetzt. Auch der Begriff »friedliche Koexistenz« wird ebenda kritisiert. So kann »friedliche Koexistenz« zwischen einem totalitär strukturierten und einem freiheitlichen Staatswesen niemals ein Zustand des Friedens sein. Nach Jaspers’ Auffassung stellt dies vielmehr, überspitzt formuliert, einen auf später vertagter Krieg dar, der begonnen wird, bis das totalitäre System, das seinen Anspruch nie aufgibt, den herrschenden Zustand überwinden und den Gegner endgültig besiegen kann. Vgl. obiges Kapitel zum Totalitarismus. 238 239
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Der Parteienstaat als »Gehuse«
indem die »Parteienoligarchie« sich etabliert, unmittelbar zum »autoritären Staat« und von dort zum diktatorischen Regime sich wandelt. Der Philosoph warnt vor »mächtigen Tendenzen« in den Parteien und glaubt, daß zwar die »Verbrechen des NS-Staates« nicht vergessen sind, wohl aber all das, was sich mit dem Jahr 1933 verbindet – nämlich der Untergang und das Ende der Weimarer Republik. 242 Zu der Bundesrepublik und den führenden Politikern, die »ohne Führung durch eine Idee« agieren, vermag Jaspers ein »Vertrauen« folglich nicht zu entwickeln. So seien hier deutliche Worte aus dem Schlußkapitel des Werks »Wohin treibt die Bundesrepublik?« zitiert, die die Schärfe der Jaspersschen Analyse belegen: »In der Politik der Bundesrepublik handelt man von Fall zu Fall ohne Führung durch eine Idee. Man setzt sich falsche Ziele, man will schlau sein; man läßt sich erpressen; man erfährt Demütigungen über Demütigungen und vergißt das schnell. Weil man weder eine Grundauffassung der politischen Weltlage, noch eine Konzeption des republikanischen Staates in seiner Struktur hat, lebt man weder in der Realität noch im Willen zur Freiheit. Man lebt im Reagieren, nicht durch eigenes Agieren. Man unterwirft sich den Zufällen, statt sie für gehaltvolle politische Zwecke zu nutzen. Das ist Geistlosigkeit und politisch ohne Charakter.« 243
Ohne abschließend beurteilen zu wollen, inwieweit die von Jaspers geäußerte Kritik in ihrer Radikalität gerechtfertigt ist – daß ihm das politische System der Bundesrepublik fremd blieb, ist unverkennbar –, wirkt die von ihm geäußerte Mahnung gleichwohl überzeichnet. Denn daß er eine Krise in Deutschland beschwor, die dem Zustand vor Hitlers Machtergreifung ähnelte, zeigt, daß er die politische Situation nicht gänzlich zutreffend einzuschätzen wußte. Jaspers hatte besonders skeptisch die sich in den sechziger Jahren abzeichnende Wendung zur »Großen Koalition«, die aber schließlich nur kurzlebig war, als eine – glücklicherweise stets vermiedene – »Allparteienregierung« mit oligarchischen Tendenzen kritisiert. In einer solchen würde die »Scheindemokratie« endgültig aufgegeben und in die »autoritäre Regierung der Parteiendemokratie« transformiert. In der oligarchischen Struktur wäre das Parteiinteresse des Machterhalts unbeschränkt wirksam, die eigentlichen Interessen der Herrschenden selbst würden verschleiert werden und die »Ämterpatronage« verstärkt, da die »unwesentlichen Verschiebungen« im 242 243
B, 174. B, 258, A
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Parteiengefüge belanglos wären. Diese würde durch den Rhythmus der demokratischen Wahlen bestätigt: »Das Volk hat gewählt, das Volk kann gehen.« Aber so zeigt sich doch hier, Jaspers zufolge, daß eine begrenzte Zahl machtbewußter Politiker in dem Gemeinwesen zu herrschen begännen. Partizipation an politischen Entscheidungsprozessen wäre nahezu ausgeschlossen, es sei denn, der Betreffende besäße das passende »Parteibuch«. So wird die »Parteimitgliedschaft« zu einem »unumgänglichen Mittel der privaten Laufbahn« auch im außerpolitischen Bereich. Die totalitären Züge dieser oligarchischen Strukturen zeichnen sich Jaspers zufolge dadurch aus, daß die Politiker allein einen »aussichtsreichen Job« erstreben und daß eine homogene Minderheit die »überwältigende Mehrheit« beherrscht. Die »Besten« und »Urteilsfähigsten« sind von vornherein in der ausgeschlossenen Minderheit, da sie nur als Parteimänner regieren können, aber nicht als Angehörige einer »politischen Aristokratie«, die sich dem sittlichen Ethos verpflichtet fühlt und nicht den Regeln einer Partei. 244 Die Parteienoligarchie bedeutet eine »Verachtung des Volkes« mit totalitären Tendenzen, ausgerichtet auf die »Anonymität der großen Zahl«, um die die Parteien bei Wahlen werbend sich bemühen, mit Versprechungen, die den vermeintlichen oder tatsächlichen Bedürfnissen des Wahlvolkes entsprechen. Die Bevölkerung ist aber nach den Wahlen wiederum um ihre Hoffnungen betrogen. Aber der eigentümliche Charakter der Herrschaft zeigt sich darin, »wie der Wahlkampf geführt wird« und »an welche Instinkte er sich wendet«. So mag ein führender Politiker sich als Anwalt der Bedrängten, als pragmatischer Gestalter oder als Anwalt eines schier ewigen Friedens sich aufspielen und um des bloßen Machterhalts willen jede denkbare Gesinnung pro forma einnehmen. So lautet Jaspers’ Verdikt über die Parteienoligarchie und ihre unabweisbaren totalitären Tendenzen: »Sie neigt dazu, dem Volke Informationen vorzuenthalten. Man will es lieber dumm sein lassen. Das Volk braucht auch die Ziele, die die Oligarchie jeweils sich setzt, wenn sie überhaupt welche hat, nicht zu kennen. Man kann ihm statt dessen erregende Phrasen, allgemeine Redensarten, pompöse Moralforderungen und dergleichen vorsetzen. Es befindet sich ständig in der Passivität seiner Gewohnheiten, seiner Emotionen, seiner ungeprüften Zufallsmeinungen.« 244
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Der Parteienstaat als »Gehuse«
Die »Schamlosigkeit der Parteienoligarchie« wird von den Mandatsträgern selbst, die Respekt fordern, nicht empfunden. Sie verstehen sich als »Vertreter des Volkes« und meinen diejenigen, die sie kritisieren und gar »beleidigen«, diffamierten die Wähler und somit den eigentlichen Souverän. Sie glauben, daß sie kraft Amtes die »Macht« und den mit ihr verbundenen »Glanz« berechtigterweise einnehmen. 245 Jaspers plädiert für Politiker, die als »große Erzieher« 246 wirken und nicht um Machterhalt um seiner selbst willen sich bemühen. Er wünscht sich den Staatsmann, den »demokratischen Führer«, der »überzeugend« und als »Bürger« 247 auftritt, das sittliche Ethos verkörpert und in allem glaubwürdig agiert. Einen solchen vermochte er in dem von Parteien beherrschten Gemeinwesen nicht zu entdecken. Karl Jaspers hat letztlich dann auch vor dem »Gehäuse« gewarnt, das er in dem politischen System der Bundesrepublik sich manifestieren sah, in der, den ursprünglichen Absichten und dem Geist der Verfassung, wenn man so sagen will, entgegengesetzt. Wiederum nehmen nicht mündige Staatsbürger ihre Verantwortung wahr, die Ideale der Erziehung werden nicht umgesetzt und die Menschen in diesem Staat nicht zu politisch reifen, freien Bürgern gebildet. Stattdessen wird über oligarchische Strukturen eine »autoritäre Regierung« möglich, die aus dem Motiv des Machterhalts bestrebt wäre, das Volk »dumm [zu] halten« 248 , also in einem Zustand der Unmündigkeit zu belassen. Der Bevölkerung würde die vermeintliche Stabilität im »Gehäuse« des Parteienstaats zugesichert. Aber das Bewußtsein, daß die Zukunft und das Gedeihen eines freiheitlichen Staates stets »Sache der Verantwortung aller Bürger« 249 ist, wird nicht gefördert. Eine positive Entwicklung ist in diesem Staat unmöglich. Jaspers konstatiert resigniert: »Der Staat, das sind die Parteien.« 250 Seine Kritik indessen, die Sittlichkeit evozieren will, versucht positiv zu wirken, als »Kritik, die zur Demokratie und Freiheit vorantreibt« und nicht als »Kritik, die die Demokratie und Freiheit haßt und abschaffen will«. 251 245 246 247 248 249 250 251
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Jaspers wäre nicht bereit, sich der Argumentation seiner Kritiker anzuschließen, die in den Parteien Garanten des Fortbestands dieses Gemeinwesens sehen, also stabilisierende Faktoren, die aber zum Erhalt eines Systems beitragen, das von den Bürgern des Staates offenbar mehrheitlich nur als »Gehäuse« angenommen ist. So verteidigen die von Jaspers gescholtenen Parteien und Politiker auch nicht die sittliche Substanz des Staates, sondern die Strukturen eines Ordnungssystems, mit dessen Idealen der Philosoph übereinstimmt, die er aber gerade durch die in diesen mächtigen Gruppierungen und Personen gefährdet sieht. Wer sich, so ließe sich resümierend bemerken, den Staat geschützt sieht durch die politischen Parteien, die oligarchisch strukturiert sind, bahnt neuen totalitären Tendenzen den Weg. Denn der Erhalt des Systems, des »Gehäuses«, scheint ihm bedeutsam zu sein – und nicht das, was der Staat sein soll: ein Hort politischer Freiheit. Die Jasperssche Diagnose orientiert sich an dem Ziel der verantwortlichen Teilhabe mündiger Staatsbürger am Gemeinwesen und negiert leidenschaftlich, wie gezeigt wurde, den »falsch angebrachten Glauben an ein irdisches Paradies« und seine totalitären Konsequenzen ebenso wie die Enge eines geordneten Parteiensystems, das auch als »Gehäuse« letztlich nicht dazu führt, daß sich die Bürger mit dem Staat identifizieren. 252 Wie aber soll der Mensch diesen »Gehäusen« entrinnen? Bietet die Wissenschaft einen Ausweg? »Wenn aber, scheinbar kritischer, die freien Wissenschaften im Sinne der Erkenntnis, die technisch anwendbar sind, verfahren und überall mit ständigen Planungen unkritischer Art die Gesellschaft, die ihnen wissenschaftsabergläubisch folgt, durchdringen, so geschieht durch mißverstandene Freiheit ein vergleichbares Verderben. Denn nicht aus irgendeiner Wissenschaft kommt die Rettung im ganzen.« 253
d) Wissenschaft als »Gehuse« Für Karl Jaspers war, wie bereits bemerkt, Max Weber als Mensch und Wissenschaftler ein leuchtendes Vorbild. Grundlegend für die Jaspersschen Überlegungen zur Wissenschaft, zu ihren Möglichkei252 253
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Vgl. SF, 82 f. AZ, 389.
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Wissenschaft als »Gehuse«
ten und ihren Grenzen, ist die Rezeption der Weberschen Soziologie. Wichtig für ihn ist weiter das in verstreuten Schriften, insbesondere aber in der Rede »Wissenschaft als Beruf« artikulierte Wissenschaftsverständnis des bewunderten Denkers. Webers Auffassung wird mit dem Begriff »werturteilsfreie Wissenschaft« bezeichnet und bis heute viel diskutiert. 254 Webers Wissenschaftsbegriff wird von Jaspers reflektiert. Er nennt jede Art von Wissenschaft, die zum »Gehäuse« ausgeweitet wird, »Wissenschaftsaberglauben«. Das »verabsolutierte rational zwingende Wissen« 255 nimmt wie die politische Ideologie Züge eines totalitären Systems an. So entwikkelt sich eine »pseudowissenschaftlich sich rechtfertigende Gewaltsamkeit« 256 , die alle Lebensbereiche zu bestimmen versucht. Die »scheinbar allumfassenden Theorien« laufen indessen dem Streben nach Erkenntnis, dem eine »sachadäquate Begriffsbildung« dient, zuwider. Die Anwendung begrenzter Theorien für fest bestimmte Bereiche erweisen sich bei der Übertragung des Geltungsanspruchs auf andere Terrains der Erkenntnis als »schädigend«. 257 Der Mensch bleibt als »bewußtes, denkendes Wesen« dennoch »ungewiß« und im Inneren »unruhig« in der Welt. Er verharrt »angstvoll im Nichtwissen«. Von der Wissenschaft verspricht er sich, daß sie ihm dazu verhilft, nicht ins »Bodenlose« abzugleiten. Sie soll als »fester Halt« in einer wissenschaftlichen Weltorientierung dienen. Darum versucht der Mensch, den rational gefaßten Prinzipien der Forschung vertrauend, »zwingendes, allgemeingültiges Wissen« zu erwerben. Er bemüht sich, »das Endlose zu beherrschen«. Dies soll ihm vermittels der Wissenschaft gelingen, die die »Einheit des Wißbaren« vorführt und ein »systematisches Ganzes« bietet, das sich zur Totalität schließt. 258 254 Den Streit und wesentliche Diskussionsbeiträge hinsichtlich der Problematik werturteilsfreier Wissenschaft bis 1967 dokumentieren H. Albert und E. Topitsch in einem 1971 publizierten Band. Vgl. Albert, Hans / Topitsch, Ernst (Hrsg.): Werturteilsstreit, Darmstadt 1971; neuere Arbeiten, u. a. von W. Hennis, sind versammelt in dem 1994 von G. Wagner und H. Zipprian veröffentlichten Band: Max Webers Wissenschaftslehre, Frankfurt/Main 1994. Außerdem: Käsler, Dirk: Max Weber. Eine Einführung in Leben, Werk und Wirkung. Frankfurt/Main; New York 1995, bes. 222–251. Zum Wissenschaftsbegriff Webers und zur Rezeption des Weberschen Werkes durch Jaspers s. auch: Paprotny: Politik als Pflicht?, a. a. O., dort bes. 66–75 u. 104–115. 255 GSZ, 186. 256 AZ, 385. 257 P I, 107. 258 P I, 86.
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Die »Frage nach der Einheit« ist ein wesentliches und verständliches Moment der »Vergewisserung meines Seins«. Schließlich richtet sich das Erkenntnisstreben auf eine vermeintliche Totalanschauung, weil es sich von dieser Halt erhofft. Aber in der »Vergewisserung« weiß er, anders als das Streben nach Halt oder »Sicherheit«, daß die Wissenschaft partikular betrachtet diesem Streben genügen kann, aufs Absolute gewendet als »Enttäuschung« in haltlose »Verzweiflung« münden muß. Die »Idee der Einheit der Wissenschaften«, als einzige »Totalität«, läßt sich selbst niemals »endgültig« begreifen und ist folglich auch nicht als solche zu ergreifen. 259 Das Denken bleibt stets an die Grenzen möglicher Erkenntnis gebunden. Vielfach aber wird diese Vorläufigkeit als nicht ausreichend beschrieben. Von gewonnenen Einsichten wird eine umfassende Gültigkeit erwartet, als könne die Wissenschaft nicht allein eine partikulare Richtigkeit erweisen, sondern, darüber hinausgehend, mit diesen erworbenen, wissenschaftlich verifizierten Einsichten den Geltungsbereich beliebig ausweiten. Dann würde partikulares Wissen auf die Totalität angewendet und die begrenzt gültige Erkenntnis zu einem stabilen »Gehäuse« ausgestaltet, da das wissenschaftlich Erkannte doch, wie irrtümlich angenommen, in umfassender Weise richtig sein müsse. Alsbald werden Imperative daraus abgeleitet, die sich aus einer unzulässigen Überschreiten der Grenzen menschlicher Erkenntnis erklären. Die Absolutsetzung der Ergebnisse partikularer Wissenschaften und die Anwendung ihrer Methodik auf andere Wissensbereiche liegt in dem Impetus begründet, ein »Wissen vom Ganzen« für möglich zu halten und die begrenzten Resultate zur »Universalwissenschaft« zu überhöhen. So soll letztlich die »Seinstotalität« erfaßt werden. 260 Eine wissenschaftliche Disziplin – dies gilt vor allem für eine positivistische Naturwissenschaft – behauptet die »Richtigkeit zwingender Einsicht« von ihrem »Standpunkt theoretischen Erkennens«. Doch bietet diese Wissenschaft letztgültige, lebenserleichternde »zwingende Einsicht«, die der nach Halt strebende Mensch begehrt? Eine verläßliche Aussage ist getroffen, die »Richtigkeit« unumstößlich. Allein sie ist an die Partikularität des Forschungsbereichs gebunden, den aber zu überwinden versucht, wer diese »zwingende Ein259 260
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sicht« – und die Methodik, mit der sie erforscht wurde – auf die »Absolutheit des Ganzen alles Umgreifenden« beziehen will. So verkennt, wer dies intendiert, daß eine partikulare Erkenntnis auch nur partikulare Gültigkeit besitzen kann. Die entsprechende Methode ist für den jeweils gegebenen Gegenstand zweckmäßig. Auf das Ganze bezogen aber kann sie niemals dem Anspruch genügen, Ergebnisse derart, wie sie sie über einen Einzelaspekt zu liefern weiß, nun hinsichtlich der »Absolutheit des Ganzen alles Umgreifenden« zu geben. In Bezug auf diese ist die Methode nur »relativ« 261 gültig. Denn sie läßt die Frage unbeantwortet, warum die Forschung überhaupt betrieben wird. Bezogen auf die Lebensführung ist eine solche partikulare wissenschaftliche Erkenntnis ohne Belang. Nichtsdestotrotz versucht der Erkennende beständig, den Kreis der partikularen Gültigkeit zu erweitern. Solches Unterfangen läuft jeglichem Anspruch intellektueller Rechtschaffenheit zuwider und führt wiederum zur Gehäusebildung. Das Streben nach Halt erweist sich als machtvoll. Ein allgemein gültiges Ordnungsmuster, hier eine Wissenschaft von begrenzter Aussagekraft, wird zur einzig gültigen Interpretation von Mensch, Menschenwelt und Welt. Zunächst erscheint dieses Streben sehr begreiflich zu sein, denn die »zwingende Einsicht« bietet solide Ergebnisse und einen verläßlichen »festen Halt«. Sobald man aber das Feld positivistischer Naturwissenschaft, in der etwas erprobt und innerhalb eines Versuchsablaufs, anhand der Bedingungen, unter denen dieses Experiment stattfindet, ein Ergebnis mit »zwingender Einsicht« (vielleicht ein Versuch, der die Gültigkeit der Fallgesetze erweist) zutage gefördert wird, verläßt, ist rasch vergessen, daß es sich bei der wissenschaftlichen Betrachtung nur um eine »begrenzte Perspektive in der Welt« handelt. Verführt durch die scheinbare Bedeutsamkeit des Resultats und entsprechend dem vermessenen Anspruch des existentiell bedrängten, nach Halt strebenden Forschers, der nicht mögliche Antworten, sondern verläßliche, ja absolut gültige Antworten erhalten will, wird die begrenzte Gültigkeit des Erforschten verkannt. Nun glaubt man, die gewünschten Antworten erhalten zu haben. Aber die »begrenzte Perspektive«, trotz der mit ihr verbundenen »zwingenden Einsicht« ist stets nur von partikularer Relevanz und nicht die »einzige Wahrheit«. Es sei, so Jaspers, »tödlich« solches zu erwarten oder gar zu behaupten. Denn dann würde eine partiell gültige Einsicht absolut gesetzt und 261
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zu einem »Gehäuse«, in das die »zeitlose Geltung des zwingend Richtigen« als objektiv nachvollziehbare Lehrmeinung, die »zwingend für jedermann« sei, integriert würde. 262 So ergibt sich ein trügerischer und unaufrichtiger »Enthusiasmus«, der ein »dogmatisches Teilwissen« absolut setzt und aus diesem vermeintlich universell gültigen Prinzip die Welt glaubt erklären zu können. Damit geht ein subjektives Überlegenheitsgefühl einher, gegenüber allen »Nichtwissenden«, somit allen, die nicht das doktrinär gelehrte Wissen kennen resp. nicht annehmen oder einsehen wollen. Wer sich so wissend glaubt, meint, den Besitz des »Schlüssels« 263 genießen zu können, der jegliche Tür zu öffnen scheint. In selbstgewissem Hochmut rühmt er sich des eigenen, vermeintlich absoluten Wissens und nimmt an, diesem entsprechend die Welt gestalten zu können, während jegliches Erkennen sich doch nur auf einen abgesonderten Gegenstand richtet. Es bietet darum nur eine partikulare Erkenntnis. Niemals aber schließt sich diese, auch nicht als Summe aller partikularen Erkenntnisse, zur Totalität einer letztgültigen wissenschaftlichen »Weltanschauung«, die alle Fragen redlich beantworten kann. Die Wissenschaft findet Ziel und Grenze stets nur in dem Gegenstand, dem sie sich nähert, der niemals »das Ganze«, allenfalls »ein Ganzes« ist – und schon in der unmittelbaren Gegenständlichkeit sich absoluter Erkennbarkeit entzieht. Als »Bestimmtheit« besteht der Gegenstand neben anderen Gegenständen und in Relation zu diesen, so daß etwas Gegenständliches niemals das Absolute darstellen kann. 264 Die »endliche Wahrheit«, die abgesondert und absolut gesetzt mit dem »schlechthin Wahren« identifiziert wird, wird irrtümlich als Wahrheit angegeben. Denn alles, was erkannt wird, ist bestimmt und begrenzt. Es wird zur »Unwahrheit«, wenn es fixiert ist als das »Wahre an sich«, das »unbedingt« als »Unbezweifeltes« gelten soll. Es hieße, »wissenschaftliche Ergebnisse« der positiven Wissenschaften als »dogmatisches Wissen« zu betrachten und bedeutete einen »ständigen Mißbrauch unseres Erkennens«, wenn etwas Partikulares absolut gesetzt würde.265 Solche partikular gültigen Gesetzmäßigkeiten mögen trotz ihrer 262 263 264 265
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Wissenschaft als »Gehuse«
unbestreitbaren »Richtigkeit« zugleich »existentiell gleichgültig« sein, wie andere »Verstandesrichtigkeiten« auch. Für diese Wahrheit würde »kein Mensch sterben« wollen und sollen. Jaspers zählt etwa die Mathematik hierzu. Deren Ergebnisse sind einsichtig, aber darum nicht für alle Lebensbereiche belangvoll und gültig, zumal nicht alles, was wirklich wichtig ist, auch gezählt, also mathematischen Formeln entsprechend aufgelöst und dargestellt werden kann. Es ist grundverkehrt, die »zwingende Einsicht« des »Allgemeingültigen«, was die wissenschaftliche Erkenntnis bietet, als etwas »Absolutes« zu behandeln, »aus dem ich leben könnte«. Das würde bedeuten, von der Wissenschaft zu fordern, was sie zu leisten nicht imstande ist. Die »zwingende Einsicht« soll ihrem Anspruch entsprechend Gültigkeit erhalten. Aber wer erwartet, daß sie darüber hinaus zu geben hätte, was nur »metaphysischen Gehalten« gelingen kann, erwartet zuviel. Jaspers bestimmt dies in der existenzphilosophisch bedeutungsvollen Sprache als »Bewußtsein des Genügens am Sein« und »Ruhe im Sein«. Wir dürfen wohl auch sagen: Orientierung in der Welt und letzte Sinnerfüllung. Die Wissenschaft, die vorgäbe, dies leisten zu können, wäre ein gefährlicher »Betrug«, da die Wissenschaften mit ihren Erkenntnissen die »Seinserfüllung«, die Sinngebung, nicht leisten können. Sie böten nur »Leeres«, was aber der möglichen Absolutsetzung partiell gültiger wissenschaftlicher Erkenntnis zu einem »Gehäuse«, das behauptet, diese Fragen mit der Wissenschaft beantworten und somit den letztgültigen Sinn bieten zu können, nicht entgegenzustehen scheint. Somit sind die »Gehäuse« einer mit Mitteln der Wissenschaft gestalteten »Weltanschauung« zu kritisieren wie vordem der Totalitarismus. 266 Denn hier wie dort läßt sich, beispielsweise, das planerische Element feststellen. Jaspers scheint sogar moderne Diskussionen über Gentechnik und Bioethik zu antizipieren, wenn er vor der Verführbarkeit des Menschen durch den Glauben, »alles ›machen‹ zu können«, warnt. So wird die Kreation eines »wünschenswerten Menschen nach Plan« 267 benannt, aber auch das »pädagogische Planen« als ziellose »Vielwisserei« oder auf »Züchtung« ausgerichtete »Dressur« bezeichnet, mit der der Mensch freilich »gerade nicht« erzogen wird. Stattdessen wird er auf Fungibilität und Verfügbarkeit hin abgerichtet, ganz gleich, ob er sich totalitär-politischen, ökonomischen oder anderen »Gehäusen« anpassen soll, um fremden, auch inhuma266
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nen Ansprüchen zu genügen, die die bestmögliche Integration in ein solches Ordnungsmuster intendieren, nicht aber die Verwirklichung seiner selbst als autonome Persönlichkeit zu fördern gedenken. 268 Bedenkt man, daß nach wie vor ein »Gehäuse« dem Streben nach Halt dienen soll, so ist es begreiflich – begreiflicher vielleicht als totalitäre Konstruktionen entsprechender politischer Ideologien –, daß diese Erträge der Forschung wie »Felsen in dem Meer des kommenden und gehenden möglichen Wissens« betrachtet werden. Eine »Tatsache«, denn nichts anderes stellt das »zwingende Wissen« dar, vermag Stabilität und Ordnung zu bieten. Aber sie kann doch letztlich nicht das Entscheidende sein, worauf sich menschliches Leben gründet. Näher besehen bleibt sogar bei diesen »Gestalten des Objektiven« ein »Rest von Unsicherheit«, der zwar minimiert, niemals aber ganz aufgehoben wird durch absolute Gewißheit. So ergibt sich das »Zwingende der Theorie« aus der »Bestätigung durch Tatsachen«, indem »Heterogenes zur Einheit« gebracht wird, an Genauigkeit gewinnt, aber niemals »endgültig« ist. Es kann also stets falsifiziert werden. Niemals gelingt es, die »ganze Wirklichkeit« zu erfassen, mag auch ein Maximum an »Gewißheit des Sichverlassens« erreicht werden, das aber niemals »absolut zwingend« ist. Die »zwingende Einsicht« bleibt relational bezogen, vielmehr nur von einer an »Gewißheit grenzenden Wahrscheinlichkeit«. 269 Diese Grenzen möglicher Erkenntnis sind bezeichnet durch »Wertungen« und »Vorurteile«, zudem durch die Erscheinungshaftigkeit des Objekts, das in seiner »unmittelbaren Wirklichkeit« 270 nicht erkennbar ist. So soll der einsichtsvoll Forschende – dessen »Leiden an der Ungewißheit« verständlich, aber für das »kritische Bewußtsein« zugleich unausweichlich ist – für das, »was mir wichtig ist«, nicht absolute Gewißheit erwarten. Er soll erst recht nicht mit der Anmaßung des partiell 268 AZ, 387. C. Albrecht bemerkt zur Pädagogik der Gegenwart: »Seit es gedruckte Bücher und einen darauf abgestimmten Schulunterricht gibt, haben wir gelernt, die Wirklichkeit zu zwingen, auf unsere Fragen zu antworten. Das nennen wir Wissenschaft. Schule besteht darin, unseren Nachwuchs permanenten Tests zu unterziehen und andauernd auf Fragen effizient antworten zu lassen. Im Format von Frage- und Antwortsätzen zu denken, ist eine grundlegende, seit Jahrhunderten eingeübte Kulturtechnik, mit der wir unseren Geist ebenso disziplinieren und technisch zurichten wie die Wirklichkeit.« Albrecht, Christoph: Wer verdient hier Respekt? Wie unsere technische Elite kulturellen Selbstmord begeht. In: F.A.Z. vom 8. 10. 2002, 35. 269 P I, 90 f. 270 P I, 92.
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Wissenschaft als »Gehuse«
Kundigen sich eine über dieses Partikulare hinausreichende Gewißheit, basierend auf »vermeintlichem Wissen« mit der Autorität eines scheinbar umfassend »›Sachverständigen‹«, anmaßen, der als Kenner dieses wissenschaftlichen »Gehäuses« firmierte. 271 Besonnen wider die Absolutsetzung eines solchen »Gehäuses« zu handeln, heißt, das »jeweils Zwingende« in seiner begrenzten Gültigkeit zu akzeptieren, aber nicht zugleich dem »Wissenschaftsaberglauben« anheimzufallen, sondern, der Subjektgebundenheit der Erkenntnis eingedenk, das »Zwingende« in der »Schwebe« zu halten. Daß dies freilich leichter gesagt als getan ist, weiß Jaspers sehr wohl. Denn hier wirkt wieder das bereits sich manifestierende Streben nach Halt, das nun, verbunden mit den »Daseinstrieben der Angst«, die absolute Gewißheit sucht, zur »Fixation im absoluten Wissen« drängt, die »Unsicherheit« fürchtet und offene »Möglichkeiten« als intolerabel beurteilt. 272 Zugleich wird bewußt, daß die »zwingende Richtigkeit«, die sich verläßlich wissenschaftlich erarbeiten und darstellen läßt, zwar einen »unumstößlichen Eckstein in der Weltorientierung« bildet, ohne den alles Streben nach Erkenntnis und Halt in einen schwärmerischen Mystizismus, eine wissenschaftliche Evidenz ignorierende totalitäre Weltanschauung oder einen blinden Offenbarungsglauben mündet. Gleichwohl muß eingestanden werden, daß das »Anerkennen des Richtigen« nicht alle »Befriedigung des Wissens« ausmacht. Aber ein »Mehr«, das auch von der Wissenschaft erwartet wird, wenn sie als »Gehäuse« figuriert, vermag diese redlicherweise nicht zu leisten. Denn jenes »Mehr«, das über die »zwingende Richtigkeit« hinausweist, liegt nicht in dieser selbst, sondern ist nur als ein Verweisen auf das »Übergreifende« der »Einheitsidee« spürbar, die niemals auf »zwingende Richtigkeit« reduziert werden kann. Eine »gesuchte«, auch »gehaltvolle« Idee ist diese »Einheitsidee«, die zwischen »Wesentlichem und Unwesentlichem innerhalb des Zwingenden« zu unterscheiden lehrt, den »Impuls« darstellt, warum überhaupt Wissenschaft getrieben wird und im »Augenblick des Findens« die »Befriedigung« 273 verschafft. Sie liegt aber in ihrer »existentiellen Relevanz« jenseits eines hermetischen »Gehäuses«, denn das partikular gültige Wissen bietet nicht die erstrebte »letzte Befriedi-
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P I, 93. P I, 94. P I, 138 f. A
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gung« 274 , die es nur vorgibt einzulösen, wenn sich es zum »Gehäuse« schließt. Begrenzte Erkenntnis, die den »Sinn des Lebens« ausmachen oder die Leitlinien zur »Führung« des Lebens mit letzter Gewißheit angeben zu können, wäre unzulässig und unredlich über den Geltungsbereich erweitert. 275 Dann hätte sich die Wissenschaft den »Pflock«, an dem sie gleichsam befestigt ist, aus sich selbst gegeben. Jaspers folgend aber bleibt menschliches Denken und Erkennen an »spezifische Kategorien« von begrenzter Gültigkeit gebunden. 276 Wer sich dessen bewußt ist, wird die Wissenschaft nicht zum absolut gültigen »Gehäuse« ausgestalten wollen. Die »zwingende Einsicht« bezieht sich auf den wissenschaftlich untersuchten Gegenstand, nicht auf eine – niemals mögliche, aber zuweilen angemaßte – »Erkenntnis vom Sein als Ganzen«. Stets muß die Subjektgebundenheit der Erkenntnis berücksichtigt werden, der »Standpunkt« des Erkennenden und die damit verbundenen »Voraussetzungen«, die als Erkenntniskritik – kantischer Tradition entstammend – der wissenschaftlichen Erkenntnis von Gegenständen die Grenzen aufzeigen und die Unmöglichkeit einer absolut gültigen »zwingenden Einsicht« aufweisen. Diese wird aber allzu oft unzulässigerweise behauptet, da der nach stabilem Halt strebende Mensch, statt sich mit den gewonnenen partikularen Einsichten zu begnügen, ein absolut gültiges »Gehäuse« einer wissenschaftlich fundierten Weltanschauung zu gestalten bemüht ist. 277 Das Streben nach Halt – und die Macht dieses Strebens ist auch im Felde der Wissenschaft ebensowenig zu unterschätzen wie bei den vorausgegangenen Analysen totalitärer Ansprüche im politischen Leben – begnügt sich nicht mit dem Erkennen dessen, was redlicherweise zu erkennen möglich ist. Es weitet sich aus und verengt sich zugleich beim »Erkennen des Menschen«, indem es sich »Totalurteile über das Menschsein« anmaßt und zu einem »vermeintlichen Bescheidwissen im Ganzen« führt. Dieses angemaßte Wissen scheint eine wissenschaftliche Grundlage für das »Gehäuse« 278 zu besitzen, aber nur aus Sicht des »unkritischen Verstandes«, der ein »vermeintlich wissenschaftliches Weltbild« kreiert, das im Zuge der 274 275 276 277 278
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P I, 145. PA, 44 f. P I, 145. W, 735. PG, 43.
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Wissenschaft als »Gehuse«
»Entzauberung der Welt«, die Max Weber diagnostizierte, in einen »Wissenschaftsaberglauben« fällt. Dieser ist begünstigt durch den »suggestiven Eindruck«, der mit dem »ständig wachsenden Besitz von Wissen und Können« einhergeht, aber nur alles zu umfassen glaubt, der Immanenz vollauf verhaftet bleibt, mitnichten aber die Totalität des Seins zu erkennen vermag. 279 Die Begrenzung auf die relationale Beziehung bedeutet nicht, einer relativistischen Beliebigkeit Vorschub zu leisten. Die »Verabsolutierung«, die Jaspers gerade zu verhindern bemüht ist, versucht, das partikulare Wissen als Teil eines »Gehäuse« absolut zu setzen, obzwar es nur »in Beziehung« steht, und, so Jaspers, als »Objekt« nur für das »Subjekt« gegeben ist. Es kann nicht »absolut« sein, weil die Resultate der Forschung über den »Gegenstand«, auf den die Erkenntnis von einem »Standpunkt« – vom Erkennenden aus besehen – gerichtet ist, nur für ein erkennendes »Subjekt« gelten können, von anderen erst nachvollzogen werden müßten. Dies bedeutet jedoch epistemologisch betrachtet eine von Jaspers einkalkulierte Reduktion gegenständlicher Erkenntnis auf subjektive Voraussetzungen, indem er verallgemeinernd »alles Wissen von Gegenständen« auf einen »Standpunkt« bezieht – der, weniger unscharf formuliert, auch als Stufe der Erkenntnis unter gegenwärtigen Bedingungen verstehbar ist. Doch die Gültigkeit von Naturgesetzen besteht auch ohne die subjektive Einsicht des Betrachters. Auch das »Wissen« verliert sich nicht, nur weil ein vielleicht vorurteilsbeladener »Standpunkt« aus Unwissenheit eingenommen wird. Es bleibt bestehen, selbst wenn sich der Erkennende der Einsicht verweigert. 280 Das »Wissen in den Wissenschaften« als »objektives System der Gegenständlichkeiten« wäre ein »Gehäuse«, das, verbunden mit einer »begrenzten Anzahl von Prinzipien«, zu einem »Ganzen« geformt wäre. Es verspräche als »System der Gegenstände« eben mehr zu leisten, als was es zu leisten imstande ist. Aus diesem »System der Gegenstände«, in dem alles wißbar wäre und als erwiesen vorausPGO, 430 f. »Was Welt ist, geht nicht auf in meiner Situation, sondern bleibt das Unermeßliche, Unbegreifliche, Andere noch über den weitesten Horizont hinaus, den ich erblicke. Aber Welt wird auch als das, was sie in meiner Situation ist, in keinem Begriffe zureichend gefaßt. Denn sie ist objektiv zerspalten in Erkenntnisperspektiven, subjektiv in die Vielfachheit des Daseins in der Welt. […] Ich bin in der Welt nur als meiner Situation, welche, im Scheitern des Wissens von der Welt als eines Wissens vom Sein selbst, mich zu mir als möglicher Existenz erweckt.« Vgl. P I, 64 f. 280 W, 735. 279
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gesetzt würde, würden sodann ethische Imperative und Direktiven abgeleitet. Stattdessen sieht Jaspers die »grenzenlose Beweglichkeit des Standpunktes«, mit den eben erwähnten problematischen Implikationen, und die »universale Standpunktsbeweglichkeit« 281 als unabweisbaren Vorzug an, vermittels der sich das Individuum nicht des Absoluten als Wissen – während das »Absolute« nicht geleugnet, ja als »Bedingung« für »Existenz« 282 überhaupt genannt ist –, aber der »Absolutheit« in den »freien Vollzügen« 283 existentieller Entscheidungen im offenen Horizont bewußt werden kann. Dies gelingt durch eine existentielle Wahl, die in jenem »Gehäuse«, in dem Partikulares absolut gesetzt wird, nicht mehr in dieser Weise möglich ist. Der Erkennende vollzieht aus dem »Ursprung« die »Relativierung des Gegenständlichen«. Somit sieht er ein, daß dieses partikulare Wissen nur innerhalb der Grenzen der Erkenntnis gültig ist. Er erkennt die Unmöglichkeit der »Verabsolutierung«, wie sie im »Gehäuse« der wissenschaftlichen »Weltanschauung« geschieht, die einen »Gegenstand«, einen »Inhalt« oder ein »Ziel« für absolut erkennbar hält. Möglich allein ist ein »erfülltes Nichtwissen« – ein Wissen, das die eigenen Grenzen kennt und diese respektiert, aber nicht jegliche Realität darüber hinaus leugnet. 284 Dieses Wissen genügt dem Anspruch der »echten Wissenschaftlichkeit«, die nie »Wahrhaftigkeit« und sogar »Menschenwürde« überschreitet, was sie täte, wenn sie die Vorläufigkeit ihrer Resultate überschätzte. Wissenschaft hebt sich in der »Verabsolutierung« selbst auf. So ergäben sich nämlich in »Dämmerungen« und »selbstgewollter Blindheit«, durchaus im Namen der Wissenschaft, »fanatische Entschlüsse« mit vermeintlicher Evidenz. Neue »Schranken« und neue »Gehäuse«, die sich allzu oft als »neue Gefängnisse« erwiesen, würden errichtet. Dies geschieht, wenn die Wissenschaft sich zu einem »Gehäuse« rundet, und vergessen wird, daß sie ihren Sinn nicht aus sich selbst begründen kann. Wo die Wissenschaft dies aber tut, verläßt sie ihre Grundlage. Dann hat sie sich in ein »Gehäuse« begeben, Ansprüche erdenkend und fordernd, die jeglicher Wissenschaftlichkeit entbehren. 285 Obgleich das »wissenschaftliche Wissen« als »bewunderungs281 282 283 284 285
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W, 736. W, 735. W, 736. W, 735. Einf, 70 f.
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würdig« bestimmt wird, verliert es dieses Respektable, sobald es absolut gesetzt ist. Die vermeintliche Klarheit erweist sich als eine »paradoxe Verdunkelung des Wesentlichen« 286 – mag sie sich auch der »Sprache der rationalen Aufgeklärtheit« 287 bedienen. So ist durch die rationalistische Struktur ihres »Gehäuses« der Blick für den »Sinn« verstellt. Erst recht hat sie ihn verloren, wo sie ihn selbst glaubt setzen und vermitteln zu können. Der Mensch, der nach Erkenntnis strebt, begehrt leidenschaftlich Antworten auf die Fragen, die sich ihm stellen und die ihm in dieser Welt einen Halt bieten. Aber – und so betrachten wir mit Jaspers im weiteren exemplarisch einen Menschen in existentieller Bedrängnis wie Hiob – wer solcherart Fragen stellt, wünscht kaum Wissenschaft und gäbe sich gewiß erst recht nicht mit dem »Sinn« zufrieden, den sie, zum »Gehäuse« verfestigt, böte. Den »Sinn weltorientierenden Wissens« vermag die Wissenschaft nicht zu vermitteln. Gibt sie doch vor, dies zu tun, gelingt ihr nur die »Täuschung der Befriedigung« und eine »unwahre Ruhe«, die den Schein einer Bedeutung annimmt, aber verkennt, daß der »Sinn der Wissenschaft« nicht »Gegenstand des einsehbaren Wissens« 288 sein kann. Wissenschaft bietet nachweisbare Bestände »zwingenden Wissens«. Beantwortet sie die Sinnfrage, überzieht sie ihren Anspruch. Diese Antwort kann folglich nicht mit den Mitteln derselben aufgewiesen, sondern Jaspers zufolge allein appellativ gelöst werden. Dieser Sinn muß handelnd ergriffen werden, da das ihn auszeichnende »›mehr‹« die Grenzen wissenschaftlicher Methodik überschreitet. 289 Der führende »Sinn« der Wissenschaft beruht auf Voraussetzungen, nämlich einer existentiellen »Entscheidung« 290 , die jenseits das »empirisch Feststellbaren« sich auf das richtet, was im »Glauben« 291 erfaßbar und erfahrbar wird. Die trügerische Illusion, auf der ein solches »Gehäuse« gründet, ist ja, daß theoretisch alles »restlos begreiflich« erscheint, mag auch noch »nicht alles begriffen« sein. Wer aber meint, dies könne eine »Weltanschauung« leisten, sei sie nun politisch oder wissenschaftlich
286 287 288 289 290 291
PGO, 27. PGO, 7. P I, 88. P I, 129. KSP, 100. KSP, 95. A
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fundiert, der würde nur die eigene »Seelenblindheit« zeigen. 292 Kennzeichnend auch für das Jasperssche Philosophieren ist: »Den Weg zur Wahrheit hat sich der Mensch versperrt, wenn er nichts für Wahrheit hält, als was er mit dem Verstande messen kann.« 293
Denn hier ist der Mensch in der Krise, in der »Grenzsituation« befragt, der weder, wie jene, die sich mit dem »Gehäuse« einer totalitären »Weltanschauung« politischer Art noch mit einer wissenschaftlichen Gesamtdeutung begnügen, sich mit vorgefertigen Antworten auf die Fragen, die sich ihm stellen, abfindet. Er läßt sich auch durch diese nicht abweisen – jener Mensch also, der Sinn sucht und sich, wie Hiob, Fragen aus Redlichkeit erlaubt und entsprechende Antworten erwartet. In der Wissenschaft und ihren Resultaten, die in ihrer Partikularität stabilen, verläßlichen, aber nie genügenden Halt bieten mögen, ist »keine Lebensfrage« 294 beantwortet. Ein »beliebiges Wissenwollen des Verstandes«, das sich an »partikularen Zielen« orientiert, ist »im Ganzen ziellos«. Ohne »Führung der Vernunft« 295 kann nicht in zureichendem Maße beantwortet werden, warum der Mensch sich wissenschaftlich betätigen, warum er die Welt, in der er lebt, und sich selbst erkennen soll. Denn es ist aus dem »Gehäuse« der Wissenschaft heraus nicht möglich zu begreifen, »daß in ihr begriffen werden kann«. 296 So versucht die »moderne Wissenschaft« zur »Erfahrung der Grenzen« vorzudringen, aber an der Grenze selbst, gewissermaßen an der Schwelle, ergeben sich wiederum Fragen, »die sie nicht mehr beantworten kann«, ohne in ein »Gehäuse« 297 zu geraten. Doch »wer meint, auf diese Weise etwas in Wahrheit zu wissen, kennt die Wahrheit selber nicht«. 298 Auf den »Wissenschaftsaberglauben« zu verzichten ist auch geboten, um den Umschlag in die »Wissenschaftsfeindlichkeit« zu vermeiden. Wer enttäuscht ist, weil die Wissenschaft nicht einlösen kann, was sich der Mensch irrtümlicherweise von ihr erhofft, verliert nicht nur den »Glauben an die Allmacht von Wissenschaft«, sondern 292 293 294 295 296 297 298
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KSP, 27 f. NC, 161. P I, 307. NC, 148 f. NC, 155. NC, 150. NC, 152.
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auch an die begrenzt gültige Wissenschaft jeglicher Art. Das Vertrauen in die »Sachverständigen« ist erschüttert. Sein Weg führt direkt zum »Scharlatan«, dessen »Schwindlertum« mit dem »Wissenschaftsaberglauben« sozusagen »wahlverwandt« ist. 299 Der »illusionäre Besitz einer Wahrheit des Ganzen« – wie er sich in jeglicher Form einer sich rundenden Weltanschauung zeigt, die ein Mensch vertritt, als politische Ideologie, als idealistisches System oder als positivistisch-verabsolutierte Wissenschaft – behauptet ein »Vernunftwissen vom Ganzen«. Wer hierüber glaubt disponieren zu können, wird immun gegen »Denkerfahrungen an den Grenzen«. Denn sie sind gleichsam ein für allemal beantwortet. Aber er verlernt auch den eigentlich philosophischen Affekt, der sich nur einstellen kann, wenn sich der Mensch noch »betroffen« zu zeigen vermag. Wer absolut zu wissen meint, hat das »Staunen« verlernt. Ein Mensch, der sich geborgen wähnt in einer die Totalität umschließenden »Weltanschauung«, kennt das existentiell bedrängende »Leiden« und »Hadern« nicht. Alles ist ihm erklärlich und begreifbar innerhalb der rationalistischen Ordnung, in der er sich bewegt. Auch der »Tod« erschüttert nicht. Ebensowenig gibt es »Zufall« und »Schuld«, die aus dem Handeln entstünde. Auch »Zweifel« und »Verzweiflung« sind nicht länger »ernstliche Möglichkeiten«. Jene Menschen, die sich in einem solchen »Gehäuse« geborgen wähnen, fehlt das Verständnis für die Fragen, die sich einem Menschen in der »Grenzsituation«, einem Menschen im Leid, stellen. Eine solche Situation verliert sofort die existentielle Schärfe. Ratlosigkeit scheint bloß von einer Unwissenheit zu künden, eine beredte, anmaßende Torheit zu sein, die durch Wissen auszugleichen wäre. Solche vermeintlich Wissenden gleichen den »Freunden« Hiobs, die Antworten kennen, aber letzthin nicht ins Recht gesetzt werden. Zunächst sind sie »unfähig« durch sich selbst, können weder »menschliche Tatbestände« erkennen noch »Rätsel« begreifen. In einem absolut gültigen »Gehäuse«, gleich welcher Art, sind Fragen der Unwissenden jederzeit durch Wissen zu kompensieren, das sich aus der im »Gehäuse« bestehenden Logik ergibt und nachvollziehen läßt. Der Mensch ist zu keiner Zeit mehr »Rätsel« 300 , denn alles Menschliche ist bekannt und erklärt. So mutet es seltsam, für die im »Gehäuse« lebenden Menschen geradezu einfältig und absurd an, daß es immer noch Staunende gibt, 299 300
GSZ, 138 f. P I, 232. A
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Konstruktionen des Seins
denen die präsentierten Antworten nicht ausreichen, die weder die eine vermeintlich alles erklärende Wissenschaft noch eine entsprechende politische Ideologie wollen. Diese Menschen spüren nicht durch das »Teilhaben an der Idee« die »Ruhe der Totalität« und den »Frieden der Vollendung«. Sie sehen also nicht schon in der »Idee« selbst die Sinnfrage beantwortet und »alles Partikulare« als ein »Moment des Ganzen« 301 gerechtfertigt. Diese Menschen sind nicht versöhnt, sondern leiden weiter und stellen Fragen, über die der in einer festgegründeten »Weltanschauung« befindliche Mensch nur ratlos den Kopf schütteln mag wie über den, der im »strahlenden Nebel seiner Idealitäten« 302 nicht heimisch werden kann oder will. Denn ein Mensch wie der sogleich zu betrachtende Hiob weiß sehr wohl, daß der Wissenschaft, mag sie sich nun positivistisch oder idealistisch absolut setzen, nicht zu einzulösen gelingt, was sie verspricht. Gibt sie vor, halten zu können, was sie nicht halten kann, gerät sie in eine Krise, aus der hinaus die Rückkehr zu einem Ordnungsgefüge möglich bleibt, zu »Autorität« und zu »Offenbarung«. Diese kehren nicht als das traditionelle System, sondern nur als »lebloser Zwang« wieder. Möglich ist aber auch die Entwicklung »voran zum Philosophieren« zu nehmen, zu einem Philosophieren im Jaspersschen Sinne, »welches im Dasein mögliche Existenz erwecken möchte« und zur »Freiheit in transzendenter Bezogenheit« führen will, dies aber »ohne ein Wissen, wohin es geht« 303 , tun muß. Indessen weiß der so Philosophierende wohl, daß es dem Menschen niemals gelingen kann, allein mit dem »äußersten Verstandeswissen« ganz und gar in der »Wahrheit« zu sein. Es ist nur möglich, wissend zu sein im Bewußtsein des »Nichtwissens« 304 , welches freilich nicht als Unwissenheit zu begreifen ist. Dennoch wird bei Jaspers, ungeachtet aller unbeantworteten und unbeantwortbaren Fragen, ein eigentümliches In-sich-Beruhigtsein vermittelt, das aus der transzendenten Bezogenheit zu begreifen ist. Der vermeintlich bergende Schutz der absolut gesetzten »Gehäuse« – die als begrenzte, zu überwindende Stadien der Erkenntnis stets nötig sind – vermag die »Zerrissenheit des Seins« 305 , die der Mensch in den »Grenzsituationen« erfährt und tief in sich verspürt, nicht zu 301 302 303 304 305
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P I, 225. P I, 228. P I, 239. NC, 152. P III, 2.
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Wissenschaft als »Gehuse«
heilen. Denn kein »Gehäuse« kann diese Fragen letztgültig beantworten. Ein System, das nicht »fest« und »versteinert« ist, stößt an eine Grenze, über die hinaus es keine Antworten zu bieten hat. Die Fraglichkeit wird bewußt und mündet in »Fragen« und »Antinomien«. 306 Sie erfährt als »Leidenschaft des Erkennens« die »höchste Steigerung«, wo der Prozeß des Erkennens scheitert. Der redlich nach Erkenntnis Strebende erhält in dem dann »erfüllten, erworbenen Nichtwissen« eine »unersetzliche Quelle unseres Seinsbewußtseins« – ob und wie dieses »Nichtwissen« 307 aber hinreichend ist, dem Menschen Halt zu geben vermag, gleichsam als redliche Nichtantwort, die die Möglichkeit einer wissenschaftlich einsehbaren Antwort ausschließt, bleibt problematisch. So wird die »Sackgasse« eines rationalistisch-systematisch gestaltenen, verabsolutierten »Gehäuses« vermieden und das »höchste Gut« nicht in ein »System von Formeln« gebannt. Ein prozessualer Charakter, dessen »letztes Telos« 308 unerkennbar bleibt, wird gewahrt. Ein angemaßtes Wissen von dem, was mit letztgültiger Gewißheit zu wissen redlicherweise nicht möglich ist, kann nur in ein »Gehäuse« führen, das mit absolutem Anspruch auftritt und sich als gefährlich erweist: »Tot ist das Wissen vom Ganzen, das alle Handlung aus diesem Ganzen rational bestimmen, d. h. das Ganze rationalisieren und damit mechanisieren und damit töten will.« 309
Doch genügt dies dem Menschen in existentieller Bedrängnis, dem die Kritik an den »Gehäusen« einsichtig ist, dem aber die ahnungsvoll leuchtenden Jaspersschen Wege des Philosophierens eher wie eine seinsmetaphysische Gaukelei anmuten? Würde er sich nicht auch dann, wie Hiob, gegen diese Auslegung widerständig zeigen und eine vernünftig einsehbare Antwort für den Grund seiner Leiden erhalten wollen?
306 307 308 309
PsW, 149 f. Einf, 60. PsW, 227. PsW, 364. A
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III. Von der Kritik der »Gehuse« zum philosophischen Glauben
a)
Existentielle Bedrngnis und Kritik der »Gehuse«
Die existentiell bedrängenden Fragen, die sich dem Menschen in der »Grenzsituation« stellen, vermag kein »Gehäuse«, keine Ideologie und keine positivistische Wissenschaft, wahrhaftig zu beantworten. So kann, überleitend zur Problematik Hiobs, E. Latzels Analytik des Jaspersschen Begriffs der »Grenzsituation« folgend, gesagt werden, daß weder die »Welt meines Alltags« noch die »Welt der Wissenschaft« die »ganze Wirklichkeit« und die »eigentliche Wirklichkeit« umschließen. Die »allgemeingültige Erkenntnis von Dingen in der Welt« hebt den Erkennenden zwar aus der »Verlorenheit« des »bloßen Alltags« heraus. Aber die erstrebte Antwort auf die letztlich bedrängenden Fragen bietet sie nicht. Denn »jede Lösung« auf eine Frage, die sich stellt, führt zu »neuen Fragen«, die auf den außerwissenschaftlichen Bereich, etwa in der Frage nach dem Sinn, verweisen. Auf die Fragen, die sich in Anbetracht erfahrenen Leides aufwerfen, bleiben alle vorgefertigten Antworten schal und unbefriedigend. Denn auch für die Wissenschaft, die der Weltorientierung dient, »vertiefen sich die Rätsel« 310 mit jeder erfolgten, stets als letzthin unzureichend aufgefaßten Antwort. Vor den Fragen, die sich dem Menschen in der »Grenzsituation« stellen, vermag sie redlicherweise nur ihr Nichtwissen, ihre Antwortlosigkeit einzugestehen. Sicherlich möchte so mancher, der von Jaspers noch so viel über die »existentielle Fruchtbarkeit« und »existentielle Notwendigkeit« der »Grenzsituationen« hört, diese lieber vermeiden und dem Gedanken anhangen, daß ein »wahres, erfülltes Leben auch ohne volle Erfahrung der Grenzsituationen« 311 möglich sein könnte, ohne jene »Grenzsituationen«, die K. Hoffman in seiner Deutung der Grundbegriffe Jaspersschen Philosophierens als »Grenzen der existentiellen Freiheit« und 310 Latzel, Edwin: Die Erhellung der Grenzsituation. In: Schilpp, Paul Arthur (Hrsg.): Karl Jaspers. Stuttgart 1957, 164 f. 311 Latzel: ebd., 190 f.
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Existentielle Bedrngnis und Kritik der »Gehuse«
die »Grundlage für unvermeidbare existentielle Schuld« bestimmt. Diese Grundbegriffe verweisen auf die »Felsen«, an denen die menschliche Existenz »Schiffbruch« erleidet. Es sind »nicht austauschbare«, zugleich »notwendige« und »absolute Situationen« 312 , in denen sich die Sinnfrage stellt – eine Frage übrigens, die sich dem Menschen in der vermeintlich absoluten Geborgenheit des »Gehäuses« niemals aufwirft. Sie bedrängt den Leidenden in seinem Innersten und läßt ihn in der »rationalen Blässe« ihrer Formulierung das »Unbegreifliche« und »Undurchdringliche« erfahren. Ein metaphysischer Zug des Jaspersschen Denkens zeigt sich, ein »Unbegreifliches«, das »vor allem Denken schon ist« und zu dem hin, wie Jaspers glaubt, der Mensch gezogen wird, das »auf uns zu kommt«. Es wird in der »Grenzsituation« spürbar, in der philosophischen Urfrage – »Warum ist überhaupt etwas, warum ist nicht nichts?« 313 –, die innerhalb eines »Gehäuses« freilich der entsprechenden Logik gemäß beantwortet worden wäre. Aber niemals hätte eine solche Antwort einem leidenden Hiob – von dem wir annehmen dürfen, daß er den Jaspersschen Zug zum »Unbegreiflichen« nicht in gleicher Weise verspürt hat – zufriedengestellt. Das Streben nach Halt findet für Jaspers einen Ort, an dem es ruhen kann. Dieser wird nicht reflektierend erkannt, sondern als »etwas im Menschen Gegebenes« erspürt, in dem sich ausspricht, daß »nicht nichts« ist. Hierin zeigt sich die »letzte Kraft der menschlichen Seele«. Was der Seele existentiell gewiß wird, ohne daß es gegenständlich erkennbar würde, beendet das wissenschaftliche Forschen – und obwohl es wissenschaftlich nicht nachweisbar ist, besteht »dieses Feste«. 314 Wider dieses Jasperssche Vertrauen, das uns noch bei der Erörterung des »philosophischen Glaubens« beschäftigen wird, klingen die Worte Hiobs, jenem rechtschaffenen Mann, der »nichts Törichtes wider Gott« 315 getan hat und dem doch unaussprechliches Leid widerfahren ist, der den Tag seiner Geburt verfluchet und verzweifelt ausruft: »Warum gibt Gott das Licht dem Mühseligen und das Leben den betrübten Herzen – die auf den Tod warten, und er kommt nicht, und nach ihm suchen 312
Hoffman, Kurt: Die Grundbegriffe der Philosophie Karl Jaspers’. In: Schilpp: a. a. O.,
87. 313 314 315
P III, 115 ff. PsW, 290. Hiob 1, 22. A
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Von der Kritik der »Gehuse« zum philosophischen Glauben
mehr als nach Schätzen, die sich sehr freuten und fröhlich wären, wenn sie ein Grab bekämen –, dem Mann, dessen Weg verborgen ist, dem Gott den Pfad ringsum verzäunt hat? Denn wenn ich essen soll, muß ich seufzen, und mein Schreien fährt heraus wie Wasser. Denn was ich gefürchtet habe, ist über mich gekommen, und wovor mir graut, hat mich getroffen. Ich hatte keinen Frieden, keine Rast, keine Ruhe, da kam schon wieder ein Ungemach!« 316
Kein »Gehäuse« will dieser Hiob. Er begehrt auch nicht die politische Ideologie, nicht die absolut gesetzte Wissenschaft, vermutlich nicht einmal die Wissenschaft, die die Grenzen menschlicher Erkenntnis respektiert. Ebensowenig wohl ist ihm die Erfahrung der »Grenzsituation«, an der er sich bewähren soll, ein Anlaß zur Dankbarkeit. Hiob, der Mensch in der »Grenzsituation«, will nicht leiden. Karl Jaspers’ Auseinandersetzung mit dem Hiob-Problem findet sich in der Schrift »Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung«, wird aber auch in anderen großen Werken genannt. Erwähnt wird die Gestalt Hiob als Beispiel für die Tragik menschlicher Existenz in der Schrift »Von der Wahrheit«. Auch in »Die großen Philosophen« würdigt der Philosoph Hiobs leidenschaftliches Ringen um die Wahrheit im Zuge der Charakteristik Jesu. Besonders bemerkenswert aber – und daher der Schlußpunkt der differenzierten Analytik der »Gehäuse« – ist die von Jaspers interpretierte Auseinandersetzung Hiobs mit den Vertretern des absoluten Anspruchs, die ihm in Gestalt der Theologen begegnen. In Jaspers’ Schrift »Nietzsche und das Christentum«, basierend auf einem 1938 gehaltenen Vortrag, wird Hiobs Fragen zunächst bezogen auf Gott als »Weltschöpfer«, der sich rechtfertigen soll. Denn als Urheber der Schöpfung muß er »gleichsam haftbar gemacht« werden »dafür, wie die Welt ist und für das, was in ihr geschieht«. Hiobs Fragen weitet sich über einen bloßen »Forschungsantrieb« zu einem existentiell bedeutsamen »Ringen um die wahre Gottheit im Wissen um die Weltwirklichkeit«, insbesondere im Wissen um das, was ihm selbst widerfahren ist: »Dieser Gott mit seinem unbedingten Wahrheitsanspruch will nicht durch Illusionen ergriffen werden. Er verwirft die Theologen, die Hiob durch gedanklichen Schwindel trösten und ermahnen wollen. Dieser Gott verlangt das Wissen, dessen Inhalt immer wieder gegen ihn selbst Anklage zu erheben scheint. Der universale und zugleich unbestechliche Forschungsdrang er316
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Hiob, 3, 20–26.
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Existentielle Bedrngnis und Kritik der »Gehuse«
wächst dieser Spannung, diesem Ringen mit dem Gottesgedanken selbst in der Erkenntnis des Wirklichen, das doch von Gott kommt.«
Die Fragen Hiobs erschüttern die »Gehäuse«, die ihm präsentiert werden. Sie sind beispielhaft für ein existentiell motiviertes Fragen, das Jaspers als »Kampf des forschenden Menschen gegen das Eigne«, gegen das »Gehäuse«, welches er akzeptiert, mit dem er sich eingerichtet hat, bestimmt. Hiobs Kampf richtet sich – aus der Forderung intellektueller Rechtschaffenheit notwendigerweise – gegen das »Liebste« und »Wünschbarste«, befragt die »Ideale« und »Grundsätze« und prüft kritisch, nimmt nichts ungefragt hin und verwirft nötigenfalls, was ihm dargeboten wird. Diese Haltung Hiobs – in der nun referierten Deutung von Jaspers – zeigt eine exemplarische Auseinandersetzung mit den Apologeten der »Gehäuse«: »Wie Gott nicht wahrhaft geglaubt wird, wenn er nicht die Fragen erträgt, die aus den Tatbeständen der Wirklichkeit erwachsen, und wie das Gottsuchen immer zugleich ein Schwermachen im Verjagen der Illusionen ist, so ist der echte Forschungswille zugleich ein Kampf gegen die eigenen Wünsche und Erwartungen. Dem Forscher ist der Verdacht gegen jeden Gedanken eigen, der ihm ohne weiteres befriedigend und überzeugend ist.« 317
Gleichsam der Stachel, der Kritik evoziert und die fest gegründeten »Gehäuse« befragt, läßt sich auf alle Bereiche der hier erörterten möglichen »Konstruktionen des Seins« anwenden. Die Fragen sind notwendig etwa bei einer politischen Ideologie. Wer den Marxismus zu rechtfertigen gedenkt wegen der mit ihm verbundenen humanen Absichten, darf redlicherweise die praktizierte Inhumanität machtvoll agierender absoluter Ansprüche im Namen dieser Lehre nicht leugnen noch ignorieren. Die Fragen sind notwendig bei der Kritik des politischen Systems einer freiheitlichen Demokratie. Wem es ernst ist mit dieser, der kann vielleicht wie Jaspers nicht schweigen zu erkannten Fehlentwicklungen und muß darauf aufmerksam machen. Er kann sogar das real bestehende System einer politischen Ordnung selbst in Frage stellen. Nicht anders verhält es sich in der Frage der Wissenschaft. Nicht den, wie Jaspers herausarbeitet, »eigenen Wünschen« und vorab formulierten »Erwartungen« hat die Wissenschaft zu genügen. Der leidenschaftliche »Forschungswille« kann und soll sich dem widersetzen, was leichthin als »befriedigend« und »überzeugend« ausgegeben wird. Der Mensch kann und soll Fra317
Chr, 60 f. A
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Von der Kritik der »Gehuse« zum philosophischen Glauben
gen stellen, da er nur auf diese Weise dem Ethos der Wissenschaft, das eben mit der Forderung intellektueller Rechtschaffenheit verbunden ist, gerecht wird – und diesem, nicht einem absolut gesetzten, vermeintlich kritikimmunen »Gehäuse« zu entsprechen hat. Hiob dient als Beispiel für den Menschen, der diese Fragen stellt. Er ist der leidende Mensch, der sich mit dem Leid nicht abfinden will, sondern forschend fragt, warum ihm, ausgerechnet ihm, der sich nichts hat zuschulden kommen lassen, dies widerfahren muß. Die Philosophie von Karl Jaspers wendet sich in besonderer Weise der Problematik des Tragischen zu. Jegliche Art eines ästhezistisch verklärten Heroismus wird negiert. Das Leben zeigt für den Philosophen in der Situation des Leidens seine eigentümliche Tiefe. Die Tragik ist ein Grundphänomen des Lebens und philosophisch relevant gerade in Situationen, in denen der Mensch Leid erfährt, dieses nicht begreift und auch nicht zu lindern weiß. Es sind jene Situationen, in denen ihm die Fraglichkeit und Fragwürdigkeit seiner Existenz bewußt gemacht wird. Die »Wichtigkeit des Einzelschicksals« wird spürbar. 318 Der Mensch sucht Halt, den aber das Philosophieren selbst niemals bieten kann. Darum schließt er sich, wie dargelegt, »Gehäusen« an. Hiob tut dies nicht. Einen authentischen, verläßlichen Haltepunkt bietet für Jaspers allein das »Eine«, synonym gebraucht für die »Transzendenz« oder »Gott«. Dieses »Eine« bleibt doch unerkennbar, mag es auch »auf dem Wege des Philosophierens in je einmaliger unvertretbarer Weise« dem Subjekt begegnen. Jaspers vermag freilich diese Situation nicht zu konkretisieren und exakt zu beschreiben. Mit jeder näheren Festlegung würde er das, was er vorsichtig andeutet, schon aufheben. In der »Vernunft« zeigt sich der Moment des Halts, ein »Glück der Klarheit offenen Allumfangens«, pathetisch wie enigmatisch ausgedrückt – mystisch-bedeutungsvoll klingende Begriffe, die Jaspers nicht erhellen kann, ebensowenig wie die »Chiffre«, die auf das »eigentliche Sein« verweist. Der Halt begehrende Mensch nähert sich der Philosophie mit einer »stürmischen Werbung«, verliert diese aber, sofern er »objektive Endgültigkeit« verlangt. Auch in der »Grenzsituation« des Leidens vermag die Philosophie nicht den Ausweg aus der existentiellen Krise darzulegen, allein die vorliegenden »Gehäuse« für unzureichend zu erklären: »Philosophie kann unserer Blindheit den Star ste318
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W, 923.
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Existentielle Bedrngnis und Kritik der »Gehuse«
chen, dann aber müssen wir selber sehen.« 319 Auch dies gehört vielleicht zur Tragik menschlicher Existenz, die der Mensch philosophierend und philosophisch glaubend zu ertragen lernt. Wie in den vorausgehenden Kapiteln gezeigt wurde, kennzeichnet den Menschen das Streben nach Erkenntnis und das Streben nach Halt. Neben dem »Gehäuse«, das den »Halt im Begrenzten« bedeutet, und dieses »Gehäuse« kann verschiedene Grundzüge aufweisen, ist der Mensch tendenziell aber immer totalitätsorientiert und -gebunden. Er setzt eine absolute Erkennbarkeit von Wahrheit voraus und meint diese zu besitzen, als politische Ideologie, auch als religiöse Überzeugung und festgefügtes Glaubenssystem, als positivistische Wissenschaft etc. 320 Die künstlich geschaffenen »Gehäuse« – und auch dies wird anhand des Hiob-Problems ersichtlich – sind niemals hinreichend, nicht nur, weil sie nicht selbst erarbeitet sind und nicht die »Intention auf das Ganze« richten, sondern das »Ganze« als bereits erkannt bestimmen. Hierüber läßt sich scheinbar mit einem adäquaten, nun wiederum dieses »Ganze« verfehlenden Wissen verfügen. Aus diesem vermeintlichen Wissen leitet sich ein Anspruch her, andere belehren und vermeintlich aufklären zu müssen. Für Jaspers ist es notwendig und erforderlich, daß sich der Mensch erkennend dem »Ganzen« zuwendet, daß die »letzten Kräfte«, die er als »unendlich« benennt, »unser Gegenstand« des Erkenntnisstrebens sein sollen, zugleich als »Ganzheiten«, die sich menschlicher Verfüg- und Erkennbarkeit letzthin entziehen, »nicht W, 966. Auch das Christentum stellt für Jaspers ein »Gehäuse« dar. Der christliche Glaube unterscheidet sich gravierend von dem seinerseits präferierten philosophischen Glauben. Die wesentliche Differenz liegt darin, daß im Christentum – wie der Philosoph in aneignender Reflexion von Nietzsches Kritik zustimmend äußert – nicht die mit der Gestalt Jesu verbundene »Lebenspraktik«, die die Haltung des »kampflosen Friedens« mit der »gegenwärtigen Seligkeit im Nichtwiderstehn« sowie der »Unbetroffenheit von der Welt und vom Tod«, bestimmend wurde, sondern ein »menschliches Grundverhalten«. Dieses freilich ist gewissermaßen charakteristisch für alle Machtstrukturen, nicht nur für eine hierarchisch gegliederte christliche Kirche, auch totalitären »Gehäusen« ist dieser Aufbau ähnlich. Herrschend wird das »Ressentiment der Schlechtweggekommenen«, ein Ressentiment, das selbst in der Ohnmacht im »Willen zur Macht« gestaltend neue »Wertschätzungen« und »Ideale« hervorbringt, wie im »Pathos des Moralisten« der »geheime Geltungswille der Gemeinheit« sich verbirgt, im »Fanatismus der Gerechtigkeit« die »geheime Rachsucht« und in »idealen Wertschätzungen« der »verborgene Kampf gegen den […] höheren Rang«, und so wird im Stil eines »Gehäuses« sogar die »Wahrheit Jesu«, angeeignet in einer »verkehrenden Interpretation«, zur Befestigung und zum Ausbau des eigenen säkularen »Gehäuses« verwendet. Vgl. Chr, 28 f. 319 320
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Gegenstand für uns wie für andere Gegenstände sein« können. Das »Bewußtsein dieser Letztheiten« soll zugleich mit der Gewißheit bestehen, diese als unerreichbar und niemals restlos begreifbar zu wissen, aber dennoch »vom Unbegreifbaren doch im Versuche des Begreifens zu sprechen«. 321 Das also, was für den Menschen das »Unbegreifbare« – somit nicht in einem »Gehäuse« darlegbare, zugleich aber doch Halt bietende – ist, soll als das »Dunkle« absichtsvoll erstrebt werden, ohne verbindliches Wissen hiervon zu erwarten, um sich daran, auf das »immer klar Werdende« und zugleich »nie Klare«, auszurichten. 322 Die »Unbedingtheit« zeigt sich als reflektierter »Entschluß der Existenz«, die nicht aus dem »Sosein« hervorgeht, sondern aus der »Freiheit, die gar nicht anders kann«, nicht weil es ihrer Natur entspräche, sondern weil es sich aus dem »transzendenten Grunde« so ergibt. Das »Unbedingte« ist letztlich, worauf das Leben des Menschen ruht. Als das »Unbedingte« ist es verborgen, aber im »Grenzfall«, auch in der »Grenzsituation«, führt es durch »stumme Entscheidung« den wechselvoll anmutenden »Lebensweg«, ohne »nachweisbar« 323 zu sein. Es trägt den Menschen und ist im »lebensbegründenden Entschluß« gegenwärtig, der »Grund«, auf dem die »Wahrheit« wachsen und reifen kann. Der Mensch weiß sich »in vollkommener Abhängigkeit von der Transzendenz« und von ihr »geschenkt«. 324 Der »Sinn der Wahrheit«, die weder »eine Wahrheit für alle« noch eine Pluralität von »Wahrheiten« darstellt, erweist sich nicht als »allgemeingültig«, ist aber doch »mehr als das Wasser des Richtigen«, nämlich das Bewußtsein »der einzigen [Wahrheit], welche Wahrheit für mich ist, weil ich ihr unbedingt folge«. 325 In der »Grenzsituation« erfährt der Mensch »subjektiv im Erlebnis« die »Unendlichkeit« als nicht faßbare noch erkennbare »Realität« und sich selbst »angesichts der Unendlichkeit«, aus der er leben kann, als frei, in einer Freiheit, die aber nur »in Richtung auf die Unendlichkeiten« gelebt sein kann. 326 Erfährt aber, um zu unserem Beispiel zurückzukehren, Hiob diesen »Halt im Unendlichen«, von dem Jaspers mit einer entschie321 322 323 324 325 326
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PsW, 326. PsW, 327. Einf, 45. W, 545. P I, 48. PsW, 331.
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Hiob oder der Mensch in der Grenzsituation
denen, auch entschieden unklaren Selbstgewißheit spricht? Begreift sich Hiob als von der Transzendenz radikal abhängiges Individuum, das sich als freies Wesen geschenkt weiß? Spürt er gar in der »stummen Entscheidung« 327 die Präsenz des Unbedingten, die Gegenwart Gottes? Hiob fühlt sich vielmehr verloren und verlassen. Er ist ein Leidender, ja – der Leidende schlechthin. Er fragt: Warum läßt Gott das zu? Warum muß ich leiden? Hiob stellt Fragen aus existentieller Bedrängnis. Wäre er mit Jaspers’ Antwort einverstanden gewesen? Oder hätte er ihm, wie den »Freunden«, die ihm nicht beistanden, wie er es erwartet hatte, entgegnet: »Wie lange plagt doch meine Seele und peinigt mich mit Worten! Ihr habt mich nun zehnmal verhöhnt und schämt euch nicht, mir so zuzusetzen. Habe ich wirklich geirrt, so trage ich meinen Irrtum selbst. Wollt ihr euch wahrlich über mich erheben und wollt mir meine Schande beweisen? So merkt doch endlich, daß Gott mir unrecht getan hat und mich mit seinem Jagdnetz umgeben hat. Siehe, ich schreie: ›Gewalt!‹ und werde doch nicht gehört; ich rufe, aber kein Recht ist da. Er hat meinen Weg vermauert, daß ich nicht hinüber kann, und hat Finsternis auf meinen Steg gelegt.« 328
Hiobs »Leidenschaft des Wahrheitsverlangens«, auf den »Gipfel« menschlicher Möglichkeiten gesteigert, soll nun dargelegt werden und die Diskussion der »Gehäuse« beschließen. 329
b) Hiob oder der Mensch in der Grenzsituation Die Geschichte Hiobs illustriert beispielhaft die Befindlichkeit des leidenden Menschen in der Spannung von Wissen und Nichtwissen. Sie zeigt eindrücklich die Grenzen möglichen Wissens – und verdeutlicht, wie unzureichend der vermessene Anspruch eines angemaßten und anmaßenden Wissens ist, das als wißbar ausgibt, was redlicherweise zu erkennen nicht möglich ist. Hiobs Weg verdeutlicht die Auseinandersetzung eines Menschen, der sich, wie Jaspers zeigt, wider die »Verdikte« der »orthodoxen Theologen« empört und sich gegen jeglichen mitleidlosen »Fanatismus« wendet. 327 328 329
Einf, 45. Hiob 19, 2–8. Chr, 62. A
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Die bedeutsame Auseinandersetzung von Jaspers mit dem HiobProblem mag ein längerer Passus verdeutlichen: »Mit Staunen hören wir jene nun bald zwei Jahrtausende währende Verdikte der Orthodoxie über unseren ewigen Tod, unsere Selbstvergötterung, unseren Hochmut, unsere Anmaßung, daß wir den Menschen, uns selbst zum Richter über Gott werden lassen. Mit Staunen hören wir die merkwürdige, kritiklose, keine Kritik duldende, den dies nicht Glaubenden zu ewiger Verdammnis verurteilende, dem Glauben die ewige Seligkeit verheißende Forderung. Leben wir ohne Gott? Ist unser Vertrauen, daß Gott uns zu Hilfe kommt auf eine uns unbegreifliche und unvoraussehbare und unberechenbare Weise, sofern wir in gutem Willen uns bemühen, daß er in Schrecken der Vernichtung und des Todes mit uns sein kann, ein Wahn? […] Dürfen wir nicht denken: Selbst wenn die Orthodoxie recht hätte, würde Gott uns nicht verwerfen, wenn wir uns redlichen Willens bemühen, wenn auch ständig versagend und uns täuschend? War Gott nicht mit Hiob gegen die orthodoxen Theologen?« 330
Dieser Weg Hiobs soll näher untersucht werden als Beispiel für den Menschen in der Spannung von Wissen und Nichtwissen. Dazu werden auch Passagen aus dem Alten Testament herangezogen. Hiob stammt aus dem Land Uz, nicht aus Israel. Er lebt fromm, rechtschaffen, gottesfürchtig und meidet das Böse. Aber Satan wettet mit Gott, daß Hiob Gott verfluchen würde, wenn er seine Tage elend zubringen müßte. Hiob lebt gerecht vor Gott, weil es ihm gut geht – das behauptet der Satan. 331 Gott geht auf die Wette ein. Hiob weiß davon freilich nichts. So läßt Satan Hiobs Besitztümer vernichten, seine Kinder töten und ihn mit Krankheit schlagen. Hiob akzeptiert den Willen Gottes, ohne zu klagen, zumindest für den Augenblick. Dann erhält er Besuch von drei Freunden aus dem Osten, die sieben Tage mit ihm im Schweigen verharren. Sie sind gekommen, um ihn zu trösten, und sehen seinen großen Schmerz. Dann beginnt Hiob zu sprechen, aber nicht um Gott zu verleugnen oder zu verheißen. Er verflucht sich selbst: »Ausgelöscht sei der Tag, an dem ich geboren bin, und die Nacht, da man sprach: Ein Knabe kam zur Welt.« 332
Er hadert mit seinem Schicksal, aber nicht mit dem Urheber desselben. Doch Hiob erlaubt sich, Fragen zu stellen, Fragen aus tiefer exi330
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Ent, 48 f.
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Vgl. Hiob 1, 9–11.
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Hiob 3, 2.
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Hiob oder der Mensch in der Grenzsituation
stentieller Bedrängnis, Fragen philosophischen Charakters. Hiob wünscht sich den Tod und erwartet faire Antworten von Gott. Er möchte wissen, warum er unsagbar schweres Leid tragen muß: »Warum gibt Gott das Licht dem Mühseligen und das Leben dem betrübten Herzen – die auf den Tod warten, und er kommt nicht, und nach ihm suchen mehr als nach Schätzen, die sich sehr freuten und fröhlich wären, wenn sie ein Grab bekämen –, dem Mann, dessen Weg verborgen ist, dem Gott den Pfad ringsum verzäunt hat? Denn wenn ich essen soll, muß ich seufzen, und mein Schreien fährt heraus wie Wasser. Denn was ich gefürchtet habe, ist über mich gekommen, und wovor mir graute, hat mich getroffen. Ich hatte keinen Frieden, keine Rast, keine Ruhe, da kam schon wieder Ungemach!« 333
Diejenigen, die als Freunde Hiobs auftreten, sind Eliphas von Teman, Bildad von Schuach und Zophar von Naama. Später gesellt sich noch der jüngere Elihu zu ihnen. Sie alle können als Vertreter der »Gehäuse« betrachtet werden. Sie glauben zu wissen, was sie gar nicht wissen können. Die Apologeten sind die Repräsentanten absoluter Ansprüche. In ihren Versuchen, Antworten zu geben, zeigen sie, wie dargelegt wird, die Unmöglichkeit, mitfühlendes Verständnis für den Leidenden aufzubringen und eine tröstende Gelehrsamkeit zu entfalten. Sie tun einfach kund, was sie gelernt haben und wovon sie überzeugt sind. Das »Gehäuse« selbst ist kritikimmun, auch wenn die Tatsachen dagegen zu sprechen scheinen. Eher wird die Redlichkeit des Fragenden bezweifelt als die Gültigkeit des absolut gesetzten »Gehäuses«. Insofern ist die Geschichte Hiobs ein Lehrstück für jegliche totalitäre Ordnung, ob religiöser, politischer oder wissenschaftlicher Art. Kehren wir zurück zur Geschichte Hiobs. Eliphas beginnt mit den Entgegnungen auf Hiob. Er hat die Worte angehört, kann aber nun nicht länger schweigen. So drängt es ihn zur Widerrede, nicht, um sich Hiob beizugesellen und eigenes Unverständnis über die Situation des Freundes anzuschließen, sondern um den Leidenden, der Klage führt, zu belehren: »Bedenke doch: Wo ist ein Unschuldiger umgekommen? Oder wo wurden die Gerechten je vertilgt? Wohl aber habe ich gesehen: Die da Frevel pflügten und Unheil säten, ernteten es auch ein.« 334
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Hiob 3, 20–26. Hiob 4, 7–8. A
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Eliphas also ist überzeugt, daß niemand – auch Hiob nicht – grundlos leiden muß. Also muß, entsprechend dem »Gehäuse«, das Eliphas als absolut gültig erkannt hat, für sich selbst und darum auch für andere, Hiob ein Unrecht begangen haben. Die getöteten Kinder Hiobs müssen ebenfalls schuldig gewesen sein, auch wenn sie sich dessen nicht bewußt sind. Unmöglich ist, was dem »Gehäuse« zuwiderläuft. So ist ihm Hiobs Leiden, das er gewiß bedauert (zumindest schmerzt ihn die vermeintliche Uneinsichtigkeit Hiobs), letztlich doch begreiflich. Dann ermuntert er Hiob, die anscheinend vergeblichen Klagen verspottend: »Rufe doch, ob einer dir antwortet!« 335 , um zu zeigen, daß die jammernden Törichten vernichtet werden, da sie das vermeintliche Unheil, das der Erde entstammt, beklagen, aber nicht sehen, daß das Böse ihrem Herzen entspringt. Er soll sich Gott anvertrauen und sich seinem Ratschluß unterwerfen: »Ich aber würde mich zu Gott wenden und meine Sache vor ihn bringen, der große Dinge tut, die nicht zu erforschen sind, und Wunder, die nicht zu zählen sind, der den Regen aufs Land gibt und Wasser kommen läßt auf die Gefilde, der den Niedrigen erhöht und den Betrübten emporhilft.« 336
Für Eliphas ist dies eine Unterwerfung, vermeintlich unter Gott, tatsächlich aber soll sie unter das absolut gesetzte »Gehäuse« erfolgen. Hiob soll die eigenen Verfehlungen eingestehen und sich schuldig bekennen. Er kann nicht gerecht sein, denn Gott ist es. Also muß er schuldig sein. In das »Gehäuse« des Eliphas würde sich Hiobs Situation nicht fügen, wenn sie stimmte: Ein gerechter Mann muß unendlich viel Leid tragen. Dies ist innerhalb dieses »Gehäuses« nicht möglich, darum also kann es nicht wahr sein. Man sieht hier die abstruse, vielleicht pervers zu nennende Logik am Werk, die aus dem absolut gesetzten Anspruch folgend mitleidlos die Wirklichkeit ordnen und erklären will, ohne einen Blick für das, was vor sich geht, zu haben. Hiob erlebt eine Situation, die die vermeintlich stabile Ordnung dieses »Gehäuses« erschüttert. Er würde die Zurechtweisung annehmen, wenn er wüßte, warum sie ihm widerfährt: »Belehret mich, so will ich schweigen, und worin ich geirrt habe, darin unterweist mich! Wie kräftig sind doch redliche Worte? Aber euer Tadeln, was beweist das? Gedenkt ihr, Worte zu rügen? Aber die Rede eines Verzweifelnden verhallt im Wind.« 337
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Hiob 5, 1.
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Hiob 5, 8–11.
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Hiob 6, 24–26.
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Hiob oder der Mensch in der Grenzsituation
Hiob genügen nicht Antworten, wie sie Eliphas ihm nahelegt. Ein »Gehäuse«, das ihm angeboten wird, betrachtet er. Aber er kann es nur verwerfen, denn er kann, rechtschaffen, wie er ist, die eigene Schuld, die er nicht erkennt, nicht eingestehen. Darum ist ihm unmöglich, das, was ihm widerfährt, als gerecht anzusehen. Die Worte des Eliphas legen allein die Unterordnung nahe. Wer sich diesem seinen »Gehäuse« anschließt, wird das Leiden akzeptieren, auch wenn er den Grund seiner Qualen nicht begreift. Es muß ihn mit Notwendigkeit Schuld treffen, denn Gott ist gerecht – und zürnt allein dem Ungerechten. Woher aber nimmt Eliphas, der unbarmherzige Theologe, sein Wissen? Was Hiob verlangt, ist »Wahrheit«, die, so Jaspers, einzig »Trost« sein kann. Die »Rüge« beweist ihm nichts. Er verlangt Ehrlichkeit, aufrichtige, »grade Worte«, sucht Kommunikation und »Klarheit«. Hiob versteht auch nicht, warum Eliphas zu antworten weiß. Denn wenn er und seine Freunde ihn, den leidenden Hiob, nur ansehen würden, dann müßte ihnen die Sprache »versagen« – und so bittet er um »Geduld«, daß sie ihm »nur einmal zuhören«. 338 Hiob will sagen, »was sein Herz quält« 339 , ohne zu einem »Feind Gottes« zu werden, auch wenn Gott ihm wie ein Feind seiner selbst erscheint, wegen des Leides, das ihm widerfährt, das er offenbar ins Werk setzt oder doch nicht verhindert. Ist Gott ein »Feind Hiobs«? So möchte er als »Gerechter« mit Gott »streiten«, tief überzeugt, daß die »Beweise ohne Zahl«, die er vortrüge, ihm nicht weitere Strafen brächten, sondern daß der gerechte Gott ihm »recht geben« würde, statt ihn zu »quälen«. 340 Denn Hiobs Überzeugung ist, daß Gott Recht schafft. Er erträgt auch die Klage, obzwar er »schreit vor Entsetzen«. Er tut dies doch »kraft seines sittlichen Bewußtseins«, kraft der ihm eigenen Rechtschaffenheit, zugleich, wie Jaspers ausführt von »Wahrheitsdurst« und »Gottverlangen« erfüllt, bitter, aber vertrauensvoll, verzweifelt und müde. Aber Hiob ist auch in der »Grenzsituation« unbeirrbar in der Leidenschaft für die Wahrheit und für Gott, den er unausgesetzt befragt, obgleich er ihm nicht antwortet. Er wendet sich an Gott, da er von ihm erhofft, daß er ihm zuhört. Die Freunde, wie Eliphas, scheinen nicht von »Wahrheitsdurst«, auch nicht von »Gottverlangen« beseelt zu sein, da sie doch nur in ihrem »Gehäuse« be338 339 340
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fangen bleiben, nicht zuhören wollen oder können. Statt der Suche nach Wahrheit und Wissen – auch statt aufrichtigem Mitleid und barmherziger Anteilnahme an Hiobs Schicksal – besteht allein eine »eintönig fanatische Ruhe des gläubigen Wissens«, die nur innerhalb der starren Dogmatik, wie sie sich dann bei allen Theologen zeigt, »erfinderisch« ist. Aber sie ist unfähig, dem, der »schreit vor Entsetzen«, von Schmerz gepeinigt, von Qualen schier innerlich zerrissen ist, auch nur Gehör zu schenken. 341 Wie schon in den vorausgegangenen Kapiteln dargelegt, tragen die Apologeten der »Gehäuse« beiden Strebungen des Menschen, nach Erkenntnis und nach Halt, nur vordergründig Rechnung. Die Eindeutigkeit der Antworten, die sie anbieten, ist nur solange zureichend, wie der Mensch, dem sie gelten, nicht in eine »Grenzsituation« gerät und im Zustand der existentiellen Krise Fragen stellt, die die vorgefertigen Antworten matt erscheinen lassen. Hier findet sich gerade nicht die geforderte Rechtschaffenheit, die dem existentiellen Ernst einzig angemessen wäre, allein das anmaßende, ja arrogante und erbarmungslose Bemühen, das »Gehäuse« zu stabilisieren und den anderen ins Unrecht zu setzen, damit dieser sich dem absoluten Anspruch fügt. Ein Mensch wie Hiob soll sich unterordnen. Sein Widerspruch zeigt allein, daß ihm die scheinbar tiefere Wahrheit verborgen bleibt – und so muß er belehrt werden, auf vielfältige Weise, durch die Qualen, die er erleidet, durch die Worte, die er annehmen soll. Das geschieht, wie die Freunde Hiobs vorgeben, im Namen Gottes. Hiob spricht sodann zugleich das Verdikt über den vermeintlichen Freund und Tröster Eliphas aus: »Wer Barmherzigkeit seinem Nächsten verweigert, der gibt die Furcht vor dem Allmächtigen auf.«
Denn nicht »Barmherzigkeit« übt dieser Freund, der Hiob unterstellt, daß er nicht so rechtschaffen ist, wie er zu sein vorgibt. Dafür scheint er es besser zu wissen, wie es sich mit Hiob verhält. Aber gerade in diesem angemaßten Wissen liegt der Frevel. Denn Eliphas glaubt Hiob schuldig, obzwar dieser seine Rechtschaffenheit beteuert. Dies wissen aber kann nur Gott allein. Insofern fehlt Eliphas die »Furcht vor dem Allmächtigen«. 342 So besehen ist es Eliphas, der den Fortbestand des eigenen »Gehäuses« sichern will und die Not, aber auch die Rechtschaffenheit Hiobs nicht in rechter Weise erkennt, und 341 342
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nicht der Leidende, Hiob also, der sich unredlich gegen über Gott beträgt. So fordert Hiob, mit Nietzsche gesagt, die »Redlichkeit Gottes« ein. Denn dieser Gott ist ein »Gott der Güte«, wie auch Eliphas bekennen würde, »allwissend« und »allmächtig«. Aber offenbar ist er nicht bestebt, daß »seine Absicht von seinen Geschöpfen verstanden wird«, so daß er nicht einsehbar und einsichtig handelt. Den redlich denkenden und rechtschaffen handelnden Gerechten werden die Beweggründe seines Handelns nicht erklärt. Somit erwiese er sich als »grausamer Gott«, der zwar die »Wahrheit« hätte, es aber mitansähe, daß die Menschheit sich »jämmerlich um sie quält«. Hiob leidet, kann aber die Schuld nicht einsehen. So ist er auch nicht bereit, Buße zu tun, ohne den Grund hierfür zu kennen. 343 Hiob erwidert darum dem unbarmherzigen Eliphas und den anderen: »Ihr freilich könntet wohl über eine arme Waise das Los werfen und euren Nächsten verschachern. Nun aber hebt doch an und seht auf mich, ob ich euch ins Angesicht lüge. Kehrt doch um, damit nicht Unrecht geschehe! Kehrt um! Noch habe ich recht darin! Ist denn auf meiner Zunge Unrecht, oder sollte mein Gaumen Böses nicht merken?« 344
Jaspers zufolge nehmen Hiobs Fragen – Fragen, die die wohl klugen, aber in ihrem »Gehäuse« be- und recht eigentlich gefangenen Freunde gar nicht begreifen können – ihren Ausgang in der diesem eigenen »kindlich fragenden Frömmigkeit«. 345 Diese Frömmigkeit weiß etwa von den Überlegungen eines Eliphas wenig. Hiob aber bemerkt sofort, daß einer wie Eliphas eben nicht die Rechtschaffenheit seines Fragens, die Gesinnung seines Herzens anerkennt und sich barmherzig ihm beigesellt, sondern ihn als Unwissenden erblickt, der es wagt, sich anscheinend wider Gott zu stellen und von diesem Rechenschaft für sein Tun zu erwarten, anstelle daß er sich eben des Mangels an Wissen bewußt ist und sich dem Willen ergeben fügte, die eigene Schuld bekennend. Woher aber die vermeintliche Stabilität des theologischen Lehrwissens nicht stammt, das Eliphas vertritt und verkündet, ist zumindest in einer Hinsicht gewiß, daß sie auch dem hellsichtigen, redlich argumentierenden Hiob nicht verborgen bleibt. 343 344 345
Nietzsche: M 91. Hiob 6, 27–30. PGO, 333. A
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Sie rührt nicht von Gott her, denn sonst würde Eliphas sich barmherzig zeigen, denn er, Hiob, hat nie, auch nicht in Schmerz und Elend, die »Worte des Heiligen« verleugnet und wider den Willen Gottes gehandelt, was Eliphas aber unterstellt. Eben jener Theologe verweigert, wie erwähnt, dem Nächsten die »Barmherzigkeit« und beurteilt, ohne dies wissen zu können, das diesem widerfahrene Leid als gerechtfertigt. Dies zeigt, daß es ihm selbst, durch sein Reden und Handeln, an »Furcht vor dem Allmächtigen«, an Ehrfurcht somit, mangelt. 346 Die »Anklage gegen Gott« 347 – besser gesagt vielleicht die klagende Frage um die Rechtschaffenheit Gottes gegen die Menschen – zeigt Hiob, der in der »Grenzsituation« den Glauben an Gott nicht verwirft. Er folgt auch nicht dem Ratschlag seiner Frau: »Hältst du noch fest an deiner Frömmigkeit? Sage Gott ab und stirb!« 348 Hiob erkennt in existentieller Bedrängnis die Unzulänglichkeit des »Gehäuses«, das eben jener Eliphas vertritt. Die Fehler, die es aufweist, sind dem angemaßten Wissen zuzuschreiben. Der solcherart selbstgewiß redende Eliphas, von der Stimmigkeit und Richtigkeit des »Gehäuses« vollauf überzeugt, legt gerade so die Unredlichkeit seiner selbst offen. Hiob also führt Klage. Er ist auch enttäuscht über die Freunde, die ihn nicht verstehen, die ihn belehren wollen, ohne daß sie es eigentlich können. Er würde gern »redliche Worte« 349 hören, die die seinen widerlegten. Aber was er zu hören bekommt, sind nur Rügen und Vorwürfe, darauf abzielend, daß er sich einem »Gehäuse« nicht anschließt, das er nicht begreift. Eliphas nimmt ihn, Hiob, den redlich Klagenden, nicht ernst und begegnet somit auch Gott nicht ernsthaft in Ehrfurcht. So aber lebt Hiob »ohne Hoffnung« 350 . Aber noch will er »reden in der Angst meines Herzens« und »klagen in der Betrübnis meiner Seele« 351 . Er bittet leidenschaftlich und inständig, daß man von ihm abläßt, denn er ist sich keiner Schuld bewußt und will lieber sterben als weiter leiden. Was folgt, ist eine ironische Widerspiegelung des achten Psalms:
346 347 348 349 350 351
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Vgl. Hiob 6, 10 u. 14. PGO, 333. Hiob 2, 9. Hiob 6, 25. Hiob 7, 6. Hiob 7, 11.
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Hiob oder der Mensch in der Grenzsituation
»Wenn ich sehe die Himmel, deiner Finger Werk, den Mond und die Sterne, die du bereitet hast: was ist der Mensch, daß du seiner gedenkst, und des Menschen Kind, daß du dich seiner annimmst? Du hast ihn wenig niedriger gemacht als Gott, mit Ehre und Herrlichkeit hast du ihn gekrönt.« 352
Und Hiob, in der Leidenschaft seiner Verzweiflung, sagt: »Was ist der Mensch, daß du ihn groß achtest und dich um ihn bekümmerst? Jeden Morgen suchst du ihn heim und prüfst ihn alle Stunden. Warum blickst du nicht einmal von mir weg und läßt mir keinen Atemzug Ruhe? Hab ich gesündigt, was tue ich dir damit an, du Menschenhüter? Warum machst du mich zum Ziel deiner Anläufe, daß ich mir selbst eine Last bin? Und warum vergibst du mir meine Sünde nicht oder läßt meine Schuld hingehen?« 353
Hiob will wiederum Antworten – doch eben nicht irgendwelche, sondern »redliche Worte« 354 – und er fragt, um Gott zur Antwort zu ermuntern. Er will Redlichkeit, nichts anderes. Denn die schwere »Sünde« 355 kann er selbst nicht erkennen, die als Grund seiner Leiden nachvollziehbar wäre. Hiob, der unbedingt rechtschaffene Mann, ist sich »keiner Schuld bewußt« 356 , aber die Freunde wollen ihm nicht glauben. Hier ist es auch, anders als in dem erwähnten Psalm, unbegreiflich, warum Gott ihm nicht einmal ein wenig Ruhe gewährt und von ihm abläßt. Es antwortet nun ein anderer der Freunde, Bildad von Schuach. Auch er zeigt nicht das mitfühlende Verständnis des Barmherzigen, spricht keine »redlichen Worte« 357 , sondern meint zu wissen und dieses Wissen kundtun zu müssen. Bildad wendet sich in vorwurfsvollem Ton an Hiob. Auch er verfügt, wie Eliphas, über ein Wissen, an dessen Gültigkeit er nicht zweifelt. Es ist ein angemaßtes Wissen, da er gleichsam Urteile spricht, ohne mit den Tatbeständen vertraut zu sein. Er ist ganz und gar in der unbarmherzigen Logik des »Gehäuses« befangen. Hier sind jene Eigengesetzlichkeiten der Logik präsent, die Jaspers auch als Signum jeder totalitären »Weltanschauung« herausgearbeitet hat. Gott, so die Voraussetzung, kann per se nicht in 352 353 354 355 356 357
Ps 8, 4–6. Hiob 7, 17–21. Hiob 6, 25. Hiob 7, 21. Hiob 9, 35. Hiob 6, 25. A
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unrechter Weise richten. Alles, was geschieht, ist notwendig vernünftig und gerecht. So müssen also die Söhne Hiobs, die der Tod traf, eine rechtmäßige Bestrafung erlitten haben: »Haben deine Söhne vor ihm gesündigt, so hat er sie verstoßen um ihrer Sünde willen.« 358
Hiob soll hieraus lernen und selbst Buße tun. Es hat eine Art Schauprozeß stattgefunden, ein Lehrstück. Wenn Hiob sich bekehrt, sich Gott anvertraut und eingesteht, gefehlt zu haben, wird Gott die Reue anerkennen und ihn entsprechend belohnen. Bildad verweist auf den Glauben der Väter. Die Menschen, Hiob wie alle anderen, »wissen nichts«. Die Tage des Lebens sind gleich »Schatten auf Erden« 359 , aber doch glaubt Bildad eben dieses zu wissen und Hiobs Rechtschaffenheit, in aller vermeintlicher Freundschaft, bezweifeln zu dürfen. Er setzt ihn gar in die Reihe jener, die Gott vergessen und sich auf Nichtiges verlassen haben. Wenn Hiob sich reuig zeigt, wird sein Bemühen ernstgenommen werden. Das ist Bildads Überzeugung. Das »Gehäuse« ist einfach konstruiert: Gott tut niemals Unrecht. Hiob irrt, er muß gesündigt haben, genau wie seine Söhne. Wenn er Buße tut, wird ihm vergeben; wenn er die Schuld, die er, dann vielleicht sogar hochmütig, nicht begreift, wird er verdammt sein: »Siehe, Gott verwirft die Frommen nicht und hält die Hand der Boshaften nicht fest, bis er deinen Mund voll Lachens mache und deine Lippen voll Jauchzens.« 360
Wenn Hiob Unglück widerfährt, ist es einzig und allein seine Schuld. Es liegt an ihm, so ist Bildads Glaube, sich dem theologisch Evidenten anzuschließen. In dem »Gehäuse« Bildads sind die Fragen beantwortet. Wer gerecht lebt, den wird Gott nicht verwerfen. Es ist eine einfache, gnadenlose und unmenschliche Logik, die rationalisierend die Wirklichkeit deutet, aber nicht auf Hiobs Erfahrung sieht, dessen Rechtschaffenheit verkennt. Hier soll belehrt werden, in vermeintlich bester Absicht. Aber es zeigt sich doch eigentlich nur, daß ein Unwissender, nämlich Bildad, der nicht um seine Unwissenheit weiß, dem anderen Unwissenden, Hiob, der weiß, daß er nichts weiß, aber auch weiß, daß er nichts Unredliches getan oder gedacht hat, ein absolut gesetztes »Gehäuse« zuweist. Das kann Hiob nicht akzeptieren. 358 359 360
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Hiob 8, 4. Hiob 8, 9. Hiob 8, 20–21.
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Hiob oder der Mensch in der Grenzsituation
Denn würde er dies ohne Einsicht tun, so stünde dies nicht im Einklang mit der Rechtschaffenheit, die sein Leben trägt und die ihn die Klage vor Gott bringen läßt. Dieses »Gehäuse«, also religiöser Fanatismus, ist in gleicher Weise vorstellbar als politische Ideologie, als beliebige Absolutsetzung, gleichsam im Mantel der (falschen) Freundschaft dargeboten. Hiob bezweifelt nicht die Macht Gottes, verweigert aber die Einfügung unter das von den Theologen, von Eliphas und Bildad verteidigte und gerechtfertigte, »Gehäuse«. Denn er gesteht die Schuld, die er nicht erkennt, nicht ein und sagt freiweg: »Ich bin unschuldig!« 361 – wohlwissend, daß der Mensch nicht mit Gott rechten und Recht bekommen kann. Aber es ist ihm durchaus möglich, statt sich dem angemaßten Wissen der Theologen-Freunde zu unterwerfen, auszurufen: »Ich will meiner Klage ihren Lauf lassen und reden in der Betrübnis meiner Seele und zu Gott sagen: Verdamme mich nicht! Laß mich wissen, warum du mich vor Gericht ziehst.«
Hiob will »wissen«. Allein das angemaßte und anmaßende Wissen der Theologen, das seine Frage unbeantwortet läßt, genügt ihm nicht. Er fordert Rechenschaft von Gott, und will die gleiche Rechtschaffenheit von seinem Schöpfer, die auch ihn auszeichnet. 362 So verfügt Hiob über ein »reines Gewissen«, auch wenn er nicht »Sündenlosigkeit«, wie ihm vorgehalten wird, behauptet. Er verweist auf seine Rechtschaffenheit und Wahrhaftigkeit, und begreift sich selbst als unschuldig. Die Theologen wollen ihn trösten mit ihrer Gelehrsamkeit. Für sie ist die Strafe eindeutig ein probates pädagogisches Mittel zur Läuterung, das als »Gottes Wohltat« ausgewiesen wird. Hiob aber weigert sich, die vermeintliche »Zucht des Allmächtigen« zu akzeptieren. 363 Der Dritte der Freunde, Zophar von Naama, spricht. Er antwortet Hiob besonders hartherzig. Wie die anderen gilt er als Vertreter eines dogmatischen »Gehäuses«. Obzwar als Frage formuliert, wird der redlich ringende, um Antwort von Gott bittende Hiob verhöhnt. Zophar nennt ihn indirekt einen »Schwätzer«, der mit seinem »leeren Gerede« nicht noch auf eine Antwort hoffen dürfe – zumal ihm ja 361 362 363
Hiob 9, 21. Hiob 10, 1–2. PGO, 336. A
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die »Gehäuse« dargelegt wurden, die er nur akzeptieren muß. Zophar bezweifelt die Lauterkeit Hiobs entschieden. Es fragt sich freilich, aus welcher Quelle Zophar sein Wissen schöpft. Wie mag ihm Gott die »Tiefen seiner Weisheit«, die »zu wunderbar für jede Erkenntnis«, also auch für eine verstehbare Antwort auf Hiobs Frage, sein sollen, offenbart haben? 364 Zophar bezweifelt die Rechtschaffenheit Hiobs nicht nur, er bestreitet diese sogar. Für ihn ist das frevelhafte Tun Hiobs unmittelbar gegenwärtig, ein Tun, daß sich nicht nur in einem sündhaften Lebenswandel, den Gott zurecht gestraft haben muß, äußert, sondern auch in seinem verbalen Aufbegehren, in den Fragen, die Zophar so anmaßend erscheinen, daß niemand sie mit lauterem Herzen stellen könnte. Ihm kommt aber nicht in den Sinn, daß die von ihm vertretenen Ansichten, wie die mit diesen verbundenen Diffamierungen Hiobs, die sich aus der inneren Logik des »Gehäuses« ergeben, nicht nur in freundschaftlicher Hinsicht zu verwerfen sind. Sie bedeuten zugleich auch eine Anmaßung, die nur ungleich höher als diejenige Hiobs sein kann, da Zophar glaubt, mit seinem »Gehäuse«, das ihm freilich als solches nicht bewußt ist, das Handeln Gottes legitimieren zu können. Letztlich spricht, in Anspielung auf Hiobs Wunsch zu sterben, Zophar, den »Gottlosen« – und zu diesen scheint Hiob zu zählen – bliebe als tröstende »Hoffnung« allein der verzweifelte Wunsch, »die Seele auszuhauchen«. 365 Das aber, was die Freunde einzuwenden haben, weiß Hiob längst. Er fühlt sich von ihnen verspottet und verhöhnt: »Ja, ihr seid die Leute, mit euch wird die Weisheit sterben! Ich hab ebenso Verstand wie ihr und bin nicht geringer als ihr; wer wüßte das nicht? Ich muß von meinem Nächsten verlacht sein, der ich Gott anrief und den er erhörte. Der Gerechte und Fromme muß verlacht sein. Dem Unglück gebührt Verachtung, so meint der Sichere; ein Stoß denen, deren Fuß schon wankt! Die Hütten der Verwüster stehen ganz sicher, und Ruhe haben, die wider Gott toben, die Gott in ihrer Faust führen.«
Eben hierin sieht sich Hiob in seiner Rechtschaffenheit den Freunden, die »Weisheit« behaupten – nämlich die »Weisheit« ihrer »Gehäuse« und ihrer vermeintlichen Einsichten –, voraus. 366 Diese »Weisheit« eint alle Apologeten absoluter Ansprüche, die nur aus dem verinnerlichten System heraus ihre Sicht darzulegen und als 364 365 366
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Hiob 11, 1–6. Hiob 11, 20. Hiob 12, 1–6.
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einzig gültig anzugeben wissen. Das, was die Freunde über die Allmacht Gottes sagten, ist Hiob bewußt. Dennoch redeten sie, als wüßte er nichts davon, als wäre er anmaßend und überheblich, als gäbe er vor, rechtschaffen zu sein, und würde doch bloß die Sünden nicht sehen wollen, die er trägt. So nennt er die Freunde »Lügentüncher« und »unnütze Ärzte«: »Wollte Gott, daß ihr geschwiegen hättet, so wäret ihr weise geblieben. Hört doch, wie ich mich verantworte, und merkt auf die Streitsache, von der ich rede!« 367
Die Freunde versuchen, das Handeln Gottes zu rechtfertigen und zu erklären, als verfügten sie über das entsprechende Wissen. Zugleich negieren sie Hiobs Rechtschaffenheit, die der Logik ihrer »Gehäuse« entgegensteht, mißtrauen ihm und machen sein Verhalten als uneingestandene Sündhaftigkeit kenntlich, werfen ihm anmaßende Worte vor. Sie demütigen somit den redlich mit Gott wider Gott protestierenden und fragenden Hiob, statt ihm beizustehen. Es ist wiederum der Mensch in der »Grenzsituation«, der auf die Widersprüche aufmerksam macht und die diffizile Problematik, die mit dem absolut gesetzten »Gehäuse« verbunden ist, sehr einfach erhellt. Die Theologen-Freunde werden, weil sie mit »Unrecht« und »Trug« leichthin »Gottes Sache« vertreten – und für ihre »Parteinahme« gegen Hiob, für ihre Unterstellungen, wie für ihr angemaßtes und anmaßendes Wissen, für ihre »Sprüche aus Asche«, von Gott, so denkt Hiob, »hart« zurechtgewiesen. 368 Hiob trägt weiterhin sein Unverständnis über das Leid, das ihm widerfährt, vor Gott. Er erregt damit immer wieder aufs neue den Widerspruch der Theologen-Freunde, die noch einmal auf das Vorgetragene reflektieren und ironischerweise, wie dann Eliphas, Hiob zur Last legen, was sie eigentlich, ohne es zu wissen, selbst tun, nämlich wiederholt »aufgeblasene Worte« machen und »leere Reden« halten. Dadurch zerstöre Hiob »Gottesfurcht« und »Andacht vor Gott« 369 . Während die aufrichtigen Fragen des Rechtschaffenen aber lauteren Herzens sind, rechtfertigen die Zurechtweisungen der Freunde indessen nur ein System. Sie sind nicht vom redlichen Denken und Glauben getragen – auch wenn Eliphas sich auf den Glauben 367 368 369
Hiob 13, 4–6. Hiob 13, 7–12. Hiob 15, 2–4. A
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der Väter beruft und sein Unverständnis kundtut angesichts von Hiobs elender Situation, die ihn weniger berührt als der vermeintliche Unglaube, der aus diesem spräche, und der immer wieder das dogmatische »Gehäuse« der Theologen zu erschüttern scheint. Fragen werden aufgeworfen, die die Vertreter des »Gehäuses« ohne Kenntnis des Besonderen beantwortet zu haben glauben. Nur Hiob bleibt beharrlich uneinsichtig gegen die »leidigen Tröster« und spricht seinerseits nun wieder von »leeren Worten«, nicht begreifend, warum sie ihm wieder und wieder mitgeteilt werden. 370 Hiob ordnet sich dem »Gehäuse« nicht unter – und ist neben dem Leid, das er, wie er glaubt, ungerechterweise erfährt, auch die Reden der Freunde leid, die ihn traurig werden lassen: »Wie lange plagt ihr doch meine Seele und peinigt mich mit Worten! Ihr habt mich nun zehnmal verhöhnt und schämt euch nicht, mir so zuzusetzen. Habe ich wirklich geirrt, so trage ich meinen Irrtum selbst. Wollt ihr euch wahrlich über mich erheben und wollt mir meine Schande beweisen?« 371
So erweisen sich die Freunde als die eigentlich Gottlosen. Denn sie glauben, daß sie über ein Wissen vom Absoluten, über ein Wissen von Gott verfügen und anhand dieses Wissens beurteilen können, daß Hiob schuldig ist. So wie Zophar schließlich sich auf den »Geist aus meiner Einsicht« beruft, der ihn antworten läßt. Er verweist gleichsam auf eine höhere Macht, auf eine höhere Logik, die ihm die scheinbar gültige Lehre verliehen hat, mittels derer er Hiobs Ansinnen zurückweist und das Leid, das diesen getroffen hat, zu rechtfertigen weiß. All das, was Hiob widerfahren ist und widerfährt, bezeichnet er als »Lohn eines gottlosen Menschen«. 372 Dieses Urteil wird nicht zum ersten Mal verkündet. Es trifft seit alters immer wieder Menschen wie Hiob: Ganz gleich, was dieser behauptet, er kann nicht rechtschaffen sein, denn wäre er rechtschaffen, so die Argumentation der Freunde, würde er nicht erleiden, was er erleiden muß. Erneut ruft Eliphas ihn auf, sich zu bekehren, die Schuld einzugestehen und sich neu Gott zuzuwenden; freilich ohne zu erkennen, daß Hiob sich nie von Gott abgewendet hat. Hiob führt seine Anklage mit Gott gegen Gott, die auch eine Verteidigungsrede seiner selbst ist, zu Ende, bekennt sich leidenschaftlich als rechtschaffen lebender 370 371 372
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Hiob 16, 2–3. Hiob 19, 2–5. Hiob 20, 3; 20, 29.
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Mensch, zählt sein gerechtes Tun auf und entdeckt nichts Böses, das er begangen hat: »Ich schreie zu dir, aber du antwortest mir nicht; ich stehe da, aber du achtest nicht auf mich. […] Gott möge mich wiegen auf rechter Waage, so wird er erkennen meine Unschuld.« 373
Auf diese Worte antworten die drei Freunde nicht mehr. Statt ihrer ergreift ein jüngerer, bisher nicht erwähnter Theologe namens Elihu das Wort. Er spricht feierlich und macht das Leid des Menschen als Weg zur Belehrung und Erlösung kenntlich. Elihu ist gewissermaßen ein Mann aus der zweiten Reihe. Zunächst hat er die Alten sprechen lassen. Nun aber ist es an ihm, Hiob belehren zu wollen, da er sich mit den Ausführungen der anderen unzufrieden zeigt. Elihu ist zornig, empört und eifernd. Er verhöhnt seine Gefährten, die auf Hiobs Reden nichts zu erwidern wissen – und das, was sie zu antworten wußten, sieht er nicht als angemessene Antwort an, da sie Hiob nicht belehrten, sondern damit nur das, was sie selbst vertraten, kundtaten. Elihu ist sehr von sich überzeugt, gibt sich als aufrechter Mann zu erkennen. Er ist nicht schmeichlerisch gesinnt, wohl aber »aufrichtige Worte« und »lautere Erkenntnis« vermittelnd, vom »Geist Gottes« 374 ganz erfüllt – wie er behauptet. Hiob erwartet zu Unrecht, daß Gott ihm auf menschliche Weise erwidert, um die ihn bedrängenden Fragen zu beantworten: »Warum willst du mit ihm hadern, weil er auf Menschenworte nicht Antwort gibt? denn auf eine Weise redet Gott und auf eine zweite; nur beachtet man’s nicht.« 375
Der Mensch sucht nach verstehbaren, einsichtigen Antworten auf seine Fragen; dabei denkt er zunächst an sich selbst, und erwartet, mit vermessenem Anspruch, daß ihm in der Weise erwidert wird, in der er fragt. Elihu aber gibt Hiob zu verstehen, daß Gott sehr wohl antwortet, auch wenn er dies nicht begreift. Die Argumentation, selbst die Worte Hiobs nimmt er auf und versucht diesem zu entgegnen, ihn mit aller Macht zu belehren, deutlicher als dies die anderen Freunde vermochten. Spricht er auch anfangs davon, daß Gott nicht auf eine menschliche Weise antwortet, so hat Elihu selbst anscheinend doch ein Wissen darüber erhalten, über das er nach Belieben 373 374 375
Hiob 30, 20; 31, 6. Hiob 33, 3–4. Hiob 33, 13. A
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verfügen kann – wüßte er sonst zu sagen, daß er dem Menschen dem Maß entsprechend zumißt, das der Mensch verdient? Und daß folglich Hiob, der leiden muß, auch zu leiden verdient hat, denn »Gott tut niemals Unrecht, und der Allmächtige beugt das Recht nicht«, mag Hiob das auch noch so wortreich bestreiten wollen? 376 Tut er dies nämlich, handelt er nicht verständig: »O, Hiob sollte bis zum Äußersten geprüft werden, weil er Antworten gibt wie freche Sünder. Denn zu seiner Sünde fügt er noch Frevel hinzu. Er treibt Spott unter uns und macht viele Worte wider Gott.« 377
Nichts als »stolze Reden mit Unverstand« hat Hiob nach Auffassung Elihus gehalten. 378 So kann dieser, wie es scheint, den vermeintlichen Unmut und Zorn Gottes wider Hiob gut begreifen, obzwar, wie von Elihu selbst ausgesagt, Gottes Handeln unbegreiflich ist und bleibt. Diese Reden, machtvoll vorgetragen, erscheinen paradox und sind es auch. Denn woher nimmt Elihu sein Wissen, ein Wissen, das er eigentlich als unmöglich bezeichnet? Hiob hätte es auch erlangen können, da er aber nicht rechtschaffen ist und auch nicht sein kann, wie Elihu fest überzeugt ist, bleibt ihm dieses Wissen verborgen. Er zählt zu den »Ruchlosen«, die im »Zorn« hart werden, nicht einmal um Erbarmen flehen und in »Unverstand« vergehen: »Aber den Elenden wird er durch sein Elend erretten und ihm das Ohr öffnen durch Trübsal.« 379
Durch das Leid, das Hiob erfährt, soll er geläutert werden, sich bekehren und sich retten lassen, indem er die Wahrheit, die er doch nicht einsehen will, durch die Qual anerkennt und sich dem »Gehäuse« zuwendet. Dann aber fährt Elihu fort und spricht von der Größe und Unbegreiflichkeit Gottes. Ganz gleich, so schließt er, was der Mensch auch tut, er wird Gott nicht erreichen und darf auch nicht erwarten, daß er ihm in seiner Sprache antwortet, mag er noch so groß an »Kraft« und reich an »Gerechtigkeit« sein – Hiob, der vermeintlich Rechtschaffene, ist unwissend und sündig. Elihu aber gibt wiederholt vor zu wissen, was er als mögliches Wissen wortreich bestreitet – er will nicht trösten, was freilich auch den Freunden miß-
376 377 378 379
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Hiob 34, 11–12. Hiob 34, 36–37. Hiob 35, 16. Hiob 36, 13–15.
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Hiob oder der Mensch in der Grenzsituation
lungen ist, sondern nur noch belehren. 380 Auf diese Rede entgegnet Hiob nichts mehr. Als Elihu geendigt hat, antwortet ihm endlich Gott. Die Fragen, die Hiob bedrängen, bleiben dennoch ohne Antwort. Aber Gott zeigt ihm, daß er alles zu tun vermag, daß ihm keine Grenzen gesetzt sind, während der Mensch stets auf sich selbst verwiesen bleibt, an Grenzen gebunden, die er nicht überschreiten kann, Grenzen persönlicher Einflußnahme und Grenzen möglicher Erkenntnis. Hiob hatte zwar Fragen gestellt, aber nicht vorgegeben, Antworten zu kennen. Die Theologen-Freunde indessen glaubten zu wissen und bezweifelten Hiobs Rechtschaffenheit. Was Gott Hiob nun berichtet von seiner Größe und Allmacht, erinnert vielleicht an das, was die Theologen gesagt haben. Aber sie waren so vermessen, den, dessen Willen sie nicht kennen noch erkennen können, rechtfertigen und wider Hiob ins Recht setzen zu wollen. So maßten sie sich in den Antworten, die sie gaben, ein Wissen an, obgleich sie gar nichts wußten, eben nicht einmal über jenes sokratische Wissen verfügten, über die Einsicht in die Grenzen und in die Unzulänglichkeit der eigenen Erkenntnis. Was Hiob zu hören bekommt, ist: »Wer mit dem Allmächtigen rechtet, kann der ihm etwas vorschreiben? Wer Gott zurechtweist, der antworte.«
Woraufhin Hiob erwidert: »Siehe, ich bin zu gering, was soll ich antworten? Ich will meine Hand auf meinen Mund legen. Einmal hab ich geredet und will nicht mehr antworten, ein zweites Mal geredet und will’s nicht wieder tun.« 381
Hiob sind die Grenzen seiner selbst vollauf bewußt. Er war nicht so vermessen, anzunehmen, daß er Antworten kennt, wie seine Theologen-Freunde behaupteten, aber rechtschaffen und mutig genug, ernste Fragen vorzubringen, die diese recht eigentlich unernst beantwortet haben und nicht zulassen wollten. Denn um ihr »Gehäuse« zu rechtfertigen, gaben sie vor, über Gottes Absichten sich mitteilen zu können; während Hiob sodann die Größe Gottes anerkennt, sich »schuldig« spricht und »Buße« tut, weil er weiß, daß er Gottes Handeln nicht mit menschlichen Maßstäben messen kann. Die Freunde, insbesondere Eliphas, der Älteste von ihnen, erhalten zur Antwort: 380 381
Vgl. Hiob 37, 23. Hiob 40, 2; 40, 4–5. A
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Von der Kritik der »Gehuse« zum philosophischen Glauben
»Mein Zorn ist entbrannt über dich und über deine beiden Freunde; denn ihr habt nicht recht von mir geredet wie mein Knecht Hiob.« 382
Hiob stellte Fragen. Er hat die Anmaßung der Theologen durchschaut. Die »frommen Sätze« und vorgebrachten »Gründe« muten zwar »gewichtig« an, haben aber »Hiobs Empörung« nur noch verstärkt, die sich nicht wider Gott, sondern wider die Freunde richtet, da er bemerkt hatte, daß er sich weiterhin »fragend« und »hadernd«, natürlich auch »anklagend« – denn er möchte einsehen und begreifen, warum ihm all dies Leiden widerfahren ist – an den »schweigenden Jahve« wendet. Zwar wird Hiob in die »Grenzen seines Begreifenkönnens« verwiesen, die Theologen aber werden ins »Unrecht« gesetzt, weil sie – in unzulässiger Anmaßung – diese Grenzen ignorierten, nicht mit Hiob fragten, sondern gegen Hiob selbstgewiß, dem eigenen »Gehäuse« verhaftet, antworteten, als kennten sie Gottes Absichten. 383 Die theologische Argumentation erweist sich als Logik des »Gehäuses«, bei der der beharrlich im existentiellen Ernst fragenden Hiob unterschätzt, ja gar nicht ernstgenommen wird. Der Fragende erhält nur Verweise auf die Gesetzestreue, die Tradition und die Unerforschlichkeit Gottes, Antworten mithin, deren Unzulänglichkeit darin besteht, daß sie sich gar nicht auf Wissen gründen können. Die Konklusion der Theologen-Freunde, daß das Leid eine »Strafe Gottes« und Maßnahme der Läuterung für »begangene Sünden« darstelle, ist so anmaßend wie unmenschlich und unbarmherzig, da Hiob, der sich als rechtschaffen zu erkennen gibt, Unredlichkeit unterstellt wird. Er wird aufgefordert, sich selbst zu erforschen, um den Grund für seine »Qualen« zu finden. 384 Die Forderung der Theologen – Hiob verkennt die »wahre Lehre«, so klagt er Gott an, was ungerechtfertigt ist, und sein persönliches Geschick noch weiter verschärft – ist Unterwerfung und Anerkennung des »Gehäuses«, in dem Gott, von theologischer Autorität »glaubend erkannt«, als »Vollstrecker einer sittlichen Weltordnung« fungiert, wird zurückgewiesen. Hiob aber protestiert entschieden gegen die unbarmherzigen TheologenFreunde, die ihn aufzurichten glauben, tatsächlich aber verspotten und verhöhnen, indem sie sich ein Wissen anmaßen und ihm zu-
382 383 384
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Hiob 42, 6–7. PGO, 333. PGO, 334.
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Hiob oder der Mensch in der Grenzsituation
gleich die Rechtschaffenheit absprechen – wovon die Theologen auch immer reden mögen, »das ist nicht Gott«. 385 Indessen bleibt die Frage, auf die Hiob keine Antwort findet, aber die »Energie« der kraftvollen Klagen zeigt die »Zweideutigkeit des Verhältnisses von Gott und Mensch«, in der Hiob die »Fixierung einer Positions des Wissens von Gott und Mensch«, wie dies die Theologen zu besitzen glauben, zugleich erstrebt, als dogmatische Haltung aber zurückgewiesen wird – als das »leidenschaftliche Verwehren der ruhebringenden Eindeutigkeit des Gedankens«. Der sodann von Gott, der letztlich doch erscheint, in seine Grenzen verwiesene Hiob erhält keine Antwort auf seine Frage. Aber Gott ist gegenwärtig und zeigt ihm seine Größe, fragt selbst, worauf Hiob natürlich seinerseits nur schweigen kann – und weist »jede Frage nach Begreiflichmachen und Rechtfertigung« ab. 386 Hiob beugt sich der Macht Gottes, aber nicht den sich mächtig dünkenden Freunden. Wer Antwort auf Hiobs Fragen gibt, so führt Jaspers aus, der überschreitet den Horizont dessen, was für Menschen zu wissen möglich ist. Auch Hiob war anmaßend, als er zu wissen begehrte, was zu wissen unmöglich ist, gab aber nicht vor, Antworten darauf zu kennen in einem geschlossenen »Gehäuse« – dessen Grenzen schon Hiob deutlich geworden sind, als er, an den Theologen und ihren Auffassungen vorbei, die »Anklage gegen Gott angesichts der Welt« 387 und des Leides der Gerechten artikuliert hat. Hiob stellte diese Fragen aus »Wahrhaftigkeit« und wird darum respektiert und nicht verdammt. Deutlich auch ist der signifikante Unterschied zwischen Hiob und den Theologen: »Hiob hat zwar wissen wollen, was kein Mensch wissen kann; die Theologen aber haben zu wissen vorgegeben, was kein Mensch weiß.«
Dem angemaßten und anmaßenden Wissen der Theologen kann nichts entsprechen. Denn die Grenzen möglichen Wissens sind überschritten worden. Der redlich fragende Mensch, der nicht vorgibt, zu wissen, was zu wissen gar nicht möglich ist, verzweifelt schier an der Fraglichkeit, gibt aber den Glauben nicht auf. Er faßt sogar den Mut, vielleicht Übermut, mit Gott zu rechten, und ist diesem allemal nä-
385 386 387
PGO, 342. PGO, 343. PGO, 335. A
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her als jene, die hochmütig und ihrer selbst gewiß, die Fraglichkeit ignorieren und stattdessen Antworten präsentieren. Das Votum für »Hiobs Redlichkeit« ist zugleich ein Votum gegen die »Unredlichkeit der Theologen«, die alles zu wissen vermeinen, denen aber die eigene Unwissenheit nicht bewußt ist. Während auch Hiobs »unbeantwortbares Fragen« zurückgewiesen wird, ist dem Fragenden dies verziehen aufgrund der sich darin äußernden »Wahrhaftigkeit«, über die sich die »unmögliches Wissen behauptenden unwahrhaftigen Theologen« überheben. Die Reflexionen über die Wahrheit und Gerechtigkeit, die Hiob anstellt, werden von Gott anerkannt, weil er unbedingt wahrhaftig ist. Durch die Gegenwärtigkeit Gottes werden die »in sich kreisenden und darin erstarrenden Reflexionen« transzendiert, in ein metaphysisches Stadium, in dem, wie Jaspers darlegt, der »Gedanke« endet, das Bewußtsein hiervon aber von der »Helligkeit« – mit ihr von einer Geborgenheit im Sein und der Gegenwart Gottes – erfüllt ist. Offenbar kann auch die Geschichte Hiobs in Jaspers’ Philosophie enden; nachvollziehbar und zutreffend gewiß ist, daß hier der Wert der »Wahrhaftigkeit«, die die »Gehäuse« auf- und durchbrechen, positiv dargelegt wird, der »blinde Gehorsam« zurückgewiesen und die Unterordnung unter absoluut gesetzte »Gehäuse« gleich welcher Art verworfen werden. Der Mensch in der »Grenzsituation«, der leiden muß, aber nicht begreift, warum er leidet, erkennt die Unzulänglichkeit vorgefertiger Antworten und angemaßten Wissens, zeigt, daß die vermeintlich umfassend gültigen »Gehäuse« und »fraglose Hingabe« an diese als nicht zureichend beurteilt werden muß. Es ist zulässig, daß »frei geschaffene Vernunftwesen«, die eben nicht »Marionetten« oder »unterworfene Sklaven« sind, wahrhaftig fragen dürfen, auch nach dem, was nach menschlichen Maßstäben unbeantwortbar bleibt, denn keine Antwort in der vermeintlich absoluten Ruhe und Eindeutigkeit der »Gehäuse« ist jemals genügend. 388 So schließen sich bei Hiob die »Frömmigkeit vor Gott« und die »Empörung gegen Gott« gerade nicht aus, sondern verbinden sich im Ringen um die Wahrheit, das von einer Rechtschaffenheit getragen ist, die ein angemaßtes Wissen verweigert, aber auch den Glauben nicht aufgibt, mit Gott gegen Gott rechten will, und so erst zu diesen Fragen gelangt. 389 Die Fragen, und mit ihnen das »Hiob-Problem«, 388 389
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PGO, 343 f. PGO, 345. Die Antwort bewertet Jaspers zunächst als eine »eschatologische Chiffer«,
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bleiben bestehen, der Widerstreit von Dogmatik und Rechtschaffenheit dauert an. Der Glaube wird wegen des existentiellen Drangs nach Antwort in der »zerreißenden Spannung« erprobt. Auch die Auseinandersetzung zwischen der »theologischen Selbstgewißheit« und dem »suchenden Wahrheitswillen Hiobs« hält an. Es ist auch nicht ohne Ironie, daß jene, die sich ein absolutes Wissen anmaßen und sich im Recht wähnen, überheblich den »Weg der Gottvergessenen« beschreiten, jenen Weg, den zu gehen sie dem rechtschaffen fragenden Hiob, dem sie zugleich die Rechtschaffenheit absprechen, vorwerfen. 390 So wie die Theologen »ihrer Wahrheit gewiß« scheinen, die aber bloß eine dogmatische Arroganz darstellt, versäumen sie auch, Hiob zuzuhören. Sie verweigern sich der »echten Kommunikation«, wissen nicht wahrhaftig zu reden, da sie sich mit dem, was sie glauben und vertreten, bereits im »endgültigen Besitz der Wahrheit« 391 wähnen, einer Wahrheit, die eine »ausschließende Wahrheit« 392 des Glaubens darstellt. Hiobs leidenschaftliches Ringen um Wahrheit ist in ihren Augen törichter »Übermut«. So glauben sie, er hätte eine »Lehre« dargelegt, wider Gott gerichtet. Aber Hiob besitzt keine solche Lehrmeinung, die er für absolut gültig hält. Er bestreitet nur, daß die anderen, die solches zu besitzen meinen, eine solche Lehre, die absolut gültig wäre, besitzen können. Denn das Leid, das er erfahren hat, durchbricht gleichsam alle absolut gesetzten »Gehäuse«, die von den Theologen vorgetragen werden, und entlarvt diese als »Menschenweisheit«, gegen die er die »Ursprünglichkeit seiner eigenen Erfahrung« setzt. Diese nehmen die Theologen nicht ernst und wollen sie unter das bestehende »Gehäuse« leichthin subsumieren. Hiobs von einem gleichsam heiligen Ernst erfüllte »Revolte« zeigt: »Nicht an der Theologie ist ihm geledie im Sinne der jüdischen Orthodoxie das »Erscheinen Gottes« am »Ende der Tage« versinnbildlicht, deren »Kraft« darin sich zeigt, daß wir eine »ansprechende Wirklichkeit« spüren, »auf die hin wir leben«, und auf die hin es sich zu leben lohnt, zum anderen im orthodoxen Christenglauben durch die Gestalt Jesu aufgelöst, die selbst »alles Unheil« erlitt und das ihm widerfahrene Böse durch die »Reinheit seines Menschseins« tilgte: »Was auch immer Hiobs Anklage enthielt, der Gott, der alles selber litt, war nicht mehr anzuklagen. Der Glaubende entging der vernichtenden Unbegreiflichkeit Gottes, denn Gott, Mensch geworden, begegnete ihm wirklich als Partner, als das Du, das ein Mensch war. Der Weg zu Gott ist auf menschliche Weise, als Weg vom Menschen zum Menschen offen.« Vgl. PGO, 347. 390 PGO, 347. 391 PG, 59. 392 PG, 67. A
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gen, sondern an Gott.« Das, was die Theologen ihm entgegnen, rhetorisch-ironisch fragend, ob er »im Rate Gottes« zugegen gewesen sei, erinnert zwar an die Frage Gottes, der wissen möchte, wo er, Hiob, gewesen sei, »als ich die Erde gründete«, aber dennoch ist dies grundverschieden von der Theologen-Weisheit. Denn die vermeintlichen Freunde können nicht wissen, was sie zu wissen vorgeben, da auch sie »im Rate Gottes« nicht zugegen waren. Sie wollen aber, daß Hiob ihre Lehre – zu seinem eigenen vermeintlichen Seelenheil – anerkannt und sich dieser unterwirft, was er nur unter Preisgabe der Rechtschaffenheit tun könnte. Denn ihre Rede über die »Unerforschbarkeit Gottes« ist nichts anderes als ein »Satz des dogmatischen Wissens«, mit dem sie negieren, was der »autoritativen Lehre«, dem eigenen absolut gesetzten Anspruch, zuwiderläuft. In der »Mahnung an Hiob«, die Gott letztlich ausspricht, wird die »Bescheidung in der Freiheit des menschlichen Suchens« gefordert, d. h. sich also nicht zu erkennen anmaßen, was zu erkennen für den Menschen unmöglich ist, die »Grenzen nicht zu überschreiten«, an die der Mensch gebunden bleibt. Zurückgewiesen wird die beliebige »Unterwerfung unter die menschliche Autorität«, die als vermeintliche »Wahrheit Gottes« dargestellt wird. Zugleich wird der Verweis auf die Grenzen menschlicher Erkenntnis, die »Anmaßung des eigenen Wissenwollens«, verbunden mit der »Befreiung von dem theologischen Wissen«, jenem »dogmatischen Wissen«, das bei den Theologen das »erste« und »gültige« ist, das sich als ebenso unzulänglich erweist wie eine mögliche »negative Dogmatik« 393 , die die Spannung von »Frage« und »Trotz« im »Zusichselbstkommen« durch ein ebenfalls »dogmatisch gewordenes Wissen des Nichtwissens« beenden wollte, das in die »stumpfe Fraglosigkeit des Nichtmehrdenkens« – und nicht mehr Fragens – münden würde. Hiobs Haltung letzthin wäre die »Bewegung des Wissens«, die an die Grenzen des Wissens führt und ihre »Erfüllung« nicht in einem angemaßten wie anmaßenden absoluten Wissen, das nur Ausweis der Unredlichkeit wäre, findet, sondern im »umgreifenden Nichtwissen« endet, das – in Jaspersscher Diktion – als »schwebend« und »verschwindend« in der Zeitlichkeit aufgefaßt wird. Es erscheint eigentlich als Moment eiines philosophischen Glaubens, dessen Konzeption im nächsten Kapitel ausgeführt werden soll, als eine andauernde Bewegung des »glaubenden Hiob im Zusichselbstkommen«, 393
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beständig »geboren aus Frage und Trotz«. Dies geschieht in der Gewißheit einer Geborgenheit im Sein als Signum einer säkularisierten Religiosität, verknüpft mit der »Empörung« des existentiell bedrängten Hiob – und all derer, die mit ihm Fragen stellen. Allein die Aufrichtigkeit Hiobs, in der sich die »Empörung des freien, der Transzendenz zugewandten Glaubens, der Wahrheit will«, erscheint angemessen, berechtigt und gerechtfertigt. Der Mensch in der »Grenzsituation« sieht die Brüchigkeit der »Gehäuse«. Der existentielle Ernst erweist die Ansichten der Außenstehenden, die dogmatische Lehrsätze verkünden, als inkommunikative »Lieblosigkeit«, dargelegt in der leichtfertigen, selbstgewissen und hochmütigen Redeweise der Theologen, die »mit ihm reden, ohne eigentlich mit ihm zu reden«, die – auch um das »Gehäuse« zu rechtfertigen, ganz gleich wie es um Hiob bestellt ist – gleichsam über einen abstrakten Fall theoretisieren, die konkrete »Qual« aber, die vor ihren Augen liegt, unberührt übersehen. Die Theologen begreifen nicht einmal ansatzweise, daß Hiob »unendlichen Trost« sucht, während sie allein mitleidlose Selbstgerechtigkeit »ohne innere Teilnahme« am Geschick des Leidenden zeigen. Somit wollen sie bloß in steifem Dogmatismus das »Gehäuse« bewahren, statt daß sie sich dem Mitmenschen, dem leidenden Hiob, als »Schicksalsgefährten« beigesellen. Was sie verkünden, leiten sie her aus dem vermessenen Anspruch einer vermeintlichen »Einsetzung von Gott« – aber das theoretische Gebilde ist ein bloß veräußerlichtes Konstrukt, ein erstarrtes »Gehäuse«, das auch diejenigen, die es vertreten, innerlich starr, lieb- und auch leblos werden läßt. Somit ist Hiob in der »Leidenschaft« seiner Wahrheitssuche – die schon als Suche von Jaspers mit dem »Glauben an Gott« identifiziert wird – zumindest dem Glauben näher als die an die »Gehäuse« sich gebunden wissenden Theologen. Sie sind ganz im »Menschenwerk« befangen, das für sie absolut gültig ist. Hiob indessen durchschaut die Grenzen und die Unzulänglichkeit dieses »Gehäuses« in der »Grenzsituation« und verwundert sich, daß die anderen dies nicht sehen, oder, selbst wenn sie dies nicht sehen, nicht einmal imstande sind, sein Leiden wahr- und ernstzunehmen und ihm die Rechtschaffenheit, die er bekennt, zuzugestehen. Hiob will »zu Gott selbst« sich bewegen – eine Bewegung, die den Theologen fremd ist, da sie, trotz oder in der Paradoxie seiner Unbegreiflichkeit, in der Bestimmung derselben gefunden zu haben meinen und nun glauben, verkünden zu können, was Gott will. Erst der von Gott selbst, nicht von den Theologen, vorgebrachte Verweis A
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auf die »unbegreiflichen Wunder«, die dieser ins Werk gesetzt hat, bringt Hiob eine Antwort, zwar nicht die ersehnte auf den Sinn seiner Leiden, aber doch eine Antwort, die zur »Selbstbescheidung« führt. Die menschliche Größe Hiobs zeigt sich darin, daß seine Fürbitte den Theologen gilt, die nicht der Zorn Gottes trifft, aber dennoch zurechtgewiesen werden. 394 Für den »philosophischen Glauben«, den Jaspers entwickelt, besteht die Gewißheit der »Forderung Gottes« hinsichtlich der Rechtschaffenheit menschlichen Handelns. Verbunden ist dies mit der niemals befragten und bezweifelten Existenz Gottes. Es bleibt aber undeutlich und auch irreführend in der Wendung, zumindest im Bezug auf Hiob, wenn der Mensch aufgefordert ist, in der Unmittelbarkeit vor Gott zu stehen, um »zu warten, was er ihm sage«. Der Mensch soll nicht von Menschen erwarten, daß ihm etwas »Absolutes« präsentiert wird, und soll diesem auch nicht folgen. Es wäre in jedem Fall wider Gott, auch wenn es im Namen Gottes vorgestellt wird. Jaspers deutet die Wirklichkeit Gottes als unbegreifbar und nennt es eine »harte Forderung«, die gleichwohl unvermeidlich ist, die scheinbare »Leere der Welt« aushalten zu müssen, eine Welt zu ertragen, in der Gott nicht gegenständlich, nicht faßbar wird. Aber nur in dieser »herben Situation«, so Jaspers, wahrt sich der Mensch seine Offenheit, auf »Gott zu hören, wenn Gott spricht« – oder gar zu ertragen, wenn »Gott nie sprechen sollte« –, was sich begreifen läßt als die Offenheit, die sich niemals mit den Antworten, die die Theologen Hiob vorstellen, einverständig erklärte und sich diesen anschlösse, sondern weiter, wie Hiob, die Fragen stellt, die über die Begrenztheit menschlicher Erkenntnis hinausführen, aber niemals in ein anmaßendes Wissen über all das, was zu erkennen nicht möglich ist, verfallen. 395 Die Theologen vergegenständlichen die »Transzendenz« und greifen zu kurz; Gott ist für Jaspers nur in »Negationen« aussprechbar, aber niemals wirklich faßbar. 396 Die Problematik Hiobs ist – wie auch Martin Buber ausgeführt hat – ein »Rechten« mit dem »Richter«, keine »Apologie«, eher ein appellativer »Protest«, der sich nicht gegen ein vermeintliches Urteil, denn ein solches ist nicht gesprochen worden, vielmehr gegen eine »ungerechte Strafe« richtet – und so fordert Hiob für sich eine »ord394 395 396
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nungsgemäße Prozedur«, in der er, wie bemerkt, auf Gottes Gerechtigkeit gegen die von Gott zugelassene oder verursachte Ungerechtigkeit des Leidens hofft. Aber er weiß auch wie »widersinnig« 397 sein Ansinnen ist, denn es bedeutet, Gott mit menschlichen Maßstäben messen zu wollen. Was Hiob auszeichet, ist seine Rechtschaffenheit, die den Anmaßungen widersteht, sowohl dem »Gipfel der Heimsuchung« 398 , als seine Frau ihn drängt, Gott zu verfluchen und sich von ihm zu lösen, als auch die einfachen, wenn auch kompliziert anmutenden Antworten der Theologen, die ihn zu einem »Gehäuse« bekehren möchten. Er würde sich, mit Jaspers, diesem »Gehäuse«, unterordnen nur unter Preisgabe der eigenen Rechtschaffenheit. Hiob tut es nicht, weil es aus seiner Sicht ganz einfach nicht recht wäre. Auch die Geschichte Hiobs endet nicht harmonisierend, so Jaspers, daß der »verzweifelt Leidende« die »Dissonanzen« des Lebens in einem »unbekannten Ganzen« aufgelöst sähe, in das die Menschen »wehrlos« geworfen, dem sie ausgesetzt sind. Diese letzte Antwort, die den Sinn des Leidens vorgäbe, bleibt aus. Auch eine Antwort auf die Frage, warum denn Gott den Hiob erprobt, warum er sich auf das Spiel mit Satan eingelassen hat, findet sich nicht. Fest aber steht, daß die systematische »Harmonie« der Theologen, das geschlossene »Gehäuse« als jegliches Geschehen erklärende Orthodoxie, eine »existentielle Selbsttäuschung« des Menschen ist, der sich »unredlich« und also nicht in aufrichtiger, nur in »vermeintlicher Demut« seiner selbst entäußern würde. 399 Die Ambivalenz des Menschen, der mit seinem Los hadert, nicht begreift, aber begreifen möchte, die Antworten, die ihm gegeben werden verweigert, ist beispielhaft für den Menschen in der »Grenzsituation«, der die vorgefertigten »Gehäuse« zurückweist und doch nicht in einer ausweglosen Verzweiflung resignierend versinkt. 400 397 Buber, Martin: Zur Verdeutschung des Buches Ijob (Hiob). In: ders.: Werke. Band 2: Schriften zur Bibel, München 1964, 1170. 398 Buber: a. a. O., 1171. 399 NC, 253. 400 Das Leid Hiobs, der sein Leben überhaupt, den Tag seiner Geburt, verflucht, lobt doch noch Gott für sein Tun. Martin Buber schreibt resümierend: »In all seinen Klagen und Protesten sagt er diesem seinem Gott nicht ab, vielmehr er bezeugt ihn, den übermächtig Geheimnisumwitterten, durch eben diese Klagen und Proteste, durch eben seinen Anspruch, seine nicht ablassende Ansprache. Als Gott ihm dann unmittelbar entgegentritt und ihm aus dem Sturme antwortet, ohne dem Appell irgend Folge zu leisten, nur eben das Geheimnis einer Schöpfung, in der kein Recht waltet, als sein eignes
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Nicht also der Mensch, der sich den »Gehäusen« fügt, ganz gleich, wer als Vertreter dieser auftritt, verhält sich richtig, sondern der Fragende und Klagende, der sich das Fragen von Menschen nicht verbieten läßt und in der Freiheit seines Fragens aufrichtig und mutig die Begrenztheit der »Gehäuse« erweist. Er vertraut nicht auf das, was er vom »Hörensagen« vernommen hat – und hierunter lassen sich die von Menschen erdachten »Gehäuse« jeder Art, jedes auf seine Weise wider die Rechtschaffenheit des Tuns und die Redlichkeit des Denkens und Glaubens gerichtet, fassen –, und handelt rechtschaffen. Folgen wir Buber, so ist die Wendung Hiobs, nun »hat mein Auge dich gesehen« 401 , keine »Minderung der Geheimnishaftigkeit«. Es bezeichnet die »Nähe«, die Gott Hiob wiederum »geschenkt« hat. Auch bedarf es keiner »Entgeheimnissung«. Der Mensch kann im »Angesicht des nicht zu enträtselnden Geheimnisses leben«, in dem zwischen »Recht« und »Unrecht« nicht entschieden wird, beides aber durch das »›Sehen‹« aufgehoben ist. Hiob vermag im »Mysterium der Nähe« auch in der Offenheit der Fragen zu leben. 402 Jaspers hätte darauf, wie vielerorts, bekundet, daß Gott sei, sei genug: »Im Verlust von allem bleibt allein: Gott ist. Wenn ein Leben in der Welt auch unter geglaubter Führung Gottes das Beste versuchte und doch scheiterte, so bleibt die eine ungeheure Wirklichkeit: Gott ist. Wenn der Mensch ganz und gar auf sich und seine Ziele verzichtet, dann vermag sich ihm diese Wirklichkeit als die einzige Wirklichkeit zu zeigen. Aber sie zeigt sich nicht vorher, nicht abstrakt, sondern nur bei eigener Einsenkung in das Dasein der Welt und zeigt sich hier erst an der Grenze.« 403
Hiobs Fragen sind gekennzeichnet durch die »völlige Unmöglichkeit der Lösung durch ein Wissen« – und die »Hingabe«, auf ein solches Wissen zu verzichten, ist ein »Vertrauen«, in Jaspersscher Diktion, auf den »Grunde des Seins«. Es kann nur im »Nichtwissen« wahr sein. Es besteht ein »Aufgehobensein des Daseins im Sein«, das nicht gewußt werden kann. Als Wissen würde diese Hingabe unwahrhaftig. Ihr fehlte es an dem Vertrauen, das auch bei Hiob immer gegenSchöpfergeheimnis proklamierend, da beugt Hiob sich, er zieht seinen Appell zurück und bekennt, was er im Grunde schon je und je wußte und bezeugte: daß das Geheimnis ihm ›zu wunderbar‹ ist, als daß er es zu ›kennen‹ vermöchte.« Vgl. Buber: a. a. O., 1172. 401 Hiob 42, 5. 402 Buber: a. a. O., 1172 f. 403 Vgl. PG, PGO, WF. S. Einf, 32 ff. Jaspers spricht, Jeremias auslegend, von der existentiellen Gewißheit, daß Gott sei, die weder erweis- noch widerlegbar ist; das hier Erörterte ist auch in Bezugnahme auf Hiob und die skizzierte Grenzsituation gültig ist.
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wärtig war. Denn als »aktives Vertrauen« schaut das »Sichfügen« im »Nichtwissen« (in der Negation menschlichen Wissens, das in »Gehäusen« erstarrt ist und die transzendente Wirklichkeit verfehlt, Wissen behauptet und vortäuscht über etwas, was nicht gewußt werden kann) auf die »Transzendenz«. 404 So sieht es – der Weise ähnlich, wie dies auch Buber formuliert hat. Ein solches Sehen verliert sich nicht im »Wagnis des Lebens« und natürlich auch nicht in den »Grenzsituationen« an verschleiernde »Illusionen«, gegen die sich der Mensch beharrlich trotzend wendet. So wie der »Trotz« wider die »Gehäuse« notwendig ist, so ist auch das rechtschaffene »Hadern mit Gott« ein »Suchen Gottes«. Denn jedes »nein« strebt zu einem »ja«, aber nur in »Wahrheit« und »Redlichkeit«, so daß alle »echte Hingabe« nur durch »überwundenen Trotz« möglich ist. Der »Trotz« ist, anders als die trügerische Selbstgewißheit der im »Gehäuse« sich geborgen wähnenden Menschen, eine »Ergriffenheit von der Transzendenz«. 405 Die »Transzendenz« bleibt in besonderer Weise in der »Grenzsituation« gegenwärtig. In ihr richtet sich die »Existenz« auf den eigenen »Ursprung«, die sich als »Ungewißheit der Möglichkeit« in der konkret erfahrenen »Grenzsituation« zeigt, »zweideutig« und »fragwürdig« 406 bleibt, auch wenn der in dieser Situation befindliche Mensch es gern genauer wüßte. Aber jede Art eines »dumpfen Weiterlebens aus Gewohnheit« wird verweigert. Denn in den »Grenzsituationen« wird die »Täuschung« als illusorisch erwiesen, mögen noch so einflußreiche und machtvoll auftretende Apologeten diverser »Gehäuse« weiterhin für diese Systeme plädieren und eine Unterordnung veranlangen, ganz gleich, ob sich dies auf ein religiöses oder politisches System richtet. So ist dennoch der »Trotz«, der aber doch »Hingabe« will, freilich nicht die »Hingabe« an ein »Gehäuse«, verbunden mit der »Empörung« spürbar, die, wie Hiob, den Menschen fragen läßt, »ob es gut sei, daß sie [die Daseinswirklichkeit] sei, oder ob sie besser nicht sei«. In der Welt scheint es ungerecht zuzugehen. Alles Leben vergeht in »Grenzsituationen«. Den Gerechten ergeht es nicht unbedingt gut, den Bösen nicht zwingend schlecht. Es ist, als sei alles sinnlos – mögen auch jene Verteidiger der »Gehäuse« behaupten, alles sei sinnvoll. So ist für den in der Menschen in der »Grenz404 405 406
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situation« der Gedanke naheliegend, daß das Leben scheinbar nur erträglich ist, »solange man sich etwas vorlügt«. 407 Oder verhält es sich ganz anders? Daß sich die anderen sich sozusagen etwas vormachen und diffizile »Gehäuse« errichten, um sich im Leben einzurichten und gegen die mit diesem verbundenen Leiden zu immunisieren, ist aber für Hiob geradezu unerträglich. Denn in der Erfahrung der »Grenzsituation« sieht er gerade die »Gehäuse« als von Menschen erdachte und gestaltete Konstruktionen an, die ihm nicht darüber hinweghelfen, das Leben auszuhalten. Nämlich darum, wie Jaspers weiter anführt, artikuliert sich der »Trotz« gleichsam in einer »ständige Frage«, die sich in der »Haltung des Wissenwollens« 408 zeigt und als der »trotzende Wahrheitswille« 409 appelliert, und nicht hören will, wie ihm Menschen den vermeintlichen Willen Gottes darlegen und interpretieren. So behauptet Hiobs »Wahrheitswille«, der sich in seiner »Leidenschaft zur Wahrheit« im Einklang mit Gott weiß, gegen die für ihn unabweisbare, von den Theologen bestrittene »Ungerechtigkeit in allem Dasein« eine »positive Gerechtigkeit«. Er gibt sich im »Vertrauen zur Gottheit« hin im »Wahrheitswillen« mit der »Gewißheit«, daß er Recht erhalten wird von Gott gegen Gott, mit dem er hadert, gegen den er trotzig-appellierend das ihm widerfahrene Unrecht beklagt. Hiob könnte, wie Jaspers ausführt, im Stadium der Möglichkeit mit der »geballten Faust« seines leidenschaftlichen Willens zur Wahrheit Gott treffen, aber er darf nicht zuschlagen. Denn dies wäre die in mutloser Hoffnungslosigkeit versunkene Resignation, nicht länger die aufrichtige Rebellion des Rechtschaffenen, und ein »blinder Hieb ins Nichts«, ein »Trotz«, der sich im »Nein« verzehrte, und dem »Gehäuse« – ob von Theologen oder Atheisten erdacht und gestaltet – als einem »Wissen«, das sich »täuschend schließt«, ähnlich wäre. Das »Nein des bewahrenden Trotzes« will das »Ja« 410 und verweigert sich den künstlichen Bestrebungen der Harmonisierung und, mit Nietzsches Zarathustra, beseelt von einer »übergrossen Redlichkeit« 411 , hört zu fragen nicht auf. P III, 71. P III, 72. 409 P III, 73. 410 P III, 74. 411 Der »alte Papst« nennt Zarathustra wegen der gestellten Fragen, mit denen er redliches Denken bezeugt, in seinem »Unglauben« sogar »frömmer« als jene, die sich, wie Jaspers sagen würde, unkritisch einem »Gehäuse« unterordnen, da es die »Frömmigkeit 407 408
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In der »Entschiedenheit des Trotzes« besteht die Möglichkeit einer Umwendung, die nicht erzwungen oder notwendig eingesehen werden kann. Aber das »Selbstsein« drängt zur Einheit, ja zur »Einigung mit dem, wogegen es zu stehen scheint«. Sie äußert sich darin, daß der Mensch sich bewußt ist, sich nicht selbst geschaffen zu haben und auch somit der Trotz nicht das »Letzte« sein kann und darf. Dieser bleibt durch »allgemeine Gründe« nicht aufhebbar. Nur durch die »Gottheit«, die den Menschen in Freiheit zu seinem Selbst führt, kann das »Selbstsein« diesen Trotz überwinden, nicht durch einen »wunderbaren übersinnlichen Akt«, sondern in der »Hingabe«. In dieser wird »ich« zu dem »ich selbst«, das kein »blindes Daseinsglück«, sondern ein aus »überwundenem Trotz ergriffenes Glück« darstellt. Zugleich ist es mit dem »Schleier des möglichen und kommenden Unheils« bedeckt und verweigert ein triviales Dahinleben. Es vermittelt dem Leben im »Leid« eine »fremde Tiefe« und wird in der »Grenzsituation« dem Menschen bewußt. Es äußert sich in der »Hingabe« als »Bereitschaft zum Leben« 412 , nimmt dieses auf sich, fragend, hadernd und klagend, aber niemals aufgebend, niemals sich entziehend und dem Leben entfliehend: »Wenn [der bewußte Zustand] nicht die Gleichgültigkeit ist, in der ich nichts eigentlich mehr will, mich nicht freuen und nicht leiden kann, weil es nichts Ernstes mehr für mich gibt, ist er die Leere, die wartet, daß die Transzendenz zu ihr komme. Gottverlassenheit kann sich steigern zu dem Bewußtsein: Gott ist tot. Das ist kein Trotz mehr, sondern Entsetzen, das wie der Trotz Möglichkeit in sich hat – während nur ein dumpfes, gleichgültiges Weiterleben, das nicht fragt und nicht verzweifelt, alle Möglichkeit zerrinnen läßt.« 413
Erst der erprobte Glaube, der an den »Zweifel« gebunden ist und auch den »Unglauben« wählen könnte, ist für Jaspers aufrichtiger Glaube, denn der »Unglaube« ist der notwendige »Stachel«, wie die existentiell bedrängende Grenzsituation, die dem Menschen das Leben recht eigentlich bewußt macht und die vermeintlich stabilen »Gehäuse« nachhaltig erschüttert und zerstört. So versinkt der Mensch niemals in der »Dumpfheit des Bewußtseins« und befragt selber«, die nicht eingelöste Erwartung, daß Gott sich deutlich äußert, gerecht und rechtschaffen ist, die Zarathustra »nicht mehr an einen Gott glauben läßt«, so daß ein »Gott in dir« den nunmehr Ungläubigen zur »Gottlosigkeit« sozusagen »bekehrte«. Vgl. Za IV, Ausser Dienst. 412 P III, 75. 413 P III, 81. A
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die »Selbstverständlichkeiten« des Lebens kritisch – denn allein das »Philosophieren« ermöglicht die Situation, in der eine bewußte »glaubende Entscheidung« über sich selbst stattfinden kann – in einem »Prozeß des Sichselbstverstehens«. 414 So erscheint im Lichte der Philosophie von Karl Jaspers auch Hiobs Geschichte als ein Beispiel für den Weg eines Menschen, der aus der scheinbar wohlgeordneten Welt durch das erfahrene Leid und das appellierende Fragen zu sich selbst findet, hadernd und klagend, dem niemals an den Antworten jener Menschen, die die »Gehäuse« vertreten, genügen, der sich aber auch noch in der existentiellen Krise der »Grenzsituation« von Gott getragen weiß: »Aber ich weiß, daß mein Erlöser lebt […].« 415 In den Worten von Jaspers, die nun zur Frage des »philosophischen Glaubens« überleiten, läßt sich dieses »Wissen« Hiobs als existentielle Gewißheit, daß Gott sei, begreifen. Davon war auch der Philosoph überzeugt. Ohne die existentielle Gewißheit wäre der »philosophische Glauben« nicht möglich, ein »Glauben« mithin an den »verborgenen Gott«, der in der »Distanz« und in der »Frage« bleibt: »Aus ihm leben, das heißt nicht, sich auf ein berechenbares Wissen stützen, sondern so leben, daß wir es daraufhin wagen, daß Gott ist.« 416
Diese stets nur subjektiv gegenwärtige existentielle Gewißheit geht einher mit dem redlichen Eingeständnis, daß es nicht möglich ist, wie die Theologen-Freunde des Hiob vorgeben, gleichsam die Wege Gottes zu kennen und aus diesem angemaßten Wissen verbindliche Direktiven des Handelns ableiten zu wollen: »Wer gewiß weiß, was Gott sagt und will, macht Gott zu einem Wesen in der Welt, über das er verfügt, und ist damit auf dem Weg zum Aberglauben. Auf Gottes Stimme aber ist kein Anspruch und keine Rechtfertigung in der Welt zu gründen. Was im einzelnen Menschen begründete Gewißheit ist und zu-
414 P I, 246 f. In der Darstellung der Gestalt Jesu schreibt Jaspers in »Die großen Philosophen«: »Der an das Gottesreich Glaubende weiß: Gott versagt sich nicht dem Bittenden. […] Was auch immer geschieht, Gott weiß warum, und der Mensch, der glaubt, findet auch im unerwartet Schrecklichen und schlechthin Unverständlichen keinen Grund gegen Gott. In Jesus ist kein Hiobs-Gedanke mehr.« Vgl. GP, 193 f. 415 Hiob 19, 24. 416 Einf, 40. Einschränkend muß darauf verwiesen werden, daß Jaspers sich zwar dem Hiob-Problem widmet, die exemplarische Darstellung, die hier erfolgt ist, eben die Problematik des »Gehäuses« aufzuweisen, zwar intendiert, aber von Jaspers nicht konsequent durchgeführt wurde.
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weilen in Gemeinschaft werden kann, das gilt keineswegs in inhaltlich aussagbarer Bestimmtheit für alle.« 417
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Hiobs Streben richtet sich nicht – und das ist stets ein wesentliches Merkmal seines Fragens – auf ein »Gehäuse«, dem er sich anschließen will. Hiob verfügt über die existentielle Gewißheit, daß der Mensch vor Gott lebt, auch wenn er diesen weder erkennen noch begreifen kann. Dieser Gott erweist sich in Wirklichkeit als der ganz Andere, dessen Handeln auch das vermeintliche Wissen der Theologen-Freunde nicht erklären kann. Dennoch bildet er die Grundlage menschlichen Strebens und Tuns und stellt für Hiob – in der Sprache von Karl Jaspers – den maßgeblichen »Halt im Unendlichen« dar. Indessen möchte der Mensch in der Krise viel eher einen stabilen Halt in den Endlichkeiten dieser Welt suchen und finden, über das »Absolute« verfügen und die »Transzendenz«, deren unerkennbare Wirklichkeit sich für Jaspers allein in »Chiffren« zeigt, in die »Endlichkeit der Zeit« verschließen und ergreifen. Dieses durchaus verständliche Verlangen richtet sich auf das »Unmögliche« und verliert sich – wie die selbstgewissen Theologen aus der Hiob-Geschichte anschaulich illustrieren – in der »Täuschung«, in der die Fragen scheinbar beantwortet sind. Dies läßt aber die Rechenschaffenheit der Persönlichkeit, die Hiob auszeichnet, und die Redlichkeit seines Denkens nicht zu. In der vermeintlich absoluten Gewißheit des »Gehäuses« nämlich sind die »Grenzsituationen« gleichsam ausgesperrt. Hier soll durch ein bloßes Schuldeingeständnis gegenüber der Absolutsetzung, die eben nicht mehr als eine menschliche Ideologie darstellt, die Unterordnung geschehen. Darauf folgt, von anmaßender Selbstgefälligkeit im Betragen begleitet, eine törichte, gewissermaßen achselzuckende »Lässigkeit des Sichabfindens« mit allem, was dem Menschen in dieser Welt begegnet, und ein stupides wie auch niederträchtiges »[Sich]-Gehenlassen«. 418 PG, 35. PGO, 374. Hier sei noch bemerkt, daß Jaspers sowohl von »Chiffre« und »Chiffren« (wie es korrekt ist) als auch von »Chiffer« mit der Pluralbildung »Chiffern« spricht. In den Zitaten wird konsequent die jeweils von Jaspers verwendete Schreibweise beibehalten. 417 418
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Wer sich diesem »Gehäuse« angepaßt und untergeordnet hat, wird, wie die Theologen, das eigene »Herz« wie einen »Panzer« befestigen. Die Antwort, die Hiob erhalten hat, das Ende der biblischen Geschichte, ist von Jaspers als »schwebende Chiffre« gedeutet, die den »Ernst« steigert und niemals – gefährdet ist Hiob ohnehin nicht – in den »fraglos bleibenden Leichtsinn des selbstverständlichen Lebens« verfällt. Die leichtfertige Lebensweise ist den in den »Gehäusen« befindlichen Menschen eigen. Diese »Chiffre« aber ist recht eigentlich eine Nicht-Antwort, zumindest für den, der ein »endgültiges Wissen« sucht und eine »endgültige Antwort« verlangt, wie es ein »Gehäuse« bietet, das niemals zureichend ist, während der »höchste Ernst der Existenz« die »hochmütige Absolutheit« radikal zurückweist. Der redlich fragende Mensch erfährt, so Jaspers, das »Bewußtsein der Transzendenz«, das sich dem Menschen im »Gehäuse«, mag er dieses Wort noch so oft verwenden, einfach fehlt. Denn all sein Tun läßt sich, wie gravitätisch es auch erscheinen mag, als Variante des »totalen Leichtsinns« erweisen. Er befindet sich im »Glauben«, die »letzte Wahrheit« 419 zu besitzen. Das Verhältnis zur »Transzendenz« bleibt beständig »in Frage«, gewinnt somit nie eine »objektive […] Gewißheit«, aus der sich ein orthodoxer Glauben, eine religiöse oder auch politische Dogmatik ableiten ließe, über die der Lehrende dann wie über ein bestehendes Wissen verfügen könnte. Eine absolute »Gewißheit«, gleich welcher Art, ist redlicherweise nicht vorhanden – den Theologen in der HiobGeschichte wurde eine entsprechende Anmaßung als unzulässig zurückgewiesen –, wohl aber eine, wie Jaspers dann ausführt, im Rahmen eines philosophischen Glaubens mögliche, »in Frage bleibende Gewißheit vor der Transzendenz«. Durch diese ist ein »Leben im Daraufhin-wagen« gegeben, vertrauend auf die Gegenwärtigkeit einer transzendenten Wirklichkeit, die unbeweisbar ist und bleibt. 420 Es wäre sehr wohl »unaufrichtig«, wenn der Mensch leichthin alles Bestehende, auch das Leid, das den Mitmenschen trifft, zu rechtfertigen versuchte. Möglich aber und angemessen ist ein mitfühlendes Verständnis, das getragen ist von der »Aufrichtigkeit in der Bewegung der Gewißheit«, die einhergeht mit einer »objektiven Ungewißheit«, ob es sich tatsächlich so verhält, wie der rechtschaffen lebende
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Existentielle Gewißheit und philosophischer Glaube
Mensch annimmt. Er bindet den »Grund der Wahrhaftigkeit« – wie Hiob – an »das Eine«, vielmehr an Gott, ohne den all sein Tun und Glauben im »Bodenlosen« 421 versänke. Die existentielle Gewißheit – »ich weiß, daß mein Erlöser lebt« 422 – bleibt unbeweisbar. Jaspers bezeichnet dies als eine subjektive Gewißheit des Für-Wahr-Haltens, die sich freilich rationaler Begründung entzieht. Dieser Glaube ist ein »Akt«, die »letzte Kraft des Geistes«, der sich nie auf etwas Einzelnes richtet, sondern das »Umfassende« darstellt und seiner Deutung zufolge letztlich auch nichts »spezifisch Religiöses« ist. Ein solcher Glaube unterscheidet sich zugleich von der »unproblematischen Gewißheit« naiver Art, die dem »Willen zum Dasein« eigen ist. Der Glaube wird herausgefordert und erprobt, ist verbunden mit »Verzweiflung« und »Angst« und muß sich neu bewähren. Allein die »Ungeistigkeit« erlebt in den »absoluten Gehäusen« eine scheinbar objektiv vorfindliche Sicherheit. Der Mensch kann in der »Angst der Bewegung«, die allen »Halt im Begrenzten« als unzulänglich erfährt und sich nicht dogmatischer Lehre anzuschließen gedenkt, allein »kraft des Glaubens« in der Zeitlichkeit wahrhaftig bestehen. 423 Die »Wahrhaftigkeit« des Lebens steht unter der »Führung durch das Eine« und ist gebunden an den »unausdenkbaren Gedanken des Einen«, der die Unzulänglichkeit jedes »Gehäuses« aufweist. Dieser Gedanke ist der »Ursprung des Hinausdrängens und Hinausgetriebenwerdens«, gegen all das, was vorzeitig zur »Einheit«, wie die dogmatischen »Gehäuse« jeglicher Couleur, verfestigt wird. Die »Wahrheit« kann nicht als absolutes Wissen postuliert und erkannt werden, sondern bleibt »angewiesen auf das Eine«, das den Menschen »trägt«, »ergreift« und letzthin »zu sich zieht«. 424 Wer ein dogmatisches Wissen behauptet, beendet die Kommunikation. Dies bedeutet, wie anhand von Hiobs Ausführungen ersichtlich, das »unwillige Verweigern des Miteinanderredens« im trügerischen »Bewußtsein«, eine »Wahrheit« zu besitzen, die per se »andere Wahrheit« ausschließt und für unmöglich erklärt, statt in der Kommunikation, die Hiob leidenschaftlich fordert, von den Theologen, mehr noch von
421 422 423 424
PGO, 384. Hiob 19, 25. PsW, 337. PGO, 384. A
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Von der Kritik der »Gehuse« zum philosophischen Glauben
Gott, die »Voraussetzung sinnvollen Philosophierens« 425 zu sehen. Dies geht »verloren«, wo die Akzeptanz eines »Gehäuses« zugemutet und dem, der sich unterordnet, versprochen ist, daß die Wahrheit zu seinem »endgültigen Besitz« 426 wird, während sie allein als »erfülltes Nichtwissen« 427 erfahrbar bleibt. Für den philosophischen Glauben ist die Kommunikation elementar. Das Ungenügen Hiobs an den Antworten der Theologen und seine Empörung gegen die Weigerung dieser, sein Leiden ernstzunehmen, ist dargelegt worden. Wer ein absolutes Wissen behauptet, sieht in einer offenen »Kommunikation« kaum etwas Erstrebenswertes. So nennt Jaspers die »grenzenlose Kommunikationsbereitschaft« nicht die »Folge eines Wissens«, sondern den »Entschluß«, einen bestimmten »Weg im Menschsein« zu beschreiten. Dieser »Weg« ist für ihn Ausweis eines philosophischen Glaubens, eines Glaubens an die »Möglichkeit« als Mensch unter Menschen »wirklich miteinander zu leben« und »miteinander zu reden«, und erst im »Miteinander« Eingang in die »Wahrheit« zu finden statt ihren Besitz leichthin zu behaupten. 428 Der philosophische Glaube ist sich der Fragen, der Fraglichkeiten und Fragwürdigkeiten des Lebens jederzeit bewußt. Der Mensch lebt »subjektiv existierend«, während er im Wissen »objektiv Geltendes« erfaßt. Er weiß, daß die »objektive Ungewißheit« mit dem Glauben stets verbunden ist, wenn sie sich auch als »absolute Gewißheit in der subjektiven Existenz«, aber nur in ihr, zeigt. Der Glaube aber ist als Halt für den Menschen »sicherer als alle Beweise« und bezieht sich auf die »Totalität«, ohne diese erkennend fassen zu können. Er ist eine »Kraft der Persönlichkeit« und bedeutet die »Ergriffenheit der ganzen individuellen Seele«. Letzthin erschließt sich im Glauben »Sinn« und »Ziel« menschlicher Existenz. 429 Ihm ist ein prozessualer Charakter eigen. Er verfestigt sich nie in »drohenden Erstarrungen«. So bezeichnet Jaspers den philosophischen Glauben als das »Seinsinnewerden aus dem Ursprung«, das bewußt wider alle absolut gesetzten »Gehäuse« besteht, wohlwissend, daß kein »Gedankengebilde« sinnvoll geschlossen vorliegen kann, niemals zu einem »Bekennt425 426 427 428 429
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PGO, 437. PG, 114. PGO, 235. PG, 130. PsW, 338.
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Existentielle Gewißheit und philosophischer Glaube
nis«, nicht als »Dogma« greif- und lehrbar wird, sondern im »Wagnis radikaler Offenheit« bleibt. 430 Der philosophische Glauben besitzt ein »empfindliches Gewissen« gegen den objektivierenden »Aberglauben« 431 , dem eben wie in den dogmatischen Ausführungen der bei Hiob exemplarisch dargestellten Lehrmeister absoluter Ansprüche jeglicher Blick für den Menschen in existentieller Not fehlt. Die Apologeten der »Gehäuse« geben vor zu wissen, was zu wissen nicht möglich ist, tun ihrem System entsprechende Bekenntnisse kund und geben Anweisungen zum Leben. Als Glaube bleibt diese Lehre distanziert und unpersönlich. Vermittels dieses dogmatischen Glaubens gelingt niemals eine individuelle »Schau«. Der philosophische Glaube indessen stützt sich nicht auf ein »berechenbares Wissen«. Wer sich zu diesem bekennt, lebt im Vertrauen auf die Existenz Gottes. Doch diese existentielle Gewißheit schließt die Einsicht, »daß ich Gott nicht weiß«, ebenso ein wie die letzthin unleugbare Fragilität des Glaubens selbst, »daß ich nicht weiß, ob ich glaube«. 432 Die Jasperssche »Seinsgewißheit«, die der existentiell bedrängte und leidenschaftlich klagende Hiob niemals als zureichend beurteilt hätte, verfügt über einen eigentümlich »vorlogischen« und »existentiellen Charakter«. Würde der Mensch sagen, er lebe im Zustand der »Seinsungewißheit«, so könnte eine argumentative Entkräftung nicht erfolgen. Ein absolutes Wissen und ein »Gehäuse« böten gleichwohl aus dem »Leben der Glaubenslosigkeit« und der erfahrenen »Sinnlosigkeit« nicht die Perspektive gelingenden Daseins. Der solcherart in einer Krise befindliche Mensch bedürfte der philosophischen »Erweckung«, die freilich niemals mit einem letzte Gewißheit verheißenden absoluten Wissen gegeben wäre, wie auch jegliche »Grundgewißheit« nicht künstlich herbeigeführt werden kann. Die »widersprechenden Zustände des Menschen« in der Krise lassen sich nicht durch »rationale« oder »philosophisch-spekulative Gedanken« überwinden. Indessen vermag der Mensch an der »Grenze« das »Offenbarwerden des Grundes des Seins« bewußt zu erleben, indem er im »Schwindligwerden« das »entschiedenste Seinsbewußtsein« in der »beschwörenden Frage: warum ist nicht nichts?« – die zuerst Leibniz stellte –, die »Gewißheit« verspürt: »Es ist nicht Nichts.« 430 431 432
PG, 15. PG, 20. Einf, 40. A
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Von der Kritik der »Gehuse« zum philosophischen Glauben
Aus diesem Erlebnis, ein »Moment der existentiellen Grundverfassung«, heraus, das sich insbesondere in der Grenzsituation einstellen mag, erwartet der Mensch nun, daß »offenbar« werden soll, »was ist«. So sagt der Reflektierende zu sich selbst: »Ich kann nicht umsonst, nicht für Nichts in dieses Dasein gelangt sein.« 433 Was der philosophische Glaube positiv anbietet, ist ein »Minimum« an der »Grenze des Unglaubens«. Dieser erwächst aus der philosophischen Tradition, die sich in der bereits erwähnten resonanzvollen Aneignung, im »Selbstdenken des jeweils Einzelnen«, wiederbegründet, dem aber die »objektive Geborgenheit einer Institution« – mithin des »Gehäuses« einer Kirche – fehlt. Der philosophische Glaube erweist sich in der Brüchigkeit menschlicher Existenz als säkularer Ersatz, als »Hilfe in der Welt«. Er bietet, obgleich »ungesichert«, für Jaspers als »Sichgewinnen im Sichgeschenktwerden« einen »Halt im Philosophieren«, der die letzten Fragen menschlicher Existenz zwar unbeantwortet läßt, »sinnlich greifbaren Halt« verweigert, aber ein »Analogon des Haltes« im »Atemschöpfen in der Vergegenwärtigung des Umgreifenden« 434 liefert, das in der »Schwebe des Nichtgewußten« 435 verbleibt. Den philosophischen Glauben kennzeichnet – ungeachtet der bedeutungsvoll klingenden Sprache Jaspers’ – »Nüchternheit« und »vollkommener Ernst«, gegen den »Wust der Abgleitungen«, die in »Gehäusen« einen objektiv erkennbaren Halt auch im Namen der Philosophie glauben präsentieren zu können. 436 So ist dem philosophischen Glauben eine subjektive, existentielle Gewißheit eigen, die nicht verallgemeinerungsfähig ist. Sie ist allein gegenwärtig im Philosophierenden, der auf das hin zu leben wagt, wovon er ergriffen wird, ohne dies letztlich begreifen und gegenständlich fassen zu können. Die »tiefere Wahrheit« gegen die »rationale Eindeutigkeit der Konsequenzen aus existentiell unhaltbaren Glaubensvoraussetzungen« zeigt sich, die als »im Nichtwissen gegenwärtige Wahrheit« 437 jeglichen Dogmatismus durchbricht. Was die Frage nach der Existenz Gottes betrifft, bescheidet sich der philosophische Glaube damit, »keine Antwort« zu geben und alle Ver433 434 435 436 437
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PGO, 413 f. PG, 21 f. Einf, 66. PG, 23. PGO, 377.
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Existentielle Gewißheit und philosophischer Glaube
suche, die dies behaupten, leisten zu können, als »täuschendes Denken« zurückzuweisen. 438 Dies wäre allein ein Ausweis unangemessener Selbstgewißheit, eine »Sackgasse«, deren »verführende Enge« den Besitz eines Wissens verspräche, eines Wissens, das menschlicher Erkenntnis stets unzugänglich bleibt und sich nur wiederum erneut als »Gehäuse« erwiese. 439 Der philosophische Glaube bewahrt indessen auch als »Rettung vor dem Nihilismus« und destruierender Kritik angesichts der »Abgründe der Antinomien« und der »Zerrissenheiten« menschlichen Daseins die Ausrichtung auf die »Transzendenz«. Vermittels der Vernunft, das reine Verstandesdenken restringierend, die Absolutsetzung desselben verhindernd, kann der Mensch in der »Leidenschaft zum Offenen« auf dem Weg des philosophischen Glaubens »entschieden aus der Wurzel des eigenen geschichtlichen Grundes« leben und in die »Tiefe der Geschichtlichkeit des Weltseins« vordringen. Die »Liebe zum Sein« zeichnet ihn aus. Er weiß sich allem Seienden verbunden und sucht Kommunikation. Als Mitmensch negiert er »Beziehungslosigkeit« und »Zerstreutheit«. Das »aufgeschlossene Sichangehenlassen« 440 ist seine Lebensweise. Der philosophische Glaube trägt in der »bleibenden Vieldeutigkeit des Objektiven«. Durch ihn ist der Mensch bereit zur »Hingabe« und »Entschiedenheit« des Wählens aus existentieller Gewißheit in der »Praxis des Lebens«. 441 Im alltäglichen Handeln ist er sich der »Verantwortung« seines Tuns bewußt. Weder von einem »optimistischen« noch von einem »pessimistischen Scheinwissen« nimmt der Mensch seine Orientierung. Er lebt im »Getroffensein von Chiffren« und vollzieht ohne ein starres wie erstarrtes »Gehäuse« gewissenhafte »Akte der Freiheit«. 442 Diese »Chiffren« garantieren, die falsche »rationale Alternative« einer »Verflüchtigung in der abstraktiven Spekulation« und einer »Verleiblichung im Aberglauben« überwindend, eine »substantielle [Erleuchtung; Th. P.]« 443 . Die bestehenden Fragen finden Eingang in eine metaphysische, graduell schon mystische Erfahrung des »transzendierenden Chiffrelesens«. 444 Dem Menschen, der 438 439 440 441 442 443 444
PGO, 407. PG, 36. PG, 37. Einf, 41. PGO, 470. PGO, 427. P III, 172 f. A
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Von der Kritik der »Gehuse« zum philosophischen Glauben
stets mehr ist, als die Grenzen des bisher »erkannten Menschseins« 445 aussagen, wird die »Freiheit in der Schwebe der Chiffren« 446 ermöglicht, die ein unverkennbares Kennzeichen einer säkularisierten Religiosität ist. Über den philosophischen Glauben – der der »Glaube des denkenden Menschen« 447 ist – läßt sich zusammenfassend mit Jaspers sagen: »Ist der Weg des Menschen wie eine Flamme, die sich selbst verzehrt? […] [Der Mensch] ist vielmehr ein im Sinne bloßen Lebens brüchiges Wesen, das zu dem für ihn Höchsten bestimmt ist, zum Wagnis aus seiner Freiheit. Darum kann er keine endgültige sich nur wiederholende Gestalt finden. Er geht durch immer neue Weisen des Scheiterns den Weg durch die Welt, im hohen Schwung seiner Hoffnung, aber ohne zu wissen wohin.« 448
Wer über einen philosophischen Glauben verfügt, weiß sich von der »Seinsgewißheit« 449 getragen. Er weist aber jede Art absoluten Wissens, das sich auf diese beziehen könnte, als redlicherweise unmöglich zurück. Welche Art zu philosophieren ist, so fragt sich nun, noch möglich?
445 446 447 448 449
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PGO, 446 f. PGO, 463. PG, 13. PGO, 465. PGO, 413.
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IV. Philosophieren zwischen Wissen und Nichtwissen
Das Philosophieren wendet sich für Jaspers wesentlich dem Problem der Weltorientierung zu. Der Mensch sucht, wie ausgeführt, in dieser Welt nach einem verläßlichen Halt und einem stabilen Ordnungsgefüge für das eigene Leben. Die »Gehäuse«, die mit absolutem Anspruch vertreten werden und die Grenzen menschlicher Erkenntnis ignorieren, versuchen diesem Bedürfnis zu entsprechen. Philosophisch aber – und das hat nicht zuletzt die Auseinandersetzung Hiobs mit den Theologen, die beispielhaft als Apologeten jener »Gehäuse« figurieren, gezeigt – ist eine kritische Reflexion dieser Systeme geboten, ja unvermeidbar. Nötig ist sie insbesondere deswegen, da mit den »Gehäusen« eine Anmaßung von Wissen einhergeht, die dem wahrhaftigen Streben nach Erkenntnis schroff zuwiderläuft. Um Jaspers’ Philosophie, für das die Bewegung zwischen Wissen und Nichtwissen wesentlich ist, zu verstehen, werden zunächst Aspekte seiner Beschäftigung mit Nietzsche und Kant erörtert.
a)
Nietzsche
In seinem Vortrag »Nietzsche und das Christentum« verweist Jaspers darauf, daß Nietzsches Denken wesentlich durch »christliche Antriebe« bestimmt ist. Als genuin christlich bestimmt Jaspers mit Nietzsche die »Möglichkeit einer weltgeschichtlichen Total-Vision«. Diese »Total-Vision« ist freilich nichts anderes als ein »Gehäuse«. Verbunden mit dieser ist die »Grundauffassung vom Menschen« als einem »verfehlten Wesen«. Der Mensch ist demgemäß auf dieses »Gehäuse« hin ausgerichtet, er soll ihm gerecht werden. Aber dies vermag dem Menschen nicht zu gelingen. So erklären sich dogmatische Lehrsätze, bei einer »Kirche« christlicher Prägung ebenso wie bei absoluten Ansprüchen szientistischer Religionen, die den Menschen diesem »Bild des Menschen« anpassen wollen resp. das Ungenügen desselben erkennen. Anstatt jedoch das vorab erstellte Ideal zu ermäßigen, wird das absolute Ideal weiterhin aufgerichtet, ohne Blick, wie Hiobs A
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Philosophieren zwischen Wissen und Nichtwissen
Theologen-Freunde gezeigt haben, für die Wirklichkeit. Gegen das absolut gesetzte Ideal und gegen seine Apologeten wendet sich, in gleicher Weise »christlicher Herkunft«, der »Wille zu unbedingter Wahrhaftigkeit«, dessen »moralische Unbedingtheit« zur »universalen Wissenschaft« sich ausweitet. Diese führt sodann auch zur Kritik der »Gehäuse« und zur Zurückweisung des »weltgeschichtlichen Totalwissens«. Das geschichtstheologische und teleologische Denken einer »weltgeschichtlichen Vision« – ob von christlichem Denken oder säkularen Motiven bestimmt – beruht auf einem identischen »Denkschema«, das ein trügerisches »als ob« enthält. Der Mensch denkt, »als ob« der »Gang der Menschheitsgeschichte« wissend und wissenschaftlich erfaßt und die »Zukunft« demgemäß planerisch gestaltet werden könnte. 450 Nietzsche erkennt die Parallelität christlicher Eschatologie zu den geschichtsphilosophischen Entwürfen. Eigentümlich »christlich« ist der »Gedanke der strengen Einmaligkeit des Menschengeschlechts«. So faßt der Christ das »Ganze« der Weltgeschichte als ein in sich stimmiges Geschehen auf, das eingebunden ist in die »übersinnliche Geschichte«. Die Geschichte der Menschen überhaupt und jedes einzelnen Menschen ist mit »tiefem Sinn« erfüllt. Sie stellt ein geschlossenes »Gehäuse« dar, in dem entschieden wird über das »Heil der Seele jedes Einzelnen«. Aus der »Vision des Ganzen« leitet sich das »Bewußtsein des gegenwärtigen Zeitalters« ab, das den »Heilsursprung« oder einen idealisierten »Höhepunkt« in der Vergangenheit erblickt, der wiederum als »Möglichkeit der eigenen Gegenwart« aufgefaßt wird und angestrebt werden soll. Für Nietzsche ist dies das tragische Zeitalter der Griechen, das »vorsokratische Griechentum«. Nietzsche aber analysiert und erkennt die »Selbstgewißheit dieses Totalwissens« in ihrer »christlichen Herkunft«. Denn das »metaphysische Seinsbewußtsein« ist als Gestalt des »Wissens«, als bloßes »Gehäuse«, durchschaubar und hinfällig. Die »kritische Wissenschaftlichkeit« destruiert die »eigene« und dann auch »jede« mögliche »Gesamtanschauung« durch das »Wissen«, daß es dieses »Gesamt« nicht gibt, sondern allein ein »ewiges Werden«. Bereits derjenige, der die »Sinnfrage« stellt, bezeugt seinen »Abfall von der Wahrheit«: »[…] das Ganze bleibt jenseits von Sinn und Sinnlosigkeit; sogar das Weltall als das Eine gibt es gar nicht. Die Weltgeschichte – christlich der eine, ein450
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Nietzsche
malige Entscheidungsgang übersinnlicher Herkunft, geschichtsphilosophisch der in aller Mannigfaltigkeit eine Entwicklungsgang des einen Geistes –, zerbricht bei Nietzsche aus ihrer Geschlossenheit zur Versuchsstätte der Menschenprägungen […].« 451
Diese »Menschenprägungen« finden sich in Gestalt der jeweils unzureichenden, dennoch beständig absolut gesetzten »Gehäuse«. Die Auffassung der Weltgeschichte als »Versuchsstätte« enthält einen vollkommen »unchristlichen Gedanken«. Denn die Frage nach der Totalität des Geschehens verbindet sich mit den Überlegungen, wie der Lauf der Geschichte zu lenken sei – die waltende Macht ist also nicht länger ein transzendenter Gott. Die »Entscheidung« des »Einzelnen« in der Geschichte wird wesentlich bestimmt von der »Aktivität des wollenden Menschen«, der als »schaffender Mensch« die Geschichte kontrolliert, ordnet und gestaltet. Zugleich aber läßt sich kritisch gegen das »Princip einer universalen Wissensmöglichkeit« und eines mit diesem verbundenen »Planens des Ganzen« – zu der dann auch die von Nietzsche entwickelte Lehre von der »ewigen Wiederkehr des Gleichen« zählt – einwenden, daß eben jenes »weltgeschichtliche Totalwissen«, ein ideales und ideologisches Konstrukt, die Grenzen menschlicher Erkenntnis überschreitet. Als »sich fixierendes Totalwissen« ist es stets »unwahr«, da es vorgibt, »das Ganze« zu wissen; dies ist aber dem Erkennenden nur als »Hypothese« gegeben. Dieses »Totalwissen«, wie in der Analytik der »Gehäuse« dargelegt wurde, gibt eine »fälschliche Geschlossenheit« vor, die das Streben nach Halt befriedigt, aber die »Erfahrbarkeit« von Neuem restringiert. So bleibt jedes »Wissen von einem Zeitalter« gebunden an die »Grenze«, die nicht überschritten werden kann, nämlich die »Grenze« jener »Wirklichkeit«, die darüber hinaus liegt. 452 Insofern ist ein Handeln, das auf die Totalität der geschichtlichen Entwicklung ausgerichtet ist, unmöglich, da das Wissen, welches es voraussetzt, niemals gegeben ist. Nietzsche verkennt, so Jaspers, die »principielle Unmöglichkeit« eines »Verfügens über [den] Gang des Ganzen«: »Wenn ich aber das Ganze überhaupt ins Auge fasse, so kann ich nur auf Grund eines Scheinwissens in einer Verkehrung wissenschaftlicher Möglichkeiten, wirklichkeitsfern mit unbestimmten Inhalten ein Verwirrendes tun, dessen Erfolge in ganz andere Richtungen führen, als gewollt war.«
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Philosophieren zwischen Wissen und Nichtwissen
So sind alle Bemühungen, die »richtige Welteinrichtung« zu erzeugen, Versuche, das »Ganze« zu erfassen, die scheitern müssen und zugleich bewirken, »woran gar nicht gedacht« und »was gar nicht gewollt« war, was also fern der humanen Ansprüchen lag, die beispielsweise der Marxschen Lehre oder dem Liebesgebot Jesu innewohnen, aber verbunden mit weltlicher Macht und absolutem Anspruch in praktizierte Inhumanität mündeten. 453 Während sich der Handelnde nämlich bemüht, das »Ganze« als »Willensinhalt« zu erringen, geht der eigentliche »Zweck« verloren. Der »Ernst der Frage«, der sich auf die Totalität der Geschichte und Zukunft bezieht, ist kontrastiert mit dem »Unernst des Totalwissens«, das redlicherweise gar nicht haltbar ist, da der Handelnde sich ein Wissen anmaßt, das er nie erreichen, das auch vor »kritischer Wissenschaft« nicht bestehen kann. Der »Ernst«, der sich das Nichtwissen eingestehen müßte, wandelt sich in den »Unernst« eines behaupteten Wissens. Charakteristisch für diese unernste und dann auch unredliche Verhaltensweise ist, daß der Mensch sich an ein vermeintliches »Wissen« bindet und das situative »Handeln« aus der »Weltgeschichte« begründet. So wird, was eigentlich aktual getan werden müßte, versäumt, da der Handelnde vom nur scheinbar absolut Notwendigen abgelenkt ist. Er wird um das »Gegenwärtige« betrogen, in doppelter Hinsicht, im »Wissen« zugunsten der Vergangenheit, im »Machen« um die Zukunft; er versäumt die Gegenwart und ihre Aufgaben. Dem entgegengesetzt ist die Treue zur Wirklichkeit, die das Handeln aus der unmittelbaren Aufgabe ableitet, statt das, was für das »Jetzt« nötig ist, »aus einem Anderen« zu folgern. Entscheidend ist nicht die Orientierung an einem »Gehäuse«, das zu der gegebenen Situation stets kontrastiert ist, sondern die »gegenwärtige Geschichtlichkeit« und die »concrete Aufgabe«, während die »absolute Weltgeschichte« ihn seiner Möglichkeiten beraubt. Das absolut gesetzte »Totalwissen«, das dem »weltgeschichtlichen Denken« eigen ist, beschreibt Jaspers sodann als einen die Wirklichkeit verschleiernden »Nebel«. Mit Nietzsche, der nicht mehr in Beziehung auf den transzendenten Gott lebt, aber gefesselt an den »Leitfaden« eines christlicher Herkunft entstammenden »Gehäuses« der vermeintlichen »Einheit der Menschheitsgeschichte« ist, fällt der Mensch in das »transcendenzlose Eine«, um zu erkennen, wie Nietzsche, daß es die »Weltimmanenz als [das] Eine« nicht gibt. Diese 453
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Nietzsche
Erkenntnis stärkt und festigt das Streben nach Halt, bildet neue »Gehäuse«, setzt neues, vermeintliches Wissen, führt zu einem »fanatischen Sichhalten an irgendetwas« und zu einem »sich selbst betrügenden Planen des Ganzen« – und kreiert neue absolute Ansprüche. 454 Das angemaßte Wissen in Gestalt eines »Gehäuses« kehrt wieder in einer vermeintlichen »Wissenschaft«, die die Grenzen menschlicher Erkenntnis verkennt und ein begrenztes Wissen totalisiert. So wird gar eine »Irrung der Weltanschauung« absolut gesetzt. Die Partikularität des Erkannten wird ignoriert. Die Erkenntnis wird auch jenseits des »kleinen Gebiets«, in dem die Vertreter einer Wissenschaft »Meister« sind, für gültig erklärt. So wird der »wissenschaftsabergläubischen Erwartung« der Weg gebahnt. Dies mündet aber unweigerlich in eine »Enttäuschung«, da die überhöhte »Erwartung«, die das begrenzte Wissen ins Unbegrenzte erweitern will, von der Wissenschaft die Begründung von »Leben«, »Glauben« und »Handeln« sich verspricht, aber, gemessen an diesem Anspruch, die Wissenschaft als »sinnlos« und »lebensfern« verwerfen müßte, und sich dann, mit Nietzsche, radikal auf einen leichtfertigen »Wissenschaftsaberglauben« oder hemmungslosen »Wissenschaftshaß« stützen müßte. Übrig bleiben »dogmatisierte Reste wissenschaftlicher Ergebnisse« und ein »trostloses Weltbild für leer gewordene Seelen«. 455 Als Möglichkeit für den »geistig-asketischen Forscher« skizziert Jaspers mit Nietzsche das redliche Denken, das sich angesichts der »Bodenlosigkeit der Welt« nicht zu einem absolut gesetzten Halt wendet, sondern aus der »Klarheit der Erkenntnis« und dem »Wissen um die Grenzen« den »Sprung« in die »Transcendenz« für nicht erkennbar, aber auch für nicht unmöglich betrachtet. Erweist sich aber der scheinbar allgegenwärtige »Mangel an Sinn« und die »Bodenlosigkeit« als unerträglich, so drängt der Mensch, vom »Wahrheitsantrieb« beflügelt, trotz der erfahrenen »Sinnlosigkeit« fort ins »Grenzenlose«. Aber das »Wahrheitsinteresse« schwächt sich ab und versinkt in »Enttäuschung« und »Haltlosigkeit« mit nihilistischer Konsequenz, die die zertrümmerten »Gehäuse« betrachtet, aber nirgends Sinn zu entdecken vermag. Zwischen redlichem Denken und Nihilismus zeigt sich wiederum als Möglichkeit die Bildung neuer »Gehäuse«, das Streben nach Halt, das machtvoll den Menschen ergreift und das »eigentliche Wahrheitsinteresse« angesichts 454 455
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Philosophieren zwischen Wissen und Nichtwissen
der »Unerträglichkeit des Bodenlosen« mit der »Verfestigung von Meinungen« ausgleicht. Diese sollen als »Ergebnis der Wissenschaft« gelten, stellen aber tatsächlich nur ein neues, absolut gesetztes »Gehäuse« dar, das dem Streben nach Erkenntnis zuwiderläuft. Wenn von der »Wissenschaft« gefordert wird, was sie niemals leisten kann, zumindest sofern sie der Forderung intellektueller Rechtschaffenheit weiterhin genügen soll, führt dies zur Bildung »dogmatischer Glaubenssätze«. 456 Was Nietzsche letzthin lehrt, bezogen auf das Philosophieren zwischen Wissen und Nichtwissen, formuliert Jaspers in folgender Weise: »[Nietzsche] schult uns in der Sensibilität eines intuitiven Wahrnehmens, dann im bewußten Auffassen der Zwei- und Vieldeutigkeiten, schließlich in der Beweglichkeit des Denkens ohne Fixierung eines Wissens! […] Möglichkeiten entstehen, aber nicht mehr. Er zeigt uns nicht den Weg, lehrt uns nicht einen Glauben, stellt uns nicht auf einen Boden. Er läßt uns vielmehr keine Ruhe, quält uns unablässig, jagt uns auf aus jedem Winkel, verwehrt jede Verschleierung.«
Diese kritische Wendung soll – mit Jaspers gesprochen und gedacht – die »Gehäuse« auflösen und ihre Begrenztheit illustrieren, dem Menschen die »Bodenlosigkeit« zeigen und so die »Möglichkeit« erzeugen, den »echten Grund« 457 zu erfassen und – wider Nietzsche – in einen metaphysischen Ausklang mit existenzphilosophischem Pathos gleichsam mündend, jenes »Sein« treffen, das »uns erlöst«. 458 Chr, 65. Chr, 83. 458 W, 461. S. hierzu Löwith: »[…] eine Lehre vom Menschen [ist] bodenlos, wenn sie nicht entweder einen meta-physischen Gott oder die physis der Welt zum tragenden Grunde hat; denn der Mensch ist nicht da durch sich selbst. Und weil für Nietzsche der überweltliche Gott tot war, mußte er die alte kosmologische Frage nach der Ewigkeit der Welt, im Gegensatz zu ihrer einmaligen Schöpfung, neu stellen. Was sich aus seiner Lehre lernen läßt, sind keine fertigen Ergebnisse, wohl aber die Unmöglichkeit bestimmter naturphilosophischer Fragestellungen, die sich geschichtlich daraus ergeben, daß der alte, biblische Gott für das Bewußtsein des modernen Menschen tot ist. Jede dieser philosophischen Fragestellungen ist, innerhalb der geschichtlichen Bedingtheit von Nietzsches anti-christlichem Denken, auf den Wegfall einer theologischen Antwort bezogen; sie lassen sich deshalb in folgenden Alternativen zusammenfassen: 1. daß es ausschließlich auf das Sein der Welt ankommt – wenn der Glaube an Gott als den Schöpfer der Welt nicht mehr lebendig ist.« Vgl. Löwith, Karl: Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen. In: ders.: Sämtliche Schriften. Band 6: Nietzsche, Stuttgart 1987, 337. 456 457
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Die kritische Analytik und Destruktion der »Gehäuse« aber ist unverkennbar ein Signum der von Jaspers’ beschriebenen Bewegung des Denkens als ein beständiges »Sichherausarbeiten aus wirklicher und möglicher Unwahrheit«, um sich zu lösen aus »Verstrickung«, »Angst« und »Elend«. 459 Jaspers lehnt entschieden die »falschen Antizipationen der Erlösung«, auch Nietzsches Lehre von der »Ewigen Wiederkehr des Gleichen« ab, weist »Scheinbefreiungen« ebenso zurück wie das »verführende Gefängnis gedankenlosen Wohlseins«, da dem Menschen »alles Leiden« erträglicher wäre als der »selige Wahnsinn« trügerischer Illusionen. Die »offene Redlichkeit« und die »Unruhe des Suchens« ist dem vermeintlich »glücklichen Geborgensein« 460 in Trugbildern vorzuziehen. So bleibt der Jasperssche, an Nietzsche geschulte »Wille zur Wahrheit« unbeugsam. Er verweigert die »Ruhe des Besitzes« jeder Art von absolut gesetzten »Gehäusen«, die als »Lebenslüge« verworfen werden, verhindert die »Unruhe völliger Verlorenheit« und wahrt die »Offenheit des Blicks« 461 , die sich jeglichem Dogmatismus – auch die »dogmatische Skepsis« ist redlicherweise ebensowenig zulässig wie das »skeptische Relativieren« – widersetzt. 462 Der Bereich möglichen Wissens beschränkt sich auf partikulare Erkenntnis. Die »methodische Haltung« ist auf »Gewißheit« ausgerichtet, sucht nicht bloße »Überzeugung«, sondern allein »zwingend begründete Wahrheit«, die als »bestimmte partikulare Erkenntnis« zuhanden ist, während sogleich auf diesem Weg die angemaßte »absolute Erkenntnis« destruiert wird. So gelingt, wie Jaspers mit Nietzsche philosophiert, die Gratwanderung – die freilich keine philosophische Äquilibristik darstellt –, zwischen den Abgründen der Unredlichkeit eines »absoluten Wissens« und der »Negativität des alles bezweifelnden Nichtwissens«, die Beherrschung des »Wißbaren in seiner Relativität«. Dies bedeutet zugleich eine »Selbstbeherrschung methodischen Denkens« gegen den »Lärm des Meinens«, der sich zumeist auch noch wissenschaftlich gibt. 463 Die Wissenschaft trägt den ihr zukommenden Sinn nicht in sich selbst. Nietzsche hat – und Jaspers stimmt dem vorbehaltlos zu – die 459 460 461 462 463
W, 461. W, 462. W, 597. W, 729. Niet, 172 f. A
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Frage nach dem Sinn der Wissenschaft gestellt, die »Quelle der Einsicht« als ein mühevolles »Kämpfen« beschrieben. Die »wissenschaftliche Wahrheit« wird nicht als Ergebnis eines »mechanisch anwendbaren Verfahrens« betrachtet, das mit geschäftsmäßiger Nüchternheit in »kühler Gleichgültigkeit« erarbeitet wäre. Das Streben nach Erkenntnis entwickelt sich, durch etwas »Wahrheitsfremdes« beständig beflügelt, »aus dem Leben selbst«, ohne daß die beförderte Erkenntnis Ausdruck subjektivistischer Beliebigkeit wäre. 464 Die Möglichkeit, Wissen mit exakter Methodik zu erarbeiten, die den »Grund zwingender Geltung wissenschaftlicher Erkenntnis« bildet, ihren Sinn aber nicht begründen kann, ist stets begrenzt. Es war – und es ist wohl noch heute – das Kennzeichen eines »wissenschaftsstolzen Zeitalters«, unweigerlich »irrend« anzunehmen, »alle Wahrheit« ließe sich in der Form »wissenschaftlicher Wißbarkeit« darstellen. Mit existenzphilosophischer Begrifflichkeit gesagt ist dies der Trugschluß, bloße »Sachkenntnis«, die die Wissenschaft leisten kann, mit »Seinskenntnis« zu identifizieren, die sich stets vom »Wissen der Wissenschaft« unterscheidet. 465 Ein »lächerlicher Stolz« verbindet mit der »methodischen Gewißheit« schon den »Besitz der Wahrheit«. Ein solches angemaßtes Wissen verhindert letzthin das »Suchen« nach Wahrheit, das auch Sinn zu vermitteln vermag. Die redlich betriebene Wissenschaft weiß sich als »methodisches Wissen« bezogen auf partikulare Erkenntnis, weiß darüber hinaus, daß »wissenschaftliche Gewißheit«, so wichtig und bedeutsam diese ist, »nicht Sicherheit« und keine Erkenntnis bieten kann in den entscheidenden Fragen des Lebens, die dann entschieden werden aus der existentiellen Gewißheit heraus. Es bleiben Fragen, in denen sich die Wissenschaft ohnmächtig zeigt, da sie nicht weiß, »worauf es eigentlich ankommt«. Nur der »Drang zur Sicherheit«, der sich aber sodann des Prinzips intellektueller Rechtschaffenheit entledigt hat, strebt ins absolut gesetzte »Gehäuse« und will im »Ganzen« die schier unangreifbare »Gefahrlosigkeit« in Verkennung der Grenzen menschlicher Erkenntnis erreichen. Somit gelingt es der Wissenschaft nicht, »Ziele für das Leben« vorzugeben. Weder immanentes noch transzendentes »Heil« vermag sie zu gewährleisten. Auch bei der »Frage nach ihrem eigenen Sinn« bleibt sie antwortlos, da der
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Niet, 174 f. Niet, 176.
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Sinn, ohne den es die Wissenschaft nicht gäbe, auf wissenschaftlichem Weg nicht einsehbar ist. 466 Auf die lebensbegründende »wesentliche Wahrheit«, die das »transzendierende Innewerden des Seins« ermöglicht, richtet sich der »existentiellen Appell« 467 . In der »endlosen Bewegung« im »Lebensprozeß« wird eine »bestehende Wahrheit« – etwa ein wissenschaftlich begründetes »Gehäuse« – temporär geglaubt, aber als »werdende Wahrheit« transformiert, gleichsam eingeschmolzen und zu Neuem, aber niemals Endgültigem, gestaltet. 468 Die »Leidenschaft zur Wahrheit« verteidigt die »unerbittlichen Wahrheitskriterien« der partikularen Erkenntnis gegen jede »Vernebelung«, weiß aber zugleich, daß sie in dieser zwar »nach allen Seiten grenzenlosen«, aber doch relativen »Erkenntnis« nicht die letzte Wahrheit eines sich schließenden »Gehäuses« erfassen kann. Die »Leidenschaft« bleibt »unbedingt« und wendet sich der »Wahrheit« zu, die wissenschaftlich nicht faßbar ist, transzendiert, so Jaspers, die »Grenzen der Wissenschaft«, ohne die »wissenschaftlichen Methoden« preiszugeben, und gelangt zu »neuen Erfahrungen im philosophierenden Denken«. 469 Erst philosophisch können die »Ziele« und der »Sinn« der Wissenschaft bestimmt werden, ohne daß diese mit derselben exakten Methodik begründet werden könnten. Doch auch die Philosophie liefert nicht die letzte »Wahrheit«, besitzt nicht den erkennbaren »endgültig festen Boden« eines »begrifflichen Gebäudes«, das einsichtig wäre als »in sich vernünftig zusammenhängendes Denken«. Obzwar das Philosophieren jegliche Wahrheitssuche führen soll, bleibt es selbst ein »Suchen« 470 , kritisch gegen »unbefragte Selbstverständlichkeit« 471 , wie auch der Mensch offenbar nur das Philosophieren lernen kann und beständig neu lernen muß. Ferner spricht Jaspers mit Nietzsche von der Notwendigkeit des Scheins – »Die Grenzen der Vernunft begreifen – das erst ist wahrhaft Philosophie …« 472 Im Zuge dieses Philosophierens bemüht sich die »Leidenschaft der Erkenntnis« um die »Entlarvung allen 466 467 468 469 470 471 472
Niet, 177. Niet, 189 f. Niet, 192 f. Niet, 178 f. Niet, 182 ff. Niet, 185. Nietzsche: AC, 55. A
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Scheins«. Der »Sinn« und die »Notwendigkeit des Scheins« besteht, da sich der »Wahrheitswille«, der sich absolut setzt, selbst aufzuheben droht. Dieser Wille wird in der »Schwebe« 473 gehalten, der Wille zum Schein aufrechterhalten, während sich der Erkennende aber des Scheins bewußt ist. Er versinkt nicht darin, hält diesen aber für lebensdienlich und bedeutsam für das »wachsende Leben«, da der Schein den Menschen trägt, erhält und bewahrt, wohingegen eine »ruinöse« Wahrhaftigkeit letztlich ein »Ausdorren des Lebens« bedeutete. 474 Die »Leidenschaft zum Wahren« erkennt in der »Redlichkeit« die ihr gemäße, »neue Tugend«: »Redlichkeit bleibt der letzte Grund, wenn alle Wahrheit in bestimmter Gestalt zu schwinden scheint; sie ist im Scheitern des Erkennens der immer mögliche Anfang, das Unzerstörbare, so lange Selbstsein ist.«
Die Redlichkeit ist die »alles durchdringende Gegenwart der Wahrheit im Menschen«, die eine bedeutsame »Voraussetzung der Existenz« ist und das »Werden unseres Selbstseins« erst möglich macht. Die Redlichkeit soll nicht absolut gesetzt werden. 475 Der Mensch muß sich nach Nietzsche zuweilen »gegen Andere unredlich« betragen, um »selber wahr« zu bleiben, so daß ein Unterschied zwischen der »Redlichkeit gegen mich« und der »Redlichkeit gegen Andere« besteht. So wird auch die »Möglichkeit der Redlichkeit des Menschen gegen sich selbst« zu einer Unsicherheit. Die »Selbstbegrenzung der Redlichkeit« bedeutet eine »Toleranz im Geltenlassen«. Sie ergibt sich auch aus dem »redlichen Wissen um das real Mögliche«, was bedeutet, daß ein »Leben ohne Lüge« unmöglich ist, ja daß der gegen sich selbst Redlichkeit übende Mensch zuweilen gegen Fremde sich verbergen, sich zurückhalten muß. Der Wahrhaftige erkennt sich als beständiger Lügner, der die »Scheinbarkeit der Kunst« als »Weg zur Wahrheit« nutzt, bestimmt von der Einsicht, daß die absolut gesetzte Redlichkeit den Schluß gegen sich selbst zöge, sich aufheben würde. Niet, 200. Niet, 225 f. »Die unbewußte Begrenzung des Lebens fesselte an das Irren, die bewußte Begrenzung und Bescheidung mit dem Schein hält das Bewußtsein offen. Doch im Hintergrund bleibt drohend die Wahrheit, die in solche Begrenzungen gebannt werden soll. Sie gibt sich unerbittlich kund, weil der Mensch, wenn er philosophiert, bei allem guten Willen zu Grenze, Horizont und Scheinbarkeit, das Fragen nicht aufgibt; weil er Denkerfahrungen vollzieht, die nicht ein Spiel des Verstandes, sondern die Gestalt des Durchbruchs eines Anderen, das nie die Ruhe in der Grenze und dem festen Horizont gewinnen läßt.« Vgl. Niet, 201. 475 Niet, 202 f. 473 474
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Somit ist die »Selbstbegrenzung« notwendig, um »transzendierend über die Welt menschlicher Realitäten zu einer Metaphysik der Welt als des Scheins« zu gelangen. 476 Das Streben des Menschen findet nicht in einem »Gehäuse« seinen Abschluß. Es drängt in dieser Wahrhaftigkeit über sich selbst hinaus, vermag das scheinbar Endgültige als vorübergehend zu erkennen, bleibt aber doch auf dieses angewiesen, ohne sich daran zu verlieren. Die Wahrheitsfrage bleibt die »Frage aller Fragen« und stößt den »Fragenden« ins »Bodenlose«. Denn »schlechthin alles« wird befragt, in Frage gestellt, alle Bestimmungen bezweifelt, und der »Fragende« gerät in den »weitesten Horizont«: »Die Frage entfernt sich sogleich von ihrem ursprünglichen Sinn, wenn sie wieder eine unbefragte Voraussetzung als selbstverständlich aufnimmt und dadurch sich verengt. Da aber im Denken kein Schritt zu tun möglich ist ohne Bestimmtheit, das heißt ohne eine in Kauf zu nehmende Verengung, so wird Wahrheit im Augenblick, wo von ihr die Rede ist, schon eine besondere Wahrheit; diese findet ihre Grenze und offenbart dadurch, nicht die Wahrheit zu sein. Was siese eigentlich sei, ist im Grunde nicht zu fragen, da in der Unbestimmtheit dieser Frage noch kein Gegenstand ist. Aber mit dieser Unbestimmtheit, die nichts ist, dennoch zu operieren, gehört zu dem philosophisch transzendierenden Vergewissern dessen, was Wahrheit sei.« 477 »Des Nichthabens der Wahrheit werden wir inne durch das Wissen dieser Bewegung.« 478
Nietzsches Ausführungen über die »Zukunft der Wissenschaft« zeigen die bedeutsame Unterscheidung und wechselseitige Notwendigkeit von »Wissenschaft« und »Nicht-Wissenschaft«. An Nietzsche anknüpfend – und mit ihm auch Jaspers folgend – wird unterschieden zwischen dem einsehbaren »Wissen«, ohne das der Mensch in ontologischen Mystizismus versinkt, und dem redlicherweise eingestandenen »Nichtwissen«, das ihn lehrt, jede Anmaßung von Wissen zu vermeiden, zugleich auch nicht die Unmöglichkeit zu behaupten, daß es nicht geben könne, was zu beweisen nicht möglich sei. Wer das Philosophieren lernt, in der Wissenschaft »arbeitet« und »sucht«, erlebt auch »viel Vergnügen«, hat teil an dem Erlebnis des inneren Beglücktseins und tiefer Befriedigung, während derjeni476 477 478
Niet, 204 f. Niet, 223. Niet, 232 ff. A
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ge, der bloß Systeme sich aneignen möchte, der »Ergebnisse lernt«, auch »sehr wenig« davon hat. Denn »alle wichtigen Wahrheiten der Wissenschaft«, die zu erlernen sind, werden »alltäglich« und »gemein«. Ohne große Freude wiederholt sie der Wissenschaftler so lange, bis sie fade erscheinen wie das »bewunderungswürdige Einmaleins«. Die aufklärerische Kritik, die durch die »Verdächtigung der tröstlichen Metaphysik« destruierend wirkt, kann philosophischen Trost, der einzig in einem mit absoluten Anspruch vertretenen System objektiver Wahrheit behauptet wird, nicht bieten. Aber die »grösste Quelle der Lust«, aus der das Leben freudvoll und sinnerfüllt zu gestalten ist, liegt nicht in der »Wissenschaft«, so nötig diese als »Regulator« auch ist. Indessen verfehlt sie ihre Bestimmung, wenn der »Regulator« nichts mehr zu ordnen hat. Auch darum ist es nötig, die »Nicht-Wissenschaft« zu »empfinden«, die die »Kraftquelle« des Forschens darstellt. So sollen »Wissenschaft« und »Nicht-Wissenschaft« nicht miteinander vermischt, sondern durchaus voneinander getrennt sein. Diese Trennung ist so notwendig wie ihr Bestehen, eine »Forderung der Gesundheit«. Es soll also »mit Illusionen, Einseitigkeiten, Leidenschaften« sehr wohl »geheizt« werden, um die Impulse für das Streben nach Erkenntnis zu setzen. Zugleich jedoch müssen die »gefährlichen Folgen einer Ueberheizung« verhütet werden, wozu das Wissen um das eigene Nichtwissen dient, die »Nicht-Wissenschaft«, die der »Wissenschaft« die Grenzen aufzeigt und bewußt macht. Denn das »Interesse am Wahren« schwindet und vergeht, wenn das Maß an »Lust«, von dem es begleitet ist, sich allmählich auflöst und in die öde Pedanterie eines selbstbezüglichen Wissenschaftsbetriebes mündet. Denn in »Illusion«, »Irrthum« und »Phantastik«, die den »ehemals behaupteten Boden« wiederum erobern, liegt der »Ruin der Wissenschaften« und das »Zurücksinken in Barbarbei«, wenn keine Ausgewogenheit zwischen beiden besteht. Tritt ein solcher Fall ein, muß ein neuer Anfang gesetzt werden. Die »Menschheit« muß sich wiederum aufklären über sich selbst und das tatsächliche und vermeintliche Wissen, das sie hat, das ihr zu erkennen möglich ist, und beginnen, »ihr Gewebe zu weben, nach dem sie es, gleich Penelope, des Nachts zerstört hat«, in einem Furor lustvoller Destruktion. Die skeptische Frage bleibt, die auch die Notwendigkeit eines Ausgleichs, eines Nebeneinanders von »Wissenschaft« und »NichtWissenschaft« setzt, und auf die Notwendigkeit verweist, aus der »Quelle« zu schöpfen, da keine Art »Wissenschaft« sich aus sich 158
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Nietzsche
selbst begründen kann: »Aber wer bürgt uns dafür, dass sie immer wieder die Kraft dazu findet?« 479 Nietzsche spricht stets davon, wie wichtig es ist, die »strenge Wissenschaft« nutzbar zu machen, jene Wissenschaft also, die in sich selbst nicht Genüge findet, und ihren »Werth« zu suchen, der nicht auf den vergleichsweise belanglosen »Ergebnissen« beruht. Wesentlich ist, inwieweit die Wissenschaft dem »Können« dient. Ihr Resultat ist stets nicht mehr als ein »verschwindend kleiner Tropfen« verglichen mit dem »Meere des Wissenswerthen«. Bedeutsam ist also nicht ein bloßes Sammeln von Wissen. Es kommt auf den »Zuwachs an Energie« an, auf die Schulung des »Schlussvermögens« und die »Zähigkeit der Ausdauer«, um zu begreifen, wie ein »Zweck« auch »zweckmäßig« erreicht werden kann. Das ist nicht möglich, ohne zu wissen, daß der Mensch zwar danach streben kann, alles zu wissen, aber auch begreifen muß, daß dieses Streben ihn weder beseligt noch erlöst. Stets bleibt er an das Nichtwissen verwiesen. Sein Streben nach Wissen ist abhängig von Impulsen, die jenseits rational einsehbaren Wissens liegen. Auch muß er begreifen, daß Wissen nicht Selbstzweck ist und dies niemals sein kann. Denn der nach Wissen strebende Mensch sieht sich immer wieder an Fragen verwiesen, die sich ihm stellen und die er redlicherweise doch nicht beantworten kann. Er soll und muß diese Fragen stellen im Bewußtsein, daß das »Forschen nach Wahrheit« etwas ähnliches ist, wie einem »schönen Mädchen nachzugehen« – und eine solche »Wissenschaft« wird niemals zu einem »ältlichen, mürrisch blickenden Weibe«, sofern die Spannung zwischen Wissen und Nichtwissen gewahrt bleibt. 480 Es ist, mit Nietzsche, am Ende die »Ehrfurcht gebietende Katastrophe einer zweitausendjährigen Zucht zur Wahrheit«, zu einem angemaßten Wissen, die die »Lüge im Glauben an Gott« 481 und somit dann »den Glauben, das Absolute als Wahrheit erkennen zu können, verbietet«. 482 Jenen, die diesen Anspruch aufstellen, der nicht haltbar ist, muß deutlich gemacht werden, »daß eben damit das Dasein zum Monstrum« wird, da der vorgebliche Kampf für Humanität die Inhumanität in der Welt befördert. MA I, 251. MA I, 256 f. 481 GM III, 27. 482 Grau, Gerd-Günther: Ideologie und Wille zur Macht. Zeitgemäße Betrachtungen über Nietzsche, Berlin/New York, 258. 479 480
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Der Mensch, der einem absoluten Anspruch genügen soll, wird gezwungen, sich einem »Gehäuse« zu fügen, das nicht selbst erarbeitet und überwindbar, sondern hermetisch und absolut gültig sein soll, wenn der »rationalisierte Totalanspruch« aufgerichtet ist, ganz gleich, ob dieser als transzendente Erlösung mit »Gott« gedacht oder als immanentes Heilsversprechen mit einem vermeintlichen »Gesammtwissen« verbunden wird. 483 Das Philosophieren mündet, wenn es dem Anspruch intellektueller Rechtschaffenheit genügen will, mit Nietzsche und Jaspers niemals in ein »Gehäuse« dieser Art. Beständig bleibt die Bewegung zwischen Wissen und Nichtwissen, die fortwährend neu erprobt und erlernt werden muß. Diese Bewegung zu vollziehen ist eigentlich – philosophieren zu lernen.
b) Kant Als erstarrtes »Gehäuse« hätte Philosophie ihre Bestimmung verfehlt. Ein solches Denken, das die »Stabilisierung der Philosophie« aus der Konstruktion eines rationalistisch fest gefügten, in sich logischen Systems erhoffte, ein Denken, das Antwort auf alle Fragen böte, auch auf jene, die Menschen existentiell bedrängen, die aber letztgültig zu beantworten die Grenzen menschlicher Erkenntnis in unzulässiger Weise überschreiten würde, bedeutete den »Verlust des Philosophierens«. Wenn das Philosophieren als »kristallisierter Bestand« und als »objektiv wißbarer Inhalt« verfügbar gemacht werden sollte, wäre es »auf dem Wege, sich zu verlieren«. 484 Der Mensch kann »niemals aber Philosophie (es sei denn historisch), sondern er kann, was die Vernunft betrifft, höchstens nur philosophieren lernen«. 485 Die »Philosophie« als »System aller philosophischen Erkenntnis« ist das »Urbild der Beurteilung aller Versuche zu philosophieren«, ein mannigfaltiges, vielgestaltiges und veränderbares Gebäude, dem man sich »auf mancherlei Wegen« wohl annähern kann. Aber der »einzige, sehr durch Sinnlichkeit verwachsene
483 Vgl. Grau: ebd., 258; Vgl. auch Nietzsche: KGW VIII 10 (137), 11 (99); zit. n. Grau: ebd. 484 P I, 288. 485 Kant: KrV, B 865.
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Fußsteig« ist noch nicht entdeckt und das »bisher verfehlte Nachbild« nicht gestaltet, das dem »Urbild« gleich wäre: »Bis dahin kann man keine Philosophie lernen; denn, wo ist sie, wer hat sie im Besitze, und woran läßt sie sich erkennen? Man kann nur philosophieren lernen, d. i. das Talent der Vernunft in der Befolgung ihrer allgemeinen Prinzipien an gewissen vorhandenen Versuchen üben, doch immer mit Vorbehalt des Rechts der Vernunft, jene selbst in ihren Quellen zu untersuchen und zu bestätigen, oder zu verwerfen.«
Von der Philosophie aber, und darum ist es allein möglich, das Philosophieren zu lernen, besteht nur ein »Schulbegriff«, der die »systematische Einheit dieses Wissens« als »logische Vollkommenheit der Erkenntnis« zum Zweck hat, während der »Weltbegriff« zugrundegelegt ist und im »Ideale des Philosophen« ein »Urbild« sieht. Der Philosoph ist nicht »Vernunftkünstler«, sondern »Gesetzgeber der menschlichen Vernunft«. Äußerst »ruhmredig« wäre es, wenn man sich selbst als Philosophen bezeichnete. Das hieße, »sich anzumaßen, dem Urbilde, das nur in der Idee liegt, gleichgekommen zu sein« – und wer solches von sich behauptete, wäre gewiß kein Philosoph. 486 Mit Kant – wiederum in resonanzvoller Aneignung – philosophieren lernen heißt für Jaspers, sich bewußt zu machen, daß es nicht genügt, sich einem Denker oder einer Denktradition anzuschließen, um Philosophie gleichsam zu betreiben, als sei sie eine »bestehende Wissenschaft«, die auf erlernbare, »intellektuelle Operationen« beschränkt ist. Wer so philosophiert, so lautet das Verdikt des an Kant geschulten Existenzphilosophen Jaspers, tut dies in »schulstiftender Absicht«, ist per se »unwahr«, da bei ihm nicht die intellektuelle Rechtschaffenheit Priorität genießt. Philosophie erscheint ihm nicht allein als »Wissenschaft«, die lern- und absolut beherrschbar ist. Ein solcher Philosoph – von Kant »Philodox« genannt – täuscht vor, diese zu besitzen und sie als »Wissenschaft« auf den einzig möglichen, mithin »rechten Weg« gebracht zu haben. Somit wäre die Philosophie als absolut gültiges Lehrgebäude nur ein weiteres »Gehäuse«, und derjenige, der dieses verträte, verhielte sich ähnlich wie die Theologen, die Hiobs Fragen zu beantworten meinen. Er erwartete »Anerkennung für seine Lehre«, verhöhnte und entwertete zugleich jede Art zu philosophieren, die nicht dem eigenen System entspräche, verächtlich-»polemisch«. Ein solcher Dogmatiker, mag er sich 486
Kant: KrV, B 866 f. A
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auch Philosoph nennen, lebt aus der Negation anderer, ängstlich bemüht, das eigene »Gehäuse« 487 zu befestigen: »Eine Schule, die so die Philosophie in einer Fachwissenschaft aufgehen läßt, führt im Lehrenden zu einer Haltung, welche stets verspricht, jedoch vor jeder Erfüllung ausweicht, denn sie kann die Erkenntnis der Wahrheit des Unbedingten als objektives Wissen doch nicht geben. Sie führt im Lernenden zur Begier, Philosophie als Besitz Schritt für Schritt zu erwerben durch Einprägen von Sätzen und damit zufrieden zu sein. Während ein so Lehrender und ein so Lernender verkrampft an etwas festhalten, hört in beiden die Philosophie auf, ohne doch Wissenschaft zu werden, da sie in der Tat nichts in der Hand haben.« 488
Ein »Vernunftkünstler« verbindet das Streben nach »spekulativem Wissen«, das zum »letzten Zwecke der menschlichen Vernunft«, zur Vervollkommung der Sittlichkeit, nichts Wesentliches beiträgt, mit einem absoluten Anspruch. Aus diesem werden »Regeln für den Gebrauch der Vernunft zu allerlei beliebigen Zwecken« hervorgebracht, die in das Belieben des »Philodox« gestellt sind, der dies entsprechend seiner Lehre von »Nützlichkeit« und »Geschicklichkeit« fügte, um es sich selbst zunutze zu machen. 489 Jaspers setzt diesem, mit Kant und Nietzsche, die »Abwehr des Anspruchs auf unbedingte Wahrheit« resp. die Zurückweisung des »Anspruchs auf die unbedingte Gültigkeit der eigenen Wahrheit«, ein Anspruch, der redlicherweise nicht aufrechterhalten werden kann, entgegen. 490 So kommt dem Philosophen im Gegensatz zu dem »Philodoxen«, der ein Apologet des »Gehäuses« ist, folgende, von Kant beschriebene Aufgabe zu: »Der Philosoph muß bestimmen können 1) die Quellen des menschlichen Wissens, 2) den Umfang des möglichen und nützlichen Gebrauchs alles Wissens, und endlich 3) Die Grenzen der Vernunft. –«
Insbesondere die Einsicht in die »Grenzen der Vernunft« ist für das Philosophieren das »Nötigste« und zugleich stets das »Schwerste«, was allein der Philosoph weiß, »um das sich der Philodox aber nicht 487 488 489 490
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P I, 289. P I, 290. Kant: Logik, A 23 f. Grau: Ideologie und Wille zur Macht, 254.
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Kant
bekümmert«. 491 Dieser verkennt die Grenzen menschlicher Vernunft ebenso wie die Grenzen seiner selbst. Indessen bleibt er an diese gebunden, mag er sich mit absolutem Anspruch auch ein dogmatisches Wissen anmaßen. Philosophieren mit Kant bedeutet für Jaspers, den »praktischen Philosophen« als »Lehrer der Weisheit durch Lehre und Beispiel« zu beurteilen und als den »eigentlichen Philosophen« zu bestimmen. Denn auf diese Weise kommt die Tätigkeit des Philosophierens zum Ausdruck, die Bewegung, die diesem Denken eigen, ja elementar ist, so daß, wie Kant ausdrückt, niemand sich »Philosoph« nennen könne, der »nicht philosophieren kann« – freilich mag ein anderer sich so nennen, aber er wird es darum noch nicht sein. Das Philosophieren ist nur lernbar durch »Übung« und »selbsteigenen Gebrauch«. 492 Für Jaspers heißt dies, wie ausgeführt, resonanzvolle Aneignung. Der Philosoph darf alles Gegebene, alle »Systeme der Philosophie« nur als »Objekte der Übung seines philosophischen Talents« nutzen. Als »wahrer Philosoph« soll er einen »selbsteigenen«, niemals aber einen »sklavisch nachahmenden Gebrauch von seiner Vernunft« machen. Auch vor einem »dialektischen« Gebrauch, der auf den »Schein von Wahrheit und Weisheit« ausginge, soll er sich hüten. Dies wäre mit der »Würde des Philosophen« unvereinbar. 493 Die oben erwähnte »Schule« ist mit einem »Gehäuse« vergleichbar. Wer sich einer solchen gleichsam philodoxischen Lehrtradition anschließt, wird zugleich blind für das, was in der Welt vor sich geht, blind auch für eigene Erfahrungen, blind für das Leiden anderer, blind für die »Grenzsituationen«. Denn das in ihr bestehende weltanschauliche Ordnungsgefüge ist absolut gesetzt. Die Schüler lernen nicht zu philosophieren, sondern nur innerhalb einer bestimmten Lehre sich der mit dieser verbundenen Techniken zu bedienen. Das, was sie letzthin für Philosophie halten, nimmt die Gestalt eines scheinbar objektiven, letztgültigen Wissens an, das mit aller Macht gerechtfertigt und verteidigt werden soll, auch gegen die Welt, die als fehlerhaft bestimmt wird, da sie sich dem starren »Gehäuse« nicht zu fügen beliebt. Philosophieren aber, von Jaspers dann mit emphatischer Wendung als »wahres Philosophieren« – obzwar es ein unwahres Philosophieren per definitionem nicht geben kann – 491 492 493
Kant: Logik, A 25 f. Kant: Logik, A 25 f. Kant: Logik, A 27 f. A
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bezeichnet, wird gewissermaßen getragen durch die geistige Gemeinschaft »ursprünglich selbst seiender Menschen«. Zu ihnen gehören jene, die sich eben nicht zusammenschließen, um in einem dogmatischen »Gehäuse« zu leben. Vielmehr sind sie, wie bemerkt, »selbst seiend« 494 und damit frei – mit Kant gesprochen vielleicht »aus so krummem Holz gemacht, daß daraus nichts ganz Gerades gezimmert werden kann«. 495 So können sie sich aufrichtig »begegnen« und in Freiheit »verbinden«. Dem Anspruch intellektueller Redlichkeit im Philosophieren wird eher gerecht, wer »im Wagnis versagt«, als derjenige, der das Philosophieren in »ordnenden Konventionen einer wissenschaftsabergläubischen Haltung« strikt gliedern und zu einem »Gehäuse« ausgestalten will. 496 Ein solches »Gehäuse« stellte eine Form des mit Kant kritisierten absolut gesetzten »Verstandesdenkens« dar, dem die »farblose Öde der Maschinerie« eigen wäre, von »mechanischer Kausalität« beherrscht und in der »Klarheit des Gehaltlosen« endend. 497 Jaspers’ Philosophieren mit Kant verweist auf die Notwendigkeit des »Verstandesdenkens«, markiert aber in gleicher Weise die Grenzen desselben. Denn die »›Richtigkeit‹ des Bewußtseins« ist »Bedingung«. Allein ist dies jedoch »nicht zureichend für Wahrheit«, da die »Gegenwärtigkeiten«, die etwa der »Idee« und dem »Sittlichen« innewohnen, über bloße »Richtigkeit« hinausreichen. Das »richtige Erkennen« erfaßt noch nicht die »wesentliche Wahrheit«, das »technisch richtige Handeln« nicht das »sittliche Tun«. Der »Sprung« vom bloß »Endlosen«, das das Terrain des Wissens bildet, zu dem »gehaltvoll sich Schließenden« 498 , dem Bereich des Nichtwissens, einem Bereich, der mit wissenschaftlicher Methodik nicht erkennbar ist, erfolgt und muß bis an die »Grenzen der Vernunft« führen. Dort findet sich das »Unbegreifliche«, das indessen nicht in eins gesetzt ist mit dem »Unvernünftigen«. Vielmehr erkennt die Vernunft ihre eigene Unfähigkeit, das Absolute zu erkennen und vermag als »sich selbst durchhellende Vernunft« die aufgewiesenen »Probleme« nicht zu lösen. Sie läßt die »Geheimnisse« 499 unangetastet:
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P I, 519. Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, a. a. O., 41. P I, 290. GP, 506. GP, 507. GP, 511 f.
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Kant
»[Kant] bleibt auf dem Standpunkt des Menschen, tritt auf keinen illusionären Standpunkt außerhalb, von dem aus der Mensch wie ein Gott das Ganze übersehen oder Gottes Gedanken nachdenken könnte. Kant täuscht sich durch keine Überschreitung des Menschen Möglichen. Er desertiert nicht aus dem Menschsein.« 500
Der Mensch stellt Fragen und wird sich seiner selbst bewußt. Er findet auch »Antworten«. Aber er findet nicht »die« Antwort. Die »tiefe Unbefriedigung« des Menschen ist, »genarrt von Zwecken«, daß er den »Endzweck« wünscht und begehrt, aber nicht erhält. Denn er möchte nicht »vorläufig« etwas, sondern »endgültig«. Er will nicht dem freien Spiel der Kräfte ausgeliefert sein, sondern erstrebt das, was »unbedingt verpflichtend« ist. Fortwährend stößt er sich an »Unrecht, Sinnlosigkeit und Zufall«, weiß das »Ganze des Seins« weder wissentlich noch willentlich zu ergreifen und spürt die Zerrissenheit. In dieser wächst in ihm gleichzeitig das Bedürfnis nach einer »Einheit«, die aber in der Zeitlichkeit nicht erkennbar ist. So bleiben nur Fragen, auf die die »endgültige Antwort« ausbleibt. 501 Der Mensch vermag, obgleich er als »abhängiges Dasein ein Nichts in der Endlosigkeit« ist, mit seiner »unabhängigen Vernunft«, die Jaspers als »weltüberwindende Möglichkeit« bestimmt, »ins Unendliche vorzudringen« und über die Welt hinausreichende Fragen zu stellen. Diese Fragen sind das »Letzte des Philosophierens«. Sie sind nicht verbindlich beantwortbar, aber mitnichten »sinnlos«. In einer solchen »philosophischen Frage« zeigt sich die »Bewegung des Denkens«. Die Frage hat ihren »Gehalt« durch das Ziel, zu dem sie führt, mag die »einsichtige Antwort« auch ausbleiben. Jaspers verweist mit Kant auf den »radikalen Unterschied« zwischen einem »bloßen Nichtwissen des Verstandes«, das durch einsehbare Antworten ausgeglichen werden kann, und der »Erhellung unseres Verstandes an seiner Grenze durch die Vernunft«. Während das »Nichtwissen des Verstandes« rein negativ und die »Seelenverfassung« leer bleibt, wird der Verstand durch das »Nichtwissen der philosophischen Vergewisserung« transzendiert und das »Seinsbewußtsein« transformiert. 502 Dieses »Nichtwissen« ist, anders als das »bequeme Ausruhen der Vernunft« skeptischen Gemüts, recht verstanden das Bemühen, zur »eigentlichen Gewißheit« zu gelangen, in der sich 500 501 502
GP, 515. GP, 520. GP, 522 f. A
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»Möglichkeiten und Grenzen der Vernunft« 503 zeigen, indessen »befriedigende Täuschungen« verweigert werden. Wer sich die »Grenzen der Vernunft« in dieser Weise bewußt macht, läßt sich innerlich »tiefer […] erfüllen«. 504 Die Wendung zur Totalität, das »›Bedürfnis der Vernunft‹ zu ihrer eigenen Vollständigkeit zu gelangen«, führt nicht mittels eines angemaßten Wissens zu einem in sich schlüssigen, rational erkennbaren »Gehäuse«. Dieser Weg führt zu einer »Idee«, einem »›als ob‹«, das auf die »Gegenwärtigkeit des Übersinnlichen« verweist und für Jaspers, in Auslegung Kants, das »einzige Prinzip« bildet, das zur »Gewißheit aus Vernunft« erreichbar ist und dem »Vollständigkeitsanspruch« genügt, ohne letzthin wissenschaftlich beweisbare Erkenntnisse in sich zu schließen. Im »Vernunftglauben« vollzieht die Vernunft denkend ihre »eigenen Voraussetzungen«. Sie wäre ohne den »Vernunftglauben« recht eigentlich »ohne Grund und Ziel« und »ohne Glauben und Hoffnung«. Die Postulate der praktischen Vernunft begleiten sie als »mitgewußter Sinn«, indessen nicht als »theoretisches Wissen«. 505 Der »Vernunftglaube«, eine moralische Gewißheit, ist niemals ein »doktrinaler Glaube«. Eine »›objektive Bedeutung‹ der Ideen« bleibt unbeweisbar und wäre als angemaßtes Wissen in jeder Hinsicht »täuschend«, würde als »Wille zum Wissen« und sodann haltgebendes Wissen »Unglaube«. So ausgesprägt das menschliche Streben nach Halt auch sein mag, ist es doch nicht möglich, einen letzten Halt »leibhaftig« zu besitzen und über das verfügen zu können, was allein im Handeln aus Freiheit gegenwärtig ist. Doch wäre es, so bemerkt Jaspers in dem ihm eigenen emphatischen Tonfall, »unausdenkbar herrlich, wenn Gott selbst sich zeigte und wir seiner gewiß wären«. 506 Dann aber bräuchte sich die »Gesinnung« nicht durch Vernunft erheben, die Handlungen geschähen nicht aus Pflicht und mit moralischem Wert, sie blieben bloß GP, 523. GP, 527. 505 GP, 508. 506 GP, 509. Kants Bestimmung zufolge kann der »Vernunftglaube« selbst bei »Wohlgesinneten« mitunter »in Schwanken« geraten, nie jedoch in einen jegliche Transzendenz leugnenden dogmatischen »Unglauben« münden. Vgl. Kant: KpV, A 263. – Bei Jaspers heißt es: »Im Glauben ist der Unglaube. Denn der Glaube ist nur echt, der den Unglauben kennt, erfährt und erträgt. Da nur der Glaube, der es sich durch Unglauben schwer macht, wahrhaftig bleibt, drängt der Glaube zu den Erscheinungen des Unglaubens, um seiner selbst gewiß zu werden im Überwinden seines Unglaubens. Darum hat der Glaube den Unglauben als eine Möglichkeit in sich.« Vgl. P I, 253. 503 504
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mechanisch. Das Gesetz würde aus Furcht vor Strafe befolgt. 507 Resümierend bemerkt Jaspers über die kantische Philosophie: »Das neu geformte Kantische Grundwissen bringt die Situation des Menschen zur Klarheit: wir vermögen die Grenzen jeder Denkungsart zu erfassen. Wir finden die Selbsterziehung zu dem theoretisch schwebenden Seinsbewußtsein, in dessen Raum die praktische Unbedingtheit des sittlichen Tuns möglich ist und seinen Sinn versteht. Der Weg führt nicht in ein Land, in dem alles wohl angebaut, gewußt und übersehbar ist. Die Ordnung der Kantischen Systematik ist nur eine Ordnung aller Wege, nicht Erfüllung in der Vollendung. Kant führt in den Raum stets sich selbst hervorbringenden Lebens, in das Geheimnis der schöpferischen Quellen der Vernunft. Wer dorthin gelangt, muß selber dabei sein und tun, was Kant nicht für ihn tat. Kant gibt ihm die Chancen.« 508
Somit werden die »Totalisierungen«, sämtliche Verbindungen der »Praxis totalen Wissens« und »totaler Planungen«, von Jaspers mit Kant abgelehnt. Der Mensch bewährt sich in der »Fähigkeit zum Ernst der Praxis mit dem Bewußtsein ihrer Grenze« und orientiert sich in der Wirklichkeit »unter Führung der Ideen« 509 , ohne die der Mensch »steuerlos« in »leeren Endlosigkeiten« verbliebe oder »in Gewohnheiten mechanisch«510 erstarrte. Von den »Gehäusen« hingegen soll sich der Mensch lösen. Er wagt den »Schritt zur Mündigkeit« und läßt die »Unmündigkeit«, die sich mit festgegründeten »Satzungen« und »Formeln« verbindet, »Fußschellen« gleich die freie Beweglichkeit unterbindet, hinter sich und maßt sich fortan kein Wissen an, das die Grenzen möglichen Wissens überschreitet. 511 Auch die Systeme der philosophischen Tradition werden als »Objekte zur Übung« angesehen, die nicht bloß als »Gedanken« rezipiert werden sollen. Alles »Denken lernen« 512 geschieht in resonanzvoller, wenngleich kritischer Aneignung. In einem wesentlichen Punkt philosophiert Jaspers gewissermaßen über Kant hinaus. Seine Ausführungen über die »regulative Idee« 513 – quasi das Gegenstück zu der Vaihingerschen Fehldeutung GP, 510. GP, 518. 509 GP, 561. 510 PsW, 450. 511 GP, 562. 512 GP, 564. 513 »Der hypothetische Gebrauch der Vernunft aus zum Grunde gelegten Ideen, als problematische Begriffe, ist eigentlich nicht konstitutiv, nämlich nicht so beschaffen, daß 507 508
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dieser als »bewußtfalsche Vorstellung« 514 , die sodann dem Prinzip intellektueller Rechtschaffenheit als absichtliche Täuschung zuwiderläuft – sind problematisch. Jaspers bezeichnet, in der Formulierung etwas ungenau, die Ideen als unerkennbare »Weisen der Unendlichkeit in der Wirklichkeit des Geistes«, die aus dem »erkennenden Widerhall« erfahrbar werden, den ihre »Objektivitität« 515 , die gleichwohl nicht beweisbar ist, in uns erzeugt. Kant indessen spricht hinsichtlich der »regulativen Idee« von der »objektiven Realität«, nicht dezidiert von einer »Objektivität«. 516 Bereits im Frühwerk »Psychologie der Weltanschauungen« bemerkt Jaspers, daß die »Tiefe« der Gedanken, die bei Erkenntnissen gesucht wird, also das, was über die bloße »Richtigkeit« hinausreicht und als »Wichtigkeit« beurteilt würde, eine »Wertung« ist, die niedadurch wenn man nach aller Strenge urteilen will, die Wahrheit der allgemeinen Regel, die als Hypothese angenommen worden, folge; denn wie will man alle möglichen Folgen wissen, die, indem sie aus demselben angenommenen Grundsatze folgen, seine Allgemeinheit beweisen? Sondern er ist nur regulativ, um dadurch, soweit als es möglich ist, Einheit in die besonderen Erkenntnisse zu bringen, und die Regel dadurch der Allgemeinheit zu nähern. Der hypothetische Vernunftgebrauch geht also auf die systematische Einheit der Verstandeserkenntnisse, diese aber ist der Probierstein der Wahrheit der Regeln. Umgekehrt ist die systematische Einheit (als bloße Idee) lediglich nur projektierte Einheit, die man an sich nicht als gegeben, sondern nur als Problem ansehen muß; welches aber dazu dient, zu dem Mannigfaltigen und besonderen Verstandesgebrauche ein Prinzipium zu finden und diesen dadurch auch über die Fälle, die nicht gegeben sind, zu leiten und zusammenhängend zu machen.« Vgl. KrV, B 675. 514 Vgl. Vaihinger, Die Philosophie des Als Ob, XXIV. 515 P I, 101 f. 516 Ein Denker wie Jaspers hätte eine filigrane Begriffszergliederung von »Objektivität« und »objektive Realität« selbst nicht betrieben. Es ist gleichwohl nützlich, hier aus der Elementarlehre der KrV die entsprechende Passage zu zitieren, auch um die Differenz zwischen einer gelegentlich existenzphilosophischen Rezeption kantischer Philosophie und der Originalschrift anschaulich zu präsentieren. Bei Kant heißt es: »Also die Idee der Vernunft ein Analogon von einem Schema der Sinnlichkeit, aber mit dem Unterschiede, daß die Anwendung der Verstandesbegriffe auf das Schema der Vernunft nicht ebenso eine Erkenntnis des Gegenstandes selbst ist (wie bei der Anwendung der Kategorien auf ihre sinnlichen Schemate), sondern nur eine Regel oder Prinzip der systematischen Einheit des Vernunftgebrauchs. Da nun jeder Grundsatz a priori festsetzt, auch, obzwar nur indirekt, von dem Gegenstande der Erfahrung gilt: so werden die Grundsätze der reinen Vernunft auch in Ansehung dieses letzteren objektive Realität haben, allein nicht um etwas an ihnen zu bestimmen, sondern nur um das Verfahren anzuzeigen, nach welchem der empirische und bestimmte Erfahrungsgebrauch des Verstandes mit sich selbst durchgängig zusammenstimmend werden kann, dadurch, daß er mit dem Prinzip der durchgängigen Einheit, soviel als möglich, in Zusammenhang gebracht, und davon abgeleitet wird.« Vgl. Kant: KrV, B 693 f.
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mals begründet oder bewiesen, allerhöchstens »suggestiv« nahegelegt werden kann: »Was hier im Urteil wirkt, sind die Ideen.« Jaspers nennt diese die »versteckten Keime in der Vernunft«, auf die es doch anzukommen scheint, ohne daß man sie auf wissenschaftlichem Weg begründen oder nachweisen könnte. Für Jaspers – und aus seiner Sicht gilt dies in gleicher Weise für Kant – sind redlich denkende Menschen »Suchende unter Leitung ihrer Idee« 517 , der Grenzen der menschlichen Vernunft, aber auch ihrer eigenen Möglichkeiten, vollauf bewußt. So befindet sich Kant in der Deutung von Jaspers am »wahren Abgrund für die menschliche Vernunft« und an der äußersten »Grenze«, die das »tiefste Nichtwissen« bildet und sich niemals die »Erkenntnis des Nichtgewußten« anmaßt, hier »betroffen staunend«, aber nicht »zuversichtlich wissend«. 518 Das Philosophieren zwischen Wissen und Nichtwissen in Jaspersschem Sinne stellt, mit Kant zu sprechen, eine »gesunde Philosophie« dar. Es zeigt jene »ganz natürliche Antithetik, auf die keiner zu grübeln und künstlich Schlingen zu legen braucht«, sondern auf die der Mensch im »Schlummer der eingebildeten Überzeugung«, innerhalb eines angemaßten Wissens, gerät. Das geschieht, wenn er einem »bloß einseitigen Schein« folgt oder sich einer »skeptischen Hoffnungslosigkeit« beziehungsweise einem »dogmatischen Trotz« überläßt, »steif« auf »gewissen Behauptungen« beharrt, diese absolut setzt, ohne den »Gründen des Gegenteils« etwa »Gehör« zu schenken, geschweige denn »Gerechtigkeit« widerfahren zu lassen. 519 Jaspers charakterisiert »Kants Denkweise« als philosophische »Offenheit« und »Bescheidung« in der »größten Anspannung« auf Grundlage des »faktischen Wissens« und der »moralischen Forderung«. Dies steht gegen jegliche »totale Weltinterpretation«, die so 517 PsW, 479 f. Vgl ebd.: »Es ist merkwürdig, daß wir in der Wissenschaft volle Durchsichtigkeit und Klarheit wollen, und daß doch, wenn diese bis zum Letzten vorhanden ist, unser Interesse erlahmt. Wir wollen Klarheit, aber wir wollen, daß sie der teilweise Ausdruck einer Idee sei. Diese Idee ist in der wissenschaftlichen Leistung als das Dunkel vorhanden, das ebensosehr verständnislosen Angriffen ausgesetzt, wie Bedingung ihrer produktiven Wirkung ist. Die Vernunft will nicht etwa Unklarheit, sondern Idee. Sie sträubt sich gegen das Pathos, das das Dunkel als Dunkel sucht, ebensosehr wie gegen das Pathos bloßer Richtigkeit und Klarheit. Durch den Faden zur Idee bleibt überall ein Rest von Unklarheit; was absolut klar und erledigt ist, erweckt darum den Verdacht der Ideenlosigkeit, der bloßen Richtigkeit, die keinen weiteren Sinn hat. Richtigkeiten lassen sich ins Endlose häufen, sie müssen durch die Idee an ein Ganzes geknüpft sein.« 518 Sche, 129 f.; KrV, B 641. 519 Kant: KrV, B 433 f.
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rasch mit »wissenschaftlicher Erkenntnis« in eins gesetzt wird und in den »Wissenschaftsaberglauben« mündet: »Kant nimmt nicht in Anspruch, zu wissen, was wird. Er erkennt die unabdingbare Forderung in der Brust jedes Menschen. Sie spricht zu ihm in seiner Vernunft.« 520
Die Besinnung auf Kants Werk hat Jaspers stets empfohlen. Er sieht in ihm verwirklicht, was dem Menschen – und damit ist jeder Mensch einbezogen – als »Vernunftwesen« zu allen Zeiten der Geschichte möglich ist, nämlich »Träger der Humanität« zu sein und in »vollkommener Offenheit« wahrhaftig und vernunftgemäß zu leben. So formuliert Jaspers nicht ohne Emphase zum Schluß einer Würdigung Kants: »Sein Ethos kennt nicht übersteigerte Handlungen, in denen Moral unwahrhaftig konstruiert oder pathetisch demonstriert wird, um dann sich im eigensüchtigen Alltag zu verstecken. Sein Ethos ist das Ethos gerade des Alltags und jeden Augenblicks. Ihn brauchen wir nicht als ein Fremdes zu bewundern. Mit ihm können wir leben. Ihm möchten wir folgen.« 521
Kant stellt für Karl Jaspers den maßgeblichen Philosophen schlechthin dar. Ihm nachzufolgen bedeutet indessen nicht, Kant in jeder Hinsicht nachzuahmen. Er wird zu einem Vorbild, an dem sich der Mensch ausrichten und an dem er sich vielleicht auch aufrichten kann. Mit Kant philosophierend gelangt der Mensch zu sich selbst. Karl Jaspers hat an diese Möglichkeit leidenschaftlich geglaubt: »Kant ist ein politischer Denker ersten Ranges. Die Ideen der freien republikanischen Regierung und des ewigen Friedens erregten seine Leidenschaft. Daß ihre Vollendung je erreicht werde, meinte er nicht. Aber er sah unsere menschliche Aufgabe als eine stete Annäherung an die Idee. Nicht durch ein 520 PA, 221 f. Vgl. ebd. Jaspers’ erneut geübte, deutliche Kritik am dialektischen Materialismus in marxistischer Gestalt. Es heißt dort: »Aus einem sich selbst täuschenden ›Mut zur Wahrheit‹ wird die dem Menschen aufgegebene Spannung verloren zugunsten der Eindeutig eines Wissens. So geschah es in der Verwandlung Hegels zum Marxismus. Da dieser in dialektischer Bewegung alles möglich macht, alles begreift, alles für den Augenblick fordern kann, ist er in der Diskussion ungreifbar. Als Inhalt ständig bewegt, wie ein Aal sich dem Zugriff entziehend, ist er in der Haltung eines Wissens zugleich fanatisch, in jedem Augenblick absolut. Er läßt zugunsten seiner ›Wissenschaftlichkeit‹, die die Praxis der Weltveränderung ist, in der Folge alle Moral und Rechtlichkeit fahren. Da er diese aber nicht entbehren kann, rechnet er, wie Lenin philosophisch hilflos sagte, auf die durchschnittliche Anständigkeit des Menschen.« 521 AP, 250 f.
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sogleich zu verwirklichendes Programm, sondern durch eine Umwandlung der Denkungsart ist der Weg zu finden.« 522
Für diese »Umwandlung der Denkungsart« hat Karl Jaspers gekämpft. Von einem Zustand »ewigen Friedens« ist diese Welt freilich so weit entfernt wie zu Zeiten Kants. Jaspers warnt mit Kant vor der falschen Alternative, die jede »einzig wahre Glaubenserkenntnis« vermeintlich mit sich bringt, weist sowohl die absolut gesetzte Ansprüche der Religionen wie auch das »moderne Gefängnis des durch Verstand Gewußten« zurück. Er widerspricht entschieden dem »Gesichtspunkt der Nützlichkeit«, die die »Voraussetzung des Machenkönnens« als das schlechthin Bedeutsame ansieht. Für Jaspers ist Kant der Befreier aus dem »neuen Gefängnis der falschen Aufklärung«: »Kant gründete das Denken in der Vernunft, für die der Verstand unumgängliche Voraussetzung, aber nicht Quelle aller Wahrheit ist. Denn der Verstand hat die Neigung, das von ihm Gedachte für die Realität an sich, seine Zwecke für selbstverständlich möglich und allein richtig zu halten. Von Kant wurde eine Denkungsart verwirklicht, die den Verstand selber der Kritik unterwirft, ihm sein Recht, aber auch seine Grenzen zeigt. Es ist der Weg der Philosophie, die über den Verstand hinauskommt, ohne den Verstand zu verlieren, und zwar dadurch, daß sie der Vernunft freien Raum gibt. […] Kant hat die gesamte Vernunft des Menschen durchleuchtet, ihre Macht und ihre Grenzen erkannt. Es ist das Wesen der Vernunft, in sich selbst die höchste Instanz und die Grenzen zugleich zu finden. Die Vernunft behauptet sich im Vernunftglauben, der des übersinnlichen Grundes durch sittliches Tun gewiß ist; die Vernunft ist offen für alles, was ihr legitim erfahrbar wird. Die einzige und eigentliche Gegnerschaft gegen Kant liegt in der Haltung, welche nicht nur Grenzen der Vernunft sieht, sondern den eigenen Anspruch der Vernunft und damit sie selber vernichten möchte, zugunsten von nur gehorsam hinzunehmender Autorität und zugunsten einer Leibhaftigkeit des Übersinnlichen. Diese Gegner faßt Kant ins Auge unter den Titeln: Schwärmerei, Fanatismus, Dogmatismus.« 523
Diese so benannten Mächte der Widervernunft bestehen bis heute fort – und der kritische Einspruch der Vernunft muß sich immer wieder gegen sie behaupten, ihre Ansprüche und die mit ihnen verbundenen selbstgewissen und selbstgerechten Anmaßungen zurückweisen, mögliches Wissen erfassen und die Grenzen des Wissens be522 523
AP, 246. PA, 244 ff. A
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stimmen. So zu philosophieren, bedeutet im Sinne von Jaspers zu philosophieren – und den Menschen daran zu erinnern, seiner Vernunftbestimmung gerecht zu werden, kraft der es ihm nicht gelingen mag, einen Zustand »ewigen Friedens« zu etablieren. Folgt er der eigenen Vernunft, vermag er sittlich gut in dieser Welt und in Gemeinschaft mit seinen Mitmenschen zu leben. Ein solcher Frieden ist nur möglich – und es ist Jaspers’ bleibendes Verdienst, hierauf aufmerksam gemacht zu haben – innerhalb eines »geordneten Zusammenlebens«, das nicht den »Frieden um jeden Preis« erringen will, auch nicht den kleinmütigen »Frieden aus Angst« vor Krieg wählt, sondern durch die Erfüllung der »sittlichpolitischen Voraussetzungen«. Menschen müssen für diesen Frieden erst »würdig« werden. Sie werden es, indem sie diesen Zustand durch Freiheit erwerben und als »freie Menschen« zu bewahren wissen. Dieser Frieden ist, zu Jaspers’ Zeiten wie heute, bedroht. Damit dieser Frieden wirksam und konkrete Realität wird, ist die »Verwandlung des Menschen« nötig zu einem »sittlichen Wesen«. Wenn der Mensch seiner »inneren Natur« folgt, der Vernunft, wird Frieden möglich sein. 524 Die »Friedensruhe eines Weltstaats«, in der statt Freiheit Tyrannei herrscht, lehnt Jaspers mit Kant ab. Der erstrebte Zustand des Friedens ist keine Utopie. Frieden bedeutet nicht, sich in »luftigen Phantasien« und »schönen Wunschträumen« zu verlieren. Der Frieden, und dies gehört zu den Lehren des 20. Jahrhunderts, ist erreichbar im Zuge »freier Entwicklung« und durch »Recht« begründet, ein Zustand, der nicht auf totalitärem Weg erreicht werden kann, sondern stets gefährdet ist durch das »Risiko des Kriegs«. Nur auf diesem Weg kann sich der Mensch im Bewußtsein seiner Verantwortung zu dem »sittlichen Wesen, dessen Dasein des Lebens würdig ist« 525 , entwickeln: »Situation und Aufgabe des Menschen ist: Mit der Möglichkeit totalen Scheiterns in der Welt zu leben, für dies Scheitern bereit zu sein, zugleich aber und trotzdem kraft untilgbarer, im Philosophieren selbst hell werdender HoffPA, 209 f. PA, 212. Vgl. auch ebd., 220: »Dem Menschen, der tut, was er sittlich soll, kann die Naturnotwendigkeit gleichsam zu Hilfe kommen. Aber er allein macht den Frieden auf die Dauer nicht möglich. Erst durch Erfüllung seiner sittlich-politischen Voraussetzungen werden die Menschen des Friedens auch würdig. Das heißt: Kant will gar nicht den Frieden um jeden Preis, nicht den Frieden aus Angst und Sicherheitsbedürfnis. Kant hat den Frieden für wünschenswert gehalten nur unter der Voraussetzung der Verwandlung des Menschens zum sittlichen Wesen.« 524 525
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nung zu bauen und das unmöglich Scheinende, wenn es nur nicht für ein kritisches Wissen völlig unmöglich ist, als Ziel zu bewahren.« 526
Dieses Ziel ist der Frieden auf der Welt. Um es zu erreichen oder auch nur um sich diesem Ziel immer wieder anzunähern, ist es nötig, an die Vernunft des Menschen zu appellieren und so den Menschen gleichsam an sich selbst, an die ihm verliehenen Möglichkeiten zu erinnern. Es ist jedes Menschen Verantwortung, sich als Mensch unter Menschen zu bewähren – auf vernünftige Weise, redlich denkend, schuldhafter Verstrickung, die sich aus eigenem Handeln ergibt, vollauf bewußt zu sein und der eigenen Würde gerecht zu werden, anders, im Sinne von Jaspers, gesagt: sittlich gut zu leben. 527
c)
Philosophieren mit Jaspers
Philosophierend versucht Jaspers bewußt zu machen, wie wenig letzthin die »Gehäuse« dem Menschen gerecht werden, ja wie sehr sie der »Freiheit des Menschen« entgegengesetzt sind, sofern sie absolut gesetzt werden. Das Individuum verlöre sich in der »totalen Abhängigkeit« und wäre vollends einem totalen Anspruch untergeordnet. Die absolut gesetzte »Erkenntnis vom Menschen« führt als »vermeintliche Erkenntnis des Menschen im Ganzen« zur Negation individueller »Freiheit«, reduziert den Menschen auf bloße Fungibilität und entbindet ihn gleichzeitig von der Verantwortung für das eigene Handeln. Jaspers sieht die Gefahren dogmatischer Fixierungen, die ignorieren, daß partikulares Wissen niemals das Wesen des Menschen bestimmen kann. Eine Absolutsetzung solcher begrenzten Kenntnisse muß beständig über die »Verwahrlosung des Menschenbildes« zur »Verwahrlosung des Menschen« führen, da das »Bild des Menschen«, das für gültig erklärt und individuell akzeptiert ist, zu einem »Faktor unseres Lebens« wird. Auf diese Weise wird entschieden über den »Umgang mit uns selbst«, mit anderen Menschen und über die »Wahl der Aufgaben«, über die Art, wie das Leben geführt werden soll. 528 Der Ausschließlichkeitsanspruch totalitärer »Ideologien« verkürzt den Menschen auf »ersetzbares Material zur Prä526 527 528
AP, 228. Vgl. AP, 238. PG, 47. A
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gung durch ein Allgemeines« 529 – angepaßt an ein vermeintlich »wahres Wissen«. Der Mensch ist, anders ausgedrückt, seiner eigentlichen Bestimmung entfremdet. Er soll mit Jaspers inmitten des »Unwahren« den »Weg zur Wahrheit« suchen. Zugleich muß er erkennen, daß die »richtige Welteinrichtung«, ganz gleich, wer diese auch zu wissen vorgibt, nicht in Sicht ist noch je erkennbar sein wird. Allein deren »Unmöglichkeit« kann als erwiesen gelten in Anbetracht der Grenzen menschlicher Erkenntnis. 530 So wendet sich das Philosophieren mit Jaspers, wie gezeigt wurde, zunächst der Kritik der »Gehäuse« zu. Jede »totale Herrschaft«, die das »Glück auf dem einzig möglichen Weg« zu kennen vorgibt, fungiert als ein absolut gesetztes »Herrschaftsprinzip«, unabhängig davon, ob es sich um einen dogmatischen »Offenbarungsglauben« oder eine »Ideologie« handelt. Die »Herrschaft« gibt die Lehre vor, eine Lehre, an die die Herrschenden selbst nicht zwingend glauben müssen, die aber den Menschen als einzig gültige »Wahrheit«, der sie sich fügen müssen, präsentiert wird. Verbunden mit der vermeintlichen Begründung durch eine göttliche Macht, eine »Geschichtsnotwendigkeit« oder »Naturnotwendigkeit«, ist wiederum die bestehende Herrschaft gerechtfertigt. 531 Diesen angemaßten und anmaßenden »Anspruch des ausschließenden Glaubens«, der jede »totalitäre Ordnung« stabilisiert und jede »Chance von Freiheit, Wahrheit, Gerechtigkeit« zunichte macht, nennt Jaspers einen »schaurigen Tatbestand«. 532 Der absolute Anspruch, der sich mit der »Ausschließlichkeit einer Glaubenswahrheit« verbindet, beruht auf dem Irrtum, daß »aussagbare Glaubensinhalte« wie »allgemeingültige Richtigkeiten« behandelt werden. Die individuelle »Unbedingtheit des Inneseins des Wahren im Glauben« wird mit dem »Ergreifen der Allgemeingültigkeit der immer partikularen Richtigkeit im Wissen« verwechselt. Der existentielle Entschluß des Glaubens ist nur individuell betrachtet ein Unbedingtes. Ein absoluter Anspruch will diesen generalisieren. Die Gehalte des Glaubens werden formuliert als stets dogmatische »Forderung aussprechbaren Wissens vom Richtigen« und als Verkehrung einer »geschichtlich gebundenen Unbedingtheit des Glaubens« in »allgemeingültige Wahrheit für alle«. Dies führt wiederum zu einer 529 530 531 532
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PG, 54. W, 482 f. PGO, 529 f. PGO, 530 f.
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»Selbsttäuschung«, zeigt sich in der »Kommunikationsunfähigkeit«, wie sie die Theologen-Freunde der Hiob-Geschichte beweisen, und wird letztlich zur Quelle der »Intoleranz«, die ihre Dogmen »nicht redlich sich in Frage stellen lassen« kann und will. Die »Daseinstriebe« des Machtwillens trachten, mit all ihrer Destruktivität und Grausamkeit als »Bewegungskräfte«, in der Maske eines »verkehrten Wahrheitswillens« den absoluten Anspruch durchzusetzen. Sie finden durch einen »vermeintlichen Einsatz für Wahrheit« im Zuge »grauenvoll unwahrer Selbstrechtfertigung« ihre »Befriedigung«. Das will der Glaubenskämpfer freilich nicht wahrhaben, obzwar er die »Glaubwürdigkeit seines Glaubens« riskiert, während die »philosophische Einsicht« die »Unwahrheit« dieser Verkehrung samt ihrer »furchtbaren Folgen« erkennt und jede Form innerweltlichen Unheils, das sich »in die Hülle heiliger absoluter Wahrheit kleidete« 533 , zu kritisieren verpflichtet ist. Der »Anspruch auf Weltherrschaft«, der eine Folge des »Ausschließlichkeitsanspruches der Wahrheit« ist, muß, philosophierend mit Jaspers, negiert werden, da sich »Absolutheit« mit der »Verfolgung anderer Gesinnungen« und »aggressivem Bekennen« mit der »inquisitorischen Prüfung des anderen« verbindet. 534 Der absolute Anspruch fordert unbedingten Gehorsam und entwickelt ein System »terroristischer Gewalt« innerhalb einer »funktionierenden Zwangsorganisation« auf der Grundlage eines »Wissenschaftsaberglaubens« oder eines Offenbarungswissens, das das unerkennbare Absolute als erkennbar setzt. Basierend auf dem tükkischen Aberglauben und der vermeintlichen Objektivität dieses Wissens wird das eigene System gerechtfertigt und die Möglichkeit eines sich in Freiheit entwickelnden Menschen abgelehnt. Stattdessen wird die Einfügung in das »Gehäuse« erwartet und sogar erzwungen. 535 Dem Philosophierenden aber ist die Fragwürdigkeit des »ontologischen Totalwissens« 536 vollauf bewußt. Jaspers verweist beständig auf die Grenzen menschlicher Erkenntnis. Die Welt wird nicht als ein »in sich geschlossenes Ganzes« aufgefaßt, nicht als »harmonisches Totalgeschehen« und durchgängige »Zweckhaftigkeit« in einem 533 534 535 536
PG, 68 f. PG, 70. PGO, 532. PGO, 306. A
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»eindeutig« erkennbaren »Verursachungsgewebe«. Die Welt ist nicht »aus sich begreifbar«, sonst wäre sie die »Einheit dieser Totalität«, jenseits der nichts bestünde. 537 Das »Sein« geht nicht in bloße »Erkennbarkeit« auf, wenn diese Erkenntnis als »identisch verstehbare Mitteilbarkeit« aufgefaßt wird. Erkenntnis bleibt »partikular« in ihrem Bezug auf »endliche Gegenstände«. Richtet sie sich auf das »Ganze schlechthin«, gerät sie in »grundsätzlichen Irrtum«. Viele »bildhafte Tautologien für das Nichtwissen« bestehen, und »bodenlos« ist die Welt für den Menschen. 538 Aus der »Schwebe« zum »Boden in der Transzendenz« gelangt, ergreift der Mensch seine Aufgaben in der Welt, durchschaut »alle Totalvorstellungen« als Irrtümer, die nur einen »Charakter von Aspekten« in »bestimmten Perspektiven« bewahren, aber als »beherrschende Totaltheorie« versagen. Sie besitzen nur stets eine »begrenzte Fruchtbarkeit für empirische Erkenntnis«, so daß der Mensch »eine von Vorentwürfen des Ganzen freie Bereitschaft zu jeder neuen Erfahrung« 539 erlangt: »Aber der Mensch findet in sich, was er nirgends in der Welt findet, etwas Unerkennbares, Unbeweisbares, niemals Gegenständliches, etwas, das sich aller forschenden Wissenschaft entzieht: die Freiheit und was mit ihr zusammenhängt. Hier habe ich Erfahrung nicht durch Wissen von Etwas, sondern durch Tun. Hier führt der Weg über die Welt und uns selbst zur Transzendenz.« 540
In die »bewußtlose Gegebenheit seines Daseins« fällt das »Licht der Transzendenz«. Handelnd und in »Grenzsituationen«, wie sie exemplarisch Hiob erfahren hat, wird sich der Mensch bewußt, daß die »Gehäuse«, die ihm präsentiert werden, ein nur vermeintlich absolutes Wissen repräsentieren und die Wirklichkeit dieser Welt niemals in ihrer Totalität erklärend zu fassen vermögen. Ein »Unbegreifliches«, das zunächst vielleicht einfach als nicht rationalisierbar, als nicht vollkommen Greif- und Begreifbares aufgefaßt werden kann, wird dem Menschen, indem er sich der eigenen »Endlichkeit« vergewissert, bewußt, als ein »Unendliches«, das er existentiell erfährt, etwas, das die Ordnungsschemata, in die er zwangsweise integriert wird, denen er sich unterordnen soll, durchbricht. Diese metaphysische Konsequenz des Jaspersschen Philosophierens beschreibt den 537 538 539 540
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PGO, 138. PG, 48. PGO, 139. PG, 48 f.
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Menschen als »Dasein in der Welt«, das nicht kraft des »eigenen Willen« sich in dieser befindet, sondern sich als »geschenkt« erfährt, durch eine »Transzendenz«. Diese kann er mit den Möglichkeiten stets partikular bleibender wissenschaftlicher Erkenntnis so wenig erfassen wie mit jeglichen Formen totalen Wissens, die er sich anmaßen mag, ganz gleich wie er diese »Gehäuse« auch nennen und welche Namen er für diese in Anspruch nehmen mag. Sie erklären nie, was sie zu erklären vorgeben. Dem Menschen wird »transzendente Hilfe« zuteil, wenn er sich »innerlich behauptet« in den Wechselfällen des Lebens, eine »Hilfe« – und hier findet sich Jasperssches Philosophieren in den Sphären einer säkularisierten Religiosität –, die von »anderer Art« ist als »alle Hilfe dieser Welt«. Die »transzendente Hilfe« ermöglicht das Selbstsein des Menschen. Dieses verdankt er der nur in »Freiheit« spürbaren, niemals in einem dogmatischen »Gehäuse« vorfindlichen, »Hand aus der Transzendenz«. 541 Es fragt sich, ob Jaspers nicht statt eines »erfüllenden Nichtwissens« auf dem »Wege der Freiheit« zu beschreiben, eine immanente Seinsmetaphysik entfaltet, die mit einem unergründlichen, aber offenbar nur vom Philosophen zugeschriebenen Transzendenzbezug operiert, und, zugespitzt formuliert, die regulative Idee Kants in konstitutive Mystik transformiert. Jaspers bestimmt die »Unabhängigkeit von der Welt« in eins gehend mit dem »Bewußtsein der radikalen Gebundenheit an Transzendenz«, die dennoch nicht als ein »Etwas«, als Glaubensinhalt, greifbar wird, sondern unabgeschlossen und offen bleibt. 542 Was ihn in der »Freiheit der Selbstvergewisserung« führt, nennt er die Gegenwart von »Gottes Stimme« 543 : »Die bezwingende Macht, die doch gar keine Gewalt ausübt, die aus mir selbst kommt, wenn ich ihr folge, ist so still, daß sie in der Realität zu verschwinden scheint.« 544
Das Handeln und Entscheiden des Menschen, der »aus der Tiefe« sich der Transzendenz existentiell bewußt wird, ohne aber »in objektiver Garantie« wissen zu können, »was Gott will«, ist von einer »Seinsgewißheit« getragen. Die Apologeten der »Gehäuse« glauben zu wis541 542 543 544
PG, 50. PG, 51. PG, 55 f. KSP, 135. A
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sen, »was Gott will«, mit einer niemals erreichbaren absoluten Gewißheit, und sind sich somit ihres Nichtwissens nie bewußt. Es bleibt das »Bewußtsein des Wagnisses« die »Bedingung wachsender Freiheit«, da die »Sicherheit in der Gewißheit« ausgeschlossen ist, die »Verallgemeinerung« vermeintlichen Wissens zurückgewiesen und der »Fanatismus« jeder Art verhindert wird. Die existentielle Entscheidung wird in der »Gewißheit des Entschlusses« getroffen, bleibt gleichwohl in der »Schwebe«, die die absolute »Selbstsicherheit« verwehrt, denn der »Hochmut des absolut Wahren« vernichtet, was er zu vertreten vorgibt. So bleibt in der existentiellen Gewißheit die »Demut der bleibenden Fragen«. 545 Daraus folgt auch, daß alles menschliche Urteilen im möglichen Irrtum befangen ist. Die »Eigenmächtigkeit« moralischer Selbstgewißheit bleibt verbunden mit »vermeintlichem Rechthaben«. Angemessen ist daher »Demut« als Haltung, da sich, Jaspers zufolge, die »unbegreifliche Führung«, die niemals in vollendeter Gewißheit gegenwärtig ist, erst retrospektivisch erschließt. Indessen vermag der Mensch dennoch mit dem »Ernst des Gehorsams« dem »in Freiheit einsichtigen sittlichen Gebot« zu folgen, verbunden mit dem existentiell erfahrenen »Hören der Transzendenz«. Zur »reinsten Klarheit« hierüber, die also das eigene Tun in vermeintlicher absoluter Gewißheit als Ausdruck von »Gottes Führung« bestimmte, so daß der eigene »Weg« der »einzig wahre für alle« würde, wird der Mensch aber nie gelangen. 546 Die »Führung durch die Transzendenz« ist für Jaspers »Führung durch die Freiheit selbst«. 547 Wer in »Gehäusen« befangen und buchstäblich gefangen ist, verhält sich beständig anmaßend und selbstgewiß. Die »Gehäuse« zeigen, wie dargelegt wurde, den Menschen als ein vollendetes Wesen und versuchen ihn paßgenau in ein System einzubinden, das seine Entwicklungsmöglichkeiten einschränkt. Sie sprechen vom Menschen »als ob er schon sei, was er
PG, 55 f. Einf, 54 f. 547 Einf, 53. Vgl. ebd.: »Die Führung durch die Transzendenz ist anders als jede Führung in der Welt, denn es gibt nur eine Weise der Führung durch Gott. Sie geschieht auf dem Wege über die Freiheit selbst. Gottes Stimme liegt in dem, was dem einzelnen Menschen aufgeht in Selbstvergewisserung, wenn er aufgeschlossen ist für alles, was aus Überlieferung und Umwelt an ihn herantritt. […] In der freien, redlichen Weise des urteilenden Selbstwahrnehmens, in Selbstanklage, in Selbstbejahung findet der Mensch indirekt nie endgültig und immer auch noch zweideutig Gottes Urteil.« 545 546
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sein könnte«. 548 Trotz der von Jaspers immer wieder angeführten »Unmöglichkeit des Wissens« besteht für ihn eine nicht näher spezifizierte »Seinsgewißheit«. Indessen gerade die »Unvollendung« der jeweiligen individuellen Existenz markiert den Anfang der Philosophie. Denn eine von »klarer Verwirklichung« erfüllte und mit absoluter Wahrheit vertraute Existenz, würde, statt zu philosophieren, jenes Wissen vertreten, verteidigen und lehren, das niemals gegeben sein kann, mögen dies anmaßende Vertreter der »Gehäuse« in der ihnen eigenen Unredlichkeit auch wortreich behaupten. Es besteht ein Spannungsverhältnis, das unaufhebbar ist, zwischen der »Wahrheit«, die immer »werden« soll, aber niemals faßlich ist, und einer unverkennbaren »zwingenden Richtigkeit«, die auf die Grundfragen existentieller Bedrängnis die erwünschten Antworten nicht bieten kann. 549
d) Der existenzphilosophische Weg Der Mensch spürt das über die Endlichkeiten dieser Welt hinausreichende »Positive« als »Möglichkeit« im Prozeß des »Sicherringens«. Diese Entwicklung kann nur eine sich vollziehende »Bewegung« sein, die niemals in ein erstarrtes »Gehäuse« mündet. Im Angesicht der Gefahr existentieller Verlorenheit ergibt sich die »Möglichkeit« des »Aufschwungs«. In dieser spannungsvollen »Bewegung« im »Gewissen« reift die Entscheidung aus existentieller Gewißheit. Diese »Möglichkeit« läßt sich als »erworbenes Nichtwissen« begreifen, das sich für Jaspers als »Wendepunkt im Ursprung« darstellt, ein »Nichtwissen«, das sich nicht in reiner Negativität erfüllt, sondern eine »Bewegung des absoluten Bewußtseins« beschreibt, welches nicht in eins zu setzen ist mit der Unwissenheit. Das »erworbene Nichtwissen« 550 resp. das »wahre Nichtwissen« entsteht durch die Aufhebung des absolut gesetzten, vermeintlichen Wissens um die Gegenstände durch die transzendierende Überwindung alles empirisch geprüften »bestimmten Wissens«. Das »erworbene Nichtwissen« ist der »Wendepunkt«, der den Philosophierenden weiter treibt zu »Wissen« und »Gewißheit«, die in diesem »Nichtwissen« wieder548 549 550
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um den »Ursprung ihrer Bewegung« finden. Das solcherart beschriebene »Nichtwissen« ist niemals ein »gleichgültiges Nichtwissen«, das in der Unwissenheit Genüge fände. Es ist vielmehr das bewegende »unaufhebbare Nichtwissen«, das mit höchster Entschiedenheit zum Wissen im Bewußtsein der sich ergebenden Fragen strebt: »Ich kann selbst da nicht aufhören wissen zu wollen, wo ich nicht mehr wissen kann, möchte im Nichtwissen noch wissen, ertrage das Nichtwissen, wenn ich unter einem Stachel aus dem ursprünglichen Wissenwollen vorausschreite.« 551
Der »Mut zur Wahrheit« zeigt sich somit nicht in der »Blindheit des Behauptens eines Wissens vom Sein an sich«, das niemals erreichbar ist. Ein jedes dieser Art wäre nur die Behauptung eines angemaßten Wissens. Wer dies setzt, gelangt niemals zu der »Offenheit eines unbegrenzten Wissenwollens«. Die »Entschiedenheit« des Handelns als »absolutes Gewissen« zeigt sich in der »Gewißheit im Nichtwissen«, genauer gesagt also im »Nichtwissen des Wissenwollens«, in dem sich der Mensch leidenschaftlich dem »Nichtwissen« zuwendet, auch wenn es ihm nicht die Antworten bietet. Es zeigt als redliches Denken die Antwortlosigkeit, die eine »Rückkehr zum Wissen«, das nur als vermeintliches absolut gesetzt möglich ist, unmöglich macht: »In diesem Nichtwissen werde ich meiner selbst gewiß, wenn unbegründbar bleibt, daß ich liebe und glaube, daß ich in den Grenzsituationen doch leben kann, daß im Nichtmehrdenkenkönnen das Sein der Transzendenz fühlbar wird.«
Die »Freiheit« ist im »Nichtwissen« auf sich verwiesen. Gäbe es ein objektivierbares und objektiviertes »absolutes Wissen«, so wäre das »absolute Bewußtsein der Existenz« vernichtet. Das Dasein bliebe ein »Marionettenspiel«, von Objektivitäten bestimmt. 552 Das »Wissen des Nichtwissens« ist eine »allgemeine Formel« für das »absolute Bewußtsein«, das aber als »wirkliche Gewißheit« konkret-geschichtliche Relevanz hat und als das »Ursprüngliche«, indem das Philosophieren zu sich selbst kommt, erfahrbar ist. Am »Wendepunkt des Nichtwissens« findet sich die »Ungewißheit«, die schwindlig macht und schaudernd, den »objektiven Halt« verlierend und zaudernd, zurückweichend vor einem Etwas, das dann doch er551 552
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griffen wird, »schwindlig im Denken von Grenzsituationen« und vor der »Wahl« in diesen zu einer »ergreifenden Entscheidung« gelangend, in der die »Zerstörung der Objektivität« spürbar ist. Aber die »Gewißheit des Seins der Transzendenz« ist fühlbar. Somit führt der »Schwindel« als »Eintritt in die Tiefe des Seins«. Der »Schwindel« erhält als das »besonnene Schwindligwerden im Denken« seine philosophische Dimension. In diesem »Schwindel« scheint alles in Bewegung zu geraten. Jaspers führt in existenzphilosophischer Diktion aus, daß der Mensch durch den »Schwindel« noch im »Nichtverstehen« die Existenz dieses Moment seiner selbst verstehen lernt. 553 Innerhalb des »Schwindels« verbindet sich mit dem Erschaudern die »Angst«, in der sich das »Bewußtsein des Vertilgtwerdenkönnens« zeigt, als »Schaudern der Freiheit« vor dem Augenblick des Wählens. Nur durch deren »Überwindung« ist die existentielle »Entschiedenheit« erreichbar. 554 Eine »objektive Sicherheit« aber ist nicht möglich. Die Überwindung der »existentiellen Verzweiflung« mißlingt in der versuchten Bindung an die »objektiven Garantien irdischer Autoritäten«, die nur eine »krampfhafte Gewißheit« zu geben vermögen, während das »absolute Bewußtsein« an »faktische Angst« gebunden bleibt. Also ist die »Überwindung« nicht gleichzusetzen mit »Aufhebung«. Der »Mut zur Angst« bildet die »Bedingung für das echte Fragen« und der »Antrieb zum Unbedingten«, die Möglichkeit des Untergangs als »Weg der Existenz« in Freiheit: »In der Grenzsituation kann Angst als der vernichtende Schwindel bleiben. Kein rationaler Grund kann bewegen, wenn der Einzelne ohne Glauben in der Verzweiflung verharrt. Auch noch sein negativer Glaube, wenn er sich für die Glaubenslosigkeit schuldig fühlt, zwingt nicht den Glauben herbei. Dem sich von seinem Ursprung isolierenden Menschen bleibt die Erfüllung aus; sein guter Wille scheint nichts zu bewirken. Statt die Bewegung durch den Wendepunkt zu vollziehen, ist dem Menschen auferlegt, die furchtbare Leere zu ertragen, deren Lösung ihm unmöglich scheint, bis sie ihm geschenkt zuteil wird.« 555
Philosophisch lebt, wer sich »ohne objektive Garantien gegen die Angst« zum »absoluten Bewußtsein« aufmacht. Der Mensch, dem diese Sicherungsmechanismen gewiß sind, ist religiös. Das »Gewissen« ist die »Stimme am Wendepunkt«, die zu »unterscheiden« und 553 554 555
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zu »entscheiden« mahnt als Stimme des eigenen Selbst, die nicht beständig hörbar ist, aber stets fordert: »Im Gewissen habe ich Distanz zu mir. Ich bin mir nicht verfallen als einem Dasein, das gegeben ist und nur abgespielt wird. Ich greife in mich ein und bringe im Dasein hervor, was ich bin, soweit es an mir liegt.«
Das »Gewissen« läßt sich im »Aufschwung« mit dem »Bewußtsein der Wahrheit« 556 ergreifen. Wie das »Daimonion des Sokrates« ist es hauptsächlich das »Nein« und hat den »Charakter der Negativität«. Das »Gewissen« fordert die Unterscheidung und die Entscheidung 557 und führt als »Entschluß« die »existentielle Entscheidung des absoluten Bewußtseins« herbei, die nicht als bloß die »richtige Lösung« eines Teilproblems darstellt, sondern »unbedingt im Sichergreifen« und in »unendlicher Reflexion« entstanden ist. Dem Menschen ist sodann eine persönliche »Reife« eigen, die nicht »Vollendung«, sondern »Anfang der Bewegung« in der Zeit ist. Handelnd soll gewissenhaft verwirklicht werden, was zu verwirklichen möglich ist. In dem »Entschluß« aus existentiellem Ernst ist der Mensch selbst ganz und gar gegenwärtig. 558 Durch »Objektivitäten« und Konventionen ermattet, negiert, verworfen, mißachtet von jeder »unbedingt machenden objektiven Ordnung«, hat das »ursprüngliche Gewissen« sich nicht zu zeigen, sondern vor »unwahren Ansprüchen« sich schweigend zu bewahren. Als »Rechtfertigung« wird es zuweilen mißbraucht, als »Abbruch der Verständigung suchenden Verhandlung«. Nur in der »existentiellen Kommunikation« 559 ist es gegenwärtig, in der es fragt, um mit dem anderen sich auf die Suche nach Wahrheit zu begeben. Wer sich auf das »gute Gewissen« beruft, unterliegt im Partikularen einer »rationalistischen Selbsttäuschung«, die sich mit dem verstandesmäßig richtigen Handeln begnügt, aber alles »Dunkle« ignoriert. Auch ist es nicht »Gottes Stimme«. Diese bleibt nämlich im »Gewissen« verborgen. In der Identifikation ginge die »Gottheit« verloren, wäre in eine »Enge« gebannt und nicht mehr eine in Bewegung sich findende »freie Ursprünglichkeit«. 560 Mit der »Gottheit« ist der Mensch im »Gewissen« dennoch im Gespräch, P II, 268. P II, 269. 558 P II, 270. 559 P II, 271. 560 P II, 272. Die »Gottheit«, die auch einen absoluten Anspruch erhöbe, wäre letztlich ein »sich selbst vernichtender Übermut«. Vgl. ebd. 556 557
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aber nur auf indirekte Weise, innerhalb des »sich immer wieder in Frage stellenden unbedingten Willens«, der im »Dunkel des Daseins« über die »Grenzsituationen« zum Fragenden zurückkehrt: 561 »Das Gewissen ist also entweder selbst Ursprung und hat keinen Richter mehr über sich, oder es wird ein täuschendes Wort.« 562
So ist das »Gewissen« der »bewegte« und »bewegende Ursprung der Wahrheit meines Seins«, die zu »grenzloser Kommunikation mit dem Nächsten« führt, nicht aber zum »Gehorsam« gegenüber absoluten Ansprüchen. In jeder Entscheidung, die das dem Menschen Wesentliche berührt, gibt nicht die weltliche Autorität den Ausschlag, sondern das »Gewissen«. 563 Die Entscheidung wählt das Selbst; sie kann redlicherweise nicht absolut gesetzt werden und ist auch nicht objektiv begründbar. Das »absolute Bewußtsein« findet im »Gewissen« noch nicht seine Erfüllung. Gleichwohl muß man achtsam sein, daß es sich nicht in »falscher Gegenständlichkeit« auf dogmatische Weise verfestigt und verliert. Es läßt sich nicht erfassen, wohl aber »erhellen«, in der »Liebe«, die sich aktiv als »philosophischer Glaube« zeigt, der zum »unbedingten Handeln« führt und auf kontemplative Weise in der »Phantasie« sich zeigt, die das Metaphysische beschwört, ohne sich dessen ganz und gar gewiß zu sein: »Das Gewissen bleibt ratlos ohne Liebe; es verfällt ohne sie in die Enge des Leeren und Formalen. Die Verzweiflung der Grenzsituationen löst sich durch sie. Nichtwissen wird die erfüllte Wirklichkeit im Aufschwung der Liebe; sie trägt es, wie es getragen ihr Ausdruck ist. Aus dem Schwindligwerden und Schaudern ist Liebe Rückkehr zur Gewißheit des Seins.« 564
Ohne die »Liebe« endet und verliert sich alles in der »Nichtigkeit«. Von ihr »beseelt« ist der »Glaube«, der im »unbedingten Handeln« sich als »werdende Seinsgewißheit« zeigt und das »Lebenkönnen im Wissen« ist, während das Wissen allein es »unmöglich« machte, zu leben. Dieser »Glaube« ist die »Gewißheit des Seins im gegenwärtigen Dasein«, nicht bloß ein »unsicheres Wissen von einem Gegenstand«. 565 561 562 563 564 565
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Das »Wissen« bleibt gebunden an die Endlichkeiten dieser Welt, der »Glaube« an das »eigentliche Sein«, das »Wissen« dem Zweifel unterworfen, der »Glaube« ein Vollzug in der Bewährung der Existenz, als »Vertrauen«, als »unzerstörbare Hoffnung«, die das »Bewußtsein der Ungewißheit« überwindet und sich in in diesem als »vollzogene Seinsgewißheit« angesichts der Transzendenz weiß, ohne eine immer täuschende Wahrheit von sich geben zu können. Der »Glaube« besitzt die »Bereitschaft« 566 , alles zu ertragen und in rechter Weise zu handeln, weiß aber nicht absolute Sicherheit zu geben, hält in Bedrängnis und Gefahr an der »Möglichkeit« fest jenseits von »Sicherheit« und »Unmöglichkeit«. Schließlich wird in der Phantasie, durch die das »Auge frei« wird, das »Sein« erblickt. Ohne diese schöpferische Kraft wäre das »Dasein endloser Wirklichkeiten« nur ein »fahles Reich der Toten«. So ergreift die Phantasie die »tiefere Wahrheit gegenüber allem bloßen Wissen von der empirischen Wirklichkeit« 567 , bleibt aber stets an »Glaube« und »Liebe« gebunden und weist über sich hinaus. Sie ist niemals ästhetisches Spiel, sondern verweist auf einen Gehalt, der nicht objektivierbar ist, so wie das Philosophieren in der Schwebe des Spielerischen bleibt, zugleich aber den »Ernst der geschichtlichen Wirklichkeit« trifft. Die »Unverbindlichkeit beliebigen Denkens« und die »Erstarrung in endgültiger Objektivität« werden als die »vermeintlich objektiven Richtigkeiten vom Absoluten« und somit unphilosophisch entlarvt. 568 In dieser Weise schlußfolgert Jaspers: »Wer meint, alles zu durchschauen, philosophiert nicht mehr. Wer das Bescheidwissen durch Wissenschaften für Erkenntnis des Seins selbst und im Ganzen nimmt, ist einem Wissenschaftsaberglauben anheimgefallen. Wer nicht mehr staunt, fragt nicht mehr. Wer kein Geheimnis mehr kennt, sucht nicht mehr. Philosophieren kennt mit der Grundbescheidung an den Grenzen der Wissensmöglichkeiten die volle Offenheit für das an den Grenzen des Wissens sich unwißbar Zeigende.« 569
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e)
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So ist dieses Philosophieren das »gegenwärtige Erdenken der Möglichkeiten des transzendent bezogenen Menschseins«, dessen »letzter Sinn« im selbstwerdenden »inneren Handeln« liegt. Es ist weder als »Ziel gegenständlichen Wissens« noch als »disziplinierende Bewußtseinshaltung« in einer das eigene Selbst »isolierenden Züchtung« greifbar und erschöpft sich auch nicht in einem »bloßen Denken und Mitdenken von Gedachtem«; »unbedingtes Handeln« wird erst im »sich selbst hervorbringenden Tun« realisiert. 570 Das Philosophieren ist eine »tägliche Selbstprüfung«, in der der »Gedanke« als »Stachel« sitzt, der appellativ als »Offenbarkeit« wirkt und im »Abgleiten« den Halt gewährt, indem er »beschwörend« die »Transzendenz zur Gegenwart« bringt, als eine Denkbewegung, die unauflöslich nicht mit allein mit dem Gedachten, sondern auch mit der Persönlichkeit verbunden ist. 571 Die »spezifische Erfüllung« zeigt sich in der »aktiven Kontemplation«, die ein »inneres Handeln durch Denken der Transzendenz« ist, analog zum religiösen Handeln, aber nicht zweckhaft in der Weltorientierung wirkt. Durch das »Bewußtsein der Transzendenz« vollzieht sich in ihr eine »Klärung« und »Reinigung des Selbstseins«, die im Verweisen auf die »verborgene Transzendenz« einen Weg in Freiheit findet: »Diese Kontemplation als der Gipfel des Philosophierens ist Vergewisserung des absoluten Bewußtseins durch Sichselbstfinden in der Transzendenz. Die Kraft, die in der sinnlichen Gegenwart der Gottheit durch die religiöse Objektivität gegeben wird, muß hier in der Freiheit persönlicher Existenz wurzeln. In dieser Angewiesenheit auf sich selbst ist die Erscheinung der Existenz schwankender, zweideutiger, kraftloser als die Erscheinung der in objektiven Gebundenheiten gesicherten und bejahten Existenz; denn bei der Schwäche unseres Wesens ist in der Freiheit dei größere Gefahr durch Zweifel und Verzweiflung; Freiheit bleibt ein Wagnis.« 572
Aber ohne diese Freiheit verliert sich der Mensch selbst im Getriebe des Nichtigen und an die vermeintlichen Autoritäten, die absolute Ansprüche aufstellen, denen er doch nie genügen kann und auch gar nicht genügen muß. In dem »Sinn meines Tuns«, aber auch in dem 570 571 572
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»Sinnwidrigen« ist die »transzendente Wirklichkeit« gegenwärtig, die doch nicht »eigentlich« spricht, da sie in der »bleibenden Verborgenheit« alles in die Verantwortung des »Existierenden« läßt, der sich zuweilen »wie von ihr geführt glaubt«, aber »ohne es sagbar zu wissen«, somit als Existenz wie ein »schwebendes Sein« ist, das seinen Halt in all der genannten Fragilität dort entdeckt, wo niemals »zu sinnlicher oder gedanklicher Gewißheit« für das handelnde Bewußtsein gebracht wird, »was eigentlich ist«. 573 Die »absolute Wahrhaftigkeit der Existenz« ist nicht bloß durch die Betrachtung der Handlungen charakterisierbar, sondern allein daran zu erkennen, wie sich der Einzelne in das eigene Dasein mit »radikaler Unerbittlichkeit« stellt, der Redlichkeit des Denkens und dem »Bewußtsein der ersten und letzten Aufgabe« im existentiellen Ernst. In kommunikativer Gemeinschaft bemüht er sich, ein wahrhaftes Handeln zu zeigen, ohne dies zur Schau zu tragen, auch mit der Bereitschaft, »im Sinne gegenseitiger Korrigierbarkeit« nicht diese Wahrhaftigkeit wieder ostentativ absolut zu setzen. 574 Der Philosoph bleibt ewig strebend auf der Suche. Er erreicht auch nicht transzendierend das Ziel, so sehr ihn der »Impuls« des »Ganzwerdenwollens« vorantreibt, erfährt er nie die »Ruhe« der Erfüllung, sträubt sich gegen das Scheitern und muß doch dessen Notwendigkeit erfahrend einsehen, die in der Spannung des »Ganzwerdenwollens« ihn selbst für »Wirklichkeiten« und »Möglichkeiten« offen hält. 575 Indessen gelangt er zu einer distanzierenden »Haltung«, die ihn bewahrt, sich an die Dinge oder an die Menschen zu verlieren. Diese »Haltung« verbindet sich mit der »Humanitas«, die ein »Aufgeschlossensein« in »Vernunft« ist. So versteht der Mensch sich selbst, anerkennt den anderen, strahlt auch »Heiterkeit« aus, die dann zuletzt noch die gezähmte »Leidenschaft« integriert. 576 Was als existentielle Entscheidung gewiß sein kann, muß für die anderen keine Gültigkeit besitzen und ist darum doch nicht falsch oder unwahr. Das »Wahrheitsbewußtsein« eines als »Existenzerhellung sich wissenden Philosophierens« bedeutet »unerbittliche Kritik am Zwingenden«:
573 574 575 576
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»Für den Verstand bleibt die Urparadoxie der existentiellen Wahrheit: daß Wahrheit als einzelne sei und doch zu anderen Wahrheiten ist, daß viele Wahrheiten zu sein scheinen und doch nur die eine Wahrheit ist. Und: daß absolute Geltung und Relativität sich nicht ausschließen sollen, weil Geltung jeweils absolut nur in der Existenz ist und die Relativität immer nur die objektive Erscheinung des Gedachten und Ausgesagten betrifft.« 577
Freilich bleibt die Frage nach dem »Sinn im Dasein« bestehen und scheint schwerlich lösbar in Anbetracht der Relativität und Endlichkeit, im Hinblick auf das »Sinnwidrige« und das »Sinnfremde«, so daß der »Sinn des Ganzen« nicht identisch mit unseren Erwartungen sein kann. Das führt zu der Einsicht, daß es vermessen wäre, über das Partikulare hinaus diese Frage zu stellen, da sie hinsichtlich der »Transzendenz« zu »Begrenzung« und »Enge« 578 führen: »Es ist denkbar, daß es gibt, was nicht denkbar ist. Er ist der Ausdruck für den Schritt eines Denkens, das, wenn es ihn tut, sogleich kein Denken mehr ist. Das Denken setzt sich eine Grenze, die es nicht überschreiten kann, und die es dadurch, daß es sie denkt, zu überschreiten doch appelliert.« 579
Für Jaspers bleibt die »letzte Frage« offen; aber er lebt und philosophiert in dem Vertrauen, daß in der »Chiffre des Scheiterns« noch das »Sein der Transzendenz« gegenwärtig ist, und vertraut darauf, daß »aus der Finsternis ein Sein leuchten kann«: »Es ist nicht zu wissen, warum die Welt ist; vielleicht ist es im Scheitern zu erfahren, aber es ist nicht mehr zu sagen. Im Dasein hört vor dem Sein angesichts des Umfangs des Scheiterns mit dem Denken die Sprache auf. Es ist nur Schweigen möglich gegenüber dem Schweigen im Dasein.« 580
Wie aber ist es möglich, in Anbetracht des Scheiterns zu leben? Muß der Mensch nicht zwangsläufig in der Angst hoffnungslos versinken? Die »eigentliche Angst« nennt Jaspers jene, die »sich für das Letzte hält, aus der kein Weg mehr ist«, die verzagt, ehe sie den »Sprung in ein angstloses Sein« wagt, das ihr wie eine »leere Möglichkeit« 581 erscheint. Aber dieser »Sprung« reicht über die »Existenz des Selbstseins« hinaus. Der »Glaube« verbindet ihn mit dem »Sein der Transzendenz«. Erst durch die Angst, die zu diesem »Sprung« führt, ge577 578 579 580 581
P II, 419. P III, 54. P III, 38. P III, 233. P III, 234. A
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lingt der Blick auf die Wirklichkeit dieser Welt; die Angst, die sich auf das Scheitern kapriziert, wird »glaubenslos«, da sie sich an eine »vermeintlich gekannte Wirklichkeit« klammert und von einer »unwahren Harmonie« träumt. Wer ein »ideales Sollen« und eine absolute Wahrheit zu wissen vorgibt, zeigt so nur die »Unwahrheit« einer verdrängten Angst: »Daß der Mensch zugleich Wirklichkeit sehen, selbst wirklich sein und doch leben kann, ohne in der Angst zu vergehen, knüpft sein Selbstsein an seine entschiedenste Wirklichkeitsnähe, aber in einem unvollenbaren Prozeß, in dem weder Angst noch Ruhe das Letzte, und keine Wirklichkeit die endgültige ist. Weil, um die Wirklichkeit zu sehen, erfordert ist, auch die äußerste Angst als eigene zu erfahren, ermöglicht diese erst den schwersten und unbegreiflichsten Sprung zu der Ruhe, der die Wirklichkeit unverdeckt bleibt.«
Für die »Wahrhaftigkeit des Seinstbewußtseins«, aus der sich diese Fragen ergeben, gibt es keine Lösung und keine Antwort, nur ein »aktives Dulden« 582 , in dem das tätige, in der Welt handelnde »Nichtwissen des Glaubens« besteht ohne Aussicht auf die Realität des Absoluten in Gestalt einer innerweltlichen Vollkommenheit. Es bleibt »trotz des Scheiterns« am Sein ausgerichtet, selbst dort, wo ihm die Chiffren versagt bleiben. Diese »Vergewisserung« auf dem äußersten Punkt wird der »Halt im Dasein«, der frei ist von aller Illusion: »Es ist genug, daß Sein ist. Zwar Wissen von der Gottheit wird Aberglaube; aber Wahrheit ist, wo scheiternde Existenz die vieldeutige Sprache der Transzendenz in die einfältigste Seinsgewißheit zu übersetzen vermag.« 583
In der »Schwebe« 584 , die gebunden ist an die »Seinsgewißheit« 585 , gelingt die Unterscheidung zwischen »Wesentlichem« und »Nichtwesentlichem« – und ein »philosophisches Leben« 586 wird möglich, im Wissen um die Grenzen menschlicher Erkenntnis, redlich sich selbst eingestehend, daß es die »absolute Wahrheit« nicht dergestalt gibt, daß sie »vollendet« vernommen und gelernt werden könnte. Es ist die »Redlichkeit«, die den Menschen zur Toleranz erzieht, ihm gestattet, sich dem, was er möchte, dem er sich zugehörig glaubt, zuzuwenden. Aber sie fordert zugleich, die Wege der anderen zu to582 583 584 585 586
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P III, 235. P III, 236. P III, 156. P III, 236. P III, 156.
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lerieren und auch in ihnen das »Wahre« zu spüren, das gleichwohl unerkennbar bleibt. 587 Die »fanatische Exklusivität«, die mit der »abstrakten Nivellierung unter das Joch des bloß gedachten Einen« einhergeht, zieht – wie jeder absolute Anspruch – eine »vernichtende Konsequenz« nach sich. 588 In Anbetracht dieser fordert Jaspers die »Ausbildung des Denkens« im Zug einer umfassenden »Selbsterziehung des ganzen Menschen« 589 als verantwortlich handelndes Individuum, das sich im Strom wechselvoller Zeitläufte nicht an diese verliert: »Philosophieren aber ist die Schule dieser Unabhängigkeit, nicht der Besitz der Unabhängigkeit.« 590
Der Philosoph – und hier liefert Jaspers gewiß auch ein Portrait seiner selbst – soll der Wirklichkeit dieser Welt nicht ausweichen. Allem, was in der Welt ist, setzt er sich aus. Er zieht es vor, an der »Wahrheit«, die letzthin unerkennbar ist, zu scheitern, als sich »glücklich im Wahn«, in der Illusion der Geborgenheit, aber recht eigentlich verloren, eines absolut gesetzten »Gehäuses« zu befinden. 591 So schreibt Jaspers: »Unsere Sache ist verloren, wenn sie dogmatisiert wird […].« 592
Den Philosophen erfüllt ein »unbegreifliches Vertrauen in den Grund der Dinge« 593 , während er zugleich das redlicherweise unauflösbare »Rätsel« 594 erträgt und die »Aufgabe« darin findet, »den Menschen an sich selbst zu erinnern« 595 : »Der Weg der Philosophie ist mühsam und lang; von wenigen, vielleicht, wird er wirklich gegangen; wohl ist er zu gehen: ›sed omnia praeclara tam difficilia quam rara sunt‹.« 596
587 588 589 590 591 592 593 594 595 596
GP, 10. P II, 334. Einf, 72. Einf, 91. KSP, 175. Brief aus dem Jahre 1931, zit. n.: Saner: Karl Jaspers, a. a. O., 154. KSP, 182. P I, 46. GSZ, 211. EP, 85. A
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V. Zur Aktualitt der Philosophie von Karl Jaspers
Warum soll man Karl Jaspers heute noch lesen? Die Jasperssche Existenzphilosophie fand im französischen Existentialismus, von Albert Camus bis hin zu Jean-Paul Sartre, so wenig wie Widerhall wie bei Martin Heidegger, der wie kein zweiter Philosoph diese geistesgeschichtliche Strömung in Deutschland repräsentiert hat. Das Jasperssche Œuvre mutet aus heutiger Sicht nicht zuletzt wegen seiner bedeutungsvoll klingenden Sprache wie ein Relikt einer längst vergangenen Epoche philosophischer Reflexion an. Es gliedert sich in die Tradition der Kritik absoluter Ansprüche ein. Die emphatische Schilderung von Gestalten und Werken, die einen nachgerade »weihevollen Umgang« darstellt, wie der Philosophiehistoriker E. von Aster bemerkt, wirkt insbesondere in der Beschäftigung mit den »großen Philosophen« einer »nüchternen Analyse philosophischer Argumentationsgänge« 597 eher entgegen. Auch die pathetisch getönte, appellative Moralistik erscheint altmodisch und abgetan. Die von Jaspers vielfach angeführte »Seinsgewißheit« ist das unverkennbare Kennzeichen einer säkularisierten Religiosität, die als Merkmal der Persönlichkeit von Karl Jaspers selbst anerkannt, doch mitnichten generalisiert werden kann. Die kritische Rezeption seines Werkes registriert auch dies als ein Phänomen seiner Zeit, das heute kaum Entsprechung und Widerhall findet. Erscheinen darum Werk und Gestalt von Karl Jaspers in unserer Zeit berechtigterweise bis zur Bedeutungslosigkeit nivelliert? Hinsichtlich der Analytik der »Gehäuse« – und darüber hinaus als Kritik des Totalitarismus – ist die Philosophie von Jaspers nach wie vor bedenkenswert, eher zu wenig als zu häufig rezipiert. Auch als Kritiker des Zeitgeschehens erweist sich der Philosoph als durchaus hellsichtig, sensibel gegen jegliche Art totalitären Denkens und vor dessen Versuchungen warnend. Vielleicht muß ein Philosoph, der die Politik betrachtet, tatsächlich zum Moralisten werden. Als 597 Aster, Ernst von: Geschichte der Philosophie. 18. Aufl., durchges. u. erg. v. Ekkehard Martens. Stuttgart 1998, 438.
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solcher hat Jaspers auch, freilich eher am Rande, Probleme der Wirtschaft erörtert. In einer Rede über »Freiheit und Schicksal in der Wirtschaft« von 1962 plädiert der Philosoph entschieden für den Primat der Politik auch in Fragen der Ökonomie – und warnt vor totalitären Strukturen eines ungehemmten Kapitalismus: »Wenn das Privatinteresse gegen das Gemeininteresse sich durchsetzt, die Konkurrenz der Interessen die Konkurrenz der Leistung verfälscht, dann kann die freie Wirtschaft nicht dauern. Sie kann sich nur behaupten, wenn die Menschen ihrer eigenen Freiheit Grenzen setzen. […] Das Verhängnis der Wirtschaft liegt in ihr selber, wenn sie sich hemmungslos ihren Eigengesetzlichkeiten überläßt. Und es liegt in der Politik, wenn deren Gewalt sie eines Tages wegwischt und totalitär neu gestaltet. Die Freiheit der Wirtschaft dagegen liegt in ihrer Selbstkorrektur durch das übergeordnete Ethos. Und sie liegt in der Bereitschaft, sich im Kampf um die Freiheit der Politik unterzuordnen.« 598
So appelliert Jaspers, wie vielerorts, an die Verantwortung des Einzelnen für sein Tun. Kein »Gehäuse«, ob in Gestalt einer religiösen oder säkularen »Weltanschauung«, kein absolut gesetztes Totalwissen und keine humanen Ansprüche rechtfertigen praktizierte Inhumanität, die immer wieder von Menschen – und dies natürlich gerade zu Lebzeiten von Karl Jaspers in den totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts, im Nationalsozialismus wie im Kommunismus – begangen wird. Der Mensch ist verantwortlich für sein Handeln. Haftbar für das eigene Tun und Lassen ist stets das Individuum selbst. Jaspers hat dies in der vielfach gerühmten – basierend auf im Wintersemester 1945/46 in Heidelberg gehaltenen Vorlesungen –, seinerzeit politisch höchst (un-)zeitgemäßen und nach wie vor viel zu wenig gelesenen Schrift zur »Schuldfrage«, die die politische Haftung Deutschlands thematisiert, anschaulich dargelegt. Die Themen Jaspersschen Philosophierens sind in dieser schmalen Abhandlungen deutlich präsent. Philosophieren heißt, auch im Angesicht des just beendeten Terrorregimes des Nationalsozialismus und des unvorstellbaren Grauens, dem auch der Philosoph nur knapp entronnen war, sich in der Situation des existentiellen Ernstes auf seine Verantwortung zu besinnen. Philosophie ist nichts, was sich allein im stillen Kämmerlein vollzieht. Philosophieren vollzieht sich in der Gemeinschaft, ist Miteinanderreden, ist Aufeinanderhören, mitnichten die Beliebigkeit eines Meinungsaustauschs, sondern die gemeinsame Be598
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mühung auf dem Weg zur Wahrheit. So betont Jaspers leidenschaftlich, wie wichtig es ist, »Gemeinschaft im Widersprechenden« zu ergreifen, in authentischer Kommunikation, im aufrichtigen Umgang untereinander. Er erteilt der »voreiligen Fixierung von sich ausschließenden Standpunkten« eine Absage. Jaspers schärft das Bewußtsein seiner Hörer im ersten Nachkriegswinter nicht anders als das des Lesers über fünfzig Jahre später. Er formuliert deutlich, daß die Menschen in Deutschland anerkennen sollen (denn sonst wären sie unaufrichtig), daß sie ihr Überleben nicht sich selbst und die »neuen Zustände« und »neuen Chancen«, die sich ihnen bieten, nicht eigener Kraft verdanken. 599 Wenn uns – dies sei noch einschränkend bemerkt – die »Seinsgewißheit« des Karl Jaspers und sein philosophischer Glaube fremd oder gar befremdlich erscheinen, so muß die persönliche Situation des Denkers bedacht sein. Jaspers führt hier nämlich auch in eigener Sache aus, daß es nur ein »transzendent gegründeter kirchlicher oder philosophischer Glaube« war, der sich durch die »Katastrophen« jener Zeit halten konnte und der Halt bot, ein Glaube, der auch ihm eigen war. 600 Die eigentümliche Bedeutung der Philosophie von Karl Jaspers liegt in der Mahnung an das Gewissen des Einzelnen. Wenn der Mensch eingebunden wäre in ein absolut gültiges »Gehäuses«, so hätte er mithin gar keine Möglichkeit, anders zu handeln. Die Wahrheit wäre erkennbar und bekannt. Wenn er dieser Wahrheit folgte, könnte er handelnd gar nicht in schuldhafte Verstrickungen geraten. Denn er agierte allein aus Einsicht in die Notwendigkeit einer Ordnung, der er angehört. Jaspers wendet sich also als einer der ersten Gelehrten im Nachkriegsdeutschland der »Schuldfrage« zu. Tut er dies, weil das deutsche Volk schuldig erklärt wird für die Verbrechen des Nationalsozialismus, die es nicht verhindert, zugelassen, unterstützt und ermöglicht hat? Tut er dies, weil die Siegermächte diese Frage beantwortet wünschen? Ist es nicht überhaupt unangemessen, sich mit solchen Problemen in einer Zeit bitterer Not zu beschäftigen? Vielleicht wie kein zweiter Philosoph in dieser Stunde deutscher Geschichte verkörpert Jaspers im Winter 1945 den anständigen, redlichen Deutschen, der es für geboten hält, gerade in Zeiten der »Not« und »Abhängigkeit«, die »Würde« zu bewahren. Dies gelingt nicht, 599 600
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Vgl. SF, 7 ff. SF, 14.
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wenn man den drängenden Fragen ausweicht oder sich leichthin rechtfertigt. Die »Würde« zu bewahren bedeutet, »Wahrhaftigkeit uns selbst gegenüber« zu beweisen und auf diese Weise das »Seinsund Selbstbewußtsein« neu zu begründen. Aus der redlichen Beschäftigung mit dieser Frage kann eine »Umkehr« erwachsen. Die Einsicht in das eigene Fehlverhalten soll fruchtbar gemacht werden für eine »innere Umkehrung«, die dann, zu Jaspers’ großer Enttäuschung, ausbleibt. 601 In der besagten Schrift differenziert Karl Jaspers vier mögliche Schuldbegriffe: kriminelle, politische, moralische und metaphysische Schuld. Ein nachweisbares Verbrechen führt zu einer justiablen kriminellen Schuld. Politisch schuldig im Sinne einer politischen Haftbarkeit ist der Bürger eines Staates, der die Handlungen derer, die dem Staat voranstehen, mitzutragen hat. Jeder Mensch ist verantwortlich dafür, wie er regiert wird. Die »moralische Schuld« bezieht sich auf eine jegliche Handlung, die der Mensch begeht, für die er die »moralische Verantwortung« trägt, und zu dieser gehören auch »politische und militärische Handlungen«. Jaspers formuliert sodann: »Niemals gilt schlechthin: ›Befehl ist Befehl‹. Wie vielmehr Verbrechen Verbrechen bleiben, auch wenn sie befohlen sind (obgleich je nach dem Maße von Gefahr, Erpressung und Terror mildernde Umstände gelten), so bleibt jede Handlung auch der moralischen Beurteilung unterstellt. Die Instanz ist das eigene Gewissen und die Kommunikation mit dem Freunde und dem Nächsten, dem liebenden, an meiner Seele interessierten Mitmenschen.«
Die vierte Form der Schuld, die Jaspers darlegt, ist metaphysisch, die bleibende »Scham eines ständig Gegenwärtigen«. Sie bezieht sich auf die mitmenschliche Verbundenheit der Menschen, die ihn mitverantwortlich werden läßt für Unrecht und Ungerechtigkeiten in der Welt, die ihm bewußt werden und die er doch geschehen läßt: »Wenn ich nicht tue, was ich kann, um sie zu verhindern, so bin ich mitschuldig. Wenn ich mein Leben nicht eingesetzt habe zur Verhinderung der Ermordung anderer, sondern dabeigestanden bin, fühle ich mich auf eine Weise schuldig, die juristisch, politisch und moralisch nicht angemessen begreiflich ist. Daß ich noch lebe, wenn solches geschehen ist, legt sich als untilbare Schuld auf mich. […] Instanz ist Gott allein.« 602
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Dies ist die Schuld derer, die nichts gesehen haben oder nichts haben sehen wollen, die Schuld der Deutschen, die, wie Jaspers, von den Schrecknissen erfuhren, aber nichts unternahmen, um die Bedrängten und Verfolgten zu retten, die Schuld derer, die zu Zeugen wurden – die Schuld jener Menschen also, die etwa die Folgen der »Nürnberger Gesetze«, die sogenannte »Reichskristallnacht« oder bloß das Schüren von Ressentiments bemerkten. Dies ist die Schuld derer, die sich vielleicht noch unschuldig fühlen, weil sie nicht aktiv an den Greueltaten beteiligt waren, die aber nichts taten, um die Verbrechen zu verhindern. Der Mensch ist schuldig, sagt Jaspers, und wenn auch kein Gericht dieser Welt ihn deswegen verurteilen kann – der Stimme des eigenen Gewissens kann er nicht ausweichen. Voraussetzung der politischen Schuld sind die »moralischen Verfehlungen«. Er nennt hier das »Begehen der zahllosen kleinen Handlungen der Lässigkeit« und die »bequeme Anpassung«, vor allem die »unmerkliche Förderung« und das »billige Rechtfertigen des Unrechten«, aber auch das Bewußtsein, man lebe in einem hermetischen »Gehäuse«, als sei die »Macht« in »falscher Verabsolutierung« der einzige, der »allein bestimmende Faktor der Ereignisse«: »Politische Schuld wird zur moralischen Schuld, wo durch die Macht der Sinn der Macht – die Verwirklichung des Rechtes, das Ethos und die Reinheit des eigenen Volkes – zerstört wird. Denn wo die Macht sich nicht selbst begrenzt, ist Gewalt und Terror und am Ende die Vernichtung von Dasein und Seele.« 603
Es ist stets der einzelne Mensch, der auch inmitten seiner Geschichte, mag er noch so sehr die Macht von »Gehäusen« spüren, die sein Leben zu ordnen, zu bestimmen und zu reglementieren scheinen, für das, was er tut, verantwortlich gemacht wird. Mag er sich noch so sehr in »Gehäusen« verbergen oder diese entschuldigend-rechtfertigend anführen, in dem Sinne, daß er nicht die Schuld an dem trägt und nur ausführend tätig gewesen sei, einem Befehl gehorcht hätte, etwas getan hat, was er scheinbar hat tun müssen. All dies dispensiert ihn nicht von der Verantwortung, die er für sein Handeln trägt, unter gar keinen Umständen. Moralische Schuld findet sich bei »lügenhaften Loyalitätserklärungen gegenüber drohenden Instanzen«, wozu alles zählt, was den »Schein des Dabeiseins« mit sich brachte. Auch darf die »soldatische 603
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Bewährung« nicht isoliert betrachtet werden, nämlich dann nicht, wenn diese in eins gesetzt wird mit der »Sache« des Kampfes. Konnte ein deutscher Soldat schuldig werden im Krieg? »[Die] Pflicht gegen das Vaterland geht viel tiefer als ein blinder Gehorsam gegen jeweilige Herrschaft reicht. Das Vaterland ist nicht mehr Vaterland, wenn seine Seele zerstört wird. Die Macht des Staates ist kein Ziel an sich, sondern vielmehr verderblich, wenn dieser Staat das deutsche Wesen vernichtet. Daher führte die Pflicht gegen das Vaterland keineswegs konsequent zum Gehorsam gegen Hitler und zu der Selbstverständlichkeit, auch als Hitlerstaat müsse Deutschland unbedingt den Krieg gewinnen. […] Pflicht gegen das Vaterland ist der Einsatz des ganzen Menschen für die höchsten Ansprüche, die zu uns sprechen aus den Besten unserer Ahnen und nicht aus den Idolen einer falschen Überlieferung.« 604
Weiter nennt Jaspers die partielle »Billigung« der totalitären Herrschaft, die innere Anpassung und das Sich-Abfinden mit dem neuen Regime als Kennzeichen moralischer Schuldigkeit und jede Form der »Selbsttäuschung« über die Absichten des Systems. 605 Wie verhält es sich aber mit der Schuld des Kollektivs? Gibt es eine Kollektivschuld? Jaspers sieht in der Frage der politischen Haftbarkeit das Ganze des Staates und somit alle Staatsbürger getroffen, weil sie diesem Staat angehören. Diese Haftung aber bleibt frei von moralischer oder metaphysischer Dimension. In aller Deutlichkeit widerspricht Jaspers der These der Kollektivschuld: »Es ist aber sinnwidrig, ein Volk als Ganzes eines Verbrechens zu beschuldigen. Verbrecher ist immer nur der Einzelne. Es ist auch sinnwidrig, ein Volk als Ganzes moralisch anzuklagen. Es gibt keinen Charakter eines Volkes derart, daß jeder einzelne der Volkszugehörigkeit diesen Charakter hätte. […] Moralisch kann immer nur der Einzelne, nie ein Kollektiv beurteilt werden.«
Kollektivistisches Denken ist für Jaspers ein Mittel und »Merkmal des Hasses«, zu jeder Zeit der Geschichte. Die »kategoriale Beurteilung« ist stets eine »falsche Substantialisierung«, mithin eine »Entwürdigung des Menschen«. 606 Nicht eine kollektive Schuld besteht, wohl aber eine kollektive Haftung. Die »Zerstörung« der Weimarer SF, 42 ff. SF, 45. 606 SF, 24 f. S. ebd.: »Die Weltmeinung aber, die einem Volke die Kollektivschuld gibt, ist eine Tatsache von derselben Art, wie die, daß in Jahrtausenden gedacht und gesagt wurde: die Juden sind schuld, daß Jesus gekreuzigt wurde. Wer sind die Juden? eine bestimmte Gruppe politisch und religiös eifernder Menschen, die unter den Juden damals 604 605
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Republik und mit ihr »jeder anständigen, wahrhaftigen deutschen Staatlichkeit« hatte Rückhalt in den »Verhaltensweisen der Mehrheit der deutschen Bevölkerung«. Für die Verbrechen, die im Namen des Gemeinwesens begangen wurden, haftet jeder Bürger dieses Staates im politischen Sinne. 607 Karl Jaspers fordert leidenschaftlich eine Umwandlung des Menschen. Jeder Bürger sollte sich zu neuer Sittlichkeit bekehren. Dies betrifft insbesondere jene, die, wenn sie aufrichtig zu sich selbst sind, 1933 an den Aufbau und Aufschwung mit dem Nationalsozialismus glaubten. Sie nahmen »damals geschehene Verbrechen« billigend in Kauf, da auch diese dem vermeintlich hehren Ziel dienten, aber nur ein erbärmliches Versagen illustrieren, das, verbunden mit der »Blindheit für das Unheil der anderen«, die »Phantasielosigkeit des Herzens« und die »innere Unbetroffenheit von dem gesehenen Unheil« zeigen. Die vielen Opportunisten haben eine große moralische Schuld auf sich geladen. Als 1938 die Synagogen brannten, lebten die meisten weiter, setzten ihre Tätigkeiten fort, pflegten »Geselligkeit« und »Vergnügungen«, ganz so, »als ob nichts geschehen sei«. 608 Mag Jaspers auch die von anderen zugeschriebene Kollektivschuld zurückweisen, so ist ihm doch, aus Sicht der Deutschen heraus, das Empfinden der Schuld und Verantwortung existentiell gegenwärtig, auf eine rational nicht faßbare Weise: »Wir müssen übernehmen die Schuld der Väter. Daß in den geistigen Bedingungen des deutschen Lebens die Möglichkeit gegeben war für ein solches Regime, dafür tragen wir alle eine Mitschuld. […] Ich fühle mich näher den Deutschen, die auch so fühlen und fühle mich ferner denen, deren Seele diesen Zusammenhang zu verleugnen scheint. Und diese Nähe bedeutet vor allem die gemeinsame, beschwingende Aufgabe, nicht deutsch zu sein, wie man nun einmal ist, sondern deutsch zu werden, wie man es noch nicht ist, aber sein soll, und wie man es hört aus dem Anruf unserer hohen Ahnen, nicht aus der Geschichte der nationalen Idole.«
Dieses nun ist von Jaspers als eigentümlich erfahrbare Kollektivschuld bezeichnet, die gleichzeitig die Verpflichtung zu einer inneren Umkehr des Menschen mit sich bringt. 609 Dies kann wiederum nur eine gewisse Macht hatten, welche in Kooperation mit der römischen Besatzung zur Hinrichtung Jesu führte.« 607 SF, 40. 608 SF, 47 ff. 609 SF, 53 f.
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Einzelnen gelingen. Denn die Umkehr ist Aufgabe eines jeden Menschen – und die mangelnde Umkehr des anderen niemals Entschuldigung oder gar Rechtfertigung für eigenes Versagen. Jaspers empfiehlt als Weg zur Umkehr die »Wiedergutmachung« und benennt den politischen Auftrag für Deutschland: »Wer von der Schuld, an der er teilhat, innerlich ergriffen ist, will helfen jedem, dem Unrecht geschah durch die Willkür eines rechtlosen Regimes.« 610
Nun zeichnet der Philosoph, der nach 1945 zu einem kritischen Beobachter des politischen Zeitgeschehens wurde, nicht ein politisches Programm für Deutschland. Er macht, und dies ist vielleicht ein bis heute beherzigenswerter, weiser und wahrhaft philosophischer, das heißt auch stets verantwortungsvoller Ratschlag für die geistige Situation dieser Zeit: »Demut und Maßhalten ist unser Teil.« 611 Wenn wir Karl Jaspers lesen, vergegenwärtigen wir uns eine ernste, deutlich mahnende Stimme. Philosophieren heißt für ihn nicht – sich einem »Gehäuse«, gleich welcher Art, bedingungslos unterzuordnen. Philosophieren heißt für ihn verantwortungsvoll leben und dieser Verantwortung auch gerecht zu werden. Wir bewegen uns philosophierend innerhalb eines offenen Horizontes. Beständig bleiben wir gebunden an die Grenzen menschlicher Erkenntnis. Des eigenen Nichtwissens sollen wir uns bewußt werden. Freilich dürfen wir sagen, daß das menschliche Wissen, auch in philosophischer Hinsicht, weit reicht. Wir entwickeln und erarbeiten Maßstäbe für ethisches Verhalten. Das ist nicht wenig. Daß die letzten Fragen, die den Menschen bedrängen, in seinem Innersten bewegen, redlicherweise ohne Antwort bleiben müssen, ist uns bewußt. Vielleicht ergeht es uns zuweilen ähnlich wie Hiob, daß wir leiden und Fragen stellen, uns gegen die »Gehäuse« aller Art empören. Wer sich mit Jaspers philosophierend in der Welt orientiert, wird niemals zu einem absoluten Wissen gelangen, sondern beständig nur an die Grenzen seiner selbst und des Menschen überhaupt erinnert. Aber er wird, wie Sokrates in der Auseinandersetzung mit den Sophisten, spüren und einsehen, daß auch jene, die alles oder das Absolute zu wissen glauben, noch weniger wissen als er selbst. Sie sind in einem »Gehäuse« befangen. Dieses vertreten sie mit absolutem Anspruch. Aus diesen Ansprüchen entstehen oft, so human sie sich geben mögen, Un610 611
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menschlichkeit, Greueltaten und Verbrechen. Dies ist Karl Jaspers’ Lehre aus dem zwanzigsten Jahrhundert. Auch im einundzwanzigsten Jahrhundert, auch zu unserer Zeit, ist es notwendig, daran zu erinnern. Mit Jaspers lernen wir: Philosophieren ist nicht müßiger Zeitvertreib. Philosophieren ist auch nicht allein wissenschaftliches Ergründen von diffizilen Problemen. Philosophieren bedeutet zuerst und zuletzt – verantwortlich denken, leben und handeln, in Gemeinschaft mit anderen, in der Spannung von Wissen und Nichtwissen. Karl Jaspers glaubte an die Möglichkeit des Menschen zum Guten. Sein ganzes Engagement, als Lehrender, als Philosoph und als wachsamer Beobachter des Zeitgeschehens, zeigt sich in dem unermüdlichen Bemühen, der Stimme der Vernunft in der Welt Gehör zu verschaffen und in einem mutigen Trotz die Hoffnung auf einen »geistig-sittlichen Prozeß im Werden der Völker« nicht aufzugeben. Jaspers hat der Spätschrift Kants »Zum ewigen Frieden« viel Aufmerksamkeit geschenkt – und diese zum Anlaß genommen, für den »Geist einer vernünftig werdenden Öffentlichkeit« wortmächtig zu werben und selbst einzustehen. Nicht »übermenschliche Führer« sind entscheidend. Die verpflichtende, bindende Forderung nach Verantwortung für das eigene Tun richtet sich als »unerbittlicher Anspruch an jeden Menschen als Menschen«. Vor diese Pflicht ist jeder gestellt. Wer aufrichtig ist, darf ihr nicht ausweichen. Jaspers bemerkt: »Den hohen Anspruch der Philosophie verkleidet Kant in ein nicht auszusprechendes Prinzip des ewigen Friedens. […] Nur die Philosophie aber nur als Macht in allen Menschen als Vernunftwesen, kann den ewigen Frieden bewirken.«
Jaspers fordert mit Kant die Herrschaft der Vernunft. Zugleich ist er sich bewußt, daß dies nur möglich ist, wenn die Vernunft in den »Völkern«, in jedem einzelnen Menschen fest gegründet ist. Nur dann wird sie Bestand haben, nur dann wird der Frieden, von dem die Philosophen und mit ihnen Menschen zu allen Zeiten der Geschichte geträumt haben, wirklich werden: »Kant ist der Philosoph, der gleichsam auf die Straße geht, um in der Welt die Wahrheit zu erwecken. Er steht nicht in der Reihe jener Großen, die in dem Bewußtsein der Überlegenheit ihres Wesens und der Wahrheit ihres Denkens sich auf sich selbst und ihre engsten Kreise zurückziehen, die Menge aber verachten, sich ihr versagen, sich von aller Verantwortung befreien durch
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ihr in den leeren Raum gesprochenes oder auf die ihnen nächsten beschränktes Wort. Kant möchte ›den Fußsteig‹, den er philosophisch bahnt, ›zur Heeresstraße‹ werden lassen.« 612
Wenn Jaspers hier über Kant spricht, so spricht er freilich zugleich über sich selbst. Auch er hat den Weg in die Öffentlichkeit gesucht, appellierte, forderte und mahnte, jeder Mensch solle sich an der Vernunft ausrichten. Ein mutiges, aufrichtiges, aufrichtendes und aufrechtes Philosophieren vermag auch wider die »Verwirrung des Existentiellen«, wider die »Verführung durch beliebige Subjektivitäten«, wider die »vermeintlich befreienden Fanatismen« und wider die »chaotische Modernität« einer von »glänzenden Effekten« begleiteten Postmoderne standzuhalten. Diesen Erscheinungsformen wie auch allen Totalitarismen, totalitären Versuchungen und einer letzthin substanzlosen Politik, in der irisierend glänzende Beliebigkeit herrschend geworden ist, gilt es zu trotzen. Auch heute gilt es nachdrücklich zu mahnen, die Würde des Menschen zu achten. 613 Was lehrt uns Karl Jaspers heute? Worauf würde er aufmerksam machen? Wir können darüber nur spekulieren. Die Philosophen ermunterte er gewiß, verständlich zu sprechen und zu schreiben. Wie zu seiner Zeit hätte er versucht, jeden Menschen, den er erreichen konnte, zu einem vernünftigen und anständigen Leben zu bewegen, ihn mithin darin bestärkt, das Wagnis der Philosophie in einer unphilosophischen Zeit einzugehen. Auch Jaspers hätte sich mehr einsichtige Leser und Hörer gewünscht, freilich nicht um seiner selbst willen, vielmehr weil er leidenschaftlich überzeugt war, daß das Philosophieren jeden Menschen bessern und bereichern kann – und ihm zugleich bewußt macht, sein endliches, unendlich kurzes Leben auf dieser Welt bestmöglich zu gestalten: »Der Sinn des Philosophierens ist Gegenwärtigkeit. Wir haben nur eine Wirklichkeit, hier und jetzt. Was wir durch unser Ausweichen versäumen, kehrt nie wieder, aber wenn wir uns vergeuden, auch dann verlieren wir das Sein. Jeder Tag ist kostbar: ein Augenblick kann alles sein.« 614
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Anhang
a)
Siglenverzeichnis
Werke von Karl Jaspers werden mit den nachfolgenden Abkürzungen zitiert: APsy AP Chr Einf Ent EP GP GSZ KSP Niet NC PI P II P III PA PG PGO PW PsW Sche SchW SF VE W WF
= = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = =
Allgemeine Psychopathologie Aneignung und Polemik Nietzsche und das Christentum Einführung in die Philosophie Die Frage der Entmythologisierung Existenzphilosophie Die großen Philosophen Die geistige Situation der Zeit Kleine Schule philosophischen Denkens Nietzsche Nicolaus Cusanus Philosophie I: Philosophische Weltorientierung Philosophie II: Existenzerhellung Philosophie III: Metaphysik Philosophische Autobiographie Der philosophische Glaube Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung Philosophie und Welt Psychologie der Weltanschauungen Schelling Schicksal und Wille Die Schuldfrage Vernunft und Existenz Von der Wahrheit Das Wagnis der Freiheit
Werke von Immanuel Kant und Friedrich Nietzsche werden mit den in der Sekundärliteratur üblichen Abkürzungen zitiert. KrV KpV MA AC GM M Za
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= = = = = = =
Kritik der reinen Vernunft Kritik der praktischen Vernunft Menschliches, Allzumenschliches Der Anti-Christ Zur Genealogie der Moral Morgenröthe Also sprach Zarathustra
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Literaturverzeichnis
b) Literaturverzeichnis A. Primärliteratur Jaspers, Karl: – Allgemeine Psychopathologie (1913), Berlin-Göttingen-Heidelberg 6. Aufl. 1953 – Aneignung und Polemik. Gesammelte Reden und Aufsätze zur Geschichte der Philosophie, München 1968 – Antwort. Zur Kritik meiner Schrift »Wohin treibt die Bundesrepublik?«, München 1967 – Das Wagnis der Freiheit. Gesammelte Aufsätze zur Philosophie, hrsg. v. Karl Saner, München 1996 – Der philosophische Glaube (1948), München 1962 – Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung (1962), München 1962 – Die Atombombe und die Zukunft des Menschen. Politisches Bewußtsein in unserer Zeit (1958), München 7. Aufl. 1983 – Die Frage der Entmythologisierung, mit Rudolf Bultmann, München 1954 – Die geistige Situation der Zeit (1932), Berlin 5. Aufl. 1955 – Die Schuldfrage (1946), Neuausgabe München 1987 – Einführung in die Philosophie. Zwölf Radiovorträge (1953). Unveränd. Neuausgabe, München 1971 – Existenzphilosophie (1937), 2. Aufl., vermehrt um ein Nachwort, Berlin 1956 – Kleine Schule des philosophischen Denkens (1965), München 11. Aufl. 1997 – Nicolaus Cusanus, München 1964 – Nietzsche und das Christentum (1938), Hameln o. J. – Philosophie I: Philosophische Weltorientierung (1931), München 1994 – Philosophie II: Existenzerhellung (1931), München 1994 – Philosophie III: Metaphysik (1931), München 1994 – Philosophie und Welt. Reden und Aufsätze, München 1958 – Philosophische Autobiographie (1953), München 8. Aufl. 1987 – Psychologie der Weltanschauungen (1919), München 2. Aufl. 1994 – Rechenschaft und Ausblick. Reden und Aufsätze, München 1951 – Schelling. Größe und Verhängnis, München 1955 – Schicksal und Wille. Autobiographische Schriften, München 1967 – Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, München 1949 – Von der Wahrheit. Philosophische Logik. Erster Band (1947), München 4. Aufl. 1991 – Wohin treibt die Bundesrepublik? Tatsachen – Gefahren – Chancen (1966), München 10. Aufl. 1988
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Anhang
B. Sekundärliteratur Albert, Hans / Topitsch, Ernst (Hrsg.): Werturteilsstreit, Darmstadt 1971 Albrecht, Christoph: Wer verdient hier Respekt? Wie unsere technische Elite kulturellen Selbstmord begeht. In: F.A.Z. vom 8. 10. 2002 Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1951), München 4. Aufl. 1995 Aster, Ernst von: Geschichte der Philosophie. 18. Aufl., durchges. u. erg. v. Ekkehard Martens. Stuttgart 1998 Die Bibel. Die ganze Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments. Nach der deutschen Übersetzung D. Martin Luthers mit den Kupferstichen von Matthäus Merian. Köln 1983 Bollnow, Otto Friedrich: Existenzerhellung und philosophische Anthropologie. Versuch einer Auseinandersetzung mit Karl Jaspers. In: Blätter detuscher Philosophie 12/1938–39, 133–174 Braach, Regina: Eric Voegelins politische Anthropologie, Würzburg 2003 Buber, Martin: Werke. Band 2: Schriften zur Bibel, München 1964 Burkard, Franz Peter: Karl Jaspers. Einführung in sein Denken, Würzburg 1985 Drescher, Wilhelmine: Erinnerungen an Karl Jaspers, Meisenheim am Glan 1975 Fromm, Erich: Die Furcht vor der Freiheit (1941). Aus dem Englischen von Liselotte Mickel und Ernst Mickel, München 8. Aufl. 2000 Glockner, Hermann: Heidelberger Bilderbuch, Bonn 1969 Grau, Gerd-Günther: Ideologie und Wille zur Macht. Zeitgemäße Betrachtungen über Nietzsche, Berlin/New York 1984 Ders.: Kritik des absoluten Anspruchs. Nietzsche – Kierkegaard – Kant, Hannover 1991 Habermas, Jürgen: Philosophisch-politische Profile, Frankfurt/Main 1971 Heinemann, Fritz: Existenzphilosophie – lebendig oder tot?, Berlin 4. Aufl. 1971 Hersch, Jeanne / Lochman, Jan Milic / Wiehl, Reiner (Hrsg.): Karl Jaspers. Philosoph, Arzt, politischer Denker. Symposium zum 100. Geburtstag in Basel und Heidelberg, München 1986 Hofmann, Gunter: Politik und Ethos bei Karl Jaspers Diss. Heidelberg 1969 Kant, Immanuel: Werke in sechs Bänden. Hrsg. v. Wilhelm Weischedel. Darmstadt 1983 Käsler, Dirk: Max Weber. Eine Einführung in Leben, Werk und Wirkung, Frankfurt/Main; New York 1995 Leonhard, Joachim-Felix (Hrsg.): Karl Jaspers in seiner Heidelberger Zeit, Heidelberg 1983 Löwith, Karl: Sämtliche Schriften. Band 6: Nietzsche, Stuttgart 1987 Mann, Golo: Wissen und Trauer. Historische Porträts und Skizzen, Leipzig 1991 Newman, Karl J.: Wer treibt die Bundesrepublik wohin?, Köln 1968 Nietzsche, Friedrich: Kritische Studienausgabe. Hrsg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München 1988 Örnek, Yusuf: Karl Jaspers. Philosophie der Freiheit, München 1986
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Thorsten Paprotny https://doi.org/10.5771/9783495997185 .
Literaturverzeichnis Paprotny, Thorsten: Politik als Pflicht? Zur politischen Philosophie von Max Weber und Karl Jaspers, Frankfurt/Main 1996 Pieper, Heidrun: Selbstsein und Politik. Jaspers’ Entwicklung vom esoterischen zum politischen Denker, Meisenheim am Glan 1973 Piper, Klaus (Hrsg.): Karl Jaspers – Werk und Wirkung, München 1963 Piper / Saner, Hans (Hrsg.): Erinnerungen an Karl Jaspers, München 1974 Popper, Karl R.: Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf. Deutsch v. Hermann Vetter, Hamburg 1993 Salamum, Kurt: Karl Jaspers, München 1984 Saner, Hans: Karl Jaspers, Reinbek bei Hamburg 1970 Ders. (Hrsg.): Karl Jaspers in der Diskussion, München 1973 Stegmüller, Wolfgang: Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, Stuttgart 1965 Vaihinger, Hans: Die Philosophie des Als Ob. System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Mesnchheit auf Grund eines idealistischen Positivismus. M. e. Anhang über Kant u. Nietzsche, Berlin 1911 Ulfig, Alexander: Lexikon der philosophischen Begriffe, Eltville am Rhein 1993 Wisser, Richard: Karl Jaspers. Philosophie in der Bewährung. Vorträge und Aufsätze, Würzburg 1995
Eine umfangreiche Bibliographie zu Themen der Jaspersschen Philosophie, die nicht Gegenstand dieser Arbeit sind, findet sich im Anhang von H. Saners Monographie zu Leben und Werk von Karl Jaspers. Quellennachweis des eingangs zitierten Mottos: Heinrich Heines Verse entstammen den »Neuen Gedichten«, entnommen der vierbändigen Werkausgabe, Band I: Gedichte, 6., revid. u. überarb. Aufl., München 1992, 216. Die Verse von Günter Kunert finden sich in dem Gedicht »Sprüche«, in: Gedichte, Stuttgart 1987, 14.
A
Das Wagnis der Philosophie https://doi.org/10.5771/9783495997185 .
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Dank
»Empfehlung Sich nicht zu ducken: Das Schiff liefe nicht vorwärts, Stünde nicht aufrecht im Wind Das Segel.« Günter Kunert
Dem Werk von Karl Jaspers habe ich viel zu verdanken. Durch seine Schrift »Einführung in die Philosophie« gelangte ich auf den Weg zur Philosophie. Mir ist sein vielgestaltiges Œuvre wichtig geblieben. Gelingt es meiner kleinen Abhandlung, der Jaspersschen Philosophie wieder verstärkt Gehör zu verschaffen, so hat diese Schrift ihren Zweck erfüllt. Mein verehrter Doktorvater und akademischer Lehrer, Prof. Dr. Gerd-Günther Grau, studierte in jungen Jahren bei Jaspers in Heidelberg. Er hat meine Studie in philosophischer Verbundenheit begleitet. Für vielfältige, unschätzbar wertvolle Unterstützung bin ich ihm zu besonderem Dank verpflichtet. Wichtige Hinweise verdanke ich Prof. Dr. Susanne Möbuß, Dr. Rainer Miehe und Prof. Dr. Roland Simon-Schaefer. Für vielerlei Hilfe, ermunternden Zuspruch und aufmerksames Lesen danke ich von Herzen Frauke M. Hoß, Annika Krüger M.A. und Tanja A. Wilken.
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ALBER PHILOSOPHIE
Thorsten Paprotny https://doi.org/10.5771/9783495997185 .