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German Pages 352 Year 2023
Seraina Plotke, Robert Schöller, Lysander Büchli (Hg.) Das ›Nibelungische‹ und der Nationalsozialismus
Populäres Mittelalter | Band 3
Editorial Unsere Vorstellungen und Bilder vom Mittelalter sind nicht einheitlich; sie werden in unterschiedlichen Diskursen für jeweils eigene Rezeptionszusammenhänge geschaffen. Den über institutionalisierte Kanäle (Universitäten, Akademien, Fachverlage, Museen) verbreiteten wissenschaftlichen Einsichten über das Mittelalter steht ein weites und heterogenes Feld populärer Diskurse und Praktiken (historische Romane, Fantasy, Film, Serien, Graphic Novels, populäre Zeitschriften, Rollenspiele/LARP, Mittelalterfeste etc.) gegenüber, deren Publikumswirkung und gesellschaftliche Beachtung tatsächlich um ein Vielfaches höher ist. Es ist Zeit, dass die eminente Bedeutung von populären Mittelalterdiskursen auch von wissenschaftlicher Seite stärker wahrgenommen wird. Dafür gibt es mindestens zwei Gründe: (1) Die Anfälligkeit populärer Diskurse für ideologische Indienstnahmen: Im Wechselspiel der Historisierung von fiktionalen Figuren und der Fiktionalisierung von historischen Persönlichkeiten und Ereignissen können über populäre Diskursfelder politische Botschaften mit großer Streukraft und Subtilität transportiert werden. (2) Die Rolle populärer Diskurse als Medium kultureller Selbstverständigung: Aneignung und Transformation mittelalterlicher Mythen, Figuren und Artefakte (›Mittelalterlichkeit‹) werden in ihrer Konstruktion alternativer Welt- und Identitätsentwürfe bedeutsam, weil sie kritische und ästhetische Perspektivierungen der Gegenwart bieten. Die Erschließung von populären Mittelalterdiskursen verspricht nicht nur die Partizipation der Mediävistik an aktuellen zeitgeschichtlichen Fragestellungen, sondern auch eine enge Kooperation mit anderen Disziplinen. Die Reihe Populäres Mittelalter bietet der wissenschaftlichen Beschäftigung mit den populären Mittelalterbildern aller Epochen eine feste Heimat. Die Reihe wird herausgegeben von Robert Schöller und Hans Rudolf Velten (geschäftsführend), Michael Dallapiazza, Judith Klinger und Matthias Däumer.
Seraina Plotke (Prof. Dr. phil.) (†) war Professorin für Germanistische Mediävistik an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Robert Schöller (PD Dr. phil.) ist Dozent für Germanistische Mediävistik an den Universitäten Fribourg und Basel. Lysander Büchli (M.A.) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Dozent für Germanistische Mediävistik an den Universitäten Basel und Bayreuth.
Seraina Plotke, Robert Schöller, Lysander Büchli (Hg.)
Das ›Nibelungische‹ und der Nationalsozialismus Populäre und wissenschaftliche Diskurse im ›Dritten Reich‹
Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung, der Freiwilligen Akademischen Gesellschaft Basel und des Deutschen Seminars der Universität Basel.
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Inhalt
Einleitung
Lysander Büchli & Robert Schöller | 7 Versuch über das ›Nibelungische‹ Zur Nibelungenrezeption in der Zeit des Nationalsozialismus
Robert Schöller | 17 Barbarisierende Elemente im ›Nibelungenlied‹ und ihre Rezeption in der NS-Germanistik
Ulrich Barton | 77 Prophetie durch Rückgriff Frühnationalsozialistische Nibelungen-Rezeption bei Dietrich Eckart
Elisabeth Huwer & Andrea Schindler | 107 Brünhild, Faustina, Helvetia Ernst Zahns Nibelungen-Adaption ›Die tausendjährige Straße‹ im Kontext der schweizerischen ›Frontenbewegung‹
Sabine Haupt | 129 ›Nibelungenlied‹ und Heldensagen Die Popularisierung des Germanischen durch Germanisten zu Beginn des 20. Jahrhunderts
Heike Sahm | 151 ›Nibelungisierung‹ der altnordisch-isländischen Heldenlieder? Eine Analyse des ersten Bands der Sammlung ›Thule‹
Lukas Rösli | 171
Der ›germanisch-deutsche‹ (Wer-)Wolf Zur Genese eines populären Stereotyps
Niels Penke | 197 Siegfried und das Motiv des ›Volkskaisers‹ Republikanische und völkische Varianten eines deutschen Erlösermythos
Volker Gallé | 217 Die Nibelungen und der ›Generalplan Ost‹ Der Kolonialaspekt in der deutschen Nationalgeschichtsschreibung
Frank Helzel | 241 Der Kampf der Nibelungen Das national(sozial)istische Erbe und aktuelle Wiedererzählungen des ›Nibelungenliedes‹
Nadine Hufnagel | 273 Diffuse Düsternis Mittelalterlichkeit in der Insel-Ausgabe der ›Deutschen Heldensagen‹ mit Illustrationen von Burkhard Neie
Anna-Lena Heckel & Julika Moos | 303 Index | 335
Einleitung Lysander Büchli & Robert Schöller
August von Kotzebue widmete die neunte Nummer seiner ›Politischen Flugblätter‹ dem ›Nibelungenlied‹.1 Den Anlass bildete die Forderung von Friedrich Schlegel und anderen namhaften Gelehrten der Zeit, den durch die Napoleonischen Kriege deutschnational aufgeladenen mittelalterlichen Text in den Schulunterricht aufzunehmen. Dieses Ansinnen forderte Kotzebues entschiedenen Widerspruch heraus. Für Kotzebue bedeutete ein solches Unterfangen nichts anderes, als »der lieben Schuljugend Napoleons Grundsätze [zu] predigen«2. Denn wenn die Jugend nach dem Vorbild Siegfrieds erzogen werde, dann lehre man sie, ihre Ansprüche mit Gewalt durchzusetzen. Wie Siegfried werde sie in der Fremde ihre Schwerter schwingen und fordern: »es mag nun Jemand lieb oder leid seyn, ich will von Euch erzwingen, was ihr haben mögt.«3 Im ›Nibelungenlied‹ herrsche »überall die gemeinste, gröbste Sinnlichkeit. Und solch ein Buch sollte in den Schulen eingeführt werden – Pfui!«4 Kotzebue ist sich bewusst, mit einer solchen Ansicht »gegen den Strom«5 zu schwimmen. Er werde »diesen nicht aufhalten, aber untergehen [werde er] auch nicht«.6 Der Autor wurde am 23. März 1819 von einem radikalisierten deutschnationalen Studenten ermordet.
1
August von Kotzebue: Das Nibelungenlied, in: ders.: Politische Flugblätter, Bd. 1,
2
Ebd., S. 145.
3
Ebd., S. 147.
4
Ebd., S. 148.
5
Ebd., S. 149.
6
Ebd.
Königsberg 1814, S. 145–159.
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Doch mit seiner Befürchtung, dass das ›Nibelungenlied‹ einer Militarisierung der Jugend dienstbar gemacht werden könnte, sollte er Recht behalten.7 Der politischen Instrumentalisierung des ›Nibelungenlieds‹ im Nationalsozialismus ist dieser Band gewidmet. Er versammelt die Beiträge zur internationalen Tagung ›Transformationen des ›Nibelungischen‹. Populäre und wissenschaftliche Diskurse im Nationalsozialismus‹, die vom 13. bis 15. Dezember 2018 an der Universität Basel veranstaltet wurde.8 Die wissenschaftliche Aufarbeitung der Nibelungenrezeption bildet einen traditionellen Schwerpunkt der mediävistischen Nachkriegsgermanistik, die sich gegen die allzu offensichtlichen Irrwege ihrer Disziplin in der Zeit des Nationalsozialismus abzugrenzen bemühte. Aus diesen kontinuierlichen Bemühungen resultierte eine Vielzahl von Einzelstudien, die ein festes Fundament für weiterführende Forschungen unter modifizierten Fragestellungen bilden. Nimmt man die über eineinhalb Jahrhunderte währende Wirkmächtigkeit des Nibelungendiskurses als Maßstab, dann kann die Rezeption des ›Nibelungenlieds‹ nachgerade als Paradigma auch für einen politisch orientierten, internationalen ›Medievalism‹ dienen,9 der sich um die Aufarbeitung von Themenbereichen wie ›Race‹10, ›Memory‹11, ›Identity‹12 und die ›Ideology of
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Von dem gehörigen Skandal, den Kotzebues Stellungnahme gegen die Aufnahme des ›Nibelungenlieds‹ in den Schulunterricht in deutschnationalen Kreisen verursachte, zeugt noch die rund 100 Jahre später erschienene Studie von Josef Körner: Nibelungenforschungen der deutschen Romantik, Leipzig 1911, S. 174–176, in der mit bemerkenswerter Gehässigkeit gegen Kotzebue polemisiert wird. Zu Kotzebues Nibelungenkritik siehe auch den Beitrag von Volker Gallé in diesem Band.
8
Der Buchtitel wurde auf Wunsch des Verlags geringfügig verändert. Die Beiträge von Frank Helzel sowie von Anna-Lena Heckel und Julika Moos wurden nachträglich aufgenommen.
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Vgl. den von Karl Fugelso betreuten Schwerpunkt ›Politics and Medievalism‹, Cambridge 2020–2022 (Studies in Medievalism 29–31); Daniel Wollenberg: Medieval imagery in today’s politics, Leeds 2018; Andrew B.R. Elliott: Medievalism, politics and mass media. Appropriating the Middle Ages in the twenty-first century, Cambridge 2017 (Medievalism 10); zur Programmatik des ›Medievalism‹ vgl. Richard Utz: Medievalism. A manifesto, Kalamazoo, Bradford 2017; Defining Medievalism(s), hg. v. Karl Fugelso, Cambridge 2009 (Studies in Medievalism 17).
10 Zu vormodernen Konstruktionen von ›Rasse‹ vgl. Geraldine Heng: The invention of race in the European Middle Ages, New York 2019. Vgl. weiters: postmedieval. a journal of medieval cultural studies 11/4 (2020), mit dem thematischen Schwerpunkt ›Race, Revulsion, and Revolution‹.
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war‹13 bemüht. Nicht nur das Mittelalter als imaginierte Epoche wurde von den nachfolgenden Generationen stets aufs Neue ›erfunden‹14 – auch und gerade das ›Nibelungenlied‹ musste sich Lesarten gefallen lassen, die mit dem überlieferten Text herzlich wenig zu tun haben. Diese ›erfundenen Nibelungenlieder‹ bieten aufgrund ihrer Fetischisierungen von Körper und Gewalt anschauliche und prototypische Lehrstücke für eine moderne Faschismusforschung in mediävistischer Perspektive. In einer zum Neo-Nationalismus tendierenden Gegenwart, in der selbsterhöhende und -ermächtigende Ideologien wie jene einer ›White Supremacy‹ erneut an Attraktivität gewinnen, vermag eine Mediävistik, die die aktuellen Transformationen ihres Gegenstands im Blick hat, einen substantiellen Beitrag zu leisten.15 Allerdings werden diese Versuche einer Gegensteuerung stets in dem Bewusstsein des begrenzten Wirkungsradius erfolgen, über den der universitäre Diskurs verfügt. Das unterscheidet ihn von den diversen und divergenten Diskursen des ›Populären‹, die ein weitaus größeres Publikum erreichen.16 In wissenschaftlichen Studien wurde etwa wiederholt auf die Herkunft und Fragwür-
11 Vgl. Memory and Medievalism, hg. v. Karl Fugelso, Cambridge 2006 (Studies in Medievalism 15). Zum Beitrag der Mediävistik zur kollektiven Erinnerung vgl. auch die Einleitung von Sonja Kerth in: Wider die Geschichtsvergessenheit. Inszenierte Geschichte – historische Differenz – kritisches Bewusstsein, hg. v. Gisela Febel [u.a.], Bielefeld 2022 (Zeit – Sinn – Kultur 9), S. 7–18. 12 Vgl. Alte Helden – Neue Zeiten. Die Formierung europäischer Identitäten im Spiegel der Rezeption des Mittelalters, hg. v. Andrea Schindler, Würzburg 2017 (Rezeptionskulturen in Literatur- und Mediengeschichte 7); Susan Aronstein u. Laurie Finke: Cry George. Grounding English National Identity in the Age of Brexit, in: Politics and Medievalism (Studies) II, hg. v. Karl Fugelso, Cambridge 2021 (Studies in Medievalism 30), S. 29–52. 13 Vgl. Andrew Lynch: Medievalism and the ideology of war, in: The Cambridge Companion to Medievalism, hg. v. Louise D’Arcens, New York 2016, S. 135–150. 14 Vgl. Norman F. Cantor: Inventing the Middle Ages. The lives, works and ideas of the great medievalists of the twentieth century, New York 1991. 15 Vgl. etwa zur ›Verritterlichung‹ der Nationalsozialisten den Artikel von Martin Shichtman u. Laurie A. Finke: Exegetical history. Nazis at the round table, in: postmedieval. a journal of medieval cultural studies 5/3 (2014), S. 278–294. 16 Das ›Populäre‹ wird hier unter dem quantitativen Aspekt der Breitenwirkung verwendet. Zu den verschiedenen Bestimmungen des ›Populären‹ vgl. Niels Penke u. Matthias Schaffrick: Populäre Kulturen. Eine Einführung, Hamburg 2018, S. 9–22.
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digkeit der Redensart vom ›finsteren Mittelalter‹ hingewiesen.17 Im alltäglichen Sprachgebrauch und insbesondere auch im politischen Diskurs wird weiterhin gerne auf sie zurückgegriffen, um Polaritäten von ›richtigen‹ und ›falschen‹ Ideologien und Verhaltensmustern zu kennzeichnen. Die Macht des ›Populären‹ lässt sich auch anhand des Wirkens von Persönlichkeiten wie dem deutschen Universitätsprofessor, Schriftsteller und – in der ursprünglichen Wortbedeutung – ›Germanisten‹ Felix Dahn demonstrieren: Dessen wissenschaftlichen, der germanischen Geschichte gewidmeten Arbeiten sind weitgehend unbekannt.18 Der erstmals 1876 erschienene historische Roman ›Ein Kampf um Rom‹ hingegen beeinflusste das Germanenbild von Generationen und verankerte entsprechende deutschnationale Stereotypen in den Köpfen seiner Leserinnen und Leser.19 Der Fall Felix Dahn verdeutlicht zudem, dass sich im weiten Reich des Populären stets auch das Schattenreich des politisch wirksamen Populismus ansiedelt.20 Ein wesentliches Charakteristikum populärer Diskurse über das Mittelalter ist deren Diffusität. Populäre Diskurse bekümmern sich wenig um einen präzisen Umgang mit dem gesicherten Wissen über mittelalterliche Themen. Es dominiert das vage und unpräzise Sprechen über ›das Mittelalter‹, wodurch zahlreiche Nischen entstehen, in die politische Botschaften eingelagert werden können. Der ›Rückfall ins Mittelalter‹, den so mancher nationalsozialistische Akteur wie etwa der ›gottbegnadete‹ Schriftsteller Wilhelm Schäfer feierte,21 wurde auch möglich
17 An dieser Stelle sei stellvertretend für viele nachfolgende Studien nur hingewiesen auf die Pionierarbeit von Lucie Varga: Das Schlagwort vom ›Finsteren Mittelalter‹, Baden u.a. 1932. 18 Dahn habilitierte sich mit ›Studien zur Geschichte der germanischen Gottes-Urtheile‹ (München 1857). Seine Darstellung über ›Die Könige der Germanen – Das Wesen des ältesten Königsthums der germanischen Stämme und seine Geschichte bis auf die Feudalzeit‹ umfasste zwölf Bände (München u.a. 1861–1909). Über das Wirken Dahns im Dienste einer deutschnationalen Idee vgl. u.a. Hans Rudolf Wahl: Die Religion des deutschen Nationalismus. Eine mentalitätsgeschichtliche Studie zur Literatur des Kaiserreichs: Felix Dahn, Ernst von Wildenbruch, Walter Flex, Heidelberg 2002 (zu Dahn: S. 36–148). 19 Stefan Neuhaus: ›Das Höchste ist das Volk, das Vaterland!‹ Felix Dahns ›Ein Kampf um Rom‹ (1876), in: Stefan Neuhaus: Literatur und nationale Einheit in Deutschland, Tübingen [u.a.] 2002, S. 230–243. 20 Vgl. Penke / Schaffrick (Anm. 16), S. 160–171. 21 Wilhelm Schäfer: Der deutsche Rückfall ins Mittelalter, München 1934. Schäfer wurde 1944 in die ›Gottbegnadeten-Liste‹ aufgenommen, vgl. Ernst Klee: Das Kul-
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gemacht durch das mediävalisierende esoterisch-okkulte Schrifttum, das in ›alldeutschen‹ Kreisen kursierte. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten führte schließlich in manchen Bereichen, insbesondere in jenem der ›Germanenforschung‹, zu einer Überschneidung von populären und wissenschaftlichen Diskursen, die sich in der Gründung von staats- und wissenschaftsnahen Institutionen wie der ›Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe‹ oder des ›Amts Rosenberg‹ manifestierte. Und auch die Universitäten selbst öffneten sich bekanntlich in diesem Umfeld verstärkt für Ideen, die der wissenschaftlichen Evidenz entbehren.22 Die unterschiedlichen Ausprägungen und das Wechselspiel wissenschaftlicher und populärer Diskurse über die Nibelungen stehen im Zentrum dieses Bandes, dessen Ausgangspunkt Jacob Grimms Begriff des ›Nibelungischen‹ bildet. Grimm prägte ihn im Jahr 1814 – dem Erscheinungsjahr von Kotzebues ›Politischen Flugblättern‹. Die dem Begriff zugeordnete Definition markiert einen bestimmten Punkt in der Zeitachse der Nibelungenrezeption, zu dem die deutschnationale Inbesitznahme eines literarischen Textes bereits deutliche Konturen angenommen hatte. Vergleichbar dem ›Faustischen‹ eignet auch dem ›Nibelungischen‹ das Moment der ›Wesenhaftigkeit‹ und somit eine Abstrahierung, die aus dem konkreten literarischen Text ein allgemeines Prinzip ablöst – und damit ein Einfallstor (neben vielen anderen) für die politisch-ideologische Instrumentalisierung des Textes im folgenden Jahrhundert schafft. Grimm, der bei seiner Begriffsprägung die ›altdeutsche‹ Zeit der Epengenese vor Augen hatte, sprach dem ›Nibelungischen‹ ein gebärendes Wesen zu. Er hätte es sich wohl nicht vorstellen können, welche Kreaturen 70 Jahre nach seinem Tod dem nibelungischen Schoß entweichen sollten. Der Transformation eines mittelalterlichen Textes zum propagandistisch verwertbaren Zeichenvorrat ist der eröffnende Beitrag von ROBERT SCHÖLLER gewidmet. In ihm werden zahlreiche Quellen – unter anderem Zeitungsartikel aus dem angelsächsischen Raum – aufgearbeitet, die der Forschung bislang weitgehend unbekannt waren. Aus den Quellen wird ersichtlich, dass die nibelungische Selbstinszenierung des nationalsozialistischen Deutschlands bei den internationalen Beobachtern und Beobachterinnen durchaus verfing. Die daraus resultie-
turlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, Frankfurt a.M. 2007, S. 513. 22 Zur Universitätsgermanistik in der Zeit des Nationalsozialismus siehe auch die Beiträge von Ulrich Barton, Heike Sahm und Lukas Rösli in diesem Band.
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rende Reziprozität des Nibelungendiskurses trug zur Dynamisierung des Kriegsgeschehens bei. Ebenfalls grundsätzlicher Natur sind die Überlegungen ULRICH BARTONs, der in seinem Beitrag ›Barbarisierende Elemente im ›Nibelungenlied‹ und ihre Rezeption in der NS-Germanistik‹ auf die wissenschaftliche Aufarbeitung des ›Nibelungenlieds‹ in der deutschen Germanistik zur Zeit des Nationalsozialismus abzielt. Dabei geraten insbesondere diejenigen Episoden und Motive des Epos in den Blick, die eine anti-zivilisatorische und gewaltverherrlichende Tendenz aufweisen und insofern faschistischen Ideologien entgegenkommen konnten. In der wissenschaftlichen Rezeption zeigte sich, dass die NS-Germanistik die ideologischen Entsprechungen entweder gar nicht bemerkte oder aber durch sie zu Interpretationen geführt wurde, die mit denen der neueren Forschung durchaus übereinstimmen. Erstaunlicherweise zeigt sich darüber hinaus, dass die NS-Germanistik selbst mit den barbarisierenden Tendenzen des Epos nicht so gut zurechtkam, wie man annehmen könnte. Im Zentrum des Beitrags von ELISABETH HUWER und ANDREA SCHINDLER mit dem Titel ›Prophetie durch Rückgriff. Frühnationalsozialistische Nibelungen-Rezeption bei Dietrich Eckart‹ steht ein weitgehend unbeachtetes Gedicht des für die Bewegung des Nationalsozialismus bedeutsamen Publizisten und Schriftstellers Dietrich Eckart – Adolf Hitler widmete diesem den ersten Band von ›Mein Kampf‹. Eckarts Gedicht ›Geduld‹ beschwört, unter Verwendung von mittelhochdeutschen Originalzitaten, die tausendjährige Wirkung des gewissermaßen im deutschen Kollektiv verfassten ›Nibelungenlieds‹, dessen Wucht sich in naher Zukunft erst richtig entfalten werde. Das Schwert richtet sich bereits gegen ›das Heunenvolk‹ ‒ eine Prophezeiung, die sich im desaströsen Russlandfeldzug erfüllen wird, wenn auch der Verlauf schwerlich den Vorstellungen des bereits 1923 verstorbenen Autors entsprochen hätte. Der in der Forschung bislang kaum beachteten schweizerischen Nibelungenrezeption der Zeit ist SABINE HAUPTs Beitrag ›Brünhild, Faustina, Helvetia. Ernst Zahns Nibelungen-Adaption ›Die tausendjährige Straße‹ im Kontext der schweizerischen Frontenbewegung‹ gewidmet. Der Nibelungenroman ›Die tausendjährige Straße‹ (1939) des Schweizer Bestseller-Autors Ernst Zahn bearbeitet den Nibelungenstoff auf eine für die damaligen Schweizer Verhältnisse charakteristische Weise. Auffallend ist nicht nur die Transposition der Nibelungensage ins Helvetische, sondern vor allem der harmonische und damit vom Nibelungengeschehen völlig abweichende Schluss des Romans. Zahn demonstriert damit zwar seine Sympathien für das Deutsche Reich – doch er tut dies auf eine ausgesprochen diskrete Art, da explizite Bekenntnisse zum Deutschen Reich zur
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Zeit der ›Geistigen Landesverteidigung‹ in der Schweiz ein überaus heikles Thema darstellten. HEIKE SAHM beschreibt in ihrem Beitrag ››Nibelungenlied‹ und Heldensagen. Die Popularisierung des Germanischen durch Germanisten zu Beginn des 20. Jahrhunderts‹ die Vermittlung vermeintlich ›germanischer‹ Werte über Nacherzählungen von Heldensagen, die dem deutschen Publikum in Form von Anthologien präsentiert wurden. Die Bedeutung dieser Textsammlungen für die Suggestion einer ›mentalen Kontinuität‹ von den Germanen hin zu den Deutschen kann aufgrund von deren Auflagenstärke kaum überschätzt werden. Das ›Nibelungenlied‹ nimmt im Rahmen der Anthologien eine prominente, aber keineswegs eine singuläre Stellung ein. Die Universitätsgermanistik beteiligte sich maßgeblich an dem selektiven Zugriff auf die meist späteren Zeiten entstammenden Textzeugen, wie SAHM anhand ausgewählter Beispiele demonstriert. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden viele dieser ideologisch gefärbten Anthologien in nicht oder nur geringfügig modifizierter Form neu aufgelegt. LUKAS RÖSLIs Beitrag ››Nibelungisierung‹ der altnordisch-isländischen Heldenlieder? Eine Analyse des ersten Bands der Sammlung ›Thule‹‹ beleuchtet aus narratologischer, paratextueller und ideologiekritischer Perspektive die Konzeptionen der verschiedenen Ausgaben des ersten Bands der ›Sammlung Thule‹, die einem dezidiert völkischen Programm der Herausgeber und des Verlags Eugen Diederichs (Jena) folgen. Dabei wird aufgezeigt, dass die Textabfolge der eddischen Heldenlieder nicht der mittelalterlichen, altnordisch-isländischen Vorlage, dem ›Codex Regius‹ der Lieder-Edda, folgt, sondern zugunsten einer ›Nibelungisierung‹ und einer bewussten Anpassung an die ›gemeingermanische Überlieferungstradition‹ verändert wurde. Der Fokus liegt hierbei auf den paratextuellen Zusätzen – somit auf der Einleitung zur Heldendichtung von Andreas Heusler, dem Inhaltsverzeichnis sowie dem Nachwort von Hans Kuhn, das in der Neuausgabe von 1963 abgedruckt wurde –, welche die eddischen Heldenlieder in der ›Sammlung Thule‹ rahmen. Der Beitrag von NIELS PENKE mit dem Titel ›Der ›germanisch-deutsche‹ (Wer-)Wolf. Zur Genese eines populären Stereotyps‹ spürt den positiv besetzten Bildspendern des Wolfes bzw. Werwolfes nach. Ausgehend von der ›wölfischen‹ Traditionslinie der Völsungen, die sich bis auf Odin zurückführen lässt, werden einige Transmissionsbeispiele berücksichtigt, um schließlich den Fokus auf Phänomene der 1910er- bis 1940er-Jahre in Deutschland zu richten. Von Hermann Löns’ ›Der Wehrwolf‹ schreibt sich eine männerbündische Formation fort, die sich im Zeichen des wehrhaften, heimlich operierenden Werwolfes besonders in den letzten Aktionen des untergehenden NS-Staates manifestiert.
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Im anschließenden Beitrag ›Siegfried und das Motiv des ›Volkskaisers‹. Republikanische und völkische Varianten eines deutschen Erlösermythos‹ beschäftigt sich VOLKER GALLÉ mit den seit der Französischen Revolution existierenden narrativen Versuchen, durch den Begriff des ›Volkskaisers‹ – bzw. durch eine auf diesem Begriff fußende politische Praxis – eine Deutungsbrücke zwischen feudalen und republikanischen Denk- und Erfahrungswelten zu schlagen. Auf der Basis eines breiten Textcorpus zeigt der Beitrag die Ausbildung von sowohl völkischen als auch republikanischen Varianten auf. Deren Entwicklung wird beschrieben und bezogen auf den sich parallel herausbildenden politischen Nibelungenmythos am Beispiel der Siegfried-Figur vom frühen 19. Jahrhundert bis in die Zeit des Nationalsozialismus. FRANK HELZEL beleuchtet in seinem Beitrag ›Die Nibelungen und der ›Generalplan Ost‹. Der Kolonialaspekt in der deutschen Nationalgeschichtsschreibung‹, auf welche Weise sich die Eroberungs- und Siedlungspläne der Nationalsozialisten geschichtlicher bzw. mit historischem Anspruch auftretender Narrative bedienten. Niedergeschlagen haben sich entsprechende Vorstellungen und ein ›medievalisierendes‹ Vokabular namentlich in dem während der Jahre 1940– 1942 im Auftrag der NS-Parteispitze von Wissenschaftlern entwickelten ›Generalplan Ost‹, einem strategischen Entwurf zur Ziel- und Umsetzung der Integration weiter Teile Osteuropas in das ›Dritte Reich‹. Anhand dieser und weiterer einschlägiger Quellen kann der Beitrag den eklektischen Zugang zur Geschichte aufzeigen, der die kontinental-kolonialistischen Bestrebungen des NS-Staates mit historischer Sendung begründen und legitimieren soll, indem sie in eine Traditionslinie gestellt werden mit der ›deutschen‹ Ostkolonisation des Mittelalters: Stets hätten deutsche Kaiser und Könige nach Osten gedrängt; es wird der Eindruck erweckt, als handle es sich um eine konstante, quasi naturgesetzliche Notwendigkeit. Einen Ausblick auf die Nibelungenrezeption nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs geben die abschließenden beiden Aufsätze. In ihrem Beitrag ›Der Kampf der Nibelungen. Das national(sozial)istische Erbe und aktuelle Wiedererzählungen des ›Nibelungenliedes‹‹ spürt NADINE HUFNAGEL den Darstellungen der Kämpfe in Etzels Halle in jüngeren modernen Bearbeitungen des ›Nibelungenliedes‹ nach. Als Ausgangspunkt wählt sie Hermann Görings StalingradRede, auf die bis heute in rechtsradikalen Kreisen rekurriert wird. Dabei nimmt sie insbesondere die Erzählperspektive, die Erzählsituation sowie weitere Aspekte in den Blick, die für die NS-Rezeption von zentraler Bedeutung sind. Zudem wird die politische Positionierung der Wiedererzählungen berücksichtigt, wie sie sich etwa in Form von Paratexten manifestiert.
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ANNA-LENA HECKEL und JULIKA MOOS befassen sich in ihrem Beitrag ›Diffuse Düsternis‹ mit einer 2018 im Insel-Verlag erschienenen Neuauflage der weit verbreiteten, seit der Erstauflage im Jahr 1969 mehrfach neu aufgelegten Nacherzählung heldenepischer Stoffe des Mittelalters (Dietrich von Bern, Wieland, Walther und Hildegunde sowie Hilde und Kudrun) von Gretel und Wolfgang Hecht. Die Ausgabe von 2018 ergänzt den Text durch ein bemerkenswertes Illustrationsprogramm des Berliner Künstlers und Designers Burkhard Neie, das in seiner Konzeption vielfach an mittelalterliche Handschriften erinnert, in seinen Inhalten und Motiven aber auch von modernen popkulturellen Einflüssen und Bildzitaten aus Film, Architektur, Computerspielen etc. entscheidend mitgeprägt wurde. Dadurch entsteht eine eigenartige Ästhetik, die die Heldensagen bzw. ihre sprachliche Aus- und Umgestaltung in den 1960er-Jahren mit dezidiert anachronistischen Assoziationen und Lesarten konfrontiert. Nicht unerwähnt bleiben darf das Rahmenprogramm, das die Tagung entschieden bereicherte. In der Abendveranstaltung vom 14. Dezember 2018 diskutierten im Literaturhaus Basel der Nibelungenspezialist Joachim Heinzle (Marburg) und der Kulturwissenschaftler Klaus Theweleit (Freiburg i.Br.) über die ›Projektionsfläche Nibelungenlied‹, die von den Nationalsozialisten ›weltanschaulich‹ verwertet wurde. In diesem überaus anregenden, von Nathanael Busch (Marburg) moderierten Gespräch wurden die Mechanismen der nationalsozialistischen Symbolpolitik ebenso erörtert wie Fragen nach der Aktualität regressiver Zeichensetzungen im gegenwärtigen politischen Diskurs. Einen musikalischen Kontrapunkt setzten die Musikerinnen des ›Ersten Frauen-Kammerorchesters von Österreich‹ (Lucia Palfrey Hall: 1. Violine; Kinga Vass: 2. Violine; Nora Romanoff: Viola; Teodora Miteva: Cello; Katharina Maróthy: Leitung), die dem düsteren Gesprächsinhalt u.a. Dmitri Schostakowitschs Streichquartett Nr. 8 (›Den Opfern des Krieges gewidmet‹) entgegensetzten. An dieser Stelle möchten wir Katrin Eckart für die Aufnahme des Abends in das Programm des Literaturhauses Basel und Annina Niederberger für die organisatorische Betreuung herzlich danken. Weiteren Dank gilt es den vielen Geldgebern und Beteiligten abzustatten, die durch ihren Einsatz die Tagung und den Tagungsband erst ermöglichten: dem Schweizerischen Nationalfonds (SNF), der Freiwilligen Akademischen Gesellschaft Basel (FAG) und dem Deutschen Seminar der Universität Basel für die großzügige finanzielle Unterstützung; Remo Albrecht, Dominik Fischer, Christoph Rubli, Isabel Vollmer (alle Bern) und Denise Perroud (Fribourg) für ihre einsatzfreudige organisatorische und redaktionelle Hilfe; Georg Hofer (Linz) und Gerd Simon (Tübingen) für zahlreiche fachkundige Auskünfte; Jan Schwie-
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ger (Wien) für die ebenso professionelle wie kreative graphische Betreuung der Veranstaltung; Nina Hable (Wien) für die Genehmigung zum Abdruck der Titelzeichnung ›Kriemhilds Traum‹, in der Kriemhilds Angsttraum auf den Zweiten Weltkrieg projiziert wird; Matthias Däumer (Wien) und Balduin Landolt (Basel) für ihre Vorträge im Rahmen der Tagung (diese wurden nicht für den Druck zur Verfügung gestellt); Jürgen Lodemann (Freiburg i.Br.) für seinen Abendvortrag und Alexander Honold (Basel) für die Moderation desselben; Cornelia Herberichs (Fribourg) und den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Fribourger Oberseminars für die anregende Diskussion des Projekts; Katharina Kotschurin und dem Team vom transcript-Verlag für die umsichtige Betreuung. Seraina Plotke war es nicht vergönnt, dieses Buch in Händen zu halten. Sie verstarb am 27. Oktober 2020 in Basel. Seraina begleitete die Konzeption und die Durchführung der Tagung mit der ihr eigenen Begeisterungsfähigkeit und schier endlosen Einsatzbereitschaft. Selbst an der Redaktion der ersten schriftlichen Beiträge war sie, von der Krankheit bereits schwer gezeichnet, noch beteiligt. Mit Seraina Plotke verliert die Fachwelt eine allseits geschätzte und respektierte Kollegin – und wir, die Herausgeber, eine stets fröhliche, hilfsbereite und energische Freundin und Mentorin. Dieses Buch ist ihrem Andenken gewidmet. Basel und Fribourg, im Juli 2023
Die Herausgeber
Versuch über das ›Nibelungische‹ Zur Nibelungenrezeption in der Zeit des Nationalsozialismus Robert Schöller Die edelste Nation unter allen Nationen ist die Resignation. (Johann Nestroy)
I
Nibelungenlektüren abseits des Nationalismus
Es hätte auch anders kommen können. Die Nibelungen hätten nicht in das nationalistische Fahrwasser geraten müssen, in das sie geraten sind. Denn wie jedes andere literarische Werk ist das mittelhochdeutsche ›Nibelungenlied‹ grundsätzlich offen für Befund und Deutung wie auch für ideologische Wertung und Verwertung. Doch bei kaum einem anderen mittelalterlichen Text entfernen sich Befund und ideologische Fehldeutung so weit voneinander wie beim ›Nibelungenlied‹. Nachdem Jacob Hermann Obereit und Johann Jacob Bodmer das ›Nibelungenlied‹ wiederentdeckt hatten, legte Bodmers Schüler, der Schweizer Gymnasiallehrer Christoph Heinrich Müller, das ›Nibelungenlied‹ 1784 im Verbund mit weiteren mittelalterlichen Texten erstmals in einer gedruckten Edition vor.1 Mit »untertäniger Dedikation«2 versandte er Belegexemplare an die höchsten Adressen. Doch dürfte ihm die fachgeschichtlich wohlbekannte Reaktion des preußischen Königs, Friedrichs des Großen, keine Freude bereitet haben. Aus königlicher Perspektive seien »diese Gedichte nicht einen Schuss Pulver werth«. Er würde »dergleichen elendes Zeug« – wozu er nicht nur die Nibelungen rechnete, sondern sämtliche Werke dieses Bandes – kurzerhand aus seiner Bibliothek
1
Christoph Heinrich Müller: Sammlung deutscher Gedichte aus dem XII., XIII. und
2
Helmut Brackert: Die ›Bildungsstufe der Nation‹ und der Begriff der Weltliteratur.
XIV. Jahrhundert, Bd. 1, Berlin 1784. Ein Beispiel Goethescher Mittelalter-Rezeption, in: Goethe und die Tradition, hg. v. Hans Reiss, Frankfurt a.M. 1972, S. 84–101, hier S. 84.
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»heraus schmeissen«.3 Die bunte Stofflichkeit und Fabulierlust der mittelalterlichen Texte waren mit der aufgeklärten Haltung des Monarchen nicht in Einklang zu bringen.4
3
Œuvres de Frédéric le Grand – Werke Friedrichs des Großen, digitale Ausgabe der Universitätsbibliothek
Trier,
http://friedrich.uni-trier.de/de/oeuvres/27_3/255/text
(Aufrufdatum: 1.5.2023). 4
Die Literatur zur politischen Rezeption des ›Nibelungenlieds‹ hat längst beträchtliche und kaum noch überschaubare Ausmaße angenommen. Eine Auswahl: Helmut Brackert: Nibelungenlied und Nationalgedanke. Zur Geschichte einer deutschen Ideologie, in: Mediævalia litteraria (FS Helmut de Boor), hg. v. Ursula Hennig u. Herbert Kolb, München 1971, S. 343–364; Otfrid Ehrismann: Das Nibelungenlied in Deutschland. Studien zur Rezeption des Nibelungenlieds von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg, München 1975; Lerke von Saalfeld: Die ideologische Funktion des Nibelungenlieds in der preussisch-deutschen Geschichte von seiner Wiederentdeckung bis zum Nationalsozialismus, Berlin 1977; Werner Wunderlich: Der Schatz des Drachentödters. Materialien zur Wirkungsgeschichte des Nibelungenlieds, Stuttgart 1977; Hildegard Labenz: Das Nibelungenlied im deutschen Faschismus, in: Traditionen und Traditionssuche des deutschen Faschismus, hg. v. Günter Hartung u. Hubert Orlowski, Halle a.d.S. 1983, S. 122–132; Leopold Hellmuth: ›Die lustigen Nibelungen‹ in Österreich. Eine Ergänzung zur Rezeptionsgeschichte des Nibelungenstoffes, in: Österreich in Geschichte und Literatur 31 (1987), S. 275–300; Die Nibelungen. Bilder von Liebe, Verrat und Untergang, hg. v. Wolfgang Storch, München 1987; Herfried Münkler u. Wolfgang Storch: Siegfrieden. Politik mit einem deutschen Mythos, Berlin 1988; Die Rezeption mittelalterlicher deutscher Dichtung. Eine Bibliographie ihrer Übersetzungen und Bearbeitungen seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, hg. v. Siegfried Grosse u. Ursula Rautenberg, Tübingen 1989; Die Nibelungen. Ein deutscher Wahn, ein deutscher Alptraum. Studien und Dokumente zur Rezeption des Nibelungenstoffs im 19. und 20. Jahrhundert, hg. v. Joachim Heinzle u. Anneliese Waldschmidt, Frankfurt a.M. 1991; Susanne Frembs: Nibelungenlied und Nationalgedanke nach Neunzehnhundert. Über den Umgang der Deutschen mit ihrem ›Nationalepos‹, Stuttgart 2001; John Evert Härd: Das Nibelungenepos. Wertung und Wirkung von der Romantik bis zur Gegenwart. Aus dem Schwedischen übers. v. Christine Palm, Tübingen u. Basel 1996; Otfrid Ehrismann: Nibelungenlied. Epoche – Werk – Wirkung, 2. Aufl., München 2002, S. 166–200; Die Nibelungen. Sage ‒ Epos ‒ Mythos, hg. v. Joachim Heinzle [u.a.], Wiesbaden 2003; Annegret Pfalzgraf: Homer und das ›Nibelungenlied‹ bei Johann Jakob Bodmer. Zu den Anfängen der nationalen Nibelungenrezeption im 18. Jahrhundert, Marburg 2003; Joachim Heinzle: Die Nibelungen. Lied und Sage, Darmstadt 2005, S.
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Auch im Briefkasten Johann Wolfgang von Goethes landete ein Exemplar der Müller’schen Textausgabe.5 Doch Goethe schenkte dem Buch kaum Auf-
108–131; Nibelungenrezeption, hg. v. Ina Karg, Göttingen 2008 (Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 55/4); Ein Lied von gestern? Zur Rezeptionsgeschichte des Nibelungenliedes, 2. Aufl., hg. v. Gerold Bönnen u. Volker Gallé, Worms 2009; Cyril Edwards: Censoring Siegfried’s Love-Life. The ›Nibelungenlied‹ in the Third Reich, in: Mythos – Sage – Erzählung. Gedenkschrift für Alfred Ebenbauer, hg. v. Johannes Keller u. Florian Kragl, Göttingen 2009, S. 87–103; Nibelungen-Gedichte, hg. v. Gunter E. Grimm, Marburg 2011; Nine R. Miedema: Einführung in das ›Nibelungenlied‹, Darmstadt 2011 (Einführungen Germanistik), S. 115– 138; Mythos Nibelungen, hg. v. Joachim Heinzle, Stuttgart 2013; Joachim Heinzle: Traditionelles Erzählen. Beiträge zum Verhältnis von Nibelungensage und Nibelungenlied, Stuttgart 2014; The Nibelungen Tradition. An Encyclopedia, hg. v. Francis G. Gentry [u.a.], New York 2014 (Erstdruck 2002); Robert Schöller: Gegen Hitler! Gegen Siegfried! Anti-Nibelungisches in der österreichischen Literatur der 1930erJahre, in: Mittelalterbilder in der deutschsprachigen Literatur des langen 20. Jahrhunderts, hg. v. Michael Dallapiazza u. Silvia Ruzzenenti, Würzburg 2017, S. 41–60. Vgl. auch die bibliographische Erschließung der Nibelungenforschung nach 1945 in: Nibelungenlied und Nibelungensage. Kommentierte Bibliographie 1945‒2010. Bearb. v. Elisabeth Martschini [u.a.], hg. v. Florian Kragl, Berlin 2012. Die jährlichen Vorträge der Wormser Nibelungenliedgesellschaft werden regelmäßig online gestellt (www.nibelungenlied-gesellschaft.de/nlg). Sehr hilfreich ist zudem die materialreiche Sammlung auf der von Gunter E. Grimm u.a. betreuten Seite ›nibelungenrezeption.de‹ (Die Seite wird derzeit (15.04.2023) wiederhergestellt.). 5
Vgl. hierzu die Dokumentationen: Goethe und das Mittelalter, hg. v. Jens Haustein, Frankfurt a.M. 1990; Gunter E. Grimm.: Goethe und das Nibelungenlied. Eine Dokumentation (2006), https://publikationen.ub.uni-frankfurt.de/frontdoor/index/index /docId/10131 (Aufrufdatum: 1.5.2023). Zur Auslegung von Goethes Bemerkungen über das ›Nibelungenlied‹ vgl. Brackert (Anm. 2); Reinhard Hahn: »Dies Werk ist nicht da, ein für allemal beurtheilt zu werden …«. Über Goethes Auseinandersetzung mit dem Nibelungenlied, in: Goethe-Jahrbuch 112 (1995), S. 275–286; Otfrid Ehrismann: Goethe, das Mittelalter und das ›Nibelungenlied‹, in: Annäherungsversuche. Germanistische Beiträge, hg. v. Norbert Honsza, Warschau 1996, S. 23–42; Klaus F. Gille: ›... uns ist nun die Betrachtung um so viel bequemer gemacht‹. Goethes Lektüre des ›Nibelungenliedes‹, in: Poesie als Auftrag (FS Alexander von Bormann), hg. v. Dagmar Ottmann, Würzburg 2001, S. 71–82.
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merksamkeit: Die Seiten blieben unaufgeschnitten.6 Diese zunächst indifferente Haltung änderte sich jedoch grundlegend, nachdem das ›Nibelungenlied‹ durch die Niederlagen der preußischen Armee bei Jena und Auerstedt (1806) im Rahmen der Napoleonischen Kriege in den Fokus patriotischer Aufgeregtheit geriet. In Friedrich Heinrich von der Hagens Einleitung zu dessen NibelungenAusgabe, die ein Jahr nach den Schlachten gegen Napoleon erschien,7 entluden sich die aufgestauten »gewaltigen patriotische[n] Affekte«8. Das ›Nibelungenlied‹ musste nun dienstbar sein als »lebendige Urkunde des unvertilgbaren Deutschen Karakters«, der »[…] jede fremde Feßel über kurz oder lang immer wieder zerbricht«9, als ein Text, der die »Hoffnung auf dereinstige Wiederkehr Deutscher Glorie und Weltherrlichkeit«10 zu nähren hatte. Auch von der Hagen schickte Goethe ein Exemplar, begleitet von einem Brief, »dessen Ton zwischen Devotion und Goethe-Enthusiasmus schwankt«11 – und brachte damit den Napoleon-Bewunderer und Befürworter einer die engen nationalen Grenzen überschreitenden Weltliteratur in nicht unbeträchtliche Verlegenheit, die dieser in seiner Antwort hinter der Maske freundlichen Wohlwollens verbarg. Doch diesmal studierte Goethe den Text aufmerksam. Er fertigte Teilübersetzungen und philologisch anmutende Stellenkommentare an, die er regelmäßig im Rahmen der Weimarer ›Mittwochs-Vorträge‹ vorstellte, und entwarf zugleich Karten zu den wichtigsten Schauplätzen des ›Nibelungenlieds‹. Als schließlich weitere 20 Jahre später Karl Simrock seine Übersetzung des ›Nibelungenlieds‹ veröffentlichte,12 machte sich Goethe Notizen zu einer Rezension, die allerdings nie erscheinen sollte. Diese Notizen lassen, zusammen mit Tagebucheinträgen und den Gesprächsaufzeichnungen Johann Peter Eckermanns, ein überaus differenziertes Bild erkennen, das sich Goethe von dem Text machte. Er erkennt dessen – auch der Überlieferungsgeschichte geschuldete – Komplexität, betont die Vorläufigkeit jedes Urteils über dieses Werk und sagt voraus, dass die Beschäftigung da-
6
Vgl. Klaus von See: Das Nibelungenlied – Ein Nationalepos?, in: Heinzle/Waldschmidt (Anm. 4), S. 43–110, hier S. 56.
7
Der Nibelungen Lied, hg. v. Friedrich Heinrich von der Hagen, Berlin 1807.
8
Brackert (Anm. 2), S. 86.
9
Von der Hagen: Der Nibelungen Lied (Anm. 7), S. 1.
10 Ebd., S. 2. 11 Gille (Anm. 5), S. 71. 12 Das Nibelungenlied, 2 Teile, übers. v. Karl Simrock, Berlin 1827. Vgl. hierzu Joachim Heinzle: »… diese reinen kräftigen Töne«. Zu Karl Simrocks Übersetzung des ›Nibelungenlieds‹, in: Heinzle/Waldschmidt (Anm. 4), S. 111–118.
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mit »noch Jahrhunderte«13 andauern werde. Die Brüche und Ambivalenzen (»die Disparaten«14) des ›Nibelungenlieds‹ bleiben Goethe nicht verborgen: »gröbste Rohheit und Härte« stünden neben der »anmutigste[n] Menschlichkeit«15. Goethe liest den Text gegen den allzu modischen nationalistischen Strich. Er rezipiert ihn nicht unter einer nationalen, sondern vielmehr unter einer ästhetischkritischen Perspektive, die im Wesentlichen noch die »anthropologische Totalitätskonzeption der Weimarer Klassik«16 erkennen lässt. Zwar vermerkt er, dass die »Kenntnis dieses Gedichts […] zu einer Bildungsstufe der Nation«17 gehöre; doch stellt er umgehend klar, warum sich dies so verhalte: Und zwar deswegen, weil es [das ›Nibelungenlied‹] die Einbildungskraft erhöht, das Gefühl anregt, die Neugierde erweckt und, um sie zu befriedigen, uns zu einem Urtheil auffordert. Jedermann sollte es lesen, damit er nach dem Maß seines Vermögens die Wirkung davon empfange.18
Goethe wendet sich nicht an ein Kollektiv, das den Text der nationalistischen Imagination als Projektionsfläche zu unterlegen gedenkt. Vielmehr richtet er einen ethischen Appell an jeden Einzelnen in der Gesellschaft (›jedermann‹), im Rahmen der durch dessen jeweiligen Bildungsstand definierten Grenzen in forschender (›neugieriger‹) Auseinandersetzung mit dem Text seine humanistische Apparatur zu verfeinern. In einem von Eckermann überlieferten Gespräch vom 3. Oktober 1828 äußert Goethe erneut Bedenken grundsätzlicher Natur gegen die Funktionalisierung mittelalterlicher Texte zur Ausbildung eines Nationalbewusstseins. Ein weiteres Mal ging er in Opposition zur Mittelalter-Euphorie der Romantiker (der ›Mittelältler‹).19 Es ist anzunehmen, dass er bei seinen Vorbehalten auch und gerade an das ›düstere‹20 ›Nibelungenlied‹ dachte, mit dem er sich so eingängig beschäftigte:
13 Goethes Werke. Bd. 12: Schriften zur Kunst. Schriften zu Literatur. Maximen und Reflexionen, hg. v. Erich Trunz, München 1998 (Hamburger Ausgabe), S. 349. 14 Ebd., S. 348. 15 Ebd. 16 Gille (Anm. 5), S. 74. 17 HA 12 (Anm. 13), S. 349. 18 Ebd. 19 Vgl. Brackert (Anm. 2), S. 95. 20 HA 12 (Anm. 13), S. 348: »In Absicht auf Localität große Düsternheit«.
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Es ist in der altdeutschen düsteren Zeit […] ebensowenig für uns zu holen, als wir aus den serbischen Liedern und ähnlichen barbarischen Volkspoesien gewonnen haben. […] Der Mensch wird überhaupt genug durch seine Leidenschaften und Schicksale verdüstert, als daß er nötig hätte, dies noch durch die Dunkelheiten einer barbarischen Vorzeit zu thun.21
Diese Bemerkung kann eine gewisse Gültigkeit auch für den Affektüberschuss ganzer Kollektive im 19. und dann insbesondere im 20. Jahrhundert beanspruchen, die ihre Wurzeln in den ›düsteren Jahrhunderten‹ und somit in den ›Dark Ages‹ auszugraben gedachten. Ob man in ihr eine Vorahnung dessen, was da noch kommen mag, entdecken will, bleibe dahingestellt. Jedenfalls nimmt diese Einsicht ihren Ausgang im Erfahrungshorizont der eigenen Zeit, in der der Nationalismus als noch junges Paradigma der Staatenbildung bereits bedenkliche und nur von Wenigen hinterfragte Ausmaße angenommen hatte: Ein »neuaufgeregte[s] Interesse«22 wendet sich in – wie sich später herausstellen sollte – in unheilvoller Weise den ›Dunkelheiten‹ der eigenen Vergangenheit zu. Nur wenige Jahre nach Goethes Tod wird der österreichische Dramatiker Franz Grillparzer entschiedene Worte für das kaum zu überschätzende Gefährdungspotential eines ›barbarisch‹ verwurzelten Nationalismus finden: »Der Weg der neuen Bildung geht / Von Humanität / Durch Nationalität / Zur Bestialität.«23 Es ließen sich vergleichbare Stimmen aus dem 19. Jahrhundert anführen, die sich entweder gegen eine nationalistische Vereinnahmung des ›Nibelungenlieds‹ aussprachen und/oder eine alternative, nicht-nationale Lesart des Textes empfahlen.24 Doch mag an dieser Stelle ein weiteres Beispiel genügen, das – im Gegen-
21 Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, 1823–1832, kommentierte Ausgabe, Bd. 2, hg. v. Eduard Castle, Berlin 1916, S. 223. 22 HA 12 (Anm. 13), S. 348. 23 Franz Grillparzer: Sämtliche Werke. Ausgewählte Briefe, Gespräche, Berichte, 3 Bde., hg. v. Peter Frank u. Karl Pörnbacher, München 1960, Bd. 1, S. 500. 24 August von Kotzebue hielt einzig einen historischen Zugang zum ›Nibelungenlied‹ für angebracht und wehrte sich gegen jede nationalistische Vereinnahmung des Textes, vgl. von See (Anm. 6), S. 58f. Georg Herweghs Anspielungen auf die Nibelungen entsprechen dessen republikanischer und anti-militaristischer Gesinnung und unterscheiden sich dadurch deutlich von den üblichen Lesarten der Zeit, vgl. Grimm, Nibelungen-Gedichte (Anm. 4), S. 150–158. Die anti-nationalistische Haltung Grillparzers schlägt in dessen Anzitierung der Nibelungen im Gedicht ›An die Überdeutschen‹ ebenfalls durch, vgl. ebd., S. 83–86. Bemerkenswert ist in diesem Kontext zudem Gottfried Kellers nachgelassenes Gedicht ›Rheinbilder 3. Frühgesicht‹, in dem
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satz zu Goethes Ausführungen und ungeachtet der Prominenz des Autors – der Nibelungenrezeptionsforschung kaum bekannt ist. In seiner 1896 publizierten Schrift ›Über das, was Kunst genannt wird‹25 kommt Leo Tolstoi auch auf das ›Nibelungenlied‹ zu sprechen. Tolstoi hatte bereits in zahlreichen Polemiken gegen zeitgenössische wie auch gegen Werke, die üblicherweise dem europäischen Kanon zugerechnet werden, einen durchaus eigenwilligen Zugang zu erkennen gegeben. Und entsprechend kritisch fällt auch sein knapp formuliertes Urteil über das ›deutsche Nationalepos‹ aus: »Von allen mir bekannten Volksepen ist das unpoetischeste, uninteressanteste und geschmackloseste die Nibelungen.«26 Tolstoi verzichtet auf eine nähere Erörterung dieser apodiktisch anmutenden Behauptung. Doch macht der Text an jeder Stelle deutlich, gegen wen sich die Kritik hauptsächlich richtet: Dieses unpoetische und geschmacklose Poem [die Nibelungen] nun hat der unbegabte und anmaßende Komponist Wagner auf seine Weise für seine musikalischen Zwecke umgearbeitet, er hat ihm einen nebelhaften deutschen, langweiligen und scheinphilosophischen Sinn unterlegt, danach zu dieser ganzen gekünstelten Geschichte nicht Musik, sondern an Musik erinnernde Töne hinzuerfunden, und diese Geschichte haben dann kostümierte Leute, die mit unnatürlichen Lauten seltsame Sätze schreien, in dramatischer Form aufgeführt.27
Tolstoi hatte 1896 eine Aufführung von Richard Wagners ›Siegfried‹ besucht, die er vorzeitig verließ. Die dabei empfangenen, durchweg negativen Eindrücke nahm er zum Anlass, in seinem Essay über Wesen und Funktion von Kunst von einem konservativen Standpunkt aus zu reflektieren. Dass Tolstoi einem mittelalterlichen Text wie dem ›Nibelungenlied‹ jegliche ästhetische Qualität abspricht, ist ungewöhnlich für das 19. Jahrhundert, in dem doch die Entdeckung und Verklärung auch der literarischen ›Wurzeln‹ der Nationen im Vordergrund stand – obgleich natürlich die ›eigenen‹ mittelalterlichen Werke traditionell stärker gewichtet wurden. Nationale Ressentiments gegen den Deutschen Wagner scheinen mitunter im Text durch, stehen aber nicht im Zentrum der Polemik, die
reichlich prosaisch empfohlen wird, »die alte Zwiebel« endlich ruhen zu lassen, vgl. ebd., S. 168–170, Zitat S. 170. Zur sozialistischen Verwertung des Nibelungenstoffs siehe den Beitrag von Volker Gallé in diesem Band. 25 Zitiert nach der Ausgabe: Lew Tolstoi: Ästhetische Schriften, 2. Aufl., Berlin 1984 (Gesammelte Werke, Bd. 14), S. 411–446. 26 Ebd., S. 411. 27 Ebd.
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vielmehr eine Entfernung des Kunstbetriebs vom ›Volk‹ kritisiert. Aus der Schrift geht deutlich hervor, dass Tolstoi die Abwertung des ›Nibelungenlieds‹ mit jener Richard Wagners verbindet. Seine Beurteilung des ›Nibelungenlieds‹ scheint von der Abneigung gegen Wagners Werk gelenkt oder zumindest beeinflusst zu sein. Wenn der »von Eigendünkel übergeschnappt[e], musikalisch äußerlich[.] begabt[e] und dichterisch völlig unbedeutend[e] Deutsch[e] [seinem Publikum] einreden will, das alberne Märchen, das er [ihm] vorführt, habe einen tieferen Sinn und sei ergreifend«28, so trifft der Vorwurf der stofflichen ›Albernheit‹29 den Wagner’schen Text gleichermaßen wie den Originaltext – ungeachtet der Tatsache, dass die Handlung des ›Rings‹ wenig mit dem ›Nibelungenlied‹ und sehr viel mit der ›Völsunga saga‹ zu tun hat. Die Auflösung der Grenzen zwischen mittelalterlichem Text und dessen neuzeitlicher Rezeption deutet sich hier an. Diese Tendenz wird sich im Zuge einer intensivierten Wagner-Rezeption im folgenden Jahrhundert noch entschieden verstärken.30 Das Spektrum der frühen, nicht-national perspektivierten Rezeption des ›Nibelungenlieds‹ im 18. und 19. Jahrhundert reicht somit vom Versuch einer möglichst unvoreingenommenen und kritischen Lektüre des Textes bis hin zu Unverständnis und Ablehnung – in dieser Beziehung widerfährt dem ›Nibelungenlied‹ dasselbe Schicksal wie jedem anderen literarischen Text. Doch macht die historische Retrospektive deutlich, dass der nationale Spin der Romantiker sich als übermächtig erwies,31 dass die »Pharisäer der Nationalität«32 die Oberhand behielten. Das ›Nibelungenlied‹ wird, insbesondere im akademischen und in der Folge auch im politischen Diskurs, zum Nationalepos der Deutschen stilisiert.33 Es wird zu einem ideologisch funktionalen Epos aufbereitet, das sich als ein Rädchen im Getriebe der großen Kriege eignet. Wenn Karl Simrock dem Ge-
28 Ebd., S. 412 (Hervorhebung im Original). 29 Die Bezeichnung »albernes Mährchen« für den Nibelungentext gebraucht auch August von Kotzebue: Das Nibelungenlied, in: ders.: Politische Flugblätter, Königsberg 1814, S. 145–159, hier S. 148. 30 Dies gilt für annähernd alle Mittelalterstoffe, die Richard Wagner bearbeitete, neben den Nibelungen insbesondere für den ›Tristan‹ und den ›Parzival‹. Vgl. hierzu zuletzt Robert Schöller: Die Grammatik des Tristan-Mythos, in: tristan mythos maschine, hg. v. dems. [u.a.], Würzburg 2020, S. IIIf. 31 Vgl. Härd (Anm. 4), S. 77. 32 Heinrich Heine: Deutschland. Ein Wintermärchen, Zürich 2005 (Erstausgabe 1844), S. 6. 33 Zur Frage, in welchem Ausmaß sich auch eine breitere Öffentlichkeit an diesem Diskurs beteiligte, vgl. von See (Anm. 6), S. 58f.
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danken Ausdruck verleiht, dass mit Walther von der Vogelweide und dem ›Nibelungenlied‹ das »erstorbene Vaterlandsgefühl« der Jugend erweckt werden könne, da die beiden »der Hort der Nation zu werden versprechen«, dann liegt auch die Annahme nahe, dass mit dieser »Feld- und Zeltpoesie […] Armeen aus dem Boden gestampft werden« könnten, um »den Verwüstern des Reichs, den gallischen Mordbrennern […] zu wehren«34. In Simrocks Einleitung manifestiert sich in aller Deutlichkeit die Bereitschaft zur Zusammenarbeit des akademischen Betriebs mit dem militärischen Komplex, die im 19. wie im 20. Jahrhundert durchweg unheilvolle Resultate zeitigte. Der deutschnationale Nibelungendiskurs radikalisiert sich sukzessive entlang der großen Mobilmachungen: sog. ›Befreiungskriege‹ gegen Napoleon, Deutsch-Französischer Krieg, Erster und Zweiter Weltkrieg. Die Nibelungen werden zu beständigen Kriegsgefährten der Deutschen. Dass ausgerechnet dem ›Nibelungenlied‹, einem Text, der von Schuld und Sühne bzw. von »Zwist und Mord im burgundischen Königshaus«35 handelt, dieses Schicksal beschieden war, liegt bestenfalls zum Teil im Text selbst begründet.36 Weitaus bedeutsamer war die nationale Auratisierung und Sakralisierung des Textes, die bald nach dessen Wiederentdeckung einsetzte. II
Jacob Grimms Auratisierung des ›Nibelungischen‹
Eine sehr kurze, aber in der Prägnanz der Formulierungen überaus eingängige Abhandlung legte Jacob Grimm im Jahr 1814 vor. Es handelt sich um die Rezension eines Buches von Karl Wilhelm Göttling ›Über das Geschichtliche im Nibelungenlied‹.37 Der Verfasser hatte es sich zur Aufgabe gesetzt, die historischen Grundlagen des ›Nibelungenlieds‹ zu rekonstruieren.38 Grimm ist mit den Ergebnissen der Studie weitgehend unzufrieden, vermag aber auch Positives festzustellen. Er spricht von einer »zwar verfehlende[n] aber doch anregende[n]
34 Walther von der Vogelweide, hg. v. K[arl] Simrock, Bonn 1870, Einleitung, S. 1. 35 Vgl. von See (Anm. 6), S. 59. 36 Siehe hierzu auch den abwägenden Beitrag von Ulrich Barton in diesem Band. 37 Jacob Grimm: Rezension von K. W. Göttling, Das Geschichtliche im Nibelungenlied, in: Jacob Grimm: Kleinere Schriften. Bd. 4: Recensionen und vermischte Aufsätze, 1. Teil, Hildesheim [u.a.] 1991 [Berlin 1869] (Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Werke. Forschungsausgabe, Abt. I, Bd. 4), S. 85–91. 38 Der klassische Philologe Göttling stand auch mit Goethe in engem Kontakt, mit dem er regelmäßig korrespondierte. Vgl. Briefwechsel zwischen Goethe und K. Göttling in den Jahren 1824–1831, hg. v. Kuno Fischer, München 1880.
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schrift«39. Das ›Anregende‹ der Studie motiviert Grimm zu eigenen weiterführenden Überlegungen, die er in eine antithetische Formulierung fasst: »wir würden nicht über das geschichtliche im Nibelungenliede, sondern über das Nibelungische in der altdeutschen geschichte geschrieben haben.«40 In der Folge skizziert Grimm die Programmatik: dabei wird das epos nicht als luft und lüge betrachtet, sondern als ein kräftiges korn läszt es sich in mehr denn einer zeit, an mehr denn einem ort, aufgehen und auferstehen, damit es seinem erdtheil gewinne, und dem volk sichtbar, d.h. auch hörbar und glaubreich erscheine. seine wahrheit liegt nur immer weit über die phantasie eines (einzelnen) dichters hinaus.41
Indem »das epos nicht als luft und lüge betrachtet« werden soll, rekurriert Grimm – wie der Autor des von ihm rezensierten Buches – auf die historische Schichtung des ›Nibelungenlieds‹ und somit auf die Historizität der Fiktion, die weiterhin Beachtung finden müsse. Bemerkenswert ist die reflexive Wendung des »kräftige[n] korn[s]«, das »sich […] aufgehen und auferstehen« lässt. In dieser sprachlich durchaus ungewöhnlichen Formulierung, die Anklänge an das Johannes-Evangelium erkennen lässt,42 wird ein autogenetischer Reproduktionsmodus des Textes beschworen, eine Ent- bzw. Auferstehung aus sich selbst heraus.43 Dieses Phänomen ist nach Grimm zeitlich und räumlich sowohl entgrenzt
39 Jacob Grimm: Rezension (Anm. 37), S. 91. 40 Ebd. 41 Ebd. 42 Vgl. Johannes 12,24 nach Luther: »Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein; wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht.« Zum Epos als «brod des lebens» vgl. Jacob Grimm: Gedanken über Mythos, Epos und Geschichte, in: Kleinere Schriften, Bd. 4 (Anm. 37), S. 74– 85, hier S. 84. 43 In seiner Rezension unterscheidet Grimm zwischen »analytischen« und »synthetischen« Erklärungsmodellen zur Entstehung der Epen. Während der analytische Weg von Göttling beschritten werde (Erklärung der Entstehung auf der Basis historischer Ereignisse), spricht Grimm im Fall des synthetischen Wegs von der »selbstzeugung der gewaltigen stoffe«, vgl. Kleinere Schriften, Bd. 4 (Anm. 37), S. 86. Auch in der Abhandlung ›Von Übereinstimmung der alten Sagen‹ bedient sich Jacob Grimm einer ähnlichen Formulierung: »jedes epos musz sich selbst dichten, von keinem dichter geschrieben werden«, vgl. Kleinere Schriften, Bd. 4 (Anm. 37), S. 10. Die Position der Grimms zur Epik fasst Härd (Anm. 4), S. 94, zusammen: »Für die Brüder
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als auch begrenzt: entgrenzt insofern, als es »in mehr denn einer zeit, an mehr denn einem ort« und somit überzeitlich und überregional in Erscheinung trete; begrenzt, weil es der »altdeutschen geschichte« und dem eigenen »erdtheil« zugewiesen wird. Nicht zu übersehen ist zudem der Verkündigungscharakter, der sich in dem Text manifestiert: Es »erschein[t] […] dem volk sichtbar, d.h. auch hörbar und glaubreich«. Doch damit nicht genug, birgt es zusätzlich eine überindividuelle, kollektive Wahrheit in sich: »seine wahrheit liegt nur immer weit über die phantasie eines (einzelnen) dichters hinaus«. Das gebärende Nibelungische wirkt durch den Dichter hindurch, der nicht als individueller Gestalter, sondern als sprachliches Medium des ›Nibelungischen‹ und von dessen Wahrheit fungiert. Jedes »korn« des ›Nibelungischen‹ ist stets nur ein Teil eines zugrundeliegenden größeren Ganzen, einer zugrundeliegenden Wahrheit: der nibelungischen Wahrheit. In diesen wenigen Zeilen, die als paradigmatisch für einen Zweig des romantischen Zugangs zur überlieferten Heldenepik aufgefasst werden können,44 greift Grimm auf Strategien zur Auratisierung und Transzendierung zurück. Zum einen weist er dem deutschen Heldenepos eine Aura zu – eine »diffuse, […] nicht objektivierbare, […] intensiv empfundene Ausstrahlung, die einen Wahrnehmungsgegenstand zu umgeben scheine«45 –, zum anderen versieht er es mit einem sakralen Gehalt mit Anspruch auf absolute Wahrheit. Das ›Nibelungische‹ beschwört die sakrale Aura der Nibelungen, was im Umkehrschluss bedeutet:
Grimm gilt wie ein Glaubenssatz, von dem sie keinen Schritt zurückweichen, daß das Volksepos, wie auch das Volkslied, keine individuellen Autoren kennen, sondern daß sie ein Produkt der Natur sind, einer unbewußten, schöpferischen Kraft in der Tiefe des Volkes.« 44 Zum bekannten Disput über die Urheberschaft von Epik, den die Grimms u.a. mit August Wilhelm Schlegel führten, vgl. Härd (Anm. 4), S. 95–97; zu Jacob Grimms Begriff des ›Nibelungischen‹ vgl. Ehrismann (Anm. 4), S. 174. Zum Einfluss von Schellings Naturphilosophie auf die Nibelungenreflexionen der Grimms vgl. Otfried Ehrismann: Germanistik und Mythologie. Überlegungen zur Rekonvaleszenz der Altgermanistik, in: Gießener Universitätsblätter 19 (1986) S. 53–64, hier S. 54–58. Zur Bedeutung der Grimm’schen Studien für Richard Wagners mythische Einkleidung der mittelalterlichen Stoffe vgl. Volker Mertens: Die Grimms, Wagner und Wir, in: Die Grimms, die Germanistik und die Gegenwart, hg. v. dems., Wien 1988, S. 113–132, bes. S. 115. 45 Peter M. Spangenberg: Aura, in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch, hg. v. Karlheinz Barck [u.a.], Stuttgart u. Weimar, Bd. 1, S. 400–416, hier S. 400.
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Das ›Nibelungenlied‹ wird zum auratischen Bestandteil eines übergeordneten ›Nibelungischen‹, das nach Grimm als »etwas überzeitliches, in die menschengeschichte eindringendes, als ein stärkeres sie bewältigendes, und so zu sagen ertönen machendes«46 zu verstehen ist. Verkünder und Empfänger des ›Nibelungischen‹ ist das ›Volk‹.47 Solch mystisches Geraune aus der Frühzeit der Germanistik48 zeitigt die Konsequenz, dass das ›Nibelungenlied‹ nicht einfach als ein literarisches Werk, sondern vielmehr als die konkreteste Manifestation eines (aus sich heraus wirksamen) ›Nibelungischen‹ im deutschsprachigen Raum zu betrachten ist ‒ was wiederum bedeutet, dass der Eigenwert des ›Nibelungenlieds‹, sein Stellenwert als eigenständiges Kunstwerk, herabgesetzt ist. Folgen hat eine solche Sichtweise auch für die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem ›Nibelungenlied‹: Die vordergründigen Brüche und Lücken im Erzählen werden weniger als ästhetische Eigenart des Textes als vielmehr als Mangel und Defekt im Abgleich mit der altnordischen Sagengeschichte gesehen,49 die der Korrektur und Ergänzung bedürfen.50 Erst Jan-Dirk Müllers Monographie ›Spielregeln für den Untergang‹ aus dem Jahr 1998 bricht konsequent mit dieser Interpretationspraxis und leistet damit einen Beitrag zur Wiederherstellung der Autonomie des Kunstwerks ›Ni-
46 Jacob Grimm: Rezension (Anm. 37), S. 86. 47 Zu Jacob Grimms Volksbegriff vgl. zuletzt Karin Raude: Der Volksgeist bei Jacob Grimm, Frankfurt a.M. 2022. Klaus von See: Freiheit und Gemeinschaft. Völkischnationales Denken in Deutschland zwischen Französischer Revolution und Erstem Weltkrieg, Heidelberg 2001, S. 29–48, bes. S. 47f., sieht die verklärte Anschauung des Volks bei den Grimms in deren ›Stubengelehrsamkeit‹ begründet. 48 Zum ›Pangermanismus‹ der Gebrüder Grimm vgl. Ingo Wiwjorra: Der Germanenmythos. Konstruktion einer Weltanschauung in der Altertumsforschung des 19. Jahrhunderts, Darmstadt 2006, S. 72–75. 49 Vgl. hierzu auch die von Studierenden überlieferte Bemerkung Jacob Grimms in seiner Vorlesung: »Der Ordner der Niebelungen hatte gewiß abweichende Bearbeitung vor sich liegen; er hatte nicht den Muth, sie zu verarbeiten zu einem Ganzen, sondern ließ die Widersprüche stehen«, vgl. Jacob Grimm: Vorlesung über Deutsche Literaturgeschichte. ›Die Geschichte der deutschen Literatur von der ältesten bis zur neuesten Zeit‹ nach studentischen Mitschriften, Kassel 1998 (Brüder Grimm, Werke und Briefwechsel. Kasseler Ausgabe. Materialien I), S. 292. Dass Grimm »nie davon loskonnte, Nibelungenlied und -sage als identisch zu betrachten«, vermerkte auch Josef Körner: Nibelungenforschungen der deutschen Romantik, Leipzig 1911, S. 169. 50 Vgl. Jan-Dirk Müller: Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenlieds, Tübingen 1998, S. 15.
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belungenlied‹. Eine immanente Lektüre des Textes wirkt der auratischen Macht des ›Nibelungischen‹ entgegen, die das ›Nibelungenlied‹ seit den Romantikern in ihrem Bann gefangen hält. III
Von der Romantik zur ›stählernen Romantik‹ – Das ›Nibelungische‹ im Nationalsozialismus
Im nationalsozialistischen Deutschland wird ebenfalls mit Nachdruck an ›Spielregeln für den Untergang‹ gearbeitet, obgleich in ganz anderer Hinsicht. Die ›altdeutschen Wälder‹ werden nun abgeholzt, und das von Jacob Grimm so geschätzte ›Volk‹ mutiert zum ›völkischen Volk‹. Aus der Romantik ist, zumindest in der Vorstellung eines Joseph Goebbels, eine »stählerne Romantik«51 geworden.52 Der Germanist Goebbels hatte seine Dissertation über den romantischen Dichter Wilhelm von Schütz verfasst. Es lag daher nahe, dass Goebbels – als einer der einflussreichsten Ideologen des Nationalsozialismus – auf diese Epoche als Muster zurückgriff, um eine neue Ära einzuleiten, zumal die nationale Erhöhung der mittelalterlichen Werke durch die Romantiker der nationalsozialistischen Programmatik durchaus entgegenkam. Anlässlich der Gründung der Reichskulturkammer hielt Goebbels am 15. November 1933 eine Rede, in der die künftigen Aufgaben des Kunstbetriebs festgelegt werden sollten. Die Kunstschaffenden, so Goebbels, mögen ihre individualistischen Irrwege hinter sich lassen und sich in den Dienst der »neue[n] nationale[n] Kunst«53 stellen, die »fest und unlösbar im Mutterboden des eigenen Volkstums verwurzelt ist«54. Die Romantik der Gegenwart sei
51 Joseph Goebbels: Die deutsche Kultur vor neuen Aufgaben. Gründung der Reichskulturkammer am 15. November 1933 in der Berliner Philharmonie, in: Signale der neuen Zeit. 25 ausgewählte Reden, München 1940, S. 323–336, hier S. 332. 52 In diesem Zusammenhang sei an Joachim Heinzles Diktum erinnert, das weiterhin Gültigkeit beanspruchen darf: »Es wäre unbillig, wollte man die Romantiker […] für die Folgen ihrer Phantasie haftbar machen. Aber wir müssen zusehen, daß wir nicht, ohne es zu bemerken, von der Faszination des Heroischen übermächtigt werden, die sie bewegt hat«, vgl. Joachim Heinzle: Wilhelm Grimm und die deutsche Heldensage, in: Aspekte der Romantik, hg. v. Jutta Osinski u. Felix Saure, Kassel 2001 (Schriften der Brüder Grimm-Gesellschaft N.F. 32), S. 31–50, hier S. 50. 53 Goebbels (Anm. 51), S. 335. 54 Ebd., S. 336.
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[…] eine Art von stählerner Romantik, die das deutsche Leben wieder lebenswert gemacht hat, eine Romantik, die sich nicht vor der Härte des Daseins versteckt oder ihr in blauen Fernen zu entrinnen trachtet, eine Romantik, die den Mut hat, den Problemen gegenüberzutreten und ihnen fest und ohne Zucken in die mitleidslosen Augen zu schauen.55
Diese »mitleidslosen Augen« der Daseinshärte erblicken eine »heroische Lebensauffassung«56 und »das grandiose Werk des deutschen Wiederaufbaues«57, der mit einem »fast soldatisch anmutenden Rhythmus erfüllt«58 sei. Es ist eine militarisierte neue Romantik, die sich Goebbels in wohl bewusst volkstümelndschief gesetzter Metaphorik herbeiwünscht – und an deren Installierung er kräftig mitwirkt. Wo die Romantik angerufen wird, dort ist auch die Mittelalterbegeisterung der Romantiker nicht fern. Und bezeichnenderweise beendet Goebbels seine Rede mit der Beschwörung spätmittelalterlicher Liedkunst: »Und nun: an die Arbeit und ›Glückauf zum Meistersingen!‹«59
Abb. 1: Karl Rössing, Ein Traum im deutschen Märchenwald, in: ders.: Mein Vorurteil gegen diese Zeit, Berlin 1932, S. 21.
55 Ebd., S. 332. 56 Ebd., S. 331. 57 Ebd., S. 332. 58 Ebd. 59 Ebd., S. 336.
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Das düstere Bedrohungsszenario am Vorabend des regressiven nationalsozialistischen Meistersingens fängt der österreichische Maler und Graphiker Karl Rössing in einem Bild ein. Unter den hundert zeitkritischen Holzstichen, die er 1932 in dem Band ›Mein Vorurteil gegen diese Zeit‹ publiziert, befindet sich auch ein Blatt, das einen, wie der Titel mit bitterer Ironie verrät, ›Traum im deutschen Märchenwald‹ ins Bild setzt (Abb. 1). Im Vordergrund posiert ein Repräsentant jener Partei, die sich anschickt, die politische Macht zu übernehmen. Es handelt sich um einen Portraitverschnitt des SA-Führers Ernst Röhm und des SS-Führers Heinrich Himmler.60 Im Hintergrund des Bildes löst sich Arminius/Hermann aus seiner Denkmalstarre und bewegt sich auf die Betrachtenden zu. Arminius stärkt dem Nationalsozialismus den Rücken. Man könnte auch sagen: Das ›Nibelungische‹ wird neu konfiguriert und aktiviert. Denn schon früh, seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts, wurde immer wieder über eine mögliche Identität von Arminius und Siegfried spekuliert.61
60 Vgl. 2000 Jahre Varusschlacht-Mythos, hg. vom Landesverband Lippe, Stuttgart 2009, S. 382. 61 Auf akademischem Boden wurde die These erstmals in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von Franz Josef Mone und Adolf Giesebrecht vorgebracht. Am Rande sei vermerkt, dass auch Carl Ludwig Sand, der Mörder August von Kotzebues, dieser Theorie anhing, vgl. Ehrismann (Anm. 4), S. 180. Im Nationalsozialismus fand die These, die auch in Romanen verarbeitet wurde, begreiflicherweise ebenfalls Beachtung, vgl. etwa Walther Linden: Das Fortwirken der altgermanischen Dichtung, in: Germanien 7 (1940), S. 244; Paul Albrecht: Arminius-Sigurfrid. Ein Roman des deutschen Volkes, Berlin 1935; Bodo Ernst: Siegfried-Armin. Der Mythos vom deutschen Menschen, Breslau 1935. In der Nachkriegszeit versuchte der (vorbelastete) Wiener Altgermanist Otto Höfler in mehreren Schriften nochmals das Motiv von Siegfrieds Drachentötung auf die historische Varus-Schlacht zurückzuführen, vgl. Otto Höfler: Siegfried, Arminius und die Symbolik, in: FS Franz Rolf Schröder, hg. v. Wolfdietrich Rasch, Heidelberg 1959, S. 11–121; Siegfried, Arminius und die Symbolik, Heidelberg 1961; Siegfried, Arminius und der Nibelungenhort, Wien 1978 (Österr. Akad. d. Wiss., Phil.-Hist. Kl., Sitzungsbericht 332). Vgl. hierzu kritisch u.a. Klaus von See: Germanische Heldensage, Frankfurt a.M. 1971, S. 29f.; Heinrich Beck: Zu Otto Höflers Siegfried-Arminius-Untersuchungen, in: PBB 107 (1985), S. 92–107; Matthias Hardt: Siegfried der Drachentöter. Otto Höfler und der Hildesheimer Silberschatz, in: 2000 Jahre Varusschlacht-Mythos (Anm. 60), S. 229–233. Vgl. zuletzt die ausführliche Darstellung von Lasse Wichert: Personale Mythen des Natio-
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Es ist unerheblich, ob dieser Hintergrund beim Betrachten des Bildes mitbedacht wird oder nicht. Der Symbolgehalt der Darstellung bleibt davon unberührt: Nationalsozialismus und Mittelalter bilden eine Allianz. Das Mittelalter leistet einen gewichtigen Beitrag zum »Reservoir der kulturellen Semantik«62, das den Intentionen des Nationalsozialismus dienstbar gemacht und der erforderlichen »semantischen Reaktionshitze«63 zugeführt wird. Da der Nationalsozialismus den deutschen Nationalismus in das Zentrum der Bewegung setzte, erfolgte der Zugriff auf das mittelalterliche Zeichenreservoir entsprechend selektiv. Man bevorzugte Stoffe, die mit dem ›germanischen‹ Mittelalter in Verbindung zu bringen waren – andere Werke wie die Artusromane Hartmanns von Aue oder der ›Tristan‹ Gottfrieds von Straßburg, die auf französischen Vorlagen beruhen, waren von deutlich geringerem Interesse. Hingegen waren die Nibelungen, wie bereits erwähnt, längst zu einem ›germanisch-deutschen‹ Symbolträger geworden.64 Sie spielten in allen vorgängigen großen Kriegen des Deutschen Reichs und insbesondere im Ersten Weltkrieg eine gewichtige Rolle. Man konnte auf ein bereits vorhandenes kulturelles Zeichenreservoir zurückgreifen und brauchte es nur mit den eigenen Absichten zu homogenisieren: Die Nibelungen wurden zu einem zentralen Bestandteil des Germanendiskurses respektive des nordischen Diskurses. Diese Entwicklung wird auch im benachbarten Ausland registriert: Von Paris aus beobachtet Joseph Roth, der regelmäßig Artikel für die Emigrantenzeitschrift ›Das Neue Tagebuch‹ verfasst, eine Akzentverschiebung beim nationalsozialistischen Rückgriff auf das zur Verfügung stehende kulturelle Zeichenreservoir. In einem Artikel aus dem Jahr 1938 hält er fest, dass die »vor einigen Jahren noch gültig gewesene Auffassung vom ›faustischen Drang‹ des deutschen Menschen […] immer mehr in den Hintergrund [tritt] zugunsten jener anderen, vom ›nordischen‹ […]«65. In der Tat hatte sich die Rede vom ›faustischen Menschen‹ insbe-
nalsozialismus. Die Gestaltung des Einzelnen in literarischen Entwürfen, Paderborn 2018, S. 79–209. 62 Albrecht Koschorke: Adolf Hitlers ›Mein Kampf‹. Zur Poetik des Nationalsozialismus, Berlin 2016, S. 10 u.ö. 63 Ebd., S. 8. 64 Zur germanischen Eingemeindung der Nibelungen im 19. Jahrhundert vgl. Wiwjorra (Anm. 48), S. 61–63; zur Gleichung ›germanisch-deutsch‹ vgl. ebd., S. 63–66. Vgl. auch Klaus von See: Barbar. Germane. Arier. Die Suche nach der Identität der Deutschen, Heidelberg 1994. 65 Joseph Roth: Der Mythos von der deutschen Seele, in: ders.: Werke, hg. u. eingeleitet von Hermann Kesten. Köln 1976, Bd. 4, S. 667–671, hier S. 668.
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sondere im Anschluss an Oswald Spenglers ›Untergang des Abendlandes‹ (1918/22) zu einem gewichtigen Element im zeitgenössischen Diskurs entwickelt,66 was auch dadurch evident wird, dass dem ›Faustischen‹ ein eigener Eintrag im Duden gewidmet wurde. Das ›Faustische‹ wurde erst nach der nationalsozialistischen Machtergreifung in den kanonischen deutschen Sprachbestand aufgenommen. In der 11. Auflage aus dem Jahr 1934 taucht das Lemma ›faustisch‹ erstmals auf: »nach Art und Wesen des Faust«.67 Jacob Grimms Begriffsprägung des ›Nibelungischen‹ war hingegen auch in dieser Auflage des ›Duden‹ kein Eintrag beschieden; offenkundig war sie an zu entlegener Stelle erschienen und blieb folglich unbemerkt. Auch in dem von den Grimms begründeten ›Deutschen Wörterbuch‹ findet sich zwar ein Eintrag ›Siegfried(i)sch‹ (»nach art Siegfrieds«)68, aber keiner zum ›Nibelungischen‹. Die für das ›Faustische‹ aufgebrachte Definition des ›Duden‹ ließe sich jedoch durchaus plausibel auf den Begriff des ›Nibelungischen‹ übertragen: ›nach Art und Wesen der Nibelungen‹. Im Nationalsozialismus wird das politische Potential des ›Nibelungischen‹ konsequent entfaltet.69 Der Altgermanist Dietrich von Kralik – um nur ein charakteristisches Beispiel zu nennen – eröffnet seinen Artikel über das ›Nibelungenlied‹ für die mehrbändige Reihe ›Von deutscher Art in Sprache und Dichtung‹ mit einem Satz von epischer Länge und epischem Gehalt: Auf deutschem Boden gewachsen, von deutschem Geiste gezeugt, aus deutschem Blute geboren, mit deutschem Schicksal mannigfach verknüpft, ist die nibelungische Dichtung das Selbstzeugnis des deutschen Volkes, das ihm seit der ältesten
66 Vgl. hierzu Franziska Bomski u. Anja Oesterhelt: Nazifizierung, in: Faust-Handbuch. Konstellationen – Diskurse – Medien. Hg. v. Carsten Rohde [u.a.], Stuttgart 2018, S. 427–437, hier S. 430. 67 Zitiert nach: Hans Schwerte: Faust und das Faustische. Ein Kapitel deutscher Ideologie, Stuttgart 1962, S. 22. Zum Verfasser (alias Hans Ernst Schneider) dieser Schrift vgl. Joachim Lerchenmüller u. Gerd Simon: Maskenwechsel. Wie der SS-Hauptsturmführer Schneider zum BRD-Hochschulrektor Schwerte wurde und andere Geschichten über die Wendigkeit deutscher Wissenschaft im 20. Jahrhundert, Tübingen 1999. 68 Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/23, www.woerterbuchnetz.de/DWB (Aufrufdatum: 1.5.2023) s.v. ›Siegfried(i)sch‹. 69 Einige der einschlägigen Textzitate versammelt Wunderlich (Anm. 4). Siehe auch die weiteren Beiträge in diesem Band.
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Zeit seines Werdens und Seins von der Poesie der Weltgeschichte seine weltgeschichtliche poetische Sendung bis in die jüngste Zeit beglaubigt.70
Die Reihe erschien im Jahr 1941. Eine solche Beglaubigung der »weltgeschichtliche[n] poetische[n] Sendung bis in die jüngste Zeit« schien dem Verfasser zu diesem Zeitpunkt offenkundig nötig zu sein. Die umständliche Formulierung lässt erahnen, dass es dem Verfasser um die Absetzung des ›Nibelungenlieds‹ von dem übernational und kosmopolitisch orientierten Begriff der ›Weltliteratur‹ ebenso ging wie um die geopolitisch-expansive Funktionalisierung des Textes in einer Zeit des, wie es in der Einleitung zu diesem Band heißt, »totalen Kriegs«71 – immerhin machen sich die modernen Nibelungen gerade erneut auf den Weg in den Osten. Die ›poetische Sendung‹ war im Jahr 1941 längst zu einer politischen geworden, als dessen Motor das ›Nibelungische‹ suggeriert wird. Nun ist die Wirkung des akademischen Diskurses auf eine breitere Öffentlichkeit durchaus begrenzt. Der universitäre Diskurs ist zunächst nur ein Diskurs unter vielen. Doch die ideologische bzw., um die zeitgenössische Terminologie zu bedienen, ›weltanschauliche‹ Beschwörung der Nibelungen-Aura überflutet alle Diskursgrenzen, und sie überflutet auch die Inhalte und die stoffliche Substanz des mittelhochdeutschen ›Nibelungenlieds‹ – eines Textes, der als höchst ambivalenter Text zu charakterisieren ist und dessen Brüche zudem von einem äußerst zurückhaltend kommentierenden Erzähler in aller Regel nicht aufgelöst werden.72 An dieser Stelle seien nur zwei charakteristische Eigenarten des mittelhochdeutschen ›Nibelungenlieds‹ in Erinnerung gerufen: Zum einen scheinen in diesem Text zwei Schichten miteinander zu konkurrieren. Eine höfische Schicht steht einer archaisch-barbarischen gegenüber. Kriemhild etwa begegnet zu Beginn als eine durchweg höfische Dame, die eine Minnebeziehung zu Siegfried eingeht. Am Ende ist sie die rächende Barbarin, die archaische Gewalt entfesselt. Zum anderen gibt keine klaren Polaritäten von Gut und Böse in der Figurengestaltung. Dies zeigt sich am deutlichsten an Hagen, der im ersten Teil einen Meuchelmord an dem verdienstvollen Verbündeten mit dem Speer begeht (Bildspender des ›Dolchstoßes‹), im zweiten Teil hingegen den Widerstand der Nibelungen an-
70 Dietrich von Kralik: Das Nibelungenlied, in: Von deutscher Art in Sprache und Dichtung, Stuttgart u. Berlin 1941, Bd. 2, S. 189–233, hier S. 189. 71 Franz Koch: Vorwort, in: Von deutscher Art in Sprache und Dichtung (Anm. 70), Bd. 1, S. V–IX, hier S. V. 72 Heinzle, Mythos Nibelungen (Anm. 4), S. 27, spricht von »narrativer Inkonsistenz«. Zu diesem Komplex vgl. auch den Beitrag von Ulrich Barton in diesem Band.
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führt, ihre Stellung bis zuletzt verteidigt (Bildspender der ›Nibelungentreue‹) und den eigenen Tod als Triumph feiert (Bildspender für den ›Sieg in der Niederlage‹). Die Ambivalenzen des mittelhochdeutschen ›Nibelungenlieds‹ stehen vordergründig einer Ideologisierung entgegen. Denn die Verwertung von literarischen Texten in politischer Lenkungsabsicht bedarf der Kenntlichmachung von klaren ethischen Verhaltensnormen und der Vermittlung von eindeutigen Botschaften, die aus dem Text abgeleitet werden können. Eine Indienstnahme der kulturellen Semantik des ›Nibelungenlieds‹ für die politische Gegenwart erfordert eigene Strategien der Anpassung und Aktualisierung. Dazu zählen unter anderem: 1. Es wird auf das ›Nibelungenlied‹ in seiner Gesamtheit Bezug genommen (›Das ›Nibelungenlied‹ ist…‹). Dem Text werden pauschal Eigenschaften zugewiesen, wodurch dem lenkenden Urteil viel Raum gegeben ist. Im Fall von Kralik werden dem Text auratische deutschnationale Merkmale zugesprochen. 2. Es wird selektiv, entkontextualisierend und in gezielter Ungenauigkeit auf einzelne inhaltliche Versatzstücke (Dolchstoß) oder Figuren (Siegfried, Hagen) zugegriffen, die zeitgeschichtliche Analogien ermöglichen. 3. Das Fiktionale wird historisiert und in eine direkte Verbindungslinie zur eigenen Gegenwart gestellt. Dies setzt zunächst voraus, dass der Text nicht einfach als literarische Fiktion aufgefasst wird, sondern als eine Fiktionalisierung von historischen Grundlagen (›Germanisierung‹ der Nibelungen). Hier konnte man auf eine lange akademische Tradition zurückgreifen, wie sie bereits im von Grimm rezensierten Buch Karl Wilhelm Göttlings greifbar wird.73 Die Rückführung Siegfrieds auf die historische Persönlichkeit des Arminius gehört ebenso hierher wie Otto Höflers Weigerung, die Nibelungen als »Literaturspielfiguren«74 zu betrachten. Die historischen Wurzeln aus der germanischen Frühzeit werden in verstärktem Ausmaß in die Deutung der Dichtung einbezogen. Die sagentypischen Elemente, das Märchenhafte und die höfischen Elemente des ›Nibelungenlieds‹ (wie etwa Tarnkappe, Brautwerbungsfahrt und die Minnebeziehung
73 Siehe oben, Abschnitt II. 74 Zit. nach Frank-Rutger Hausmann: Auch im Krieg schweigen die Musen nicht. Die Deutschen Wissenschaftlichen Institute im Zweiten Weltkrieg, Göttingen 2001, S. 206. Höfler interessierte sich in seinen wissenschaftlichen Arbeiten häufig für den – mutmaßlichen – ›historischen Kern‹ literarischer Figuren.
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zwischen Kriemhild und Siegfried) werden dagegen tendentiell übergangen. Zusätzlich wird Kontinuität75 unterstellt und der Re-Mediävalisierung des modernen Menschen dienstbar gemacht. Der Appellcharakter eines solchen Aktes lautet: ›Die Nibelungen des ›Nibelungenlieds‹ sind Germanen wie wir.‹ In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass die ›Germanisierung‹ des Staatswesens mit konkreten juristischen und verfassungsrechtlichen Konsequenzen verbunden war – und somit literarische Figuren wie Siegfried oder Dietrich von Bern indirekt auf die Erstellung der neuen Jurisdiktion einwirkten.76
75 Auf akademischem Boden war es ebenfalls Höfler, der mit seinen Arbeiten die Kontinuitätssuggestion vorantrieb. Vgl. etwa Otto Höfler: Das germanische Kontinuitätsproblem. Nach einem Vortrag, Hamburg 1937. Im Beitrag ›Germanische Einheit‹ sieht er das »Germanentum als etwas lebend sich Entwickelndes, nicht etwas Abgeschlossenes«, und »die Einheit des Germanischen [könnte sich nicht nur als] eine Tatsache der Vergangenheit, sondern als ein Gesetz, unter dem die Entwicklung unserer Geschichte steht, [erweisen]«, vgl. ders.: Germanische Einheit, in: Von deutscher Art in Sprache und Dichtung (Anm. 70), Bd. 2, S. 4–35, hier S. 29 u. 34. Vgl. zu diesem Komplex auch Helmut Birkhan: Vorwort. Jacob Grimm und die germanische Kontinuität, in: Jacob Grimm. Deutsche Mythologie I, Hildesheim 2001 (Jacob und Wilhelm Grimm. Werke. Forschungsausgabe. Abt. I, Bd. 26), S. 1*–32* (zu Höfler S. 20*ff.). 76 Vgl. allgemein Dietmut Majer: Grundlagen des nationalsozialistischen Rechtssystems. Führerprinzip, Sonderrecht, Einheitspartei, Stuttgart [u.a.] 1987. Aufschlussreich ist eine frühe Bemerkung Hitlers auf der ›General-Mitgliederversammlung und Parteitagung der NSDAP‹ am 23.1.1922: »Verzückte Rechtsgelehrte wühlten in mittelalterlichen Rechten herum, verschlangen Sachsen- und Schwabenspiegel und glaubten, ein ganzes Volk ohne weiteres um tausend Jahre zurückverschieben zu können.« Dagegen fordert Hitler »die Schöpfung eines neuen germanischen Rechtes, auf das schärfste angepaßt den wirtschaftlichen Bedingungen unserer Zeit, auf das innigste entsprechend dem Gefühl unseres Blutes, dem Instinkt unserer Rasse«, vgl. Adolf Hitler: Sämtliche Aufzeichnungen 1905–1924, hg. v. Eberhard Jäckel u. Axel Kuhn, Stuttgart 1980, S. 551. Der Boden für den später staatlich verankerten Führerkult wurde auf den Hochschulen maßgeblich mitaufbereitet, vgl. etwa Wolfgang Stammler: Germanisches Führerideal. Rede bei der 60. Reichs-Gründungsfeier der Universität Greifswald am 17. Januar 1931, Greifswald 1931. Stammler beschwört die Notwendigkeit einer Führerfigur in einer »tief darniederliegend[en] und von Katastrophen auf das schwerste erschüttert[en]« Lage (ebd., S. 3). Mit Blick auf den Versailler Vertrag fordert Stammler, dass »[d]ie Universität […] die Waffen für die-
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4. Der nibelungische Zeichenvorrat, aus dem ideologische Narrative abgeleitet werden, erfährt eine fortlaufende Erweiterung und Vermengung. In den Zeichenvorrat können neben Versatzstücken aus der mittelalterlichen skandinavischen und der übrigen europäischen Überlieferung ebenso eingehen wie solche aus der modernen Nibelungen-Rezeption. Hier ist an erster Stelle Richard Wagner zu nennen, dessen Rezeption mit dem Zentrum an der ›Weihestätte‹ Bayreuth im Nationalsozialismus nachgerade kultische Züge angenommen hatte.77 Auch die Gründung der Wormser Nibelungenfestspiele im Jahr 193778 und die Aufführungen auf Freiluft- und Jugendbühnen, die nicht selten ebenfalls den Charakter von ›Weihespielen‹ annahmen, sorgten für regelmäßige Neubearbeitungen und -inszenierungen.79 Darüber hinaus gewährleisten Volks- und Feldausgaben, Sagen-
sen geistigen Lebens- und Völkerkampf liefern« solle (S. 14). Als Beispiel für eine vorbildliche germanische Führerfigur nennt er nicht etwa Siegfried, der es unter seiner »Hornhaut […] zu bequem« habe, sondern »die gewaltigste Gestalt unter den germanischen Stammeskönigen, Dietrich von Bern« (S. 12f.). Im Zusammenhang der Germanisierung des Rechtswesens sei noch auf das auf Ende 1944 datierte, in gotischer Schrifttype (!) abgefasste Typoskript einer Rede Otto Höflers hingewiesen: Die Ursprünge der germanischen Staatsbildnerkraft, zugänglich unter: www.gerd-simon .de/hoeflerurspruenge.pdf (Aufrufdatum: 1.5.2023). 77 Zur Wagner-Rezeption im Nationalsozialismus vgl. Udo Bermbach: Richard Wagner in Deutschland. Rezeption – Verfälschungen, Stuttgart 2011; ders.: Die Entnazifizierung Richard Wagners. Die Programmhefte der Bayreuther Festspiele 1951–1976, Berlin 2020; Alex Ross: Die Welt nach Wagner. Ein deutscher Künstler und sein Einfluss auf die Moderne. Aus dem Englischen übers. v. Gloria Buschor u. Günter Kotzor, 3. Aufl., Hamburg 2021; Hitler. Macht. Oper. Propaganda und Musiktheater in Nürnberg 1920–1950, hg. v. Silvia Bier [u.a.], Würzburg 2020; Sündenfall der Künste? Richard Wagner, der Nationalsozialismus und die Folgen, hg. v. Katharina Wagner [u.a.], Kassel 2018; Hubert Kiesewetter: Von Richard Wagner zu Adolf Hitler. Varianten einer rassistischen Ideologie, Berlin 2015; Sebastian Werr: Heroische Weltsicht. Hitler und die Musik, Köln [u.a.] 2014; Andrea Mork: Richard Wagner als politischer Schriftsteller. Weltanschauung und Wirkungsgeschichte, Frankfurt a.M. 1990. 78 Die Wormser Nibelungenfestspiele, in deren Zentrum Friedrich Hebbels Trauerspiel ›Die Nibelungen‹ stand, fanden in der NS-Zeit allerdings nur bis 1939 statt. 79 So wurde etwa Hans Baumanns Nibelungenspiel ›Rüdiger von Bechelaren‹ in den Jahren 1939 und 1940 in Passau auf einer Freilichtbühne aufgeführt, vgl. hierzu die Dokumentation in: Anna Rosmus: Hitlers Nibelungen, Grafenau 2015, S. 252–260.
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sammlungen und (in immer neuen Auflagen erscheinende) Nacherzählungen des ›Nibelungenlieds‹ sowie diverse weitere literarische Bearbeitungen eine weitreichende Präsenz des erweiterten nibelungischen Zeichenvorrats im Deutschen Reich. Die ideologischen Aktivierungen des nibelungischen Zeichenvorrats wiederum erfolgen subjektdezentriert, diskursüberschreitend und multimedial. ›Subjektdezentriert‹, weil es nicht die eine zentrale Institution oder Person gibt, die ›Nibelungisches‹ planmäßig in die Welt setzt. Wohl gab es auf institutioneller Ebene Stellen (Propagandaministerium, Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe etc.) bzw. Personen (Joseph Goebbels, Heinrich Himmler etc.), die die Nibelungisierung der Gesellschaft gezielt vorantrieben. Dieses Bestreben wurde begünstigt durch den Umstand, dass bereits aus der Propaganda des Ersten Weltkriegs und der vorgängigen Kriege sowie allgemein in den Zirkeln der deutschnationalreaktionären (›alldeutschen‹) Kräfte der Weimarer Republik bzw. der Zwischenkriegszeit, die nun an die Macht kamen, ein traditioneller nibelungischer Zeichenvorrat zur Verfügung stand, auf den zurückgegriffen werden konnte. Doch wurde die nibelungische Saat an vielen Orten gestreut, und die Saat ging auf. ›Diskursüberschreitend‹ meint, dass die Nibelungisierung viele verschiedene gesellschaftliche Diskurse der Zeit erfasst und keineswegs auf den literarischen oder wissenschaftlichen Diskurs beschränkt bleibt. Auf akademischem Boden beobachtet und beschrieben wurde dieses Phänomen bereits in der Zeit des Nationalsozialismus selbst, etwa in einer von Hans Naumann betreuten Dissertation: Die Bausteine der Nibelungen, sie sind auch die Bausteine aller deutschen Wissensgebiete: der Politik, der Kunst, der Literatur und wie sie alle heißen mögen,
Feierlich-musikalisch gerahmt ist das Drama von Ernst Hüttig: Siegfried. Festliches Spiel in drei dramatischen Szenen und zwei Bühnenbildern, mit Sprechchören und Gesängen. Musik von Gerhard Günther, Leipzig 1934. In der von der Reichsjugendführung der NSDAP herausgegebenen Reihe ›Spiele der deutschen Jugend‹ erschienen Dramatisierungen des (erweiterten) Nibelungenstoffs, u.a. von Erich Colberg ›Gudrun in der Normandie. Ein Spiel für Mädchen‹ (1938), ›Hagen. Ein feierliches Spiel‹ (1939) und ›Brunhild. Ein feierliches Spiel‹ (1942); vgl. hierzu Ingrid Bennewitz: ›Der Tronjer fiel von Weibeshand‹. Zur Rezeption des Mittelalters in den deutsch-österreichischen Jugendspielen 1930–1950, in: Mittelalter-Rezeption. Bd. 4: Medien, Politik, Ideologie, Ökonomie, hg. v. Irene v. Burg [u.a.], S. 95–116.
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sie sind letzten Endes die Bausteine, aus denen sich das ganze Gebäude des Deutschen Reichs zusammensetzt.80
Um eine multisensorische Wahrnehmung der nibelungischen Zeichen zu gewährleisten, werden diese diskursüberschreitend und multimedial verbreitet.81 Die Distribution der nibelungischen Zeichen erfolgt graphisch (akademische Schriften, esoterisch-okkultes Schrifttum, Schulbücher, Schulungsmaterialien für die NS-Elite, Zeitungs- und Zeitschriftenartikel, Belletristik, Namengebung von Personen,82 Gebäuden,83 Städten,84 Straßen, militärischen Operationen85 und Einheiten86 etc.), akustisch (politische Reden und Festreden zu verschiedenen Anlässen vor Ort und im Rundfunk; Richard Wagner-Opern, die häufig im Rundfunk in Form von Kennmelodien anzitiert wurden; Märsche,87 die nun auch repetitiv über die neuartigen Schellackplatten gehört werden konnten), und visuell (Malerei und Fresco-Malerei,88 Fliesenwandbilder,89 Wandteppiche,90 Plaka-
80 Maria Jacoba Hartsen: Die Bausteine des Gudrunepos, Bonn 1941, zit. nach: Léon Poliakov u. Josef Wulf: Das Dritte Reich und seine Denker. Dokumente. BerlinGrunewald 1959, S. 88. 81 Da in Abschnitt IV eine umfassende Auswertung der Quellen erfolgt, werden im Folgenden nur wenige repräsentative Beispiele angeführt. 82 Zur ›Aufnordung‹ und ›Germanisierung‹ der Personennamen im Nationalsozialismus vgl. auch das Nachwort von Uwe Johnson zu dessen Nibelungen-Übersetzung: Das Nibelungenlied. In Prosa übertragen von dems. und Manfred Bierwisch. Frankfurt a.M. u. Leipzig 2006, S. 243. Zu diesem Komplex zählen auch die kurz nach der Machtübernahme durchgeführten Eingriffe der Nationalsozialisten in die Buchstabiertafeln, aus denen systematisch biblische Namen entfernt und durch ›deutsche‹ ersetzt wurden (›S wie Siegfried‹ anstelle von ›S wie Samuel‹ etc.). 83 Passauer ›Nibelungenhalle‹ (eröffnet 1935), vgl. Rosmus (Anm. 79), S. 98–101. 84 Zu den Selbsttitulierungen mancher Städte als ›Nibelungenstädte‹ vgl. The Nibelungen Tradition (Anm. 4) s.v. ›Nibelungenstädte‹. 85 ›Operation Siegfried‹ (1941, Einnahme der estnischen Insel Dagö). 86 38. SS-Grenadier-Division ›Nibelungen‹. 87 Gottfried Sonntags 1876 komponierter ›Nibelungenmarsch‹ etwa bildete auf den Nürnberger Reichsparteitagen bisweilen ein musikalisches Rahmenelement, vgl. Ross (Anm. 77), S. 624. Die Schlusssequenzen von Leni Riefenstahls Propagandafilm ›Triumph des Willens‹ (1935) sind ebenfalls mit dem ›Nibelungenmarsch‹ unterlegt, vgl. ebd., S. 679. 88 Hans Groß: Hagen versenkt den Nibelungenhort (Freskomalerei auf Hartfaserplatte, Rathaus Worms, 1930er-Jahre), vgl. Uns ist in alten Mären… Das Nibelungenlied
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te,91 Brunnen,92 Brücken mit Nibelungenskulpturen,93 Film,94 Deutsche Wochenschau).95 Die nibelungische Codierung stellt einen Teilbereich der umfassenden Germanisierung der Gesellschaft dar, die von den nationalsozialistischen Machthabern vorangetrieben wurde. Die subjektdezentrierte, diskursüberschreitende und multimediale Distribution der nibelungischen Zeichen sorgt für eine Allgegenwart des ›Nibelungischen‹, die den Eindruck einer Gesellschaft entstehen lässt, die sich in ›Art und Wesen‹ den Nibelungen angleicht. Was dem modernen Menschen befremdlich erscheinen müsste, wird dem »totalitär disponierten Menschen«96 der Moderne zu einer Art von Selbstverständlichkeit, zu einer kruden Wirklichkeit: Dass nämlich der deutsche Mensch ein nibelungischer sei. Diese neu geschaffene nibelungische Gegenwart lenkt ihrerseits den Blick des Auslands auf das nationalsozialistische Deutschland. Joseph Roth hielt im Jahr 1938 fest, dass die ausländischen Journalisten, Diplomaten und Touristen Deutschland aus der Perspektive von Germanisten betrachteten, die die Vorgän-
und seine Welt, hg. v. der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe u. dem Badischen Landesmuseum Karlsruhe, Darmstadt 2003, S. 175. 89 Gustav Heinkel: Versenkung des Nibelungenschatzes im Rhein (KarlsruheKnielingen, ehemals NS-Offizierskasino, 1938); vgl. Uns ist in alten Mären (Anm. 88), S. 186f. 90 Zu den vom Reichspropagadandaministerium 1943 in Auftrag gegebenen Nibelungen-Tapisserien vgl. Hitler und die Deutschen. Volksgemeinschaft und Verbrechen, hg. v. Hans-Ulrich Thamer u. Simone Erpel, Dresden 2011, S. 272f. 91 Sehr aufschlussreich ist etwa die weltweit betriebene Propaganda über Anwerbungsplakate der Waffen-SS, bei denen häufig auf ›mittelalterliche‹ Ikonographie (Kreuzritter, Germanen, ›Nibelungisches‹ wie Drachenkampf, brennende Halle, Schmieden des Schwertes) rekurriert wird. 92 ›Siegfriedbrunnen‹ (Dresden, geschaffen 1936 von Franz Weschke). 93 Linzer ›Nibelungenbrücke‹; s. unten, Anm. 150. 94 Zur nationalsozialistischen Rezeption von Fritz Langs Nibelungenfilm aus dem Jahr 1924 vgl. Schöller (Anm. 4), S. 43, Anm. 7. Vgl. auch den grundlegenden Beitrag von Christian Kiening u. Cornelia Herberichs: Fritz Lang: Die Nibelungen (1924), in: Mittelalter im Film, hg. v. Christian Kiening u. Heinrich Adolf, Berlin u. New York 2006 (Trends in Medieval Philology 6), S. 189–225. 95 Vgl. hierzu auch Schöller (Anm. 4), S. 44. 96 Joachim C. Fest: Das Gesicht des Dritten Reiches. Profile einer totalitären Herrschaft, Berlin 1964, S. 407.
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ge nach dem Modell des ›Rings des Nibelungen‹ interpretieren.97 Dieses Muster zieht sich auch durch die Kriegsjahre, in denen die ausländische Presse Ereignisse und Mentalitäten nach dem Muster der Nibelungen analysiert. Den nibelungischen Diskursformationen des Deutschen Reichs und deren Spiegelungen im Ausland nachzuspüren, bedeutet auch, das Quellenmaterial in kulturwissenschaftlicher Tradition erheblich gegenüber den traditionellen germanistischen Corpora zu erweitern. Zu diesem Zweck sollten insbesondere die sogenannten ›grauen Texte‹ stärker berücksichtigt werden. Die Bezeichnung stammt von dem französischen Historiker Johann Chapoutot, der 2014 mit seinem Buch ›La loi du sang‹ ein Standardwerk auf dem Gebiet der ›Weltanschauungsforschung‹ im Nationalsozialismus vorlegte.98 Das Buch zeichnet eine in der Geschichtswissenschaft99 ebenso ungewöhnliche wie innovative Perspektive aus, indem es – bei äußerst zurückhaltender Kommentierung – unterschiedliche Stimmen aus der Zeit des Nationalsozialismus erklingen lässt mit dem Effekt, dass die Stimmen direkt auf Leser und Leserin einwirken und dadurch bis zu einem gewissen Grad ihre ursprüngliche Suggestionskraft zurückerhalten. Die wissenschaftliche Leistung des Buches besteht in der Sichtung und Anordnung des Materials, wodurch »kartographisch die Gedankenwelt«100 des Nationalsozialismus sowie die »Logik und interne Kohärenz eines sinnhaften NS-Diskurses«101 offengelegt wird. Unter ›grauen Texten‹ versteht Chapoutot Texte, die bislang aufgrund ihrer vordergründigen Trivialität und mangelnden Dignität von der Forschung kaum zur Kenntnis genommen wurden, deren Wirksamkeit für die Ausbildung und Kennzeichnung von normativen Wertvorstellungen und Sinnorientierungen aber umso größer ist: Zeitungsartikel, Broschüren, Literatur für weltanschauliche Schulungskurse, Memoirenliteratur, Kriegstagebücher, Leserbriefe, dokumentarische und fiktionale Filme etc. Die fortschreitende Digitalisie-
97 Vgl. Joseph Roth: Der Mythos von der deutschen Seele, in: ders.: Werke (Anm. 65), Bd. 4, S. 667–671. Vgl. dazu Schöller (Anm. 4), S. 56–58. 98 Johann Chapoutot: Das Gesetz des Blutes. Von der NS-Weltanschauung zum Vernichtungskrieg. Aus dem Französischen übers. v. Walter Fekl, Darmstadt 2016. 99 Als literarische Beispiele für die Verwendung einer vergleichbaren Montagetechnik zur Offenlegung kollektiver mentaler Prozesse in der Zeit des Nationalsozialismus wären etwa Walter Kempowskis vielbändiges Opus magnum ›Das Echolot. Ein kollektives Tagebuch‹ (1993–2005) und Nicholson Bakers ›Human Smoke‹ (2008; auf Deutsch 2009 erschienen unter dem Titel ›Menschenrauch. Wie der Zweite Weltkrieg begann und die Zivilisation endete‹) zu nennen. 100 Chapoutot (Anm. 98), S. 15. 101 Ebd., S. 17.
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rung der Textzeugen und Dokumente ermöglicht eine zielgerichtete Erschließung des Materials, die zuvor in dieser Form nicht möglich war. Und schließlich bedarf ein rezeptionsgeschichtlicher Zugriff auf die Zeit des Nationalsozialismus auch einer stärkeren internationalen Ausrichtung des Erkenntnisinteresses, einer Überschreitung der engen nationalen Grenzen, die bislang den Blick der mediävistischen Germanistik eingeengt haben.102 Auch bei Chapoutot fehlt die Berücksichtigung der internationalen Perspektive, die für ein umfassendes reziprokes Bild nötig wäre. In der Folge wird die nibelungische Geschichte des ›Dritten Reichs‹ auf der Basis von diversen ›grauen Texten‹ (und Bildern) wie auch von offiziellen Dokumenten erzählt. Ausgewertet wurden Quellen aus dem Deutschen Reich (inklusive des nach der Annexion ›Ostmark‹ genannten Österreich) und solche insbesondere aus dem angelsächsischen Raum (USA, Großbritannien) sowie der benachbarten Schweiz und Österreich vor dem ›Anschluss‹ – somit von Ländern, die das Geschehen entweder als aktive Kriegsteilnehmer oder aus der Perspektive eines bedrohten Nachbarlandes genau beobachteten und kommentierten.103 Da diese Belege – im Gegensatz zu den einschlägigen nationalsozialistischen Zitaten – bislang in der deutschsprachigen Rezeptionsforschung nicht ausgewertet wurden, finden sie verstärkt Berücksichtigung. Insgesamt sollte die Konstruktion und Selbstzuschreibung einer ›nibelungischen Mentalität‹ auf deutscher Seite ebenso deutlich werden wie die überaus rege Beteiligung am nibelungischen Diskurs durch das Ausland. Es versteht sich von selbst, dass eine solche, nibelungisch perspektivierte Erzählung der Geschichte des ›Dritten Reichs‹ stets sub-
102 Richtungsweisend für eine »Karte der Mittelalterrelevanz in europäischen Ländern« (Bernd Schneidmüller: Gebrauch und Missbrauch des Mittelalters als Herausforderung, S. 337–343, hier S. 337) ist der Tagungsband: Gebrauch und Missbrauch des Mittelalters, 19.–21. Jahrhundert, hg. v. János M. Bak [u.a.], München 2009 (MittelalterStudien 17). Wichtige Impulse für eine internationale Nibelungenrezeption lieferten u.a. die Einträge in The Nibelungen Tradition (Anm. 4) und einzelne Publikationen im Rahmen der Wormser Nibelungenliedgesellschaft (Anm. 4). 103 Ausgewertet wurden die Datenbank-Archive von ›The New York Times‹ (https://archive.nytimes.com/www.nytimes.com/ref/membercenter/nytarchive.html) und ›The Chicago Tribune‹ (https://chicagotribune.newspapers.com, Aufrufdatum jeweils: 1.5.2023) sowie weitere Zeitungs- und Zeitschriftendatenbanken im englisch- und deutschsprachigen Raum. Daneben wurden auch verschiedene andere Quellen (Tagebücher, Kampfschriften etc.) gesichtet. Die Artikel der ›New York Times‹ müssen über das Tagesdatum der jeweiligen Ausgabe abgerufen werden, da die Seitenzahlen beim Archivieren nicht mitgeliefert werden.
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jektiv bleiben muss und je nach Auswahl der Quellen – zu ergänzen wären noch zumindest Quellen aus den Ländern der weiteren Kriegsteilnehmer (Frankreich, Russland, Japan etc.) – in vielfältiger Form neu und anders erzählt werden kann. IV
Eine nibelungische Geschichte des ›Dritten Reichs‹: Innen- und Außenperspektiven
Der Dolchstoß Alles begann mit einer großen Niedertracht. Selbst einem einfachen Gefreiten wie Adolf Hitler konnte es nicht verborgen bleiben, dass Deutschland erneut gemeuchelt wurde. Bereits 1923 hält er im ›Völkischen Beobachter‹ fest, dass »die Novemberverbrecher […] dem deutschen Siegfried den Dolch in den Rücken stieße[n]«104. Diese Einsicht in den Lauf der Dinge, die später als historisches Faktum Eingang in die Schulbücher des ›Dritten Reichs‹ finden sollte, wiederholt Hitler in seinem zweibändigen, 1925 und 1927 publizierten Manifest ›Mein Kampf‹, der grundlegenden Schrift der nationalsozialistischen Bewegung. Schließlich sei auch Südtirol verloren gegangen, weil »die Mäuler dieser Ephialtesse [gemeint sind Mitglieder des Parlaments; R.S.] gegen diesen Sieg [im Weltkrieg; R.S.] so lange gehetzt und gewühlt [hätten], bis endlich der kämpfende Siegfried dem hinterhältigen Dolchstoß erlag.«105 Die Schuld trägt für Hitler die »jüdische Weltfinanz«, der es gelang, »eine Koalition zusammen[zu]schmieden«, die bereit war, »dem gehörnten Siegfried endlich auf den Leib zu rücken«106. Doch Resignation ist Hitlers Sache nicht. Vielmehr erinnert er an eine Rede im Münchner Hofbräuhaus, in der es ihm gelang, das Publikum zuversichtlich zu stimmen: »Ein Feuer war entzündet, aus dessen Glut dereinst das Schwert kommen muß, das dem germanischen Siegfried die Freiheit, der deutschen Nation das Leben wiedergewinnen soll.«107 Hitler lässt seinen Worten bald Taten folgen: Am 30. Januar 1933 wird er zum deutschen Kanzler ernannt und die Weimarer Republik beendet.
104 Völkischer Beobachter (27.1.1923), zit. nach: Hitler. Sämtliche Aufzeichnungen (Anm. 76), S. 801. Hitler benutzte den ›Dolchstoß‹ (15 Belege bis 1924) und die ›Novemberverbrecher‹ (30 Belege) als agitatorische Leitbegriffe in seinen Reden und Schriften (vgl. ebd. im Register s.v. ›Dolchstoß‹ und ›Novemberverbrecher‹). 105 Adolf Hitler: Mein Kampf. Eine kritische Edition. Im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte, hg. v. Christian Hartmann [u.a.], Berlin 2016, Bd. 2, S. 1589 [283]. 106 Ebd., Bd. 1, S. 423 [156]. 107 Ebd., Bd. 1, S. 947 [392].
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Im Märchenland Spätestens seit diesem Zeitpunkt wird das Geschehen auch im Ausland genau beobachtet und analysiert, wobei das historische Selbstverständnis dieses neuen Deutschlands in den Fokus gerät. ›The Scotsman‹ berichtet in seiner Ausgabe vom 22. März 1935 unter dem Titel ›The Nazi Religion‹, dass Deutschland an die Stelle der Heiligen Schrift »the Icelandic Sagas, the Eddas, the Nibelungen Faust [!]« und andere Texte setze. »And Odin, Siegfried, Widukind, Theodoric, Wagner, Frederick the Great, Bismarck, Hitler shall be the heroes of the new Germany.«108 Am 17. September dieses Jahres vermerkt die ›Western Mail & South Wales News‹ unter dem Titel ›Hitler’s Political Testament‹, dass eine Rede Hitlers umrahmt wurde »by the playing of the ›Nibelungen‹ music of Wagner by the Nazi [!] Symphony Orchestra«109. Die ›Chicago Tribune‹ weist darauf hin, dass Hitlers Formel »almost prehistoric« anmutet: »Hero worship is the magic cure a stricken people apply to their wounds.» Das ›Nibelungenlied‹ feiere den Untergang der Helden wie einen Sieg. Bereits die preußische Armee habe in ihrem Kampf gegen Napoleon ihre Soldaten mit Feldausgaben des ›Nibelungenlieds‹ ausgestattet.110 Selbst die Benennungen von deutschen Wohnvierteln stoßen im angelsächsischen Raum auf Interesse: Unter Bezugnahme auf einen Beitrag der Berliner Presseagentur Reuters berichtet ›The Scotsman‹ am 15. Februar 1938, dass Berlin »a fairyland quarter« bekomme. Straßen und Plätze würden umbenannt in ›Dwarf’s Way‹, ›Gnome Place‹ und ›Hobgoblin Street‹. »Others are to be called after characters in the Nibelungen legends.«111 Unterdessen gründet Joseph Goebbels in Deutschland den ›Nibelungen-Verlag‹, der die Taten des ›Dritten Reichs‹ publizistisch begleiten soll.112 ›Die Jungmädelschaft‹ empfiehlt das ›Nibelungenlied‹ als Thema für die Gestaltung von Heimabenden für zehn- bis zwölfjährige Jungmädels.113 Die Erziehungsverantwortlichen des Reichs geben sich alle Mühe, die Jugend nibelungisch zu konditionie-
108 The Scotsman (22.3.1935), S. 10. 109 Western Mail & South Wales News (17.9.1935), S. 10. 110 The Chicago Tribune (9.2.1936), S. 14. 111 The Scotsman (15.2.1938), S. 14. Das ›Nibelungen-Viertel‹ in Berlin-Lichtenberg existiert noch heute. 112 Der Verlag wurde 1934 an den Standorten Berlin und Leipzig gegründet. Vgl. hierzu: The Nibelungen Tradition (Anm. 4) s.v. ›Nibelungen-Verlag‹. 113 Die Jungmädelschaft. Blätter für Heimabendgestaltung der Jungmädel, MärzAusgabe 1938, Folge 3, hg. v. der Reichsjugendführung der NSDAP u. v. Amt für weltanschauliche Schulung, Berlin 1938.
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ren. Bereits vor der ›Machtergreifung‹, im Oktober 1932, verkündete Adolf Hitler in Potsdam am Reichsjugendtag: »Was du, mein lieber deutscher Junge, in deinen Heldensagen und in deinen Heldenliedern bewunderst, dem mußt du selbst nachstreben, damit dein Volk einst würdig ist, im Heldenlied besungen zu werden.«114 Im Schulunterricht wird das ›Nibelungenlied‹ ausführlich, wenn auch nur unter ausgewählten Aspekten beleuchtet,115 gemäß der Vorgabe eines Severin Rüttgers, der das ›Nibelungenlied‹ als »Krongut völkischer Erziehung«116 feiert, oder eines Wilhelm Helmich, der den »rassische[n] Erziehungswert«117 des Textes hervorhebt. Um die »Entnahme politischen Sinngehalts«118 zu gewährleisten, werden in die Behandlung des Nibelungenstoffs einschlägige moderne Bearbeitungen wie ›Hagens Sterbelied‹ von Felix Dahn oder die Ballade ›Die Nibelungen‹ von Agnes Miegel ebenso eingestreut wie ›weltanschauliche‹ Texte von Ernst Jünger oder Adolf Hitler und »theoretische Abhandlungen zur ›heldischen Rasse‹«.119 In den Schulbüchern wird gesät, was diese Generation später in Stalingrad ernten wird.120 Nibelungentreue Auch dem benachbarten Österreich bleibt dieses, je nach Perspektive, märchenhaft oder gespenstisch anmutende Treiben nicht verborgen. Der österreichische Schriftsteller Karl Kraus beobachtet Hitler spätestens seit 1923. In diesem Jahr
114 Zitiert nach Edwards (Anm. 4), S. 98. 115 In den Schulbüchern ist von »Leitgedanken zu geschlossenen Stoffkreisen« die Rede, vgl. Karen Werner: ›Mit dem Helden steht die Norm auf‹. Ältere deutsche Literatur in der Mittelschule des 20. Jahrhunderts, Chemnitz 2014, S. 75. 116 Zit. nach Werner Wunderlich: »Ein Hauptbuch bey der Erziehung der deutschen Jugend…« Zur pädagogischen Indienstnahme des ›Nibelungenlieds‹ für Schule und Unterricht im 19. und 20. Jahrhundert, in: Heinzle/Waldschmidt (Anm. 4), S. 119– 150, hier S. 130; vgl. auch Werner Wunderlich: Nibelungenpädagogik, in: Heinzle [u.a.] (Anm. 4), S. 345–373. 117 Zit. nach Wunderlich: Ein Hauptbuch (Anm. 116), S. 146. Helmich empfiehlt, die gegensätzlichen Charakterisierungen und Handlungsmotivationen von Siegfried und Hagen auf die Polaritäten ›Licht/Dunkel‹, ›Gut/Böse‹ und ›Liebe/Hass‹ zu reduzieren, um für Kinder verständlich zu bleiben (vgl. ebd., S. 148). 118 Werner (Anm. 115), S. 76. 119 Ebd., S. 78. 120 Vgl. Wunderlich (Anm. 116), S. 131.
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wird Hitler erstmals in der Zeitschrift ›Die Fackel‹ erwähnt.121 Er muss mitansehen, wie die »Siegfriedler«122 – Kraus’ Bezeichnung für die deutschnationalen Kräfte – immer größeren Einfluss auf die deutsche Politik gewinnen. Nach der ›Machtergreifung‹ der Nationalsozialisten in Deutschland verfasst er die erst posthum nach dem Zweiten Weltkrieg erschienene Satire ›Die Dritte Walpurgisnacht‹.123 Darin hält er fest, dass sich Siegfried längst wieder in Stellung gebracht hat, und beklagt die »Assoziation, die der zermürbende, ermüdende, vampirhaft Europa belagernde Begriff dieses ewigen Siegfriedwesens längst mit einer bezogenen Siegfriedstellung eingegangen ist«.124 Nur zwei Jahre nach dem Tod von Karl Kraus sieht sich Österreich mit diesem aggressiv auftretenden Siegfriedwesen konfrontiert. In seiner der Parole ›Bis hierher und nicht weiter‹ verschriebenen Rede vom 24. Februar 1938 im historischen Reichsratssitzungs-
121 Vgl. hierzu Jens Malte Fischer: Karl Kraus. Dritte Walpurgisnacht, in: Merkur 698 (2007), S. 554–559; Robert Schöller: Die Romantik der Menschenschändung. Karl Kraus, Richard Schuberth und die Gegenwart, in: Wespennest. Zeitschrift für brauchbare Texte 172 (2017), S. 100–103, hier S. 100. Das Hakenkreuz findet erstmals Erwähnung in der ›Fackel‹ 557 (1921), S. 59: »[…] Deutschland, wo das Hakenkreuz über den Trümmern des Weltbrands ragt«; vgl. hierzu Edward Timms: Karl Kraus. Die Krise der Nachkriegszeit und der Aufstieg des Hakenkreuzes, Weitra 2016, S. 31. 122 Kraus’ Verurteilung der deutschnationalen Kräfte, die bereits im Ersten Weltkrieg eine tragende Rolle spielten, lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig, vgl. Die Fackel 531 (1920), S. 80: »Die alldeutschen Siegfriedler und Kriegshetzer, für die die Bauern und Arbeiter gut genug waren, an der Front sich abschlachten zu lassen, diese feigen Speichellecker, die in sklavischer, hündischer Untertänigkeit vor den allerhöchsten Gauklern und Verbrechern im Staube krochen, wollen auch bei uns wieder ihr sauberes Handwerk beginnen und erlauben sich heute ganz unglaubliche Frechheiten.« 123 Zitiert wird nach der Ausgabe: Karl Kraus: Werke. Bd. 1: Die dritte Walpurgisnacht, hg. v. Heinrich Fischer, 3. Aufl. München 1965. 124 Kraus: Dritte Walpurgisnacht (Anm. 123), S. 78. Kraus gebraucht in seinen Texten öfters den Begriff der ›Siegfriedstellung‹, die eine deutsche Verteidigungslinie im Ersten Weltkrieg bezeichnet. Kraus weist jedoch dem militärischen Terminus eine neue Bedeutung zu: Siegfried begibt sich in aggressiver Pose herausfordernd in Stellung, um, so ist zu ergänzen, nach einem weiteren Kriegsgemetzel erneut besiegt (›ermordet‹) zu werden. Der Begriff der ›Siegfriedstellung‹ impliziert bei Kraus somit eine Opfer-Täter-Umkehr, die er an anderer Stelle mit der Wendung der ›verfolgenden Unschuld‹ beschreibt. Vgl. hierzu Schöller (Anm. 4), S. 51.
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saal des Parlaments versucht der österreichische Bundeskanzler Kurt Schuschnigg, den drohenden Angriff durch die deutsche Armee verbal abzuwehren. Am Folgetag druckt die dem Ständestaat eng verbundene österreichische Tageszeitung ›Die Reichspost‹ Schuschniggs Ansprache unter dem Titel ›Die Botschaft des Bundeskanzlers‹ ab, ergänzt durch eine (reichlich unpräzise) Erinnerung an nibelungisches Fehlverhalten: Aus wäre es mit dem Ruf des deutschen Namens in der Welt, wenn das gegebene deutsche Wort in Verruf käme, wenn ein deutscher Handschlag nicht mehr anders bewertet würde als jener weltgeschichtliche Kuss, mit dem einst Treulosigkeit ihre Untat besiegelte, als der Händedruck, den Hagen mit Siegfried wechselte. Das Staatsoberhaupt des Dritten Reiches besitzt das Wort des politischen Führers von Österreich, wie dieser das Wort des Reichskanzlers. Dies muss genügen, dies muss halten wie Stahl.125
Doch offenkundig konnte Schuschnigg die Machthaber in Deutschland nicht überzeugen, die lieber zur bewährten ›Nibelungentreue‹ zurückzukehren gedachten, in der sich Deutschland und Österreich bereits im Ersten Weltkrieg verbunden fühlten: Am 12. März 1938 wird Österreich in das ›Großgermanische Reich‹ eingegliedert. »Welch Jubel und Jauchzen im ganzen Donauland«, berichtet das nunmehr ›ostmärkische‹ ›Interessante Blatt‹, »zugleich tiefinnerliches Erkennen und Rückschau, wie es dem besinnlichen Ostmärker eigen ist. Treue ward belohnt, die alte Nibelungentreue Rüdigers von Bechelaren, der einst die Mark des deutschen Ostreichs beschützte gegen andrängende Grenzvölker.« Schließlich sei das ›Nibelungenlied‹ »das Hohelied der deutschen Treue«.126 »Nibelungentreue heute wie ehedem«127, titelt das ›Kleine Volksblatt‹ am 15. März 1938, der ›St. Pöltner Bote‹ ergänzt: »Nibelungentreue im Zeichen des Hakenkreuzes tausendfach bewährt.«128
125 Vgl. Reichspost. Unabhängiges Tagblatt für das christliche Volk, 25.2.1938, S. 1. 126 Das interessante Blatt (22.12.1938) S. 9. 127 Das kleine Volksblatt (15.3.1938), S. 4. 128 Der St. Pöltner Bote (16.6.1938), S. 17.
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Der Griff zum Schwert Bald darauf brechen die »geharnischten Zeiten« Volkers von Alzey wieder an. Der muss erneut den »Bogen [mit] der blitzenden Klinge vertauschen«129, wie der mit dem Dietrich-Eckart-Preis ausgezeichnete Schriftsteller Heinrich Anacker in einem Gedicht festhält. Deutschland marschiert in Polen ein und eröffnet den Krieg. Am 19. Mai 1938 mutmaßt der ›Daily Herald‹, dass der Krieg länger dauern wird, da Hitler sich um die Meinung der Welt in keiner Weise bekümmere. Hitler sei aufgewachsen »in the fantastic Nibelungen atmosphere of Richard Wagner’s musical dramas. He will stick to his principles.«130 Nach Kriegsbeginn wird im Ausland noch intensiver nach historischen Erklärungsmustern gesucht. Hitler sei überzeugt, meint ›The Tatler‹ am 20. September 1939, »that he is a reincarnation of Siegfried«131 Zudem wird die offenkundige Gewaltbereitschaft des neuen Regimes anhand von Beispielen aus dem ›Nibelungenlied‹ erörtert. Die Schweizer Zeitung ›La Liberté‹ verweist auf die historische »Berserkerwut, la fureur teutonne«, die in Deutschland erneut um sich greife, und illustriert diese mit der Erschlagung von Kriemhilds und Etzels Sohn durch Hagen im ›Nibelungenlied‹.132 Der ›Dundee Courier and Advertiser‹ widmet sich in einem erklärenden Glossar neuen Begrifflichkeiten, die der Krieg hervorbringt. Dabei wird auch der ›Siegfried Line‹ ein Eintrag gewidmet, in dem sich einige allgemeine Erklärungen zur Siegfried-Figur finden.133 Das besondere Interesse des Verfassers gilt dem Umstand, dass Siegfried zwar unverwundbar, aber aufgrund des Lindenblatts zwischen den Schulterblättern nicht unbesiegbar ist. Eine militä-
129 Heinrich Anacker: Volker von Alzey, in: ders.: Heimat und Front. Gedichte aus dem Herbst 1939, München 1940, S. 14. 130 The Daily Herald (19.5.1938), S. 10. 131 The Tatler (20.9.1939), S. 528. 132 La Liberté (14.10.1939), S. 2. 133 Der deutsche Westwall wurde von den Alliierten mit Blick auf den Ersten Weltkrieg (s.o., Anm. 124) ›Siegfried Line‹ genannt. Die Erwähnung der ›Siegfried Line‹ veranlasste in den angelsächsischen Medien häufig Exkurse zu Siegfried und den Nibelungen, so z.B. ›Press and Journal‹ (Aberdeen, 27.9.1940), S. 1 (in der Rubrik ›Naming the ›Lines‹‹ unter der Überschrift ›The Stories of Siegfried and Maginot‹) und ›The Brechin Advertiser‹ (19.3.1940), S. 2 (unter der Rubrik ›For the Young Folks‹). Vgl. The Nibelungen Tradition (Anm. 4) s.v. ›Siegfried Line‹. Generell ist festzuhalten, dass gerade die Benennungen von militärischen Stellungen nach Figuren des ›Nibelungenlieds‹ für eine kontinuierliche Publizität und somit Präsenz des ›Nibelungischen‹ sorgten.
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risch verwertbare Entsprechung vermeint er in der mangelnden Qualität des Betons der ›Siegfried Line‹ zu entdecken, der die verwundbare Stelle der Verteidigungslinie darstelle: How does it get it’s name? Like many modern German manifestations, it appears to have been inspired by German legend. No doubt, the Nazi mind has a great admiration for the Siegfried who was the hero of the first part of the NibelungenLied. Wagner drew largely on the legends for his operas. One part of the Siegfried Line runs through the Drachenfels (literally dragon rock), where Siegfried is supposed to have killed a dragon and bathed in its blood, thus becoming invulnerable except for a spot between the shoulder blades where a linden leaf stuck. Bad concrete is reputed to be the vulnerable point in the Siegfried Line.134
Die Engführung von Kriegsgeschehen und psychologisierender Deutung entlang des ›Nibelungenlieds‹ manifestiert sich besonders deutlich anhand des Untergangs des deutschen Kriegsschiffs ›Admiral Graf Spee‹ am 17. Dezember 1939. Der Kommandant, Hans Langsdorff, hatte die Sprengung des schwer beschädigten Schiffs angeordnet und sich danach das Leben genommen. Beide Akte hinterließen einen großen Eindruck beim Kommentator der ›New York Times‹, der unter dem Titel ›Die rather than yield, Nazis teach Germany‹ deutliche Parallelen zum Hagen des ›Nibelungenlieds‹ festzustellen vermag. Er hält zunächst fest, dass durch Wagners Musikdramen die Nibelungen wieder stärker in das Bewusstsein der Deutschen gerückt seien. Der eigentliche Held für NSDeutschland im Allgemeinen und die SS im Besonderen sei aber nicht Siegfried, sondern Hagen, der durch die Unbeirrbarkeit und Fatalität seines Handelns als Vorbild tauge.135 Am 16. Februar 1940 kommentiert die ›New York Times‹ eine Rede des Leiters des Verbands ›Deutsche Arbeitsfront‹, Robert Ley, unter dem Titel ›Hitler, Marx and Nibelungen‹. Der Verfasser des Artikels sieht in dieser Rede eine Annäherung der Nationalsozialisten an kommunistische Ideen gegeben. Ley stoße in »Siegfried’s hunting horn« und verkünde:
134 The Dundee Courier and Advertiser (30.10.1939), S. 4. 135 The New York Times (24.12.1939). Vgl. Robert Schöller: Nibelungischer Widerhall. Nibelungendiskurse in der Zeit des Nationalsozialismus, www.nibelungenlied-gesell schaft.de/nlg/beitraege/nibelungische-echos (Aufrufdatum: 1.5.2023).
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›Workers of all lands, unite to smash the rule of English capitalism!‹ […] ›Das Kapital,‹ it seems, will soon belong on all good German bookshelves, alongside ›Mein Kampf‹ and the Nibelungenlied as well.136
Die ›Chicago Tribune‹ wiederum berichtet von einer in Frankreich geführten Debatte zur Frage, ob man unter den gegebenen Umständen Richard Wagner aufführen solle, und gibt dabei den kritischen Stimmen viel Raum: Wagner sei nicht nur Hitlers Lieblingskomponist, mehr noch: Würde Wagner heute leben, wäre er mit Sicherheit Nazi geworden.137 Zudem sehe sich Hitler selbst als Wagner’scher Held, als »another Parsifal guarding the Holy Grail in the mountains of Berchtesgaden. He dreams that he is a new Lohengrin, who has delivered Elsa from the bonds of the treaty of Versailles«. Doch entscheidend sei, dass Wagners ›Ring‹ die »immorality and the exaltation of force that characterizes Hitlerism« ausdrücke.138 Dieser Meinung schließt sich ›The Bystander‹ an, der die Frage in den Raum stellt: »[…] what else but pure essential Nazism is the tomfool Nibelungen Legend, which Wagner took so seriously?«139 Einen Beitrag zu dieser Frage, der an Deutlichkeit nichts vermissen lässt, leistet der polnische Maler und Graphiker Arthur Szyk, der 1939 in die USA emigrierte und sich dort für die größten und einflussreichsten amerikanischen Zeitungen als Karikaturist betätigte. Szyks Illustrationen verfolgten mit Nachdruck den Zweck, die USA zum Kriegseintritt zu bewegen. Unter den vier Blättern der als ›Nibelungen series‹ benannten Reihe, die Richard Wagner und den Nationalsozialismus in einen engen Zusammenhang stellen, findet sich eine Karikatur, die mit dem Titel ›Satan Leads the Ball‹ versehen ist (Abb. 2).140
136 The New York Times (16.2.1940). 137 Solche Ansichten finden sich auch in deutschen Hochschulschriften der Zeit. Zwar hält Richard Karl Ganzer in seiner Dissertation ›Richard Wagner der Revolutionär gegen das 19. Jahrhundert‹, München 1934, S. 6, die Feststellung für »naiv […], Richard Wagner sei der ›erste Nationalsozialist‹ gewesen […]. Aber er hätte heute Nationalsozialist werden können, weil er die geistigen, politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten einer vergangenen Epoche aus der Haltung heraus bewertete, die in unseren Tagen den entscheidenden Antrieb des Nationalsozialismus bildet« (Hervorhebungen im Original). 138 Chicago Tribune (25.3.1940), S. 4. 139 The Bystander (27.3.1940), S. 384. 140 Vgl. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Arthur_Szyk_(1894-1951)._Satan_Le ads_the_Ball_(1942),_New_York.jpg (Aufrufdatum: 1.5.2023) und Arthur Szyk: Soldier in Art, hg. v. Irvin Ungar, London 2017, ›The Nibelungen series‹, S. 138–
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Abb. 2: Arthur Szyk: Satan Leads the Ball (1942).141
Dargestellt sind politische Repräsentanten der Achsenmächte, die Satan bereitwillig folgen.142 Die Bezeichnung ›ball‹ und die Allegorie des Todes als Wehrmachtssoldat143 machen deutlich, dass hier ein Totentanz vorgeführt wird. Die zugehörige Melodie wird von jener Partitur vorgegeben, die Satan unter den rechten Arm geklemmt hat: Es handelt sich um Wagners ›Ring des Nibelungen‹:
Abb. 2.1, Detail: Satan mit dem ›Ring des Nibelungen‹.
140; vgl. auch Arthur Szyk. Bilder gegen den Nationalsozialismus und Terror – Drawing Against National Socialism and Terror. Katalog zur Ausstellung im Deutschen Historischen Museum Berlin, hg. v. Katja Widmann u. Johannes Zechner, München u. Berlin 2008. 141 Von links nach rechts: Walküre (vermutlich Brünhild), Benito Mussolini, Philippe Pétain, Pierre Laval, Tod als Wehrmachtssoldat, Hermann Göring, Adolf Hitler, Joseph Goebbels, ein Vertreter der Schwerindustrie, Erwin Rommel, Erich Ludendorff, SS-Mann, Hideki Tojo, Satan. Der Verfasser des Beitrags ›Arthur Szyk: FDR’s ›Soldier in Art‹‹ (Anm. 142) vermutet hinter dem SS-Mann Matthias Kleinheisterkamp. 142 Zur (in wenigen Fällen unsicheren) Identifizierung der dargestellten Personen siehe auch den Beitrag ›Arthur Szyk. FDR’s ›Soldier in Art‹‹ unter: http://figures-ofspeech.com/2016/08/szyk.htm (Aufrufdatum: 1.5.2023). 143 Obere Reihe, dritter von links.
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Auch die Bombardierungen von Städten durch die deutsche Luftwaffe wird von Arthur Szyk ins Bild gesetzt. Die ›Deutsche Wochenschau‹ hatte Luftaufnahmen solcher Angriffe mit Wagners ›Walkürenritt‹ unterlegt. Ob Szyk davon Kenntnis hatte, ist unklar. Jedenfalls setzt auch er im Rahmen der ›Nibelungen series‹ berittene und mit Hakenkreuzen versehene Walküren ins Bild, die flankiert von deutschen Kampfflugzeugen Bomben werfen (Abb. 3).144
Abb. 3: Arthur Szyk: Ride of the Valkyries (1942).
144 Vgl. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Arthur_Szyk_(1894-1951)._The_Nibe lungen_series,_Ride_of_the_Valkyries_(1942),_New_York.jpg (Aufrufdatum: 1.5. 2023) und Arthur Szyk: Bilder (Anm. 141), S. 126. In Jean Renoirs Film ›This Land is Mine‹ (1943) signalisiert der Walkürenritt die Ankunft der deutschen Soldaten, vgl. Ross (Anm. 77), S. 678. In der Kriegspropaganda der Alliierten begegnet ebenfalls die motivische Verbindung von Walkürenritt und der Bombardierung von deutschen Städten (ebd., S. 643). Auch bei späteren Kriegen nutzten die Amerikaner (zynischerweise inspiriert von der Verwendung der Musiksequenzen in Francis Ford Coppolas Film ›Apocalypse now‹) den Walkürenritt zur psychologischen Kriegsführung (ebd., S. 704).
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Die zunehmende Aggressivität der deutschen Angriffe färbt auch auf die Tonlage der Kommentare ab. Eine drastische Prognose wagt der ›Belfast Telegraph‹. Unter der Überschrift ›There can be no peace with Hitler‹ wird vorausgesagt, dass »all civilisation will collapse, and in a great nibelungen holocaust Hitler will pull down the whole structure of society«145. Dies wiederum, sekundiert die Zeitung ›Daily Record and Mail‹ in einem satirischen Beitrag, hänge damit zusammen, dass »the Nibelungen Nordic Man« in »unchanging purity« dem »Neanderthaler prototype« entspreche.146 Die ›New York Times‹ weiß am 16. Oktober 1940 zu berichten, dass das Lied ›We’ll Hang Our Washing on the Siegfried Line‹ die Pariser Nachtclubs regelmäßig zum Beben bringe. Das Lied werde gerade von den deutschen Gästen gerne gesungen.147 Generell begegnen die Deutschen der internationalen Befürchtung, dass ein deutscher Sieg die Welt in das Mittelalter rückversetzen werde, mit plakativer Gelassenheit, da das Mittelalter in ihren Augen ein prächtiges Zeitalter gewesen sei, das die Zivilisation zu höchster Entfaltung gebracht habe.148 Zu diesem Zeitpunkt hatte Goebbels bereits in seinem Tagebuch festgehalten, dass der Angriff auf Norwegen einem »moderne[n] Nibelungenlied« gleiche: »hinreißend und ergreifend.«149 Am 22. Juli 1941 berichtet die Schweizer Zeitung ›Die Tat‹ von Plänen, die neue ›Nibelungenbrücke‹ in Linz mit Skulpturen aus der Nibelungensage auszustatten.150 Im Oktober wird das ›Unternehmen Siegfried‹ – der Angriff auf die estnische Insel Dagö – von den Deutschen erfolgreich abgeschlossen. An den deutschen Hochschulen gibt man sich überzeugt, dass die »alte Dichtung [das ›Nibelungen-
145 Belfast Telegraph (5.3.1940), S. 6. 146 Daily Record and Mail (28.9.1940), S. 6. 147 The New York Times (16.10.1940). 148 The New York Times (28.1.1941). 149 Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte und mit Unterstützung des Staatlichen Archivdienstes Rußlands hg. v. Elke Fröhlich, München [u.a.] 1993–2008, Teil I, Bd. 8, Eintrag zum 3.7.1940. 150 Vgl. Die Tat (22.7.1941), S. 6. Die Standbilder wurden nie realisiert. Allerdings zierten Gipsmodelle (Siegfried, Kriemhild, Gunther und Brünhild) für einige Monate die Brücke. Zwei weitere Nibelungenstandbilder waren geplant für eine breite Gauanlage, in dessen Zentrum ein monumentaler Glockenturm errichtet werden sollte, vgl. Ingo Sarlay: Adolf Hitlers Linz. Architektonische Visionen einer Stadt, in: ›Kulturhauptstadt des Führers.‹ Kunst und Nationalsozialismus in Linz und Oberösterreich, hg. v. Birgit Kirchmayr, Linz 2008, S. 65–78, hier S. 72–74.
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lied‹] erst allmählich […] in ihrer lebendigen Wucht und überwältigenden Mächtigkeit erahnt [wird]«151. In Etzels Halle Den gewagten Bruch des Hitler-Stalin-Pakts, der mit dem Angriff auf die Sowjetunion vollzogen wird, registriert die internationale Gemeinschaft mit Erstaunen. Man schlägt in deutschen Geschichtsbüchern nach Erklärungen und Vorbildern für den unbezwingbar erscheinenden deutschen Heroismus nach. ›The Illustrated London News‹ benennt die Ahnenreihe des deutschen Militarismus: The Germans of the Nibelungen legends, the Eastern Germans who put the Slavonic peoples east of the Elbe to fire and sword and created the province of Brandenburg out of the land which they had reduced to an enormous graveyard, the Teutonic Knights, the Germans of the Sack of Rome, of Frederick the Great, of Bismarck, of Wilhelm II. and Stresemann – these are the true ancestors of the Third Reich.152
Doch trotz dieser stolzen Ahnenreihe und trotz der Eröffnung der ›Nibelungenwerke‹, in denen modernste Kampfpanzer am Fließband produziert werden,153 kommt Deutschland zunehmend in Bedrängnis: Stalingrad erweist sich als uneinnehmbar, und die 6. Armee – die am Massenmord von Babi Jar beteiligt war – wird vom sowjetischen Militär eingekesselt. Immer mehr Tote und Verletzte auf deutscher Seite sind die Folge. Daher lag es nahe, dies auch in einem entsprechenden Schauspiel zum Ausdruck zu bringen. Unter dem Titel ›Verwundete spielen für Verwundete‹ berichtet das ›ostmärkische‹ ›Kleine Volksblatt‹ am 16. Januar 1943 von einem Theaterstück, das in einem Wiener Lazarett aufgeführt wurde. Das Stück ›Der Nibelungen Not‹ wurde auf Veranlassung des Chefarztes des Lazaretts nach einer Vorlage von Wilhelm Schöttler konzipiert. Unter »den Patienten des Hauses [wurde] nach Kameraden [gesucht], die sich dieses Schicksalsspieles um Sein und Vergehen eines großen Geschlechts mit nötigem Ernst und Verständnis annehmen würden«154. Die Premiere wird enthu-
151 Otto Höfler: Deutsche Heldensage, in: Von deutscher Art in Sprache und Dichtung (Anm. 70), Bd. 2, S. 73–98, hier S. 91. 152 The Illustrated London News (27.9.1941), S. 392. 153 Vgl. The Nibelungen Tradition (Anm. 4) s.v. ›Nibelungenwerke‹. Die Anlage wurde 1942 in St. Valentin (Niederösterreich) eröffnet. 154 Das Kleine Volksblatt (16.1.1943), S. 5.
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siastisch aufgenommen, wie die ›Illustrierte Kronen-Zeitung‹ bestätigt: »Der Erfolg der Aufführung dieses ernsten Spiels hat zur Folge, dass die kleine Spielgemeinschaft das Stück nun auch in anderen Wiener Lazaretten aufführen wird.«155 Doch selbst solche Bühnenerfolge können kaum von den beunruhigenden Berichten aus Stalingrad ablenken, die in immer dichterer Folge die Heimat erreichen. Der Sicherheitsdienst der SS, der ungeschönte geheime Lageberichte verfasst, beobachtet aufmerksam das Verhalten der Bevölkerung: »Alle Augen [hängen] an dem Schicksal von Stalingrad, und es wird täglich mit großem Bangen erwartet, daß der Wehrmachtsbericht die endgültige Aufgabe Stalingrads mitteile.« Der Lagebericht hält auch fest, dass gerade die propagandistische Darstellung des Geschehens zu einer pessimistischen Einschätzung der Bevölkerung beiträgt: »Die Heroisierung der Abwehr bei Stalingrad durch Formulierungen wie ›heldenmütiger Einsatz‹, ›unbeirrbares Ausharren‹, ›Heldenkampf‹ und ›heldenhafte Abwehr‹ lasse keine andere Deutung zu, als daß Stalingrad für uns verloren sei.«156 Die Bevölkerung sei zurzeit »bis aufs Tiefste aufgewühlt«. Es werde auch gefragt, wieso ein Entsatz Stalingrads nicht gelinge und wie es generell möglich sei, dass sich die Lage in so kurzer Zeit so dramatisch ändern konnte. Auch werde, »und zwar mit ausgesprochen kritischem Unterton […], die Unterschätzung der russischen Kampfkraft« diskutiert.157 Die Berichte des Sicherheitsdienstes, die von den Spitzen des NS-Regimes aufmerksam studiert werden, lassen keinen Zweifel zu, dass nun eiliges Handeln geboten ist, zumal es sich beim Fall Stalingrads nur noch um Tage handeln konnte. Zugleich fällt diese bedrohliche Lage mit dem zehnten Jahrestag der ›Machtergreifung‹ zusammen, sodass sich dieser Tag als Zeitpunkt einer offiziellen Stellungnahme wie von selbst ergibt. Am 23. Januar 1943 notiert Joseph Goebbels in sein Tagebuch: Die Truppen haben nichts mehr zu essen, nichts mehr zu schießen und nichts mehr zu feuern. Reihenweise sitzen sie in den Bunkern, verhungern und erfrieren. Ein Bild von wahrhaft antiker Größe. Die Worte fehlen, dieses Heldendrama zu
155 Illustrierte Kronen Zeitung (16.1.1943), S. 5. 156 Meldungen aus dem Reich 1938–1945. Die geheimen Lageberichte des Sicherheitsdienstes der SS, hg. und eingeleitet v. Heinz Boberach, Herrsching 1984, Bd. 12, S. 4716 (Meldung zum 25.1.1943). 157 Vgl. Meldungen aus dem Reich (Anm. 156), S. 4720 (28. Januar 1943).
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schildern. In Stalingrad selbst hilft man sich mit dem Vergleich, daß das Nibelungenlied in den Schatten gestellt sei. Es ist in der Tat so.158
Die Lage nimmt »nachgerade katastrophische Formen an«; doch Goebbels hat bereits einen Plan in der Hinterhand, wie aus der Not eine Tugend zu machen ist: Stalingrad müsse ein Heldenlied deutschen Soldatentums [werden], wie es ergreifender und tragischer überhaupt nicht erdacht werden kann. Ich glaube, dass es uns gelingen wird, das deutsche Volk mit einer solchen Darstellung des Falles Stalingrads nur noch enger an das Regime und an die Aufgaben der Zeit anzuschließen.159
Am Jahrestag, dem 30. Januar 1943, wird um 16 Uhr Hitlers Proklamation im Rundfunk von Goebbels verlesen. Hitler gibt an, er habe den Angriff auf die Sowjetunion im Dienste Deutschlands und Europas befohlen. Er warnt vor der ›Gefahr aus dem Osten‹, der in einem einzigen großen Heldenlied von deutschen Kreuzrittern begegnet werde: Was wäre aus dem deutschen Volk und Europa geworden, wenn […] nicht in letzter Minute die neue deutsche Wehrmacht ihren Schild vor den Kontinent gehalten hätte! Wer […] [hätte] die Welt gerettet […] vor dem Überfall durch eine Macht, die […] nur ein Ziel hatte, so wie einst zur Zeit der Völkerwanderung oder der Mongolenstürme Europa zu überfallen, seine Kultur zu vernichten, vor allem aber seine Menschen auszurotten, um Sklavenarbeiter für die sibirischen Tundren zu gewinnen? […] Vor der Größe dieses gigantischen Ringens verblassen alle anderen Vorgänge, denn wenn der neue Ansturm Innerasiens gegen Europa Erfolg haben würde, müßte die heutige Welt genauso zerbrechen, wie einst die alte am Sturm der Hunnen zerbrochen ist. […] Einst zogen deutsche Ritter in weite Fernen,160 um für das Ideal ihres Glaubens zu streiten, heute kämpfen unsere Soldaten in der Unendlichkeit des Ostens, um Europa vor der Vernichtung zu bewahren.
158 Die Tagebücher von Joseph Goebbels (Anm. 149), Teil II, Bd. 7, Eintrag zum 23.1.1943. 159 Ebd., Teil II, Bd. 7, S. 153f. (Eintrag zum 21.1.1943). 160 Der Angriff auf die Sowjetunion verlief dementsprechend auch unter dem Namen ›Unternehmen Barbarossa‹.
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Die deutsche Kriegsführung sei in seiner Gesamtheit ein einziges Heldenlied, das in der ganzen Welt gehört und noch in ferner Zukunft gesungen werde: Angefangen vom hohen Norden bis zur afrikanischen Wüste, vom Atlantischen Ozean bis in die Weiten des Ostens, von der Ägäis bis nach Stalingrad erklingt ein Heldenlied, das Jahrtausende überdauern wird.161
Vorbilder für dieses Heldenlied hatte zuvor (um 11 Uhr) bereits Hermann Göring benannt, der ebenfalls sein Bestes gab, dem allgemeinen Erwartungsdruck standzuhalten und der Bevölkerung eine neue heroische Perspektive zu eröffnen. Die Rede musste mit Verspätung stattfinden, da die Alliierten pünktlich zum Jahrestag Berlin erstmals bombardierten. Auch Göring gibt sich überzeugt, dass der Kampf um Stalingrad als »der größte Heroenkampf«162 in die deutsche Geschichte Eingang finden werde. Als Beispiele für Heroenkämpfe von vergleichbarer Größenordnung nennt er neben dem Thermopylenkampf der Spartiaten unter Leonidas und der Schlacht am Monte Lattari, in der Narses mit Teja den letzten ostgotischen König besiegte,163 auch das ›Nibelungenlied‹, wobei er sich in
161 Zitiert nach Max Domarus: Hitler. Reden 1932–1945. Kommentiert von einem deutschen Zeitgenossen, 4. Aufl., Würzburg 1988, S. 1977f. Zum Vergleich Russlands mit den Hunnen vgl. Frank Helzel: Ein König, ein Reichsführer und der wilde Osten. Heinrich I. (919–1936) in der nationalen Selbstwahrnehmung der Deutschen, Bielefeld 2004, S. 75–98, sowie dessen Beitrag in diesem Band. Im privaten Gespräch benutzte Hitler gerne den (genozidal konnotierten) Ausdruck ›Indianerkriege‹ für den Feldzug gegen die Sowjetunion, vgl. David Blackbourn: Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der deutschen Landschaft. Aus dem Englischen übers. v. Udo Rennert, München 2008, S. 368–376. 162 Die Rede wird zitiert nach Peter Krüger: Etzels Halle und Stalingrad. Die Rede Görings vom 30.1.1943, in: Heinzle [u.a.] (Anm. 4), S. 375–403, hier S. 395. 163 Auf diese Passage machte zuerst Heinzle, Mythos Nibelungen (Anm. 4), S. 64, aufmerksam. Heinzle konnte eine weitere Schnittfassung der Rede ausfindig machen. Die Herausstellung Tejas als ›germanischer Held‹, der sich vergeblich gegen den Untergang stemmte, begegnet häufig im nationalsozialistischen Schrifttum der Zeit, aber auch in universitären Arbeiten vor der nationalsozialistischen Machtübernahme, beispielsweise bei Stammler (Anm. 76), S. 10, wo der Tod in der Schlacht als »selbstverständliche Pflicht« erscheint.
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seiner Argumentation stark an Friedrich Schreyvogls erstmals 1938 veröffentlichten Roman ›Heerfahrt nach Osten‹ anlehnt:164 [W]ir kennen ein gewaltiges, heroisches Lied von einem Kampf ohnegleichen, das hieß ›Der Kampf der Nibelungen‹. Auch sie standen in einer Halle von Feuer und Brand und löschten den Durst mit eigenem Blut – aber kämpften und kämpften bis zum letzten. Ein solcher Kampf tobt heute dort, und jeder Deutsche noch in tausend Jahren muß mit heiligem Schauern das Wort Stalingrad aussprechen und sich erinnern, daß dort Deutschland letzten Endes doch den Stempel zum Endsieg gesetzt hat!165
Auch wenn die Lage in Stalingrad hoffnungslos sei, so komme der Niederlage doch eine tiefere Bedeutung für die Zukunft zu. Denn wie einst in Sparta werde es auch in Deutschland einmal heißen: kommst du nach Deutschland, so berichte, du habest uns in Stalingrad liegen sehen, wie das Gesetz, das heißt, das Gesetz der Sicherheit unseres Volkes, es befohlen hat.166
Da gebe es rein gar nichts zu »mecker[n]« oder gar »herum[zu]krittel[n]«; schließlich – »das mag hart klingen«167 – sei es ohnehin »für den Soldaten gleichgültig, ob er bei Stalingrad, bei Resch, ob er in den Wüsten Afrikas oder oben im Eise Norwegens stirbt und fällt«168. Nachdem Göring, dessen Morphiumsucht kein Geheimnis war, nun mit äußerstem Nachdruck seinen mit einem Kapitulationsverbot verbundenen ›nibelungischen Imperativ‹169 verkündet hatte, lag es am Sicherheitsdienst, die Wir-
164 Vgl. hierzu Krüger (Anm. 162), S. 384–387, und Hans Müller: Die Deutung des Burgunderuntergangs in Schreyvogls Nibelungenroman (bes. den Abschnitt zu den Übereinstimmungen mit Görings Stalingrad-Rede‹): www.nibelungenlied-gesell schaft.de/03_beitrag/mueller/fs08_muel.html (Aufrufdatum: 1.5.2023). 165 Krüger (Anm. 162), S. 395f. 166 Ebd., S. 397. 167 Ebd. 168 Ebd.; hinter »Resch« vermutet der Herausgeber den Ort Rschew, der 200 km westlich von Moskau liegt; vgl. auch Heinzle, Mythos Nibelungen (Anm. 4), S. 64, Anm. 194. 169 Alle drei Vergleiche (Nibelungen, Spartaner, Ostgoten) dienen demselben argumentativen Ziel: zu belegen, dass der Tod der Soldaten erforderlich war bzw. ist, um die
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kung dieser Reden bei der Bevölkerung abzulauschen. Im Lagebericht vom 1. Februar 1943 wird festgehalten, dass die Ansprachen die absinkende Stimmung wieder abgefangen [und] einer gelasseneren Betrachtungsweise der militärisch-politischen Situation und dadurch der Haltung des Volkes neue Impulse gegeben [habe].170
Auch sei die »sich in der letzten Zeit entwickelnde Angstpsychose in der Bevölkerung […] gehemmt«171 worden. Der Vergleich mit Nibelungen- und Thermopylenkampf sei durchweg angenommen worden […]. Die Masse der Volksgenossen wünsche aber, daß die Presse in solchen Gefühlsäußerungen und Wertungen möglichst knapp und sparsam bleiben solle, da Begriffe wie ›Heroismus‹, ›Heldentum‹, ›Opfer- und Märtyrertum‹ durch die tägliche Wiederholung leicht entleert würden […].172
General Paulus leistet dem verordneten nibelungischen Imperativ keine Folge und kapituliert am Tag darauf. Das Ende der Schlacht wird (unter Ausblendung der Kapitulation) im ›Völkischen Beobachter‹ unter der Überschrift ›Sie starben, damit Deutschland lebe!‹ bekanntgegeben. Diesmal ist es Alfred Rosenberg vorbehalten, die Niederlage mit einem höheren Sinn auszustatten. Rosenberg weist darauf hin, dass »die großen Heldensagen der Völker […] nicht aus der Heiterkeit eines allbefriedeten Lebens, sondern daß sie die Gleichnisse […] schwerster Kämpfe eines ungeheuren großen Schicksals« seien. Keineswegs zufällig sei das Epos des deutschen Volkes […] die Erzählung von der Nibelungen N o t . Das sich gestaltende deutsche Volk hat hier s e i n e Stimme gefunden, und die Helden der Völkerwanderungszeit schreiten durch unsere Seelen, das heißt durch unser L e b e n so stark und so ewig jung, weil das B l e i b e n d e des Deutschtums in ihnen für immer verkörpert erscheint. Wie die Könige, Ritter und Reisige der Burgunder in der fremden Königshalle sich bis zum Letz-
Fortexistenz der Nation zu sichern. Man könnte daher selbstverständlich alternativ auch von einem ›spartanischen‹ oder ›ostgotischen‹ Imperativ sprechen. Dass die Logik in sich reichlich abstrus ist, muss nicht gesondert hervorgehoben werden. 170 Meldungen aus dem Reich (Anm. 156), Bd. 12, S. 4733 (Meldung zum 1.2.1943). 171 Ebd. 172 Ebd., S. 4734f.
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ten gegen die Hunnen wehrten, so stand die 6. Armee in Stalingrad vor den anstürmenden Millionenhaufen des Bolschewismus. Sie kämpften, fielen oder wurden, wund und ermattet, überwältigt in einer Stadt, die ebenfalls den Namen unseres Feindes trägt, wie damals zur Zeit des Nibelungenzuges.173
Die ›Südostdeutsche Tageszeitung‹ fasst das Gesagte kurz und bündig zusammen. Stalingrad wird über Jahrtausende hinweg von der größten Heldentat der Weltgeschichte künden, die selbst den Ruhm der Nibelungen unter Hagens Führung, der Goten unter ihren letzten Königen und der Spartaner unter Leonidas überstrahlt.174
Auch das ›Neue Wiener Tag-Blatt‹ vermag dem »Heldenkampf an der Wolga« überwiegend Positives abzugewinnen. Das deutsche Volk sei »nur noch härter geworden«175. Der Lagebericht des Sicherheitsdienstes vom 8. Februar 1943 hält auch diesmal die Wirkung der meist gleich lautenden Verbreitung nibelungischer Parolen in den Medien fest. Hier wird weitaus prosaischer berichtet, dass »[i]n der Ungewissheit um das Schicksal ihrer Männer und Söhne […] die Angehörigen der Stalingrad-Kämpfer noch keinen Trost zu gewinnen [vermögen]«; diese »lehnen zum Teil die Beeinflussungsversuche in diese Richtung mit der Bemerkung ab, daß ›derjenige gut reden kann, welcher niemanden bei der 6. Armee gehabt hat‹«176. Am 18. Februar versucht Joseph Goebbels in der Berliner Sportpalastrede, die Bevölkerung zum ›totalen Krieg‹ zu motivieren. Goebbels verzichtet diesmal auf konkrete historische Analogien; doch mutet der Habitus der Rede in seiner inszenierten fatalistischen Entschlossenheit selbst ›nibelungisch‹ an.177 Im Ausland zeigt man sich von den großen Gebärden wenig beeindruckt. Die ›Chicago Tribune‹ referiert Hitlers Rede unter der Überschrift ›Win or Become Slaves – Hitler warns Germany‹. Gleich zu Beginn des Artikels wird hervorgehoben, dass bei der Rundfunkübertragung der Rede Bombeneinschläge zu hören
173 Völkischer Beobachter (4.2.1943), S. 1f. (Sperrschrift im Original). 174 Südostdeutsche Tageszeitung (7.2.1943), S. 30. 175 Neues Wiener Tag-Blatt (6.2.1943), S. 1. 176 Meldungen aus dem Reich (Anm. 156), Bd. 12, S. 4761 (Meldung zum 8.2.1943). 177 Vgl. Jens Kegel: »Wollt ihr den totalen Krieg?« Eine semiotische und linguistische Gesamtanalyse der Rede Goebbels’ im Berliner Sportpalast am 18. Februar 1943, Tübingen 2006, S. 193–195 (Kap. ›Stalingrad als neues germanisches Heldenlied‹).
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waren. Der Verfasser nimmt Hitler beim Wort, dass ein Preis »for Germany’s ›rescue‹ of the world« zu zahlen sein wird.178 ›Die Tat‹, die am Vortag noch eine Zusammenfassung der Stimmen der Nationalsozialisten mit dem Titel ›Der Nibelungen Not‹ versehen hat,179 erklärt in der darauffolgenden Ausgabe die Propaganda mit dem »nationalsozialistischen Denken […], welches sich auf Mythen und mythisch geschaute Geschichte verläßt.«180 ›The Yorkshire Post‹ betont, dass »[t]he epic story of the Nibelungs, a story of blood and flames, has a deeprooted hold upon the Nazi mind. It is the story of heroism, of carnage and of final annihilation.« Entsprechend versteht der Verfasser Görings NibelungenZitierung als Ausdruck eines tiefen »belief in an ultimate nothingness«, der für die Nationalsozialisten charakteristisch sei.181 Im ›Daily Record‹ vom 6. Februar 1943 wird – so der Titel – vom »Funeral March of a Crazy Cult« gesprochen. Den Sinn des von den Nationalsozialisten verwendeten Pathos erklärt sich der Verfasser mit der Einsicht des Regimes, dass weitere Stalingrade (»other Stalingrads«) folgen werden. Daher müssten die Reden auf längerfristige Wirksamkeit abzielen. Hitler bemühe sich, Angst und Sorgen in Propagandawaffen zu verwandeln. Er erhebe all die Hoffnungslosigkeit und bitteren Gefühle des Verlusts to the gloomy grandeur of the Nibelungenlied; he holds up his muddled masses the distorting mirror of Goebbels, inviting them to see their own faces in the glass, wearing the icy calm of Kriemhild, the iron fortitude of Hagen.
Aber in seinem tiefsten Inneren wisse er, dass das nicht funktionieren wird. Und genau dies sei für ihn eine größere Niederlage als Stalingrad selbst. »His modern Nibelungs are soft; they don’t keep shape; they melt and wobble.«182 Wagnerian Concert of Death Alle Kriegsparteien waren sich – mehr oder weniger – bewusst, dass Stalingrad die Wende bedeutete. Je näher die Niederlage rückt, desto vehementer fallen die Versuche der nationalsozialistischen Propaganda aus, diese abzuwenden. Unter dem bezeichnenden Titel ›Apokalyptisch‹ beschwört der ›Völkische Beobachter‹
178 Chicago Tribune (31.1.1943, S. 1) 179 Vgl. Die Tat (5.2.1943), S. 1. 180 Die Tat (6./7.2.1943), S. 1. 181 The Yorkshire Post (16.2.1943), S. 2. 182 Daily Record (6.2.1943), S. 2.
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erneut die Größe eines »Verzweiflungskampf[es]«, vor dem selbst »der Nibelungen Not […] zu erblassen [scheint]«. Der Kampf »der ›Geister der [bolschewistischen] Finsternis‹ gegen die ›Geister des Lichtes‹ ist von solch einer Brutalität und elementaren Gewalt, daß wir, fern der Front, […] im Innersten erschauern.«183 In dieser Lage kann eine Rückbesinnung auf das ›Nibelungenlied‹ Trost spenden, die am 4. Juli 1943 in Form einer halbseitigen Zusammenfassung des Textes erfolgt.184 Doch in der Auslandspresse verfängt die Selbstinszenierung nicht mehr: Während in der Anfangsphase des Krieges die nibelungischen Erklärungsmuster noch respektvoll übernommen werden, so macht sich jetzt, mit der Zunahme der alliierten Erfolge, bisweilen ein spöttischer Unterton breit. Man beginnt, die nibelungischen Narrative gegen die Nationalsozialisten zu wenden. Die ›London Information of the Austrian Socialists‹ hält fest, dass [a]lle Äußerungen der Nazipropaganda [die bedrohliche Lage] verraten […]. Bald wird das Bild, das die Nazis selber für Stalingrad gebraucht haben: das Ende der Nibelungen in König Etzels brennender Banketthalle, von allen Seiten von Flammen umzüngelt und von Feinden berannt, auf ganz Deutschland anzuwenden sein. Man hat von der ›Götterdämmerungsstimmung‹ gesprochen, die immer merklicher das deutsche Volk erfasst.185
Die Alliierten verwandeln von Ende Juli bis Anfang August Hamburg in Etzels Halle, indem sie im Zuge der ›Operation Gomorrha‹ Brandbomben über der Stadt abwerfen. Am 27. Dezember 1943 berichtet die ›New York Times‹, dass in Deutschlands Schulen ein apokalyptisch anmutendes Lied gesungen werde, dessen Text in englischer Übersetzung abgedruckt wird: We mount the thunderheads of war, Valhalla is our destined place, The earth be shattered to the core, When falls the master race. When Etzel forced the Nibelung band His house crashed down in fire; So shall Europa flaming stand When German men expire.
183 Völkischer Beobachter (10.3.1943), S. 1. 184 Völkischer Beobachter (4.7.1943), S. 4. 185 London Information of the Austrian Socialists in Great Britain 17 (September 1943), S. 2.
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Daraus folgert der Verfasser, dass der deutsche Plan, so viele Menschen wie möglich in den besetzten Gebieten vor dem eigenen Untergang zu ermorden, nicht ernst genug genommen werden könne.186 Zum Neujahrstag 1944 wünscht die ›New York Times‹ den Deutschen – so der Titel des Artikels – ein ›Nibelung New Year‹. »The little half-gods, the Nazi Nibelungs, must hear behind the voices of Hitler, Goering, Goebbels and the rest the song of coming doom.«187 Das ›Gloucestershire Echo‹ vom selben Tag spricht von einem »German FearFanaticism«, der sich in Deutschland breitmache. Ein Teil der Bevölkerung sei von einem angstbesetzten, selbstzerstörerischen Fanatismus besessen und bereit, dem Pfad der Nibelungen (»the path of the Nibelungen«) zu folgen, während ein weiterer Teil von einem kompletten Nihilismus erfasst und nur von dem Wunsch besessen sei, dass den anderen ebenfalls alles genommen werde.188 Die ›Norwood News‹ sagt unterdessen voraus, dass in Deutschland bald das gesamte alltägliche Leben zusammenbrechen werde. Lediglich die Konzentrationslager werden sich weiterhin mit politischen Gefangenen füllen. Wenn der Moment gekommen sei, werden die »gangsters« diese »in true Nibelungen fashion« umbringen.189 Deutliche Worte findet auch die Schweizer Wochenzeitschrift ›Wir Brückenbauer‹: Zu Unrecht redet man von einer Nibelungen-Stimmung. Die Nibelungen, das war der Kampf der Fürsten und Recken unter sich, die Selbstvernichtung der Führenden. Wir aber wohnen der Vernichtung der Menschen durch die Weltuntergangsstimmung der Führer bei.
Eine Verrohung sei auf beiden Seiten zu beobachten. »Es wäre beinahe eine Beleidigung für die Tiere, wenn man von einer Vertierung des Menschen reden würde.«190 Die Alliierten nähern sich unterdessen dem Rhein, der nicht einfach nur ein Fluss sei, sondern laut ›Evening Express‹ »a symbol of the Fatherland, the setting of the romantic Nibelungen legends which the Nazis prefer to the
186 The New York Times (27.12.1943). Dass es sich hierbei um den Schluss eines der berüchtigten ›Deutschen Lieder‹ von Felix Dahn aus dem Jahr 1859 handelt, ist dem Verfasser des Artikels entgangen. Die Originalfassung von Dahns Lied ist abgedruckt in: Heinzle, Mythos Nibelungen (Anm. 4), S. 232f. 187 The New York Times (1.1.1944). 188 Gloucestershire Echo (1.1.1944), S. 1. 189 Norwood News (18.8.1944), S. 2. 190 Wir Brückenbauer. Wochenblatt des sozialen Kapitals (11.8.1944), S. 1.
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Bible«.191 Ab Juni 1944 strahlt Deutschland aus Paris die Radiosendung ›Siegfried Line Calling‹ aus, die laut ›New York Times‹ der psychologischen Kriegsführung gegen die alliierten Truppen diene.192 Die Kämpfe um die Verteidigungslinie selbst veranlassen die ›New York Times‹, die mentale Verfassung, die zur Verteidigung der ›Siegfriedlinie‹ nötig ist, ins Bild zu setzen (Abb. 4).
Abb. 4: Die mentale Disposition der Verteidiger der ›Siegfriedlinie‹, The New York Times, 8.10.1944.
Am 20. Juli 1944 startet das ›Unternehmen Walküre‹, in dessen Rahmen Hitler gestürzt werden sollte. Am nächsten Tag verkündet dieser in einer Radioansprache, dass der Anschlag einer »ganz kleine[n] Gruppe […], die nun glaubte, wie im Jahre 1918 den Dolchstoß in den Rücken führen zu können«193, gescheitert sei. Es vermag nicht zu verwundern, dass bei Hitler unter diesen Voraussetzungen die Nerven brachliegen. Sein Groll richtet sich, wie Goebbels notiert, gegen Göring, da Hitler dessen luxuriösen Lebensstil für die Schwäche der Luftwaffe
191 Evening Express (Aberdeen) (15.9.1944), S. 4. 192 The New York Times (8.6.1944). 193 Radioansprache Hitlers vom 21.7.1944, zit. nach: Reden des Führers. Politik und Propaganda Adolf Hitlers 1922–1945, hg. v. Erhard Klöss, München 1967, S. 316– 318, hier S. 317.
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mitverantwortlich macht. Aber immerhin, »und das ist das Erfreuliche beim Führer, [lässt er] keinen Zweifel darüber, daß er an Göring mit einer richtigen Nibelungentreue hängt […].«194 Die Frage der Umerziehung der Deutschen und insbesondere der deutschen Jugend nach dem Ende des Kriegs wird am 15. Dezember 1944 in der Zeitung ›Clitheroe Advertiser & Times‹ unter dem Titel ›Educating The Germans‹ diskutiert. Es müsse ein Gegengift zur rassischen Ideologie gefunden werden, wobei »literature of the Goethe-Schiller type« empfohlen wird. Die Nazi-Literatur der Gegenwart »should be burned together with all the books which have poisoned the German mind since the nineteenth century with ideals of race superiority, glorification of war, and world domination«. Ebenso sollten ausgewählte Werke Richard Wagners für die nächsten 50 Jahre verboten werden: Especially his ›Ring of the Nibelungen‹, which seductive work has spread the German ideas of world domination more than the world may be ready to admit. By the year 2000 no musical ear will be able to stand this monstrosity anyway.195
Im Deutschen Reich hat man andere Sorgen. Goebbels studiert die englischen Zeitungen und registriert, »daß [von englischer Seite] eine Kapitulationsaufforderung an das deutsche Volk nicht geplant sei«, da »eine neue Dolchstoßlegende […] unter keinen Umständen aufkommen«196 dürfe. In der ›Badener Zeitung‹ vom 7. März 1945 wird die ›Parole Deutschland. Alle mit einem Willen‹ ausgegeben. »Das Vaterland [ist] in Gefahr. […] Nun fordert das Schicksal alle heraus.« Man wisse[.] nicht, was die Vorsehung damit plant, wir sehen nur: alles, was einmal Schweres in unserer Geschichte war, ist uns heute wieder auferlegt und fordert unser Opfer. Die Stürme der Völkerwanderung, der Nibelungen Not, die Drohung im Osten, die Gefahr am Rhein, das alles ist wieder da. Und auch die Einsamkeit – fast immer haben wir in der Vergangenheit unseren Weg allein gehen müssen und fast immer gegen Feinde an allen Grenzen. Sämtliche Schlachtfelder unserer Geschichte trinken wieder das deutsche Blut […].197
194 Die Tagebücher von Joseph Goebbels (Anm. 149), Teil II, Bd. 14, Eintrag zum 2.12.1944. 195 Clitheroe Advertiser & Times (15.12.1944), S. 2. 196 Die Tagebücher von Joseph Goebbels (Anm. 149), Teil II, Bd. 15, Eintrag zum 9.2.1945. 197 Badener Zeitung (7.3.1945), S. 1.
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Am 17. Januar 1945 scheitert das ›Unternehmen Nibelungen‹ beim Versuch, alliierte Truppen in Italien zurückzudrängen.198 ›Die Tat‹ kolportiert am 12. März 1945 das »Gerücht über eine Anklagerede Hitlers gegen das deutsche Volk«, die dieser im engsten Mitarbeiterkreis gehalten haben soll. »Der Krieg sei verloren« habe Hitler gesagt, doch sei er verloren worden durch den größten Verrat der Weltgeschichte. Wieder einmal habe Hagen Siegfried erstochen. Das deutsche Volk habe sich seiner großen geschichtlichen Mission nicht gewachsen erwiesen. Daher werde [er] es […] dem völligen Untergang ausliefern. Dies sei sein unbeugsamer Wille.199
Ende März wird die 38. (und letzte) SS-Grenadier-Division ›Nibelungen‹ aufgestellt, die sich der drohenden Niederlage entgegenstemmen soll. Die Rekruten entstammen überwiegend dem Jahrgang 1928.200 Die Frage »Wie werden die Nibelungen untergehen?«201 beschäftigt zunehmend die internationale Gemeinschaft. Es wächst die Sorge, dass »der Untergang der Nibelungen in ein gigantisches Zerstörungsfeuer« münden werde.202 Doch vorerst wird der »Nibelungen Hort« in einem Salzbergwerk bei Gotha entdeckt: Der Hüter des Schatzes, Dr. Rave, Konservator des Reichsmuseums, zeigt uns die prächtigsten Originale von Rembrandt, Raffael, Van Dyk, und 120 Kisten mit Manuskripten von Goethe und anderen deutschen Dichtern.203
In der Nacht vom 4. auf den 5. April 1945 werden im Rahmen des ›Unternehmens Walpurgisnacht‹ deutsche Soldaten und Zivilisten in der Ostsee evakuiert. Am 30. April – dem Nachmittag vor der Walpurgisnacht – stößt sich Hitler »mit eigner Faust ins Totenreich«.204 Die ›Daily Mail‹ rekonstruiert am 2. Mai 1945 die Verkündigung dieser Nachricht im Rundfunk unter dem Titel ›Wagnerian
198 Vgl. The Nibelungen Tradition (Anm. 4) s.v. ›Unternehmen Nibelungen‹. 199 Die Tat (12.3.1945), S. 1. 200 Vgl. The Nibelungen Tradition (Anm. 4) s.v. ›Nibelungen Division‹. 201 Die Tat (17./18.3.1945), S. 1. 202 Freiburger Nachrichten (17.3.1945), S. 1. 203 Die Tat (10.4.1945), S. 1. 204 Kraus, Dritte Walpurgisnacht (Anm. 123), S. 292.
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Concert of Death‹.205 Die Sendung dauert 90 Minuten, da die Nachricht von einem umfassenden Musikprogramm umrahmt wird, darunter Wagners ›Götterdämmerung‹. Am 8. Mai hält der ›Evening Express‹ fest: »Nazism has crashed to its doom, as spectacularly as that of their favourite prototypes, the Wagnerian Nibelungen.«206 Epilog: ›Diu Klage‹ Während das zerstörte Deutschland – wie nach dem Ersten Weltkrieg – feststellen muss, dass von der ›Nibelungentreue‹ erneut nur eine ausgiebige »Nibelungenreue«207 zurückgeblieben ist, versucht man im Ausland, die Ereignisse zu rekapitulieren. Unter dem noch frischen Eindruck des Kriegsendes fügt die französische Autorin und Psychiaterin Marie Bonaparte ihrem 1946 erstmals erschienenen Werk, das den Mythen des Kriegs gewidmet ist,208 einen auf den 5. Juni 1945 datierten ›Prologue‹ mit dem Titel ›German Mythology‹ hinzu. In äußerst verdichteter Form resümiert sie entlang von Richard Wagner die Geschichte von Siegfried-Hitler, der die schlafende Walküre ›Germania‹ wachküsst (›Deutschland erwache!‹) und am Ende vom Alberich-Sohn Hagen gemeuchelt wird. Doch das Interesse der Autorin gilt auch der Frage nach der Zukunft dieser neuen Legende, die sie im Entstehen begriffen sieht. Für die Feinde Hitlers, die Alliierten, werde dieser stets ein Krimineller, wenn nicht gar, wie einst Napoleon (der ein Vorfahre der Verfasserin war), der personifizierte Anti-Christ bleiben. Was das Nachleben Hitlers in Deutschland selbst betrifft, hält sie es für möglich, dass »the legend of the dead hero will arise«209. Deutschland, als ein Land mit 80 Millionen Einwohnern im Herzen Europas, werde nie vergessen, dass es einstmals,
205 Daily Mail (2.5.1945). Ein Faksimile des Artikels findet sich bei: Friedrich Karl Engel: 1. Mai 1945: Hitlers Tod in Rundfunksendungen, S. 3, www.abruckner.com/Da ta/articles/articlesgerman/engel-friedrich-hitlers-death-as-announced-on-the-/HitlersTod-in-Rundfunksendungen_2019-01-03.pdf (Aufrufdatum: 1.5.2023). 206 Evening Express (Aberdeen) (8.5.1945), S. 4. Härd (Anm. 4), S. 18f., weist darauf hin, dass »der deutsche Rundfunk während der letzten Tage des Dritten Reiches fast pausenlos die Götterdämmerung aus dem Ring des Nibelungen sendet – die Wirklichkeit wird ein Teil des Mythos, sie bestätigt ihn.« 207 Karl Kraus: Weltgericht, in: Die Fackel 499/500 (20.11.1918), S. 1. 208 Marie Bonaparte: Mythes de guerre, London 1946; im Folgenden wird nach der englischen Erstausgabe zitiert: Myths of War, aus dem Englischen übers. v. John Rodker, London 1947. 209 Ebd., S. 10.
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wenn auch nur für kurze Zeit, Europa beherrscht habe – so wie sich auch Frankreich insgeheim ein ehrendes Andenken Napoleons bewahrt habe: Hitler, to the German imagination will remain the Siegfried who fought the Dragon, the mythic hero who conquered Mother Europe: he who alone could destroy the ›treacherous‹ coalition of dragons and the Judaic Nibelungs with their ancient god Jehovah!210
Bei der Aufarbeitung des Kriegs wird den Nibelungen weiterhin eine gewichtige Rolle zugesprochen. Am 18. April 1946 fasst ›Die Tat‹ die Rede eines Mitglieds der neu gegründeten ›Studiengruppe von Christen und Juden‹ zusammen. Der Vortrag beschäftigt sich mit der »Zeit des Hasses«, als die der Referent den Weltkrieg mit gutem Recht begreift. Es sei merkwürdig, daß sich die Götterdämmerung an den Nationalsozialisten selbst vollzogen habe, die sich als eine Art Nibelungen entpuppten; sie gingen zugrunde an ihrem Haß und ihrer Goldgier, an ihrer ins riesenhafte gewachsenen Raublust.211
Verstärkt werden Überlegungen angestellt, wie ein künftiger Rückfall Deutschlands in die Barbarei verhindert werden könne. Dementsprechend ist ein Artikel der ›Neuen Zürcher Nachrichten‹ der ›Umerziehung der deutschen Jugend‹ gewidmet. Diese könne nur Erfolg haben, wenn es gelinge, der Jugend »die im Unbewussten schlummernden dämonischen Mächte deutlich zum Bewusstsein« zu bringen. Dabei denkt der Verfasser hauptsächlich an das ›Nibelungenlied‹: Mit kaum zu überbietender Deutlichkeit spiegelt das Nibelungenlied den Volkscharakter wider. […] Bei ihm finden wir eine Treue bis zum Tod, aber auch eine trotzige Rücksichtslosigkeit, wilde Lebensfreude und bis ins Dämonische gesteigerte Gier nach Blut und Kampf.«212
Der Verfasser begnügt sich in diesem Beitrag damit, auf den Dokumentationswert des ›Nibelungenlieds‹ als Zeugnis eines ›Volkscharakters‹ hinzuweisen. Doch nur wenig später weiß der ›Walliser Volksfreund‹ in den Auslandsnachrichten von konkreten Maßnahmen zu berichten:
210 Ebd., S. 11. 211 Die Tat (18.4.1946), S. 4. 212 Neue Zürcher Nachrichten (18.6.1948), Beilage ›Zürich und Umgebung‹, 3. Blatt.
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Im Regierungsbezirk Aurich (Friesland) wurden durch eine Anordnung der britischen Militärregierung das Nibelungen- und das Gudrunlied, Walther von der Vogelweides Gedichte und die Märchen der Gebrüder Grimm verboten. In der Mitteilung des amtlichen Schulblattes wird die Begründung angegeben, sie würden die auf Frieden und Versöhnung ausgerichtete Erziehung gefährden. In den Volksdichtungen verstecke sich Heidentum und Grausamkeit und ein Kult des Unchristlichen, sodaß man sie als ›mystisches Gegenstück des militärischen Geistes‹ ablehnen müsse.213
Über diese Meldung macht sich ein namentlich nicht genannter Kommentator (oder eine Kommentatorin) in den ›Neuen Zürcher Nachrichten‹ Gedanken. Ihm bzw. ihr gebührt das Schlusswort zu dieser reichlich düsteren Geschichtserzählung im Zeichen der Nibelungen. Nachdem zunächst überlegt wird, »welch unmusisches Gemüt Herrn Walther von der Vogelweide gram sein« könne, der im Grunde nur »Literaten, Gymnasialprofessoren, alten Wandervögeln und etlichen anderen abseitigen Menschen« gegenwärtig sei, kommt der Verfasser auf das ›Nibelungenlied‹ zu sprechen, das den Zeitgenossen wohl auch nicht lebendiger »als den jungen Engländern ihre schönen, poetischen und teilweise recht blutrünstigen alten Balladen sein werde[.].« »Aber«, wird gefragt, wie kommt der ›furor teutonicus‹ in die deutschen Menschen, die, wie es scheint, keineswegs mehr durch den Strom des lebendigen Geschichtsbewusstseins mit ihren streitbaren Urvätern und Urmüttern verbunden sind? Ob es wirklich noch ein dunkler Strom der Heidenmythen, verdeckt und aus unterirdischen Quellen aufsteigend ist, der in den Gemütern kreist, oder ob es nicht der berauschende Trank eines neuen Heidentums war, das sie konsequent gelebt haben und für das so viele konsequent gestorben sind? Aber – da wir schon einmal bei der Literatur sind – wie sagte der alte Briest so oft zu seiner Ehefrau: ›Lass das, Luise, das ist ein weites Feld‹.214
213 Walliser Volksfreund (31.8.1948), S. 3. Zur Nachkriegsdebatte um die Gewalttätigkeit der Grimm’schen Märchen vgl. Kristin Wardetzky: »...die Märchen in den Ofen feuern!« Der Märchenstreit im Nachkriegsdeutschland, in: Märchen, Mythen und Moderne. 200 Jahre Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm, hg. v. Claudia Brinker-von der Heyde [u.a.], Bd. 2, Frankfurt a.M. [u.a.] 2015, S. 847–873, insbes. S. 431–434. Für den Hinweis danke ich Michael Dallapiazza. 214 Neue Zürcher Nachrichten (17.11.1948), S. 2.
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V
Resümee: Der Weg zum ›nibelungischen Imperativ‹
Die Nibelungen sind im Zeitalter des Nationalsozialismus allgegenwärtig. Obgleich diffus und wenig stringent, so grundiert doch stets ein nibelungisches Raunen die »geistige Akkustik der Zeit«215 – ein Raunen, das sich in Deutschland erhebt und das von der Welt erwidert wird. Eine Vielzahl von Stimmen entwickeln in allen denkbaren Tonlagen Narrative, die zur Handlungsmotivation und Erklärung des Geschehens herangezogen werden. Die Tonalität kann den sakral anmutenden deutschnationalen Ernst einer Nibelungenverehrung annehmen, wie er sich gerade in der reflexhaften Abwehr jedes komischen Zugangs zum Stoff in diesen Kreisen manifestiert.216 Mit derselben Ernsthaftigkeit können die Nibelungen aber auch vom Gegner bemüht werden, um Kriegsstrategien und Verhaltensmuster des Gegenübers zu erklären: Deutsche Soldaten verhalten sich fatalistisch wie einst Hagen, offensiv wie Siegfried etc. Hier wird wie selbstverständlich eine über Jahrhunderte währende Kontinuität behauptet, die umgekehrt die deutsche Propaganda selbst stets zu suggerieren bemüht war: Die Deutschen mussten nur ihre Wurzeln und somit ihre ›nibelungisch-germanische Mentalität‹ frei- und das Kleid der Moderne ablegen, um im Verbund mit den waffentechnischen Errungenschaften der Gegenwart zu neuer, nie dagewesener Stärke zu gelangen. Der satirische Tonfall ausländischer Kommentare, der sich mit der Aussicht auf einen günstigen Kriegsverlauf häufig zu offener Polemik steigerte, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die deutschen Nibelungennarrative in ihrem Kern als plausibel erachtet wurden. Die Nibelungen erlangen dadurch in der kurzen intensiven Zeitspanne, in der das ›Dritte Reich‹ existierte, eine Art von ›realer Präsenz‹, indem sie auf die damalige Gegenwart einwirken und diese verwandeln. Gerade die Reziprozität des Nibelungendiskurses, die Beteiligung der Alliierten an der ›großen nibelungischen Erzählung‹, erzeugt eine Dynamisierung des Geschehens: Wenn die deutschen Soldaten über die Kampfkraft der Nibelungen verfügen, dann muss darauf mit noch größerer Härte reagiert werden.217
215 Karl Kraus: Ausgebaut und vertieft, in: ders.: Schriften. Bd. 6: Weltgericht II, hg. von Christian Wagenknecht, Frankfurt a.M. 1988, S. 129–141, hier S. 130. 216 Vgl. hierzu Nathanael Busch: ›Schieffried!‹ Zur Tradition der komischen Nibelungen, in: Dallapiazza/Ruzzenenti (Anm. 4), S. 139–162. 217 Bei der Wahl der Decknamen für militärische Operationen lassen sich, zumindest in Ansätzen, Tendenzen ausmachen: Während die Deutschen – neben volkstümlichen und scherzhaften – häufig Begriffe und Namen aus der deutschen bzw. ›nordischen‹ Literatur und Geschichte verwendeten (›Krimhilde-Bewegung‹, ›Brunhild‹, ›Hagen‹,
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Es kann angenommen werden, dass die Reziprozität des Diskurses die vielen Gewaltexzesse im Zweiten Weltkrieg auf beiden Seiten zusätzlich anheizte. Wie ernst die Alliierten das Problem einer ›nibelungischen Mentalität‹ nahmen, bezeugen nicht zuletzt die Nibelungenverbote der Nachkriegszeit, die im Sinn einer ›Re-Education‹ der Deutschen in manchen Besatzungszonen ausgesprochen wurden.218 Den Kulminationspunkt der nationalsozialistischen Nibelungenrhetorik bildet zweifellos der ›nibelungische Imperativ‹, mit dem Hermann Göring die eingeschlossenen deutschen Soldaten in Stalingrad konfrontierte: Der Tod im Schlachtfeld wird, flankiert von Spartanern und Ostgoten, nach dem Vorbild der fiktionalen Nibelungen gefordert. Ohne das permanente nibelungische Raunen, ohne eine entsprechende Indoktrinierung an den Schulen und Universitäten wäre die Überzeugungskraft einer solchen, in anderen Zeiten reichlich befremdlich anmutenden Forderung ebenso wenig gegeben gewesen wie Alfred Rosenbergs makabre Umdeutung der Niederlage von Stalingrad in ein nibelungengleiches Opfer, das für den Fortbestand Deutschlands habe erbracht werden müssen. Ein (stark vereinfachtes) Modell zeichnet den Weg zum ›nibelungischen Imperativ‹ nach:
Abb. 5: Der Weg zum ›nibelungischen Imperativ‹.219
›Siegfried‹, ›Beowulf‹, ›Barbarossa‹, ›Fredericus I‹, ›Fredericus II‹, ›Konrad I–III‹), griffen die Alliierten gelegentlich auf biblische Ausdrücke zurück, die ein göttliches Gericht suggerierten: ›Gomorrha‹, ›Jericho‹, ›Samson‹, ›Judgement‹. 218 Zur Unterwanderung dieser erzieherischen Absichten in Deutschland durch kontinuierliche Neuauflagen von in der NS-Zeit wurzelnden Heldensagen-Anthologien vgl. den Beitrag von Heike Sahm in diesem Band. 219 Für die Erstellung der Graphik bin ich Jan Schwieger sehr zu Dank verpflichtet.
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Zu den wesentlichen Konstituenten des militaristischen Diskurses im nationalsozialistischen Deutschland zählen der heroische und der nationale Diskurs. Der heroische Diskurs manifestiert sich in der Betonung des Heldentums und in der strikten Ablehnung des Pazifismus in jeglicher Ausformung. Er überschneidet sich mit dem nationalen Diskurs, innerhalb dessen die Priorisierung und Heroisierung der ›deutschen Nation‹ vorangetrieben wird. Den wichtigsten Teilbereich des nationalen Diskurses bildet der nordisch-germanische Diskurs, der Kontinuität bezeugen und den Anschein des ›Immerwährenden‹ evozieren soll. Am Schnittpunkt von heroischem und nordisch-germanischem Bereich ist, neben anderen, der Nibelungendiskurs anzusetzen. Dieser wird aus einem nibelungischen Zeichenvorrat gespeist, der als ›offen‹ und ›determiniert‹ zu charakterisieren ist. Das Merkmal ›offen‹ leitet sich von dem Umstand ab, dass der Zeichenvorrat historisch gewachsen und jederzeit erweiterbar ist. Er ist die Summe aller Zeichen, die nibelungisch besetzt sind, und reicht von den Zeichen, die das ›Nibelungenlied‹ selbst zur Verfügung stellt, über jene der skandinavischen Tradition bis hin zu jenen der modernen Bearbeitungen und sonstigen (künstlerischen, akademischen, journalistischen) Interpretationen.220 Aus diesem gewachsenen Zeichenvorrat können die kontextabhängigen, argumentativ benötigten Zeichen gelöst und ideologisch besetzt werden. ›Determiniert‹ ist der Zeichenvorrat insofern, als die Zahl der Narrative, die daraus gelöst werden können, nicht unbegrenzt ist.221 Aus einem dieser Nibelungennarrative (›sie kämpften bis zum Tod‹) entsteht schließlich Görings ›nibelungischer Imperativ‹. Der ideologisch motivierte Zugriff auf den germanisch-nibelungischen Zeichenvorrat stützt entscheidend den gesellschaftlichen Kippvorgang, das Außerkraftsetzen bislang gültiger ethischer Normen und sittlicher Übereinkünfte zugunsten eines neuen Werte- und Rechtssystems, das der Gewaltaffinität totalitärer Systeme angeglichen wird und konsequent bis zur Abschwächung der natürlichen Tötungshemmung und zur Aufhebung des christlichen Tötungsverbots führt. Das Ausland greift ebenfalls auf
220 Während es für die Literaturwissenschaft einen Unterschied ausmacht, ob über das ›Nibelungenlied‹ in der mittelhochdeutschen oder in der Fassung eines Werner Jansen gesprochen wird, ist dies für die politische Agitation unerheblich. Ebenso ist es der Überzeugungskraft der Dolchstoßlegende nicht abträglich, dass Siegfried im mittelhochdeutschen Text von einem Speer getroffen wird – so wie die Legende ursprünglich generell nichts mit den Nibelungen zu tun hatte, sondern erst später eine nibelungische Färbung erhielt. 221 Beispielsweise wäre eine pazifistische Lesart nur schwer aus dem Zeichenvorrat abzuleiten.
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den nibelungischen Zeichenvorrat zu, um entweder unkritisch deutsche Narrative zu übernehmen oder eigene auszubilden (›Reziprozität‹). Jacob Grimms ›Nibelungisches‹ wiederum ist – in Anlehnung an Goethes ›Faust‹ – nichts anderes als der Geist, der sich selbst begreift. Das ›Nibelungische‹ hat herzlich wenig mit den Nibelungen zu tun, aber sehr viel mit der Zeit, in der es definiert und angerufen wird. Es ist nichts, was ewig in der Zeit war und bleiben wird, sondern ein Produkt des aufkommenden Nationalismus der Romantik und sodann des Nationalsozialismus in Zeiten fortschreitender Militarisierung. Das ›Nibelungische‹ beschwört mit dem fernen Land der Nibelungen einen ›Retrotopos‹222, ein mit Ursprungsphantasien besetztes Land, dem es sich in einer geistigen Rückwärtsbewegung anzunähern galt. Mit Blick auf die – nicht vollständig gesicherte – Etymologie und in Anlehnung an Schelling223 ließe sich auch von einem ›Nebel‹ sprechen, der sich seit der Romantik über Deutschland legte und aus dem schaurige nibelungische Manifestationen emporsteigen.224 Das in dieser Umnebelung und insbesondere zu Kriegszeiten, im ›Fog of war‹, erzeugte ›nibelungische Raunen‹ kann als eine kontinuierliche Sprachhandlung begriffen werden, mit dem Appell, sich ›in Art und Wesen‹ den Nibelungen anzugleichen und den Vorgaben der politischen Führung unterzuordnen. Nach 1945 war es abseits des akademischen Diskurses nicht mehr opportun, über die Nibelungen in befürwortender Art zu sprechen. Wie kaum ein anderes Werk der deutschsprachigen Literatur hatte dieser mittelalterliche Text das überwältigende Wirkungspotential offenbart, das der Literatur eignet. Wie sich
222 Vgl. Zygmunt Bauman: Retrotopia. Aus dem Englischen übers. v. Frank Jakubzik, 2. Aufl. Berlin 2018. 223 Für Schelling erscheinen die Texte »als ein Nebel, durch den wir die entfernte Zeit der Urwelt und einzelne große Gestalten erkennen, die sich auf ihrem dunklen Hintergrund bewegen«, vgl. Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling: Ausgewählte Schriften, hg. v. Manfred Frank, Frankfurt a.M. 1985, Bd. I, S. 554. 224 Vgl. Deutsches Wörterbuch (Anm. 68) s.v. ›Nibelung, m.‹: »der sohn des nebels, der nebligen unterwelt, ein alter mythischer manns- und geschlechtsname«; vgl. auch Ehrismann (Anm. 4), S. 31. Zum Kontext von Nibelungen, Nebel und Nationalsozialismus vgl. auch den bemerkenswerten Essay von Werner Nell: Siegfried und die ›Nebeljungen‹. Einige Nibelungen-Motive im Schatten des Nationalsozialismus, in: Nie gelungen Lied. Der Nibelunge Nôt. Zusammengestellt von Detlef Goller u. Nora Gomringer, Göttingen 2013 (die horen 252), S. 151–162. Hitler soll bei seinem berüchtigten ›Nacht und Nebel‹-Befehl an Alberichs Tarnkappe gedacht haben, vgl. Rainer Huhle: ›Nacht und Nebel‹ – Mythos und Bedeutung, in: Zeitschrift für Menschenrechte 1 (2014), S. 120–135, hier S. 120, und Ross (Anm. 77), S. 650.
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die Zukunft des ›Nibelungischen‹ entwickelt, ob die Nibelungen weiterhin »gleich Würmern im todten Körper«225 wühlen, muss naturgemäß offenbleiben.226 Ohne Zweifel ist im Zeitalter des aufkommenden Neo-Nationalismus erhöhte Aufmerksamkeit für die politische Nibelungenrezeption geboten. Doch hat es den Anschein, als ob sich die Parameter einer retrotopischen Orientierung verschieben würden. Denn insbesondere, seit der amerikanische Präsident George Bush jr. 2001 nach den Anschlägen vom 11. September leichtfertig einen ›Kreuzzug‹ (›crusade‹) ankündigte,227 sind die Kreuzfahrer bei einer sich international organisierenden, anti-islamischen Rechten verstärkt in Mode gekommen.228 Und auch dieser Diskurs zeichnet sich durch Reziprozität aus, da die radikalen Strömungen in den muslimischen Ländern ihrerseits diese Vorlage dankbar aufnehmen und in agitatorischer Absicht die Abendländer als ›Kreuz-
225 Vgl. Richard Wagner: Der Nibelungen-Mythus. Als Entwurf zu einem Drama [1848], in: ders.: Dichtungen und Schriften, hg. v. Dieter Borchmeyer. Frankfurt a.M. 1983, Bd. 2, S. 274–285, hier S. 274: »Dem Schooße der Nacht und des Todes entkeimte ein Geschlecht, welches in Nibelheim (Nebelheim), d.i. in unterirdischen düsteren Klüften und Höhlen wohnt: sie heißen Nibelungen; in unsteter, rastloser Regsamkeit durchwühlen sie (gleich Würmern im todten Körper) die Eingeweide der Erde: sie glühen, läutern und schmieden die harten Metalle.« 226 Zu vereinzelten Wiederbelebungsversuchen des ›Nibelungischen‹ in der Gegenwart siehe den Beitrag von Nadine Hufnagel in diesem Band. 227 Bush kündigte nach den Anschlägen auf das World Trade Center an einer Pressekonferenz Vergeltung an, vgl. The New York Times, 16.9.2001, www.nytimes.com/2001 /09/16/national/text-of-bushs-press-conference.html (Aufrufdatum: 1.5.2023): »Now, this crusade, this war on terrorism is going to take a while.« Auch wenn der Begriff ›crusade‹ im angelsächsischen Raum weitaus gebräuchlicher ist als im deutschsprachigen, wurde Bush in der Folge in den muslimischen Ländern beim Wort genommen. 228 Anders Breivik berief sich bei seinen Massenmorden in Oslo und Utøya auf die Tradition der Kreuzzüge, vgl. Daniel Wollenberg: The new knighthood. Terrorism and the medieval, in: postmedieval. a journal of medieval cultural studies 5 (2014), S. 21– 33. Die extreme amerikanische Rechte (›white supremacists‹, ›white pride movement‹) bezieht sich ebenfalls auf die Kreuzzüge und greift gerne auf mittelalterliche Symbolik zurück. Bereits die Nationalsozialisten bedienten sich häufig des Kreuzritter-Paradigmas, insbesondere während des Feldzugs gegen die Sowjetunion. Vgl. auch Bertolt Brecht: Kriegsfibel, 5. Aufl., Berlin 1994 (Erstausgabe 1955), S. 37, der vom »Hakenkreuzzug der Germanen« spricht.
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fahrer‹ bezeichnen.229 Die Inhalte des retrotopischen Zugriffs mögen künftig den Erfordernissen der Zeit angepasst werden, doch das Verfahren an sich bleibt weitgehend gleich. Dies ist eine sehr bedenkliche Entwicklung. Denn der Rundgang durch das nibelungische Zeitalter des Nationalsozialismus führte das enorme destruktive Potential vor Augen, das vagen Analogien und Vergleichen der politischen Gegenwart mit Ereignissen der Vergangenheit bzw. (historisierten) literarischen Texten innewohnt – und zwar ungeachtet aller offenkundigen Absurditäten und Abstrusitäten, die diese über weite Strecken erzeugen. Es würde einen erheblichen zivilisatorischen Fortschritt bedeuten, wenn künftig – zumal in Krisenzeiten – solche Analogien seltener und behutsamer Verwendung fänden.
229 Im Vorfeld des Irakkriegs 2003 sprach Osama bin Laden in einem Manifest von den »Vorbereitungen der Kreuzritter, die ehemalige Hauptstadt des Islams zu besetzen«. Er forderte »Muslime und […] Sozialisten« auf, «während des Kriegs gegen den Kreuzzug zusammenzuarbeiten«, vgl. Rheinische Post, 12.2.2003, https://rp-online .de/politik/die-neue-erklaerung-bin-ladens-im-wortlaut_aid-8783003
(Aufrufdatum:
1.5.2023). Nach den Anschlägen in Paris erklärte Abu Bakr al-Bagdadi, die »Soldaten des Kalifats« hätten »die Speerspitze des Kreuzes – Paris« angegriffen. Er kündigte weitere Anschläge an, solange die Franzosen »die Kreuzzügler-Kampagne anführen«, vgl. Die Welt, 15.11.2015, www.welt.de/politik/ausland/article148853659/ Der-Strategiewechsel-des-IS-mit-Ansage.html (Aufrufdatum: 1.5.2023). Vgl. auch den Bericht zur 2019 in Frankfurt a.M. abgehaltenen Tagung ›Kreuzzüge und Dschihad – Die Instrumentalisierung des Mittelalters durch die Neue Rechte und den politischen Islam‹, www.hsozkult.de/conferencereport/id/fdkn-126773 (Aufrufdatum: 1.5.2023).
Barbarisierende Elemente im ›Nibelungenlied‹ und ihre Rezeption in der NS-Germanistik Ulrich Barton
Wenn die kulturellen und politischen Diskurse nicht nur des Nationalsozialismus, sondern überhaupt der Moderne auf die Nibelungen oder das ›Nibelungische‹ Bezug nehmen, dann tun sie das gemeinhin nicht im direkten oder bevorzugten Rückgriff auf das um 1200 verschriftlichte ›Nibelungenlied‹ (geschweige denn in seinen verschiedenen Fassungen). Sie schöpfen vielmehr aus einem Fundus, der sich neben dem mittelhochdeutschen Epos vor allem aus der nordischen Stofftradition, der darauf basierenden ›Ring‹-Tetralogie Richard Wagners sowie dem Wagnerismus, aus Fritz Langs ›Nibelungen‹-Film, sonstigen modernen Nacherzählungen und Nachdichtungen wie auch aus geradezu sprichwörtlich gewordenen Motiven wie Nibelungentreue und Dolchstoß speist. So eklektizistisch können die germanistischen Philolog*innen prinzipiell nicht verfahren, weil sie in ihren literaturwissenschaftlichen Interpretationen gezwungen sind, sich an dem mittelalterlichen Text abzuarbeiten, der die Interpretierenden in seiner Komplexität und mit seinen inneren Widersprüchen bis heute vor große Herausforderungen stellt.1 In der Bewältigung – und gerade auch Nicht-Bewältigung
1
Dieser Umstand wurde und wird in der Forschung reflektiert und kontrovers diskutiert, vgl. Joachim Heinzle: Zweimal Hagen oder: Rezeption als Sinnunterstellung, in: Die Nibelungen. Ein deutscher Wahn, ein deutscher Alptraum. Studien und Dokumente zur Rezeption des Nibelungenstoffs im 19. und 20. Jahrhundert, hg. v. dems. u. Anneliese Waldschmidt, Frankfurt a.M. 1991, S. 21–40; ders.: Das Nibelungenlied. Eine Einführung, überarb. Neuausg., Frankfurt a.M. 1994, S. 93–107; Jan-Dirk Müller: Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes, Tübingen 1998, S. 6−25; Ursula Schulze: Das Nibelungenlied, durchges. u. bibl. erg. Ausg., Stuttgart 2003, S. 254–264; Robert Schöller: Gegen Hitler! Gegen Siegfried! Anti-
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– dieser Herausforderungen werden die ideologischen Prämissen der jeweiligen Lektüre sichtbar, was im Folgenden an nationalsozialistisch gefärbten Lektüren gezeigt werden soll. Das Ziel der Ausführungen besteht jedoch nicht in dem für uns Heutige beruhigenden Nachweis, wie sehr die NS-Germanist*innen in ihrer ideologischen Verblendung das ›Nibelungenlied‹ missverstanden oder missbraucht haben. Vielmehr soll die Frage gestellt werden, inwiefern der mittelalterliche Text und seine nationalsozialistisch geprägten Interpretationen sich gegenseitig erhellen können. Ausgangspunkt dieser Frage ist der Befund, dass das Epos durchaus Stellen, Denkfiguren und -muster enthält, die der nationalsozialistischen Ideologie und überhaupt faschistischem Denken entgegenzukommen scheinen, so dass eine entsprechend ideologisierte Interpretation dem Text nicht unbedingt Gewalt antut, wenn sie sich auf solche Elemente stützt.2 Diese werden von der neueren Forschung üblicherweise der heroischen Seite des ›Nibelungenlieds‹ zugerechnet, im Gegensatz zu seiner höfischen Seite. Sie sollen im Folgenden zunächst gebündelt und dahingehend zugespitzt werden, dass sich in ihnen die fundamentale Infragestellung einer etablierten Ordnung – konkret: der höfischen – und letztlich jeder Form von Zivilisation (im Sinne eines friedlichen, gewaltfreien Zusammenlebens einer größeren Menschengruppe) artikuliert. In ihrer antizivilisatorischen Stoßrichtung kann man sie als ›barbarisierend‹ bezeichnen, womit zugleich gesagt sein soll, dass es sich bei den betreffenden Elementen nicht um archaische, vielleicht ›barbarisch‹ anmutende Relikte der langen Stoffgeschichte handelt, sondern um bewusste Stellungnahmen gegen die (höfische und sonstige) Zivilisation. Zwar erheben auch faschistische Ideologien zumindest für die eigene Gruppe den Anspruch, ein friedliches Zusammenleben zu ermöglichen, aber als revolutionäre Bewegungen zielen sie auf die Zerschlagung jeglicher vorgängig bestehender, etablierter Ordnung, und der Nationalsozialismus hat offenkundig Barbarei in unfassbarem Ausmaß hervorgebracht und zu legitimieren versucht.3 Daraus ergibt sich die konkrete Frage, wie die nationalso-
Nibelungisches in der österreichischen Literatur der 1930er-Jahre, in: Mittelalterbilder in der deutschsprachigen Literatur des langen 20. Jahrhunderts. Rezeption – Transfer – Transformation, hg. v. Michael Dallapiazza u. Silvia Ruzzenenti, Würzburg 2018, S. 41–60, hier S. 41–46. 2
So meldet auch Müller (Anm. 1) »Zweifel« daran an, »ob das Epos seine Rezepti-
3
Bereits von den historischen Zeitgenoss*innen wurden die Nazis vielfach als Barba-
onsgeschichte ohne jeden Anlaß im Text erlitten hat« (S. 443). ren wahrgenommen, und sie selbst wiederum (z.B. Goebbels und Himmler, letzterer etwa in seiner berüchtigten Posener Rede vom 4. Oktober 1943) verwendeten den
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zialistisch geprägten Interpretationen mit den heroisch-barbarisierenden Stellen des ›Nibelungenlieds‹ umgehen, ob sie sie überhaupt zur Kenntnis nehmen und, falls ja, ob sie sich affirmativ oder kritisch zu ihnen verhalten. I
Die barbarisierenden Elemente des ›Nibelungenlieds‹
Eine geradezu programmatische Konfrontation zwischen dem Höfischen und dem Heroischen erkennt die neuere ›Nibelungenlied‹-Forschung4 in der dritten Aventiure, der Ankunft Siegfrieds in Worms, und zwar deswegen, weil die Widersprüche in Handlungsführung und Figurenzeichnung hier zu augenfällig erscheinen, als dass sie nicht kalkuliert wären: Wenn Siegfried auf seiner Werbungsfahrt, statt um Kriemhilds Hand anzuhalten, die Wormser Könige zum Kampf um deren und Siegfrieds Reiche herausfordert und die Könige sich partout nicht auf einen Kampf einlassen, weil ihnen die Herrschaft rechtmäßig von ihrem Vater vererbt worden sei, dann deutet man das heute zumeist als eine bewusste Konfrontation zweier Herrschaftsprinzipien, nämlich des archaischheroischen Rechts des Stärkeren und des modern-höfischen Erbfolge-Prinzips.5
Barbarei-Begriff zumindest für ihre völkermörderischen Maßnahmen (die sie gleichwohl als Mittel zum Zweck der Erhaltung und Ausbreitung einer vermeintlich höheren Art von Zivilisation für gerechtfertigt ansahen); dazu und zur Komplexität des Verhältnisses zwischen Nationalsozialismus und Barbarei-Diskurs vgl. Michael Wildt: Sind die Nazis Barbaren? Betrachtungen zu einer geklärten Frage, in: Mittelweg 36 (2006), S. 8–26; Oliver Eberl: Naturzustand und Barbarei. Begründung und Kritik staatlicher Ordnung im Zeichen des Kolonialismus, Hamburg 2021, S. 470– 484. 4
Spätestens seit 1974, zum einen mit Walter Haug: Höfische Idealität und heroische Tradition im Nibelungenlied, in: Colloquio italo-germanico sul tema: I Nibelunghi (Roma, 14–15 maggio 1973), organizzato d’intesa con la Bayerische Akademie der Wissenschaften, Rom 1974, S. 35–50 (wieder in: ders.: Strukturen als Schlüssel zur Welt. Kleine Schriften zur Erzählliteratur des Mittelalters, Tübingen 1989, S. 293– 307), zum anderen mit Jan-Dirk Müller: Sîvrit: künec – man – eigenholt. Zur sozialen Problematik des Nibelungenliedes, in: ABäG 7 (1974), S. 85–124. Diese Deutung ist durch Müllers mehrfach aufgelegtes Einführungsbändchen inzwischen zum Proseminarwissen geworden, vgl. ders.: Das Nibelungenlied, 4., neu bearb. u. verb. Aufl., Berlin 2015 (Klassiker-Lektüren 5), S. 86.
5
Dafür, dass es hierbei um etwas Prinzipielles geht, spricht, dass sowohl Siegfried als auch Gernot mit ihren unterschiedlichen Legitimationsgründen beanspruchen, von rehte zu herrschen, vgl. Str. 109,3 bzw. 115,4. Das ›Nibelungenlied‹ wird hier und im
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Die höfische zuht der Könige offenbart sich weiterhin in ihrem beschwichtigenden, diplomatischen Umgang mit dem Aggressor, in einer regelrechten Appeasement-Politik, bei der sich allerdings zeigt, dass die Burgunden nicht geschlossen das Erbfolge-Prinzip vertreten: Unter den Gefolgsleuten Ortwin und Hagen provoziert Siegfrieds Herausforderung den Affekt zorn (Str. 111,4 u. 120,1), der zum Kampf drängt und damit das heroische Recht des Stärkeren bestätigt. Es tut sich also eine Kluft auf zwischen den höfisch-zivilisierten Eliten und den heroisch-affektgeleiteten Untergebenen: Die höfische Ordnung wird nicht nur von außen, sondern auch von innen bedroht; dem Heroischen sind die Untertanen zugeordnet, auch Affekte wie der zorn und der übermuot, die gegen die Besonnenheit und die höfische zuht der Herrschenden aufbegehren. Dass es nicht zum Durchbruch des Heroischen und damit des Stärke-Prinzips kommt, liegt zum einen daran, dass die Könige hier noch die hierarchische Ordnung aufrechtzuerhalten wissen, zum anderen daran, dass Siegfried irgendwann ganz plötzlich wieder an die hêrlîchen meit (Str. 123,4) Kriemhild denkt. Auch dies wirkt dermaßen konstruiert, dass es naheliegt, hier ebenfalls eine programmatische Weichenstellung zu sehen: Wie das höfische Prinzip vom Inneren der Burgundengemeinschaft her, so ist das heroische Prinzip vom Inneren der Siegfriedfigur her bedroht, nämlich durch die hôhe minne (Str. 47,1) zu Kriemhild, die als solche höfisch konnotiert ist. Um ihretwillen lässt Siegfried sich schließlich als gleichrangiges Mitglied in den burgundischen Herrscherverband integrieren. Die Programmatik der dritten Aventiure, der die Stimmigkeit der Handlungsführung und der Figurenzeichnung geopfert wird, liegt also in der Herausarbeitung bestimm-
Folgenden zitiert nach: Das Nibelungenlied und die Klage. Nach der Handschrift 857 der Stiftsbibliothek St. Gallen, hg., übers. u. komm. v. Joachim Heinzle, Berlin 2015 (Bibliothek deutscher Klassiker 296/Bibliothek des Mittelalters 12). – Edward R. Haymes: Heroic, Chivalric, and Aristocratic Ethos in the Nibelungenlied, in: A Companion to the Nibelungenlied, hg. v. Winder McConnell, Columbia 1998, S. 94–104, hier S. 100, und Schulze (Anm. 1), S. 181, wollen in Siegfrieds Auftritt hingegen nicht ein heroisches, sondern ein Muster des höfischen Romans erkennen (vergleichbar mit Iwein bzw. Eneas). Die beiden genannten Beispielfiguren passen jedoch schlecht zu Siegfried, was zumindest Schulze für Eneas selbst zugibt (S. 181f.); Iwein erstrebt gar nicht die Landesherrschaft, sondern die Aventiure um ihrer selbst willen, womit ihm die Herrschaft quasi versehentlich zufällt. Das, was durch Siegfried herausgefordert wird, bestimmen Haymes und Schulze als die aristokratische bzw. feudale hierarchische Ordnung, die die übrige Forschung unter dem Begriff des Höfischen zusammenfasst und dem Heroischen gegenüberstellt.
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ter Oppositionen, die die weitere Handlung prägen werden: das Recht des Stärkeren vs. das Erbfolge-Prinzip; Affekte (zorn, übermuot) und Gewalt vs. Affektund Gewaltkontrolle (zuht); Untertanen vs. Herrschende – insgesamt: das Heroische vs. das Höfische. Diese Programmatik wird bestätigt und vertieft durch eine Szene, die ebenfalls von überschüssiger, aus der Handlungsführung selbst nicht zu begründender Gewalt geprägt, aber in der Forschung nicht so präsent ist wie die dritte Aventiure. Sie findet sich in der 31. Aventiure, während des Turniers nach der Messe am Hunnenhof. Hier bietet sich den Burgunden ein offenbar provozierender Anblick: 1885
Dô sâhens’ einen rîten6 daz ez al der Hiunen
sô weigerlîchen hie, getet deheiner nie.
jâ moht er in den zîten er vuor sô wol gekleidet 1886
Dô sprach aber Volkêr: jener trût der vrouwen
wol haben herzentrût. sam eines edeln ritters brût. ›wie möht ich daz verlân? muoz ein gebiuze hân.
ez kunde niemen gescheiden, ichn ruoche, ob ez zürne
ez gât im an den lîp.
des künec Etzelen wîp.‹
Bemerkenswerterweise zieht der hunnische Frauenritter nicht nur die Aggression Volkers, sondern auch den Spott des (sonst mit Bewertungen eher zurückhaltenden) Erzählers auf sich: Dieser verweiblicht ihn zu eines edeln ritters brût; der höfische Frauendienst, die Unterordnung des Mannes unter die Frau, verwandelt, so wird suggeriert, den Mann zur Frau.7 Als Frauendiener lässt der Hunne an Siegfried zurückdenken und erscheint so als dessen Karikatur. Wenn Volker ihn im Turnier tötet, inszeniert er im Rahmen des höfischen Spiels die Ermordung Siegfrieds neu, womit er enthüllt, dass sie den eigentlichen Anlass für das Fest am Etzelhof darstellt: Der Spielmann spielt seinen Freund Hagen, und dem eleganten Hunnen fällt die Rolle Siegfrieds zu. In diesem Sinne kann man die Szene als heroischen Kommentar zur höfischen Siegfriedhandlung verstehen, die ganz den bitterbösen Worten entspricht, mit denen der Erzähler bereits Siegfrieds Ermordung kommentierte: Dô engalt er sîner zühte (Str. 980,1). Das be-
6
Mit der alten Bartsch/de Boor-Ausgabe geändert gegenüber Heinzles Edition (Dô sâhen’s), vgl. Das Nibelungenlied, nach der Ausg. v. Karl Bartsch hg. v. Helmut de Boor, 22. rev. u. v. Roswitha Wisniewski erg. Aufl., Wiesbaden 1996, Str. 1885.
7
Vgl. Müller (Anm. 1), S. 422f.
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zog sich vordergründig darauf, dass Siegfried nur deshalb hinterrücks ermordet werden konnte, weil er höflicherweise trotz Durst mit dem Trinken aus der Quelle gewartet hatte, bis Gunther dorthin gekommen war und als Erster getrunken hatte. Diese zuht steht jedoch symbolisch für die gesamte Unterordnung unter Gunther, in die sich Siegfried mit seinem Minnedienst freiwillig begab und die er durch seinen Steigbügeldienst und die Standeslüge gegenüber Brünhild auch noch als verbindliche Wirklichkeit ausgab.8 Nicht sein übermuot, sondern seine zuht wird ihm zum Verhängnis, nicht das Heroische, sondern das Höfische. Nichts anderes als seine höfische zuht vergilt auch der elegante Hunne, wenn er von Volker getötet wird: zuht provoziert offenbar Gewalt. Gunther untersagt zwar Volker die Gewalttat (Str. 1887), aber hier widersetzt sich der Untergebene seinem Herrn. Der Affekt und die Gewalt brechen durch und bestimmen den weiteren Verlauf: 1890
Vil harte hurteclîche
Hagen unde sîne man –
mit sehzec sîner degene
1891
rîten er began
nâch dem videlaere,
dâ daz spil geschach.
Etzel unde Kriemhilt
ez bescheidenlîchen sach.
Dône wolden die drî künege bî den vîanden
den ir spileman
niht âne huote lân.
dâ wart von tûsent helden si tâten, daz si wolden,
vil kreftelîch geriten. in vil hôchverteclîchen siten.
Nach dem Gefolgsmann Hagen sind auch die Könige gezwungen, Volker zu Hilfe zu eilen, obwohl er ihnen nicht gehorcht hat. In Str. 1890 erfährt man zudem, dass Etzel alles genau mitansehen konnte. Dennoch verhindert er im Folgenden die Gewalteskalation, indem er gegenüber seinen Gefolgsleuten behauptet, die Tötung sei unabsichtlich, nur durch ein Straucheln von Volkers Pferd geschehen (Str. 1896,4): Der Frieden und das höfische Fest werden nur durch eine Lüge aufrechterhalten. Die zuht selbst erscheint damit nur noch als Lüge, als Verstellung der Wahrheit: zuht macht den Mann zur Frau, macht den Überlegenen zum Unterlegenen. In diesem Zusammenhang ist es bezeichnend, dass Volkers Turnierritt als spil (Str. 1890,3) bezeichnet wird: Ein Turnier ist zwar an sich ein Zweikampf, aber als Teil der höfischen zuht soll dieser Kampf nur ein spil bleiben, d.h. nicht zu realem Blutvergießen oder gar zum Tod führen. Die zuht ver-
8
Vgl. dazu Jens Haustein: Siegfrieds Schuld, in: ZfdA 122 (1993), S. 373–387, hier v.a. S. 381–383.
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schiebt die Gewalt ins Spielerische, Unblutige; das bedeutet aber, dass sie die Wahrheit verstellt und verfälscht. Das Turnier ist der nur gespielte, unechte Kampf, die höfische Form nur die Metapher für die Wahrheit, nicht die Wahrheit selbst. Indem Volker das unblutige spil zum blutigen Ernst macht, macht er das Turnier wieder zu dem, was es eigentlich ist: Gewalt.9 Deshalb darf man streng genommen hier nicht von Metaphern sprechen, denn Turnier und Kampf sind nicht zwei voneinander unabhängige Gegenstandsbereiche, sondern sie stehen in einem metonymischen Verhältnis zueinander. Die zuht unterscheidet sich nicht grundsätzlich von der Gewalt, sondern sie ist nur die ins Unblutige verschobene und damit verstellte Gewalt. Allgemeiner formuliert: Zivilisation ist dem ›Nibelungenlied‹ zufolge nur scheinbar gewaltlos; in Wahrheit ist sie nichts anderes als Gewalt. Eine politische und soziale Ordnung kann demnach nur dann aufrechterhalten werden, wenn die Herrschenden ihre Untertanen ›in der Gewalt‹ haben – so in der dritten und in der 31. Aventiure –, wie auch, analog, wenn die Einzelnen ihre Affekte kontrollieren, d.h. der Vernunft unterwerfen können. Diese Formen der Gewalt sind zwar unblutig, aber sie s i n d Gewalt, und auf ihnen basiert die höfische Ordnung. Das ist die abgründige Diagnose, die das ›Nibelungenlied‹ der höfischen Kultur, aber wohl auch jeder Art von Zivilisation im Sinne einer Frieden und Gemeinschaft stiftenden und wahrenden Ordnung stellt: Es gibt keine Alternative zur Gewalt. Gewalt ist offen oder verdeckt, nach außen oder nach innen gerichtet, aber niemals beseitigt. Deshalb kann sie auch immer wieder aus ihrer Verstellung heraus ins Offene umschlagen. All das ist keine moderne Projektion auf das Epos, sondern ergibt sich aus der Logik des Metaphern- bzw. Metonymiengebrauchs, wie es am Turnier-spil bereits erläutert wurde. Wenn außerdem Volker dem Spielmann Werbel die rechte Hand abschlägt (Str. 1963), so dass der nicht mehr fiedeln kann, und Volkers Kampftaten im Folgenden immer wieder mit der Fiedelmetaphorik beschrieben werden, dann erscheint seine Gewalt als die einzige, wahre Musik und der Kämpfer als der eigentliche spileman.10 Ebenso, wenn Hagens Minnetrinken in Blutvergießen umschlägt (Str. 1960f.)11 und die Burgunden beim Saalbrand
9
Vgl. hierzu auch Müller (Anm. 1), S. 393–398.
10 Vgl. ebd., S. 428f., und Ute Schwab: Tötende Töne. Zur Fiedelmetaphorik im ›Nibelungenlied‹, in: Geist und Zeit. Wirkungen des Mittelalters in Literatur und Sprache (FS Roswitha Wisniewski), hg. v. Carola L. Gottzmann u. Herbert Kolb, Frankfurt a.M. [u.a.] 1991, S. 77–122. 11 Vgl. Ute Schwab: Weinverschütten und Minnetrinken. Verwendung und Umwandlung metaphorischer Hallentopik im ›Nibelungenlied‹, in: Pöchlarner Heldenliedge-
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feststellen, dass das Blut der Gefallenen besser als Wein sei (Str. 2114 u. 2116), und sie dadurch gestärkt werden (Str. 2117): Das Unblutige, Zivilisierte ist jeweils nur der schwache Abglanz des Wahren. Der Kampf ist das wahre Fest. Die Waffenbrüderschaft zwischen Hagen und Volker ist die wahre triuweVerbindung gegenüber dem höfischen Frauendienst des eleganten Hunnen oder Siegfrieds. Man kann sogar so weit gehen zu sagen, dass das Weibliche im ›Nibelungenlied‹ nur der falsche Abglanz des Männlichen ist: Brünhild wird um ihre Männlichkeit12 betrogen, wenn sie zur höfischen Dame vergewaltigt wird, und entsprechend verschwindet sie aus der Handlung; Kriemhild hingegen gewinnt männliche Handlungsmacht und damit Wirklichkeit, indem sie sich über die Regeln höfischer Weiblichkeit hinwegsetzt.13 Der höfische Frauendienst wiederum, wie gesagt, sublimiert den Mann zur Frau: Eine Frau ist dasjenige, was sich unterwirft, was die Gewalt nach innen kehrt. Die Frau ist das Zivilisationswesen, der sublimierte und damit verfälschte Mann. Wie es im ›Nibelungenlied‹ letztlich keine Alternative zur Gewalt gibt, so gibt es auch keine echte Alternative zum Männlichen, was sich gerade an den Frauenfiguren zeigt. Indem der zweite Teil die sublimierende, zivilisierende Verschiebung der Gewalt zunehmend rückgängig macht, inszeniert das Epos einen »Durchbruch von ›Wahrheit‹«14, einen Prozess vom Uneigentlichen zum Eigentlichen. Das geschieht dadurch, dass diejenige Gewalt, die den Bestand der höfischen Ordnung gewährleistet, ausgehebelt wird, und zwar auf mehreren Ebenen: Die Gefolgsmänner emanzipieren sich von ihren Herren – das kann man in der genannten Textstelle an Volker sehen, ansonsten aber besonders an Hagen, dessen Emanzipationsprozess in der Aussage gegenüber Rüedeger gipfelt, selbst wenn dieser alle Burgunden, also auch die Könige, erschlüge, würde Hagen ihm nichts zuleide tun (Str. 2201); die feudale Hierarchie zählt nicht mehr gegenüber der Waffenbrüderschaft als letzter und einziger Form von Gemeinschaft. Den heroischen Ungehorsam bringt Volker auf den Punkt, wenn er in der 38. Aventiure Wolfhart, dem Dietrich den Kampf verboten hatte, folgendermaßen provoziert:
spräch. Das Nibelungenlied und der mittlere Donauraum, hg. v. Klaus Zatloukal, Wien 1990, S. 59–101, und Müller (Anm. 1), S. 432f. 12 Das meint zum einen ihre eigene Macht und physische Kraft, zum anderen den einen Mann, der ihrer würdig wäre. 13 Dass das ›Nibelungenlied‹ keinen kategorischen Unterschied macht zwischen weiblicher und männlicher Gewalt, zeigt Elisabeth Lienert: Geschlecht und Gewalt im ›Nibelungenlied‹, in: ZfdA 132 (2003), S. 3–23, hier v.a. S. 17–19. 14 Müller (Anm. 1), S. 421.
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Dô sprach der videlaere: swaz man im verbiutet, daz kan ich niht geheizen diu rede dûhte Hagenen
›der vorhte ist gar ze vil, der’z allez lâzen wil. rehten heldes muot.‹ von sînem hergesellen guot.
Gerade an Wolfhart lässt sich eine weitere hierarchische Verkehrung festmachen: Er überredet Hildebrand, trotz des Kampfverbots, gewaffnet zu den Burgunden zu gehen, was der Erzähler so kommentiert: Dô garte sich der wîse durch des tumben rât (Str. 2250,1). In tumpheit und wîsheit vermischen sich Unklugheit und Jugend bzw. Klugheit und Alter, und wahrscheinlich ist jeweils beides gemeint: Die heroische Gewalt bricht durch, wenn die Jugend nicht mehr durch das Alter gebändigt wird, wenn sie dominiert, und heroische Gewalt widersetzt sich den Geboten der Klugheit, ja, Gewalt wird erst heroisch, wenn sie die Hierarchie der Vernunft über die Affekte verkehrt. Wie die Hierarchie der Herren über die Gefolgsmänner den Bestand einer größeren Gemeinschaft garantiert, so sichert die Hierarchie der Vernunft über die Affekte die Selbsterhaltung des Individuums. Ein Held ist also derjenige, der sein Handeln nicht nach der Selbsterhaltung ausrichtet, sondern sich – und die Gemeinschaft – ganz bewusst aufs Spiel setzt. Das ›Nibelungenlied‹ hebt das regelrecht ins Bewusstsein, wenn etwa Rumold, vom Standpunkt der Selbsterhaltung her, in seinem berühmten Rat das heroische Verhalten (konkret: die wagemutige Reise ins Hunnenland) als kintlîche bezeichnet (Str. 1468,4). Im ›Nibelungenlied‹ scheint eine größere soziale Ordnung nur als eine Hierarchie denkbar zu sein, in der die Vernunft über den Affekten, die Alten über den Jungen, die etablierten Herrscher über den Untertanen stehen. Sobald diese Hierarchie verkehrt wird, zerfällt die Gemeinschaft in Individuen, die sich höchstens in Waffenbrüderschaften miteinander verbinden können. Das Heroische tendiert zur Individualisierung und zur Anti-Sozialität. Das bedeutet umgekehrt: Ordnung und Zivilisation sind nicht ohne Gewalt zu haben, und diese Gewalt entspricht nicht biologisch-körperlicher Stärke, im Gegenteil. Sofern man diese aber für wahrhaftiger, für realer hält – also Affekte, physische Kraft, Gesundheit, Jugend –, kann Zivilisation nur als Lüge, als Scheinrealität gelten; indem man sie entlarvt, kann man den Anspruch erheben, zur Wahrheit vorzudringen. Das ›Nibelungenlied‹ führt vor, dass ein zivilisiertes Zusammenleben ohne Lüge und ohne eine bestimmte Form von Gewalt nicht möglich ist. In diesem Sinne zeigt es eine gewisse ›Dialektik der Zivilisation‹ auf, der letztlich keine Ideologie entkommen kann: Man hat eigentlich nur die Wahl zwischen Lüge und Barbarei.
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Hiermit ist die innere Dynamik des ›Nibelungenlieds‹ in einer Weise beschrieben, die nicht mehr vom zeitgenössischen Kontext her historisiert, sondern aus der Perspektive der Moderne formuliert ist.15 Das mag den Versuch erleichtern, das ideologische und ideologiekritische Potential des Epos mit dessen ideologischer Rezeption durch die NS-Germanistik abzugleichen. Sie soll systematisch unter vier Aspekten betrachtet werden, die sich aus den obigen Ausführungen ergeben, so dass es im Folgenden um die Rezeption 1. der dritten Aventiure (Siegfrieds Ankunft in Worms), 2. des Höfischen, 3. des Hierarchischen und Anti-Hierarchischen sowie, damit verbunden, 4. der anti-sozialen Tendenz des Heroischen gehen wird. II
Die Rezeption von Siegfrieds Ankunft in Worms
In der neueren Forschung ist es, wie oben dargelegt, üblich, die dritte Aventiure als bewusste oder unbewusste Konfrontation eines heroischen und eines höfischen Herrschaftsprinzips zu deuten. Die Germanistik der 1930/40er Jahre16 nimmt Siegfrieds irritierenden Auftritt durchaus wahr, aber sie liest aus ihm keine programmatische Aussage heraus, sondern versucht ihn vielmehr teils mit Siegfrieds Jugendlichkeit,17 teils mit dem alten germanischen Reckentum zu erklären, das sich hier noch niederschlage.18 In diesem Fall kann man ihm noch
15 Zu denken ist etwa an Friedrich Nietzsches ›Genealogie der Moral‹, Sigmund Freuds ›Unbehagen in der Kultur‹, Max Horkheimers und Theodor W. Adornos ›Dialektik der Aufklärung‹, René Girards ›Das Heilige und die Gewalt‹, die allesamt die gewaltsamen Grundlagen von Zivilisation und Kultur herausstellen und z.T. mit Oppositionen (z.B. Vernunft bzw. Rationalität vs. Triebe bzw. Affekte, nach außen vs. nach innen gerichtete Gewalt) argumentieren, die denjenigen des ›Nibelungenlieds‹ entsprechen (zuht vs. übermuot/zorn, wîsheit vs. tumpheit). 16 Zur Germanistik dieser Zeit allgemein vgl. Otfrid Ehrismann: Germanistik und Mittelalter im Hitler-Reich, in: Forum. Materialien und Beiträge zur MittelalterRezeption, Bd. 1, hg. v. Rüdiger Krohn, Göppingen 1986 (GAG 360), S. 51–94, und Literaturwissenschaft und Nationalsozialismus, hg. v. Holger Dainat u. Lutz Danneberg, Tübingen 2003. 17 Vgl. z.B. Fritz Martini: Germanische Heldensage. Entstehung, Entwicklung und Wesen der deutschen Heldendichtung, Berlin 1935, S. 152, und Hildegard Emmel: Das Verhältnis von êre und triuwe im Nibelungenlied und bei Hartmann und Wolfram (Frankfurter Quellen und Forschungen 14), Frankfurt a.M. 1936, S. 10. 18 Vgl. z.B. bereits Friedrich Neumann: Schichten der Ethik im Nibelungenliede, in: FS Eugen Mogk, Halle a.d.S. 1924, S. 119–145, hier S. 122 (wieder in: Friedrich
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etwas Positives abgewinnen. Ansonsten möchte sich aber etwa der Tübinger Germanist Hermann Schneider19 (1886–1961) geradezu »ärgerlich von dem ungebärdig knabenhaften Gebahren [!] eines Königssohnes abwenden.« Er schreibt diese »ärgerliche« Figurendarstellung dem Anfängertum des Nibelungendichters zu, der erst im Laufe des Epos »in einen ebenmäßigeren, würdigeren Stil« hineingewachsen sei.20 Eine bewusste Stilisierung oder gar eine Prinzipiendiskussion nimmt Schneider hier also überhaupt nicht wahr. Den Gegensatz zwischen Siegfried und den Wormser Königen charakterisiert der in dieser Zeit sehr einflussreiche Bonner Mediävist und überzeugte Nationalsozialist Hans Naumann21 (1886–1951) in seinem Büchlein über ›Germani-
Neumann: Das Nibelungenlied in seiner Zeit, Göttingen 1967, S. 9–34, hier S. 10), daneben auch Martini (Anm. 17), S. 152, Katharina Bollinger: Das Tragische im höfischen Epos, Würzburg 1938, S. 5f., und Elisabeth Gerth: Eine Untersuchung über Rasse, Volk und Umwelt im Nibelungenlied (Frankfurter Quellen und Forschungen 21), Frankfurt a.M. 1938, S. 108f. – Dagegen sieht der Wiener Germanist Dietrich von Kralik in Siegfrieds »verblüffender Dreistigkeit« gerade nicht ein germanischheroisches Relikt, sondern im Gegenteil eine Zutat des »übertreibende[n] Buchepiker[s]«, vgl. Dietrich von Kralik: Das Nibelungenlied, in: Von deutscher Art in Sprache und Dichtung, Bd. 2, hg. v. Gerhard Fricke [u.a.], Stuttgart u. Berlin 1941, S. 189–233, hier S. 209. 19 Zu Schneider vgl. [Art.] Schneider, Hermann, in: Internationales Germanistenlexikon 1800–1950, hg. u. eingel. v. Christoph König, Berlin [u.a.] 2003, Bd. 3, S. 1640– 1642, und Klaus von See: [Art.] Schneider, Hermann, in: Neue deutsche Biographie, hg. v. der historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 23, 2007, S. 298f. Laut von See stand Schneider »dem NS-Regime reservierter gegenüber, als es den Anschein hat« (ebd., S. 299). Offenbar deshalb konnte er auch erster Nachkriegsrektor der Tübinger Universität werden (vgl. ebd., S. 298). 20 Hermann Schneider: Heldendichtung, Geistlichendichtung, Ritterdichtung, Heidelberg 1943, S. 378. 21 Zu Naumann vgl. Friedrich Nemec: [Art.] Naumann, Hans, in: Neue Deutsche Biographie (Anm. 19), Bd. 18, 1997, S. 769f., Thomas Schirrmacher: [Art.] Hans Naumann (Mediävist), in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (BBKL), begr. u. hg. v. Friedrich Wilhelm Bautz, fortgef. v. Traugott Bautz, Bd. 18, 2001, Sp. 1011–1050, Otfrid Ehrismann: [Art.] Naumann, Hans, in: König (Anm. 19), Bd. 2, S. 1307–1310, und Otfrid Ehrismann: »Ein schäbiger Konjunkturismus des damals Üblichen war ihm fern.« Hans Naumann und seine bundesrepublikanische Rezeption, in: Zur Geschichte und Problematik der Nationalphilologien in Europa. 150 Jahre Germanistenversammlung in Frankfurt am Main (1846–1996), hg. v. Frank Fürbeth,
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sches Gefolgschaftswesen‹ 1939 so, dass mit Siegfried ein »Führer ohne Gefolgschaft eintritt in eine Gefolgschaft ohne eindeutigen Führer«. Das verblasste Führungscharisma der Könige werde konfrontiert und bedroht durch Siegfrieds »womöglich überstrahlendere[s] Charisma[]« und seine »übrigen schöpfungsfrischen und ungebrochenen Führereigenschaften.«22 Der Gegensatz bestehe also zwischen jugendlich frischem, charismatischem und etabliert-eingerostetem Führertum. Dieser Ansicht widerspricht der junge Germanist Otto Ackermann23 in seiner Studie zur ›Germanischen Gefolgschaftshaltung‹ direkt: Siegfried trete gar nicht ohne Gefolgschaft auf, und Gunther sei, »wenn er auch am Anfang gegen Siegfried stark abfällt, der Führer seiner Gefolgschaft; man denke nur an den Burgundenuntergang«.24 Ackermann sieht das Problem nicht bei Gunther, sondern
Tübingen 1999, S. 603–618. – Naumann war v.a. für seine volkskundliche Theorie vom »gesunkenen Kulturgut« bekannt, der zufolge allein die höheren Schichten kulturelle Leistungen zu erbringen vermöchten und diese von den unteren Schichten jeweils nur übernommen würden. Naumann war von 1932 bis Kriegsende Professor in Bonn. Dort unterstützte er als Redner die von der Deutschen Studentenschaft deutschlandweit organisierte Bücherverbrennung am 10. Mai 1933, vgl. dazu Gerhard Sauder: Germanisten als Redner bei der Bücherverbrennung am 10. Mai 1933, in: Literatur und Sprache im historischen Prozeß, hg. v. Thomas Cramer, Tübingen 1983, Bd. 1, S. 132–151, hier S. 136–141. 22 Hans Naumann: Germanisches Gefolgschaftswesen, Leipzig 1939, S. 65. 23 Weil Otto Ackermann nach dem Krieg nicht mehr publiziert hat, verliert sich seine Spur noch in der NS-Zeit: Dem Lebenslauf im Anschluss an seine Dissertation (Schwabentum und Romantik. Geistesgeschichtliche Untersuchungen über Justinus Kerner und Ludwig Uhland, Breslau 1939) lässt sich entnehmen, dass er 1915 in Breslau geboren wurde und ebendort von 1934 bis 1938 Deutsch, Philosophie, Geschichte und Volkskunde studierte. Neben seinem Studium habe er sich »vor allem in der Arbeit des NSD-Studentenbundes eingesetzt, und zwar in der Leitung der Wissenschaftsarbeit und des Reichsberufswettkampfes der deutschen Studenten« (S. 132). Promoviert wurde er 1938 von dem Literaturhistoriker Paul Merker und dem Philosophen August Faust. Weitere Veröffentlichungen: Germanische Gefolgschaft und ecclesia militans im Rolandslied des Pfaffen Konrad, GRM 26 (1938), S. 329–341; Kant im Urteil Nietzsches, Tübingen 1939 (Heidelberger Abhandlungen zur Philosophie und ihrer Geschichte 30). 24 Otto Ackermann: Germanische Gefolgschaftshaltung in der Heldendichtung des Mittelalters, Breslau 1940 (Junge Wissenschaft im Osten 3), S. 40.
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bei Siegfried. Die gesamte katastrophische Entwicklung des ›Nibelungenlieds‹ leitet er aus einem bestimmten Fehlverhalten Siegfrieds ab: Ein steiler Aufstieg bezeichnet das Jugendheldentum Siegfrieds. Er führt bis nach Worms, bis dahin, wo Siegfried Gunther zum Kampf herausfordert (N. 110), zu dem Kampf, der darüber hätte entscheiden müssen, wer der herrlichste Held war; – aber dieser Kampf blieb ungekämpft. Der Bruch in Siegfrieds Lebenslinie ist da, zwar vorerst noch kaum angedeutet, aber dennoch die Wurzel alles Späteren.25
Ackermann nennt keinen Grund dafür, warum der Kampf ungekämpft bleibt, weder das höfische Verhalten der Burgunden noch Siegfrieds höfische Minne. Er konstatiert nur die Selbstverkleinerung Siegfrieds, die sich in der Standeslüge fortsetze und verstärke, und er folgert daraus, »[…] daß der Gesamtablauf, der Untergang der heldischen Welt mittelbar auf das ständische Versagen Siegfrieds, die Lösung des Einzelnen aus seiner Gemeinschaft, zurückgeht.«26 Hier müsse man nun noch weitergehen, um zu den tiefsten, unbewussten Vorstellungen des ›Nibelungenlied‹-Dichters vorzudringen, denn: Diese Grundlagen im Unbewußten aufzufinden und anzudeuten, wird deshalb wichtig, weil man damit an die Stelle gelangt, wo der Dichter unmittelbar in den Strom des ewig Germanisch-Deutschen taucht. Es muß noch einmal daran erinnert werden, daß die Nibelungenwelt auf der Steigerung des Heldischen aufgebaut ist. Diese Weltordnung ist gebunden an die Helden als ihre Träger und in ihnen sichtbar. […] Je größer der Einzelne ist, desto mehr wird er der Erhaltung dieses Welt- und Wertgefüges verpflichtet, am meisten natürlich derjenige, der, an Heldentum alle anderen überragend, mit seinem Wesen zum Ausdruck und Wahrer der Ordnung geboren, vorbestimmt ist. Dieser Eine ist Siegfried. In ihm gipfelt diese Welt, und er ist mit seinem Willen für ihr Bestehen verantwortlich. Sobald er seiner Lebensaufgabe untreu wird, verliert die Welt ihren inneren Halt, muß zusammenbrechen und alle die mit sich niederreißen, in denen sie ebenfalls verwurzelt war. Indem Siegfried sich unwahr zu Gunther stellt, lädt er die tragische Schuld auf sich, das durch sein frevles Handeln zu zerstören, dessen Wahrer zu sein, gerade ihm aufgegeben war.27
25 Ebd. 26 Ebd., S. 40f. 27 Ebd., S. 41.
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Ackermann spricht zwar nirgends explizit vom Recht des Stärkeren, das Siegfrieds Herrscherlegitimation wäre, aber er scheint genau das zu meinen: Der größte Held muss herrschen; tut er das nicht, zerfällt die Ordnung. Die Herrschaft des Stärkeren wäre also die positive Alternative, die das ›Nibelungenlied‹ ausschlägt, wohl um die verhängnisvollen Konsequenzen aufzuzeigen, die sich ergeben, wenn nicht der Stärkste an der Spitze steht. Das heroische Prinzip wäre Ackermann zufolge das richtige, und nur dieses führe zu einer stabilen Gemeinschaft. Diese Deutung verdankt sich offenbar dem nationalsozialistischen Führerprinzip und Gefolgschaftsdenken. Damit nimmt Ackermann immerhin – als einziger der Germanist*innen dieser Zeit – wahr, dass die dritte Aventiure überhaupt die Frage nach der Herrschaftslegitimation aufwirft, und seine Deutung erscheint, wenn man nur die erste Hälfte des ›Nibelungenlieds‹ betrachtet, nicht unplausibel; erst die zweite Hälfte, die den Durchbruch des Heroischen mit seinen gemeinschaftsauflösenden Konsequenzen illustriert, macht sie fraglich. Außerdem bleibt Ackermann die Antwort darauf schuldig, ob es nicht vielleicht einen guten Grund dafür gibt, dass Siegfried sich in seinem Rang erniedrigt: Er sieht zwar das heroische, nicht aber das höfische Prinzip. Dass das Recht des Stärkeren generell ein ethisches Prinzip des germanischnordischen Menschen sei, stellt Elisabeth Gerth28 in ihrer rassenkundlichen Dissertation mit dem Titel ›Eine Untersuchung über Rasse, Volk und Umwelt im Nibelungenlied‹ fest: Wer zum Ziele kommen will, muß sich durchsetzen können. Auch in ethischer Beziehung klingt so etwas mit, das aus einem Kampf ums Dasein zu kommen scheint. Wie bei der Nahrungsfrage der Tiere eigene Kraft und Klugheit erfolgreich sind, und nicht nach Recht und Unrecht gefragt wird, vielmehr der Stärkere auch recht hat, eben weil er sich behauptet, so auch in sittlicher Beziehung hier bei der germanischen Haltung von Mensch zu Mensch, soweit es sich um Menschen handelt, die sich nicht irgendwie verpflichtet haben.29
28 Über Elisabeth Gerth konnte ich nichts Weiteres herausfinden als das, was der Lebenslauf am Ende ihrer Dissertation (Anm. 18, S. 259) preisgibt: Sie wurde 1909 »[a]ls Tochter des Landwirts J. Gerth […] in Sophienwalde geboren« und studierte in Königsberg Erdkunde, Leibesübungen, Vorgeschichte, Englisch und Philosophie. »Im November 1936 legte [sie ihre] Referendarprüfung ab« und dürfte dann wohl in den Schuldienst gegangen sein. 1937 wurde sie vom Königsberger Geographen (!) Arved (von) Schultz mit der genannten Arbeit promoviert. 29 Ebd., S. 165.
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Diese sozialdarwinistischen Ausführungen dienen in der Arbeit konkret dazu, Hagens Mord an Siegfried zu rechtfertigen. Sie würden aber auch gut zu Ackermanns Deutung der Siegfried-Handlung passen. Die Willkürlichkeit und Beliebigkeit der rassenkundlichen Interpretation zeigt sich, wenn Gerth Siegfrieds Auftritt in der dritten Aventiure mit einem anderen vermeintlich typischen Zug des nordischen Menschen begründet, nämlich demjenigen, eher durch Taten als durch Worte zu überzeugen.30 Darüber hinaus erwägt sie, dass Siegfried eine direkte Werbung um Kriemhild plötzlich als »gar zu verwegen« ansehe und ihm einfach »nichts Besseres« eingefallen sei,31 als Gunther zum Kampf herauszufordern. Diese unfreiwillig komischen Interpretationsversuche belegen einmal mehr, dass Siegfrieds Auftritt in Worms generell nicht als programmatische Behauptung eines Rechts des Stärkeren gesehen wird. Gleichwohl bewegen sich die völkischen Interpretationen durchaus in den Bahnen dieses Prinzips. Umso merkwürdiger erscheint es, dass Otto Ackermann der einzige ist, der das ›Nibelungenlied‹ konsequent von ihm her deutet, obwohl das Epos selbst es ja durchaus nahelegt. Mögliche Gründe dafür könnten in der Bewertung der anti-sozialen Tendenz des Heroischen durch die NS-Germanist*innen liegen (s.u., Kapitel V). III
Die Rezeption des Höfischen
Wie oben gezeigt, bleibt Otto Ackermann eine Erklärung dafür schuldig, warum Siegfried den tragischen Fehler begeht, nicht den ihm gebührenden Rang einzunehmen. Das entspricht der generellen Einschätzung des Höfischen in dieser Zeit: Es wird nicht wie in der neueren Forschung als Gegengewicht zum Heroischen angesehen, das im ›Nibelungenlied‹ regelrecht dekonstruiert werde,32 sondern nur als Oberflächengestaltung.33 Dem Wiener Mediävisten Dietrich von Kralik34 (1884–1959) zufolge dient die »zeitgemäße Verritterlichung des urtüm-
30 Vgl. ebd., S. 109. 31 Ebd. 32 Vgl. das Kapitel ›Dekonstruktion der nibelungischen Welt‹ bei Müller (Anm. 1), S. 435–455. 33 Das ist umso bemerkenswerter, als bereits 1924 Neumann (Anm. 18, S. 123 bzw. 11) auf das »doppelte[] Gesicht« Siegfrieds (gleichermaßen heroisch und höfisch) aufmerksam machte und solche (laut Titel) »Schichten der [germanisch-heroischen und mittelalterlich-höfischen] Ethik« im ganzen Epos freilegte. Dieser Ansatz wurde dann wegweisend für die neuere Forschung; vgl. dazu Haymes (Anm. 5), S. 94. 34 Zu von Kralik vgl. Maria Schierling: [Art.] Kralik von Meyrswalden, Dietrich, in: Neue Deutsche Biographie (Anm. 19), Bd. 12, 1980, S. 666f.; Blanka Horacek: [Art.]
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lichen Reckentums« nur dazu, die alte Geschichte für ein höfisches Publikum genießbar zu machen, das er etwas verächtlich als »kennerische Feinschmecker« bezeichnet.35 Wenn er außerdem in ähnlicher Tendenz die so umgestalteten Recken »modisch aufgeputzt«36 nennt, scheint er geradezu diejenige Haltung einzunehmen, die Volker gegenüber dem höfischen Hunnen an den Tag legt – eine Parallele, die der Germanist allerdings nicht thematisiert oder reflektiert. In dem »Versuch, aus der Werbung Sigfrids um Grimhild einen erotischen Liebesroman zu machen«, sieht er »die belangreichste Bemühung des Epikers, die er bei seiner Verritterung des Reckentums unternahm«37. Aber wie auch sonst bleibe der germanische Kern erhalten, denn der scheinbare höfische Frauendienst sei in Wahrheit »Herrendienst«38 und insofern ganz im Einklang mit germanischem Gefolgschaftsdenken. Diese Deutung steht in klarem Widerspruch zum Wortlaut des ›Nibelungenlieds‹, wo Siegfried betont, er helfe Gunther nur um Kriemhilds willen.39 Das Höfische am ›Nibelungenlied‹ wird einfach nicht ernst genommen. Einen wirklichen Gegensatz zwischen Heroischem und Höfischem vermag von Kralik ohnehin nicht zu erkennen: Schließlich waren ja deutsches Reckentum und deutsches Rittertum keineswegs so gegensätzliche Welten, daß ihrer Verschmelzung Hindernisse von unüberwindlicher Art entgegenstanden. Die beiden Sphären hatten ja doch auch eine Fülle von gleichen und ähnlichen Idealen. Dies erkannt und ausgewertet zu haben, ist
Kralik, Dietrich Ludwig Wilhelm Richard Ritter von Meyrswalden, in: König (Anm. 19), Bd. 2, S. 1003f. Von Kralik war Mitglied des bis ca. 1933 bestehenden antisemitischen Professorennetzwerks ›Bärenhöhle‹, das bestrebt war, die Wiener Universität von Juden, Sozialdemokraten und Sozialisten zu ›säubern‹, vgl. Klaus Taschwer: Geheimsache Bärenhöhle. Wie ein antisemitisches Professorenkartell der Universität Wien nach 1918 jüdische und linke Forscherinnen und Forscher vertrieb, in: Alma mater antisemitica. Akademisches Milieu, Juden und Antisemitismus an den Universitäten Europas zwischen 1918 und 1939, hg. v. Regina Fritz [u.a.], Wien 2016, Bd. 3, S. 221–242, hier S. 230. 35 Von Kralik (Anm. 18), S. 204. 36 Ebd., S. 205. 37 Ebd., S. 207. 38 Ebd. 39 Nibelungenlied (Anm. 5), Str. 388,1f.: ›Jâne lob ich’z niht sô verre durch die liebe dîn / sô durch dîne swester, daz schœne magedîn.‹
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ein hohes Verdienst des Epikers, dem doch eine glückliche Verschmelzung der beiden Welten in hohem Maße gelang.40
Das klingt nun ganz versöhnlich (aus der Perspektive der jüngeren Forschung zu versöhnlich), so dass eine Opposition von Höfischem und Heroischem gar nicht mehr in den Blick kommt. Weniger harmonisierend argumentiert Hermann Schneider, wenn er bemerkt, »daß die Heldenepik überhaupt Ursprünglichkeit und Deutschheit ihres Weltbilds erheblich schädigt durch die Entlehnung höfischer Züge, Begriffe und Wendungen. Das ›Nibelungenlied‹ prägt damit seinem Sprachstil etwas Fremdes auf […].«41 Eine solche Fremdheit nimmt auch die Rassenkundlerin Elisabeth Gerth wahr: Was das ›Nibelungenlied‹ etwa aus Siegfried gemacht habe, »ist oft in seiner ritterlichen Verfeinerung des altgermanischen Recken nicht recht würdig. Vor allen Dingen trägt die Veräußerlichung in modischem Beiwerk und höfischen Umgangsformen viel dazu bei, das wirklich überlieferte Alte zu überdecken.«42 In ihrer Perspektive wird das Fremde selbstverständlich rassisch gedacht:43 Die Wertschätzung höfischer Formen sei prinzipiell ungermanisch, dafür typisch für den »Mittelländer«, den Bewohner des Mittelmeerraums: Der Mittelländer vermag es leicht, Sein und Schein zu trennen. Beides kann bei ihm vollkommen unabhängig sein. Fast immer ist ihm das Äußere wichtiger; die Form zu wahren und zu ehren, das ist auch der Zug, der dem geselligen Umgang und Verkehr zugrunde liegt. Bei der Mittelmeerrasse ist der Sinn dafür weit ausgeprägter als bei der nordischen. Wenn der äußere Schein nicht dem Werte und der wahren Gesinnung entspricht, dann verzichtet dieser auch gerne darauf. […] So spricht sich der Drang zur Wahrheit auch in den gesellschaftlichen Formen aus. Höflichkeit ohne entsprechende Gesinnung hat der Germane verworfen, im Gegensatz zum Mittelländer […].44
40 Von Kralik (Anm. 18), S. 207. 41 Hermann Schneider: Das deutsche Epos des Mittelalters, in: Fricke [u.a.] (Anm. 18), S. 147–167, hier S. 155. 42 Gerth (Anm. 18), S. 108. 43 Rassische Fremdheit ist für Gerth und entsprechende Rassentheoretiker*innen unaufhebbar: »In ihrem tiefsten Grunde wird die eine Rasse die andere nie begreifen können.« (ebd., S. 21) 44 Ebd., S. 94.
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Dieses Zitat ist insofern bemerkenswert, als es der oben im I. Kapitel dargelegten Beobachtung entspricht, dass sich im ›Nibelungenlied‹ der »Durchbruch von Wahrheit« in der Auflösung der höfischen Formen vollzieht, dass das ›Nibelungenlied‹ also tatsächlich einen Gegensatz zwischen höfischer zuht und Wahrheit konstruiert.45 Wenn Zivilisation wesentlich in der Wahrung bestimmter Formen besteht, dann ist das Germanische für Elisabeth Gerth in seinem Kern antizivilisatorisch.46 Das fügt sich zu folgender Aussage: Feindesliebe, Demut und Selbstentsagung sind Eigenschaften, die der Germane nicht kannte und nicht verstand, die ihm im tiefsten wesensfremd waren. […] Er ließ sich nicht von anderen freiwillig mit Füßen treten.47
Hierbei kommt es der Autorin vor allem auf die Wesensfremdheit zwischen dem Germanischen und dem Christlichen an, aber zumindest Demut und Selbstentsagung überschneiden sich mit Elementen der höfischen zuht, wie etwa der Fähigkeit, sich unterzuordnen und die Affekte und die Gewalt zu kontrollieren, so dass sich auch hierin ein unüberwindlicher Gegensatz zwischen dem ›Germanischen‹ und dem Höfischen ergibt.48 Dieser Gegensatz entspricht zu einem großen Teil demjenigen zwischen dem Höfischen und dem Heroischen, mittels dessen die neuere Forschung gewöhnlich das ›Nibelungenlied‹ interpretiert (nur eben ohne die rassenkundlichen Implikationen). Diese Übereinstimmung ist umso bemerkenswerter, als Gerths Studie nicht nur mit ihrem Rassismus abstößt, sondern auch ansonsten in ihren literaturwissenschaftlichen Analysen außerordentlich
45 Vgl. oben, Anm. 14. 46 Damit steht Gerth nicht allein: Der anti-zivilisatorische und anti-aufklärerische Impetus ist weit verbreitet im nationalsozialistischen Denken wie auch in der NSGermanistik, vgl. Ehrismann (Anm. 16), S. 54f. 47 Gerth (Anm. 18), S. 99. 48 Siegfrieds zuht an der Quelle, die ihn das Leben kostet, könnte Gerth eigentlich als Belegstelle für ihre Negativwertung von Demut und Selbstentsagung verwenden. Aber weil sie sie nicht als höfischen Dienst versteht, sondern als Manifestation der »germanischen Freundschaftstreue in dem Verhältnis Siegfrieds zu Gunther« (S. 112), vermag sie an dieser Unterordnung nichts Problematisches zu entdecken. Dass es zu Siegfrieds Ermordung kommt, führt sie nicht auf Siegfrieds, sondern auf Gunthers Verhalten zurück, der »innerlich [nicht] stark genug gewesen [sei], um Brünhild den wahren Sachverhalt der Werbung und die Beweggründe dazu einzugestehen. In dieser Charakterschwäche Gunthers liegt somit die ganze Tragik Siegfrieds begründet« (ebd.).
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plump und unbeholfen ist. Dass sie mit ihrer Bewertung des Höfischen dennoch einen richtigen Punkt trifft, liegt daran, dass der ideologische Gehalt des ›Nibelungenlieds‹ tatsächlich Überscheidungspunkte mit der Ideologie der Verfasserin aufweist, wenn man über das Rassentheoretische hinwegsieht. So erlaubt Elisabeth Gerth mit ihren ansonsten oft unerträglichen Ausführungen gewissermaßen unfreiwillig einen tieferen Einblick in die innere Dynamik des ›Nibelungenlieds‹ als z.B. eine deutlich sympathischere Dissertation, die ein paar Jahre früher entstanden ist und in derselben Reihe veröffentlicht wurde wie Gerths Dissertation: Hildegard Emmels (1911–1996) im Jahr 1936 erschienene Studie über das ›Verhältnis von êre und triuwe im Nibelungenlied und bei Hartmann und Wolfram‹ sieht das Höfische viel positiver und versucht, das ›Nibelungenlied‹ aus dem höfischen Kontext heraus zu verstehen. Dabei ist sie frei von jeglichem Germanenpathos49 und weigert sich daher bewusst, Siegfrieds Ermordung oder Kriemhilds Rache durch germanisches Denken zu rechtfertigen: Unhöfische Handlungen seien im ›Nibelungenlied‹ durch nichts gerechtfertigt, sondern vielmehr als Ungeheuerliches, Unfassbares konzipiert.50 Emmel bleibt also einfach beim Befund des Unerklärlichen stehen und nimmt die gegenläufige, anti-höfische Tendenz des ›Nibelungenlieds‹ nicht wahr, die das Ungeheuer-
49 Ideologisch unbestechlich blieb Emmel auch nach dem Krieg in der DDR: Nachdem sie sich 1951 als erste Frau an der Universität Rostock habilitiert und 1956 einen Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Universität Greifswald erhalten hatte, verlor sie 1958 ihre Lehrbefugnis aufgrund einer SED-Kampagne gegen ihre Monographie ›Weltklage und Bild der Welt in der Dichtung Goethes‹ (Weimar 1957), der »spätbürgerlich defätistische[r] Pessimismus« vorgeworfen wurde, vgl. Ralph Jessen: Akademische Elite und kommunistische Diktatur, Göttingen 1999, S. 369, und Marianne Beese: Forschungen zur Frauenbewegung und zum Frauenstudium in Rostock, in: Frauenstudium in Rostock. Bericht von und über Akademikerinnen, hg. v. Kersten Krüger, Rostock 2010 (Rostocker Studien zur Universitätsgeschichte 9), S. 7–40, hier S. 33. 1960 ging sie dann in die BRD und war in den beiden Folgejahrzehnten Professorin an den Universitäten von Oslo, Ankara und Connecticut, vgl. Walter Erhart: [Art.] Emmel, Hildegard, in: König (Anm. 19), Bd. 1, S. 432f., sowie den entsprechenden Eintrag im ›Catalogus Professorum Rostochiensium‹: http://cpr.uni-rostock.de//resolve/id/cpr_person_00002130 (Aufrufdatum: 1.5. 2023). 50 Vgl. Emmel (Anm. 17), S. 23: »So unerhört und im letzten nicht zu erklären Hagens Tat war, noch viel ungeheuerlicher und ebenso wenig zu rechtfertigen ist Kriemhilds Handeln an den Brüdern. Es wäre ganz falsch, hier in der Dichtung von 1200 von einer Rachepflicht zu sprechen und darin ein germanisches Element zu sehen.«
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liche durchaus erklären könnte. Der rassistisch argumentierenden Elisabeth Gerth wiederum steht ihr eigener Ansatz im Weg dabei, die Dynamik zwischen dem Höfischen und dem ›Germanischen‹ vollständig zu erfassen: Weil sie das Germanische als Kern und das Höfisch-Rassenfremde nur als »glitzernden Schleier«51 ansieht, verfolgt sie nicht den Konflikt zwischen den zwei gegenläufigen Tendenzen auf derselben Ebene, sondern schiebt den »Schleier« verächtlich beiseite, um zu dem vermeintlichen Kern zu gelangen. IV
Die Rezeption des Hierarchischen und Anti-Hierarchischen
Im ›Nibelungenlied‹ beruht die Ordnung einer Gemeinschaft darauf, dass die Hierarchie zwischen Herrschenden und Untertanen, Alten und Jungen, Vernunft und Affekten aufrechterhalten wird. Was das Verhältnis zwischen Herrschenden und Untertanen betrifft, wird unter den ›Nibelungenlied‹-Forscher*innen der 1930/40er-Jahre streng unterschieden zwischen dem alten germanischen Gefolgschaftswesen und der neuen romanischen Lehnsgesellschaft. Letztere wird als sklavische Abhängigkeit des Lehnsmannes von seinem Lehnsherrn dargestellt, wohingegen die Gefolgschaft eine freie und wechselseitige Treueverbindung zwischen Gefolgsherrn und Gefolgsmann meine.52 Die meisten dieser Forscher*innen wollen sowohl den Wormser Herrschaftsverband im ersten Teil als auch die burgundische Kampfgemeinschaft im zweiten Teil als germanische Gefolgschaft verstehen, nicht als feudales Gemeinwesen, so dass sie jeweils die gegenseitige Treue zwischen Herren und Gefolge betonen, nicht aber die hierarchische Gewalt der Herren über ihre Untertanen. Einzig Hildegard Emmel, die ja bewusst nicht germanisierend argumentieren will, erkennt ein Problem darin, dass Gunther ein zu schwacher Herrscher sei, um Hagens eigenmächtiges Handeln unter Kontrolle zu halten, was zur Ermordung Siegfrieds führe.53 Ansonsten versuchen die meisten Forscher*innen, die ideale Ordnung durch Gefolgschaftstreue, nicht durch Hierarchie zu definieren, weshalb sie den Zusammenbruch der Ordnung auch nicht auf die Verkehrung der Hierarchie zurückführen. Nur Otto Ackermann sieht, wie oben ausgeführt, in Siegfrieds Unterordnung die tragische Ursünde des ganzen Epos, aber auch mit Siegfried an der Spitze wäre für ihn die
51 Gerth (Anm. 18), S. 251. 52 So bei Ackermann (Anm. 24), S. 9, und von Kralik (Anm. 18), S. 192. 53 Vgl. Emmel (Anm. 17), S. 16.
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ideale Gemeinschaft gerade keine feudale Hierarchie, sondern ein Gefolgschaftsverband.54 Der Gefolgschaftsverband, so die Vorstellung, komme ohne Gewalt aus, die von oben nach unten ausgeübt werde: Stets ist zwar von Pflicht die Rede, aber diese Pflicht sei kein sklavischer Gehorsam, sondern die Treue zu sich selbst und zu der frei getroffenen Entscheidung, einem bestimmten Gefolgsherrn aufgrund seiner Führerqualitäten die Treue geschworen zu haben, so wie der Gefolgsherr sich zu ebensolcher Treue seinem Gefolgsmann gegenüber verpflichte. Das ist die anti-feudal und gewaltfrei gedachte Nibelungentreue, und sie wird stets zwischen Gunther und Hagen gesehen. Dass Hagen sich zunehmend von Gunther emanzipiert, wird dabei regelmäßig ausgeblendet. Weil die Gefolgschaftspflicht vor allem Treue zu sich selbst meint, steht immer die persönliche Freiheit des Helden im Fokus,55 und die bewährt sich am besten unter widrigen Umständen bis hin zum eigenen Untergang. Otto Höfler56 (1901–1987) beschreibt die germanisch-heroische Freiheit folgendermaßen:
54 Vgl. Ackermann (Anm. 24), S. 35f.: »Die deutsche Staatsgesinnung ist eben etwas grundsätzlich anderes als die das Rolandslied schon beherrschende romanische. Die germanische baut auf der Gemeinschaft der Freien mit dem König an der Spitze auf, d.h. der Staat sind die Freien, soweit man überhaupt den Begriff ›Staat‹ hier verwenden will. Staat und Volk decken sich in ihrem Sinn völlig, wobei freilich unter Volk schon in germanischer Zeit eine Auslese zu verstehen ist« (Hervorhebung im Original). Den nationalsozialistischen Staat sieht Ackermann als die Neuverwirklichung dieser germanisch-deutschen Staatsgesinnung, wie sein Vorwort pathetisch darlegt: »Aus Führertum, Gefolgschaft und Freiheit wächst das Reich, das der Führer seinem Volke schmiedet. Gefolgschaft und Freiheit sind von je die ehernen Gesetzestafeln germanisch-deutschen Heldentums gewesen. Sein Mythus verwirklicht sich aufs neue in der feldgrauen Gefolgschaft an den Grenzen des Reiches. Die Gestalten Siegfrieds und Dietrichs von Bern, Hagens und Gunthers leben heute wieder unter uns. Das Heldentum des Gefolgsmannes, sein bedingungsloser Einsatz für den Führer, prägt unsere Zeit, zeichnet das Bild des deutschen Menschen« (S. 3). 55 Auf die Verknüpfung von Gefolgschaftstreue und Freiheit in der NS-Ideologie verweist auch John Evert Härd: Das Nibelungenepos: Wertung und Wirkung von der Romantik bis zur Gegenwart, übers. v. Christine Palm, Tübingen 1996, S. 170, mit Zitaten von Alfred Rosenberg, Martin Heidegger und Baldur von Schirach. 56 Zu Höfler vgl. Harm-Peer Zimmermann: [Art.] Höfler, Otto Eduard Gottfried Ernst, in: König (Anm. 19), Bd. 2, S. 763–766, und Esther Gajek: Germanenkunde und Nationalsozialismus. Zur Verflechtung von Wissenschaft und Politik am Beispiel Otto Höflers, in: Politische Religion – religiöse Politik, hg. v. Richard Faber, Würzburg
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Die alte germanische Dichtung wagt es, ihre Helden auch noch dem Fürchterlichsten entgegenzustellen. Denn auch noch ihm gegenüber kann und soll der Mensch frei bleiben. Dann wird er Sieger sein, auch wenn er sich und die Seinen vernichten muß. Diese Kraft wird vor keiner Wirklichkeit wankend, was immer auch das Leben schicken mag. So bekennt sich das Heldenlied zum höchsten, härtesten und stolzesten Glauben an den Menschen und seine Freiheit.57
An diesen Aussagen wird deutlich, wie sehr ein solches Heldenbild den Tragikund Erhabenheitskonzepten der klassischen Ästhetik verpflichtet ist; es klingt ganz nach Schillers Pathetisch-Erhabenem. Freiheit steht über bloßer Selbsterhaltung, nur dass der Schillerʼsche Held in seinem Untergang den Idealen der Vernunft, der nationalsozialistische Held nur dem Führer als seinem Gefolgsherrn treu bleibt. Auf jeden Fall stellen die Selbsterhaltung und eine darauf abzielende Klugheit den Gegensatz zum Heldenhaften dar. Das ließ sich auch am ›Nibelungenlied‹ beobachten; allerdings sind es hier die heroischen Affekte zorn und übermuot, die sich über die Gebote der Klugheit und der Selbsterhaltung hinwegsetzen. Von Affekten ist bei den NS-Germanist*innen weniger die Rede, viel dagegen vom heldenhaften »Trotz«58, in dem sich das Affektive und das Freiheitspathos mischen und der die Unklugheit schon fast zum Selbstzweck erhebt. Wie sehr ein solches Treue- und Gefolgschaftsdenken zur Tragik und zu einer regelrechten Untergangssehnsucht neigt, zeigt sich in den folgenden Ausführungen Elisabeth Gerths: So liegt zwar über dem Burgundenuntergang eine furchtbare Tragik; aber dennoch leuchtet etwas aus der ganzen Schwere hervor, das aller Klage und allem Jammer trotzt: das ist der Todeswille der Helden, der den Tod überwindet, der
1997, S. 173–203. Bekannt war Höfler v.a. für seine Habilitationsschrift ›Kultische Geheimbünde der Germanen‹ (Frankfurt a.M. 1934). Als Professor wirkte er 1935– 1938 in Kiel, 1938–1945 in München. Ab 1937 war er Mitglied der von Heinrich Himmler gegründeten, der SS zugehörigen ›Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe‹. Nach dem Krieg wurde er 1950 rehabilitiert und war 1957–1971 als Nachfolger von Dietrich von Kralik Professor in Wien. 57 Otto Höfler: Deutsche Heldensage, in: Fricke [u.a.] (Anm. 18), S. 73–98, hier S. 85; wieder in: Zur germanisch-deutschen Heldensage, hg. v. Karl Hauck, Darmstadt 1961 (Wege der Forschung 14), S. 52–81, hier S. 67. 58 Vgl. z.B. Martini (Anm. 17), S. 153, Gerth (Anm. 18), S. 72 u. 91, und Schneider (Anm. 20), S. 381.
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ruhmreiche Untergang. […] Alle Größe ist der Vernichtung geweiht. »Alle Helden fallen sieglos« (Olrik, S. 65)59. Das ist die ganze tragische Stimmung, die immer wieder zum Durchbruch gelangt. Sie ist zugleich die tiefste seelische Grundeinstellung des schweren, oft melancholischen nordisch-germanischen Menschen.60
Während Gerth in solchem Germanenpathos regelrecht schwelgt, sieht Hans Naumann genau darin einen Grund dafür, warum das ›Nibelungenlied‹ nicht zum deutschen Nationalepos61 taugen kann und darf: Daß über allem Untergang die ungeheure Größe sternengleich und erhebend leuchtet, kann doch immer nur wenigen wichtiger sein als die Art des Ausgangs an sich, weil immer nur wenige die absolute Größe als etwas empfinden, was jenseits so unsicherer Begriffe wie Tragödie oder Komödie liegt. Und den hohen Mut auch aus einer Dichtung von der Bewährung im Untergang zu gewinnen, ist höchstens Sache kleinerer erlesener Gruppen, eines jungen Offizierkorps, einer Elitekameradschaft, einer edlen Gefolgschaft, aus deren Schoße der Stoff ja auch stammt und deren Herz an solcher Dichtung gestählt und erzogen wird, ist aber unmöglich Sache eines ganzen, breiten, gesunden Volkes aus Alt und Jung, aus Hoch und Gering, aus Weib und Kind. […] Das kann und will auch gar nicht von glückhaft aufbauender, segensvoll leuchtender, zukunftsverheißender, Heil und Glauben stärkender, Freude erweckender Wirkung auf eine ganze breite, große, gesunde Nation sein.62
Das klingt so, als wäre das ›Nibelungenlied‹ für eine gesunde, auf Weiterleben und Zukunft ausgerichtete Nation geradezu gefährlich; höchstens militärische
59 Gerth zitiert hier Axel Olrik: Nordisches Geistesleben, Heidelberg 1908. 60 Gerth (Anm. 18), S. 186–188. Diese Form der Tragik unterscheidet Bollinger (Anm. 18) als »germanische Seinstragik« (S. 4, verkörpert durch Siegfried und Hagen, vgl. auch S. 4−10) von der höfischen »Wertetragik« (S. 1, verkörpert v.a. durch Rüedeger, vgl. S. 10−14). 61 Zur Rezeption des ›Nibelungenlieds‹ als Nationalepos vom 18. bis zum 20. Jh. vgl. Klaus von See: Das Nibelungenlied – ein Nationalepos?, in: Heinzle/Waldschmidt (Anm. 1), S. 43−110; wieder in: Die Nibelungen: Sage – Epos – Mythos, hg. v. Joachim Heinzle [u.a.], Wiesbaden 2003, S. 309−343. 62 Hans Naumann: Das Nibelungenlied, eine staufische Elegie oder ein deutsches Nationalepos?, in: Dichtung und Volkstum [heute: Euphorion] 42 (1942), S. 41−59, hier S. 55f.
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Eliten sollten sich damit befassen, weil nur sie daraus etwas Stärkendes gewinnen können; für alle anderen wäre es lebensfeindliches, den gesunden ›Volkskörper‹ zersetzendes Gift.63 In entsprechend pathologisierender Metaphorik versteht Naumann das ›Nibelungenlied‹ in dessen historischem Kontext als »drohende[s] Symptom[]«64 für das sich anbahnende Ende des Stauferreiches. Mit erstaunlicher Klarheit, aber auch mit einer Art Schaudern stellt er fest: »Hier aber steht am Ende das restlose Nichts«65, das heißt: kein christlicher Himmel, kein Walhall, nichts irgendwie Positives.66 Es ist dieser Nihilismus, der das ›Nibelungenlied‹ untauglich mache, ein Nationalepos zu sein. Diese ist eine der wenigen Stellen innerhalb der ›Nibelungenlied‹-Studien jener Zeit, wo nicht versucht wird, den Text propagandistisch zu vereinnahmen und zu rechtfertigen. Der Nihilismus-Vorwurf trifft sich mit dem in Kapitel I herausgearbeiteten Befund, dass das ›Nibelungenlied‹ keine Alternative zur Gewalt aufzeigt, dass es Ordnung und Selbsterhaltung als sublimierte Gewalt erweist und vor Augen führt, dass man lediglich die Wahl hat zwischen Barbarei und Lüge. Weil das Epos so fundamental zivilisationskritisch ist, kann es von keiner Ideologie völlig vereinnahmt werden, die den Anspruch erhebt, zumindest der eigenen Gruppe ein gewaltfreies Zusammenleben zu ermöglichen. Nichts könnte das besser bestätigen als ein zutiefst ideologisierter Germanist wie Naumann, der sich auf die Suche nach einem Nationalepos begibt und das ›Nibelungenlied‹ verwerfen muss.67
63 In seiner Rede zur Bücherverbrennung 1933 entwarf Naumann als gewünschte Literatur der Zukunft »ein Schrifttum, dem Familie und Heimat, Volk und Blut, das ganze Dasein der frommen Bindungen wieder heilig ist. Das uns zum sozialen Gefühl und zum Gemeinschaftsleben erzieht, sei es in der Sippe, sei es im Beruf, sei es in der Gefolgschaft oder in Stamm und Nation. Das zum Staat erzieht und zum Führertum und zur Wehrhaftigkeit, ein Schrifttum, das also im besten und edelsten Sinne politisch ist« (zit. n. Sauder (Anm. 21), S. 139). Wenn alle Literatur, die nicht diese Kriterien erfüllt, zu verbrennen ist, dann wirft Naumann mit seiner Rede letztlich auch das ›Nibelungenlied‹ ins Feuer. 64 Naumann (Anm. 62), S. 57. 65 Ebd., S. 56. 66 Das Nichts bestimmt auch Müller (Anm. 1, S. 454) als Ziel- und Endpunkt des ›Nibelungenlieds‹ , wenn er dessen »Dekonstruktionsarbeit« folgendermaßen beschreibt: »eine Bewegung von Setzung und Aufhebung, die erst zur Ruhe kommt, wenn es nichts mehr zu setzen und aufzuheben gibt.« 67 Kurioserweise unternimmt Naumann in demselben Aufsatz (Anm. 62) den Versuch, ein Dietrich-Epos zu ›rekonstruieren‹, das leider nicht überliefert sei und dem er alle
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V
Die Rezeption der anti-sozialen Tendenz des Heroischen
Dass am Ende des ›Nibelungenlieds‹ das »restlose Nichts« steht, zeigte sich im I. Kapitel auch daran, dass das Epos keine Form von Gemeinschaftsbildung vorführt, die Bestand hätte. Das wäre eben jenes Positive gewesen, das Naumann vergeblich sucht; so sagt er: Gerade das deutsche Volk hat sich doch gerettet aus dem germanischen Untergang mit Hilfe der Kaiser- und Reichsidee. Und eben von Kaiser- und Reichsidee, nicht wegzudenken aus der deutschen Geschichte, weil ewiges Mittel zur Wiedererstehung, ist in diesem Liede bezeichnenderweise mit keiner Silbe die Rede.68
Das Fehlen der Reichsidee im ›Nibelungenlied‹ ist ein Punkt, mit dem die Germanist*innen während der gesamten NS-Zeit und auch schon davor stark beschäftigt waren. Bereits 1922 betonte der Marburger Germanist Friedrich Vogt69 (1851–1923) in seinem Vergleich zwischen ›Französischem und deutschem Nationalgeist im Rolandslied und im Nibelungenlied‹ − einer Rede, die passenderweise zur Jahresfeier der Reichsgründung gehalten wurde −, dass die Helden des französischen Epos für ihr Vaterland, die Helden des ›Nibelungenlieds‹ nur für sich selbst kämpfen. Er stellt französischen Nationalismus, auf den er verächtlich, aber auch neidisch blickt, gegen »deutschen Individualismus«70, den er für
Eigenschaften zuschreibt, die ein richtiges Nationalepos in seinen Augen aufweisen muss (S. 58f.). Ansonsten glaubt er in seiner eigenen Gegenwart (1942!) den Stoff für das ersehnte erbaulich-optimistische Nationalepos zu erkennen: »Im Dritten [Reich] wird gewiß die erlösende Stunde schlagen, es besitzt ja bereits in dem einzigen Manne und in der Geschichte seiner Erscheinung ein Nationalepos urältester Struktur, dem verlorenen des Ersten Reiches [= dem Dietrich-Epos, Anm. d. Verf.] verwandt; man brauchte es nur in Verse zu gießen« (S. 58). 68 Ebd., S. 54. Wenn man bedenkt, wohin das Kaiser- und das Dritte Reich tatsächlich führten, muten Naumanns Worte auf eine groteske Weise realitätsblind an. 69 Zu Vogt vgl. Jelko Peters: [Art.] Vogt, Friedrich Hermann Traugott, in: König (Anm. 19), Bd. 3, S. 1956–1958. Sein Lebenslauf ist online zu finden in der ›Hessischen Biographie‹: www.lagis-hessen.de/pnd/117467642#heading4 (Aufrufdatum: 1.5.2023). 70 Friedrich Vogt: Französischer und deutscher Nationalgeist im Rolandslied und im Nibelungenlied. Rede zur Feier der Reichsgründung, Marburg 1922 (Marburger Akademische Reden 40), S. 20. Zu dieser Schrift vgl. auch Francis G. Gentry: Die Rezeption des Nibelungenliedes in der Weimarer Republik, in: Das Weiterleben des
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typisch »deutsche Art oder Unart«71 hält, für »das germanische Verhängnis der Selbstzerfleischung«.72 Vor diesem Verhängnis gebe es nur eine Rettung: Deutschland kann nicht sterben wie das Königshaus der Burgonden, wenn wir nicht diesen Ruf, diese letzte, heilige Mahnung unsrer jungen Helden [des Ersten Weltkriegs, Anm.d.Verf.], die sie mit ihrem Blute besiegelt haben, vergessen, wenn nicht statt des ›Deutschland über Alles‹ der Wahlspruch siegt: ›Die Partei über Alles‹, oder ›das Klasseninteresse‹ oder ›das liebe Ich über Alles‹ – kurz, wenn wir nicht wieder dem alten Fluch der deutschen Uneinigkeit und Selbstzerfleischung, und jetzt rettungslos verfallen […].73
Deutschlands Heil liegt für Vogt also im übersteigerten Nationalismus (den er wiederum den Franzosen vorwirft). Das entspricht exakt Naumanns Befund, und es wird deutlich: Das »restlose Nichts«, dem das ›Nibelungenlied‹ zustrebt, ist das ungebundene, unintegrierbare Individuum. Der Nihilismus ist (für den National- wie jeden sonstigen Sozialismus) der Individualismus.74 Dieser Individualismus aber soll das typisch Germanisch-Heroische sein. Das heißt: Nationalismus ist eigentlich etwas Ungermanisches, ›germanischer Nationalismus‹ also ein
Mittelalters in der deutschen Literatur, hg. v. James F. Poag u. Gerhild ScholzWilliams, Königstein/Ts. 1983, S. 142−156, hier S. 149f. 71 Vogt (Anm. 70), S. 19. 72 Ebd., S. 17. Ganz ähnlich argumentiert knapp 20 Jahre später Hermann Schneider (Das deutsche Epos des Mittelalters, in: Fricke [u.a.] (Anm. 18), S. 147−167, hier S. 155): »Unsere Heldenepik hat es nie erreicht, in dem Maße deutsch zu sein wie die französische französisch ist. Es fehlt ihr […] vor allem das bewußte, zur Schau getragene Deutschtum. Es mag wohltätig berühren, daß die dort verstimmenden Auswüchse des ›Chauvinismus‹ unserer Dichtung erspart bleiben; sie erhebt sich aber auch nie zu dem stolzen Stammesbewußtsein selbst einiger Heldenlieder. Das Leben und Sterben der westlichen Helden für la douce France findet nirgends auch nur im geringsten seinesgleichen. Kaum daß der Name Deutschland je fällt oder von dem rîche die Rede ist.« 73 Vogt (Anm. 70), S. 27. 74 Und damit alle aus dem Individualismus abgeleiteten politischen Theorien wie der Anarchismus und der Liberalismus. Das Freiheitliche des Individualismus versuchte der Nationalsozialismus allerdings, wie in Kapitel IV gezeigt, durch das Gefolgschaftsdenken zu integrieren, die frei gewollte Selbstunterwerfung unter den ›Führer‹.
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Widerspruch in sich. Man sieht: Die nationalistisch argumentierenden Germanisten verfallen selbst dem »Fluch der deutschen Selbstzerfleischung«. Der Begriff der »Selbstzerfleischung« findet sich auch bei dem Germanisten, Bibliothekar und späteren CSU-Bundestagsabgeordneten Friedrich Knorr75 (1904–1978), der die Selbstzerfleischung aber nicht als germanische Wesensart ansieht, sondern als Conditio humana. Sie könne nur überwunden werden durch die Erkenntnis über den Wert der Gemeinschaft. Zu dieser Einsicht gelange in der Literatur zum Beispiel Wolframs ›Parzival‹; sie sei der »Sinn der Gralsfrage«: »[D]ieser eine [Parzival] genügt, um der Welt als kaiserlicher Herr eine Ordnung zu geben, die sie vor der Selbstzerfleischung bewahrt. Diese Erkenntnis nun ist es, die wir bei den Menschen des Nibelungenliedes vergeblich suchen.«76 In diesem Sinne hält Knorr das ›Nibelungenlied‹ und ›Parzival‹ für komplementäre Werke. Ihr beider Thema sei die Gemeinschaft, und die sei als »geschichtlicher Prozeß«77 zu denken: In einem hegelianisch anmutenden Dreischritt löse sich ein großer Einzelner durch sein Handeln aus der Gemeinschaft heraus, könne die Auswirkungen seines Handelns auf die Gemeinschaft nicht mehr kontrollieren und werde schließlich von der Gemeinschaft selbst wieder verschlungen.78 Darin besteht Knorr zufolge die Dynamik des ›Nibelungenlieds‹. Zwischen Individualität und Gemeinschaftlichkeit sei zwar jeder Mensch hin und her gerissen,
75 Zu Knorr vgl. [Art.] Knorr, (Otto Karl) Friedrich, in: Biographisches Handbuch der Mitglieder des Deutschen Bundestages 1949−2002, hg. v. Rudolf Vierhaus u. Ludolf Herbst, München 2002, Bd. 1, S. 433, und Otfrid Ehrismann: Die Aktualität mittelalterlicher Dichtung im III. Reich und in der frühen Bundesrepublik – Friedrich Knorr und Friedrich Maurer. Zur Geschichte des Mediävalismus und zur »Wende« der Altgermanistik nach 1945, in: Verstehen durch Vernunft (FS Werner Hoffmann), Wien 1997, S. 59−74, hier v.a. S. 60−69. Knorr wurde 1929 in Marburg promoviert (Diss.: ›Das Problem der menschlichen Philosophie bei J. G. Herder‹). 1938−1944 gab er die ›Zeitschrift für deutsche Geisteswissenschaft‹ heraus. 1940−1945 war er Direktor der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt a.M., 1949−1957 Leiter der Landesbibliothek in Coburg. 1957−1965 saß er als CSU-Abgeordneter für den Wahlkreis Coburg im Bundestag. 76 Friedrich Knorr: Das Nibelungenlied in der Dichtung des 13. Jahrhunderts, in: Neue Jahrbücher für deutsche Wissenschaft 13 (1937), S. 289–306, hier S. 304. Zu Knorrs ›Parzival‹-Interpretation vgl. ausführlicher Ehrismann (Anm. 75), S. 61−65. 77 Knorr (Anm. 76), S. 299. 78 Vgl. Friedrich Knorr: Der künstlerische Aufbau des Nibelungenliedes, in: Zeitschrift für Deutschkunde 52 (1938), S. 73–87, hier S. 82.
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aber »gerade die großen Menschen, die Helden«79 neigten besonders zur gemeinschaftsgefährdenden Individualisierung. Dass der Einzelne seinen Wert und seine Bedeutung nur aus dem Eingebundensein in eine Gemeinschaft erhalte, hätten der Weltkrieg und die »Nationalsozialistische[] Revolution« vor Augen geführt, so Knorr in einem früheren Aufsatz.80 Deshalb sieht er »die Beanspruchung des deutschen Menschen durch das Reich als unentrinnbares Schicksal«.81 Heroentum und Reich, Individualität und Gemeinschaftlichkeit stehen also auch hier in einem Gegensatz zueinander. Knorr ist immerhin so ehrlich, hierin eine Dialektik zu erkennen, die in der Conditio humana selbst liegt und eine stets neu zu bewältigende Aufgabe darstellt.82 Andere hingegen deuten sich das Heroische bzw. das ›Nibelungenlied‹ so zurecht, dass der Held, ungeachtet seines germanischen Freiheitsdrangs, immer Teil eines größeren Ganzen, einer staatlichen Ordnung sei: So nennt Hermann Schneider das Epos »das Hohelied nicht nur des Einzelheldentums, sondern der Heldengemeinschaft; und nirgends ist diese wohl […] so ausgesprochen in ihrer Gegenseitigkeit gezeigt worden: sie kettet König und Mann aneinander.«83 Sein Paradebeispiel hierfür ist natürlich die sogenannte ›Nibelungentreue‹ zwischen Hagen und den Burgundenkönigen. Dass Schneider mit dem anarchisch-individualistischen Heroismus der Hagen-Figur nicht fertig wird, zeigt sich daran, dass er behauptet, die Bezeichnung trôst der Nibelunge, die das Epos
79 Knorr (Anm. 76), S. 302. 80 Friedrich Knorr: Die mittelhochdeutsche Dichtung und die Gegenwart, in: Die Neue Literatur 8 (1936), S. 446–458, hier S. 446. 81 Ebd., S. 456. 82 Vielleicht findet sich bei Knorr sogar eine regimekritische Spitze, vgl. dens. (Anm. 78), S. 76 (Hervorhebungen durch d.Verf.): »Dem einzelnen Menschen, insbesondere dem Mächtigen, ist in der Gemeinschaft, in der er steht, die verhängnisvolle Möglichkeit gegeben, seine eigenen Ziele bis zu dem Punkte zu verfolgen, wo er mit der Vernichtung seines Mitmenschen die Hand an die Wurzel der Gemeinschaft selber legt, deren friedlicher Fortbestand die Voraussetzung seines eigenen Daseins ist. Schreitet er in Verkennung seines wahren Wesens wirklich bis zu diesem Punkte fort, so ruft er gegen seinen Willen in der Gemeinschaft selbst ein Geschehen hervor, das über ihn hinwegschreitend, diese zur Vernichtung führt, die seinem eigenen Dasein im Kampf gegen seine Nächsten ein verhängnisvolles Ende setzt, trotz aller Bemühungen dieses Ende aufzuhalten.« 83 Hermann Schneider: Herrscher und Reich in der deutschen Heldendichtung, in: Das Reich. Idee und Gestalt (FS Johannes Haller), hg. v. Heinrich Dannenbauer u. Fritz Ernst, Stuttgart 1940, S. 145–173, hier S. 155f.
Barbarisierende Elemente im ›Nibelungenlied‹ | 105
Hagen beilegt (Str. 1526,2 u. 1726,4), habe in einer älteren Schicht »sicher noch den König selbst«, also Gunther, gemeint.84 Nur mit einer solchen Vorstufenspekulation85 vermag Schneider das behauptete Gefolgschaftsverhältnis zwischen Gunther und Hagen aufrechtzuerhalten, was die Unvereinbarkeit von Heroismus und Gemeinschaftlichkeit nur bestätigt. Otto Höfler hingegen bemüht sich gar nicht erst, seine Idealvorstellung des »heroischen Staates« mit dem Text in Einklang zu bringen. Den germanischen Helden definiert er von vornherein durch sein Eingebundensein in ein staatliches »Gefüge«; der Held stehe dabei »[n]icht in einer Ordnung, die das Gegenteil von Gefahr und Eigenwillen und von Tragik ist, sondern eingefügt in ein großes Dasein, das höchste Anspannung fordert, Treue im Leben und bis zum Tod, Unbeugsamkeit und Einordnung bis zur Selbstaufopferung.«86 In dem so entworfenen »Lebensgefüge des heroischen Staates« finde »der Einzelne seine Erfüllung […] als Teil eines wirkenden Ganzen« und sei »unter das Schicksal gestellt, das ihm Gefahr bringt und Untergang bedeuten kann und doch im Untergang noch Sinn und höchste Erfüllung des Daseins.«87 Einem Staat, der seinen Bürgern als höchsten Lebenszweck ihren Untergang in Aussicht stellt und ihnen zumutet, ihren »Eigenwillen« in der »Einordnung bis zur Selbstaufopferung« zu finden, ist die Auflösung bereits eingeschrieben. Ein solcher Staat, denkbar nur in einem permanenten Kriegszustand, dürfte kaum mehr Be-
84 Ebd., S. 156. 85 Zugegeben: Laut den Handschriften A, D, b, J, d, C und a ist es der künec hêr (in B steht nur der), der direkt auf Dietrichs Warnung an den trôst der Nibelunge antwortet (Str. 1727), worauf auch Schneider hinweist, und eine »[s]olche zweigliedrige[] Umschreibung[]« ist, wie Heinzle (Anm. 5, S. 1392) in seinem Kommentar zu 1726,4 erläutert, »ein traditioneller Typus der Bezeichnung für den König«. Aber damit ergibt sich allererst die für das ›Nibelungenlied‹ typische Interpretationsschwierigkeit: Ist der Ausdruck als Anrede an Gunther unbeabsichtigt auf einer Vorstufe stehen geblieben (wofür Schneider plädiert), oder soll er bewusst mit der vorhergehenden Textstelle korrespondieren, in der der Erzähler eindeutig Hagen als trôst für die Nibelungen bezeichnet (Str. 1526,2)? In letzterem Fall würde die Stelle durch den doppelten Bezug pointiert herausstreichen, dass die alte Hierarchie nicht mehr fraglos gültig ist. 86 Höfler (Anm. 57), S. 90 bzw. 73. 87 Ebd., S. 91 u. 73. Von demselben Geist ist Görings berüchtigte Stalingrad-Rede getragen, die den Nibelungenuntergang zum Vorbild für den Kampf um Stalingrad erhebt, vgl. dazu Peter Krüger: Etzels Halle und Stalingrad: Die Rede Görings vom 30.1.1943, in: Heinzle/Waldschmidt (Anm. 1), S. 151−190, wieder in: Heinzle [u.a.] (Anm. 61), S. 375−403 [jeweils mit Abdruck der Rede].
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stand haben als der einzelne Held: Der »heroische Staat« ist ein Widerspruch in sich. VI
Schluss
Bei allem Germanenkult stellte das Heroische für die NS-Germanist*innen offenbar ein beträchtliches Problem dar, mit dem sie nicht ohne Weiteres fertig wurden. Man wollte nicht darauf verzichten, aber es ideologisch zu bändigen vermochte man auch nicht. Mit Helden ist kein Staat zu machen, nicht einmal das ›Reich‹. Das hatte das ›Nibelungenlied‹ immer vor Augen geführt. Wie es keine Ideologie außer der Gewalt selbst bestehen lässt, entzieht es auch der nationalsozialistischen Vereinnahmung letztlich die Grundlage bzw. enthüllt, dass auch und gerade der Nationalsozialismus nichts anderes als Gewalt ist. Zumindest diejenigen unter den NS-Germanist*innen, die einen relativ unverstellten Blick auf das ›Nibelungenlied‹ werfen oder von ihm auch nur ideologisch frustriert werden, kommen zu der Erkenntnis, dass der Text eigentlich zu subversiv ist, um als Nationalepos für das ›Dritte Reich‹ zu taugen. Ohne es zu beabsichtigen, schärfen gerade sie in ihrer Arbeit am ›Nibelungenlied‹ den Blick dafür, worin die Selbstwidersprüche und Selbstlügen ihrer eigenen Ideologie liegen: Das ›Nibelungenlied‹ dekonstruiert seine Interpret*innen. Zugleich muss man festhalten, dass ausgerechnet stark nationalsozialistisch ideologisierte junge Interpret*innen wie Otto Ackermann und Elisabeth Gerth, die nach dem Krieg nicht mehr nachweisbar wissenschaftlich tätig waren, vielleicht auch im Krieg umgekommen sind, zu Einsichten in das Epos gelangten, die die spätere Forschung unter ganz anderen methodischen Prämissen neu erarbeitet hat und die heute zum Standardwissen über das ›Nibelungenlied‹ gehören (z.B. die Diskussion um das Recht des Stärkeren als Herrschaftsprinzip oder die Schein- und Lügenhaftigkeit des Höfischen). Die nationalsozialistische Ideologie erweist sich in dieser Hinsicht somit als aufschlussreich für das ›Nibelungenlied‹, wie umgekehrt das ›Nibelungenlied‹ die inneren Widersprüche der nationalsozialistischen Ideologie aufzudecken vermag. Es ist ja vielleicht mehr als eine unheimliche Koinzidenz, dass das ›Dritte Reich‹ schließlich genau wie das Epos dem Untergang und dem »restlosen Nichts« zustrebte. Ein wesentlicher Aspekt nicht unbedingt des Germanischen, aber zumindest dessen, was der vorliegende Band als das ›Nibelungische‹ in den Blick nimmt, ist die von den Germanisten Friedrich Vogt, Friedrich Knorr und Hans Naumann hervorgehobene »Selbstzerfleischung«, und die bricht gleichermaßen im Epos wie in der historischen Wirklichkeit durch.
Prophetie durch Rückgriff Frühnationalsozialistische Nibelungen-Rezeption bei Dietrich Eckart Elisabeth Huwer & Andrea Schindler
I
Einleitung
»Eckart, Dietrich, völkischer Dichter und Märtyrer«1 – so lautet der Eintrag im Personen- und Sachverzeichnis zu Adolf Hitlers programmatischer Schrift ›Mein Kampf‹. Als Märtyrer gilt er ihm, weil er, wie andere, seine »Pflicht [...] im besten Glauben und bis zur letzten Konsequenz erfüllt« hat und mit nur 55 Jahren am 26. Dezember 1923 gestorben war, sodass Hitler Dietrich Eckart unter die am 9. November 1923 während des Hitlerputsches Gefallenen, die »sechzehn Helden«, zählen kann, denn er gilt ihm »als der Besten einer[, der] sein Leben dem Erwachen seines, unseres Volkes gewidmet hat im Dichten und im Denken und am Ende in der Tat«2. Damit spielt er gleichzeitig auf den breitenwirksamsten Text Eckarts an, das (später so genannte) ›Sturmlied‹3, das mit dem Aufruf
1
Adolf Hitler: Mein Kampf, München 1940, S. X.
2
Ebd., S. 781. Die 16 Helden werden zu Beginn des Ersten Bandes (S. XXIX) in einem schwarz umrandeten Kasten als »Helden« und »Blutzeugen« genannt, sodass ›Mein Kampf‹ von diesen ›Märtyrern‹ gerahmt wird.
3
Das Gedicht erschien zuerst 1919 in Eckarts Zeitschrift ›Auf gut deutsch‹ unter dem Titel ›Feuerjo‹ (vgl. Auf gut deutsch 44/45 (1919), S. 677), wurde 1922 durch eine zweite, der ursprünglichen vorangestellte Strophe ergänzt und von Hans Gassner vertont; vgl. Margarete Plewnia: Auf dem Weg zu Hitler. Der ›völkische‹ Publizist Dietrich Eckart, Bremen 1970 (Studien zur Publizistik 14), S. 86.
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»Deutschland, erwache« endet, der zum »Schlachtruf des Dritten Reiches«4 wurde. Dietrich Eckart hatte sich viel Wissen angeeignet; er zitiert in seinen publizistischen Texten u.a. Goethe und Schiller, Schopenhauer, Luther, Voltaire, Heine, Kant, Weininger, aber auch griechische Mythologie und die Bibel. Sein »Vertrauen« – in die Deutschen bzw. die ›deutsche Volksseele‹, um derentwillen Deutschland wiedererstarken werde – »stützt sich auf die lange Reihe unserer unvergleichlichen Dichter und Denker«5. Der Anteil mittelalterlicher Stoffe und Werke ist dabei relativ gering und beschränkt sich – neben nordischer Mythologie – im Wesentlichen auf das ›Nibelungenlied‹. Allerdings erscheint ›das Mittelalter‹ (unreflektiert) bei Eckart auch als eine Art goldenes – weil nichtjüdisches – Zeitalter, wenn er in seinem zweiteiligen Gedicht ›Nürnberg – Berlin‹ die Zeit der so ›deutschen‹ Meistersinger in Nürnberg und das 13. Jahrhundert in Berlin als Zeiten rühmt, in denen diese Städte noch ›deutsch‹ und nicht jüdisch gewesen seien.6 Es braucht kaum gesagt zu werden, dass Eckart mit all den genannten Autoritäten wie mit dem Mittelalter auf seine Weise verfährt und sie für seine Zwecke instrumentalisiert. Im Folgenden soll Eckarts Mittelalter-Rezeption mit Fokus auf seinem 1919 erstmals erschienenen Gedicht ›Geduld!‹ untersucht werden. Dazu wird nach einem Blick auf die Person Dietrich Eckarts der Text in seiner Überlieferungs- und Rezeptionsgeschichte beleuchtet und in seiner Instrumentalisierung des ›Nibelungenliedes‹ analysiert, um die Ergebnisse schließlich in Eckarts Werk einzuordnen. II
Dietrich Eckart
Johann Dietrich Eckart ist den Wenigsten vertraut. Sowohl Germanisten als auch Historiker zeigten bisher kaum Interesse an diesem »Propheten des Nationalis-
4
Ebd., S. 11. Auch der Begriff des ›Dritten Reiches‹ wurde bereits 1919 von Eckart verwendet, »lange bevor der Nationalsozialismus sich dieser Titulatur bediente« (Frank Jacob: Die Thule-Gesellschaft, Berlin 2010, S. 132).
5
Dietrich Eckart: Schönheitsfehler der bayerischen Volkspartei, in: Auf gut deutsch 1 (1918), S. 10–15, hier S. 12. Die Kunst an sich hat für Eckart die Fähigkeit, einen Blick in den Himmel zu ermöglichen, den der Mensch nach seiner Geburt mit fortschreitendem Alter verliert; vgl. Dietrich Eckart: Erinnerung, in: Dietrich Eckart. Ein Vermächtnis, hg. und eingel. v. Alfred Rosenberg, München 1928, S. 93.
6
Vgl. Dietrich Eckart: Nürnberg – Berlin, in: Rosenberg (Anm. 5), S. 124–127.
Prophetie durch Rückgriff | 109
mus«7. Obwohl Eckart als »der geistige Berater und Mentor Hitlers«8 gilt und er seine literarischen Fähigkeiten dazu nutzte, Adolf Hitler als Führer zu installieren, sind die Forschungsbeiträge zu Eckart dünn gesät. Seiner Tätigkeit als Dichter und Dramatiker sowie seinen Werken wurde noch weniger Aufmerksamkeit geschenkt.9 Der im Jahr 1868 in der Oberpfalz Geborene widmete sich zunächst dem Studium der Medizin. Nach Abbruch des Studiums im Jahr 1891 versuchte sich Eckart als Dichter und Dramatiker hervorzutun.10 Jedoch erst sein Theaterstück ›Peer Gynt‹, eine Nachdichtung von Henrik Ibsens Versdrama, brachte dem 1914 bereits Mittvierziger erstmalig Ruhm. An diesen Ruhm konnte Eckart jedoch nicht anknüpfen, obwohl sogar Kaiser Wilhelm II. sein Können würdigte
7
So lautet der Titel eines Sammelbandes, in dem auch einer der wenigen Beiträge zu Dietrich Eckart zu finden ist: Margarete Plewnia: Auf schlecht deutsch. Der Kronzeuge der ›Bewegung‹: Dietrich Eckart, in: Propheten des Nationalismus, hg. v. Karl Schwedhelm, München 1969, S. 159–175.
8
Paul Wilhelm Becker: Der Dramatiker Dietrich Eckart. Ein Beitrag zur Dramatik des
9
Die Biographie Eckarts wurde inzwischen mehrfach untersucht unter verschiedenen
Dritten Reichs, Köln 1969, S. 121. Gesichtspunkten; die umfassendste Untersuchung stammt von Margarete Plewnia (Anm. 3). Vgl. zu Eckarts Leben u.a. auch Eduard Gugenberger: Hitlers Visionäre. Die okkulten Wegbereiter des Dritten Reichs, Wien 2001, S. 31–44; Detlev Rose: Die Thule-Gesellschaft. Legende – Mythos – Wirklichkeit. 2. Aufl., Tübingen 2000 (Veröffentlichungen des Instituts für deutsche Nachkriegsgeschichte 21), S. 108–120; Manfred Meyer u. Norbert Elmar Schmid: Von der gescheiterten Existenz zum Dichtermythos der nationalsozialistischen Diktatur. Der Neumarkter Schriftsteller Dietrich Eckart und der Nationalsozialismus, in: Jahresbericht des Historischen Vereins für Neumarkt i.d. Opf. und Umgebung 22 (1999), S. 163–189; Sandra Hoffmann: Dietrich Eckart – ›Dichter, Seher und Kämpfer‹, in: Vergessen und verdrängt? Schwabach 1918–1945, hg. v. Sabine Wiegand-Karg [u.a.], Schwabach 1997, S. 189f. Rezent ist die Dissertation des Sozialwissenschaftlers Marc Besic: Der Führer und sein Dichter. Eine mythentheoretische Auseinandersetzung mit dem Werk Dietrich Eckarts und seiner Bedeutung für das Weltbild Adolf Hitlers, 2018, https://edoc.ub.uni-muenchen.de/23029 (Aufrufdatum: 1.5.2023). 10 Vgl. Sonja Noller: [Art.] Eckart, Dietrich, in: Neue Deutsche Biographie 4 (1959), S. 284, www.deutsche-biographie.de/pnd118687638.html (Aufrufdatum: 1.5.2023).
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und ihn mit einem Stück beauftragte.11 Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs widmete sich Eckart daher fast ausschließlich der Tätigkeit als Publizist und Herausgeber. Ab Ende 1918 gab er ›Auf gut deutsch. Wochenschrift für Ordnung und Recht‹ heraus, eine Zeitung »mit rassisch ausgerichtetem Programm«12, in der er zunächst hauptsächlich selbst zu politischen Tagesthemen Stellung bezog. Aktiv beteiligt an der Gestaltung und Erarbeitung von meist antisemitisch gefärbten Beiträgen war auch der junge Alfred Rosenberg. Über Eckart, der sich erst durch die Kriegsniederlage und die Beziehungen zur Thule-Gesellschaft »vom enthusiastischen Heine-Verehrer zum fanatischen völkischen Propagandisten«13 entwickelte, kamen sowohl Rosenberg als auch Hitler zu Kontakten in angesehenen Kreisen.14 Nachdem nämlich Eckart, der sich nach seinem Umzug nach München in den völkischen Kreisen etablieren konnte, den noch unbekannten Hitler im Jahr 1919 in München kennengelernt hatte, führte er den späteren NSDAP-Führer in die Gesellschaft ein, wodurch dieser unter anderem mit Rosenberg, dem späteren NS-Chefideologen, zusammenkam. Auch finanzielle Unterstützung ließ Eckart dem Jüngeren zuteilwerden.15 Nach dem durch den Krieg erlittenen Übel sollte mit Hitler an der Spitze eine neue Ära Deutschlands geschaffen werden, wozu Eckart bereit war, nicht nur die finanziellen Mittel zu beschaffen, um den ›Völkischen Beobachter‹ zu kaufen, sondern auch seine eigene Zeitschrift aufzugeben. Ab Mitte des Jahres 1921 stellte Eckart ›Auf gut deutsch‹ zugunsten des ›Völkischen Beobachters‹ ein, wo er bis kurz vor seinem Tod als Chefredakteur tätig war und Hitler als Führerfigur der NSDAP installierte.16 Dank erwies das NS-Regime dem früh Verstorbenen, der als der Begründer des Führerkultes gilt,17 indem seine zu Lebzeiten verschmähten Dramen neu inszeniert wurden.18 Zu seinem Andenken trug ebenfalls eine von Rosenberg unter dem Titel ›Vermächtnis‹ herausgegebene Gedenkschrift bei, in der das Leben und die Werke Eckarts gerühmt werden und die eine Auswahl von Eckarts Ge-
11 Vgl. Claus-Ekkehard Bärsch: Die politische Religion des Nationalsozialismus. Die religiösen Dimensionen der NS-Ideologie in den Schriften von Dietrich Eckart, Joseph Goebbels, Alfred Rosenberg und Adolf Hitler, München 2002, S. 54. 12 Becker (Anm. 8), S. 118. 13 Plewnia (Anm. 7), S. 164; vgl. auch Becker (Anm. 8), S. 125. 14 Vgl. Becker (Anm. 8), S. 117. 15 Vgl. ebd., S. 120f. 16 Vgl. ebd., S. 117. 17 Vgl. Bärsch (Anm. 11), S. 146. 18 Vgl. Plewnia (Anm. 7), S. 164.
Prophetie durch Rückgriff | 111
dichten und Sprüchen enthält, darunter zwei Gedichte, die das ›Nibelungenlied‹ verarbeiten: ›Uns ist in alten Maeren‹19 und das deutlich umfassendere Gedicht ›Geduld!‹, dessen Inhalt auf den ersten Blick prophetisch zu sein scheint. III
›Geduld!‹ – die Überlieferung
Dietrich Eckarts Gedicht ›Geduld!‹ erschien erstmals am 5. Dezember 1919 in seiner eigenen Wochenschrift ›Auf gut deutsch‹20 und wurde am 25. August 1921 im ›Völkischen Beobachter‹21 erneut abgedruckt – in den ersten Wochen von Eckarts Zeit als Hauptschriftleiter des Parteiorgans. Alfred Rosenberg hat u.a. dieses Gedicht Eckarts 1928 in seine Gedenkschrift ›Dietrich Eckart. Ein Vermächtnis‹ aufgenommen, die 1942 ihre siebte Auflage erreichte;22 dadurch wurde für die Verbreitung der Schriften Eckarts und sein Andenken im Nationalsozialismus und letztlich für die Vereinnahmung Eckarts, des »erste[n] Journalist[en] des Nationalsozialismus«23, für die politischen Zwecke gesorgt.24 Als Produkt frühnationalsozialistischer ›Nibelungenlied‹-Rezeption hat das Gedicht ›Geduld!‹ bisher lediglich Platz in Beiträgen gefunden, die einen Überblick über die Instrumentalisierung des mittelhochdeutschen Werkes für nationalsozialistische Politik zu geben versuchen, ohne dabei auf die einzelnen Rezeptionsformen analysierend einzugehen.25 Dadurch ist ›Geduld!‹ als Gedicht
19 Dieses Gedicht erschien am 14. Februar 1919 in ›Auf gut deutsch‹ (7 (1919), S. 97); vgl. auch Rosenberg (Anm. 5), S. 85. Die erste der drei Strophen, die in der Form an das ›Nibelungenlied‹ angelehnt sind, bietet eine Übertragung der Strophe C 2175 (ähnlich der von Karl Simrock): Hagen fordert seine Mitstreiter auf, vor dem Feuer zurückzutreten, und wirft Kriemhild üble Absichten bei der Einladung an den Hunnenhof vor. In den beiden folgenden Strophen steht Hagen trotzig zu seiner Tat und rechtfertigt sie, da Siegfried den Burgunden Schaden gebracht hätte; schließlich ruft er aus: »Nur richten soll uns nimmer der Heunen tückisches Geschlecht!« 20 Vgl. Dietrich Eckart: Geduld!, in: Auf gut deutsch 40/41 (1919), S. 613f. 21 Vgl. Dietrich Eckart: Geduld, in: Völkischer Beobachter (25.08.1921), Titelseite. 22 Vgl. Rosenberg (Anm. 5), S. 152f. 23 Adolf Dresler: Dietrich Eckart, München 1938 (Reihe ›Künder und Kämpfer‹), S. 15. 24 Eckarts Positionen stimmten nicht in allen Punkten mit denen der führenden Nationalsozialisten überein. Daher kann vermutet werden, dass sein früher Tod ihm einen »ähnliche[n] Abstieg wie Feder, Rosenberg, Frank und Heß« erspart hat (Frank Jacob: Die Thule-Gesellschaft, Berlin 2010, S. 134). 25 Vgl. dazu John Evert Härd: Das Nibelungenepos. Wertung und Wirkung von der Romantik bis zur Gegenwart, Tübingen [u.a.] 1996, S. 159ff.; Herfried Münkler:
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Eckarts sowie als Produkt frühnationalsozialistischer ›Nibelungenlied‹Rezeption zwar erkannt, jedoch nicht tiefgehend bearbeitet worden. Die Edition des Gedichtes von John Evert Härd in seiner Monographie ›Das Nibelungenepos. Wertung und Wirkung von der Romantik bis zur Gegenwart‹26 ist deshalb nicht nur unkritisiert geblieben, sondern auch ohne Berücksichtigung des Originals als Untersuchungsgrundlage genommen und zitiert worden.27 Dass der Edition des Gedichtes von Härd jedoch die Verse 18 und 19 komplett fehlen, sodass das Reimschema gebrochen wird, scheint ebenso wenig bemerkt worden zu sein wie die Tatsache, dass in ›Geduld!‹ von »Lügenbrut« (V. 31) und nicht von »Lügenbrot« die Rede ist. Ebenfalls unbeachtet blieben die insgesamt eher geringfügigen Veränderungen des Textes in den Veröffentlichungen im ›Völkischen Beobachter‹ sowie in Alfred Rosenbergs ›Vermächtnis‹. Die folgende Edition bietet den Text der Erstveröffentlichung in Eckarts Wochenschrift ›Auf gut deutsch‹ (Sigle Agd) mit einem Apparat zu den beiden weiteren Publikationen im ›Völkischen Beobachter‹ (Sigle VB) und in Rosenbergs ›Vermächtnis‹ (Sigle R).
Siegfrieden. Politische Mythen um das Nibelungenlied, in: Ein Lied von gestern? Wormser Symposium zur Rezeptionsgeschichte des Nibelungenliedes, hg. v. Gerald Bönnen u. Volker Gallé, Worms 1999, S. 141–157, hier S. 154f. 26 Vgl. Härd (Anm. 25), S. 159f. 27 Beispielsweise auf der Internetseite ›nibelungenliedrezeption.de‹ von Martin Schubert, Gunter Grimm und Uwe Werlein ist ›Geduld!‹ in der Version von Härd zu finden. Vgl. Gunter Grimm: Dietrich Eckhart, in: Nibelungenliedrezeption, www.nibe lungenrezeption.de/literatur/quellen/Eckart.pdf (Aufrufdatum: 30.5.2023). Münkler (Anm. 25) zitiert den bei Scholdt abgedruckten Auszug nach dem ›Völkischen Beobachter‹, der allerdings auch nicht exakt ist: Zu Beginn heißt es im ›Völkischen Beobachter‹ »Nieblungenlied«, nicht ›Nibelungenlied‹ (vgl. Günter Scholdt: Autoren über Hitler. Deutschsprachige Schriftsteller 1919–1945 und ihr Bild vom ›Führer‹, Bonn 1993, S. 35f.). Besic (Anm. 9), S. 190f. u. 194, zitiert angeblich die Version aus dem von Rosenberg herausgegebenen Band (Anm. 5), doch notiert er den einleitenden Zweizeiler als »Uns ist in alten maeren wunders vil geseit / Von helden lobebaeren, von grozer kounheit …«; das verschriebene Wort »kuonheit« ist in Rosenberg allerdings durch »arebeit« ersetzt. Auch im Weiteren ist der Text hier fehlerhaft, z.T. der Version im ›Völkischen Beobachter‹ nahe stehend.
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Geduld!
Prolog, vorgetragen am 2. Dezember bei der Preisverteilung der Münchener Einwohnerwehr des 26. Bezirkes im Löwenbräukeller.
Uns ist in alten maeren wunders vil geseit 5
Von helden lobebaeren, von grôzer kuonheit . . . .
So hebt es an, das Lied der Nibelungen – Wem hätte es noch nicht ins Herz gebrannt? Ein Unbekannter, heißt es, hat’s gesungen; Ich sage nein, er ist nicht unbekannt. 10
Wie Donner rollt es schon seit tausend Jahren Von Meer zu Meer, mit ewig neuer Glut, Um immer wieder neu zu offenbaren, Was d e u t s c h e Kraft vermag, und d e u t s c h e r Mut; Um immer wieder, immerfort aufs neue
15
Der Welt zu künden, bis sie untergeht, Daß unter Trümmern noch die deutsche T r e u e , Daß noch in Flammen sie den Kampf besteht. Ein solches Lied, jahrtausendlang erklungen
[614]
Und Echo noch die fernsten Zeiten hin, 20
Kein Einzelner hat dieses Lied gesungen, Das ganze V o l k verklärte sich darin; Des deutschen Volkes S e e l e hat’s geschaffen, Von ihrer eignen Größe übermannt, Und »wunders vil geseit« von W a f f e n ,
25
W a f f e n ...
Und diese Seele wäre unbekannt?
Glaubt man denn wirklich, was so kühn begonnen, Verginge jemals unter schmutz’ger Not?
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Die deutsche Seele, wie das Licht der Sonnen, Besiegt die Nacht mit neuem Morgenrot! 30
Wohl kauert noch in all dem schweren Dunkel An Tür und Tor der Heunen Lügenbrut, Und ihrer Augen stechendes Gefunkel Verrät die Gier nach Gold, die Gier nach Blut; Doch hält die Wacht, die treue Wacht ein Großer,
35
Der Tronjer nicht, ein Andrer ist uns nah, Vertraut und fremd zugleich, ein Namenloser, Den jeder fühlt und doch noch keiner sah. Wie ruhig gehen seine Atemzüge! Er rührt sich nicht, er wartet stumm und still,
40
So langsam auch zum Kampfe mit der Lüge Die Stunde der Vergeltung dämmern will. Er wartet still, der Held, auf den wir bauen; Nur manchmal klirrt das Schwert an seinem Gurt, Dann faucht und heult es ringsum voller Grauen,
45
Das Heunenvolk, der Hölle Ausgeburt. Er wartet stumm, vor Augen nur das eine: D i e
h u n d e r t f a c h
a n
u n s
b e g a n g n e
S c h u ld –
Schon ist’s, als käm’s herauf mit hellem Scheine . . . Geduld! Geduld!
50
Dietrich Eckart.
1–50] Im Text wird wie in der Zeitschrift insgesamt die Schwabacher Type verwendet; die mittelhochdeutschen Zitate (4f., 24) sind in einer Antiqua gesetzt; VB und R ebenso. 1 Geduld!] Geduld. VB, Geduld R. 2–3] fehlt VB, R. 4–5] U als Initiale über zwei Zeilen Agd, VB. 5 kuonheit] arebeit R. 6 Nibelungen] Niebelungen VB. 20 Einzelner] einzelner VB. 21 verklärte] erklärte VB. 25–26] kein Zeilenabstand VB. 34 die treue Wacht ein Großer] die treue Wacht, ein Großer VB. 35 Andrer] andrer VB. 49–50: in einer Zeile, Dietrich Eckart gesperrt VB. 50 Dietrich Eckart] fehlt R.
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Das Gedicht ›Geduld!‹ wurde, wie in ›Auf gut deutsch‹ notiert, von Eckart im Löwenbräukeller vor der Münchner Einwohnerwehr am 2. Dezember 1919 vorgetragen. Die vor allem in Bayern gegründeten Einwohnerwehren, welche die durch den Versailler Vertrag auferlegten Sanktionen zu umgehen versuchten, setzten sich zu großen Teilen aus Anhängern der politischen Rechten zusammen, sodass auch für den Vortrag Eckarts ein Publikum angenommen werden kann, das mit der völkischen Ideologie sympathisierte.28 Der frühnationalsozialistischen Ideologie standen auch die Leser der Wochenschrift ›Auf gut deutsch‹ nahe, in der das Gedicht ›Geduld!‹ bereits am 5. Dezember veröffentlicht wurde. ›Geduld!‹ ist ebenso wie im ›Völkischen Beobachter‹ aus dem Jahr 1921 als Aufmacher direkt auf den ersten beiden Seiten (im ›Völkischen Beobachter‹ nur auf der ersten) abgedruckt, wodurch die Aufmerksamkeit allein schon durch die Positionierung innerhalb der Organe auf dieses Gedicht gelenkt wird. Eine ähnlich aufmerksamkeitslenkende Position nimmt ›Geduld!‹ in Rosenbergs ›Vermächtnis‹ ein: ›Geduld!‹ bildet darin gewissermaßen den ›krönenden‹ Abschluss des Kapitels zu den Gedichten und Sprüchen Eckarts. Diese Positionierungen innerhalb der verschiedenen Trägermedien fokussieren den Rezipienten jeweils auf das Gedicht und auf die darin enthaltene, durch die Verarbeitung des ›Nibelungenliedes‹ unterstrichene Thematik: den erneuten Aufstieg Deutschlands zu Ruhm durch einen bzw. den Führer. IV
›Nibelungenlied‹-Rezeption in ›Geduld!‹
Formal ist das Gedicht ›Geduld!‹ schlicht gehalten. Auf zwei Eingangs-Verse folgen zwei lange Strophen mit 20 und 24 Versen. Die durchweg in fünfhebigen Jamben gehaltenen Verse sind ausschließlich über reine Kreuzreime miteinander verbunden. Eröffnet wird das – wie das ›Nibelungenlied‹ – zweigeteilte Gedicht mit den beiden Eingangsversen der Handschrift A.29 Mit diesem direkten Zitat knüpft Eckart an bekannte Frames an, sodass eine gewisse Spannung und Erwar-
28 Vgl. zu den Einwohnerwehren Bruno Thoß: [Art.] Einwohnerwehren, 1919–1921, publ. am 27.07.2006, in: Historisches Lexikon Bayerns, www.historisches-lexikonbayerns.de/Lexikon/Einwohnerwehren,_1919-1921 (Aufrufdatum: 1.5.2023). 29 München, Bayerische Staatsbibl., cgm 34 (Sigle A). In der ›Nibelungenlied‹-Handschrift C (Karlsruhe, Landesbibl., Cod. Donaueschingen 63) lautet die Prologstrophe ähnlich (vgl. unten), in Handschrift B (St. Gallen, Stiftsbibl., Cod. 857) fehlt sie. Alle drei Handschriften sind über den Handschriftencensus online einsehbar: https://hand schriftencensus.de/werke/271 (Aufrufdatum: 1.5.2023).
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tungshaltung durch die Vertrautheit mit dem ›Nibelungenlied‹ entsteht. Anstatt jedoch in der ersten Langstrophe weiterhin an das vertraute Wissen über das ›Nibelungenlied‹ anzuknüpfen, wird das Bekannte verneint. Die zunächst als Individuum in Erscheinung tretende Sprecherinstanz referiert und negiert die These, dass es sich bei dem ›Nibelungenlied‹ um die Dichtung eines Unbekannten handele, wodurch Spannung auf die neue Bewertung des mittelhochdeutschen Werkes aufgebaut wird. Das ›Nibelungenlied‹ wird unmittelbar danach als Offenbarung präsentiert. Es verkündet nicht die Geschichte von Siegfried und Kriemhild sowie den Untergang der Burgunden, sondern offenbart die Tugenden Kraft, Mut und Treue, die durch die angefügten Adjektivattribute als genuin deutsche Tugenden hervorgehoben werden (vgl. V. 13 u. 16). Die Verkündung der als deutsch markierten Werte durch das ›Nibelungenlied‹ wird ebenso wie die Tugenden selbst als immerwährend dargestellt, womit zwar einerseits eine Distanz zu der gängigen Einordnung des ›Nibelungenliedes‹ als Schöpfung eines Unbekannten aufgebaut, jedoch gleichzeitig der Text in die nationale bzw. nationalistische Traditionslinie der ›Nibelungenlied‹-Rezeption eingereiht wird.30 Unaufhörlich offenbart das ›Nibelungenlied‹ die Vortrefflichkeit der Deutschen, deren Tugenden bis in den Untergang bestehen würden. Dieser Untergang wird als ein Kampf in Trümmern und Flammen dargestellt, was sowohl Assoziationen an den Saalbrand als auch an das durch den Ersten Weltkrieg erlittene Leid hervorruft. Wie die Burgunden den Hunnen und Flammen trotzen, bleiben auch die deutschen Tugenden und damit die Deutschen selbst bis zum Kriegsende standhaft und ihren Werten treu. Damit wird ein Bild einer bis in den Tod tugendhaften Gemeinschaft geschaffen, das die Einigkeit stärkt und Nationalstolz hervorruft, was – wie im 19. Jahrhundert – zentrales Anliegen der politisch-ideologischen Indienstnahme des ›Nibelungenliedes‹ war.31
30 Vgl. zur Tradition der Verbindung von »Nibelungenlied und Nationalgedanke« Helmut Brackert: Nibelungenlied und Nationalgedanke. Zur Geschichte einer deutschen Ideologie, in: Mediævalia litteraria (FS Helmut de Boor), hg. v. Ursula Hennig u. Herbert Kolb, München 1971, S. 343–364. 31 Bekanntestes Beispiel für die Instrumentalisierung (nicht nur) des ›Nibelungenliedes‹ zur Propagierung der ›Treue bis in den Tod‹ ist sicherlich die so genannte ›Stalingradrede‹ Hermann Görings vom 30.01.1943; vgl. dazu u.a. Peter Krüger: Etzels Halle und Stalingrad: Die Rede Görings vom 30.1.1943, in: Die Nibelungen. Ein deutscher Wahn, ein deutscher Alptraum. Studien und Dokumente zur Rezeption des Nibelungenstoffs im 19. und 20. Jahrhundert, hg. v. Joachim Heinzle u. Anneliese Waldschmidt, Frankfurt a.M. 1991, S. 151–190 (erweiterter Wiederabdruck in: Die
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An den Stolz des deutschen Volkes, dessen Wundertaten vor allem mit Waffen und dementsprechend mit Kämpfen in Verbindung gebracht werden (vgl. V. 24), appellieren auch die Eingangsverse der zweiten Langstrophe. In Anspielung auf das ›Nibelungenlied‹ wird die Frage aufgeworfen, ob die deutschen Tugenden vergehen können wie die burgundischen Könige am Hunnenhof. Die Sprecherinstanz, die in der zweiten Strophe nicht mehr als Individuum auftritt, sondern die deutsche Seele als Kollektiv repräsentiert, verneint dies. Im Gegensatz zu den literarischen Vorbildern erweise sich das deutsche Volk als siegreich und werde nie sein Ende finden: »Die deutsche Seele, wie das Licht der Sonnen, / Besiegt die Nacht mit neuem Morgenrot!« (V. 28f.) Damit wird eine Abgrenzung zwischen dem Schicksal der Burgunden und dem der Deutschen vorgenommen. Die gezielte Distanzierung bewirkt, dass Hoffnung geschürt und gleichzeitig Stolz hervorgerufen werden. Deutschland, das durch die Kriegsniederlage und den Versailler Vertrag in »schmutz’ger Not« (V. 27) leidet, wird nicht untergehen, sondern über die literarischen Vorbilder hinauswachsen und aus der Situation siegreich hervorgehen. Damit jedoch diese neue Zukunft erreicht wird, muss der im Dunkel lauernde Feind bezwungen werden. »Das Heunenvolk« (V. 45) wird als Feind präsentiert, den es noch zu besiegen gilt, um die am deutschen Volk »begangne Schuld« (im Original gesperrt) (V. 47) zu begleichen, d.h. die Kriegsniederlage endgültig hinter sich zu lassen und dem Aufstieg Deutschlands entgegenzugehen. Die Feinde der Deutschen werden in Anlehnung an die Gegner der Burgunden als Heunen bezeichnet. Mit den Hunnen haben die Heunen in ›Geduld!‹ jedoch wenig gemeinsam. Nicht als recken und degen, die im Auftrag Etzels kämpfen, sondern als der Hölle entstammende und mit goldgierigen Augen ausgestattete Wesen werden die Feinde dargestellt. Diese Zeichnung des Feindbildes macht deutlich, dass hier trotz der Bezeichnung als Heunen antisemitische Vorstellungen die Charakterisierung dominieren. Die negative Darstellung der Juden als gierige, dem Geld und Gold verfallene Unmenschen, die sich in ›Geduld!‹ durch Einbettung in das ›Nibelungenlied‹ verschleiert finden, entspricht den völkischen Vorurteilen gegenüber Juden. Durchaus typisch, zumindest für den Antisemitismus Eckarts, ist auch die Kennzeichnung der Juden als Nachkommen des Teufels, welche in der Metapher »der Hölle Ausgeburt« (V. 45) anklingt.32 Im Gegensatz zu der zeitgenössischen Tendenz, Juden mit sozialdarwinistischen Termini zu diffamieren, finden sich bei
Nibelungen. Sage – Epos – Mythos, hg. v. Joachim Heinzle, Wiesbaden 2003, S. 375–403). 32 Vgl. Bärsch (Anm. 11), S. 78.
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Eckart überwiegend abwertende Begrifflichkeiten für Juden aus dem christlichmystischen Bereich.33 Allerdings wird nicht Hagen von Tronje den Kampf gegen die Juden aufund den Schutz des deutschen Volkes übernehmen, wie man vielleicht durch die Anspielung auf die Wachtszene vermuten könnte. Von dem Sprecherkollektiv wird explizit betont, dass es ein fremder Held und nicht jene Figur ist, die gerade in der zeitgenössischen ›Nibelungenlied‹-Rezeption eine dominante Rolle einnimmt. Im Gegensatz zu Hagen ist der das deutsche Volk beschützende Held »fremd« (V. 36). Die Darstellung als fremde, noch namenlose Person trägt jedoch keine negativen Züge, im Gegenteil: Es wird ein noch unbeschriebenes Blatt präsentiert, das in direktem Kontrast zu Hagen steht, der eben nicht nur als treuer Held, sondern auch als hinterlistiger Siegfried-Mörder rezipiert wird.34 Durch das Paradoxon, dass der Namenlose »vertraut und fremd zugleich« (V. 36) sei, wird zudem Furcht, die die Rezipienten vor dem Fremden aufbauen könnten, unterbunden, da durch das Vertraut-Sein eine Gemeinschaft mit dem Namenlosen suggeriert wird, auch wenn er noch nicht identifizierbar ist. Der mit der deutschen Seele Verbundene wird zudem als »ruhig« (V. 38) und »still« (V. 42) beschrieben, wodurch das Image eines bedachten Helden aufgebaut wird, der nur noch auf die rechte Zeit für den »Kampf[ ] mit der Lüge« (V. 40) wartet. Das Schwert, das er an seinem Gürtel trägt, stellt ihn in die Tradition der vorbildlichen Ritter des ›Nibelungenliedes‹, die ihre Stärke im Schwertkampf bewiesen haben. Es ist aber auch ein Symbol für den bevorstehenden Sieg über die Feinde und die Stärke des Schwerttragenden. Durch diese Schwertmetaphorik, die zu den gängigen Topoi der ›Nibelungenlied‹-Rezeption des späten 19. Jahrhunderts zählt,35 wird die Hoffnung weiter geschürt. Der im Dunkeln lauernde Feind wird durch den Helden besiegt, dessen Aufgabe alleine im Kampf gegen das jüdische Unwesen zu bestehen scheint, was eine für Eckart typische Vorstellung offenbart: Die Aufgabe des Führers sei nicht in erster Linie die Errichtung des Dritten Reichs, sondern der ewige Kampf gegen das Böse und damit gegen die Juden.36 Bis jedoch der Held in Erscheinung tritt und diese Aufgabe erfüllt ist, müssen die Deutschen geduldig sein, wozu sie die Sprecherinstanz abschließend eindrücklich auffordert (vgl. V. 49).
33 Vgl. ebd., S. 80. 34 Vgl. Münkler (Anm. 25), S. 154. 35 Vgl. Lerke von Saalfeld: Die ideologische Funktion des Nibelungenliedes in der preußisch-deutschen Geschichte von seiner Wiederentdeckung bis zum Nationalsozialismus, [Berlin] 1977, S. 318f. 36 Vgl. Bärsch (Anm. 11), S. 148.
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Letztlich kann durch die Betitelung das gesamte Gedicht als Appell gedeutet werden, dass sich die Deutschen in Geduld üben sollen, bis sie ein noch unbekannter Held retten werde.37 Gleichzeitig schwingt in der Aufforderung zu Geduld eine Gewissheit mit, dass die hoffnungsvolle Zukunft Deutschlands kommen werde und die Deutschen nicht wie ihre literarischen Vorbilder untergehen würden. Es zeigt sich hier deutlich, dass das ›Nibelungenlied‹ in ›Geduld!‹ nicht als bindende Vorlage genommen wird, sondern lediglich ein Vehikel ist, um die politisch-ideologischen Vorstellungen Eckarts zu transportieren. Der in ›Geduld!‹ als unbekannter Held Stilisierte lässt sich 1919 noch nicht, aber für die Version von 1921 des ›Völkischen Beobachters‹ recht eindeutig als Anspielung auf Hitler deuten.38 In dieser Zeit rühmt Eckart Hitler bereits öffentlich und benennt ihn als den kommenden ›Befreier‹.39 Den späteren NSDAPFührer lernte Eckart zwar wahrscheinlich wenige Monate vor Erstveröffentlichung des Gedichtes als jungen Gefreiten in München kennen und schätzen, jedoch wurde die Beziehung zu Hitler erst ab 1920 intensiver, sodass ›Geduld!‹ in ›Auf gut deutsch‹ kaum auf Hitler zu beziehen ist und Eckart keine prophetische Gabe zugeschrieben werden kann. Mit größerer Wahrscheinlichkeit lässt sich der Held in der Ausgabe von 1919 als Anspielung auf Wolfgang Kapp deuten, auf den Eckart bis zu dessen gescheitertem Putsch im März 1920 setzte. Die Hoffnung, dass der junge Hitler nicht nur der Führer der frühen NS-Bewegung, sondern auch noch erfolgreicher als Kapp und damit der tatsächliche Rächer und Heilsbringer Deutschlands sei,40 bringt Eckhart im ›Völkischen Beobachter‹ zum Ausdruck, womit ›Geduld!‹ 1921 einen wichtigen Beitrag zur Etablierung Hitlers als Führer dieser jungen Bewegung leistete. Der erneute Abdruck des Gedichtes durch Rosenberg in ›Vermächtnis‹ zeugt zudem davon, dass ›Geduld!‹ nicht nur zum Aufbau des Führerkultes 1921 beitrug, sondern auch gezielt zur
37 Dieser Appellcharakter geht in den Veröffentlichungen im ›Völkischen Beobachter‹ und in ›Vermächtnis‹ nicht verloren, wird aber durch die Interpunktion im Titel zurückgenommen: Im ›Völkischen Beobachter‹ wird das Ausrufezeichen durch einen Punkt ersetzt, in ›Vermächtnis‹ ist kein Satzzeichen notiert – Geduld ist nun auch kaum noch nötig, denn der ersehnte Erlöser ist (so suggerieren es diese Überschriften) bereits da. 38 Härd (Anm. 25), S. 159, hält diesen Bezug für »sehr wohl möglich«, auch wenn er sich offenbar auf die Erstveröffentlichung von 1919 (im Text fälschlich 1918) bezieht. 39 Vgl. Plewnia (Anm. 3), S. 69. 40 Vgl. dies. (Anm. 7), S. 160.
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Aufrechterhaltung des Images von Hitler eingesetzt wurde, der sich 1928 zum Erscheinen von ›Vermächtnis‹ bereits als NSDAP-Führer etabliert hatte. V
Dietrich Eckarts Geduld mit Deutschland
Dietrich Eckart ist – bei aller ideologischen Aufladung zur Etablierung eines Feindbildes – ein Analyst der Gesellschaft, wobei er auf zahlreiche Stereotype zurückgreift, die in der Geschichte immer wiederkehren und auch heute teilweise aktuell sind. So geißelt er die sehr kostspielige »Agitation« der Parteien, mit der sie Wähler ›einfangen‹ möchten;41 unverständlich ist es ihm, dass die gleichen ›Führer‹ nun an der Spitze des Staates stehen, die ihn in die Katastrophe von 1918 geführt haben;42 er prangert »die Träger des Kapitalismus, die ungekrönten Könige in Börse und Bureau«43 an, sich immer – auch und vor allem im Krieg – bereichert und so die Niederlage Deutschlands eigentlich verursacht zu haben, den immerwährenden »Wucher« der Weltwirtschaft, der nur wenigen nützt. Ebenso kritisiert er den »falsche[n] Freiheitsbegriff«, der nur die Freiheit des Einzelnen bedeute, zu tun, »was er will, nicht was er wollen soll« (im Original gesperrt)44, d.h. es fehlen »Pflichtbewußtsein, Gemeinsinn, Disziplin, Gefühl für Verantwortung, Anstand und Ehre«45. Schließlich bescheinigt er der »Judenfrage« (im Original gesperrt): »Und doch ist sie die Menschheitsfrage, d a s Problem, in dem alle, aber auch alle übrigen Probleme enthalten sind.«46 Mit all dem steht Dietrich Eckart freilich nicht alleine, wenngleich er es augenscheinlich versteht, sich durch extreme Positionen und entsprechend harschen Ton immer wieder ins Abseits zu stellen. Auch seine Sehnsucht nach einem (neuen) ›Führer‹ teilt er mit vielen Zeitgenossen. »Der Ruf nach einem ›starken Mann‹ war nach mehrfachen Zeugnissen symptomatisch für die Weimarer Republik.«47 Verbunden damit ist natürlich die Hoffnung auf neuen Glanz Deutschlands und ›Wiedergutmachung der Schmach‹ des Ersten Weltkrieges.
41 Vgl. Dietrich Eckart: Der große Krumme, in: Auf gut deutsch 1 (1918), S. 3–8, hier S. 3f. 42 Vgl. ebd., S. 4f. 43 Ebd., S. 5f. 44 Ders.: Arbeiten! oder wir gehen zugrunde!, in: Auf gut deutsch 3 (1919), S. 41–44, hier S. 42. 45 Ebd., S. 42. 46 Ders.: Zwiesprache, in: Auf gut deutsch 2 (1919), S. 18–23, hier S. 18. 47 Plewnia (Anm. 3), S. 61.
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Dietrich Eckarts Gedicht ›Geduld!‹ steht am Ende einer längeren Beschäftigung mit dem Thema, d.h. mit der ›seelischen Verpflichtung‹ (um in Eckarts Sprachduktus zu bleiben), geduldig des unzweifelhaft kommenden neuen Aufstiegs Deutschlands in der Welt bzw. in der Weltgeschichte zu harren. Gut sechs Monate vor Erscheinen dieses Gedichtes druckt Eckart am 30. Mai 1919 – wie später ›Geduld!‹ – auf dem Titelblatt seiner Zeitschrift ›Auf gut deutsch‹ einen Ausschnitt eines Gedichts von Conrad Ferdinand Meyer ab. In seinem GedichtZyklus ›Huttens letzte Tage‹ (erschienen 1872) spiegelt sich in Meyers Werk, auch im Kontext der (italienischen und deutschen) Reichseinigung und der damit verbundenen ›patriotischen‹ Stimmung, das in dieser Zeit festzustellende »Dilemma«, »zwischen Staats- und Freiheitsprinzip«48 wählen zu sollen. Mit dem Gedicht ›Deutsche Libertät‹49 prangert er die falsch verstandene Freiheit an, »die vergißt, / Was sie der Reichesehre schuldig ist« – dass dies ganz in Eckarts Sinne ist, sollte deutlich geworden sein. Das Gedicht endet folgendermaßen: Zum Henker eine Freiheit, die vergißt, Was sie der Reichesehre schuldig ist! Zum Teufel eine deutsche Libertät, Die prahlerisch in Feindeslager steht! Geduld! Es kommt der Tag, da wird gespannt Ein einig Zelt ob allem deutschen Land! Geduld! Wir stehen einst um ein Panier Und wer uns scheiden will, den morden wir! Geduld! Ich kenne meines Volkes Mark! Was langsam wächst, das wird gedoppelt stark. Geduld! Was langsam reift, das altert spat! Wann andre welken, werden wir ein Staat.
48 Herbert Kaiser: Unzeitgemäße Zeitgenossenschaft. ›Huttens letzte Tage‹ gelesen im Blick auf den frühen Nietzsche, in: Conrad Ferdinand Meyer. Die Wirklichkeit der Zeit und die Wahrheit der Kunst, hg. v. Monika Ritzer, Tübingen u. Basel 2001, S. 35–50, hier S. 35. 49 Conrad Ferdinand Meyer: Deutsche Libertät, in: ders.: Huttens letzte Tage. Eine Dichtung, hg. v. Alfred Zäch, Bern 1970 (Sämtliche Werke 8), S. 73f.
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Dietrich Eckarts leicht abgeänderte Version lautet unter der gleichen Überschrift ›Deutsche Libertät‹, unterschrieben mit dem Namen Conrad Ferdinand Meyers: ... Nichtsnutzig eine Freiheit, die vergißt, Was sie der Reichesehre schuldig ist! Nichtsnutzig eine deutsche Libertät, Die prahlerisch im Feindeslager steht! Geduld! Es kommt der Tag, da wird gespannt Ein einig Zelt ob allem deutschen Land! Geduld! Wir stehen einst um ein Panier Und wer uns scheiden will, den morden wir! Geduld! Ich kenne meines Volkes Mark! Was langsam wächst, das wird gedoppelt stark. Geduld! Was langsam reift, das altert spat! Wann Andre welken, werden wir ein Staat.
Eckarts – möglicherweise dem Gedächtnis entnommenen und somit falsch erinnerten – Änderungen sind letztlich geringfügig, die Verwünschung von (falscher) Freiheit und ›deutscher Libertät‹ wird zu einer Herabsetzung, die beidem jeden Wert abspricht. Im Kontext von Eckarts rechts-nationalen Schriften wird aber Meyers durchaus auch martialischer Aufruf zur (richtigen) Einigung politisch instrumentalisiert und von der Reichseinigung 1871 auf eine nach dem Ersten Weltkrieg neu zu installierende, politisch entsprechend ausgerichtete Einigung übertragen, die unzweifelhaft kommen werde. Das Schlagwort ›Geduld‹ findet sich im Kontext chiliastischer Erwartungen bereits deutlich früher, etwa bei Novalis; der letzte Satz seines Essays ›Die Christenheit oder Europa‹ aus dem Jahr 1799 lautet: Nur Geduld, sie wird, sie muß kommen die heilige Zeit des ewigen Friedens, wo das neue Jerusalem die Hauptstadt der Welt seyn wird; und bis dahin seyd heiter und muthig in den Gefahren der Zeit, Genossen meines Glaubens, verkündigt mit Wort und That das göttliche Evangelium, und bleibt dem wahrhaften, unendlichen Glauben treu bis in den Tod.50
50 Novalis: Die Christenheit oder Europa, in: ders.: Schriften, Bd. 3: Das philosophische Werk, hg. v. Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mähl u. Gerhard Schulz, 3., durchges. u. rev. Aufl., Stuttgart [u.a.] 1983, S. 507–524, hier S. 524. Den Hinweis auf Novalis verdanken wir Sabine Haupt. Vgl. zur Idee von der Wiederkehr des Herrschers und der damit einhergehenden Endzeitvorstellung u.a. Hannes Möh-
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Das Leitthema der Geduld, das bei Meyer in diesem zweiten Teil des Gedichtes vorherrscht und gleichsam zum Appell wird, greift Eckart öfter auf und verbindet es nur einen guten Monat später – in der Ausgabe von ›Auf gut deutsch‹ vom 5. Juli 1919 – mit der Sehnsucht nach einem ›deutschen Mann‹: Auf höherer Warte Die Menschheit ist nicht grau von Haaren, Sie steht noch in den Flegeljahren, Und wie ein echter, rechter Bube Vergißt sie oft die Kinderstube, Das wundervolle Paradies, Wo Liebe sie zum Guten wies. Nun treibt sie es bald so, bald so, Zuweilen sanft, zuweilen roh, Zuweilen müd, zuweilen frisch, Bald übertoll, bald grüblerisch; Und jenachdem sie fühlt und tut, Herrscht in der Welt ein andres Blut. Noch gestern oder wann es war Empfand sie seelenvoll und klar, Durchstreifte freudig Wald und Ried Und sang dabei ein deutsches Lied. Da kam der Wahn wie über Nacht, Es kam die Wut, der Krieg, die Schlacht, Die Gier nach allem, was da gleißt, Der Britengeist, der Judengeist, Verquickt (der Sprung ist ja nicht weit) Mit Gallierhaß und -eitelkeit. Geduld! Es wird schon irgendwann Ein M a n n daraus, ein d e u t s c h e r Mann!51
Aus dem Warten auf die wahre Einheit der ›deutschen Nation‹ wird ein Warten auf die Rettung der »Menschheit«: Selbstverständlich eurozentriert stehen die
ring: Der Weltkaiser der Endzeit. Entstehung, Wandel und Wirkung einer tausendjährigen Weissagung, Stuttgart 2000 (Mittelalter-Forschungen 3). 51 Dietrich Eckart: Auf höherer Warte, in: Auf gut deutsch 19/20 (1919), S. 289f.
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Deutschen für die »seelenvoll[en]« Zeiten, für das Gute, gewissermaßen das Goldene Zeitalter, das durch Briten, Juden und Franzosen – bzw. genauer: das ›Britische‹, das ›Jüdische‹ und das ›Französische‹ – rüde unterbrochen wurde, durch Untugenden wie Gier und Eitelkeit. Doch die Tugenden werden einst wieder die Oberhand gewinnen und das bedeutet, dass Deutschland in diesem (moralisch aufgeladenen) Kampf siegen wird, weil schließlich ein »Mann [...], ein deutscher Mann« kommen werde. Damit ist bereits hier deutlich bei Eckart »[d]as Wohlergehen des deutschen Volkes [...] untrennbar mit dem Führergedanken verbunden«52, wie es Marc Besic für ›Geduld!‹ beschreibt. Die Gleichsetzung von Deutschland und der Welt zieht sich durch Eckarts Schriften und Gedichte, so etwa auch am Schluss des Gedichtes ›Die Entscheidung‹. In dieser Hymne an das »Vaterland« wird zunächst dessen Zustand beklagt, der u.a. durch »Haß und Unverstand« sowie »Fäulnis« verursacht wurde; anschließend wird die Rettung durch die Vereinigung der Getreuen in Aussicht gestellt, gipfelnd in »der historischen Gewißheit des Sieges«53: Frei ist das Reich, das Vaterland, das Leben, Und frei – die Welt!54
Dieser ›deutsche Mann‹, der im Gedicht ›Auf höherer Warte‹ als Erlöser Deutschlands und der Menschheit benannt wird, wird nun in ›Geduld!‹ deutlich herausgestellt; ›Geduld!‹ ist zwar nicht, wie der Mediziner, Literaturhistoriker und Philosoph Paul Herrmann Wiedeburg in seiner Dissertation andeutet, das (nach einer Pause) direkt nach ›Auf höherer Warte‹ folgende Gedicht Eckarts, doch es findet sich in ›Auf gut deutsch‹ zwischen diesen beiden tatsächlich nur ein weiteres Gedicht (›An die Kriegsgefangenen‹55), sodass dennoch ein deutlicher Zusammenhang im Schaffen Eckarts erkennbar ist.56 Der prophezeite Retter
52 Besic (Anm. 9), S. 194. 53 Bärsch (Anm. 11), S. 73. 54 Rosenberg (Anm. 5), S. 150f., hier S. 151. 55 Auf gut deutsch 25 (1919), o.S. 56 Vgl. Paul Herrmann Wiedeburg: Dietrich Eckart. Ein lebens- und geistesgeschichtlicher Beitrag zum Werden des neuen Deutschlands, Hamburg 1939, S. 99. Der Autor lebte wie Eckarts Frau Rosa Wiedeburg, geb. Marx, zeitweilig in Bad Blankenburg in Thüringen (vgl. ebd., S. 255), eine verwandtschaftliche Beziehung konnte bisher aber nicht ausgemacht werden.
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gehört in ›Geduld!‹ zu den helden lobebæren57, die sicher nicht unabsichtlich mit grôzer kuonheit in Verbindung gebracht werden – die Wahl des Eingangs der Handschrift A ist kaum Zufall,58 zumal in der Zeitschrift ›Auf gut deutsch‹ nur wenige Wochen vorher, am 31. Oktober 1919, ein Abschnitt des 1918 erschienenen Buches ›Das kommende Reich. Entwurf einer Weltordnung aus dem deutschen Wesen‹ des Heimatdichters Franz Schrönghamer-Heimdal (1881–1962) abgedruckt wird, in dem der Autor eine abenteuerliche Etymologie gerade des mittelhochdeutschen Wortes arebeit aus dem Beginn des ›Nibelungenliedes‹ (nach C) liefert: Es heiße, dem Volksmund abgelauscht, eigentlich ›Arbot‹: ›Ar‹ heißt aber – Sonne und ›bot‹ bedeutet Gebot. Also heißt Arbeit soviel wie S o n n e n g e b o t . Und die Arier sind die Sonnenkinder, die Söhne des Lichtes.59
Dies ist ganz im Sinne Eckarts, was er auch in ›Geduld!‹ ausdrückt. Die Lichtmetaphorik ist gerade im zweiten Teil des Textes beherrschend, die »deutsche Seele« ist »wie das Licht der Sonnen«, und »[b]esiegt die Nacht mit neuem Morgenrot«. Die Seele ist in Eckarts ›christlicher‹ Religion gleichbedeutend mit dem Göttlichen bzw. Gott – er kommt letztlich ohne eine transzendente Instanz aus, was er auch als Grundpfeiler für seinen Antisemitismus nutzt: Wir [d.i. ›wir Deutschen‹, A.S.] empfinden Gott nirgendwo anders als i n u n s
s e l b s t . Uns ist die S e e l e das Göttliche, von der wiederum
der Jude keine Ahnung hat. ›Das Himmelreich ist
i n w e n d i g
i n
e u c h‹, also auch Gott, der zum Himmelreich gehört.60
57 Die helden lobebæren sind nicht per se positiv besetzt bzw. können offenbar auch ironisch verwendet werden, wie Eckarts Gedicht ›An Lloyd George & Co.‹ deutlich macht; dort heißt es, an die Briten gerichtet: »Ihr habt gesiegt, ihr ›Helden lobebären‹, / Die halbe Menschheit gegen uns allein – / Beim Himmel, wenn wir auch nicht Deutsche wären, / Wir möchten deshalb doch nicht Briten sein!« (Dietrich Eckart: An Lloyd George & Co., in: Auf gut deutsch 3 (1919), S. 33). 58 In Rosenbergs ›Vermächtnis‹ lautet der Eingang des Gedichts nach der wohl bekannteren Fassung der Handschrift C von grôzer arebeit. 59 Franz Schrönghamer-Heimdal: Das Sonnengebot, in: Auf gut deutsch 36 (1919), S. 557–564, hier S. 558. 60 Dietrich Eckart: Hans der Träumer, in: Auf gut deutsch 3 (1919), S. 34–39, hier S. 38. Eckart zitiert hier Lk 17,21; allerdings wird diese Stelle (lat. intra vos est) heute mit Verweis auf den Sprachgebrauch in den Evangelien anders übersetzt: »Das
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An anderer Stelle betont er, dass er »in der deutschen Volksseele trotz alledem und alledem noch immer den stärksten Lichtgrad der Weltseele erblickt«61, d.h. die Deutschen sind die göttlichen (prädestinierten und präfigurierten) Retter der Welt und der ›Held‹, der dies auslösen und erreichen wird, dessen Ankunft (man ist versucht zu sagen: Advent) sich bereits ankündigt, »als käm’s herauf mit hellem Scheine«, der wartet, bis »[d]ie Stunde der Vergeltung dämmern will«, wird als christliche (oder zumindest religiöse) Erlöserfigur installiert – die Basis für den späteren Führerkult. Das Licht impliziert dabei auch das Göttliche, denn Eckart schreibt an anderer Stelle, dass es dem Menschen nicht möglich ist, Licht zu sein: Das Licht zu sein ist Keiner wert; Das einzige, was der Mensch erreicht, Ist, daß er nicht den Dunst vermehrt, Der durch die Welt als Lüge streicht.62
Diese Lichtmetaphorik wird bei Eckart verbunden mit dem Motiv des Erwachens (aus der dunklen Nacht), das im erwähnten ›Sturmlied‹ zum Schlagwort des ›Dritten Reiches‹ geworden ist. In einem ›Selbstgespräch‹ – so der Titel – wird eine existierende Parallelwelt, ein »Jenseits« propagiert, das von Licht gekennzeichnet ist und in dem das Ich ›nur‹ erwachen muss, um Göttlichkeit zu erlangen: Du bist wie einer, der am Tage schläft und träumt. Und gar nicht ahnet, daß ihn hellstes Licht umsäumt. Im Diesseits gehst du auf, wie er im Traumgesicht: Dein Eingebettetsein im Jenseits merkst du nicht. [...] Bedenke jederzeit: Die Welt ist nur ein Nichts, Ein Traumgebilde bloß des inneren Gesichts. Wer aber sieht so falsch? Du kannst nur sagen: Ich. Erwache! und du fühlst zu Gott geworden dich.63
Reich Gottes ist (schon) mitten unter euch« (vgl. die Anmerkung zur zitierten Stelle in der Einheitsübersetzung, Stuttgart 1998). 61 Eckart (Anm. 5), S. 12. 62 Rosenberg (Anm. 5), S. 137. 63 Dietrich Eckart: Selbstgespräch, in: Rosenberg (Anm. 5), S. 110f., hier S. 110.
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Der Anspruch der ›Deutschen‹ auf die Weltherrschaft – weniger ist es nicht und dieser Anspruch ist nun religiös begründet – wird untermauert mit weiteren Anspielungen auf entsprechende Texte, die ebenfalls Deutschlands Größe (im doppelten Sinn) propagieren: etwa das zum ›Nationalgesang‹ aufgestiegene Lied ›Wacht am Rhein‹ von Max Schneckenburger (1840; Text) und Carl Wilhelm (1854; Melodie), dessen »Ruf wie Donnerhall« ebenfalls im grollenden Donner bei Eckart anklingt und das seit 1870/71 populär war;64 oder das ›Lied der Deutschen‹ von August Heinrich Hoffmann von Fallersleben (1841; Text – Melodie von Joseph Haydn, 1797), in dem die bei Eckart genannte Verbreitung des ›Nibelungenliedes‹ und damit der deutschen Kultur bzw. der deutschen Seele »[v]on Meer zu Meer« als Herrschaftsanspruch »von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt« formuliert wird.65 Eckarts Hoffnung auf den ›Retter‹ wird – auch in den genannten Texten sichtbar – mit der Zeit konkreter, die Zeit des Wartens wird kürzer. Während die heraufbeschworene Geduld bei Conrad Ferdinand Meyer auf die (tatsächliche) Vereinigung Deutschlands gerichtet ist, koppelt Dietrich Eckart den Aufstieg des deutschen Reiches (und damit die Rettung der Welt) im Gedicht ›Von höherer Warte‹ mit dem Warten auf eine Führerpersönlichkeit, den ›deutschen Mann‹, der in ›Geduld!‹ leibhaftiger wird als ›besserer Hagen‹, als Lichtbringer und Erlöser. Dieser ist bei Erst-Erscheinen des Gedichtes wohl tatsächlich noch ein »Namenloser«, wenn man, wie bereits erwähnt, auch vermuten kann, dass Eckart Wolfgang Kapp vor Augen hatte, von dem er sich aber nach dem gescheiterten Putsch abgewendet hat.66 Dass das Gedicht, ohne Nennung eines Namens, flexibel ausgelegt werden konnte und wurde, zeigt aber der Wiederabdruck 1921 im ›Völkischen Beobachter‹, der sicher auf das (schon fortgeschrittene) ›Heraufdämmern‹ Adolf Hitlers bezogen ist – das wird auch durch Eckarts Gedicht zu Hitlers Geburtstag im Jahr 1923 belegt, das mit Bezug auf Lichtmetaphorik und das schon topisch gewordene Motiv des Erwachens mit dem hoffnungsvollen Ausruf endet: »Die Herzen auf! Wer sehen will, der sieht! / Die Kraft ist da, vor der die Nacht entflieht!«67 Auch in der nationalsozialistischen Rezeption wird das Gedicht z.T. so interpretiert, etwa in Richard Euringers biographischer
64 Vgl. Ernst Klusen: Deutsche Lieder. Texte und Melodien, Frankfurt a.M. u. Leipzig 1995, S. 523f. u. 842. 65 Vgl. ebd., S. 514 u. 842. 66 Vgl. Plewnia (Anm. 3), S. 62–66 u. 82. Siehe oben. 67 Dietrich Eckart: Adolf Hitler zu seinem Geburtstage am 20. April 1923, in: Rosenberg (Anm. 5), S. 149. Vgl. zum Zusammenhang beider Gedichte auch Bärsch (Anm. 11), S. 154f.
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Schrift über Dietrich Eckart aus dem Jahr 1935: ›Geduld!‹ wird hier zitiert im Kontext von Eckarts Hinwendung zu und Arbeit für Hitler, v.a. über den ›Völkischen Beobachter‹, und ist somit auch ohne explizit genannte Zuordnung deutlich auf Hitler bezogen.68 Und auch Raimund Lembert beschreibt Eckart 1934 als Propheten, der »über dem Chaos der Zeit«69 stehe und der den in ›Geduld!‹ beschriebenen Erlöser schließlich sehen dürfe: »Und seine Augen dürfen den Retter noch schauen. Der namenlose Held bekommt Namen und Gestalt: seine prophetische Schau wird Wirklichkeit. Er begrüßt den Führer zu seinem Geburtstag am 20. April 1923 ...«70; es folgt das bereits zitierte Gedicht zu Hitlers Geburtstag. Ebenso bescheinigt Leo Weiser – allerdings ohne Bezug auf ›Geduld!‹ – Dietrich Eckart prophetische Kräfte und schreibt ihm gleichzeitig einen Platz in der NS-Historie zu, der ihm nicht zukommt: »Hitler war der siebente, der im Sommer 1919 der Deutschen Arbeiterpartei beitrat. Eckart hielt sehr viel von Hitler und sah schon damals in ihm den Führer der eigentlich von ihm selbst, von Eckart, gegründeten Partei.«71 Das ›Nibelungenlied‹, durch das in typischer »(mythische[r]) Rückbezogenheit diese Zukunftsvision«72 eines neuen Aufstiegs Deutschlands die (kulturelle) Vergangenheit mit Gegenwart und Zukunft verbunden wird, dient Eckart dabei (neben anderem) der Untermauerung des ›deutschen Anspruchs‹ auf Vorherrschaft in der Welt durch kulturelle und historische Überlegenheit, denn es ist Ausdruck der ›Seele des deutschen Volkes‹, deren Größe nicht einmal sie selbst fassen kann. Deshalb wird sie auch die nötige ›Geduld‹ aufbringen.
68 Vgl. Richard Euringer: Dietrich Eckart. Leben eines deutschen Dichters, Hamburg 1935, S. 29f. 69 R[aimund] Lembert: Dietrich Eckart. Ein Künder und Kämpfer des Dritten Reiches, München 1934, S. 9. 70 Ebd., S. 10. Beinahe identisch kann man dies in Walter Stilkes ebenfalls aus dem Jahr 1934 stammender Schrift über Eckart nachlesen; vgl. Walter Stilke: Dietrich Eckart, ein Dichter und Kämpfer. Donauwörth [1934], S. 4. 71 Leo Weiser: Dietrich Eckart. Ein Bild vom Wesen und Wirken des ersten nationalsozialistischen Kämpferdichters, Leipzig 1934, S. 14. 72 Scholdt (Anm. 27), S. 35.
Brünhild, Faustina, Helvetia Ernst Zahns Nibelungen-Adaption ›Die tausendjährige Straße‹ im Kontext der schweizerischen ›Frontenbewegung‹ Sabine Haupt
I Der folgende Beitrag widmet sich einer bisher kaum untersuchten, doch kulturgeschichtlich durchaus bedeutsamen Fußnote zur Literaturgeschichte der Schweiz. Es geht dabei um eine spezifische Funktionalisierung des Nibelungenstoffs innerhalb des historischen und politischen Kontexts der Schweiz während der Zeit des deutschen Nationalsozialismus. Um es gleich vorweg zu sagen: Unter rein ästhetischen und literarischen Gesichtspunkten ist der Roman ›Die tausendjährige Straße‹ des Schweizer Schriftstellers Ernst Zahn aus dem Jahr 1939 nicht der Rede wert. Es handelt sich um handwerklich gut gemachte, leidlich unterhaltsame Trivialliteratur, die zweifellos der Kategorie ›Heimatliteratur‹ zuzuordnen ist. Ziel meines Beitrags ist daher nicht die eingehende Textanalyse eines heute völlig zu Recht vergessenen Romans, sondern die Untersuchung einer sehr speziellen, im deutschsprachigen Raum wohl einmaligen Funktionalität des Nibelungenstoffs, ihrer charakteristischen Merkmale, signifikanten Veränderungen und – im Hinblick auf diesen besonderen Kontext – Abweichungen von der herkömmlichen Nibelungenhandlung. Ernst Zahn (1867–1952) gehört zu den erfolgreichsten Schweizer Autoren der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er war nicht nur Schriftsteller, sondern (und das ist wichtig im Zusammenhang mit seiner exponierten Stellung im literarischen Feld der Zeit) bis 1916 auch Betreiber des von seinem deutschen Vater übernommenen Bahnhofsrestaurants in Göschenen in der Nähe des GotthardPasses, also an einem für die helvetische Identitätsbildung geradezu mythischen Ort. Denn hier in diesem hoch in den Schweizer Alpen gelegenen Dorf treffen
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gleich drei nicht unerhebliche Elemente des Schweizertums aufeinander: Berge, Gotthardtunnel und Eisenbahn.1 Ernst Zahn ist Verfasser von 28 Romanen und 30 Erzählbänden mit einer Gesamtauflage von ca. vier Millionen Büchern, zu Lebzeiten nur übertroffen von Johanna Spyri, deren Werke bis heute in einer Auflage von ca. 20 Millionen Exemplaren erschienen sind. Mehrere seiner Romane wurden in den 1930er und 1940er Jahren von der deutschen UFA verfilmt, zum Teil in direkter Zusammenarbeit mit dem Propagandaapparat der Nationalsozialisten. So fand die Uraufführung der Verfilmung seines Romans ›Frau Sixta‹ beim Nürnberger Reichsparteitag von 1938 statt. Eine Voraussetzung für den kommerziellen Erfolg der schweizerischen Heimatliteratur in Deutschland war die bis zum Ersten Weltkrieg auch in der Schweiz relativ unproblematische Einstufung der Deutschschweizer Kantone als deutsche Kulturprovinzen. Diese bis weit ins 18. Jahrhundert reichende Vorstellung erfuhr sodann in den 1930er Jahren mit den großdeutschen Bestrebungen des Nationalsozialismus eine weitere ideologische Volte: Auch die Schweizer Alpen sollten ›heim ins Reich‹ geholt werden, eine Forderung, die auch von verschiedenen faschistischen, unter dem Sammelbegriff der sogenannten ›Frontenbewegung‹ fassbaren Schweizer Gruppierungen der 1930er Jahre gestellt wurde. Erfolg hatte Zahn in Deutschland und der Schweiz gleichermaßen. 1913 wählten ihn seine Kollegen zum Präsidenten des Schweizerischen Schriftstellerverbands. Auch in den 1920er und 1930er Jahren bekleidete er wichtige kulturpolitische Ämter, insbesondere in der Zürcher Theaterszene. Wie eng die Person und das Werk von Ernst Zahn mit großdeutschen Strömungen verknüpft sind, zeigt eine Biografie, die 1927 anlässlich seines 60. Geburtstags erschien. In die-
1
Im 6. Kapitel von Hermann Burgers Roman ›Die Künstliche Mutter‹ von 1982 gibt es eine bissige Satire auf Ernst Zahn und sein Alpen-Bahnhofsrestaurant, aus der klar hervorgeht, welche Rolle Zahn im folkloristischen Gefüge der Schweizerischen Heimatliteratur spielte. Das Restaurant, eine »Attrappe kulinarischer Gepflegtheit«, in der den Reisenden eine »originalzahnsche Mehlsuppe« serviert wird (Hermann Burger: Die Künstliche Mutter. Roman, München 2014 (Werke in acht Bänden 5), S. 87), ist nicht nur der Tagungsort der ehrwürdigen »Ernst-Zahn-Gesellschaft« (ebd., S. 89), sondern auch das Wirkungsfeld einer überaus engagierten, »busenal wogenden Schankmammalie« (S. 91), die sich – gewissermaßen als allegorische Verkörperung der Mater Helvetia – mit der Zahnʼschen Biographie und seinen Werken bestens auskennt. Vgl. hierzu Sabine Haupt: Exil bei Mater Helvetia. Mythische ›Regressionen‹ bei Hermann Burger, Peter Weber und Tim Krohn, in: Partir de Suisse, retourner en Suisse / Von der Schweiz weg in die Schweiz zurück, hg. v. Gonçalo VilasBoas, Straßburg 2003, S. 121–136.
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ser in Deutschland für ein deutsches Publikum herausgegebenen Festschrift wird mit Bezug auf Josef Nadlers völkische Literatur- und Kulturgeschichte Zahns Heimat, die sogenannte »Schweiz Mark«,2 als agrarisch-konservativ und damit in besonderem Maße vom deutschen Ursprung geprägte Region dargestellt: »Aber es liegt zugleich im Charakter der Marken, daß sie (Josef Nadler hat es für den deutschen Ostraum erwiesen) ererbtes Volksgut länger bewahren als das Binnenland.«3 Selbst in den Werken des »politischen Demokraten Gottfried Keller« stecke »von allem Anfang an Urelterngut, Vorväterart, gewichtig, wichtig, wesenhaft, unablösbar.«4 »Schweizer Dichter« hätten »etwas von Meistersingern der Stadtrepubliken des deutschen Mittelalters.«5 II Welches sind nun die inhaltlichen Grundzüge des Romans, wo sind Parallelen und Anverwandlungen des Nibelungenstoffs anzusiedeln und welche charakteristischen Abweichungen deuten auf die eingangs erwähnte spezifische Funktionalisierung des Nibelungenplots? Der Roman ›Die tausendjährige Straße‹ spielt gegen Ende des Ersten Weltkriegs in der Innerschweiz, vermutlich irgendwo an den Ufern des Vierwaldstättersees. Erzählt wird die Geschichte zweier Familien, beide Besitzer von Sägerei-Betrieben. Da sind zum einen die Gebrüder Walker: Josef, Christian und Niklaus, sowie deren Schwester, die schöne »blonde Candida« (DtS, S. 13),6 welche nach kurzem Hin und Her in Leutnant Martin Reding, dem Besitzer des Konkurrenzunternehmens, den idealen, da hünenhaften und überaus souverän wirkenden, ebenfalls blonden Ehemann findet. Sie verlässt das Elternhaus und zieht auf den Hof der anderen Sägerei. Schon früh wurde Candida von den Eltern angehalten, sich »gegen alles Fremde [zu] wehren und am Ererbten festzuhalten« (DtS, S. 14). Doch Reding hat seiner Frau verschwiegen, dass er einst eine kurze Affäre mit der ›welschen‹, höchst verführerischen Faustina Solari hatte, die inzwischen Candidas Bruder Josef geheiratet hat – allerdings nicht aus Liebe, sondern weil sie eigentlich noch immer in Martin Reding verliebt ist und diesem als Her-
2
Heinrich Spiero: Ernst Zahn. Das Werk und der Dichter, Berlin u. Leipzig 1927, S. 9.
3
Ebd., S. 10.
4
Ebd.
5
Ebd., S. 11.
6
Zitiert wird nach Ernst Zahn: Die tausendjährige Straße. Roman, Stuttgart 1939 (im Text abgekürzt als ›DtS‹).
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rin der Walker-Sägerei nahe sein zu können glaubt. Josef hatte Reding gebeten, für ihn bei Faustina den Brautwerber zu spielen. Im Haus der Walkers gibt es sodann noch den treuen, doch von mysteriösen und finsteren Impulsen gesteuerten Neffen Otwin Dorta, der – so erfährt man bereits ganz zu Beginn – einen dunkleren Hauttypus als die blonden WalkerBrüder besitzt, worin sich, zusammen mit den »starken schwarzen Brauen und streng blickende[n] Augen« sein »welsches Blut« (DtS, S. 11) verrät. Otwin arbeitet als Knecht bei den Walkers, macht schließlich mit der von Reding verschmähten Faustina gemeinsame Sache gegen diesen und sein Unternehmen. Bei einem mehr oder weniger als Unfall einzustufenden Zusammenstoß zweier Kutschen verursacht Otwin den Tod von Martin Reding. Kurz darauf erzählt Faustina ihrer Schwägerin Candida von ihrem früheren Techtelmechtel mit Reding. Daraufhin schwört Candida Rache und versucht, das Walkerʼsche Unternehmen mit Hilfe des Anwalts Dr. Anton Imstadt in den Bankrott zu treiben. Schon dieser kurze synoptische Überblick lässt zweifelsfrei das Handlungsschema und die Personenkonstellation des ›Nibelungenliedes‹ erkennen: Die Geschwister Walker entsprechen den Burgunderkönigen Gunther, Gernot und Giselher und ihrer Schwester Kriemhild. Siegfried ist Martin Reding. Die Rolle der Brünhild übernimmt Faustina, deren Mann Josef die Stelle von Gunther bekleidet. Hagen heißt bei Ernst Zahn Otwin Dorta, und der ebenso reiche wie hässliche Anwalt mit dem sprechenden, nämlich urban und intellektuell klingenden Namen »Dr. Imstadt« vertritt den mächtigen König Etzel, Kriemhilds Instrument der Rache. Auch andere Details entsprechen der Handlung des ›Nibelungenlieds‹, beispielsweise die Doppelhochzeit von Candida Walker und Martin Reding auf der einen und Faustina Solari mit Josef Walker auf der anderen Seite. In dieser Szene vergleicht der Erzähler die beiden Paare sogar explizit mit »Königsfiguren auf [einem] Schachbrett« (DtS, S. 122). Auch das Ringmotiv spielt eine Rolle, sowie weitere aus dem Nibelungenkomplex bekannte Motive wie ›Konkurrenz‹, ›Lüge‹, ›Rache‹, ›Vasallen-Treue‹ usw. Auffallend aber sind die Transposition der Nibelungensage ins Helvetische, der Schauplatzwechsel, die historische Aktualisierung oder explizite Äußerungen wie die folgende, mit der Candidas Vater seinen zukünftigen Schwiegersohn Martin Reding begrüßt: »Stolz sein kann unsere Mutter Helvetia auf Goliathe wie Euch.« (DtS, S. 94). Freilich erfährt diese Helvetisierung auch ihre Einschränkungen, beispielsweise, wenn der Erzähler den Schwiegervater eher deutschnationale denn helvetische Überlegungen anstellen lässt: »Vater Tobias dachte, welsches Blut sei anders als deutsches« (DtS, S. 107). Wohlgemerkt: deutsches, nicht schweizerisches Blut.
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Besonders hervorstechend unter diesen Veränderungen ist nun der harmonische und damit vom Nibelungengeschehen völlig abweichende Schluss. Denn Ernst Zahn erzählt seine helvetischen Nibelungen als eine Geschichte des Ausgleichs und der moralischen Läuterung. Faustina, die »zielsichere, herrische Frau« (DtS, S. 190) entwickelt sich nämlich im Haus der Walkers zu einer überaus gewieften Geschäftsfrau. Schließlich liefern sich die beiden, nach Redings Tod von Frauen geleiteten Sägereien einen erbarmungslosen Konkurrenzkampf. Doch zu einer nibelungischen Katastrophe kommt es nicht, das finale Blutbad bleibt aus. Stattdessen inszeniert Ernst Zahn eine typisch helvetische Szene, nach einem symbolischen Muster, das bis heute die politische Metaphorik der Schweiz bestimmt: Er erfindet eine Begegnung auf der Brücke, gewissermaßen über dem Graben zwischen Deutschen und Welschen. Faustina und Candida, die verfeindeten Frauen, stehen sich am Ende plötzlich und unerwartet auf einem Steg gegenüber, unter ihnen ein Bach mit »tosendem Schaum« (DtS S. 295). Es ist eine rein zufällige Begegnung, deren Resultat wie ein Wunder anmutet bzw. als erzähltechnischer Voluntarismus zu interpretieren ist: »Es geschehen solche Dinge: Candida hätte an alles eher gedacht, als daß sie mit Josefs Frau reden werde. Aber sie ging jetzt langsam und wie unter einem Zwang über den Steg auf sie zu. So gehen Kinder zueinander, die sich nicht kennen und die irgend etwas, halb scheu, halb Trotz treibt« (DtS, S. 297). Die beiden Frauen sprechen sich aus, beenden ihren Streit und gegenseitigen Hass. Aus der wilden, bisher ambivalent bis negativ gezeichneten Faustina wird nun für den Erzähler eine »leise schöne Frau« (DtS, S. 306). Auch Candida »strömt[e] eine lösende Wärme […] ins Gemüt« (DtS, S. 310). »Fraulicher, menschlicher denn ehedem« wird sie bald darauf Mutter eines kleinen »Hans Ohnesorg« (DtS, S. 310), dem – im Gegensatz zu Kriemhilds und Etzels Sohn Ortlieb – keinerlei Gefahr droht. Der Nibelungenstoff erfährt somit im schweizerischen Kontext ein klares Happy-End: den helvetischen Ausgleich. »Wie unter Zwang« heißt es bei der Begegnung auf der Brücke; dieser Zwang ist im Text jedoch weder psychologisch motiviert noch auktorial erläutert. Ganz offensichtlich beschloss der Autor – auch um den Preis der narrativen Plausibilität – an dieser Stelle seines Romans die heroisch-germanischen Blutbahnen zu verlassen und eine gemäßigtere, helvetische Gangart einzuschlagen. Denn ›Die tausendjährige Straße‹ ist kein alpiner Heldenroman7 wie noch Wilhelmine von Hillerns Roman ›Die Geier-Wally‹ von 1873, in dem die stolze und mutige, mit ungewöhnlichen körperlichen Kräften ausgestattete Protagonistin Walburga explizit mit Brünhild verglichen wird.
7
Vgl. diesen Begriff als literarische Kategorie in Otto von Greyerz: Sprache, Dichtung, Heimat, Bern 1933, S. 43.
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Auch andere Konstellationen und Handlungsmomente machen aus der berühmten Geier-Wally zwar eine Vorläuferin für Ernst Zahns alpine Nibelungenadaption, beim Ausgang der Handlung, aber auch bei Sprache und Stil wählt Zahn jedoch ein anderes Register. Sein Erzählduktus ist weitgehend frei von heroischem Pathos. Damit aber zeigt Zahns Erzählweise frappierende Unterschiede zur »düsterlodernde[n] Herrlichkeit furchtbaren Unheils und Untergangs«,8 wie Josef Nadler in seiner ›Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften‹ den Kern des Nibelungengeschehens zusammenfasst, jener »Urgeschichte des Germanen […]. Ein Lied der Treue, wie es nur aus der Seele des alten Germanen dringen konnte.«9 Die Seele der Germanen wabert bei Zahn in gemäßigter Tonart und in intertextuell verschränkter Form. Dass seine Übertragung des Nibelungenstoffs in die zeitgenössische Schweiz nicht ohne einschneidende Veränderungen geschieht, ist von Anfang an klar. So ist Kriemhild alias Candida bei Ernst Zahn keine Adlige, sondern ein germanisches, um nicht zu sagen: arisches Bauernmädchen, wie aus der folgenden, geradezu stereotypen Beschreibung hervorgeht: »[…] sie war ein starkes Mädchen mit breiten Hüften, vollen Armen, schlanken und doch stämmigen Beinen […], blondem Haar, einem kleinen roten Mund und blauen, unter starken Brauen wie Veilchen hervorleuchtenden Augen. […] Es war nichts Weiches noch Schwaches an der blonden Frau« (DtS, S. 13 u. S. 21). Bei der Gestaltung von Brünhild/Faustina fand hingegen eine Kontamination mit dem Typus der südländisch animalischen Femme fatale statt, deren – ebenfalls auktoriale – Beschreibung nicht nur an Goethes Faustine10 aus den ›Römi-
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Josef Nadler: Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften, Bd. 1: Die altdeutschen Stämme (800–1740), 3. Aufl., Regensburg o.J. [1929], S. 167. Ab der vierten Auflage von 1939 trägt Nadlers Literaturgeschichte den Titel: ›Literaturgeschichte des deutschen Volkes‹. Aus dem Untertitel ›Das österreichische Volk‹, dessen »Schulfall und Schlüssel« (ebd., S. 165) das ›Nibelungenlied‹ sei, wird ›Das Volk der Ostmark‹. Zu den Schweizer Literaturgeschichten von Josef Nadler und Emil Ermatinger vgl. Hans-Georg von Arburg: Schweizer (National-)Literatur?, in: Schreiben gegen die Moderne. Beiträge zu einer kritischen Fachgeschichte der Germanistik in der Schweiz, hg. v. Corina Caduff u. Michael Gamper, Zürich 2001, S. 225–242.
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Nadler (Anm. 8), S. 168.
10 In Goethes ›Römischen Elegien‹ (XXI./18.) heißt es: »Darum macht Faustine mein Glück: sie teilet das Lager / Gern mit mir, und bewahrt Treue dem Treuen genau.« Namentlich wird Faustine bzw. Faustina bei Goethe nur an dieser Stelle genannt. In
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schen Elegien‹ erinnert, sondern auch an diverse, aus der Zigeunerromantik des späten 19. Jahrhunderts bekannte Klischees: »Die beiden Walkerbrüder rissen die Augen groß [sic] und stellten fest, daß das Haar der Faustina schwarz und kraus war und die Haut sammethaft. Die Gestalt erschien bald schlank und hoch und bald zierlich klein, wie man auch von einer Pantherin, die sich zum Sprung duckt, nicht sagen kann, wie groß sie ist« (DtS, S. 30f.). Das Motiv der zigeunerhaften Femme fatale, in die sich einer der Brüder verliebt, ist ein im Werk von Ernst Zahn überaus beliebtes Plot-Element. In seinem 1905 publizierten und seitdem immer wieder (zuletzt 2018) aufgelegten Roman ›Lukas Hochstraßers Haus‹, in dem vor allem biblische Handlungsmuster aktiviert werden, verliebt sich David, einer der Hochstraßer-Brüder, in die Zigeunerin Margherita, Tochter des Kesselflickers Giovanni Dorta, eines – der Nachname lässt keinen anderen Schluss zu – werkimmanenten Ahnen der Hagen-Figur Otwin Dorta aus ›Die tausendjährige Straße‹. Ausdrücklich heißt es in dem Roman von 1905: »Der blonde, glattwangige Bauer mit dem hellen Gesicht nahm sich sonderbar aus unter dem rußigen Volk«.11 David schließt sich zwar »dem Hudelvolk«12 an, wird am Ende des Romans aber von seinem Vater auf den heimischen Hof zurückgeholt, während die Zigeunerin Margherita im fernen Welschland zurückbleibt. Der Brünhild-Avatar Faustina verkörpert aber nicht nur die mediterrane Femme fatale, sie dient auch zur Markierung anderer Kontraste und Antagonismen. Sie ist multifunktional, verkörpert – so könnte man schlussfolgern – das Fremde schlechthin, in immer neuen Varianten und Funktionen. So mutiert Faustina in einer anderen Passage zur Repräsentantin einer technisch-urbanen Moderne, die – auch das ist typisch für den Heimatroman des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts – der heilen Welt der Bergbauern und Sägereibesitzern ökonomischen und moralischen Schaden zufügt: »Sie [Faustina] war neumodisch gekleidet. Ihr Kleid war kurz. Feines Schuh- und Strumpfwerk und ein kleiner kecker Hut gaben ihr etwas Ungewöhnliches, Landfremdes, und allem Landläufigen zuwider lief auch die freie Sicherheit und Überlegenheit, mit der sie auf ihn zukam« (DtS, S. 98). Was für die Frauengestalten gilt, gilt in abgeschwächter Form auch für die männlichen Antagonisten: »Es gab nichts Ver-
der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist der Vorname dann relativ verbreitet zur Markierung literarischer Femme fatale-Figuren, z.B. in den phantastischen Romanen von Raymond Roussel (vgl. ›Locus Solus‹ von 1914) und Adolfo Bioy Casares (vgl. ›La invención de Morel‹ von 1940). 11 Ernst Zahn: Lukas Hochstraßers Haus, Stuttgart u. Leipzig 1908, S. 111. 12 Ebd., S. 227.
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schiedeneres, als das Dunkle, Abgründige des [Otwin] Dorta und das Blitzen, Unbekümmerte des Gastes [Martin Reding]« (DtS, S. 89). An anderer Stelle hört sich der kontrastive Vergleich Martin/Otwin wie folgt an: »Die helle Hand gab einen raschen, von gutem Willen durchbluteten Druck. In dem der anderen lag es wie Frage und Misstrauen« (DtS, S. 142). Was auf den ersten Blick als eher harmlos stereotype Methode trivialliterarischer Figurengestaltung erscheint und an ältere literarische Vorbilder des 19. Jahrhunderts erinnert, in denen beispielsweise die moralische Dichotomisierung der Frauengestalten über die Zuweisung der Haarfarbe vorgenommen wird, wie etwa in Friedrich Theodor Vischers Roman ›Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft‹ von 1879, erweist sich bei Berücksichtigung des ideologischen Umfelds jedoch als höchst problematisch. Denn im Kontext der 1930er Jahre besitzen ›Schwarz-Blond-Malereien‹ dieser Art einen überaus fatalen politischen Beigeschmack: Vor dem Horizont der rassistischen Anthropologie des Nationalsozialismus, deren Klassifizierungen zwar gewisse Vorstufen der älteren Physiognomik des 18. und 19. Jahrhunderts aufgreifen, bei der ›Materialgewinnung‹, Vermessung, Auswertung und Formulierung politischer Konsequenzen ab den 1920er Jahren aber einem überaus rabiaten, menschenverachtenden und – zumindest während der Zeit des Hitlerregimes – absolut verbrecherischen Empirismus frönen,13 sind solche auktorialen Charakterisierungen weder zufällig noch harmlos. Deutliche Anleihen an den Rassismus der Zeit gibt es auch an anderen Stellen des Romans. So lassen sich implizite, doch völlig evidente antisemitische Aspekte nachweisen, zum Beispiel bei der Beschreibung des vermögenden Anwalts Dr. Anton Imstadt, dessen Hässlichkeit von den aus ›Stürmer‹-Karikaturen
13 So heißt es bereits in dem führenden anthropologischen Lehrbuch der Zeit im Kapitel ›Methoden der Materialgewinnung‹: »1. Lebendes Material. Die Untersuchung lebender Individuen aller Altersstufen und beiderlei Geschlechts ist heute in größerem oder geringerem Umfange überall möglich und nur da mit Schwierigkeiten verbunden, wo gesellschaftliche oder religiöse Vorstellungen entgegenstehen.« (Rudolf Martin: Lehrbuch der Anthropologie in systematischer Darstellung, Jena 1914, S. 23). Es folgt eine Aufstellung möglicher Listen und Strategien von »suggestiver Kraft« zur Überzeugung etwaiger Unwilliger. Über den Rassismus des Nationalsozialismus und die Menschenversuche in deutschen Konzentrationslagern gibt es eine Fülle an Literatur, die belegt, dass die rassistisch motivierten Morde des Faschismus die letzte und schrecklichste Konsequenz einer weit verbreiteten ideologischen Einstellung waren. Ein Klassiker ist hier Robert Jay Lifton: The Nazi Doctors. Medical Killing and the Psychology of Genocide, New York 1986.
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hinlänglich bekannten Merkmalen evoziert wird. Denn mit seiner »gelbbleichen, von Pickeln durchwachsenen Haut des Gesichtes, dem dünnen schwarzen Haar […] und dem schielenden Blick« (DtS, S. 234) bietet Candidas neuer Ehemann einen klaren physiognomischen Kontrast zur heroisch blonden Erscheinung ihres ersten Mannes. Doch Anton Imstadt wird in diesem Roman von 1939 nicht explizit als Jude bezeichnet. Explizite antisemitische Passagen finden sich erst in Ernst Zahns zwei Jahre später erschienenem Roman ›Macht der Heimat‹, in dem erzählt wird, wie die Bauern des fiktiven Bergdorfs ›Firningen‹ von kapitalistischen Finanzhaien in den Ruin getrieben werden. Dort analysiert der durchweg positiv und sympathisch gezeichnete, stellenweise als Sprachrohr des Autors fungierende Dorfamman Jost Gering14 das Problem mit den Kreditgebern folgendermaßen: »Nicht Ungunst der Zeit allein habe das Dorf Firningen nach und nach in Not gebracht. […] Derweilen sei der Jud ins Land gekommen, habe die Not gewittert und Geld geliehen, für Augenblicke dem und jenem den Eindruck gegeben, es gehe ihm gut und ihn dann nur tiefer in die Schulden gestoßen, in denen er schon lange gesteckt. […] es ist wie wenn an den gesunden Wurzeln der Krebs kommt. Wenn wir dem Ungeziefer nicht wehren, frisst es sie krank.«15 Beim Lesen solcher Passagen stellt sich bezüglich der schweizerischen Rezeption des Werks von Ernst Zahn dann auch die Frage, ob Charakterisierungen Ernst Zahns als »engagierter Volksschriftsteller« mit Hang zur »SchwarzweißMalerei«16 – so eine typische Einschätzung von Dieter Fringeli aus dem Jahr 1981 – nicht eine gravierende Verharmlosung der völkischen Tendenzen seines Werks darstellen. III Was aber bewegt einen Schweizer Erfolgsautor dazu, im Jahr 1939 einen typischen, in urschweizerischen Gefilden angesiedelten Heimatroman zu schreiben, dessen Handlung und Personal unschwer als Adaption des Nibelungenstoffs zu erkennen sind? Die Antwort auf diese Frage fördert ein ganzes Geflecht von un-
14 Der auktoriale Erzähler bescheinigt seinem Protagonisten »eine ruhige selbstsichere Art«, die »einem größeren Staatswesen nicht übel angestanden« hätte (Ernst Zahn: Macht der Heimat, Stuttgart u. Berlin 1941, S. 13). 15 Ebd., S. 57 u. 16. 16 Dieter Fringeli: Nachwort zu ›Albin Indergand‹, Zürich 1981, S. 309–327, hier S. 310. Fringeli stellt sich hier ganz bewusst gegen eine kritische Aufarbeitung der Schweizer Literatur des Nationalsozialismus, wenn er »Elitedenker« kritisiert, die Ernst Zahn zu Unrecht »ins Ghetto ›Trivialliteratur‹ abgeschoben« hätten (ebd.).
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terschiedlichen, zum Teil widersprüchlichen Aspekten zutage. Zum einen war der Stoff im Deutschland der 1930er Jahre aus naheliegenden kulturpolitischen Gründen überaus populär: Die heroischen Gestalten der Nibelungensage wurden von völkisch-nationalistischen Kräften schon seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Schaffung eines spezifisch germanischen Ursprungsmythos instrumentalisiert, eine Tendenz, die seit der Machtergreifung der Nationalsozialisten weiter forciert wurde. Zahn konnte also damit rechnen, dass sein deutsches Publikum in der Lage war, Anspielungen und intertextuelle Bezüge zu entschlüsseln. Der mit der Referenz an den germanischen Mythos beabsichtigte Nobilitierungseffekt würde beim Zielpublikum also keineswegs verpuffen. Entsprechend wirbt Zahns Verlag, die Deutsche Verlagsanstalt, 1941 auf der Rückseite eines seiner Bücher mit einem Zitat aus der ›Königsberger Allgemeinen Zeitung‹: Zahn zeichne, heißt es da, »Gestalten, die aus der Nibelungensage emporzusteigen scheinen.«17 Vordergründig mag also zunächst einmal ein gewisses erfolgstechnisches Kalkül eine Rolle gespielt haben. Zudem kann Zahn mit dem Stoffkreis der Nibelungen, insbesondere bei der Gestaltung der Brünhild-Figur, an eine ganze Welle von Darstellungen anschließen, die Mitte des 19. Jahrhunderts beginnt, in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts einen regelrechten Boom erlebt und erst nach dem Zweiten Weltkrieg rapide verebbt. Was damals gerade an der Figur der Brünhild faszinierend gewesen sein muss, zeigt ein Zitat aus dem Vorwort zu einem offiziellen NSDAP-Jugendstück von 1942 mit dem Titel ›Brunhild. Ein feierliches Spiel‹. Brünhild sei, so heißt es da, »[…] eine der großen germanischen Frauengestalten, wie sie die Sage kennt. Ehre und Treue, Haß und Liebe bestimmen ihr Leben, das noch von keiner schwachen Lebens- und Weltauffassung angekränkelt ist.«18 Am Schluss des Dramas, nach Brünhilds Selbstmord vor dem Scheiterhaufen, auf dem Siegfrieds Leiche verbrannt werden soll, spricht ein Mädchen aus dem Chor die folgenden Verse, die Brünhilds Stilisierung zur germanischen Amazone nochmals verdeutlichen: »Die alten dunklen Sagen / gehen wieder durchs Land, / sie stehen nächtens am Himmel / wie dunkler Brand. […] Sie blühen uns im Blute / und rufen von weit her / und künden von hohem Mute / dunkel und groß und schwer.«19
17 Vgl. die Rückseite des Buchumschlags zu ›Macht der Heimat‹, Stuttgart u. Berlin 1941. 18 Erich Colberg: Brunhild. Ein feierliches Spiel, Leipzig 1942 (Spiele der deutschen Jugend 34), S. 3. 19 Ebd., S. 28.
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Andere Brünhild-Romane der Zeit verklären Brünhild zum Ebenbild der germanischen Göttin Freya. Besonders deutlich ist dieser Brünhild-Kult in Herbert Erich Buhls20 Nibelungenroman ›Krone der Frauen‹ von 1939. Der Roman beginnt mit der Ankunft von Siegfried, Gunther und Hagen in Island. Während Kriemhild aus der Sicht der Reflektorfigur Hagen als »verzogen«,21 launisch und oberflächlich charakterisiert wird, erscheint Brunhilds »hohe Gestalt« 22 als reifer, natürlicher, von virilen Tugenden geprägter Gegentypus: »In der Pforte steht die Königin Brunhild. Schlicht fließt das schmucklose weiße Gewand von edelster Wolle an dem herrlichen Frauenleib zur Erde, im einfachen Wurf weniger Falten das Weibliche der Erscheinung betonend. […] Wie harmonisch teilt doch die feingliedrige Nase, deren leicht vibrierende Flügel erlesenste Rasse bezeugen, das Oval des Gesichts, […] ›Freya‹, schießt es Hagen durch den Sinn.«23 In den weiteren, höchst detaillierten anatomischen Beschreibungen werden die Merkmale des Brekerʼsch-Riefenstahlʼschen Schönheitsideals immer deutlicher: »Leichtfertig hatte der König geschworen, diese Frau zu gewinnen, diesen Adler aus seinem Horst inmitten des eisigen Nordmeers an den Rebenhügel des Rheins heimzuführen. Dieser Leib, dessen kraftvolle und doch weiblich anmutige Formen die Brünne eng umschloß und in klaren reinen Linien dem Lichte des Tages bot, diese sehnigen Arme und nervigen Hände, die bei männlicher Kraft die feste Fülle jungfräulichen Weibtums dem Blick des Mannes enthüllen, diese edel geschwungenen Schenkel im erzenen Kriegsgewand – nichts verhieß Nachgeben und anschmiegsame Weichheit, nichts ein zitterndes Bangen der Seele oder ein schnelles Schlagen des Herzens. […] Mehr als der Herr aus Burgund, als der Mann, war sie, das Weib, ein Kämpfer.«24 Immer wieder betont der Erzähler die körperlichen Merkmale weiblicher Virilität, etwa wenn es darum geht, Brünhilds Überlegenheit gegenüber Gunther, dem »purpurumschatteten Schwächling«25, darzustellen: »Ihre mächtigen Schultern, in denen sich die Sehnen der Arme zu stahlharter Wehrhaftigkeit vereinten, ohne der anmutvollen
20 Herbert Erich Buhl (1905–1948) ist das Pseudonym des deutschen Schriftstellers und Hörspielautors Joachim Lautenschlager, der neben zwei Nibelungen-Romanen (der zweite von 1941 trägt den Titel: ›Auf fremdem Thron. Roman der Königin Kriemhild‹) vor allem historische Romane publizierte. Buhl war Referent der Reichsschrifttumskammer. 21 Ders.: Krone der Frauen. Roman der Königin Brunhild, Berlin 1939, S. 12. 22 Ebd., S. 122. 23 Ebd., S. 29f. 24 Ebd., S. 40. 25 Ebd., S. 99.
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Schönheit Eintrag [sic] zu tun, zuckten nachlässig und streiften mit träger und lässiger Geste die gierigen Hände des Königs von sich.«26 Im Kontext einer völkisch vitalistischen Ästhetik steht diese Verherrlichung des athletischen Frauenkörpers klar im Dienste einer Heroisierung, ja Erotisierung soldatischer Härte. Zu vermuten ist außerdem, dass das Ideal der athletisch wehrhaften Frau, deren Stärke in Kontrast zur schwächlichen Konstitution ihres männlichen Pendants steht, letztlich als ideologische Disziplinierung des männlich soldatischen Wehrkörpers fungierte. Lodernde Leidenschaften ungebändigter blonder Bestien unter finsterem Himmels- und Weltenbrand – ein apokalyptisches Tableau, das man sich in der Schweiz, bei aller Bewunderung für die tausendjährige Großartigkeit Großdeutschlands, dann wohl doch nicht so gerne in der guten Stube aufhängte. Entsprechend uneindeutig ist die Brünhild-Figur bei Ernst Zahn. Sie muss symbolisch für vieles herhalten: für das fremde Welschland, das nicht-arische, zügellos triebhafte Blut der ›Südländer‹ oder für das entwurzelte, leichtfertigunmoralische Leben in urbanen Kontexten. Faustina ist Femme fatale und Mannweib zugleich, Zigeunerin und moderne Städterin – ein Feindbild par excellence, das alle, wie auch immer gearteten negativen Charakteristika in sich vereinigt. Ein Feindbild, das zuletzt aber – und da kippt das Germanischnibelungische ins Helvetisch-idyllische – geläutert und ideologisch entschärft wird. Ernst Zahn benutzt den Nibelungenstoff zwar, um einen weiteren Bestseller in Nazi-Deutschland zu lancieren, fügt der Nibelungen-Handlung sogar noch das eine oder andere völkisch-rassistische Motiv hinzu, nimmt dem Plot und seinen Charakteren dann aber die tragisch-pathetische Spitze, indem er am Ende seines Romans den bereits erwähnten wenig glaubwürdigen, doch alle Konflikte ausgleichenden harmonischen Schluss aus dem Hut zaubert. IV Nun gibt es aber außer der Anknüpfung an einen zeitgenössischen Boom noch einen anderen, meines Erachtens weitaus aufschlussreicheren Grund, warum Ernst Zahn sich dem Nibelungenstoff zuwandte. Mit der Wahl eines Stoffs, der als genuin ›deutsch‹ konnotiert und markiert ist, demonstriert er auf relativ diskrete Art seine politische Zugehörigkeit. Diese Diskretion ist durchaus relevant, denn explizite und demonstrative Bekenntnisse zum Deutschen Reich sind in der Schweiz von 1939 ein überaus heikles Thema. Seit dem Aufstieg des deutschen Nationalsozialismus verschärft sich hierzulande ein kulturpolitischer Konflikt,
26 Ebd., S. 145.
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der die Schweiz schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts prägt. Seinen ersten, politisch durchaus dramatischen Höhepunkt erreicht dieser Konflikt zu Beginn des Ersten Weltkriegs. Auslöser waren die Sympathiebekundungen gewisser antidemokratischer Kreise für das deutsche Kaiserreich, denen ab den 1920er Jahren weitere für den deutschen und italienischen Faschismus folgten. Angesichts des nach Ausbruch des Krieges rapide wachsenden Gegensatzes zwischen hauptsächlich in der Deutschschweiz angesiedelten pro-deutschen Kräften und republikanisch gesinnten Eidgenossen, vor allem aus der französischen Schweiz, sieht sich die schweizerische Regierung im Oktober 1914 dazu gezwungen, das Volk zu strikter Neutralität aufzurufen. In diesem Appell des Bundesrates heißt es: »Wir fordern die Bürger auf, in der Beurteilung der Ereignisse, in der Äusserung der Sympathien für die einzelnen Nationen sich möglichste Zurückhaltung aufzuerlegen, alles zu unterlassen, was die in den Krieg verwickelten Staaten und Völker verletzt, und eine einseitige Parteinahme zu vermeiden. Dabei leitet uns nicht nur das Staatsinteresse, die Pflichten, die die Neutralität in diesem Kriege uns auferlegt, getreu zu erfüllen und damit die guten Beziehungen unseres Landes zu den übrigen Staaten zu erhalten, sondern vor allem das Lebensinteresse unseres Staatswesens an kraftvoller Geschlossenheit und unerschütterlicher Einheit.«27 Die seit 1848 bestehende Schweizer Republik versteht sich als ›Willensnation‹, d.h. als ein vertragsmäßig geregelter politischer Zusammenschluss, als ein auf einem ›contrat social‹ basierendes Staatsgebilde und nicht als vermeintlich organisch gewachsene Einheit aus Sprache, Volk und Kultur, wie sie von Herder und seinen Nachfolgern im Kontext der politischen Romantik des 19. Jahrhunderts propagiert wurde. Es gab allerdings auch in der Deutschschweiz, insbesondere im Umfeld der verschiedenen Frontistenbewegungen, durchaus den Wunsch, Großdeutschland möge die deutschsprachige Schweiz ›heim ins Reich‹ holen. Diese Tendenzen konnten sich zwar nicht durchsetzen, doch gab es auch unter Schweizer Schriftstellern und Germanisten Mitglieder der Nationalen Front, die sich für den Anschluss an Nazideutschland einsetzten.28 Gerade erfolgreiche Autoren wie Ernst Zahn, die in deutschen Verlagen publizierten, stan-
27 Schweizerisches Bundesblatt, 16. Dezember 1914. 28 U.a. Emil Staiger, Otto Wirz und Gottfried Bohnenblust, vgl. Martin Stern: Warum dem schweizerischen ›Frontenfrühling‹ kein NS-Sommer folgte, in: Macht, Literatur, Krieg. Österreichische Literatur im Nationalsozialismus, hg. v. Uwe Baur [u.a.], Wien [u.a.] 1998, S. 51–66, hier S. 61. Otto Wirz gehörte 1940 zu den Unterzeichnern eines Appells an den schweizerischen Bundesrat, der eine außenpolitische Anpassung an Nazideutschland forderte.
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den in dieser Zeit vor einem Dilemma zwischen patriotischer und kultureller Zugehörigkeit. Schweizer Autoren, die sich Deutschland gegenüber distanzierten, bekamen Schwierigkeiten auf dem deutschen Buchmarkt. So forderte 1921 zum Beispiel die ›Deutsche Zeitung‹ den Buchhandel dazu auf, die Werke des Schweizers Paul Ilg zu boykottieren. Ilg hatte mit seinem Roman ›Der starke Mann‹ von 1916 einen antimilitaristischen, ja explizit antipreußischen Roman vorgelegt. Eindeutig patriotisch-militaristisch orientiert ist hingegen der ein Jahr später publizierte, überaus erfolgreiche Roman ›Füsilier Wipf‹ des Zürcher Schriftstellers und Germanistikprofessors Robert Faesi. Im Gegensatz zu Paul Ilgs Satire ist Faesis Roman eine Glorifizierung der Schweizer Armee und ihres Generals Ulrich Wille, der bei Faesi zum väterlichen Schutzpatron der Heimatfront während des Ersten Weltkriegs verklärt wird. Ernst Zahn steht bei dieser kulturpolitischen Auseinandersetzung zu Beginn des Ersten Weltkriegs an vorderster Front. So geht der von ihm verfasste und von Johann Baptist Klein vertonte ›General Wille Marsch für Klavier‹ aus dem Jahr 1915 den genannten Publikationen von Ilg und Faesi um ein Jahr voraus. Und dies just zu einem Zeitpunkt, als Ulrich Wille, der als General der Schweizer Armee keinen Hehl aus seinen Sympathien fürs Deutsche Reich machte, den Kriegseintritt der Schweiz an der Seite Deutschlands öffentlich befürwortete. In einem Brief an die Schweizer Regierung vom 20. Juli 1915 vertritt Wille explizit die Auffassung, »daß etwas mit dem Säbel rasseln im gegenwärtigen Moment […] vorteilhaft sein könnte.«29 Gemeint ist: Säbelrasseln gemeinsam mit Deutschland... Doch das Loblied auf den germanophilen General ist nicht das erste militaristische Werk von Ernst Zahn. Kurz nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs sandte er bereits ein propagandistisches Gedicht mit dem bezeichnenden Titel ›Sturmlied‹ an die Redaktion der Stuttgarter Unterhaltungszeitschrift ›Über Land und Meer‹, für die er regelmäßig schrieb. Dort heißt es in der letzten Strophe: »Hei wie der Sturm die Fahnen sand! / Laßt fliegen! Laßt fliegen! / Dich grüß ich noch, mein Vaterland / Sterben oder fliegen«.30
29 Zit. n. Hermann Böschenstein: Bundesrat und General im Ersten Weltkrieg, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 10 (1960), S. 515–532, hier S. 521. 30 Das Gedicht wurde von mehreren deutschen Zeitungen nachgedruckt, unter anderem unter der Überschrift ›Ein Schweizer Dichter für die deutsche Sache‹ (am 24. August im ›Stuttgarter Neuen Tagblatt‹). Zuvor hatte Zahn dort bereits sein martialisches ›Schweizergebet‹ publiziert. Diese Zeitung meldet auch, Zahn habe »durch den Verlag seiner Werke in Stuttgart die Summe von 1000 M[ark] für das deutsche Rote Kreuz überweisen lassen. In dem Begleitschreiben sagt er: ›Mein Herz schlägt hoch
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Abb. 1: Ernst Zahn, ›Sturmlied‹, Originalabdruck erschienen in ›Über Land und Meer‹, Jg. 56, Bd. 112, Heft Nr. 48 (1914), S. 1234.
Zur adäquaten Einschätzung des gesamten Kontexts muss hier noch berücksichtigt werden, dass Ernst Zahn, dessen Vater, wie bereits erwähnt, aus Deutschland stammte, zu dieser Zeit Präsident des Schweizerischen Schriftsteller-Verbands (SSV) war. Der SSV aber war ein nationaler und damit auch in der französischsprachigen Westschweiz vertretener Interessenverband. Entsprechend deutlich war der Sturm der Entrüstung, den Zahns ›Sturmlied‹ auslöste, vor allem in den französischsprachigen Zeitungen des Landes. Mehrere Westschweizer Schriftsteller, darunter auch Charles Ferdinand Ramuz, erklärten daraufhin ihren Austritt aus dem nationalen Autorenverband. Kritik gab es aber auch aus der deut-
für Deutschland. Ich weiß, daß es in gerechter Sache siegen wird!‹« Auch in der ›Frankfurter Zeitung‹ gesteht Zahn, sein Herz schlage für Deutschland (vgl. die Meldung in der Gazette de Lausanne vom 26. August 1914, Schweizerisches Literaturarchiv: SSV 01-a-02-01).
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schen Schweiz. Im September 1914 musste Ernst Zahn als Präsident des SSV schließlich zurücktreten.31 In dieser angespannten politischen Lage erfolgte dann wenig später auch der erwähnte Neutralitäts-Appell der Schweizer Regierung. Seinen kulturgeschichtlichen Höhepunkt erreichte die Auseinandersetzung um einen möglichen Kriegseintritt der Schweiz an der Seite des Deutschen Reichs mit dem berühmten öffentlichen Aufruf zur Nationalen Einheit, den Carl Spitteler unter dem Titel ›Unser Schweizer Standpunkt‹ lancierte. In seiner Rede vom Dezember 1914 stellte Spitteler die rhetorische Frage: »Sollen wir vielleicht einen Krieg herbeiwünschen, um unserer Zusammengehörigkeit deutlicher bewusst zu werden? Das wäre ein etwas teures Lehrgeld.«32 Spitteler geriet allerdings mit seiner auch in Deutschland publizierten Rede in die Kritik der deutschen Medien, ähnlich wie zuvor schon eine Gruppe von Künstlern um Ferdinand Hodler. Das Nobelpreis-Komitee beschloss daraufhin, Spitteler den Nobelpreis nicht, wie ursprünglich vorgesehen, zu verleihen. Diesen bekam er dann erst ein Jahr nach dem Krieg. Eine zweite nationale Krise, diesmal unter den Vorzeichen des Faschismus, erlebte das Land ab dem Frühjahr 1933, als sich im sogenannten ›Frontenfrühling‹ kurz nach der Machtergreifung Adolf Hitlers in mehreren Städten der Schweiz relativ rasch zahlreiche antidemokratische, völkisch und deutschnational orientierte Bündnisse formierten. Frontenführer wie Robert Tobler, von 1933 bis 1935 Zürcher Gauführer der ›Nationalen Front‹ und bis 1939 Mitglied des Kantons- sowie des Nationalrats, vertraten die Auffassung, dass die Schweiz sich den neuen nationalen und faschistischen Bewegungen »nicht entziehen könne.«33 Demokratische Grundrechte, darunter auch das spezifisch schweizerische Recht auf Referendum und Volksinitiative, sollten abgeschafft, das Parlament als gesetzgebende Instanz eingeschränkt und durch ein autoritäres Führerregime ersetzt werden. In einer Fronten-Publikation aus dem Jahr 1934 heißt es entsprechend: »Der Führergedanke muß auch in der Schweiz zum Durchbruch kommen. Heute, wo rings um unser Vaterland starke, selbstbewusste Nationalstaaten entstehen, ist es an der Zeit, daß auch wir […] der männlichen, geradlinigen Staats-
31 Vgl. Ulrich Niederer: Geschichte des Schweizerischen Schriftsteller-Verbandes. Kulturpolitik und individuelle Förderung: Jakob Bührer als Beispiel, Tübingen u. Basel 1994, S. 55. 32 Zit. n. ›Zeit-Fragen‹, www.zeit-fragen.ch/index.php?id=155 (Aufrufdatum: 1.5. 2023). 33 Zit. n. Walter Wolf: Faschismus in der Schweiz. Die Geschichte der Frontenbewegungen in der deutschen Schweiz 1930–1945, Zürich 1969, S. 17.
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führung zum Siege verhelfen.«34 Einige Schweizer Frontengruppierungen hatten nicht nur totalitäre, sondern auch explizit rassistische Grundsätze. Eine zentrale Rolle spielt in diesem Zusammenhang auch die schon im Ersten Weltkrieg gegründete ›Schweizerische Bauernheimatbewegung‹, die zunächst angetreten war, mit der Pflege bäuerlicher Kultur und Lebensweise der Landflucht entgegen zu treten. Diese zunächst sozial orientierte Bewegung entwickelte jedoch unter dem Einfluss des immer lauter werdenden faschistischen Diskurses einen ideologischen Heimatbegriff mit explizit völkischem Blut-und-Boden-Profil und deutlichen Sympathien für Nazideutschland. Das Aufkommen des Nationalsozialismus reaktiviert und verschärft also einen älteren Konflikt, der den politischen und kulturellen Zusammenhalt der mehrsprachigen Schweiz ernsthaft bedroht. Das Ergebnis dieser widersprüchlichen, zwischen Faszination und Abgrenzung gegenüber Deutschland schwankenden Haltung ist die offiziell im Dezember 1938 mit der bundesrätlichen Botschaft über die ›Aufgaben der schweizerischen Kulturwahrung und Kulturwerbung‹ beginnende Politik der sogenannten ›Geistigen Landesverteidigung‹. Sichtbarer Höhepunkt dieser neuen politischen Ausrichtung wird sodann die sich ein Jahr später anschließende Schweizerische Landesausstellung. Die Doktrin der Geistigen Landesverteidigung reagierte einerseits abwehrend auf vermeintlich ›Unschweizerisches‹, auf Urbanisierung und Modernisierung, interpretierte diese Phänomene aber nicht nur aus wertkonservativer Warte als Verlust, sondern analog dem völkisch reaktionären Ansatz des Nationalsozialismus als krankhaft schädliche Dekadenz bzw. ›Entartung‹. Gedacht als ideologische Abgrenzung von Nazi-Deutschland, schwimmt sie damit gleichwohl von Anfang an im Fahrwasser einer völkischen Auffassung von Heimat und Nation. Symptomatisch ist in diesem Zusammenhang eine Äußerung des schon erwähnten Zürcher Germanisten und Schriftstellers Robert Faesi anlässlich der Schweizerischen Landesausstellung von 1939: »Mit dem Schlagwort Blut und Boden braucht bei uns nicht geworben werden; solche Mächte sind uns die tatsächlichen und selbstverständlichen Grundlagen der Kultur, und der Asphalt ist trotz der Vergrößerung der Städte noch keine schwere Gefahr für sie.«35 Auch hier also wieder das bekannte Muster: Die Schweiz und ihre Berge als kulturelles Bollwerk gegen das städtische Proletariat bzw. gegen eine intellektuell urbane Kultur.
34 Ebd., S. 24. 35 Robert Faesi: Die Schweiz im Spiegel der Landesausstellung 1939, Bd.1, Zürich 1940, S. 420.
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V Der Literatur kommt in diesem Prozess nun die Aufgabe zu, dieses Narrativ diskursiv zu formulieren, ästhetisch zu gestalten und publizistisch zu verbreiten, was in einem mehrsprachigen Land mit heterogenen kulturellen Ausrichtungen allerdings nicht ohne Widersprüche und gravierende ideologische Stereotypisierungen möglich ist.36 Entsprechend lang ist die Liste von Schweizer Blut-undBoden-Dichtern. So lassen sich u.a. klare Bezüge zum deutschen Nationalsozialismus bei Jakob Schaffner, John Knittel, Julius Schmidhauser, Alfred Huggenberger, Otto Wirz, Emanuel Stickelberger37 und Heinrich Anacker nachweisen.38 Wie sich diese Ambivalenz, d.h. der Gegensatz zwischen den Ansprüchen eines modernen Industrielands und der simultanen Pflege einer alpin-bäuerlichen Tradition konkret inszeniert, zeigt die folgende Beschreibung der Topografie der Landesaustellung, die ich einer Studie von Ursula Amrein entnehme: »Mit dem Aufbau der Ausstellung an den beiden gegenüberliegenden Ufern des Zürichsees knüpfte die Landesausstellung an die bisherige Tradition an und suchte den Widerspruch gleichzeitig zu harmonisieren. Das [Schweizer-]Dörfli wurde zusammen mit der Landwirtschaftsausstellung auf der rechten, die eigentliche Industrie- und Gewerbeausstellung auf der linken Seeseite aufgebaut. Als Verbindung wurde eine Seilbahn über den See errichtet.«39 Der modernen industriellen Zivilisation musste offenbar ein ideologisches Gegengewicht gegenübergestellt werden. Da schien es nahe zu liegen, die alpine Berg- und Dörflikultur entsprechend ideologisch aufzurüsten, mit völkisch rassistischen Anklängen zu präsentieren und unter eugenische Vorzeichen zu stellen. In einem Begleitbuch zur Ausstellung, dem ›Goldenen Buch der Landesausstellung‹, heißt es entsprechend: »Wir
36 Vgl. hierzu Sabine Haupt: Vom Topos kultureller Selbstbehauptung zur Höflichkeitsformel. ›Schweizer Literatur‹ und ihre Diskursgeschichte, in: Nationale Literaturen heute – ein Fantom? Die Imagination und Tradition des Schweizerischen als Problem, hg. v. Corina Caduff u. Reto Sorg, Zürich 2004, S. 191–218. 37 Vgl. Albert M. Debrunner: Ein Basler Schriftsteller in schlechter Gesellschaft. Emmanuel Stickelberger und der Nationalsozialismus, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte = Revue suisse d’histoire = Rivista storica svizzera 64 (2014), S. 120– 139. 38 Einen ausgezeichneten Forschungsüberblick zum Thema Schweizer Literatur während des Nationalsozialismus bietet die Studie von Ursula Amrein: ›Los von Berlin!‹ Die Literatur- und Theaterpolitik der Schweiz und das ›Dritte Reich‹, Zürich 2004. 39 Ursula Amrein: Phantasma Moderne. Die literarische Schweiz 1880 bis 1950, Zürich 2007, S. 116.
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müssen für die Erbgesundheit des Volkes sorgen. […] Denn hierdurch führt die Straße einer konstruktiven Sozialpolitik, deren Ziel die möglichste Ausmerzung des Schwächlichen im Laufe der Zeit ist.«40 Beherrscht wird die Schweizer Literaturszene des frühen 20. Jahrhunderts von konservativ idyllischer Heimat- bzw. Alpenliteratur, wie sie Jakob Christoph Heer, Alfred Huggenberger, Jakob Schaffner, Heinrich Federer, Felix Moeschlin, Meinrad Lienert, Josef Maria Camenzind oder eben Ernst Zahn verfassen und überaus erfolgreich auch in Deutschland vermarkten. Die Verklärung der Alpenlandschaft und ihrer Kultur als ideale, naturwüchsige Alternative zur Dekadenz der Moderne spielt dabei besonders in der deutschen Schweiz eine zentrale Rolle. Im Gegensatz zur eher düsteren Alpenprosa des Waadtländers Ferdinand de Ramuz oder des Steirers Peter Rosegger erzählen Zahn, Heer und Federer Geschichten der Läuterung. In einem Aufsatz aus dem Jahr 1933 bringt der Berner Germanist und Mundartschriftsteller Otto von Greyerz diese Tendenz auf den ideologischen Punkt: »Es muß etwas Wahres sein um die läuternde Kraft der Berge. Dafür spricht der Grundzug der Alpenliteratur, der sich auch in Zeiten der Üppigkeit und Erschlaffung oder in solchen der Rat- und Haltlosigkeit, wie wir sie jetzt erleben, als gesund erwiesen hat. In der gesamten deutschen Literatur gibt es schwerlich ein Gebiet, das so wenige Verfallserscheinungen aufweist wie die Alpendichtung.«41 Eines der Lieblingsthemen dieser Literatur ist die Landflucht, genauer: die Kritik an den Verlockungen einer frühkapitalistischen Moderne, deren Auswirkungen um die Jahrhundertwende auch in den Alpendörfern nicht mehr zu übersehen sind. Dabei werden auch in der Schweiz die üblichen Stereotypien und Dichotomien der Heimatliteratur wie ›Stadt versus Land‹, ›Kultur versus Natur‹ bis weit über die ästhetische Schmerzgrenze hinaus bemüht. Selbst Eduard Korrodi, der als Feuilletonchef der ›Neuen Zürcher Zeitung‹ über Jahrzehnte die schweizerische Literaturszene prägte und nicht gerade bekannt ist für avantgardistische Positionen, kritisiert 1918 in einem Aufsatz mit dem Titel ›Gegen den Seldwylergeist‹ die Dominanz des Bauern- und Alpenromans. Der »Seldwyler Geist«
40 Zit. nach ebd., S. 118. 41 Von Greyerz (Anm. 7), S. 70. Von Greyerz bezieht dabei die Alpenliteratur der francophonen Romandie ausdrücklich mit ein. Es gab freilich auch andere Stimmen in der Schweiz: Ausdrücklich gegen die Mentalität des ›Reduit‹ richtete sich die kritisch engagierte Zeitschrift ›Du‹ und nahm damit den sogenannten ›Landi-Geist‹ von 1939 ins Visier: »Die Herrschaft der ichbezogenen Weltanschauung hat ganze Völker in ihr Ich zerbröckeln lassen.« Karl Hackhofer: ›Unser Schicksal ›Du‹‹, in: Du. Kulturelle Monatsschrift 1941/5, S. 55.
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verkleinere die Schweiz mit penetranter »Gemütlichkeit«,42 so der Tenor seiner Kritik: »Uns stimmt es nachdenklich, dass der Bauer, für den die Grenzen der Welt mit der Grenze seines Ackers […] zusammenfallen, die einzige repräsentative Figur unserer Schweizerdichtung sein soll.«43 Der Basler Germanist Martin Stern spricht in diesem Zusammenhang von einem sich nach dem Ersten Weltkrieg noch verstärkenden »Modernismus-Schock«.44 Ausnahmen sind in diesem Umfeld Autoren wie Carl Spitteler, Paul Ilg, Felix Moeschlin, Carl Albert Loosli oder Robert Walser. Liest man Ernst Zahns Nibelungen-Adaption unter den Vorzeichen der Geistigen Landesverteidigung, wird klar, warum Zahn sein Bekenntnis zu Deutschland allegorisch verkleidete. Explizite politische Statements wie 1914 oder 1915 hätten ihn höchstwahrscheinlich abermals seine kulturpolitischen Ämter gekostet, obwohl er auch in der Schweiz mächtige Unterstützer hatte. So kommt der österreichische Germanist Josef Nadler, der vor seiner Rückkehr nach Österreich und dem Eintritt in die NSDAP auch ein paar Jahre den Fribourger Lehrstuhl für Germanistik bekleidete, in seiner völkisch ausgerichteten ›Literaturgeschichte der deutschen Schweiz‹ von 1932 zu einer anderen Einschätzung als Korrodi. Er attestiert Ernst Zahn bei aller Beschränktheit des »Erzählstoffs« auf »die Lebensgemeinschaft zwischen Berg und Mensch« eine »rastlos arbeitende Erfindungskraft«. Seine männlichen Protagonisten seien »Schicksalsbezwinger, seine Frauen rettende Helferinnen«.45 Ernst Zahn war zu keinem Zeitpunkt Mitglied der NSDAP. Doch als Verwaltungsratspräsident des Zürcher Stadttheaters und Präsident des Bühnenverbands sorgte er im Herbst 1933, gemeinsam mit dem deutschen Generalkonsulat, dafür, dass das antifaschistische Theaterstück ›Die Rassen‹ des österreichischen Autors Ferdinand Bruckner nicht in den Spielplan des Zürcher Schauspielhauses aufgenommen wurde.46 Aus diesen und anderen Gründen stand sein Name dann im Sommer 1945 auf einer Liste des Schweizer Schriftstellervereins, in der Autoren aufgeführt wurden, die wegen ihrer Nähe zum Nationalsozialismus überprüft
42 Eduard Korrodi: Gegen den Seldwylergeist, in: Wissen und Leben 21 (1918/19), S. 4–8, hier S. 5. 43 Ebd., S. 6. 44 Stern (Anm. 28), S. 53. 45 Josef Nadler: Literaturgeschichte der deutschen Schweiz, Leipzig 1932, S. 426. 46 Vgl. Amrein (Anm. 38), S. 410f. u. 487f.
Brünhild, Faustina, Helvetia | 149
werden sollten.47 Da Zahn jedoch seine kulturpolitischen Verdienste für den Verband geltend machen konnte, kam es zu keinem Ausschluss. Charakteristisch für diese Haltung der offiziellen Schweizer Kulturpolitik ist eine Karikatur von 1945. Die Illustration stammt aus dem traditionsreichen Schweizer Satireblatt ›Nebelspalter‹ und zeigt einen kindlichen Wilhelm Tell, der wohl ein bisschen Siegfried spielen wollte und dafür kurz nach Ende des Krieges von Mutter Helvetia gehörig gescholten wird. Am Schluss ihrer Tirade aber heißt es versöhnlich: »Henu – so chum ine und schäm dich.«48
Abb. 2: Karikatur, ›Nebelspalter‹, 1945.
47 Vgl. ebd., S. 540f. Schweizer Schriftsteller hatten im Nationalsozialismus durchaus einen gewissen Spielraum. So gelang es dem Schweizerischen SchriftstellerVerband, für seine deutschsprachigen Mitglieder eine Sonderregelung bei der Reichsschrifttumskammer zu erwirken: Wer Mitglied des Schweizerischen Verbands war, war nicht verpflichtet, dem Reichsverband deutscher Schriftsteller beizutreten, auch wenn er – wie Ernst Zahn – deutsche Verleger hatte und das Gros seiner Bücher in Deutschland vertrieb. Vgl. ebd., S. 66f. 48 Schriftdeutsche Übersetzung: »Nun ja, so komm’ rein und schäm dich.« Illustration aus Walter Wolf: Faschismus in der Schweiz. Die Geschichte der Frontenbewegungen in der deutschen Schweiz 1930–1945, Zürich 1969, S. 483.
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Es gab zwar zahlreiche, auch wissenschaftliche Vorläufer, doch offiziell aufgearbeitet wurden diese Zusammenhänge erst zum Ende der 1990er Jahre, im Vorfeld oder in direktem Zusammenhang mit den Untersuchungen der ›Unabhängigen Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg‹ (UEK), geleitet von dem Lausanner Historiker Jean-François Bergier. Mutter Helvetia hat also erst vor 20 Jahren ihr Kopftuch abgelegt, um wenigstens gelegentlich einen Richterhut zu tragen und gewisse Verantwortlichkeiten zu benennen.
›Nibelungenlied‹ und Heldensagen Die Popularisierung des Germanischen durch Germanisten zu Beginn des 20. Jahrhunderts Heike Sahm
I
›Nibelungenlied‹ und Heldensage im 19. Jahrhundert
Die politische Instrumentalisierung des ›Nibelungenlieds‹ im 19. und 20. Jahrhundert ist intensiv diskutiert worden,1 gerade auch in Hinblick auf die Ausschnitthaftigkeit der Lektüre: Um die vermeintlich nibelungische Botschaft aus dem Text abzuleiten, dass Helden bereitwillig in den Tod gingen, wenn die Ehre dies erfordere, musste die Deutung des mittelhochdeutschen Textes ideologisch
1
Die Nibelungen. Ein deutscher Wahn, ein deutscher Alptraum. Studien und Dokumente zur Rezeption des Nibelungenstoffs im 19. und 20. Jahrhundert, hg. v. Joachim Heinzle u. Anneliese Waldschmidt, Frankfurt a.M. 1991; John Evert Härd: Das Nibelungenepos. Wertung und Wirkung von der Romantik bis zur Gegenwart. Aus dem Schwedischen von Christine Palm, Tübingen u. Basel 1996; Klaus von See: Das ›Nibelungenlied‹ – ein Nationalepos?, in: Die Nibelungen. Sage ‒ Epos ‒ Mythos, hg. v. Joachim Heinzle [u.a.], Wiesbaden 2003, S. 309–343; Uwe Puschner: Germanenideologie und völkische Weltanschauung, in: Zur Geschichte der Gleichung ›germanisch – deutsch‹. Sprache und Namen, Geschichte und Institutionen, hg. v. Heinrich Beck [u.a.], Berlin 2004 (RGA.E 34), S. 103–129; Ein Lied von gestern? Zur Rezeptionsgeschichte des ›Nibelungenliedes‹. Dokumentation des 1. wissenschaftlichen Symposions, veranstaltet von der Nibelungenliedgesellschaft Worms e.V. und der Stadt Worms am 5. und 6. Oktober 1998, hg. v. Gerold Bönnen u. Volker Gallé, 2. Aufl. Worms 2009.
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verkürzt und verfälscht werden.2 Wie dieses Programm durch die Integration in die schulische Bildung popularisiert wurde, hat die Forschung wiederholt aufgezeigt.3 Als Nationalepos avancierte das ›Nibelungenlied‹ zum zentralen, aber nicht zum einzigen Bezugspunkt der Nibelungen-Ideologie. Auch andere Texte der Heldendichtung wurden vergleichbar unterkomplex gedeutet und in ein Programm ›germanischer Ethik‹ eingebunden. Dies erfolgte in erster Linie über Nacherzählungen in Sammlungen, deren Beitrag auch für die Popularisierung des ›Nibelungenliedes‹ Bernhard R. Martin nachgewiesen hat.4 Obwohl das ›Nibelungenlied‹ im 19. Jahrhundert in mehreren Ausgaben und zahlreichen Über-
2
Vgl. Joachim Heinzle: Einleitung: Der deutscheste aller deutschen Stoffe, in: Heinzle/Waldschmidt (Anm. 1), S. 7–18, hier S. 10; Helmut Brackert: ›Nibelungenlied‹ und Nationalgedanke. Zur Geschichte einer deutschen Ideologie, in: Mediaevalia litteraria (FS Helmut de Boor), hg. v. Ursula Hennig u. Herbert Kolb, München 1971, S. 343–364; Robert Schöller: Gegen Hitler! Gegen Siegfried! Anti-Nibelungisches in der österreichischen Literatur der 1930er-Jahre, in: Mittelalterbilder in der deutschsprachigen Literatur des langen 20. Jahrhunderts. Rezeption – Transfer – Transformation, hg. v. Michael Dallapiazza u. Silvia Ruzzenenti, Würzburg 2018, S. 41–60, hier S. 41–46.
3
Werner Wunderlich: »Ein Hauptbuch bey der Erziehung der deutschen Jugend…« Zur pädagogischen Indienstnahme des ›Nibelungenliedes‹ für Schule und Unterricht im 19. und 20. Jahrhundert, in: Heinzle/Waldschmidt (Anm. 1), S. 119–150; erneut als: Nibelungenpädagogik, in: Die Nibelungen. Sage ‒ Epos ‒ Mythos, hg. v. Joachim Heinzle [u.a.], Wiesbaden 2003, S. 345–373; vgl. auch Otfrid Ehrismann: Das ›Nibelungenlied‹ in Deutschland. Studien zur Rezeption des ›Nibelungenliedes‹ von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg, München 1975 (Münchner germanistische Beiträge 14), S. 213–241; Francis G. Gentry: Die Rezeption des ›Nibelungenliedes‹ in der Weimarer Republik, in: Das Weiterleben des Mittelalters in der deutschen Literatur, hg. v. James F. Poag u. Gerhild Scholz-Williams, Königstein i.Ts. 1983, S. 142–156.
4
Bernhard R. Martin: Die Nibelungen im Spiegelkabinett des deutschen Selbstbewusstseins. Studie zur literarischen Rezeption des ›Nibelungenliedes‹ in der Jugendund Unterhaltungsliteratur von 1819–2002, München 2004; vgl. auch Siegrid Schmidt: Die Nibelungen in der Jugend- und Unterhaltungsliteratur zwischen 1945 und 1980. Bearbeitungstendenzen, gezeigt an ausgewählten Beispielen, in: Mittelalter-Rezeption. Ein Symposion, hg. v. Peter Wapnewski, Stuttgart 1986 (Germanistische Symposien. Berichtsbd. 6), S. 327–345.
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setzungen kursierte,5 verdankt der Stoff seine Verbreitung über akademisch interessierte Kreise hinaus nach der Mitte des 19. Jahrhunderts in erster Linie seiner Aufnahme in Anthologien, in denen Stoffe der Heldendichtung nacherzählt und als deutsche bzw. germanische Heldensagen massenhaft auf den Markt gebracht wurden. Die (ungeschriebene) Geschichte dieser Anthologien lässt sich über das gesamte 19. Jahrhundert und darüber hinaus verfolgen: Auch hier hatten – wie bei einzeln gedruckten Übersetzungen und Ausgaben – Friedrich Heinrich von der Hagen und Karl Simrock mit ihren ›Heldenbüchern‹ bzw. ›-bildern‹ Vorarbeit geleistet,6 in denen sie Übersetzungen und Nacherzählungen mittelalterlicher Texte zusammenstellten. Diese sehr umfangreichen und mehrbändigen Werke wurden nach einzelnen Vorläufern ab den 40/50er-Jahren allmählich flankiert von kompakteren Sammlungen der ›deutschen Heldensagen‹, die sich in der Folge zum meistverbreiteten Format entwickelten. Ein recht frühes Beispiel ist der Band von Albert Richter im Jahr 1868.7 Richter erzählt das ›Nibelungenlied‹, die Walthersage, den ›hörnenen Seyfried‹ und die ›Kudrun‹ nach und schließt jeweils einen erläuternden Kommentar an. Die Textauswahl wird mit deren nationaler Relevanz begründet, der Stellenwert der Gattung unter Bezug auf Franz Pfeiffer, den Richter ohne Nachweis zitiert:
5
Vgl. die Dokumentation von Siegfried Grosse u. Ursula Rautenberg: Die Rezeption mittelalterlicher deutscher Dichtung. Eine Bibliographie ihrer Übersetzungen und Bearbeitungen seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, Tübingen 1989, S. 166–192. Angaben zu von der Hagens Übersetzung aus dem Jahr 1807 ebd. auf S. 167; die Angaben zu Auflagen, Nachdrucken und Neuausgaben der Übersetzung von Karl Simrock ebd. auf S. 168–173. Demnach ist das ›Nibelungenlied‹ im 19. Jahrhundert rund 30mal übersetzt worden.
6
Vgl. Der Helden Buch in der Ursprache, 1. Theil: Gudrun, Biterolf und Dietleib, Der große Rosengarten, Kaspars von der Roen Heldenbuch: Otnit, Wolfdietrich, hg. v. Friedrich Heinrich von der Hagen u. Anton Primisser, Berlin 1820; als Beispiel für Simrocks Heldenbücher: Karl Simrock: Das kleine Heldenbuch: Walther und Hildegunde, Alphart, Der hörnene Siegfried, Der Rosengarten, Das Hildebrandslied, Ortnit, Hugdietrich u. Wolfdietrich, Stuttgart u. Augsburg 1857 (Das Heldenbuch 3); vgl. auch die Nummern 3132, 3137 u. 3138 bei Grosse/Rautenberg (Anm. 5).
7
Albert Richter: Deutsche Heldensagen des Mittelalters. Erzählt und mit Erläuterungen versehen. Bd. 1 und 2, Leipzig 1868. Nach Martin (Anm. 4), S. 29, Anm. 33, erschienen von Richters Band bis 1890 fünf Auflagen, bevor er 1932 dann noch einmal neu aufgelegt wurde.
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Ein anderer bedeutender Kenner des deutschen Alterthums, Fr. Pfeiffer, fällt speciell über den Werth der Heldensagen das Urtheil: ›Diesen uralten Sagenstoffen, in denen einst unser Volk seine historischen Erinnerungen einer großen Vorzeit, seine sittlichen und religiösen Anschauungen, sein ganzes Sein und Denken niederlegte und zum poetischen Ausdruck brachte, wohnt so viel Frische und Ursprünglichkeit, so viel Tüchtigkeit und unverwüstliche Kraft inne, daß sie, von den Entstellungen späterer Zeit gereinigt und in einer dem Geschmacke der Gegenwart entsprechenden Form erneuert, auf diese gewiß ebensoviel Reiz und Zauber ausüben würden, als sie es durch Jahrhunderte auf unsere Vorfahren getan haben. Denn was in diesen Sagen lebt und pulsiert, ist Fleisch von unserem Fleische und Blut von unserem Blute: es ist der germanische Volksgeist, der darin webt und waltet.‹8
Auf einer jugendlichen Kulturstufe der Nation entstanden, sollen die Texte als »herrliche[] Spiegelbilder deutscher Kraft und deutscher Treue« (S. III) zu einer »auch für die Gegenwart nutzenbringenderen Auffassung der deutschen Vorzeit« (S. VI) vor allem unter jugendlichen Lesern und Leserinnen beitragen.9 Als kulturelles Erbe, als »kostbarstes Vermächtnis deutscher Vorzeit« solle die Heldensage »Hochachtung vor der deutschen Vergangenheit und Begeisterung für deutschen Ruhm und deutsche Größe« befördern.10 Diese didaktische Funktion unterstützt Richter durch ein Auswahlprinzip, mit dem er »die Sage in ihrer Reinheit« herzustellen versucht, also alles auslässt, was er als spätere Zutat des christlichen Mittelalters ausmacht.11
8
Richter (Anm. 7), Bd. 1, S. IV.
9
Ebd., S. III: »Die deutschen Heldensagen, jene herrlichen Spiegelbilder deutscher Kraft und deutscher Treue, sollen hier dem Volke und insbesondere der Jugend unserer Zeit wiedererzählt werden.«
10 Ebd., S. 22: Das deutsche Volk habe erkannt, dass »in der deutschen Heldensage das kostbarste Vermächtniß deutscher Vorzeit uns hinterlassen ist, ein Vermächtniß, das werth ist, daß man sich liebevoll darein versenke und aus ihm schöpfe: Hochachtung vor der deutschen Vergangenheit, Begeisterung für deutschen Ruhm und deutsche Größe.« 11 Ebd., S. IV: »Wo dagegen die dem Erzähler vorliegenden Gedichte als Erzeugnisse späterer Zeiten mit manchem Ungehörigen geschmückt – nach der Meinung unserer Zeit freilich verunziert – waren, da hat es der Erzähler seine Aufgabe sein lassen, so viel als möglich die Sage in ihrer Reinheit herzustellen, unnöthige Wiederholungen, langweilige Beschreibungen – z. B. von Waffen und Rüstungen, denen das Mittelalter allerdings ein ganz anderes Interesse entgegen brachte, als unsere Zeit – zu unter-
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Schon in Richters immer noch verhältnismäßig früher Sammlung von deutschen Heldensagen sind die Texte in ein Programm integriert, wie es die entstehende Germanistik in den ersten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts unter ganz anderen politischen Vorzeichen entworfen hatte.12 Mit der Entstehung des Kaiserreichs werden Anthologien wie die von Richter zu Bestsellern, die vielfach nachgedruckt und nachgeahmt werden und jugendliches und/oder erwachsenes Publikum adressieren.13 In Vorreden, Einleitungen und Nachworten zu den Sammlungen wird stereotyp wiederholt: Die germanische Heldensage sei ein na-
drücken.« Vgl. ebd., S. 9: »Das bleibt sicher, daß das deutsche Volk die Gestalten seiner heidnischen Götter nicht so bald vergaß und wie sich dieselben, wenn auch unter anderen Namen, in Volksbrauch und Volkssitte festgesetzt und oft bis auf unsere Zeit erhalten haben, so mögen sie wohl auch in die Heldensage eingedrungen sein.« Vgl. auch ebd., S. 21: »Da müssen wir leider sagen, daß sie im Laufe der Zeit immer mehr und mehr sowohl an ihrer Reinheit, als auch an der Theilnahme des Volkes eingebüßt hat.« 12 Vgl. Brackert (Anm. 2), S. 344. 13 Vgl. z.T. die Unter- und Reihentitel der Ausgaben (Angaben der Auflagenzahlen nach Martin (Anm. 4)): Gotthold Ludwig Klee: Die deutschen Heldensagen für Jung und Alt wiedererzählt, Gütersloh 1883, 22 Auflagen zwischen 1883 und 1942; Walhall: Germanische Götter- und Heldensagen. Für Jung und Alt am deutschen Herd erzählt von Felix Dahn u. Therese Dahn, Kreuznach 1884; Adolf Lange: Deutsche Götter- und Heldensagen. Für Haus und Schule nach den besten Quellen dargestellt, Leipzig 1887, 2. Aufl. 1903; Gustav Schalk: Deutsche Heldensage. Für Jugend und Volk erzählt, Düsseldorf 1891, 30 Auflagen bis 1964; Hermine Möbius: Deutsche Götter- und Heldensagen. Für die Jugend erzählt, Dresden u. Leipzig 1897, elf Auflagen bis 1929; Max Gorges: Deutsche Heldensage nebst Einleitung und Erläuterungen, Paderborn 1902, mind. drei Auflagen; Walter Heichen: Deutsche Heldensagen. Nach den Übersetzungen Simrocks für die Jugend bearbeitet, Berlin 1910, vier Auflagen bis 1942; Friedrich von der Leyen: Die deutschen Heldensagen, München 1912, 2. Aufl. 1923; Friedrich Wolters u. Carl Petersen: Die Heldensagen der germanischen Frühzeit, Breslau 1921, sechs Auflagen bis 1942 und eine Feldpostausgabe in zwei Bänden; Hans von Wolzogen: Urväterhort. Germanische Götter- und Heldensagen, Berlin 1922, drei Auflagen bis 1929; Hans W. Fischer: Götter und Helden. Germanisch-deutscher Sagenschatz aus einem Jahrtausend, Berlin 1934; Gerhard Krügel: Helden streiten, Götter ringen. Deutsche Götter- und Heldensagen, Frankfurt a.M. 1937, acht Auflagen bis 1943; Hans Friedrich Blunck: Deutsche Heldensagen, Berlin 1938, bis 1954 zwei Teilwiederabdrucke und zwei Neuausgaben, die Neuausgabe von 1954 erlebte dann bis 1975 zehn Auflagen.
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tionales Kulturgut von hohem Rang, deren Ethik den Deutschen als Nachfahren der Germanen besondere Möglichkeiten der Identifikation eröffne.14 Für die Nacherzählungen bedeutet dies, dass sie – gegen die Zusicherungen in Vor- oder Nachwort – im Regelfall gerade nicht nahe an den überlieferten Textzeugen bleiben. Denn die Texte der sog. germanischen Heldendichtung sind erst ab dem 9. Jahrhundert überliefert und jeweils in Kloster- oder Gelehrtenkontext niedergeschrieben, im Fall von ›Nibelungenlied‹ oder ›Kudrun‹ obendrein an den höfischen Literaturbetrieb angepasst. Da die schriftliche Überlieferung also mitnichten bietet, was man als ursprünglich ansetzt, nämlich einen heidnischen und archaischen Kontext, wird in den Nacherzählungen ausgelassen, was man als spätere Zutat versteht, und forciert, was mit den eigenen Erwartungen an das germanische Altertum zur Deckung kommt. Ein Beispiel hierfür ist die unbedingte Hingabe an einen Schicksalsglauben. Die so konstruierte Heldensage solle jene Normen vermitteln, die die Nation immer noch im Innersten zusammenhielten, nämlich Treue und Gefolgschaft.15 Diese zu reaktivieren, soll Orientierung in der Gegenwart bieten.16 Auch wenn weiterhin Anthologien mit breiterer Stoffgrund-
14 Vgl. Werner Wunderlich u. Andreas Härter: Nibelungenhelden? Zur Vorbildwirkung von Heldensagen auf jugendliche Leser, in: Waz sider da geschach. DeutschAmerikanische Studien zum Nibelungenlied. Werk und Rezeption, hg. v. Werner Wunderlich u. Ulrich Müller, Göppingen 1992 (GAG 564), S. 231–247, hier S. 233. 15 So wird schon bei Richter (Anm. 7), S. 10f., die besondere Relevanz der Gefolgschaft hervorgehoben: »Eine andere als die aus der Blutsverwandtschaft entspringende Form der Genossenschaft war die der Gefolgschaft. »Abkömmlinge der edelsten Geschlechter umgaben sich, nach Tacitus, mit einer Schaar erlesener Jünglinge, denen sie Nahrung, Roß und Waffen reichten und deren Unterhalt sie, wenn die Anzahl groß und daheim langer Friede war, nur dadurch aufzutreiben vermochten, daß sie dieselben auswärts auf Krieg und Beute führten. Ein solches Gefolge hatte seine Abstufungen; alle wetteiferten, wer dem Führer am nächsten stehe, er selbst rang mit ihnen um den Preis der Tapferkeit. Des Führers Ruhme auch ihre Thaten beizuzählen, ihn zu schützen und zu schirmen, war ihre heiligste Pflicht; ehrlos für immer war, wer seinen Führer überlebend aus der Schlacht gekehrt war [ohne Nachweis]. In den Heereszügen, die während der Völkerwanderung Jahrhunderte lang Völker von einem Ende Europa’s zum andern drängten, entwickelte sich aus diesen Gefolgschaften nach einer Seite hin die Königsgewalt des Führers, nach der andern die Dienstmannschaft des Gefolges. […] Der Inbegriff aber aller dieser Bindemittel war die Treue.« 16 Vgl. zur konservativen Aktivierung vermeintlich vergessener Tugenden in der Weimarer Republik Gentry (Anm. 3), S. 149 u. 154.
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lage erscheinen,17 ist zum Ende des 19. Jahrhunderts die Tendenz hin zu einer Begrenzung auf den als germanisch verstandenen Stoffkreis unverkennbar, der um die altnordischen Zeugnisse ergänzt wird und deshalb neben den Helden oftmals auch die Götter integriert.18 An der Popularisierung dieses konservativen Programms sind in erster Linie studierte Germanisten, also Lehrer, Schriftsteller und andere Akademiker beteiligt.19 Doch der Eindruck, Impulse aus der Frühgeschichte der Germanistik hätten sich mit diesen Anthologien gewissermaßen verselbständigt, täuscht, denn
17 Auch Friedrich Heinrich von der Hagen brachte eine solche, Helden verschiedener Stoffkreise integrierende Sammlung von Nacherzählungen heraus: Heldenbilder aus den Sagenkreisen Karls des Großen, Arthurs, der Tafelrunde und des Grals, Attilas, der Amelungen und Nibelungen. Zwei Abtheilungen in drei Bänden, hg. v. dems., Breslau u. Leipzig 1819 u. 1823 (vgl. bei Grosse/Rautenberg (Anm. 5) die Nummern 3128–3131); vgl. auch Wilhelm Wägner: Unsere Vorzeit. Deutsche Heldensagen. Erzählt für Jugend und Volk. 1. Sagenkreis der Amelungen, 2. Sagenkreis der Nibelungen, Gudrun, Beowulf, 3. Karolingischer Sagenkreis, König Artus und der heilige Graal, Tristan und Isolde, Tannhäuser, Leipzig u. Berlin 1878 (Neue Jugend- und Hausbibliothek. 4. Serie, N.F. 6); vgl. zu Auflagen und Teilausgaben die Angaben bei Grosse/Rautenberg (Anm. 5), Nr. 3143; nach Martin (Anm. 4), S. 51, wurde der Band zwischen 1878 und 1984 mindestens zwölfmal aufgelegt; Johannes Michael Söltl: Das ›Nibelungenlied‹, Rostem und Suhrab, Gudrun. Für Jung und Alt bearbeitet, insbesondere den deutschen Jungfrauen und Frauen gewidmet, Leipzig 1873; Emil Engelmann: Mären und Sagen für das deutsche Haus, Bd. 1: Germania’s Sagenborn, Stuttgart 1889, drei Auflagen bis 1907, drei Auflagen von 1936–1942. Das Erscheinen der germanischen Heldensagen wird im Zuge der Bildungsreformen des 19. Jahrhunderts mit dem Ziel einer höheren Allgemeinbildung auch von Sagensammlungen anderer Stoffkreise weiterhin begleitet, z.B. von Nacherzählungen der arthurischen Rittersagen oder der griechischen Sagen. Eine umfassende Recherche ermöglicht: Aiga Klotz: Kinder- und Jugendliteratur in Deutschland 1840–1950. Gesamtverzeichnis der Veröffentlichungen in deutscher Sprache, Stuttgart [u.a.] 1990–2013. 18 Vgl. z.B. die in Anm. 13 angeführten Bände zu den germanischen Heldensagen. 19 Zum Beispiel Wilhelm Wägner (1800–1886), Lehrer und promovierter Germanist; Albert Richter (1838–1897), Lehrer; Hans von Wolzogen (1848–1938), Schriftsteller; Gotthold Ludwig Klee (1850–1916), Lehrer und promovierter Germanist; Max Gorges (1865–1961), Lehrer und promovierter Germanist; Walter Heichen (1876– 1970), Schriftsteller; Hans W. Fischer (1876–1945), Schriftsteller; Hans Friedrich Blunck (1888–1961), nach Martin (Anm. 4) von 1935–1945 Präsident der Reichsschrifttumskammer. Angaben nach der Deutschen Nationalbibliothek.
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einige Sammlungen deutscher oder germanischer Götter- und Heldensagen werden von Vertretern der universitären Forschung verantwortet.20 Diese unterscheiden sich weder in der Textauswahl, noch in den Darstellungsprinzipien, noch in der didaktischen Intention vom Gros der zwischen Kaiserreich, Weimarer Republik und Nationalsozialismus publizierten Sammlungen, wie im Folgenden gezeigt werden soll. II
Hochschullehrer als Multiplikatoren
Andreas Heusler (1865–1940), der in Berlin (bis 1919) als Professor für Nordische und Germanische Philologie und in Basel (1920–1936) als Professor für Germanische Philologie tätig war, ist einer der bedeutendsten Forscher der Germanischen Altertumskunde.21 Seine Arbeiten zur Formgeschichte der germanischsprachigen Literaturen liefern bis in die aktuellen Literaturgeschichten hinein eine wissenschaftliche Grundlage zur Diskussion der Geschichte von Stabreimvers, Lied und Saga. Heuslers Name ist daneben eng mit dem Versuch verknüpft, das ›Altgermanische‹ als Bezeichnung nicht für eine bestimmte Epoche, sondern für eine als charakteristisch angenommene Kultur zu etablieren. Dabei wird man feststellen, dass Heuslers Definition, die er selbst zum Kern seines
20 Als Vertreter seien hier genannt: Felix Dahn (1834–1912), war Professor für Rechtsgeschichte in Würzburg, Königsberg und Breslau; Wilhelm Ranisch (1856–1945), Skandinavist; Andreas Heusler (1865–1940), Professor für Nordische und Germanische Philologie in Berlin, Professor für Germanische Philologie in Basel; Friedrich (Gustav) von der Leyen (1873–1966), Germanist an der Universität zu Köln (1920– 1937); Friedrich Wolters (1876–1930), Professor für mittlere und neuere Geschichte in Kiel; Gustav Neckel (1878–1940), Professor für germanische Philologie in Berlin; Carl Petersen (1885–1942), Professor für mittlere und neuere Geschichte in Kiel und Greifswald; Edmund Mudrak (1894–1965), Professor für Volkskunde in Posen. 21 Vgl. Julia Zernack: [Art.] Heusler, Andreas, in: Internationales Germanistenlexikon 1800–1950, Bd. 2, hg. v. Christoph König, Berlin u. New York 2003, S. 738–741; vgl. auch Klaus von See: Mich hat der gelehrte Beruf nur mäßig beglückt. Andreas Heusler als Wissenschaftler und Zeitzeuge, in: Klaus von See: Ideologie und Philologie. Aufsätze zur Kultur- und Wissenschaftsgeschichte, Heidelberg 2006, S. 165– 204. Zu Heusler vgl. auch den Beitrag von Lukas Rösli in diesem Band. Zur Germanischen Altertumskunde vgl. Heinrich Beck: Germanische Altertumskunde, in: Germanen, Germania, germanische Altertumskunde, hg. v. dems., Berlin 1998, S. 240– 258 (Separatum aus: RGA, Bd. 11, 1998, S. 180–438, hier S. 420–438).
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wissenschaftlichen Interesses erklärte,22 in grundsätzlichen Fragen mit dem Begriff des Germanischen zur Deckung kommt, wie er bereits im Fach etabliert worden war: »Als altgermanisch im vollen Sinne wird man gelten lassen die Werke, die von Weltlichen stammen, außerkirchlichen Inhalt haben, keine römische Kunstart nachahmen, nicht aus Büchern schöpfen und für buchfreie Wiedergabe bestimmt sind.«23 Dass die Überlieferungslage für die Bestimmung dessen, was »wurzelhaft germanisch« sein soll, denkbar ungünstig ist, hat Heusler natürlich gesehen: In der erhaltenen Heldendichtung lägen nur »Splitter, Ausläufer, Absenker« (S. 1) bzw. ein »Fragment der Fragmente« (S. 5) des ursprünglich Vorhandenen vor, dies Wenige aber sei »das edelste geistige Erbe aus dem germanischen Altertum« (S. 151). Um aus den wenigen Quellen des frühen Mittelalters eine germanische Ethik ableiten zu können, erweitert Heusler das Corpus um deutlich später entstandene Zeugnisse. Denn Spuren der ›germanischen Gesittung‹ seien auch nach der Christianisierung, ja bis »tief in die getauften und staatsbürgerlichen Zeiten herein wirksam« geblieben (S. 243). Was ›Hildebrandslied‹ und Isländersagas demnach zu einer ›geistigen Einheit‹ (vgl. S. 11) verbinde, gehe zurück auf die vorstaatliche Gemeinschaftsform der Völkerwanderungszeit, in der sich die »Herrenethik« (S. 14) als jugendliche ›Stufe der Gesittung‹ ausgebildet habe.24 Deren Normen seien als »Mut, Stolz, Unbeugsamkeit, Treue zum eignen Ehrgefühl und zum Herrn, zum Waffenbruder« (S. 164) zu bestimmen. Auch wenn Heusler das Altgermanische durch eine breite, differenzierte und kritische Lektüre germanischsprachiger Texte abstützt, hebt sich der Begriff im Substrat weder in Hinblick auf die Ethik (Betonung von Treue und Gefolgschaft) noch in Hinblick auf die Privilegierung eines ursprünglich Heidnischen substantiell von jener Vorstellung des Germanischen ab, die sich in der wissenschaftlichen und akademischen Diskussion der Altertumskunde nach den Grimms ausgebildet hatte. Klaus von See betont die antiromantische Haltung, dass bei Heus-
22 Heinrich Beck: Andreas Heuslers Begriff des ›Altgermanischen‹, in: Germanenprobleme in heutiger Sicht, hg. v. Heinrich Beck, Berlin u. New York 1986 (RGA.E 1), S. 396–412, hier S. 398: Heusler hat demnach in seiner Antrittsrede vor der Preußischen Akademie der Wissenschaften im Jahr 1907 erklärt, »daß er seine Arbeit der Erforschung des Germanischen Altertums gewidmet habe. Dieser Altertumskunde gab er bereits damals einen Mittelpunkt, an dem er lebenslang festhielt: die Erforschung der germanischen Gesittung.« 23 Andreas Heusler: Altgermanische Dichtung, hier zitiert nach der 2. Aufl., Potsdam 1941 [zuerst 1923], hier S. VI; vgl. auch ebd., S. 8. 24 So Becks (Anm. 22) Zusammenfassung, S. 404.
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ler »nicht die volkstümlichen Gemüthswerte an erster Stelle stehen, sondern das Formbewusstsein.«25 Gleichwohl ›bewundert‹ Heusler zum Beispiel in der ›Altgermanischen Dichtung‹ die postulierte Gesinnung,26 und ein ästhetischer Standpunkt scheint dort weitgehend aufgegeben, wo Heusler seinen Gegenstand für ein nichtwissenschaftliches Publikum aufbereitet. Nachdem er zu der von Emil Doepler und Wilhelm Ranisch herausgegebenen Sammlung von germanischen Göttersagen (›Walhall‹) ein Vorwort beigesteuert hatte,27 gibt Heusler 1904 unter dem Titel ›Urväterhort‹ eine Sammlung germanischer Heldensagen heraus, ergänzt durch Illustrationen von Max Koch. Der Band deckt ein breites Spektrum ab, indem er über die Klassiker wie ›Nibelungenlied‹, Wielandsage, Dietrich- und Walthersage hinaus auch Stoffe aus der Geschichtsschreibung und den Sagas integriert. Heusler bietet dabei die Erklärung verschiedener Fassungen des jeweiligen Stoffs, ergänzt mitunter Inhalte auf der Grundlage eigener Annahmen28 und deutet die Erzählungen kommentierend aus.29 Im Vorwort beruft sich
25 Vgl. von See (Anm. 21), S. 173. 26 Vgl. Heusler (Anm. 23), S. 164: »Was man an ihnen [den Helden des Heldenlieds] bewundert, ist die Gesinnung: Mut, Stolz, Unbeugsamkeit, Treue zum eigenen Ehrgefühl und zum Herrn, zum Waffenbruder.« 27 Emil Doepler u. Wilhelm Ranisch: Walhall. Die Götterwelt der Germanen, Berlin 1900. 28 Andreas Heusler: Urväterhort. Die Heldensagen der Germanen, Berlin 1904. Zum Beispiel wird das ›Hildebrandslied‹ um eine Motivation für die Tötung des Sohns ergänzt: Als Hadubrand während des Kampfes von Hildebrand getroffen wird, reicht er dem Vater sein Schwert, um sich zu ergeben; als Hildebrand danach greift, versucht der Sohn, den Vater zu töten. Um dem Sohn ein Weiterleben mit dieser Schande zu ersparen, tötet Hildebrand sein einziges Kind. Die Lehre liefert Heusler mit: »Den tragischen Kampf von Vater und Sohn kennen wir auch bei Persern, Russen und Iren. Das Eigne an seiner germanischen Form ist, daß der Alte den Jungen schon anfangs erkennt und dennoch gegen ihn kämpfen muß, um nicht ein Feigling zu heißen: die Vaterliebe beugt sich dem eisernen Ehrengebot. Und später, da sich alles zum guten zu wenden scheint, zwingt das Ehrgebot den Vater zum tötenden Streiche.« (ebd., S. 43). 29 So schafft Heusler zwischen den einzelnen Erzählungen Überleitungen und deutet die Erzählungen aus, zum Beispiel wird die Offa-Sage zur ›vaterländischen Heldensage‹ erklärt. Obwohl Heusler den Text frei nach der dänischen Geschichtsschreibung des hohen Mittelalters erzählt, gibt er auch ein ästhetisches Urteil ab: »Über dem Ganzen liegt, bei der Fülle dichterischer Züge, ein Ton volkstümlicher Einfachheit.« (ebd., S. 25).
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Heusler auf die Kontinuität von Germanen und Deutschen: »Unsere Vorfahren, die alten Deutschen, und ihre germanischen Stammesverwandten haben seit Urzeiten neben den Göttern auch irdische Helden besungen. […] Die Heldensage war Hauptunterhaltungsstoff unseres Altertums« (S. 3). Die Völkerwanderungszeit – also eine Zeit, aus der allenfalls sekundäre Zeugnisse erhalten sind – ist für Heusler die Zeit des ›schöpferischen Hochstandes‹ (vgl. S. 6), ja die Sagen lieferten »ein erhöhtes Abbild der altgermanischen Welt mit ihren Leidenschaften« (S. 5), »die Gesinnung unserer Heldensage« sei »urheidnisch« (S. 6): Denn, so Heusler weiter, die heroischen Stoffe hätten sich zu einer Zeit geformt, als die »Germanen, wenn nicht dem Namen nach so doch inwendig, noch Heiden waren« (S. 6). Stärker als in seiner Forschung hebt Heusler im Vorwort auf die vermeintlich nibelungische Perspektive aller Heldendichtung ab: Das Entscheidende ist die Heldengesinnung. Unsere Heroensage ist eine große Verherrlichung der altgermanischen Ehre. Diese heidnische Ehre befiehlt dem Manne, sich nichts bieten zu lassen, kein Recht preiszugeben, seinen Ruhm unvermindert ins Grab zu nehmen; in unbeugsamem Trotze in den Tod zu gehen, ein Lachen auf den Lippen; sie macht ihm zur obersten Pflicht die Rache für die eigene Kränkung und für den Tod des Angehörigen; sie gebietet dem Gefolgsmanne, mit freudigem Stolze für den Herrn zu sterben. Die heilige Pflicht des Hasses und der Rache ist die Seele der alten Heldensage. […] Ihre Größe bekommt diese Welt dadurch, daß um Geringeres als das Leben nicht gespielt wird. Die Todeswilligkeit des Helden geht wie ein feierlicher Orgelton durch die Handlung hin. (S. 5)
Dass die Erläuterungen zur germanischen Ethik im Vorwort der Anthologie mit seinen Forschungen zur ›Altgermanischen Dichtung‹ in den Grundzügen zur Deckung kommen, ist nicht überraschend, nur sind sie hier auf die Todesbereitschaft zugespitzt, ja tritt aufgrund der gewählten Darstellungsprinzipien der ›altgermanische Geist‹ wunschgemäß deutlicher hervor.30 Diese ideologische Prä-
30 Ebd., S. 7f.: »Zu dem Unterschiede der dichterischen Form kommt der der Sitte: die alte Heldenzeit auf der einen, das halbchristliche Rittertum auf der anderen Seite. Auch hier wäre es nicht möglich, alles Jüngere zu tilgen und das alt-reckenhafte Gewand durchzuführen. Aber da ohnedies gekürzt werden muß, strebt der Nacherzähler, auf Kosten des Ritterlichen, Höfischen, Minniglichen zu kürzen, damit das Heroische beherrschend hervortrete, der altgermanische Geist, der das Gerüste dieser Dichtungen trägt. So weicht wiederum die äußere Ungleichheit dem Gemeinsamen, und wir
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sentation der Quellen appelliert, so Heusler weiterhin im Vorwort, in erster Linie an die Nation: Urväterhort mögen diese Sagen mit Recht heißen: den Alten haben sie ihr Kriegerleben verklärt; dem Nachkommen sind sie das Vermächtnis, woraus ihm die Stimme der Vorzeit vernehmlich entspringt. (S. 5) Beim Durchwandern dieser Bilderreihe möge der Sagenfreund einen frischen Hauch aus der Heldenjugend unseres Volkes verspüren! (S. 8)
Eine historische Distanz zum Gegenstand, wie sie als Kennzeichen für Heuslers Forschung gilt, ist im Vorwort zu diesem Jugendbuch aufgehoben,31 wenn die nationale Verbindlichkeit der Texte betont und ihre Wirkung in der emotionalen Teilhabe erhofft wird. Dem Germanenbild Heuslers ist auch Gustav Neckel (1878–1940) verpflich32 tet, der bei Heusler promoviert hatte und nach Stationen in Breslau, Heidelberg, Berlin und Göttingen schließlich selbst in Berlin von 1937 bis 1940 als Professor für Germanische Philologie tätig war. Heusler distanzierte sich von Neckel, nachdem dieser sich der rassistisch-völkischen Ideologie angeschlossen hatte.33 Wie schon bei Heusler ist hier nicht der Raum, die Bandbreite des Fachwissenschaftlers vorzustellen, sondern es werden exemplarisch Passagen herangezogen, in denen sich Neckel zur Relevanz und Funktion der Heldensage äußert. In seiner 1934 erschienenen Abhandlung ›Altgermanische Kultur‹ bestimmt Neckel das Altgermanische als das Authentische, von ›fremden‹ Einflüssen nicht berührte Germanische: »Unter altgermanischer Kultur verstehen wir die Kultur der Germanen vor ihrer Bekehrung zum Christentum.«34 Den Stellenwert der Heldendichtung leitet Neckel unter anderem aus »der eigenen Originalität« und
empfinden alle diese Sagen als nahe Blutsverwandte, soweit sie nach Zeit, Ort und Stimmung ihrer Quellen auseinander liegen.« 31 Vgl. von See (Anm. 21), S. 173 u. S. 179f. 32 Julia Zernack: [Art.] Neckel, Gustav, in: König (Anm. 21), Bd. 2, S. 1311f.; vgl. auch dies.: »Wenn es sein muß, mit Härte…« Die Zwangsversetzung des Nordisten Gustav Neckel 1935 und die ›Germanenkunde im Kulturkampf‹, in: Klaus von See u. dies.: Germanistik und Politik in der Zeit des Nationalsozialismus. Zwei Fallstudien: Hermann Schneider und Gustav Neckel. Heidelberg 2004 (Frankfurter Beiträge zur Germanistik 42), S. 113–202. 33 Vgl. von See (Anm. 21), S. 173. 34 Gustav Neckel: Altgermanische Kultur, Leipzig 1934, S. 7.
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dem darin zum Ausdruck kommenden Heroismus ab:35 Auch wenn so wenig überliefert und dieses Wenige obendrein verfälscht sei, stelle die Dichtung »in gewissem Betracht ein Höchstes dar (sie enthält die grandiosesten und reinsten Verkörperungen des Heroismus und einen einzigartigen Reichtum wertvoller Farben tragischer Färbung), auch sie ist ein Ausdruck germanischer Sinnesart, und auch sie veranschaulicht die Altertümlichkeit der germanischen Kulturreste.« (S. 123f.) Wirkung entfalte das Heldenlied aufgrund einer Handlung, »die ernst und meist tragisch ist und mit der Wucht des Schicksals ans Herz greifen soll, vor allem im Sinne der Selbstbeherrschung« (S. 132f.). In den Grundzügen (Stellenwert der Heldensage als wichtiges kulturelles Erbe, heidnischer Ursprung, germanische Herrenmoral als zentrale Aussage) schließt Neckel in seiner Darstellung des Altgermanischen also an Heusler an. Wiederholt hat sich Neckel zu Möglichkeiten der didaktischen Aufbereitung der Heldensage geäußert, zum Beispiel in der Lehrer-Handreichung ›Germanische Sagen von Göttern und Helden‹ aus dem Jahr 1926.36 Darin beklagt er zunächst die Vernachlässigung des Themas als Bildungsstoff an Schulen und hofft auf einen Effekt seiner Darstellung über die Schuljahre hinaus.37 Als zentrale Botschaft wird wiederholt die Todesverachtung hervorgehoben.38 Neckel stellt zudem die Möglichkeit der nationalen Identifikation heraus, wenn er die ›wohltu-
35 Ebd., S. 122: »Und doch verdankt unsere mittelalterliche Literatur ihr Bestes den namenlosen germanischen Heldendichtern. Sie verdankt ihnen mehr – dem Range, nicht der Menge nach – als den Kirchenlateinern und den Trouvères und Troubadours und mindestens so viel wie der eigenen Originalität. Denn wer wird leugnen wollen, daß die Denkmäler der Heldensage, voran Nibelungen- und Gudrunepos, das Wertvollste sind, was das deutsche Mittelalter an Dichtung hinterlassen hat.« 36 Gustav Neckel: Germanische Sagen von Göttern und Helden, Frankfurt a.M. 1926. 37 Ebd. im Vorwort, S. 3: »So möge denn das Buch unsere Jugend durch die Schuljahre geleiten, und möge es in der Hand der rechten Lehrer Segen stiften über die Schuljahre hinaus! Der Lücke im Bildungsstoff der Schule entspricht eine Lücke in der Bildung der Nation.« 38 Zum Beispiel ebd., S. 17f.: »Ist doch bekannt, daß die alten Germanen den Tod verachteten und dies für Pflicht hielten […]. Und doch ist das Verderben, das den germanischen Helden trifft, nicht – wie ein in fremden Doktrinen Befangener meinen könnte – sinnlos. Den Sinn gibt ihm der Held selbst, indem er es zum Anlaß nimmt, sich zu bewähren, seine Heldenart zu zeigen. Ihr Beharren auf dem gefaßten Sinn, ihre Verachtung von Not und Tod, ihre bis zum letzten Augenblick stolz erhobenen Häupter sind das größte Vorbild von Tapferkeit und Seelenstärke, das unsere Heldensage kennt.«
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ende‹ Wirkung der Texte auf ›deutsche Herzen‹ betont.39 Der Band adressiert Lehrer, die diese Botschaft in die Schule vermitteln, doch hat Neckel auch Nacherzählungen aus dem Bereich der Heldendichtung für das breitere Publikum publiziert, in denen er ebenfalls die »vorherrschende Lebensstimmung des ganzen Volkes« im »Ideal der Selbstbehauptung um jeden Preis, der Tapferkeit bis in den Tod« verortet.40 Ebenso wie Heusler und Neckel zielt auch Edmund Mudrak (1894–1965) auf ein breiteres, nur durch den Rahmen der Nation eingegrenztes Publikum,41 und
39 Ebd., S. 6: »[…] das altgermanische Weltbild […] ist ein großartiges Ganzes voll Eigenart und Kraft ohnegleichen; die einzelnen Göttergeschichten – besonders die von Thor (Donar) – stehen an Gehalt und an Ergötzlichkeit hinter nichts Ausländischem zurück und sind dabei so urwüchsig germanisch, daß sie deutschen Herzen immerdar wohltun.« 40 Gustav Neckel: Germanisches Heldentum, Jena 1934, im Nachwort, S. 76f.: »Und ihre Heldendichtung liebte das Tragische. Man sang zwar auch von Siegfrieds Drachenkampf, aber diese Lieder wurden überstrahlt von denen, die Siegfrieds Tod behandelten. Im Leid und im Untergang zeigt sich erst die ganze Größe des germanischen Helden. Die Überlieferung aus heidnischer Zeit ist voll von Sterbeszenen, Kampfszenen, die mit Mannes- oder Männerfall enden. Daran ist nicht das kriegerische Leben an und für sich schuld, sondern das Bewußtsein, daß nur der ein ganzer Mann ist, der angesichts des Todes es beweist. Der Held wird gewissermaßen erst fertig im Augenblick, wo er fällt – das Gesicht den Feinden zugewendet, die arglistig oder mit großer Übermacht ihn überfielen, und ein stolzes Lächeln auf den Lippen, ein Sieger in der Niederlage. Von solchen Auftritten konnten unsere Vorfahren nicht genug bekommen. Wer trotzig war und so starb, daß kein Zweifel blieb an seiner inneren Ungebrochenheit, der stach in ihren Augen seinen Überwinder aus. Dies geht so weit, daß der begründete Verdacht besteht, man habe zuweilen Überwundene nur darum zu Helden der Erzählung oder Dichtung gewählt, weil sie überwunden waren, und ihnen den trotzigen Tod frei angedichtet. Aber offenbar handelt es sich nicht um einen Geschmack der Dichter, sondern um die vorherrschende Lebensstimmung des ganzen Volkes, bis Christentum und Städteleben die Werte umwerteten. […] Wir rühren hier an den innersten Nerv des alten Seelenlebens […]; alle diese Herrlichkeiten verblaßten vor dem Ideal der Selbstbehauptung um jeden Preis, der Tapferkeit bis in den Tod. Die Ehre stand höher als das Leben und alle seine Güter.« 41 Wegen der aufwendigen Illustrationen könnte man Heuslers ›Urväterhort‹ und den ›Walhalla‹-Band von Doepler u. Ranisch der illustrierten Jugendliteratur zurechnen; dagegen adressieren auch Wolters/Petersen (Anm. 13) mit ihren Heldensagen ein erwachsenes Publikum. Auch hier wird eine spezifisch germanische Ethik beschworen:
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auch er spricht nicht primär die Jugend an. Mudrak war zunächst im Kulturamt der Stadt Wien tätig, ehe er 1940 die Professur für Volkskunde an der neu gegründeten Universität Posen antreten konnte. Nach dem Krieg als Mitläufer eingestuft, war er fortan als Schullehrer tätig. In seinem 1939 publizierten Band ›Die deutsche Heldensage‹ gibt Mudrak einen Überblick über die einzelnen Stoffkreise der Heldendichtung, ihre Überlieferung, die Inhalte und stofflichen Grundlagen. Die Bedeutung der Heldensage macht Mudrak vor allem daran fest, dass sie ›genuin germanisch‹ sei.42 Auch für Mudrak ist das Erhaltene bereits
Die Nacherzählungen sollten das »ursprüngliche heldische Epos zur Erscheinung bringen, die innere Bewegung, das Maß von Kraft und Glut […], die jeweils in ihnen noch spürbar ist, sichtbar zu machen […]. Es ist der unbrechbare Wille, die rauhe, männliche, schicksalsbejahende Haltung in den Widerstreiten der Lebensverknüpfungen. Zwar sind die begehrten Güter der Erde, Macht und Gold, Land und Weib, ist das Glück des Lebens der höchste der Werte für den kriegerischen Helden, aber es wird zum wesenlosen Schatten, wo es mit dem heldischen Willen, mit dem Zwang der Ehre in Widerstreit gerät. In diesen Augenblick, da um Leben und Ehre gespielt wird, drängt sich die ganze Erscheinung des Helden, drängt sich der Sinn seines Daseins zusammen: hier genießt er sich, stellt er sein Wesen dar, indem er um das höchste Bild seines Menschtums das Leben hinwirft. […] Hier schlägt das eigenste Herzblut der Germanen, hier klopft noch heute unser eigener Puls; unsere fährlichste Klippe, wenn wir feig sind, unser stolzester Flug, wenn heldischer Sinn uns beseelt! Was die Norn spinnt, ist nicht die Willkür einer tückischen Macht, die den Menschen fängt, wohin immer er seine Bahn lenken mag, sondern nur der im äußern Lauf der Dinge sich verknüpfende Augenblick, den der Unheldische leicht durchspringt, den aber der Held, seinen unbrechbaren Willen bewährend, siegend und sterbend zu seiner Vollendung nützt.« (ebd., S. 7f.). 42 Edmund Mudrak: Die deutsche Heldensage, Berlin 1939 (Jahrbuch für historische Volkskunde 7), erklärt in der Einleitung (ebd., S. 1–9, hier S. 1): »[…] das eine scheint unbestreitbar, daß die deutsche Heldensage zu den wertvollsten Schöpfungen des eigenen Volkstumes gehört, daß sie Geist von seinem Geiste ist. Erwachsen ist sie aus den germanischen Wurzeln unseres Wesens, und sie tut auch wie kaum ein anderes Zeugnis der Vergangenheit kund, wie nahe sich die einzelnen germanischen Stämme untereinander verbunden fühlten, in wie regem geistigen Austausche sie standen, wie sehr sie auch über weite Räume hinweg aneinander Anteil nahmen. […] Die Schicksale der Heldensage auf deutschem Boden haben es gefügt, daß ihre Hauptdenkmäler in ihrer gesamten Gestaltung schon unter dem Einflusse aller der Kräfte stehen, die die Kultur des deutschen Mittelalters von den blutmäßigen, ererbten Grundlagen des eigenen Volkstums entfernten.«
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verfälscht und lässt das ursprünglich Vorhandene nur noch erahnen, über dessen Ethik freilich keinerlei Zweifel besteht: Erst ein mannhafter Tod krönt das Heldenleben. Der germanische Held steht mit beiden Füßen auf der Erde, seine Sippe, seine Gefolgschaft, sein Volk, das ist die Welt, in der und für die er lebt und stirbt. Keine Hoffnung auf jenseitigen Lohn, keine Verzückung, die das Erdendasein nur als Vorbereitung auf ein künftiges Jenseits ansieht und in den Qualen des Todes den Himmel offen sieht, hilft ihm über die Todesstunde hinweg. Mit offenen Augen, so wie er bewußt in einen aussichtslosen Kampf geht, erlebt er auch bewußt das bittere Ende, bei dem es den eigenen Wert auch in dieser letzten Probe zu bewähren gilt. (S. 2)
Auch hier ist, wenn man so will, die ideologische Verkürzung nicht zu übersehen, ja die Entstehung der Heldensage wird aus dem historischen Kontext der Völkerwanderung als Kampf der Völker und die Gefolgschaft als bestimmende Sozialisationsform erklärt: Was am meisten auffällt, ist gerade bei den frühesten Denkmälern der germanisch-deutschen Heldensage die Steigerung ins Heroische und […] ein tragischer, auf den Untergang weisender Zug, der die Gesamthaltung bestimmt. Wir haben die Ursache für diese Gesamthaltung aber nicht nur ganz allgemein darin zu suchen, daß die Entstehung unserer Heldensage in eine Zeit des Kampfes fällt, in dem es für ganze Völker um Bestand oder Untergang geht, sondern vor allem in der Eigenart des Kreises, den wir als erste Pflegestätte der Heldensage ansehen dürfen, in dem und für den die frühesten Heldendichtungen geschaffen wurden. Wer diesem Kreise, der nächsten Gefolgschaft des Führers, angehören wollte, der mußte in seinen Leistungen über die der Allgemeinheit hinaustreten, und hier prägte sich auch die Weltanschauung aus, die nicht nur den mannhaften Tod im Kampfe weit höher schätzte als ein gegen die Gebote der Ehre bewahrtes Leben – das sind Anschauungen, die im sittlich gesunden Teile unseres Volkes immer heimisch waren, – sondern darüber hinaus im Schlachtentode das Ziel des Heldenlebens, die Erfüllung seines wahren Sinnes sah. (S. 342f.)
Mudrak hat mit dieser ideologischen Deutung der Völkerwanderung als ›Kampf von Völkern‹ und des ›Heldentods in der Schlacht‹ als »im sittlich gesunden Teile unseres Volkes immer heimisch« gebliebene Vorstellung den Schritt zur politischen Agitation im Sinne des NS-Regimes vollzogen.
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III
Heldensagen nach 1945
Auch wenn zu erwarten wäre, dass mit dem Jahr 1945 ein radikaler Bruch mit der politischen Indienstnahme des germanischen Altertums einhergehen musste, vollzieht sich die Distanzierung vom etablierten Programm nicht sofort und nicht in der ganzen Breite. Dies ist auch an Mudraks weiterer publizistischer Tätigkeit abzulesen. Unter anderem hat er einen wiederholt aufgelegten Band ›Deutsche Heldensagen‹ herausgegeben. In dessen Nachwort verweist Mudrak Leserinnen und Leser für genauere Ausführungen auf seine Abhandlung aus dem Jahr 1939.43 Das Darstellungsprinzip des Bandes, das Germanische nicht nach den Quellen, sondern nach der eigenen Vorstellung zu liefern, kommt mit den bereits besprochenen Sammlungen zur Deckung. Auch die Erwartung, die Jugend auf die hier vermittelten Normen aufgrund ihres postulierten Alters umso verbindlicher verpflichten zu können, wird geäußert.44 Kaum überraschend ist vor diesem Hintergrund, dass auch die generelle Deutungslinie unverändert ist: Es geht in ihr [der Heldensage] um harten Kampf und um Kriegertum, zu dessen höchsten Idealen fester Zusammenhalt der Gefährten auch in höchster Not ohne Rücksicht auf das eigene Schicksal gehört. Die Ausbildung solcher Ideale geschieht nicht von ungefähr, sie setzt vielmehr Verhältnisse voraus, in denen Bewährung im Kampfe allein das Leben der Gesamtheit sichern kann; solche Verhältnisse waren besonders in der Völkerwanderungszeit gegeben, es ist also kein Zufall, daß gerade diese Epoche wesentlich zur Ausbildung der Heldensage beigetragen hat. […] Zu ihrem Bestande bedurfte diese Dichtung einer Gemeinschaft, deren Anschauungen und Idealen sie entsprach, die an ihr Anteil nahm und in deren Kreise sie vorgetragen wurde. Diese Gemeinschaft war bei den germanischen Völkern die Gefolgschaft, deren Wurzeln im freiwilligen Zusammenschlusse waffenfähiger Mannschaft unter einem selbstgewählten Führer liegen. (S. 266)
43 Deutsche Heldensagen, hg. v. Edmund Mudrak, 28.–34. Tausend, Reutlingen [1959], S. 267. 44 Ebd., S. 266: »Die Heldensage ist ein Kulturerbe von unschätzbarem Werte, das auch im Bewußtsein unserer Gegenwart seinen Platz fordert. […] Zeitbedingte Einzelheiten wurden ausgeschieden. Es bedarf kaum einer Rechtfertigung, daß diese zeitbedingten Einzelheiten bei der ohnedies nötigen Knappheit der Darstellung ausgeschieden wurden, um das wirklich Wesentliche um so deutlicher vortreten zu lassen. So versucht das Buch, uraltes Erbgut unverfälscht darzubieten und der Jugend als unverlierbaren Besitz zu vermitteln.«
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Wie eng Mudraks Text auch Ende der 1950er-Jahre noch an Wortlaut und Programm seiner Arbeit von 1939 anschließt, ist unverkennbar. Mudraks Band ist damit keine Ausnahme – viele Bücher mit germanischen Heldensagen werden nach dem Krieg erst einmal weiter aufgelegt, wie die Forschung wiederholt festgehalten hat, so dass einige Bände mit Nacherzählungen rassistische oder nationalchauvinistische Denkmuster weit in die Nachkriegszeit hinein transportieren.45 Die vorgestellten Beispiele lassen erkennen, dass die Forschung einen erheblichen Beitrag zur Popularisierung eines Denkmusters leistete, das die Todesbereitschaft zur seit den Germanen belegten nationalen Eigenschaft erklärte. Nicht nur bestätigt und legitimiert die Forschung dieses Denkmuster wieder und wieder aus den Quellen heraus, vielmehr werden auch in den hier betrachteten Beispielen der von der Wissenschaft herausgegebenen Sammlungen die im populären Diskurs bereits üblichen Darstellungsprinzipien zur Anwendung gebracht; das heißt, dass die Texte gekürzt oder ergänzt werden, wie es dem Denkmuster vom Germanischen – und nicht den Quellen – entsprach. Die ideologisch geleitete Umdichtung durch eigene Kürzungen, Ergänzungen und Akzentuierungen wird als Gewinn an Authentizität beworben. Bei der Frage nach der Reichweite des Nibelungenmythos ist daher der gesamte Komplex germanischer Heldensagen miteinzubeziehen. Denn auch wenn die Nibelungen noch von Heiner Müller provozierend als der »deutscheste aller deutschen Stoffe« bezeichnet werden,46 bleibt zu berücksichtigen, dass der Nibelungenmythos seine Verbindlichkeit nicht als spektakulärer Ausnahmefall gewinnt.47 Vielmehr kann er seine fatale Wirkung entfalten, weil unter Berufung
45 Vgl. Schmidt (Anm. 4), S. 330–334, zu Eugen Heberle: Germanische Heldensagen, Stuttgart o.J. (ca. 1970–1975); Auguste Lechner: Die Nibelungen, 8. Aufl., Innsbruck 1981; als positive Gegenbeispiele werden bei Wunderlich/Härter (Anm. 14), S. 236, Franz Führmann, Gretel & Werner Hecht und Willi Fährmann genannt; zu den Nacherzählungen von Hecht & Hecht vgl. auch den Beitrag von Anna-Lena Heckel u. Julika Moos in diesem Band. 46 Vgl. das Zitat bei Heinzle (Anm. 2), S. 1 47 Dagegen wird in der Forschung oft die Sonderstellung des ›Nibelungenliedes‹ betont, vgl. zum Beispiel Herfried Münkler: Die Deutschen und ihre Mythen, Berlin 2009, S. 107, der im Zusammenhang mit Hitlers politischem Testament eine »Verpflichtung auf den Nibelungengeist« betont. Ute Frevert: Vom heroischen Menschen zum Helden des Alltags, in: Heldengedenken. Über das heroische Phantasma, hg. v. Karl Heinz Bohrer u. Kurt Scheel, Stuttgart 2009 (Sonderheft Merkur 63/9–10), S. 803– 812, hier S. 805, sieht die politische Indienstnahme von ›Helden‹ vor allem in der
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auf das ›Nibelungenlied‹ jene Botschaft der Todesbereitschaft zugespitzt wird, die man der Nation unter Berufung auf die breitere Textgrundlage der Heldensagen von Kaiserreich über Weimarer Republik bis hin zum Nationalsozialismus jahrzehntelang gebetsmühlenartig vorgetragen hatte. An der Legitimierung und Popularisierung dieser Botschaft war die Forschung maßgeblich beteiligt. Dass die hier beschriebenen Bände – meist mit modifizierten Begleittexten – bis in die Gegenwart gedruckt werden,48 haben Wunderlich und Härter im Jahr 1992 für unproblematisch gehalten: »Ob unheilvolle ideologische Erzählmuster und reaktionäre pädagogische Absichten heute den Ausschlag für die Beliebtheit geben, darf bezweifelt werden.«49 Abgesehen davon, dass die inzwischen gewandelte politische Lage keinen Zweifel mehr an einem auch reaktionär motivierten Interesse an germanischen Heldensagen zulässt,50 ist noch einmal grundsätzlicher nachzufragen: Auch wenn die ideologische Beanspruchung der Heldendichtung für nationalistische Zwecke in den Begleittexten heute eher im Ausnahmefall noch ausdrücklich vorgenommen wird, hat sich an den Prinzipien, nach denen die Geschichten nacherzählt werden, nicht viel geändert: Darstellung einer heidnischen Welt, Quellen ganz unterschiedlicher Überlieferungszeiten und -orte als Vorlagen und Herstellung von Kohärenz zur Imagination einer germanischen Vorzeit.51 Damit vermitteln sie weiterhin die pseudohistorische Ethik, für deren Popularisierung sie erfunden wurden.
Rezeption des ›Nibelungenlieds‹ begründet, dessen »für viele Generationen […] erste Begegnung« sie auf Grimms Heldensage von 1829 zurückführt. Dieser Band von Wilhelm Grimm steht aber gerade nicht am Anfang der hier besprochenen Beispiele, sondern liefert die Grundlage für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Heldensage im 19. Jahrhundert. 48 Über die DNB lassen sich die folgenden (vermutlich nicht vollständigen) Auflagenzahlen ermitteln: Mudraks Germanische, Nordische oder Deutsche Sagen erschienen in den Jahren 1953, 1961, 1968, 1975, 1977, 1984, 1987, 1993, 1999, 2003, 2009, 2013; die Germanischen Götter- und Heldensagen von Felix und Therese Dahn 1985, 1997, 2004, 2012, 2018, 2019; der Band von Wolters/Petersen wurde im Jahr 2010 nachgedruckt, jener von Heusler im Jahr 2016. 49 Wunderlich/Härter (Anm. 14), S. 232. 50 Vgl. Niels Penke u. Heike Sahm: Die sogenannten Germanen. Fragen zum Umgang mit einem Faszinosum, in: Demokratie-Dialog 2 (2018), S. 87–95. 51 In dem Band von Edmund Mudrak: Nordische Götter- und Heldensagen, 32. Aufl. Würzburg 2016, wird im Nachwort erklärt, dass die Texte »unmittelbar nach den Quellen« (S. 325) geboten werden; doch christliche Kontexte und Hinweise der Quellen werden in den Nacherzählungen weiterhin getilgt, zum Beispiel wird zu
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Beowulf berichtet, dass der von ihm aus Grendels Höhle mitgebrachte Schwertgriff eine Runeninschrift mit der Angabe enthalte, für wen das Schwert geschmiedet worden sei. Die Bemerkung im ›Beowulf‹, dass die Inschrift ferner einen Hinweis auf die Sintflut als Strafe Gottes beinhalte, wird dagegen ausgelassen. – Auch Trivialisierungen, deren Unterhaltungszweck vor allem durch den Versuch einer Entheroisierung (Jugendsprache, antiheroisch reflektierende Helden ohne Tötungsabsicht etc.) bedient wird, schließen – bei aller Distanzierung in Titel und Aufmachung – in Hinblick auf Textauswahl und heidnisches Setting an die Tradition der Anthologien an. Vgl. z.B. Stefan Schwarz: Als Männer noch nicht in Betten starben. Deutsche Heldensagen, Hamburg 2018. Schwarz erzählt den ›Waltharius‹ nach, indem er rassistische Wertungen integriert, zum Beispiel spricht der König Aquitaniens im Blick auf die hunnischen Invasoren von den »struppigen Gesellen« (S. 233), werden die Hunnen von Helche als notorische Diebe charakterisiert (»Wenn du einem Hunnen den Schlüssel zur Schatzkammer gibst, musst du anschließend alles nachzählen. […] Er hat von Natur aus klebrige Finger.« (S. 234)), differenziert Etzel zwischen Hunnen und »Weißgesichtern« wie Walther: »Ich gebe zu, ich bin verunsichert«, klagte Etzel. »Wenn ich einen Hunnen vor mir habe, dann muss ich ihm nur einmal in die verschlagenen Schlitzaugen sehen, um zu wissen, ob er treu ist oder noch ein bisschen ausgepeitscht werden muss. Aber bei diesen Weißgesichtern mit ihren großen blauen Murmelaugen…« (S. 235).
›Nibelungisierung‹ der altnordischisländischen Heldenlieder? Eine Analyse des ersten Bands der Sammlung ›Thule‹ Lukas Rösli
I
Die Sammlung ›Thule‹ beim Abschluss ihrer Erstveröffentlichung 1930
Am 26. April 1930 schrieb der Verleger Eugen Diederichs einen Rundbrief, den er auch an Andreas Heusler, den Basler Professor für Altgermanistik unter Einbezug des Altnordischen, sandte. In diesem Schreiben bringt Diederichs seine Freude über das Erscheinen des 24. und damit letzten Bandes der Sammlung ›Thule‹ zum Ausdruck.1 Die sogenannte Sammlung ›Thule‹, die zwischen 1911 und 1930 im Eugen Diederichs Verlag zu Jena erschien und mit vollem Namen eigentlich ›Thule – Altnordische Dichtung und Prosa‹ heißt, wollte Diederichs als »ein opus perennium« und »als würdiges Seitenstück«2 zu dem von Heinrich Friedrich Karl Reichsfreiherr vom und zum Stein 1819 begründeten und bis heute fortgeführten Editionsprojekt ›Monumenta Germaniæ Historica‹3 verstanden wissen. Zwar wirkt diese Einschätzung von Diederichs etwas vermessen, wenn
1
Das mit einer persönlichen Notiz versehene und an Heusler gerichtete Schreiben ist Bestandteil von dessen Nachlass, der von der Universitätsbibliothek Basel verwaltet wird. Der Brief trägt die Signatur NL 26 78b 89. Für eine Übersicht über den Nachlass vgl. das Findbuch zum Nachlass Andreas Heusler III (1865–1949), online abrufbar unter www.ub.unibas.ch/digi/a100/kataloge/nachlassverzeichnisse/IBB_5_00000 1673_cat.pdf (Aufrufdatum: 1.5.2023).
2
Recto des Briefes vom 26. April 1930 (Anm. 1).
3
Siehe hierzu www.mgh.de (Aufrufdatum: 1.5.2023).
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man bedenkt, dass es sich bei den in der Sammlung ›Thule‹ erschienenen Texten im Gegensatz zu den ›Monumenta Germaniæ Historica‹ nicht um Editionen im akademischen Sinne, sondern um ideologisch geprägte Übersetzungen einiger Zeugnisse der altnordisch-isländischen Literatur handelt,4 welche einem möglichst breiten Lesepublikum zur Verfügung gestellt werden sollten. Doch war Diederichs – und waren mit ihm, wie anhand einiger ausgewählter Exponenten gezeigt werden wird, auch die an ›Thule‹ beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler – der dezidierten Auffassung, dass durch diese Reihe die »ältesten Kulturdokumente von Island und Norwegen und damit die wichtigsten des Germanentums«5 der deutschsprachigen Leserschaft vermittelt würden. ›Thule‹, so Diederichs’ Sicht auf die Übersetzungsreihe, sollte sich nicht bloß auf die Vermittlung historischer Vergangenheit in literarischer Form, sondern auf das gegenwärtige Leben selbst beziehen: Denn alles, was aus Lebensblut heraus geboren ist, zeugt weiteres Leben. Das innere sich zu Eigen machen dieses germanischen Heldenzeitalters ist unserer Gegenwart nötiger wie je, denn ein Volk, das die Wurzeln seines Wesens nicht kennt und liebt, lebt ohne innere Haltung.6
Dennoch muss Diederichs zugeben, dass das »innere Erleben dieser germanischen Frühzeit«7 seit dem Ende des Ersten Weltkrieges nicht mehr dem Zeitgeist zu entsprechen scheine, da der Absatz der Buchreihe deutlich zurückgegangen
4
Zu den ideologischen Implikationen, die anhand der in der Sammlung ›Thule‹ erschienenen Übersetzungen erkennbar sind, vgl. Walter Reusse: Die ›Verdeutschung‹ der altisländischen Ortsnamen in den Sagaübersetzungen der Sammlung ›Thule‹. Ästhetische Funktion, ideologischer Gehalt, in: Skandinavistik 22 (1992), S. 27–40; für eine umfassende Arbeit zum Thema vgl. Julia Zernack: Geschichten aus Thule. Íslendingasögur in Übersetzung deutscher Germanisten, Berlin 1994 (Berliner Beiträge zur Germanistik 3); eine kurze Darstellung der Übersetzungsproblematik findet sich zudem bei ders.: Isländisches Mittelalter und völkische Moderne. Bemerkungen zu Diederichs’ ›Sammlung Thule‹ (1911–1930), in: Begegnungen. Deutschland und der Norden im 19. Jahrhundert, hg. v. Bernd Henningsen, Berlin 2000 (Wahlverwandtschaft – Der Norden und Deutschland. Essays zu einer europäischen Begegnungsgeschichte 1), S. 257–275, insbes. S. 267–269.
5
Recto des Briefes vom 26. April 1930 (Anm. 1).
6
Ebd.
7
Ebd.
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war. Die Ausnahme bilde die ›Edda‹, die sich noch immer verkaufen ließ.8 Um den Absatz wieder anzukurbeln, machte Diederichs im Zuge des genannten Rundschreibens eine Umfrage bei fast einhundertzehn Persönlichkeiten aus Politik, Wissenschaft, Kunst und Kultur, deren Ergebnisse er später der deutschen und skandinavischen Presse sowie »selbstverständlich nicht zuletzt den Isländern als Zeichen der inneren Teilnahme des Stammverwandten Volkes«9 zugänglich machen wollte. Die Frage, die Diederichs den knapp hundertzehn Personen stellte,10 lautete: »Welche Bedeutung hat ›THULE‹ für die Entwicklung deutschen
8
Verso des Briefes vom 26. April 1930 (Anm. 1). Zu Diederichs’ eigener Bewertung der Absatzzahlen der Sammlung ›Thule‹, insbesondere zur ›Edda‹, vgl. Irmgard Heidler: Der Verleger Eugen Diedrichs und seine Welt, Wiesbaden 1998 (Mainzer Studien zur Buchwissenschaft 8), S. 567.
9
Verso des Briefes vom 26. April 1930 (Anm. 1). Diederichs sah den »rechtzeitigen Abschluss von ›Thule‹« auch als eine Form der Teilnahme der von ihm versammelten »deutschen altnordischen Wissenschaft« an den Feierlichkeiten, die in Island – so Diederichs Meinung – »zum 1000jährigen Bestehen seiner Verfassung« am 26. Juni 1930 abgehalten werden sollten. In Wahrheit feierte Island vom 26. bis 28. Juni 1930 das tausendjährige Bestehen des Alþingi, des Parlaments. Diese proklamierte Kontinuität ist jedoch nicht ganz unproblematisch, da das isländische Parlament während der norwegisch-dänischen Herrschaft seit 1262 fast keine Kompetenzen mehr besaß und im Jahr 1800 vom dänischen König sogar ganz aufgelöst wurde; 1874 gestattete der König die Neugründung des Alþingi. Aus staatspolitischer Sicht erhielt das Parlament jedoch erst durch die am 17. Juni 1944 ausgerufene Republik seine vollständige Souveränität. Zur Geschichte Islands vgl. Gunnar Karlsson: Iceland’s 1100 Years. History of a Marginal Society, London 2000 (darin insbes. Part III: A Primitive Society Builds a State, 1809–1918, S. 193–284).
10 Diederichs schickte eine Kopie der Liste jener Personen, an die er das Rundschreiben und die Umfrage versandte, auch an Heusler. Siehe dazu im in der Universitätsbibliothek Basel befindlichen Nachlass die Beilage 1 zum Schreiben NL 26 78b 89 (Anm. 1). Bei den aufgeführten Personen fällt auf, dass nebst einigen liberalen und sozialdemokratischen Zeitgenossen Heuslers und Diederichs’ der größte Teil der Befragten aus dem nationalkonservativen und deutsch-völkischen Lager stammt, von denen einige später zu führenden Funktionären oder zu propagierten Vorbildern innerhalb des Nazi-Regimes avancierten: Der Germanist Josef Nadler, der Mediävist Hans Naumann, der Volkskundler und Mitbegründer der SS-Ahnenerbes Herman Wirth, der führende nationalsozialistische Pädagoge Ernst Krieck und Schriftsteller wie Friedrich Griese, Ernst Jünger und Will Vesper, um nur einige der prominenteren Namen zu nennen.
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Wesens zur Zukunft?«11 Schon die in der Fragestellung explizit erzeugte Korrelation zwischen den von Diederichs verlegten Übersetzungen mittelalterlicher, altnordisch-isländischer Texte und einem in die Zukunft gerichteten deutschen ›Wesen‹ ist sinnbildlich für die kulturpessimistische, deutschnationale und teilweise auch völkische Grundhaltung, die bei der Sammlung ›Thule‹ und bei den an ihr beteiligten Personen erkennbar ist. Diese wird auch bei einigen der 46 Rückmeldungen auf Diederichs Umfrage ersichtlich.12 Für Heusler, der an mehreren Bänden der Sammlung mitarbeitete, bedeutet ›Thule‹ zum Beispiel: Ehrlichkeit im Lebensblick, diesseitige Tapferkeit in der Lebensführung: das kann uns der Inhalt dieser zwanzig Sagabände lehren. Ihre Form kann uns erziehen zum Ablegen der Wichtig- und Geheimtuerei; zur Keuschheit und Klarheit der Rede. Den guten Willen dazu müssen wir mitbringen. Von der Sittenstufe dieser Geschichten trennt uns eine Kluft: Bilder zur Nachahmung oder zur Selbstverherrlichung finden wir da nicht. Aber eine herbe Seeluft dringt von ihnen herüber: die sollte uns stählen können zum Aufrechtstehen in einer Welt voll Teufel.13
Aus den eingesandten Rückmeldungen stellte Diederichs eine Werbung zusammen, die in der verlagseigenen Zeitschrift ›Der Diederichs-Löwe‹ publiziert wurde.14 II
Von Thule zu ›Thule‹
Die Namensgebung der Buchreihe ›Thule – Altnordische Dichtung und Prosa‹ war eine von Eugen Diederichs wohlkalkulierte, dem Zeitgeist geschuldete Maßnahme. Thule war sowohl unter den germanophilen Intellektuellen als auch im deutschen Großbürgertum des Fin de siècle ein tragender Begriff, der nicht zuletzt zur Konstruktion einer heroischen germanischen Vergangenheit diente,
11 Verso des Briefes vom 26. April 1930 (Anm. 1). 12 Vgl. Kurt Schier: Die Literaturen des Nordens, in: Versammlungsort moderner Geister. Der Eugen Diederichs Verlag – Aufbruch ins Jahrhundert der Extreme, hg. v. Gangolf Hübinger, München 1996, S. 411–449, hier S. 433–438. 13 Beilage 2 zum Schreiben NL 26 78b 89 (Anm. 1). 14 [Ohne Autornennung:] Die Jahrtausendfeier Islands am 26. Juni und ›Thule‹ – Welche Bedeutung haben beide für Deutschland? Eine Umfrage, Der Diedrichs-Löwe 2 (1930), S. 93–105. Eine umfängliche diskurstheoretische und ideologiekritische Analyse der Rückmeldungen ist gegenwärtig noch Forschungsdesiderat.
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die auf die Gegenwart und Zukunft übertragbar gemacht werden sollte.15 Der Name Thule, dessen Bedeutung bis heute nicht restlos geklärt ist, geht auf Pytheas von Massalia zurück, über den Strabon schrieb, dass dieser die Insel Thule sechs Tagesreisen nördlich von Britannien entdeckt habe.16 Zum Topos wurde der Plinius dem Älteren zugeschriebene Satz Thule est omnium insularum ultima, oder in seiner verkürzten Form Ultima Thule.17 In der Spätantike schrieb der Historiker Prokopios von Caesarea in seinem Text über die ›Gotenkriege‹, dass sich ein Teil der Heruler, nachdem sie von den Langobarden geschlagen worden waren, auf der Insel Thule niederließen.18 Doch erst Adam von Bremen verortete die sagenumwobene Insel am äußersten Rande der Welt, als er eine Analogie zwischen Thule und Island herstellte: Haec itaque Thyle nunc Island appellatur, a glacie quae oceanus astringit.19 Und in Deutschland wird spätestens die in die Szene ›Abend‹20 von Goethes ›Faust‹ integrierte Ballade ›Der König in Thule‹21 zum Zitatenschatz des Bildungsbürgertums.
15 Vgl. hierzu Meike G. Werner: Moderne in der Provinz. Kulturelle Experimente im Fin de Siècle, Jena u. Göttingen 2003, insbes. das Unterkapitel ›Entgrenzung von Zeit und Raum‹ in Kapitel III ›Der Verleger als kultureller Reichsgründer: Eugen Diederichs in Jena‹, S. 156–193, sowie Julia Zernack: Der ›Mythos vom Norden‹ und die Krise der Moderne. Skandinavische Literatur im Programm des Eugen Diederichs Verlags, in: Romantik, Revolution & Reform. Der Eugen Diederichs Verlag im Epochenkontext 1900–1949, hg. v. Justus H. Ulbricht u. Meike G. Werner, Göttingen 1999, S. 208–223. 16 Für eine Einführung in die Thule-Thematik vgl. Klaus von See: Ultima Thule, in: Poetik und Gedächtnis (FS Heiko Uecker), hg. v. Karin Hoff [u.a.], Frankfurt a.M. 2004 (Beiträge zur Skandinavistik 17), S. 113–144. Für Einzelstudien zum Thema, vgl. Ultima Thule. Bilder des Nordens von der Antike bis zur Gegenwart, hg. v. Annelore Engel-Braunschmidt [u.a.], Frankfurt a.M. 2001 (Imaginatio Borealis. Bilder des Nordens 1). 17 Von See (Anm. 16), S. 113. 18 Prokopios von Caesarea: Werke, Bd. 2: Gotenkriege, Griechisch-Deutsch, hg. u. übers. v. Otto Veh, München 1966, S. 310–320. 19 Adam von Bremen: Hamburgische Kirchengeschichte. Gesta Hammaburgensis ecclesiae pontificum, 3. Aufl., hg. v. Bernhard Schmeidler, Hannover u. Leipzig 1917 (MGH Script. rer. Germ. 2), lib. IV, cap. XXXVI, S. 272: Diese Thule heißt nun Island, nach dem Eis, welches den Ozean gefrieren lässt (Übers. d. Verf.). 20 Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Der Tragödie erster und zweiter Teil, Ditzingen 2017, V. 2678–2804. 21 Ebd., V. 2759–2782.
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Eine dezidiert völkische Implikation erhielt Thule spätestens durch Felix Dahns Gedicht ›Gotenzug‹ aus seinem Roman ›Ein Kampf um Rom‹ von 1876. Darin ziehen die letzten Goten nach der Schlacht am Vesuv ab, während ihr Barde mit der Harfe in der Hand und mit ernster Stimme ein Lied singt, in dem Thule zur Insel der Treue stilisiert wird, wo Eid und Ehre gelten würden und Roms Falschheit den germanischen Goten nichts anhaben könne.22 Klaus von See geht davon aus, dass spätestens seit der Veröffentlichung von Dahns ›Gotenzug‹ in völkischen Kreisen Thule als eigentliches Stammland des Germanentums angesehen wurde.23 Und spätestens ab 1914, als Paul Hartigs programmatischer Aufsatz ›Thule! Auf nach Thule! Ein Aufruf‹24 erschien, waren Thule und völkisch-germanische Blut-und-Boden-Ideologien eng zusammengeführt. Der Rassentheoretiker Hartig schrieb im ›Thule!‹-Aufsatz, den er in der von ihm seit 1911 verlegten Zeitschrift ›Die Nornen‹ veröffentlichte,25 unter anderem: Thule ist sagenschöne Vergangenheit, aber auch sehnenreichste Zukunft der germanischen Menschheit. Nach alter Sage flüchteten dorthin stets die Besten unseres Blutes, die einsamen Träger des Reinen, zu Gott strebenden Ariertums. […] Von Thule her erstrahlt uns, morgendämmernd, die neue germanische Menschheit, die Stamm-Mutter des neuen Ariertums.26
Dieses völkisch überhöhte Thule ist dabei kaum mehr eine geographisch verortete Entität, sondern bildet die konkrete Schnittstelle eines gemeinschaftsstiftenden Sinnbilds der Heimat reiner (Nord-)Germanen, einer Insel als Lebensraum der Arier und einer auf eine Zukunftskonstruktion ausgerichteten Vergangenheit, die auf faschistoiden Heldenphantasien beruht. In diesem diskursiven Umfeld erstaunt es daher nicht, dass Eugen Diederichs sich dazu entschloss, die von ihm ab 1911 verlegte Übersetzungsreihe altnordi-
22 Felix Dahn: Gesammelte Werke, Bd. 5: Gedichte und Balladen, Leipzig 1912, S. 271. 23 Zum Einfluss von Dahns Roman auf die völkischen Vorstellungen von Thule, vgl. von See (Anm. 16), S. 132–133. 24 Paul Hartig: Thule! Auf nach Thule! Ein Aufruf, in: Die Nornen. Monatsschrift für deutsche Wiedergeburt und ario-germanische Kultur 3 (1914), S. IIf. 25 Zu Paul Hartig und ›Die Nornen‹ vgl. Justus H. Ulbricht: Völkisches Verlagswesen, in: Handbuch zur ›Völkischen Bewegung‹ 1871–1918, hg. v. Uwe Puschner [u.a.], München [u.a.] 1996, S. 277–301; insbes. S. 295–296. 26 Hartig (Anm. 24), S. II.
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scher Literatur ›Thule – Altnordische Dichtung und Prosa‹ zu nennen.27 Der Anstoß für das mehrbändige Übersetzungsvorhaben wurde Diederichs wohl von Arthur Bonus gegeben, der wenige Jahre davor selbst, beziehungsweise mit der Unterstützung von Heusler, sein dreibändiges ›Isländerbuch‹28 publiziert hatte. Angeregt durch die lebensreformerischen und völkischen Ideen Bonus’, die Sagaliteratur zur deutsch-religiösen Erneuerung zu verwenden, entschloss sich Diederichs, ein eigenständiges Projekt mit Saga-Übersetzungen in sein Verlagsprogramm aufzunehmen.29 Eugen Diederichs und Bonus, der an einer »Germanisierung des Christentums«30 interessiert war, verkehrten beide in den lebensreformerischen und kulturkritischen Bewegungen der Berliner Vorstadtkultur, wo wohl auch der Kontakt zu Andreas Heusler, damals noch Professor in Berlin, zu-
27 Im Einleitungsband wird die Identifizierung von Thule mit Island dann auch explizit ausgestellt, vgl. Felix Niedner: Islands Kultur zur Wikingerzeit, Jena 1913 (Thule – Altnordische Dichtung und Prosa, Einleitungsbd.), S. 4: »Das Mittelalter hindurch galt Island als die rätselhafte Thule im Eismeer.« 28 Arthur Bonus: Isländerbuch, 3 Bde. (Bd. 1: Sammlung altgermanischer Bauern- und Königsgeschichten; Bd. 2: Sammlung altgermanischer Bauern- und Königsgeschichten; Bd. 3: Einführungs- und Ergänzungsband. Bedeutung des altisländischen Prosaschrifttums), München 1907. Zu Band 3 steuerte Heusler drei kleinere Übersetzungen bei. Interessant an Bonus’ ›Isländerbuch‹ ist, wie eng sich seine Argumentation hinsichtlich der als ›altgermanische Literatur‹ bezeichneten altnordischen Texte mit jener Heuslers deckt. Insbesondere die Einschätzung einer Ursprünglichkeit der altnordischen Sagaliteratur, die »[…] vor dem Einbruch des orientalisch-romanischen Prosastils in einem Volke der reinsten unvermischten germanischen Rasse« (ebd., Bd. 3, S. 11) entstanden sei, findet sich ähnlich dann auch bei Heusler wieder: »›Altgermanisch‹ darf man hier [bei der isländischen Saga] nur in dem Sinn […] verstehen: das Vorrömische und Vorritterliche« (Andreas Heusler: Die altgermanische Dichtung, 2., umgearb. Ausg., Potsdam 1941, S. 202). Zum unterschiedlichen Germanenbild bei Bonus und Heusler vgl. Zernack (Anm. 4), S. 11–12 u. 34–49. 29 Vgl. hierzu insbes. Christopher König: Zwischen Kulturprotestantismus und völkischer Bewegung. Arthur Bonus (1864–1941) als religiöser Schriftsteller im wilhelminischen Kaiserreich, Tübingen 2018 (Beiträge zur historischen Theologie 185), S. 187–196 u. 299–306. Zur Affinität zwischen Lebensreform, Protestantismus und völkischer Religiosität vgl. auch Rainer Lächle: Protestantismus und völkische Religion im deutschen Kaiserreich, in: Puschner [u.a.] (Anm. 25), S. 149–163. 30 Diesen Titel trug ein bei Diederichs erschienenes Buch von Arthur Bonus: Zur Germanisierung des Christentums, Jena 1911.
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stande kam.31 Obwohl Diederichs den Anstoß zur Entwicklung einer ›Altnordischen Bibliothek‹32 von Bonus erhielt, war es dann Heusler, der zwar nicht als Herausgeber fungieren wollte, jedoch die wissenschaftliche Ausrichtung der Sammlung ›Thule‹ und die Auswahl der Übersetzerinnen und Übersetzer maßgeblich beeinflusste.33 Als Herausgeber konnte im Winter 1910/1911 stattdessen Felix Niedner für die Sammlung ›Thule‹ gewonnen werden.34 Unter Niedners Herausgeberschaft erschienen die gesamten 24 Bände und der Einleitungsband von ›Thule‹ in zwei Reihen. Die Aufteilung in zwei Reihen war einer Unterbrechung geschuldet, welche durch den Ersten Weltkrieg und insbesondere die darauffolgenden Engpässe und Verteuerungen in der gesamten Buchproduktion verursacht wurde.35 Insgesamt arbeiteten dreizehn führende Forschende auf dem Gebiet der altnordischen Literatur, darunter mit Adolfine Erichsen eine einzige Frau, an diesem Übersetzungsprojekt mit.36 Gemäß Schier wurde die Sammlung ›Thule‹ wie keine andere Publikation beim Diederichs Verlag »von der Mehr-
31 Vgl. Zernack (Anm. 4), S. 40–41, sowie Klaus von See: Die Altnordistik im Dritten Reich, in: Die Skandinavistik zwischen gestern und morgen, hg. v. Bernd Henningsen u. Rainer Pelka, Senkelmark 1984 (Schriftenreihe der Akademie Senkelmark N.F. 59), S. 39–51, hier S. 42–43. 32 So bezeichnet Heusler in seinem Brief an Wilhelm Ranisch vom 16. Oktober 1910 die Entwurfsstufe des Projekts, vgl. Andreas Heusler: Briefe aus den Jahren 1890– 1940, hg. v. Klaus Düwel [u.a.], Basel u. Frankfurt a.M. 1989 (BNPh 18), S. 300. 33 Vgl. hierzu Zernack (Anm. 4), S. 34–76, Schier (Anm. 12), S. 420–422, sowie: Ulf Diederichs: Achtzig Jahre Sammlung Thule, in: Aus dem Antiquariat 11 (1991), A 417–A 426, hier A 418–A 420. Zum Einfluss Heuslers auf die Sammlung ›Thule‹ vgl. auch Heidler (Anm. 8), S. 566–568. Heusler bezeichnet die Zusammenarbeit mit Niedner gegenüber Ranisch als »Kriegsplan«, den sie für die Sammlung ›Thule‹ im Januar 1911 erstellt hätten, vgl. Heusler (Anm. 32), S. 307. 34 Vgl. Diederichs (Anm. 33), A 419. 35 Siehe dazu die Absatzzahlen des Diederichs Verlags bei Heidler (Anm. 8), S. 890– 895. Vor diesem ökonomischen Hintergrund ist auch Diederichs Fehdebrief an den deutschen Buchhandel zu lesen, der zur Gründung der ›Lauensteiner Buchhandelstagungen‹ führte, vgl. Eugen Diederichs: Es muß anders werden! Ein Fehdebrief an den deutschen Buchhandel, aber auch zugleich ein praktischer Vorschlag, in: Meilensteine buchwissenschaftlicher Forschung. Ein Reader zentraler Quellen und Materialien, hg. v. Stephan Füssel u. Ute Schneider, Wiesbaden 2017 (Mainzer Studien zur Buchwissenschaft 25), S. 131–135. Zur ›Lauensteiner-Bewegung‹ und dem von Diederichs initiierten ›Jungbuchhandel‹ vgl. Heidler (Anm. 8), S. 117–129. 36 Für eine Übersicht der Beteiligten vgl. Schier (Anm. 12), S. 421f.
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zahl der Wissenschaftler eines ganzen Faches getragen«.37 Bis zum Erscheinen jener umfangreichen Übersetzung der Isländersagas ins Deutsche, die 2011 veröffentlicht wurde, als Island Gastland an der Frankfurter Buchmesse war, 38 darf die Sammlung ›Thule‹ als umfangreichste Übersetzung altnordischer Texte außerhalb des skandinavischen Sprachraums gelten, die sowohl von Fachvertreterinnen und Fachvertretern in der Forschung wie auch von interessierten Laien verwendet wurde.39 Zu Recht weist Zernack in ihren Aufsätzen zum Thema immer wieder darauf hin, dass gerade die Mitarbeit prominenter Fachvertreterinnen und Fachvertreter an der Sammlung ›Thule‹ als problematisch zu bewerten ist, da darüber das Verständnis der altnordisch-isländischen Literatur, zumindest im deutschsprachigen Raum, über Jahrzehnte hinweg maßgeblich mitgeprägt wurde.40 Einerseits wird über den Reihentitel ›Thule – Altnordische Dichtung und Prosa‹ eine Vollständigkeit suggeriert, die der altnordisch-isländischen Literatur nicht annähernd gerecht werden kann.41 Andererseits werden die übersetzten Texte in der Sammlung ›Thule‹ bewusst in einen ahistorischen Kontext gestellt, wenn zum Beispiel Niedner den Einleitungsband zur Reihe mit ›Islands Kultur zur Wikingerzeit‹42 betitelt und darüber die altnordisch-isländische Literatur, sie als »Wikingerliteratur« bezeichnend, in eine schriftlose Vergangenheit zurückprojiziert oder gar Island über die Charakterisierung als »nordisches Hellas«43 in Kontrast zum antiken Griechenland setzt. Island und seine mittelalterliche, christlich geprägte Literatur werden so in den deutschen Übersetzungen der Sammlung ›Thule‹ zum kulturellen Zentrum des Germanischen stilisiert, das Anleitung zur völkischen
37 Ebd., S. 422. 38 Isländersagas, 4 Bde. mit einem Begleitbd., hg. u. übers. v. Klaus Böldl [u.a.], Frankfurt a.M. 2011. An den Übersetzungen, bei denen es sich ausschließlich um die sogenannten Isländersagas handelt, arbeiteten nebst Fachvertreterinnen und Fachvertretern der mediävistischen Skandinavistik auch Übersetzerinnen und Übersetzer für neuisländische Literatur mit. 39 Vgl. Zernack (Anm. 15), S. 209f. 40 Vgl. die Kritik bei Zernack (Anm. 4 und 15) sowie bei ders.: Anschauungen vom Norden im deutschen Kaiserreich, in: Puschner [u.a.] (Anm. 25), S. 482–511. 41 Vgl. Zernack (Anm. 4), S. 41–43, sowie Schier (Anm. 12), S. 422–431. 42 Niedner (Anm. 27). 43 Ebd., S. 10.
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Erneuerung der Kultur und Gesellschaft in der deutschen Gegenwart bieten soll.44 III
Die ›Edda‹ in der Sammlung ›Thule‹ und darüber hinaus
Der schlichte Titel ›Edda‹45 der beiden ersten Bände in der Sammlung ›Thule‹ ist in Anlehnung an den sogenannten ›Codex regius der Lieder-Edda‹ (GKS 2365 4to) gewählt, welcher um 1275 anonym und ohne Titelangabe auf Island verschriftlicht wurde.46 Bei diesem Manuskript handelt es sich um eine wohl von einem einzigen Schreiber angefertigte Liedersammlung, die 29 Lieder und zwei kurze Prosastücke beinhaltet und als einzige mittelalterliche Handschrift die sogenannten eddischen Lieder in auf diese Weise strukturiertem Umfang überliefert. Klassischerweise werden die Lieder in GKS 2365 4to in zwei Segmente, die Götterlieder und die Heldenlieder, eingeteilt, wobei nebst dem Inhalt auch zwei übergroße Initialen als Gliederungseinheiten gelten.47 Wohl im 17. Jahrhundert, bevor die ersten Abschriften vorgenommen wurden, gingen acht Pergamentblätter des ›Codex regius der Lieder-Edda‹ verloren, sodass mindestens zwei Lieder des Heldenliederkorpus nur noch fragmentarisch überliefert sind. Der dadurch
44 Diese ideologische Prämisse wird bei Niedner unmissverständlich dargelegt, vgl. dens. (Anm. 27), S. VI: »Alles in allem leuchtet hier wie ein Sinnbild aus ältester Zeit der Genius großen Germanentums, dessen willensstarkes Walten wir in dem Zeitalter Bismarcks so lebendig verspürten.«; ferner auch ebd., S. 6: »Sie [die historische und literarische Vergangenheit] macht aber auch Island für alle Zeiten zum heiligen Boden für alle Völker germanischer Abstammung. Der wanderlustige Deutsche darf beim Besuch der Insel gewiß sein, dort auch heute noch einen Hauch seiner eigenen Vorväterzeit zu verspüren.« 45 Felix Genzmer: Edda. Erster Band: Heldendichtung, mit Einleitungen und Anmerkungen von Andreas Heusler, Jena 1912 (Thule 1); Zweiter Band: Götterdichtung und Spruchdichtung, mit Einleitungen und Anmerkungen von dems., Jena 1920 (Thule 2). 46 Für umfassende Informationen zur ›Lieder-Edda‹ und zu den einzelnen Liedern vgl. den Kommentar zu den Liedern der Edda, 7 Bde., hg. v. Klaus von See [u.a.], Heidelberg 1997–2019; für das Digitalisat der Handschrift vgl. https://handrit.is/manu script/view/is/GKS04-2365/0#mode/2up (Aufrufdatum: 1.5.2023) 47 Kurt Schier: [Art.] Edda, Ältere, in: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, 2. Aufl., Bd. 6, Berlin u. New York 1986, S. 355–394, insbes. S. 357–370.
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entstandene Textverlust trägt heute die Bezeichnung ›Lieder der Lücke‹.48 Aufgrund der singulären Textmanifestation von GKS 2365 4to ist auch die Reihenfolge der einzelnen eddischen Liedtexte einmalig in ihrer Tradierung,49 weshalb es bemerkenswert ist, dass die aus dem Mittelalter überlieferte Einteilung und Reihung in Götter- und Heldenlieder in der Sammlung ›Thule‹ eine Inversion erfuhr und die Heldenlieder als erster Band der Sammlung erschienen. Die programmatische Buchgestaltung weist jedoch auf paratextueller Ebene in keiner Weise auf diese Inversion hin, sondern ist dahingehend angelegt, diese Abfolge als dem übersetzten Originaltext folgend auszuweisen.
Abb. 1: Edda, Erster Band: Heldendichtung, Jena 1912, Titeleien.
Die bild- und schriftgrafische Gestaltung der gesamten ›Thule‹-Bände übernahm Friedrich Hermann Ernst Schneidler, der 1944 als einer der wichtigsten deutschen Gebrauchsgrafiker auf die ›Gottbegnadeten-Liste‹, besser bekannt als
48 Zu den ›Liedern der Lücke‹ und deren (Re-)Konstruktionsversuchen vgl. Andreas Heusler: Die Lieder der Lücke im Codex Regius der Edda, in: Germanistische Abhandlungen (FS Hermann Paul), hg. v. Andreas Heusler [u.a.], Straßburg 1902, S. 1– 98. 49 Zur Reihenfolge der eddischen Lieder vgl. Edda. Die Lieder des Codex Regius nebst verwandten Denkmälern, Bd. 1: Text, 5., verb. Aufl., hg. v. Gustav Neckel, Heidelberg 1983, S. IXf.
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›Führerliste‹, gesetzt werden wird.50 Die Rahmung der beiden Titeleien (Abb. 1) lässt deutlich erkennen, dass sich der Buchgestalter durch wikingerzeitliche Knotenornamentik zu einem quasi-jugendstilhaften Dekorationsstil inspirieren ließ. Auf der rechten Titelseite ist über der Titelei das Emblem des Diederichs Verlags zu erkennen, der eingekreiste Löwe, welcher dem ›Marzocco‹ von Donatello in Florenz nachempfunden ist.51 Auf der linken Seite ist ein stilisierter, eingekreister Greifvogel abgebildet, der auch den Schutzumschlag, zumindest in der dritten Auflage von 1928, auf dem Frontcover ziert (Abb. 2). Dem südländisch anmutenden Löwen, dem Verlagssymbol Diederichs, wird durch den Greifvogel ein quasi-nordisches Wappentier entgegengesetzt.
Abb. 2: Edda, Erster Band: Heldendichtung, Jena 1928, Schutzumschlag.
50 Siehe hierzu [Art.] Schneidler, Ernst, in: Ernst Klee: Kulturlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, überarb. Ausg., Frankfurt a.M. 2009 (Die Zeit des Nationalsozialismus. Eine Buchreihe), S. 485. 51 Vgl. Ulf Diederichs: Eugen Diederichs und sein Verlag. Bibliographie und Buchgeschichte 1896 bis 1931, Göttingen 2014, S. 362–365, sowie zur Buchgestaltung Irmgard Heidler: Künstlerische Buchgestaltung im Eugen Diederichs Verlag, in: Versammlungsort moderner Geister. Der Eugen Diederichs Verlag. Aufbruch ins Jahrhundert der Extreme, hg. v. Gangolf Hübinger, München 1996, S. 167–220.
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Abb. 3: Edda, Erster Band: Heldendichtung, Jena 1912, S. 1.
Als Schrift wurde für den Titel auf dem Schutzumschlag (Abb. 2), die Titeleien (Abb. 1) und den Fließtext (Abb. 3) eine Schwabacher Type verwendet,52 was man gut anhand der Majuskeln – insbesondere am geschwungenen, beinahe geschlossenen S, dem einstrichigen H und dem gerundeten und nur an der Oberund Unterseite spitz zulaufenden o – erkennen kann.
52 Die Schwabacher Type wurde von der NSDAP als ›Schwabacher Judenlettern‹ diskreditiert und zusammen mit anderen Frakturtypen am 30. Juli 1937 für die Drucklegung von Publikationen durch jüdische Verlage und im Jahr 1941 durch den ›Normalschrifterlass‹ allgemein für die Verwendung in Publikationen verboten. Vgl. hierzu Friedrich Beck: ›Schwabacher Judenlettern‹. Schriftverruf im Dritten Reich, in: Die Kunst des Vernetzens (FS Wolfgang Hempel), hg. v. Botho Brachmann [u.a.], Berlin 2006 (Schriftenreihe des Wilhelm-Fraenger-Instituts Potsdam 9), S. 251–269.
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Abb. 4: Edda, Erster Band: Heldendichtung, Jena 1928, Einband.
Auch der Einband wurde für die Sammlung ›Thule‹ in emblematischem Stil gestaltet (Abb. 4), wie dies zu jener Zeit bei den meisten Buchreihen und Einzelausgaben im Diederichs Verlag der Fall war.53 Der Frontdeckel zeigt ein eingekreistes, stilisiertes Wikingerschiff mit gehisstem Segel, worüber die jeweilige ›Thule‹-Bandnummer zu lesen ist. Den Rückdeckel zierte bis zur vollständigen Wiederauflage der Sammlung ›Thule‹ in den 1960er-Jahren derselbe eingekreiste Greifvogel, der jeweils auch auf dem linken Titelblatt (Abb. 1) erschien. Durch diese Inkorporation aus Verlagslogo und nordisch-germanischen Bildund Stilelementen im Buchdesign entstand ein programmatisches Ganzes, das die Sammlung ›Thule‹ und den Diederichs Verlag als untrennbare Einheit präsentiert. Bei der typographischen Gestaltung des Inhaltsverzeichnisses (Abb. 5) fällt auf, dass die deutschen Übersetzungen der Liedtitel, die, wie unter der Überschrift korrekt angegeben, im altnordischen Text des ›Codex regius der LiederEdda‹ nur teilweise überliefert sind, in der bekannten Schwabacher Type gehalten sind. Die altnordischen, in Klammern den deutschen Bezeichnungen nachgestellten Titel, die zu großen Teilen Editionen entnommen sind und beinahe
53 Zu Schneidlers Arbeit als Gebrauchsgrafiker im Diederichs Verlag vgl. Heidler (Anm. 51), S. 193–205.
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durchgängig wissenschaftlichen Konventionen, nicht jedoch den mittelalterlichen Vorlagen entsprechen, sind hingegen in einer moderner wirkenden Antiqua-Type abgedruckt. Diese typographische Gegenüberstellung von archaisch wirkender spätmittelalterlicher Schwabacher und ungebrochener Antiqua wirkt wie eine Inversion der tatsächlichen Textgenese, bei der die Übertragung ins Deutsche in einem älterem Schriftbild erscheint als die Bezeichnungen der altnordischen Ausgangstexte.
Abb. 5: Edda, Erster Band: Heldendichtung, Jena 1912, Inhaltsverzeichnis.
Stellt man die Gliederung54 aus dem ›Codex regius der Lieder-Edda‹ jener der Heldenlieder aus der Sammlung ›Thule‹ gegenüber, wird deutlich, dass nicht nur die Reihenfolge der einzelnen Heldenlieder eine komplett andere ist, sondern auch die Anzahl der Heldenlieder von 18 Liedern im ›Codex regius der LiederEdda‹, beginnend mit dem Lied ›Helgaqviða Hundingsbana in fyrri‹, auf 31 Lieder angewachsen scheint, wobei die beiden Prosaerzählungen ›Frá dauða Sinfjǫtla‹ (›Vom Tode Sinfjötlis‹) und ›Dráp Niflunga‹ (›Der Tod der Niflungen‹), die im ›Codex regius der Lieder-Edda‹ in das Heldenliederkorpus eingebettet sind, in der Sammlung ›Thule‹ gänzlich fehlen. Der Zuwachs an Liedern in der ›Thu-
54 Siehe hierzu Anm. 49.
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le‹ Ausgabe lässt sich dadurch erklären, dass Genzmer und Heusler Lieder in ihre Heldenliedersammlung aufgenommen haben, die nicht aus dem ›Codex regius der Lieder-Edda‹ stammen. Bei diesen Texten handelt es sich um teilweise erst im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert angefertigte, den eddischen Liedern nachempfundene Versifikationen mittelalterlicher oder frühneuzeitlicher Prosatexte.55 Viele dieser Versifikationen stammen aus den sogenannten ›Eddica Minora‹56, wie Andreas Heusler und Wilhelm Ranisch die von ihnen konstruierte Textsammlung nannten, in der sie teilweise selbst angefertigte altnordische Übersetzungen von Texten wie dem auf Latein verfassten Prosatext ›Gesta Danorum‹57 des Saxo Grammaticus oder Versifikationen aus den sogenannten altnordischen ›Fornaldarsögur‹ (›Vorzeitsagas‹) publizierten. Die inhaltliche Struktur, die der Reihung der Heldenlieder in der Sammlung ›Thule‹ zugrunde liegt, wird von Heusler in seiner Einleitung wie folgt umschrieben: »Die vorliegende deutsche Edda bestrebt sich, Verskunst, Stil und Wortsinn der Urtexte mit höchster Treue nachzubilden.«58 Diese Aussage ist in mehrfacher Hinsicht für die ›Thule‹-Bände bezeichnend: In Lachmann’schem Duktus wird auf einen Urtext verwiesen, an den möglichst nahe herangekommen werden soll, wobei die ›Nachbildung‹ auf Deutsch dieser Nähe nicht im Wege zu stehen scheint. Zudem wird über die Satzkonkurrenz von ›deutscher Edda‹ und ›Urtext‹ zumindest eine kontextabhängige, partielle semantische Annäherung mitgedacht, bei der der Ausgangstext des altnordischen ›Codex regius der Lieder-Edda‹ zum impliziten Bindeglied zwischen einem germanischen Urtext und der »vorliegenden deutschen Edda« degradiert wird. Des Weiteren schreibt Heusler, dass man bewusst von der im ›Codex regius der Lieder-Edda‹ überlieferten Reihenfolge der Lieder abgewichen sei:
55 Heusler dazu in der Einleitung (Edda. Erster Band: Heldendichtung (Anm. 45), S. 8): »[…] weil sie nach ihrer literarischen Art berechtigte Glieder der Eddafamilie sind. Man gewinnt dadurch ein volleres Bild von den Sagenstoffen, über die sich die eddische Kunst erstreckte, und von den Gattungen, die zumal in dem jüngeren isländischen Zeitraum gepflegt wurden.« 56 Andreas Heusler u. Wilhelm Ranisch: Eddica Minora. Dichtung eddischer Art aus den Fornaldarsögur und anderen Prosawerken, Dortmund 1903. Das Konstrukt wird in Teilen der Forschung heute noch dem eddischen Textkorpus zugerechnet. 57 Für eine zweisprachige Edition (Lateinisch und Englisch) siehe Saxo Grammaticus: Gesta Danorum – The History of the Danes, zwei Bde., hg. v. Karsten Friis-Jensen, übers. v. Peter Fisher, Oxford 2015 (Oxford Medieval Texts). 58 Edda. Erster Band: Heldendichtung (Anm. 45), S. 7.
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Das vorliegende Werk hat die alte Reihenfolge grundsätzlich aufgegeben zugunsten einer Gruppierung, worin die dichterische Eigenart der Denkmäler klarer hervortritt. Dass gegen den sonstigen Brauch die Heldenlieder hier den Götterliedern vorangehen, hat nicht nur den Vorteil, dass der deutsche Leser mit dem Vertrauten den Anfang macht: es rechtfertigt sich auch daraus, dass das epische Lied zuerst als Heldenlied seine Wanderung durch die Germanenwelt unternommen hat.59
Heusler legitimiert dieses Vorgehen der Umstellung auch damit, dass es notwendig sei, »das zu Unrecht verbundene zu trennen« und »störende Zutaten zu entfernen, Lücken zu füllen, Verschobenes umzustellen«60. Zur im ›Codex regius der Lieder-Edda‹ überlieferten Prosa der Texte ›Frá dauða Sinfjǫtla‹ und ›Dráp Niflunga‹ schreibt Heusler, sie sei »unbeholfen und schädigt die Wirkung des Gedichts«61, weshalb diese Texte zu tilgen seien. Erneut ganz im Geiste Lachmanns fasst er das pseudo-philologische Vorgehen bei der Konzeption des ersten Bandes der Sammlung ›Thule‹ wie folgt zusammen: Bei diesem ganzen Verfahren schwebte das Ziel vor: die Eddagedichte als Kunstwerke dem kunstliebenden deutschen Leser in die Hand zu legen; sie tunlichst zu befreien von den kunstwidrigen Zufälligkeiten, womit die mehr stoff- als formbegierigen Schreiber sie bedrängten.62
Ein erneuter Blick ins Inhaltsverzeichnis (Abb. 5) macht deutlich, was Heusler in der Einleitung anspricht: Die Reihenfolge der Heldenlieder wurde so umgedreht und erweitert, dass mit ›Das Wölundlied‹63 (›Vǫlundarkviða‹) ein phantastisches Gedicht mit einer Hybridstellung zwischen Mythologie und Heldenlied eingesetzt, doch gleich im Anschluss mit dem aus Prosa- und Versversatzstücken von Heusler und Ranisch konstruierten ›Lied von der Hunnenschlacht‹64 umgehend auf einen völkerwanderungszeitlichen, quasi-historischen und angeblich germanischen Kontext referiert werden kann.
59 Ebd., S. 7f. 60 Ebd., S. 8. 61 Ebd. 62 Ebd., S. 9. 63 Ebd., S. 17–23. 64 Ebd., S. 24–32.
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Die beiden folgenden Lieder, ›Das Alte Sigurdlied (Bruchstück eines Sigurdlieds)‹65 (›Brot af Sigurðarkviðu‹) und ›Das Alte Atlilied‹66 (›Atlakviða‹), bilden die Rahmung, was Genzmer in seiner Volksausgabe der ›Edda‹ (Abb. 6) von 193367 den »Sagenkreis der Nibelungen«68 nennt. In dieser Volksausgabe – man beachte die der Zeit angepasste Symbolik auf dem Schutzumschlag, bei der das Verlagssignet von Diederichs prominent ins Zentrum des Frontdeckels gerückt wurde und die wikingerzeitlich anmutende Knotenornamentik durch vier in den Ecken liegende hakenkreuzähnliche Sonnenräder69 ergänzt wurde – führte Genzmer die beiden ›Edda‹-Bände 1 und 2 der Sammlung ›Thule‹ zusammen
65 Ebd., S. 33–38. 66 Ebd., S. 39–52. 67 Felix Genzmer: Die Edda, Jena 1933. Die Volksausgabe, die wiederum im Diederichs Verlag erschien, ist ein Zusammenzug der beiden Edda-Bände der Sammlung ›Thule‹, wobei jedoch die Einleitung von Heusler durch eine von Genzmer (S. 1–30) ersetzt und die Mythologie vor die Heldenlieder gestellt wurde (siehe Inhaltsverzeichnis, S. 231), wie dies in ähnlicher Weise auch im ›Codex regius der LiederEdda‹ der Fall ist. Die Übersetzungen der einzelnen eddischen Lieder wurden dabei jedoch nur äußerst geringfügig verändert. 68 Genzmer (Anm. 67), S. 23. Diese Sequenz der beiden Lieder, die inhaltlich auf den Beginn und das Ende des mittelhochdeutschen ›Nibelungenlieds‹ verweisen, wurde auch schon in der Sammlung ›Thule‹ in ähnlicher Weise von Heusler und Genzmer kommentiert, vgl. Edda. Erster Band: Heldendichtung (Anm. 45), S. 33 u. 39. 69 Das Hakenkreuz wurde von Diederichs mehrfach auf Verlagspublikationen verwendet. So zum Beispiel in 32facher Ausführung, abwechselnd in Schwarz und Weiß gehalten, als Rahmung auf dem Frontdeckel des Verlagskatalogs ›Die Deutsche Kulturbewegung im Jahre 1913‹, Jena 1913. Für die Verwendung des Hakenkreuzes wurde Eugen Diederichs von Vertretern jener deutschnationalen und völkischen Kreise angegriffen, in denen er sich zeitweise bewegte, da er in seinem Verlagsprogramm unter anderem auch jüdische Autoren führte: »Aber es befremdet sehr, auf dem Titelblatt Ihres Heftes das hochheilige Hakenkreuz der arischen Germanen zu sehen, weil dieses rassische und religiöse Symbol, wenn es Nichtgermanen, wie die Obengenannten [Tolstoi, Bergson, Heine u.a.], mit decken soll, unwahr und als Rune unserer Rasse und unseres Volkes geradezu entwertet wird.« Vgl. dazu auch Werner (Anm. 15), S. 181–186. Auf eine genaue bibliographische Angabe zum oben wiedergegebenen Zitat, welches in verkürzter Form auch bei Werner zu finden ist, wird hier bewusst verzichtet, da es einem in rechtsextremen Kreisen noch immer verlegten antisemitischen ›Lexikon‹ entstammt, dessen Verbreitung nicht im Sinne des Autors dieses Beitrags ist.
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und ordnete sie neu an. Die ›Götterdichtung‹ und ein Textkorpus, das er als ›Spruchdichtung‹ bezeichnet, stehen nun vor der ›Heldendichtung‹, doch nimmt Genzmer bei den Heldenliedern auch eine interne Umstellung der Liedabfolge und einige Auslassungen vor.70
Abb. 6: Die Edda (Volksausgabe), Jena 1933, Einband.
›Das Alte Sigurdlied‹, so Genzmer in der Einleitung, behandle »[…] dieselbe Sage, die der erste Teil des Nibelungenliedes in epischer Breite auf mehr als dreissigfachem Raume darstellt«.71 Um diese Analogie zwischen dem altnordisch-isländischen Sigurðr und dem Helden des mittelhochdeutschen ›Nibelungenlieds‹ zu verdeutlichen, schreibt Genzmer: »Der deutsche Siegfried heißt hier Sigurd«, und lässt noch weitere Namenanalogien zwischen den beiden Texten folgen, wie Gunther-Gunnar oder Etzel-Atli.72 Genzmer glaubt, dass dieses Lied auf ein »fränkisches Heldenlied« zurückgehe, das aber »gegen Ende des 10.
70 Siehe dazu das Inhaltsverzeichnis bei Genzmer (Anm. 67), S. 231. 71 Ebd., S. 24. 72 Ebd.
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Jahrhunderts im nordischen Stilgefühl umgeformt worden« sei.73 Unter philologischen Gesichtspunkten ist hierbei nicht nur problematisch, dass ›Brot af Sigurðarkviðu‹ aus dem ›Codex regius der Lieder-Edda‹, auf dem die Übertragung Genzmers teilweise beruht, erst im späten 13. Jahrhundert verschriftlicht wurde.74 Gewichtiger scheint jedoch, dass es sich bei ›Brot af Sigurðarkviðu‹, wie der – in der Handschrift nicht überlieferte – Titel schon sagt, um ein Fragment handelt, dessen Leerstelle im Text als Teil der sogenannten ›Lieder der Lücke‹ bekannt ist.75 Heusler und Genzmer geben in ihrer Einleitung zum Lied in der Sammlung ›Thule‹ ebenso wie auch Genzmer in seiner eigenen Einleitung der ›Edda‹ an,76 ›Das Alte Sigurdlied‹ mehrheitlich aus der altnordischen Prosaerzählung ›Vǫlsunga saga‹, die einzig in der Handschrift NKS 1824 b 4to von ca. 1400 überliefert ist, erschlossen zu haben.77 So wird über den Titel ›Das Alte Sigurdlied‹ nicht nur ausgeblendet, dass es sich im altnordischen Text der Vorlage um ein Fragment handelt, sondern über das Adjektiv ›alt‹ zudem eine QuasiHistorisierung des konstruierten Liedes vorgenommen, womit der deutschen Übertragung in ihrer fingierten Vollständigkeit implizit eine Nähe zum postulierten ›fränkischen Heldenlied‹ attestiert wird. Das darauffolgende ›Alte Atlilied‹ definiert Genzmer wie folgt: »Dieses Lied enthält die Sage vom Untergang der Nibelungen: Sein Rahmen ist also derselbe wie der des zweiten Teils unseres Nibelungenliedes.«78 Auch im ›Alten Atlilied‹ will Genzmer als Grundlage ein fränkisches Lied erkennen, das »entgegen der das Nibelungenlied beherrschenden ostgotischen Auffassung in Attila einen
73 Ebd. 74 Vgl. Anm. 46 zur Datierung der Handschrift. 75 Vgl. Anm. 48 zu den ›Liedern der Lücke‹. 76 Vgl. Edda. Erster Band: Heldendichtung (Anm. 45), S. 33, und Genzmer (Anm. 67), S. 24. 77 Zur Problematik der Konstruktion von ›Das Alte Sigurdlied‹ auf der Textbasis der ›Vǫlsunga saga‹ vgl. Hubert Seelow: Problemfall Vǫlsunga saga, in: Care and Conservation of Manuscripts 4, hg. v. Gillian Fellows-Jensen u. Peter Springborg, Kopenhagen 1999, S. 96–109. Ulf Diedrichs gibt noch 1993 in zweiter Auflage einen einzig um ein Nachwort erweiterten Nachdruck von Band 21 der Sammlung ›Thule‹ (›Isländische Heldenromane‹) im Diedrichs Verlag heraus, in dem auch ›Die Geschichte von den Völsungen‹ (S. 7–102) abgedruckt ist. Der ganze Band lief damals jedoch unter einem ›nibelungisierenden‹ Titel: Nordische Nibelungen. Die Sagas von den Völsungen, von Ragnar Lodbrok und Hrolf Kraki, hg. v. Ulf Diedrichs, München 1993 [1985]. 78 Genzmer (Anm. 67), S. 24.
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goldgierigen, grausamen Feind erblickt.«79 Den Titelzusatz ›in Grœnlenzka‹ (das Grönländische), den die ›Atlakviða‹ im ›Codex regius der Lieder-Edda‹ trägt, wird dabei emendiert und auf die mögliche grönländische Entstehung nicht eingegangen.80 Genzmer übernimmt den Titel des Liedes ohne Titelzusatz wohl auch deswegen aus dem ersten Band der Sammlung ›Thule‹, da eine mögliche grönländische Herkunft seine Argumentation unterminieren würde, dass ›Das Alte Atlilied‹ in seiner vorliegenden Form wohl in Norwegen im späten 9. Jahrhundert von einem Skalden des Königs Haraldr hinn hárfagri (Harald I. Schönhaar) gedichtet worden sei.81 Anhand der frühen Datierung der altnordischen Versionen der Lieder und ihrer postulierten fränkischen Herkunft, die eben nicht nur aufgrund ihrer ›nibelungischen‹ Qualität an den Beginn der Heldenlieder in der Sammlung ›Thule‹ und der daraus abgeleiteten Volksausgabe ›Die Edda‹ gestellt wurden, zeigt sich ein deutlicher Hang zur Archaisierung und Historisierung der altnordischen eddischen Texte. Daran lässt sich auch gut Heuslers Anteil an der eddischen Heldenliederrezeption erkennen, wie sie in der Sammlung ›Thule‹ deutlich hervortritt. In seinem Standardwerk ›Nibelungensage und Nibelungenlied‹82 hält Heusler fest, wie er zum mittelhochdeutschen ›Nibelungenlied‹ steht. Heusler sah die Textkultur, in deren Umfeld auch das ›Nibelungenlied‹ entstand, als verfälscht durch fremde Literatur, durch »[…] den aus französischen Büchern übertragenen Romanen von Eneas, von Tristan, von den Artusrittern.«83 Die »Vorgeschichte des großen Epos«84 – des ›Nibelungenliedes‹ – glaubt Heusler an anderer Stelle zu finden: Woher kommt uns diese Kunde? In der Hauptsache aus norwegisch-isländischer Dichtung in Versen und Prosa; Werken, die sich durch das neunte bis ins dreizehnte Jahrhundert hinziehen. Sie sind abgezweigt von dem Stamm der deutschen Sagendichtung; sie zeigen uns den Nibelungenstoff auf früheren Stufen.85
79 Ebd. 80 Zur Forschungsdiskussion über die Implikationen des Titelzusatzes ›in Grœnlenzka‹ vgl. den Kommentar zu den Liedern der Edda, Bd. 7, hg. v. Klaus von See [u.a.], Heidelberg 2012, S. 386–390. 81 Vgl. Genzmer (Anm. 67), S. 24f. 82 Andreas Heusler: Nibelungensage und Nibelungenlied. Die Stoffgeschichte des deutschen Heldenepos, Dortmund 1921. 83 Ebd., S. 5. 84 Ebd., S. 6. 85 Ebd.
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Die Einschätzung des formalen Alters der eddischen Heldenlieder als Vorstufen des ›Nibelungenlieds‹ kulminiert bei Heusler in der Aussage: »Hier in der Edda haben wir also einen Ersatz für die Dichtung der fränkischen Merowingerzeit […].«86 Die Heldenlieder aus dem ›Codex regius der Lieder-Edda‹ werden damit über ihre Form von Heusler bewertet und als älter, germanischer und daher auch besser angesehen als ihre Ausformung im ›Nibelungenlied‹. ›Altgermanisch‹ lautet dann auch der Kulturbegriff, dessen sich Heusler für die eddischen Heldenlieder bedient, da seiner Ansicht nach die eddischen Heldenlieder im Gegensatz zum ›Nibelungenlied‹ weder von der Kirche noch von antiker Bildung beeinflusst worden seien.87 Auch Niedner schlägt im Einleitungsband ›Islands Kultur zur Wikingerzeit‹ in dieselbe archaisierende Kerbe, wenn er fälschlicherweise und wohl auch wider besseres Wissen immer wieder betont, dass in der Sammlung ›Thule‹ die Literatur der Wikingerzeit abgedruckt sei.88 Heuslers Auffassung weicht von dieser Einschätzung etwas ab. Im Vorwort zum ersten Band der Sammlung ›Thule‹ erläutert er, dass die übrigen Lieder, also der ›Gudrun-Zyklus‹, die ›Jung-Sigurd-Lieder‹ und die ›Helgi-Lieder‹, formal Produkte einer jüngeren Zeit, einer »isländischen Nachblüte« seien, die »ihr Verdienst in lyrischen und seelenmalenden Erfindungen« hätten.89 In ihnen sieht er aber auch »das rein menschliche, unpolitische Schicksal«90, das alle Anteilnahme der Rezipienten auf sich ziehe. Trotz ihres formal jungen Alters anerkennt er – und dies scheint für den stark antichristlich ausgerichteten Heusler wichtig zu sein – auch diese Lieder noch immer als »rechte Zeugen dieser heidnischen Heldengesinnung«, ganz im Gegensatz zu »unserer deutschen Nibelungennot mit ihrem weinerlichen Gemeinplatz«.91 So wird es über die ›altgermanischen‹, eddischen Heldenlieder wieder möglich, diese vorchristliche ›Heldengesinnung‹ erneut in das deutsche Volk und insbesondere in die als deutsch geltende Kulturgeschichte zu implementieren.92
86 Ebd., S. 8. 87 Ebd., S. 5–8. 88 Niedner (Anm. 27). 89 Edda. Erster Band: Heldendichtung (Anm. 45), S. 12. 90 Ebd., S. 14. 91 Ebd., S. 15. 92 Zernack (Anm. 15), S. 222, hält zum Vorgehen, welches der Sammlung ›Thule‹ zugrunde liegt, ganz zu Recht fest: »Mit der ›Sammlung Thule‹ haben sich die Deutschen die altnordische Überlieferung nicht nur zu eigen gemacht, sie haben sie – im wörtlichen Sinne – erobert. Es dürfte kaum übertrieben sein, in dieser Praxis der Aneignung fremder Literatur ein Stück Kulturimperialismus zu erkennen.«
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IV
Das Fortleben der ›Edda‹ aus der Sammlung ›Thule‹
Die Verbindung von völkischem Denken und bildungsbürgerlicher Gelehrtheit scheint eines der Erfolgsrezepte der Sammlung ›Thule‹ gewesen zu sein: Sowohl die beiden Bände der ›Edda‹ aus der Sammlung ›Thule‹ als auch die nur noch Felix Genzmer zugeschriebene ›Edda‹-Gesamtausgabe, die – wie oben beschrieben – direkt auf der zweibändigen ›Thule‹-Ausgabe beruht, waren ein wirtschaftlicher Erfolg. Der Band zu den eddischen Heldenliedern aus der Sammlung ›Thule‹ wurde 1963 erneut in derselben Aufmachung und mit demselben Text wie im Erstdruck von 1912 herausgegeben, nun jedoch erweitert um ein gänzlich unkritisches Nachwort von Hans Kuhn.93 Deutlich mehr Auflagen erreichte jedoch Genzmers Gesamtausgabe der ›Edda‹, welche nach der ›Volksausgabe‹94 und der sogenannten ›Monumentalausgabe‹95 von 1937 vom Diederichs Verlag mit verschiedenen Untertiteln herausgegeben wurde. So versah man beispielsweise die Ausgabe von 1956 mit dem Titel ›Die wesentlichen Gesänge der alt-
93 Edda. Erster Band: Heldendichtung, Düsseldorf u. Köln 1963. Das Nachwort von Hans Kuhn findet sich auf den S. 241–245. Kuhn war damals an der vollständigen Neuauflage der ›Thule‹-Bände zwischen 1963 und 1967 direkt beteiligt und steuerte für den von Niedner verfassten Einleitungsband auch einen Ersatz bei: Hans Kuhn: Das Alte Island, Düsseldorf 1971 (Sammlung ›Thule‹ 25). Die von Heusler und Genzmer erstellte Ausgabe wurde in der 6. Auflage zuletzt 1980 vom Diederichs Verlag herausgegeben. – Die politische Ideologie Kuhns, der schon früh Teil der den Völkischen nahestehenden Bündischen Bewegung war, 1920 als Freikorpssoldat diente, 1937 der NSDAP und dem NS-Dozentenbund beitrat, kann als exemplarisch für viele (Alt-)Germanisten und Skandinavisten betrachtet werden, die ihre akademische Karriere auch nach dem 2. Weltkrieg fortführen konnten. Zu Kuhn, der nicht mit dem Schweizer Skandinavisten Hans Kuhn verwechselt werden darf, vgl. auch EvaMaria Siegel: [Art.] Kuhn, Hans, in: Germanistenlexikon, 3 Bde., hg. v. Christoph König, Berlin 2003, S. 1031–1033. – In den 1970er-Jahren wurden zudem einige der Saga-Übersetzungen aus der Sammlung ›Thule‹ in leicht überarbeiteter Form unter dem Reihentitel ›Saga‹ von Kurt Schier beim Diederichs Verlag erneut herausgegeben: Die Saga von Grettir, hg. v. Kurt Schier, übers. v. Hubert Seelow, Düsseldorf 1974 (Saga 2); Die Saga von Egil, hg. u. übers. v. Kurt Schier, Düsseldorf 1978 (Saga 1). 94 Genzmer (Anm. 67). 95 Felix Genzmer: Die Edda, Jena 1937 (in Pergament gebundene Monumentalausgabe).
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nordischen Götter- und Heldendichtung‹96, jene von 2006 mit dem Titel ›Götterdichtung, Spruchweisheit und Heldengesänge der Germanen‹97. Der Wechsel der Bezugnahme auf die Herkunft der Texte von einem auf die Sprache referierenden ›Altnordisch‹ hin zu einem auf einen – für die Texte gänzlich ahistorischen und eher auf eine völkische Deutung ausgelegten – Begriff der ›Germanen‹ zeigt erneut den auch in der Gegenwart von dieser Ausgabe ausgehenden Kulturimperialismus. So erstaunt es nicht, dass die neueste Ausgabe der Übersetzung von Genzmer98 im Kopp Verlag erschienen ist, dessen Verlagsprogramm hauptsächlich rechtsesoterische, verschwörungstheoretische, pseudowissenschaftliche und rechtsextreme Literatur enthält. Abschließend muss die Frage gestellt werden, ob es sich beim ersten Band der Sammlung ›Thule‹ wirklich nur um eine ›Nibelungisierung‹ der eddischen Heldenlieder handelt? Es zeigte sich, dass bei der Behandlung der altnordischisländischen Heldenlieder durch die Übersetzer, Kommentatoren und Herausgeber der Sammlung ›Thule‹ und der daraus entstandenen Nebenprojekte Rezeptionshindernisse für das Publikum konsequent eliminiert wurden, um den Deutschen, der Idee Diederichs entsprechend, die »einzige sichere und unbestritten echte Quelle für unser ererbtes Geistesgut«99 nahezubringen. Nur durch ›Thule‹ konnten Island und seine mittelalterliche, christlich geprägte Literatur für die deutschsprachige Leserschaft, wie Niedner es formuliert, »für alle Zeiten zum heiligen Boden für alle Völker germanischer Abstammung«100 werden – oder, wie es in der Ankündigung zum Heldenliederband der Sammlung ›Thule‹ heißt: Die Isländer des Mittelalters haben für die Geschichte des Germanentums die Bedeutung, dass sie den gleichen höchsten Menschentypus verwirklicht haben, wie
96 Die Edda. Die wesentlichen Gesänge der altnordischen Götter- und Heldendichtung, übertr. v. Felix Genzmer, Düsseldorf u. Köln 1956. 97 Die Edda. Götterdichtung, Spruchweisheit und Heldengesänge der Germanen, übertr. v. Felix Genzmer, Kreuzlingen 2006. 98 Die Edda. Götterdichtung, Spruchweisheit und Heldengesänge der Germanen, übertr. v. Felix Genzmer, Rottenburg am Neckar 2017. 99 Aus dem Diederichs-Verlagskatalog ›Thule. Leben und Art des germanischen Menschen‹ (ca. 1935), zit. nach Schier (Anm. 12), S. 439. 100 Niedner (Anm. 27), S. 6.
›Nibelungisierung‹ der altnordisch-isländischen Heldenlieder? | 195
die Griechen des Altertums und die Italiener der Renaissance auf der Höhe ihrer Kultur.101
Die ›Nibelungisierung‹, die vom Verlag, vom Herausgeber und von den an der Sammlung ›Thule‹ beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern angestrebt wurde, kann als Bestreben zur Erzeugung einer ›germanischen Kulturkontinuität‹ identifiziert werden. Nicht nur die eddischen Heldenlieder sollten dabei als literarische Urmanifestation des ›Nibelungischen‹ präsentiert werden, auch das ›Nibelungenlied‹ hatte von fremden Einflüssen gereinigt und in eine rein germanische Literaturtransmission rücküberführt zu werden. Der deutschen Gegenwart der Sammlung ›Thule‹ sollten die altnordischen Texte dabei zur Verbreitung der völkisch determinierten Propaganda einer ›germanischen Kulturkontinuität‹ dienen. Der Umstand, dass die der Sammlung ›Thule‹ entstammende ›Edda‹ gegenwärtig von einem auf rechtspopulistische Literatur spezialisierten Verlag veröffentlicht wird, zeigt auch, dass die von der Sammlung ›Thule‹ intendierte völkische Rezeption bis heute andauert und einen gewissen Erfolg hat.
101 Aus dem ›Diederichs Verlagsalmanach‹ von 1913, zit. nach Gangolf Hübinger: Gelehrte, Politik und Öffentlichkeit: Eine Intellektuellengeschichte, Göttingen 2006, S. 170.
Der ›germanisch-deutsche‹ (Wer-)Wolf Zur Genese eines populären Stereotyps Niels Penke
I
Werwölfe zwischen Pop und NS
Wählen sich deutsche (para-)militärische Männerbünde ein Symbol- oder Wappentier, dann ist dies seit Beginn des 20. Jahrhunderts häufig der Wolf. Mehr noch, einige derart verbündete Männer werden im Akt des Kämpfens selbst zu Wölfen, deren Attribute und (vermeintlichen) Verhaltensweisen sie sich zuschreiben und die sie performativ zu bestätigen trachten. Sie werden somit durch den Kampf zu Werwölfen, zu Hybridwesen (Wer˗ verweist etymologisch auf ›Mann‹), die in eine zivile, menschliche und in eine raubtierische, wilde Hälfte zerfallen. Ziel dieser ›Werwölfe‹ ist es, sich in der periodischen Verwandlung von den Regulativen der Kultur zu befreien und sich einer ursprünglichen Triebnatur zu übereignen. Diese Triebnatur ist in der Semantik des Wolfes konserviert, die in Differenz zu der des Hundes steht. Der Wolf ist die ursprüngliche, nicht domestizierte canide Spezies. Wer sich als Wolf wähnt oder sich ihn zum symbolischen Wappentier wählt, reklamiert dessen vor-zivilisatorische Wildheit und Natürlichkeit für sich. Der Wolf ist somit ein Symbol mit kulturkritischer Komponente – der Werwolf partizipiert, wenn auch nur in seiner Halbheit, an diesem Atavismus.1 Damit geht ein exklusiver Anspruch einher, diesen Rück-
1
Vgl. auch C.G. Jungs zeitgenössische Deutung des Nationalsozialismus als ›Wiedererwachen Wotans‹, als eines kollektiven Rückschritts in die Irrationalität. Carl Gustav Jung: Wotan, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 10, Olten u. Freiburg 1981 [1936], S. 202–218.
198 | Niels Penke
schlag zu einer spezifisch deutschen Option2 zu machen, die sich auf ein verschüttetes ›germanisches‹ Erbe rückbezieht. Diesem Regressionswunsch liegt eine Kulturfeindlichkeit zu Grunde, die darauf abzielt, sich von ihren aufgezwungenen Sublimierungsforderungen zu befreien und der »ursprünglichen, von der Kultur ungebändigten Persönlichkeit«3 freien Lauf zu lassen. Der Wunsch nach Regression zielt auf die Entledigung von allen Regeln der Zivilisation, vom Gesellschaftsvertrag, der die weniger wilden und physisch Schwächeren schützt und zumindest formal alle gleichwertig macht. Der Regressionswunsch negiert die Errungenschaften der Aufklärung: Ratio, Mündigkeit und freie Entscheidung, die den Menschen als Individuum und zivilisiertes Wesen auszeichnen, das seine Triebe sozialverträglich zu sublimieren gelernt hat, sollen zugunsten seiner ursprünglichen Bestialität aufgegeben werden. In diesen Naturzustand treten ausschließlich männliche Raubtiere ein, deren Zusammenschluss eine harte Exklusion gegenüber anderen, entgegengesetzten Prinzipien bedeutet und entlang der Kategorien Geschlecht, Nation und ›Rasse‹ verläuft. Der ›Werwolf‹ ist also immer ein Mensch, der die »Grenze« zwischen Kultur und Wildnis »in sich«4 auflösen kann, und dort, wo er kein Einzelfall ist, mit Gleichartigen kleine Gemeinschaften (›Rudel‹) bildet. Ihre Verankerung finden diese Vorstellungen in mythologischen bzw. literarischen Traditionen, die ihren Ausgang in der Figur Odins bzw. Wotans haben, der als Herr der Wölfe das Geschlecht der Völsungen begründete, aus dem auch Sigurd/Siegfried hervorgegangen ist. Odin steht zudem als Gestaltwandler5 den
2
Auch die faschistische Partei Italiens PNF bediente sich der Wolfssymbolik. Seit 1926 fasste diese in ihrer Jugendorganisation ›Balilla‹ (später ein Vorbild für die Hitlerjugend in Deutschland) verschiedene Alterskohorten zusammen, von denen die jüngste als ›Figli della lupa‹ (›Kinder der Wölfin‹) die Sechs- bis Achtjährigen erfasste. Traditionsbestimmend ist zwar der Mythos von der Gründung Roms durch die von einer Wölfin gesäugten Zwillinge Romulus und Remus, die Semantik der ›Wölflinge‹ wurde dennoch gepflegt. Vgl. Luigi Sturzo: Über italienischen Faschismus und Totalitarismus. Neu hrsg. v. Uwe Backes u. Günther Heydemann, Göttingen 2018, S. 276.
3
Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur, in: ders.: Das Unbehagen in der Kultur und andere kulturtheoretische Schriften. Eingel. u. hg. v. Alfred Lorenzer u. Bernard Görlich, Frankfurt a.M. 2009, S. 29–108, hier S. 62
4
Vgl. Hans Peter Duerr: Traumzeit. Über die Grenze zwischen Wildnis und Zivilisati-
5
Vgl. Klaus Böldl: Götter und Mythen des Nordens. Ein Handbuch, München 2013, S.
on, Frankfurt a.M. 1985, S. 141. 135. Dazu auch das Kapitel ›Schamanische Lehren und Techniken bei den Indoger-
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Tieren nahe; seine Begleittiere – Wölfe, Raben und Adler (siehe ›Gylfaginning‹ 38) – sind alle mit Kampf, Jagd und Töten assoziiert. In ›Gylfaginning‹ 50 wird Váli, der einmal als Lokis, dann wieder als Odins Sohn genannt wird, in einen Wolf verwandelt, um Lokis anderen Sohn Narfi zu zerreißen und den Vater mit dessen Eingeweiden zu fesseln. Persistenz und Rekurrenz dieser Bilder und Vorstellungen reichen weit in die gegenwärtige globale Popkultur hinein. Der Werwolf und vergleichbare Identitätsentwürfe begegnen auch dort, wo es keineswegs um die Verherrlichung des Nationalsozialismus geht, wie etwa in der japanischen Manga-Serie ›Hellsing‹ (Kōta Hirano, seit 1997), in der mit der Figur des Captains – der in Fortschreibungen der Serie auch Hans Günsche heißt – ein Veteran der Waffen-SS auftritt. Dieser beste Krieger der deutlich an das NS-Deutschland angelehnten ›Millennium Organization‹ kann sich in einen Werwolf verwandeln und kämpft als solcher u.a. gegen Vampire. Eine solche Konfrontation von Vampiren und Werwölfen im Sinne eines ›Rassenkriegs‹ ist kein Einzelfall. Die ›Underworld‹-Filme (2003–2016) oder Stephenie Meyers ›Twilight‹-Reihe (2005–2009) wiederholen diesen Konflikt. ›Twilight‹ erzählt neben einer Liebesgeschichte vom Jahrhunderte währenden Existenzkampf einer indigenen autochthonen Gemeinschaft von Werwölfen gegen die landnehmende und kolonisierende Kultur von Vampiren.6 Diese Konstellation verfeindeter ›Rassen‹ ist nicht neu, sie lässt sich auf Darstellungsstereotype des völkischen Antisemitismus und der NS-Propaganda zurückführen – der blutlüsterne, Frauen verführende und Kinder aussaugende, heimatlose und global landnehmende Jude, der sich Staaten untertan macht und ihren ›Volkskörper‹ infiziert, gehört zu den häufig gebrauchten Figurationen des ›Stürmers‹, der radikal-antisemitischen Zeitung Julius Streichers. In der offenen Feldschlacht mit dem Vampir tritt der Werwolf in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aber noch nicht auf. Allerdings bezogen sich eine Reihe nationalistischer und völkischer Autoren, vor allem aber faschistische und nationalsozialistische Verbände emphatisch auf den Werwolf. In ihrer Identität als ›Werwölfe‹ stellten sie sich in den Kampf gegen all jene, die sie als äußere wie innere Feinde Deutschlands ansahen. Zunächst rein literarisch-metaphorisch im Gebrauch, ging der Akzent in rascher Radikalisierung bald vom W o r t zur T a t über. In
manen‹ in: Mircea Eliade: Schamanismus und archaische Ekstasetechnik, Frankfurt a.M. 1975, v.a. S. 362–369. 6
Vgl. dazu Uwe Schwagmeier: Don’t Cullenize me! Vampire, Werwölfe und die Spuren des (post-) colonial gothic in Stephenie Meyers Vampir-Tetralogie ›Twilight‹, in: Der Vampir in den Kinder- und Jugendmedien, hg. v. Jana Mikota u. Sabine Planka, Wien 2012, S. 179–193.
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seinem 1934 im Schweizer Exil verfassten Pamphlet ›Deutschland ist Caliban‹ betrachtet der österreichische Schriftsteller Walther Rode den Nationalsozialismus als »eine Art Lycanthropie: die Besessenheit, werwölfisch in einen Urgermanen rückverwandelt worden zu sein.«7 Im Folgenden soll es um die Rekonstruktion dieser Identifikation der national(sozial)istischen Deutschen mit dem Werwolf – weniger als Fremd- denn als Selbstbild – gehen, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelt wurde. Über diese positive Eigenbeschreibung sind zudem Anschlüsse an die ›Germanen‹ hergestellt worden, nicht zuletzt auch, um sich in der archaisierenden Rückverwandlung von den Regulativen der (›wesensfremden‹) Kultur zu befreien. II
Die ›germanischen‹ (Wer-)Wölfe: ›Völsunga saga‹ und ›Egills Saga‹
Auch wenn es zahlreiche antike Werwolferzählungen gibt, die u.a. bei Herodot, Plinius, Vergil, Ovid und Petronius überliefert sind,8 spielen diese für ihre ›germanischen‹ Entsprechungen nur eine untergeordnete Rolle. Wolf und Werwolf, wie sie für die deutschen Selbstentwürfe konstitutiv werden, stehen vor allem in der Tradition altisländischer Überlieferungen. Die ›Völsunga saga‹ aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts erzählt von den Völsungen, jenem mythischen Geschlecht, das von Odin abstammt und aus dem in der fünften Generation schließlich Sigurd/Siegfried hervorgeht. Die Saga berichtet auch von prominenten Gestaltwechseln, an zentraler Stelle von der Verwandlung Sigmundrs und
7
Walther Rode: Deutschland ist Caliban. Ein Pamphlet gegen den Hinterwäldler aus Braunau und die Deutschen aus dem Jahre 1934, Zürich 1934, S. 13. Ich danke Robert Schöller für den Hinweis auf Rode und dessen Buch.
8
Überblicke zur Geschichte der Werwolfsvorstellungen geben u.a. Christoph Daxelmüller: Der Werwolf. Ein Paradigma zur Geschichte der kulturellen Wahrnehmung, in: Zeitschrift für Volkskunde 82 (1986), S. 203–208; Katrin Sohm: [Art.] Werwolf, in: RGA, Bd. 33, 2006, S. 489–491; Hans Reichstein u. Jón Hnefill Aðalsteinsson: [Art.] Wolf, in: RGA, Bd. 34, 2007, S. 200–206. Zum Werwolf in volkstümlicher und literarischer Überlieferung vgl. zudem die eher allgemeinen Darstellungen von Christian Stiegler: Vergessene Bestie. Der Werwolf in der deutschen Literatur, Wien 2007; Utz Anhalt: Die gemeinsame Geschichte von Wolf und Mensch. Von Wolfsmenschen und Werwölfen, Schwarzenbek 2016.
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seines Sohnes Sinfjǫtli in Wölfe.9 Auf diese ist in der Forschung primär Bezug genommen worden, wenn es um das Werwolfmotiv geht.10 Ich lese allerdings die gesamte Saga bzw. die Familiengeschichte der Völsungen als eine, die explizit wölfisch markiert ist. Nicht nur wird bereits ihr göttlicher Stammvater Odin mit Wölfen – seinen Gefährten Geri und Freki – assoziiert; auch sein Sohn Sigi, der erste menschliche Völsung, ist wölfisch attribuiert. Er tötet aus einer Kränkung heraus den Knecht seines Konkurrenten Skadi, der ihn bei der Jagd übertrumpft. Sigi verscharrt den Leichnam im Schnee; doch der Mord wird aufgedeckt und Sigi als ›Wolf‹ in die Verbannung geschickt. Die Saga verwendet für Sigi die Bezeichnung varg í veum11 – ›Wolf im Heiligtum‹ –, einen im Zusammenhang mit Rechtsbrüchen gebrauchten Terminus für einen gesetzlos gewordenen outlaw, der vor allem auf die Heimlichkeit des Verbrechens abzielt. Ohne sich physisch zu verwandeln, ist Sigi aufgrund seines heimlichen, gewaltsamen und verbrecherischen Tuns als Wolf gekennzeichnet. Drei Generationen später bricht dieses wölfische Moment gleich zweifach durch. Völsungs zehn Söhne drohen einer nach dem anderen von einer Wölfin gefressen zu werden (es handelt sich um die Mutter des konkurrierenden Königs Siggeier, des Gemahls Signys). Sie ist eine ylgr, eine weibliche Werwölfin. Sigmundr gelingt es aber, sie zu überlisten, sodass sie sich letztlich selbst zerreißt. Der Saga nach hat Siggeirs Mutter durch Zauberei Wolfsgestalt angenommen.12 Sigmundr macht sich daraufhin mit seinem Sohn und Neffen Sinfjötli auf die Jagd. Sie treffen auf zwei Männer in einer Hütte, denen sie zwei Wolfsbälge stehlen. Sie ziehen diese an und verwandeln sich dadurch in Wölfe, die gegen sieben bzw. elf gewöhnliche Männer bestehen können.13 Daraufhin geraten sie allerdings untereinander in Streit und kämpfen miteinander. Schließlich verbrennen sie die Wolfsbälge und befreien sich so von diesem vorübergehenden ›Fluch‹. Die Verwandlungsepisode wird in
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Hier spielt auch ein Inzestmotiv mit hinein, denn Sinfjǫtlis Mutter ist Signy, Sigmundrs Schwester. Sigmundrs Sohn Sigurd stammt indessen aus der Verbindung mit Hjördis.
10 Vgl. Matthias Teichert: Þeir Sigmundr fóru í hamina. Die Werwolferzählung im 8. Kapitel der Völsunga saga, ZfdA 138 (2009), S. 281–295. 11 Þá kalla þeir hann varg í véum, ok má hann nú eigi heima vera með feðr sínum. Vo̜lsunga saga. The saga of the Volsungs. The Icelandic text according to MS Nks 1824 b, 4°. With an Engl. transl., introd. and notes by Kaaren Grimstad, Saarbrücken 2000, S. 76 12 Ebd., S. 90: hafi hun brugðit a sik þessu líke fyrir trollskapar sakir ok fiolkyngi (›hätte dieses Aussehen aus Trolltum und Zauberkraft angenommen‹). 13 Ebd., S. 96–98.
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der Saga indessen als rite de passage ausgestellt, an deren Ende es heißt, dass Sinfjötli erwachsen (frumvaxti) geworden sei und Sigmundr ihn ausreichend getestet habe (hafa reynt hann miok).14 Ähnliche Verschränkungen gibt es in einer weiteren altisländischen Saga, der ebenfalls aus dem 13. Jahrhundert stammenden ›Egills Saga Skallagrímssonar‹, die den Lykanthropismus ebenfalls genealogisch entwickelt. Die darin erzählte Familiengeschichte entfaltet das Werwolfmotiv über drei Generationen. Bereits der Großvater Kveldúlfr (dt. ›Abendwolf‹) verdankt seinen Namen der Eigenart, abends besonders unfreundlich (styggr) und müde (kveldsvæfr) zu sein und zudem seine Gestalt verändern zu können: at hann væri mjǫk hamrammr.15 Sein Sohn Skallagrímr teilt diese Veranlagung; doch liegt bei ihm eine Kopplung des Werwolf- mit dem Berserkermotiv vor. Skallagrímr verfügt über einen Wolfssinn (úlfúðar), der sich in seiner Reizbarkeit, aber auch in der kämpferischen Veranlagung äußert, die im Konflikt einen eliminatorischen Drang zu Tage treten lässt. Er sei unerbittlich darin, heißt es, seine Feinde zu stellen und zu töten: ihnen also rächend zum Wolf zu werden. Gegenüber seinem Vater ist bei Skallagrímr ein Zuwachs an destruktivem Potential festzustellen, das bei einem Ballspiel offenkundig wird. Nach Sonnenuntergang macht Skallagrímr eine Verwandlung durch, die ihm eine solche Kraft verleiht, dass er den Spielgefährten seines Sohnes Egill tötet. Seine Gewalttätigkeit wendet sich selbst gegen den eigenen Sohn, doch wird Egill von der ebenso mutigen wie kräftigen Magd þorgerðr gerettet. Skallagrímr wird in dieser Szene zwar nicht expressis verbis zum Wolf, doch kann die Veränderung nach Sonnenuntergang und der mit dem Kraftzuwachs einhergehende Kontrollverlust als Zeichen für die von seinem Vater geerbte zweite Natur gedeutet werden. In der Verwandlung findet eine Entgrenzung statt, durch welche Skallagrímr sich in herkömmliche soziale Ordnungen und Bindungen nicht mehr einzufügen vermag. Für ihn gerät das Spiel unvermittelt zum tödlichen Ernst, der Freund (beziehungsweise Sohn) wird zum Feind, der nun die eliminatorische Energie des ›Wolfes‹ zu spüren bekommt. Egill schließlich vollendet diese Genealogie außergewöhnlicher Männer, die sich durch herausragende Körperkraft und die rauschhafte Entäußerung im Kampfgeschehen auszeichnen. Beim Holmgang mit Atli þorgeirsson wirft Egill seine Waffen von sich und tötet Atli mit einem Biss in die Kehle. Bereits anhand dieser Beispiele ist eine Semantik von Wolf und Werwolf zu erkennen, auf die im völkischen Roman und in der politischen Ikonographie des Nationalsozialismus zurückgegriffen wird. Diese spezifische Form der Theri-
14 Ebd., S. 98. 15 Egils saga, hg. v. Sigurður Nordal, Reykjavik 1933 (Ìslenzk Fornrit 2), S. 4.
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anthropie steht ausschließlich im Zusammenhang mit Jagd und Kampf, wobei die Kraft des Werwolfs diejenige gewöhnlicher Menschen um ein Vielfaches übersteigt. Er kann sowohl einzeln als auch im Verbund jagen. Bei allem, was er tut, überschreitet er Grenzen – die Heiligkeit des veums, wie in der Redensart vom varg í veum –, die allesamt Grenzen der Zivilisation sind: Er überwindet Zäune, dringt in Ställe und Gehege ein und tötet mehr Tiere, als er fressen kann. Im Kampf gegen Menschen entledigt er sich aller artifiziellen Waffen und nutzt die atavistischen Klauen und Zähne. Nur die wenigsten wissen von seiner zweiten Natur, da er in der menschlichen Gemeinschaft in Verstellung lebt. Die Verwandlung zum Werwolf ereignet sich heimlich und zumeist in der Nacht. Dieser Zusammenhang von Nacht, Heimlichkeit und Heimtücke ist nach innen und außen hermetisch geschlossen. Der Werwolf handelt so, wie er ist, verborgen – und trachtet danach, dass seine Tat nicht mit ihm in Verbindung gebracht wird. III
Deutsche Werwölfe in der Literatur
Je häufiger die nordisch/germanischen Mythen zu identitätsstiftenden Zwecken herangezogen wurden, desto wahrscheinlicher wurde es, dass neben Odin/Wotan als väterlichem Leitideal auch das wölfische Element hinzutreten konnte.16 An dieser Stelle muss auf die vollständige Nachzeichnung der Geschichte prominenter Werwölfe in der Literatur verzichtet werden. Zu den frühesten Beispielen der identitären Funktionalisierung des Werwolfmotivs zählt Willibald Alexis’ ›Der Werwolf‹ (1848), der im Untertitel als ›vaterländischer Roman‹ bezeichnet wird. In der im frühen 16. Jahrhundert angesiedelten Handlung wird das ›wölfische‹ Verhalten auf verschiedene Figuren übertragen, v.a. auf den ›Pfaffenschreck‹ Hake von Stülpe, dessen ›raubtierhaftes Handeln‹ gegen Ablasshändler und andere Papisten mit dem Werwolf assoziiert wird. In der Phase der reformatorischen ›Selbstbesinnung‹ der Deutschen taucht der Werwolf als das entscheidende Motiv auf, um die ›barbarischen‹ Sitten des Glaubenskampfes zuzuspitzen.17
16 Zur Funktionalisierung nordischer Mythen für die Identitätsbildung der Deutschen vgl. Klaus von See: Barbar, Germane, Arier. Die Suche nach der Identität der Deutschen, Heidelberg 1994. 17 Vgl. Anja Sroka: Das Bild der Reformation in Alexis’ Roman ›Der Werwolf‹, in: Willibald Alexis (1798–1871). Ein Autor des Vor- und Nachmärz, hg. v. Wolfgang Beutin u. Peter Stein, Bielefeld 2000, S. 217–231.
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Abb. 1: Hans Pape, Illustration zu Hermann Löns, Der Wehrwolf, Jena 1923.
Als paradigmatisches Beispiel für die identitätsstiftende Funktionalisierung des Werwolfs kann Hermann Löns’ ›Der Wehrwolf. Eine Bauernchronik‹ (1910) herangezogen werden. Vordergründig erachtet Löns den ›Wehrwolf‹ als eine Koinzidenz, die nichts mit dem mythischen Werwolf zu tun zu haben scheint: Der Protagonist Harm Wulf, der den Wolf im Namen trägt, wehrt sich einfach nur. Dennoch dominiert die Motivik des Wolfes in einer geradezu überbordenden Fülle an wölfischen Begriffen, Motiven und charakterisierenden Zuschreibungen. Nicht zuletzt die Illustrationen Hans Papes (Abb. 1) haben diese Motive prominent in Szene gesetzt. In Löns’ »Totschlagbuch«18 artikulieren sich ein »brutales Heidentum« und ein »orgiastische[r] Blut- und Gewalt-Kult«19 im Zeichen des Wolfes zu Zeiten
18 Karlheinz Rossbacher: Heimatkunstbewegung und Heimatroman. Zu einer Literatursoziologie der Jahrhundertwende, Stuttgart 1975, S. 56.
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des Dreißigjährigen Krieges. Dabei wird der historische Bogen weit geschlagen. Der Erzähler erinnert an den Uranfang, als die Heide »wüst und leer«20 war, dann herrschten »Bär« und »Wolf« (S. 1), ehe sie von Norden her durch die »Gelbhaarigen« (ebd.) besiedelt wurde. Blut und Boden bilden eine über Jahrtausende beständige Bindung einer bestimmten Gemeinschaft an ›ihre‹ Scholle. Schon zu Zeiten der Varusschlacht hätten die Heidebauern sich den Stammesverbänden angeschlossen, um die römischen Legionen »aus dem Land zu jagen« (S. 3). Auch die Auseinandersetzungen zwischen den sächsischen Stämmen und Karl dem Großen und die damit einhergehende Christianisierung hätten nur oberflächliche Spuren hinterlassen, denn »innerlich blieben sie die Alten« (S. 4). Auf diese Weise wird eine historische Parallelsituation zu der Handlungsebene des Romans hergestellt. Die Wirren des Dreißigjährigen Krieges führen Dänen, Schweden, kaiserliche Truppen, aber auch Landstreicher, vor Armut und Hunger Geflüchtete und sogenannte ›Zigeuner‹ (u.a. S. 38, 219) in die Heide. Sie alle erscheinen als Feinde, die, wenn sie in das »Bruch« hineinkommen, durch Hinterhalte oder (seltener) durch offen ausgeführte Attacken getötet und anschließend »beigerodet« (S. 83) oder zur Abschreckung aufgehängt werden. Der Primat der Heidebauern ist Selbsthilfe: »Helf dir selber, dann helft dir auch unser Herrgott!« (S. 24). Und diese Hilfe muss wölfisch betrieben werden: Sie kommen überein, dass sie sich »wie die Wölfe [...] verstecken müssen« (S. 89), in eigens dafür ausgehobenen »Wolfskuhlen«. Zur Abschreckung werden die Bäume mit Wolfsangeln (siehe Abb. 1) versehen, »und das bedeutete: ›Wahr dich, denn vor dir ist ein Loch, und wenn du da hineinfällst, bist du des Todes!‹« (S. 92). Die jungen, unverheirateten Männer der Heidedörfer und -höfe »verbrüdern« (S. 95) sich: »auf Not und Tod, Gut und Blut«, um »unsere Art« zu erhalten. Sinnfälligerweise nennen sie sich auch »Wolfsbrüder«, wenn sie (zunächst 33, dann 111 Mann) als »Wehrwölfe« (S. 94) unter der Führung Wulfs zusammenkommen: »ein richtiger Wolf ist es auch, denn wo er zubeißt, da gibt es dreiunddreißig Löcher« (S. 94). Sie stellen Schleichtrupps, malen sich die Gesichter schwarz, kommunizieren über den »Wolfsruf« (S. 114) und schlagen nur aus dem Hinterhalt zu. Wulf, der nach dem Tod seiner ersten Frau und der Kinder vorübergehend in Apathie verfällt, erwacht schließlich wieder zum »Grauhund, der Blut lecken« (S. 113) und »Wolf auf der Haide spielen« (S. 123) will. Er stachelt sein
19 Manfred Kluge: [Art.] Hermann Löns. Der Wehrwolf, in: Kindlers Literatur-Lexikon. 3. Aufl., Bd. 10, hg. v. Heinz Ludwig Arnold, Stuttgart 2009, S. 283–284, hier S. 283. 20 Hermann Löns: Der Wehrwolf. Eine Bauernchronik, Jena 1924, S. 1. Im Folgenden unter Angabe der Seitenzahl im Haupttext zitiert.
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Gefolge dazu an, »Beißwölfe« (S. 153) zu werden. In dieser Rolle töten die Wehrwölfe »einige Tausend« (S. 198), unabhängig ob Soldaten oder unbewaffnete Eindringlinge – Massaker folgt auf Massaker. Die natürliche Rechtfertigung dieses Tuns schließt andere Handlungsoptionen aus: Löns’ ›Wehrwolf‹ kennt nur die Alternative zwischen Töten und Getötetwerden. Die eigentliche soziale Motivation der Gewaltspirale des Dreißigjährigen Krieges, dessen Plünderungs- und Mordexzesse durch den Mangel an Ressourcen begründet werden, liegt außerhalb von Löns’ ›Chronik‹. Die Wehrhaftigkeit, wie Löns sie zeigt, ist nur durch die Reizbarkeit Wulfs und die durch keine räsonierenden Erwägungen gestörte Schlagfestigkeit der Bauern möglich. Ohne zu differenzieren, abzuwägen oder zu verhandeln, wird erschlagen, was sich unberechtigt nähert. Löns’ ›Wehrwolf‹ ist ein männliches Kollektivsubjekt, das nichts anderes kann und macht als Fallen zu stellen, zu jagen und zu töten. Der Roman stieß bei den Zeitgenossen auf große Resonanz und erreichte bis 1944 eine Gesamtauflage von 720 000 Exemplaren.21 Aber auch nach 1945 wurde der ›Wehrwolf‹ weiterhin aufgelegt, bis zur Mitte der 1980er-Jahre ließ der Diederichs Verlag bis 875 000 Exemplare nachdrucken. Für nicht wenige seiner Leser boten Harm Wulf und seine ›Wehrwölfe‹ ein attraktives Identifikationsangebot. Bei Ernst Jünger ist die Verwandlung hingegen mehr als nur ein ›wie‹Vergleich. In seinem bekanntesten Kriegsbuch, ›In Stahlgewittern‹ (1920), das auf seine Erlebnisse im Ersten Weltkrieg zurückgeht, finden sich auch Beschreibungen von Tierverwandlungen. Anlässlich der Schilderung eines Sturmangriffs spricht er vom »Gipfel der Vertierung« und der Gefahr, »daß schwache Naturen dem atavistischen Triebe, zu vernichten, erliegen«. Einschränkend setzt er hinzu: »Ich habe ihn selber nur zu oft empfunden.«22 Es geht also nicht nur um die schwachen Naturen, vielmehr gehöre es zu den Grundprinzipien der kriegerischen Auseinandersetzung, dass »das Tier als geheimnisvolles Ungeheuer vom Grund der Seele«23 steigt. Im entscheidenden Moment komme es darauf an, die Zügel gleiten zu lassen und sich den Trieben willentlich hinzugeben. Infolge eines solchen, als anthropologische Konstante angesetzten ›atavistischen Triebes‹
21 Hermann Löns: Der Wehrwolf. Eine Bauernchronik, Jena 1944. 22 Ernst Jünger: In Stahlgewittern. Aus dem Tagebuch eines Stoßtruppführers (2. Fassung), Berlin 1922, S. 168. 23 Ernst Jünger: Der Kampf als inneres Erlebnis, Berlin 1922, S. 7. Ferner dort auch die Deutung, dass »im Krieg sich der wahre Mensch für alles Versäumte [entschädigte]« und die »Triebe wieder das Einzige und Heilige und die letzte Vernunft [wurden]« (S. 3).
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könne es in jeder historischen Epoche geschehen, dass der kämpfende Mann über sich hinauswächst und zum Werwolf mutiert: In einer Mischung von Gefühlen, hervorgerufen durch Blutdurst, Wut und Alkoholgenuß gingen wir im Schritt auf die feindliche Linie los. Ich war weit vor der Kompagnie […]. Ich kochte vor einem mir jetzt unbegreiflichen Grimm. Der übermächtige Wunsch zu töten, beflügelte meine Schritte. Die Wut entpresste mir bittere Tränen. Der ungeheure Vernichtungswille, der über der Walstatt lastete, konzentrierte sich in den Gehirnen. So mögen die Männer der Renaissance von ihren Leidenschaften gepackt sein, so mag ein Cellini gerast haben, Werwölfe, die heulend durch die Nacht hetzen, um Blut zu trinken.24
Die disziplinierte Beherrschtheit des Soldaten wird im Kampfgeschehen aufgegeben und der ›Krieger‹ von der hemmenden Rationalität entbunden: Er verfällt seiner animalischen Triebnatur und verschmilzt mit anderen Rasenden zu einer kollektiven, blutgierigen Einheit. Die Haltung verliert sich zugunsten einer rauschhaften Entladung, die sich in Heulen, Hetzen oder im Trinken von Blut manifestieren kann. Derart berauscht, kann der ›Krieger‹ gegen alle Dienstvorschriften – Ruhe bewahren, aufpassen, beobachten, Stellung halten – und sozialen Konventionen seinem inneren Drang folgen. Einmal verwandelt, gibt es kein Zurück: Der Kämpfer, dem während des Anlaufs ein blutiger Schleier vor den Augen wallte, kann seine Gefühle nicht mehr umstellen. Er will nicht gefangen nehmen, er will töten. Er hat jedes Ziel aus den Augen verloren und steht im Banne gewaltiger Urtriebe. Erst wenn Blut geflossen ist, weichen die Nebel aus seinem Hirn; er sieht sich um wie aus schwerem Traum erwachend. Erst dann ist er wieder moderner Soldat, imstande, eine neue taktische Aufgabe zu lösen.25
Und Jünger projiziert das werwölfische Element auch auf künftige Generationen: Das wird bleiben, solange Menschen Kriege führen, und Kriege werden geführt, solange noch das tierische Erbteil im Blute kreist. Da spielt die äußere Form keine Rolle. Ob im Augenblick der Begegnung die Krallen gespreizt und die Zähne entblößt [...] werden […], stets kommt der Punkt, wo aus dem Weißen im Auge des Feindes der Rausch des roten Blutes stammt. Immer löst der keuchende An-
24 Ders. (Anm. 22), S. 198. 25 Ebd., S. 204.
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sprung, der letzte, verzweifelte Gang dieselbe Summe der Gefühle, ob nun die Faust die geschnitzte Keule oder die sprengstoffvolle Handgranate schwingt.26
In der Parallelisierung von Keule und Handgranate, wo die »äußere Form keine Rolle [spielt]«, finden Enthistorisierung und Universalisierung auch auf materieller Ebene ihren ›Nachweis‹. Das Äußere spiegele das wider, was sich zugleich an psycho-physischen Vorgängen im Inneren des ›Kriegers‹ vollzieht. Über alle historischen Brüche und möglichen sozialen Entwicklungen hinweg behauptet Jünger eine tiefe Verwandtschaft der ekstatischen Kämpfer, die mehr als nur eine metaphorische Verwandlung erfahren, wenn die »Urtriebe mit kompliziertesten Mitteln der Vernichtung [wüten]«.27 Die eingangs aufgerufene besondere Form der Therianthropie, die Verwandlung eines Mannes in einen Wolf, veranschaulicht die aufkochenden ›Urtriebe‹, die einen Bruch nicht nur mit zivilen, sondern auch mit den soldatischen Verhaltenscodices bedeuten, aus denen in der Verwandlung lustvoll ausgebrochen werden kann. Explizit greift Jünger auf die ›Egills Saga‹ als Prätext zurück.28 Wie auch Egill entledigen sich Jüngers Werwolf-Soldaten auf dem Höhepunkt des Kampfes ihrer artifiziellen Kampfwerkzeuge und besinnen sich auf die animalischen Waffen: Die Hand wird zur Klaue und der Mund zum Maul. Rauschhafte Steigerung führt nicht nur zu Kraftgewinn, sie befreit zudem von reglementierenden Ordnungen: Für Jünger und Egill verliert in diesem Moment jegliche Kampfkonvention ihre normative Wirkung. Noch deutlicher als bei Jünger gilt für Egills Metamorphose, dass »in der Lykanthropie und anderen Tiermenschvorstellungen sich kannibalische Wunschphantasien«29 manifestieren. Wie Egill neigt der Protagonist der ›Stahlgewitter‹ zum ekstatischen Kontrollverlust. Zwischen kalter, reflektierter Beherrschtheit und rauschhafter Entladung formt sich ein Charakterbild, das die Binarität von Beherrschung und
26 Ders. (Anm. 23), S. 8. 27 Ders. (Anm. 22), S. IV. 28 Vgl. Niels Penke: Ernst Jünger und der Norden. Eine Inszenierungsgeschichte, Heidelberg 2012, S. 76–82. 29 Klaus Völker: Nachwort, in: Von Werwölfen und anderen Tiermenschen. Dichtungen und Dokumente, hg. v. dems., Augsburg 1997, S. 411–443, hier S. 417. Freud analysiert in einer seiner ausführlichsten Krankengeschichten den Fall eines ›Wolfmannes‹, der kannibalistische Züge aufweist. Vgl. Sigmund Freud: Aus der Geschichte einer infantilen Neurose (Der Wolfsmann), in: ders.: Zwei Kinderneurosen, hg. v. Alexander Mitscherlich [u.a.], Frankfurt a.M. 1978 (Sigmund Freud Studienausgabe 8), S. 125–232.
Der ›germanisch-deutsche‹ (Wer-)Wolf | 209
Rausch nicht als fremdbestimmt begreift, sondern das es dem »Krieger« ermöglicht, sich im Kampf willentlich und lustvoll dem Geschehen hinzugeben. In Jüngers Darstellung der Massenschlacht entsteht aus der Anonymität wiederum eine Form von Heimlichkeit, die jede individuelle Zurechenbarkeit verhindert. In den 1920er Jahren erfährt der Werwolf noch weitere nationalistisch aufgeladene literarische Adaptionen: Auch im Roman ›Der Werwolf‹ (1928) des weitgehend unbekannten Autors Richard Lemme stehen heimliches Jagen und Töten im Zentrum. Obwohl der Werwolf der Gemeinschaft durch sein heimliches, mörderisches Treiben schadet, wird er zum »Messias« erhoben; er fungiert als »unser heiliges Symbol, unser Zeichen, in dem wir siegen werden«.30 An diese etablierte Semantik schlossen mehrere reale WerwolfsGemeinschaften an, die allerdings über die Bilder und Vorstellungen aus der Literatur hinaus politische Wirksamkeit anstrebten. IV
Deutsche Werwölfe in der Politik
Der im Januar 1923 gegründete ›Wehrwolf. Bund deutscher Männer und Frontkrieger‹ war ein nationalistischer paramilitärischer Wehrverband, der sich überwiegend aus Freikorps-Mitgliedern rekrutierte. Das Gründungsdatum, der 11. Januar, verweist auf die Besetzung des Ruhrgebietes durch französische Truppen und forciert damit den Aspekt der ›Heimatverteidigung‹, auch wenn sich der Verband später expansiv nach Osten orientierte. Im Mittelpunkt standen »[d]ie Frontsoldatentugenden: Tapferkeit. Kameradschaftssinn. Manneszucht und Opferbereitschaft!« In diesem Sinne war der ›Wehrwolf‹ nach dem Führerprinzip organisiert, das sich von der Bundesführung bis zu den jugendlichen Mitgliedern des ›Jungwolf‹ erstreckte. Ab 1924 wurde die ideologische Ausrichtung des Verbandes, der zu Hochzeiten zwischen 30 000 bis 40 000 Mitglieder hatte, über die zehntägig erscheinende Zeitung ›Der Wehrwolf‹ kommuniziert. Die Fahne des ›Wehrwolfs‹ weist einen silbernen Totenkopf auf schwarzem Grund auf, die des ›Jungwolfs‹ – mit Bezug auf Löns – eine Wolfsangel. Die Uniformen hingegen waren mit einem weißen Totenkopf verziert.31
30 Richard Lemme: Der Werwolf, München 1928, S. 28. 31 Vgl. Kurt Finker: Wehrwolf. Bund deutscher Männer und Frontkrieger, in: Lexikon zur Parteiengeschichte. Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien und Verbände in Deutschland (1789–1945), Band II: Die bürgerlichen Parteien in Deutschland, hg. v. Dieter Fricke [u.a.], Berlin 1968, S. 835–840.
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Abb. 2: Abzeichen ›Der Wehrwolf – Bund deutscher Männer und Frontkrieger‹
Im September 1927 wurde in einer Sonderbeilage des ›Wehrwolfs‹ das Programm für einen »Kreuzzug von Westen nach Osten« ausgegeben, um dort die »Arterhaltung« durch »Raumerweiterung« sicherzustellen.32 Auch in anderen programmatischen Erklärungen wurden Expansion, Kampf und Krieg als Leitmaximen ausgegeben. Die wichtigste Aktivität des ›Wehrwolfs‹ bestand im Kampf für Deutschland und somit gegen jene, die als dessen Feinde betrachtet wurden – insbesondere mit Kommunisten sind gewaltsame Begegnungen dokumentiert. 1933 geht der ›Wehrwolf‹ in der SA auf, als deren verdienstvolle Vorkämpfer man sich wähnte. Der Werwolf verschwand damit aber keineswegs aus dem Symbolvorrat des Nationalsozialismus, der durchgängig einen Wolfskult pflegte, wenngleich dieser erst in den letzten Kriegsjahren an Sichtbarkeit zunehmen sollte. Joseph Goebbels beschrieb den parlamentarischen Kurs der NSDAP als den Einzug von Wölfen ins Parlament: Wir gehen in den Reichstag hinein, um uns im Waffenarsenal der Demokratie mit deren eigenen Waffen zu versorgen. Wir werden Reichstagsabgeordnete, um die Weimarer Gesinnung mit ihrer eigenen Unterstützung lahmzulegen. Wenn die Demokratie so dumm ist, uns für diesen Bärendienst Freifahrkarten und Diäten zu geben, so ist das ihre eigene Sache. Wir zerbrechen uns darüber nicht den Kopf. Uns ist jedes gesetzliche Mittel recht, den Zustand von heute zu revolutionieren. [....] Wir kommen nicht als Freunde, auch nicht als Neutrale. Wir kommen als Feinde! Wie der Wolf in die Schafherde einbricht, so kommen wir!33
32 Zit. n. Finker (Anm. 31), S. 838. 33 Joseph Goebbels: Was wollen wir im Reichstag?, in: Der Angriff (30. April 1928); Nachdruck in: ders.: Der Angriff. Aufsätze aus der Kampfzeit, hg. v. Hans Schwarz van Berk, München 1935, S. 71–73, hier S. 71, 73. Aktuell versucht die AfD ebenfalls diese Rolle des Wolfes einzunehmen. Ihr thüringischer Landesvorsitzender
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Auch Adolf Hitler sah sich selbst über seinen Namen, den er von Adalwolf (von ahd. adal ›edel, vornehm‹) ableitete, als wölfisch bestimmt.34 Privat hörte er auf den Spitznamen ›Wolf‹; seine Führerhauptquartiere bekamen eine Reihe von Wolfsnamen: Am prominentesten ist die ›Wolfsschanze‹, aber auch die Sitze ›Werwolf‹ und ›Wolfsschlucht I bis III‹ markieren relevante Positionen im tiermetaphorischen Koordinatensystem des Nationalsozialismus.
Abb. 3: ›Punch‹, United Kingdom, 11.04.1945.
Im September 1944 wurden auf Anordnung Heinrich Himmlers die WerwolfKampfverbände ins Leben gerufen, die in den letzten Kriegsmonaten einen Par-
Björn Höcke hat die Wolf-Metapher beim Kyffhäuser-Treffen am 23. Juni 2018 aufgegriffen. »Heute«, so Höcke, »lautet die Frage Schaf oder Wolf. Und ich, liebe Freunde, meine hier, wir entscheiden uns in dieser Frage: Wolf.« Vgl. dazu Heinrich Detering: Was heißt hier ›wir‹? Zur Rhetorik der parlamentarischen Rechten, Ditzingen 2019, insb. S. 41f. 34 Vgl. Hans-Jürgen Eitner: ›Der Führer‹. Hitlers Persönlichkeit und Charakter, München 1981, S. 18.
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tisanen-Kampf gegen die bereits ins Reich eingedrungenen Alliierten führen sollten. Löns ›Wehrwolf‹ war das Leitbild dieser Unternehmung, die vor allem von Jugendlichen getragen werden sollte. Flakhelfern und Hitlerjungen wurde der Roman zur Lektüre verordnet, um sie für den Kampf in We(h)rwolf-Manier zu animieren. Die Aufrufe zur Bildung des ›Werwolfs‹ fanden in der Bevölkerung und unter den Angehörigen der Wehrmacht jedoch nicht das gewünschte Echo. Bis Ende 1944 war es in Berlin gelungen, etwa 5.000 Freiwillige zu rekrutieren, darunter SS-Leute, Hitlerjungen und Parteifunktionäre. Dem ›Werwolf‹ stand Hans-Adolf Prützmann als ›Reichs-Werwolf‹ vor, der sich nur Himmler gegenüber zu verantworten hatte. Die ›Werwölfe‹ des Verbandes waren in ›Rudeln‹ organisiert, in denen der befehlshabende Offizier als ›Leit-Wolf‹ bzw. ›Leit-Werwolf‹ bezeichnet wurde. Diese wurden in speziellen ›WerwolfSchulungs-Gattern‹ ausgebildet oder ›abgerichtet‹, wie etwa in der Ausbildungsstätte auf Schloss Hülchrath in Grevenbroich. Bis zur Kapitulation wurden allerdings nur wenige ›Leit-Wölfe‹ aufgezogen, so dass viele ›Rudel‹ ohne Führung ziellos durch das bereits besetzte Deutschland zogen, die nur über eine sehr geringe militärische Schlagkraft verfügten.35
Abb. 4: ›The Age‹, Melbourne, 18.04.1945, S. 3.
Nach Himmlers Vorstellung bildeten die ›Werwölfe‹ eine geheime Widerstandsbewegung, die keinen ›Volkskrieg‹ auslösen, sondern im Untergrund kämpfen sollte. Geplant waren Aufklärung, Sabotageakte, Attentate und terroristische Anschläge gegen die Alliierten, aber auch gegen deutsche Kollaborateure, deren
35 Vgl. Perry Biddiscombe: Werwolf! The history of the National Socialist Guerrilla Movement, 1944–1946, Cardiff 1998.
Der ›germanisch-deutsche‹ (Wer-)Wolf | 213
»Welle des Verrats« durch internen Terror beendet werden sollte. Die Verwendung der Wolfsangel als Zeichen des Werwolfs hatte die geheime Präsenz zu bezeugen, die noch durch Flugblätter unterstützt wurde: »Wer nicht mitmacht – ist gegen uns!«36 Joseph Goebbels suggeriert in seinen Tagebüchern, dass die WerwolfBewegung auf seine Initiative zurückging.37 Dies gilt auch für den von ihm initiierten Propagandasender ›Radio Werwolf‹, der in den letzten Tagen des ›Dritten Reichs‹ installiert wurde. Am 1. April 1945, kurz vor der Kapitulation des Deutschen Reichs, begann der Sender mit Durchhalteparolen und Agitation. Er machte auch die deutsche Bevölkerung mit der Untergrundbewegung des Werwolfs bekannt; die eingeführte Losung »Haß ist unser Gebet und Rache ist unser Feldgeschrei« unterstreicht die Unbedingtheit des Auftrags.38 Martialische Kampfansagen und Rachebeschwörungen sollten den innerdeutschen Widerstand gegen die alliierten Truppen größer erscheinen lassen, als er tatsächlich war. Bereits am 24. April stellte der Sender seinen Betrieb ein; die Tätigkeiten der WerwolfVerbände wurden von Hitlers Nachfolger Karl Dönitz am 5. Mai 1945 untersagt. V
Persistenz der Werwölfe nach 1945
Nach dem Ende des Nationalsozialismus ist die Affinität der extremen Rechten zum Werwolf allerdings keineswegs abgerissen. In quantitativer Hinsicht haben die Bezüge sogar zugenommen. 1979 gründete der Neonazi Michael Kühnen die ›Wehrsportgruppe Werwolf‹, der zahlreiche Kameradschaften und Gruppierungen, Lokale und Geschäfte gleichen Namens folgten. Der Begriff findet sich zudem häufig in Zeitschriften und im Rechtsrock.39 Hinzu kommen ab den 1990er Jahren noch Bekleidungsfirmen sowie verschiedene Metal-Spielarten – von denen aber mit Ausnahme der prominentesten ›Werwolf‹-Künstler nicht alle eine
36 Vgl. den Abdruck in Volker Koop: Himmlers letztes Aufgebot. Die NS-Organisation ›Werwolf‹, Köln 2008, S. 14. 37 Vgl. Peter Longerich: Joseph Goebbels. Biographie, München 2010, S. 668. 38 Vgl. Cord Arendes: Schrecken aus dem Untergrund. Endphaseverbrechen des ›Werwolf‹, in: Terror nach innen. Verbrechen am Ende des Zweiten Weltkrieges, hg. v. dems. [u.a.], Göttingen 2006, S. 150. 39 Vgl. Nils Raupach: Vom Werwolfmythos der NSDAP zum Outlaw-Image der Rechtsrocker von heute, in: Von Frei.Wild bis Rechtsrock. (Jugend-) Musikszenen in Schleswig-Holstein, Kiel 2014, S. 24–28.
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explizite politische Agenda haben.40 Ein allgemeiner (Wer-)Wolfskult der extremen Rechten ist allerdings nicht nur in Deutschland festzustellen; auch in anderen Staaten Europas und Nordamerikas (z.B. ›Wolves of Vinland‹)41 finden solche Vergemeinschaftungen zwischen Pop-affinen Subkulturen und (extrem rechter) Politik im Zeichen des Wolfes statt. Die Frage nach dem ursprünglichen Ausgangspunkt dieser Vorstellungen einer spezifisch deutschen, performativen Identität ist schwierig zu beantworten. Der Umschlag literarisch vermittelter Werwolf-Vorstellungen des Mittelalters in die politische Wirklichkeit des 20. Jahrhunderts ist indessen nicht zu übersehen. Hermann Löns’ ›Wehrwolf‹ ist dabei als eine zentrale ideologische Schaltstelle auszumachen, auf die sich einige NS-Akteure explizit beziehen. Die Wolfwerdung des nationalsozialistischen Deutschland wurde bereits 1936 zeitgleich von zwei verschiedenen Theoretikern beschrieben, die sich gleichwohl der Faszination des ›mythischen‹ Ereignisses nicht entziehen konnten. Zum einen hat Carl Gustav Jung in seinem gleichnamigen Essay ›Wotan‹ als Inbegriff der ›deutschen Seele‹ beschrieben. Er sah die Zunahme der »Rückgriffe politischer Art auf mittelalterliche und antike Vorbilder«42 seit dem Ersten Weltkrieg als Anzeichen einer kulturellen Rückbesinnung, in der Wotan wie Hitler konstitutive Funktionen zukommen. Er sieht beide gleichermaßen als »Ergreifer der Männer«, die eine berserkerhafte Kraft freizusetzen vermögen. Was nach Massenpsychologie klingt, wird jedoch von Jung mythisiert. Wotan, so heißt es, sei »eine Grundeigenschaft der deutschen Seele«, ein Ausdruck »irrationaler Natur«, der in der Weise eines Sturms »den kulturellen Hochdruck abbaut und wegreißt«.43 Periodisch kehre diese »germanische Urgegebenheit«44 an die Oberfläche zurück, so wie das Weltenende der Ragnarök im Mythos ebenfalls als zyklisches Ereignis angelegt ist. Jung endet seinen Essay entsprechend mit einem ›Völuspá‹-Zitat, in dem er die »wölfische Brut«45 der apokalyptischen Begleiter Lokis mit dem Nationalsozialismus parallelisiert. Die Verbindung von Tierver-
40 Vgl. Niels Penke: Töten für Wotan. Zur radikalisierten Mythenrezeption im ›National Socialist Black Metal‹, in: Zwischen Germanomanie und Antisemitismus. Transformationen altnordischer Mythologie in den Metal-Subkulturen, hg. v. dems. u. Matthias Teichert, Baden-Baden 2016, S. 83–120. 41 Vgl. Simon Volpers: Neue rechte Männlichkeit. Antifeminismus, Homosexualität und Politik des Jack Donovan, Hamburg 2020, insb. S. 138–145. 42 Jung (Anm. 1), S. 203. 43 Ebd., S. 210. 44 Ebd., S. 210. 45 Ebd., S. 218.
Der ›germanisch-deutsche‹ (Wer-)Wolf | 215
wandlungen mit Kampf- und Mordlust in männlichen Gemeinschaften beschreibt im selben Jahr auch der Altgermanist Otto Höfler, der die vielleicht gewichtigste Zwischeninstanz zwischen Dichtung, Fachwissenschaft und politischer Indienstnahme darstellt. Im Fazit seiner Studie über ›Kultische Geheimbünde‹ werden das historische Material und die politische Gegenwart strukturell zusammengeführt: Die ekstatischen Kulte der germanischen Totenreligion lehren uns ein anderes: die Bindung (re-ligio!) an die fortlebenden Toten und ihren Führer ist heilige Verpflichtung. Diese altgermanische Gemeinschaftsform ist nicht mit der Vorzeit zugrunde gegangen. [...] Was aber jene Religionsformen von jeher erfüllt hat und in ihnen fortgelebt hat, war soziale Dämonie. Und diese Dämonie ist zur geschichtsbildenden Kraft geworden.46
Diese »soziale Dämonie« verbindet die kriegerischen Fiktionen mit den durchaus realen Vergemeinschaftungen der Freikorps˗Werwölfe und der NS-Partisanen-Verbände. Auch ihre Wiedergänger in Kameradschaften, Rockergangs oder militanten Black Metal-Bands versuchen, an diese Tradition anzuknüpfen – sie allesamt hoffen darauf, dass ihr gewalttätiges Treiben als ›Werwölfe‹ in (möglichst naher) Zukunft einen Beitrag zur »geschichtsbildenden Kraft« leistet. Die Wahl der Metapher impliziert immer einen kulturkritisch motivierten Bezug auf die Natur, aus deren (vermeintlichen) Prinzipien heraus ein Korrektiv für die als defizient empfundene Gegenwart abgeleitet wird. Dem Kampf als extremem Mittel sozialer Aushandlung kommt dabei stets eine zentrale Rolle zu. Für das Individuum bedeutet dies, dem ›Trieb‹ und dem ›Lockruf des Blutes‹ zu folgen, eine Entantwortung vom eigenständigen, rationalen Handeln anzustreben und sich im Kollektiv zum Kampfverband mit anderen Rasenden zusammenzuschließen – ein genuin faschistisches Motiv: Der Werwolf fungiert gruppenbildend als ein »Kanalisationssystem«, in dessen Rahmen die Männer gemeinsame Grenzüberschreitungen erfahren. Sie sind »nicht isoliert und gespalten [, sondern teilen] die Übertretung des Verbots mit so vielen, möglichst mit allen anderen […]«.47 Ob dies im Modus von Verteidigung oder Angriff geschieht, spielt eine untergeordnete Rolle. Der Angriff dieser ›We(h)rwölfe‹ ist Verteidigung des Eigenen gegen alles, was als Bedrohung oder als Einbruch in die Grenzen des eigenen Machtbereichs empfunden wird. Kern dieser wie auch immer realisierten Werwölfe ist der Kampf: Wo der ›Werwolf‹ auftritt, steht Kampf bevor. Wo es
46 Otto Höfler: Kultische Geheimbünde der Germanen, Frankfurt a.M. 1934, S. 341. 47 Klaus Theweleit: Männerphantasien, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1977, S. 550.
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zum Kampf kommt, findet die Verwandlung in den (individuellen oder kollektiven) Werwolf statt. Dieser Prozess lässt sich bis in die Gegenwart verfolgen: Wer sich Werwolf nennt oder in dessen Zeichen mit anderen vergemeinschaftet, will kämpfen. Einen friedfertigen Werwolf gibt es nur im Kinderbuch, etwa in Paul von Loons ›Rölfchen Werwölfchen‹ (1996) oder in Cornelia Funkes ›Kleiner Werwolf‹ (2002), nicht aber in dieser politischen Traditionslinie, in der es um die Selbstermächtigung im Zeichen von Germanentum, nationalistischer Präformation, Identitätsstiftung und Befreiung von der Last moderner Vergesellschaftung geht. Bei den Werwölfen dieser Tradition handelt es sich um konzeptionelle Neuprägungen, um die Archetypisierung paramilitärischer Männerbünde, aber nicht um Wiedergänger mediävaler literarischer Figuren. In Wilhelm Hertz’ Materialsammlung über den Werwolf findet sich die Übersetzung eines bedenkenswerten frühneuzeitlichen Kommentars. Dieser stammt von Wolfeshusius, d.i. Johann Friderich aus Wülfershausen an der Saale (1563–1629), der in seiner Schrift ›De Lycanthropis‹ von 1591 eine Bestimmung der Wahr-Wölffe vornimmt: Wahr-Wölffe, die von Unsinnigkeit so eingenommen seyn, daß sie eben das thun, und die Leuthe anfallen, als wan sie wahrhaftige Wölffe wären.48 Diese Unsinnigkeit des freiwilligen Rationalitätsverlusts lässt sich also mitunter durch Enttarnung bannen. Der Geheimbund verliert viel von seiner Kraft und seinem Schrecken durch die Offenlegung seiner Mitglieder – so wie der Werwolf des Volksglaubens zurückverwandelt wird, wenn man ihn bei seinem Taufnamen anruft.49
48 Zit. n. Wilhelm Hertz: Der Werwolf. Beitrag zur Sagengeschichte, Stuttgart 1862, S. 3. 49 Vgl. Sohm (Anm. 8), S. 490.
Siegfried und das Motiv des ›Volkskaisers‹ Republikanische und völkische Varianten eines deutschen Erlösermythos Volker Gallé
I
Einleitung
Der Text fasst den Einbruch der Moderne um 1800 ins Auge1 und verfolgt dessen narrative Wirkung und politische Nutzung bis in die Zeit der nationalsozialistischen Diktatur. Dabei steht der deutschsprachige Raum im Vordergrund. Die in der Moderne neu formulierte Idee eines ›Volkskaisers‹ und ihre Besetzung mit der Siegfriedfigur sind dabei der konkrete Untersuchungsgegenstand. Angestoßen wurde diese Perspektive durch die Beschäftigung mit den völkischen Nationalismen der Gegenwart und ihrem Versuch, den demokratischen Volksbegriff erneut umzudeuten und die Möglichkeiten einer demokratisch verfassten Gesellschaft zur Machteroberung zu nutzen mit dem Ziel, eine autoritär organisierte Volksgemeinschaft zu etablieren. Auf Grund der Konzentrierung der Perspektive in einem vielgestaltigen und ambivalenten Bedeutungsfeld und der unterschiedlichen Ausprägung des Untersuchungsgegenstands zu bestimmten Zeiten handelt es sich um eine Skizze, die durch weitere Quellenrecherchen vertieft und korrigiert werden sollte.
1
Die Epochenschwelle von der frühen Neuzeit zur Moderne, die den Zeitraum zwischen 1750 und 1850 bestimmt und von Reinhard Koselleck als ›Sattelzeit‹ bezeichnet wurde, markiert auch einen bis in die Gegenwart reichenden begriffsgeschichtlichen Wandel, der Begriffe im politisch-sozialen Raum wie Staat, Bürger, Volk, Nation und Familie umfasst.
218 | Volker Gallé
II
Theoretische Vorbemerkungen
Im Zuge des ›narrative turn‹ hat vor allem die narrative Psychologie formuliert, dass Menschen ihrem Leben einen plausiblen Sinn stiften, indem sie Eindrücke und Erlebnisse in Form von Erzählungen festigen. Das gilt sowohl für Individuen als auch für Gruppen.2 Bereits 1953 formulierte der Geschichts- und Geschichtenphilosoph Wilhelm Schapp in der Tradition der Phänomenologie Husserls: »Wir Menschen sind immer in Geschichten verstrickt.«3 Das gelte für den Alltag ebenso wie für die Weltgeschichte oder die Geschichte von Nationen und Zeitaltern. Damit verknüpfbar sind Studien der Geschichtswissenschaft zur ›historischen Sinnbildung‹4, die u.a. die ›Psychologie des Geschichtsbewusstseins‹ und die ›Ästhetik historischer Sinnbildung‹ ins Auge fassen. Insbesondere Herfried Münkler machte die Nutzung literarischer Überlieferung in der politischen Mythologie zum Thema der Politikwissenschaft. In seinem ›Siegfrieden‹Buch setzte er sich zudem mit der politischen Nutzung des Nibelungenstoffs im Wilhelminischen Kaiserreich auseinander.5 In Weiterführung dieser Ansätze gehe ich davon aus, dass durch Narration gebildetes kollektives Wissen immer wieder situativ und daher auch im politischen Raum als Material für kollektive Sinnstiftung abgerufen werden kann. Je nach aktuellem Interesse können Figuren und die dazugehörigen Dramaturgien ausgewertet, reduziert und parallel genutzt werden. Meist gehen im rhetorischen und propagandistischen Duktus dabei die Ambivalenzen und komplexen Dramaturgien der Erzählungen, aber auch der einzelnen Figuren, verloren. Die Akteure unterschätzen allerdings oft die dabei unterdrückte Wirkung der ursprünglichen Erzähldramaturgie, die im kulturellen Gedächtnis abrufbar gespeichert ist und Nutzer zu alternativen Deutungen und nicht vorhergesehenen Handlungen führen kann. Daher bleibt es möglich, dass auch gegen den politischen Mainstream anerzählt wird. Der Vorteil politischer Mythenbildung besteht in der an vorhandenem Material anknüpfenden Plausibilität, die sie sowohl im Raum intersubjek-
2
Vgl. Wilhelm Schapp: In Geschichten verstrickt, 5. Aufl., Frankfurt a.M. 2012; Paul Ricœur: Zeit und Erzählung, 3 Bde., München 1988; Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein. Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte – Erinnerung, Geschichte, Identität 1, hg. v. Jürgen Straub, Frankfurt a.M. 1998.
3
Schapp (Anm. 2), S. 1.
4
Vgl. Jörn Rüsen: Historische Sinnbildung. Grundlagen, Formen, Entwicklungen,
5
Herfried Münkler u. Wolfgang Storch: Siegfrieden. Politik mit einem deutschen My-
Wiesbaden 2020. thos, Berlin 1988.
Siegfried und das Motiv des ›Volkskaisers‹ | 219
tiver Verständigung als auch im Selbsterzählungsraum des einzelnen Menschen auslösen kann. Gerade durch Beispielreihung und Schwerpunktsetzung sind tradierte Narrative leichter veränderbar als politische Programme. Narrative können zudem Vorbildcharakter lebensweltlich entwerfen. Politische Mythen sind aber nicht nur unter dem Aspekt propagandistischer Funktionalisierung zu sehen; als sinnbildende Akte können sie sich verändernde gesellschaftliche Organisationsformen vermitteln und festigen. Individuelle Sinnstiftung spiegelt sich im Nahraum, etwa in der Familie, kollektive Sinnstiftung hingegen auf einer sozialen Ebene, vom Dorf über Region und Nation bis hin zum Kollektiv der Menschheit, und wirkt von dort wieder auf den Einzelnen zurück. III
Anwendung: Einbruch der Moderne
Durch die bürgerliche Utopie der Aufklärung und ihre politischen Folgen dringt auf der Basis des Gleichheitspostulats ein neuer Volksbegriff in die Alltagswelt, dessen Kern die Übertragung der monarchischen Souveränität auf das Volk ist. In gewisser Weise ist das eine Umstülpung des Absolutismus, der bereits die historische Vielfalt mittelalterlicher Politikordnungen reduziert und seinen Einfluss unter nationalstaatlicher Doktrin räumlich stark erweitert hat. Die neue Orientierung am Volksbegriff bereitet zwei modernen Formen politischer Organisation den Weg: auf der einen Seite die Republik, die Modelle antiker Stadtstaaten in Griechenland und Rom weiterentwickelt und dem einzelnen Bürger Verfassungsrechte nach den Prinzipien der Gewaltenteilung garantiert, auf der anderen Seite die sich am antiken Caesarismus orientierende Alleinherrschaft einer charismatischen Persönlichkeit. Letztere nimmt fortgeschrittene feudale Modelle von Königsherrschaft auf, die auf der Verkörperung der Gefolgschaft in der Person des Königs beruhen und solcherart Ordnung garantieren. Der dabei zur Legitimation genutzte völkische Nationalismus führt im 20. Jahrhundert zu einer elitenorientierten Ein-Parteienherrschaft. Beispiele sind die autoritären Systeme von Faschismus, Nationalsozialismus und Stalinismus. Als Zwischen- und Übergangsform entstehen als vorherrschendes Modell politischer Ordnung im 19. Jahrhundert in vielen Staaten zunächst konstitutionelle Monarchien mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung in die eine oder andere Richtung. Diskurs und Propaganda stehen für unterschiedliche Gewichtungen in den beiden Politikformen. Im narrativen und vor allem im performativen Bereich sind republikanische und caesarisch-völkische Kultur noch nicht ausreichend in ihren Gegensätzen beschrieben, auch was die unterschiedlichen Färbungen in den nationalstaatlichen Politikkulturen Europas und Amerikas betrifft.
220 | Volker Gallé
Frank Lorenz Müller beschreibt die neue Situation der Monarchen in seinem Buch über den ›99-Tage-Kaiser‹ Friedrich III. treffend mit den Worten: Anders als ihre Vorgänger mussten die europäischen Monarchen des neunzehnten Jahrhunderts auf die Öffentlichkeit Rücksicht nehmen – und dies bedeutete, dass ein Fürst sich nun häufig an ein breites Publikum richten und auch vor diesem agieren musste.6
Bei Friedrich III. wurde daraus das Bild des Familienmenschen und liberalen Bürgerkönigs, bei Wilhelm II. das des zunehmend völkisch orientierten ›Volkskaisers‹. Man sollte beachten, dass auch nach dem politischen Bruch durch die Französische Revolution die alten dynastisch-ständischen Modelle politischer Ordnung noch eingeübt und wegen ihrer Orientierung auf Familie und Herrschaft durchaus anschlussfähig an die neuen bürgerlichen Familiennarrative waren. Klaus von See weist darauf hin, dass der Nibelungenstoff nach 1820 zunächst im Geist des bürgerlichen Biedermeier als ›intim-familiär‹ dargestellt wird; er nennt dies die ›Kriemhildphase‹.7 Die Familienorientierung konnte also sowohl republikanisch als auch monarchisch angelegt werden. Da die bürgerlichen Familienmodelle ebenfalls patriarchalisch ausgerichtet waren, kann die psychologische Wirkung von Königsmorden und Kaiserstürzen als Signal für eine Auflösung stabiler Ordnungen selbst den privaten Bereich erfassen. Nicht nur in Deutschland, auch in Frankreich kehren monarchische Konzepte bald nach den bürgerlichen Revolutionen zurück, etwa bei Napoleon und Louis-Philippe I., wenn auch im Wechsel mit republikanischen Regierungen. Der deutsche Kaisersturz von 1918 lässt im völkischen Raum neue Varianten des Führer- und Erlösermythos entstehen, die von Max Weber 1919 als charismatische Herrschaft beschrieben wurden.8 In diesem Prozess setzt sich ein Narrativ durch, das – wie bei Adolf Hitler – den ›Führer‹ als einen Mann aus dem Volk inszeniert. Hitler sieht sich selbst zunächst als Trommler für den kommenden
6
Frank Lorenz Müller: Der 99-Tage-Kaiser. Friedrich III. von Preußen – Prinz, Mo-
7
Klaus von See: Das Nibelungenlied – ein Nationalepos?, in: ders.: Barbar, Germane,
narch, Mythos, München 2013, S. 146. Arier. Die Suche nach der Identität der Deutschen, Heidelberg 1994, S. 83–134 (Erstdruck in: Die Nibelungen. Ein deutscher Wahn, ein deutscher Alptraum. Studien und Dokumente zur Rezeption des Nibelungenstoffs im 19. und 20. Jahrhundert, hg. v. Joachim Heinzle u. Anneliese Waldschmidt, Frankfurt a.M. 1991, S. 43–110). 8
Vgl. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, 2. Halbbd., 5. Aufl., Tübingen 1972, S. 654–687.
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Führer (somit als eine Art Rolandfigur)9, und erst nach der Haft 1923 als Führer, wobei er sich an Mussolini orientiert. In zahlreichen europäischen Staaten wird nach 1918 die eben erst eingeführte parlamentarische Demokratie durch autoritäre Regimes ersetzt, seien es »Militärregimes, Königsdiktaturen, autoritäre Staaten, Diktaturen und faschistische Systeme«10, so in Ungarn (1920), Italien (1922), Albanien (1925), Litauen, Portugal und Polen (1926), Jugoslawien (1929) und schließlich in Deutschland (1933) und Österreich (1934).11 Rassismus und Antisemitismus nehmen gegen Ende des 19. Jahrhunderts als Varianten einer materialistischen Wirklichkeitsauffassung an Bedeutung zu und stützen sich sowohl auf sozialdarwinistische Ideologien der Moderne als auch auf Abstammungsnarrative, die sich aus feudalen Strukturen herleiten und auf Nationen übertragen ließen – allesamt Mythen eines völkischen Nationalismus, die mit der kulturell bereits stark hybriden Alltagswelt in den Familien und Staaten nicht übereinstimmten und gerade deswegen zu Verfolgung und Vertreibung motivierten. Im Verlauf des betrachteten Narrativraums entwickeln sich drei Typen von Figuren, die im literarischen und politischen Raum an ältere Narrative des kulturellen Gedächtnisses in Europa anknüpfen und als charismatische Identitätsstifter genutzt werden: – die Kaiserfigur: Barbarossa, Friedrich II. und Friedrich der Große – der Heilsbringer: Georg, Michael, Luther – der junge Held: Siegfried und Arminius Zur an Vergangenheit und Geschichte orientierten Kaiser- oder Königsfigur gesellt sich aus der literarischen Überlieferung der treue Diener des Kaisers in Gestalt der Roland- und der Hagenfigur. Die Kaiserfigur soll die bewährte Ordnung und den väterlichen Schutz garantieren. Die den religiösen Narrativen entstammende Figur des Heilsbringers, Erlösers oder Messias eignet sich insbesondere für ausweglos erscheinende Krisensituationen; sie verbindet sich mit der Engelund Heiligentradition und jener des Religionsstifters. Der junge Held tritt häufig als Rebell in Erscheinung, wobei auch die Räuberfigur einbezogen wird (Robin Hood, Rinaldo Rinaldini, Karl Moor). Bei dieser Figur wird der Aufbruch ver-
9
Ian Kershaw: Der Hitlermythos. Führerkult und Volksmeinung, München 2018, S. 40.
10 Boris Barth: Europa nach dem großen Krieg. Die Krise der Demokratie in der Zwischenkriegszeit 1918–1938, Frankfurt a.M. 2016, S. 14. 11 Ebd., S. 15.
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festigter Strukturen durch Söhne versinnbildlicht; im Zentrum steht die Orientierung an der Zukunft. Die Rebellion kann dabei sowohl republikanisch als auch völkisch verortet werden. Häufig werden hierbei die Motive des Drachentöters – auch Herakles taucht in diesem Kontext auf – und des Schmiedes aufgenommen. Während der Drachentöter den Kampf ›Licht gegen Finsternis‹, ›Gut gegen Böse‹, ›Freund gegen Feind‹ repräsentiert, steht der Schmied für das Kernhandwerk der bis in das industrielle Zeitalter der Gegenwart wirksamen Eisenzeit, das sowohl friedliche als auch kriegerische Werkzeuge zur Verfügung stellen kann. Der Führerbegriff als charismatische Autoritätsfigur entsteht im Wesentlichen erst in nachkaiserlicher Zeit und mischt neue Sachlichkeit mit religiösen und mythisch-literarischen Inszenierungen und Anspielungen. Entscheidend für die Begriffswahl ist die inszenierte Figur des ›Mannes aus dem Volk‹, der nicht auf Zeit gewählt, sondern dem vielmehr unbegrenzte Macht aufgrund von Herkunft und Milieuresonanz übertragen wird. Völkische Politik nutzt dabei häufig demokratische Wahlen zur Machteroberung und setzt die Verfassung danach von oben außer Kraft. Das vorhandene Repertoire kann auch nach Bedarf gemischt werden, was mit Blick auf die historischen und literarischen Vorlagen meist nicht widerspruchslos erfolgt. Daraus lässt sich auch so etwas wie die List der komplexen Narrative erkennen, wenn beispielsweise 1871 Siegfrieds Ermordung durch Hagen aus- und nach 1918 eingeblendet wird. Um solche Widersprüche zu versöhnen, wird sogar der Versuch unternommen, Siegfried und Hagen zu Waffenbrüdern zu machen, so etwa im 1933 erschienenen Roman ›Nibelungenland‹ von Max Braun.12 Hier stehen in einem eingestreuten Gedicht beide Figuren Seite an Seite im ›Kampf der letzten Nibelungen‹ in der ›Westmark‹.13 Das Repertoire kann von vielen politischen Richtungen genutzt werden, unabhängig davon, wie weit die Narrative bei der Propaganda verfangen. Allerdings tut sich die politische Linke trotz ihres durchaus vorhandenen Arsenals an Inszenierungen und Galionsfiguren schwerer mit Mythisierungen, da sie sich häufig, zumindest solange sie nicht die Herrschaft übernommen hat, eher an der Dekonstruktion gegnerischer Narrative abarbeitet als eigene, neue Erzählungen zu entwickeln. Daher sind auch Spott, Witz, Kabarett etc. hier häufiger anzutreffen. Dabei sollen keineswegs totalitäre Strukturen der politischen Linken ausgeblendet werden, die besonders bei nationalen Orientierungen deutlich werden,
11 Max Braun: Nibelungenland, Ludwigshafen 1933. 13 Ebd., S. 20f., Str. 2: »Siegfried stark und Hagen trutzig / Eures Hüfthorns Klänge fehlen. / Geist von Eurem Geiste möge / Uns in dieser Stund beseelen!«
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etwa bei Stalin oder den Konzepten der Volksrepublik. Auffallend ist auch, dass es sich bei allen Figuren ausschließlich um männliche Figuren handelt. Wenn Frauen in den Narrativen eine Rolle spielen, kommen sie in der politischen Mythologie nur am Rande vor. In Deutschland wird das im frühen 19. Jahrhundert sich verbreitende Motiv des ›Volkskaisers‹ als zwischen Republik und Caesarismus vermittelndes Narrativ immer wieder mit der Siegfriedfigur verknüpft. IV
Das Volkskaisermotiv
Der Habsburger Joseph II. amtierte von 1765 bis 1790 als Kaiser des alten Reiches. Orientiert an seinem Vorbild, dem Preußenkönig Friedrich II. (dem Großen), suchte er von oben politische Reformen der Aufklärung wie Religionsfreiheit und die Aufhebung der Leibeigenschaft durchzusetzen. Daher entstand im Vormärz das Narrativ von Joseph II. als ›Volkskaiser‹.14 Es vermag daher nicht zu verwundern, dass die aufklärerische Tradition dieser Überlieferung, die den absolutistischen Teil von Josephs II. Politik ausblendete, vor allem im bürgerlichen Lager fortgesponnen wurde. Durch den zunächst republikanischen Bruch der französischen Revolution war ein neuer, standesunabhängiger Volksbegriff gleicher Bürger entstanden, der in Bezug zur Regierung des Staates gesetzt werden musste. Wo alte und neue Form zu verbinden war, machte die Idee eines ›Volkskaisers‹ Sinn, zumal Fürsten sich ab diesem Zeitpunkt ohnehin rechtlich und medial stärker dem Mehrheitswillen anpassen mussten. Bereits in der napoleonischen Tradition stützten Erlösermotive die Funktion einer konstitutionellen Monarchie. Für die Regierungszeit des Bürgerkönigs Louis-Philippe (1830 bis 1848) lässt sich eine weitere Zunahme dieser Motivik festhalten. Stärker beeinflusst von der englischen Tradition finden sich verwandte Narrative beim Hohenzollernkaiser Friedrich III., der nur in seinem Todesjahr 1888 die Herrschaft ausüben konnte. Bemerkenswert ist zudem, dass in der Wilhelminischen Epoche August Bebel, der Vorsitzende der Sozialdemokraten, auch als ›Arbeiterkaiser‹15 bezeichnet wurde, gewissermaßen als Gegenbild insbesondere zu Wilhelm II., aber eben in vergleichbarer narrativer Struktur. Man griff dabei auch auf ältere Überlieferungen zurück, so auf das Bild des Friedenskönigs im Psalm 72 und auf den Kyffhäusermythos Barbarossas, der seine Wurzeln ursprünglich in einer Legende über dessen Enkel Friedrich II. hat. Je nach
14 Vgl. Larry Wolff: Inventing Galicia. Messianic Josephinism and the Recasting of Partitioned Poland, in: Slavic Review 63/4 (2004), S. 818–840. 15 Vgl. Jürgen Schmidt: August Bebel. Kaiser der Arbeiter, Zürich 2013.
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Zeitgeist passten denn auch Friedrich II.16 und Friedrich der Große, in eine solche Ahnenreihe.17 Diese konnte hinsichtlich der Idee einer Verkörperung der Gefolgschaft im mittelalterlichen Königtum, also einer abstammungsorientierten Herrschaftsauffassung, wiederum leicht in völkische Modelle wechseln, wie das etwa beim Germanisten Gustav Roethe der Fall war.18 Mit den Februarerlassen zum Arbeiterschutz im Jahr 1890 suchte Wilhelm II. – unter dem Eindruck des Bergarbeiterstreiks im Ruhrgebiet im Jahr zuvor und im Konflikt mit Bismarck – eine Annäherung an die Arbeiter. Wenige Tage zuvor – am 178. Geburtstag Friedrichs des Großen – hatte er sich in einer Proklamation als ›roi des gueux‹ (König der Bettler) bezeichnet. Dieser neue Kurs endete 1894. Der nationalsoziale Verein um Friedrich Naumann, der von 1896 bis 1903 als Partei auftrat, suchte ebenfalls einen Brückenschlag zwischen nationaler und sozialer Frage. Im Frühjahr erschien als programmatische Schrift Naumanns Buch ›Demokratie und Kaisertum‹. Unter Berufung auf Lassalles Idee eines ›sozialen Königtums‹ entwarf der evangelische Theologe als Gegenpol zur ›agrarischen Clique‹ der Konservativen und zu den ›Klerikalen‹ die Idee eines ›sozialen Kaisertums‹.19 Mit Blick auf die Februarerlasse schreibt er: Kaiser Wilhelm II. war 1890 entschlossen, mit der Arbeiterbewegung seinen Frieden zu machen. Er wollte nicht nur Sozialreformer im Sinne der Wohlthätigkeit landesväterlich gewähren, sondern wollte die soziale Bewegung als solche in die nationale Politik hineinziehen.20
Die »Zukunftslosung für unser Vaterland« sei das soziale Kaisertum. Am Ende werde »es aus Millionen deutscher Seelen, die jetzt die Mitfreude am Machtwachstum der Nation sich selbst verbieten, […] aus den Städten, die das moderne Leben schaffen, […] vom Schacht, vom Steinbruch, aus der Arbeiterversammlung […] von Herzen: ›Es lebe der Kaiser!‹«21 klingen. Nachdem dieser
16 Insbesondere bei Kantorowicz und dem George-Kreis. 17 Verweise auf den rechten Flügel der SPD finden sich bei Bernd Buchner: Um nationale und republikanische Identität. Die deutsche Sozialdemokratie und der Kampf um die politischen Symbole in der Weimarer Republik, Bonn 2001. 18 Vgl. Dieter Borchmeyer: Was ist deutsch? Die Suche einer Nation nach sich selbst, Berlin 2017, S. 152. 19 Vgl. Friedrich Naumann: Demokratie und Kaisertum. Ein Handbuch für innere Politik, 4. Aufl., Berlin 1905, S. 221. 20 Ebd., S. 223. 21 Ebd., S. 229.
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politische Versöhnungsversuch jedoch gescheitert war, gewannen völkische Positionen die Oberhand. Heinrich Claß aus Rheinhessen wurde 1908 Vorsitzender des ›Alldeutschen Verbandes‹. Er verschärfte die kolonialistischen Inhalte mit rassistischen und antisemitischen Elementen. In seinem 1912 unter dem Pseudonym Daniel Fryman bei ›Diederichs‹ erschienenen Buch ›Wenn ich der Kaiser wärʼ‹ formuliert er eine völkische Kaiseridee, die einer demokratischen Verfassung einen autoritären Führerstaat als spezifisch deutsch gegenüberstellt: Es ist einer der schönsten Züge des deutschen Volkscharakters, daß die Mannentreue sich über alle Stürme einer schweren Entwicklung erhalten hat, obwohl sie durch das Unrecht und den Druck von oben oft auf harte Proben gestellt worden ist; bei genauem Hinsehen wird man finden, daß sie in unseren Tagen wieder neugeboren oder jedenfalls aufgefrischt worden ist durch die herrliche Persönlichkeit des ersten Wilhelm und seine wundervolle Vornehmheit, durch seine Treue zu seinen Getreuen. Das Bedürfnis lebt heute noch in den Besten unseres Volkes, einem starken, tüchtigen Führer zu folgen; alle, die unverführt geblieben sind von den Lehren undeutscher Demokratie, sehnen sich danach, nicht weil sie knechtisch gesinnt wären oder charakterschwach, sondern weil sie wissen, daß Großes nur bewirkt werden kann durch die Zusammenfassung der Einzelkräfte, was sich wiederum nur durch die Unterordnung unter einen Führer erreichen läßt. Ein Glück für unser Volk, wenn in dem Träger der Krone dieser Führer ihm entstünde.22
Die Alldeutschen betrieben systematisch Kriegspropaganda und beeinflussten damit auch den Versuch Wilhelms II., sich auf dieser Linie als ›Volkskaiser‹ zu inszenieren, so mit seiner 2. Balkonrede am 1. August 1914 und den Worten, er kenne keine Parteien und Konfessionen mehr, sondern nur noch deutsche Brüder. Er wiederholte diese Ausführungen am 11. September 1918 in einer Rede vor Kruppianern,23 was aber kaum mehr auf Resonanz stieß. Am 29. September versuchte der Sozialhistoriker Otto Hintze nach vorheriger Abstimmung mit Ludendorff und Hindenburg Wilhelm II. erfolglos von liberalen Reformen zu überzeugen, u.a. von der sofortigen »Bildung einer neuen Reichsregierung unter Ein-
22 Daniel Fryman (Pseudonym für Heinrich Claß): Wenn ich der Kaiser wärʼ. Politische Wahrheiten und Notwendigkeiten, Leipzig 1912, S. 227. 23 Vgl. die Rede vor Krupp-Arbeitern in Essen am 11. September 1918, in der Wilhelm II. seine eigene Rede von 1914 zitiert: »Ich kenne keine Parteien, ich kenne nur Deutsche.«: www.stahlgewitter.com/18_09_11.htm (Aufrufdatum: 1.5.2023).
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beziehung der Sozialdemokraten«.24 Im völkischen Lager wechselte man – ganz im Nachklang der Alldeutschen – zu einem nicht-monarchischen Führer- und Erlöserkonzept, das allerdings die Merkmale der älteren Narrative aufgriff und weiterverwendete. V
Die politische Nutzung der Siegfriedfigur
Die erste patriotische Begeisterung für das ›Nibelungenlied‹ war, so Klaus von See25, ein ›Strohfeuer‹ – und in den 1820er Jahren bereits vorbei. August von Kotzebue warnte 1814 vor einer politischen Nutzung des Epos, erspürte darin offenbar schon etwas vom Volkskaisermotiv: Siegfried erschien ihm als der »leibhaftige Napoleon«, und er fürchtete, einer der jungen Kriegsfreiwilligen seiner Gegenwart könne, »mit dem Nibelungenlied im Kopfe, sich in des Feindes Landen« ebenso rüpelhaft benehmen wie Siegfried am Burgunderhof.26
Napoleon inszenierte sich als Erlöser und war der erste bürgerliche Kaiser der Moderne. Das Wartburgfest 1817, das sowohl erste Verfassungsentwürfe als auch völkische Demagogie nach sich zog, stellte zwar in erster Linie Luther in den Zusammenhang seiner Germanenideologie; doch auch die patriotische Begeisterung für das ›Nibelungenlied‹ im Zug der Befreiungskriege schwang bei Teilnehmern mit, so bei Carl Ludwig Sand, der im März 1819 von Kotzebue in Mannheim ermordete. In dem 1821 in Altenburg erschienenen Buch ›Carl Ludwig Sand dargestellt durch seine Tagebücher und Briefe‹ heißt es, er habe nach dem Wartburgfest das ›Nibelungenlied‹ erneut gelesen und geschrieben: »Nicht, wie die Menschen schön von außen, sondern wie sie hoch von innen sind, ist die Art der Betrachtung der Menschheit im Nibelungenlied.«27 Diese Deutung knüpft an den Wahlspruch ›Ehre, Freiheit, Vaterland‹ der Urburschenschaft von Jena aus dem Jahr 1815 an, dem auch die Reden des Wartburgfestes verpflichtet waren. Während in den Jahren des Vormärz Siegfried und Kriemhild in der bildenden Kunst als Liebespaar inszeniert wurden, begegnet Siegfried in der Litera-
24 Lothar Machtan: Kaisersturz. Vom Scheitern im Herzen der Macht, Darmstadt 2018, S. 90. 25 Von See (Anm. 7), S. 97. 26 Ebd., S. 97, mit Zitaten aus August von Kotzebue: Politische Flugblätter Nr. 9, Königsberg 1814, S. 147ff. 27 Carl Ludwig Sand, dargestellt durch seine Tagebücher und Briefe, hg. v. Robert Wesselhöft, Altenburg, 1821, S. 133.
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tur und im Feuilleton als politischer Rebell und Gegenspieler der reaktionären Adelsgesellschaft der Drachen. Als bekannt vorausgesetzt werden darf mittlerweile der 1840 im ›Telegraph für Deutschland‹ erschienene Text von Friedrich Engels mit dem Titel ›Siegfrieds Heimat‹: Siegfried ist der Repräsentant der deutschen Jugend. Wir alle, die wir ein von den Beschränkungen des Lebens noch ungebändigtes Herz im Busen tragen, wissen, was das sagen will. Wir fühlen alle denselben Tatendurst, denselben Trotz gegen das Herkommen in uns, der Siegfrieden aus der Burg seines Vaters trieb; das ewige Überlegen, die philiströse Furcht vor der frischen Tat ist uns von ganzer Seele zuwider, wir wollen hinaus in die freie Welt, wir wollen die Schranken der Bedächtigkeit umrennen und ringen um die Krone des Lebens, die Tat. Für Riesen und Drachen haben die Philister auch gesorgt, namentlich auf dem Gebiete von Kirche und Staat […] [. E]s schlage der Teufel Riesen und Drachen tot!28
1849 war es mit der Siegfriedutopie der Demokraten zu Ende. Es folgten auf republikanischer Seite Emigration und Depression sowie, bei einer zunehmenden Mehrheit, auch in den Rheinbundstaaten des Dritten Deutschland, eine Anpassung an die preußische Hegemonie. Diese gipfelte 1871 im ›Siegfrieden‹29 über Frankreich. Richard Wagner bezeichnete das deutsche Heer vor Paris als »SiegeFried«.30 Julius Rodenberg dichtete 1872 ein Preisgedicht auf Kaiser Wilhelm I., den Berliner ›Kartätschenprinzen‹ von 1848: Sieg-Fried des deutschen Volkes! Strahlengleich umleuchtet Dich der Ruhm, der wunderbare; verwirklicht steigt mit Dir empor das Reich, das deutsche Reich, der Traum so vieler Jahre.31
So wird der siegreiche Held zum Kaiser des Reiches. Dabei wäre Wilhelm lieber König von Preußen geblieben als deutscher Kaiser geworden. Das Kaisertum übernahm er auf Initiative von Bismarck. Und so ist es denn kein Wunder, dass auch der Stratege im Hintergrund, der von seiner Stellung her eher ein Roland
28 Friedrich Oswald (Pseudonym für Friedrich Engels): Siegfrieds Heimat, Telegraph für Deutschland 197 (Dezember 1840); siehe auch Friedrich Engels: Briefe aus dem Wupperthal, hg. v. Bernd Füllner, Bielefeld 2021, S. 120. 29 Siehe Münkler/Storch (Anm. 5). 30 Ebd., S. 79. 31 Nibelungen-Gedichte. Ein Lesebuch, hg. v. Gunter E. Grimm, Marburg 2011, S. 186.
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gewesen wäre, analog zum Siegfried-Narrativ zum ›Reichsschmied‹ und zum ›Eisernen Kanzler‹ aufstieg.32 Der Bismarckmythos wurde auch über Bildpostkarten in großen Auflagen verbreitet. Nach seinem Tod im Jahr 1898 existierten bis 1914 »an die 500 Denkmalprojekte«33. 1901 wurde das Bismarck-Nationaldenkmal von Reinhold Begas in Berlin eingeweiht. Unter den vier seiner Statue zugeordneten Figuren befindet sich Siegfried mit dem Reichsschwert. Der mit Siegfriedelementen angereicherte Bismarckkult entwickelte sich zunehmend zu einem völkischen Heilsversprechen. In einem Gedicht mit dem Titel ›Siegestrunken‹ warnt Georg Herwegh bereits im Frühjahr 1871 vor dem Verlust bürgerlicher Freiheit im Einheitsrausch: Vorüber ist der harte Strauß, der welsche Drache liegt bezwungen, und Bismarck-Siegfried kehrt nach Haus mit seinem Schatz der Nibelungen […] Ihr wähnt euch einig, weil ein Mann darf über Krieg und Frieden schalten und euch zur Schlachtbank führen kann mit der Parol: Das Maul gehalten! […] Ach, Einheit ist ein tönend Erz, wenn sie nur pochend auf Kanonen zu reden weiß an unser Herz – und klingt es anders von den Thronen? […] Nur diese war’s, die wir erstrebt, die Einheit, die man auf den Namen der Freiheit aus der Taufe hebt; doch eure stammt vom Teufel: Amen!34
Im Ersten Weltkrieg »verschmolz Jung-Siegfried mit dem Patron der Deutschen, dem Erzengel Michael.«35 Kaiser Wilhelm II. war ein Michaelverehrer – und of-
32 Bismarck und der deutsche Nationalmythos, hg. v. Lothar Machtan, Bremen 1994, S. 15. 33 Ebd., S. 22. 34 Grimm (Anm. 31), S. 157f.
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fenbar auch Goebbels, wie dessen Michaelroman von 1929 zeigt. »Im April 1918 scheiterte die Michael-Offensive, das deutsche Heer zog sich in die Siegfriedstellung zurück.«36 Im Februar 1926 wurde auf einer Wand der evangelischen Bonner Stadtkirche (der heutigen Kreuzkirche) in Erinnerung an die Gefallenen ein Sgraffito »mit dem Erzengel Michael und dem heidnischen Siegfried«37 angebracht. Pfarrer Eugen Strauß predigte zur Einweihung gegen die »giftige Drachensaat« der Vaterlandsverräter, welche die »müde, schwer atmende deutsche Seele« vergifteten, die sodann »im Felde unbesiegt« diesem Giftangriff erlegen sei.38 Die Trivialliteratur zwischen 1916 und 1945, in der Siegfried und der Nibelungenstoff eine Rolle spielen (u.a. in den Bearbeitungen von Werner Jansen, Heinrich Lersch, Max Braun, Friedrich Schreyvogl), vermittelte durch ihre hohen Auflagen völkisches Gedankengut an ein Massenpublikum. Werner Jansen, dessen ›Buch Treue. Nibelungenroman‹ erstmals 1916 erschien, war Himmlers Lieblingsschriftsteller. Dabei werden in der vom nationalsozialistischen Staat diktierten Kultur und Öffentlichkeit zwischen 1933 und 1945 häufig ältere Deutungsmuster des ›Nibelungenlieds‹ als Nationalepos übernommen. Das geschieht beispielsweise beim Neubau der Linzer Nibelungenbrücke von 1940 als Teil von Hitlers Ausbauplänen der ›Führerstadt‹. Dazu zählt auch der in Anlehnung an den Klassizismus entworfene und nicht ausgeführte Monumentalbau eines ›Führermuseums‹ für die seit 1939 als Sonderauftrag Hitlers durch Ankäufe und Raub zusammengetragene Gemäldesammlung. Die Brücke orientierte sich an der Netzwerkidee eines Nibelungenwegs zwischen Worms und Esztergom, die bereits in den 1920erJahren propagiert worden war.39 Linz wurde in den Weg eingefügt, obwohl die
35 Loretana de Libero: Rache und Triumph. Krieg, Gefühle und Gedenken in der Moderne, München 2014, S. 190. 36 Ebd., S. 191. 37 Ebd., S. 192. 38 Ebd. 39 Vgl. Robert Sommer: Die Nibelungenwege von Worms über Wien zur Etzelburg. Ein deutsches Wanderbuch, Gießen 1929. Robert Sommer (1864–1937) war Professor für Psychiatrie an der Universität Gießen. Sein Buch ist beeinflusst von seinen Erlebnissen in der Wandervogel-Bewegung der Jahrhundertwende sowie von seinen Theorien zur Völkerwanderung, die ausgehend von einer Publikation zu Familienforschung und Vererbung aus dem Jahr 1922 fünf Jahre darauf in einer Neuauflage durch eine ›Rassenlehre‹ ergänzt wurden. Sommer war kein NSDAP-Mitglied und wurde im Jahr 1933 emeritiert, wohl auch aus politischen Gründen.
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Stadt im mittelalterlichen Epos nicht genannt wird. Die politische Propaganda macht die Literatur hier ebenso gefügig wie in der ›Dolchstoßlegende‹ nach 1918. Dagegen hielt sich die Wormser ›Amtsfahrt ins Nibelungenland‹ von 1939 an die vom Epos vorgegebene Route. Seitens der Stadt diente sie einerseits der Aufwertung des nibelungischen Stadtmythos für die NS-Propaganda, anderseits einer Vernetzung der Rhein- mit der Donauregion nach dem ›Anschluss‹ Österreichs ein Jahr zuvor. Der Stadtarchivar Dr. Friedrich Maria Illert lieferte in der 1941 im Nachgang erschienenen Broschüre die passende Erzählung zur nationalsozialistischen Geopolitik: In Geschichte und Heldenlied ist die schicksalhafte Verbundenheit der Westmark des Reiches mit der Ostmark dem Gedächtnis aller Generationen überliefert. Durch die Jahrtausende antwortet das Nibelungenland am Rhein dem Nibelungenland an der Donau. Uraltes Wissen formte sich neu in der Gegenwart, wo im Brand des Weltkrieges künstliche Trennungen und Grenzen sich aufzulösen begannen, und die Gemeinschaft des großen Reiches sich ankündigte.40
Eine direkte propagandistische Anknüpfung an den Stoff in Form von politischer Mythologie findet sich außer bei Hermann Görings Stalingradrede vom 30. Januar 1943 allerdings eher selten. Der Germanist Hans Naumann warnte 1942 in seinem Vortrag ›Das Nibelungenlied, eine staufische Elegie oder ein deutsches Nationalepos?‹ vor der politischen Verwendung des Nibelungenstoffs, der ja im Untergang endet. Er propagiert demgegenüber in der Tradition einer verloren gegangenen Dietrichepik der Barbarossazeit einen neuen Text, der bereits gelebt habe, aber noch nicht geschrieben wurde: Im Dritten [Reich] wird gewiß die erlösende Stunde schlagen, es besitzt ja bereits in dem einzigen Manne und in der Geschichte seiner Erscheinung ein Nationalepos urältester Struktur, dem verlorenen Ersten Reich verwandt; man braucht es nur in Verse zu gießen.41
Hitler verfolgte eher die Strategie, sich von den Vorbildern zu lösen und sich selbst als historischen Erlöser inszenieren zu lassen. Und auch dieses Ziel verfolgte er schrittweise, indem er Andeutungen anstelle von fertigen Narrativen nutzte. Als der ›Illustrierte Beobachter‹ ihm am 20. April 1929 zum 40. Geburts-
40 Friedrich Maria Illert: Kurzer Bericht, Stadtarchiv Worms, Abt. 208, Nr. 2, S. 3. 41 Hans Naumann: Das Nibelungenlied, eine staufische Elegie oder ein deutsches Nationalepos?, Bonn 1942, S. 29.
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tag ein Siegfried-Gedicht widmete, ließ er mitteilen, der Abdruck des Textes sei »ohne sein Wissen und entgegen seiner grundsätzlichen Anordnung«42 erfolgt. Die erste Strophe des Gedichts lautete: Bist Wieland der Schmied! Bist Siegfriedgestalt! Dein Wort ist Schwert und Hammerwalt, durch das in gärenden Tagen in tausend Herzen der heilge Bund der Liebe zu Volk und Vaterland neu lodernd empor geschlagen.43
Inwieweit auch er sich persönlich als eine ›Siegfriedgestalt‹ verstand, ist meines Wissens nicht bekannt. VI
Siegfried als ›Volkskaiser‹
Heine hat in seiner Mythentheorie zum einen darauf hingewiesen, dass die vorchristlichen Narrative nicht nur in der christlichen Welt weiter wirksam bleiben, sondern auch in der Welt der Aufklärung, wenn sie auch aus dem Zentrum der Aufmerksamkeit verdrängt werden. Die Kunst biete die Möglichkeit, sie weiter zu erzählen, ihnen damit ihre dunkle Seite zu nehmen und sie in den politischen Aufbruch der Moderne zu integrieren. In seiner Schrift ›Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland‹ von 1834 zeichnet er das Bild eines ›dritten Befreiers‹, der vollbringen werde, was Luther und Lessing begonnen hätten: »Ich sehe schon seine goldene Rüstung, die aus dem purpurnen Kaisermantel hervorstrahlt, wie die Sonne aus dem Morgenrot.«44 Im Sommer 1840 schrieb er das Gedicht ›Deutschland‹, das sowohl vor dem Hintergrund der Rheinkrise zwischen Frankreich und Deutschland als auch seiner Börne-Denkschrift zu sehen ist. Er versucht darin, die alten Mythen von Siegfried und Barbarossa mit einer republikanischen Utopie zu verknüpfen: Deutschland ist noch ein kleines Kind, doch die Sonne ist seine Amme; sie säugt es nicht mit stiller Milch,
42 Albrecht Tyrell: Führer befiehl... Selbstzeugnisse aus der ›Kampfzeit‹ der NSDAP, Düsseldorf 1969, S. 388. 43 Ebd. 44 Zit. n. Borchmeyer (Anm. 18), S. 291.
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sie säugt es mit wilder Flamme. Bei solcher Nahrung wächst man schnell und kocht das Blut in den Adern. Ihr Nachbarskinder hütet euch, mit den jungen Bursche zu hadern! Es ist ein täppisches Rieselein, reißt aus dem Boden die Eiche, und schlägt euch damit den Rücken wund und die Köpfe windelweiche. Dem Siegfried gleicht er, dem edlen Fant, von dem wir singen und sagen; Der hat, nachdem er geschmiedet sein Schwert, den Amboß entzweigeschlagen! Ja, du wirst einst wie Siegfried sein und töten den hässlichen Drachen, Heisa! Wie freudig vom Himmel herab wird deine Frau Amme lachen! Du wirst ihn töten, und seinen Hort, die Reichskleinodien besitzen. Heisa! Wie wird auf deinem Haupt die goldne Krone blitzen!45
Das ist Siegfried als ›Volkskaiser‹, der Heines damaliger deutscher Mythologie entspricht. Seine Sympathien gelten allerdings „nur einem Mythos, der eine Gegenwelt wider die herrschende restaurative Weltordnung bildet. Sein ganzer Hass und Spott hingegen flammt auf, wenn die Mythologie […] im Sinne einer rückwärtsgewandten politischen Ideologie und eines verstockten Nationalismus instrumentalisiert wird.«46 Im ›Wintermärchen‹ von 1844 empfiehlt er daher dem Geist Barbarossas, im Kyffhäuser zu bleiben, denn aus republikanischer Perspektive bedürfe es keines Kaisers. In der Börne-Denkschrift hatte er bereits die Ambivalenz der deutschen Mythologie beschrieben und an der Differenz zwi-
45 Heinrich Heine: Gedichte, München 1993, S. 720f. 46 Borchmeyer (Anm. 18), S. 282.
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schen dem völkisch gestimmten Wartburgfest 1817 und dem demokratisch gestimmten Hambacher Fest 1832 festgemacht: Auf Hambach hielt der französische Liberalismus seine trunkensten Bergpredigten […], auf der Wartburg hingegen herrschte jener beschränkte Teutonismus […], dessen Liebe nichts anderes war als der Haß des Fremden.47
Eine Kombination von Barbarossa und Siegfried findet sich auch bei Richard Wagner. In dessen Nibelungenschrift von 1848/49, die noch von seinem revolutionären Engagement in Dresden geprägt ist, entwirft er die Idee eines Urkönigtums; die Nibelungensage sieht Wagner als »Stammsage des fränkischen Königsgeschlechts«.48 Der Kampf Siegfrieds mit dem Drachen wird als Kampf zwischen Licht und Finsternis, zwischen Schöpfergott und Chaos-Ungeheuer gedeutet. Am Ende der Schrift in der ersten Druckfassung von 1850 heißt es: Dort im Kyffhäuser sitzt er nun, der alte Rotbart Friedrich, um ihn die Schätze der Nibelungen, zur Seite ihm das scharfe Schwert, das einst den grimmen Drachen erschlug… ›Wann kommst du wieder, Friedrich, du herrlicher Siegfried! und schlägst den bösen nagenden Wurm der Menschheit?‹ – ›Zwei Raben fliegen um meinen Berg, – sie mästen sich vom Raube des Reiches! Von Südost hackt der eine, von Nordost hackt der andere: – verjagt die Raben und der Hort ist euer!‹49
Das Reich ist auf dem Weg der bürgerlichen Revolution in die Zukunft, auf dem Weg der Verfassung, dem Weg des Dritten Deutschland, also der aus dem Rheinbund hervorgegangenen Verfassungsstaaten am Rhein, in Bayern und Sachsen; die Raben repräsentieren Österreichs Habsburger und Preußens Hohenzollern. Das Scheitern der Revolution von 1848/49 führte zur Emigration vieler republikanischer Wortführer. Jene, die wiederkehrten oder geblieben waren, gerieten im Zuge der Anpassung an die politische Realität in eine Minderheitenposition. Der Liberalismus splitterte sich bis in die Weimarer Republik zunehmend in mehr national, ökonomisch oder partizipatorisch orientierte Lager auf. Erst in der kleindeutsch-preußischen Gründung eines zweiten Kaiserreichs 1870/71 wurden die Narrative ›Siegfried‹ und ›Volkskaiser‹ wieder in den politischen
47 Heinrich Heine. Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, Bd. 11, hg. v. Helmut Koopmann, Hamburg 1978, S. 83. 48 Borchmeyer (Anm. 18), S. 300. 49 Ebd., S. 304.
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Diskurs aufgenommen, wenn auch stark nationalistisch-völkisch gefärbt und nicht im geschlossenen Bild eines ›Siegfried als Volkskaiser‹. Der ›Kaisersturz‹ von 1918 hinterließ im sozialpsychologisch-narrativen Feld eine Lücke, die durch Erlöser- und Messiasfiguren zu schließen versucht wurde. Nicht von ungefähr entwickelte Max Weber genau zu dieser Zeit (1920) seine Theorie von der charismatischen Führerschaft, der er ein parlamentarisch orientiertes Modell im Rahmen seines Engagements bei der DDP entgegenstellte. Die neuen Führerfiguren nahmen entweder Abstand vom monarchischen Modell der Kaiseridee, oder sie füllten diese Position mit inhaltlich verwandten, aber neuen Begriffen der Moderne auf (wie im Nationalsozialismus); darüber hinaus konnte man sich kunstreligiösen Interpretationen zuwenden (wie etwa der George-Kreis mit dessen Formel vom ›Geheimen Deutschland‹), oder es kam zu religiösen Neugründungen wie bei den Inflationsheiligen. Mit einem Teil seiner Aktivitäten, nämlich mit der Gründung der ›Wormser Menschengemeinde‹ im Jahr 1919, reiht sich der Schriftsteller Peter Bender (1893–1944) in diese neureligiösen Bewegungen der Weimarer Republik ein. Er stilisiert sich und seine Frau zu einem heilsbringenden Menschheitspaar und mischt diese Utopie mit Elementen der in Worms verorteten Nibelungenüberlieferung, einer Kritik am nationalprotestantischen Lutherjubiläum von 1921 in Worms und dem Gegenentwurf einer erotischen Revolution, der Gründung einer Müttergewerkschaft, freiwirtschaftlichen Geldumlaufmodellen von Silvio Gesell sowie dem Entwurf eines rheinischen Staats, der diffus zwischen Separatismus und Nationalismus angesiedelt ist. Als Fliegeroffizier im Ersten Weltkrieg hatte er sich pazifistischen Gedanken zugewandt; 1918 engagierte sich Bender kurzzeitig im Wormser Arbeiter- und Soldatenrat. In seinem 1927 in einem freidenkerisch-pazifistischen Leipziger Verlag erschienenen Roman ›Karl Tormann. Ein rheinischer Mensch unserer Zeit‹ reflektiert er seine Aktivitäten seit dem Ende des Krieges. Sein Erlösungspaar versteht sich immer wieder in Tagträumen als Siegfried und Brünhild, wobei durch die Experimente freier Liebe mehrfach eine Kriemhild dazwischenkommt. Ein Kapitel ist überschrieben mit ›Der Kaisertraum‹.50 Tormann lehnt den Nationalismus monarchistischer Kreise ab, verliebt sich aber zugleich in eine junge Adlige, die von Hitler begeistert ist. Nicht von ungefähr trägt diese mit Blick auf den Hermannmythos den Namen Thusnelda. Er träumt sie sich zurecht, schämt sich aber nach dem Aufwachen für die nicht ganz passende Traummischung von freiwirtschaftlich-rheinischen und völkisch-germanischen Idealen. Im Traum hatte Thusnelda ihn zum Kaiser erhoben,
50 Peter Bender: Karl Tormann. Ein rheinischer Mensch unserer Zeit, Leipzig 1927, S. 504.
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der den Weg zu einer neuen Geldwirtschaft weisen werde. Durch eine Erinnerung an Lassalle sucht er sich zu korrigieren. Aber er bleibt bei der Siegfriedfigur als Kaiser und deutet die Figur als sieg-friedlich im Sinn von friedlichpazifistisch, freiheitlich, künstlerisch kreativ und ökonomisch sorgenfrei.51 Es geht ihm um »ein Geldkaisertum, jährlichen Umtausch aller Münzen und Banknoten mit Erhebung von Druck- und Prägekosten für das kaiserliche Liebespaar, Umwertung aller wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Werte durch die kaufende Phantasie dieses Paares«, eine »Idee vom erotisch-sozialen Priestertum in Währung und Geld! Das war auch die große Schmelze für die Überbleibsel des Hohenzollerndeutschland in Kriegerdenkmälern und Siegesalleen, in Kriegerund Soldatenvereinen, in Orden, Bünden, Offizieren, Prinzen, Hofschranzen, in Schlössern, Uniformen, Bändern, Fahnen, Liedern, Erinnerungen.«52 Und er spricht zu sich selbst: Was im Zeitalter Barbarossas die jährlichen Münzverrufungen […] geschaffen hatten, nämlich den warensuchenden, arbeitweckenden, zinsvernichtenden Geldwirbel, das will ich, Tormann, im Rheinstaat vollbewußt systematisch nachahmen!53
Am Mittelalter rühmt er besonders »den Minnesang, die Vorherrschaft des Ritters über den Priester, des Kaisers über den Papst, vor allem aber die Entstehung des ›Nibelungenliedes‹, jener Dichtung von lebensfrohen, schatzhebenden, geldbeherrschenden Menschen und Helden, das alles soll majestätische Auferstehung feiern durch ein kaiserliches Liebespaar.«54 Der Roman hatte nur eine kleine Auflage, die wegen des Verlagskonkurses zudem nur zu einem Teil ausgeliefert werden konnte. Bender erreichte mit diesem Buch und mit seinen übrigen Aktivitäten nur eine vergleichsweise kleine Gruppe von Menschen, steht aber paradigmatisch für eine weit verbreitete Sinnsuche in der neuen Republik. Seine besondere Deutung von Siegfried als ›Volkskaiser‹ fußt auf älteren Traditionen, ist aber zum einen der lokalen Nibelungenrezeption in Worms geschuldet, zum anderen der besonderen linksrheinischen Geschichte seit 1800 und deren aktueller Situation unter französischer Be-
51 Ebd., S. 499. 52 Ebd., S. 508. 53 Ebd., S. 509. 54 Ebd., S. 509f.
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satzung bis 1930. Peter Bender wurde 1944 im KZ Mauthausen ermordet, seine einer jüdischen Familie entstammende Frau Charlotte 1945 in Auschwitz.55 Mit wenigen Ausnahmen tat sich die Linke in der Weimarer Republik mit alternativen Erzählungen zur deutschen Mythologie oder mit der Implementierung eigener Narrative schwer. Bernd Buchner beschäftigte sich umfassend mit dem Umgang der Sozialdemokratie mit den politischen Symbolen der deutschen Mythologie in der Weimarer Republik.56 Im narrativen Bereich konstatiert er vorrangig Dekonstruktion und Spott, in der Bildpublizistik hingegen einen produktiven Umgang mit dieser Thematik. So publiziert die satirische Zeitschrift ›Der wahre Jacob‹ von 1903 eine Zeichnung von Siegfried beim Schmieden seines Schwertes mit einem Gedicht von Heinrich Berg: »Jung-Siegfried steht am Feuerherd / Und hämmert neu der Menschen Recht.«57 Die Figur des Schmieds eignete sich nicht nur hier als Narrativ für die Arbeiterbewegung. 1912 wurde ein Plakat mit dem Titel ›Der rote Siegfried‹ in Umlauf gebracht. In der Weimarer Republik versuchten konservative Sozialdemokraten wie etwa der Reichstagsabgeordnete Wolfgang Heine, Teile der von der politischen Rechten sukzessive besetzten deutschen Mythologie zu retten, indem sie die Ambivalenzen der Vorbildfiguren für alternative Deutungen nutzten. So verwies Heine auf Friedrichs des Großen Verdienste wie »die Abschaffung der Tortur oder die Anerkennung der Rechtsgleichheit der Konfessionen, seine Auffassung vom Staat als Institution zum Wohl seiner Angehörigen und vom Monarchen als erstem Diener von Volk und Staat«.58 Heine war der Ansicht, dass die nüchterne aus Kompromissen hervorgehende Republik, die eine Vergangenheit überhaupt nicht hatte, sondern neu und vor aller Augen wie auf dem Zeichentisch konstruiert wurde und ihre Mängel nackt zeigte, nichts eigentlich Begeisterndes, die Phantasie bewegendes besaß, und nicht zu tadeln gewesen wäre, wenn sie nach einem geschichtlichen Symbol gesucht hätte wie die französische Revolution in einer romantischen Vorstellung antiken Republikanertums.59
55 Volker Gallé: Utopien am Rande der Gesellschaft. Der Wormser Schriftsteller und Astrologe Peter Bender in der Weimarer Republik, in: »In Worms ist keine Fensterscheibe zersprungen.« Revolution, Kriegsende und Frühzeit der Weimarer Republik in Worms 1918–1923, hg. v. Gerold Bönnen u. Daniel Nagel, Worms 2018, S. 323– 351. 56 Vgl. Buchner (Anm. 17). 57 Ebd., S. 205f. 58 Ebd., S. 240. 59 Ebd., S. 240.
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Obwohl die linke Presse und Literatur die Ideen von 1789 und 1848 und selbst den Geist von Weimar mit Goethe und Schiller durchaus beschwor, blieb sie in der Ausformulierung und politischen Nutzung zurückhaltend, obwohl es hier durchaus brauchbare Figuren und Narrative gegeben hätte. VII Ausblick Das Narrativ ›Siegfried als Volkskaiser‹ wird von der republikanischen Seite im Vormärz und in der Weimarer Republik in Anspruch genommen, und zwar von politisch engagierten Autoren, die versuchen, die deutsche Mythologie anders zu erzählen. Weitere Beispiele müssten gesucht und bewertet werden. Aber sie bleiben stets in der Minderheit, wie sich besonders deutlich am Beispiel Benders zeigt. Daher ist auch stets die Reichweite und Resonanz solcher Umbewertungen zu prüfen. Nebeneinander, sozusagen als verwandte Figuren, tauchen Siegfried und ›Volkskaiser‹ häufiger auf, vor allem in der Wilhelminischen Epoche zwischen 1871 und 1918, hier wiederum verstärkt im völkischen Raum politischer Mythenbildung, zum einen im Modell des ›Siegfriedens‹ von 1871 bis zur ›Siegfriedstellung‹ am Ende des Ersten Weltkriegs, zum anderen zur Legitimierung des Kaisers durch das Volk des Nationalstaats, aber auch zur Annäherung an die Arbeiterbewegung. Letzteres gelingt von beiden Seiten kaum. Adolf Hitler nutzte das Nibelungennarrativ und seine Figuren trotz seiner engen Beziehung zu Bayreuth zurückhaltend. Er grenzte sich eher von älteren Vorbildern ab, um einen eigenen Personenkult zu inszenieren. Der Führerbegriff wird stärker mit dem Narrativ ›Mann aus dem Volk‹ verbunden, wenn auch völkisch inszeniert und autoritär organisiert; die deutsche Mythologie dient als Steinbruch bei passender Gelegenheit. Zu Hitlers Lieblingsopern aus der Feder von Richard Wagner zählt ›Rienzi‹ aus dem Vormärzjahr 1842, die sich auf die historische Vorlage des römischen Politikers Cola di Rienzo, eines Volkstribuns des 14. Jahrhunderts, bezieht. Laut seinem Jugendfreund August Kubizek soll Hitler sich 1905 als zukünftiger Volkstribun gesehen haben. Wagners ›Rienzi‹ passt auch gut zum narzisstischen Größenwahn Hitlers in dessen letzten Monaten. Da wendet sich der Volkstribun vom ›entarteten Volk‹ Roms ab, das seiner nicht wert sei, und spricht den Fluch aus: »Vertilgt sei diese Stadt!«60 Die Deutschen hätten wissen können, was sie erwartet, wenn sie die Dramaturgien der NS-Mythologie genauer beobachtet hätten, statt dem Rausch und der oberflächlichen Gleichschaltung der Widersprüche zu folgen. Anders als die ›Germano-
60 Brigitte Hamann: Hitlers Wien. Lehrjahre eines Diktators, München, 1996, S. 40.
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manen‹ Himmler oder Rosenberg orientiert sich Hitlers Ästhetik stärker an antiken Caesarenvorbildern. Persönliche Äußerungen von Hitler zur Siegfriedfigur sind meines Wissens nicht bekannt. Gegenüber dem Nibelungenstoff wird, so bei Hans Naumann, auch Skepsis gegenüber seiner Eignung als Nationalepos geäußert. Der Nibelungenstoff ist andererseits in der völkisch orientierten Trivialliteratur zwischen 1914 und 1945 weit verbreitet. Die Grundmuster einer politischen Mythologie der Moderne seit dem Bruch durch die Französische Revolution wirken allerdings auch in der NS-Diktatur überall im Hintergrund, wie es beispielsweise Götz Aly in seinem Buch ›Hitlers Volksstaat‹ beschrieben hat.61 Auch in der Gegenwart sind diese narrativen Muster abrufbar und in ganz unterschiedlichen kulturellen und politischen Zusammenhängen zitierbar, sei es von oder gegenüber autoritären Regimen in Europa und aller Welt oder in direkter Anknüpfung an die völkische Tradition deutscher Mythologie in der ›Neuen Rechten‹. Nicht von ungefähr nannte der extremistische Teil der AfD (›Der Flügel‹) seine Jahrestreffen ›Kyffhäusertreffen‹ und laufen rechtsextreme Kampfsportveranstaltungen unter dem Titel ›Kampf der Nibelungen‹.62 Auf die Unterschätzung der Bedeutung und Wirkung von Narrativen im politischen Raum von republikanischer Seite wurde seit Heinrich Heine immer wieder hingewiesen, so von Ernst Bloch63 oder im Zuge des ›emotional turn‹ in Geschichtsforschung und Politikwissenschaft.64 Bearbeitet werden die politisch genutzten Stoffe allerdings literarisch immer wieder, auch mit aufklärerischem oder republikanischem Impetus, so Friedrich II. in Horst Sterns Bestseller ›Mann aus Apulien‹ (1986) oder in Jürgen Lodemanns Siegfriedbüchern (1986 bis 2015), die an die Vormärzfigur des jugendlichen Rebellen gegen die Drachen der feudalen Obrigkeit anknüpfen. Die ›Neue Rechte‹ hat in einer Wendung von Gramscis Theorie kultureller Hegemonie den Begriff der ›Metapolitik‹ entwickelt, um eine völkische Machtübernahme im vorpolitischen Raum vorzubereiten. Es geht also nicht nur um notwendige Bearbeitungen von Literatur, wie sie bewusst in Worms bei Ni-
61 Götz Aly: Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt a.M. 2006. 62 Siehe www.kampf-der-nibelungen.com (Aufrufdatum: 1.5.2023). Vgl. hierzu und zum ›Flügel‹ auch den Beitrag von Nadine Hufnagel in diesem Band. 63 Ernst Bloch: Geist der Utopie. Erste Fassung, Berlin 2018 (Erstausgabe 1918); Ernst Bloch: Fabelnd Denken. Essayistische Texte aus der ›Frankfurter Zeitung‹, Tübingen 1997. 64 Ute Frevert [u.a.]: Gefühlswissen. Eine lexikalische Spurensuche in der Moderne, Frankfurt a.M. 2011; Martha C. Nussbaum: Politische Emotionen. Warum Liebe für Gerechtigkeit wichtig ist, Berlin 2014.
Siegfried und das Motiv des ›Volkskaisers‹ | 239
belungenfestspielen, im Nibelungenmuseum oder den Tagungen der Nibelungenliedgesellschaft65 vorliegen, sondern auch um wirksame Narrative der republikanischen Demokratie im nach wie vor von alten Mustern durchsetzten Bedeutungsfeld der Moderne.
65 Germanische Mythologie und Rechtsextremismus. Missbrauch einer anderen Welt, hg. v. Volker Gallé, Worms 2015.
Die Nibelungen und der ›Generalplan Ost‹ Der Kolonialaspekt in der deutschen Nationalgeschichtsschreibung Frank Helzel
In der deutschen Nationalgeschichtsschreibung wurde im 19. Jahrhundert nach dem Erlöschen des ›Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation‹ ein Streit darüber ausgetragen, wie das Mittelalter in Gestalt seiner Kaiser und ihrer Politik zu bewerten sei und wie, nationalstaatlich gedacht, Österreich und Preußen in diese Tradition einzupassen seien. Dafür stehen noch vor der Gründung des ›Deutschen Reichs‹ (1871) die Diskussionen in der ergebnislos tagenden Frankfurter Nationalversammlung von 1848 in der Paulskirche. Zur Wahl standen die kleindeutsche und die großdeutsche Lösung, die erste ohne Österreich und von Preußen dominiert, die andere unter Einschluss des habsburgischen Österreich. 1859 setzte sich die Auseinandersetzung auf anderer Ebene fort im ersten deutschen Historikerstreit, dem ›Sybel-Ficker-Streit‹, in dem Heinrich von Sybel auf preußischer Seite den Ausschlag gab. Gegenüber dem Innsbrucker Schriftsteller Ludwig von Ficker betonte er – unter Aussparung Karls des Großen – den unter Heinrich I. (919–936)1 erfolgenden Vorstoß in die slawischen Siedlungsgebiete, die unter den nachfolgenden Kaisern unterblieben seien. Dabei galt ihm Heinrich I., der König geblieben und nie in Rom war, als Reichsgründer, dessen Werk jedoch nicht fortgesetzt wurde: »Die Kräfte der Nation, die sich mit richtigem Instinkt in die großen Kolonisationen des Ostens ergossen, wurden seitdem für einen stets lockenden und stets täuschenden Machtschimmer im Süden der Alpen
1
Der österreichische Historiker Julius Jung bezeichnete Heinrich I. als ›kleindeutschen Musterkönig‹, vgl. Julius Jung: Julius Ficker, 1826–1902. Ein Beitrag zur deutschen Gelehrtengeschichte, Aalen 1981 (Neudruck der Ausgabe Innsbruck 1907), S. VIII.
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vergeudet.«2 Denn den in Rom zu Kaisern gekrönten Herrschern, zu denen auch Karl der Große als Erster zählte, wurde unterstellt, dass sie den Schwerpunkt ihrer Politik nicht nach Osten, sondern nach Süden orientiert hätten.3 Bereits der der Historiker Johann Friedrich Reitemeier hatte in seiner ›Geschichte der preußischen Staaten vor und nach ihrer Vereinigung zu einer Monarchie‹ (1801–1805) die mittelalterliche Ostsiedlung mit der »Colonisation und Einwanderung der Europäer nach Nordamerika«4 verglichen. Aus diesem Vergleich ergab sich, dass von der mittelalterlichen Ostsiedlung nur mehr als kontinentaler ›Ostkolonisation‹ gesprochen wurde, mit der man auch aus deutscher Perspektive meinen konnte, im Kolonialkonzert neben den bereits in Übersee engagierten nationalstaatlich organisierten Europäern eine Stimme zu haben. In ›Meyers Großem Konversationslexikon‹ wird unter dem Stichwort ›Kolonien‹ zu dieser Ostkolonisation ausgeführt: Im Mittelalter waren namentlich die Deutschen kolonisatorisch tätig. Die ganze Osthälfte Preußens und Österreich sind auf slawischem Kolonialboden erwachsen, in Preußen wirkte der Deutsche Orden; auch nach Polen, Schlesien, Siebenbürgen (durch Geisa II.) und in die Länder der Wenzelskrone (durch Ottokar) wurden deutsche Kolonisten gerufen. Die mittelalterliche deutsche Kolonisation begann in der Karolingerzeit, erreichte ihren Höhepunkt im 12. und 13. Jahrh. und fand unter Karl IV. ihren Abschluß. Im nördlichen Europa gründete vor allem die Hansa Handelsniederlassungen und Faktoreien.5
Golo Mann schrieb noch in seinem 1958 erschienenen Buch ›Deutsche Geschichte des XIX. und XX. Jahrhunderts‹:
2
Heinrich von Sybel: Über die neueren Darstellungen der deutschen Kaiserzeit, 1859, in: Universalstaat oder Nationalstaat. Macht und Ende des Ersten deutschen Reiches. Die Streitschriften von Heinrich von Sybel und Julius Ficker zur deutschen Kaiserpolitik des Mittelalters, hg. v. Friedrich Schneider, Innsbruck 1941, S. 1–18, hier S. 12.
3
Noch im Jahr 1958 erklären Günther Franz u. Hellmuth Rössler: Sachwörterbuch zur deutschen Geschichte, München 1958, S. 480, dass der Streit um die Kaiserpolitik des Mittelalters noch nicht vollständig ausgetragen sei.
4
Wolfgang Wippermann: Der ›Deutsche Drang nach Osten‹. Ideologie und Wirklich-
5
[Art.] Kolonien, in: Meyers Großes Konversations-Lexikon, Bd. 11, Leipzig 1907, S.
keit eines politischen Schlagwortes, Darmstadt 1981, S. 27. 291–302, www.zeno.org/nid/20006915914 (Aufrufdatum: 1.5.2023).
Die Nibelungen und der ›Generalplan Ost‹ | 243
Im Osten [...] handelten deutsche Teilmächte auf eigene Faust [...]. Eine Folge davon war, dass die deutsche Nation im Osten, zuerst in der Sache, dann auch der Form nach, aus dem Reich herauswuchs. [...] Und da besonders die nach Osten schauenden, neudeutschen oder kolonialen Gebiete Deutschlands, Brandenburg, Pommern und Preußen, protestantisch wurden, während das alte Reich im Süden und Westen überwiegend katholisch blieb, so hat die Reformation die Scheidungslinie zwischen den beiden Regionen oder Gesichtern Deutschlands noch einmal vertieft. In den mannigfachsten Formen, in entsetzlichen Kriegen und im friedlichen Wettstreit, in Staatenbildungen, kulturellen Abschließungen, politischen Parteiungen ist diese konfessionelle Zweiheit immer wieder in Erscheinung getreten; wir spüren sie bis zum heutigen Tag.6
Seinem Vater Thomas Mann war diese Wahrnehmung vertraut, als er in seinen ›Betrachtungen eines Unpolitischen‹ (1918) im Kapitel ›Einkehr‹ von Lübeck als seiner »alten hanseatischen Heimat, die ältester deutscher Kolonialboden ist«, schrieb.7 In deutschen Bildungsschichten existierte somit die feste Meinung, dass Deutschland, aber auch Österreich längst ihren Beitrag zur europäischen Kolonisation beigetragen hätten und zu den kolonialistisch agierenden Ländern gehörten. Die sehr spät, nach 1885, begonnene deutsche Teilnahme an der europäischen Überseekolonisation unter Bismarck blieb ein Zwischenspiel, das mit der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg sein schnelles Ende fand. Die Niederlage bedeutete aber auch Gebietsverluste im Osten, die zu Lasten Preußens an den neugegründeten polnischen Staat fielen, sodass fortan von der »blutenden deutschen Ostgrenze«8 gesprochen wurde und der Kolonienerwerb auf dem Kontinent erneut zu einem Stimulus werden konnte. Adolf Hitler nahm den mythenanfälligen ›tausendjährigen‹ Hintergrund unter Betonung des Kolonialaspekts in ›Mein Kampf‹ in seine Politikkonzeption auf und stellte fest, dass er als Endresultat seiner Prüfung von tausend Jahren deutscher Geschichte nur drei Erscheinungen davon würdigen könne:
6
Golo Mann: Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 1966,
7
Ausführlich dazu auch Bernhard Heil: Die deutschen Städte und Bürger im Mittelal-
S. 30–34. ter, 2. Aufl., Leipzig 1906, S. 38–45 (Reprint Augsburg 1998). 8
Siehe dazu etwa Krzysztof Ruchniewicz: Die deutsch-polnischen Beziehungen 1918– 1939, 2018, https://forumdialog.eu/2018/07/09/die-deutsch-polnischen-beziehungen1918-1939, und www.eupod.uni-kiel.de/de/aktuelles/archiv/2020/blutende-grenzengrenzziehungen-in-mittel-und-osteuropa-nach-1918 (Aufrufdatum jeweils: 1.5.2023).
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1. die hauptsächlich von Bajuwaren betätigte Kolonisation der Ostmark, 2. die Erwerbung und Durchdringung des Gebietes östlich der Elbe, und 3. die von den Hohenzollern betätigte Organisation des brandenburgischpreußischen Staates als Vorbild und Kristallisationskern eines neuen Reiches. [...] Wir setzen dort an, wo man vor sechs Jahrhunderten endete. Wir stoppen den ewigen Germanenzug nach dem Süden und Westen Europas und weisen den Blick nach dem Osten.9
Diese Stoßrichtung zeichnet sich bereits auf der ersten Seite seiner Kampfschrift ab: Deutschösterreich muß wieder zurück zum großen deutschen Mutterlande, und zwar nicht aus Gründen irgendwelcher wirtschaftlichen Erwägungen heraus. [...] Gleiches Blut gehört in ein gemeinsames Reich. Das deutsche Volk besitzt solange kein moralisches Recht zu kolonial-politischer Tätigkeit, solange es nicht einmal seine eigenen Söhne in einen gemeinsamen Staat zu fassen vermag. Erst wenn des Reiches Grenze auch den letzten Deutschen umschließt, ohne mehr die Sicherheit seiner Ernährung bieten zu können, ersteht aus der Not des eigenen Volkes das moralische Recht zur Erwerbung fremden Grund und Bodens.10
Es vermag daher nicht zu verwundern, dass Hitler seiner ersten geheimen Weisung als oberster Befehlshaber der Wehrmacht zum ›Anschluss‹ Österreichs im Jahr 1938 den Titel ›Unternehmen Otto‹ gab.11 Den Ursprung Deutschösterreichs sah er nämlich in dem von Otto dem Großen 955 auf dem Lechfeld errungenen
9
Adolf Hitler: Mein Kampf. Zweiter Band, München 1933 (zuerst 1926), S. 733–742. Der letzte Satz ist im Original hervorgehoben.
10 Ders.: Mein Kampf. Erster Band, München 1933 (zuerst 1925), S. 9. Auf diese Stelle geht auch Mark Mazower: Hitlers Imperium. Europa unter der Herrschaft des Nationalsozialismus, München 2009, S. 54, ein. Mazower ist einer jener Historiker, die den Kolonialaspekt des Nationalsozialismus hervorheben, wobei er einer globalgeschichtlichen Perspektive folgt, aus der sich leichter erschließt, wie Hitlers expansive Gedankenwelt in den europäischen Imperialismus eingebettet war. 11 Martin Haidinger hält die Assoziation mit dem mittelalterlichen Kaiser Otto dem Großen, der die Grenzmarken des Reichs weit in den Ostraum vorgetrieben hatte, für wahrscheinlicher, als dass Hitler sich damit auf Otto von Habsburg hätte beziehen können – allerdings stößt diese Lesart in Österreich auch heute noch auf Anklang, vgl. Martin Haidinger: Hitlers Österreich-Komplex, in: Unser Hitler. Die Österreicher und ihr Landsmann, hg. v. Martin Haidinger [u.a.], Salzburg 2009, S. 29.
Die Nibelungen und der ›Generalplan Ost‹ | 245
Sieg über die Ungarn, aus dem sich die Expansion in die künftige Ostmark ergab. Sie habe »Jahrhunderte lang das Reich erst nach Osten [beschirmt], um endlich in zermürbendem Kleinkrieg die deutsche Sprachgrenze zu halten«.12 Dieser Hintergrund wirkte fort. Der am 22. Juni 1941 begonnene Überfall auf Russland hieß ›Unternehmen Barbarossa‹13, und Himmler benannte im gleichen Jahr seine Ostprojekte unter der Patronage Heinrichs I. als ›Programm Heinrich‹.14 Zu dessen Verwirklichung taugte als sein Mann im Osten Odilo Globocnik. Dieser war verantwortlich sowohl für die völkermörderische ›Aktion Reinhardt‹ wie auch für das gescheiterte erste Siedlungsunternehmen in der ›Aktion Zamość‹ im Rahmen des dafür aufgestellten ›Generalplans Ost‹. 1943 bemerkte Himmler zur Rolle Globocniks in einem Brief an seinen Schwager, »dass man doch über alle Fehler hinweg die ungeheure Arbeitskraft und Dynamik dieses Mannes, der wie kein zweiter für die Kolonisation im Osten geschaffen ist, sehen muss«.15 Wenn Hitler vom nach Süden und Westen ausgerichteten Germanenzug schreibt, der umzukehren sei, dann fasst er das, wenn man Pickers Aufzeichnungen Glauben schenken darf, nach dem Überfall auf Russland genauer: »Wir dürfen von Europa keinen Germanen mehr nach Amerika gehen lassen. Die Norweger, Schweden, Dänen, Niederländer müssen wir alle in die Ostgebiete hereinleiten; das werden Glieder des Reichs.«16 Dahinter verbirgt sich eine Beunruhigung, die die Nationalstaatsplaner schon im 19. Jahrhundert umgetrieben hatte. Ein Millionenheer deutscher Auswanderer hatte sich nach Übersee begeben und fremde Volkswirtschaften um das bereichert, wofür es im kleinstaatlichen
12 Hitler (Anm. 10), S. 9. 13 Franz Halder, der von Hitler Ende Juni 1940 beauftragt wurde, einen Plan für den Angriff auf die Sowjetunion zu konzipieren, legte im Dezember 1940 seine Ausarbeitungen unter dem Namen ›Otto‹ vor, woraus Hitler dann ›Barbarossa‹ machte, weil der Name ›Otto‹ schon vergeben war, vgl. Karl-Heinz Janßen u. Carl Dirks: Der Krieg der Generäle. Hitler als Werkzeug der Wehrmacht, Berlin 1999, S. 144. 14 Vgl. Richard Breitman: Heinrich Himmler. Der Architekt der ›Endlösung‹, Zürich 2000, S. 265f. 15 Siegfried J. Pucher: ›...in der Bewegung führend tätig‹. Odilo Globocnik – Kämpfer für den ›Anschluss‹, Vollstrecker des Holocaust, Klagenfurt 1997, S. 158. Vgl. auch Johannes Sachslehner: Odilo Globocnik. Hitlers Manager des Todes, Wien 2018. 16 Henry Picker: Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier 1941–1942. Eingel., komm. u. hg. v. Andreas Hillgruber, München 1968, S. 31.
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Deutschland keine Entfaltungsmöglichkeiten gegeben hatte.17 Vor allem in den östlichen Provinzen Preußens gab es einen Bevölkerungsschwund, so dass die ›Königlich-Preußische Ansiedlungskommission‹ für die sich leerenden Ostprovinzen 1886 den Begriff ›Ostflucht‹18 prägte, dem sie sich entgegenzustellen versuchte. War noch 1942 in überaus auflagenstarken Publikationen die Trommel für die Ostsiedlung gerührt worden, verordnete Goebbels nach der Niederlage von Stalingrad im Jahr 1943 ein Verbot aller öffentlichen Werbung für die Besiedlung eroberter Gebiete. Der totale Kriegseinsatz bedurfte einer Vielzahl zusätzlicher Arbeitskräfte, die vor allem in Osteuropa zu rekrutieren waren. Deshalb war es nach Goebbels nicht ratsam, »diese Völker, insbesondere die Angehörigen der Ostvölker, direkt oder indirekt vor allem in öffentlichen Reden oder Aufsätzen herabzusetzen und in ihrem inneren Wertbewusstsein zu kränken«.19 I
Der ›Generalplan Ost‹ für den ›Lebensraum im Osten‹ und die Demographie
In einem Beitrag über die deutsche Ostplanung, der am 8. Juli 1942 in der Züricher Zeitung ›Die Tat‹ erschienen ist, wird unter dem Titel ›Ein neuer Germanenzug?‹ bereits zusammenfassend festgestellt, dass Deutschland »für die gewaltige Aufgabe der Ostkolonisation auch nach dem Kriege nicht genug Kräfte im eigenen Volke hat. Die Basis für eine deutsche Kolonialpolitik, die bis nach Sibirien zielt (und dabei gleichzeitig die Erschließung Afrikas weitertreiben will),
17 Friedrich List (1789–1846), der bedeutendste deutsche Wirtschaftstheoretiker des 19. Jahrhunderts, der darüber hinaus als Unternehmer, Diplomat und Eisenbahnpionier tätig war, bemühte sich vergeblich um eine Rückbindung der Auswanderer an Deutschland im Rahmen von Siedlungsprojekten im Osten und Südosten, vgl. Ulrich Eisele-Staib: England und die industrielle Entwicklung in Deutschland, in: Friedrich List und seine Zeit. Nationalökonom, Eisenbahnpionier, Politiker, Publizist, hg. v. der Stadtverwaltung Reutlingen 1989, S. 196. 18 Vgl. Hans-Jürgen Bömelburg: Friedrich II. als Erinnerungsort im deutschen und polnischen Bewusstsein. Preußische Geschichte und deutsch-polnische histoire croisée, S. 15, https://perspectivia.net/servlets/MCRFileNodeServlet/ploneimport_derivate_0 0000033/Boemelburg_Erinnerungsort.doc.pdf (Aufrufdatum: 1.5.2023). 19 Zit. n. Arno J. Mayer: Der Krieg als Kreuzzug. Das Deutsche Reich, Hitlers Wehrmacht und die ›Endlösung‹, Reinbek b. Hamburg 1989, S. 514f.
Die Nibelungen und der ›Generalplan Ost‹ | 247
ist einfach zu schmal«, weshalb mit der Teilnahme anderer europäischer Völker kalkuliert werde.20 Nicht ohne ironische Untertöne kommentierte der deutsche Historiker Helmut Heiber im Jahr 1958 die bis dahin bekannt gewordenen, ihm aber noch nicht vollständig zugänglich gewesenen Generalplanungen. Er spricht, angesichts des Zahlenmaterials zur »Siedler- und Kostenbilanz«, von »Milchmädchenrechnungen«. Nachdem die größeren Projekte längst fallengelassen worden waren, liefen für Teilräume aber [...] Einzelplanungen weiter, und manche skurrile Idee erblickte noch das Licht der Welt, um nur allzubald von der rauhen Wirklichkeit in die Ablage der Registraturen verwiesen zu werden. Als Beispiel sei die Krim erwähnt, deren Jaltaküste sich in einzigartiger Weise für eine Synthese deutscher Südsehnsucht und Ostpolitik anbot und dereinst zur ›deutschen Riviera‹ werden sollte. Bereits im August 1941 hatte Hitler für dieses Gebiet persönlich die Aussiedlung der dortigen Bevölkerung verlangt, ‒ ›wohin, ist mir ganz wurscht, Rußland ist groß genug!‹ Als Siedlungsinteressenten dachte man ‒ neben den autochthonen Volksdeutschen ‒ für das erste Treffen an die Palästinadeutschen, zum anderen fand ein Plan des Krim-Generalkommissars Frauenfeld, die Südtiroler dort ›anzusetzen‹, bei Hitler und Himmler freundliches Interesse. ›Für Burgund‹, so kommentierte letzterer großzügig, ›werden wir dann eben einen anderen Volksstamm oder eine andere Bevölkerung finden‹. Die Kriegsereignisse hinderten zwar den Reichsführer daran, eine Bevölkerung für die offenbar ‒ so könnte man meinen ‒ menschenleere Franche Comté zu ›finden‹ und die Südtiroler an die Ufer des Schwarzen Meeres zu verpflanzen, ein ›SS-Krimkommando‹ bereitete an Ort und Stelle aber buchstäblich bis zur Räumung im April 1944 die deutsche Besiedlung vor, verfolgte die ›Spuren der Goten‹, erörterte ›Methoden der Klimasteuerung‹, erarbeitete eine ›Bewässerungsplanung‹ und was es an derartigen, im Kriege so vordringlichen Aufgaben noch alles gab.21
20 Verfasser mit dem Kürzel ›Al.‹ in den Ausgaben vom 26. Mai (›Deutsche ›Landnahme‹ im Osten‹, www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=DTT19420708-01) und 8. Juli 1942 (›Ein neuer Germanenzug? Zur deutschen Ostplanung‹, www.e-newspapera rchives.ch/?a=d&d=DTT19420708-01; Aufrufdatum jeweils: 1.5.2023). In diesen zwei Artikeln wird sowohl die mittelalterliche Ostkolonisation als ideologische Vorlage wie auch der ›Generalplan Ost‹ umrissen, dessen letzte Fassung auf den 28. Mai 1942 datiert. 21 Helmut Heiber: Der Generalplan Ost, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 6/3 (1958), S. 281–525, hier S. 291. ‒ Die ›Generalplan Ost‹-Fassung vom Juni 1942 ist
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Damit ist ausgesprochen, was die für die Ostplanung führenden Köpfe zwischen 1940 und 1942 um Konrad Meyer, der von Himmler als Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums mit der Planung beauftragt worden war, und um den NS-Chefideologen Alfred Rosenberg als Reichsminister für die besetzten Ostgebiete, im Grunde auch wussten und fürchteten. Spätestens 1943, nach der Niederlage von Stalingrad, zeigte sich, dass im Osten nichts mehr zu gewinnen war, am allerwenigsten Siedlungsraum für deutsche Kolonisten. Aus dem leichtsinnig ins Auge gefassten ›Blitzkrieg‹ war längst ein Vernichtungskrieg geworden. Die Phantasmagorie von einem ›Großgermanischen Reich‹22 bis ans Schwarze Meer und bis zum Ural war hinfällig geworden. Heinrich Himmler, der seit Kriegsbeginn mit einer Zyankalikapsel für die Zahnlücke in seinem rechten Unterkiefer ausgerüstet war23 und noch nach dem Krieg und seinem Selbstmord im Familienkreis als ›König Heinrich‹ figurierte,24 äußerte sich auch im Redeauftritt vor nationalsozialistischem Publikum wie kein anderer in verblüffender Offenheit über die Risiken der nationalsozialistischen Visionen. Bereits im Juni 1931 hielt er in München ein Referat über ›Zweck und Ziel der SS, Verhältnis der SS zu SA und politischen Gliederungen‹, in dem er – nicht zum letzten Mal – die Alternative ›Alles oder Nichts‹ zur Wahl stellt: Gelingt es uns noch einmal, um Deutschland herum diese nordische Rasse anzusiedeln, wieder zu Bauern zu machen, und aus diesem Saatbeet heraus ein Volk von 200 Millionen zu machen? Dann gehört die Erde uns! Siegt der Bolschewismus, so bedeutet dies das Austilgen der nordischen Rasse, des letzten nordischen Blutswertes, bedeutet dies Verwüstung, das Ende der Erde. […] Wir haben die große und herrlichste Aufgabe, die an ein Volk gestellt werden kann. Wir stehen an Blutswert und Bevölkerungszahl auf dem Aussterbeetat. Wir sind dazu berufen, eine Basis zu schaffen, damit die nächste Generation Geschichte machen kann, und diese Geschichte wird eine große sein, wenn wir die Basis richtig aufbauen.25
abrufbar unter: www.1000dokumente.de/index.html?c=dokument_de&dokument=01 38_gpo&st=GENERALPLAN%20OST&l=de (Aufrufdatum: 1.5.2023). 22 Konrad Meyer in seiner Posener Rede vom 23. Oktober 1941: »Wer an der Neuordnung des Ostens mitzuwirken berufen ist, muß Glauben, Phantasie und Mut haben«, zit. n. Heiber (Anm. 21), S. 294. 23 Vgl. Breitman (Anm. 14), S. 19. 24 Vgl. Katrin Himmler: Die Brüder Himmler. Eine deutsche Familiengeschichte, Frankfurt a.M. 2005, S. 265. 25 Zit. n. Peter Longerich: Heinrich Himmler. Biographie, München 2008, S. 132f.
Die Nibelungen und der ›Generalplan Ost‹ | 249
Himmler kannte die demographischen Daten, die er nie aus den Augen verlor. Er trug sie in seinen Redeauftritten kontinuierlich vor, wobei er besonders den ›Willen zum Kind‹26 gefördert sehen wollte. Hierfür seien zwei weitere Beispiele aus Reden in der SS-Junkerschule in Bad Tölz angeführt. Das erste Beispiel stammt aus einer Gruppenführerbesprechung vom 18. Februar 1937. Es handelt von den demographischen Beeinträchtigungen durch verlorene Kriegsjahrgänge, aber auch durch die Verbreitung von Homosexualität: Wenn ich ein bis zwei Millionen Homosexuelle annehme, so ergibt das, daß ungefähr 7, 8, 10 % der Männer in Deutschland homosexuell sind. Das bedeutet, wenn das so bleibt, daß unser Volk an dieser Seuche kaputtgeht. [...] Wenn Sie weiter die Tatsache noch mit in Rechnung stellen [...], daß wir bei einer gleichbleibenden Zahl von Frauen rund zwei Millionen Männer zu wenig haben, die im Krieg gefallen sind, dann können Sie sich vorstellen, wie dieses Übergewicht von zwei Millionen Homosexuellen und zwei Millionen Gefallenen, also rund vier Millionen fehlender geschlechtsfähiger Männer den Geschlechtshaushalt Deutschlands in Unordnung bringt und zu einer Katastrophe wird.27
Am 23. November 1942 hielt er eine weitere Rede in der SS-Junkerschule in Bad Tölz. Nach einer Bilanz des bisher Erreichten entwarf er darin, was in den nächsten zwanzig Jahren nach dem immer noch für möglich gehaltenen Sieg im Krieg zu geschehen habe und wozu er die jungen Männer aus allen Ländern Europas als künftige Funktionselite in der Waffen-SS motivieren wollte. Denn »der Osten gehört der Schutzstaffel«, wie es SS-Gruppenführer Otto Hofmann vom Rasse- und Siedlungshauptamt auf den Punkt brachte.28 Himmlers Bad Tölzer Rede trägt den Titel ›Heute Kolonie, morgen Siedlungsgebiet, übermorgen Reich!‹ Der Frage des Nachwuchses misst er für die Bewältigung der Zukunft besondere Bedeutung zu: In diesen zwanzig Jahren muss der Gedanke der Ahnenverehrung bei uns heimisch werden, damit wir von hier aus die Gesetze unseres Lebens gestalten können. Unsere ganze Arbeit wäre umsonst, wenn unserem Sieg nicht genügend Kinder guten Blutes folgen würden. Wenn wir hier versagen, dann wissen wir, dass unser ganzer heldenhafter Kampf vergeblich war, wenn in einigen Jahrhunderten
26 Vgl. etwa Paul Danzer: Der Wille zum Kind, München u. Berlin 1938. 27 Heinrich Himmler: Geheimreden 1933–1945 und andere Ansprachen, hg. v. Bradley F. Smith u. Agnes F. Peterson, Frankfurt a.M. 1974, S. 92. 28 Zit. n. Heiber (Anm. 21), S. 284.
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ein neuer Wellenschlag gegen unser Reich brandet, und wir haben keinen Adolf Hitler. Der Pflanzgarten ist da, wir müssen 400 bis 500 Millionen Germanen werden, wenn wir das Reich gegen die Asiaten erhalten wollen. Wir müssen erreichen, dass der Gedanke an viele Kinder im Sinne der Verehrung unserer Ahnen eine Selbstverständlichkeit wird; denn wer die Ahnen verehrt, hat auch Enkel. Enkel heißt ja nur junger Ahn.29
Erhard Wetzel (1903–1975), der Mitglied der NSDAP, nicht aber der SS war, hatte als hoher Beamter im ›Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete‹ Einblick in alle Siedlungsplanungen. Der ausgebildete Jurist stammte aus Stettin und schätzte das Verhältnis der ost- zu den westdeutschen Ländern und ihrer Bewohner zueinander skeptisch ein. So gibt Wetzel in einer Stellungnahme zum ›Generalplan Ost‹ im April 1942 zu bedenken, dass unklar sei, ob es überhaupt gelingen könne, im deutschen Volk den Willen zur Kolonisation im Osten zu wecken, wenn er auch im Augenblick durchaus bereits vorhanden zu sein scheine. Aber im westlichen Deutschland wolle man nicht einmal etwas vom Ansiedeln im Warthegau, in Danzig oder in Preußen wissen.30 Darüber hinaus fehle es am besagten ›Willen zum Kind‹.31 Der müsse, so fährt Wetzel fort, geweckt werden, besonders auch bei den Ostsiedlern. Angesichts der riesigen Siedlungsmission im Osten und der Fortpflanzungsfreudigkeit der östlichen Nachbarn seien die deutschen Geburtenzahlen viel zu gering. Doch trotz dieser Bedenken trug Wetzel die Besiedelungspläne weiterhin mit. II
Die Mediävalisierung des Vokabulars in den SS-Planungen
Himmler suchte seit 1933 mit Walther Darré nach einer Verankerung der SS in historischen Figurationen, wozu auch Bauten gehörten. Dabei stießen sie auf die Wewelsburg bei Paderborn im »Lande Hermanns des Befreiers und Widukinds«32. Die Burg ging 1934 in die Hände der SS über. Damit die mittelalterliche Wewelsburg, die in ihrem neuzeitlichen Stil einem Schloss der Weserrenaissance ähnelt, wieder Burgcharakter erhielt, wurde den Außenmauern der Putz
29 Die Rede ist verfügbar unter www.gerd-simon.de/HimmlerUmsiedlg3.pdf (Aufrufdatum: 1.5.2023), das Zitat findet sich hier auf S. 10. 30 Vgl. Christian Ingrao: Hitlers Elite. Die Wegbereiter des nationalsozialistischen Massenmords, Bonn 2012, S. 189. 31 Siehe Anm. 26. 32 Karl Hüser: Wewelsburg 1933–1945. Kult- und Terrorstätte der SS, 2. Aufl., Paderborn 1987, S. 33.
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abgeschlagen. Zum Leiter wurde ein »Burghauptmann« bestellt, unter dem eine »Beschließerin« und »Burgmaiden« dienten.33 Für die SS-Ideologen bestand kein Zweifel daran, dass die Wewelsburg in die Zeit Heinrichs I. zurückreiche, der um 930 die bis nach Westfalen einfallenden Ungarn oder »Hunnen«34 abzuwehren versucht hatte. Im späten 12. Jahrhundert nennt der sogenannte Annalista Saxo die Burg in seiner Chronik Wifilisburg, tempore Hunnorum constructum.35 Zu Heinrich I. gehörte als wichtigste siegbringende Reliquie der ottonischen Dynastie die Heilige Lanze, die dann den Reichskleinodien zugeordnet wurde. In der Fortführung von Otto Höflers Germanentheorie, in deren Rahmen sie zum Speer Wotans mutierte, wurde sie als Symbol germanischen Herrschertums gedeutet.36 Lanze und Speer dienten beide als Bezugspunkte für die Entwürfe des bis zum Jahr 1964 geplanten Ausbaus der Burg mit Fernstraßenanschluss,37 in denen der dreieckige Burggrundriss als Spitze einer zunächst der Heiligen Lanze nachgebildeten Lanzenform mit kilometerlangem Schaft und später einem Speer glich.38 Die mentale Einrichtung im Mittelalter erreichte für Himmler einen ersten Höhepunkt, als er sich auf Ersuchen Quedlinburgs bereit erklärte, mit der SS die Feierlichkeiten zum 1000. Todestag Heinrichs I. in der dortigen Stiftskirche auf dem Schlossberg an der Grabstelle von Heinrich I. und seiner Frau Mathilde auszurichten. Dort hielt er am 2. Juli 1936 vor der Elite des Reichs seine einzige deutschlandweit im Rundfunk ausgestrahlte Rede über die Leistungen Heinrichs I. und dessen Vermächtnis als Kämpfer gegen die Slawen. Er erklärte die Stifts-
33 Ebd., S. 69f. 34 Das Wort ›Hüne‹ steht sowohl mit ›Hunne‹ wie mit ›Ungar‹ in Verbindung, kann also allgemein mit den Repräsentanten der innerasiatischen Reitervölker assoziiert werden, vgl. den entsprechenden Eintrag im DWDS: www.dwds.de/wb/H%C3%BC ne (Aufrufdatum: 1.5.2023). 35 Zit. n. Hüser (Anm. 32), S. 8 f. Das Mittelalterliche sollte sich auch in den drei ›NSOrdensburgen‹ ausdrücken. 36 Otto Höfler: Das germanische Kontinuitätsproblem, Hamburg 1937 (Schriften des Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands), und Hans-Walter Klewitz: Die heilige Lanze Heinrichs I., in: Deutsches Archiv für Geschichte des Mittelalters 6 (1943), S. 42–58. 37 Die megalomanischen Ausbaupläne reichten bis 1964 und somit in ein Jahr, in dem Himmler seinen Ruhestand als künftiger ›Reichsverweser‹ hätte antreten können, vgl. Joe J. Heydecker u. Johannes Leeb: Der Nürnberger Prozeß, Köln 1995, S. 527. 38 Vgl. Hüser (Anm. 32), S. 292, 294f. u. hinteres Faltblatt.
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kirche zur nationalen Weihestätte,39 an der in der Folge jährlich am 2. Juli Gedenkstunden abgehalten wurden. Als Herausgeber der Zeitschrift ›Germanien‹, in der die Rede abgedruckt wurde, fungierte Josef Otto Plaßmann.40 Er wurde von Himmler 1936 in dessen persönlichen Stab aufgenommen. Unter den von Plaßmann selbst verfassten Artikeln für die Zeitschrift befindet sich ein Beitrag, der sich mit Hagen der für ihn zentralen Figur des ›Nibelungenliedes‹ annimmt. Er sei »der Mann, an dem das eiserne Schicksal selbst zerschellt, weil er es furchtlos erfüllt«.41 Es folge alles einer »Notwendigkeit, die im Gange der Weltordnung begründet« sei und finde sich in dem gespiegelt, was Nietzsche »amor fati« genannt habe.42 In einem weiteren Beitrag aus dem Jahr 1939 bekommt der grimmige Hagen als ›Führer‹ neben den Königen einen festen Platz unter den großen Persönlichkeiten der germanischen und deutschen Geschichte zugewiesen.43 Als mythische Urfigur erwähnt er den »getreuen Eckart« als engen Verwandten Hagens, der aber auch in Hildebrand aus dem Sagenkreis um Dietrich von Bern als Urbild des ergrauten Getreuen wiederzuerkennen sei. Hagen ist für Plaßmann der Mittelpunkt des burgundischen Königshofs, und zwar »als Rater und als Mahner – und als Schweiger«. Er sei dabei am wenigsten »Höfling«, sondern für alle der »wahre Führer der Nibelunge. […] Der große Schweiger Hagen, der da langbeinig und breitbrüstig, ein Trost der Seinen und ein Schrecken der Feinde, über die Stätte des Schicksals schreitet […]«.44 Die ersten großen historischen Figuren in Plaßmanns Wahrnehmung stammen aus Sachsen. Es sind Otto der Erlauchte an der Schwelle zur Reichsgeschichte und Hermann Billung als Stellvertreter Ottos des Großen, vor allem aber Gero, »der eiserne Ostmarkenkämpfer«. In der Dichtung wie in der Wirklichkeit gehe es um die »freie und eigenständige Ratgeberschaft«, die ihren Rückhalt in der »Volkheit« habe. Im reifen Ratgeber seien »Volkheit« und Per-
39 Abgedruckt in: Germanien. Monatshefte für Germanenkunde zur Erkenntnis deutschen Wesens, Heft 8, 1936, S. 225–231. Davor (S. 193–221) Heft 7 als ›Sonderheft zum tausendsten Todestage des Reichsgründers König Heinrich I. Mit einem Geleitwort des Reichsführers SS Heinrich Himmler‹ mit Ausführungen zum Stand der Heinrichforschung und zur Bedeutung des Königs für die Gegenwart. 40 Vgl. Ernst Klee: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. 2., durchges. Aufl., Frankfurt a.M. 2003. 41 Josef Otto Plaßmann: Hagen, in: Germanien, Heft 3, 1937, S. 65–69, hier S. 66. 42 Ebd., S. 68f. 43 Ders.: Mehr sein als scheinen, in: Germanien, Heft 1, 1939, S. 1–4. 44 Ebd., S. 3.
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sönlichkeit zusammengewachsen.45 Unter der Überschrift von ›Mehr sein als scheinen‹ ist damit für Plaßmann auch der Unterschied zwischen Dichtung und Wirklichkeit eingeebnet, und aus dem Ostgoten Gesimund, aus Hildebrand, Dietrich von Bern und vor allem Hagen sind leibhaftige Menschen geworden. Es kann angesichts eines solchen Geschichts- und Literaturverständnisses kaum verwundern, dass Hagen in einem namentlich nicht gekennzeichneten Beitrag für die Zeitschrift ›SS Germanische Leithefte‹, das zentrale Publikationsorgan der SS, als leibhaftiger »Staffelmann« angesprochen wird.46 Mit den historischen sächsischen Gestalten ist dann auch bei Plaßmann, offen angesprochen im Markgrafen Gero, die Ausrichtung nach Osten deutlich geworden, mit Heinrich I. als Führergestalt beginnend und von seinem Sohn Otto I. gegen die Slawen fortgesetzt. So wird die ›Ostkolonisation‹ am Horizont Plaßmanns sichtbar.47 Noch in Friedenszeiten gab Himmler im Januar 1939 für die Wewelsburg ein Triptychon über die anstehende Eroberung des Ostens und seine Besiedlung in Auftrag, und zwar für den Vorplatz vor der künftigen Führerwohnung. Himmler selbst skizzierte die inhaltlichen Bestandteile des Triptychons: a) Der Angriff einer SS-Truppe im Krieg, bei dem ich mir sogar vorstelle, dass ein gefallener oder zu Tode verwundeter alter SS-Mann, der verheiratet ist, mit dargestellt wird, um zu zeigen, dass aus dem Tode selbst eines verheirateten Mannes trotzdem neues Leben sprießt. b) Ein Acker im neuen Land, der von einem Wehrbauern48, einem SS-Mann, gepflügt wird. c) Das neugegründete Dorf mit der Familie und zahlreichen Kindern.49
45 Ebd. 46 Vgl. Frank Helzel: Vorbilder, Himmlers Ende und Wewelsburger Selbstdarstellung, 2009, S. 7, www.himmlers-heinrich.de/himmlers-ende.pdf (Aufrufdatum: 1.5.2023). Die ideologische Funktionalisierung Hagens durch die Nationalsozialisten wurde auch im Ausland wahrgenommen, vgl. Robert Schöller: Nibelungischer Widerhall. Nibelungendiskurse in der Zeit des Nationalsozialismus, 2020, www.nibelungenliedgesellschaft.de/nlg/beitraege/nibelungische-echos (Aufrufdatum: 1.5.2023). 47 Vor diesem Hintergrund ist noch einmal an die Decknamen der großen Expansionsunternehmungen zu erinnern: ›Unternehmen Otto‹ (1938), ›Unternehmen Barbarossa‹ (1941, Wehrmacht), ›Programm Heinrich‹ (1941, SS). 48 In der maßgeblichen Quelle für das quellenarme 10. Jahrhundert, der Sachsenchronik (›Res gestae Saxonicae‹) des Widukind von Corvey, ist von agrarii milites die Rede, also von Wehrbauern, die Heinrich I. gegen die immer wieder einfallenden Ungarn zur Bemannung seiner Burg- und Wallanlagen angesiedelt hat. Auch für den französischen Algerienkolonisator nach 1830, Thomas Robert Bugeaud de la Piconnerie,
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Im ›Generalplan Ost‹ pflanzten sich die Anleihen aus dem Mittelalter fort. Analog zum nach dem ›Anschluss‹ in ›Ostmark‹ umbenannten Österreich erscheint an insgesamt 64 Stellen das Wort ›Mark‹ als Bezeichnung für ein Grenzgebiet; stets verwendet wird es für die künftigen ›Siedlungsmarken‹ im nördlichen ›Ingermanland‹ (Petersburger Gebiet), im mittleren Memel-Narew-Gebiet (Bezirk Bialystok und Westlitauen) und im am Schwarzen Meer gelegenen ›Gotengau‹; an 67 Stellen wird das Wort ›Lehen‹ in allen katasteramtlichen Kombinationen für die an Siedler zu vergebenden Ländereien gebraucht. Himmler wäre somit die Rolle des obersten ›Lehensherrn‹ zugefallen. Außerdem hatte Walther Darré als Stichwortgeber Himmlers das antike Thema vom ver sacrum für die SS erschlossen.50 Es fand Eingang in die Konzeption des Wewelsburger Triptychons und wurde als ›Heiliger Frühling‹ nicht nur zu einem Schlüsselbegriff bei Himmler, als er in einer Rede am 19. Juni 1942 vor dem Führercorps ›Das Reich‹ die Kolonisierung der Ostgebiete als »neuen Frühling«51 bezeichnete, sondern stand vor allem im ›Lehrplan für die weltanschauliche Erziehung in der SS und Polizei‹ bei der Beschreibung des ›Imperium Romanum‹: Das Bevölkerungsgemisch des einstmaligen Imperiums wurde nun mit den dünnen Kriegerschichten der germanischen Einwanderer überzogen. Vom Atlantik bis zum Schwarzen Meer und vom Rhein bis zum Atlas reichten die Staatengründungen der Goten, Heruler, Sueben, Wandalen, der Franken, Burgunder, Langobarden und Angelsachsen. Es war für die altgewordene Kulturwelt der Antike wahrhaft ein ›Heiliger Frühling‹, der von ihr Besitz ergriff. Aus den Trümmern der Vernichtung erstand eine neue Welt. Die Zufuhr schöpferischen Blutes aus
war der soldat-laboureur die Idealfigur. Der Begriff wird auch mit dem römischen Adligen und Politiker Lucius Quinctius Cincinnatus in Zusammenhang gebracht, vgl. Ivan Jablonka: Le mythe du soldat-laboureur, 2016, https://histoire-image.org /etudes/mythe-soldat-laboureur (Aufrufdatum: 1.5.2023). 49 Dina van Faassen: Himmlers Wewelsburger Gemäldesammlung, in: Die SS, Himmler und die Wewelsburg, hg. v. Jan Erik Schulte, Paderborn [u.a.] 2009, S. 242–269, hier S. 254f. 50 Vgl. Walther Darré: Das Bauerntum als Lebensquell der Nordischen Rasse, 9. Aufl., München 1942, S. 192–196. 51 Johann Chapoutot: La charrue et l'épée. Paysan-soldat, esclavage et colonisation nazie à l'Est (1941–1945), in: Hypothèses 10/1 (2007), S. 261–270, hier S. 266.
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dem Mutterboden des indogermanischen Menschentums bewirkte die Entstehung einer neuen Kultur.52
Diese Mediävalisierung lässt sich nicht trennen von der national-geschichtlichen ›Meistererzählung‹ in Germanistik und Geschichtsschreibung, so etwa bei Hans Naumann, Albert Brackmann, Robert Holtzmann, Hermann Heimpel oder Friedrich Baethgen, die insbesondere anlässlich des ›Anschlusses‹ Österreichs Konjunktur hatte.53 So schreibt Baethgen 1939: Das vergangene Jahr hat uns ein Erleben gebracht von einer Größe, wie es nur wenigen Generationen des deutschen Volkes beschieden gewesen ist. […] Eine Forderung wurde verwirklicht, die sich mit innerer Notwendigkeit aus dem gesamten Ablauf unserer Geschichte ergeben hatte.54
Dabei sah er den Schatten des mittelalterlichen Reiches hinter dem ›Großdeutschen Reich‹ sich erheben. Euphorischer noch als Friedrich Baethgen äußert sich Hermann Heimpel im Jahr 1941.55 Zu Heinrich I., der aufgehört hatte, ›kleindeutscher Musterkönig‹ zu sein, hatte er schon zuvor vermerkt, »dass die natur-
52 SS-Hauptamt: Lehrplan für die weltanschauliche Erziehung in der SS und Polizei, S. 17f., https://homepages.uni-tuebingen.de/gerd.simon/SSHALpl.pdf (Aufrufdatum: 1.5.2023). Diese Lehrplanstelle beinhaltet mit der Erwähnung des ›Bevölkerungsgemischs‹ bereits jene Terminologie, die dann auch mit Bezug auf den sowjetrussischen ›Völkerbrei‹ im ›SS-Leitheft‹ von 1941 (Jg. 7, Folge 4b) auf S. 1 unter der Überschrift ›Die Herren des Ostens. Die Blutspur in den Völkern des östlichen Raumes‹ Eingang findet. Auf S. 7 heißt es zum Abschluss: »Heute tritt Europa in seinen gesundesten Völkern gegen diesen Pestherd an.« 53 Zur Verherrlichung des ›Tausendjährigen‹ im ›Anschluss‹ durch die österreichische Geschichtswissenschaft vgl. Gernot Heiss: Die ›Wiener Schule der Geschichtswissenschaft‹ im Nationalsozialismus. ›Harmonie kämpfender und Rankescher erkennender Wissenschaft‹?, in: Geisteswissenschaften im Nationalsozialismus. Das Beispiel der Universität Wien, hg. v. Mitchell G. Ash [u.a.], Göttingen 2010, S. 397– 426. 54 Zit. n. Karen Schönwälder: ›Lehrmeisterin der Völker und der Jugend‹. Historiker als politische Kommentatoren, 1933 bis 1945, in: Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918–1945, 2. Aufl., hg. v. Peter Schöttler, Frankfurt a.M. 1999, S. 128–165, hier S. 141. 55 Hermann Heimpel: Deutsches Mittelalter, Leipzig 1941 (erweiterte Neuauflage eines 1933 erstmals erschienenen Titels), S. 9–30.
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gemäß vielfältig gespaltene Wissenschaft, wenn überhaupt auf eine Gestalt der deutschen Geschichte, so auf Heinrich I. ihre einmütige Liebe und Verehrung vereinigt hat«.56 Mit diesen mittelalterlichen Anleihen war es für Himmler offenbar leicht, Autoren zu gewinnen, die er für die Schulung und Unterrichtung aller SSEinrichtungen brauchte. Unter ihnen finden sich knapp 80 Prozent Akademiker; unter den Autoren der ›SS-Leithefte‹ lassen sich trotz häufiger Autorenkürzel oder Anonymisierung der Artikel gezählte einhundert promovierte und habilitierte Autoren identifizieren57 – ein respektables akademisches Gehäuse, das in seiner Tragweite noch eingehender zu würdigen wäre. III
Auf den Spuren von Goten, Nibelungen und einem anderen Vorbild in den Osten
Im 1941 von Hitlers Seite her gebrochenen ›Deutsch-Sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrag‹ vom 28. September 1939 war nach der Zerstörung des polnischen Staates von deutscher und sowjet-russischer Seite für den Zeitraum von 1939 bis 1941 die Überführung der dort lebenden deutschen Minderheiten (als ›Heimkehr‹ der sogenannten ›Volksdeutschen‹) ins Deutsche Reich geplant gewesen. Diesem Vorgang war die ›SS-Leitheft-Kriegsausgabe‹58 gewidmet: Die ›Heimgekehrten‹ sollten vorwiegend auf ehemals polnischem Boden im sogenannten Warthegau angesiedelt werden. Himmler verspricht ihnen, dass man bald von »neuen, durch und durch deutschen, in ihren Menschen und ihren Häusern, im Gesicht der Äcker und der Wälder deutschen Landschaften und
56 Hermann Heimpel: Bemerkungen zur Geschichte König Heinrichs I., Leipzig 1937, S. 11. Vgl. dazu auch Valentin Groebner: Das Mittelalter hört nicht auf. Über historisches Erzählen, München 2008. 57 Vgl. Hans-Christian Harten: Himmlers Lehrer. Die Weltanschauliche Schulung in der SS 1933–1945, Paderborn 2014, S. 479. ‒ Joseph Otto Plaßmann wurde 1943 habilitiert, und zwar mit einer Schrift, die laut Walther Wüst, Rektor der Universität München in den Jahren 1941–1945, »das Geschichtsbild der Sachsenkaiser auf altgermanischer Grundlage aufbauen, dieses Geschichtsbild so der römischen Geschichtsklitterung endgültig entreißen und damit die Absichten des Reichsführers SS in einer Weise und Stärke mit verwirklichen helfen [soll], wie sie eindrucksvoller nicht gedacht werden kann«; zit. n. Michael H. Kater: Das ›Ahnenerbe‹ der SS 1935–1945, 4. Aufl., München 2006, S. 135. 58 SS-Leitheft 2b, Jg. 6 (1941).
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Provinzen sprechen« werde.59 Da die Generalplanungen noch nicht ausgereift waren, verlief die Neuansiedlung zunächst chaotisch und unorganisiert. 1942 erschien im ›Leitheft‹ ein Artikel von Heinrich Wiepking-Jürgensmann unter der Überschrift ›Der Osten – bisher verwüstet, jetzt deutsch!‹. Betont wird »das heilige Recht auf Erde, die unser Blut getrunken [...]«.60 Aber es bleibt vorläufig bei einer Skizze der Pläne, die Himmler »zur Umformung der Ostlandschaft« in Auftrag gegeben hat,61 nachdem unter der Überschrift ›Wie werde ich SS-Siedler im deutschen Osten?‹ schon vor dem ›Barbarossa-Feldzug‹ im Detail die Voraussetzungen für die Bewerbung beschrieben wurden, die für ein Leben im Osten als unentbehrlich galten.62 Dazu zählte auch die Ehe mit einer »gesunden, tüchtigen, arbeitsamen Frau, die mit Liebe und Pflichtbewusstsein ihrer Tätigkeit nachgeht« (in Sperrschrift).63 Zu Beginn des Russlandfeldzugs wird unter der Überschrift ›Als sie nach Osten zogen…‹ ein Abriss über ›Die Tat des Deutschtums in der östlichen Steppe‹ gegeben. Im Anschluss daran schildert der SS-Kriegsberichterstatter Adolf Freiherr von Wangenheim (1927–2020) einen Einsatz »unübertrefflicher deutscher Infanterie, Männer der Waffen-SS«, vor denen »der Bolschewik« in wilder Flucht davonstürzt, nachdem er seine Waffen weggeworfen hat: »sie laufen, laufen, laufen, was sie laufen können«.64
59 Ebd., S. 1, unter der Überschrift ›Erde, die mit Blut gewonnen ist…‹. Es handelt sich um einen Auszug aus der Rede zur Begrüßung von Buchenwalddeutschen (Bukowina) in Breslau am 2. März 1941. 60 SS-Leitheft 12a, Jg. 7 (1942), S. 12–15, hier S. 15. 61 Vgl. den Untertitel auf S. 12: ›Die Pläne des Reichsführers SS zur Umformung der Ostlandschaft‹. 62 Nämlich in der oben erwähnten Ausgabe (Anm. 58). 63 Ebd., S. 15–18. Es soll hier darauf verzichtet werden, den in den Leitheften enthaltenen Anteil an Erotik zur Unterhaltung der Soldaten darzustellen. Auch hierfür wird Sagenstoff bemüht, etwa im Edda-Text ›Helgis Wiederkehr‹ (SS-Leitheft 11, Jg. 9 (1943), S. 7ff.): Sigrun verbringt eine Liebesnacht mit ihrem getöteten Heldenmann Helgi in dessen Grabhügel, wo dieser zu neuem Leben erwacht ist; oder in einem Aufsatz von Margarete Schaper-Haeckel über die ›Ebenbürtigkeit in der germanischen Ehe‹ (SS-Leitheft 7, Jg. 9 (1943), S. 23–26), die anhand der Königinnen des ›Nibelungenlieds‹, Brünhild und Kriemhild, veranschaulicht wird, illustriert mit der ganzseitigen Fotoabbildung einer Akt-Plastik von Georg Kolbe u.d.T. ›Die Lauschende‹. 64 SS-Leitheft 5b, Jg. 7 (1941), S. 1–5.
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Doch bald verdüstert sich der Ton. Im Juli 1941 hielt Himmler eine Ansprache vor SS-Soldaten in Stettin, in der die historische Bedeutung des Feldzugs in menschenverachtender Terminologie erörtert wird: Wenn Ihr, meine Männer, dort drüben im Osten kämpft, so führt Ihr genau denselben Kampf, den vor vielen, vielen Jahrhunderten, sich immer wiederholend, unsere Väter und Ahnen gekämpft haben. Es ist derselbe Kampf gegen dasselbe Untermenschentum, dieselben Niederrassen, die einmal unter dem Namen der Hunnen, ein andermal, vor 1000 Jahren zur Zeit König Heinrichs und Ottos I., unter dem Namen Magyaren, ein andermal unter dem Namen der Tataren, wieder ein andermal unter dem Namen Dschingis Khan und Mongolen angetreten sind. Heute treten sie unter dem Namen Russen mit der politischen Deklaration des Bolschewismus an.65
Diese Tonlage wird beibehalten in einem anonymen Artikel von 1942, der unter dem Titel ›Und wieder reiten die Goten… ‒ Unser Kampf im Osten – unsere Pflicht vor Geschichte und Reich‹ erscheint. Einleitend heißt es, dass Goten stets Germanen seien, gleich welchen Stammes und Namens. Sie seien Träger der tätigen Rasse, die ausziehen, um Platz zu schaffen und gleichzeitig die Sicherheit für die Arbeit im Osten zu gewährleisten. Der letzte Absatz lautet: Was aber den Goten, den Warägern und allen einzelnen Wanderern aus germanischem Blut nicht gelang – das schaffen jetzt wir, ein neuer Germanenzug, das schafft unser Führer, der Führer aller Germanen. Jetzt wird der Ansturm der Steppe zurückgeschlagen, jetzt wird die Ostgrenze Europas endgültig gesichert, jetzt wird erfüllt, wovon germanische Kämpfer in den Wäldern und Weiten des Ostens einst träumten. Ein dreitausendjähriges Geschichtskapitel bekommt heute seinen glorreichen Schluß. Wieder reiten die Goten – seit dem 22. Juni 1941 – jeder von uns ein germanischer Kämpfer!66
Wenige Hefte später werden in der im Juni 1942 erschienenen Folge unter dem Titel ›Krone, Reichslanze und Schwert‹ zunächst Geschichten um die Kleinodien des alten Reiches erzählt. Sodann wird von ›Pionier Klinke in Japan. Zwei Völker – der gleiche Einsatzwille‹ berichtet, ehe es düster fortgesetzt wird: ›Wir sind die letzten Goten ‒ Vom Heldenkampf der Goten am Vesuv‹. Es schließen sich die Erinnerung an Felix Dahns ›Ein Kampf um Rom‹ und dessen
65 Zit. n. George H. Stein: Geschichte der Waffen-SS, Düsseldorf 1967, S. 114. 66 SS-Leitheft 9b, Jg. 7 (1942), S. 1f.
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(auch vertontes) Gedicht ›Gotenzug‹ an. Dem wird im letzten Satz mit vielversprechendem Anspruch auf machtvolle Geltung in der Gegenwart entgegengehalten, was den östlichen »Horden der Unterwelt« bevorsteht: »Heute hat sich das große Wunder der germanischen Einigung Europas vollzogen!«67 Auf einen derartigen Lichtblick verzichtet wird in einem im selben Heft ohne Verfasserangabe erschienenen Text zum ›Nibelungenlied‹: ›Der Nibelungen letzter Kampf – Wie germanische Art vor dem Schicksal steht‹. In diesem letzten Kampf geht es dann um »Treue und Todestrotz«. Als Illustration dient ein Gemälde aus dem Nibelungenzyklus von Karl Schmoll von Eisenwerth: ›Volker und Hagen auf Schildwacht in Etzels Hoflager‹ (1911).68 Dieses wird im ›Leitheft‹ mit folgenden Worten beschrieben: »Helden, die unsichtbar neben uns im Kampfe stehen…«. Der anonyme Autor sieht in Hagen, »dem Düsteren«, einen »Fanatiker der Mannestreue« (in Sperrschrift), hinter dem Siegfried, »der Strahlende«, verblasst. Todesverachtend, schicksalstrotzig und treu werde bis zum Ende gegangen und die Ehre »bei stürzenden Hallen und klaffenden Todeswunden« hochgehalten. In der deutschen Geschichte sei die Gestalt des Hagen nie ohne Beispiel geblieben. Obwohl Hagen und seine Begleiter das Unheil ahnten und wüssten, dass sie sterben werden, gibt der Autor zu verstehen, dass »größer noch als Tat und Leben der Nibelungen […] nun ihr Sterben« sei.69 Es folgen Auszüge aus dem Schluss des ›Nibelungenliedes‹ unter folgenden Überschriften: ›Wie Hagen und Volker Wache hielten‹, ›Wie die Hunnen erschlagen wurden‹, ›Kriemhild fordert Hagen als Pfand für freien Abzug‹, ›Germanen stehen gegen Germanen – Burgunden gegen Amelungen, Gunther und Hagen gegen Dietrich von Bern‹, ›Dietrich muss gegen Gunther und Hagen
67 SS-Leitheft 11a/b, Jg. 7 (1942), S. 18. Am Rande sei darauf hingewiesen, dass in den Herkunftsländern der in der SS dienenden und kämpfenden Ausländer auch fremdsprachige Ausgaben erschienen, etwa in Dänemark, Norwegen, Flandern und den Niederlanden. Vgl. https://bunkerbooks.weebly.com/s---ss-leitheft.html (Aufrufdatum: 1.5.2023). 68 Siehe dazu Busso Diekamp: Die Nibelungenbilder von Karl Schmoll von Eisenwerth, www.nibelungenlied-gesellschaft.de/03_beitrag/diekamp/eisenwerth/schmoll.html (Aufrufdatum: 1.5.2023). 69 SS-Leitheft 11a/b, Jg. 7 (1942), S. 19–21. Einer eigenen Studie bedürften die in den hier vorgestellten Überschriften mehrfach auftauchenden, vielsagenden Auslassungspunkte. Göring machte vom ›Nibelungenlied‹ unter Einschluss des Kampfes der Ostgoten und der Auseinandersetzung zwischen Spartanern und Persern bei den Thermopylen bei seiner Kommentierung der Schlacht von Stalingrad 1943 Gebrauch, vgl. Mythos Nibelungen, hg. v. Joachim Heinzle, Stuttgart 2013, S. 62–65.
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kämpfen. Sie sollen sich ergeben‹, ›Dietrich überwältigt die beiden letzten Burgunden nacheinander. Kriemhild erschlägt sie. – Aber das Geheimnis des Nibelungenschatzes nimmt Hagen mit in den Tod‹, ›Auch Kriemhild fällt dem gerechten Zorn des alten Hildebrand zum Opfer‹. Werner Jansen (1890–1943) gehörte wie Felix Dahn zu Himmlers Lieblingsschriftstellern. Bei der Lektüre von Jansens ›Treue-Liebe-LeidenschaftTrilogie‹, zu der unter dem Titel ›Treue‹ sein »den jüngsten deutschen Toten [...] als ein[] bescheidene[r] Dank« gewidmeter Nibelungen-Roman von 1917 gehört, habe Himmler sein »Erweckungserlebnis« gehabt und sei »restlos hingerissen« gewesen.70 Jansen trug vor dem Krieg in einigen Ausgaben auch als Autor zu den ›Leitheften‹ bei. Bei Jansen macht Hagen zunächst das gewollt anachronistische, weil auf die Gegenwart gemünzte Angebot, sich den hunnischen »Reiterscharen, endlos, endlos und schrecklich, wie Schwärme des Todes, schlitzäugicht, breitmäulig und gelb, entgegenstellen und eine Opfertat« vollbringen zu wollen: Eine deutsche Tat voll unerhörter Größe, gerichtet auf ein deutsches Ziel! Ein Opfer ohne Beispiel, denn nur der Opfernde gewinnt. – Hackt mich in Stücke, wenn ihr daraus Deutschland schafft, und ich werde gewonnen haben.«71
Die Szenerie des Kampfes in der Etzelhalle verlagert Jansen nach Wien und zieht in sprachlicher Orchestrierung alle Register, um die Todesverfallenheit zu ästhetisieren und die Strophen des ›Nibelungenliedes‹ »aus Entsetzen und Wollust« zu übertrumpfen. Chriemhild muss in »wahn-sinniger Lust« noch einmal den schon für endlos viele Todesstreiche geschwungenen Balmung aus
70 Longerich (Anm. 25), S. 50f. 71 Werner Jansen: Das Buch Treue. Nibelungenroman, 166.–188. Tausend, Berlin 1942, S. 232 u. 239. Das Motiv des Zerstückelns eines in einer Gemeinschaft lebenden Menschen hat eine bis ins Alte Testament zurückreichende Tradition, auf die etwa auch Heinrich von Kleist in seinem Drama ›Hermannschlacht‹ zurückgreift. Da geht es allerdings um vergewaltigte junge Frauen, die von der eigenen Familie zerstückelt werden. Die Teile werden an die Stammesangehörigen in allen Versippungen verteilt, um das Unrecht öffentlich zu machen und Einigkeit zum Vollzug der Rache herzustellen. So lässt Hermann in Kleists Drama Hally in 15 Stücke zerteilen und an die germanischen Völker verschicken, um sie gegen die Römer aufzuwiegeln.
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der Scheide ziehen und die rote Klinge im Abendschein sich spiegeln lassen, ehe sie das Schwert auf den gefesselten Tronjer fallen lässt.72 Hans-Henning Festge (1911–1995), Jurist und Volkswirt, zählt zu jenen hundert promovierten oder habilitierten Autoren der ›SS-Leithefte‹, die Harten identifizieren konnte.73 Er war ein im ›SS-Hauptschulungsamt‹ als ›Obersturmführer‹ fest verankerter Lehrer für ›weltanschauliche Erziehung‹ und ›weltanschauliche Schulung‹. Im Kriegseinsatz wurde er schon 1941 an der Ostfront schwer verwundet, worüber er 1943 im ›Leitheft‹ unter dem Titel ›An der Grenze zweier Welten‹ berichtet.74 Vor dem ›Erlebnishintergrund‹ seiner Verwundung erfährt der Schluss des ›Nibelungenlieds‹ eine aktualisierte Wiederbelebung, wenn der »Soldatentod zu einem Opfer an die Gottheit« wird, bei dem »das Schicksal« Regie führt. Allerdings vermittelt der Einsatz moderner Munitionswaffen und ihr Explosionslärm ganz andere Sinneseindrücke als der Brandgeruch in der Etzelhalle, in der die Schwerter der Kämpfer klirren. Dazu die Einleitung des Textes:
72 In meinem antiquarisch erworbenen Exemplar des Romans hat der Vorbesitzer, ergriffen von Jansens Schlussakkorden, im Anschluss an den letzten Satz des Romans in schöner Handschrift ein selbstverfasstes Gedicht hinterlassen: »Verweht sind die Hunnen, / Verweht die Burgunden / Völker vergingen / Im Sturmwind der Zeit – Doch von Kriemshilds Rache / Und Hagens Treue / Wird man singen / In alle Ewigkeit.« Der Vorbesitzer schreibt, es seien dies die Schlussverse seiner historischen Erzählung ›Der Untergang der Burgunden – Ein Opfergang für das Abendland‹. Zu Jansen vgl. auch Werner Hoffmann: Das Buch Treue. Werner Jansens Nibelungenroman, in: Die Nibelungen. Sage – Epos – Mythen, hg. v. Joachim Heinzle [u.a.], Wiesbaden 2003, S. 511–521, und Hyuk-Sook Kim: Das Ende des historischen Romans im Zeitalter seiner Verklärung. Werner Jansen und seine ›Heldenzeit‹-Trilogie, Frankfurt a.M. [u.a.] 2008. 73 Zu Festges Biographie bis 1945 vgl. Hans-Christian Harten: Weltanschauliche Schulung der SS und der Polizei im Nationalsozialismus: Zusammenstellung personenbezogener Daten, 2017, S. 121, www.pedocs.de/volltexte/2018/15155/pdf/Harten_2017 _Weltanschauliche_Schulung_der_SS_und_der_Polizei.pdf (Aufrufdatum: 1.5.2023). Andernorts findet man den Hinweis, dass er 1951 für die ›Sozialistische Reichspartei‹ (SRP) als Redner tätig war, vgl. www.bundesarchiv.de/cocoon/barch/1/k/k1951k /kap1_2/kap2_63/para3_11.html (Aufrufdatum: 1.5.2023). Die Partei existierte von 1949 bis zu ihrem verfassungsgerichtlichen Verbot im Jahr 1952. 74 SS-Leitheft 7, Jg. 9 (1943), S. 6–9.
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Als wir im Morgengrauen des 22. Juni 1941 nach einer Woche voll unerträglicher Spannung den Bug überschritten und das Tor in die geheimnisvoll gehütete Welt der Sowjets aufbrachen, waren wir uns wohl alle klar darüber, dass nun der Krieg in ein besonderes Stadium getreten war. Es gab unter den Millionen, die damals an allen Stellen der beinahe 2000 Kilometer langen Front zum Angriff antraten, wohl keinen, der nicht die erschütternde Größe des Augenblicks empfunden hätte. Als um 3.15 Uhr das gewaltige Trommelfeuer ungezählter Batterien anhub und wir mit bleichen Gesichtern in den schwarzen Brodem hinüberstarrten, der sich jenseits des Flusses erhob, hat sich keiner der alten Krieger, die um mich standen, eines Zitterns zu erwehren vermocht. Das war keine Furcht – es war vielmehr ein Erschauern vor der Gewalt der Ereignisse, die uns urplötzlich in ihren Bann zogen. Die rasende Folge ungeheurer Schlachten, in die uns das Schicksal hineinwarf, ließ uns keine Zeit mehr, über die alltäglichen Notwendigkeiten des Krieges hinaus weiteren Gedanken nachzuhängen. Von Zeit zu Zeit nur, in kurzen Gefechtspausen oder bei der Bereitstellung zu erneutem Angriff, überkam uns jäh das stolze Bewusstsein, selbst aktive Träger eines gewaltigen Geschehens zu sein.
Dass man es als Leser mit einem historischen Ereignis zu tun bekommt, ist im Grunde nur dem erwähnten 22. Juni 1941 und der Bemerkung, dass der Fluss Bug überschritten wurde, abzulesen. Die schwere Verwundung des Verfassers folgt in einem Halbsatz: »bis das Geschoss des Feindes mich jäh aus dem kriegerischen Geschehen herausriss«. Ziel ist indessen, wie schon die Überschrift andeutet, die zeitenthobene Grenzerfahrung des Todes, in dessen »Bannkreis« zu geraten zur lustvollen, schicksalsgegebenen Erfüllung führt: »Wer nicht einmal wenigstens durch das Toben der Schlacht geschritten ist, hat sein Dasein nur zur Hälfte gelebt.« Der »Furor teutonicus« ist es, der den Mann nicht nur zum Soldaten, sondern zum »Krieger von Beruf und Geburt« macht. Dabei wird »der Soldatentod ein Opfer an die Gottheit, an jenen geheimnisvollen Urquell des Lebens, von dem alle Kraft ausstrahlt, die unsere Welt bewegt«. Denn in den Taten der toten Helden äußere »sich der Wille der Gottheit unmittelbar«.75 Da Festge auch als Lehrer an den SS-Junkerschulen in Bad Tölz76 und Prag wirkte, wäre es vorstellbar, dass ihm der im ›Leitheft‹ veröffentlichte Text auch dazu diente, junge Männer zu indoktrinieren. In dieser Hinsicht konnte er auch
75 Als religiöses Bekenntnis gibt Harten für Festge ›gottgläubig‹ an, vgl. Harten (Anm. 73), S. 121. 76 Dort wurde noch am 27. März 1945 aus Mitgliedern der SS-Junkerschule die 38. SSGrenadier-Division ›Nibelungen‹ aufgestellt.
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einer Lektüre oder dem Vortrag eines Epos wie des ›Nibelungenliedes‹ überlegen sein: Dieses mochte sich dann allerdings sehr gut zur Vertiefung eignen. Denn das ›Nibelungenlied‹ war nationales Bildungsgut. In einer Rede Alfred Rosenbergs aus dem Jahr 1941 benennt dieser als Kriegsziel, »an der fälligen Revision des Hunneneinfalls vom Jahre 375 mitzuwirken«,77 also gewissermaßen noch einmal den Nibelungenzug in den Osten aufzunehmen. Dazu Heiber: Diese erstaunliche Rechtfertigung deutscher Ostpolitik78 stammt von Rosenberg persönlich, der sich einst auf der Krim Felsenlöcher hatte zeigen lassen, in denen sich die Nachfahren der versprengten Mannen des Königs Hermanarich, ostgotische Landsleute also des eigentlich zum ›Herrn des Ostens‹ berufenen Theoderich, bis ins 16. Jahrhundert gehalten haben sollen.79
77 Heiber (Anm. 21), S. 286. 78 Es ist zu betonen, dass alle hier aufgeführten Rechtfertigungen, angefangen bei der Behauptung, die mittelalterliche Ostsiedlung sei fortzusetzen, nicht nur
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s t a u n l i c h sind, sondern überhaupt nur dann zu verstehen, wenn man sie auf die durch nichts zu rechtfertigenden Machtgelüste der Nationalsozialisten zurückführt, die ohne solch pseudo-legitimierende Hinweise ihre ganze Rohheit offenbart hätten. Himmler war sich dessen sehr wohl bewusst, man denke nur an seine ständig mitgeführte Zyankalikapsel. Umso größer gestaltete sich der Verschleiß an allem, was das seit dem 19. Jahrhundert kultivierte nationale Gedächtnis auf seiner Wurzelsuche der Gegenwart zur Verfügung stellte. 79 Heiber (Anm. 21), S, 286. ‒ Betrachtet man die Wahlplakate der frisch gegründeten Bundesrepublik, so fällt bei den Parteien des rechten Spektrums auf, dass die Sowjetrussen durchweg als schlitzäugige Hunnenmonster dargestellt werden, die mit ihren Krallen nach Westdeutschland greifen. Das bereits von Rosenberg benutzte despektierliche Fremdstereotyp ›Hunnen‹ für die Russen war jedoch nicht nur eine Anleihe beim Nationalsozialismus, sondern reichte darüber hinaus bis in den Ersten Weltkrieg zur Tannenbergschlacht von 1914 zurück und noch weiter zu Gustav Freytag in seiner Romanfolge ›Die Ahnen‹, wo im ersten Teil (›Ingo und Ingraban‹) ein slawischer ›Häuptling‹ inmitten seiner Vertrauten sitzt: »die Augen schräg, dünn und grannig war der Bart«, vgl. Gustav Freytag: Die Ahnen, Berlin 1938 (zuerst Leipzig 1872), S. 172. Da werden die Polen bereits zu den ›Hunnen‹ gezählt, wie später auch bei Hans Naumann, der den Braunschweiger Löwen 1933 in Parallele zur 29. Aventiure des ›Nibelungenliedes‹ setzt. Naumann ist der Ansicht, dass Kriemhild, als sie Hagen den hunnischen Kämpfern vorstellt, aus Hagen eine ähnliche Freiplastik mache, wie sie in der anonymen Großplastik des Löwen erscheine: »wie es dort den Hunnen gilt so hier den Slawen, beidemal dem ›wimmelnden, rattengrauen Gezücht der leeren Steppe‹«,
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IV
Die totale Niederlage als Resultat einer alternativlosen Phantasmagorie
Der ›Generalplan Ost‹ wie insgesamt das gigantische Kolonialismusprojekt des Nationalsozialismus, in dem dann im langen ›totalen‹ Krieg Ostgoten und Nibelungen als fiktive Begleiter auftauchen, ist in der Zeitgeschichtsforschung lange vernachlässigt worden. Nachdem die wissenschaftliche Aufarbeitung nachgeholt wurde, blieb die öffentliche Resonanz schwach. Noch heute gilt, was Dietrich Eichholtz im Jahr 2004 beklagte: Die wissenschaftliche Untersuchung des ›Generalplans Ost‹ ist inzwischen weit vorangetrieben worden. Ihre Erkenntnisse haben allerdings in Deutschland noch immer beschämend wenig öffentliche Aufmerksamkeit und Widerhall gefunden.80
Michael Borgolte erklärt dies mit einem grundlegenden Paradigmenwechsel: Seitdem die Ermordung der europäischen Juden den Ursprungsmythos des demokratischen Westens darstellt und Genealogie wie Signifikanten für die Definition dessen liefert, was ›wir‹ sind, hat das Mittelalter seine prominente Rolle in der Geschichtspolitik ausgespielt, die es bis zur Nazizeit verkörperte.81
Das ist eine schwache Erklärung. Denn auch Ursprungsmythen sind nicht einfach da, sondern werden geschaffen und brauchen Leerstellen, in denen sie zur Geltung kommen können. Borgolte übersieht, dass es sehr wohl ein aktives geschichtspolitisches Versäumnis deutscher Historiker in der Nachkriegszeit war und ist, dass sie nie die Wortführer des Mittelalters in ihren prominenten Rollen für das nationale Geschichtsbewusstsein und dessen identitätsstiftende ›Wir‹Ideologie zum Zeugnis ihrer Verantwortung herausforderten. Denn indem die
vgl. Hans Naumann: Der Braunschweiger Löwe, in: ders.: Stuttgart 1933, S. 93–94, hier S. 93. Man vergegenwärtige sich: Wo Slawen leben, da ist auch leere Steppe, weil sie im Fremdstereotyp ›Hunnen‹ aus der menschlichen Gattung ausgeschlossen sind. In Gestalt von Stalin und der Roten Armee wurden sie dann auf einmal sichtbar als selbstbewusste Slawen, denen sich der Georgier Stalin in panslawistischer Maske zugesellt hatte (vgl. Anm. 88 und Anm. 98). 80 Dietrich Eichholtz: ›Generalplan Ost‹ zur Versklavung osteuropäischer Völker, in: Utopie kreativ, H. 167 (September 2004), S. 800–808, hier S. 808. 81 Michael Borgolte: So eine Ritterromanze, die ist schön. Valentin Groebners Lust, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (12.03.2008), L 20.
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nationalsozialistischen Historiker82 sich zu den Befürwortern des durch den ›Anschluss‹ Österreichs, die Zerschlagung der Tschechoslowakei und die ›Heimholung‹ der ›Volksdeutschen‹ geschaffenen ›Großdeutschen Reichs‹ machten und sich, wie etwa der ›Ostforscher‹ Albert Brackmann, in »kämpfende Wissenschaftler«83 im Vernichtungskrieg verwandelten,84 willigten sie auch in den in den »Bloodlands«85 vollzogenen Genozid ein. Helmut Heiber zieht ein ernüchterndes Fazit zum ›Generalplan Ost‹: Trotz seiner Beschränkung auf das Reich der Tagträume ist der Generalplan Ost eine eindrucksvolle Dokumentation einer aus den Fugen geratenen Zeit. Die Pathologen86, die hier gleichsam um das Schicksal ganzer Völker würfelten, fanden später Schüler, die einen vorgefundenen Spieß nur mehr umzudrehen brauchten und schließlich das besaßen, was ihren Vorgängern allein noch gefehlt hatte: die Gelegenheit und die Ruhe zur Ausführung. Denn daß jene ›konsequent biologischen‹ Pioniere des neuzeitlichen Antihumanismus, die Millionen von Juden vernichtet haben, kaum davor zurückgeschreckt wären, die polnischen Bauern und Handwerker ›über den sibirischen Raum zu verstreuen‹, die ja ›an sich zur Wanderung neigenden‹ Russen durch Absiedlung ›rassisch auszulaugen‹, unerwünsch-
82 Es sei auf die bereits genannten Namen von Hans Naumann, Albert Brackmann, Robert Holtzmann, Hermann Heimpel oder Friedrich Baethgen hingewiesen, außerdem auf Gernot Heiss und seine (erst) 2010 erfolgte Aufarbeitung der österreichischen Geschichtswissenschaft im Nationalsozialismus (vgl. Anm. 53). 83 Vgl. etwa Walter Frank: Kämpfende Wissenschaft. Mit einer Vorrede des Reichsjugendführers Baldur von Schirach, Hamburg 1934. 84 Albert Brackmann lieferte auf Bestellung von SS und Wehrmacht noch im Herbst 1939 eine zur Instruktion der Führungsoffiziere gewünschte Broschüre u.d.T. ›Krisis und Aufbau in Osteuropa. Ein weltgeschichtliches Bild‹. Vgl. dazu Michael Burleigh: Germany Turns Eastwards. A Study of Ostforschung in the Third Reich, London 2002 (zuerst 1988), S. 132–137. 85 Vgl. Timothy Snyder: Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin, München 2011. 86 Der Begriff ist hier zweifellos nicht nur fachmedizinisch zu verstehen, sondern auch im Sinne von ›pathologisch‹ als Synonym für ›extrem‹, ›gestört‹ und ›maßlos‹. Wenn Heiber von später gefundenen ›Schülern‹ schreibt, »die einen vorgefundenen Spieß nur mehr umzudrehen brauchten«, dann zählt er auch Stalin zu denen, »die hier gleichsam um das Schicksal ganzer Völker würfelten«.
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te Volksteile zu ›verschrotten‹, Hebammen ›zu Abtreiberinnen auszubilden‹ usw. usw., daran ist leider nach allem faktisch Geleisteten kein Zweifel möglich.87
Der Georgier Stalin schlüpfte im Krieg in den Mantel des Panslawismus88 und stärkte so das Selbstbewusstsein der von den deutschen Stichwortgebern zu ›Hunnen‹ erklärten Slawen, gegen die der deutsch-nibelungische Vernichtungskrieg ausgefochten werden sollte. So teilte Stalin der Roten Armee auch polnische Soldaten zu, die am Marsch auf Berlin und der am 2. Mai 1945 stattfindenden Eroberung der Stadt beteiligt waren und auf der Siegessäule ihre Nationalfahne hissten.89 Die Polen rückten noch bis nach Sandau (Elbe) vor, wo ab 1965 zunächst mit einem kleinen polnischen Denkmal und seit 1975 mit einem monumentaleren an die einstmalige Grenze zwischen westslawischen Stämmen90 und dem ›Heiligen Römischen Reich‹ im 10. Jahrhundert unter Heinrich I. erinnert wird. Heinrich I. hatte dort in der Nähe im Winter 928/929 die Elbe überquert und war über die ›Brendanburg‹ der slawischen Heveller – die heutige Stadt Brandenburg – bis in die Lausitz und zur Oder vorgedrungen. Dieser Hintergrund findet seinen Ausdruck auch in Stalins Siegesansprache am 9. Mai 1945 in Moskau: »Der jahrhundertelange Kampf der slawischen Völker um ihre Existenz und Unabhängigkeit hat mit dem Sieg über die deutschen Okkupanten und die deutsche Tyrannei geendet.«91 Stalin machte sich also zum Repräsentanten aller slawischen Völker, wobei er gezielt an die in der Roten Armee mitkämpfenden Polen und Tschechoslowaken dachte. Den bis zur Elbe gehenden Reslawisierungswünschen der Polen kam er nur bis zur Oder-Neiße-Linie entgegen und verweigerte sich einem ›Reslawisierungsstaat‹, wie er von polnischer Seite von der Lausitz aus gefordert
87 Heiber (Anm. 21), S. 292. 88 Vgl. dazu Lars Karl u. Adamantios Skordos: Panslawismus, 2006, www.iegego.eu/karll-skordosa-2013-de (Aufrufdatum: 1.5.2023). 89 Siehe www.berlin.de/ba-charlottenburg-wilmersdorf/ueber-den-bezirk/geschichte/arti kel.307348.php (Aufrufdatum: 1.5.2023), vgl. dazu auch Hannah Arendt (Anm. 98), S. 473. 90 Roland Gehrke: Der polnische Westgedanke bis zur Wiedererrichtung des polnischen Staates nach Ende des Ersten Weltkrieges. Genese und Begründung polnischer Gebietsansprüche gegenüber Deutschland im Zeitalter des Nationalismus, Marburg 2001, S. 97 u. 135, schreibt von den ›slavischen Gräbern‹ und ›slavischen Friedhöfen‹ der Westslawen an der Elbe, auf Rügen, in Pommern und in der Lausitz, die solidarisch in das polnische Nationalgedächtnis gerieten. 91 Josef Wissarionowitsch Stalin: Werke, Bd. 15, Dortmund 1979, S. 11.
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worden war.92 Auch in dieser Form, so Norman Davies, sei ein mononationales Polen geschaffen worden, und die kühnsten ethnischen Träume der nationalistischen Polen seien in Erfüllung gegangen: »Es entstand ein Polen, in dem ausschließlich Polen lebten.«93 Der propagierte gemeinsame slawische Kampf hatte noch andere Folgen. Denn im französischen Reims war am 7. Mai 1945 zwar in Anwesenheit der Westalliierten und des sowjetischen Oberkommandos die bedingungslose deutsche Kapitulation von deutscher Seite unterzeichnet worden, womit die Kapitulation wie auch gleichzeitig das Zonenprotokoll vom 12. September 1944 mit der Fixierung der künftigen Besatzungszonen der Alliierten völkerrechtlich verbindlich geworden waren. Stalin fühlte sich jedoch von den Westalliierten übergangen und bestand darauf, dass der Unterzeichnungsakt am 8./9. Mai in Berlin-Karlshorst auf zurückerobertem slawischem Boden symbolträchtig wiederholt wurde. Die ersten deutschen Kommentatoren in der Nachkriegszeit interpretierten die Vorgänge vor diesem historischen Hintergrund: Die Zonengrenze zwischen Ost und West erinnere an den Verlauf der Siedlungsgrenze zwischen Germanen und Slawen, wie sie von Karl dem Großen bis zu Heinrich I. in den Jahren 928/929 bestanden hatte. Im September 1945 fasste der Göttinger Historiker Siegfried A. Kaehler diesen Gedankengang in seiner Eröffnungsvorlesung ›Das Zeitalter des Imperialismus‹ in folgende Worte: Seit den Tagen der ersten Sachsenkaiser ist es nicht mehr geschehen, dass die Vorposten der slawischen Völkerwelt bis in die Mitte deutschen Volksbodens, bis an die Werra vorgestoßen wären. So steht es tausend Jahre nach Heinrich I. und Otto I. um das Erbe jener politischen und militärischen Dilettanten, welche von einem neuen Tausendjährigen Reich träumten und die Mächte der eigenen Gegenwart nicht kannten noch verstanden.94
Und auch der Schweizer Historiker Walther Hofer bediente noch im Jahr 1957 solch überkommene Argumentationsmuster:
92 Siehe dazu Andreas Lawaty: Das Ende Preußens in polnischer Sicht: Zur Kontinuität negativer Wirkungen der preußischen Geschichte auf die deutsch-polnischen Beziehungen, Berlin 1986, S. 208f. 93 Norman Davies: Im Herzen Europas: Geschichte Polens. 4., durchges. Aufl., München 2006, S. 137. 94 Siegfried A. Kaehler: Studien zur deutschen Geschichte im 19. und 20. Jhd. Aufsätze und Vorträge, hg. v. Walter Bußmann, Göttingen 1961, S. 372f.
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Nicht nur ganz Deutschland und halb Europa lagen in Trümmern, sondern das Erbe Bismarcks, die Einheit des Reiches wurde vertan, das Werk der preußischen Könige vernichtet, ja eine vielhundertjährige geschichtliche Entwicklung, nämlich die deutsche Kolonisation im Osten, rückgängig gemacht, die Soldaten der Sowjetunion stehen an der Elbe […]. Das Dritte Reich ist kein tausendjähriges Reich geworden, aber die zwölf Jahre seines Bestehens haben genügt, die geschichtliche Arbeit von tausend Jahren zu verschleudern.95
Hofer erwähnt die Bewohner Ostdeutschlands gar nicht mehr, die unter den siegreichen und bis zur Elbe und zur Werra vorgerückten Soldaten der Sowjetunion lebten. Aber es gab sie noch, wenngleich als ›slawische Gegenantwort‹ vor dem unter Slawen ebenfalls gegenwärtigen tausendjährigen Hintergrund das Ziel die Vertreibung der Deutschen aus polnischer Sicht nicht nur bis zur Oder-Neiße-Linie, sondern bis zur Elbe-Saale-Linie hätte ausgedehnt werden sollen. Diese Linie hatte Wilhelm Jordan, ein weiterer Nibelungen- und SagaFan,96 bereits am 24. Juli 1848 in seiner Polenrede in der Frankfurter Nationalversammlung lauthals beschworen: Von dort hätten die Deutschen mit »gesundem Volksegoismus« die Slawen seit dem Mittelalter zurückgedrängt.97 Aber an einer solchen slawischen Gegenreaktion hatte Stalin kein Interesse. Er hatte es den Polen schon erlaubt, dass sie als Soldaten ihrem Katholizismus nachgingen und der 1. Polnischen Division in der Roten Armee den Namen ihres einst gegen die Russen und Preußen gleicherweise kämpfenden Freiheitshelden Tadeusz Kościuszko gaben. Unter der Tarnkappe des Panslawismus ging es ihm, dem Georgier, in erster Linie um die Durchsetzung der sowjetideologischen Herrschaftsinteressen in großrussischem Sinn und um die Ausweitung des größten kolonialen Kontinentalimperiums, das näher an den Atlantik heranrücken sollte. Dieser Ausrichtung mussten sich die polnischen und die übrigen slawischen Nationalisten unterordnen. Dementsprechend willfährig behauptete der nationalistische polnische Historiker Zygmunt Wojciechowski im Jahr 1951, dass »der Kern der slawischen Welt [...] zweifelsohne die russische (großrussi-
95 Der Nationalsozialismus. Dokumente 1933–1945, hg. u. komm. v. Walther Hofer, Frankfurt a.M. 1957, S. 367. 96 Heinzle (Anm. 69), S. 53–55. 97 Franz Wigard: Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der Deutschen Constituirenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1848, S. 1145f.
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sche) und die polnische Nation«98 seien. In diesem Sinne bediente er die slawische Mythenschmiede, als er 1945 einen ›Grunwald‹-Aufsatz veröffentlichte. In dieser Abhandlung konstruierte er eine historische Parallele zwischen den ›deutschen‹ Niederlagen von 1410 und 1945,99 die dann auf einem polnischen Siegesabzeichen ihren Niederschlag fand. Über zwei parallelen Schwertern findet sich die Aufschrift ›Grunwald 1410 – Berlin 1945‹.100 Da 1410 am Sieg über den Deutschen Orden weißrussische Kontingente beteiligt waren, konnte sich Stalin damit zufriedengeben. Denn dieser war interessiert daran, das nationalistische polnische Potential gegen Westdeutschland zu richten und von Russland wegzulenken.101 Bis in die 1950er-Jahre bildete die karikaturenhafte Darstellung stereotyper asiatischer (Hunnen-)Gesichter die mythische Kulisse eines ›bedrohlichen Asien‹. Bereits im Ersten Weltkrieg hatte sich den deutschen Soldaten ein gespenstisches Bild des Fremden eingeprägt, das sie mit dem Rückgriff auf den ›Dreißigährigen Krieg‹ zu bewältigen versuchten.102 Im Zweiten Weltkrieg schlug
98 Zit. n. Robert Brier: Der polnische ›Westgedanke‹ nach dem Zweiten Weltkrieg (1944–1950), in: Digitale Osteuropa-Bibliothek. Reihe Geschichte 3 (2003), S. 84, http://epub.ub.uni-muenchen.de/546/1/brier-westgedanke.pdf
(Aufrufdatum:
1.5.
2023). Hannah Arendt hielt fest, dass für Stalin der Panslawismus ein Handlungsmoment gewesen sei wie für Hitler der Pangermanismus, und zwar immer auf Kosten der kleineren Völker im Rahmen der ›messianischen Mission‹ des russischen Volkes, vgl. dies.: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 8. Aufl., München 2001 (zuerst 1956), S. 473. Den nationalen Bestrebungen der kleineren slawischen Völker tat dies indessen keinen Abbruch. 99 Vgl. Jörg Hackmann: Strukturen und Institutionen der polnischen Westforschung (1918–1960), in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 50/2 (2001), S. 230–255, hier S. 245. 100 Abbildungen sind verfügbar unter: www.warrelics.eu/forum/attachments/peoplesarmy-poland-ludowe-wojsko-polskie-1943-1989/892449d1444766610-post-war-bad ge-grunwald-berlin-grunwald-variants.jpg (Aufrufdatum: 23.5.2023). 101 Der polnische Anteil am Sieg ist bisher im bundesdeutschen Gedächtnis weder auf west- noch auf ostdeutscher Seite angemessen zur Kenntnis gelangt, obwohl – oder vielmehr: weil – die Polen die ersten Opfer des deutschen Krieges waren und ihnen ein Sieg nicht so einfach zugestanden werden konnte. 102 Vgl. Vejas Gabriel Liulevicius: Der Osten als apokalyptischer Raum. Deutsche Fronterfahrungen im und nach dem Ersten Weltkrieg, in: Traumland Osten. Deutsche Bilder vom östlichen Europa im 20. Jahrhundert, hg. v. Gregor Thum, Göttingen 2006, S. 47–65.
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sich dann allein schon in den Namengebungen für die verschiedenen militärischen Operationen zur Eroberung neuen Landes im Osten ein symbolpolitisches Vokabular nieder, das der Nationalgeschichtsschreibung entnommen war. Am ›germanischsten‹ ragte das ›Heilige Römische Reich‹ mit den ersten beiden Ottonen aus dem Stamm der Sachsen in die nationalsozialistische Zeit hinein, so dass sogar Begriffe aus dem feudalen Lehnswesen das Siedlungsvokabular des von Wissenschaftlern erarbeiteten ›Generalplans Ost‹ prägten. Unter den Staufern war es, nach Heinrich I. und Otto I., Friedrich ›Barbarossa‹, der von seinem Ruheplatz im Kyffhäuser aus schon den Hohenzollern den ihnen ungewohnten Kaisertitel des Alten Reiches schmackhaft machen musste. An den Praktiken dieser Herrschergestalten meinte man ablesen zu können, wie mit den zu ›Hunnen‹ mutierten Slawen umzugehen sei. Alles, was sich neben dem ver sacrum und darüber hinaus aus der deutschen Überlieferung zur Steigerung ›germanischen‹ Bewusstseins, ›völkischer‹ Gesinnung und ›nibelungischer‹ Kampfmoral anbot und mit dem Osten oder Asien in Verbindung bringen ließ, wurde dann zum Stoff in den hier angeführten Zeitschriften. Erst nach dem Krieg konnte ein ganz anders gelagerter Umgang mit dem Nibelungenstoff bekannt werden, dessen Entstehung im Jahr 1944 in der Bukowina zu verorten ist. Paul Celan hatte sich dort mit deutscher Literaturgeschichte und der mittelhochdeutschen Nibelungendichtung vertraut gemacht. Der Strophenbau des ›Nibelungenlieds‹ gibt dessen frühem Gedicht vom ›Russischen Frühling‹ über das Vorrücken der Russen gegen die deutschen Aggressoren das Maß und die Form vor.103 Das lyrische Ich verbindet zeit- und ortsübergreifend abendländische Unheilsgeschichte im Zeichen des Kreuzes bzw. der ›Rasse‹ von Westen nach Osten, nämlich von den Niederlanden über die ›finsteren‹ Ardennen und die rheinischen Fluren bis nach Russland. Zeilen aus Lortzings ›Zar und Zimmermann‹ klingen an: Lebe wohl, mein flandrisch Mädchen, Wider Willen muss ich fort […] Konnt’ ich dein Herz, deine Liebe erringen, Kann ich auch ewige Treue dir weihn!
Im Schlussvers ist es »Herr Volker von Alzey«, der in Erwartung der Schlacht gegen die Deutschen für alle singt, »die hier liegen«. Im lyrischen Text sollen die im Kampfeslärm unversöhnlich einander Gegenüberstehenden über alle
103 Paul Celan: Gesammelte Werke in sieben Bänden. Bd. 6: Das Frühwerk, Berlin 2000, S. 143.
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Grenzen hinweg versöhnlich verbunden werden. Diese ausgleichende Gesinnung ist allerdings unmittelbar darauf 1945 in der ›Todesfuge‹, seinem bekanntesten Gedicht, verschwunden. In den 1950er- und 1960er-Jahren, als Celan seine Lyrik ins Visier der deutschen Kritik geraten sah, wird das noch deutlicher: In seinem Gedicht ›Port Bou‹ (1968) identifiziert unter seinen Kritikern »Linksnibelungen« und »Rechtsnibelungen«, die – diesmal verbal104 – über die lyrische Umsetzung seiner Leiderfahrungen in der Bukowina herfielen. Celan wehrte sich.
104 Siehe Helmut Böttiger: Auf der Suche nach einer graueren Sprache. Zum 100. Geburtstag des deutschsprachigen Dichters Paul Celan, in: Jüdische Allgemeine (21.11.2020), www.juedische-allgemeine.de/kultur/suche-nach-einer-graueren-sprac he (Aufrufdatum: 1.5.2023).
Der Kampf der Nibelungen Das national(sozial)istische Erbe und aktuelle Wiedererzählungen des ›Nibelungenliedes‹ Nadine Hufnagel
I
»…immer noch der deutscheste aller deutschen Stoffe«?1
Der Nibelungenstoff verdankt das Interesse, das ihm heute entgegengebracht wird, vermutlich nach wie vor der nationalen Bedeutung, die ihm seit dem 19. Jahrhundert zugeschrieben wurde.2 Allerdings, so wurde konstatiert, existiere seit 1945 »keine ernstzunehmende deutsche National-Ideologie mehr, […] die ihre Vorstellungen und Agitationsformeln von den Nibelungen bezöge«.3 Eine nationalistische Nibelungen-Rezeption werde eher aktualisiert, um sich davon
1
Heiner Müller im ›Spiegel‹-Gespräch mit Urs Jenny und Hellmuth Karasek, in: Der Spiegel (08.05.1983), S. 196–207, hier S. 205, www.spiegel.de/spiegel/print/d14018356.html (Aufrufdatum: 1.5.2023).
2
Vgl. Joachim Heinzle: Einleitung. Mythos Nibelungen, in: Mythos Nibelungen, hg. v. dems., Stuttgart 2013, S. 7–69, hier S. 7. Vgl. auch Nathanael Busch: »Schieffried!« Zur Tradition der komischen Nibelungen, in: Mittelalterbilder in der deutschsprachigen Literatur des langen 20. Jahrhunderts. Rezeption – Transfer – Transformation, hg. v. Michael Dallapiazza u. Silvia Ruzzenenti, Würzburg 2018, S. 139– 162, hier S. 157–159.
3
Joachim Heinzle: Einleitung. Der deutscheste aller deutschen Stoffe, in: Die Nibelungen. Ein deutscher Wahn, ein deutscher Alptraum. Studien und Dokumente zur Rezeption des Nibelungenstoffs im 19. und 20. Jahrhundert, hg. v. dems. u. Anneliese Waldschmidt, Frankfurt a.M. 1991, S. 7–18, hier S. 7; vgl. auch Heinzle (Anm. 2), S. 65f. u. 69.
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abzugrenzen. Das Interesse an der ideologischen Instrumentalisierung des Nibelungenstoffes basiere nicht auf ihrer Aktualität, sondern auf ihrer historischen Abgeschlossenheit.4 Tatsächlich bestimmt die Zuschreibung ›deutsch‹, ›germanisch‹ oder auch ›national(sozial)istisch‹ keineswegs exklusiv den Umgang mit der Geschichte von Siegfrieds Tod und dem Untergang der Burgunden. Davon zeugen beispielsweise das eher auf lokaler und regionaler denn nationaler Identität basierende Marketing der Stadt Worms oder des ›Nibelungengaus‹ sowie die Rezeption im Bereich der Fantasy, die eher an einem internationalen Markt interessiert ist.5 Dessen ungeachtet ergeben sich heute angesichts eines wiedererstarkten nationalistischen Diskurses und einer produktiven sowie vielfältigen Rezeption des Nibelungenstoffes Berührungspunkte zwischen nationalem Denken und Fassungen des ›Nibelungenliedes‹. Ein Beispiel liefern Günther Scholdts6 Ausführungen zum gegenwärtigen Umgang mit literarischen Klassikern. Er kritisiert, das mittelalterliche Epos diene heute vorrangig »›kritischen‹ Germanisten bei ihrem antimilitaristischen bzw. -heroischen Daueralarm als Demonstrationsobjekt prekären politischen Bewußtseins«, obwohl die Menschen in »einer auch ethisch gründlich nivellierten Gesellschaft«, der »die Wertewelt, das Verständnis von Ehre und heroischer Gesinnung« fremd geworden sei, von einem Text, den »Jahrhunderte […] nicht grundlos als Nationalepos der Deutschen verstanden«,
4
Vgl. Heinzle (Anm. 3), S. 7f.
5
Vgl. Susanne Tschirner: Artus- und Nibelungenstoff in der Fantasy, in: Ein Lied von gestern? Zur Rezeptionsgeschichte des Nibelungenliedes, hg. v. Gerold Bönnen u. Volker Gallé, Worms 2009, S. 203–220. Im Zusammenhang damit ist allerdings bemerkenswert, dass dem Begriff ›Nibelungen‹ in einigen Fällen offenbar besonders für den deutschsprachigen Raum eine Wirkung zugeschrieben wird, während er für die internationale Vermarktung von nachrangiger Bedeutung scheint. Auffällig ist dies z.B. im Falle des Films ›Die Jagd nach dem Schatz der Nibelungen‹ (Deutschland 2008, Regie: Ralf Huettner), dessen englischer Titel, sicherlich motiviert vom internationalen Erfolg von ›The Da Vinci Code‹, ›The Charlemagne Code‹ lautet.
6
Günter Scholdt war u.a. Leiter des Literaturarchivs Saar-Lor-Lux-Elsass und apl. Prof. für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität des Saarlandes. Er veröffentlichte u.a. in der ›Sezession‹ und der ›Jungen Freiheit‹ sowie im Antaios Verlag. Zum politischen Profil dieser Publikationsorgane vgl. z.B. Helmut Kellershohn: Die jungkonservative Neue Rechte zwischen Realpolitik und politischem Existenzialismus, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 63/9 (2015), S. 721–740.
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»Fremdgewordene[s] in Sachen Todesmut, Ehre bzw. selbstverständlicher Solidarität mit Angehörigem« lernen könnten.7 Vor diesem Hintergrund ist trotz der Diagnose, der Erzählstoff hätte seine Relevanz für einen nationalistischen Diskurs weitgehend eingebüßt, die Frage berechtigt, wie heute erzählerisch mit seiner national(sozial)istischen Rezeptionsgeschichte umgegangen wird. Deshalb wird im Folgenden die Gestaltung des Kampfes der in Etzels Halle eingeschlossenen Nibelungen in aktuellen Wiedererzählungen des ›Nibelungenliedes‹ untersucht. Diese Episode ist aufgrund der relativen Bekanntheit der Stalingrad-Rede Hermann Görings8 zur Auseinandersetzung mit der NS-Rezeption des Nibelungenstoffes prädestiniert. Darüber hinaus besitzt der Kampf der Nibelungen gegenwärtig Relevanz in rechtsradikalen Kreisen, wie eine seit 2013 regelmäßig in Deutschland stattfindende Kampfsportveranstaltung bezeugt.9 Der Titel der
7
Vgl. Günter Scholdt: Literarische Musterung. Warum wir Kohlhaas, Don Quijote und andere Klassiker neu lesen müssen, Schnellroda 2017, S. 182–193, zit. n. ebd., S. 183, 188, 186, 184 u. 186. Die Rezension von Scholdts Buch im neurechten Jugendmagazin ›Blaue Narzisse‹ findet ebenfalls deutliche Worte, vgl. www.blauenarzisse .de/klassiker-neu-lesen (Aufrufdatum: 1.5.2023): »Nicht nur, dass die deutsche Urerzählung schlechthin von überbezahlten und staatlich geförderten Kunstbeschmutzern durch die Arena geschleift und mit Dreck beworfen wird, wir alle haben uns von Siegfried, Hagen und Kriemhild entfremdet. […] In Zeiten der kollektiven Feigheit, des staatlichen Rechtsbruches und des gewünschten Wegschauens ist das fast 800 Jahre alte Epos so aktuell wie nie.« Meine politische Zuordnung der ›Blauen Narzisse‹ deckt sich mit Kellershohn 2015 (Anm. 6), S. 722, mit Alexander Häusler: Zerfall oder Etablierung? Die Alternative für Deutschland (AfD) als Partei des Rechtspopulismus, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 63/9 (2015), S. 741–758, hier S. 752, und mit Wolfgang Benz: Auftrumpfendes Unbehagen. Der politische Protest der Pegida-Bewegung, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 63/9 (2015), S. 759– 776, hier S. 766. Zum Begriff ›Neue Rechte‹ vgl. Richard Stöss: Die ›Neue Rechte‹ in der Bundesrepublik (07.07.2016), www.bpb.de/politik/extremismus/rechtsextremis mus/229981/die-neue-rechte-in-der-bundesrepublik (Aufrufdatum: 1.5.2023) sowie Miro Jennerjahn: Neue Rechte und Heidentum. Zur Funktionalität eines ideologischen Konstrukts, Frankfurt a.M. [u.a.] 2006, S. 21–38.
8
Vgl. Peter Krüger: Etzels Halle und Stalingrad. Die Rede Görings vom 30.1.1943, in:
9
Auf deren Homepage hieß es: »Der Kampf der Nibelungen ist eine Kampfsportver-
Heinzle/Waldschmidt (Anm. 3), S. 151–190 (mit Abdruck der Rede). anstaltung unter der Organisation und Beteiligung von jungen Deutschen, welche […] sich nicht unter das Joch des vorherrschenden Mainstreams stellen wollen. Wäh-
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Kampfsportveranstaltung verweist vermutlich in erster Linie auf Görings Konzeption von Heldentum, in der die Deutschen zu Angehörigen eines stetig kämpfenden heroischen Volkes werden, das Widerstand auch angesichts einer aussichtslosen Schlacht leistet und dessen Frontkämpfer zur todesmutigen Selbstaufgabe bereit sind.10 Bereits in der Stalingrad-Rede ist die Szene der in Etzels Halle eingeschlossenen Burgunden aus den ursprünglichen narrativen Zusammenhängen herausgelöst und von der komplexen Situation des mittelalterlichen
rend bei den meisten ›Fight Nights‹ im bundesweiten Raum die Teilnahme des jeweiligen Sportlers allzu oft mit dem abverlangten Bekenntnis zur freien demokratischen Grundordnung steht oder fällt, will der Kampf der Nibelungen den Sport nicht als Teil eines faulenden politischen Systems verstehen […]. Wir sind der Überzeugung, dass unsere Leidenschaft zum Sport fest zusammenstehende Gemeinschaften formt, welche in der Tiefe ihrer Bindung in […] demokratischen Gesellschaften selten zu finden sind.« (www.kampf-der-nibelungen.com, Aufrufdatum: 2.1.2018). Die Teilnehmer scheuen sich kaum, die Aufgabe dieser Kampfgemeinschaften näher zu beschreiben: Es sei in der heutigen Zeit ganz offensichtlich, dass »unser Volk mit dem Rücken zur Wand« stehe, »wir alle uns Gedanken um unseren Fortbestand« machen müssten und der Tag der gewaltsamen Auseinandersetzung »mit diesen ganzen multikulturellen Mitmenschen« kommen werde (zit. n. Christian Parth: ›Kampf der Nibelungen‹. Eine Mischung aus Nazis, Rockern und Hooligans, Frankfurter Rundschau (13.12.2017),
www.fr.de/politik/eine-mischung-nazis-rockern-hooligans-11002364
.html (Aufrufdatum: 1.5.2023). 2019 gelang es den Behörden erstmals, die Veranstaltung zu verbieten, vgl. www.verfassungsschutz.de/SharedDocs/kurzmeldungen/DE /2019/verbot-einer-veranstaltung-des-kampfsportformats-kampf-der-nibelungen.html (Aufrufdatum: 1.5.2023). 10 Der ›Kampf der Nibelungen‹ löst allerdings das Bild des opferbereiten Kampfes gegen den übermächtigen Gegner aus dem militärischen Zusammenhang; zum ›Helden‹ wird der vorzugsweise männliche, national gesinnte Kampfsportler, zum ›Feind‹ die von Pluralismus geprägte Demokratie beziehungsweise Menschen mit Migrationshintergrund aus nicht-europäischen ›Kulturen‹. ›Kultur‹ setze ich hier in Anführungszeichen, da das neurechte Konzept des Ethnopluralismus ›Kulturen‹ nicht als sich stets gegenseitig beeinflussende und sich stetig entwickelnde Produkte menschlicher Interaktion versteht, sondern als relativ homogene Menschengruppen mit unveränderlichen Eigenschaften, deren jeweilige Einheit zu bewahren sei, vgl. Wolfgang Gessenharter: Intellektuelle Strömungen und Vordenker in der deutschen Neuen Radikalen Rechten, in: Handbuch Rechtsradikalismus. Personen – Organisationen – Netzwerke vom Neonazismus bis in die Mitte der Gesellschaft, hg. v. Thomas Grumke u. Bernd Wagner, Opladen 2002, S. 188–201, insbes. S. 192–195.
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Epos nur das Bild eines Kampfes gegen eine gewaltige Übermacht, in der vor allem treue Gemeinschaft und Todesmut zählen, übrig geblieben. In aktuellen Wiedererzählungen bleibt der Kampf der Nibelungen hingegen in eine Narration eingebettet, die sich am mittelalterlichen ›Nibelungenlied‹ orientiert. II
Aktuelle Wiedererzählungen des ›Nibelungenliedes‹
Als Wiedererzählungen des ›Nibelungenliedes‹ in einem engeren Sinne verstehe ich im Folgenden literarische Narrationen, die wesentliche Handlungselemente jener Texte aufweisen, die zuerst als ›Nibelungenlied‹ bezeichnet wurden, wozu die Hauptfiguren und bestimmte Figurenkonstellationen sowie Merkmale des Plots gehören: Kriemhild und Siegfried sind einander als Paar zugeordnet, ebenso Gunther und Brünhild, Hagen ist der Mörder Siegfrieds. Die Erzählung von Siegfrieds Tod ist mit derjenigen vom Untergang der Burgunden verbunden, wobei erstere einen Brautwerbungsteil sowie ein Fest enthält, in dessen Rahmen es zum Streit zwischen zwei Königinnen kommt, der in der Ermordung Siegfrieds gipfelt. Letztere erzählt ebenfalls von einer Brautwerbung sowie einem Fest, in dessen Rahmen es zum Konflikt zwischen der Königin und dem Mörder ihres ersten Gatten kommt, der in den Tod Gunthers, Hagens und Kriemhilds mündet. Diese Eingrenzung der Materialbasis, die angesichts des insgesamt sehr heterogenen und unübersichtlichen Feldes der Nibelungen-Rezeption ohnehin geboten ist, erlaubt es, im Folgenden die spezifische Darstellung des Kampfes der Nibelungen aus einer Perspektive zu untersuchen, die NibelungenRezeptionsforschung, eine kulturwissenschaftlich-politische Fragerichtung und (historische) Erzählforschung verbindet.11
11 Aus Sicht einer mediävistisch-germanistischen Erzählforschung mag die Rede von a k t u e l l e n Wiedererzählungen merkwürdig erscheinen, da der Begriff ›Wiedererzählen‹ von Franz Josef Worstbrock geprägt wurde als »die fundamentale allgemeinste Kategorie mittelalterlicher Erzählpoetik […], die ihre spezifische Epoche hat […] in einem Zeitraum, der seine Grenze erreicht, als methodische Übersetzung einerseits und genuine Fiktionalität anderseits möglich werden«; vgl. ders.: Wiedererzählen und Übersetzen, in: Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze, hg. v. Walter Haug, Tübingen 1999, S. 128–142, hier S. 130. Diese Eingrenzung auf vormoderne Phänomene wurde bereits kritisiert – wenn auch nur sehr vorsichtig –, vgl. Ludger Lieb: Die Potenz des Stoffes. Eine kleine Metaphysik des ›Wiedererzählens‹, in: Retextualisierung in der mittelalterlichen Literatur, hg. v. Joachim Bumke und Ursula Peters, Berlin 2005 (ZfdPh-Sonferheft 124), S. 356–379, hier S. 361, und Elisabeth Schmid: Erfinden und Wiedererzählen, in: Inspiration und
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Betrachtet werden im Folgenden Wiedererzählungen des ›Nibelungenliedes‹, die literarische Narrationen12 sind, welche im deutschen Sprachraum in den beiden letzten Jahrzehnten erstmals13 für ein erwachsenes Publikum14 publiziert wurden. Daraus ergibt sich folgende Textbasis: Michael Köhlmeiers ›Die Nibelungen neu erzählt‹,15 Jürgen Lodemanns ›Siegfried und Krimhild‹,16 Baal Müllers ›Die Nibelungen nach alten Quellen neu erzählt‹,17 ›Neidhard von Steinach: Nibelungen. Eine sehr originale Geschichte‹ von Ralf Nievelstein und Matthias Rummel18 sowie Heinrich Steinfests ›Der Nibelungen Untergang‹19.
Adaptation. Tarnkappen mittelalterlicher Autorschaft, hg. v. Renate Schlesier u. Beatrice Trînca, Göttingen 2008, S. 41–55, hier S. 43. 12 Berücksichtigt wurden ausschließlich selbstständige Wiedererzählungen. Deshalb werden keine Text einbezogen, welche die Geschichte in eine umfassendere Sagenerzählung integrieren, da das Phänomen der Konstruktion einer konsistenten deutschen oder gar germanischen Götter- und Heldensage ganz eigene narratologische, kulturwissenschaftliche und politische Fragestellungen provoziert, die es verdienten, in einem gesonderten Beitrag untersucht zu werden. 13 Unberücksichtigt bleiben damit Neuauflagen älterer Werke, ohne dass deren aktuelle Relevanz bezweifelt werden soll. 14 Speziell für ein junges Publikum verfasste Erzählungen erweisen sich häufig als stark von spezifischen Genrekonventionen der Kinder- und Jugendliteratur beeinflusst, die ihre Vergleichbarkeit mit Texten, die in erster Linie für ein breiteres Publikum publiziert werden, beeinträchtigen können. So ist beispielsweise ein altersgemäßer Umgang mit Schilderungen von Gewalt und Sexualität erwartbar. 15 Michael Köhlmeier: Die Nibelungen neu erzählt, 25. Aufl., München, Zürich 2014 (1. Aufl. 1999). Zuvor wurde die Erzählung als Hörspiel des ORF, bei dem Köhlmeier selbst als Erzähler fungiert, veröffentlicht, seit 2005 ist sie auch als leicht gekürztes Hörbuch im audiolino-Verlag mit Henning Venske als Sprecher erhältlich. 16 Jürgen Lodemann: Siegfried und Krimhild. Die Nibelungen, München 2005. Eine Hardcover-Ausgabe erschien 2002, zuvor gab es bereits eine Teilveröffentlichung mit Illustrationen: Der Mord. Das wahre Volksbuch von den Deutschen, Frankfurt a.M. 1995. Inzwischen ist auch eine Dramenbearbeitung erschienen: Siegfried. 33 Szenen. Die reale Geschichte, Tübingen 2015. 17 Baal Müller: Die Nibelungen nach alten Quellen neu erzählt. Mit Illustrationen von Linde Gerwin, Uhlstädt-Kirchhasel 2004. 2017 erschien eine weitere Ausgabe im Arnshaugk Verlag mit dem Titel ›Hildebrands Nibelungenlied‹ mit Illustrationen von Sebastian Hennig. 18 Neidhard von Steinach: Nibelungen. Eine sehr originale Geschichte, hg. v. Ralf Nievelstein u. Matthias Rummel, Worms 2010.
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In diesen Erzählungen soll in den Blick genommen werden, welche möglichen Lesarten sich auf Grundlage der narrativen Gestaltung hinsichtlich des Umgangs mit der national(sozial)istischen Nibelungen-Rezeption anbieten. Dies steht überall dort vor einer methodischen Herausforderung, wo nicht explizit auf die spezifische Rezeptionsgeschichte eingegangen wird, weshalb auch danach zu fragen ist, für welche politischen Positionen sich Anschlussmöglichkeiten erkennen lassen. Dazu werden zunächst Erzählperspektive und Erzählsituation analysiert und untersucht, wie Erzählinstanz und Figuren Aspekte bewerten, die für die NS-Rezeption, insbesondere Görings Stalingrad-Rede, zentral sind (wie Ehre, kompromisslose Treue und todesmutiges, selbstopferndes Heldentum). Wo es möglich ist, wird auch die politische Positionierung der Texte, zum Beispiel durch Paratexte, Verlage oder Aussagen der Autoren, berücksichtigt. Außerdem ist die unterschiedliche Komplexität der Erzählungen einzubeziehen, die sich einerseits – aus Perspektive der Erzählforschung – als Vielschichtigkeit der Erzählsituation beschreiben, andererseits – aus eher kulturwissenschaftlicher Sicht – daran festmachen lässt, wie sehr die Erzählung zur selbstständigen Auseinandersetzung mit den genannten Aspekten anregt bzw. wie stark die Rezeption in eine bestimmte Richtung gesteuert wird. III
Michael Köhlmeiers ›Die Nibelungen neu erzählt‹ (1999)
In Michael Köhlmeiers ›Die Nibelungen neu erzählt‹ ist die Erzählsituation mittels eines extradiegetischen Ich-Erzählers, der als Stimme des Autors erscheint und das Geschehen wiedergibt sowie kommentiert, zeitlich in der Gegenwart verortet. Bisweilen reflektiert dieser Erzähler auch seinen eigenen Wiedererzählensprozess. So heißt es beispielsweise an der Schnittstelle von erstem und zweitem Handlungsteil: Das Nibelungenlied selbst gewichtet die folgenden Geschehnisse anders, als ich es in meiner Nacherzählung tue. Ein Großteil des Liedes, vor allem des zweiten Teiles, besteht aus militärischen Dingen. […] [D]iese militärischen Dinge […] faszinieren mich wenig. Außerdem kenne ich mich nicht so gut aus in militärischen Dingen, das ist nicht meine Sache. Ich bin auch der Meinung, wir heute können Motive, die ihre Kraft aus dem Begriff der Ehre gewinnen, nicht mehr recht nachvollziehen. In das stumme, taube Lied hineinzuhören und es zum Sprechen zu bringen, das ist unsere Ambition (S. 113f.).
19 Heinrich Steinfest: Der Nibelungen Untergang. Storyboard von Robert de Rijn, Stuttgart 2014.
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Das Desinteresse des Erzählers an Kampfdarstellungen wird im Folgenden durch eine starke Raffung konsequent umgesetzt und die gesamte Handlung nach Siegfrieds Tod auf nur wenigen Seiten erzählt. In der kurzen Schilderung des Kampfes der Nibelungen wird dieser als »Gemetzel« (S. 121) bezeichnet, also ein Begriff verwendet, der wenig an Ruhm und Ehre denken lässt.20 Mit »militärisch« (S. 113f.) und »Privatarmee« (S. 121) sind Formulierungen gewählt, die weniger auf die Kämpfe des mittelalterlichen Epos denn auf die Neuzeit und die neuzeitliche Nibelungen-Rezeption bezogen werden können.21 Explizit Bezug genommen wird nichtsdestotrotz nur auf das mittelalterliche ›Nibelungenlied‹, wodurch eine Faszination für Militär und Ehre anachronistisch – im umgangssprachlichen Sinne ›mittelalterlich‹ – erscheint. Den Erzähler der Gegenwart und, wie durch die mehrfache Verwendung der ersten Person Plural unterstrichen wird, auch die abstrakte Leserschaft22 fasziniert anderes: »Wir« interessieren »uns« insbesondere für »Psychologie«, »die seelische Befindlichkeit der Figuren«, also »was in den Figuren vorgeht« (S. 113). Damit wird die Erzählung durchaus in eine Traditionslinie der NibelungenRezeption eingeordnet, aber gerade nicht in diejenige des Nationalsozialismus oder die der kritischen Auseinandersetzung damit, sondern in diejenige Hebbels, deren anthropologisch-psychologisches Interesse am Nibelungenstoff in den Vordergrund gerückt wird (vgl. S. 113f.). In der narrativen Gestaltung schlägt sich dies in zahlreichen Fragen nach der Figurenmotivation nieder, die vom Er-
20 Das ›Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache‹ beschreibt ›Gemetzel‹ als ›blutiges, entsetzliches, schauerliches, grauenhaftes, furchtbares, sinnloses Hinschlachten‹; gebräuchlich sei der Begriff seit dem 15. Jh. für den Schlachtbetrieb, im übertragenen Sinne als Blutbad ab dem 17. Jh.; Synonyme sind ›Abschlachten‹, ›Blutbad‹, ›Massaker‹ und ›Massenmorden‹, vgl. www.dwds.de/wb/Gemetzel (Aufrufdatum: 1.5. 2023). 21 ›Militärisch‹ wurde im 18. Jahrhundert aus dem Französischen übernommen, vgl. www.dwds.de/wb/milit%C3%A4risch, das Kompositum ›Privatarmee‹ wird sogar erst nach 1900 gebräuchlich, vgl. www.dwds.de/wb/Privatarmee. Auch bei ›Armee‹ handelt es sich um ein französisches Lehnwort, vgl. www.dwds.de/wb/Armee, was die Grimms zu einem entsprechend nationalistisch gefärbten Kommentar in ihrem Wörterbuch verleitete, vgl. Jacob Grimm u. Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 1, Sp. 557f., www.woerterbuchnetz.de/DWB?lemid=A05557 (Aufrufdatum jeweils: 1.5.2023): »ein mit dem feind überall vorgedrungnes, völlig entbehrliches wort, das unsere sprache längst mit heer und haufen hätte zurückschlagen sollen.« 22 Zum abstrakten Leser vgl. Wolf Schmid: Elemente der Narratologie, 3., erw. u. überarb. Aufl., Berlin u. Boston 2014, S. 67.
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zähler nicht immer zufriedenstellend beantwortet werden können. Dies gilt besonders im Falle Hagens, also derjenigen Figur, die auch in der national(sozial)istischen Rezeption des zweiten Handlungsteils des ›Nibelungenliedes‹ mit kompromissloser Treue und Heldentum assoziiert worden ist: Nach Siegfrieds Tod erweisen sich sowohl Kriemhild als auch Hagen hauptsächlich als von Hass getrieben; führt dieser jedoch wie bei Hagen bis zur Selbstaufgabe, erscheint er der heutigen Zeit so fremd, dass die Figurenmotivation mitunter nicht mehr nachvollziehbar ist.23 Durch die Rolle als Autor und das inkludierende Sprechen in der ersten Person Plural wird der Stimme des Ich-Erzählers Autorität zugeschrieben. Andere potentielle Perspektiven auf das Geschehen geraten nicht in den Blick, und es ergeben sich auch kaum Assoziationen, die politische Anschlussmöglichkeiten generieren. Dies korreliert damit, dass Köhlmeier in einem Interview eine politische Aufgabe für Literatur ablehnt, obwohl seine eigene politische Haltung durchscheint, wenn er sagt, er empfinde es als Tragödie, wie die gegenwärtige Einstellung zu Volksliedern und Sagen negativ geprägt sei »durch diesen blöden Nationalsozialismus, der uns ja alles ruiniert hat«.24 IV
Jürgen Lodemanns ›Siegfried und Krimhild‹ (²2005)
Auch Jürgen Lodemanns Roman zeigt ein starkes Interesse an der Figurenmotivation, wobei der Blick nicht nur auf Figurenpsyche und Emotionen, sondern auch auf gesellschaftliche Strukturen, insbesondere die Machtverhältnisse im Kontext von Gender und Religion, gelenkt wird. Ein weiterer Unterschied, gerade zu Köhlmeiers Text, besteht im Aufbau einer komplexeren Erzählinstanz: Berichtet wird der Kampf der Nibelungen größtenteils aus der Perspektive einer durch Lodemann neu eingeführten Figur, Kilian, einen keltischen Mönch und Freund Giselhers, der die Burgunden begleitet, als Einziger der Reisegesellschaft knapp überlebt und Giselhers sowie seine eigenen Aufzeichnungen der Ereignis-
23 Vgl. Köhlmeier (Anm. 15), S. 115–117 u. 119f. Zu Hass als Motivation Hagens vgl. bereits ebd, S. 72–74 u. 106. 24 Ernst Grohotolsky: »Literatur ist eine Bestätigung des Glaubens an die Vielfältigkeit des Menschen«, in: Michael Köhlmeier, hg. v. Günther A. Höfler u. Robert Vellusig, Graz u. Wien 2001 (Dossier 17), S. 9–21, hier S. 12. Über die anti-nationalistische Einstellung Köhlmeiers geben auch seine öffentlichen Reden Auskunft, von denen diejenige vom 4. Mai 2018 zum Gedenktag gegen Gewalt und Rassismus die bekannteste sein dürfte; vgl. Michael Köhlmeier: Erwarten Sie nicht, dass ich mich dumm stelle. Reden gegen das Vergessen, München 2018.
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se in ein irisches Kloster rettet.25 Dieser Kilian erinnert sich an den Kampf als »die scheußlichste der Nächte« (S. 848), »Qual« (S. 850 u. ö.) und »Schreckenstag« (S. 855). Den Kampfhandlungen selbst widmet er wenig narrative Aufmerksamkeit, vielmehr richtet sich sein Blick auf deren negative Folgen. Treue und Durchhaltevermögen, wie Göring sie in seiner Stalingrad-Rede propagierte, sind für ihn ein »Streitkäfig«, »Zwänge[…] des Befehlssystems, des Militärs und der Gefolgschaft« (S. 866). Die Überkreuzung von moderner Terminologie und Perspektive eines mittelalterlichen Augenzeugen-Erzählers wird dadurch plausibilisiert, dass der ›mittelalterliche‹ Text als mehrfach übersetzt inszeniert wird. Dies verleiht der Erzählung die Autorität eines authentischen Berichts, schafft aber zugleich eine Anbindung an die neuzeitliche Nibelungen-Rezeption sowie die Gegenwart der Leserschaft. Zudem wird damit die Erzählinstanz nicht nur von der Stimme der jeweils erzählenden Figur konstituiert, sondern auch von den extradiegetischen fiktiven modernen Herausgebern der sogenannten ›Kilianschronik‹, die diese zudem in roter Schriftfarbe kommentieren.26 Sie bezeichnen das Geschehen als »Verhängnis« und »Chaos« (S. 849) und bestätigen damit die negative Bewertung Kilians. Auf der Handlungsebene bedauern Giselher und Kriemhild in ihrem letzten Gespräch, dass es überhaupt zum Kampf gekommen ist. Kriemhild entschuldigt sich für ihre anfängliche Bewunderung der effektiven Staatsführung Hagens, für den ›Stolz‹, den sie wegen ihres Ehemanns empfunden habe, und einen »simple[n] Glaube[n] an Treue, an Pflicht und Fürsorge« (S. 846). Sie wirft ihrem Bruder und den anderen Männern einen naiven Umgang mit Hagens Machtgier vor, die zum Tod ihres Mannes, des einzigen Menschen, der über die Methoden der Machtakkumulation von Klerus und Herrschern aufgeklärt hätte, geführt habe. Würden aber die »Männer zur Vernunft [kommen]« und der »Tronje, […] diese[r] imperiale Gneiskopf« ausgeliefert, ließe sie Gnade walten, folge man
25 Bis zum Aufbruch aus Worms ist Giselher der Erzähler. 26 Durch die fiktiven Herausgeber schreiben sich zwei weitere Zeitebenen in den Text ein: die des 19. Jahrhunderts durch John Jacob Benjamin Balthazar Schazman, der die Chronik aufgefunden, sie übersetzt und diese Übersetzung ohne Erfolg zu publizieren versucht hat, und die Perspektive des 20./21. Jahrhunderts. Der Name des jüngsten fiktiven Herausgebers wird nicht explizit genannt, vereinzelte biografische Information (z.B. auf S. 8) legen allerdings nahe, ihn mit Lodemann selbst zu identifizieren.
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diesem weiter in bedingungslosem Gehorsam, sei die Alternative jedoch der »restlose[] Untergang« (S. 847f).27 Giselher bittet sie daraufhin ein letztes Mal, den Konflikt zu beenden. In diesem Zusammenhang wendet er sich gegen die Vorstellung des stetig kämpfenden Germanen, die – wie oben erläutert – das rechtsextreme Bild des Kampfes der Nibelungen prägt: Es handle sich um eine Fremdzuschreibung, von der man sich zum eigenen und fremden Vorteil lösen könne. Schließlich plädiert er ein letztes Mal für einen gemeinsamen anti-imperialistischen Kampf aller Völker: [W]ir sind, was die Römer germani nannten ›aus gleichem Stamm‹, weswegen sie meinten, alle Leute nördlich der Alpen müßten ›Germanen‹ sein, Männer mit dem Ger, mit dem Speer, nämlich Barbaren, die man auslöschen muß oder unterwerfen […]. Mach nunmehr du ein Ende mit dem unsinnigen Gemetzel zwischen denen, die allesamt Opfer sind […]. [A]uch Hunnen und Burgunder sollten miteinander gegen alles Imperiale und Besitzsüchtige gemeinsam agieren und nicht gegeneinander (S. 847).28
Von seinem Bruder Gernot, »[d]e[m] stoppelköpfige[n], de[m] bullenstarke[n] Krieger«, wird Giselher für sein »weibische[s] Gewinsel« als »Schreiberling« diffamiert (ebd.). Kriemhilds geschlechtlich codierte Kritik an der Unvernunft ihrer Brüder weist Gernot, ebenfalls unter Verweis auf ihr ihrem Geschlecht nicht angemessenes Verhalten, zurück und plädiert für Treue als (männliche, germanische) Handlungsmaxime (ebd.).29 Daraufhin lässt die weinende Kriemhild den Saal in Brand stecken.
27 Die oben erwähnte Thematisierung von Genderrollen und geschlechtsspezifischen Machtstrukturen deutet sich hier nur an. Deutlicher kommt diese als männliche Loyalität, die Frauen ausschließt, zum Ausdruck im letzten Gespräch Kriemhilds mit Hagen oder ganz am Ende (vgl. S. 880 u. 828). 28 Die Textteile in einfachen Guillemets sind im Original rot gefärbt. Die Mittel dieses anti-imperialistischen Kampfes werden von Giselher nicht näher benannt, im Gespräch mit Kilian kommt aber deutlich seine generelle Abneigung gegenüber militärischer Gewalt zum Ausdruck, die er als spezifisch männlich charakterisiert (vgl. S. 852). 29 Die Geschichtswissenschaft problematisiert heute ›germanische Gefolgschaftstreue‹ als Konstrukt der älteren Forschung aufgrund hochmittelalterlicher Stilisierung, vgl. Walter Pohl: Die Völkerwanderung. Eroberung und Integration. 2. Aufl., Stuttgart [u.a.] 2005, S. 29f.
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Die Wiederzählung konzentriert sich statt auf Heldentaten auf die negativen Seiten des Kampfes der Nibelungen und den Dissens unter den Geschwistern. Die Darstellung bietet verschiedene Perspektiven und damit unterschiedliche Ursachen für den Konflikt sowie differente Bewertungen des Geschehens an. Die Figuren sind komplex und ihre Konzeption regt zum Nachdenken an: Kriemhild ist einerseits klug, mitfühlend und vernunftorientiert, andererseits ist sie ebenso unerbittlich, konsequent und gewalttätig wie die von ihr kritisierten Männer. War sie zunächst idealistische Anhängerin einer Emanzipation der Frauen und einfachen Bevölkerung, ist sie inzwischen desillusioniert und radikalisiert. Gernot hingegen ist aufgrund seiner Frisur, seiner identitätskonstituierenden Gewaltbereitschaft und seiner – in Kriemhilds Worten – »hirnlose[n] Treue« als Neonazi-Figur lesbar. Dazu trägt auch sein Abscheu gegen die Zunft der Schreiber bei,30 zu der Giselher gehört. Die potentielle Gefährdung wahrheitsgemäßer Berichterstattung durch Krieg und Machtinteressen ist auch Thema des letzten Gesprächs der Freunde Giselher und Kilian: Es sei wichtig, ihre schriftlichen Aufzeichnungen zu retten, damit wenigstens ein Schatten der Wahrheit überlebe »in diesen imperialen Reichen des Wahnsinns, der Lüge, der Lebensverachtung, in denen Krieg als das Schöne gilt« (S. 850).31 Giselher und Kilian können das Geschehen zwar nicht verhindern, setzen sich aber kritisch mit ihrem eigenen Scheitern auseinander und handeln zuletzt zukunftsorientiert und aufklärerisch: Wenn ich [Kilian] mich sorgsam mühe, bin ich wenigstens ein wackerer, ein aufrichtiger Augenzeuge und Chronist. Dann habe ich immerhin die Fakten nach bestem Wissen ausgewählt und sorgfältig geordnet […]. Alsdann hoffe ich auf die
30 Man denke nur an den ›Lügenpresse‹-Vorwurf, der in der Weimarer Zeit geprägt und im Nationalsozialismus zur pauschalen Diffamierung der Presse gebraucht wurde. Der Begriff erlebte in jüngerer Vergangenheit ein unrühmliches Comeback, weshalb er zum Unwort des Jahres 2014 gewählt wurde. 31 Das Bild eines kriegerischen, lebensverachtenden, wahnsinnigen ›Imperiums‹ lässt Leserinnen und Leser sicherlich an Imperialismus, möglichweise aber auch an den Nationalsozialismus denken. In einem intellektuellen Kontext könnte man die häufige Verwendung von ›Imperium‹ zudem mit einem anti-kapitalistischen Diskurs in Verbindung bringen, vgl. Michael Hardt u. Antonio Negri: Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt a.M. 2002.
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Kopf- und Zwerchfellkräfte von Lesern, die mitdenken und mitfühlen und die all meine Bilder in ihrem Inneren vollenden (S. 870).32
Der Erzähler legt hier seine eigene Motivation offen und entwirft einen idealen Rezipienten, der sich einerseits durch Denkfähigkeit, andererseits durch Empathie auszeichnet. Wie die ›Fakten‹ zu bewerten sind, lässt die Erzählung trotz ihrer Komplexität jedoch keineswegs offen. Denn dadurch, dass Kilian Augenzeuge, Erzähler sowie Sympathieträger ist und seine Perspektive diegetisch durch Giselher, teilweise auch durch Kriemhild, und extradiegetisch durch die fiktiven Herausgeber (also auf drei Zeitebenen) bestätigt wird, ist seine Sichtweise gegenüber der anderer Figuren wie Gernot privilegiert. ›Siegfried und Krimhild‹ thematisiert im Zusammenhang mit dem Kampf der Nibelungen also zwar nicht explizit den Nationalsozialismus,33 Anspielungen und Assoziationsmöglichkeiten sind aber eindeutig vorhanden. Auf diese Weise setzt sich der Roman mit Strukturen und Phänomenen kritisch auseinander, die auch, aber nicht nur die NS-Ideologie geprägt haben, wie bedingungslose Treue, völkisches Denken, bestimmte Genderrollen oder Behinderung einer freien Berichterstattung. Krieg und Gewalt werden verurteilt. An deren Stelle scheinen Selbstkritik und Kooperation als zu präferierende Alternativen auf. Rahmende Texte, wie das dem Roman vorangestellte Zitat, das Nachwort des Autors in der zweiten Ausgabe und der Brief des fiktiven Herausgebers, weisen darauf hin, dass die Wiedererzählung unter anderem auch politisch verstanden werden möchte. Letzterer ist beispielsweise auf den 9. November 1848 datiert: Der 9. November ist seit 1978 einer der offiziellen Gedenktage für Opfer des Nationalsozialismus.34 Im Nachwort grenzt sich Lodemann eindeutig vom »Mißbrauch« des Nibelungenstoffes durch den Nationalsozialismus ab: Diese
32 Die Erwähnung des Zwerchfells verknüpft dieses Gespräch mit einem früheren, in dem das Zwerchfell als Ort der Verbindung von Körper und Geist, als Sitz von Emotionen bezeichnet wird (vgl. S. 816f.). 33 An anderen Stellen ist dies durchaus der Fall, so zitiert der ›Lodemann-Herausgeber‹, als nach Siegfrieds Tod ein jüdischer Händler vom Mob als Sündenbock gelyncht wird, beispielsweise Konrad Adenauers Kritik am Schweigen der Öffentlichkeit und insbesondere der Bischöfe angesichts der NS-Verbrechen (vgl. S. 705). 34 Das Datum bietet auch darüber hinaus Punkte der Anknüpfung an die deutsche Geschichte, als Tag, an dem die Hinrichtung des unter parlamentarischer Immunität stehenden Robert Blum einen Wendepunkt in der deutschen Revolution von 1848 markierte, als Beginn der November-Revolution 1918, als Tag des Hitler-LudendorffPutsches 1923 und als Beginn der November-Pogrome 1938.
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hätten das ›Nibelungenlied‹ »zum Heldenlied einer vermeintlichen Rasse [aufgedröhnt], obwohl die Texte weder von Rasse erzählen noch von deutscher Nation noch vom Germanischen« (S. 888). Allerdings kritisiert Lodemann auch diejenigen, die den Nibelungenstoff heute auf diesen Missbrauch reduzieren: Es ist ja auch einfach zu verlockend, das Gemetzel am Etzelhof, das Massaker an den von ›Nibelungentreue‹ Betrogenen und Benebelten im Stalingrad-Design zu zeigen. […] Wie wäre es aber mit neuem Respekt vor den Phantasien von Lesern und Zuschauern, mit Respekt vor Europas ältester Geschichte nördlich der Alpen (S. 887f.).35
Er schlägt vor, den Stoff wieder als Vorrat an zeitlosen Metaphern, auch politischen, zu begreifen, denn »heutiger Fundamentalismus« halte sich »noch immer an Leitplanken […], die damals errichtet wurden« (S. 888). Damit wird seine Wiedererzählung durchaus politisch gerahmt und als eindeutige Positionierung gegen Imperialismus, Kapitalismus und Nationalismus lesbar – ohne aber in dieser Lesart aufzugehen. V
Baal Müllers ›Die Nibelungen nach alten Quellen neu erzählt‹ (2004)
Anders als in den bisher betrachteten Texten verschwindet der Erzähler in Baal Müllers ›Die Nibelungen nach alten Quellen neu erzählt‹ über weite Strecken gleichsam hinter seiner Erzählung und wertet nur äußerst selten. Dadurch entsteht auf den ersten Blick der Anschein von Objektivität der Erzählinstanz einerseits und der Eindruck von besonderer Nähe zum Erzählstil des mittelalterlichen Epos andererseits. Die Rahmenhandlung inszeniert Hildebrand als Erzähler, der die Geschehnisse einem alten, einäugigen Einsiedler berichtet. Dieser Einsiedler kommentiert sie bisweilen und wird zunehmend mit Wotan bzw. Odin assoziierbar. Als handelnde Figur der Diegese und als Held hat Hildebrand, anders als die Kilian-Figur Lodemanns, keine kritische Distanz zum heroischen Geschehen.36 Vielmehr wird sein archaisches Heldentum in der Rahmenhandlung dadurch un-
35 Immer wieder betont Lodemann die europäische Dimension des Stoffes; vgl. dens.: Die Nibelungen oder Europa. Fundstücke beim lebenslangen Herstellen einer genauen Fassung des Epos, in: Bönnen/Gallé (Anm. 5), S. 179–202. 36 Vgl. beispielsweise Müller (Anm. 17), S. 133, wonach sich die durch die Wiedergabe der Erzählung ausgelöste emotionale Affizierung des Erzählers zeigt, wobei die Beschreibung an den zorn als Habitus des mittelalterlichen Helden denken lässt.
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terstrichen, dass der Einsiedler ihn bereits vom Hörensagen als »berühmte[n] Waffenmeister« und »Heerführer« kennt, durch sein Äußeres, das ihn sofort als »Kriegsmann« identifizierbar macht, und nicht zuletzt dadurch, dass die Handlung des ›Älteren Hildebrandliedes‹ als unmittelbar vorausgegangen inszeniert wird (S. 11f.). Den Tod des Sohnes durch seine eigene Hand bedauert Hildebrand, nimmt das Geschehene aber als Zeichen einer aus den Fugen geratenen und vor ihrem Ende stehenden Welt hin. Die Alternative, den Kampf durch eine Klärung der Identität zu vermeiden, wird aufgerufen und als nicht erfolgreich abgewiesen. Die Option, sich selbst zu opfern, indem er freiwillig verliert, wird hingegen nicht thematisiert. Dadurch wird die Vorstellung eines kompromisslos kämpferischen, tragischen Heldentums gleich zu Beginn der Erzählung etabliert. Trotz dieser Erzählsituation wird die Schlacht am Etzelhof als »Gemetzel« bezeichnet, zu dem es aus Sicht Hildebrands jedoch nur aufgrund individueller Fehler gekommen ist: Blödels Neid, Brutalität und Verschlagenheit, »Hagens Grausamkeit« und »Kriemhilds Niedertracht« (S. 135 u. 138). Während die Schuldzuschreibung im Falle Kriemhilds konsistent ist und gleich zu Beginn in die Rahmenhandlung integriert wird,37 ist Hagen tendentiell entlastet durch seine Exorbitanz und seine Treue.38 Auf Letztere berufen sich implizit auch Gernot und Giselher bei ihrer einhelligen Weigerung, Hagen an Kriemhild auszuliefern: ›Niemals wird das getan‹, rief Gernot entrüstet, ›[…] Und wenn wir tausend Brüder wären, so würde ein jeder vor Hagen stehen, und wir alle würden lieber sterben als den einen Mann deiner Rache zu opfern!‹ ›Sterben müssen wir ja doch‹, stimmte Giselher trotzig zu, ›und so wollen wir es lieber ritterlich als in Unehren tun.‹ (S. 152)
So ist bedingungslose Treue ein Charakteristikum aller Helden, das an dieser Stelle durch die Verknüpfung mit Ritterlichkeit und Ehre positiv konnotiert ist. Einige der großformatigen Bilder, die Müllers Text begleiten, zeigen mehrere männliche Figuren in Momenten heroischer Treue und Gemeinschaft sowie des Heldentodes,39 wobei Gewalt einerseits faszinierend, jedoch, nicht zuletzt durch
37 Vgl. ebd., S. 13: »Etzels Gemahlin, die Teufelin«, »Kriemhild hat ihn [Etzel] ausgesogen und nur eine Larve zurückgelassen«. 38 Vgl. ebd., S. 137 u. 144f. 39 ›Hagen und Volker‹ Seite an Seite stehend, ebd. auf S. 155; ›Rüdigers Schild‹, S. 162; ›Giselhers Tod‹, S. 167; ›Dietrich von Bern‹, S. 173. Nur das letzte Bild zeigt noch einmal Kriemhild, kaum mehr menschlich, mit dem Schwert ausholend, um
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die Farbgestaltung, die teilweise schemenhaften Gesichter und die sich auflösenden Konturen, vor allem morbid-düster und entindividualisierend-entgrenzend erscheint.40 Anders als bei den bisherigen Beispielen lassen sich in Müllers Roman auf den ersten Blick kaum Hinweise auf eine kritische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und dessen Nibelungen-Rezeption erkennen. Während die Wiedererzählung selbst schon aufgrund der überwiegenden Fokalisierung einer archaischen Figur und der archaisierenden Sprache auf den ersten Blick überhaupt keine Verbindungen zu aktuellen politischen Diskursen impliziert, werden solche vom Autor durchaus nahegelegt. Denn in YouTube-Videos erläutert Müller ausführlich die Bedeutung, die er dem ›Nibelungenlied‹ für die Gegenwart zuschreibt: Unter anderem nennt er den Reiz des Heroischen als Grund für ein anhaltendes Interesse am ›Nibelungenlied‹, unserem Nationalepos, wie »die meisten Leute heute noch sagen [würden]«, bei dem es sich um einen nach wie vor sinnstiftenden Mythos handle.41 Dieser mythische Charakter wird nicht nur textimmanent, etwa durch die Annäherung des Einsiedlers an Wotan bzw. Odin oder den Bezug auf heidnische Götter und Muster der Weltdeutung in der Rede von Figuren, auch der Erzählerfigur Hildebrand, unterstrichen, sondern auch über Paratexte, etwa das Vorwort des Neuheiden Stephan Grundy42. Die Mythisierung findet textimmanent ihren Höhepunkt, wenn Hildebrand am Schluss dem Rat des Einsiedlers (Wotans/Odins?) folgend in den Bergen verschwindet, wo er zunächst die Leiche seines Sohnes einem Fährmann (ins Totenreich?) übergibt und schließlich bis heute verirrten Wanderern hilft, aber auch die Grenze zu den Ländern seines Herrn verteidigt, bis dieser wiederkehrt (vgl. S. 186–188). Durch diesen Abschluss, der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verbindet, wird die Vorstellung von Heldentum, wie der Text sie konturiert, als schicksalhafte Bestimmung treuer Männer, als ewig gültig inszeniert.
Hagen zu enthaupten. Die Bilder werden auf der Homepage des Autors als Slideshow gezeigt, vgl. www.baalmueller.de/literatur/die-nibelungen (Aufrufdatum: 1.5.2023). 40 Matthias Däumer verdanke ich den Hinweis auf stilistische Ähnlichkeiten etwa zu Frank Millers und Lynn Varleys Graphic Novel ›300‹, in der das kollektive heroische Selbstopfer des männlichen Kriegers im Mittelpunkt steht. 41 Vgl. www.youtube.com/watch?v=kjXVxdE9dG8; www.youtube.com/watch?v=AqR Jb14mRZo; www.youtube.com/watch?v=8zQU826yj0A (Aufrufdatum jeweils: 1.5. 2023). 42 Der US-Amerikaner wurde selbst durch seine Nibelungen-Fantasy bekannt (›Rhinegold‹, 1992 und ›Attila’s Treasure‹, 1996; auf Deutsch: ›Rheingold‹ und ›Wodans Fluch‹).
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So schafft die Wiedererzählung Anknüpfungsmöglichkeiten für rechte Diskurse,43 schließlich war schon bei der nationalsozialistischen Rezeption germanischer Mythen der Aspekt eines territorialen Heldentums zentral.44 Auch heute können traditionelle Männerbilder rechtsradikalen Jugendlichen durch die Betonung von Kampf und Werten, die das Neuheidentum anbietet, zum Beispiel Heldenmut und Treue, attraktiv erscheinen.45 In der Neuen Rechten dient Heidentum bisweilen als Träger politischer Ideologie, denn in neuheidnischen Narrativen lassen sich anti-egalitäre, anti-universalistische und anti-pluralistische Ideologieelemente transportieren.46 Das ›Bekenntnis‹ zum Neuheidentum kann die Ablehnung anderer Religionen47 oder auch eine spezifische europäische Identität ausdrücken.48
43 Zur Verbindung von Neuheidentum und Rechtsextremismus vgl. einführend Friedrich Paul: Mythologie und Okkultismus bei den deutschen Rechtsextremen, in: Grumke/Wagner (Anm. 10), S. 203–212, und Andreas Speit: Offenbarungen und Bekenntnisse. Religiöse Konzepte in der extremen Rechten, in: »Ohne Juda, ohne Rom«. Esoterik und Heidentum im subkulturellen Rechtsextremismus, hg. v. dems., Braunschweig 2010, S. 14–48. 44 Vgl. Georg Schuppener: Sprache und germanischer Mythos im Rechtsextremismus, Leipzig 2017, S. 24. Zur Instrumentalisierung von Heldentum in der NS-Zeit vgl. Sabine Behrenbeck: Der Kult um die toten Helden. Nationalsozialistische Mythen, Riten und Symbole 1923 bis 1945, Greifswald 1996 (Kölner Beiträge zu Nationsforschung 2); zur Bedeutung des Dreischritts von Dekadenz-Apokalypse-Heroismus in der nationalkonservativen Denktradition heute vgl. beispielsweise Kellershohn (Anm. 6), S. 724f. 45 Vgl. Stefan von Hoyningen-Huene: Religiosität bei rechtsextrem orientierten Jugendlichen, Münster [u.a.] 2003 (Religion und Biographie 7), S. 303. 46 Vgl. Jennerjahn (Anm. 7), S. 11. Davon, dass das Neuheidentum im Umfeld der Neuen Rechten nicht primär religiös zu verstehen ist, gehen auch andere Untersuchungen aus, z.B. Insa Eschebach: Eine Studie zu völkischen Religionsgemeinschaften, in: Die Religion der Rechten. Völkische Religionsgemeinschaften – Aktualität und Geschichte, hg. v. Humanistischen Verband Deutschlands, Dortmund 1995, S. 4–41, hier S. 9. 47 Vgl. Jan Rabe: Odins Streiter. Heidentum im Rechtsrock, in: Speit (Anm. 43), S. 105–123, hier S. 113–115. 48 Vgl. von Hoyningen-Huene (Anm. 45), S. 61: »Innerhalb der Neuen Rechten wird ein intellektueller Neopaganismus vertreten, der jedoch anders als bei den älteren neuheidnischen Gruppen nicht auf Germanen, Arier oder ›Nordische Rasse‹ beschränkt ist, sondern sich auf Europa bezieht. Letztlich werden jedoch nur die ›rassi-
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Darüber hinaus lässt sich Müllers Wiedererzählung des ›Nibelungenliedes‹ auch als Bestandteil eines Projekts verstehen, das er in ›Der Vorsprung der Besiegten‹49 vorstellt. Darin thematisiert er zunächst ausführlich den Umgang mit dem Nationalsozialismus und den Kriegsniederlagen von 1918 und 1945, wobei er einerseits die NS-Verbrechen verurteilt, andererseits zu deren Relativierung neigt und eine völkisch-nationale Denkweise kultiviert. So erklärt er die Dolchstoßlegende, die ebenfalls mit der Nibelungen-Rezeption im Nationalsozialismus in Zusammenhang steht,50 als im konkreten Fall möglicherweise überzogene, aber grundsätzlich gerechtfertigte Bewahrung des »heroischen Selbstbildes«, das ein »überlebensnotwendiges und erkenntniskonstitutives Moment« eines Volkes sei.51 Anschließend plädiert er für den ästhetischen Sonderweg einer selektiven Wiederaneignung des kulturellen Erbes, um daraus ein neues Wertesystem abzuleiten und erläutert auch, wie man sich die Auswahl vorzustellen hat:
schen‹ Grenzen weiter gefasst und diese unverfängliche ›ethnische Differenz‹ (Benoist 1982, 43) benannt.« Vgl. auch Jennerjahn (Anm. 7), S. 59 u. 65. Nicht zuletzt bietet das Neuheidentum der Neuen Rechten eine Möglichkeit, über scheinbar unpolitische Räume Ideologie zu verbreiten; vgl. ebd. S. 11, ebenso von Hoyningen-Huene (Anm. 45), S. 301. Gleiches ließe sich in gewissem Maße von Müllers Wiedererzählung des ›Nibelungenliedes‹ sagen. 49 Baal Müller: Der Vorsprung der Besiegten. Identität nach der Niederlage, Schnellroda 2009. 50 Vgl. grundlegend Helmut Brackert: Nibelungenlied und Nationalgedanke. Zur Geschichte einer deutschen Ideologie, in: Mediaevalia litteraria (FS Helmut de Boor), hg. v. Ursula Hennig u. Herbert Kolb, München 1971, S. 343–364, und Herfried Münkler u. Wolfgang Storch: Siegfrieden. Politik mit einem deutschen Mythos, Berlin 1988, sowie Otfrid Ehrismann: Siegfried. Ein deutscher Mythos?, in: Herrscher, Helden, Heilige, hg. v. Ulrich Müller u. Werner Wunderlich, St. Gallen 1996 (Mittelalter-Mythen 1), S. 367–387; die populärwissenschaftliche Aufbereitung des Themas leistete u.a. Klaus von See: Die politische Rezeption der Siegfriedfigur im 19. und 20. Jahrhundert, in: Siegfried. Schmied und Drachentöter, hg. v. Volker Gallé, Worms 2005 (Nibelungenedition 1), S. 138–155. Vgl. demnächst auch Nadine Hufnagel: Neue Helden braucht das Land? Der Tod Siegfrieds in zwei ausgewählten Nibelungenliedern der Gegenwart, in: altiu mære heute. Die Nibelungen und ihre Rezeption im 21. Jahrhundert, hg. v. Ingrid Bennewitz u. Detlef Goller, Bamberg 2022, S. 75–109. 51 Müller (Anm. 17), S. 23f.
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Man muß weder das Mittelalter noch die germanische Vorzeit herbeisehnen, um sich vor der Aachener Kaisergruft, dem Sarkophag Friedrichs II. zu Palermo, dem Bamberger Reiter, auf dem Kyffhäuser und in der Krypta des Völkerschlachtdenkmals, im Teutoburger Wald oder an den Externsteinen v o n m y t h i sc h e n
W ir - Ge f ü h l
e i n e m
b e t r o f f e n und angerufen
zu fühlen. […] [V]ielleicht gibt es […] einen ästhetischen Weg zu uns selbst: einen schmalen Pfad, der in finstere, von Gold und Edelsteinen funkelnde Höhlen führt und vor der Tür zu jener großen Halle endet, in der die ›Kaiser und Helden‹ an ihren Tafeln sitzen.52
Wie es charakteristisch für Vertreter der Neuen Rechten ist, grenzt sich Müller auf der einen Seite explizit vom Nationalsozialismus ab, auf der anderen Seite partizipiert er an einem aktuellen völkischen Diskurs, in dem das Volk nicht als Staatsvolk oder sonst irgendwie rational beschreibbare Größe, sondern als Gemeinschaft aufgrund eines kollektiven ›Lebensgefühls‹, gemeinsamen ›Wesens‹ oder der Zugehörigkeit zu einer als homogen zu bewahrenden ›Kultur‹ im Zentrum steht.53 Bei Müller verbinden sich völkisch-nationalistisches und neuheidnisches Gedankengut und begründen die Präferenz bestimmter Aspekte des historischen Erbes wie des sogenannten ›Bamberger Reiters‹, der »[a]ls Verkörperung[…] ewigen deutschen Menschentums« in den 1920er-Jahren in den Rang einer nationalen Ikone erhoben worden ist,54 oder der Externsteine als angeblich germanisch-heidnischer Kultort.55 Am Kyffhäuser lässt sich die nationalistische Besetzung eines Ortes, die zeitlich nicht auf die NS-Zeit begrenzt ist, besonders gut aufzeigen: 1896 wurde auf dem Berg, in dem gemäß der Sage der Kaiser (meist Friedrich Barbarossa) auf sein Wiedererwachen wartet, ein monumentales Denkmal für Kaiser Wilhelm I. eingeweiht, das ihn in eine Traditionslinie mit Friedrich Barbarossa stellt. Auf
52 Ebd., S. 89; Hervorhebung d.Verf. 53 Vgl. Eschebach (Anm. 46), S. 11, und von Hoyningen-Huene (Anm. 45), S. 28. Dieser Diskurs ist freilich nicht neu und besitzt Überschneidungsbereiche mit nationalsozialistischer Ideologie, ohne aber mit dieser identisch zu sein (vgl. ebd. S. 58). 54 Vgl. Klaus von See: ›Blond und blauäugig‹. Der Germane als literarische und ideologische Fiktion, in: Bönnen/Gallé (Anm. 5), S. 105–139, hier S. 135. 55 Vgl. Andreas Speit: Vorwort, in: Speit (Anm. 43), S. 7–13, hier S. 10f. Rabe erwähnt die Externsteine als potentiellen Ort der Begegnung unpolitischer Neuheiden mit nationalistischer Ideologie, vgl. auch Rabe (Anm. 47), S. 119. Auch Schuppener nennt die Externsteine und die Irminsul als Elemente nordisch-germanischer Mythologie, die im rechtsextremen Diskurs rezipiert werden, vgl. Schuppener (Anm. 44), S. 132f.
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beiden Seiten des Sockels, auf dem das Reiterstandbild Wilhelms steht, lagern zwei allegorische Figuren, die ›Geschichte‹ und die ›Wehrkraft‹, wobei Letztere gängigen Vorstellungen der Figur Hagens aus dem ›Nibelungenlied‹ nachgebildet ist.56 1939 wurden auf dem Kyffhäuser dann Verbände der SS stationiert, insbesondere ging es in der NS-Zeit aber »darum, nationalsozialistisches Gedankengut auf eine passende und vor allem öffentlichkeitswirksame Folie zu projizieren«.57 Zuletzt nannten sich die Jahrestreffen des 2020 offiziell aufgelösten rechten Flügels der Alternative für Deutschland ›Kyffhäusertreffen‹58; auch heißt heute ein rechter Münchener Kleinverlag ›Kyffhäuser-Verlag‹59. Das Motiv der Wiedergeburt, das der Kyffhäusersage inhärent ist, klingt in Müllers Nibelungen-Wiedererzählung ebenfalls an, wenn Hildebrand am Schluss in den Bergen das Land bis zur Rückkehr seines Herrn verteidigt. Als bedeutsam für die politische Kontextualisierung von Müllers Erzählung kann auch der Arun-Verlag gelten, in dem sie 2004 publiziert worden ist: Dieser wurde von Stefan Björn Ulbricht, einem ehemaligen Redakteur der ›Jungen Freiheit‹, gegründet, um einen Raum zu schaffen, in dem Identität als »Verwurzelung des eigenen bewussten Ichs in einer Kultur« erfahrbar werde, wobei er unter Kultur ein »Gefühl des Bei-Sich-Seins, des Ein- und Mitklangs an gemein-
56 Vgl. Margarete Hubrath: Der Kyffhäuser, in: Burgen. Länder. Orte, hg. v. Ulrich Müller u. Werner Wunderlich, Konstanz 2008 (Mittelalter Mythen 5), S. 451–464, hier S. 456. Im 19. Jh. sollte das Denkmal auch dem Willen zur Bewahrung der ›wiedererlangten‹, aber von inneren Kräften destabilisierten Reichseinheit Ausdruck verleihen, vgl. Herfried Münkler: Die Deutschen und ihre Mythen, Reinbek 2010, S. 63; zum Kyffhäuser vgl. auch ebd., S. 40 u. 44–52). Der literarischen Verwendung der Kyffhäuser-Sage im 19. Jh. widmet sich Rüdiger Krohn, der vor einem unreflektierten Anknüpfen an nationalistisch überformte Narrative warnt, vgl. dens.: Friedrich I. Barbarossa. Barbarossa oder der Alte vom Berge – zur neuzeitlichen Rezeption der Kyffhäuser-Sage, in: Müller/Wunderlich (Anm. 50), S. 101–118. 57 Hubrath (Anm. 56), S. 457f. 58 www.derfluegel.de/2017/09/05/das-kyffhaeusermanifest (Aufrufdatum: 31.1.2019; die Seite existiert nicht mehr). Am 15.01.2019 erklärte das Bundesamt für Verfassungsschutz den Flügel zum Verdachtsfall, im Jahr darauf erfolgte die Einstufung als »gesichert rechtsextremistische Bestrebung«, vgl. www.verfassungsschutz.de/Shared Docs/reden/DE/2020/statement-haldenwang-presekonferenz-stand-der-bekaempfungdes-rechtsextremismus.html (Aufrufdatum: 30.5.2023). 59 Vgl. Thomas Pfeiffer: Publikationen und Verlage, in: Grumke/Wagner (Anm. 10), S. 105–115, hier S. 111.
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samen Überlieferungen, […] Werten und Normen« versteht.60 Damit schlägt auch die Verlagsprogrammatik eine Brücke zwischen Müllers Wiedererzählung und einem völkisch-nationalen Diskurs. VI
Ralf Nievelsteins und Matthias Rummels ›Neidhard von Steinach. Nibelungen. Eine sehr originale Geschichte‹ (2010)
Eine völlig andere Herangehensweise an das ›Nibelungenlied‹ und seine Rezeption zeigt die von Ralf Nievelstein und Matthias Rummel herausgegebene Erzählung ›Neidhard von Steinach. Nibelungen. Eine sehr originale Geschichte‹, die im Worms Verlag erschien, der vor allem im Dienste des bereits erwähnten Wormser Stadt- und Regionalmarketings steht.61 Die Erzählung wird als Interview zweier Herausgeber mit dem fiktiven Nachfahren des mutmaßlichen Nibelungendichters ausgegeben. Der Erzählvorgang wird somit zeitlich eindeutig in der Gegenwart verortet, die Handlung dagegen in der Vergangenheit, deren Alterität wiederholt markiert wird, so auch implizit gegen Ende des Interviews: So, und das war’s jetzt? […] Ist das nicht etwas jäh? So ist das nun mal im Leben mit dem Heldentod: Erst sterben die Mitstreiter, und dann, zack! – und das Licht ist auch für den Helden aus. […] Und die Moral von der Geschichte? Das ist die Moral. Was unsere Helden hier veranstaltet haben im Namen des Vaters, der Ehre, des Goldes und der Macht, war völlig hirnlos. Immerhin nicht ganz sinnlos, hatten wir Steinachs doch fortan eine ganz besondere Geschichte darüber zu erzählen, was elitäre Menschen scheitern läßt … Und haben die Zuhörer Ihres Vorfahren diese Botschaft verstanden?
60 Vgl. Speit (Anm. 43), S. 41. ›Der Vorsprung der Besiegten‹ erschien hingegen ebenso beim Antaios Verlag (vgl. Anm. 6) wie Scholdts eingangs zitierte ›Literarische Musterung‹ (Anm. 7), in der Müller neben Lodemann und Ulrike Draesner als Neubearbeiter des »germanischen […] Heldenepos« aus dem 21. Jh. genannt wird. Während Müller und Draesner nicht weiter thematisiert werden, wirft Scholdt Lodemann »Gutmenschentum« vor, also eine Vorliebe für »Pazifismus«, »Feminismus« und »Multikulti« (S. 183f.). 61 Berücksichtigung fand die Erzählung bisher bei Busch (Anm. 2) und Hufnagel (Anm. 50).
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Nein, haben sie nicht. Die Mächtigen verstehen solche Botschaften meistens nicht. Die Nibelungen würde es immer geben (S. 236).62
Betont wird hier auf der einen Seite die Fremdheit des Erzählens, wenn der Schluss aufgrund der modernen Lesesozialisation der Interviewer als zu abrupt empfunden wird, sowie der heroischen Motivation der Figuren. Auf der anderen Seite wird mit dem Hinweis auf die durchgängige Familientradition eine Kontinuität des Erzählens von den Nibelungen inszeniert, dessen angebliche didaktische Intention sowohl eine historische Legitimation als auch über das kontinuierliche Scheitern Aktualität erhält. Das ›Nibelungenlied‹ wird somit als Erzählung mit überzeitlicher didaktischer Botschaft, als Warnung vor Heldentum, Ehr-, Macht- und Besitzstreben inszeniert, seine Rezeptionsgeschichte als Geschichte voller Missverständnisse. Heldentum wird als zeitloses Phänomen charakterisiert und durch das Possessivpronomen »unsere« vor »Helden« sowie das Adverb »immer« auch an die Gegenwart der Leserschaft angebunden.
Abb. 1: »Saalbrand« (S. 219, Ausschnitt)
Folglich wird Heldentum in der gesamten Erzählung immer wieder durch die explizite Abwertung, den Wortwitz, den ironischen Plauderton, in dem die Erzählung gehalten ist, und durch die Bebilderung als gefährlich, todbringend und lächerlich inszeniert. So zeigt eine der großformatigen Illustrationen (Abb. 1),
62 Die Fragen der ›Herausgeber‹ sind im Original rot hervorgehoben.
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wie die gefallenen Helden als skurrile Skelett-Engel aus der brennenden Halle aufsteigen, während Hagen und Volker, erkennbar an Wildschwein-Schild und Fiedel, sich nahe der Tür in relative Sicherheit gebracht haben. Ein weiterer Kämpfer mit schiefem Helm, Halbglatze, abgebrochenem Arm und Schielaugen versucht sich ebenfalls zu retten, statt den ›Heldentod‹ zu sterben. Gunther, dem die Flammen seltsamerweise nichts anhaben, sitzt nachdenklich-deprimiert inmitten des Saales, in einer Pose, die eher an Darstellungen Walthers von der Vogelweide in mittelalterlichen Handschriften erinnert63 als an einen todesmutigen Kämpfer. Dass ein Verständnis von Treue, wie es für die NS-Rezeption noch zentral war, heute nicht mehr zeitgemäß ist, wird im Kontext des Kampfes der Nibelungen durch eine ungläubige Nachfrage, warum die Burgunden Kriemhilds Angebot eines freien Abzugs nach Auslieferung Hagens abgelehnt hätten, zum Ausdruck gebracht. Im Zusammenhang mit der Weigerung der Burgunden werden insbesondere »unbedingte[r] Gehorsam« und »ewige Treue«, die auch explizit mit dem politisch geprägten Begriff der »Nibelungentreue« bezeichnet wird, in Opposition zu Gerechtigkeit gebracht und als Handlungsgrundlage abgewertet. Denn die Burgunden müssten eben »in den sauren Apfel beißen, wenn ihnen das Gefasel von der Treue wichtiger war, als daß ihrer Schwester jemals Gerechtigkeit widerfuhr« (S. 220). Kriemhild wolle daraufhin auch nicht länger »herumfackeln«, sondern ließe »den Braten jetzt in den Ofen« schieben und dann »wurde der Grill angeheizt« (ebd.). Damit wird ein Sprachbild aus dem Kontext der Kulinarik für den Beginn des Saalbrands verwendet, das bereits die KapitelÜberschrift ›Wie etliche Burgunder gegrillt wurden‹ (S. 217) eingeführt hatte. Man könnte der Darstellung an dieser Stelle vorwerfen, dass sie nicht nur die Täter, sondern auch die Opfer von Gewalt ridikülisiert, was durchaus als Verharmlosung missverstanden werden kann. Werden Versatzstücke national(sozial)istischer Ideologie in dieser Art und Weise der Lächerlichkeit preisgegeben, mag der Eindruck entstehen, diese müssten überhaupt nicht ernst genommen werden, wodurch eine kritische Auseinandersetzung damit auch unterbunden werden kann. VII Heinrich Steinfest ›Der Nibelungen Untergang‹ (2014) In Heinrich Steinfests Wiedererzählung ›Der Nibelungen Untergang‹ machen die Wortwahl und die teilweise ironische Distanz der Erzählstimme zum Geschehen
63 Beispielsweise im Codex Manesse, Universitätsbibliothek Heidelberg, Cod. Pal. germ. 848, fol. 124r.
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deutlich, dass das extradiegetische stark kommentierende Erzähler-Ich in der Gegenwart zu verorten ist. Seine Gestaltung des Kampfes der Nibelungen wird von einer vielschichtigen Auseinandersetzung mit Heldentum und Krieg aus postmoderner Perspektive bestimmt:64 Heroische Gewalt wird ironisch betrachtet,65 aber auch ästhetisierend gestaltet,66 dann wieder entzaubert67 oder in ihrer Brutalität problematisiert und als Wahnsinn, als Krieg mit fatalen Folgen für die gesamte Bevölkerung perspektiviert.68 In diesem Zusammenhang wird wiederholt thematisiert, dass ausgerechnet die politischen Entscheider häufig am wenigsten leiden müssen oder sich weigern, Verantwortung zu übernehmen. So beobachtet Kriemhild lieber aus der Distanz, statt mitten im Schlachtengetümmel zu sein, da sie schließlich »Königin, nicht Reporterin« sei, Etzel verhalte sich, so der Erzähler, »vergleichbar diesen Staatsmännern, die sich in die tiefsten Bunker oder weit oben fliegende Flugzeuge zurückziehen« (S. 96), und die Burgundenkönige können sich zwar nicht zurückziehen, verweigern aber bis zuletzt die Übernahme politischer Verantwortung. Ihre Ablehnung, Hagen an Kriemhild auszuliefern, wird vom Erzähler wertend kommentiert:
64 Diese zieht sich als roter Faden durch die zitat- und anspielungsreiche Erzählung, die nach der Überschrift ›Held‹ mit der Frage nach der Grenze zwischen Außergewöhnlichkeit und Verrücktheit sowie einer Feststellung der Ewigkeit des Heldentums beginnt, vgl. Steinfest (Anm. 19), S. 5, und mit der Aussage, in einer Welt, die im Kampf und Wettstreit ihren Nutzen erkenne, führe alles, auch die Liebe, zum Krieg, endet, vgl. ebd., S. 116. 65 Vgl. ebd., S. 94: »Hunnen fallen wie Dominosteine«. Heroische Provokation wird zu einer »Gegnerverarschung im Stile des Muhammad Ali« (S. 97). 66 Vgl. ebd., S. 94: »Dankwart – dessen Rüstung so rot von Blut ist, dass er wie eine riesenhafte Blüte aussieht«. Vgl. auch »Hernach ist es wie nach einem Gewitter. Es dampft die Luft. Rote Ströme fließen durch die Rinnsteine« (S. 100). 67 Vgl. ebd., S. 100: »auch der mutigste Held ist letztlich ein Mensch mit einer begrenzten Ausdauer«. 68 Vgl. ebd., S. 95: »Es ist wie immer im Krieg, wenn ab einem bestimmten Moment der heroische Kampf der Männer in die vollkommen unheroische Praxis übergeht, den Gegner dadurch zu demütigen, ihm alles zu nehmen. Der Moment, da die Vergewaltigungen einsetzen, die Folterungen, die Tötung der Kinder, der Schwangeren, der Alten, ganzer Sippen, das Brandschatzen, das Bombardieren, die Auslöschung. Wenn der Kampf Held vs. Held die Unschuldigen trifft und nichts und niemand verschont bleibt.« Vgl. auch ebd., S. 93–96 u. 100.
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Das hat natürlich mit ihrem Ehrenkodex zu tun, den Gesetzen des ritterlichen Standes, der Ehre und des Ansehens […], nicht zuletzt aber damit, dass man Hagens Verbrechen stets gedeckt hat. Sich seiner bediente, indem man ihn gewähren und die Drecksarbeit machen ließ. Das ist nun mal eine Tatsache, vom Siegfriedmord bis hin zur Hortversenkung. Ihn auszuliefern, wäre ein Geständnis. Könige gestehen nicht. Lieber sterben sie (S. 101f.).
Während in Müllers Wiedererzählung Ritterlichkeit und Ehre zur Aufwertung des geschilderten Heldentums herangezogen werden, sind sie in Steinfests Text aufgrund ihrer Assoziierung mit Drecksarbeit und Verbrechen negativ konnotiert und als Konzepte lesbar, die Doppelmoral und sinnloses Sterben hervorbringen. Aufgrund der dezidiert modernen Sprache und eines spezifischen Umgangs mit Zeit in ›Der Nibelungen Untergang‹,69 durch den die Handlung nicht eindeutig historisch verortet wird, lässt sich die kritische Darstellung sowohl auf kriegerische Auseinandersetzungen der Gegenwart als auch auf verschiedene historische Kriege beziehen, ohne Weiteres auch auf die Weltkriege, an die beispielsweise Begriffe wie »Bunker« oder »Defätismus« (S. 97) denken lassen, die in Kontrast zu einem heroischen Untergang stehen. Denselben Effekt können Formulierungen wie diejenige, dass Kriemhild überlege, eine Bombe zu werfen, obwohl es so etwas noch nicht gebe, zeitigen, die zugleich auch die Zeitlosigkeit kriegerischer Gewalt thematisieren. Eindeutige Assoziationen zur NS-Zeit vermag hingegen die Bezeichnung Hagens als »Führer« (S. 95) zu wecken, die allerdings nur an einer Stelle vorkommt. In diesem Spannungsfeld von Historizität und Zeitlosigkeit von Heldentum und Krieg bewegt sich auch die Erzählerbemerkung, welche die Schilderung des Saalbrands abschließt: Wieder kein Ende. Wieder neuer Kampf. Wieder hohes Kopfgeld. Wieder viele tote Hunnen. Sind die Burgunden überhaupt zu schlagen? Gestärkt vom Blut ihrer Feinde. Untote? Berserker? Ewige Germanen? (S. 102)
Die Anapher evoziert die Vorstellung von Gewalt als sich selbst erhaltenden, kontinuierlichen Kreislauf. Der Begriff »Germanen« vermag sowohl die Zeit der sogenannten Völkerwanderung als auch neuzeitliches völkisches Denken aufzurufen.70 Das Attribut »ewig« kann als Verweis gelesen werden sowohl auf NS-
69 Vgl. Hufnagel (Anm. 50). 70 Dabei gilt freilich zu beachten, dass der Begriff ›Völkerwanderung‹ sowie populäre und politisch instrumentalisierte Vorstellungen von der Zeit, die damit bezeichnet
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Ideologie, die im deutschen Volk die direkten Nachfahren der Germanen gesehen hat, als auch auf das Fortleben völkischen Gedankenguts nach 1945. »Untote« lässt sich unmittelbar auf die Handlung, auf das Bluttrinken der Burgunden beziehen, aber auch auf die Gegenwart: politisch auf die Neue Rechte oder Neonazis als Wiedergänger der Nationalsozialisten, kulturgeschichtlich auf die anhaltende Faszination von Gewaltdarstellungen, die heute insbesondere im Zusammenhang mit Vampiren und Zombies populär sind.71 Die Kontinuitäten beziehungsweise deren Unabänderlichkeit werden durch die wiederholten Fragezeichen allerdings auch buchstäblich in Frage gestellt. Ähnlich gewaltproblematisierend und anspielungsreich funktioniert die ausschließlich in groben, schwarzroten Strichen gehaltene Bebilderung, die jeweils etwa das untere Drittel einer Doppelseite einnimmt. Die Doppelseite, auf der das obige Zitat zu finden ist, zeigt Hagen, der an seiner Augenklappe zu erkennen ist, und drei weitere Krieger mit brutalem Gesichtsausdruck und dunklen Augenhöhlen (Abb. 2). Man könnte in diesen die drei Burgundenkönige vermuten, die Zeichnung legt den Fokus allerdings gerade nicht auf Identifizierbarkeit, sondern auf die entindividualisierte, zombie- oder berserkerhafte, aber statische Monstrosität derer, die in einer (historischen) Reihe mit Hagen stehen.72
Abb. 2: »Untote?Berserker? Ewige Germanen?« (S. 102f.)
wird, selbst Produkte völkischen Denkens sind, weshalb gängige wissenschaftliche Einführungen ihn problematisieren und auf die politische Brisanz der Epoche hinweisen, vgl. Pohl (Anm. 29), insbes. S. 17–24, 37 u. 216–218; mit besonderem Augenmerk auf die Verantwortung auch der Mediävistik Patrick J. Geary: Europäische Völker im frühen Mittelalter. Zur Legende vom Werden der Nationen, Frankfurt a.M. 2002, insb. S. 15–22, 51 u. 176f. 71 Steinfest ›mythisiert‹ also weniger das ›Nibelungenlied‹ als dessen Rezeption. 72 Der Eindruck von Monstrosität und Brutalität wird auch dadurch verstärkt, dass die Gestalten stets in ›Nah- bis Großaufnahmen‹ gezeigt werden, wodurch Körper und bisweilen auch Gesichter angeschnitten sind.
Der Kampf der Nibelungen | 299
Die folgenden Abbildungen sind dynamischer, wobei sich an der Betonung von Brutalität und Entindividualisierung der Figuren nichts ändert: Eine zeigt einen brutalen Faustkampf zweier Männer, eine den tödlichen Schwertkampf zweier Kombattanten, genauer: die Nahaufnahme zweier schwertdurchbohrter Helme (Abb. 3 u. 4).
Abb. 3 u. 4: Kampfhandlungen (S. 104f. u. S. 106f.)
Kampfformen, Waffen und Rüstungen sind also nicht hinreichend historischspezifisch für eine bestimmte raumzeitliche Verortung, vielmehr unterstreichen sie die Zeitlosigkeit von Gewalt und Gewaltdarstellungen. Steinfests Wiedererzählung fordert die Rezipierenden auf diese Weise zu vielfältigen Assoziationen und deren eigenständiger Reflexion auf – ohne sich auf eine eindeutige Verweisstruktur oder konkrete politische Positionierung festlegen zu lassen, die konkreter wäre als die Ablehnung von Krieg und die Problematisierung von Gewalt. VIII Zusammenschau Der Blick auf die Darstellung des Kampfes der Nibelungen in den Wiedererzählungen des ›Nibelungenliedes‹ hat zunächst gezeigt, dass sich keiner der fünf untersuchten Texte eindeutig und explizit in dieser Szene mit der NibelungenRezeption des National(sozial)ismus auseinandersetzt. Das entsprechende Erbe bestimmt also in keinem Fall das Wiedererzählen des ›Nibelungenliedes‹, weder fungiert der Wiedererzählensprozess primär als dessen kritische Aufarbeitung noch als dessen Affirmation. Die Inblicknahme der Erzählsituation, der Erzählerund Figurenbewertung von Konzepten, die sowohl für die Nibelungen-Rezeption der NS-Zeit als auch für aktuelle rechtsextreme Kreise von Bedeutung sind, sowie der (paratextuellen) Kontextualisierung war dennoch aufschlussreich. Es hat sich gezeigt, welche Haltungen gegenüber dem National(sozial)ismus und der betreffenden Nibelungen-Rezeption durch die Erzählungen jeweils nahegelegt werden. Die Skala reicht dabei vom Absprechen von Relevanz (Köhlmeier) über Ironisierung und Ridikülisierung (Nievelstein/Rummel) bis hin zu Problematisierung und kritischer Reflexion (Lodemann, Steinfest). Die Wiedererzählungen unterscheiden sich allerdings stark hinsichtlich des Ausmaßes, in dem ihre narrative Gestaltung Raum für eine eigenständige Auseinandersetzung mit der mittelalterlichen Erzählung und ihrer nationalistischen
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Rezeption eröffnet: Köhlmeiers Wiedererzählung kürzt das, worauf sich die NSRezeption konzentriert hat, radikal und bietet allein die Perspektive des AutorErzählers, womit die Leserin oder der Leser kaum zu selbstständiger Reflexion angeregt wird. Dies kann man als ultimative Abwertung der NS-Rezeption verstehen, die keine kritische Auseinandersetzung wert ist, oder aber auch als vorschnelles Ausblenden der Möglichkeit einer aktuellen national(sozial)istischen Bezugnahme auf das ›Nibelungenlied‹ kritisieren. Gewalt und (soldatische) Ehre werden jedoch eindeutig negativ bewertet, weshalb sich wenig Anschlussmöglichkeiten für national(sozial)istische Diskurse bieten. In ›Neidhard von Steinach. Nibelungen. Eine sehr originale Geschichte‹ werden wichtige Elemente der NS-Rezeption wie Heldentum und Nibelungentreue der Lächerlichkeit preisgegeben, doch bietet die Darstellung ebenfalls eher wenig Anregung für komplexere Reflexionen und reduziert in der Rahmenhandlung das ›Nibelungenlied‹ auf einen Text mit eindeutiger didaktischer Botschaft gegen Gewalt und das Streben nach Macht und Ehre. Lodemanns und Steinfests Romane lassen demgegenüber eine tiefergehende Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus erkennen. Lodemann bietet in seiner komplexen Darstellung des Kampfes der Nibelungen verschiedene Perspektiven an, aber die anti-imperialistische Sichtweise Giselhers und Kilians ist privilegiert, wodurch zentrale Aspekte der NS-Rezeption abgewertet werden. Auch die Kritik an herrschenden Machtstrukturen durch Figuren, die Sympathieträger sind, und die Paratexte lassen diese Wiedererzählung als besonders anschlussfähig an ›linke‹73 Diskurse erscheinen, wobei mit dem Scheitern der Figur Kriemhild radikal-gewalttätigen Positionen eine Absage erteilt wird. Lodemanns Gestaltung des Kampfes der Nibelungen lässt sich als Plädoyer für Vernunft, Mitgefühl und Kooperation verstehen. Völkisches Denken wird zwar anzitiert, aber kritisiert.74 Steinfests Darstellung des Kampfes der Nibelungen enthält
73 ›Links‹ verstehe ich hier in erster Linie als Gegenbegriff zu politisch ›rechts‹, als Sammelbegriff für ein Spektrum politischer Vorstellungen, deren Gemeinsamkeit darin besteht, dass sie von der Gleichwertigkeit der Menschen ausgehen und sich für die Aufhebung von Ungleichheit und als Unterdrückung begriffenen Sozialstrukturen einsetzen. Die politische ›Rechte‹ hingegen basiert auf Vorstellungen von Ungleichheit; vgl. beispielsweise Rosemarie Nave-Herz: Extremismus, in: Handwörterbuch zur Gesellschaft Deutschlands, hg. v. Bernhard Schäfers u. Wolfgang Zapf, Opladen 1998, S. 188–210, hier S. 192. 74 Bisweilen wird durch extratextuelle Äußerungen des Autors ein eher traditionelles Verständnis der sogenannten Völkerwanderungszeit für einen pro-europäischen oder
Der Kampf der Nibelungen | 301
Formulierungen, die es erlauben, einzelne Aspekte auch mit der NS-Zeit in Beziehung zu setzen, wodurch Konzepte und Ideen des Nationalsozialismus weniger als exzeptioneller Einzelfall, sondern als historische Ausprägungen der zeitlosen Phänomene Gewalt und Heldentum erscheinen, deren Thematisierung sich wie ein roter Faden durch Steinfests Wiedererzählung zieht. Hinsichtlich der Bewertung des Heldentums ergibt sich ein ambivalentes Bild: Statt sich, wie Lodemanns Erzählung, eindeutig gegen die Burgunden – ausgenommen Giselher – zu positionieren, bietet Steinfests Bearbeitung zugleich Faszination, Entzauberung und Problematisierung. Der Text lässt sich schwerlich auf konsistente politische Haltungen festlegen, vielmehr macht er in Kombination mit der Illustration Phänomene wie Heldentum in ihrer Komplexität beobachtbar und regt die Rezipierenden zu eigenständiger Reflexion an. Einzig aus Müllers auf den ersten Blick harmlos wirkender Wiedererzählung lassen sich praktisch keine Schlüsse hinsichtlich eines kritischen Umgangs mit der national(sozial)istischen Nibelungen-Rezeption ableiten. Durch die Inszenierung als neuheidnischer Mythos und die Konzeption von Heldentum, das wesentlich über ehrenhafte Gewalt und bedingungslose Treue definiert ist, ergeben sich allerdings Anknüpfungspunkte für (neu)rechte Diskurse. Vor dem Hintergrund der politischen Kontextualisierung durch Autor, Paratexte und Verlag lässt sich ›Die Nibelungen nach alten Quellen neu erzählt‹ als Fortführung einer nationalistischen Nibelungen-Traditionslinie rezipieren. Insofern basiert das Interesse an der ideologischen Instrumentalisierung des Nibelungenstoffes nicht allein auf ihrer Historizität, sondern auch auf Aktualität.
anti-imperialistischen Diskurs fruchtbar gemacht, vgl. Lodemann (Anm. 16), S. 181– 184.
Diffuse Düsternis Mittelalterlichkeit in der Insel-Ausgabe der ›Deutschen Heldensagen‹ mit Illustrationen von Burkhard Neie Anna-Lena Heckel & Julika Moos
Unter den zahlreichen, in den letzten zwei Jahrzehnten neu erschienenen Ausgaben heldenepischer Stoffe fällt insbesondere der im Herbst 2018 im Insel-Verlag herausgekommene Band ›Deutsche Heldensagen‹ ins Auge, weil die Texte hier mit einem neuen, von Burkhard Neie gestalteten Illustrationsprogramm versehen sind.1 Dieser Band, dessen Texte auf die 1969 erstmals veröffentlichten und seit-
1
Gretel Hecht u. Wolfgang Hecht: Deutsche Heldensagen. Illustriert v. Burkhard Neie, Berlin 2018 (Insel-Bücherei 2030), www.suhrkamp.de/buch/deutsche-heldensagen-t9783458200307 (Aufrufdatum: 1.5.2023), im Folgenden zitiert unter der Sigle NE mit Seitenzahl. Neie arbeitete bereits häufiger mit dem Insel-Verlag zusammen und erregte mit seinen charakteristischen »farbsatte[n] Nocturnes« (Andreas Platthaus: Du sollst dir ein Bild machen. Ein Balladenwunder, Rezension zu Matthias Reiner: ›Und noch fünfzehn Minuten bis Buffalo‹, Frankfurter Allgemeine Zeitung (05.12.2013), www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/matthi as-reiner-und-noch-fuenfzehn-minuten-bis-buffalo-du-sollst-dir-ein-bild-machen-einballadenwunder-12696856.html (Aufrufdatum: 1.5.2023)) Aufsehen in der Presse. Neie entwarf im Jahr 2017 außerdem das Cover-Design der ›Schönsten französischen Märchen des 17. und 18. Jahrhunderts‹, diese sind allerdings – im Gegensatz zu den ›Deutschen Heldensagen‹ – von erläuternden Einleitungen und historischen Kontextualisierungen begleitet. Das Cover der ›Französischen Märchen‹ weist bereits eine große Entsprechung mit den Bildern im Sagen-Band auf: In einem leuchtend roten Kreis sind – der Disney-Version des Stoffes nicht unähnlich – die scherenschnittartigen Silhouetten Belles und des Biests zu sehen, die von goldener Rahmengestaltung umfasst werden, in der sich der in altertümlichen Lettern geschriebene Titel des Ban-
304 | Anna-Lena Heckel & Julika Moos
dem wiederholt nachgedruckten Erzählungen von Gretel und Wolfgang Hecht zurückgehen, soll als Beispiel für die Aktualisierung der Heldensagen im Zuge des aktuellen popkulturellen Mittelalterbooms2 vorgestellt und auf seine Wir-
des erkennen lässt. Außerdem illustrierte Neie für den Verlag ›Und noch fünfzehn Minuten bis Buffalo. Deutsche Balladen‹ im Jahr 2013 (vgl. www.suhrkamp.de /buecher/und_noch_fuenfzehn_minuten_bis_buffalo_-_20006.html, im Herbst 2019 erschien die vierte Auflage dieses Bandes) sowie ›Tand, Tand ist das Gebilde von Menschenhand. Deutsche Balladen‹ im Jahr 2014 (vgl. www.suhrkamp.de/buecher /tand_tand_ist_das_gebilde_von_menschenhand_-_20011.html),
›Die
schönsten
deutschen Volkssagen‹ im Jahr 2017 (vgl. www.suhrkamp.de/buecher/die_schoen sten_deutschen_volkssagen-marjana_gaponenko_20022.html) und den aus den nacherzählten Heldensagen von Gretel und Wolfgang Hecht ausgegliederten ›Nibelungen‹-Band, der im September 2019 erschienen und mittlerweile in der dritten Auflage zu erwerben ist (vgl. www.suhrkamp.de/buecher/die_nibelungen-_20036.html; Aufrufdatum jeweils: 1.5.2023). 2
Vgl. Tobias Enseleit u. Christian Peters: Einleitung: Bilder vom Mittelalter. Medium – Sinnbildung – Anwendung, in: Bilder vom Mittelalter. Vorstellungen von einer vergangenen Epoche und ihre Inszenierung in modernen Medien, hg. v. dens., Münster i.W. 2017, S. 1–44, hier S. 1; Stephanie Wodianka: Zwischen Mythos und Geschichte. Ästhetik, Medialität und Kulturspezifik der Mittelalterkonjunktur, Berlin 2009, S. 1; Katharina B. Zeppezauer: kurzwîl oder Entertainment. Ein einleitender Erklärungsversuch des Faszinosums ›Mittelalterrezeption‹, in: Alles heldenhaft, grausam und schmutzig? Mittelalterrezeption in der Populärkultur, hg. v. Christian Rohr, Wien 2011, S. 13–24, hier S. 13. Ähnlich konstatiert David W. Marshall: Introduction. The Medievalism of Popular Culture, in: Mass market medieval. Essays on the Middle Ages in popular culture, hg. v. dems., Jefferson NC [u.a.] 2007, S. 1– 12, hier S. 6, bereits im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts: »The use of medieval images and tropes in popular culture has seen an explosion in recent years.« Eine Aussage, die wohl – wie jüngst am weltweiten Hype um George R. R. Martins Romanreihe ›The Song of Ice and Fire‹ (dt. ›Das Lied von Eis und Feuer‹) bzw. deren Verfilmung unter dem Titel ›Game of Thrones‹ zu sehen – nach wie vor höchst aktuell zu sein scheint, sodass nun sogar eine Neuverfilmung des ›Nibelungenliedes‹ geplant wird, weil die Zeit dafür immer »reifer« werde, wie der Intendant der Wormser ›Nibelungen-Festspiele‹, Nico Hofmann, verlauten lässt, vgl. Nibelungen als TVMehrteiler geplant, in: Die Welt (08.06.2019), www.welt.de/newsticker/dpa_nt/info line_nt/boulevard_nt/article194970187/Nibelungen-als-TV-Mehrteiler-geplant.html (Aufrufdatum: 1.5.2023). Diesen Trend zeigt auch der aktuelle Roman von Felicitas Hoppe: ›Die Nibelungen. Ein deutscher Stummfilm‹ (S. Fischer), der im Jahr 2021
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kungsästhetik hin befragt werden. Dabei wird das Cover (Abb. 1) des Bandes im Folgenden nicht mehr mitberücksichtigt.
Abb. 1: Gretel Hecht u. Wolfgang Hecht: Deutsche Heldensagen. Illustriert v. Burkhard Neie, Berlin 2018 (= NE): Cover.
für den Deutschen Buchpreis nominiert worden war. Einen Überblick über die neuesten Bearbeitungen des Nibelungenstoffs in der Fantasyliteratur, die eben diese derzeitige Beliebtheit der Heldensagen verdeutlicht, bietet Andrea Sieber: Zeitreisen zum Nibelungen-Mythos. Überlegungen zur Mara und der Feuerbringer-Trilogie von Tommy Krappweis, in: Die Literatur des Mittelalters im Fantasyroman, hg. v. Nathanael Busch u. Hans Rudolf Velten, Heidelberg 2018, S. 181–203. Der schwer greifbare Begriff der Populärkultur wird im Folgenden in Anlehnung an Simon Maria Hassemer: Das Mittelalter in der Populärkultur. Medien – Designs – Mytheme, Diss. Freiburg i.Br. 2014, S. 58, verwendet für diverse kulturelle Erzeugnisse, die in der Öffentlichkeit bekannt, beliebt und ohne Fachwissen verständlich sind und dementsprechend in großem Ausmaß rezipiert und produziert werden. Barbara Korte u. Sylvia Paletschek: Geschichte in populären Medien und Genres. Vom Historischen Roman zum Computerspiel, in: History goes Pop. Zur Repräsentation von Geschichte in populären Medien und Genres, hg. v. dens., Bielefeld 2009, S. 9–60, hier S. 14, stellen zudem heraus, dass Populärkultur vor allem Aufschluss über die Rezipierenden gibt: »Populäre Kulturproduktion artikuliert und befriedigt zeitgenössische Bedürfnisse«.
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Es zeigt auf der Vorderseite in einem goldenen Rahmen ein höfisch gekleidetes Paar im Comic-Look: Eine Dame bietet einem knienden Ritter ihre Linke zum Handkuss dar. Zwar setzt die Gestaltung des Covers bereits den visuellen Ton für die im Band folgenden Illustrationen (geometrische Formen, Dominanz von Rot und Gold, Hintergrund mit Holzoptik, Schwalbensilhouetten), aber der Einband weckt mit der Darstellung einer Liebesszene zugleich eine im Band nicht eingelöste Erwartung: In den Nacherzählungen zu Wieland, Walther, Dietrich von Bern und Hilde/Kudrun geht es zwar auch um Liebesbegehren, in erster Linie jedoch um die Selbstbehauptung im Kampf. Diese thematische Schwerpunktsetzung spiegelt sich im Inneren des Bandes vor allem in Neies düsteren, ganzseitigen Illustrationen, deren Aufbau, Motive und Darstellungsprinzipien Hauptgegenstand der folgenden Untersuchung sind. Um ihre Funktion im Kontext des Mediums Buch diskutieren zu können, werden zunächst die Texte und ihre Geschichte vorgestellt (ALH), bevor das Illustrationsprogramm erläutert wird (JM). I
Die deutschen Heldensagen von Gretel und Wolfgang Hecht
Die erste Ausgabe der Heldensagen von Gretel und Wolfgang Hecht versammelt die Nacherzählungen von Dietrich von Bern, den Nibelungen, Wieland, Walther und Hildegunde, Ortnit und Wolfdietrich sowie Hilde und Kudrun. Sie ist seit 1969 vielfach und in teils um den Abschnitt zu Ortnit und Wolfdietrich gekürzten Auflagen erschienen.3 Auch der Insel-Verlag verzichtet in der aktuellen Auflage auf diesen Stoff, ebenso wie auf das ›Nibelungenlied‹. Dessen Nacherzählung ist im Herbst 2019 (ebenfalls mit Illustrationen von Burkhard Neie) separat erschienen.4
3
Auf die erste Auflage aus dem Jahr 1969 vom Insel-Verlag Anton Kippenberg in Leipzig folgt im Jahr 1970 sowohl eine 2. Auflage ebd. als auch eine ebenfalls als 2. Auflage bezeichnete BRD-Ausgabe vom Frankfurter Insel-Verlag. Ebenso im Jahr nach der Erstauflage erscheint, wiederum in Frankfurt, eine aufwändig illustrierte Ausgabe bei der Büchergilde Gutenberg. Eine 3. Auflage der Leipziger InselAusgaben folgt im Jahr 1977. Die BRD-Ausgabe vom Frankfurter Insel-Verlag 1980 erscheint 2018 in der 12. Auflage, 1981 verlegt der Gustav Kiepenheuer Verlag den Text in Leipzig, 1987 der Verlag Neues Leben in Ost-Berlin. Als Jugendbücher werden die Texte ebenfalls vermarktet, und zwar vom Deutschen Taschenbuch Verlag unter dtv junior: 1. Auflage im Jahr 1978, 2001 bereits in der 16. Auflage.
4
Gretel Hecht u. Wolfgang Hecht: Die Nibelungen. Illustriert v. Burkhard Neie, Berlin 2019.
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Hecht und Hecht erklären in ihrem Nachwort zur Ausgabe von 1970,5 dass sie mit ihrer Nacherzählung Stoffe erneut bekannt machen möchten, die im Nationalsozialismus ideologisch einseitig beansprucht worden seien.6 Dazu würden sie auf »jene germanischen Heldensagen« zurückgreifen, »die als mittelhochdeutsche Heldenepen überliefert sind« (NW 390). Bei der getroffenen Textauswahl ist klar, dass sich dieser Anspruch nur bedingt durchhalten lässt: Die Nacherzählungen zu Wieland und zu Dietrich von Bern basieren als maßgebliche Quelle auf der altnordischen ›Thidrekssaga‹, für die Walther-Sage musste das mittelhochdeutsche Fragment durch das altenglische Fragment und den mittellateinischen Text ergänzt werden, als Grundlage für die Nacherzählung der ›Kudrun‹ dienen neben dem erst vom Anfang des 16. Jahrhunderts überlieferten Text des gleichnamigen Epos Hinweise auf die Hilde-Tradition bei Saxo Grammaticus und in der ›Jüngeren Edda‹.7 Diese Zeugnisse als Beleg für eine ›deutsche‹ Tradition zu werten, funktioniert nur, wenn man mit Hecht und Hecht bereit ist,8 eine kontinuierliche germanische Sagentradition dieser Stoffe anzuneh-
5
Alle Ausgaben des Hecht-Textes vor der hier besprochenen aus dem Jahr 2018 weisen ein Nachwort auf. Die Ausgaben, deren Zielgruppe Kinder und Jugendliche sein sollen, enthalten gekürzte Nachworte nach jeder Sagen-Nacherzählung. Dabei handelt es sich um Ausschnitte aus dem zusammenhängenden Nachwort der anderen Ausgaben.
6
Gretel Hecht u. Wolfgang Hecht: Nachwort, in: Deutsche Heldensagen, Frankfurt a.M. [u.a.] 1970, S. 380–419, im Folgenden zitiert unter der Sigle NW mit Seitenzahl. Hecht und Hecht erklären, das fehlende Interesse an Nacherzählungen deutscher Heldensagen sei »vor allem in den nationalistischen Bestrebungen zu suchen, die in der Vergangenheit in der deutschen Germanistik im Allgemeinen und in der Heldensagenforschung im Besonderen vorherrschten und in deren Dienst sich die Übersetzer deutscher Heldensagen nur allzu bereitwillig stellten. Sie minderten damit den literarischen und geistigen Wert ihrer Übersetzungen selbst herab.« (NW 408).
7
Der Nacherzählung der Wieland-Geschichte wird »die Thidrekssaga zugrunde gelegt, da sie trotz mancher märchenhafter, mitunter sogar schwankhafter Züge und trotz ihres aufgesetzt wirkenden harmonisierenden Schlusses die Grundmotive der alten Sage bewahrt hat« (NW 401); bzgl. ›Waldere‹ kommen die Autor*innen zu dem Ergebnis, dass der ae. ›Waldere‹ der ›älteste Text‹ sei (vgl. NW 403); der Hagenteil der ›Kudrun‹ wird ausgelassen: »Die Jugendgeschichte Hagens jedoch weist so deutliche epigonale Züge auf, daß auf sie verzichtet werden konnte« (NW 408).
8
NW 391: »All diese Heldensagen […] haben in der Völkerwanderungszeit ihren Ursprung.« Und: »Eine Sage bleibt nur dann lebendig, wenn sie weitererzählt wird. Sie verlangt also die aktive Mitwirkung des Publikums, und dieses Weiter-und-
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men, von der nur versprengte und vereinzelte Zeugnisse verschriftlicht worden seien.9 Schon die Zusammenstellung dieser Zeugnisse und der Versuch, bei Parallelüberlieferung nach der augenscheinlich ältesten Fassung zu entscheiden (vgl. NW 407), lässt erkennen, dass Hecht und Hecht im Bemühen, den nicht näher spezifizierten ›Sagenkern‹ zu bieten, die überlieferten Quellen für ihre Textwiedergaben bearbeitet haben. Dies setzt sich fort in der Streichung von Elementen, die von beiden als spätere Zutaten und damit nicht authentisch aufgefasst werden. So werden die im Mittelhochdeutschen ausführlichen Schilderungen von Festen und Kämpfen als im Zuge der hochmittelalterlichen Rezeption hinzugefügte ›Verritterlichung‹ ausgelassen, ebenso wie christliche Bezüge:10 Getilgt werden beispielsweise in der Nacherzählung der ›Kudrun‹ Redeformeln11 oder auch die Klostergründung der Hegelinge auf dem Wülpensant. Obwohl Hecht und Hecht die ideologische Beanspruchung der Heldensagen in den ihnen vorangehenden Anthologien ausdrücklich ablehnen, bleiben sie in Methode und Zielsetzung nahe an ihren Vorläufern aus dem 19. Jahrhundert: Der jeweils überlieferte Text wird nicht als eigenes historisches Zeugnis betrachtet, sondern auf die Frage hin ausgewertet, wie viel alter ›Kern‹ sich aus ihm ›herausschälen‹ lässt.12
Weitererzählen, noch dazu über Jahrhunderte hinweg, ist gleichbedeutend mit einer ständigen Neu- und Umformung des überlieferten Stoffes.« 9
Wenn man diesen Fragmenten somit einen Zeugniswert für eine deutsche Tradition zuspricht, ebnet dies außerdem den Weg zu einer Gleichung von ›germanisch‹ und ›deutsch‹, insofern weite Teile dieser europäischen Tradition als germanisch verstanden werden. Zu dieser Gleichung siehe den Beitrag von Heike Sahm in diesem Band.
10 »Die deutschen Heldensagen wurden während der Stauferzeit jedoch nicht nur verrittert, sondern auch verchristlicht, ja, man unterlegte ihnen bisweilen ausgeprägt kirchenpropagandistische Tendenzen […]. Auch diese Zusätze und Veränderungen fanden, soweit sie als solche erkennbar waren, in unsere Nacherzählung keine Aufnahme« (NW 412). 11 Beispielsweise finden sich Formulierungen wie des lône dir Krist (Str. 1067,1) des lône dir gôt (Str. 1703,4), nu gebiete ir got (Str. 1634,4), vil gotes armiu (Str. 1297,2), got lâze iu saelic sîn (Str. 1233,1), bî Krist[e] (Str. 1178,3 und 1179,4), ich wæene got von himele ræche dâ selbe sînen anden (Str. 845,4), daz wolte got von himele (Str. 383,4). 12 »Diesen Sagenkern galt es herauszuschälen. Seine epische Grundstruktur mit ihrem Handlungsgefüge und ihren Figuren, die Fabel mit ihren Hauptmotiven und
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Während andere Übertragungen der Nachkriegsjahre wie die von Auguste Lechner wiederholt Gegenstand wissenschaftlicher Auseinandersetzung gewesen sind,13 fand die Nacherzählung von Hecht und Hecht in der Forschung bislang keine Beachtung. Daher sollen ihre Übertragungsprinzipien im Folgenden am Beispiel der ›Kudrun‹ in aller Kürze vorgestellt werden. Zunächst ist bemerkenswert, dass die im mittelalterlichen Text wiederholt zu beobachtende unscharfe oder auch mehrfache Motivierung zugunsten einer ausdrücklichen und eindeutigen aufgegeben wird. Als Beispiel sei Kudruns Listhandeln vor ihrer Befreiung angeführt: In der Vorlage gibt Kudrun sich gegenüber Gerlint als schließlich doch heiratswillig aus; aber während sie von Herwic spricht, muss Gerlint glauben, dass Kudrun nun endlich bereit ist, ihren Sohn Hartmut zu heiraten: sô wil ich ê minnen
den ich versprochen hân.
ich wil daz künicrîche
ze Ormaniê bouwen. (Str. 1285,2f.)14
In der Nacherzählung dagegen wird die strategisch kluge Offenheit von Kudruns Formulierung hervorgehoben: »Doppeldeutig war Kudruns Rede. Während sie dabei an Herwig dachte, der schon mit seinem Heer heranrückte, um sie zu befreien, hatte Gerlind ihre Worte ganz anders verstanden« (NE 183f.). Solche Präzisierungen betreffen besonders oft die Motivierung von Entscheidungen, die in der Nacherzählung nicht oder nicht in erster Linie mit politischen Rücksichtnahmen, sondern individuell begründet werden: So betont das Epos, dass Hetel die ihm noch unbekannte Hilde statusgemäß (mit Krone auf dem Kopf und zwanzig Damen im Gefolge) antrifft, während die Nacherzählung die Entstehung der persönlichen Beziehung akzentuiert: »Die Königstochter aber fand er noch schöner, als sie ihm geschildert worden war; er schloß sie in die Arme und küßte sie« (NE 153). Ganz ähnlich wird die Hochzeit von Hartmut
-konflikten, der Gedankengehalt der Sage – das alles bildet die Grundlage unserer Nacherzählung.« (NW 410). 13 Vgl. Iris Mende: »Mir scheint, die Geschichte ist unter den Menschen doch nicht so richtig überliefert worden.« Die Nibelungen-Rezeption in der Kinder- und Jugendliteratur, in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 55 (2008), S. 414– 430, bes. S. 423; Ina Karg: Die Schüler bei der Stange halten? Nibelungenlied und Deutschunterricht, in: ebd., S. 400–413. 14 Die hier verwendete Ausgabe ist Kudrun, hg. u. übers. v. Uta Störmer-Caysa, Stuttgart 2010, die den mittelhochdeutschen Text nach der Ausgabe von Stackmann bietet: Kudrun, 5. Aufl., hg. v. Karl Bartsch u. Karl Stackmann, Wiesbaden 1965.
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und Hildburg bei Hecht und Hecht damit motiviert, dass »Hildburg […] am besten zu ihm passen [würde],« während die Vorlage allein auf die Zwecksetzung dieser Hochzeit, den Frieden dauerhaft zu garantieren, abhebt. In der Summe lassen diese und vergleichbare Fälle darauf schließen, dass Hecht und Hecht ihrer Nacherzählung eine strategische Entscheidung zugrunde legen, über individuelle emotionale Komponenten Handlung zu erklären und zu motivieren. Dem entspricht auch, dass die Nacherzähler*innen im Vergleich zum mittelhochdeutschen Text auffallend häufig auf interne Fokalisierung zurückgreifen. So werden Erfahrungen und Entscheidungen der Figuren für die zeitgenössische Leserschaft greifbar, während sie im mittelhochdeutschen Text im extern fokalisierten Bericht von Handlung oder in der Figurenrede (vgl. z.B. Str. 615 sô wil ich âne si niht beliben; NE 156 »Und er beschloß, mit einem Heer ins Hegelingenland einzufallen«) deutlich werden. Neben solchen Präzisierungen (vgl. auch NE 148 und Str. 391, NE 157 und Str. 649, NE 174 und Str. 1067, NE 196 und Str. 1700) ist zu beobachten, dass die Kommentare durch die Erzählinstanz oder Ana- und Prolepsen im mittelhochdeutschen Text von Hecht und Hecht konsequent (z.B. Str. 329,3 und NE 145) zugunsten einer chronologischen Erzählordnung ausgelassen15 und zudem zahlreiche Streichungen und Kürzungen vorgenommen werden. Insgesamt jedoch bleiben Hecht und Hecht recht nah am überlieferten Text. Auch wenn sie betonen, »den schmalen Grat zwischen den falschen Tönen einer unerlaubten Modernisierung und einer archaisierenden Überforderung der heutigen Sprache« nicht verfehlen (NW 410) zu wollen, verfallen die Autor*innen wiederholt in einen archaisierenden Duktus, wenn sie die Adjektive an den Satzanfang stellen (»Doppeldeutig war Kudruns Rede.«, NE 183f.) oder Apokopen ignorieren wie im »Lande« (NE 141; zweimal NE 145) und dem »Rate« (NE 142). Generell ist festzuhalten, dass der Insel-Verlag keine sprachliche Aktualisierung des Textes vorgenommen und nicht einmal die neue Rechtschreibung für die Texte eingeführt hat.16 Der 50 Jahre alte Text wirkt heute keineswegs so zeitgemäß, wie seine Verfasser ihn Ende der 60er-Jahre konzipiert hatten, weil die Nacherzählung erstens durch die dargelegten Strategien eine Archaisierung vornimmt, womit sie
15 Einzige Ausnahmen bilden NE 156f. und 160. 16 Dies ist auch deshalb interessant, weil es explizit nach der Rechtschreibreform überarbeitete Ausgaben für den Schulunterricht gibt. Zur Sprache in neuhochdeutschen Nacherzählungen und deren Archaisierungstendenzen vgl. den einleuchtenden Beitrag von Hans-Jürgen Bachorski: Brückenschlagen – Hakenschlagen. Erzählen über’s Mittelalter, in: Mitteilungen des deutschen Germanistenverbandes 30 (1983), S. 34– 41.
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in ihrer Entstehungszeit bereits unzeitgemäß ist, zweitens die fehlende Anpassung an die neue Rechtschreibung im 21. Jahrhundert eine antiquierte Wirkung erzielt. Eine Begründung des Verlags für die Auswahl gerade dieser Nacherzählungen von Hecht und Hecht wird in dem Band jedoch nicht gegeben, und der Verzicht auf das alle früheren Auflagen (mindestens in Auszügen) begleitende Nachwort lässt auch die darin besprochenen Fragen nach Auswahl, Quellen und Prämissen der Textgestaltung völlig offen. II
Die Illustrationen von Burkhard Neie
Das Illustrationsprogramm des Berliner Designers und Illustrators Burkhard Neie17 bestimmt nicht nur die Bild-, sondern auch die Textseiten. Deren visuelle Gestaltung mit rubrizierten Überschriften18, roten Blumenranken an den Seitenzahlen und ornamentalen Initialen erinnert auf den ersten Blick an die Gestaltung eines mittelalterlichen Codex (vgl. Abb. 2). Insbesondere die die Kapitel eröffnenden Schmuckinitialen präsentieren wie in Prachtcodices kleine Darstellungen reitender und kämpfender Ritter, aber auch Tier-Miniaturen19; freie Räume am Ende einer Textseite werden – wie in einer neuzeitlichen Form des horror vacui – von insgesamt 31 meist halbseitigen rot-goldenen Illustrationen gefüllt.20 Bei diesen vom Text umgebenen Illustrationen dominiert die konturierende Außenlinie, nur selten sind die dargestellten Umrisse flächig rot oder goldfarbig ausgefüllt. Die Bilder beziehen sich in ihrem oft symmetrischen Aufbau wiederholt
17 Neie entwirft u.a. Poster und Postkarten für Restaurants, T-Shirts oder Packungsdesign für Weinflaschen, hat sich aber auch bei überregionalen Zeitungen und Verlagshäusern einen Namen gemacht. Einen guten Einblick in seine Arbeit vermittelt sein Pinterest-Account, auf dem er seine Projekte öffentlich einsehbar präsentiert: www.pinterest.de/illluvator (Aufrufdatum: 1.5.2023). 18 Die verwendete Schrift wirkt altertümlich, weckt allerdings nicht so eindeutige Assoziationen wie jene Typografie, die Neie in den Illustrationen des im Herbst 2019 erschienenen ›Nibelungen‹-Bandes (vgl. Anm. 1) nutzt und die recht eindeutig auf Fritz Langs Stummfilm von 1924 verweist. 19 So sind z.B. ein Vogel (S. 12) oder ein Hund (S. 28) in den Initialen zu sehen. 20 Interessanterweise gibt es nicht nur auf den Textseiten, sondern im gesamten Buch keinen einfachen Weißraum – sogar die Seiten mit Verlags- und CopyrightInformationen wurden mit den charakteristischen ornamentalen Verzierungen, aber auch mit Elementen, die z.B. an die rotfigurige Vasenmalerei erinnern, versehen. Diese zusätzlichen Illustrationen wurden bei den oben erwähnten 31 Bildern, die den Text begleiten, nicht mitgezählt.
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auf die Bildsprache der griechischen und römischen Antike, die mit spielerischfloralen Elementen des Jugendstils verwoben wird.
Abb. 2: NE, S. 94–95.
Der bemerkenswerteste Baustein in Neies Illustrationsprogramm sind jedoch die ganzseitigen Bildseiten. Sie finden sich einerseits jeweils zu Beginn eines neuen Kapitels und präsentieren als Titelillustrationen einen ›Einblick‹ in den jeweils neuen Text, indem sie mit Vierpässen, Spitzbögen und Maßwerk an die gotische Sakralarchitektur angelehnte Fenster zeigen, in welchen schwarze Silhouetten von düsteren Gebäudesettings umfasst werden (vgl. Abb. 3). Die weiteren Bildseiten, die in die jeweilige Nacherzählung integriert sind, heben sich aufgrund ihres großflächigen, monochromen Gebrauchs dunkler Farben vom filigran und hell gestalteten Rest des Bandes ab; ihren Grund bildet (wie schon beim Cover) stets eine Holzmaserung.21 Diese collagenartigen Bildseiten bestehen meist aus
21 Vgl. Tilman Spreckelsen: Die Zornesglut, wen reizt sie denn? Burkhard Neie illustriert für die Insel-Bücherei eine Auswahl klassischer deutscher Heldensagen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (30.10.2018), S. 12, www.mandelbaum.at/docs /Frankfurter%20Allgemeine%20Zeitung%202018-10-30.pdf
(Aufrufdatum:
1.5.
2023). Er fühlt sich an die zwei bedeutenden mittelalterlichen Trägermedien Holz
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drei gerahmten Einzelbildern, die einander überschneiden und partiell von zusätzlichen Silhouetten überblendet werden. Eines der Einzelbilder nimmt als Hauptbild einen Großteil der Seite ein, während die kleineren Bilder andere Motive zeigen, die aber eine mit dem größten Bild konsistente Licht- und Farbstimmung aufweisen. Eines der kleinen rechteckigen Bilder präsentiert meist leicht identifizierbare Symbole wie Schlüssel (S. 66, Abb. 10), Schachfiguren (S. 107), bekrönte Schlange (S. 130), flammendes Herz (S. 181, Abb. 9) oder Feder (S. 198).22 Zusätzlich werden die drei Bilder der großen Bildseiten stets von Figuren- oder Gebäudeumrissen überlagert und von ornamentalen Rahmen eingefasst, sodass die Bilder im Lektüreprozess zum Verweilen und Entdecken einladen.23 Die Dominanz rechteckiger Einzelbilder, die von Rahmen begrenzt werden und sich damit oft überschneiden, ähnelt dabei den panels eines Comics.24 Offensichtlich diente der mittelalterliche Codex nicht als einzige Inspiration für das Layout der Bildseiten. Die Bilder beziehen sich selten konkret auf die im Text geschilderte Handlung: Auch wenn die Illustrationen der Wieland-Sage Referenzen auf die Schmiedekunst aufzeigen (vgl. Abb. 2) oder die der Hilde-Sage wiederholt Segelschiffe abbilden, bleibt der Text-Bild-Zusammenhang äußerst vage, sodass die Illustration viel mehr als atmosphärisch denn als szenisch zu bezeichnen ist. Was das Bildprogramm darüber hinaus leistet, soll im Folgenden exemplarisch anhand von Motivzitaten und Darstellungsprinzipien gezeigt werden.
und Gobelin erinnert, weil die Rahmungen der Bilder seiner Meinung nach geknüpft wirken. 22 Diese Symbole wecken Assoziationen an Wappenmotive oder gar Tattoos und passen weniger in eine mittelalterliche Heldenwelt, steigern hingegen mit ihrer Abstraktheit die emotionale Reaktion des (neuzeitlichen) Rezipierenden, was für die Bildsprache populärkultureller Medien charakteristisch ist. Vgl. Will Eisner: Graphic Storytelling and Visual Narrative. Principles and Practices from the Legendary Cartoonist, New York 2008 [1996], S. 15–16. 23 So denkt Douglas Wolk: Reading Comics. How Graphic Novels Work and What They Mean, Cambridge Mass. 2007, S. 129, zu den textlosen Seiten in Comics: »[R]eaders tend to hit the brakes when they encounter wordless sequences; a single image without text is read as a pause, and a longer sequence without text demands some scrutiny. Without language acting as a ›timer‹ or contextual cue for understanding the images, every visual change causes the reader to stop and assess what exactly is happening, and how long it’s supposed to take.« 24 Vgl. Randy Duncan [u.a.]: The Power of Comics. History, Form, and Culture, 2. Aufl., London 2015, S. 109.
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Abb. 3: NE, S. 6.
Abb. 4: NE, S. 139.
Charakteristisch für die großen Bildseiten sind zunächst die Architekturzitate, deren augenfälligste Vorlagen hier nur knapp benannt werden. So nimmt in Abb. 4 das Bild einer Burg drei Viertel der Seite ein. Unten wird es beschnitten von einem anderen viereckigen Bild, in dem goldene Waffen auf rotem Grund und der Oberkörper eines gerüsteten Ritters zu sehen sind. Auf dem gemusterten, goldenen Rahmen des Bildes reitet außerdem die Silhouette einer Figur, die eine Lanze in ihrer rechten Hand trägt und deren Kopf von einer feinen nimbusartigen Linie umgeben ist, deren Gestalt aber zugleich durchsichtig ist, sodass der Holzgrund der Seite hindurchscheint. Die komplexen Überlagerungen von Farben und Formen sollen hier übergangen werden; wesentlich ist, dass Burg Eltz in Rheinland-Pfalz als Vorlage für das Hauptbild gedient hat. Die bekannte Burg aus dem 12. Jahrhundert ist jedoch verfremdet, indem ihre prominenteste Ansicht gespiegelt wird, sodass sich die Fachwerktürme nun auf der rechten Seite der Burg befinden. Weil die Ebenen der Burg immer mehr verblassen, je weiter sie in den Bildraum hineinragen, erweckt diese Verblauung in die Bildtiefe zusätzlich den Eindruck, als ob die Burg im Nebel versinke.25
25 Vgl. Christian Rohr: Alles heldenhaft, grausam und schmutzig? Wie das Mittelalter in einem Nebel von Klischees versinkt, in: Alles heldenhaft, grausam und schmutzig? Mittelalterrezeption in der Populärkultur, hg. v. dems., Wien 2011, S. 343–350,
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Abb. 5: NE, S. 20.
Abb. 6: NE, S. 151.
In vergleichbarer Weise werden etliche andere Architekturzeugnisse verfremdend zitiert: So lassen sich im oberen Drittel von Abb. 5 die markanten Umrisse von Schloss Hohenzollern auf der Schwäbischen Alb erkennen. Zwar ist die Illustration geometrisch stark abstrahiert, doch lässt die charakteristische Anordnung der Türme eine Identifikation zu. Dieses Bauwerk präsentiert Neie ebenfalls nicht in Postkartenansicht, vielmehr wird dem Schloss eine Art düsterer Filter übergelegt.26 Als weitere Vorlagen für die Gestaltung von Architektur lassen sich mit jeweils unterschiedlicher Genauigkeit Schloss Neuschwanstein (S. 151, Abb. 6), die französische Klosterinsel Mont-Saint-Michel (S. 108, Abb. 8), das schottische Eilean Donan Castle (S. 6, Abb. 3) oder die Silhouette der Prager
hier S. 345, betont bezeichnenderweise, dass Nebel in Kinofilmen wie ›Der Name der Rose‹ oder ›Robin Hood‹ bevorzugt eingesetzt wird, um Szenen besonders mittelalterlich wirken zu lassen. 26 Dazu trägt die Dunkelheit eines Gemisches aus Schwarz, Grau und Anthrazit bei, die den Ritter und seine Umgebung ausmacht und dabei zwei Drittel der Bildfläche einnimmt. Der Hügel, auf dem der sich kaum vom Hintergrund abhebende Ritter steht, lässt sich auf den zweiten Blick als riesiger Helm erkennen, was dem Bild eine zusätzliche Düsternis verleiht – genau wie der bedrohliche rote Himmel, der die braunen Umrisse des Schlosses umgibt.
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Tynkirche (S. 121) ausmachen; andere Illustrationen verweisen weniger konkret auf den Treppengiebel des Lübecker Holstentors (S. 126) oder die Palazzi von Siena oder Florenz (S. 34). Zudem ist auf der ersten ganzen Bildseite (S. 19, Abb. 7) in einem der Bildfelder auf rotem Grund im Gegenlicht des Mondes die schwarze Silhouette eines Mannes mit Schwert und Umhang dargestellt, der auf einer steinernen Brücke steht, die einen Weg über eine mit Fichten bewachsene Schlucht schafft und an die Rakotzbrücke im sächsischen Kromlau erinnert. Bemerkenswert an diesen Architekturzitaten ist, dass sie sich nicht immer konkret belegen lassen, denn durch geometrische Vereinfachung, Verzerrung und Spiegelung wird eine eindeutige Identifikation der Vorlage oft erschwert. Außerdem ist auffällig, dass Neie seine Vorlagen nur teilweise aus dem Mittelalter bezieht, stattdessen aber (wie bei Neuschwanstein, Hohenzollern, Rakotzbrücke) eine Vielzahl historistischer Mittelalterentwürfe des 19. Jahrhunderts verwendet.
Abb. 7: NE, S. 19.
Abb. 8: NE, S. 108.
Noch deutlicher als diese Architekturzitate zeigen die Figurendarstellungen, dass Neie nur bedingt um die Fiktion einer ›authentischen‹ Darstellung des Mittelalters bemüht ist. Zur Repräsentation eines Herrschers im Rahmen der WielandSage fügt Neie ein Bild (S. 108, Abb. 8) ein, das auf ein Werk des amerikanischen Fotokünstlers Sandro Miller zurückgeht. Dieser proträtierte im Rahmen
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eines Kunstprojektes im Jahr 2011 den US-amerikanischen Schauspieler und Filmproduzenten John Malkovich als Heinrich VIII.27; die Fotografie orientiert sich wiederum offenkundig an Porträtbildnissen Hans Holbeins d.J. Dasselbe Verfahren wie bei den Architekturzitaten aufnehmend, verfremdet Neie die Vorlage digital durch geometrische Abstraktion28 und die Ergänzung von gotischen Gewölben und Architekturversatzstücken im Hintergrund. Dass Neie das Motivreservoir, aus dem er schöpft, um popkulturelle Anspielungen ergänzt, legt auch die Gestaltung der Frauenfigur nahe, die sich auf einer Bildseite im Hilde-Kudrun-Komplex findet (Abb. 9). Verschleiertes, gesenktes Haupt und Nimbus erinnern zunächst an eine Mariendarstellung, doch trägt diese Frau einen wehrhaften Brustpanzer und ein Schwert. Die Verknüpfung von madonnenhafter Jungfräulichkeit, die das weiche Antlitz und das Kopftuch suggerieren, mit kriegerischer Wehrhaftigkeit entspricht eher dem gängigen Bild der Johanna von Orléans,29 wie es in etlichen Filmen für Kino und TV30 oder im Vi-
27 Vgl. www.sandrofilm.com/slideshow-story/malkovich-sessions#img41 (Aufrufdatum: 1.5.2023). Die ›Malkovich Sessions‹ zeigen den Schauspieler in den unterschiedlichsten Posen und historischen Kostümen, u.a. als Adolf Hitler. 28 Dass Malkovich trotzdem eindeutig auszumachen ist, belegt auch die Rezension von Roland Gutsch: Vier Heldensagen voller Straftaten, in: Nordkurier (02.12.2018), www.nordkurier.de/kultur/vier-heldensagen-voller-straftaten-1199841 (Aufrufdatum: 1.5.2023). Abstrahierte Porträts berühmter Personen im Comic-Stil fertigt Burkhard Neie seit Jahren u.a. für das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung an. Diese Arbeiten teilt er auf seinem Pinterest-Account: www.pinterest.de/illluvator/myportraits (Aufrufdatum: 1.5.2023). Dass Neie eine tatsächlich existierende Fotografie als Grundlage seiner Illustration wählt, gibt Anlass, auch bei den weiteren Figuren, die im untersuchten Band mit erkennbaren Gesichtszügen dargestellt sind, nach bekannten Vorlagen zu suchen. So eindeutig wie im Fall Malkovichs erscheinen die restlichen Bilder zwar nicht, dennoch könnte z.B. das männliche Gesicht auf S. 129 an die Figur Denethor (gespielt von John Noble) im dritten Teil der ›Herr der Ringe‹Verfilmung von Peter Jackson (›Die Rückkehr des Königs‹, 2003) angelehnt sein; die Darstellung des rothaarigen Mannes auf S. 65 erinnert vielleicht an den irischen Schauspieler Jonathan Rhys Meyers, der in der BBC-Serie ›The Tudors‹ (2007– 2010) Heinrich VIII. mimte und in seinem Kostüm durchaus Ähnlichkeit mit Neies Ritterfigur hat. 29 Diese Ähnlichkeit betont in seiner Rezension auch Spreckelsen (Anm. 21). 30 Etwa der Kinofilm ›Joan of Arc‹ (dt. ›Johanna von Orleans‹) mit Ingrid Bergman aus dem Jahr 1948, der gleichnamige Film mit Milla Jovovich im Jahr 1999 in der Hauptrolle oder die TV-Serie ›Joan of Arc‹ (dt. ›Jeanne d’Arc – Die Frau des Jahrtau-
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deospiel31 wiederholt aufbereitet wurde. Daneben ist gleichermaßen eine Orientierung an einer jüngeren literarischen Figur des Fantasyromans denkbar: In Rick Riordans ›Magnus Chase und die Götter von Asgard‹32 tritt die junge Walküre Sam auf, die eine Rüstung und einen Hijab trägt.33
Abb. 9: NE, S. 181.
Abb. 10: NE, S. 66.
sends‹) mit Leelee Sobieski aus dem gleichen Jahr. Zu den Erinnerungskulturen rund um Jeanne d’Arc vgl. die ausführliche Studie von Wodianka (Anm. 2). 31 Vgl. Oliver M. Traxel: Medieval and Pseudo-Medieval Elements in Computer RolePlaying Games. Use and Interactivity, in: Studies in Medievalism XVI. Medievalism in Technology Old and New, hg. v. Karl Fugelso u. Carol L. Robinson, Woodbridge 2008, S. 125–142, hier S. 127, zu ›Wars & Warriors: Jeanne d’Arc‹ (Enlight, 2004), in welchem der oder die Spielende die Rolle Johannas als Heerführerin einnimmt. 32 Der englische Titel der Reihe lautet ›Magnus Chase and the Gods of Asgard‹, die drei Bände sind in den Jahren 2015–2017 erschienen. Die deutsche Übersetzung von Gabriele Haefs wird seit 2016 im Carlsen-Verlag herausgebracht. 33 Zwar sind die Romane Riordans nicht illustriert, doch auf der Webseite des Autors wird für die Figur Sam ein Bild präsentiert, das Neies Illustration durchaus ähnlich scheint, weil sie dieselbe charakteristische Kombination aus archaischer Rüstung und muslimischer Verschleierung aufweist. Vgl. http://rickriordan.com/character/samirah -al-abbas (Aufrufdatum: 1.5.2023).
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Mit den verfremdeten Zitaten mittelalterlicher Ikonen und der MittelalterRezeption eröffnet Neie ein reizvolles Spiel34 mit Assoziationen. Dabei geht es keineswegs um die historische Rekonstruktion eines mittelalterlichen Settings – etwa aus der Zeit der Stoff- oder Textentstehung –, denn Neie bezieht in seinen Vorlagen-Fundus neben mittelalterlichen Zeugnissen unterschiedlicher Jahrhunderte und Regionen besonders Zeugnisse eines Mittelalterbildes von der Romantik bis in die gegenwärtige Populärkultur ein. Neben der geometrischen Abstraktion, der Grundierung durch Holzmaserung und zahlreichen weiteren oben bereits ausgeführten Darstellungsprinzipien fällt vielleicht die Dominanz der dunklen Farbtöne am stärksten auf. Wie bereits das Cover (Abb. 1) andeutet, sind die ganzseitigen Bildseiten überwiegend grau, schwarz, braun, dunkelblau, dunkelgrün und rot gehalten, Farben, die großflächig und monochrom die collagenartigen Bildseiten dominieren, deren Farbgebung und Stimmung über die Einzelbilder hinaus immer kohärent sind. Die Monochromie trägt, zusammen mit der abstrakten, kontrastreichen Darstellung von Verletzungen und Waffen sowie den ornamentalen und floralen Elementen, dazu bei, dass die Wirkung dargestellter Gewalt abgemildert wird;35 zudem sind die kämpfenden Krieger gegenüber den Rittern in Denker- und Beobachterpose in der Minderzahl. Trotz dieses aus mediävistischer Perspektive eher als höfisch zu bezeichnenden Settings bedient die durch Farben und nächtliche Silhouetten verdunkelte Szenerie eher die Erwartungshaltung des ›anderen‹ Mittelalters jenseits der wissenschaftlichen Auseinandersetzung,36 die einen Fokus auf Gewalt, Selbstjustiz, Rache- und Vergel-
34 Nach Rohr (Anm. 25), S. 350, lässt sich ein Großteil der populärkulturellen Mittelalterrezeption als Spiel deklarieren, was auch Zeppezauer (Anm. 2) in ihrem Beitrag im selben Band darlegt. 35 Dieses Prinzip ist aus dem Comic bekannt: In Frank Millers Comic-Serie ›Sin City‹ (Dark Horse, 1991–1992) und den gleichnamigen Verfilmungen, die fast gänzlich in schwarz-weiß gehalten sind und nur minimalen Einsatz auffälliger Primärfarben aufweisen, wirkt z.B. fließendes Blut viel weniger drastisch. Hingegen wird im ebenfalls von Burkhard Neie illustrierten ›Nibelungen‹-Band, der im September 2019 erschienen ist (vgl. Anm. 1), die Hecht’sche Nacherzählung von roten Klecksen, Tropfen und Verschmierungen begleitet, womit die Anspielungen auf die blutige Handlung unverkennbar sind. 36 Ernst Voltmer: Das Mittelalter ist noch nicht vorbei… Über die merkwürdige Wiederentdeckung einer längst vergangenen Zeit und die verschiedenen Wege, sich ein Bild davon zu machen, in: Ecos Rosenroman. Ein Kolloquium, hg. v. Alfred Haverkamp u. Alfred Heit, München 1987, S. 185–228, hier S. 208, beschreibt den essentiellen Unterschied zwischen dem Mittelalter mediävistischer Experten und populär-
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tungshandlungen suggeriert. Und ganz offensichtlich verdankt sich die Düsternis nicht der genauen Auseinandersetzung mit dem Text, sondern der anschlussfähigen Aufnahme populärkulturell etablierter Darstellungskonventionen und ihrer digitalen Verfremdung. Abstrakte Dunkelheit wird auch dadurch vermittelt, dass die Gesichter der dargestellten Figuren selten und wenn, dann in einer Art kubistischer Entfremdung,37 gezeigt werden, da Neies Illustrationen vorwiegend Rückenfiguren oder Silhouetten präsentieren. Dabei orientiert er sich erneut an der Romantik, was besonders bei der Darstellung des Ritters, der blaue Gipfel in der Ferne betrachtet (S. 66, Abb. 10), deutlich wird. Die Komposition ist an Caspar David Friedrichs ›Wanderer über dem Nebelmeer‹ angelehnt;38 lediglich der Gehstock des
kulturell geprägter Laien folgendermaßen: »›Anderes‹ Mittelalter, das meint, im Gegensatz zu dem ›offiziellen‹, akademischen der Fachleute, das Mittelalter bzw. die Vorstellungen davon, die, weit verbreitet, daneben existieren, in der Form von kulturellem Allgemeingut, populär, vereinfacht und häufig auch verzerrt, wie sie durch die Massenmedien, Literatur, Theater, Kino, Fernsehsendungen, Zeitungen, Illustrierte, Comics, die bildende Kunst, Architektur und manchmal auch am Stammtisch oder durch die Werbung vermittelt werden.« 37 So etwa bei dem älteren Mann mit dem grauen Bart auf S. 19, dem rothaarigen Ritter auf S. 65, dem Tempelritter im Glockenturm auf S. 107 oder den Frauenfiguren (S. 181, Abb. 9). Kubistisch wird hier als Behelfsbegriff gewählt, um die ›eckige‹ Gestaltung der Figuren und Gesichter zu greifen. Diese erinnern aber nicht nur an die Kunst des frühen 20. Jahrhunderts, sondern auch an einen populärkulturellen Einrichtungstrend aus dem 21. Jahrhundert: Bastelsets für plastische Tierköpfe aus Papier, die wie Jagdtrophäen an die Wand gehängt werden können, erfreuen sich neuerdings großer Beliebtheit (vgl. etwa www.papertrophy.com (Aufrufdatum: 1.5.2023)): Die intendierte kantige Struktur der Tierköpfe kreiert durch unterschiedliche Lichteinfälle Farbabstufungen, die auch in Neies Figurendarstellungen charakteristisch sind. Derselbe Stil findet sich außerdem auf manchen Comicbuch-Covern, die zur erfolgreichen Videospiele-Reihe ›Assassin’s Creed‹ erschienen sind, die Neie womöglich als Inspiration diente, vgl. hierzu unten in diesem Beitrag. 38 Vor allem dieses Bild des deutschen Malers ist nach Christian Scholl: Caspar David Friedrich und seine Zeit, Leipzig 2015, S. 129, »zum festen Bestandteil des kollektiven Bildgedächtnisses« geworden, sodass Neies Rückenfigur, die neblige Berge betrachtet, bei vielen Betrachterinnen und Betrachtern eine Bilderinnerung an die Romantik wecken dürfte. Zugleich greift Neies Version des Wanderers als Ritter die Ästhetik des japanischen Farbholzschnitts auf, indem sie für die verspielte Gestaltung des bläulichen Gebirges und des Himmels die ›Große Welle vor Kanagawa‹ (1830–
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Wanderers wird hier in das erhobene Schwert des Ritters verwandelt. Doch die Rückenfigur ist keine kompositorische Eigenart der Romantik allein,39 sie lebt weiter in der Bildsprache amerikanischer Superhelden-Comics und von deren
32) der ›36 Ansichten des Berges Fuji‹ von Katsushika Hokusai anzitiert. Die Vermischung dieser kunsthistorisch bedeutsamen Werke, die beide in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden, offenbart, dass die Ästhetik der Romantik und des Jugendstils als maßgebliche Inspirationsquelle für den Illustrator gedient haben muss. Ähnlich präsentiert zudem die halbseitige Illustration auf S. 88 einen Landschaftsausschnitt, der den Kreidefelsen auf Rügen nachempfunden zu sein scheint – ein Motiv, das Caspar David Friedrich ebenfalls gemalt hat. Die Jugendstil-Referenzen zeigen sich nicht nur in den zahlreichen organisch-ornamentalen Verzierungen, die sich vor allem in den halbseitigen rot-goldenen Illustrationen finden, sondern zudem an der lesenden Frauenfigur auf S. 169, deren verschlungen schwebende Haare an Aubrey Beardsleys Illustrationen zu Oscar Wilde und Edgar Allan Poe erinnern. 39 Einen Vergleich zwischen Comic-Ästhetik und berühmten Werken der Kunstgeschichte ziehen Duncan [u.a.] (Anm. 24), S. 215, wenn sie ausgewählte CoverIllustrationen Michelangelos ›Pietà‹ gegenüberstellen, um deutlich zu machen, dass Comics auf kulturell etablierte Bildmuster rekurrieren. Ähnlich führt Christine Gundermann: Inszenierte Vergangenheit oder wie Geschichte im Comic gemacht wird, in: Ästhetik des Gemachten. Interdisziplinäre Beiträge zur Animations- und Comicforschung, hg. v. Hans-Joachim Backe [u.a.], Berlin 2018, S. 257–284, hier S. 266, für den Geschichtscomic aus, dass »auch Ikonen, also meist Personen, die in einer bestimmten Inszenierung für historische Ereignisse aber auch spezifische Werte und Vorstellungen stehen, im Comic zur Simulation von Vergangenheit verwendet [werden]. Je nach inszenierter Zeit können dies etwa Adaptionen von Plastiken, berühmte Gemälde oder auch Fotografien sein.« Eine »Oszillation nicht nur zwischen Literatur und Malerei, sondern auch zwischen den Ästhetiken des Schönen und Erhabenen sowie des Grotesken« sieht auch Arno Meteling: Splash Pages. Zum graphischen Erzählen im Superhelden-Comic, in: Bilder des Comics. Beiträge der 5. Jahrestagung der Gesellschaft für Comicforschung, hg. v. Stephan Packard, [o.O.] 2012, S. 1–29, hier S. 19, als Charakteristikum des Superhelden-Comics. In Neies Illustrationen zeigen sich diese Bezüge auf bekannte Typen der Kunst etwa an dem unteren kleinen Bild in Abb. 7, das zwei kompositorisch prägnante Figuren der berühmten ›Erschießung der Aufständischen‹ (1814) von Francisco de Goya übernimmt; oder an den geflügelten Männerfiguren in der kleinen Illustration auf S. 115 und der ganzseitigen auf S. 198, die auf die Ikonographie zum bekannten Mythos von Dädalus und Ikarus anspielen (und damit natürlich zugleich eine Brücke zum Wieland-Stoff schlagen).
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Verfilmungen.40 Spider-Man (Marvel), Batman (DC) oder Daredevil (Marvel)41 wählen – ganz ähnlich wie Neies in der Tradition der Romantik stehende Ritter –
40 Der Typus des Superhelden, wie er in jenen Comics dargestellt wird, die Ähnlichkeiten mit Neies Illustrationen aufweisen, ist eine amerikanische Kreation, vgl. Duncan [u.a.] (Anm. 24), S. 225, weshalb die ebenfalls sehr populären franko-belgischen und japanischen Comics in diesen Überlegungen ausgeblendet werden können. Eisner (Anm. 22), S. 74, führt den Typus des amerikanischen Superhelden im Kostüm auf die Muskelmänner im Zirkus zurück, zugleich sind ihre Qualitäten von den Heroen griechischer, römischer und nordischer Mythologie sowie mittelalterlicher Epen inspiriert (vgl. Lukas Etter [u.a.]: Einleitung, in: Reader Superhelden. Theorie – Geschichte – Medien, hg. v. dens., Bielefeld 2018, S. 11–24, hier S. 22). Thomas Nehrlich: Vorläufer in der Literatur- und Kulturgeschichte. Einführung, in: Etter [u.a.] (Anm. 40), S. 27–33, hier S. 27, versteht u.a. Dietrich von Bern, Hagen, Hildebrand und Siegfried als Heldenfiguren, die sich in die Konzeption neuzeitlicher Superhelden eingeschrieben haben – sodass Nehrlich (ebd. S. 32) sogar Siegfrieds Tarnkappe als Vorläufer der Gadgets interpretiert, derer sich die Superhelden des 20. Jahrhunderts bedienen. Einen Fokus auf mystisch-geheimnisvolle Vorzeiten versteht auch Barbara Grisch von Ah: Artus im New Age. Artusrezeption in Science Fiction und Fantasy-Comics, in: Mittelalter-Rezeption V. Gesammelte Vorträge des V. Salzburger Symposions (Burg Kaprun, 1990), hg. v. Ulrich Müller u. Kathleen Verduin, Göppingen 1996, S. 365–382, hier S. 365, als Grund für die Vielzahl an Mittelaltercomics, die es mittlerweile »wie Sand am Meer« gebe. Ein entscheidender Unterschied zwischen den Helden der Vormoderne und des Comics allerdings ist, dass die Superhelden der Neuzeit meist selbstlos und altruistisch gegen das Böse kämpfen (vgl. Peter Coogan: Die Definition des Superhelden. The Definition of a Superhero [2009]. Übers. v. Yvonne Knop, in: Etter [u.a.] (Anm. 40), S. 85–109, hier S. 86), während in der Heldenepik vorwiegend Rache, Machtausbau und Herrschaftslegitimierung die Motivationen der Kriegerhelden sind. Es ließe sich für die Heldenfiguren des Comics darum mit Horst-Burkhardt Krause: Mittelalter in Sprechblasen. Zur Rezeption des Mittelalters im Comic, in: Mittelalter-Rezeption II. Gesammelte Vorträge des 2. Salzburger Symposions ›Die Rezeption des Mittelalters in Literatur, Bildender Kunst und Musik des 19. und 20. Jahrhunderts‹, hg. v. Jürgen Kühnel [u.a.], Göppingen 1982, S. 281–300, hier S. 296, von einer doppelten Identität zwischen alter und neuer Welt sprechen. 41 Bei diesen drei Figuren handelt es sich um Comichelden der Nachkriegszeit, deren Konzeption aber auf bereits etablierte Heldentypen rekurriert, denn die Geschichte des Comics beginnt schon im späten 19. Jahrhundert mit illustrativen Strips als Sonntagsbeilagen in Zeitungen und wird 1938 mit dem ›Action Comic #1‹, in dem Su-
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erhöhte architektonische Punkte, von denen aus sie als »eerie figure of the night«42 ihre Umgebung observieren. Burkhard Neie greift auf solche Stereotype43 und zahlreiche weitere Elemente der Comic-Ästhetik44 zurück, wenn etwa in
perman erstmals auftritt, zum erfolgreichen Massenphänomen, vgl. Duncan [u.a.] (Anm. 24), S. 16f.; Paul Lopes: Demanding Respect. The Evolution of the American Comic Book 2009, S. 2f. Bei der Ähnlichkeit der amerikanischen Comicfiguren mit Neies stereotypisierten Ritterhelden sollte bedacht werden, dass Superhelden-Comics nach Etter [u.a.] (Anm. 40), S. 13, »seit jeher zu propagandistischen Zwecken genutzt und in ideologischen Konflikten, in heißen und kalten Kriegen als patriotische Vermittlungsmedien« inszeniert wurden. 42 So wird nach Duncan [u.a.] (Anm. 24), S. 31, die Essenz der Batman-Figur beschrieben. Gerade solche Rückenfiguren sind besonders geeignet, um die imaginative Beteiligung der Rezipierenden zu erhöhen, denn Meteling (Anm. 39), S. 7, betont, »dass der Betrachter sich umso mehr mit einer Figur identifiziert, je abstrakter sie gezeichnet ist«, sodass (nach Scott McCloud: Understanding comics. The invisible art, New York 1994, S. 36f.) von einer »Maske« des Betrachters gesprochen werden könne: »Diese meint eine begrenzte Projektionsfläche, eine Figur, die auf diese Weise zu einer größeren Identifizierung aufruft.« Darum folgert wohl auch Spreckelsen (Anm. 21) für Neies Illustrationen: »Auffällig ist die Vorliebe des Illustrators für Silhouetten, die, weil sie in alle Richtungen auszudeuten sind, dieses Weiterspinnen des Erzählfadens befördern.« 43 Stereotype, die an das Gedächtnis der Rezipierenden appellieren, nach Übereinstimmungen zu suchen, scheinen ganz besonders nützlich, um Heldenbilder zu kreieren, weil sie eine größtmögliche Projektionsfläche bieten. Duncan [u.a.] (Anm. 24), S. 114, zur Relevanz der Stereotype im Comic: »Since everything in comic books, including character, is reduced to two-dimensional images, the use of s t e r e o t y p e s is prevalent. A stereotype is a recognizable generalization of a type. Especially when the art style moves away from realism and into caricature, generalizations about characters can be quickly established. The generalizations can be based on physique, hair, posture, clothing and other artifacts, and especially on facial features« [Hervorhebung im Original]. Die Stereotype im Comic sind für die assoziative Verknüpfung mit der Erinnerung der Rezipierenden unabdingbar, was Eisner (Anm. 22), S. 11, folgendermaßen beschreibt: »Comic book art deals with recognizable reproductions of human conduct. Its drawings are a mirror reflection, and depend on the reader’s stored memory of experience to visualize an idea or process quickly. This makes necessary the simplification of images into repeatable symbols. Ergo, stereotypes.« Mit einem vergleichbaren Erinnerungsbegriff argumentiert auch Meteling (Anm. 39), S. 29.
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Abb. 11 ein Ritter zu Pferd auf einem gotischen Torbogen steht und diesen bewacht.45 Im 21. Jahrhundert wird diese konventionelle Form ikonischer HeldenÄsthetik zusätzlich in Videospielen mit Mittelalter-theme46 wie in der seit 2007
44 Neben den omnipräsenten »Maskierungseffekten« (Thomas Nehrlich: Definitionsansätze. Einführung, in: Etter [u.a.] (Anm. 40), S. 79–83, hier S. 83), die Neies wiederholt als Silhouetten gezeigte Heldenfiguren für die Rezipierenden unkenntlich werden lassen, präsentieren die Illustrationen zudem muskulöse Männlichkeit (z.B. Silhouetten eines Schmiedes, Abb. 2), Anspielungen auf die Antike (Schild mit geflügeltem Amor, S. 54; Dame mit Lorbeerkranz, S. 174), starke perspektivische Untersicht (Ritterfigur, Abb. 4) und den intensiven Gebrauch der Primärfarbe Rot. Es ließe sich sogar überlegen, ob die siebzehn seitenfüllenden Illustrationen als splash pages in Analogie zur Comic-Ästhetik zu deuten wären, weil sie ebenfalls, wenn auch abgeschwächt, »den anatomischen Realismus verlassen und die hypertrophierten Muskeln oder eine unnatürliche Verstreckung in bestimmten Kampfposen betonen« (Meteling (Anm. 39), S. 5). Aufgrund des Booms, den vor allem Superhelden-Filme nach den Anschlägen vom 11. September erleben und der sich auch auf archetypische Heldenfiguren und ihre Vergangenheiten überträgt (dies folgert etwa Kathleen Forni: Beowulf’s Popular Afterlife in Literature, Comic Books, and Film, New York 2018, S. 98, für die Rezeption des ›Beowulf‹), scheinen die Comichelden ein idealer assoziativer Nährboden für jene Helden-Ästhetik zu sein, die Neie in seiner Darstellung wählt. 45 Diese Abbildung geht auf eine Illustration des rumänischen Concept Designers Ioan Dumitrescu von 2012 zurück, die hier abermals gespiegelt erscheint (vgl. www.artstation.com/artwork/90PNQ (Aufrufdatum: 1.5.2023)). Das grüne und gelbe Laub in Dumitrescus Variante ist von Neie durch vollständige Entsättigung verfremdet, das Schiffswrack im Vordergrund wird zu einer düsteren Silhouette und der Kopf des Ritters ist von einer nimbusartigen Linie umrahmt. 46 Medievally themed video games gibt es seit den frühen 1980er Jahren, in denen zunächst erfolgreiche Brettspiele wie ›Dungeons & Dragons‹ digital aufbereitet wurden (vgl. Willibald Kraml u. Elisabeth Werner: Computer-Aventiuren, in: Gesammelte Vorträge des 3. Salzburger Symposions: ›Mittelalter, Massenmedien, Neue Mythen‹, hg. v. Jürgen Kühnel [u.a.], Göppingen 1988, S. 609–626, hier S. 611f.). Florian Schwarzwald: Mord, Pest und Verrat. Das Mittelalter in Computerspielen, in: Rohr (Anm. 25), S. 251–262, hier S. 261, stellt heraus, dass bereits in den 1990er Jahren ein Fünftel aller Videospiele im mittelalterlichen bzw. historischen Setting angesiedelt war. Seither erfreuen sich diese Spiele zunehmender Beliebtheit, vgl. Traxel (Anm. 31), S. 125, wobei ›Assassin’s Creed‹ das erfolgreichste Spiel des Genres ist, vgl. Hassemer (Anm. 2), S. 230–233. Aufschlussreich sind diese Spiele im Kontext
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produzierten Serie ›Assassin’s Creed‹ (UbiSoft) weitergeführt, in der rückansichtige, erhöht positionierte Kämpferfiguren – für eine »Kulissenauthentizität«47 in Kombination mit realistisch wirkenden Stadtansichten – inszeniert werden.48 Auf Anleihen in der Populärkultur scheint auch das besonders charakteristische Darstellungsprinzip zurückzugehen, dass die Köpfe der Ritter- oder Kriegerfiguren häufig mit nimbusartigen Kreisen versehen sind (Abb. 2, 4, 7, 9). Zwar sind solche Nimben zunächst aus der Ikonographie mittelalterlicher Heili-
der Mittelalterrezeption auch deshalb, weil sie »in erheblichem Ausmaß von etablierten Mittelaltertopoi profitieren«, wie Carl Heinze: Mittelalter Computer Spiele. Zur Darstellung und Modellierung von Geschichte im populären Computerspiel, Bielefeld 2012, S. 15, betont. Der Concept Designer Ioan Dumitrescu, dessen Illustration Neie in Abb. 11 verfremdet, ist in die ästhetische Gestaltung von Blockbustern, die auf Computerspielen basieren (z.B. ›Assassin’s Creed‹ (2016) und ›Dungeons & Dragons‹ (2023)) involviert, was die gattungsübergreifende Beeinflussung dieser spezifischen Bildsprache eindrücklich demonstriert. 47 Heinze (Anm. 46), S. 183. 48 Florenz, Jerusalem, Athen oder Paris erscheinen darin digital detailliert nachgebildet, die architektonischen Sehenswürdigkeiten und Charakteristika des jeweiligen Kulturkreises sind stets eindeutig auszumachen, vgl. Hassemer (Anm. 2), S. 263, und Heinze (Anm. 46), S. 175, sodass sie den Erwartungen der Rezipierenden entsprechen und den Spielenden eine intensive, realistisch-wirkende Immersion ermöglichen (vgl. Angela Schwarz: »Wollen Sie wirklich nicht weiter versuchen, diese Welt zu dominieren«. Geschichte in Computerspielen, in: History goes Pop. Zur Repräsentation von Geschichte in populären Medien und Genres, hg. v. Barbara Korte u. Sylvia Paletschek, Bielefeld 2009, S. 313–340, hier S. 334), wenngleich die realhistorischen Referenzen nicht als Authentifizierungsstrategie gedeutet werden sollten, vgl. Hassemer (Anm. 2), S. 272, sondern eher als »Authentizitätsfiktionen« (Heinze (Anm. 46), S. 174): Es geht den Spielen nicht darum, historische Realität abzubilden, sondern eine unterhaltsame Geschichte in einer kohärenten, glaubwürdigen Welt vergangener Zeit zu verorten (dennoch geben sich die meisten im Mittelalter situierten Videospiele große Mühe, Anachronismen wie fließendes Wasser oder Schießpulver zu vermeiden, vgl. Traxel (Anm. 31), S. 131). Ähnlich äußert sich Gundermann (Anm. 39), S. 266, über das vergleichbare Beispiel des Geschichtscomics: »Ganze landschaftliche und architektonische Settings können ebenso verwendet werden, um Authentizität zu simulieren. [...] Dabei gilt, dass das gezeigte Ambiente nicht fotorealistisch und auf Grundlage intensiver Recherche wiedergegeben werden muss, sondern vor allem den Erwartungen der Rezipient_innen über die gezeigte Zeit und den Ort entsprechen müssen« [Kursivierung im Original].
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gendarstellungen bekannt; sie treten aber auch im Comic auf, hier in der Regel als Silhouette vor dem Mond motiviert. In Neies Bildern lässt sich eine solche physikalische Begründung nicht immer ausmachen,49 die Nimben scheinen vielmehr stereotypes Attribut der dargestellten Figuren zu sein, mit dem diese offensichtlich als ›mittelalterliche Helden‹ ausgezeichnet werden. Neben der Orientierung an Motiven und Gestaltungsprinzipien der spätmittelalterlichen Kunst und ihrer Rezeption in der Romantik sind also diverse medial populäre Darstellungskonventionen für Neies Illustrationsprogramm bestimmend.
Abb. 11: NE, S. 88–89.
Indem der Illustrator Ikonen und Darstellungsprinzipien des Mittelalters mit ihrer romantischen und popkulturellen Verarbeitung koppelt, ist der Band mehr-
49 Allerdings zeigen die ebenfalls im Insel-Verlag mit Illustrationen von Burkhard Neie erschienenen ›Deutschen Balladen‹ häufig dunkle Silhouetten vor einem übergroßen Mond (vgl. dazu www.pinterest.de/illluvator/my-magazine-book-illustrations (Aufrufdatum: 1.5.2023)), sodass angenommen werden kann, dass es sich hier um ein favorisiertes Motiv des Illustrators handelt, das er vielleicht in den ›Deutsche Heldensagen‹ weiterentwickelt und auch in der Illustration des nachfolgenden ›Nibelungen‹Bandes von 2019 beibehält, in dem er sogar eine Eule (S. 10) und einen Raubvogel (S. 15) mit Nimbus versieht.
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fach adressiert: Es lassen sich in den Bildern verfremdete Anklänge an antike Symmetrie und an Comic, an Gotik und Romantik, an Fantasy-Literatur und Film50, an Jugendstil und Streetart51, an berühmte Maler, aber auch an Disney52 erkennen.53 Das Bildgedächtnis des Publikums kann also differenziert, das heißt durch die mittelalterlichen Artefakte ebenso wie durch deren romantische oder postmoderne Rezeption, angesprochen werden, sodass das ikonisch Heldenhafte für alle Rezipierenden nachvollziehbar ist, ganz gleich, ob sie mit kunsthistorischer Allgemeinbildung oder Videospielerfahrung an die Bilder herantreten. Mit
50 Manche der kleinen Bilder auf den großen Bildseiten zeigen menschliche Gesichter in extremen Close-Ups, wie sie aus dem Film bekannt sind, so etwa in Abb. 9 und 10. 51 Der Illustrator präsentiert auf seinem Instagram-Account (www.instagram.com /burkhard_neie (Aufrufdatum: 1.5.2023)) regelmäßig Fotografien von Berliner Straßenkunst; vor allem stencils und paste-ups scheinen seine Aufmerksamkeit zu wecken. Die starken Kontraste und der blockhafte Einsatz von Primärfarben der Streetart lassen sich in Neies Illustrationen wiederfinden und könnten ihm somit als Inspiration gedient haben: So greifen Details wie etwa die Haare der Frauenfigur, die auf S. 141 das ›Hilde und Kudrun‹-Kapitel einleitet, die Ästhetik der typischen HaarGestaltung El Bochos auf, dessen Kunst in Berlin omnipräsent ist und von Neie häufiger fotografiert wurde. 52 U.a. weisen die Schlösser in den berühmten Disney-Filmen ›Dornröschen‹ und ›Schneewittchen‹ Ähnlichkeiten mit Neies vieltürmigen Burganlagen auf. Zur Mittelalterrezeption in Filmen und Zeichentrickserien aus dem Hause Disney vgl. Tobias Enseleit: »Magic and Mystery are Part of their History«. Disneys ›Die Gummibärenbande‹ als Geschichtsimagination und als Imagination von Geschichte, in: Enseleit/ Peters (Anm. 2), S. 87–145, hier S. 91f. 53 Damit bedient Neies Illustrationsprogramm beinahe alle Aspekte, die Voltmer (Anm. 36), S. 209, schon über 30 Jahre zuvor als für das Laien-Mittelalter typisch aufgelistet hat: »Das ›andere‹ Mittelalter führt […] unmittelbar in den Bereich der WeltAnschauungen, der Vorurteile, Klischees und Stereotypen, des Kollektiven Unbewußten, der Mythen und Bilderwelten, der Visionen und Träume, Sehnsüchte und Ängste, Hoffnungen und Utopien. Wo, ob ›verfinstert‹ oder romantisch verklärt, sicherlich vieles, nicht nur die Zeitrechnung, ganz schön durcheinandergewirbelt und entstellt, Phantastisches mit Realem verwechselt, alles in einen Topf geworfen wird: Robin Hood und Richard Löwenherz, Jeanne d’Arc und Blaubart, Wilhelm Tell und der heilige Benedikt, edle Kreuzfahrer, finstere Raubritter, revoltierende Bauern, schmachtende Burgfräulein und Minnesänger, Attila und Prinz Eisenherz, Hexen und Scheiterhaufen, Folterwerkzeuge und Neuschwanstein, Gotik und Disneyland.«
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diesem Vergangenheit evozierenden Zugriff erträumt54 Burkhard Neie ein neues, aber dennoch mit zahlreichen populärkulturellen Annahmen übereinstimmendes Mittelalter, das ein Gefühl von Historizität vermittelt, um eine aktualisierende und – durch die skizzierten Mittel der Verfremdung – zugleich distanzierende Präsentation des Stoffes für die Sehgewohnheiten des 21. Jahrhunderts zu entwerfen.55
54 Vergleichbar urteilt Krause (Anm. 40), S. 297, über die Comic-Reihe ›Prince Valiant‹ (dt. ›Prinz Eisenherz‹, seit 1937), in der literarische Elemente aus der Artusepik, historische Fakten und mythische Heldentypen vermischt werden: Die Comics seien »viel weniger Mittelalter als vielmehr ein Traum vom Mittelalter des Nordamerikaners Hal Forster«. Ähnlich versteht Voltmer (Anm. 36) auch Umberto Ecos ›Der Name der Rose‹ (natürlich in Bezug auf dessen berühmte Schrift ›Zehn Arten, vom Mittelalter zu träumen‹) als Traumgebilde. Weitere Korrelationen von Traum und Mittelalterrezeption arbeiten Andrea Sieber u. Michael Mecklenburg: Mythenrecycling oder kollektives Träumen? Überlegungen zur Mittelalterrezeption im Film, in: Bilder vom Mittelalter. Eine Berliner Ringvorlesung, hg. v. Volker Mertens u. Carmen Stange, Göttingen 2007, S. 95–136, heraus. Enseleit u. Peters (Anm. 2), S. 4, verstehen weniger einzelne Autoren als die Gesamtheit der Medien als Urheber populärer Mittelalterbilder, denn ›das Mittelalter‹ existiere »nur als Spannungsfeld inmitten der Vielzahl an medial vermittelten und individuell kognitiv und affektiv konstituierten Instanzen des Mittelalterbewusstseins. Das Mittelalter wird insofern von den Medien, die sich seiner Darstellung verpflichten oder seine Konnotate zweitverwenden, erst generiert.« Paul B. Sturtevant: The Middle Ages in popular imagination. Memory, film and medievalism, London u. New York 2018, S. 3, hingegen spricht die Erfindung des Mittelalters nicht nur den Kunstschaffenden und den Medien, sondern auch den Rezipierenden selbst zu: »People in the contemporary world enact and create their own medieval worlds each day, whether they be in a film studio, on the internet, in casual conversation, at a museum, in the classroom, or purely in their own imaginations.« 55 Dass dies gelingt, ist nach Mathias Herweg u. Stefan Keppler-Tasaki: Mittelalterrezeption. Gegenstände und Theorieansätze eines Forschungsgebiets im Schnittpunkt von Mediävistik, Frühneuzeit- und Moderneforschung, in: Rezeptionskulturen. Fünfhundert Jahre literarischer Mittelalterrezeption zwischen Kanon und Populärkultur, hg. v. dens., Berlin 2012, S. 1–12, hier S. 2, für die Mittelalter-Rezeption entscheidend: »In einem Rückgang oder Rückgriff über eine Distanz hinweg wird das Vergangene bewusst in die eigene Gegenwart hineingestellt.«
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III
Atmosphärisches Mittelalter in Text und Bild
Neie liefert keine auf die konkrete Sage bezogene szenische Darstellung im Bild; vielmehr werden einzelne Elemente wie Kampf, Weg oder Gespräch des Helden abstrakt und oft über nicht-identifizierbare Rückenfiguren präsentiert, sodass die Illustrationen – sieht man von den benannten ikonischen Präzisierungen wie Schmiedewerkzeug oder Segelschiff einmal ab – in den jeweiligen Kapiteln sogar austauschbar wären. Die Bilder geben keine unmittelbare Hilfe für das Verständnis der Handlung, sondern entwerfen in ihrer Gesamtheit ein emotionales Setting der deutschen Heldensage,56 indem sie in einer Tradition der Mittelalterrezeption stehen, die einen einerseits schwer greifbaren, anderseits vertrauten »medieval flavor«57 evoziert und damit einen Déjà-vu-Effekt58 bei von populärkulturellen Mittelalterbildern umgebenen Betrachterinnen und Betrachtern auslöst. Die Düsternis der Illustrationen kann, wenn man von der Handlung der Heldendichtung her argumentiert, vielleicht als gattungsadäquat verstanden werden.59 Diese Heldenbilder nach ihrer politischen Instrumentalisierung im 19. und 20. Jahrhundert zu reaktivieren, könnte problematisch erscheinen,60 doch Neies
56 Voltmer (Anm. 36), S. 209, ist der Ansicht, dass Geschichtsbilder immer als gefühlsbetont zu verstehen sind. 57 Sturtevant (Anm. 54), S. 89. 58 Manfred Zimmermann: Mittelalter in Mittelerde, in: Kühnel [u.a.] (Anm. 46), S. 487–504, hier S. 499, benutzt diesen Begriff, um zu beschreiben, wie es Lesenden mit entsprechendem sprach- und kulturhistorischen Hintergrundwissen bei der Lektüre von J.R.R. Tolkiens ›Herr der Ringe‹ ergehen kann. 59 Auf diese Weise passend versteht Andreas Platthaus (Anm. 1) ebenfalls die düsteren Illustrationen Neies zu den ›Deutschen Balladen‹: Sie vermittelten »ein ›deutsches‹ Stimmungsphänomen«, das »dem ernsten Prinzip der Balladendichtung adäquat« sei. 60 Die prominente Inszenierung von Stilelementen der Flamboyantgotik deutet auf einen Gebrauch historischer Versatzstücke, die vor allem das 19. Jahrhundert als genuin ›deutsch‹ und vaterländisch verstanden hat (vgl. Jost Hermand: Politische Denkbilder. Von Caspar David Friedrich bis Neo Rauch, Köln 2011, S. 24; Jochen Zink: Zur Vollendung des Kölner und des Speyerer Doms. Mittelalterrezeption und frühe deutsche Denkmalpflege, in: Kühnel [u.a.] (Anm. 40), S. 169–194, hier S. 177). Die Romantik kann weitgehend mit Mittelalterrezeption gleichgesetzt werden – Leslie J. Workman: Modern medievalism in England and America, in: Müller/Verduin (Anm. 40), S. 1–23, hier S. 3, stellt dies zumindest für den englischsprachigen Raum fest –, die wiederum in Deutschland zum Bestandteil der »romantischen Sehnsucht nach ei-
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Illustrationen sind in der Vielfalt ihrer Bezugnahmen zumindest nicht in erster Linie als ›deutsches‹ Stimmungsphänomen oder von der Gattung her zu begrei-
nem verlorenen Vaterland« (Hermand, S. 16) wurde und in den folgenden Jahren fortschreitender Nationalisierung eine ›germanischen Renaissance‹ auslöste (dies suggeriert etwa der Titel des Bandes Germanische Renaissance. Charakteristiken und Kritiken, hg. v. Josef Körner, München 1912, den Rüdiger Krohn: Die Wirklichkeit der Legende. Widersprüchliches zur sogenannten Mittelalter-»Begeisterung« der Romantik, in: Kühnel [u.a.] (Anm. 40), S. 1–29, hier S. 7, als Beschreibung für das beginnende 19. Jahrhundert nicht für unpassend hält, wenngleich er betont, dass die Mittelalter-Rezeption der Romantik längst nicht so umfassend gewesen sei wie gemeinhin angenommen, vgl. ebd., S. 21). Dass gerade der Rekurs auf die Germanen aber für manche Romantiker doch bedeutend war, zeigt sich an Caspar David Friedrichs Gemälde ›Gräber gefallener Freiheitskrieger‹ (1812), auf dem die zerstörte fiktive Begräbnisstätte des Arminius gezeigt wird, dessen Präsenz Scholl (Anm. 38), S. 85, als in einer bereits in der Frühen Neuzeit etablierten Tradition stehend deutet, die den Germanen, der die Römer im Teutoburger Wald besiegte, als nationale Identifikationsfigur verstand. Auch Johann Heinrich Füsslis Illustrationen des ›Nibelungenliedes‹ (1798–1820), die die ersten dieser Art sind, bezeugen eine romantische Faszination für germanische Heldendichtung, vgl. Danielle Buschinger: Die Rezeption der Heldenepik in der Neuzeit, in: Mittelalterbilder in der deutschsprachigen Literatur des langen 20. Jahrhunderts. Rezeption – Transfer – Transformation, hg. v. Michael Dallapiazza u. Silvia Ruzzenenti, Würzburg 2018, S. 9–40, hier S. 17. Dieses im 19. Jahrhundert entwickelte und bis heute bestehende Verständnis vergangener Zeit fasst Nathanael Busch: Zur Logik des Altdeutschen, in: Herweg/Keppler-Tasaki (Anm. 55), S. 226–247, hier S. 246f., treffend zusammen: »Das Altdeutsche muss als Mythos einer zeitlich vagen, kulturell definierten Urzeit verstanden werden. Ein national gerichtetes Denken popularisierte ausgesuchte Teile von angenommener Vergangenheit und schuf damit eben nicht Neues um des Neuen willen, was es hätte tun können, sondern bezog sich in diesem Neuen auf Altes. Bis heute geht es beim Altdeutschen darum, sich eine ganze Reihe von Dingen nicht nur als typisch deutsch, sondern als urdeutsch, als immerschon-deutsch vorzustellen. Dabei wird nicht eine gewünschte Wirklichkeit konstruiert, sondern man gibt der gewünschten gesellschaftlichen Veränderung der Gegenwart den passenden Vorbau. Keine gemeinsame Eigenschaft verbindet die als altdeutsch benannten Dinge, sondern eine Ideologie fasst diese Dinge als altdeutsch, um einen Bruch oder eine Kontinuität in der Geschichte herstellen zu können.« Anhand der komplexen Vermischung romantischen und nationalistischen Gedankenguts wird deutlich, dass die moderne Aufbereitung der Mittelalterbilder, die Neie präsentiert, nicht ohne diese Kontextualisierung betrachtet werden kann –
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fen. Sie schließen in der Favorisierung einer düsteren Stimmung61 vielmehr an eine populärkulturelle Mittelalterrezeption an, weil sie eine diffuse Heldenwelt porträtieren, die als ›alt‹ und ›dunkel‹62 begriffen werden kann, ohne genauere Spezifikationen vorzunehmen. Auffällig ist, dass Neies Illustrationen das Programm der Hecht’schen Übertragung mitunter gezielt unterlaufen: Wo Hecht und Hecht den Versuch unternehmen, hinter dem überlieferten mittelhochdeutschen Text auf ein ›ursprünglich gemeintes Substrat‹ zu schließen, indem sie die ›Verritterlichung‹ oder christliche Elemente tilgen, klittert Neie unbekümmert Mittelalter-Projektionen,63 wobei der Textbezug ganz offensichtlich sekundär ist: Seine Helden sind
insbesondere dann nicht, wenn der Titel der Sammlung ›Deutsche Heldensagen‹ ankündigt und deren Rezeption kaum jemals »im historischen, literarhistorischen oder/und ideologischen Vakuum« (Siegrid Schmidt: Die Nibelungen in der Jugendund Unterhaltungsliteratur zwischen 1945 und 1980, in: Mittelalter-Rezeption. Ein Symposion, hg. v. Peter Wapnewski, Stuttgart 1986, S. 327–345, hier S. 340) verortet werden kann. 61 Auch Hintergründe im Comic kreieren Stimmungen, wie Duncan [u.a.] (Anm. 24), S. 122, ausführen: »In most comic books, figures (visual representations of characters) are the focus of the story and the reader’s attention. However, the details depicted behind and around those characters are essential for establishing setting and mood. Once setting is established by background details, a vague sense of that setting persists in the reader’s imagination, and details tend to become sparse or drop out altogether.« 62 Die Darstellung des Mittelalters als düsteres, brutales, misogynes, abergläubisches Zeitalter scheint ein Garant für kommerziellen Erfolg zu sein, wie viele der Resümees der Einzeluntersuchungen im Sammelband ›Alles heldenhaft, grausam und schmutzig?‹ (Anm. 25) nahelegen. Es wirkt, als würden die Rezipierenden mit ihrer Nachfrage Mittelalterklischees belohnen – deshalb bezeichnen Enseleit u. Peters (Anm. 2), S. 11, solche Klischees als »Rezeptionsanreiz« –, was wiederum etablierte Stereotype und Vorstellungen bedient und damit weiter festigt. 63 So ist der ästhetische Rekurs auf Caspar David Friedrich in Neies Illustrationen besonders kurios, wenn berücksichtigt wird, dass Gretel und Wolfgang Hecht sich bemühten, das Christentum aus ihren Nacherzählungen zu streichen, ihre Texte dann jedoch von Bildern begleitet werden, die an die transzendent aufgeladenen Kunstwerke eines Protestanten erinnern, für den sogar christliche und germanische Werte verschmolzen, vgl. Hermand (Anm. 60), S. 19. Dass Neie eindeutig auf christliche Bildsprache zurückgreift, zeigt sich nicht nur an den zahlreichen Nimbus-artigen Strukturen, sondern z.B. auch am Kreuz im großen Bild auf S. 42. Obwohl es als
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fast sämtlich als Ritter64 dargestellt. Während die Protagonistinnen Hilde und Kudrun im mittelalterlichen Text als höfische Damen fungieren, die nicht selbst zum Schwert greifen, gestaltet Neie mit seiner Figur einer Kriegerin im ›Kudrun‹-Kapitel einen auffälligen Widerspruch zum Handeln der Frauenfiguren im Text. Anders als im Textprogramm von Hecht und Hecht ausdrücklich angestrebt, erzeugen die Bilder damit gerade keine Fiktion ›objektiver Authentizität‹, sondern eine ›pastness‹65, für die ein subtiler Realitätsbezug (wie er u.a. mit Referenzen auf existierende Orte erzeugt wird) konstitutiv ist. Natürlich ist zu bedenken, dass der inzwischen 50 Jahre alte, in Rechtschreibung, Diktion und Satzbau nicht aktualisierte Text seinerseits zu der in Neies Illustrationsprogramm intendierten ›Mittelalterlichkeit‹66 beiträgt.67 Text und Bild evozieren also gleicher-
monochrome Silhouette gezeigt ist, lassen sich ein zusätzlicher kleiner Querbalken, der an den INRI-Zettel erinnert, und eine Leiter, die womöglich auf den Bildtypus der Kreuzabnahme Jesu anspielt, erkennen. Mit zwei weiteren, kleineren in diesem Bild präsenten Kreuzen ist ein Bezug auf gängige Darstellungen von Golgatha unverkennbar. 64 Mitunter werden diese durch ihre Ausstattung sogar zu Kreuzrittern gemacht, z.B. auf S. 107, S. 129 und S. 139. 65 Vgl. Gundermann (Anm. 39), S. 278. Ähnlich stellt auch Hans Rudolf Velten: Das populäre Mittelalter im Fantasyroman – Erkundungen eines zeitgenössischen Phänomens. Einführung in den Band, in: Busch/Velten (Anm. 2), S. 9–20, hier S. 9, für den Fantasyroman heraus: »Es geht nicht um zu vermittelnde Fakten einer bekannten Epoche der Vergangenheit, schon gar nicht um nachprüfbares Wissen. [...]. Dabei entsteht ein Mittelalter sekundärer Prägung, aus zweiter oder dritter Hand, das auf Imagination, Fake und verborgenen Assoziationen beruht.« Nach der Überlegung von Heinze (Anm. 46), S. 179 (»Eine Darstellung gilt gerade dann als authentisch, wenn die Tatsache, dass es sich um eine Konstruktion handelt, möglichst aus dem Blickfeld gerückt ist.«), zeigen Neies Bilder offensichtlich gerade kein Bestreben, authentisch mittelalterlich darzustellen, weil sie konstruierte Brüche ostentativ zum Thema machen, statt sie zu negieren. Zugleich sind gewisse Konstellationen, die aus der akademischen Perspektive Brüche darstellen, im populären Mittelalterverständnis gar nicht als solche wahrnehmbar: Zwar mag der Verweis auf Heinrich VIII. für Mediävist*innen ›falsch‹ wirken, für viele Rezipierende aber sind Folter, Gewalt und Misogynie der Tudor-Zeit der Inbegriff ihres Verständnisses von Mittelalter, vgl. David Matthews: Medievalism. A Critical History, Woodbridge 2015, S. 13. 66 Die Herausgeber*innen der Reihe ›Populäres Mittelalter‹ setzen ›Mittelalterlichkeit‹ mit »Aneignung und Transformation mittelalterlicher Mythen, Figuren und Artefak-
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maßen eine atmosphärisch-düstere Stimmung, und dieses Zusammenspiel funktioniert in seiner Wirkungsästhetik auch deshalb, weil es an die Populärkultur anknüpft und die wissenschaftliche Aufbereitung der komplexen Textgeschichten in der hier besprochenen Ausgabe keinen Ort findet. Jenseits dieser intermedial fingierten Vergangenheit bedarf es für die Rahmung der Hecht’schen Nacherzählung scheinbar weder einer weiteren Authentifizierungsstrategie noch einer wissenschaftlichen Kontextualisierung, weil der publikumswirksame Reiz des Insel-Bandes in seiner Aufbereitung als bibliophiler Comic-Codex besteht.
te« gleich (vgl. www.transcript-verlag.de/reihen/literaturwissenschaft/populaeresmittelalter/?f=12320 (Aufrufdatum: 1.5.2023)). In der englischsprachigen Forschung hat sich der Begriff medievalism etabliert, der sowohl die romantische als auch die wissenschaftliche Beschäftigung mit mittelalterlichen Inhalten umfassen kann, vgl. Matthews (Anm. 65), S. x–xii, und deshalb denkbar schwer zu greifen ist. Matthews (ebd., S. 6–7) versteht dabei die deutschen Begriffe ›Mittelalterrezeption‹ und ›Mediävalismus‹ als Äquivalente von medievalism, während die akademische Auseinandersetzung mit dem Mittelalter als medieval studies bzw. ›Mediävistik‹ zu bezeichnen sei. Weil populäres und wissenschaftliches Interesse aber zusammenfallen können (wie am Anfang des 20. und womöglich auch jetzt am Anfang des 21. Jahrhunderts geschehen, vgl. ebd., S. xii), erscheint es sinnvoll, mit dem deutschen Begriff ›Mittelalterlichkeit‹ einen Terminus einzuführen, der nicht nur den Gegenstand Mittelalter, sondern zudem die ästhetische Erfahrung benennt, die sich seitens der Rezipierenden bei einer Konfrontation mit Mittelalterlichem einstellt, in welcher entfremdeten Form es auch immer zutage tritt. Mit der Bezeichnung ›Mittelalterlichkeit‹ im vorliegenden Beitrag soll deshalb zusätzlich die rezeptionsästhetische Wirkung angesprochen sein, die über die Inszenierung von Mythen, Figuren und Artefakten, aber eben auch Bildtypen, Sprachformeln, Farbgebungen und Kompositionen suggeriert, dass etwas mittelalterlich sei – und damit die Hecht’sche Nacherzählung sowie Neies Illustrationsprogramm zu beschreiben vermag. 67 Zu diesem Ergebnis kommt auch Spreckelsen (Anm. 21): »Von der Oberfläche des Textes entfernt er [der Illustrator, J.M.] sich damit und kommt ihm – seinen jähen Umschwüngen, seinen Rätseln, seiner tiefen Heterogenität – zugleich näher, als es die brav reproduzierenden Bilder einer früheren Zeit je vermochten.« Herweg und Keppler-Tasaki (Anm. 55), S. 3, empfinden die Textausgaben des 19. und 20. Jahrhunderts selbst schon als Entfremdung, sodass die Kombination des Hecht’schen Textes mit den Illustrationen Neies als eine Symbiose entfremdeter Mittelalterbilder der Moderne zu deuten wäre.
Index
Der Index erfasst historische Personen, Germanisten und Germanistinnen bis 1945, Künstler und Künstlerinnen, Autoren, Autorinnen und Werke (Primärtexte und – bis 1945 – Forschungsliteratur in Kurztiteln), einschlägige Zeitschriften, militärische Operationen und Verbände, (mittelalterliche) Figuren sowie Begrifflichkeiten und Neologismen aus dem Bereich des ›Nibelungischen‹.
Ackermann, Otto 88–91, 96f., 106 — ›Germanische Gefolgschaft und ecclesia militans‹ 88 — ›Germanische Gefolgschaftshaltung in der Heldendichtung des Mittelalters‹ 88, 96f. — ›Kant im Urteil Nietzsches‹ 88 — ›Schwabentum und Romantik‹ 88 Adam von Bremen — ›Hamburgische Kirchengeschichte‹ 175 ›Admiral Graf Spee‹ (Kriegsschiff) 49 Adorno, Theodor W. s. bei Max Horkheimer ›Alternative für Deutschland‹ (AfD) 210, 238, 275 ›Aktion Reinhardt‹ 245 ›Aktion Zamość‹ 245
Al-Bagdadi, Abu Bakr 75 Alberich 67, 73 Albrecht, Paul — ›Arminius-Sigurfrid‹ 31 Alexis, Willibald — ›Der Werwolf‹ 203 Ali, Muhammad 296 ›Altes Atlilied‹ 188, 190f. ›Altes Sigurdlied‹ 188–190 ›Amt Rosenberg‹ 11 Anacker, Heinrich 48, 146 — ›Volker von Alzey‹ 48 Annalista Saxo 251 Arendt, Hannah 266, 269 Arminius, Hermann, Fürst 31, 35, 221, 234, 260, 330 ›Assassin’s Creed‹ (Computerspiel) 320, 324f. Atli s. Etzel Atli þorgeirsson 202 Attila s. Etzel
336 | Das ›Nibelungische‹ und der Nationalsozialismus
›Auf gut deutsch‹ (Zeitschrift) 107f., 110–112, 115, 119–121, 123–125 Baethgen, Friedrich 255, 265 Baker, Nicholson — ›Human Smoke‹ 41 Balmung 260 ›Bamberger Reiter‹ 291 Baumann, Hans — ›Rüdiger von Bechelaren‹ 37 Beardsley, Aubrey 321 Bebel, August 223 Begas, Reinhold 228 Bender, Charlotte 236 Bender, Peter 234–236 — ›Karl Tormann‹ 234f. Benedikt, Heiliger 327 ›Beowulf‹ 71, 170, 324 Berg, Heinrich 236 Bergson, Henri 188 Bin Laden, Osama 75 Bioy Casares, Adolfo — ›La invención de Morel‹ 135 Bismarck, Otto von 44, 54, 224, 227f., 243 Blaubart 327 Bloch, Ernst 238 Blödel 287 Blunck, Hans Friedrich 157 — ›Deutsche Heldensagen‹ 155 Bodmer, Johann Jacob 17 Bohnenblust, Gottfried 141 Bollinger, Katharina — ›Das Tragische im höfischen Epos‹ 87, 99 Bonaparte, Marie — ›Mythes de guerre‹ / Myths of war›‹ 67f.
Bonus, Arthur 177f. — ›Isländerbuch‹ 177 Brackmann, Albert 255, 265 — ›Krisis und Aufbau in Osteuropa‹ 265 Braun, Max 229 — ›Nibelungenland‹ 222 Brecht, Bertolt — ›Kriegsfibel‹ 74 Breivik, Anders 74 Breker, Arno 139 Brown, Dan — ›The Da Vinci Code‹ 274 Bruckner, Ferdinand — ›Die Rassen‹ 148 Brünhild 38, 51, 53, 70, 82, 84, 94, 132–135, 138–140, 234, 277 Bugeaud de la Piconnerie, Thomas Robert 253 Buhl, Herbert Erich s. Joachim Lautenschlager 139 Burger, Hermann — ›Die Künstliche Mutter‹ 130 Bush, George W. 74 Camenzind, Josef Maria 147 Celan, Paul 270f. — ›Port Bou‹ 271 — ›Russischer Frühling‹ 270 — ›Todesfuge‹ 271 Cellini, Benvenuto 207 Cincinnatus, Lucius Quinctius 254 Claß, Heinrich (Pseudonym Daniel Fryman) 225 — ›Wenn ich der Kaiser wärʼ‹ 225 Colberg, Erich — ›Brunhild‹ 38, 138 — ›Gudrun in der Normandie‹ 38
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— ›Hagen‹ 38 Coppola, Francis Ford — ›Apocalypse now‹ 52 Dahn, Felix 10, 158, 260 — ›Deutsche Lieder‹ 63 — ›Gotenzug‹ 176, 259 — ›Hagens Sterbelied‹ 45 — ›Die Könige der Germanen‹ 10 — ›Ein Kampf um Rom‹ 10, 176, 258 — ›Studien zur Geschichte der germanischen Gottes-Urtheile‹ 10 Dahn, Felix u. Therese — ›Walhall‹ 155, 169 Danzer, Paul — ›Der Wille zum Kind‹ 249 Darré, Walther 250, 254 — ›Das Bauerntum als Lebensquell der Nordischen Rasse‹ 254 ›Der Stürmer‹ (Zeitschrift) 136, 199 ›Deutsche Wochenschau‹ 52 ›Die Fackel‹ (Zeitschrift) 46, 67 Diederichs Verlag 171–195, 206, 225 — ›Die Deutsche Kulturbewegung im Jahre 1913‹ (Verlagskatalog) 188 — ›Der Diederichs-Löwe‹ (Zeitschrift) 174 Diederichs, Eugen 171–195 Dietrich von Bern 36f., 44, 97, 105, 160, 252f., 259, 287, 306f., 322 Dietrich-Eckart-Preis 48
Disney (Filmproduktion) 303, 327 — ›Dornröschen‹ 327 — ›Schneewittchen‹ 327 Doepler, Emil u. Ranisch, Wilhelm — ›Walhall‹ 160, 164 Dolchstoßlegende 34f., 43, 64f., 72, 77, 230, 290 Donar s. Thor Dönitz, Karl 213 Drachenfels 49 Draesner, Ulrike 293 Dresler, Adolf — ›Dietrich Eckart‹ 111 Dschihad 75 Dschingis Khan 258 Dumitrescu, Ioan 324f. ›Dungeons & Dragons‹ (Brett- und Computerspiel) 324 Eckart, Dietrich 107–128 — ›Adolf Hitler zu seinem Geburtstage am 20. April 1923‹ 127 — ›An Lloyd George & Co.‹ 125 — ›Arbeiten oder wir gehen zugrunde‹ 120 — ›Auf höherer Warte‹ 123f. — ›Deutsche Libertät‹ 122 — ›Feuerjo‹ 107 — ›Geduld‹ 108, 111–128 — ›Der große Krumme‹ 120 — ›Hans der Träumer‹ 125 — ›Nürnberg – Berlin‹ 108 — ›Peer Gynt‹ 109 — ›Schönheitsfehler der bayerischen Volkspartei‹ 108, 126 — ›Selbstgespräch‹ 126 — ›Zwiesprache‹ 120
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Eckart, getreuer 252 Eckermann, Johann Peter — ›Gespräche mit Goethe‹ 20– 22 Eco, Umberto — ›Der Name der Rose‹ 315, 328 — ›Zehn Arten, vom Mittelalter zu träumen‹ 328 ›Edda‹ 173, 180–195, 257, 307 Egil(l) 193, 202, 208 ›Egills Saga‹ 202, 208 Elsa 50 Emmel, Hildegard 95f. — ›Das Verhältnis von êre und triuwe‹ 86, 95f. Eneas 80, 191 Eneasroman 191 Engelmann, Emil — ›Mären und Sagen für das deutsche Haus‹ 157 Engels, Friedrich (Pseudonym Friedrich Oswald) — ›Siegfrieds Heimat‹ 227 Erichsen, Adolfine 178 Ermanarich s. Hermanarich Ernst, Bodo — ›Siegfried-Armin‹ 31 Etzel, Atli, Attila 48, 54, 57, 62, 82, 116f., 132f., 170, 189f., 259, 275f., 287f., 296, 327 — Etzels Halle 54, 57, 62, 105, 116, 260f., 275–301 Euringer, Richard — ›Dietrich Eckart‹ 127f. ›Fackel‹, Die (Zeitschrift) 46, 67 Faesi, Robert — ›Füsilier Wipf‹ 142
— ›Die Schweiz im Spiegel der Landesausstellung 1939‹ 145 Faust, August 88 Faustische, das 32f. Feder, Gottfried 111 Federer, Heinrich 147 Festge, Hans-Henning 261f. — ›An der Grenze zweier Welten‹ 261 Ficker, Julius 241f. Ficker, Ludwig von 241 Fischer, Hans W. 157 — ›Götter und Helden‹ 155 Fontane, Theodor — ›Effi Briest‹ 69 ›Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe‹ 11, 38, 98 Foster, Hal — ›Prince Valiant‹ (›Prinz Eisenherz‹) 328 Frank, Hans 111 Frank, Walter — ›Kämpfende Wissenschaft‹ 265 Frauenfeld, Alfred 247 Freikorps 193, 209, 215 Freki 201 Freud, Sigmund — ›Aus der Geschichte einer infantilen Neurose‹ 208 — ›Das Unbehagen in der Kultur‹ 86, 198 Freya 139 Freytag, Gustav — ›Die Ahnen‹ 263 Friderich, Johann (Pseudonym Wolfeshusius) — ›De Lycanthropis‹ 216
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Friedrich I., Barbarossa, Kaiser 56, 71, 221, 231, 233, 245, 257, 270, 291f. Friedrich II., der Große, König 17f., 44, 221, 223f., 236 Friedrich II., Kaiser 71, 221, 223f., 238, 291 Friedrich III., Kaiser 220, 223 Friedrich, Caspar David 321, 331 — ›Gräber gefallener Freiheitskrieger‹ 330 — ›Wanderer über dem Nebelmeer‹ 320 Fryman, Daniel s. Heinrich Claß Funke, Cornelia 216 — ›Kleiner Werwolf‹ 216 Furor teutonicus 48, 69, 262 Füssli, Johann Heinrich 330 Ganzer, Richard Karl — ›Richard Wagner der Revolutionär‹ 50 Gassner, Hans 107 Geisa II., König 242 ›Generalplan Ost‹ 241–271 Genzmer, Felix 180, 186, 188–194 — ›Die Edda‹ 180, 188–194 Georg, Heiliger 221 George-Kreis 224, 234 Geri 201 ›Germanien‹ (Zeitschrift) 273 Gernot 79, 132, 283–285, 287 Gero, Markgraf 252f. Gerth, Elisabeth 90, 106 — ›Eine Untersuchung über Rasse, Volk und Umwelt im Nibelungenlied‹ 87, 90, 93f., 96, 98f. Gesell, Silvio 234 Gesimund, König 253
Giesebrecht, Adolf 31 Girard, René — ›Das Heilige und die Gewalt‹ 86 Giselher 132, 281–285, 287, 300f. Globocnik, Odilo 245 Goebbels, Joseph 29f., 38, 44, 51, 56, 61, 63, 78, 213, 229, 246 — ›Die deutsche Kultur vor neuen Aufgaben‹ 29 — ›Michael‹ 229 — ›Sportpalastrede‹ 60 — Tagebücher 53, 56, 65 — ›Was wollen wir im Reichstag?‹ 210 Goethe, Johann Wolfgang von 19– 23, 25, 65f., 108, 237 — ›Faust I‹ 73, 175 — ›Der König in Thule‹ 175 — ›Römische Elegien‹ 135 Gorges, Max 157 — ›Deutsche Heldensage‹ 155 Göring, Hermann 51, 65, 72 — ›Stalingradrede‹ 57–61, 71, 105, 116, 230, 259, 275f., 279, 282 Gottfried von Straßburg — ›Tristan‹ 32 Göttling, Karl Wilhelm 25f. — ›Über das Geschichtliche im Nibelungenlied‹ 25, 35 Goya, Francisco de — ›Erschießung der Aufständischen‹ 321 Gral 50, 103 Gramsci, Antonio 238 Greyerz, Otto von 147 — ›Sprache, Dichtung, Heimat‹ 133, 147
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Griese, Friedrich 173 Grillparzer, Franz 22 Grimm (Brüder) 27f., 69 Grimm, Jacob 11, 35, 37, 73 — ›Gedanken über Mythos, Epos und Geschichte‹ 26 — Rezension Göttling, ›Das Geschichtliche im Nibelungenlied‹ 25–28 — ›Von Übereinstimmung der alten Sagen‹ 26 — ›Vorlesung über Deutsche Literaturgeschichte‹ 28 Grimm, Wilhelm 169 Groß, Hans — ›Hagen versenkt den Nibelungenhort‹ 39 Grundy, Stephan — ›Attila’s Treasure‹ 288 — ›Rhinegold‹ 288 Gudrun s. Kudrun Gunnar s. Gunther Gunther 53, 79, 82, 88f., 91f., 94, 96f., 105, 132, 139, 189, 259, 277, 295 Habsburg, Otto von 244 Hackhofer, Karl — ›Unser Schicksal ›Du‹‹ 147 Hagen 34f., 45, 47–49, 60f., 66f., 70, 80–85, 91, 95–97, 99, 104f., 111, 118, 127, 132, 135, 139, 221f., 252f., 259–261, 263, 275, 277, 281–283, 287f., 292, 295– 298, 307, 322 — als Fanatiker der Mannestreue 259 — als SS-Mann 253 — Düsterer Hagen 253 — Iron fortitude of Hagen 61
— ›Unternehmen Hagen‹ 76 Hagen, Friedrich Heinrich von der 20 — ›Heldenbilder‹ 153, 157 Hagen, Friedrich Heinrich von der u. Primisser, Anton — ›Der Helden Buch in der Ursprache‹ 153 Halder, Franz 245 Hans Holbein der Jüngere 317 Harald I. Schönhaar, König 191 Hartig, Paul — ›Thule! Auf nach Thule! Ein Aufruf‹ 176 Hartmann von Aue 32 Hartsen, Maria Jacoba — ›Die Bausteine des Gudrunepos‹ 39 Haydn, Joseph s. bei August Heinrich Hoffmann von Fallersleben Hebbel, Friedrich — ›Die Nibelungen‹ 37, 280 Hecht, Gretel u. Wolfgang — ›Deutsche Heldensagen‹ 168, 303–333 Heer, Jakob Christoph 147 Heichen, Walter 157 — ›Deutsche Heldensagen‹ 155 Heidegger, Martin 97 Heilige Lanze 251 Heimpel, Hermann 255f., 265 — ›Bemerkungen zur Geschichte König Heinrichs I.‹ 256 — ›Deutsches Mittelalter‹ 255 Heine, Heinrich 108, 110, 188, 231–233, 238 — ›Deutschland. Ein Wintermärchen‹ 24, 232 — ›Deutschland‹ 231
Index | 341
— ›Ludwig Börne‹ 231f. — ›Zur Geschichte der Religion und Philosophie‹ 231 Heine, Wolfgang 236 Heinkel, Gustav — ›Versenkung des Nibelungenschatzes im Rhein‹ 40 Heinrich I., König 57, 241, 245, 251–253, 255f., 266f., 270 Heinrich VIII., König 317, 332 ›Helgi-Lieder‹ 192 Helmich, Wilhelm 45 Hermanarich (Ermanarich), König 263 Hermann s. Arminius Hermann Billung, Herzog 252 Herodot 200 Hertz, Wilhelm — ›Der Werwolf‹ 216 Herwegh, Georg 22 — ›Siegestrunken‹ 228 Heß, Rudolf 111 Hetel 309 Heunen (s. auch Hunnen) 111, 114, 117 Heusler, Andreas 158–164, 169, 171, 173f., 177f., 180f., 186– 188, 190–193 — ›Altgermanische Dichtung‹ 159f., 177 — ›Briefe aus den Jahren 1890– 1940‹ 178 — ›Nibelungensage und Nibelungenlied‹ 191f. — ›Urväterhort‹ 160–162, 164 Hilde 306f., 309, 313, 317, 332 Hildebrand 85, 160, 252f., 260, 286, 288, 292, 322
›Hildebrandslied‹ 159f. Hildegunde 306 Hillern, Wilhelmine von — ›Die Geier-Wally‹ 133 Himmler, Heinrich 31, 38, 78, 98, 211f., 229, 238, 245, 247–254, 256–258, 260, 263 — ›Bad Tölzer Rede‹ 249 — ›König Heinrich‹ (Spitzname) 248 Hintze, Otto 225 Hirano, Kōta — ›Hellsing‹ (Mangaserie) 199 Hitler, Adolf 36, 43–46, 48–51, 53, 56f., 60f., 63f., 66–68, 73, 107, 109f., 119f., 127f., 144, 168, 211, 213f., 220, 229f., 234, 237f., 243–245, 247, 250, 256, 269, 317 — ›Mein Kampf‹ 32, 43, 50, 107, 243f. — ›Wolf‹ (Spitzname) 211 Hofer, Walther 267f. Hoffmann von Fallersleben, August Heinrich u. Hadyn, Joseph — ›Lied der Deutschen‹ 127 Höfler, Otto 31, 35–37, 54, 97f., 105, 215, 251, 281 — ›Das germanische Kontinuitätsproblem‹ 36, 251 — ›Deutsche Heldensage‹ 54, 98, 105 — ›Die Ursprünge der germanischen Staatsbildnerkraft‹ 37 — ›Germanische Einheit‹ 36 — ›Kultische Geheimbünde der Germanen‹ 98 — ›Siegfried, Arminius und der Nibelungenhort‹ 31
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— ›Siegfried, Arminius und die Symbolik‹ 31 Hofmann, Otto 249 Hokusai, Katsushika — ›36 Ansichten des Berges Fuji‹ 321 — ›Große Welle vor Kanagawa‹ 320 Holtzmann, Robert 255, 265 Hoppe, Felicitas — ›Die Nibelungen‹ 304 Horkheimer, Max u. Adorno, Theodor W. — ›Dialektik der Aufklärung‹ 86 Huettner, Ralf — ›Die Jagd nach dem Schatz der Nibelungen‹ 274 Huggenberger, Alfred 146f. Hunnen 56f., 60, 81, 84, 92, 116f., 170, 251, 258f., 261, 263, 266, 269, 283, 296f. ›Hürnen Seyfrid‹ 153 Husserl, Edmund 218 Hüttig, Ernst — ›Siegfried‹ 38 Ibsen, Henrik — ›Peer Gynt‹ 109 Ilg, Paul 148 — ›Der starke Mann‹ 142 Illert, Friedrich Maria 230 ›Indianerkriege‹ 57 Iwein 80 Jackson, Peter — ›The Lord of the Rings‹ 317 Jansen, Werner 72, 229, 260f. — ›Buch Treue‹ 229
Jeanne d’Arc 317f., 327 Johnson, Uwe — ›Das Nibelungenlied‹ 39 Jordan, Wilhelm 268 Joseph II., Kaiser 223 Jung, Carl Gustav — ›Wotan‹ 197, 214 Jung, Julius 241 Jünger, Ernst 45, 173, 206–208 — ›Der Kampf als inneres Erlebnis‹ 206, 208 — ›In Stahlgewittern‹ 206–208 ›Jung-Sigurd-Lieder‹ 192 Kaehler, Siegfried A. — ›Das Zeitalter des Imperialismus‹ 267 Kant, Immanuel 108 Kantorowicz, Ernst 224 Kapp, Wolfgang 119, 127 Karl der Große, Kaiser 241f. Karl IV., Kaiser 242 Keller, Gottfried 131 — ›Rheinbilder, Frühgesicht‹ 22 Kempowski, Walter — ›Das Echolot. Ein kollektives Tagebuch‹ 41 Klee, Gotthold Ludwig 157 — ›Die deutschen Heldensagen‹ 155 Klein, Johann Baptist 142 Kleinheisterkamp, Matthias 51 Kleist, Heinrich von — ›Hermannschlacht‹ 260 Klewitz, Hans-Walter — ›Die heilige Lanze Heinrichs I.‹ 251 Knittel, John 146
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Knorr, Friedrich 103f., 106 — ›Das Nibelungenlied in der Dichtung des 13. Jahrhunderts‹ 103f. — ›Das Problem der menschlichen Philosophie bei J.G. Herder‹ 103 — ›Der künstlerische Aufbau des Nibelungenliedes‹ 103f. — ›Die mittelhochdeutsche Dichtung und die Gegenwart‹ 104 Koch, Franz — Vorwort zur Reihe ›Von deutscher Art in Sprache und Dichtung‹ 34 Koch, Max 160 Köhlmeier, Michael — ›Die Nibelungen neu erzählt‹ 278–281, 299f. Kolbe, Georg — ›Die Lauschende‹ 257 Konrad I., Kaiser 71 Konrad II., Kaiser 71 Konrad III., Kaiser 71 Körner, Josef — ›Germanische Renaissance‹ 330 — ›Nibelungenforschungen der deutschen Romantik‹ 8, 28 Korrodi, Eduard — ›Gegen den Seldwylergeist‹ 147f. Kościuszko, Tadeusz 268 Kotzebue, August von 7f., 11, 22, 24, 31, 226 — ›Das Nibelungenlied‹ 7
Kralik, Dietrich von 33, 35, 87, 98 — ›Das Nibelungenlied‹ 33f., 91–93, 96 Kraus, Karl 45f. — ›Ausgebaut und vertieft‹ 70 — ›Dritte Walpurgisnacht‹ 46, 66 — ›Weltgericht‹ 67 Kreuzritter 40, 56, 74f., 327, 332 Kreuzzüge (crusades) 74f., 210 — Hakenkreuzzug 74 Krieck, Ernst 173 Kriemhild 34, 36, 48, 53, 61, 70, 79f., 84, 91f., 95, 111, 116, 132– 134, 139, 226, 234, 257, 259f., 263, 275, 277f., 281–285, 287, 295–297, 300 — Icy calm of Kriemhild 61 — Kriemhildphase 220 — ›Unternehmen KrimhildeBewegung‹ 70 Krügel, Gerhard — ›Helden streiten, Götter ringen‹ 155 Kubizek, August 237 Kudrun 306, 309f., 332 ›Kudrun‹ 153, 156, 192, 307–309, 317, 327, 332 Kuhn, Hans 193 Kühnen, Michael 213 Kveldúlfr 202 Kyffhäuser 223, 232f., 270, 291f. — ›Kyffhäusertreffen‹ 211, 238, 292 — Kyffhäuser-Verlag 292 Lang, Fritz — ›Die Nibelungen‹ 40, 77, 311
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Lange, Adolf — ›Deutsche Götter- und Heldensagen‹ 155 Langsdorff, Hans 49 Lassalle, Ferdinand 224, 235 Lautenschlager, Joachim (Pseudonym Herbert Erich Buhl) 139 — ›Auf fremdem Thron‹ 139 — ›Krone der Frauen‹ 139f. Laval, Pierre 51 Lembert, Raimund — ›Dietrich Eckart‹ 128 Lemme, Richard — ›Der Werwolf‹ 209 Leonidas 57, 60 Lersch, Heinrich 229 Lessing, Gotthold Ephraim 231 Ley, Robert 49 Leyen, Friedrich von der 158 — ›Die deutschen Heldensagen‹ 155 Lienert, Meinrad 147 Linden, Walther — ›Das Fortwirken der altgermanischen Dichtung‹ 31 List, Friedrich 246 Lodemann, Jürgen 238, 293 — ›Siegfried und Krimhild‹ 278, 281–286, 299–301 Lohengrin 50 Loki 199, 214 Löns, Hermann — ›Der Wehrwolf‹ 204–206, 209f., 212, 214 Loon, Paul von — ›Rölfchen Werwölfchen‹ 216 Loosli, Carl Albert 148 Lortzing, Albert — ›Zar und Zimmermann‹ 270
Louis-Philippe I., König 220, 223 Ludendorff, Erich 51, 225 Luther, Martin 108, 221, 226, 231 Malkovich, John 317 Mann, Golo 242 Mann, Thomas — ›Betrachtungen eines Unpolitischen‹ 243 Martin, George R. R. — ›A Song of Ice and Fire‹ / ›Game of Thrones‹ 304 Martin, Rudolf — ›Lehrbuch der Anthropologie‹ 136 Martini, Fritz — ›Germanische Heldensage‹ 86f., 98 Marx, Karl 49, 124 Merker, Paul 88 Meyer, Conrad Ferdinand 122, 127 — ›Huttens letzte Tage‹ 121 Meyer, Konrad 248 Meyer, Stephenie — ›Twilight‹ (Filmreihe) 199 Michael, Erzengel, Heiliger 221, 228f. Michelangelo — ›Pietà‹ 321 Miegel, Agnes — ›Die Nibelungen‹ 45 Miller, Frank — ›Sin City‹ 319 Miller, Frank und Varley, Lynn — ›300‹ 288 Miller, Sandro 316 Möbius, Hermine — ›Deutsche Götter- und Heldensagen‹ 155 Moeschlin, Felix 147f.
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Mone, Franz Josef 31 Mongolen 258 — Mongolenstürme 56 Mudrak, Edmund 158, 164–167, 169 — ›Die deutsche Heldensage‹ 165 — ›Deutsche Heldensagen‹ 167 — ›Nordische Götter- und Heldensagen‹ 169 Müller, Baal — ›Die Nibelungen nach alten Quellen neu erzählt‹ 278, 286–293, 301 — ›Der Vorsprung der Besiegten‹ 290, 293 Müller, Christoph Heinrich 17, 19 Müller, Heiner 168, 273 Mussolini, Benito 51, 221 ›Nacht und Nebel‹ (Erlass) 73 Nadler, Josef 131, 134, 148, 173 — ›Literaturgeschichte der deutschen Schweiz‹ 148 — ›Literaturgeschichte der deutschen Stämme‹ 134 Napoleon I. Bonaparte, Kaiser 20, 25, 44, 67f., 220, 226 Narfi 199 Narses 57 Naumann, Friedrich — ›Demokratie und Kaisertum‹ 224 Naumann, Hans 38, 87f., 99–102, 106, 173, 230, 238, 255, 263– 265 — ›Der Braunschweiger Löwe‹ 263f. — ›Germanisches Gefolgschaftswesen‹ 88
— ›Das Nibelungenlied, eine staufische Elegie oder ein deutsches Nationalepos?‹ 99– 101, 230 — Rede zur Bücherverbrennung 88, 100 ›Nebelspalter‹ (Zeitschrift) 149 Neckel, Gustav 158, 162–164 — ›Altgermanische Kultur‹ 162f. — ›Germanische Sagen von Göttern und Helden‹ 163f. — ›Germanisches Heldentum‹ 164 Neie, Burkhard 303–334 Nestroy, Johann 17 Neumann, Friedrich — ›Schichten der Ethik im Nibelungenliede‹ 86 Neuschwanstein 315, 327 Nibelungen — Judaic Nibelungs 68 — Kampf der Nibelungen (Kampfsportveranstaltung) 238, 275f. — Linksnibelungen 271 — Modern Nibelungs 61 — Nazi Nibelungs 63 — Nibelung New Year 63 — Nibelungen fashion 63 — Nibelungen Faust 44 — Nibelungen holocaust 53 — Nibelungen Nordic Man 53 — Der Nibelungen Not 54, 59, 61f., 65 — Nibelungenbrücke 40, 53, 229 — Nibelungenfestspiele 37, 239, 304
346 | Das ›Nibelungische‹ und der Nationalsozialismus
— Nibelungengau 274 — Nibelungenhalle 39 — Nibelungenhort 66, 232f., 297 — ›Nibelungenlied‹ 7–9, 17f., 20–28, 33–36, 38f., 44f., 47– 50, 53, 56f., 61f., 68f., 72, 77– 79, 81, 83–86, 89–96, 98–108, 111, 115–119, 125, 127f., 132, 151–153, 156f., 160, 163, 168f., 188–192, 226, 230, 235, 252, 259, 263, 270, 274f., 277–281, 286, 288, 290, 292– 294, 298–300, 304, 306, 330 — Nibelungenliedgesellschaft 19, 42, 151, 239 — Nibelungenmarsch 39 — Nibelungenmuseum 239 — Nibelungenreue 67 — Nibelungenstädte 39 — Nibelungen-Stimmung (atmosphere) 48, 63 — Nibelungentreue 35, 45, 47, 65, 67, 77, 97, 104, 286, 295, 300 — Nibelungenverbote 69 — Nibelungen-Verlag 44 — Nibelungen-Viertel 44 — Nibelungenweg 229 — Nibelungenwerke 54 — Nibelungische, das 17–75, 106, 195 — Nibelungischer Imperativ 58f., 70–72 — Nibelungischer Zeichenvorrat 37f., 72f. — Nibelungisierung 34, 171– 195 — Path of the Nibelungen 63
— Rechtsnibelungen 271 — SS-Grenadier-Division ›Nibelungen‹ 39, 66, 262 — ›Unternehmen Nibelungen‹ 66 Niedner, Felix 177–180 — ›Islands Kultur zur Wikingerzeit‹ 177, 179, 192–194 Nietzsche, Friedrich 252 — ›Genealogie der Moral‹ 86 Nievelstein, Ralf u. Rummel, Matthias — ›Neidhard von Steinach, Nibelungen‹ 278, 293–295, 299 ›Nornen‹, Die (Zeitschrift) 176 Novalis — ›Die Christenheit oder Europa‹ 122 ›Novemberverbrecher‹ 43 Obereit, Jacob Hermann 17 Odin s. Wotan Offa-Sage 160 Olrik, Axel — ›Nordisches Geistesleben‹ 99 ›Operation Gomorrha‹ 62, 71 ›Operation Jericho‹ 71 ›Operation Judgement‹ 71 ›Operation Samson‹ 71 Ortlieb 133 Ortnit 306 Ortwin 80 Oswald, Friedrich s. Friedrich Engels Otto I., der Erlauchte, Herzog 252 Otto I., der Große, Kaiser 244, 252f., 258, 267, 270 Ottokar I., König 242 Ovid 200 Pape, Hans 204
Index | 347
Parzival 50 Paulus, Friedrich 59 Pétain, Philippe 51 Petersen, Carl 158 (s. auch bei Friedrich Wolters) Petron 200 Pfeiffer, Franz 153f. Picker, Henry 245 Plaßmann, Josef Otto 252f., 256 — ›Hagen‹ 252 — ›Mehr sein als scheinen‹ 252f. Plinius der Ältere 175, 200 Poe, Edgar Allan 321 Primisser, Anton 153 ›Programm Heinrich‹ 245, 253 Prokopios von Caesarea — ›Gotenkriege‹ 175 Prützmann, Hans-Adolf 212 Pytheas von Massalia 175 Raffael 66 Ramuz, Charles Ferdinand 143, 147 Ranisch, Wilhelm 158, 160, 164, 178, 186, 187 Reitemeier, Johann Friedrich — ›Geschichte der preußischen Staaten‹ 242 Rembrandt 66 Renoir, Jean 52 Rhys Meyers, Jonathan 317 Richard Löwenherz 327 Richter, Albert 153, 157 — ›Deutsche Heldensagen des Mittelalters‹ 153–156 Riefenstahl, Leni 139 — ›Triumph des Willens‹ 39 Rienzo, Cola di 237
Riordan, Rick — ›Magnus Chase und die Götter von Asgard‹ 318 Robin Hood 221, 315, 327 Rode, Walther — ›Deutschland ist Caliban‹ 200 Rodenberg, Julius 227 Roethe, Gustav 224 Röhm, Ernst 31 ›Rolandslied‹ 88, 97, 101 Rommel, Erwin 51 Rosegger, Peter 147 Rosenberg, Alfred 59, 71, 238, 248, 263 — ›Dietrich Eckart‹ 108, 110– 112, 119, 124, 126 Rössing, Karl — ›Mein Vorurteil gegen diese Zeit‹ 30f. Roth, Joseph — ›Der Mythos von der deutschen Seele‹ 32, 40f. Roussel, Raymond — ›Locus Solus‹ 135 Rüdiger 37, 47 Rummel, Matthias s. bei Ralf Nievelstein Rumold 85 Rüttgers, Severin 45 Sand, Carl Ludwig 31, 226 Saxo Grammaticus 307 — ›Gesta Danorum‹ 186 Schäfer, Wilhelm — ›Der deutsche Rückfall ins Mittelalter‹ 10 Schaffner, Jakob 146f. Schalk, Gustav — ›Deutsche Heldensage‹ 155
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Schaper-Haeckel, Margarete — ›Ebenbürtigkeit in der germanischen Ehe‹ 257 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von 73 Schiller, Friedrich 65, 98, 108, 237 Schirach, Baldur von 97, 265 Schlegel, August Wilhelm 27 Schlegel, Friedrich 7 Schmidhauser, Julius 146 Schmoll von Eisenwerth, Karl — ›Volker und Hagen auf Schildwacht‹ 259 Schneckenburger, Max u. Wilhelm, Carl — ›Wacht am Rhein‹ 127 Schneider, Hans Ernst (alias Hans Schwerte) 33 Schneider, Hermann 87 — ›Das deutsche Epos des Mittelalters‹ 93, 102 — ›Heldendichtung, Geistlichendichtung, Ritterdichtung‹ 87, 98 — ›Herrscher und Reich in der deutschen Heldendichtung‹ 104 Schneidler, Friedrich Hermann Ernst 181f. Schopenhauer, Arthur 108 Schöttler, Wilhelm 54, 255 Schreyvogl, Friedrich 229 — ›Heerfahrt nach Osten‹ 58 Schrönghamer-Heimdal, Franz 125 — ›Das kommende Reich‹ 125 — ›Das Sonnengebot‹ 125 Schultz, Arved (von) 90
Schuschnigg, Kurt 47 Schütz, Wilhelm von 29 Schwerte, Hans s. Hans Ernst Schneider 33 Siegfried 31, 33–37, 39, 44–49, 53, 66–68, 70–72, 79, 80–82, 84, 86–97, 99, 111, 116, 118, 132, 138f., 149, 164, 189, 198, 200f., 217, 221–223, 226–229, 231– 238, 259, 267, 274f., 277f., 280f., 285, 297, 322 — Bismarck-Siegfried 228 — Deutscher Siegfried 43 — Gehörnter Siegfried 43 — Germanischer Siegfried 43 — Jung-Siegfried 236 — Kämpfender Siegfried 43 — Reincarnation of Siegfried 48 — Roter Siegfried 236 — Sieg-Fried 227 — ›Siegfried Line Calling‹ (Radiosender) 64 — Siegfried’s hunting horn 49 — Siegfriedbrunnen 40 — Siegfrieden 18, 112, 218, 227, 290 — Siegfriedgestalt 231 — Siegfriedisch 33 — Siegfriedler 46 — Siegfriedstellung, -linie, line 46, 48f., 53, 64, 229, 237 — Siegfriedwesen 46 — Strahlender Siegfried 259 — ›S wie Siegfried‹ 39 — ›Unternehmen Siegfried‹ 39, 53 Siggeier 201
Index | 349
Sigi 201 Sigmundr 200–202 Signy 201 Sigurd 201 Sigurd s. Siegfried Simrock, Karl — ›Das kleine Heldenbuch‹ 153 — ›Nibelungenlied‹ 20 — ›Walther von der Vogelweide‹ 24f. Sinfjǫtli 201f. Skadi 201 Skallagrímr 202 Söltl, Johannes Michael — ›Das ›Nibelungenlied‹, Rostem und Suhrab, Gudrun‹ 157 Sommer, Robert — ›Die Nibelungenwege von Worms über Wien zur Etzelburg‹ 229 Sonntag, Gottfried 39 Spengler, Oswald — ›Untergang des Abendlandes‹ 33 Spiero, Heinrich — ›Ernst Zahn‹ 131 Spitteler, Carl 148 — ›Unser Schweizer Standpunkt‹ 144 Spyri, Johanna 130 ›SS-Leithefte‹ (Zeitschrift) 253, 255–262 Staiger, Emil 141 Stalin, Josef 54, 223, 264–269 Stammler, Wolfgang — ›Germanisches Führerideal‹ 36, 57
Stein, Heinrich Friedrich Karl Reichsfreiherr vom und zum 171 — ›Monumenta Germaniæ Historica‹ (wiss. Editionsreihe) 171f. Steinfest, Heinrich — ›Der Nibelungen Untergang‹ 278f., 295–301 Stern, Horst — ›Mann aus Apulien‹ 238 Stickelberger, Emanuel 146 Stilke, Walther — ›Dietrich Eckart‹ 128 Strabon 175 Strauß, Eugen 228f. Streicher, Julius 199 Stresemann, Gustav 54 ›Stürmer‹, Der (Zeitschrift) 136, 199 Sturzo, Luigi 198 Sybel, Heinrich von 241 — ›Über die neueren Darstellungen der deutschen Kaiserzeit‹ 242 Szyk, Arthur 50 — ›Nibelungen series‹ 50–52 — ›Ride of the Valkyries‹ 52 — ›Satan Leads the Ball‹ 50f. Tacitus, Publius Cornelius 156 Teja, König 57, 60 Tell, Wilhelm 149, 327 Theoderich, König 263 ›Thidrekssaga‹ 307 Thor, Donar 164 Thule 174–177 — ›Thule‹ (Buchreihe) 171–195 — Thule-Gesellschaft 110
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Thusnelda 234 Tobler, Robert 144 Tojo, Hideki 51 Tolkien, John Ronald Reuel — ›The Lord of the Rings‹ 329 Tolstoi, Leo 23f., 188 — ›Über das, was Kunst genannt wird‹ 23f. Tristan 191 ›Underworld‹ (Filmreihe) 199 ›Unternehmen Barbarossa‹ 56, 71, 245, 253, 257 ›Unternehmen Beowulf‹ 71 ›Unternehmen Brunhild‹ s. Brünhild ›Unternehmen Fredericus I‹ 71 ›Unternehmen Fredericus II‹ 71 ›Unternehmen Hagen‹ s. Hagen ›Unternehmen Konrad I–III‹ 71 ›Unternehmen Krimhilde-Bewegung‹ s. Kriemhild ›Unternehmen Nibelungen‹ s. Nibelungen‹ 66 ›Unternehmen Otto‹ 244, 253 ›Unternehmen Siegfried‹ s. Siegfried 39, 53, 71 ›Unternehmen Walküre‹ s. Walküre 64 ›Unternehmen Walpurgisnacht‹ 66 Váli 199 Van Dyck 66 Varga, Lucie — ›Das Schlagwort vom ›Finsteren Mittelalter‹‹ 10 Varley, Lynn s. bei Frank Miller Varusschlacht 31, 205 Vergil 200 Vesper, Will 173
Vischer, Friedrich Theodor — ›Auch Einer‹ 136 Vogt, Friedrich 101f., 106 — ›Französischer und deutscher Nationalgeist‹ 101f. Volker 48, 81–85, 92, 259, 270, 287, 295 ›Völkischer Beobachter‹ (Zeitschrift) 43, 59f., 62, 110–112, 115, 119, 127f. ›Völsunga saga‹ 24, 190, 200f. Voltaire 108 ›Völuspá‹ 214 ›Von deutscher Art in Sprache und Dichtung‹ (Buchreihe) 33f. Wagner, Richard 23f., 27, 37, 39, 44, 49–52, 65–67, 227, 233, 237 — ›Der Nibelungen-Mythus‹ 74 — ›Parsifal‹ 50 — ›Rienzi‹ 237 — ›Der Ring des Nibelungen‹ 24, 41, 50f., 65, 67, 77 — ›Siegfried‹ 23 Wägner, Wilhelm — ›Unsere Vorzeit‹ 157 ›Waldere‹ 307 Walküre — ›Unternehmen Walküre‹ 64 — Walkürenritt 52 Walser, Robert 148 ›Waltharius‹ 153, 160, 170, 307 Walther 306 Walther von der Vogelweide 25, 69, 295 Wangenheim, Adolf Freiherr von 257 Weber, Max 220, 234 Weininger, Otto 108
Index | 351
Weiser, Leo — ›Dietrich Eckart‹ 128 Werbel 83 Werwolf 197–216 — ›Wehrwolf‹ (paramilitärischer Verband) 209f. — ›Radio Werwolf‹ 213 — ›Wehrsportgruppe Werwolf‹ 213 — ›Werwolf‹ (Aktion) 212 — ›Werwolf‹ (Führerhauptquartier) 211 Weschke, Franz — ›Siegfriedbrunnen‹ 40 Wetzel, Erhard 250 Wewelsburg 250, 253f. Widukind, Herzog 44, 250 Widukind von Corvey — ›Res gestae Saxonicae‹ 253 Wiedeburg, Paul Herrmann — ›Dietrich Eckart‹ 124 Wieland 160, 231, 306f., 313, 316, 321 Wiepking-Jürgensmann, Heinrich — ›Der Osten, bisher verwüstet, jetzt deutsch!‹ 257 Wilde, Oscar 321 Wilhelm I., Kaiser 227, 291 Wilhelm II., Kaiser 54, 109, 220, 223–225, 228 Wilhelm, Carl s. Max Schneckenburger Wille, Ulrich 142 Wirth, Herman 173
Wirz, Otto 141, 146 Wolfdietrich 306 Wolfeshusius s. Johann Friderich Wolfhart 84f. Wolfram von Eschenbach 86 — ›Parzival‹ 103 ›Wolfsschanze‹ (Führerhauptquartier) 211 ›Wolfsschlucht‹ (Führerhauptquartier) 211 Wolters, Friedrich 158 Wolters, Friedrich u. Petersen, Carl — ›Die Heldensagen der germanischen Frühzeit‹ 155, 164, 169 ›Wolves of Vinland‹ (neonazistische Verbindung) 214 Wolzogen, Hans von 157 — ›Urväterhort‹ 155 Wotan, Odin 44, 197–201, 203, 214, 286, 288f. Wüst, Walther 256 Zahn, Ernst 129–150 — ›Frau Sixta‹ 130 — ›General Wille Marsch für Klavier‹ 142 — ›Lukas Hochstraßers Haus‹ 135 — ›Macht der Heimat‹ 137f. — ›Schweizergebet‹ 142 — ›Sturmlied‹ 142f. — ›Die tausendjährige Straße‹ 129–150
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