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German Pages [413] Year 2014
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Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie
Herausgegeben von Christine Axt-Piscalar und Gunther Wenz Band 142
Vandenhoeck & Ruprecht
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Susanne Hennecke
Karl Barth in den Niederlanden Teil 1: Theologische, kulturelle und politische Rezeptionen (1919 – 1960)
Vandenhoeck & Ruprecht
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-56411-0 ISBN 978-3-647-56411-1 (E-Book) Ó 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: Konrad Triltsch Print und digitale Medien GmbH, Ochsenfurt Druck und Bindung: Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
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Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.
Zur Geschichte der Barth-Rezeptionen in den Niederlanden: Ziele, Methoden, Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Methodische Erwägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Historischer Kontext zwischen 1795 und 1930 . . . . . . . . . 1.4 Theologiegeschichtlicher Kontext der Neuzeit . . . . . . . . . 1.5 Der Neocalvinismus – systematisch betrachtet . . . . . . . . 1.6 Neocalvinismus und Versäulung . . . . . . . . . . . . . . . . 1.7 Arbeitshypothese und redaktionelle Anmerkungen . . . . . .
2.
Die Formierung der verschiedenen Rezeptionsstränge (1919–1926) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Erste Reaktionen und Kontakte . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Erste Kontakte und Reaktionen innerhalb des neocalvinistischen Spektrums . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Reaktionen aus dem Umkreis der niederländischen Vereinigung christlicher Studenten (NCSV) . . . . . . . . . . 2.5 Die Rezeption in der ethischen Theologie . . . . . . . . . . . 2.6 Die Rezeption in der liberalen Theologie: Karel H. Roessingh 2.7 Die Rezeption in der konfessionellen Theologie: Theodorus L. Haitjema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.8 Rückblick auf den Zeitraum zwischen 1919 und 1926 . . . . .
3.
Die Polarisierung der verschiedenen Rezeptionsstränge (1926–1933) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Barths erster Besuch der Niederlande: Verlauf und Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 De Hartogs Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Kritik von neocalvinistischer Seite: Das Beispiel Klaas Schilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Nach Barths zweitem Besuch in den Niederlanden . . 3.6 Die Diskussion zwischen Haitjema und Schilder . . . 3.7 Weitere Kritik von neocalvinistischer Seite: Das Beispiel Valentijn Hepp . . . . . . . . . . . . . . .
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6
Inhalt
3.8 3.9 4.
5.
6.
7.
Die Diskussion zwischen Haitjema und De Hartog . . . . . . 115 Rückblick auf den Zeitraum zwischen 1926 und 1933 . . . . . 119
Oepke Noordmans’ Barth-Rezeption. Kulturtheologie I . . . . . . . 4.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Abwendung von der Theologie des 19. Jahrhunderts . . . . . 4.3 Die Auseinandersetzung mit Barths Römerbrieftheologie . . . 4.4 Die Barthsche Wende zur Dogmatik . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Rückblick: Zum Versuch einer Kulturtheologie im Gespräch mit Barth I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Christliche Kunst? (1919 – 1940). Kulturtheologie II . . . . . . . . . 5.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Harmen van der Leek und das Problem des christlich-literarischen Mankos . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Roel Houwink als Dichter und Redakteur der Opwaartsche wegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Der niederländische Barthroman und Henk van Randwijk . . 5.5 Rückblick und Ausblick: Zum Versuch einer Kulturtheologie im Gespräch mit Barth II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
159 159
Die Konsolidierung der Polarisierung. Theologische Barth-Rezeptionen in den 30er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Gerrit Cornelis Berkouwer : Der Exponent des orthodoxen Pols . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Gerrit J. Heering: Der Exponent des liberalen Pols . . . . . 6.4 Berkouwer und Heering: vergleichende Zusammenfassung Aufbrüche: Die Entstehung des niederländischen Barthianismus als eine theologische und kirchenpolitische Herausforderung (1933 – 1950) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Die Offenbarung der Verborgenheit . . . . . . . . . . . . . 7.3 Historische Entwicklungen der Vorkriegszeit in den Niederlanden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4 Die erste Hälfte der 40er Jahre: Karl Barths Bedeutung für den niederländischen Widerstand . . . . . . . . . . . . . . 7.5 Die theologische und kirchenpolitische Bedeutung der (Rezeption der) Theologie Karl Barths für die neue Kirchenverfassung der Nederlandse Hervormde Kerk . . . . 7.6 Rückblick auf den Zeitraum zwischen 1933 und 1950 . . . .
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. 205 . 205 . 207 . 223 . 234
. 237 . 237 . 238 . 258 . 263 . 268 . 283
7
Inhalt
8.
9.
Durchbrechung der Polarisierung in der niederländischen Nachkriegszeit (1945–1960)? Kulturtheologie III: Christliche Politik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Die Wurzeln des Doorbraak in den politischen Parteien und Bewegungen vor 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3 Kirchliche Entwicklungen und kirchliche Doorbraak-Dokumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4 Die Doorbraak-„Bibel“ von 1947 . . . . . . . . . . . . . . . . 8.5 Die Parodie der Parodie: Zwei Doorbraak-Gedichte . . . . . . 8.6 Rückblick: Zum Versuch einer Kulturtheologie im Gespräch mit Barth III . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Barth-Rezeption als Sinngebung des Sinnlosen bei Kornelis H. Miskotte. Kulturtheologie IV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2 Barths Religionsbegriff im Kontext des modernen Nihilismus 9.3 Miskotte als Kulturtheologe I: Die phänomenologische Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.4 Keine Zeit für Illusionen: Miskottes biblische Hermeneutik . 9.5 Miskotte als Kulturtheologe II: Von der Offenbarung zur Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.6 Rückblick: Zum Versuch einer Kulturtheologie im Gespräch mit Barth IV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
286 286 290 303 311 325 328 330 330 338 352 355 362 366
10. Einsichten und Aussichten: Einige Erwägungen . . 10.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2 Kulturtheologische Debatten in Deutschland 10.3 Barthianische Kulturtheologie: historisch . . 10.4 Barthianische Kulturtheologie: systematisch 10.5 Der Ertrag einer internationalen Perspektive
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Literatur . . . . . . . . Abkürzungen . . . Interviews . . . . Sekundärliteratur
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Autorenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408
© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525564110 — ISBN E-Book: 9783647564111
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Vorwort Die vorliegende Studie ist die leicht veränderte Form meiner Habilitationsschrift, die im Sommersemester 2012 an der Evangelisch-Theologischen Fakultät in Bonn angenommen wurde. Den beiden Gutachtern der Qualifikationsschrift gilt mein Dank. Die Studie ist zugleich Resultat eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Forschungsprojektes „Die theologische, politische und kulturelle Rezeption der Theologie Karl Barths in den Niederlanden“, welches institutionell ebenfalls an der Evangelisch-Theologischen Fakultät in Bonn eingebettet wurde. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft gilt mein größter Dank für die Unterstützung. Viele haben in den letzten Jahren durch Anwesenheit, fachliche Hinweise und auch durch Erheiterndes dazu beigetragen, dass die Ausführung des Projektes gelingen konnte. Für die Hilfe bei den Korrekturarbeiten möchte ich mich ganz herzlich bei Frau Ursula Kretschmer, Herrn Sebastian Jürgens, Herrn Prof. Dr. Andreas Pangritz und Herrn Dr. Martin Ruf bedanken. Herrn Roman Salwasser danke ich für die technische Assistenz beim Erstellen der Satzvorlage. Als hilfreich erwies sich in den vergangenen Jahren auch die Teilnahme an verschiedenen Kolloquien beziehungsweise Oberseminaren. Für Teilnahmeund Gesprächsmöglichkeiten bedanke ich mich entsprechend bei Prof. Dr. Christine Janowksi (Bern), Prof. Dr. Martin Laube (Bonn/Köln), Prof. Dr. Andreas Pangritz (Bonn) und Prof. Dr. Dr. Günter Thomas (Bochum). Nicht zuletzt gilt mein großer Dank auch dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht. Den HerausgeberInnen der Reihe „Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie“ danke ich für die freundliche Aufnahme und Herrn Christoph Spill für die gute Zusammenarbeit bei der Erstellung der Satzvorlage. Die Druckkosten wurden im Rahmen des oben genannten Forschungsprojektes freundlicherweise von der Deutschen Forschungsgemeinschaft übernommen. Bonn, im Sommer 2013
Susanne Hennecke
© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525564110 — ISBN E-Book: 9783647564111
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1. Zur Geschichte der Barth-Rezeptionen in den Niederlanden: Ziele, Methoden, Kontexte 1.1 Einleitung Diese Arbeit verfolgt das im Grunde einfache, doch trotzdem höchst umfangreiche und komplexe Ziel, erstmalig zusammenhängend die theologischen, kulturellen und politischen Rezeptionen und Wirkungsgeschichten des deutsch-schweizerischen protestantischen Theologen Karl Barth (1886 – 1968) in den Niederlanden darzustellen und diese sowohl in rezeptionsästhetischer als auch modernitätstheoretischer und systematisch-theologischer Hinsicht zu reflektieren. Von diesem unmittelbaren Ziel zu unterscheiden ist das den Rahmen dieser Studie weitgehend überschreitende Fernziel dieser Arbeit, nämlich durch die Darstellung der Besonderheiten gerade der niederländischen Barth-Rezeptionen einen internationalen Vergleich1 zwischen den Barth-Rezeptionen verschiedener Länder möglich zu machen und zu befördern. Dieses Fernziel soll im Rahmen des letzten Kapitels dieser Arbeit ansatzweise und exemplarisch anhand eines Vergleichs der niederländischen mit der deutschen Situation hinsichtlich der Bedeutung Karl Barths anvisiert werden. So füllt diese Arbeit2 zunächst eine historische Forschungslücke hinsichtlich der Darstellung der niederländischen Barth-Rezeptionen: Die in verschiedener Hinsicht überaus starke Bedeutung Karl Barths für die Nieder1 Als Grundlage für diesen Vergleich bieten sich die in den letzten Jahren zunehmend publizierten Forschungen zur internationalen, insbesondere zur europäischen Barth-Rezeption an. Die bislang wohl umfangreichste Studie zur Barth-Rezeption eines europäischen Landes ist die Studie von A.-K. FINKE, Karl Barth in Großbritannien. Rezeption und Wirkungsgeschichte, Neukirchen-Vluyn 1995. Weiter wurden viele Teilstudien zu verschiedenen europäischen Ländern publiziert, nämlich zu Belgien, Frankreich und der französischen Schweiz (B. Bourgine; D. Schneider), Dänemark (H.V. Mikkelsen), zur DDR (M. Gockel und M. Leiner), Italien (C. Danani), den Niederlanden (S. Hennecke, G. Neven), Norwegen (K. Hafstad), Rumänien (Ý. Ferencz, V. Cristescu), Tschechien (J. Sˇtefan) und Ungarn (S. Fazakas): vgl. M. Leiner/M. Trowitzsch (Hg.), Karl Barths Theologie als europäisches Ereignis, Göttingen 2008; zu den Niederlanden (H.W. de Knijff, H.J. Adriaanse) vgl. außerdem M. Beintker/C. Link/M. Trowitzsch (Hg.), Karl Barth im europäischen Zeitgeschehen (1935 – 1950). Widerstand – Bewährung – Orientierung, Zürich 2010. Zur Barth-Rezeption in der DDR vgl. auch M. Murrmann-Kahl, Ein Prophet des wahren „Sozialismus“? Zur Rezeption Karl Barths in der ehemaligen DDR, ZNThG/JHMTh 1 (1994), 139 – 166. 2 Vgl. die Vorstudie von S. Hennecke, Zur Barthrezeption in den Niederlanden. Eine Übersicht, in: Leiner/Trowitzsch, Karl Barths Theologie, 138 – 162.
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Zur Geschichte der Barth-Rezeptionen in den Niederlanden
lande wurde bislang nämlich oftmals nur rudimentär erforscht und nicht zusammenhängend erfasst und dargestellt. Die bisher vorliegenden Arbeiten3 stellen Teilstudien zur Barth-Rezeption in den Niederlanden oder Übersichten zur niederländischen Kirchengeschichte dar, in denen das zahlreiche Quellenmaterial zu Karl Barth nicht, unvollständig oder nur sehr sporadisch und zudem oftmals recht tendenziös verarbeitet wurde. Sodann geht es in dieser Arbeit auch darum, das gefundene historische Material anhand rezeptionsästhetischer, modernitätstheoretischer und systematisch-theologischer Fragestellungen zu systematisieren. Die vorliegende Arbeit stellt mithin den Versuch dar, eine diachrone, historische Herangehensweise mit einer synchronen, systematisierenden zu verbinden, was sich auch in ihrem Aufbau spiegelt: So sind das zweite, dritte, sechste, siebte und achte Kapitel dieser Studie vorwiegend an einer historischen Darstellung interessiert, während das vierte, fünfte, achte4 und neunte Kapitel anhand von ausführlicheren Einzelstudien versuchen, dem für den niederländischen Barthianismus charakteristische Anliegen des Projekts einer von Barth inspirierten alternativen Kulturtheologie auf die Spur zu kommen. Damit verspricht die Arbeit wohl für viele Ohren etwas Überraschendes: Werden Barths Theologie und eine Theologie der Kultur oder genauer der (deutsche) Kulturprotestantismus theologiegeschichtlich und systematisch-theologisch oft als Gegensätze eingeordnet, soll in den folgenden Kapiteln gezeigt werden, dass dieser Antagonismus für die Niederlande nicht ohne Weiteres zutrifft. Das Schlusskapitel wird die diesbezüglichen Ergebnisse noch einmal zusammenfassend systematisieren. Diese Studie untersucht den Zeitraum zwischen 1919 und 1960. Sie beginnt also in dem Jahr, in dem die erste Auflage von Barths Kommentar zum Römerbrief5 erschien, was zur erstmaligen Rezeption der Theologie Barths in den Niederlanden führte, und endet in der Zeit, in der die niederländischen Barth-Rezeptionen vorläufig nicht nur ihren theologischen, sondern auch kulturellen und politischen Höhepunkt erreicht haben. Karl Barths Theologie war aber in den Niederlanden bis in die späten 80er Jahre hinein höchst populär und wird bis heute aktiv rezipiert. So gesehen versteht sich diese 3 M.E. Brinkman, De theologie van Karl Barth. Dynamiet of dynamo voor christelijk handelen. De politieke en theologische kontroverse tussen Nederlandse bartianen [sic] en neocalvinisten, Baarn 1983; J. van Eijnatten/F. van Lieburg, Nederlandse religiegeschiedenis, Hilversum 2005; A. Geense, Die Bedingung der Universalität. Über die Rezeption der Theologie Karl Barths, VF 24(1979), 5 – 32; G. Harinck, The Early Reception of the Theology of Karl Barth in The Netherlands (1919 – 1926), ZDT 17, 2001, Nr. 2, 170 – 187; E.P. Meijering, Het Nederlands christendom in de twintigste eeuw, Amsterdam 2007; A.J. Rasker, De Nederlandse Hervormde Kerk vanaf 1775. Haar geschiedenis en theologie in de negentiende en twintigste eeuw, Kampen 2 1981; H.J. Selderhuis (Hg.), Handboek Nederlandse kerkgeschiedenis, Kampen 2006; J.B.M. Wissink, Barths Theologie innerhalb der R.K. Tradition. Ergebnisse und Probleme, ZDT 2, 1986, Nr. 2, 359 – 364. 4 Das achte Kapitel ist sowohl in diachroner als auch in synchroner Hinsicht relevant. 5 K. Barth, Der Römerbrief, Bern 1919.
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Methodische Erwägungen
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Arbeit als erster Teil einer noch weiterzuführenden Gesamtdarstellung niederländischer Barth-Rezeptionen bis in die jüngste Gegenwart. Dieses erste Kapitel ist der einleitenden Orientierung des Lesers und der Leserin der Arbeit gewidmet. Außer einer Darstellung der Ziele dieser Arbeit (1.1) bietet es einige methodische Erwägungen (1.2), hinsichtlich der diachronen Ebene des Vorhabens eine einführende Kurzdarstellung des historischen Kontextes (1.3) und hinsichtlich der synchronen Ebene des Vorhabens eine Übersicht über die theologiegeschichtlichen Konstellationen (1.4), wobei der so genannte Neocalvinismus besonders hervorgehoben wird (1.5). Sodann verschafft dieses einleitende Kapitel eine Orientierung über die niederländische gesellschaftliche Struktur der so genannten Versäulung (1.6), es endet mit der erkenntnisleitenden Hypothese dieser Arbeit und einigen nicht ganz unwichtigen redaktionellen Anmerkungen (1.7).
1.2 Methodische Erwägungen6 In diesem Abschnitt geht es um dreierlei: Erstens soll der Frage nachgegangen werden, inwiefern bei dem erläuterten Vorhaben vom Schreiben einer Geschichte gesprochen werden kann. Zweitens soll dargelegt werden, welches Verständnis von Rezeption der Studie zugrunde liegt, und drittens sollen anhand dieser Überlegungen einige erkenntnisleitende rezeptionsästhetische Fragestellungen entwickelt werden, anhand derer das dieser Arbeit zugrundeliegende Textmaterial in rezeptionsästhetischer Hinsicht analysiert werden soll. Vom Schreiben einer Geschichte der niederländischen Barth-Rezeptionen In welchem Sinne spricht diese Arbeit also vom Schreiben einer Geschichte der niederländischen Barth-Rezeptionen? Zur Beantwortung dieser Frage bieten sich einige Gedanken des intersdisziplinär arbeitenden Kulturphilosophen Michel de Certeau (1925 – 1986) an, die dieser in seinem Buch Das Schreiben der Geschichte7 entwickelte: De Certeau geht es darum, zwei Antinomien in einem einzigen Begriff zu verbinden. Das von ihm zentral gestellte Stichwort Historiographie will einerseits die Geschichte im Sinne von tatsächlich geschehener Historie und andererseits das Schreiben als zeitgenössischen, sinnstiftenden, mehr oder weniger literarischen Diskurs miteinander verbinden. Der historische Diskurs – die Historiographie – hat nach ihm eine narrative und eine performative Funktion: Die erste, narrative Funktion des 6 Vgl. auch S. Hennecke, Karl Barth. Een open kunstwerk, Oph 16(2009)3, 12 – 15. 7 M. de Certeau, Das Schreiben der Geschichte (übers. v. S.M. Schomburg-Scherff), Campus historische Studien 4, Frankfurt a.M./New York 1991, insbes. Vorwort und Teil 1 (Produktion des Ortes), 7 – 136 [urspr.: L’ ¦criture de l’ histoire, 1975].
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Zur Geschichte der Barth-Rezeptionen in den Niederlanden
Geschichte-Schreibens verbindet er mit dem Gedanken eines Begräbnisrituals.8 Den Toten werden schriftliche Gräber angeboten und damit wird die Vergangenheit endlich von der Gegenwart getrennt. Schreiben von Geschichte findet also auf der Grenze zwischen Vergangenheit und Gegenwart statt, ja es schafft diese Grenze erst und erweitert sie zu einem Übergangsgebiet vom anderen (der Vergangenheit) zum eigenen (der Gegenwart). Außer Todesarbeit ist Schreiben von Geschichte nach de Certeau allerdings auch Arbeit gegen den Tod.9 Das hängt mit der zweiten, der performativen Funktion des Geschichte-Schreibens zusammen. Die Analyse der Vergangenheit ist nämlich immer vom Verständnis einer notwendig anderen, von der Vergangenheit getrennten zeitgenössischen gesellschaftlichen Situation geleitet. Der Sinn des zeitgenössischen Diskurses über die Toten ist es, dass die Gruppe der Lebenden mit sich selbst kommuniziert, sich einen eigenen Raum im Verhältnis zur Vergangenheit schafft, von einem eigenen, durch das Begräbnis freigewordenen Ort her schreibt. Dieser Ort besteht nach de Certeau weder aus globalen noch aus individuellen Ideen, sondern ist an eine bestimmte Institution, eine lokalisierbare Produktionsstätte gebunden. Kurzum: Das Schreiben von Geschichte ist mit de Certeau als eine Aktivität auf der Grenze oder im Übergang zwischen einer Vergangenheit und einer Gegenwart aufzufassen. Dieser Auffassung und der mit ihr verbundenen Orts-Hoffnung fühle ich mich beim Schreiben dieser Arbeit verbunden. Dass es in der vorliegenden Studie zur Geschichte der niederländischen Barth-Rezeptionen zwar auch, aber keineswegs nur um ein rein historisches Unternehmen gehen soll, spiegelt sich auch darin, dass, wie oben bereits erwähnt, zwischen einer diachronen, vorwiegend historisch orientierten und einer synchronen, systematisch interessierten Vorgehensweise unterschieden wird. Insbesondere die Ergebnisse der vorwiegend systematisch interessierten Forschungen sollen dann im letzten Kapitel dieser Studie noch einmal aufgegriffen und daraufhin befragt werden, zu welchem zeitgenössischen Diskurs und zu welchen Aussichten die gewonnenen Einsichten inspirieren könnten. Rezeptionstheoretische Erwägungen Was genau man unter Rezeption zu verstehen hat, ist in der gegenwärtigen rezeptionsästhetischen Forschung keinesfalls unumstritten: Es gibt verschiedene Modelle der Rezeption, bei denen ein unterschiedliches Verhältnis zwischen dem Autor eines Textes – in diesem Fall Karl Barth – und den Lesern eines Textes – hier : die niederländischen Barth-Rezipienten – entwickelt wird. In dieser Arbeit geht es ausdrücklich darum, die Geschichte der Leserschaft zu schreiben. Diese Konzentration auf die Leserseite ist innerhalb der Rezeptionsforschung alles andere als selbstverständlich: Zumeist steht nämlich der 8 AaO., 11 f. 9 AaO., 23.
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Methodische Erwägungen
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Text und seine Wirkungsintention im Vordergrund. Sich hingegen auf die Leserseite zu konzentrieren bedeutet aber nicht, sich darauf zu beschränken; diese Arbeit orientiert sich darum an dem dialogisch orientierten Rezeptionsverständnis der Konstanzer Schule10. Der von der Konstanzer Schule seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts herbeigeführte Paradigmenwechsel in der Literaturwissenschaft wendete sich gegen den damals vorherrschenden Formalismus und Strukturalismus: Der Text soll nunmehr nicht länger als ausschließlich autonome Größe und der Leser nicht länger als lediglich passiv wahrnehmendes Subjekt betrachtet werden. Man wendete sich aber auch gegen den damals ebenfalls verbreiteten marxistisch inspirierten Ansatz der Produktionsästhetik: Der Leser soll nicht mehr auf seine soziale Stellung hin reduziert werden. Nun werden jedoch innerhalb der Konstanzer Schule zwei Leitfragen11 unterschieden: einerseits die Frage, wie literarische Texte verstanden werden sollten, und andererseits, wie literarische Texte von realen Lesern verstanden worden sind. Die erste Frage richtet sich auf die Bedingungen des VerstandenWerdens, wie sie vom Text her gegeben sind, die zweite richtet sich auf die Bedingungen des Verstehens auf der Seite des Rezipienten. Während die erste Frage den so genannten impliziten Leser in den Vordergrund stellt, stellt die zweite Frage den so genannten realen Leser in den Vordergrund ¢ also denjenigen empirischen Leser, der den Text faktisch rezipiert. Die eine Seite der Rezeptionsforschung innerhalb der Konstanzer Schule bewegt sich mithin auf textinterner Ebene und wird oft unter dem Stichwort der Rezeptionsästhetik – oder in der angelsächsischen Variante als reception theory beziehungsweise als reader-response-criticism – zusammengefasst. Einer ihrer bedeutsamsten Vertreter ist Wolfgang Iser12. Innerhalb der Barthforschung hat Georg Pfleiderer in seinem Buch Karl Barths praktische Theologie13 in Anschluss an Iser erstmals versucht, die als „agentenorientierte, normativ-dogmatisch[…]“14 aufgefasste Theologie Barths auf ihre internen „Rezeptionsabsichten“15 hin zu analysieren und ihre „spezifische[…], refle-
10 Die Konstanzer Schule begründete in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine literaturwissenschaftliche Forschungsrichtung, die durch die Entwicklung der so genannten Rezeptionsästhetik bekannt geworden ist. Es ist das Anliegen dieser Richtung, Literatur und Kunstwerke im Allgemeinen im Zusammenhang mit ihrer Rezeption zu untersuchen. 11 Vgl. die Übersicht von H. Link, Rezeptionsforschung. Eine Einführung in Methoden und Probleme, UB 215, Stuttgart 1976, 38. 12 Bekannte Werke Isers sind etwa: W. Iser, Der implizite Leser. Kommunikationsformen des Romans von Buyan bis Beckett, München 1972; Ders., Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, München 1976. 13 G. Pfleiderer, Karl Barths praktische Theologie. Zu Genese und Kontext eines paradigmatischen Entwurfs systematischer Theologie im 20. Jahrhundert, BHTh 115, Tübingen 2000. 14 AaO., 8. 15 AaO., 11.
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Zur Geschichte der Barth-Rezeptionen in den Niederlanden
xive[…] rezeptionsästhetisch[e] oder pragmatisch[e]“16 Verfasstheit aufzuweisen. Die zweite Form der Rezeptionsforschung innerhalb der Konstanzer Schule bewegt sich mehr auf der textexternen, soziologischen Ebene und wird unter dem Nenner der Rezeptionsgeschichte zusammengefasst. Einer ihrer bedeutendsten Vertreter ist Hans Robert Jauß. Auch für diese Form gibt es innerhalb der Barthforschung bereits einen Vertreter, nämlich Ralph Crimmann17, der sich allerdings auf Barths frühe Publikationen konzentriert. Bemerkenswert im Zusammenhang mit dem Vorhaben dieser Arbeit ist, dass Crimmann auch die niederländische Rezeption Barths in seine Untersuchungen mit einbezieht. Allerdings tut er das nur sehr ausschnitthaft, ist dadurch auch sehr einseitig18 und versäumt es zudem, den spezifisch niederländischen Kontext und dessen mögliche Fremdheit im Vergleich zum deutschen Kontext zu beachten. Entsprechend dem Vorhaben dieser Arbeit richte ich meinen Blick im Folgenden zunächst auf den von Hans Robert Jauß initiierten rezeptionsgeschichtlichen Ansatz: Es geht Jauß darum, sich auf die „geschichtsbildende Energie“19 der Leserschaft eines Werkes zu richten, diese also als wesentlich aktiver als gemeinhin üblich aufzufassen. Erst durch die aktive Vermittlung des Publikums könne das Werk eines Autors in einen „sich wandelnden Erfahrungshorizont einer Kontinuität“20, also in einen offenen, geschichtlichen Prozess eintreten. Damit sei Literaturgeschichte dann anders als im historischen Objektivismus als „Prozess ästhetischer Rezeption und Produktion [aufzufassen], der sich in der Aktualisierung literarischer Texte durch den aufnehmenden Leser, den reflektierenden Kritiker und den selbst wieder produzierenden Schriftsteller vollzieh[e]“21. Um die Interaktion zwischen Text und zeitgenössischen oder künftigen Lesern und also den Ereignischarakter der Literatur beschreiben zu können, entwickelt Jauß das Konzept des Erwartungshorizontes: Erst im Erwartungshorizont der literarischen Erfahrung zeitgenössischer und späterer 16 AaO., 12. 17 R. Crimmann, Karl Barths frühe Publikationen und ihre Rezeption. Mit einem pädagogischtheologischen Anhang, BSHST 45, Bern/Frankfurt a.M./Las Vegas 1981. 18 Crimmann bespricht hauptsächlich zwei niederländische Barth-Rezipienten, nämlich den der konfessionellen reformierten Strömung zugehörigen Th. L. Haitjema und den gereformierten K. Schilder. Während Haitjema ganz richtig als „Freund“ der Theologie Barths eingeordnet wird, wird Schilder ebenfalls richtig als dessen „Gegner“ betrachtet; vgl. Crimmann, Barths frühe Rezeptionen, 174 f; zu K. Schilder und Th.L. Haitjema vgl. auch ausführlicher die Kap. 2 und 3 dieser Studie. Allerdings versäumt es Crimmann, die ebenfalls bereits früh einsetzende BarthRezeption des reformierten ethisch-theologischen Mittelfeldes (O. Noordmans und K.H. Miskotte u. a.; vgl. Kap. 2, 3 und 4 bzw. 9 dieser Studie) und des liberalen Flügels (K.H. Roessingh u. a., vgl. Kap. 2 dieser Studie) mit einzubeziehen, weswegen der konfessionelle/orthodoxe Teil der Rezeption verhältnismäßig stark betont wird. 19 Vgl. H.R. Jauss, Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, in: R. Warning (Hg.), Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis, UTB 303, München 41993, 126 – 162, 127. 20 Ebd. 21 AaO., 129.
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Leser werde der Ereigniszusammenhang der Literatur vermittelt. Dieser vom Text selber produzierte Erwartungshorizont literarischer Erfahrung könne rekonstruiert werden und sei somit objektivierbar. Er setze sich, so Jauß, beim Erscheinen eines Werkes aus dem Vorverständnis der Gattung, der Form und Thematik zuvor bekannter Werke und dem Gegensatz zwischen poetischer und praktischer Sprache zusammen. Letzteres schließe neben dem Horizont der literarischen Erwartungen der Leserschaft nämlich auch den Horizont ihrer Lebenserfahrung ein. Komme es nun beim Publikum zu einer Distanz zwischen der vertrauten bisherigen ästhetischen Erfahrung und der tatsächlichen Wirkung des Werkes, unterliege der Erwartungshorizont einem Horizontwandel. Diese Distanz sei geradezu als ein Gradmesser für den Kunstcharakter eines Werkes anzusehen. So ermögliche die Rekonstruktion von Erwartungshorizonten also die Bestimmung der „hermeneutischen Differenz zwischen dem einstigen und dem heutigen Verständnis eines Werkes“22. Durch das Sichtbarmachen dieser Differenz könne dann die scheinbare Zeitlosigkeit und die scheinbare Objektivität des Sinnes eines Textes in Frage gestellt werden. Damit gehe es um die produktive Funktion des fortschreitenden Verstehens und um die zum Leuchten zu bringende ereignisreiche Geschichtlichkeit des Textes als implizierte Bestandteile des Textes. Wendet man diese Gedanken von Jauß auf das Vorhaben dieser Arbeit an, lässt es sich nunmehr exakter als der Versuch beschreiben, die Theologie Karl Barths als ein noch offenes Kunstwerk aufzufassen, das im Sinne des oben beschriebenen Horizontwandels als Ereignis, und zwar zunächst als ein niederländisches Ereignis aufgefasst werden kann.23 Darüber hinaus erweist es sich für das weitere Anliegen dieser Arbeit als besonders vielversprechend, dass Jauß sich mit der Rede von der produktiven Funktion des fortschreitenden Verstehens eines Textes auch für die „gesellschaftsbildende[…] Funktion der Literatur“24 einsetzt. Erst, wenn „die literarische Erfahrung des Lesers in den Erwartungshorizont seiner Lebenspraxis“25 eintrete, komme diese angemessen zur Geltung. Jauß unterscheidet mithin andeutungsweise einen Erwartungshorizont der Leserschaft – den Erwartungshorizont ihrer Lebenspraxis – von einem (oben bereits erwähnten) Erwartungshorizont des literarischen Werkes. Indem der Erwartungshorizont des literarischen Werkes den möglichen „Inhalt einer Erfahrung präformier[e]“26, könne er der Leserschaft in ästhetischer und morali22 AaO., 136. 23 Selbstverständlich wäre es nun auf rezeptionstheoretischer Ebene äußerst interessant, den textinternen Ansatz von Pfleiderer mit dem textexternen Ansatz dieser Studie hinsichtlich des Verhältnisses zwischen intendiertem und realem Leser miteinander ins Gespräch zu bringen. Hierauf soll aber im Rahmen dieser Studie aufgrund der zu erwartenden Komplexität des Vorhabens aus Raumgründen verzichtet werden. 24 H.R. Jauss, Literaturgeschichte, 149. 25 AaO., 148. 26 AaO., 150.
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scher Hinsicht neue Wahrnehmungen ermöglichen. Diesem außerliterarischen Erwartungshorizont des Lesers will Jauß in späteren Werken noch mehr Aufmerksamkeit schenken; so könne es zu einer Verschmelzung des impliziten und des expliziten Erwartungshorizontes kommen, ohne dass allerdings der hermeneutische Vorrang des impliziten Lesers und des innerliterarischen Erwartungshorizontes des realen Lesers aufzugeben sei. Vielmehr sollen diese expliziten Lesererwartungen – so Jauß in einem anderen Beitrag – „aus der Reflexion über das Verhalten der Subjekte zum Text gewonnen werden“27. Später differenziert Jauß in einem Beitrag zur Hermeneutik der Fremde28 in Anlehnung an Odo Marquardt diesen außerliterarischen Erwartungshorizont noch einmal, und zwar in einen primären und in einen sekundären außerliterarischen Kontext des Verstehens. Er betont nun viel stärker die Notwendigkeit, die Andersheit der Welt der Empfänger, also die Andersheit des primären gegenüber dem sekundären außerliterarischen Kontext deutlich zu machen. Die Kontrollinstanz für das rechte Verständnis eines Textes bleibe aber immer der primäre Kontext, also dasjenige, was bei Theologen und Theologinnen als der Sitz im Leben bekannt ist. Gegenüber Hans Georg Gadamers Rede von einer spontanen „Horizontverschmelzung“29 zwischen dem Text und dem Leser, schlägt er in sympathisierender Abgrenzung zu Gadamer den Begriff einer „reflektierte[n] Horizontabhebung“30 vor. Diese solle durch die Bewusstmachung des sekundären Kontextes die Fremdheit gegenüber dem primären Kontext wesentlich stärker hervorheben. Deutlicher als zuvor benennt Jauß nun auch das Problem, dass es nicht nur einer Hermeneutik der „zeitlichen (historischen) Ferne“31, sondern auch der „gleichzeitigen (kulturellen) Fremde“32 bedürfe. Andersartigkeit und Eigenständigkeit niederländischer Barth-Rezeptionen In Weiterführung der bei Jauß gefundenen Spur geht es in dieser Arbeit allerdings um eine noch stärkere Betonung gerade auch des kulturellen oder nationalen Abstands, der mit der räumlichen Differenz zwischen dem ursprünglichen deutschsprachigen Kontext des Werkes von Karl Barth und seiner Rezeption in einem anderem, hier : niederländischen Kontext gegeben ist. Die Veränderungen, die sich durch den grenzüberschreitenden Transport eines Werkes innerhalb des fremden Kontextes ergeben, bezeichne ich in meinem Vorhaben als Rekontextualisierung. Ebenfalls in Weiterführung der 27 H.R. Jauss, Der Leser als Instanz einer neuen Geschichte der Literatur, Poetica 7, 1975, 325 – 344.340. 28 H.R. Jauss, Das Buch Jona – ein Paradigma der „Hermeneutik der Fremde“, in: Ders., Wege des Verstehens, München 1994, 85 – 106. 29 Vgl. H.G. Gadamer, Wirkungsgeschichte und Applikation, in: warning, Rezeptionsästhetik, 113 – 125.119. 30 Jauss, Das Buch Jona, 100. 31 AaO., 85. 32 Ebd.
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bei Jauß gefundenen Spur geht es in dieser Studie zudem um eine noch wesentlich stärkere Betonung der eigenen – auch die räumliche Differenz mit einbeziehenden – Aktivitäten seitens der Leserschaft. Hierbei schließe ich mich dem etwa ab den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts innerhalb der Kulturanthropologie und dann auch innerhalb der Rezeptionsästhetik entwickelten Begriff der Aneignung33 an: Hierunter ist eine bestimmte Art der Rezeption zu verstehen, die sich von den verwandten Begriffen der Akkulturation und der Inkulturation insofern unterscheidet, als noch stärker ein von den rezipierenden Individuen oder Gruppen selbst vollzogener aktiver Prozess der Sinngebung gemeint ist, bei dem das rezipierte Gedankengut im eigenen kulturellen Kontext mit einer eigenen, besonderen Bedeutung versehen wird oder versehen werden kann, die sich von der ursprünglichen Bedeutung unterscheidet oder unterscheiden kann und zumeist emanzipatorische Interessen verfolgt. Der Begriff der Aneignung impliziert zudem, dass die Aneignung auch in einen Prozess der Abweisung des zu übernehmenden transportierten Kulturguts resultieren kann. Als Resultate der Aneignung können dann cross-kulturelle, alternative Bedeutungen der übernommenen Objekte, Formen oder Werte betrachtet werden. Nicht das Ideal von Normen (die richtige oder falsche Rezeption), sondern der Gebrauch derselben und deren eigenständige Anwendung – in diesem Fall der Texte von Karl Barth – ist hier das interessierende Forschungsobjekt. Ausgehend von diesen Überlegungen lässt sich zugespitzt die These formulieren, dass es bei den niederländischen Barth-Rezeptionen möglicherweise weniger um Karl Barth selbst beziehungsweise das richtige Verständnis seiner Theologie, sondern vielmehr um interne niederländische theologische, politische und kulturelle Konflikte und Konstellationen geht. Von daher erhält auch der Plural des Ausdrucks Barth-Rezeptionen seinen spezifischen Sinn: Es gibt nicht eine bestimmte niederländische Barth-Rezeption, sondern verschiedene niederländische Gruppen und Individuen rezipieren jeweils die Theologie Karl Barths, eignen sich diese an und versehen sie mit eigenen, bestimmten Bedeutungen. Noch zugespitzter ließe sich darum formulieren, dass die niederländischen Barth-Rezeptionen im Rahmen dieser Arbeit als sinnstiftende Produktionen verstanden werden, die der internen niederländischen Abgrenzung von bestimmten Gruppenidentitäten gegenüber anderen dienen, aber verschiedene Identitäten gerade auch verbinden können. Will man den internen Austausch niederländischer Barth-rezipierender Gruppen untersuchen, bietet sich zur näheren Beschreibung das Konzept der Konstellationsforschung an:
33 Vgl. den Übersichtsartikel von W. Frijhoff, ToeÚigening. Van bezitdrang naar betekenisgeving, Traj 6, 1997, Nr. 2, 99 – 118.
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Barth-Rezeption als Konstellationsforschung Will man die Gesamtheit niederländischer Barth-Rezeptionen in ihrer eigenständigen Pluralität erforschen, bietet es sich an, diese versuchsweise im Sinne einer Konstellation zu verstehen. Im Folgenden sollen darum einige Gedanken aus der Konstellationsforschung erwogen werden, wie sie insbesondere vom Tübinger Philosophen Dieter Henrich entwickelt worden sind. Zwar wurde dieser holistische Ansatz ursprünglich speziell zur Erforschung des deutschen Frühidealismus entwickelt, doch lässt er sich meines Erachtens auch zur näheren Beschreibung der pluralen Gesamtheit niederländischer Barth-Rezeptionen sinnvoll anwenden. Was also ist eine Konstellation im Sinne der Konstellationsforschung? Dieter Henrich beschreibt diesen ursprünglich der Astronomie entnommenen Begriff in einem Übersichtsbeitrag34 anhand von fünf Kennzeichen: Es sei ein erstes wichtiges Kennzeichen der Konstellationsforschung, dass sie einen von verschiedenen Denkern gebildeten Denkraum erforschen wolle. Es gehe also nicht darum, die Wirkungen einzelner großer Denker und die Entwicklung ihrer Systeme zu untersuchen, sondern darum, das Zusammenwirken dieser Denker zu untersuchen. Hierbei habe man insbesondere nach dem „fehlenden Glied“35 zu suchen, welches bestimmte Denkentwicklungen einzelner Denker erst erklären könne und welches eben in bestimmten Kontakten bestehe, die dieser Denker mit anderen Denkern unterhalten habe. Die Konstellationsforschung will mithin eine Konstellation verschiedener Denker erschließen, ja sie will zunächst erst einmal die Existenz solcher Konstellationen nachweisen. Zu betonen sei, so Dieter Henrich zweitens, dass Konstellationen genauer gesagt als Di-Konstellationen zu begreifen seien: „Differenz und Widerstreit zwischen Motiven des Denkens und des Lebens [seien] konstitutiv“36 für eine Konstellation. Die dabei entstehenden Spannungen seien allerdings synthetisch gerichtet zu verstehen: Es gehe auch um das „gemeinsame[…] Interesse“37 und die Ausrichtung auf einen „überhöhenden Ausgleich“38. Als ein drittes Kennzeichen der Konstellationsforschung sei die spezifische Kombination von systematischen und historischen Verfahrensweisen hervorzuheben. Viertens sei der Begriff der räumlichen und zeitlichen Dichte als Kennzeichen einer Konstellation zu betonen. Eine Konstellation unterstelle nämlich nicht nur den engen Austausch der Teilnehmenden, sondern auch die Entfaltung eines kreativen Denkproduktes innerhalb kurzer Zeit. Auch eine breite Quellenlage sei ein Hinweis auf die Dichte einer Konstellation. Des Weiteren 34 D. Henrich, Konstellationsforschung zur klassischen deutschen Philosophie. Motiv – Ergebnis – Probleme – Perspektiven – Begriffsbildung, in: M. Mulsow/M.R. Stamm (Hg.), Konstellationsforschung, Frankfurt a.M. 2005, 15 – 30. 35 AaO.,16. 36 AaO., 27f. 37 AaO, 28. 38 Ebd.
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könnten zur Ermittlung einer Konstellation ganz unterschiedliche Quellen in die Rekonstruktion von Gesprächslagen mit einbezogen werden, etwa auch Briefe, Nachlässe, Rezensionen und so fort. So ist also auch die in dieser Arbeit vorliegende Verschiedenheit der Quellen – außer wissenschaftlicher Literatur werden unter anderem Zeitungsartikel, Tagebücher, Bekenntnisschriften, Romane, Gedichte und politische Pamphlete untersucht – aus der Perspektive dieser Forschungsrichtung äußerst stimmig. Fünftens zeichne sich eine Konstellation durch eine räumliche und zeitliche Grenze aus. Wo aber genau diese Grenze verlaufe, was einbezogen sei in eine Konstellation und was nicht, lasse sich immer erst im Nachhinein sagen, etwa durch die Rekonstruktion der historischen Wirkungsfelder einzelner Personen, nicht nur durch ihren bewussten systematischen Beitrag. Außer von einer räumlichen, so der Henrichschüler und Historiker Marcelo R. Stamm, könne man auch von der zeitlichen Grenze einer Konstellation sprechen, auch, um die „Anschlußfähigkeit an die Problemstellungen der Gegenwartsphilosophie“39 zu fördern. Letztendlich könne der rekonstruierende, zeitgenössische Konstellationsforscher sogar selber zum Teil einer Konstellation werden, indem er oder sie nämlich versuche, „die eigenen Begriffsformen zum historischen Denkraum in Beziehung zu setzen“40. Rezeptionsästhetische Leitfragen Als konkretes Resultat dieser methodischen und insbesondere rezeptionsästhetischen Überlegungen ergibt sich folgender Leitfaden, anhand dessen die in dieser Arbeit zu untersuchenden Texte analysiert werden sollen. Dabei werden entsprechende Stichwörter im laufenden Text immer dann durch Kursivierung hervorgehoben, wenn die Ergebnisse meiner Untersuchung speziell anhand des hier erarbeiteten Leitfadens dargestellt und systematisiert werden. Dem Anliegen meiner Arbeit entsprechend beginnen die Leitfragen bei der eigenen Aktivität der Leser, also der Barth-Rezipienten, suchen aber auch immer wieder nach dem Rückbezug zum Text beziehungsweise zum Autor, also Karl Barth. Der Gefahr einer vollständigen Entkoppelung der Rezipienten von ihrem Text beziehungsweise vom Autor soll damit – und ich meine: ganz im Sinne des Anliegens niederländischer Barth-Rezipienten – vorgebeugt werden. Folgende erkenntnisleitende Fragen werden in dieser Arbeit unterschieden: • Welche Themen Barths werden ausgewählt (Leserinteresse)? • Warum werden diese Themen ausgewählt (Lesermotivation)? • Wie beschreiben Barth-Rezipienten in den Niederlanden den primären Kontext der rezipierten Texte? • Wie beschreiben Barth-Rezipienten in den Niederlanden Barths Bedeutung 39 M.R. Stamm, Konstellationsforschung – Ein Methodenprofil. Motive und Perspektiven, in: Mulsow/Stamm, Konstellationsforschung, aaO., 31 – 73, 72. 40 AaO., 73.
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für den eigenen, sekundären Kontext (Horizontabhebung, Rekontextualisierung)? Zu welchen neuen Erfahrungen motiviert die Textlektüre? Welche neuen sinnstiftenden Bedeutungen produzieren die Rezipierenden (Aneignung)? Welche Debatten führen Theologen in den Niederlanden untereinander zu den ausgewählten Themen (Konstellation) und zu welchem Ergebnis kommen sie, beziehungsweise welches Ereignis produzieren sie? Welche Debatten führen Theologen in den Niederlanden mit dem Autor (Barth) und inwiefern beeinflusst das die Debattenlage (Rückkoppelung der Leserseite an die Textseite)?
1.3 Historischer Kontext zwischen 1795 und 1930 Will man die Andersartigkeit niederländischer Barth-Rezeptionen angemessen erfassen, ist es hilfreich, sich zunächst den historischen Kontext41 zu vergegenwärtigen, vor dessen Hintergrund es zu bestimmten niederländischen theologiegeschichtlichen Entwicklungen und zu den verschiedenen Barth-Rezeptionen in den Niederlanden kam: Der Beginn der modernen Niederlande wird in der niederländischen Geschichtsschreibung mit dem Jahr verbunden, in dem es unter dem Einfluss der Französischen Revolution (1789) zur Gründung der Batavischen Republik kam. Diese in den Niederlanden unblutig, schnell und geordnet verlaufende Revolution, die eher als französischer Import denn als Sache des niederländische Volkes selbst erfahren wurde, war anders als etwa in Frankreich nicht antichristlich ausgerichtet, Sie fügte die durch die Utrechter Union vom 13. 1. 1579 zu einer Konföderation verbundenen sieben nördlichen niederländischen Provinzen und seit dem Frieden von Münster im Jahr 1648 auch international anerkannte niederländische Republik zu einem unabhängigen Staat zusammen. Entsprechend dem Geist der Französischen Revolution wurde am 5. 8. 1796 von der Nationalversammlung42 unter anderem die Trennung von Kirche und Staat proklamiert, was für die bislang privilegierten niederländischen Reformierten einen Rückschritt, für die Katholiken, die kleineren protestantischen Kirchen wie die Lutheraner und die Mennoniten und für andere Religionen (Judentum) hingegen ein Schritt aus Jahrhunderte langer Diskriminierung heraus bedeutete. Da man 41 Ich beziehe mich für die allgemeinen Informationen im Folgenden auf Van Eijnatten/Van Lieburg, Nederlandse religiegeschiedenis; Rasker, De Nederlandse Hervormde Kerk; Selderhuis, Handboek. 42 Diese war am 1. 3. 1796 erstmals zusammengetreten, und der von ihr erstellte Entwurf eines Grundgesetzes wurde schließlich am 23. 3. 1798 angenommen.
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Historischer Kontext zwischen 1795 und 1930
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allerdings in zunehmendem Maße davon ausging, dass eine aufgeklärte Religion dem Staat durchaus nützlich sein könne, wurde die Trennung zwischen Kirche und Staat wesentlich weniger strikt durchgeführt als ursprünglich vorgesehen. So wurde etwa in der Konstitution vom 16. 10. 1801 bestimmt, dass alle Bürger, die älter als 14 Jahre waren, sich bei einer der Kirchen einzuschreiben hätten und dafür auch jährlich ein Betrag zu zahlen sei. Am 11. 8. 1803 wurde ebenfalls gesetzlich festgelegt, dass die Religion als ein wichtiger Bestandteil der bürgerlichen Gesellschaft anzusehen sei und darum der staatlichen Kontrolle nicht entzogen werden dürfe. So spielte der Staat in kirchlichen Angelegenheiten trotz der Trennung von Kirche und Staat durchaus eine Rolle, beispielsweise bei der Einhaltung der Sonntagsruhe oder bei der Berufung von Geistlichen. Auch die zunächst aufgehobenen theologischen Fakultäten wurden später wieder geöffnet. Bei dieser wenig strikt durchgeführten Trennung von Kirche und Staat spielte auch der 1799 zum Minister für Erziehung berufene Van der Palm eine wichtige Rolle: Er hatte das am 3. 4. 1806 angenommene, den späteren Schulstreit provozierende Gesetz entworfen, nach dem der Schulunterricht eine Aufgabe des Staates sei und der Staat die Erziehung zu allen gesellschaftlichen und christlichen Tugenden zu pflegen habe. Die Batavische Republik wurde 1806 wieder aufgelöst und von Napoleon I zum Königreich Holland erklärt; dieses wurde am 9. 7. 1810 allerdings wieder aufgelöst und Frankreich einverleibt. 1813 wurden die Niederlande unter Willem I wieder unabhängig, und 1815 wurde das Königreich der Niederlande mit Willem I als König begründet, was eine Rückkehr zur Monarchie bedeutete, die es in den Niederlanden seit 1581 nicht mehr gegeben hatte. Zusammen mit dem Königreich Belgien und dem Großherzogtum Luxemburg bestand das Vereinigte Königreich der Niederlande bis 1830. Nach dem belgischen Aufstand im Jahr 1830 akzeptierte Willem I im Jahr 1839 schließlich offiziell die Selbstständigkeit Belgiens. Da die südlichen Niederlande, das heißt Belgien, überwiegend katholisch waren, war eine der Folgen der Selbstständigkeit Belgiens, dass von nun an die Protestanten in den Niederlanden prozentual gesehen wieder stärker vertreten waren. In dem neuen Grundgesetz vom März 1814 beziehungsweise August 1815 wurde entsprechend den Idealen der Aufklärung nicht mehr von einer Staatskirche oder einer privilegierten Kirche – de facto die reformierte Kirche – gesprochen, sondern im Sinne eines aufgeklärten Absolutismus von einer intensiven Sorge des Landesfürsten in Bezug auf kirchliche Angelegenheiten. So wurden religiöse Angelegenheiten dem commisaris generaal für innere Angelegenheiten zugeordnet. Im September 1814 wurde eigens eine Abteilung für die reformierte und andere Konfessionen (beziehungsweise Religionen) eingerichtet, die ihre Arbeit sogleich aufnahm. Diese führte unter anderem am 7. 1. 1816 zu einem vom König verabschiedeten so genannten Algemeen Reglement für die reformierte Kirche, die ab diesem Zeitpunkt den Namen Nederlandse Hervormde Kerk (Niederländische Reformierte Kirche) erhielt und
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mit der Einführung des Algemeen Reglement offiziell an das Königshaus und den Nationalstaat gebunden wurde: An der Spitze der hierarchischen organisatorischen Struktur der Nederlandse Hervormde Kerk stand damit der König selbst. Das Algemeen Reglement, das aus der reformierten Kirche erstmals eine organisatorische Einheit machte und ohne große Proteste akzeptiert wurde, hatte die Aufgabe, das aufgeklärte Religionsverständnis des Königs und seiner Berater in der Nederlandse Hervormde Kerk zu verankern. Ein ganz wesentliches Element dieses aufgeklärten Religionsverständnisses bestand darin, dass sich die Leitung der Kirche nicht über unterschiedliche Lehransichten auszusprechen habe. Die Wahrheitsfrage spielte in dem Reglement ganz betont keine Rolle, es konzentrierte sich ganz auf die äußeren Strukturen und die Organisation der Kirche. Doch wurde dann, anders als im ursprünglichen Entwurf vorgesehen, in dem faktisch verabschiedeten Reglement dennoch eine allerdings kurze Passage zu Lehrmeinungen aufgenommen: Dieser Artikel 9 des Reglements von 1816 blieb im Großen und Ganzen bis 1950 in Kraft. In ihm wurde bestimmt, dass die Sorge für die Interessen des Christentums im Allgemeinen und der reformierten Kirche im Besonderen, die Praktizierung ihrer Lehre, die Vergrößerung ihres religiösen Wissens, die Beförderung christlicher Sitten, die Bewahrung von Ordnung und Eintracht, die Anerziehung von Liebe für König und Vaterland […] immer das Hauptziel all derjenigen sein [müssen], die auf verschiedene Weise mit der kirchlichen Verwaltung beauftragt sind.43
Das Reglement von 1816 brachte damit zum Ausdruck, was die Ursache der kirchlichen Entwicklungen, Konflikte und Probleme im 19. Jahrhundert werden sollte, nämlich das unklare Verhältnis zwischen einem formal gut durchdachten kirchlichen Apparat und den Artikeln 27 – 32 des Niederländischen Glaubensbekenntnisses, die vom Wesen und Auftrag der Kirche handelten: Die neue Kirchenordnung bot keine Möglichkeit, für das Funktionieren dieses Bekenntnisses Sorge tragen zu können. Die allgemeine Synode hatte sich statt mit Lehrmeinungen mit organisatorischen Fragen zu beschäftigen. Dass Beides nicht immer zu trennen war, machte unter anderem die 1827 aufkommende so genannte quia-quatenus-Diskussion deutlich: Bis zur Einführung des Algemeen Reglement von 1816 galt für das Ablegen der Proponentgelöbnisse der Kandidaten der reformierten Kirche die von der Synode von Dordrecht festgelegte Formulierung, die unter anderem unterstellte, dass „alle Artikel und Lehrstücke in dieser Konfession […] in allem mit Gottes Wort übereinkommen“44 müssten. In Artikel 38 der neuen Regelung hieß es nun, dass man die Lehre annehme, „die – übereinstimmend mit Gottes Hei43 Zit. nach Rasker, De Nederlandse Hervormde Kerk, 29. 44 Zit. nach Rasker, aaO., 40.
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Theologiegeschichtlicher Kontext der Neuzeit
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ligem Wort – in den von der Nederlandse Hervormde Kerk angenommenen Formeln der Einigkeit verfasst“45 sei. Bewusst offen blieb die Frage, ob die Beschlüsse der Synode von Dordrecht notwendigerweise zu diesen Formeln46 zu rechnen seien, da diese nicht überall eingeführt worden waren. Offen blieb aber vor allem die Frage, ob man sich den Einigkeitsformeln verpflichtete, insofern (quatenus) oder weil (quia) sie mit Gottes Heiligem Wort übereinstimmten. Festzuhalten ist also, dass die Neuordnung der reformierten Kirche zwar einerseits ohne viele Proteste ausgeführt wurde, dass aber von Anfang an bereits latenter Widerstand von vornehmlich orthodoxeren protestantischen Gruppen dagegen bestand, der spätestens 1870 zunehmend radikaler wurde. Das äußerte sich zum einen in dem so genannten kirchlichen Richtungsstreit und zum anderen im niederländischen Schulstreit. So wurden das neue Verhältnis von Kirche und Staat und das Algemeen Reglement zum Ausgangspunkt für Entwicklungen, die zum Verständnis der Entwicklung des niederländischen Barthianismus im Sinne einer Reaktion auf eine bestimmte Problemlage von großer Bedeutung sind. Zudem spielten die Neuordnung und der zunehmende Widerstand dagegen bei der Herausbildung der verschiedenen niederländischen protestantischen Strömungen eine Rolle, die ihrerseits die Grundlage für die in dieser Arbeit zu untersuchende Pluralität niederländischer Barth-Rezeptionen bilden.
1.4 Theologiegeschichtlicher Kontext der Neuzeit47 Theologiegeschichtlich gesehen war am Ende des 18. Jahrhunderts und am Beginn des 19. Jahrhunderts in den Niederlanden, jedenfalls in den protestantischen Kreisen, der so genannte Alt-Liberalismus vorherrschend. Er zeichnete sich durch eine Kombination von Supranaturalismus und Rationalismus aus. Dogmatisch gesehen fragte man nicht so sehr nach dem Zusammenhang zwischen Glauben und Offenbarung, sondern nach dem Zusammenhang zwischen Vernunft und Offenbarung. Die alte Inspirationslehre verlor ihre Gültigkeit, in der Christologie betonte man die Lehre und die Vorschriften Jesu Christi. Der Eschatologie und der Satisfaktionslehre wurde keine oder nur noch wenig Bedeutung beigemessen. Das Ideal war das eines „,Christentums jenseits der Glaubensunterschiede‘“48, und als dessen 45 Zit. nach Rasker, aaO., 40 f. 46 Im Allgemeinen galten als die drei Formeln der Einigkeit die Beschlüsse der Synode von Dordrecht, das Niederländischen Glaubensbekenntnis (lat.: confessio belgica) und der Heidelberger Katechismus. 47 Meine Darstellung orientiert sich an Rasker, De Nederlandse Hervormde Kerk; J. Rohls, Protestantische Theologie der Neuzeit I. Die Voraussetzungen und das 19. Jahrhundert, Tübingen 1997; Selderhuis, Handboek, und Meijering, Het Nederlands christendom. 48 Selderhuis, Handboek, 618.
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Zur Geschichte der Barth-Rezeptionen in den Niederlanden
Schlüsselworte galten „,Kultur‘“49 und „,Bildung‘“50. In den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts entwickelten sich zunehmend verschiedene Protestbewegungen gegen diese aufgeklärte Form von Theologie, und zwar zunächst innerhalb des so genannten R¦veil, der niederländischen Erweckungsbewegung, sowie innerhalb des Kreises der Groninger Theologie. Gemeinsam war beiden Bewegungen außer der Affinität zu „der romantischen Phase des Humanismus […] das historische Bewusstsein und die Betonung des Gemütslebens“51. Unterschiedlich war die Ausrichtung des praktischen christlichen Engagements beider Richtungen: Richteten sich die Anhänger des R¦veil vor allem auf die soziale Arbeit und die Armenfürsorge, war die Groninger Theologie mehr pädagogisch interessiert. Die Unterschiede beider Protestbewegungen spiegelten sich jedoch vor allem im Verhältnis zur Bekenntnisfrage: Während man im R¦veil eine stärkere Bindung an Schrift und Bekenntnis forderte, stellte man sich in der Groninger Theologie auf die Seite der quatenus-Interpretation, das heißt der Möglichkeit einer „freien geistlichen Entwicklung in der Kirche […], in Gebundenheit an Gottes Heiliges Wort“52. Fühlte man sich im R¦veil vor allem den calvinistischen Bekenntnisschriften verbunden, verteidigte man in der Groninger Theologie, die beispielsweise durch Petrus Hofstede de Groot angeführt wurde, einen biblischen Humanismus, den man als Fortsetzung der ursprünglichen niederländischen Reformation betrachtete; dieser war verbunden mit den Namen von Erasmus, Arminius und Grotius. Wichtige Wortführer des R¦veil waren hingegen die Dichter Isaac Da Costa und Willem Bilderdijk. Am deutlichsten kam der Protest gegen die zeitgenössische aufgeklärte Theologie und kirchliche Politik jedoch in der für die niederländische Theologiegeschichte ungemein wichtigen so genannten Afscheiding zum Ausdruck, also der Abspaltung einer bestimmten Gruppe von der Mutterkirche. 1834 trennten sich – unter der Führung von Hendrik de Cock (1801 – 1842) – aus Unzufriedenheit mit der hierarchischen kirchlichen Organisationsstruktur und der Unklarheit in der Bekenntnisfrage einige Gemeinden von der Nederlandse Hervormde Kerk ab, und zwar mit dem Anspruch, die rechtmäßige Fortsetzung der (wahren) reformierten Kirche von vor 1795 zu sein. Nachdem dieser Anspruch ab 1839 fallen gelassen wurde, konnte die sich ausbreitende Bewegung der Afscheiding vom Staat als eine neue, selbstständige Kirche anerkannt werden, die zuerst unter dem Namen Christelijke Afgescheiden Gemeenten und ab 1866 unter dem Namen Christelijke Gereformeerde Kerken bekannt wurde. Aus der Afscheiding ist niemals eine breite Volksbewegung entstanden: Bei der Volkszählung von 1849 zum Beispiel
49 50 51 52
Ebd. Ebd. Rasker, De Nederlandse Hervormde Kerk, 47. AaO., 45.
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zeigte sich53, dass die Nederlandse Hervormde Kerk lediglich zwei bis drei Prozent ihrer Mitglieder verloren hatte. Sozial gesehen handelte es sich um eine Bewegung, der vorwiegend ärmere Mitglieder angehörten und der sich nur sehr wenige Pfarrer anschlossen. Theologisch gesehen knüpfte man an den strengeren Calvinismus der so genannten Nadere Reformatie an. Ein Einzelgänger, der ebenfalls im Zusammenhang mit den gegen die moderne Theologie gerichteten Protestbewegungen genannt werden muss, ist der Lutheraner Hermann Friedrich Kohlbrügge (1803 – 1875). Kohlbrügge schloss sich jedoch weder dem R¦veil noch der Afscheiding an und entwickelte eine theozentrische Theologie, die gegenüber einer hervorgehobenen Frömmigkeit des Menschen dessen Sündhaftigkeit und Angewiesenheit auf Gnade betonte. Unterdessen lockerte sich das Verhältnis zwischen den Kirchen und dem Staat unter Willem II, der von 1840 – 1849 König der Niederlande war. 1848 stimmte Willem II einer neuen, liberaleren, von Johan Rudolph Thorbecke ausgearbeiteten Verfassung zu, die im Wesentlichen noch immer die Grundlage der heutigen parlamentarischen Monarchie bildet. In ihr wurde unter anderem die allgemeine Religionsfreiheit eingeführt. Thorbecke unterschied zwischen einem allgemeinen Christentum und den verschiedenen partikularen Konfessionen christlicher Kirchen. Letztere waren für die anstehende Aufgabe, die Einheit der Nation zu befördern, weniger notwendig. Der König zog sich von kirchlichen Angelegenheiten weitgehend zurück, was vor allem für die Kirchen der Afscheiding und für die römisch-katholische Kirche eine größere Freiheit bedeutete. Auch das Algemeen Reglement der Nederlandse Hervormde Kerk von 1816 wurde im Zusammenhang mit den neuen Entwicklungen 1852 geändert. Anstelle des Christentums wurde in der Regelung von 1852 – inzwischen war Willem III König der Niederlande – nun von der christlichen Kirche gesprochen. Auch in anderer Hinsicht wurde sie an die demokratischere politische Situation angepasst: Die neue Regelung war weniger hierarchisch, und den Gemeinden wurden mehr Rechte zuerkannt. Unter anderem konnten sie jetzt ihre Amtsträger selber berufen. Der strittige Artikel 9 allerdings (nun Artikel 11) blieb nahezu unverändert: Auch weiterhin blieb die Kirchenordung der Nederlandse Hervormde Kerk bezüglich der verschiedenen Lehrmeinungen unbestimmt; es wurden auch keine Regelungen zur Ausführung beziehungsweise Anwendung der Lehre eingeführt. Die idealistische Groninger Theologie befand sich unterdessen nicht mehr nur in einem spannungsreichen Verhältnis zum R¦veil. Ab 1830 machte sich durch das Aufkommen der Naturwissenschaften und der historisch-kritischen Forschung ein allmählicher Übergang vom Idealismus zum Realismus und Empirismus bemerkbar. Ab 1840etwa etablierte sich in den Niederlanden unter Führung des Neutestamentlers Johannes Hendricus Scholten (1811 – 1885) und des Juristen und Philosophen Cornelis Willem Opzoomer (1821 – 53 Vgl. Selderhuis, Handboek, 635.
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1892) eine neue, moderne theologische Richtung, die es sich zur Aufgabe machte, einen zeitgemäßen Glauben zu entwickeln, der mit den Erkenntnissen der modernen Wissenschaft in Einklang stehen konnte. Die Verwerfung des Supranaturalismus beinhaltete beispielsweise die Zurückweisung der Annahme eines historischen Charakters der biblischen Wundererzählungen und der Zwei-Naturen-Lehre. Obwohl wissenschaftlich führend, hatte die moderne (liberale)54 Richtung auf Gemeindeebene innerhalb der Nederlandse Hervormde Kerk wenig Anhänger. Als in der Neuregelung der Nederlandse Hervormde Kerk im Jahr 1867 den Gemeinden das Recht zugesprochen wurde, ihren Pfarrer fortan selber zu berufen, bedeutete das für moderne (liberale) Pfarrer bedeutend schlechtere Chancen als für ihre orthodoxen Kollegen. Damit bekam der Richtungsstreit innerhalb der reformierten Kirche über die rein akadenische Färbung hinaus auch einen deutlichen kirchenpolitischen Akzent. 1913 wurde dann die Vereniging van Vrijzinnige Hervormden gegründet, die sich für den Erhalt der modernen Theologie innerhalb der Nederlandse Hervormde Kerk engagierte. Diese Entwicklungen zeigen, dass Liberalismus und Freisinnigkeit, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts so mächtig erschienen, auf kirchlichem Gebiet am Anfang des 20. Jahrhunderts „in die Defensive geraten“55 waren. Nicht nur die modernen (liberalen) Theologen hatten sich in Interessenverbänden organisiert, auch die anderen Richtungen innerhalb der Nederlandse Hervormde Kerk hatten das bereits getan. So wurde 1864 unter anderem von Guillaume Groen van Prinsterer die Confessionele Vereniging gegründet, die die drei Einigkeitsformeln als der modernen Wissenschaft gegenübergestellte Norm der in der Kirche zu verkündigenden Wahrheit betrachtete.56 Zur rechten Seite dieser Vereinigung formierte sich ab 1906 zudem eine Gruppe Orthodoxer zum so genannten Gereformeerde Bond. 1921 bildete sich schließlich auch eine Vereinigung für ethische Theologie, eine Richtung, deren Wurzeln in der Mitte des 19. Jahrhunderts liegen: Ab etwa 1850 hatte sich nämlich zwischen der modernen und der konfessionellen Richtung innerhalb der Nederlandse Hervormde Kerk – sozusagen im Mittelfeld – die so genannte ethische Richtung profiliert, deren Gründer DaniÚl Chantepie de la Saussaye (sen.) (1818 – 1874) und Johannes Hermanus Gunning (jun.) (1829 – 1905) waren. Die ethische Richtung war sowohl vom R¦veil als auch von der Groninger Theologie beeinflusst, hatte zu diesen 54 Während diese Richtung als wissenschaftliche theologische Richtung zumeist modern genannt wird, bezeichnet man sie auf kirchenpolitischer oder praktischer Ebene zumeist als liberale Theologie. 55 Meijering, Het Nederlands christendom, 27. 56 Als Reaktion auf die zunehmende Orthodoxie innerhalb der Nederlandse Hervormde Kerk bildete sich 1870 als kirchlich unabhängige Gruppierung auch der Nederlandse Protestantenbond, in dem sich viele moderne Theologen, Pfarrer und Gemeinden zusammenschlossen. Im Gegensatz auch zu den kleineren, überwiegend liberalen Kirchen (Remonstranten, Täufer und Lutheraner) hat er nie den Anspruch gehabt, eine Kirche zu sein.
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Richtungen jeweils aber auch wieder ein kritisches Verhältnis. Innerhalb der ethischen Richtung hatte man in den Niederlanden wohl die größte Affinität mit der Theologie Schleiermachers und dessen Betonung des Gefühls. Eines der Leitmotive dieser Richtung, mit der man sich sowohl gegen den Intellektualismus des Supranaturalismus als auch gegen den Intellektualismus der modernen Theologie wandte, war die Annahme, dass die Wahrheit ethisch sei. Damit war nicht gemeint, dass die Wahrheit moralisch oder praktisch sei. Vielmehr sollte der persönliche Begegnungscharakter der Wahrheit beziehungsweise der Theologie betont werden. So wandte man sich gegen die Trennung von theologischer Wissenschaft und Gemeindeleben und auch gegen die Institutionalisierung des Bekenntnisses. Im Gegensatz zur konfessionellen Richtung verwarf man die Ergebnisse der Französischen Revolution nur teilweise und betrachtete etwa die Trennung von Kirche und Staat als eine ihrer Errungenschaften. Theologisch gesehen zeichnete sich diese Richtung durch die Betonung des israelitischen, das heißt historischen, prophetischen und messianisch-eschatologischen Charakters der Offenbarung aus. Wie noch deutlich werden wird, stammten viele Theologen, die Karl Barth auf eine positive und weiterführende Art rezipierten, gerade aus der Richtung der ethischen Theologie. Um die Jahrhundertwende kann also von einem äußerst vielfarbigen, gut organisierten Spektrum theologischer Strömungen innerhalb der Nederlandse Hervormde Kerk gesprochen werden, in welchem eine moderne Richtung, eine ethische, eine konfessionelle und schließlich eine ausgesprochen orthodoxe Richtung zu unterscheiden sind. Um aber das Bild des Spektrums der wichtigsten protestantischen Positionen gegen Ende des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu vervollständigen, muss schließlich vom Aufkommen des Neocalvinismus und von dessen Begründer Abraham Kuyper (1837 – 1920) geredet werden: Der ursprünglich aus einem orthodoxen Milieu stammende Theologe Kuyper war in seiner Studentenzeit ein Anhänger der modernen (liberalen) Theologie gewesen. Er durchlebte nach seiner Promotion eine erste und als junger Pfarrer ein zweite religiöse Krise, nach der er die moderne (liberale) Theologie verließ und sich zu einem der vielfältigsten und einflussreichsten Anführer der an Macht gewinnenden Orthodoxie innerhalb der Nederlandse Hervormde Kerk entwickelte. Bereits in seiner zweiten Gemeinde in Utrecht engagierte er sich gegen die Volkskirche und für die Autonomie der Gemeinden und Kirchen vor Ort, ja, er entwarf selbst ein Aktionsprogramm, demzufolge die Nederlandse Hervormde Kerk auseinanderfallen sollte und diejenigen, die ausdrücklich hinter dem reformierten Bekenntnis standen, eine eigene, freie Kirche gründen sollten.57 Hinsichtlich der Forderung einer Freikirche unterschied Kuyper sich von vielen anderen Orthodoxen, denen es um die Refor57 Vgl. zu vorangehender Passage auch J. Vree, Kuyper in de kiem. De precalvinistische periode van Abraham Kuyper (1848 – 1874), Passage reeks, 27, Hilversum 2006.
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mierung der Volkskirche ging. Kuyper engagierte sich 1869 auch in der Frage des Schulstreites und der Unterrichtsreform und stellte sich diesbezüglich an die Seite Groen van Prinsterers: Beiden ging es darum, anstelle eines allgemein christlichen – konfessionell neutralen – Unterrichts an den Schulen einen positiv christlichen – konfessionell bestimmten – Unterricht einzuführen. Der Schulstreit wurde übrigens erst 1917 mit der Gleichstellung konfessioneller und nicht-konfessioneller Schulen beendet und also von den orthodoxeren Protestanten gewonnen. In seiner dritten Gemeinde in Amsterdam wurde Kuyper dann 1870 als erster Pfarrer gemäß der Neuregelung von 1867 direkt von der Gemeinde und nicht vom Kirchenvorstand berufen. In dieser Zeit begann er sich theologisch als Calvinist zu profilieren, wobei er die Prädestinationslehre als Schibbolet der Orthodoxie betonte. Zudem wurde er nicht nur politisch, sondern auch journalistisch aktiv. So wurde er 1871 Hauptredakteur der Wochenzeitschrift De heraut und gründete 1872 die Tageszeitung De standaard. 1874 wurde Kuyper zum Abgeordneten des Parlaments gewählt, ein Amt, das er allerdings zwei Jahre später überarbeitet wieder niederlegte. Die Gründe dafür liegen sicher auch in den auflaufenden und sich anhäufenden Konflikten innerhalb der Orthodoxie. In dieser Zeit entschied sich Kuyper bewusst, einen eigenen Weg zu gehen und sich nicht nur von der modernen Theologie abzusetzen, sondern sich auch jenseits der innerorthodoxen Meinungsverschiedenheiten und in Abgrenzung von der ethischen Strömung zu entwickeln. 1879 gründete er eine eigene Partei, die Antirevolutionäre Partei. 1880 folgte dann die Gründung der Vrije Universiteit in Amsterdam, einer Universität auf der Grundlage des reformierten Bekenntnisses, das heißt der drei Einigkeitsformeln, und frei von staatlichem Einfluss. In seiner Eröffnungsansprache, Souvereiniteit in eigen kring (Souveränität im eigenen Kreis), entfaltete er den gleichnamigen Leitbegriff auch seines späteren politischen, kirchlichen und gesellschaftlichen Engagements: Nicht die Einheit des Volkes und der Nation, sondern die Eigenständigkeit verschiedener Lebenskreise sei zu betonen. Diese Möglichkeit der Gründung einer weltanschaulich gebundenen, von staatlichen Einflüssen freien Universität war durch eine neue Gesetzgebung zur Lehre an Hochschulen und Universitäten möglich geworden, das so genannte hoger onderwijswet von 1876 – bis heute wirksam und bekannt unter dem Namen duplex ordo, gemeint ist eine Unterscheidung zwischen weltanschaulich neutralem und weltanschaulich gebundenem Unterricht. Kuyper war an der von ihm gegründeten Vrije Universiteit von 1880 – 1901 auch selber als Professor tätig und vertiefte in dieser Zeit seine Lehre des Neocalvinismus, die in den politischen, kirchenpolitischen und bildungspolitischen Auseinandersetzungen bereits immer deutlichere Konturen angenommen hatte, zu einem mehr oder weniger zusammenhängenden System. 1886 kam es zur offiziellen Abspaltung einiger Gemeinden, die sich bleibend über die hierarchische Organisation der Volkskirche und deren Neu-
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tralität hinsichtlich der Bekenntnisfrage „beklagten“, weswegen dieser die niederländische Theologiegeschichte außerordentlich prägende Vorgang auch Doleantie, das Sich-Beklagen, genannt wird. Die dolierenden Gemeinden schlossen sich unter der Leitung von Kuyper 1892 mit der aus der Afscheiding entstandenen Christelijke Gereformeerde Kerk zu den Gereformeerde Kerken in Nederland zusammen – eine Entwicklung, die tiefe Spuren im Leben protestantischer Christinnen und Christen hinterlassen hat. Seitdem ist bis zur Kirchenunion – zusammen mit der kleinen lutherischen Kirche – im Jahre 2004 von zwei recht unterschiedlich geprägten reformierten Großkirchen in den Niederlanden zu sprechen: die volkskirchlich geprägte Nederlandse Hervormde Kerk und die freikirchlich geprägten Gereformeerde Kerken in Nederland. Kuyper wurde 1894 wieder als Abgeordneter in das Parlament gewählt, war zwischen 1901 und 1905 Innenminister und blieb bis zum Lebensende in politischen Funktionen aktiv. Zudem arbeitete er seine theologischen und kirchenreformerischen Gedanken weiter aus. Erwähnung verdient weiterhin die Tatsache, dass neben Kuyper auch der mit Kuyper gegen die moderne Theologie streitende, aus den Kreisen der Afscheiding stammende Theologe Philippus J. Hoedemaker (1839 – 1910) einer der ersten Professoren der Vrjie Universiteit wurde. Hoedemaker hielt aber im Gegensatz zu Kuyper am Ideal eines (toleranten) christlichen Staates58 und dem Gedanken der (bekennenden) Volkskirche fest. Aufgrund dieser Meinungsverschiedenheit legte er 1887 seine Professur nieder und engagierte sich für die Reorganisation und Reformation der Volkskirche, das heißt der Nederlandse Hervormde Kerk. Zu unterscheiden sind mithin innerhalb des protestantischen Spektrums mindestens vier Richtungen. Neben dem liberalen Spektrum (moderne/liberale Theologie beziehungsweise Freisinnigkeit, dem oftmals auch die Remonstranten und die Mennoniten nahestanden) gab es im reformierten Mittelfeld der Nederlandse Hervormde Kerk eine ethische und eine konfessionelle Richtung und auf dem orthodoxen Flügel innerhalb der reformierten Volkskirche einerseits den Gereformeerde Bond59 und außerhalb der Nederlandse Hervormde Kerk andererseits den von Abraham Kuyper begründeten und in den Gereformeerden Kerken in Nederland organisierten Neocalvinismus. Innerhalb all dieser Strömungen wurde die Theologie Karl Barths auf jeweils typische Weise – wie ich noch zeigen werde – rezipiert. Dass es daneben innerhalb des Protestantismus noch andere Kirchen und Glaubensgemeinschaften gab, die ebenfalls die Theologie Barths rezipierten, soll an dieser Stelle zumindest einmal erwähnt werden: So sind einerseits die von der Synode von Dordrecht ausgeschlossenen Remonstranten zu nennen, die im Rahmen dieser Studie dem liberalen Spektrum zugeordnet werden. Des 58 Das Ideal des christlichen Staates findet sich in Art. 36 des Niederländischen Glaubensbekenntnisses. 59 Aus diesem Spektrum sind mir allerdings keine Barth-Rezeptionen bekannt.
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Weiteren gab es selbstverständlich Mennoniten und Lutheraner – in den Niederlanden genau wie die Remonstranten eher kleine protestantische Kirchen. Außerhalb der protestantischen Kirchen wurde Barth auch von katholischen Theologen rezipiert. Da dies jedoch erst ab den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts geschah, betrifft diese äußerst interessante Entwicklung nicht den Zeitraum, der mit dieser Arbeit erforscht wird. Spreche ich in meiner Arbeit im Folgenden von Reformierten und Gereformierten, so bringe ich damit den Unterschied zwischen Mitgliedern der Nederlandse Hervormde Kerk und den Anhängern des Neocalvinismus zum Ausdruck. Mag es für den Außenstehenden zunächst fremd klingen, dass derartige Strömungen so deutlich unterschieden werden können, ist für den mit niederländischen Verhältnissen vertrauten Leser unmittelbar deutlich, dass diese Strömungen nicht nur theoretisch, sondern auch ganz lebenspraktisch unterschieden werden können und von den betreffenden Anhängern auch sehr selbstbewusst unterschieden wurden und werden. Abschließend sollen noch einige Entwicklungen am Beginn des 20. Jahrhunderts beschrieben werden, also der Zeit, in der die Barth-Rezeptionen in den Niederlanden ihren Anfang nahmen: Ganz allgemein kann gesagt werden, dass die Zahl der Kirchenaustritte am Anfang des 20. Jahrhunderts zunahm, dass alle – nicht nur die protestantischen – kirchlichen Strömungen über ein starkes Selbstbewusstsein und eine deutliche Identität verfügten und dass die verschiedenen christlichen Strömungen wenig Kontakt zueinander hatten. Schaut man noch einmal gezielt auf das für diese Arbeit zunächst relevante protestantische Spektrum, ergibt sich für den Beginn des 20. Jahrhunderts folgendes Bild: Innerhalb der modernen beziehungsweise liberalen Theologie mit ihrer Ablehnung des Supranaturalismus, ihrer Orientierung an der historisch-kritischen Bibelforschung und ihrem Interesse an religiöser Anthropologie entwickelte sich um die Jahrhundertwende einerseits eine Strömung, die die sich bislang empirisch verstehende, evolutionistisch ausgerichtete historisch-kritische Bibelforschung radikalisierte und die historische Basis des Christentums zunehmend kritisierte. Andererseits bildeten sich aber auch Ansätze heraus, die nicht länger die Historizität und Humanität Jesu zum Zentrum ihrer Theologie und Christologie machten, sondern Glauben und Geschichte stärker voneinander trennten und die Bedeutung Jesu Christi als Glaubenswahrheit und geistliche Kraft betonten. So knüpfte man in vielerlei Hinsicht auch an die Postulatenlehre oder die Ethik Kants an. Zudem entwickelte sich ein Interesse für die soziale Frage, zu Sozialisten wurden jedoch nur sehr wenige liberale Theologen.60 Ab 1900 bildete sich dann auch eine religiössoziale Bewegung, die später von der Woodbrookers-Bewegung abgelöst 60 Eine der Ausnahmen ist der bekannte, ursprünglich lutherische Theologe und sozialistische Arbeiterführer Ferdinand Domela Nieuwenhuis, der die Kirche aufgrund seines politischen Engagements dann allerdings verließ.
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wurde. Entgegen den Erwartungen war es den liberalen Theologen im Gegensatz zu den Orthodoxen nicht gelungen, sich und ihre Theologie in den Gemeinden zu verankern, was unter anderem zu einem Exodus liberaler Pfarrer und Gemeindemitglieder aus der Nederlandse Hervormde Kerk mit dem Ziel der Gründung freier liberaler Gemeinden und einer Zunahme der Mitgliedschaft bei den Remonstranten führte. Am Anfang des 20. Jahrhunderts entstand unter den modernen Theologen die Strömung der Malcontenten, der Unzufriedenen, die ab 1910 die Rechtsmodernen genannt wurden. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg artikulierte man innerhalb dieser Strömung Zweifel an einem ungebrochenen modernen Fortschrittsglauben. Als wichtige Vertreter gelten unter anderem die Remonstranten Karel Hendrik Roessingh (1886 – 1925) und Gerrit Jan Heering (1879 – 1955). Nach Roessingh61 ist diese Strömung durch drei Züge gekennzeichnet: Anstelle des modernen evolutionistischen Optimismus sei erstens ein Optimismus entstanden, der viel Pessimismus in sich trage. Verbitterung über die Welt und die eigene Seele werde von einem ausgeprägten Bewusstsein für die Heiligkeit Gottes begleitet. Zweitens sei aufs Neue die Aufmerksamkeit für Christus als einer erlösenden Macht Gottes entstanden, und drittens habe man sich in mancherlei Hinsicht wieder zu einer orthodox-dogmatischen Terminologie zurückgewandt. Und da auf diese intern-moderne Entwicklung nicht alle modernen Theologen positiv reagierten, sei auf jeden Fall deutlich geworden, dass innerhalb der modernen Theologie keine religiöse Einheit bestehe. Nicht nur in der modernen, sondern auch in der ethischen Theologie gab es um die Jahrhundertwende einige Verschiebungen. Mit ihrer Position zwischen der modernen und der konfessionellen Theologie prägten die Vertreter dieser Richtung am Anfang des 20. Jahrhunderts insbesondere das theologische Denken an den Universitäten, wo sie Mitbegründer des neu eingeführten Faches Vergleichende Religionswissenschaft waren und auch innerhalb des Faches Religionsphilosophie aktiv waren. Sie repräsentierten die breite Mitte innerhalb der Nederlandse Hervormde Kerk. Drei wichtige, recht unterschiedliche Vertreter dieser Richtung waren der vergleichende Religionswissenschaftler Pierre DaniÚl Chantepie de la Saussaye (jun.) (1848 – 1920), der Religionsphänomenologe Gerardus van der Leeuw (1890 – 1950) und der Pfarrer Oepke Noordmans (1871 – 1956). Im Gegensatz zu den früheren ethischen Theologen pflegten sie einen ungezwungenen theologischen Austausch mit den zeitgenössischen Vertretern der modernen Theologie. Sie akzeptierten die historisch-kritische Bibelforschung, wandten sich gegen die fundamentalistische Schriftbetrachtung der Neocalvinisten und der anderen Orthodoxen, hielten gegenüber den Modernen an der Transzendenz Gottes fest, betonten den Unterschied zwischen Glaube und Wissenschaft und be61 K.H. Roessingh, Het modernisme in Nederland (Verzamelde werken van dr. K.H. Roessingh, hg. v. dr. G.H. Heering, Bd. 4, Godsdienstige geschriften II), Arnhem 1926, 231 – 386, insbes. 366 – 371.
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trachteten die Verhältnisbestimmung von Theologie und zeitgenössischer Kultur als eine ihrer wichtigsten Aufgaben. Von unmittelbarer Bedeutung für die Aufnahme der Theologie Karl Barths ist schließlich ein 1926 von den Gereformeerde Kerken in Nederland auf der Synode von Assen gefasster Beschluss. Der gereformierte Pfarrer Johannes Gerardus Geelkerken wurde dort seines Amtes enthoben, da die von ihm vertretene und verkündigte Auffassung, dass das Sprechen der Schlange in Gen. 3 nicht wortwörtlich als ein Sprechen zu verstehen sei, als nicht vereinbar mit dem Niederländischen Glaubensbekenntnis und der neocalvinistischen Schriftauffassung angesehen wurde. Die historische Zuverlässigkeit der Schrift wurde nämlich als eine der wichtigsten Grundlagen des Neocalvinismus angesehen, der eine organische Inspirationslehre vertrat. Geelkerken, andere sympathisierende Pfarrer und einige Gemeinden bildeten daraufhin die Gereformeerde Kerken in Hersteld Verband. Diese Abspaltung fand nach dem Zweiten Weltkrieg den Weg zurück in die Nederlandse Hervormde Kerk.
1.5 Der Neocalvinismus – systematisch betrachtet Eine genauere Beschreibung dessen, was man sich unter dem von Abraham Kuyper entwickelten Neocalvinismus vorzustellen hat, ist für diese Arbeit insofern von größerem Interesse, als der niederländische Barthianismus sich vorwiegend in Auseinandersetzung mit dieser Form des Calvinismus entwickelt hat. Begibt man sich auf die Suche nach Literatur, mit deren Hilfe man die Grundgedanken des Neocalvinismus für Außenstehende verständlich, reflektiert und systematisch darstellen könnte, stößt man auf verhältnismäßig wenig geeignetes Material. Meine Darstellung bezieht sich darum auf eine 2006 publizierte Biografie von Abraham Kuyper62 und auf zwei modernitätstheoretische Deutungen63 der ausgereiften theologischen Grundgedanken des recht komplexen Phänomens des Neocalvinismus: Grundlegend zum Verständnis des Neocalvinismus ist zunächst, dass es sich um eine Variante des Kulturprotestantismus handelt, der sich im Kontext einer „vom Modernismus dominierten Kultur“64 im „Unterschied zum liberalen Kulturprotestantismus“65 dahingehend profiliert, dass er eine „weltanschaulich neutrale Auffassung der Kultur“66 zugunsten einer „Verteilung der 62 J. Koch, Abraham Kuyper. Een biografie, Amsterdam 2006. 63 A.L. Molendijk, Abraham Kuyper. Theoretiker der Moderne, in: A. Christophersen/F. Voigt (Hg.), Religionssstifter der Moderne. Von Karl Marx bis Johannes Paul II, München 2009, 116 – 129.294 – 295; Rasker, De Nederlandse Hervormde Kerk, Kap. XIV A (Achtergronden van Kuypers Denken over kerk en cultuur), 191 – 197. 64 Molendijk, Abraham Kuyper, 129. 65 AaO., 128. 66 Ebd.
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Der Neocalvinismus – systematisch betrachtet
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Gebiete aufgrund von weltanschaulichen Prinzipien fordert“67. Der Neocalvinismus versteht sich mithin – und zwar bewusst – „nicht als eine Konfession, sondern prinzipiell als ein selbstständiges System mit einer eigenen, allumfassenden Welt- und Lebensanschauung“68. Nach dem Kirchengeschichtler und Religionsphilosophen Arie Leendert Molendijk geht es dem (neo-)„calvinistische[n] Kulturprotestantismus“69 im Unterschied zum liberalen Kulturprotestantismus darum, „der modernen Kultur eine andere, christliche, calvinistische Kultur gegenüberzustellen“70. Modern ist diese Weltanschauung insofern, als es sich tatsächlich um eine bestimmte sich vom liberalen Kulturprotestantismus unterscheidende moderne Variante des – orthodoxen – Calvinismus handelt. Wie hat man sich diese ganz eigenständige Kombination zwischen einerseits Antimodernismus und andererseits Modernität beziehungsweise die gegenüber dem liberalen Kulturprotestantismus anders „konstruiert[e] Synthese zwischen Religion (d. h. Neucalvinismus) und Modernität“71 genauer vorzustellen? Der Kuyper-Biograph Koch spricht pointiert von einer „theologische[n] Dreieinheit“72, also drei grundlegenden Begriffen, die konstitutiv für den Neocalvinismus seien, nämlich die Antithese, die Souveränität im eigenen Kreise und die allgemeine Gnade. Diese Begriffe verhielten sich in einem Zustand „permanent gespannter Balance“73 zueinander und konnten so je nach Situation und politischen Erfordernissen mit wechselnder Betonung der einzelnen Begriffe eingesetzt werden. Mit Antithese ist dabei die von Kuyper schon recht früh betonte Gegensätzlichkeit zwischen Christen und NichtChristen gemeint, die insbesondere parteipolitisch verstanden wurde und das neo-orthodoxe Christentum zum einen in Gegensatz zum modernen politischen Liberalismus, zum anderen aber in einem als unversöhnlich angesehenen Gegensatz zur Sozialdemokratie profilieren sollte. Mit der auf göttlicher Souveränität begründeten Souveränität im eigenen Kreise – der „calvinistische[n] Fassung des Subsidiaritätsprinzips“74 – wird die Freiheit gegenüber dem Staat betont. Außerdem wird die Eigenständigkeit calvinistisch–gereformierter Prinzipien in den verschiedenen, staatlichem Einfluss entzogenen so genannten Lebenskreisen wie Familie, Wissenschaft oder Kunst gefördert. Die Lehre von der allgemeinen Gnade ist schliesslich die wichtigste Grundidee 67 Ebd. 68 AaO., 117. 69 Diesen Ausdruck verwendet Molendijk in der etwas ausführlicheren niederländischen Version seines oben genannten deutschen Beitrags, vgl. A.L. Molendijk, Neocalvinistisch cultuurprotestantisme. Abraham Kuypers Stone Lectures, Documentatieblad voor de Nederlandse kerkgeschiedenis 65, 2006, Nr. 1800, 5 – 19, 19. 70 Rasker, De Nederlandse Hervormde Kerk, 192. 71 Molendijk, Abraham Kuyper, 117. 72 Koch, Abraham Kuyper, 402. 73 Ebd. 74 Molendijk, Abraham Kuyper, 123.
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des Neocalvinismus. Sie ist im Gegensatz zu den beiden ersten mehr antithetisch ausgerichteten Begriffen eher synthetisch ausgerichtet. Zwar bilden nach Kuyper Natur und Gnade beziehungsweise Offenbarung und Vernunft im Gegensatz zur modernen Theologie aufgrund der Sünde eigentlich Antithesen, doch hat Gott nach Kuyper mittels der so genannten allgemeinen Gnade die Sünde im Zaum gehalten, sodass man die Welt nicht zu verachten habe, sondern im Gegenteil als Arbeitsfeld ansehen sollte. Theologisch beziehungsweise biblisch gesehen berief Kuyper sich hierbei auf den universalen, allen Menschen geltenden, nachsintflutlichen so genannten noachitischen Bund Gottes, der nach der Sintflut von Gott gestiftet worden sei. Gerade die Kombination antithetischer und synthetischer Elemente ermöglichte eine „verblüffende politisch-ideologische Flexibilität“75, da man sich von Andersdenkenden zugleich unterscheiden und nach Bedarf mit ihnen zusammenarbeiten konnte. Eine weitere wichtige Lehre Kuypers betrifft die Palingenese: Kuyper unterschied nämlich zwischen Wiedergeborenen und die Nicht-Wiedergeborenen. Erst durch die Wiedergeburt gehört man nach Kuyper auch zur Kirche, in der sich die erwählten, wiedergeborenen und gläubigen Christen auf der Grundlage des reformierten Bekenntnisses versammeln. Diese ist im Gegensatz zum Institut der reformierten Volkskirche nicht von oben nach unten, sondern organisch von unten her in einem landesweiten Verband organisiert. Kuypers Kirchenauffassung ist so gesehen anthropozentrisch ausgerichtet. Die Grenzen der kirchlichen Gemeinschaft wurden im Gegensatz zur reformierten Volkskirche durch die Bekenntniseinheit festgelegt. Entsprechend der Unterscheidung zwischen Wiedergeborenen und Nicht-Wiedergeborenen unterschied Kuyper auch zwischen zwei Formen der Wissenschaft: einer Form der Wissenschaft, in der die Sünde als Lüge herrschte, und einer anderen, die eine Wissenschaft der Wiedergeborenen war. Allerdings gab es zwischen beiden Formen aufgrund der Lehre von der allgemeinen Gnade auch immer wieder Gemeinsamkeiten. Ein weiteres wichtiges Element der Lehre Kuypers betrifft die so genannten Ordnungen, mit deren Hilfe das sittliche Leben reguliert werden sollte. Dieser Begriff entspricht in etwa dem deutschen Begriff der Schöpfungsordnungen. Auf die Auffassung des Neocalvinismus von der Verbalinspiration der Schrift verwies ich bereits. Das spezifisch moderne Element des Neocalvinismus bestand also modernitätstheoretisch gesehen in der Akzeptanz weltanschaulicher Pluralität, der Differenzierung verschiedener Lebensbereiche, der Ausbildung einer eigenen, vollständigen Weltanschauung und, mehr theologisch gesehen, in der Re-Integration des zunächst verworfenen optimistischen modernen Entwicklungsdenkens durch die Lehre von der allgemeinen Gnade. Die Besonderheit dieser Form des Kulturprotestantismus liegt nach Molendijk mithin in 75 Koch, Abraham Kuyper, 403.
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seiner Strategie, die Gesellschaft zu „durchdring[en]“76 und „die zerstörende Wirkung des Modernismus“77 gleichsam von innen heraus und eben mit modernen Mitteln und anti-revolutionär zu bekämpfen. Als Leitfrage für diese Arbeit ergibt sich dementsprechend, auf welche gegenüber dem Neocalvinismus, aber auch gegenüber dem klassischen Liberalismus möglicherweise alternative Art sich der niederländische Barthianismus profilierte. Auf die Beantwortung dieser Frage soll gesondert im letzten Kapitel dieser Arbeit noch einmal eingegangen werden.
1.6 Neocalvinismus und Versäulung78 Von den theologischen Richtungen zwar nicht zu trennen, aber dennoch zu unterscheiden sind die weltanschaulichen beziehungsweise politischen so genannten Säulen in den Niederlanden. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von sozialer Segmentierung, consociationalism79 oder eben von Versäulung (ndl. verzuiling). Eine Darstellung dieser für die Niederlande charakteristischen Sozialstruktur ist für das Thema dieser Arbeit insofern relevant, als sie zum einen „entscheidend von [Abraham Kuyper] geprägt worden“80 ist und zum anderen den politischen und gesellschaftlichen Kontext bildete, innerhalb dessen die von der Theologie Barths positiv inspirierten Christen und Christinnen in den Niederlanden nach einer gegenüber dem Neocalvinismus alternativen Verhältnisbestimmung zwischen Christentum und Kultur suchten. Ganz allgemein kann gesagt werden, dass die Anfänge der niederländischen Versäulung um 1870 zu suchen sind, dass ihr Höhepunkt etwa 1950 erreicht worden ist und dass man ab den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts dann von den Anfängen des Prozesses einer so genannten Entsäulung spricht.81 Was aber ist unter Versäulung zu verstehen? Und inwiefern lässt die diesem Begriff zugrundeliegende Metapher der Säule auf ein besonderes Interesse für den Zusammenhang zwischen christlicher Religion und Kultur schließen? In Anschluss an den niederländischen Soziologen Staf Hellemans können 76 Molendijk, Abraham Kuyper, 128. 77 Ebd. 78 Teile dieses Abschnitts wurden bereits aufgenommen in: S. Hennecke, Unter Dichtern. Aspekte niederländischer Barthrezeptionen und die geisteswissenschaftliche Fakultät, ZDT, 27, 2011, Nr. 2, 62 – 83. 79 Der englische Begriff wurde von dem bekannten zeitgenössischen niederländisch-amerikanischen Politikwissenschaftler A. Lijphart geprägt; vgl. A. Lijphart, The Politics of Accomodation. Pluralism and Democracy in The Netherlands, Berkeley 1968. 80 Molendijk, Abraham Kuyper, 116. 81 Vgl. die Darstellung von A.L. Molendijk, Versäulung in den Niederlanden. Begriff, Theorie, lieu de m¦moire, in: F.W. Graf/K. Große Kracht (Hg.), Religion und Gesellschaft. Europa im 20. Jahrhundert, Industrielle Welt 73, Köln/Weimar/Wien 2007, 307 – 327, insbes. 308 – 313.
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Zur Geschichte der Barth-Rezeptionen in den Niederlanden
Säulen als „nicht-territorial segmentierte Gruppenformen“82 beschrieben werden, „wobei eine ausgesprochen und relativ geschlossene Subkultur mit einem äußerst umfangreichen gut strukturierten Netzwerk von Organisationen kombiniert wird“83. Diese allgemeine Definition präzisiert Hellemans mit der einschränkenden Hinzufügung, dass „eine Säule […] ein ideologisch und subkulturell integriertes Netzwerk mehrerer, domänespezifischer, mit einem Repräsentationsmonopol ausgestatteter Organisationen [ist], wozu eine politische Netzwerkpartei [gehört]“84. Die zweite Definition schließt kleinere und politisch weniger schlagkräftige Säulenbildungen aus und ermöglicht es besser, das Phänomen der Säulenbildung und Versäulung auch im europäischen Vergleich zu erfassen. Im Sinne der genaueren zweiten Definition hat es in den Niederlanden in dem Zeitraum zwischen 1870 und 1960 vier Säulen gegeben: eine orthodox-protestantische, eine katholische, eine sozialistische und schließlich eine vergleichsweise schwach entwickelte liberale Säule. In der Praxis bedeutete die Zugehörigkeit zu einer Säule, dass man nicht nur in der entsprechenden weltanschaulichen Partei war oder für sie votierte, sondern unter anderem ebenfalls entsprechende Kindergärten, Schulen, Universitäten und Krankenhäuser besuchte, seine Freizeit in entsprechenden Organisationen verbrachte, bei entsprechenden Bäckern einkaufte, in entsprechenden Gesangsvereinen sang, Mitglied bei entsprechenden Radio- und später Fernsehsendern wurde, die entsprechende Tageszeitung kaufte und einer entsprechenden Gewerkschaft sowie ebensolchen kulturellen Organisationen angehörte. Dass die gesellschaftliche Isolierung der Mitglieder verschiedener Säulen eines der am stärksten kritisierten Probleme der Versäulung war, kann man sich leicht vorstellen. Zwischen den einzelnen Säulen gab es Kontakte eigentlich nur unter den jeweiligen organisatorischen Eliten, deren Verhandlungen zu einem die jeweiligen Interessen jeder Säule sichernden Minimalkonsens in der Gesellschaft führen sollten. Alle Säulen zusammen trugen – um im Bild zu bleiben – das eine Dach, nämlich die niederländische Nation. Als Gründe oder Motivationen zur Säulenbildung können – so Arie L. Molendijk im Anschluss an den Historiker Hans Blom – zusammengefasst „Emanzipationsstreben rückständiger Gruppen“85, „Protektion religiöser Lebensweisen gegen säkularisierende Tendenzen“86, „soziale[…] Kontrolle“87, 82 S. Hellemans, Zuilen en Verzuiling in Europa, in: U. Becker (Hg.), Nederlandse politiek in historisch en vergelijkend perspectief, Amsterdam 1993, 121 – 150, 123. 83 Ebd. 84 AaO., 124. Ich möchte an dieser Stelle aber noch einmal nachdrücklich auf den Artikel von Molendijk, Versäulung, insbes. 313 – 324 hinweisen. Molendijk macht dort in einer gut strukturierten und verständlichen Übersicht die komplexe Forschungsgeschichte zum Begriff der Versäulung deutlich und geht den Zusammenhängen zwischen Versäulung und Modernisierungsprozessen nach. 85 Molendijk, Versäulung, 319. 86 Ebd. 87 Ebd.
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Neocalvinismus und Versäulung
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„stabilisierende Funktion […] in einer pluralen Gesellschaft“88 und auch „Zunahme der politischen Partizipation“89 angesehen werden. Chronologisch gesehen sind die orthodoxen Protestanten – genauer gesagt die Neocalvinisten – in den Niederlanden die ersten gewesen, die eine solche Säule entwickelt haben. Man kann die Niederlande geradezu als das Ursprungsland der Versäulung bezeichnen. Doch gab es das Phänomen nicht nur bei den niederländischen Protestanten90, sondern auch in anderen europäischen Ländern. In der Fachliteratur werden auch Belgien und Österreich91 als relativ stark versäulte Gesellschaften im Sinne eines „,versäulten Pluralismus‘“92 bezeichnet. Auch in Deutschland93 kam dieses Phänomen vor, doch war die deutsche Gesellschaft im Gegensatz zur niederländischen nie in ihrer Gesamtheit versäult. Die Fachliteratur spricht diesbezüglich lediglich von einem mindestens zeitweise bestehenden „,segmentierten Pluralismus‘“94 beziehungswesie von schwach versäulten Gesellschaften. Auch Frankreich und die Schweiz sind Beispiele für schwach versäulte Gesellschaften. Protest gegen die Versäulung gab es namentlich nach dem Zweiten Weltkrieg insbesondere in der Sozialdemokratie und unter protestantischen Christen und Christinnen.95 Unter ihnen gab es eine große Anzahl, die sich hierbei von der Theologie Karl Barths inspirieren ließen. Sie trugen in großem Maße zu dem bei, was man insgesamt als den Prozess der Entsäulung oder auch als den Durchbruch (ndl. doorbraak) – im Sinne der Durchbrechung der bestehenden versäulten Einteilungen – bezeichnet.96
88 Ebd. 89 AaO., 320. 90 Zur Versäulung insbesondere der Sozialdemokraten und der Katholiken in den Niederlanden, Belgien, Frankreich und Deutschland vgl. S. Hellemans, Strijd om de moderniteit. Sociale bewegingen en verzuiling in Europa sinds 1800, KADOC-studies 10, Leuven 1990. 91 Vgl. die vergleichende Studie von R. Steininger, Polarisierung und Integration. Eine vergleichende Untersuchung der strukturellen Versäulung der Gesellschaft in den Niederlanden und in Österreich, Politik und Wähler 14, Meisenheim a. Glan 1975. 92 Hellemans, Zuilen en verzuiling, 138. 93 Dies galt zwar vorwiegend für den Katholizismus und die Sozialdemokratie im wilhelminischen Deutschland, doch vgl. für den Protestantismus auch die Studie von G. Hìbinger, Kulturprotestantismus und Politik. Zum Verhältnis von Liberalismus und Protestantismus im wilhelminischen Deutschland, Tübingen 1994. Hübinger bezeichnet die von ihm untersuchte „Verbindung zwischen Kulturliberalismus und Kulturprotestantismus [als] die vom subkulturellen Zusammenhalt her schwächste Säule“; aaO., 306. 94 Hellemans, Zuilen en verzuiling, 138. 95 Vgl. Molendijk, Versäulung, 313; Hellemans, Zuilen en verzuiling, 125. 96 Gerade der Beitrag protestantischer Christen und Christinnen wird in der entsprechenden niederländischen Literatur nicht bestritten, ist aber noch nie detailliert untersucht worden. Dasselbe gilt für den spezifischen Beitrag barthianisch inspirierter christlicher Theologen und Laien. Diese Studie möchte zur Füllung der entsprechenden Forschungslücke beitragen.
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Zur Geschichte der Barth-Rezeptionen in den Niederlanden
1.7 Arbeitshypothese und redaktionelle Anmerkungen Barth-Rezeption wird in dieser Arbeit als sinnstiftende Anwendung und als zum Verständnis des Werkes Karl Barths beitragender aktiver Leserbeitrag im Sinne eines Ereignisses verstanden, wobei die Leserschaft im Sinne der bestehenden niederländischen protestantischen Strömungen als ein Plural aufzufassen ist. Es wird im Folgenden zunächst historisch der Frage nachzugehen sein, wie die verschiedenen Rezeptionsstränge sich entwickelten und wie es schließlich zur Bildung eines eigenständigen niederländischen Barthianismus kam. Dass dieser sich im Sinne einer gegenüber dem Neocalvinismus und auch dem Liberalismus alternativen Form einer Kulturtheologie entwickelte, ist die spezifische Behauptung dieser Arbeit, der sowohl in theologischer als auch in kultureller und politischer Hinsicht nachgegangen werden soll. Anzumerken ist zum Schluss, dass soweit wie möglich auf bestehende deutsche Übersetzungen der niederländischen Literatur zurückgegriffen wurde; ansonsten wurden die niederländischen Zitate von der Autorin ohne weitere Erwähnung ihres Namens übersetzt. Niederländische termini technici wurden, soweit es sinnvoll und verständlich erschien, im Niederländischen belassen. Vornamen werden im laufenden Text und im Literaturverzeichnis ausgeschrieben, Taufnamen, die in den Niederlanden eine größere Rolle spielen als in Deutschland, werden im laufenden Text einmal genannt und ansonsten abgekürzt aufgeführt. Zwar können die einzelnen Kapitel im Großen und Ganzen auch einzeln verstanden werden, doch empfiehlt sich zum besseren Verständnis die durchgängige Lektüre aller Kapitel.
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2. Die Formierung der verschiedenen Rezeptionsstränge (1919–1926) 2.1 Einleitung In diesem ersten Kapitel soll die Rezeption der Theologie Karl Barths in den Niederlanden chronologisch vom Erscheinen der ersten Auflage des Römerbriefs bis kurz vor Barths erstem Besuch in den Niederlanden im Jahr 1926 beschrieben und, soweit sinnvoll und möglich, anhand der in Kapitel 1 dieser Studie formulierten rezeptionsästhetischen Fragestellungen strukturiert werden. Zunächst (2.2) werden die allerersten Reaktionen auf Barths Römerbrief-theologie dargestellt und dann die ersten Kontakte, die mit Barth vor allem im neocalvinistischen Spektrum niederländischer Theologie geknüpft wurden (2.3). Es folgt eine Erfassung der Reaktionen innerhalb der Nederlandse Christen-Studentenvereniging (NCSV) (2.4). Sodann soll die Rezeption der Theologie Barths gesondert für die ethische (2.5), die liberale (2.6) und die konfessionelle (2.7) Richtung dargestellt werden. Rückblickend werden dann abschließend die wichtigsten rezeptionsgeschichtlichen Gesichtspunkte aus dieser Phase zusammengefasst (2.8). Angesichts der Pluralität der Karl Barths Theologie rezipierenden reformierten protestantischen Strömungen1 ist an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass es sich bei der Barth-Rezeption in den Niederlanden genauer gesagt um eine Vielzahl verschiedener Barth-Rezeptionen handelt, deren Stränge sich entlang der in den Niederlanden üblichen konfessionellen Richtungen (reformiert, gereformiert, remonstrantisch, mennonitisch) und Strömungen innerhalb der reformierten Theologie und Kirchlichkeit (konfessionell, ethisch, liberal) formieren.
2.2 Erste Reaktionen und Kontakte Die erste schriftliche niederländische Reaktion auf die Theologie Barths überhaupt betrifft die erste Auflage des Römerbriefs und wurde bereits 1919 vom Groninger Neutestamentler und praktischen Theologen Adrianus van Veldhuizen in Form einer kurzen, positiven Rezension2 publiziert: Zu loben sei Barths Festhalten an der historisch-kritischen Methode und seine Auf1 Zur Übersicht über die verschiedenen Strömungen vgl. Kap. 1 dieser Studie. 2 A. van Veldhuizen, Rez. zu: Karl Barth, Der Römerbrief, NthS 2, 1919, 109.
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Die Formierung der verschiedenen Rezeptionsstränge (1919 – 1926)
fassung von historischem Verstehen als Gespräch zwischen „der Weisheit von gestern und der von morgen, die faktisch dieselbe“3 sei. Die zeitgenössische Sprache Barths mache das Buch gerade für den homiletischen Bereich relevant. Eine erste Rezension4 zur zweiten Auflage des Römerbriefs5 erschien 1924 von dem aus Deutschland stammenden und an der Universität von Leiden tätigen Hans Windisch im Rahmen eines Beitrags über neuere exegetische Entwicklungen: Zu würdigen sei, dass Barth die historisch-kritische und die religionsgeschichtliche Methode keinesfalls verwerfe, sondern als die eigentliche exegetische Aufgabe die Erfassung auch des „wirklichen Sinn[es] des Textes“6 und des „im Text verfassten Zeugnis[ses]“7 betrachte. Doch sei Barths theologische Exegese weder als wissenschaftliche Exegese noch als eine Paulusinterpretation zu betrachten. Vielmehr handle es sich bei seiner Römerbrieftheologie um eine von Kierkegaard inspirierte „Re-Interpretation“8 von Paulus, die zwar große zeitgenössische Bedeutung habe, die aber nicht „zu einer Umkehr in der wissenschaftlichen Exegese der Paulusbriefe“9 führen könne.10 Wesentlich ausführlicher und kontroverser wurde Barths Römerbrieftheologie allerdings von den systematischen beziehungsweise dogmatischen Fachkollegen diskutiert, noch ausführlicher von Theologen und theologisch Interessierten, die nicht an Universitäten tätig waren. Zunächst zu den Kontakten und frühen Reaktionen auf Barth und dessen Theologie innerhalb des neocalvinistischen (= gereformierten) Spektrums:
2.3 Erste Kontakte und Reaktionen innerhalb des neocalvinistischen Spektrums Der niederländische Historiker George Harinck11 hat bereits darauf hingewiesen, dass es in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg viele Kontakte zwischen den Neocalvinisten in den Niederlanden und der reformierten Minorität in Deutschland gab. Der Austausch vollzog sich unter anderem über den Re3 4 5 6 7 8 9 10
Ebd. H. Windisch, Nieuwe banen in de nieuwtestamentische wetenschap, NthT 13, 1924, 368 – 390. K. Barth, Der Römerbrief (2. Aufl. in neuer Bearbeitung), München 1922. AaO., 383. AaO., 384. Ebd. AaO., 385. Ganz ähnlich urteilt der Leidener Kichenhistoriker Albert Eekhof in einer zweiten Rezension der zweiten Auflage des Römerbriefs. Neu hinzu kommt nun die Beobachtung, dass Barth sich offensichtlich recht selbstständig in den Fußspuren Calvins bewege; vgl. A. Eekhof, Rez. zu: Karl Barth, Der Römerbrief. München, Chr. Kaiser, 1923. (528 S.), NAKG, 1925, NS 18, 149¢150. 11 Vgl. für diesen Abschnitt: Harinck, The Early Reception, insbes. 170 – 175.
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Erste Kontakte und Reaktionen innerhalb des Spektrums
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formierten Bund. In den Niederlanden, aber auch andernorts im Ausland wie insbesondere in den Vereinigten Staaten, versuchte man, die in reformierten Kreisen stattfindenden Initiativen und Bestrebungen zur Stärkung des reformierten Lebens in Deutschland moralisch und materiell zu unterstützen. Nach Harinck spielte man bei den niederländischen Neocalvinisten selbst mit dem Gedanken, das reformierte Leben in Deutschland entsprechend dem eigenen Beispiel, also im Sinne einer freikirchlichen Organisation, zu gestalten und nach niederländischem Beispiel auch die Gründung einer eigenen Universität zu bestärken.Faktisch gab es in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg schließlich erfolgreiche Bestrebungen, neben dem einzigen bestehenden Lehrstuhl für reformierte Theologie, der an der Universität von Erlangen untergebracht und von E.F. Karl Müller (1863 – 1935) besetzt war, einen weiteren Lehrstuhl an der Universität von Göttingen einzurichten, als dessen zukünftiger Inhaber Karl Barth im Gespräch war. Auch diese konkrete Initiative wurde unter anderem von den niederländischen Neocalvinisten moralisch und finanziell unterstützt und aufmerksam verfolgt, was – so Harincks These – das international gesehen relativ früh einsetzende Interesse an Barth gerade auch in neocalvinistischen Kreisen in den Niederlanden erklärt. Durch den Wechsel Barths von Göttingen nach Münster zum Wintersemester 1925/ 26 wurden nach Harinck die Beziehungen zwischen Barth und dem Reformierten Bund allerdings beendet und damit zumindest auch die formalen Beziehungen zwischen Barth und den niederländischen Neocalvinisten. In der neocalvinistischen niederländischen Presse erschien bereits 1921 ein erster Artikel12 über Barth. Es handelte sich um eine von Pfarrer Willem Frederik Auguste Winckel angefertigte und in der Auslandsrubrik der neocalvinistischen Wochenzeitschrift De Heraut publizierte Teilübersetzung eines ursprünglich von Karl Müller zunächst in der Reformierten Kirchenzeitung publizierten Beitrags: Barths Römerbrief (1. Aufl.) betrachte die Gedanken von Paulus im Licht der modernen Zeit, betone dabei aber im Gegensatz zur modernen Theologie und Philosophie die eschatologische Transzendenz Gottes. Dem Einfluss der Anthroposophie und des Okkultismus auf den modernen Menschen stelle er den lebendigen Gott gegenüber. Indem Barth im Römerbrief eine theozentrische Theologie entwickelt habe, sei er zum Christentum der Reformation gekommen. Dass er insbesondere die Jugend anspreche, sei als ein hoffnungsvolles Zeichen zu betrachten. Auch in der neocalvinistischen Wochenzeitschrift De Reformatie wurde Barth recht früh mehrmals kurz erwähnt, ein erstes Mal13 1924 von dem Pfarrer Gerrit Keizer : Der Name Barth sei kein unbekannter mehr, und Dank des auch mit niederländischer Hilfe unterstützen Studienkonvikts in Göttingen sei es nun möglich, bei Barth in Göttingen zu studieren. Etwas ausführ12 F.A. Winckel, Een nieuwe uitleg van de brief aan de Romeinen. Populariteit van den schrijver bij Theol. studenten, De heraut, 3. 7. 1921. 13 G. Keizer, [o.T.], Re 4, 1924, Nr. 24, 186.
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licher war ein anderer Beitrag14 aus dem Jahr 1924, der in der Philosophierubrik vom mystischen und irrationalen Charakter neuerer philosophischer Strömungen und den damit korrespondierenden neuen religiösen Bedürfnissen berichtet. Besondere Aufmerksamkeit verdiene die theosophische und die anthroposophische (Rudolph Steiner) Strömung, doch auch im Christentum und insbesondere innerhalb der ethischen Theologie verbreite sich eine antirationalistische Strömung, eine Akzentverschiebung, die mit der philosophischen Akzentverschiebung korrespondiere. Lediglich die gereformierte (neocalvinistische) Theologie tendiere nicht in die irrationale Richtung. Beispielhaft für die Verbreitung der antirationalen Tendenzen seien Rudolf Ottos Buch Das Heilige und der Römerbrief Karl Barths mit seiner Betonung gerade „der Unerkennbarkeit Gottes als wesentliches Moment der Theologie“15 und seiner „unausgesprochenen Anerkennung des Paradoxes“16. Obwohl das Fundament der reformierten Theologie das Wort Gottes sei und sie so bereits seit Jahrhunderten dem Einfluss philosophischer Zeitströmungen habe widerstehen können, könne sie sich dem zeitgenössischen Einfluss nicht vollständig entziehen und habe sich darum ihm gegenüber „sowohl abwehrend als auch aufbauend“17 zu verantworten.18 Ebenfalls recht positiv, doch insgesamt auch spärlich, berichtete die Gereformeerd theologisch tijdschrift über Barth. Im Juni 1925 findet sich in dem Protokoll der 14. allgemeinen Versammlung gereformierter Pfarrer vom 15.–16. 4. 1925 die Zusammenfassung eines vom damaligen gereformierten Dogmatiker der Freien Universität, Valentijn Hepp (1879 – 1950), gehaltenen Referats über die theologische Vorstellungen Karl Barths19 : Mit Barth sei „ein Stern erster Größe an unserem theologischen Himmel erschienen, auf den sich alle Teleskope“20 richteten. Der Grund für das überaus große Interesse an Barth sei vor allem darin zu suchen, dass Barth eine Botschaft für sehr verschiedene Gruppen habe: „Der Orthodoxe und der Modernist, der Lutheraner und der Römisch-Katholische hören auf ihn“21. Da dieser theologische Stern schon des Öfteren seine Farbe gewechselt habe, könne lediglich eine Momentaufnahme seines Denkens dargestellt werden, und da Barth sich selber betont als reformiert bezeichne, sei es durchaus sinnvoll, eine solche zu er14 15 16 17 18
B. W[…], De nieuwe wijsbegeerte en de nieuwe religie, Re 4, 1924, Nr. 29, 224 – 225. AaO., 225. Ebd. Ebd. Ein wenig später berichtet wiederum Gerrit Keizer in der Rubrik Presseschau von den in Göttingen studierenden niederländischen Studenten und von dem großen Interesse, das Barth dort unter den Studierenden auf sich ziehe; vgl. G. Keizer, [o.T.], Re 4, 1924, Nr. 33, 258. 19 V. Hepp, De theologische denkbeelden van Karl Barth, Protokoll des Vortrags in: J.G. Kunst, Verslag der veertiende algemene vergadering der Vereeniging van Predikanten van de Gereformeerde Kerken in Nederland, gehouden woensdag 15 en donderdag 16 april te Utrecht, GTT 26, 1925, Nr. 2, 65 – 79, 74 – 78. 20 AaO., 74. 21 Ebd.
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Erste Kontakte und Reaktionen innerhalb des Spektrums
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stellen, zumal man Barth gerne als Mitstreiter begrüßen würde. Dieser Wunsch erweist sich jedoch am Ende von Hepps Referat als eine noch unerfüllte Hoffnung: Barth müsse noch den gewünschten „höheren Ort“22 finden, „der ihn mehr mit uns zu einer Einheit mach[e]“23. Um Barths Anschauungen verstehen zu können, müsse man sie erst „aus dem Dialektischen ins NichtDialektische übersetzen“24. Barth sei ein Liebhaber von Paradoxen. Seine wichtigste Idee sei die Unterscheidung zwischen Zeit und Ewigkeit. Die Gedankengänge Barths seien insgesamt als äußerst heilsam zu betrachten, und auch Gereformierte hätten etwas von Barth zu lernen, „da“, so Hepp selbstkritisch, „wir noch viel zu wenig Gott Gott [sein] lassen“25 würden. Doch seien die Unterschiede zwischen den Anschauungen Barths und denen der Gereformierten groß. Zu kritisieren sei erstens die dialektische Methode Barths. Barth ziehe die auch von den Gereformierten geschätzten Paradoxe so weit auseinander, dass er nur noch die Bergspitze und das Tal sehe, den „Weg nach oben“26 hingegen nicht. Barth entpuppe sich zweitens mit seiner Theorie vom unbekannten Gott als „Agnostiker“27, dessen „Intellektualismus“28 und „Determinismus“29 zu kritisieren sei. Drittens sei es „traurig“30 zu nennen, dass Barth die Sündlosigkeit Jesu bestreite. Das zeige, dass er ein „Zweifler“31 sei, und aus diesem Grunde müsse er, der ein allgemeingültiges Glaubensbekenntnis aller Reformierten wünsche, noch „viel von seiner Lehre […] widerrufen“32. Wohl insbesondere aufgrund dieses letzten Kritikpunktes kommt Hepp zu der Schlussfolgerung, dass die Einheit zwischen Barth und den Gereformierten keinesfalls gegeben, sondern vielmehr noch zu erhoffen sei.33 Wiederum in De Reformatie erschien am 20. 11. 1925 in der Rubrik „Presseschau“ eine weitere, nun doch recht kritisch gestimmte Notiz zu Barth34, und zwar erstmals vom späteren Kampener Dogmatiker Klaas Schilder (1890 – 1952), in der Folgezeit einer der energischsten Gegner Barths innerhalb des gereformierten (= neocalvinistischen) Spektrums: Viele Niederländer wendeten sich derzeit vom objektiven Wort zum Subjektivismus, während gerade 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33
AaO., 77. Ebd. AaO., 75. AaO., 76. AaO., 77. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Durch eine vergleichbare Spannung zwischen umarmendem Interesse und Abgrenzung kennzeichnet sich auch die anschließende Diskussion des Vortrags. Zweifel am orthodox-reformierten Status Barths kamen vor allem aufgrund der Vermutung auf, dass Barth die Auferstehung als etwas Ewiges sehe und über die Faktizität der Inkarnation schweige. 34 K. Schilder, Naar het objectieve Woord, Re 6, 1925, Nr. 8, 59.
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in den vom Subjektivismus Schleiermachers am stärksten beeinflussten Ländern der Ruf nach dem objektiven Wort laut werde, was man unter anderem an dem „gewaltige[n] Buch“35 Rudolf Ottos und den „schönen Werke [n]“36 Karl Barths beobachten könne, Bücher, die wie „der Strahl eines Blitzes“37 erschienen seien. Zu Barth sei zu sagen, dass er „jenen eigenen Platz für Gott […] sicherlich nicht ausgeweitet, sondern noch enger“38 gemacht habe. Denn Barth zeige auf jeder Seite „seiner schönen Werke, dass es neben Gott für niemanden Raum zum Stehen“39 gebe, „für niemanden außer für den demütigen Menschen, der ,nichts‘ [wisse] und als solcher keinen Raum neben Gott in Beschlag“40 nehme. Außer in Deutschland sei auch in den Niederlanden und in Ländern wie die Schweiz oder Ungarn, aber auch bei einigen römischkatholischen Theologen diese „merkwürdige Entwicklung zum Objektiven“41 zu beobachten, die auch zu einem erneuten Interesse an Calvin führe. Doch sei es etwas armselig, wenn man nach Deutschland oder in die Schweiz ziehe, um dort Gedanken zu entwickeln, die das gereformierte Denken (gemeint ist: der Neocalvinismus in den Niederlanden) bereits seit langem entwickelt habe.42
2.4 Reaktionen aus dem Umkreis der niederländischen Vereinigung christlicher Studenten (NCSV) Die eigentlichen Entdecker und Verbreiter zunächst der Römerbrieftheologie Barths waren allerdings weder die Professoren noch die gereformierte Presse, 35 36 37 38 39 40 41 42
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Hinzuzufügen ist, dass auch in der gemischt-reformierten Monatszeitschrift Stemmen des tijds der Theologie Barths schon früh Beachtung geschenkt wurde, zumeist vom Groninger reformierten (und also nicht der neocalvinistischen Richtung zuzurechnenden) Religionsphilosophen und Ethiker Willem J. Aalders in Form von Rezensionen zu kleineren Schriften Barths. 1924 stellte Aalders als das Hauptthema der Theologie Barths dessen Theozentrismus heraus, mit dem dieser „Erneuerung“ suche, indem er „sich an die Prinzipen der Reformation“ anschließe. In den gereformierten Kreisen der Niederlande werde zwar schon seit geraumer Zeit dasselbe gesagt, doch sage Barth es nun mit einem eigenen Akzent. So gebe Barth „viel zu denken – und manchmal zu fragen“; vgl. W.J. Aalders, Rez. zu: Karl Barth, Das Wort Gottes und die Theologie. Gesammelte Vorträge, 1.–3. Tausend. Chr. Kaiser Verlag, München 1924, StT 13, 1924, Nr. 1, 109. In einer anderen Rezension aus demselben Jahr betont Aalders, dass Barth zwar das sola fide der reformatorischen Frömmigkeit deutlich akzentuiere, dass die „eigentliche Schwierigkeit“ aber eben genau darin liege, dass der Mensch diese Frömmigkeit „,nur‘ noch anzunehmen“ habe; vgl. Ders., Rez. zu: Karl Barth und Ed. Thurneysen, Komm Schöpfer Geist! Predigten 1924. 3.–6. Tausend. Chr. Kaiser Verlag. München, StT 13, 1924, Nr. 1, 110.
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Umkreis der niederländischen Vereinigung christlicher Studenten
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sondern die damaligen niederländischen Studierenden.43 Insbesondere in den Kreisen der Nederlandse Christen-Studenten Vereniging44 (NCSV) wurde die zweite Auflage des Römerbriefs begeistert gelesen und lebhaft diskutiert. Die NCSV war eine gemäßigt-orthodoxe, kirchen- beziehungsweise richtungsunabhängige protestantisch-ökumenische studentische Vereinigung, die in den Niederlanden 1896 errichtet worden war und die insbesondere zwischen 1915 und 1950 sehr einflussreich war. Außer für gemeinsame Bibelstudien interessierte man sich für internationale, soziale und politische Themen. Insbesondere für Studierende mit einem protestantisch-orthodoxen Hintergrund, die „dem Christentum noch einmal eine Chance geben wollten“45, funktionierte die Vereinigung als Freiraum und „eye-opener“46. Von Anfang an widerstand man hier der üblichen gegenseitigen „Verketzerung“47 der gereformierten und der ethischen Richtung und pflegte auch einen ungestörten Umgang mit der modernen (liberalen) Richtung. Faktisch hatten die meisten Mitglieder einen Hintergrund in der Nederlandse Hervormde Kerk, doch stammten etwa zehn Prozent aus einem gereformierten Milieu, die mit ihrer Entscheidung für die NCSV zu erkennen gaben, „sich in der gereformierten Isolation nicht zu Hause zu fühlen“48. Außer für den kritisch-gereformierten Theologiestudenten Nico Stufkens galt das etwa auch für den später als „roter Pfarrer“ sehr bekannt gewordenen Johan J. Buskes. Politisch gesehen war der NCSV von Anfang an offen und zukunftsorientiert. Die meisten Mitglieder49 stammten aus einer Familie, in der man die CHU (Christen-Historische Unie) oder die ARP (Antirevolutionaire Partij) wählte,50 doch gab es auch politisch liberal gesinnte Mitglieder und Mitglieder mit einem Hintergrund aus den Kreisen der Christelijk-Sociale Partij. Auch gab es bereits am Anfang des 20. Jahrhunderts Mitglieder, die sich der SDAP (Sociaal-Democratische Arbeiderpartij) angeschlossen hatten oder mit dieser sympathisierten, für protestantische Niederländer damals eher außergewöhnlich. Zur aufgeschlossenen Haltung der NCSV gehörte weiterhin eine 43 Diese Einschätzung teilt auch Th.L. Haitjema, Der Kampf des holländischen Neu-Calvinismus gegen die dialektische Theologie, in: E. Wolf (Hg.), Theologische Aufsätze. Karl Barth zum 50. Geburtstag, München 1936, 571 – 589, 573. Die Einschätzung wird auch von Vertretern anderer kirchlicher Richtungen geteilt. 44 Vgl. ausführlicher zum NCSV die Studie von A.J. van den Berg, De Nederlandse ChristenStudenten Vereniging (1896 – 1985), ’s Gravenhage 1991. 45 Vgl. M. van der Linde, Het visioen van Eijkman. Dr. J. Eijkman, de Amsterdamse Maatschappij voor Jongemannen en de vernieuwing van Nederland 1872 – 1945, Passage reeks 22, Hilversum 2003, 59. 46 Ebd. 47 Ebd. 48 AaO., 60. 49 AaO., 61. 50 Die antirevolutionäre Partei war der politische Arm der Gereformierten (also der Neocalvinisten) und die wesentlich kleinere Christen-Democratische Unie wurde vor allem von orthodoxeren Reformierten oder der Mitte der Nederlandse Hervormde Kerk angehörigen Christen gewählt.
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internationale Orientierung und ab 1913 die Aufnahme auch weiblicher Mitglieder, die zu diesem Zeitpunkt allerdings bereits seit ungefähr fünfzehn Jahren in einer Parallelvereinigung für Frauen organisiert gewesen waren. Insgesamt muss betont werden, dass aus den Kreisen der NCSVgroße Teile der protestantischen Elite des 20. Jahrhunderts stammte, die zukünftig in Politik, Kirche, Ökumene und sozialen Organisationen aktiv werden sollte. Nico Stufkens Bei der Entdeckung und Verbreitung der Römerbrieftheologie Barths in den damaligen studentischen Kreisen spielte der ursprünglich gereformierte, sozialistisch orientierte Vorsitzende und Studienleiter der NCSV und spätere Abgeordnete der P.v.d.A (Partij van de Arbeid), Nico Stufkens51 (1890 – 1964), eine führende Rolle. Stufkens hatte Jura an der Freien Universität in Amsterdam studiert und beschäftigte sich nebenher auch mit Theologie. Auf einer der von der NCSV recht häufig organisierten Sommerkonferenzen berichtete er 1922 anlässlich seiner Lektüre der zweiten Auflage des Römerbriefs erstmals über Karl Barth. Versuche, Barth als Sprecher für die Sommerkonferenzen von 1923 und 1924 zu gewinnen, scheiterten allerdings von Seiten Barths. In seinen in der Wochenzeitschrift Vrij Nederland publizierten Erinnerungen an Barth vom 19. 5. 1956 berichtet52 Stufkens, dass er im frühen Sommer53 des Jahres 1923 zusammen mit dem reformierten Pfarrer Dirk Tromp auf der Rückreise von einer internationalen Studentenkonferenz in Liselund (Dänemark) mehrere interessante Theologieprofessoren in Deutschland zu einem persönlichen Gespräch besucht habe, unter anderem auch Karl Barth in Göttingen. Er sei durch einen Beitrag Rudolf Bultmanns in der Christlichen Welt auf Barth aufmerksam geworden und habe sich dann auf den Römerbrief „gestürzt“54, da Barth ihm als der „vermutliche Befreier aus der Sklaverei des Historismus und Psychologismus“55 erschienen sei. Gerade weil Barth damals keine „ausbalancierte Dogmatik“56 geschrieben habe, habe 51 Stufkens war als gereformierter Protestant Mitglied der SDAP (Sozialdemokratische Arbeiterpartei). 1917 – 1921 war er Vorsitzender der NCSV und ab 1920 für zehn Jahre Studienleiter der NCSV für soziale Fragen. Über seine Kontakte mit Barth vgl. auch ausführlicher Van den Berg, De Nederlandse Christen-Studenten Vereniging, 64 – 66. 52 N. Stufkens, Toen Barths „Römerbrief“ in ons land kwam. Herinneringen van een Barthiaan van het eerste uur, Vrij Nederland 16, 1956, Nr. 39, 4. 53 Van den Berg berichtet allerdings überzeugend, dass Stufkens die Reise nicht im frühen Sommer 1923, sondern im September des Jahres 1922 antrat. Er berichtet weiterhin, dass anfänglich auch J.J. Buskes mitreisen wollte, dann jedoch durch Krankheit verhindert war; vgl. Van den berg , De Nederlandse-Christen-Studenten-Vereniging, 65; vgl. auch die Postkarte vom 12. 9. 1922, die N. Stufkens und D. Tromp an J.J. Buskes sandten: N. STUFKENS/D. TROMP, Postkarte an K. Barth v. 12. 9. 1922, in: Archiv Buskes, Vrije Universiteit; vgl. weiterhin J.J. BUSKES, Mensen die je niet vergeet, Apeldoorn 1970, 81. 54 Stufkens, Toen Barths „Römerbrief“, 4. 55 Ebd. 56 Ebd.
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das Buch bei ihm und anderen Studierenden eine derartig große Wirkung entfalten können: „Diese Randbemerkungen zur aktuellen Theologie, sie ließen unsere heiligen Häuser einstürzen, sie entzogen uns den Grund unter den Füssen, aber die Form schloss an unsere Denkweise und Gefühlslage an“57. Hervorzuheben seien Barths „,ungeheure sachliche Leidenschaft‘ (Brunner), die Aggressivität zur linken und zur rechten Seite, die Reminiszenzen an Kutter (und) die Anwendung der Marburger Terminologie“58. Auch seien er und andere von Barths Gedanken zur Verhältnisbestimmung von Evangelium und Kultur sehr beeindruckt gewesen. Die Lösungsvorschläge der neocalvinistischen Theologie hätten sich als zu „einfach“59 erwiesen, und man habe darum die wesentlich intensiveren Auseinandersetzungen innerhalb der ethischen Richtung und der Orthodoxie verfolgt und sich zudem von der sozialistischen Bewegung und insbesondere von dem in dieser Bewegung aufkommenden religiösen Interesse angesprochen gefühlt.So habe man sich unbewusst gewünscht, verstärkt den „lebendigen Bezug zum Kern der biblischen Botschaft“60 aufzubauen zugleich habe man sich recht kritiklos mit aktuellen Kulturströmungen beschäftigt. In genau dieser Konstellation hätten der Römerbrief und Barths Wendung von der religiösen Anthropologie zur Offenbarung ihre ungeheure Anziehungskraft entwickeln können. Stufkens berichtet weiterhin, dass bei ihm Barths „Entthronung der Kultur“61 damals die meisten Fragen aufgeworfen habe und dass dies der wichtigste Grund für ihn gewesen sei, ein persönliches Gespräch mit Barth führen zu wollen. Barth habe ihm und Tromp im persönlichen Gespräch damals geantwortet, dass die Kultur „nicht zerbrochen [werde], dass sie vollen Raum erhalte …. aber an ihrem eigenen Ort“62. Abschließend habe Stufkens Barth auf dessen relative Unbekanntheit in den Niederlanden hingewiesen, woraufhin dieser zur größten Beschämung Stufkens’ die Rezension eines niederländischen Neutestamentlers63 vorgezeigt habe. Er und andere, so Stufkens, hätten nach Barths erstem Besuch im Jahr 1926 recht erfolglos versucht, innerhalb der universitären Welt um mehr Interesse für Barth zu werben. Lediglich Oepke Noordmans und Theodorus L. Haitjema hätten nicht abweisend reagiert.64 Die anderen hätten hingegen zustimmend auf die Kritik [Adolf] Jülichers verwiesen oder aber Barths theologische Botschaft mit dem Hinweis auf die eigene Tradition65 für nicht sehr bedeutsam 57 58 59 60 61 62 63
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Es muss sich um die Rezension der ersten Auflage des Römerbriefs von A. van Veldhuizen gehandelt haben; vgl. Van Veldhuizen, Rezension. 64 Zu O. Noordmans und Th.L. Haitjema vgl. unten und in den folgenden Kapiteln. 65 Stufkens nennt hier die großen Theologen der ethischen Theologie, Johannes H. Gunning jun.
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erklärt. Ihm, Stufkens, sei schon damals aufgefallen, dass man nicht geneigt war, sich einer neuen Denkrichtung zu öffnen, sondern vielmehr die Hauptlinie in Barths Denken in den vertrauten Rahmen bereits bekannter Kontroversen etwa zum Thema „Glauben und Geschichte“ oder zur historisch-kritischen Exegese einpasste. Das wirkliche Interesse an Barth selber sei in den Niederlanden „von unten aus der Studentenwelt gekommen“66. Johannes J. Buskes Der ursprünglich gereformierte, dann aber 1943 in die Nederlandse Hervormde Kerk übergetretene,67 als „roter Pfarrer“ bekannt gewordene Johannes Jacobus Buskes (1899 – 1980), der 1917 – 1924 Mitglied und Vorstandsmitglied der NCSV war, las als Theologiestudent68 an der Freien Universität in Amsterdam bereits 1920 einige kleinere Schriften von Barth, 1922 dessen Römerbrief und zudem regelmäßig die Zeitschrift Zwischen den Zeiten. Die weitere theologische Arbeit Barths sollte ihn sein ganzes Leben lang begleiten. Über seine Motivation, als Student Barth zu lesen, schreibt er : „[A]lles zusammengenommen Speise und Trank für uns, die wir Durst hatten, mit dem Fundamentalismus nicht mehr weiter kamen und für die der Modernismus keine Möglichkeit war. Ohne Barth würde ich ganz bestimmt niemals mit Freude Pfarrer geworden und Pfarrer geblieben sein“69. Und speziell zum Erscheinen des Römerbriefs notiert er : Damals […] war ich Student an der Freien Universität. Durch Barth wurde ich wie viele andere aus einer Sackgasse geholt. Wir sahen in jener Zeit nur zwei Möglichkeiten: dem alten Glauben treu zu bleiben, aber dann die historisch-kritische Forschung abzuweisen, Fundamentalist zu werden und außerhalb des modernen Lebens zu stehen oder die historisch-kritische Forschung zu akzeptieren und den alten Glauben preiszugeben, um im modernen Leben eine letzte Zuflucht in einer vagen Religiosität zu finden. Wir waren hoffnungslos stecken geblieben. Dann kam Barth, um uns von diesen beiden fatalen Alternativen zu befreien. Uns wurde ein dritter Weg gezeigt. Wir atmeten wieder auf.70
Jo Eijkman Als ein weiteres Beispiel für die vielfältigen Reaktionen auf Barths Theologie gerade innerhalb studentischer Kreise sei hier Jo Eijkman (1892 – 1945) ge-
66 67 68 69 70
und DaniÚl Chantepie de la Saussaye. Die Nennung dieser Namen lässt vermuten, dass die Ablehnung in diesem Fall aus den Kreisen ethischer Theologen gekommen ist. Stufkens, Toen Barths „Römerbrief“, 4. 1926 wurde Buskes nach der Synode von Assen (1926) bereits Mitglied und Errichter der Gereformeerde Kerken in Hersteld Verband, einer kleinen Kirche, die sich 1946 wieder der Nederlandse Hervormde Kerk anschloss. Vgl. J.J. Buskes, Hoera voor het leven, Van gisteren tot morgen 1, Amsterdam 1959, 63. Buskes, Mensen, 138. AaO., 139 f.
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nannt, der spätere Vorsitzende der AMVJ71 (Amsterdamse Maatschappij voor Jongemannen). Eijkman immatrikulierte sich im September 1911 als Theologiestudent an der Universität von Utrecht und wurde im selben Jahr ein zunächst vorläufiges Mitglied der NCSV, wo er über Nico Stufkens auch die Gedanken Karl Barths kennen lernte. Am 1. 5. 1920 wurde er zum Geschäftsführer der AMJV speziell für die Arbeit mit Jungen und die Organisation von Sommercamps ernannt und repräsentierte das Gesicht der AMVJ in der Zwischenkriegszeit. Dort herrschte ebenso wie in der NCSV ein offener und vorwärtsstrebender Geist, und es wurde dort auch die Theologie Karl Barths rezipiert. Willem Visser ’t Hooft Auch der ursprünglich remonstrantische damalige Theologiestudent und spätere Generalsekretär des Weltkirchenrates Willem Visser ’t Hooft (1900 – 1985) war Mitglied der NCSV. In seinen Memoiren berichtet er, wie er sich durch den Einfluss der NCSV und insbesondere der aufkommenden dialektischen Theologie immer mehr von den (ja eher liberalen) Remonstranten entfernt habe und der Nederlandse Hervormde Kerk beigetreten sei. Visser ’t Hooft beeindruckte insbesondere die Modernität (der zweiten Auflage) des Römerbriefs. Über dessen Verfasser Barth schreibt er : Hier war ein Mann, der ganz und gar in der modernen Welt lebte, der seinen Nietzsche und seinen Dostojewski kannte, ein Mann, der mit den Problemen der sog. historischen Kritik und der modernen Philosophie gerungen hatte – der aber aufs Neue die Autorität des Wortes Gottes entdeckt hatte. Dies war der Mann, der den Tod aller komfortablen Götterchen proklamierte und aufs Neue vom lebenden Gott der Bibel sprach. Es sah danach aus, dass die verschiedenen Elemente meiner religiösen Entwicklung nun endlich ihren Ort erhielten. Dies war die Botschaft, auf die ich gewartet hatte.72
Dirk Tromp Doch zurück von den Erinnerungen zu den zeitgenössischen Dokumenten. Die erste wirklich ausführliche und publizierte Reaktion73 auf Barths Römerbrieftheologie wurde vom oben bereits genannten Dirk Tromp 1924 in der Zeitschrift der NCSV, Eltheto, veröffentlicht und soll im Folgenden anhand der im ersten Kapitel dieser Studie erarbeiteten rezeptionsästhetischen Fragestellung untersucht werden: Tromp hebt zunächst die große Popularität des Römerbriefs in den Nie71 Der AMVJ ist die Amsterdamer Abteilung des weltweit organisierten CVJM (YMCA – Young Men’s Christian Association). Die Amsterdamer Abteilung wurde am 17. 11. 1909 von J. van Bommel gegründet. 72 W.A. Visser ’t Hooft, Memoires. Een leven in de oecumene, Kampen 1971, 19. 73 D. Tromp, „Der Römerbrief“ van Karl Barth, Elth 77, 1924, Nr. 7/8, 219 – 234.
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derlanden hervor und nennt das Erscheinen dieses Buches „ein Ereignis“74. Viele Fachtheologen hätten es zwar recht rasch zur Seite gelegt, doch unter Studenten sei es ungemein verbreitet gewesen. Gerade ein Nicht-Theologe75 habe ihm als Erster die meiste Aufmerksamkeit geschenkt. Der Wert des Römerbriefs, so Tromps Einschätzung, dürfe keinesfalls mit dem eines exegetischen Kommentars für die Predigtarbeit verwechselt werden. Selber kenne er kein Buch, das ihm soviel „n[ehme] und g[ebe] und erhell[e]“76 wie dieses. Als spezifische Lesermotivation gibt Tromp an – und er spricht hier für viele weitere Studenten seiner Generation –, dass man im Studium zwar die Einsichten der historisch-kritischen und der psychologischen Methode als Bereicherung erfahren, unproblematisch am Begriff der Offenbarung festgehalten und sich daneben mit sozialen und ethischen Fragen beschäftigt habe. Getrennt hiervon habe man aber auch philosophische Einsichten gewonnen und sich – zumindest in Utrecht – als Kantianer verstanden, allerdings ohne die Spannungen zwischen kritischer Philosophie und dem theologischen Offenbarungsdenken wirklich durchlebt zu haben. An genau dieser undurchlebten Spannung mache sich die „Treffsicherheit“77 und das „Zielbewusstsein“78 von Barths Römerbrief fest, und von daher erkläre sich dessen ungemeine Popularität gerade unter Studenten. Es sei gerade die von Barth weitergeführte Kritik der kritischen Fragen, die den Römerbrief zu einem derart ansprechenden Buch machten: Also endlich ein Buch, das sich an die genannten Problemstellungen heranwagte und dabei keine halbe Sache machte: die Kritik Overbecks, die Kritik der kritischen Philosophie, die Kritik Blumhardts c.s. an der bestehenden Orthodoxie, die Kritik am christlichen Zufriedenheitschristentum akzeptiert! Und als Ende, als Resultat: ,Der Römerbrief‘. Man könnte sagen: Das Verhältnis all dieser kritischen Fragestellungen hinsichtlich der Offenbarung Gottes in Jesus Christus anlässlich des Zeugnisses von Paulus im Brief an die Römer.79
Barth mache deutlich, dass der Brief des Paulus an die Römer den Leser anno 1924 anspreche. Das Buch sei als ein „Appell“80 zu verstehen, den man nicht negieren könne, ohne Schaden zu nehmen. Als die wichtigsten Themen des Buches (Leserinteresse) selektiert Tromp das Verhältnis von Glauben und Religion, den Gegensatz von Gott und Welt, die Dialektik des Glaubens, die mit einem metaphysischen Dualismus nicht zu verwechseln sei, die Bestimmung des Glaubens als nicht (auch nicht dialektisch) abzuleitendes, paradoxes Ereignis (Wunder), die Kritik der modernen 74 75 76 77 78 79 80
AaO., 219. Gemeint ist vermutlich der Jurastudent N. Stufkens. AaO., 220. AaO., 221. Ebd. AaO., 222. AaO., 223.
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Jesusideologie, die Ungeschichtlichkeit des Heils und die Ablehnung einer christlichen Ethik als Ausbau des christlichen Glaubenslebens. Als den primären Kontext des Römerbriefs betrachtet Tromp Barths kritische Position innerhalb des Marburger Neukantianismus. Ausführlicher interessiert ihn jedoch dessen Relevanz für den sekundären, den eigenen niederländischen Kontext. Dieser bestehe insbesondere in Barths Kirchenkritik, die gerade auch die reformerischen Bemühungen verschiedenster kirchlicher Kreise in den Niederlanden treffe: „Der Gereformeerde Bond und der Konfessionalismus, der modus vivendi und die proportionale Vertretung81 stehen unter demselben Urteil“82. Nahezu alle kirchlichen Strömungen – Tromp nennt „die ethische und die konfessionelle und die gereformierte Gefühls- und Erfahrungsreligion“83 – sollten erst einmal zum Schweigen und zu der selbstkritischen Einsicht kommen, dass alle ihre Positionen Versuche seien, sich „gegenüber Gott zu behaupten“84. Schließlich bringt Tromp auch seine Kritik gegenüber Barth zum Ausdruck. Im Gegensatz zu den vielgehörten, seines Erachtens irrelevanten Vorwürfen der Neoorthodoxie und des Biblizismus, findet er Barths kritische Anfragen zur Möglichkeit positiver Kulturarbeit durchaus wichtig, möchte diese aber nicht als Gegensatz zu jener betrachten. Der Mensch sei immer schon eine Zwei-Einheit, sowohl kulturell schöpferisch als auch unter Gottes Urteil stehend. Relevant erscheint Tromp allerdings die ebenfalls oft gestellte Frage, ob Barth nicht die Spannung in der Paradoxie des Glaubens zu stark anziehe und die Spaltung zwischen dem alten und dem neuen Mensch nicht zu radikal vollziehe. Dass Barth ausschließlich mit Negationen von Positionen arbeite, artikuliere sich auch vielfach in der Vermutung, Barth negiere die Inkarnation. Doch bestehe der Kern des Unbehagens seiner, Tromps, Einschätzung nach in der von Barth lediglich in der Vergebung der Sünden behaupteten Identität des alten und des neuen Menschen. Darum müsse man deutlicher zwischen den von Barth negierten menschlichen (religiösen oder psychologischen) Erfahrungen auf der einen Seite und dem Glaubensbewusstsein auf der anderen Seite unterscheiden. Das Negierte impliziere im Neukantianismus seines Erachtens durch seine Verwurzelung im (absoluten) Ursprung – ein Kernwort des Marburger Neukantianismus – auch eine Bestätigung des Negierten und sei trotz seiner Relativität sinnvoll. Das nur Negative sei „unbestehbar“85, jedenfalls wenn man seinen Bezug zum Ursprung mit bedenke. 81 Hiermit ist gemeint, dass die Anhänger aller Strömungen oder Parteien bei Beschlüssen jeweils vertreten oder miteinbezogen sind und es also nicht einfache Mehrheitsentscheidungen gibt. 82 AaO., 229. 83 AaO., 230. 84 Ebd. 85 AaO., 233. Tromp hatte außer dem Römerbrief auch Der Christ in der Gesellschaft gelesen, was seine Erwägungen hier mitbestimmt haben mag. Dort findet sich jedenfalls deutlich der Gedanke, dass es neben der Negation des Bestehenden (Antithese) auch eine Position (These) hinsichtlich des Bestehenden gebe, wobei beide in der ursprünglichen großen Negation (der
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Deswegen sei es besser, bei der Rede vom neuen Menschen von fortwährender „Positions-Schöpfung Gottes“86 zu sprechen. Undeutlich bleibe im Römerbrief schließlich die genaue Bedeutung des Ausdrucks „Wort Gottes“ und dessen Verhältnis zur Geschichte.
2.5 Die Rezeption in der ethischen Theologie In der ethischen reformierten Richtung wurde die Theologie Barths von Anfang an und bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt, nämlich ab 1924, sehr freundlich begrüßt, diskutiert und ausführlich auch schriftlich kommentiert. Der oben bereits erwähnte Pfarrer Dirk Tromp, der juden-christliche Professor für Pädagogik Philipp Abraham Kohnstamm und der Pfarrer und recht bekannte Theologe Oepke Noordmans gehörten in diesen ersten Jahren zu den tragenden Figuren der Diskussion um Barths Theologie in der ethischen Richtung. Das Resultat dieser Diskussion erschien 1926 in einem gemeinsamen Buch87, welches man wohl als die Vorhut einer ersten Barth-Schule in den Niederlanden bezeichnen kann. Dirk Tromp Im Anschluss an den oben bereits besprochenen, 1924 in Eltheto veröffentlichten Beitrag publizierte Tromp 1926 einen weiteren ausführlichen Kommentar88 zur Römerbrieftheologie Barths. Das seines Erachtens wichtigste Anliegen des Römerbriefs sei es, mithilfe einer philosophischen Methode Raum für das Wort Gottes zu schaffen. Obwohl Barths Theologie von einem philosophischen Gesichtspunkt beherrscht werde, sei sie mehr als Theorie, nämlich „Lebensbewegung, ja Predigt“89 und insofern „,praktische‘ Philosophie“90. Im Folgenden führt Tromp zunächst seine bereits an früherer Stelle91 geäußerte Annahme zur Popularität des Römerbriefs unter Studierenden und deren Lesermotivation aus. Diese erkläre sich nämlich auch durch Barths
86 87 88 89 90 91
Synthese) verwurzelt seien; vgl. den Wiederabdruck als: K. Barth, Der Christ in der Gesellschaft. Eine Tambacher Rede, in: J. Moltmann (Hg.), Anfänge der dialektischen Theologie, Teil I (Karl Barth, Heinrich Barth, Emil Brunner), München 1962, 3 – 37. Tromp, „Der Römerbrief“, 233. D. Tromp/Ph. Kohnstamm/O. Noordmans, Nieuwe theologie (De school van Barth), Geschriften uitgegeven van wege de studie-commissie der Ethische Vereeniging 1, Nr. 6 – 8, Baarn 1926. D. Tromp, Kritische theologie. Over den Römerbrief van Karl Barth, in: Tromp/Kohnstamm/ Noordmans, Nieuwe theologie, 5 – 54. AaO., 6. Ebd. Vgl. Kap. 2.4 dieser Studie.
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neuartige, von Plato und dem Marburger Neukantianismus inspirierte Verhältnisbestimmung von Theologie und Philosophie, in der weder – wie etwa in der scholastischen Theologie – die Philosophie von der Theologie, noch – wie etwa in einer von Hegel inspirierten Theologie – die Theologie von der Philosophie verdrängt werde. Vielmehr bestimme Barth das Verhältnis von Theologie und Philosophie als das eines gegenseitigen Wissens um die jeweils eigene Begrenzung: Die nur hinweisende Philosophie beschränke die Theologie auf ihre „Grenz-Position“92, die so situierte und einer „kritische[n] Säuberung“93 unterzogene Theologie gebe der Philosophie ihre „letzte Rechtfertigung“94. Barths Theologie sei insofern tatsächlich die eines unbekannten Gottes, als sie nicht direkt und abschließend, sondern nur dialektisch und in ständiger Bewegung über Gott sprechen könne. Gerade kantianisch geprägte Theologen sollten sich von der Römerbrieftheologie herausgefordert fühlen. Denn diese unterstelle eine „enge Beziehung“95 zwischen kritischer Philosophie und Theologie, bei der keine der beiden geopfert werde. Höchstens sei kritisch zu fragen, ob die von Barth vorgenommene Identifikation des philosophischen Grenzbegriffs des Ursprungs mit Gott philosophisch erlaubt sei und die kritische Philosophie so nicht doch wieder unkritisch in die Theologie integriert werde. Der Vorwurf, dass Barth nicht wirklich über Gott und mit Paulus über die Rechtfertigung aus dem Glauben allein spreche, sei zurückzuweisen. Umgekehrt seien aber auch diejenigen Versuche als irrelevant abzuweisen, mit denen Barths Römerbrieftheologie auf Grund der darin vollzogenen Kritik der historisch-kritischen Methode für eine orthodoxe, theozentrische Theologie vereinnahmt werden soll. Barth stelle nämlich jede bestehende Theologie in Frage. Dass Tromp somit als den angemessenen sekundären Kontext für Barths Theologie gerade die ethische theologische Richtung betrachtet, zeigt sich im Folgenden auch anhand seiner Auswahl der für die niederländische Situation relevantesten Themen des Römerbriefs, bei deren Besprechung er immer wieder auf wichtige ethische Theologen wie Johannes H. Gunning (jun.) und DaniÚl Chantepie de la Saussaye hinweist. Die Themen werden anhand zweier Stichwörter zusammengefasst, nämlich erstens „Gott und das Bestehende“ – zu denken ist hier an das Kreatürliche, an die Welt, an den Menschen an und für sich, an die Geschichte, an die Ethik und an die Religion – und zweitens „Gott und das Nicht-Gegebene“ – zu denken ist hier an Gott, die Offenbarung und den Glauben. Zum ersten Stichwort betont Tromp, dass Barths Ausgangspunkt tatsächlich Gott sei und er sich von da aus und nicht umgekehrt die Frage nach der menschlichen Erfahrung, der Schöpfung und der Sünde stelle. Das Gegebene 92 93 94 95
Tromp, Kritische theologie, 7. AaO., 9. AaO., 7. AaO., 13.
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sei also keineswegs als etwas Absolutes zu betrachten, sondern aufgrund des dialektischen Spannungsverhältnisses als etwas Relatives. Das bedeute gerade keine Abwertung des Gegebenen. Vielmehr gehe es um ein Doppeltes, nämlich um „Begründen durch Aufheben; Aufheben durch Begründen“96 beziehungsweise um „Relativität, die von der Relativität durchschaut“97, nicht vernichtet werde. Zwar müsse man mit Barth das Diesseitige notwendigerweise als gottlos betrachten, doch beweise gerade dessen Krisis seine Beziehung zum und seinen Ursprung im Absoluten. Die Beziehung zwischen Gott und dem Gegebenen zeige sich sowohl anhand von Barths Umgang mit der Geschichte als auch beim Problem der Ethik und der Frage nach der Religion: Gott sei für Barth darum das Ende der Geschichte, weil Gott der sinn-volle Augenblick sei. Dies sei gerade auch für die ethische Theologie herausfordernd, in der man oft einer Synthese von Christentum und Kultur nachstrebe. Dass es nicht um eine Abwertung des Gegebenen gehe, zeige sich auch beim Problem der Ethik: Barth versuche wiederum, sie von ihrer Beziehung zum Ursprung in Gott her zu verstehen, das heißt „durch das Licht der Vergebung der Sünden […] die ,einen Weg zu einer gerechtfertigten Tat‘“98 öffne. Bezug nehmend auf Barths 1920 publizierte Schrift Der Christ in der Gesellschaft fügt Tromp verdeutlichend hinzu, dass es Barth tatsächlich um „nüchtere und objektive“99 „Mitarbeit an der Kultur“100 gehe. Das letzte Beispiel sei die Religion: Diese von Barth wohl am schärfsten als Sünde kritisierte menschliche Möglichkeit der Gotteserkenntnis werde wiederum nicht einfach nur negiert, sondern vom Gesichtspunkt der Offenbarung Gottes her auch gewürdigt, nämlich als diejenige menschliche Möglichkeit, die die Sünde veranschauliche. Zwar stoße Barths Kritik der Religion gerade in Kreisen der ethischen Theologie begreiflicherweise auf Widerstand, doch sei darauf hinzuweisen, dass auch der ethische Theologe Gunning101 bereits zwischen religiöser Erfahrung und dem objektiven Charakter der Glaubenssicherheit durchaus unterschieden habe. Zum zweiten seines Erachtens relevanten Thema des Römerbriefs, dem Verhältnis zwischen Gott und dem Nicht-Gegebenen bemerkt Tromp, dass das Gegebene und das Nicht-Gegebene einander in Jesus Christus berührten, ohne einander zu durchdringen. Jesus als Mensch gehöre wie die Schöpfung, die Geschichte, die Ethik und die Religion zum bestehenden Äon, Christus als Sohn Gottes hingegen zum zukünftigen Äon. Darum könne Barth die Sündlosigkeit Jesu sowohl bestreiten – in den Niederlanden anfänglich eine vielgehörte Kritik an Barth – als auch verteidigen. Und darum könne er außerdem 96 97 98 99 100 101
AaO., 27. Ebd. AaO., 34. Ebd. Ebd. Tromp bezieht sich auf J.H. Gunning, Komt het op vroomheid des hartens aan? Een woord ter opening zijner lessen, Arnhem 1893.
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Die Rezeption in der ethischen Theologie
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die Gottverlassenheit als das letzte Wort Jesu bezeichnen: Denn der auferstandene Christus sei für ihn keine historische Tatsache, sondern augenblickliche Erscheinung Gottes. Weitere mögliche neue Erfahrungen und Herausforderungen benennt Tromp in einem nächsten Abschnitt, und zwar indem er wiederum auf in den Niederlanden oft gehörte Einwände gegen die Theologie Barths eingeht: Die durch Barths theologisches Denken ermöglichten Herausforderungen sollten keinesfalls halbherzig im Sinne einer ergänzenden „Korrektur“102, sondern vielmehr als „Dynamit“103 verstanden werden. So leugne Barth nicht so sehr die Fleischwerdung, sondern betrachte sie anders, nämlich nicht als Synthese, sondern als Trennung zwischen dem Menschlichen und dem Göttlichen und als Krisis des Menschlichen. Hierin unterscheide sich Barth auch von dem ethischen Theologen Gunning, der den Gedanken einer Hochzeit zwischen Geist und Natur vertrete. Weiterhin vertrete Barth auch eine sich von der üblichen Satisfaktionslehre unterscheidende Soteriologie, bei der es ihm um die dialektische „Orts-Bestimmung zwischen Gott und Mensch“104 gehe. Mit seiner Interpretation der Lehre von der doppelten Prädestination vertrete er außerdem eine andere Prädestinationslehre als die Reformatoren, denen er eine Veranschaulichung des neuen Lebens vorwerfe. Barth beziehe nämlich sowohl die Erwählung als auch die Verwerfung auf den einzelnen Menschen und betrachte beide nicht als Besitz oder Quantität. Auch die Gnade Gottes betrachte er unanschaulich, und das sola fide Luthers werde ebenfalls neu bestimmt, so dass eine theologische Rechtfertigung des philosophischen Denkens nicht länger ausgeschlossen sei: Diese Theologie [….], die im Wort Gottes die Rechtfertigung des philosophischen Denkens sieht und die dieses Wort in logischer Priorität allem Erfahren und Erleben und Denken vorordnet, diese Theologie […] kann nicht zum sola fide Luthers kommen. Jedoch [durchaus] zu einem sola fide!105
Doch auch der Glaube sei bei Barth kein Standpunkt, sondern „,Respekt vor dem göttlichen Inkognito‘“106. Von hier aus gebe es auch keine Kontinuität zwischen dem alten und dem neuen Menschen, keine „christliche Persönlichkeit“107. Dies alles sei aber nicht mit Nihilismus zu verwechseln – ebenfalls ein viel geäußerter Vorwurf gegenüber Barths Römerbrieftheologie. Vielmehr handele es sich um eine „Fülle, die wir hier nur negativ durchleben“108. Von diesen bedenkenswerten, gerade auch die reformierte Theologie betreffenden theologischen Herausforderungen unterscheidet Tromp schließ102 103 104 105 106 107 108
Tromp, Kritische theologie, 52. AaO., 51. AaO., 47. AaO., 49. Ebd. AaO., 50. Ebd.
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lich in einem letzten Teil seine eigene Kritik. Barth würdige noch nicht hinreichend, dass das Relative durch seinen Bezug auf den Ursprung nicht nur Nicht-Sinn, sondern auch Sinn sei. Die von Barth angeregte Verbindung von kritischer Philosophie und Theologie sei zwar zu begrüßen und anzuerkennen, doch bleibe sie zu formal. Wo Barth an die (rein paradoxe) Auferweckung des Lazarus erinnere und den Ernst und die Schwere des Lebens betone, wolle er, Tromp, an den göttlichen Humor erinnern, wie er sich etwa im Gleichnis vom verlorenen Sohn zeige. Auch die rein paradoxe Gnade Gottes kulminiere letztlich in einem unaussprechlichen, doch bedenkenswerten „Zuhause sein“109.110 Philipp A. Kohnstamm Eine zweite sehr ausführliche Reaktion auf Barths Römerbrieftheologie stammte ebenfalls aus dem Kreise der ethischen Theologie, nämlich von dem Pädagogikprofessor jüdischer Herkunft und christlichen Glaubens Philipp A. Kohnstamm (1875 – 1951). Kohnstamm publizierte 1925 – 1926 erste Gedanken zu Barths Theologie, und zwar zunächst 1925 in der 1924 neu gegründeten Zeitschrift der ethisch theologischen Richtung, dem Algemeen weekblad voor christendom en cultuur. Dem folgte ein Briefwechsel mit Karl Barth, den er zusammen mit einer ausgearbeiteten Version seiner Kritik in das 1926 mit Tromp und Noordmans gemeinsam publizierte Buch Nieuwe theologie aufnahm. Bereits im Algemeen weekblad voor christendom en cultuur wirft Kohnstamm Barths Römerbrieftheologie vor, sie sei eine Form des „modernen Agnostizismus“111. Barth halte den Begriff einer christlichen Wissenschaft für widersprüchlich. Die dialektische Theologie lasse sich auch nicht unter dem Stichwort der Rechtfertigung aus Glauben zusammenfassen, da sie nicht die Sündhaftigkeit, sondern die Endlichkeit des Menschen thematisiere. Von Sünde spreche sie nur in einem metaphysischen und nicht in einem ethischen Sinn. Bildlich gesprochen nivelliere sie durch die Betonung des Unterschiedes zwischen Gott und Mensch den Unterschied zwischen dem reichen Mann und dem armen Lazarus. Entsprechend leugne sie christologisch gesehen den historischen Jesus, indem sie seine Bedeutung auf sein Scheitern (Gottverlassenheit) reduziere. Der auferstandene Christus hingegen werde nicht mehr als Mensch dargestellt. Gott erscheine so als unzuverlässig, dunkel und un109 AaO., 53. 110 In der weiterführenden Diskussion räumt Tromp zudem ein, dass Barths Betonung der Sünde und sein Distanzbewusstsein tatsächlich kein Novum für die holländische Theologie seien. Vielmehr sei das Novum die von ihm, Tromp, unterstrichene Beziehung zwischen Philosophie und Theologie. Auch sei zuzugestehen, dass der philosophische Ausgangspunkt Barths tatsächlich dazu führen könne, dass dem Leben und dem Glaubensleben Gewalt angetan werde. Und die von Barth bekämpfte Psychologie sei inzwischen tatsächlich auch von zeitgenössischen Philosophen wie Jaspers kritisiert worden. 111 Ph.A. Kohnstamm, Modern agnosticisme II, AWCC 1, 1925, Nr. 23, 5.
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Die Rezeption in der ethischen Theologie
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erkennbar, der Herr der Gemeinde als „unanschauliche, blutlose, schattenhafte Abstraktion“112. Zudem erweise sich die Leugnung der Sündlosigkeit des historischen Jesu als „das Herzstück der dialektischen Theologie“113, was der 35. Frage des Heidelberger Katechismus widerspreche. Die dialektische Theologie sei deswegen als Neuauflage des Streites zwischen Arius und Athanasius zu beurteilen, eine Diskussion, die seit der Aufklärung und insbesondere in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den Niederlanden überaus beherrschend gewesen sei. Mit der Leugnung der Sündlosigkeit Jesu inszeniere Barth mit bisher ungekannt „gewaltigen Mitteln“114 einen Kampf des Idealismus und der Platonischen Ideenlehre gegen das Christentum. Ja, aufgrund der Proklamation der Unbekanntheit Gottes sei die dialektische Theologie „satanisch“115 und der moderne Agnostizismus der dialektischen Theologie ein „gefährliches Streben“116 zu nennen. Es gebe für ihn, Kohnstamm, keinen Mittelweg zwischen der Erkennbarkeit Gottes im historischen Jesus – Kohnstamm beruft sich auf das Gespräch zwischen Jesus und Kaiphas – und der Behauptung der Endlichkeit und Sündhaftigkeit Jesu Christi; Kohnstamm bezeichnet dies als Wiederherstellung der Ehre des Kaiphas.117 Am 6. 5. 1925 wandte Kohnstamm sich mit seinen Fragen brieflich118 an Karl Barth. Hierbei konzentrierte er sich auf die Frage nach der seines Erachtens in Barths Denken vorliegenden Unmöglichkeit der Menschwerdung Gottes und auf dessen Identifikation von Leiblichkeit und Kreatürlichkeit mit Sünde, was seines Erachtens der Behauptung der Sündhaftigkeit des historischen Jesus entsprechen und der in der 35. Frage des Heidelberger Katechismus bekannten Sündlosigkeit widersprechen würde. Barth lässt am 25. 5. 1925 an seiner Statt den theologischen Kandidaten Otto Fricke antworten, billigt diese Antwort aber ausdrücklich in einem kurzen persönlichen Zusatz. Fricke betont, dass die Bezeichnung dialektische Theologie tatsächlich missverständlich sei. Es gehe Barth nicht darum, die Methode zum Selbstzweck zu erheben, sondern er wolle mit Hilfe dieser Methode das Verhältnis zwischen Glaube und 112 113 114 115 116 117
Ders., Modern agnostizisme (Slot), AWCC 1, 1925, Nr. 27, 2. Ebd. Ebd. Ders., Modern agnosticisme II, 5. Ebd. Der mennonitische Pfarrer, Sozialist und Pazifist Frits Kuiper (1898 – 1974) reagiert in einem Leserbrief vom 20. 5. 1925 des gleichen Wochenblatts kritisch auf Kohnstamms Vorwürfe. S. E. sei die dialektische Theologie nicht satanisch. Vielmehr wolle Barth den Widerspruch des Wortes Gottes gegen die Weltherrschaft des Satans aufweisen. Des Weiteren rette Barth die Ehre des Kaiphas nicht so sehr mit Hilfe des Idealismus und der platonischen Ideenlehre, sondern verstehe Kaiphas als ein Beispiel für alles menschliche Rechtsbewusstsein, dem das unverfügbare Wort von Gottes Gnade gegenübergestellt werde. Der Vorwurf, Barth befinde sich im Widerspruch zum Heidelberger Katechismus, sei deshalb zurückzuweisen, vgl. F. Kuiper, Satan en Kajefas, AWCC 1, 1925, Nr. 30, 6. 118 Der Brief an Barth mitsamt der Antwort wurde abgedruckt in: Tromp/Kohnstamm/Noordmans, Nieuwe theologie, 87 – 92.
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Offenbarung beschreiben. Barths Anliegen sei keinesfalls der philosophische Aufweis einer Kluft zwischen Zeit und Ewigkeit, sondern die Qualifikation der Zeit von der Offenbarung Gottes her. Von einer Kluft könne nur als einer bereits überwundenen geredet werden. Die Überwindung des Gegensatzes sei also das primäre Anliegen Barths. So sei auch „Jesus, der Christus […] die Überwindung des Gegensatzes von Gott und Mensch“119. Jesus sei aber nicht aufgrund seines historischen Daseins der Christus, sondern kraft der göttlichen Bezeugung. Die Antwort schließt mit einem Hinweis auf Barths Ausarbeitung der Christologie im dritten Teil der Dogmatik120, die an die „orthodoxe Dogmatik der christlichen (reformierten!) Kirche“121 anknüpfe. Kohnstamm ließ sich indes nicht überzeugen, sondern kommentierte im Algemeen weekblad voor christendom en cultuur, dass die Antwort Barths ihn gerade darin bestätigt habe, dass dessen dialektische Theologie tatsächlich der 35. Frage des Heidelberger Katechismus widerspreche. Barth verneine tatsächlich die „Sündlosigkeit Jesu als eines historischen und ,einmaligen‘ Wesens“122. So wird dieser Gedanke unverändert zusammen mit dem Briefwechsel in die ausgearbeitete Version123 des ursprünglichen Beitrags aufgenommen, die 1926 in der mit Tromp und Noordmans herausgegebenen Nieuwe theologie publiziert wurde. In dieser Version schließt Kohnstamm sich zunächst der Beobachtung Tromps an, dass Barth einen großen Einfluss unter Studenten habe, was aber als eine gefährliche Entwicklung zu betrachten sei. Denn Barths Theologie befinde sich im Gegensatz zu seinen Predigten „grundsätzlich im Streit mit der Bibel als dem Buch der Offenbarung Gottes“124, ein Vorwurf, der im Verlaufe der Auseinandersetzung noch einmal als Gegensatz zwischen „Prophetismus und Dialektik, zwischen der Bibel und der Platonisch-Marburgerischen Philosophie“125 spezifiziert wird. Zu dieser gegenüber den Studenten aufklärerisch gemeinten Lesermotivation Kohnstamms kommt eine zweite, persönliche Lesermotivation hinzu, nämlich Barths Abstand zur jüdischen Denkweise, in der man anders als in Barths Relativierung alles Menschlichen die Unterscheidung zwischen Gut und Böse niemals loslassen könne. Denn als das wichtigste und zugleich völlig inakzeptable Thema, ja als „das Wesen“126 der Theologie des Römerbriefs betrachte er, Kohnstamm, die 119 AaO., 91. 120 Gemeint ist wohl die Christliche Dogmatik im Entwurf, deren erster Teil 1927 erscheinen wird; vgl. K. Barth, Die christliche Dogmatik im Entwurf, Bd I (Die Lehre vom Wort Gottes. Prolegomena zur christlichen Dogmatik), München 1927. 121 AaO., 92. 122 Ph.A. Kohnstamm, Het antwoord van prof. Barth, AWCC 1, 1925, Nr. 33, 5 f, 6. 123 Ph.A. Kohnstamm, Modern agnosticisme (De „Zwitsersche theologie“), in: Tromp/Kohnstamm/Noordmans, Nieuwe theologie, 55 – 92. 124 AaO., 61. 125 AaO., 72. 126 AaO., 60.
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„Trennung zwischen Religion und Theologie, zwischen Leben und Denken, Handeln und Sprechen“127. Da in der dialektischen Theologie die Möglichkeit menschlicher Gotteserkenntnis und damit auch die Möglichkeit, zwischen Gut und Böse unterscheiden zu können, geleugnet werde, vertrete sie gegenüber einem biblischen, ethischen Dualismus einen spekulativ-idealistischen Dualismus, in dem das Zeitliche gegenüber dem Ewigen abgewertet und die Kreatürlichkeit des Menschen mit Sündhaftigkeit identifiziert werde. Barth leugne (1) die Offenbarung und Menschwerdung Gottes, erkläre (2) das Vertrauen des Betenden zu Gott und (3) die Versöhnung Gottes mit dem Menschen zugunsten der Erlösung zu einer Unmöglichkeit, was sich (4) insbesondere daran zeige, dass die dialektische Theologie die Kontinuität zwischen dem (gekreuzigten) historischen Jesus und dem auferstandenen Christus abstreite und letzterem keine geschichtliche Bedeutung beimesse: Jesus sterbe nach Barth nicht für unsere, sondern für seine eigene Sünde. Barths Theologie sei darum (5) praktisch als ein „absoluter Nihilismus“128 zu betrachten. Die dialektische Theologie vertrete mit ihrer Behauptung der Unerkennbarkeit Gottes eine „Religion ohne Gottesbegriff“129, wie man es sonst nur aus dem Buddhismus kenne. Entsprechend ihrer stürmischen Zurückhaltung fehle es der dialektischen Theologie an Frohsinn und Dankbarkeit, an jesuanischem Humor und Gefühl für Ironie. Man höre in ihr bedauerlicherweise zwar „das Donnern des Sturmes, doch nicht das Wehen einer sanften Stille“130. Die polemische und negative Haltung der dialektischen Theologie erklärt Kohnstamm sich, indem er sie als Reaktionsbewegung kontextualisiert. Ihre Negationen seien zwar begreiflicherweise auch als Reaktion auf den Krieg zu sehen, doch wiesen sie via negationis auf eine noch sehr starke „Abhängigkeit“131 von der modernen Theologie. Die Abweisung des Historismus (Ernst Troeltsch), dessen ungebrochene Existenz unkritisch vorausgesetzt werde, sei beispielsweise nicht nur von ihm, Kohnstamm, bereits vor 20 Jahren vollzogen worden, sondern vor 25 Jahren auch schon von Heinrich Rickert. Ebenso verhalte es sich mit der Abweisung des Psychologismus (Rudolf Otto), den Barth als unkritisiert voraussetze, während der Bruch mit dem Psychologismus innerhalb der Psychologie der letzten 25 Jahre ebenfalls bereits vollzogen worden sei. Gerade auch Brunners Buch über Schleiermacher132 ignoriere alle neueren wissenschaftlichen Entwicklungen, und sein Festhalten am Marburger Neukantianismus und dem unhinterfragten Ausgangspunkt eines imma127 128 129 130 131 132
Ebd. AaO., 70. Ebd. AaO., 72. AaO., 74. Vgl. E. Brunner, Die Mystik und das Wort. Der Gegensatz zwischen moderner Religionsauffassung und christlichem Glauben dargestellt an der Theologie Schleiermachers, Tübingen 1924.
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nenten Idealismus ignoriere neuere philosophische Entwicklungen. So halte man in der Phänomenologie längst nicht mehr an der Trennung zwischen Inhalt und Gegenstand fest, und die Position der Marburger Philosophie sei bereits energisch in Nicolai Hartmanns Buch Metaphysik der Erkenntnis widerlegt worden. Der vom Marburger Neukantianismus abgeleitete Gedanke der Unerkennbarkeit Gottes sei letztlich ein sacrificium intellectus, da man Gott eben auch mit seinem Verstand liebhaben müsse. Kohnstamm setzt sich schließlich dafür ein, dass eine christliche Theologie – das heißt für ihn eine Theologie, die die Frage „Cur Deus homo?“ beantworte – sich von jeglicher nicht-christlichen Philosophie befreien müsse, auch von Aristoteles und Plato. Der christliche Glauben sei hingegen besser mit Hilfe der zeitgenössischen christlichen Philosophien zu beschreiben, die derzeit entwickelt würden. Zu denken sei hier etwa an „die neuere Erkenntnistheorie und Wertelehre, die Strukturpsychologie [und] die Phänomenologie“133. Oepke Noordmans An letzter Stelle sei der ebenfalls aus dem Kreise der ethischen Theologen stammende Theologe Oepke Noordmans (1871 – 1956) genannt, den man neben Kornelis H. Miskotte als den wichtigsten Barth-Rezipienten und als einen der bedeutsamsten niederländischen Theologen des 20. Jahrhunderts überhaupt bezeichnen kann. Auch Noordmans hatte sich bereits früh, nämlich seit 1925, mit Barths Theologie auseinandergesetzt und vor dessen erstem Besuch in den Niederlanden zwei größere Beiträge134 zu Karl Barth publiziert, wovon einer, Karl Barth en de Zwitsersche theologie (Karl Barth und die Schweizer Theologie), ebenfalls in der Nieuwe theologie publiziert worden war. Noordmans Interesse in Bezug auf seine Barth-Rezeption kann dabei von Anfang an als ein kulturtheologisches Interesse bezeichnet werden, welches er allerdings gerade unter Berücksichtigung des bei Barth Gelernten entwickeln wollte. Besonders erhellend ist meines Erachtens auch Noordmans’ Kontextualisierungsversuch der Barthschen Theologie als einer Theologie des lutherischen Lehrtyps, der sich in einem Gegensatz zu dem in den Niederlanden vorherrschenden reformierten Lehrtyp befinde. Da die Barth-Rezeption Noordmans’ als sehr umfangreich zu bezeichnen ist, verzichte ich an dieser Stelle auf eine Darstellung seiner für den Zeitraum bis zu Barths erstem Besuch
133 AaO., 85. 134 Vgl. O. Noordmans, De betekenis van Kohlbrugge voor de theologie van onze tijd, Stemmen voor waarheid en vrede 62, 1925, 489 – 521; Wiederabdruck in: Ders., De betekenis van Kohlbrugge voor de theologie van onze tijd (Dr. O. Noordmans verzamelde werken, hg. v. J.M. Hasselaar u. a., Bd. 3: Ontmoetingen. De actualiteit der historie I), Kampen 1981, 507 – 526; Ders., De Zwitsersche Theologie, in: Tromp/Kohnstamm/Noordmans, Nieuwe theologie, 93 – 113.
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Karel H. Roessingh
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relevanten Beiträge zu dessen Theologie und nehme das betreffende Material in einem eigenen Kapitel135 zu Noordmans’ Barth-Rezeption auf.
2.6 Die Rezeption in der liberalen Theologie: Karel H. Roessingh136 Der früh verstorbene Leidener Systematiker und Remonstrant Karel H. Roessingh (1886 – 1925) ist der erste einer ganzen Reihe liberaler (= moderner) Theologen, die in den Niederlanden ein positives Interesse an der Theologie Barths zeigten. Zwischen 1923 und 1926 erschienen sechs Beiträge137 von Roessingh, in denen er sich mit der aufkommenden dialektischen Theologie beschäftigt. Damit gehört er zu den ersten niederländischen Theologen überhaupt, die Barth ausführlicher rezipiert haben. Im Gegensatz zu den oben besprochenen Vertretern der ethischen Richtung widmet er allerdings keinen seiner Beiträge ausschließlich oder hauptsächlich Karl Barth oder einem anderen dialektischen Theologen. Vielmehr setzt sich sein Barthporträt aus kurzen, über die verschiedenen Beiträge verteilten Kommentaren zusammen, die ich im Folgenden aber im Zusammenhang darstellen möchte. Roessingh betont wiederholt, dass er vor allem das Prinzipielle138 von Barths Angriff auf die Theologie und die Religion zu würdigen wisse. Es sei die Stärke Barths und anderer dialektischer Theologen, gerade dem Mangel aller bestehenden Theologie auf die Spur zu kommen. In erster Linie sei hier an den Mangel der liberalen Theologie (moderne theologie) zu denken: Unsere Frage ist auch nicht, ob Barth und die Seinen von a bis z Recht haben. Ich betrachte sie hier als eine Gruppe im Leben unserer Zeit mit starkem Anhang. Wichtiger noch: Mit einem starken Gespür für dasjenige, woran es den anderen mangelt, angefangen bei den ,religiösen Humanisten‘ der Aufklärung, Schleiermacher und den Idealisten bis hin zum heutigen Tag.139 135 Vgl. Kap. 4 dieser Studie. Die Analyse des für die Zeit bis zu Barths erstem Besuch relevanten Materials kann man dort unter der Überschrift Alternative Kulturtheologie I finden. 136 Dieser Abschnitt wurde bereits in leicht geänderter Fassung als Teil eines größeren Beitrags zur Barth-Rezeption liberaler niederländischer Theologen auf Niederländisch publiziert; vgl. S. Hennecke, Barth??? Twee vrijzinnige portretten, KeTh 59, 2008, Nr. 3, 230 – 250. 137 Vgl. K.H. Roessingh, Eenheid en organisatie van het vrijzinnig protestantisme (Verzamelde werken van dr. K.H. Roessingh, hg. v. dr. G.H. Heering, Bd. 2, Theologische geschriften), Arnhem 1926, 437 – 449; Ders., Wat brengt moderne theologen samen? (Manuscript), in: aaO., 451 – 457; Ders., De uitgangspunten eener christologie op den grondslag der kritischen theologie, aaO., 321 – 346; Ders., Het humanistisch en het eschatologisch element in het modernisme, aaO., 347 – 371; Ders., Emil Brunner, aaO., 373 – 377; Ders., Theologische tijdschriften, aaO., 427 – 436. 138 Vgl. Roessingh, Wat brengt, 455; Ders., Emil Brunner, 473; Ders., Theologische tijdschriften, 435. 139 Roessingh, Het humanistisch, 361.
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Die Formierung der verschiedenen Rezeptionsstränge (1919 – 1926)
Von ganzem Herzen schließt Roessingh sich der unter anderem von Barth initiierten Kritik der modernen Synthese von Christentum und Kultur an: „Aber natürlich äußert sich derselbe Geist in dem Werk Barths und der Seinen. Wo Zeitlichkeit und Menschenwelt ihren göttlichen Glanz verloren haben, da ist jede Vermischung zwischen Christentum und Kultur ein Verfall für beide, ja faktisch eine Unmöglichkeit“140. Als konkrete Motive seines selbstkritischen Interesses nennt Roessingh vor allem die von Barth im Römerbrief (2. Aufl.) ausgearbeitete Kritik der modernen Frömmigkeit und der religiösen Erfahrung, Barths Analyse der illusionären Art aller Religion, seine Betonung der Diastase zwischen Gott und Welt und schließlich die eschatologische Ausrichtung seines theologischen Denkens. Als dessen größte Relevanz betrachtet er die Antithese141 zwischen Humanismus und Antihumanismus. Neben direkten Hinweisen auf Barths Theologie findet man bei Roessingh auch bestimmte Affinitäten mit Barth, die nicht explizit genannt werden. So teilen beide theologisch gesehen die Konzentration auf Christus als Offenbarung Gottes, ein starkes Interesse für das Thema der Sünde als Gegenpol zur Heiligkeit Gottes und die Rede von Gott als einem Geheimnis. So viel Beifall für und Affinität mit Karl Barth innerhalb der Strömung der liberalen Theologie ist auf den ersten Blick vielleicht erstaunlich. Barth hatte sich in seinem eigenen, primären Kontext schließlich vor allem als Kritiker der liberalen Theologie profiliert. Doch ist Roessinghs zustimmende Reaktion vom niederländischen, sekundären Kontext her gut zu erklären:142 Zwar zeichnete sich die moderne Theologie in den Niederlanden im Allgemeinen durch die Weiterentwicklung der historisch-kritischen Forschung, die Zurückweisung des Supranaturalismus und der Zwei-Naturen-Lehre und das Interesse an der Entwicklung einer religiösen Anthropologie aus. Doch machte sich innerhalb dieser Strömung am Ende des 19. Jahrhunderts neben dem Einfluss des Sozialismus und der Woodbrooker-Bewegung auch die Kritik so genannter jüngerer oder mystischer moderner Theologen bemerkbar. Diese Gruppe wurde nach 1900 als die Malcontenten und ab 1910 als die Rechts-Modernen bezeichnet. Zu dieser rechts-modernen Strömung innerhalb der modernen Theologie ist auch Roessingh zu rechnen. Nach Roessingh143 ist an die Stelle des modernen, evolutionistischen Optimismus erstens ein Optimismus getreten, der viel Bitterkeit über die Welt und die eigene Seele in sich trage und mit einem starken Bewusstsein für die Heiligkeit Gottes einhergehe. Zweitens sei aufs Neue Aufmerksamkeit für Christus als eine erlösende Kraft Gottes aufgekommen, und drittens habe man sich in mancherlei Hinsicht wieder zur orthodoxen dogmatischen Terminologie zurückentwi140 141 142 143
AaO., 366 f. AaO., z. B. 368, 369. Vgl. auch die entsprechende Passage in Kap. 1 dieser Studie. Roessingh, Het modernisme, 366 – 371.
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ckelt. Da die meisten modernen Theologen auf diese Entwicklungen nicht sehr zustimmend reagiert hätten, sei auf jeden Fall deutlich geworden, dass es nicht so etwas wie eine religiöse Einheit innerhalb der modernen Theologie gebe. Die Unzufriedenheit des liberalen Theologen Roessingh bezieht sich also vor allem auf die ältere moderne Theologie und gerade in diesen selbstkritischen Zusammenhang situiert er wiederholt die Bedeutung von Barths Theologie. Ein gutes Beispiel dafür ist Roessinghs Interesse an der Kritik des gängigen, der Leben-Jesu-Forschung entnommenen Jesusbildes der modernen Theologie. In einem Beitrag144 aus dem Jahr 1924 nennt er drei Gründe für seine mit anderen jüngeren Modernen geteilte Unzufriedenheit: erstens den wissenschaftlichen Zweifel an der Vertrauenswürdigkeit dieses historischen Jesusbildes, zweitens die stark humanistische Färbung dieses Bildes und drittens den Wegfall der Bedeutung der Gnade Gottes in Christus. Um eine Alternative zu entwickeln – eine Christologie innerhalb der Grenzen des Modernismus145 – beruft er sich in einem Atemzug auf internationale Gelehrte wie den Philosophen Gerardus J.P.J. Bolland, die ethischen Theologen Johannes H. Gunning und DaniÚl Chantepie de la Saussaye jun., den liberalen Theologen Wilhelm Herrmann und die Englische Woodbrooker-Bewegung, den Religionswissenschaftler Rudolf Otto und nicht zuletzt auf den Philosophen Sören Kierkegaard, den religiösen Sozialisten Christoph Blumhardt und – Karl Barth. Dieses Beispiel verdeutlicht auch sehr gut, dass Barth von Roessingh keineswegs isoliert, sondern immer wieder im Zusammenhang mit einer bestimmten, von diversen Quellen gespeisten kritischen Strömung innerhalb der modernen Theologie genannt wird. Barth ist für Roessingh in erster Linie ein Repräsentant einer breiteren neuen, kritischen theologischen Strömung, die gut an die moderne Theologie im Allgemeinen und die Unzufriedenheit der jüngeren niederländischen Modernen im Besonderen anschließt. Auch wenn Roessinghs Interesse für Barth quantitativ gesehen vor allem dem Bedürfnis der kritischen Entwicklung der modernen Theologie entgegenkommt, stellt er die Relevanz von Barths Theologe für die Niederlande keinesfalls einfach nur als angemessene Selbstkritik dar. Das würde nota bene auch seiner oben genannten Bemerkung über die prinzipielle Bedeutung von Barths Theologie nicht gerecht werden. Roessinghs Versuche, eine neue Christologie zu entwickeln, finden vielmehr im Rahmen einer doppelten Unzufriedenheit statt, die sich sowohl auf die moderne als auch auf die orthodoxe Theologie bezieht. Roessingh eröffnet seinen diesbezüglichen Beitrag nämlich mit einer doppelten Negation in der Form einer doppelten Klage: Wehe derjenigen Theologie, die nicht vom ersten bis zum letzten Buchstaben von der Offenbarung Gottes lebt; aber ebenso: wehe derjenigen Theologie, die nicht mit ,nüchterner‘ Wissenschaftlichkeit den Sinn eines jeden Wortes wägt, sondern, die 144 Vgl. Roessingh, De uitgangspunten, 321 – 346. 145 AaO., 329.
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eigenen Grenzen vergessend, im Idiom der erbauenden Überschwänglichkeit zerfließt.146
Kennzeichnend für Roessinghs konstruktive Ambition ist nun allerdings, dass er nicht bei der doppelten Kritik verharrt, sondern darüber hinaus Ansätze für die Entwicklung einer neuen Christologie geben will. Analog zu der doppelten Negation kommt darum eine doppelte Anerkennung bestimmter moderner und orthodoxer Ansätze zum Zuge. Nach Roessingh soll man nicht „vom historisch Gegebenen zum ,Christus‘ als dem von Gott Gegebenen“147 klettern, wie das von der modernen Theologie ausgehend wohl möglich sei. Man müsse vielmehr umgekehrt die Frage stellen, „wie uns von Gott als Leben, als sich offenbarende Liebe und als Kraft zur Erlösung her die Erscheinung des Christus verständlicher wird“148, sodass wieder Interesse für „allerlei Staub, z. B. aus der alten reformierten Theologie“149 entstehen könne. Auf diese Weise entfaltet sich Roessinghs Interesse an Barth innerhalb eines doppelt kritischen Rahmens. Das zeigt sich noch deutlicher in einem anderen Beitrag aus dem Jahr 1924, in dem Roessingh Barth sehr direkt außer als Kritiker der modernen auch als Kritiker der orthodoxen Theologie präsentiert. Barths Angriff auf die moderne Frömmigkeit sei nämlich nicht nur gegen die moderne Theologie gerichtet, sondern umfasse und treffe zugleich auch die Orthodoxie: „Es geht hier also nun hauptsächlich um die moderne Frömmigkeit selbst. Und den Begriff ,modern‘ kann man hier ruhig sehr weit fassen, denn weitaus die meisten orthodoxen Theologen fallen ebenso unter Barths Urteil“150. Roessinghs Interesse für Barth ist also doppelter Natur, ja das doppelte Interesse steht wiederholt unter einem konstruktiven Vorzeichen, nämlich der Suche nach einer erneuerten, zeitgenössischen Gestaltung der Theologie – einer Theologie jenseits des Gegensatzes von Freisinnigkeit und Orthodoxie. So behandelte Roessingh bereits in einem Beitrag aus dem Jahr 1923 die Frage, „welche Form die Religion […] in der modernen Zeit annehmen sollte“151. Die Theologie könne einerseits nicht „zur alten Orthodoxie“152 zurückkehren,die Rückkehr zu einem „theologischen Fundament […] in der Form einer für alle gültigen Offenbarung“153 sei ausgeschlossen.Andererseits dürfe die Theologie aber auch nicht bei ihrer modernen Variante stecken bleiben, die sich durch „zerbröckelten Individualismus“154 kennzeichne,oft zu „Agnostizismus und Skepsis“155 tendiere und tief geprägt sei durch die traditionelle „liberale 146 147 148 149 150 151 152 153 154 155
AaO., 321. Ebd. Ebd. Ebd. Roessingh, Het humanistisch, 357. Roessingh, Eenheid, 437. AaO., 438. AaO., 437. AaO., 441. Ebd.
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Trennung von Religion und Politik“156. Roessingh setzt sich demgegenüber für eine neue Form der Verbindung von Politik und Religion ein, für einen „Mittelweg“157 zwischen einer gemeinschaftlichen freisinnigen Parteipolitik und der radikalen Trennung von Religion und Politik, wie er sie in der Freisinnigkeit seiner Zeit antrifft. Bei der Suche nach einer neuen Art der Verbindung von Politik und Religion solle die Einsicht eine Rolle spielen, dass die christliche Religion schon immer ein kulturkritisches Element in sich getragen habe, das der „,Kulturseligkeit‘“158 der klassischen modernen Theologie diametral entgegenstehe.In diesem Zusammenhang darf, was Roessingh betrifft, der Name Karl Barths jedenfalls nicht ungenannt bleiben: Hinsichtlich des „Distanzbewusstseins“159 sei „für die individuelle Moral an Kierkegaard, für die soziale Ethik an Menschen wie Hermann Kutter“160 und „an den gewaltigen Einfluss, den Karl Barth und sein Kreis derzeit ausüben“161, zu denken. Roessinghs doppelt kritisches Interesse und seine konstruktive Zielsetzung einer kritischen Theologie zeigten sich noch einmal in einem anderen Aufsatz von 1924. Die von Roessingh angestrebte zukünftige „freie Theologie“162 sei nämlich insofern wirklich frei, als sie in unterschiedlichen Hinsichten frei zu nennen sei. Einerseits sollte sie frei sein hinsichtlich der traditionellen liberalen Synthese von Christentum und moderner Kultur, die man als „verlorene Illusion“163 bezeichnen könne. Hierzu gehöre allerdings auch, dass sie gegenüber den Gefahren des modernen Spiritualismus, der modernen Individualisierung und der modernen Zerbröckelung eine Alternative entwickle. Frei zu sein habe diese neue Form der Theologie andererseits aber auch von der Orthodoxie. Roessingh betont, dass man bei modernen Theologen eine Auffassung der Offenbarung antreffe, die sich im Gegensatz zu der der Orthodoxie „ihrer Zeitlichkeit, ihrer persönlichen, wechselnden Art, ihres symbolischen, sich annähernden Charakters“164 bewusst sei. Aufs Neue fällt dann der Name Barths im Rahmen des Bedürfnisses, gerade die moderne Theologie kritisch weiterzuentwickeln: Denn hier geht es um diese eine Frage: Ist dieser gesamte Modernismus mit seiner gelehrten kritischen Arbeit eigentlich nicht ein einziger großer, gutgemeinter Irrtum gewesen, ein einziger großartiger Versuch, den wahrhaftigen Glauben an den heiligen 156 AaO., 442. 157 AaO., 443. Als Beispiel für freisinnige (liberale) Parteipolitik nennt Roessingh die S.D.A.P. und den Vrijheidsbond. 158 AaO., 444. 159 Ebd. 160 Ebd. 161 Ebd. 162 Roessingh, Wat brengt, 457. 163 Ebd. 164 AaO., 453.
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Gott in einen idealistisch gefärbten Kulturhumanismus umzusetzen, Theologie zu Religionsgeschichte und -psychologie zu verwässern?165
Barth hilft Roessingh also, aus einer doppelten Sackgasse herauszukommen! Somit interessiert er sich nicht nur für Barthsche theologische Motive, die aus kritischen oder konstruktiven Gründen für sein eigenes Anliegen wichtig sind, sondern er rekontextualisiert sie gleichzeitig. Er transportiert Barths Theologie nämlich aus einer Situation, in der die moderne Theologie ihr wichtigster Gesprächspartner ist, in eine Situation, in der sie sowohl für die moderne als auch für die orthodoxe Theologie als Herausforderung fungiert.166 Auf diese Weise erhält Roessinghs Barthporträt eine niederländische Einfärbung. Doch ereignet sich auf dem Weg vom einen in den anderen Kontext noch mehr. Roessingh verortet Barth als Repräsentanten einer neuen theologischen Richtung nämlich auch innerhalb einer breiteren europäischen geisteswissenschaftlichen Bewegung, und zwar nicht in Opposition zu allgemeinen gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen, sondern als deren Bestandteil. Gerade die Kulturkritik Barths bietet für Roessingh einen Anknüpfungspunkt mit allgemeinen kulturkritischen Bewegungen: So verortet Roessingh Barth und andere dialektische Theologen innerhalb der breiteren kulturpessimistischen Bewegung167, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts aufkam, und zwar anhand seiner bereits an früherer Stelle genannten Kritik am modernen Jesusbild168. Die Kritik des modernen Jesusbildes schließe gut an die pessimistische Auffassung des Menschen und der Kultur an, wie sie etwa der Philosoph und Psychologe Traugott K. Oesterreich, die Religionsphilosophen Rudolf Otto und Friedrich Heiler oder die Philosophen Heinrich Scholz und Max Scheler entwickelt hätten. Daneben diagnostiziert Roessingh auch ein breites Interesse für eine alternative Geschichtsauffassung: An Stelle der modernen Neigung, historische Ereignisse und Persönlichkeiten lediglich aufzuzählen, entstehe in der Geschichtswissenschaft nun wieder Raum für nicht notwendigerweise nur religiös motivierte Fragen nach dem Sinn und dem Zusammenhang der Geschichte. Zur Suche nach einem alternativen Bild des Menschen und der Geschichte gehöre schließlich auch die zeitgenössische Suche nach einer alternativen Gottesvorstellung. Eher dunkel getönte Begriffe wie etwa „das Heilige, das Geheimnisvolle, das Majestätische“169 seien eine ernstzunehmende Alternative für die in der modernen Theologie vorzugsweise verwendeten Begriffe wie „Schöpfung und liebevolle Vorhersehung oder […] sittliche Kraft“170. Insgesamt 165 166 167 168
AaO., 455. Zu dieser spezifischen niederländischen Konstellation vgl. insbes. auch Kap. 5 dieser Studie. Vgl. Roessingh, De Uitgangspunten, 321 – 346. Roessingh nennt E. van Hartmann, Die Selbstzersetzung des Christentums und die Religion der Zukunft, Berlin 1874 sowie H. Hartmann, Jesus, das Dämonische und die Ethik, Berlin 2 1923. 169 Roessingh, De Uitgangspunten, 328. 170 Ebd.
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schließe diese breite kulturpessimistische Haltung gut an Barths theologischen Versuch an, das „Evangelium der Welt gegenüber“171 zu stellen. Barths Betonung der Diastase zwischen Gott und Mensch sowie die eschatologische Ausrichtung seiner Theologie wird von Roessingh auch an anderer Stelle172 explizit in den breiteren geisteswissenschaftlichen Kontext einer Protestbewegung eingeordnet, die sich gegen die Assimilation des Christentums an die (moderne) Welt richtet. Die Wurzeln eines derartigen Protestes finde man bereits im 19. Jahrhundert, etwa in dem bekannten Buch des Erweckungstheologen Isaak Da Costa, Bezwaren tegen den geest der eeuw (Bedenken gegen des Geist des Jahrhunderst), oder in dem zeitgenössischen Buch von Werner Elert173, der von einem Reduktionsprozess des Christentums spreche. Das Diastasemotiv im Zusammenhang mit einer allgemeinen Humanismus- und Kulturkritik spiele aber auch in der gesamteuropäischen Erweckungsbewegung, in den niederländischen freikirchlichen Bewegungen, in den Entwürfen Friedrich Nietzsches und Sören Kierkegaards174, den Soziallehren Ernst Troeltschs, im Oeuvre Albert Schweitzers, der Religionsgeschichte und –psychologie Rudolf Ottos175 und in der zeitgenössischen Lutherforschung176 eine Rolle. Zuletzt darf an dieser Stelle noch hervorgehoben werden, dass Roessingh auch ein mehr praktisches Argument für den wahrgenommenen Paradigmenwechsel in der europäischen Geistesgeschichte anführt, nämlich die zunehmende Notwendigkeit der Sozialkritik: Sowohl die für die Meisten immer sichtbarer werdende Weltnot, die die soziale Frage offenbarte, als auch das düstere Schicksal des großen Krieges haben viele dazu gebracht, sich mit anderen Worten und Symbolen der Wirklichkeit Gottes zu nähern, als man es früher gewohnt war.177
Indem gerade die Alterität Gottes betont werde – das Düstere, das Schweigen, das Urteilende, das Irrationale – sei es möglich geworden, sich des Gnadenund Wundercharakters der göttlichen Liebe wieder bewusst zu werden. Hierdurch könne die Welt auch deutlicher in ihrer „Nichtgöttlichkeit“178 wahrgenommen werden. Unterdessen ist Roessinghs Barthporträt nahezu fertig. Dem Betrachter der endgültigen Komposition wird auffallen, dass Roessingh nicht nur eine 171 AaO., 326. 172 Roessingh, Het humanistisch, 366 ff. 173 Roessingh meint hier W. Elert, Der Kampf um das Christentum: Geschichte der Beziehungen zwischen dem Evangelischen Christentum in Deutschland und dem allgemeinen Denken seit Schleiermacher und Hegel, München 1921. 174 Roessingh, Het humanistisch, 367 f. 175 AaO., 326. 176 AaO., 369. 177 AaO., 370. 178 Ebd.
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spannende Interpretation bestimmter Motive der Theologie Barths geboten, sondern diese manchmal auch in durchaus kritischer Weise aufgenommen hat. Das betrifft vor allem Barths christologisches Motiv und dessen dialektische Denkform. Zum christologischen Motiv ist hervorzuheben, dass Roessingh seine christologischen Ausgangspunkte179 unabhängig von Barth entwickelt hat. Er betont die erlösende Kraft der Person Jesu Christi und weist darauf hin, dass auch unter den modernen Theologen Gefühle der „Entfernung von Gott, [der] Sünde gegenüber Gott, [der] Verworfenheit vor Gott“180 eine Rolle spielten, was ihn seines Erachtens mit Barth verbinde. Unausgesprochen anders als bei Barth ist allerdings Roessinghs Ablehnung derjenigen theologischen Entwürfe, in denen Christus als „das Zentrum aller Gottesoffenbarung“ und als „de[r] einzige[…] Weg zum wahren Gott“181 betrachtet wird. Dass im Zusammenhang mit dieser Bemerkung über die Singularität Jesu Christi der Name Karl Barth gerade nicht fällt, ist meines Erachtens bemerkenswert – das wäre nämlich auch 1924 bereits recht einfach möglich gewesen. Roessingh wendet sich mit obiger Zurückweisung jedoch nicht so sehr gegen Barth, sondern vielmehr gegen die Vermischung von persönlichen Glaubensüberzeugungen mit universalen Ansprüchen, die gerade in der ethischen theologischen Richtung in den Niederlanden anzutreffen seien: „Es ist mir nicht deutlich geworden, wie ethische Theologen auf Grund dieser persönlichen Christus-Offenbarung Aussagen meinen treffen zu können, die die gesamte Weltgeschichte berühren“182. Ein anderer, in diesem Zusammenhang bemerkenswerter christologischer Ausgangspunkt Roessinghs ist die Einsicht Rudolf Ottos, dass die Erfahrung des Numinosen, die Rede von einem mysterium tremendum et fascinosum und der unbeweisbaren, überwältigenden Majestät Gottes, jeglicher Religion zugrunde liege. Nach Roessingh kann uns diese Erfahrung „des Anderen“ gerade auch in Christus begegnen. So kann man insgesamt feststellen, dass Roessingh wie Barth zwar die Kategorie der allgemeinen menschlichen religiösen Erfahrung zurückweist, dass er aber unausgesprochen doch einen Schritt weiter geht als Barth, indem er Christus als eine alternative Erfahrungswirklichkeit beschreibt, nämlich als menschliche Erfahrung des ganz Anderen. Anders als der ihm bekannte frühe Barth verhält Roessingh sich auch zur dialektischen Denkform als solcher – dieses Mal in direkter Auseinandersetzung183 mit Barth und der dialektischen Theologie. Nach Roessingh ist das Denken in scharfen Gegensätzen Niederländern generell eher fremd, was auf den Einfluss von Erasmus auf die niederländische Kultur zurückzuführen sei: „Unsere Volksart kann nicht in solchen scharfen dialektischen Gegensätzen leben und 179 Ph.A. Kohnstamm, Rez. zu: Prof. dr. Th.L. Haitjema. Karl Barth, H. Veenman & Zonen, Wageningen, 1926, 165 p., f 2.90, AWCC 2, 1926, Nr. 50, 8. 180 Roessingh, Het humanistisch, 330. 181 AaO., 335. 182 AaO., 336. 183 AaO., 370 f.
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denken wie die Deutschen, die die große Tradition Kants und Hegels hinter sich haben; ob wir es wollen oder nicht, Erasmus ist unser Ahne, und wir können ihn nicht austreiben“184. Diese Erkenntnis führt allerdings bei Roessingh nicht zu einer Zurückweisung dialektischer oder paradoxaler Denkformen, sondern zu deren Radikalisierung oder Erweiterung. Roessingh vermisst nämlich beim frühen Barth gerade das Bedenken eines wirklichen Paradoxes, das außer dem Zorn auch die Gnade Gottes umfassen würde: Diese Paradoxie vermisse ich (neben anderen Dingen) gerade bei Barth zu sehr. Ich bekomme da zwar das Urteil, welches im Wort Gottes liegt, und den Hinweis auf die Hoffnung, die mir in meiner Leere und meiner Vergänglichkeit einzig übrigbleibt, aber ich vermisse die Liebe, die unergründbare Ich-Du-Beziehung Gottes zum Geschöpf. Anders gesagt: Ich vermisse das Paradox: sowohl den Zorn als auch die Gnade.185
Allerdings richtet sich die kritische Spitze dieser Gedanken nur in zweiter Linie gegen Barth; in erster Linie richtet sie sich gegen den Humanismus, dem ein monistisches Denken vorzuwerfen sei, das sich jegliche Form eines Dualismus nur einverleiben könne. In einem Beitrag über Barths anfänglichen Mitstreiter Emil Brunner186 wies Roessingh die von Brunner verwandte dialektische Denkform eines „Entweder-Oder“ – „,[e]ntweder der christliche Glaube oder die moderne Religionsauffassung“187 – noch einmal deutlich zurück und setzt sich für eine alternative Auffassung des Wortes Gottes ein. Roessingh stimmt Brunner darin zu, dass nicht die menschliche Erfahrung, sondern der Inhalt des Glaubens die zentrale Kategorie des Christentums sein müsse. Doch seien Brunners Andeutungen zum Inhalt dieses Wortes unzureichend. Der von Brunner betonte scharfe Gegensatz zwischen Gott und Mensch sollte jedenfalls nach Roessingh188 nicht das letzte Wort haben, auch wenn die christliche Religion nicht ohne ihn auskommen könne. Sinnvoll werde dieser Gegensatz erst vom Gedanken der Einheit Gottes her, wenn das Engagement des transzendenten Gottes mit unseren immanenten Verhältnissen mitbedacht werde: „[….] diese Zerrissenheit verliert ihren Sinn, wenn sich nicht die Einheit über sie wölbt: Gott, der in die Zeit kommt, in das ,Bestehende‘“189.
184 185 186 187 188 189
AaO., 371. Ebd. Roessingh, Emil Brunner, 373. Roessingh zitiert hier Brunner, Die Mystik, 391. Vgl. auch Barths Kritik an Brunners Schleiermacher-Buch. Roessingh, Emil Brunner, 376.
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2.7 Die Rezeption in der konfessionellen Theologie: Theodorus L. Haitjema Im Laufe des Jahres 1926 mischte sich nun auch der der konfessionellen reformierten Strömung zuzurechnende Theologe Theodorus L. Haitjema (1888¢1972) in die Debatte um Karl Barths Theologie ein, und zwar zunächst mit drei Aufsätzen190, die er in der die konfessionelle Strömung repräsentierenden Zeitschrift Onder eigen vaandel veröffentlichte. Diese drei Beiträge wurden bereits 1926 um drei weitere ergänzt und zusammen als ein Buch191 publiziert, welches wiederum im selben Jahr in deutscher Übersetzung192 erschien, und zwar noch vor Barths erstem Besuch der Niederlande im selben Jahr. Insbesondere in den ersten beiden, in Onder eigen vaandel erschienenen Beiträgen ist Haitjema darum bemüht, nun aus seiner Sicht zu einer Klärung der vielfältig kursierenden Missverständnisse der Theologie Karl Barths beizutragen, und zwar mit dem Ziel, Barth zunächst einmal immanent verstehen zu wollen, um ihn dann in späteren Beiträgen in dessen eigenem, dem primären Kontext und im Kontext der niederländischen Theologie, dem sekundären Kontext, verstehen zu können. Entsprechend der bisherigen Diskussionslage sind die für Haitjema wichtigsten Themen das Verhältnis zwischen Gott und Mensch, das Verhältnis zwischen Theologie und Philosophie inklusive der Diskussion um die dialektische Denkform Barths, wesentlich stärker als in bisherigen Reaktionen ist ihm aber auch das Schriftverständnis und erstmals auch das Kirchenverständnis Karl Barths ein Anliegen. Barth zunächst immanent verstehen zu wollen bedeute, ihn als Zeugen der Offenbarung zu verstehen und den Zeugnischarakter seiner Theologie nicht als Gegensatz zu ihrem auch theologisch-wissenschaftlichen Charakter wahrzunehmen. Barth zeichne sich gerade dadurch aus, eigene theologische Einsichten immer wieder aufzuheben und weiterzuentwickeln, ja der Unterschied zwischen dem Römerbrief und der Auferstehung der Toten193 markiere stilistisch gesehen eine Entwicklung Barths vom Prediger zum Wissenschaftler. Barths Entwicklung korrigiere auch den beim Leser entstandenen Eindruck, dass sich hier ein „gewaltiger dialektischer Scharfsinn unser bemächtigen möchte“194. Doch auch inhaltlich gesehen habe Barth sich zwischen 1918 – 1924 entwickelt, und zwar in Richtung auf eine erhöhte Bereitschaft, sich „je länger je lieber der Schrift [zu] unterwerfen“195 und in Richtung auf die 190 Th. L. Haitjema, Karl Barth als openbarings-getuige, OEV 1, 1926, 52 – 73; Ders., De theologie van Karl Barth, 123 – 150; Ders., Karl Barth als kind van zijn tijd, 151 – 175. 191 Th. L. Haitjema, Karl Barth, Wageningen 1926. 192 Ders., Karl Barths „kritische“ Theologie, Wageningen 1926. 193 Vgl. K. Barth, Die Auferstehung der Toten. Eine akademische Vorlesung über I. Kor. 15, München 1924. 194 Haitjema, Karl Barth als openbarings-getuige, 61. 195 Ebd.
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„alte reformierte Theologie“196. Allerdings meine Offenbarung bei Barth nicht etwas Negatives, Vernichtendes, Relativierendes oder gar die Aufhebung des Sündig-Kreatürlichen, wie Kohnstamm unterstelle. Vielmehr beschreibe Barth das Verhältnis zwischen Gott und Mensch als „in jeder Beziehung nur ,ethisch‘, religiös-ethisch“197, er wolle damit „religiös-ethische ,Defekte‘“198 wie etwa den Hochmut des religiösen Menschen bestreiten. Wenn Barth den Hochmut des religiösen Menschen angreife und den Glauben etwa als Wagnis, Gott lieb zu haben beschreibe, gehe es ihm um das „persönliche Gewissensverhältnis zwischen Gott und Mensch“199, und nicht, wie Kohnstamm unterstelle, um „intellektualistische Unterscheidungen“200 zwischen Religion und Theologie – auch die Theologie werde angegriffen. Überhaupt sei dieser so lobenswert unsystematischen Theologie nicht so sehr der oder das Angegriffene, sondern Gott als der Angreifer wichtig. Nur um einer Theologie des Wortes Gottes Raum zu verschaffen, kritisiere Barth die Vergötterung der Religionswissenschaft ebenso wie den Romantizismus, einen naiven Realismus ebenso wie den kritischen Idealismus, den Subjektivismus ebenso wie die Scholastik, die Orthodoxie und den Realismus. Aufgrund dieser Lokalisierung des Angriffspunktes sei Barth als „positiv in all seinem ,Negativismus‘“201 zu bezeichnen. Dass es Barth um eine Verschiebung der bislang üblichen Fragestellungen gehe, betonte Haitjema auch in seinem zweiten Beitrag202. Während man sich in den Niederlanden üblicherweise für dogmatische Stellungnahmen interessiere, gehe es Barth nicht um die Frage, was wir von Gott halten, sondern umgekehrt um die Frage, was Gott von uns halte. Dieses unterschiedlich gelagerte Interesse Barths habe auch zu dem in den Niederlanden weit verbreiteten Eindruck geführt, Barth vernachlässige erkenntnistheoretische Fragen und insbesondere Fragen religiöser Erkenntnis. Das Gegenteil sei allerdings der Fall. Habe Kant in seiner Kritik des philosophischen Erkenntnisvermögens die Grenze der reinen Vernunft entdeckt, so mache Barth nun die Grenze des religiösen Erkennens sichtbar. Beide situierten das eigentlich interessierende Feld jenseits der Grenze. Wo allerdings Kant das (menschliche) Postulat des sittlichen Bewusstseins betone, gehe es Barth um den erwählenden Gott, der das menschliche Subjekt erst begründe, und zwar indem 196 Ebd. 197 AaO., 66. In der deutschen Buchausgabe des betreffenden Aufsatzes fügt der Übersetzer hinzu, dass Haitjema mit „religiös-ethisch“ nicht so sehr einen religiösen Besitz bezeichnen wolle, sondern einen Gegenbegriff zu dem von Kohnstamm gebrauchten Ausdruck „dialektischphysisch“ suche. Vgl. Haitjema, Karl Barths „kritische“ Theologie, 25, Anm. 1. 198 Haitjema, Karl Barth als openbarings-getuige, 68. 199 Ebd. 200 Ebd. 201 AaO., 73. 202 Ich beziehe mich im Folgenden auf Th. L. Haitjema, De theologie van Karl Barth, OEV 1, 1926, 123 – 150.
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er es aufhebe beziehungsweise über die Grenze ziehe. Dieser Subjektwechsel sei das eigentliche erkenntnistheoretische Thema Barths. Während Kant, indem er alle Erkenntnis als subjektiv erklärt habe, mit dem Begriffsrealismus der Aufklärung Schluss gemacht habe, habe Barth nun mit dem theologischen Begriffsrealismus Schluss gemacht, und zwar indem er die Gotteserkenntnis als bewegte Beziehung Gottes zum „innigsten Bewusstsein des Theologen“203 betrachte. Es gehe Barth um den „lebendigen Zusammenhang zwischen Dogma und Gläubigen“204. So gesehen handle es sich bei Barth durchaus um eine religiöse Erkenntniskritik, nämlich um eine personalistische Betonung des „Beziehungscharakters aller Glaubenserkenntnis“205. Die dialektische Methode Barths befinde sich in der lebendigen unanschaulichen Mitte zwischen der intellektualistischen, positiven dogmatischen Methode und der mystischen, aufhebenden kritischen Methode und beziehe das Positive und das Negative wechselseitig aufeinander.206 So könne Barth von der Herrlichkeit Gottes in seiner Schöpfung nur zugleich mit dem Hinweis auf Gottes Verborgenheit in der Schöpfung reden. Dem Vorwurf, Barth wolle mit seiner Methode in den Himmel klettern, sei jedenfalls zu widersprechen. Von Barths religiöser Erkenntnistheorie und seiner dialektischen Methode sei seine Erkenntnisquelle jenseits der Grenze religiöser Erkenntnis zu unterscheiden, nämlich die Schrift, die er als das Zeugnis der Zeugen auffasse. Damit erkenne Barth die Autorität der Schrift aber nicht bedingungslos an, wie in der Diskussion bereits verschiedentlich bemerkt worden sei. Vielmehr weiche er durch seine Kombination des reformierten Schriftprinzips der alten Orthodoxie mit der radikalen literarisch-historischen Bibelkritik insofern von ersterem ab, als er die Irrtumsfähigkeit der Schrift anerkenne. Wegen dieser „Zwitterstellung“207 seiner Schriftauffassung werde Barth oft als ein unzuverlässiger Anhänger der reformatorischen Theologie angesehen. Radikal sei vor allem seine Rede vom Ereignischarakter der Offenbarung208. Doch ist Haitjema der Meinung, dass Barth sich unzweifelhaft „in die Richtung der reformatorischen Theologie“209 entwickeln werde. In Zukunft sei auch in der Frage nach dem Schriftprinzip mehr „geistliche[s] Gleichgewicht“210 von ihm zu erwarten. Vor allem der Einfluss von Kants Kritizismus habe ihn bislang davon abgehalten, sich mit der Wahrheitsfrage zu beschäftigen. Zu erwarten 203 204 205 206 207 208 209 210
AaO., 127. Ebd. AaO., 128. Die Unterscheidung zwischen dogmatisch, kritisch und dialektisch erinnert an Barths Aufsatz Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie; vgl. K. Barth, Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie, in: Moltmann, Anfänge I, 197 – 218. Haitjema, De theologie van Karl Barth, 134. Haitjema bezieht sich hier auf: K. Barth, Das Schriftprinzip der reformierten Kirche, ZZ 3, 1925, Nr. 3, 215 – 245. Haitjema, De theologie van Karl Barth, 134. AaO., 136.
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sei, dass Barth die Autorität der Schrift erst dann vollständig anerkennen werde, wenn für ihn die Frage nach der religiösen Wahrheitsnorm dringlicher werden würde als das bisher der Fall sein konnte. Auch die Kirche als „überindividuelles Subjekt“211 werde für ihn voraussichtlich immer wichtiger werden und in seiner religiöstheologischen Erkenntnistheorie die Stelle des erkenntnistheoretischen Subjekts bei Kant einnehmen. So werde Barth den ihm nun noch eigenen Personalismus und Individualismus überwinden. Das Besondere an Barth sei bislang also seine religiöse Erkenntnistheorie. Von hier aus könne auch der materielle, inhaltliche Aspekt seiner Glaubenslehre besser verstanden werden. So ziele Barths Gotteslehre (1) nicht so sehr auf die Behauptung der Unbekanntheit Gottes, sondern auf die der Gottheit Gottes und des Erkannt-Werdens des Menschen durch Gott. Entsprechend der Bezogenheit Gottes auf den Menschen habe Barth auch nicht einen abstrakten Menschen im Blick, sondern den Menschen im Licht der göttlichen Offenbarung. Auch gehe es Barth nicht um die Aufhebung des Menschen und seines ethischen Handelns, sondern um die Bestimmung der ethischen Haltung des Menschen als Buße. Christologisch (2) gesehen bestreite Barth nicht die Heilsbedeutung des historischen Jesus oder leugne die Sündlosigkeit Jesu. Vielmehr bestimme er Jesus Christus als die Offenbarung Gottes in der Geschichte im Sinne eines Schnittpunktes zwischen dieser und der jenseitigen Welt. Barth sehe beide Welten nicht so sehr als abstrakte Gegenstände, sondern betrachte die horizontale Welt im Lichte der vertikalen Strahlen. Auch die Auferstehung Jesu Christi sei für Barth durchaus ein geschichtliches Ereignis, allerdings nicht im üblichen historischen Sinn212, sondern im Sinn einer Geschichte, die als Ur- und Endgeschichte das Ende der Geschichte sei. Es gehe auch in der Auferstehung um eine sachlich-gläubige und nicht um eine sachlich-unpersönliche Wirklichkeit. Barths Theologie sei eschatologisch (3), allerdings nicht im Sinn einer chronologischen Auffassung der Endgeschichte, sondern im Sinn einer Begrenzung der Geschichte durch die Welt der Erlösung. So gesehen werde bei Barth der Glaube von der Hoffnung verschlungen. Die Wiederkunft Christi sei für ihn mit der Auferstehung identisch, sie sei die Erfüllung dessen, was in der Zeit immer nur eine Verheißung bleiben könne. An diesem Punkt setzt die Kritik Haitjemas an: Barth beziehe die Wiederkunft Christi ausschließlich auf den Einzelnen, während sie dem Niederländischen Glaubensbekenntnis zufolge Bedeutung für den gesamten Kosmos, die menschliche Gemeinschaft und insbesondere auch für die sichtbare Kirche habe. Barth solle an dieser Stelle paradoxer denken und die religiöse Wahrheit sowohl auf den Einzelnen als auch auf die Kirche Jesu Christi beziehen. An 211 Ebd. 212 Barth nennt dies im Römerbrief (2. Aufl.) in Anlehnung an F. Nietzsches Ausdruck „unhistorische Atmosphäre“ des Öfteren „unhistorische Geschichte“ bzw. gebraucht vergleichbare Wendungen, vgl. z. B. K. Barth, Der Römerbrief (Zweite Fassung) (1922), Zürich 151989, 119.126.127 ff.134.
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diesem Punkt solle der Römerbrief umgearbeitet werden – ein Vorschlag, den Haitjema im Laufe seiner weiteren Beiträge noch mehrmals wiederholen wird. Nach diesem Versuch, Barth immanent zu verstehen und dabei einige verbreitete Missverständnisse aus dem Weg zu räumen, konzentrierte Haitjema sich in einem dritten Beitrag für Onder eigen vaandel213 darauf, dem niederländischen Publikum den primären Kontext von Barths Theologie verständlich zu machen, und zwar mit dem Ziel, gerade die Eigenständigkeit des Barthschen Ansatzes hervorzuheben. Wichtige geistige Einflüsse der modernen Theologie, denen Barth bis in die Zeit seines Pfarramts hinein verpflichtet gewesen sei und an die er im Sinne einer weitergehenden Radikalisierung durchaus habe anknüpfen können, habe Barth vom religiösen Individualismus Wilhelm Herrmans und dem historischen Relativismus Adolf von Harnacks empfangen. Im Römerbrief schließe Barth sich zwar gern radikaleren Zeitgenossen wie Dostojewski, Kutter, Kierkegaard, Nietzsche und Overbeck an, doch hätten ihn in erster Linie die biblischen Menschen selber inspiriert, und zwar insbesondere deren steil nach oben gerichteter und am Abbruch dieser Welt ausgerichteter Blick214, an dem auch weltliche Autoren beteiligt seien. Da Barth nicht zwischen besonderer und allgemeiner Offenbarung unterscheide, könne er beispielsweise Platon und Moses nebeneinanderstellen. Hervorzuheben sei, dass hinter Barths Abbruchmotiv ein positiver Zweck stehe, den er den zitierten radikalen Abbruchschriftstellern ebenfalls unterstelle. Auch ihr Weitblick habe einen bewussten oder unbewussten Fluchtpunkt, eben den wirklichen Gott. Den bedeutsamsten Einfluss habe Barth außer von Overbeck von Kierkegaard und dessen konsequentem Personalismus, dessen Abneigung gegen eine abstrakte Rede über Gott und Mensch sowie dessen dialektischem Mut empfangen. Mit Blumhardt gehe es Barth immer um das Positive, die Erlösungsmacht Christi. Von einem positiven Einfluss Kutters und dessen Rede von einem unmittelbaren, natürlichprozesshaften Leben sowie von dessen sozialdemokratischem Engagement sei im Römerbrief allerdings nichts mehr zu merken.215 Nach der Abwendung von Kutter habe Barth sich im Römerbrief vielmehr Overbeck zugewandt. In der deutschen Übersetzung seines Buches fügt Haitjema selbst verdeutlichend 213 Ich beziehe mich im Folgenden auf: Th.L. Haitjema, Karl Barth als kind van zijn tijd, OEV 1, 1926, 151 – 175. 214 Vgl. auch K. Barth, Biblische Fragen, Einsichten und Aussichten, München 1920. 215 Vgl. die Nachschrift in der niederländischen Ausgabe: Th.L. Haitjema, Karl Barth, Wageningen 1926, 164 f. Dort wird von einem Briefwechsel mit Barth selber berichtet. Barth bestätigt die Darstellung Haitjemas im Großen und Ganzen, bringt aber doch einige Korrekturen an. Kutter habe er, Barth, in seiner Studentenzeit nie begriffen. Er sei erst nach 1914 für ihn wichtig geworden, auch für die Einsicht, dass Gott Gott sei. Doch sei Kutter ihm, Barth, ab 1918 – nach der ersten Auflage des Römerbriefs – wieder etwas fremder geworden. Die implizite These Haitjemas, dass Barth mit der Abwendung von Kutter auch sein Interesse an der Sozialdemokratie verloren habe, kommentiert Barth in diesem Briefwechsel jedenfalls der Darstellung Haitjemas zufolge offensichtlich nicht. Es wird also auch nicht berichtet, dass er sie bestätigt.
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hinzu, dass Barths sozialistisches Engagement in der Zeit zwischen 1914 und dem Erscheinen des Römerbriefs als „Ärgernis“216 zu bezeichnen sei. Abschließend stellt Haitjema (in allen Ausgaben) fest, dass auch der Barth des Römerbriefs sich noch in einem geistigen Reifungsprozess befinde. Da Barth immer mehr die Schriften Luthers und insbesondere auch die Calvins lese, sei zu erwarten, dass er sich von seinen modernen Lieblingsschriftstellern immer mehr abwenden und seinen Römerbrief noch einmal umarbeiten217 werde, wobei er erwartungsgemäß gerade auch die positive Funktion der Kirche hervorheben werde. Der Relevanz und Bedeutung der Theologie Barths für den sekundären niederländischen Kontext widmete sich Haitjema im vierten Kapitel218 des 1926 publizierten Buchs Karl Barth: Barths Theologie rufe auch die niederländische Theologie zur Buße auf! Diese nämlich erbaue mit ihrer eigenwilligen Frömmigkeit Altäre zur Verehrung „menschliche[r] Akkommodationssucht und ebenso menschliche[r] Ideale der Machtentfaltung und Greifbarkeit und Gegebenheit“219. Um die mögliche Wirkung des von Barths Theologie ausgehenden Bußrufes angemessen erfassen zu können, nimmt Haitjema zunächst eine theologiegeschichtliche Situationsbeschreibung vor, anhand derer er den herausfordernden Charakter von Barths Theologie einsichtig macht: Grundsätzlich gelte zunächst, dass Niederländer sich nicht sehr schnell von Ausländern begeistern ließen, da man neocalvinistische Theologen wie Herman Bavinck und Abraham Kuyper, die ihrerseits Ausländern durchaus etwas zu sagen hätten, voller Selbstüberzeugung als den Stolz der Nation betrachte. Im 17. Jahrhundert sei die protestantische niederländische Theologie führend gewesen, doch habe sie diesen Einfluss im Zuge der Aufklärung etwa ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verloren. Hinsichtlich der allgemeinen Kultur habe man sich dann an Frankreich, hinsichtlich der Philosophie und Theologie an Deutschland orientiert. So sei in den Niederlanden die altliberale Theologie führend geworden, doch seien auch Gegenbewegungen wie etwa die Romantik und die Theologie Schleiermachers vom Ausland her in die Niederlande eingedrungen. Radikaler noch als die Innerlichkeit der Romantik sei allerdings der niederländische Literat, Dichter und Denker Bilderdijk gewesen, dessen theozentrischer Ansatz an sich die Möglichkeit einer nationalen Gegenbewegung zum Rationalismus der Aufklärung geboten hätte. Doch habe Bilderdijk wegen der Abhängigkeit der Theologie vom Ausland und insbesondere von Deutschland den Zeitgeist nicht wenden können. Dasselbe gelte von der schweizerisch beeinflussten Erweckungsbe216 Vgl. Haitjema, Karl Barths „kritische“ Theologie, 82. 217 Die Erwartung, dass Barth die Kirche verstärkt positiver würdigen und seinen Römerbrief ein drittes Mal umarbeiten werde, spricht Haitjema schließlich noch einmal aus in: Haitjema, Karl Barths „kritische“ Theologie, 135. 218 TH. L. Haitjema, Karl Barth en de theologie in Nederland, in: Ders., Karl Barth, 137 – 163. Ich zitiere im Folgenden nach der hier genannten niederländischen Ausgabe. 219 AaO., 137.
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wegung des 19. Jahrhunderts. Erst die ethische Theologie habe mit Theologen wie D. Chantepie de la Saussaye und J.H. Gunning wieder eine eigene niederländische Theologie entwickeln können, zu der ab 1860 noch eine national gefärbte moderne (= liberale) Theologie hinzukam, als deren wichtigster Repräsentant Scholten anzusehen sei. Des Weiteren sei am Ende des 19. Jahrhunderts eine national gefärbte reformierte Theologiehinzugekommen, als deren wichtigste Vertreter A. Kuyper und H. Bavinck gälten. Zwar könne man ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wieder von einem niederländischen theologischen Eigenleben sprechen, doch habe man sich spätestens ab dem 20. Jahrhundert erneut an Deutschland orientiert. So hätten die ethischen Theologen Anschluss beim Badischen oder beim Marburger Neukantianismus gesucht, die modernen Theologen sich an Natorp, Cassirer, Rickert und Troeltsch orientiert und die Neocalvinisten nach Heidelberg und Bonn geschaut. In jeder Hinsicht sei zu fühlen, dass „Deutschland noch die Hegemonie“220 habe, was sich insbesondere am ungebrochenen Einfluss Schleiermachers zeige: In allen theologischen Strömungen werde eine anthropozentrische Theologie vertreten, die entweder die Vernunft, das Gefühl oder das sittliche Bewusstsein betone. Allerdings seien diese humanistischen Strömungen nun in eine Sackgasse geraten. Zwar hätten Theologen wie Schaeder und Schlatter bereits vor Barth einen theozentrischen Ansatz vertreten und den theologischen Begriffsrealismus brechen wollen, doch erst Barth sei dies mit der von ihm vertretenen religiösen Erkenntnistheorie wirklich konsequent gelungen. Barth habe als erster sowohl die Glaubenserkenntnis als etwas Subjektives als auch die Gotteserkenntnis als etwas diesem Subjektiven gegenüberstehendes Objektives dargestellt. Da die immer schon ausländisch beeinflusste Theologie der Niederlande immer auch schon durch ausländische Einflüsse korrigiert worden sei, empfehle es sich nun, auf die deutsch-schweizerische Theologie Barths zu hören und dessen Bedeutung nicht mit dem vielgehörten Hinweis auf die Bedeutsamkeit der eigenen niederländischen Theologie abzuwehren. Haitjema versteht die Theologie Barths durchaus als eine Möglichkeit für die Theologie der Niederlande. Im Gegensatz zu dem deutschen Kenner der neocalvinistischen Theologie, D. Kolfhaus221, sei allerdings zu betonen, dass diese Bedeutung nicht in der Vergleichbarkeit mit der Bedeutung Abraham Kuypers liege.Die Herausforderung Barths für die Niederlande bestehe keinesfalls darin, mit der Macht der liberalen Theologie zu brechen, wie Kolfhaus angesichts der Bedeutung Barths für die deutsche Situation herausstellte – und weshalb er die Vergleichbarkeit mit Abraham Kuyper behaupten konnte. Vielmehr bestehe die Herausforderung für die Niederlande darin, dass Barths gegen theologische Verdinglichung gerichteter erkenntnistheoretischer An220 AaO., 145. 221 Haitjema bezieht sich auf den Artikel von D. Kolfhaus, Reformed Spring Time in Germany, The banner, 5. 3. 1926.
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Theodorus L. Haitjema
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satz sowohl eine Ergänzung zum verdinglichenden positiv-dogmatischen Theologisieren des Neocalvinismus als auch zur ebenfalls verdinglichenden negativ-mystischen Methode des der ethischen Richtung zugehörenden Gunning darstelle. Die Herausforderung Barths für die gesamte niederländische Theologie liege darin, dass er gegen den Trend zur Verdinglichung Raum für die „den Menschen berührende lebendige Wirklichkeit Gottes“222 schaffen wolle. Nachdem Haitjema so die Herausforderung insbesondere des erkenntnistheoretischen Ansatzes Barths für die gesamte Theologie der Niederlande herausgestellt hat, unternimmt er in einem weiteren Schritt den Versuch, die in den Niederlanden durchaus auch vorhandenen positiven Anknüpfungspunkte für Barths theologischen Ansatz zusammenzutragen und Barth so in der niederländischen Situation genauer zu verorten. Trotz ihres herausfordernden Charakters könne die Theologie Barths nämlich gerade aufgrund ihres echt reformatorischen Charakters an bestimmte sich seit der Aufklärung vollziehende Entwicklungen oder, genauer gesagt, Gegenentwicklungen in den Niederlanden anknüpfen. Zu denken sei an die gerade auch sprachlichen Übereinstimmungen zwischen dem Dichter und Denker Willem Bilderdijk und Karl Barth beim Begriff des Ursprungs. Von Bilderdijk ergebe sich dann eine Verbindung zu Hermann Friedrich Kohlbrügge, der zwar im Gegensatz zu Bilderdijk nicht so sehr die französische Revolution und die Aufklärung bekämpft habe, sondern die Gegenbewegungen der Erweckung und der Afscheiding223, der jedoch mit Bilderdijk das Anliegen teile, Gott Gott bleiben lassen zu wollen.224 Da Barth sowohl die liberale als auch die orthodoxe Theologie bekämpfe, sei er als eine Synthese zwischen Kohlbrügge und Bilderdijk zu betrachten. Von Kohlbrügge gebe es allerdings keine Verbindung zu Kuyper. Kuypers Theologie sei als das ausgeprägte Beispiel einer verdinglichenden Zuschauertheologie anzusehen, die den erkennenden Glaubenden ignoriere und begriffsschematisch über Offenbarung und Gotteserkenntnis rede. Vielmehr ergebe sich von Kohlbrügge her eine Verbindung mit Hoedemaker225, der ein abstraktes Reden über religiöse Wahrheiten ebenfalls ablehne, jedoch weniger individualistisch und antikirchlich als Kohlbrügge sei. Allerdings sei gerade wegen Hoedemakers Bindung an die Kirche die Verbindung mit Barths Römerbrief auch wieder nur bedingt gegeben, bei Barths späteren Publikationen, in denen es ihm deutlicher um die Wahrheit der Kirche als Institution gehe, gelinge das einfacher. Trotz der Anschlussfähigkeit der Barthschen an die 222 Haitjema, Karl Barth en de theologie, 151. 223 Vgl. Kap. 1 dieser Studie. 224 Auf die Übereinstimmung zwischen Barths Römerbrief (2. Aufl.) und Kohlbrügge hat bereits D. Kolfhaus gewiesen. Daraufhin hat Barth offenbar Kohlbrügge gelesen. 225 Der reformierte Pfarrer und spätere Professor an der Freien Universität Ph.J. Hoedemaker (1839 – 1910) sympathisierte mit der von A. Kuyper initiierten neocalvinistischen Bewegung, blieb aber im Gegensatz zu diesem dem Gedanken der (reformierten) Volkskirche treu.
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niederländische Theologie könne man entgegen der weit verbreiteten Meinung auf Barth selber nicht verzichten. Dieser habe jetzt, da die Zeit reif sei, die besondere Aufgabe, die Wende im theologischen Denken, die Bilderdijk, Kohlbrügge und Hoedemaker noch nicht vollziehen konnten, tatsächlich zu vollziehen. Diese Wende richte sich sowohl gegen den Humanismus als auch gegen den religiös-erkenntnistheoretisch unreflektierten Dogmatismus aller theologischen Strömungen226 der Niederlande. Barth sei insofern unentbehrlich, als er dazu beitrage, die Bedeutung der Tradition von Bilderdijk, Kohlbrügge und Hoedemaker wieder besser und anders als in den gängigen Interpretationen zu verstehen. Darüber hinaus führe Barth auch wieder zu einem besseren Verständnis Calvins als es in der gängigen neocalvinistischen Interpretation geboten werde. In diesem Zusammenhang sei auch der Versuch des ethischen Theologen Noordmans abzulehnen, Barth speziell in die lutherische Tradition einzuordnen. Dessen Unterscheidung zwischen Luther als Theologen des absoluten Augenblicks und Calvin als Theologen der Kontinuität227 sei viel zu schematisch. Vielmehr sei Barth über Luther zu Calvin gekommen, und sie alle verbinde die Bezogenheit zwischen Gottes- und Selbsterkenntnis. An diesem Punkt beendet Haitjema seinen Versuch einer Einbettung Barths in die niederländische Theologiegeschichte mit dem Hinweis, dass ein solcher Versuch lediglich die immer nur „relative Notwendigkeit der Theologie Karl Barths“228 für die niederländische Theologie ans Licht bringen könne. Wichtiger als eine theologiegeschichtliche Einordnung sei die Frage, was Barths Offenbarungszeugnis für die offenkundige Not der niederländische Theologie bedeuten könne, die in der Festgefahrenheit aller niederländischen theologischen Strömungen, deren Mangel an Homogenität untereinander und deren Verharren im jeweils eigenen Kreise liege: „Auf Karl Barth willig hören, das bedeutet sicherlich zunächst, dass man fühlt, dass es eine gemeinschaftliche Not im theologischen Zustand hierzulande gibt“229. So quäle die Liberalen das christologische und sozial-ethische Problem, die Ethischen die Frage nach dem Verhältnis zwischen Christentum und Heilsgeschichte, die Konfessionellen erstens das Verhältnis zwischen Religion, Kirche und Staat und zweitens das Verhältnis zwischen Idealismus und Praxis, die freikirchlichen Neocalvinisten hingegen der Konflikt zwischen Schriftautorität und wissenschaftlicher Freiheit. Auf Barths Zeugnis zu hören bedeute zwar nicht das Ende dieser Not, aber durchaus die Entwicklung eines Problembewusstseins, das zum Bekenntnis einer gemeinsamen Schuld führen 226 Haitjema nennt die „moderne und positive, liberale und orthodoxe, ethische und gereformierte“ Gestalt eines religiös-erkenntnistheoretisch unreflektierten Dogmatismus; Haitjema, Barth en de theologie, 157. 227 Haitjema weist hin auf: Noordmans, De betekenis van Kohlbrugge; vgl. auch die ausführliche Besprechung in Kap. 4 dieser Studie. 228 Haitjema, Karl Barth en de theologie, 160. 229 AaO., 161.
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Rückblick auf den Zeitraum zwischen 1919 und 1926
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könne: Dass nämlich alle theologischen Strömungen seit dem 19. Jahrhundert – auch die der neocalvinistischen Theologie230 – die Verweltlichung der Theologie nicht haben verhindern können. Auch die Theologie der Synode zu Assen231 sei genau wie die von dieser Synode bekämpfte Theologie dafür ein Beispiel. Das zeige sich zum Beispiel daran, dass man Begriffe wie „sinnlich wahrnehmbare Wirklichkeit“ (Assener Theologie) oder „das Organische“ (die von der Assener Theologie bestrittene Position Geelkerkens) zum Mittelpunkt der theologischen Betrachtung und Auseinandersetzung mache. Alle theologischen Strömungen der Niederlande setzten sich an die für Gott selbst vorbehaltene Stelle, die Barth frei halten wolle. Der Auftrag Barths in den Niederlanden sei dann erfüllt, wenn man dies einsehe. Dann könne Barth sich wieder aus den Niederlanden zurückziehen, und seine Botschaft werde die entsprechenden Nachwirkungen haben. Man könne dann „nur mit dem Wort Gottes, das das Konzept sowohl für die Kirche Christi als auch für den einzelnen Gläubigen enth[alte]“232, eine „wahre Theologie“233 aufbauen.
2.8 Rückblick auf den Zeitraum zwischen 1919 und 1926 Betrachtet man die Formierung der verschiedenen Rezeptionsstränge noch einmal im Überblick anhand der in Kapitel 1 dieser Arbeit erarbeiteten rezeptionsästhetischen Leitfragen und reflektiert das Ergebnis zudem mit den aus der Konstellationsforschung entliehenen Begrifflichkeiten, so ergibt sich folgendes erstes Bild zur Geschichte der Barth-Rezeptionen in den Niederlanden: Alle reformierten Konfessionen beziehungsweise Denominationen (neocalvinistisch/gereformiert, niederländisch-reformiert, remonstrantisch) und alle reformierten Richtungen (orthodox, konfessionell, ethisch und liberal) haben die (Römerbrief-)Theologie Karl Barths rezipiert und in dieser ersten Phase mehr oder weniger offen versucht, sich die Theologie Karl Barths aus der jeweils eigenen Perspektive anzueignen:
230 Haitjema wendet sich mit dieser Bemerkung gegen Van Leeuwen, der in der Gereformeerd theologisch tijdschrift vom Sept. 1925 schrieb, dass sich abgesehen von der gereformierten Theologie alle theologischen Strömungen in einem Säkularisierungsprozess befänden. Dass auch die gereformierte Theologie Teil eines Säkularisierungsprozesses sei, zeige sich nach Haitjema daran, dass es auch dort zu einer „Verdinglichung der Begriffe, zu einer Vergegenständlichung der Prinzipien“ gekommen sei; vgl. Haitjema, Karl Barth en de theologie, 162. 231 Vgl. Kap. 1 dieser Studie. 232 Haitjema, Karl Barth en de theologie, 163. 233 Ebd.
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Das gereformierte Spektrum Bei den insgesamt recht spärlichen Reaktionen des gereformierten Spektrums zeigte sich in dieser ersten Rezeptionsphase ein recht starkes Leserinteresse am theozentrischen Ansatz Barths, den man wohlwollend im Sinne einer Kontinuität zur Theologie der Reformation und im Sinne einer Diskontinuität mit der modernen Theologie und der Moderne überhaupt interpretierte. Doch wies man insbesondere den erkenntnistheoretischen Ansatz Barths, also die vom Neukantianismus (und Kierkegaard; SH) inspirierte Denkform der Dialektik beziehungsweise des Paradoxes ab, die man als Verstärkung unerwünschter zeitgenössischer moderner antirationaler Tendenzen interpretierte. Der theozentrische Ansatz wurde zudem – wie in der ethischen Richtung übrigens auch, allerdings mit unterschiedlicher Intention – kritisch in Hinsicht auf die Frage nach der Möglichkeit einer christlichen Ethik befragt. Des Weiteren klang Kritik am möglichen Agnostizismus, Intellektualismus, Determinismus und an der mangelnden Bekenntnistreue Barths auf. Als die spezifische Lesermotivation dieses Spektrums dürfen sowohl kirchenpolitische als auch theologische Interessen bezüglich der Stärkung der eigenen theologischen Tradition angesehen werden: Man verstand sich als die zeitgenössische Fortsetzung der Reformation in den Niederlanden. Von daher vermutete oder erhoffte man sich innerhalb dieses Spektrums – im Sinne eines sekundären Kontextes (Rekontextualisierung) für die Theologie Karl Barths – eine Bestätigung der Theologie Calvins und der eigenen nationalen neocalvinistischen Tradition Kuypers und Bavincks. Die unterstellte mögliche Vergleichbarkeit der eigenen nationalen Traditionen mit Barths Römerbrieftheologie führte aber auch zu der Erwägung, dass man aufgrund der eigenen reichen Geschichte die Theologie Barths gar nicht nötig habe. Von positiven, weiterführenden Herausforderungen Barthscher Theologie für die eigene Tradition ist in dieser Phase in diesem Spektrum kaum zu sprechen. Interessiert hatte vorzugsweise die Frage, ob angesichts einiger unterstellter Abweichungen Barths vom gereformierten Bekenntnis die Bekenntniseinheit zwischen Barth und dem neocalvinistischen Spektrum überhaupt gegeben sei. Neue Bedeutungen der Theologie Barths wurden in dieser ersten Debatte mit dem Autor oder anderen niederländischen Barth-Rezipienten meines Erachtens nicht entwickelt. Dabei ist es – insbesondere aufgrund der jetzt noch nicht behandelten späteren starken Differenzen zwischen den Barthianern und den Neocalvinisten – als das Verdienst George Harincks anzusehen, erstmals erforscht und hervorgehoben zu haben, dass die frühen Kontakte zwischen den niederländischen Gereformierten und Barth beziehungsweise seiner Theologie und die ersten Reaktionen auf Barths Theologie im Gegensatz zu den späteren durchaus offen und ausgewogen waren, das heißt auch positiv verliefen: Man sah in Barth einen „spirituellen Halbbruder“234. Doch stellt Harinck die Si234 Harinck, The Early Reception, 184.
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tuation insofern verzerrt dar, als er behauptet, dass die allererste Phase der Barth-Rezeption in den Niederlanden von „Gereformierten dominiert“235 gewesen sein soll. Die Quellenlage widerspricht dieser Einschätzung überdeutlich! Denn die frühen Barth-Rezeptionen bis zu Barths erstem Besuch im Jahr 1926 waren nicht nur äußerst vielfältig und über alle in den Niederlanden bestehenden theologischen Lager breit verteilt, sondern stammten von Anfang an schwerpunktmäßig, sowohl quantitativ als auch qualitativ gesehen, aus dem Spektrum gerade der ethischen, konfessionellen und auch der liberalen Strömung. Zwar ist es, wie Harinck sagt, durchaus richtig, dass Barths Name im Zusammenhang mit kirchenpolitischen Fragen gerade in der neocalvinistischen Presse sehr früh, nämlich bereits 1921 zum ersten Mal erwähnt wurde und dass dieser kurze Artikel somit „der erste niederländische Artikel über Barth“236 ist. Es mag auch stimmen, dass Barths Name in den Niederlanden zuerst „innerhalb der Sphäre der Gereformeerde Kerken“237 genannt worden ist und dass über Barths Römerbrieftheologie bereits ab 1924 in der gereformierten Presse berichtet und diskutiert wurde. Dem ist jedoch nachdrücklich entgegenzuhalten, dass Barth auch in anderen Kreisen recht früh, nämlich ab 1922 von Nico Stufkens238 in den Kreisen der NCSV mündlich rezipiert und eingeführt wurde. Zudem gab es gerade innerhalb der gereformierten Reaktionen eine zumeist studentisch geprägte Gruppe, die sich innerhalb der Kreise der NCSV mit Barth kritisch gegen den eigenen gereformierten Hintergrund absetzte, während in nicht-gereformierten Kreisen wesentlich häufiger und ausführlicher über Barth berichtet wurde, nämlich ebenfalls ab 1924 von dem der ethischen Richtung zugehörigen Dirk Tromp.239 Zudem entwickelte sich die Rezeption nach den allerersten Reaktionen ab 1924 vorzugsweise innerhalb der ethischen Theologie (vor allem Tromp, Kohnstamm und Noordmans) und ebenfalls ab 1924, wenn auch etwas weniger ausführlich als in der ethischen Richtung, innerhalb der liberalen Theologie (Roessingh). Überaus ausführlich trat sie ab 1926 innerhalb der konfessionellen Theologie (Haitjema) auf. So ist es keinesfalls zufällig, dass in dieser ersten Phase gerade in den Kreisen ethischer wie konfessioneller
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AaO., 187. AaO., 174. AaO., 175. Stufkens wird von Harinck aufgrund seines gereformierten Hintergrunds in die Reihe der an Barth interessierten gereformierten Theologen eingeordnet, doch ist das insofern verzerrend, als Stufkens sich gerade von der neocalvinistischen Theologie abgewandt und Barth und den Kreisen der NCSV zugewendet hat. 239 Auch Harinck bemerkt, dass „die Rezeption Barths in den Niederlanden nur für eine kurze Zeit eine exklusiv gereformierte Angelegenheit war“ (vgl. Harinck, The Early Reception, 177), berichtet aber dann nicht, dass sie seit 1922 abgesehen von den Reaktionen der Professorenschaft vor allem von Mitgliedern der Nederlandse Hervormde Kerk und gerade von solchen gereformierten Studenten geführt wurde, die ein äußerst gespanntes Verhältnis zum Neocalvinismus hatten.
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Theologen die ersten beiden ausführlichen Barthbücher in den Niederlanden publiziert wurden. Das konfessionelle Spektrum Innerhalb der konfessionellen Strömung bestand insbesondere ein positives Leserinteresse an Barths Verhältnisbestimmung zwischen Gott und Mensch und – wie bei den neocalvinistischen und den ethischen Theologen auch – ein Interesse an dessen kritischer Erkenntnistheorie, die allerdings anders als bei den Neocalvinisten positiv im Sinn einer notwendigen Korrektur und Herausforderung des in den Niederlanden vorherrschenden dogmatischen, vergegenständlichenden Begriffsrealismus interpretiert wurde. Außerdem gab es ein Interesse an Barths Schriftauffassung und an der Bekenntnisgemäßheit seiner Theologie. Zwar wurde die Modernität Barths in dieser Strömung anerkannt, doch wurde sie zugleich mit der Hoffnung verbunden, Barth werde sich zukünftig wieder mehr in die Richtung der reformierten Orthodoxie wenden. Ein in dieser ersten Phase nur in der konfessionellen Richtung interessierendes Thema war das Kirchenverständnis Barths, welches mit einer Kritik des bei Barth konstatierten Individualismus kombiniert wurde. Dieses Interesse mag durch Haitjemas Engagement in kirchenreformerischen Bewegungen zu erklären sein. Als den angemessenen sekundären Kontext der nach seiner Meinung weder liberalen noch orthodoxen Theologie Barths bezeichnete Haitjema das aufklärungskritische reformerische Denken Bilderdijks, Kohlbrügges und Hoedemakers – von einem ähnlich gelagertem Interesse der Neocalvinisten wird diese reformierte Linie jedoch bewusst abgegrenzt. Als eine besondere Herausforderung der Barthschen Theologie betrachtete man in der konfessionellen – wie übrigens auch in der ethischen und liberalen – Richtung insbesondere deren möglicherweise korrigierende Funktion gegenüber der Festgefahrenheit aller theologischer Strömungen und der in allen Richtungen aufzuzeigenden Säkularisierung der Theologie. Das Spektrum der so genannten ethischen Theologie Innerhalb der ethischen theologischen Strömung richtete sich das Leserinteresse vorwiegend positiv auf die Modernität Barths. Es bestand insgesamt eine große Aufgeschlossenheit für die von Barth vorgeschlagene neuartige Beziehung zwischen Theologie und (kritischer) Philosophie, die als die Beziehung einer gegenseitigen Begrenzung verstanden wurde (Tromp). Allerdings blieb diese Aufgeschlossenheit nicht unhinterfragt. Es äußerten sich auch kritische Stimmen zur Denkform des Paradoxes (Kohnstamm), zum unterstellten Festhalten am Marburger Neukantianismus und zu einer wechselseitigen Beziehung zwischen Theologie und Philosophie überhaupt (Kohnstamm). Als weiteres Leserinteresse dieser Richtung kann das Verhältnis zwischen christlichem Glauben beziehungsweise Offenbarung einerseits und Religion, Geschichte und Ethik andererseits genannt werden. Praktisch gesehen wurde Barth zwar manchmal Agnostizismus und Nihilismus vorge-
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worfen (Kohnstamm), doch wurde dieser Vorwurf gerade auch von Theologen innerhalb der eigenen ethischen Richtung auch wieder nachdrücklich entkräftet (Tromp, Noordmans). Insgesamt bestand in dieser Strömung die Neigung, ausgehend von der Anerkennung der Distanz zwischen Gott und Mensch und der damit implizierten Anerkennung der Gottlosigkeit beziehungsweise Mündigkeit der Welt (Tromp) aufs Neue und nachdrücklicher als Barth nach einer positiven Verhältnisbestimmung zwischen Christentum einerseits und der modernen Kultur andererseits zu fragen. Die vor allem in neocalvinistischen Kreisen umstrittene Frage nach der Bekenntnisgemäßheit der Theologie Barths wurde, wenn auch nur marginal, ebenfalls thematisiert (Kohnstamm), diesbezügliche Anfragen aber auch intern korrigiert. Als Grund für das spezifische Leserinteresse, von dem her sich die Bedeutung der Theologie Barths für diese Strömung abzeichnet, kann das in der ethischen Richtung bislang vorherrschende Interesse an einer Synthese zwischen Christentum und Kultur angesehen werden, die nun in Frage gestellt wurde, ohne dass das zu einem kulturellen Desinteresse führen musste. Als der bedeutsamste Versuch einer Rekontextualisierung der Theologie Barths darf die Einordnung der Theologie in den Lutherischen Lehrtypus240 (Noordmans) betrachtet werden. Barth selber reagierte auf das Leserinteresse innerhalb dieser (und damit auch anderer Richtungen) insofern, als er die Relevanz erkenntnistheoretischer Fragen für die Niederländer und die Frage nach der Verhältnisbestimmung von Theologie und Philosophie ausdrücklich als weniger interessant charakterisierte, die Aufgabe einer positiven Neubestimmung des Verhältnisses von Theologie beziehungsweise Christentum und Kultur jedoch als für sich herausfordernd empfand. Diesbezüglich kann also von einer wechselseitigen Herausforderung zwischen Karl Barth und seinen (vor allem ethischen und liberalen, vgl. unten) Rezipienten gesprochen werden. Das liberale Spektrum Innerhalb der liberalen Theologie (Roessingh) bestand insbesondere in der rechts-modernen Richtung ein starkes positives, mit der ethischen Richtung vergleichbares Leserinteresse an Barths Kritik der Synthese von Christentum und Kultur. Diese von Barth kritisierte Synthese wurde auch in den Kreisen moderner Theologen als zunehmend problematisch empfunden, sodass man die Herausforderung der Theologie Barths in der Möglichkeit der Korrektur der eigenen, modernen Theologie sah. Zudem erhoffte man sich aber auch einen Beitrag für die Entwicklung einer freien Theologie, die jenseits des Gegensatzes von modernen und orthodoxen Ansätzen ihre Relevanz entfalten sollte. Eine Rekontextualisierung der Barthschen Theologie fand hierbei insofern statt, als Barths Theologie in diesem Spektrum wohl am deutlichsten in einen größeren geisteswissenschaftlichen Zusammenhang modernitätskriti240 Vgl. ausführlicher Kap. 4 dieser Studie.
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scher Kulturkritik gerückt wurde. Barths Verhältnisbestimmung von Theologie und Kultur wurde also von Anfang an im Sinne einer Kultur- und Modernitätskritik behandelt, die als solche gerade eine positive Affinität mit breiteren kritisch-kulturellen Entwicklungen hatte. Hierbei teilte Roessingh mit den Rezeptionen der ethischen Richtung insbesondere das Interesse an einer Neubestimmung der Verbindung zwischen Christentum und Kultur auf der Grundlage einer Anerkennung der prinzipiellen Gottlosigkeit der Welt. Expliziter als in der ethischen Richtung hatte man in der liberalen BarthRezeption bereits in der ersten Phase auch ein Interesse an einer auch politischen Neuorientierung nach dem Zerfall der alten Synthese. Mit den Rezeptionen der Kollegen aller Richtungen teilte man in der liberalen BarthRezeption das kritische Interesse am Thema des Paradoxes bei Barth und, abgesehen von der neocalvinistischen Strömung, das Interesse an der Überwindung der Sackgasse, in der sich die protestantische niederländische theologische Landschaft befand. Mit Barth selber hat Roessingh im Gegensatz zu den Vertretern aller anderen Richtungen keinen Kontakt gehabt. Das studentische Spektrum Die damaligen Studierenden aller Richtungen dürfen als die eigentlichen Träger eines sehr ausgeprägten Interesses an Barths Römerbrieftheologie betrachtet werden. Ihr Leserinteresse war wohl am deutlichsten durch die auch existentiell durchlebte Sehnsucht nach Durchbrechung der eingefahrenen niederländischen theologischen Verhältnisse und damit auch nach einer Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Glauben und moderner Kultur bestimmt. Meines Erachtens kann trotz der Gemeinschaftlichkeit des Anliegens der Studierenden vorsichtig von zwei unterschiedlich gelagerten Interessen oder Spannungsverhältnissen innerhalb der – vor allem ja mündlichen und als Erinnerung zugänglichen – Rezeption dieser Gruppe gesprochen werden: Einerseits gab es Stimmen aus einem zumeist ursprünglich gereformierten Milieu, also kurz gesagt die Stimmen gereformierter Studenten an der Freien Universität in Amsterdam, welche die Spannung zwischen dem Neocalvinismus und der historisch-kritischen Forschung beziehungsweise zwischen ihrem alten Glauben und der modernen Religiosität als ihren Hintergrund beschreiben. Andererseits gab es Stimmen aus einem zumeist ethischreformierten Milieu, also kurz gesagt Stimmen Utrechter (reformierter) Studenten, die ihr Unwohlsein mit den bestehenden theologischen Verhältnissen mehr als die Spannung zwischen der allseitigen Akzeptanz des Kantianismus und der gleichzeitigen Rede von einem zudem unproblematisierten Offenbarungsbegriff erlebten. Konstellationen Abgesehen von den Neocalvinisten haben alle Strömungen die Bedeutung der Theologie Karl Barths in dem sekundären Kontext der Niederlande als Herausforderung gegenüber den festgefahrenen theologischen Strömungen, ins-
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besondere gegenüber dem Gegensatz zwischen Orthodoxie und Liberalismus beziehungsweise Fundamentalismus und Moderne erfahren. Obwohl man entsprechend der bestehenden niederländischen theologischen reformierten Landschaft von vier Strängen der Barth-Rezeption zu sprechen hat, kann man diese Vielfalt jedoch in Bezug auf die unterstellte Herausforderung der Theologie Karl Barths auf eine spannungsvolle Zweiheit reduzieren: Während die orthodoxen Neocalvinisten und die konfessionellen Reformierten offenbar an einer – freikirchlichen oder volkskirchlichen – Fortsetzung oder Erneuerung der Reformation interessiert waren, ging es den ethischen und den liberalen Theologen vorwiegend um eine Neubestimmung des Verhältnissen zwischen dem Christentum und der modernen – säkularen – Kultur, und zwar unter Anerkennung des Endes der Synthese von Christentum und Kultur. Dass beide Interessen dabei als „modern“ bezeichnet werden können, soll damit nicht bestritten, sondern an anderer Stelle reflektiert werden. Das Interesse an Karl Barth kann darum in dieser ersten Phase mit der gebotenen Vorsicht und im Sinne eines ersten Vorschlags als ein Streit um die Frage „christliche Reformation der Gesellschaft oder Akzeptanz der säkularen Modernität“ beschrieben werden. Dass die Theologie Karl Barths von allen vier Strömungen beziehungsweise von beiden Grundpositionen mit Interesse rezipiert worden ist, deutet meines Erachtens auf das tendenziell ökumenische, versöhnende oder zumindest verbindende Potential dieser Theologie jedenfalls in den Niederlanden hin: Die gemeinsame Rezeption der gleichen Theologie stellte ja immerhin einen gemeinsamen Bezugspunkt her. Als bedeutsames Ergebnis meiner Forschungen zu dieser ersten Phase möchte ich schließlich den Vergleich zwischen dem primären Kontext der Theologie Karl Barths und seinem sekundären Kontext herausstellen: Wurde Barth in seinem primären (deutschen) Kontext vor allem als ein Kritiker der in Deutschland ja dominanten liberalen Theologie wahrgenommen, kam ihm in dem sekundären niederländischen Kontext eine Position zwischen oder gar jenseits des Gegensatzes von orthodoxer und liberaler Theologie zu. Barths Theologie funktionierte in den Niederlanden in doppelter Hinsicht: nämlich sowohl in Bezug auf die orthodoxe als auch in Bezug auf die liberale Theologie. Damit verschiebt sich die potentielle Bedeutung der Theologie Barths und erhält die Relevanz von Barths theologischem Denken eine spezifisch niederländische Einfärbung, zu der auch das sich bereits andeutende spezifisch niederländische Interesse an einer von Barth inspirierten alternativen Kulturtheologie gerechnet werden darf.
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3. Die Polarisierung der verschiedenen Rezeptionsstränge (1926–1933) 3.1 Einleitung In diesem Kapitel soll der Faden der chronologischen Darstellung der Ereignisse wieder aufgenommen und zunächst eine historisch orientierte Übersicht zu Karl Barths erstem Besuch in den Niederlanden erstellt werden. Zusätzlich sollen die Reaktionen verschiedener niederländischer Interessierter dargestellt werden (3.2). Dann soll die Ende der 20er Jahre verstärkt aufkommende Differenzierung der Positionen und Argumente der sich bereits seit Beginn des Jahrzehnts abzeichnenden verschiedenen Rezeptionsstränge nachgezeichnet und, so weit wie möglich und sinnvoll, unter den in der Einleitung zu dieser Studie entwickelten rezeptionsästhetischen Fragen analysiert werden. Die Entwicklung der Barth-Rezeptionen dieser Stränge kann, so meine vorläufige These, im Sinne einer ersten, noch näher zu beschreibenden Polarisierung verschiedener Rezeptionsstränge interpretiert werden. Den Auftakt der Auseinandersetzungen der späten 20er Jahre bildete die aus Anlass von Barths erstem Besuch der Niederlande von Arnold Hendrik de Hartog (1869 – 1938) publizierte kritische Studie Naar aanleiding van Karl Barths verblijf in Nederland (Aus Anlass von Karl Barths Aufenthalt in den Niederlanden)1. De Hartog war ein eigenständiger, aber den Neocalvinisten nahestehender Systematiker von der Utrechter und später von der kommunalen Amsterdamer theologischen Universität (3.3). Auch der ursprünglich gereformierte und später freigemacht-gereformierte2 Klaas Schilder (1890 – 1952), Professor für Dogmatik in Kampen und Hauptredakteur der neocalvinistischen Wochenzeitschrift De Reformatie, sowie andere Theologen neocalvinistischer Couleur legten ihre Kritik (3.4), die nicht nur qualitativ sondern auch quantitativ gesehen stark zunahm, einem breiteren Publikum vor. Insgesamt fällt auf, dass diese Kritik sich oftmals gar nicht so sehr auf Karl Barth selber, sondern in zunehmendem Maße auf die Barth-Rezipienten in den Niederlanden bezieht. Somit treten ab 1926 und verstärkt ab 1927 – Barth ist inzwischen ein zweites Mal in den Niederlanden gewesen – die Vertreter verschiedener Rezeptionsstränge untereinander zunehmend in einen – polemischen – Austausch (3.5): Die Diskussion um die Theologie Karl Barths entwickelte sich zu einer innerniederländischen Debatte. Der der konfessio1 A.H. de Hartog, Naar aanleiding van Barths verblijf in Nederland, Amsterdam 1926. 2 Die freigemacht Gereformierten (vrijgemaakt gereformeerd) trennten sich 1944 unter Führung von K. Schilder von den Gereformierten.
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Barths erster Besuch der Niederlande
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nellen reformierten Strömung zuzurechnende Groninger Systematiker und bekannte niederländische Repräsentant der Theologie Karl Barths, Theodorus L. Haitjema (1888 – 1972), diente dabei immer mehr als Zielscheibe und als Gegenpol zu den verschiedenen Reaktionen neocalvinistischer Couleur. Haitjema setzte sich in unzähligen Beiträgen mit Schilder (3.6), dem Dogmatiker der Freien Universität in Amsterdam, Valentijn Hepp (1879 – 1950) (3.7) und mit De Hartog (3.8) auseinander. Hierbei vertrat er durchaus auch die Interessen der anderen Vertreter3 der sich mittlerweile immer mehr etablierenden ersten niederländischen Barthschule. Das Kapitel wird mit einer Reflexion der Debattenlage in dem untersuchten Zeitraum abgeschlossen (3.9).
3.2 Barths erster Besuch der Niederlande: Verlauf und Reaktionen4 19265 kam Karl Barth zum ersten Malin seinem Leben für eine Woche, vom 28.5.–3. 6. 1926, zusammen mit seiner Frau Nelly Barth, 13 Studenten und drei Studentinnnen in die Niederlande. Während dieses ersten Aufenthalts besuchte er vom 28.5.–31. 5. 1926 die Groninger theologische Fakultät und anschließend Amsterdam. Einladungen der Utrechter und Leidener theologischen Fakultäten konnte er aus Zeitgründen bei diesem Aufenthalt nicht nachkommen, weswegen er einen Besuch dieser Fakultäten auf seine zweite Reise vom 29.3.–2. 4. 1927 verschob. In Groningen gab Karl Barth auf die freundliche Einladung von Theodorus L. Haitjema (s. o.) zwei Vorlesungen über Phil. 3 und hielt eine Predigt6 über Ps. 37, 5. Zudem wohnte er einer Disputation mit den Groninger Kollegen und Studenten bei, in der laut Barths Reisebericht Themen wie „Geschichte, Christologie, hl. Geist, Kirche, Sakrament, Gnade, kurz ein wenig alles zur Sprache“7 gekommen seien. Haitjema war Barth durchaus schon vorher bekannt, denn er hatte das von diesem 1926 publizierte Buch Karl Barth8 in der ebenfalls 1926 erschienenen deutschen Übersetzung noch vor seinem Besuch gelesen. Nicht zufällig wurde er von Barth in seinem recht begeisterten Reisebericht dann auch als „wichtigste[r] Vertreter unserer ,Belange‘ in Nordholland“9 bezeichnet. Laut desselben Rei3 Gemeint sind vor allem die Autoren der Nieuwe theologie, also D. Tromp, Ph.A. Kohnstamm und O. Noordmans (vgl. Kap. 2 dieser Studie). 4 Ein kleinerer Teil dieses Abschnitts wurde bereits publiziert in: Hennecke, Zur Barthrezeption, insbes. 138 – 140. 5 Vgl. K Barth, Brief an die „Liebe[n] Freunde!“, Rundbrief v. 4. 6. 1926, in: K. Barth – E. Thurneysen, Briefwechsel 2, 413 – 421. 6 Diese wurde anschließend auf Niederländisch publiziert: K. Barth, Ik ben de Heere. Academiepreek, gehouden in de Pepergasthuiskerk te Groningen, 30 mei 1926, OEV 1, 1926, 189 – 196; deutsche Version vgl. Ders., Ich bin der Herr, Biblische Zeugnisse 24, 1926, Nr. 7, 193 – 199. 7 Barth, Rundbrief v. 4. 6. 1926, 416. 8 Vgl. Kap. 2 dieser Studie. 9 Barth, Rundbrief v. 4. 6. 1926, 414.
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seberichts hielt Haitjema aus Anlass von Barths Besuch in Groningen ebenfalls einen Vortrag, Karl Barth und die Marburger Philosophie10. Barth fiel durchaus auf, dass dieses Thema die Niederländer sehr interessierte, kommentierte jedoch in seinem Reisebericht, dass er den Vortrag „etwas grinsend mit anhörte (weil mich diese Frage sehr wenig interessiert!)“11. Der Aufenthalt wurde mit einem abendlichen Beisammensein mit den Kollegen der Groninger theologischen Fakultät abgeschlossen. In Amsterdam hielt Barth am 1. 6. 1926 einen Vortrag über Die Kirche und die Kultur12 auf dem ersten Kongress des kontinentalen Verbandes für innere Mission. Im Nachhinein bezeichnete er diesen allerdings als das „kleinste Anliegen“13 seines Besuches in den Niederlanden. Doch ist angesichts des im vorigen Kapitel dargestellten niederländischen kulturtheologischen Leserinteresses gerade in der ethischen und liberalen Strömung die Aufgeschlossenheit für das Thema dieses in der Barthforschung bislang recht wenig rezipierten14 Vortrags keinesfalls zufällig zu nennen. Barth kommt dem niederländischen Interesse mit seinem Vortrag selber auch insofern entgegen, als er das Verhältnis zwischen Kirche beziehungsweise Theologie und Kultur keinesfalls als ein nur negatives oder kritisches beschreibt: In den ersten drei der insgesamt acht Thesen des Vortrags bietet er zunächst eine theologische Bestimmung beider Begriffe: Sei erstens die Kirche vom theologischen Innenaspekt her gesehen als eine von Gott selbst eingesetzte Glaubens- und Gehorsamsgemeinschaft des von Gottes sich ereignendem Wort lebenden sündigen Menschen zu betrachten, so sei zweitens die Kultur von demselben theologischen Innenaspekt her gesehen als die dem Menschen vom Wort Gottes gestellte Aufgabe zu betrachten, die Bestimmung des Menschen als Einheit von Leib und Seele zu verwirklichen. Indem der Kulturbegriff theologisch und im Anschluss an den ebenfalls theologisch gewonnenen Kirchenbegriff bestimmt wird, verhindert Barth, dass über „die Bedeutung der Kultur für die Kirche nur Negatives und Polemisches zu sagen“15 ist. Aus der ersten und zweiten These folgt in der dritten These zusammenfassend, dass Kirche und Kultur nicht von „überlegene[n] Zuschauer[n]“16 im Sinne einer „,Weltanschauung‘“17 zu verstehen seien, sondern vom Hören auf das 10 M.W. wurde der Vortrag nicht publiziert. 11 AaO., 415. 12 K. Barth, Die Kirche und die Kultur (1926), in: Ders., Vorträge und kleinere Arbeiten 1925 – 1930, hg. v. H. Schmidt (Karl Barth Gesamtausgabe, im Auftrag der Karl Barth-Stiftung, hg. v. H. Stoevesandt, III. Vorträge und kleinere Arbeiten), Zürich 1994, 10 – 40. 13 Barth, Rundbrief v. 4. 6. 1926, 419. 14 Eine Ausnahme bezüglich des bislang geringen Interesses an dem Vortrag bildet: H. Ruddies, Karl Barth und die Liberale Theologie. Fallstudien zu einem Epochenwechsel, Göttingen 1994 [Diss. Göttingen]. 15 Barth, Die Kirche und die Kultur, 15. 16 AaO., 18. 17 AaO., 19.
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menschlicherseits unverfügbare Wort Gottes her, wobei das Anliegen der Kultur vom Anliegen der Kirche her zu verstehen sei und nicht umgekehrt. In der vierten bis sechsten These behandelt Barth die Kultur als Problem der Gesellschaft und differenziert sie mithilfe des Dreischritts18 Schöpfung, Versöhnung und Erlösung. Unter dem Gesichtspunkt der Schöpfung sei die Kultur viertens als eine dem gefallenen Menschen ursprünglich gegebene Verheißung zu betrachten. Der Mensch sei bleibend als Geschöpf und Ebenbild Gottes zu betrachten; das Reich Christi fange nicht erst mit der Fleischwerdung des Wortes an, sondern der göttliche Logos erfülle, „indem er in seiner ganzen Fülle Mensch ist in Jesus von Nazareth, darum nichtsdestoweniger Himmel und Erde“19. Zwar lasse sich die Beziehung zwischen Gott und Natur nicht als eine eigenständige beschreiben, doch bestehe ein durch die Sünde nicht zerstörter, durch die Versöhnung in Kraft getretener Rechtsanspruch Gottes auf den Menschen. Die theologia naturalis sei in der theologia relevata folglich impliziert. Die dem Menschen als Menschen gegebene Verheißung entspreche dem Begriff der Kultur und sei als „Vollkommenheit, Einheit, Ganzheit in seiner Sphäre als Geschöpf“20 zu umschreiben. Sie werde durch das Evangelium keinesfalls verleugnet, sondern bestätigt. Kulturarbeit könne „gleichnisfähig“21 sein, das heißt Hinweis auf dasjenige, „was der Mensch als Gottes Geschöpf und Ebenbild werden soll“22 und was er in Christus tatsächlich ist. So sei zwar eine „allgemeine Heiligsprechung der Kulturarbeit“23 nach der Art Schleiermachers und eine Identifikation des Reiches Gottes mit der Kulturarbeit abzulehnen, noch stärker abzulehnen sei allerdings die Nichtbeachtung ihrer Gleichnisfähigkeit und Verheißung. Fünftens sei die Kultur unter dem Aspekt der Versöhnung als ein dem Menschen aufgetragenes Gesetz zu betrachten. Nun habe man es nicht so sehr mit dem homo peccator, sondern mit dem homo peccator zu tun, der in Gemeinschaft mit dem Versöhner als Gerechtfertigter und Geheiligter lebe. Gerade auch die Heiligung sei nicht als menschlicher Besitz, sondern als Gnade aufzufassen. Vergottungen kämen nicht in Betracht, auch nicht im Sinne eines Keimes. Das dem Menschen aufgetragene Gesetz, die „göttliche Forderung“24, heiße „Humanität“25 und bedeute „Humanisierung“26. Inhaltlich gesehen fielen also das Gebot der Offenbarung und das Gebot des Na18 Der Dreischritt Schöpfung (regnum naturae), Versöhnung (regnum gratiae) und Erlösung (regnum gloriae) lag in der Form des Dreischritts Schöpfung, Erlösung und Vollendung bereits dem so genannten Tambacher Vortrag (Der Christ in der Gesellschaft) von 1919 zugrunde und wird in der Ethik-Vorlesung von 1928/29 und in der Kirchlichen Dogmatik wieder aufgegriffen. 19 Barth, Die Kirche und die Kultur, 21. 20 AaO., 23. 21 AaO., 24. 22 Ebd. 23 AaO., 25. 24 AaO., 28 25 Ebd. 26 Ebd.
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turrechts zusammen. Allerdings sei zu beachten, dass der Gebotscharakter der Humanität deren Unerreichbarkeit in der Welt impliziere. Sie sei einzig und allein in Christus erreichbar. Es sei die Aufgabe des Menschen, „das Gesetz zu vertreten, mit der Gesellschaft, ohne die Gesellschaft, gegen die Gesellschaft“27. Sechstens sei die Kultur unter dem Aspekt der eschatologischen Erlösung als eine dem Menschen gesetzte Grenze zu betrachten. Auch die Humanität werde unter diesem Aspekt zu einem Grenzbegriff: Kultur nicht nur als Verheißung und Gesetz, sondern als gestaltete Wirklichkeit gebe es nur jenseits der Auferstehung der Toten. Diese dritte Verbindung zwischen Kirche und Kultur sei darum als eine kritische Verbindung zu betrachten, was keinesfalls mit einer „Geringschätzung der Kulturarbeit“28 oder mit „Pessimismus“29 zu verwechseln sei. Vielmehr sei die Kultur unter diesem Aspekt als ein „ernstes Spiel“30 zu betrachten, dessen letzter Ernst eben Gottes und nicht des Menschen Sache sei. Siebtens sei das Problem der Kultur jedoch auch dann ein Problem der Kirche, wenn man diese nun nicht theologisch von Innen, sondern profan von Außen bestimme. Die Arbeit der Kirche sei von Anfang an als Kulturarbeit zu betrachten, die sich soziologischen und psychologischen Gesetzen und Erkenntnissen nicht entziehen könne. Die Kirche schwimme „mit im Strom der Kultur. Das Darüber und Dagegen ist wohl ihr heimlicher Existenzgrund“31. Achtens sei dem noch hinzuzufügen, dass zwar alle drei Aspekte, unter denen das Verhältnis der Kirche zur Kultur betrachtet werden kann, methodisch gesehen gleichmäßige Wahrheitsmomente bildeten, dass aber angesichts der in These 1 entwickelten Rede vom „aktuellen Charakter aller christlicher Erkenntnis“32 eine prophetisch-sachliche „notwendige Zeitbestimmtheit der Wahrheit“33 bestehe, die zu einer gewissen „Ungleichmäßigkeit“34 der drei Wahrheitsmomente führe.In „unserer Zeit“35, so Barth 1926, sei die „eschatologische Form des Wortes Gottes“36 zu betonen, also die Kirche unter dem Aspekt der Grenze. Habe die Kirche seit dem 18. Jahrhundert die beiden ersten Aspekte betont, so sei es nun an der Zeit, gegenüber „dem ,liberalen‘ und ,positiven‘ Kulturprotestantismus“37 den eschatologischen Aspekt zu betonen. Barth bestimmt die Grenzhaftigkeit des Verhältnisses der Kirche zur Kultur
27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37
AaO., 29. AaO., 32. Ebd. Ebd. AaO., 35. AaO., 37. AaO., 38. Ebd. Ebd. AaO., 39. Ebd.
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also keineswegs als ein absolutes, sondern im Sinne eines kontextuell gewonnenen Wahrheitsmoments. Nach Nelly Barths Aussagen – so Karl Barth in seinem Rundbrief – soll der Vortrag „nur teilweise erbaulich geklungen haben“38 und sei wohl „den meisten spanisch“39 vorgekommen. Als Koreferent trat der gereformierte Pfarrer Bastiaan Wielenga auf, der Barth nach Barths Erinnerungen als „,Vater einer reformatorischen Bewegung‘“40 gefeiert haben soll. In den Erinnerungen von Buskes ist ergänzend zu lesen, dass Wielenga die Theologie Barths nach einer freundlichen Begrüßung als „ein Unwetter“41 bezeichnet habe, das „aus der Schweiz über die Niederlande hinweggezogen“42 sei. Barth habe aber offensichtlich nicht den Eindruck gehabt, dass der Blitz beim Koreferenten tatsächlich eingeschlagen sei. Außer Wielenga trat dem Rundschreiben Barths zufolge Philipp A. Kohnstamm als Referent auf, der offensichtlich bereits länger bestrebt war, Barth zu widerlegen. Zu einem Austausch kam es aber anscheinend nicht, denn laut Barth konnte aus Zeitgründen auf ein Schlussvotum „zum Glück“43 verzichtet werden. Buskes erinnert sich weiterhin, dass Barth anstelle des offiziell organisierten Beiprogramms, bei dem verschiedene christliche Einrichtungen besucht werden sollten, einen Kino- und Museumsbesuch bevorzugte. Direkte Reaktionen auf den am Morgen gehaltenen Vortrag oder spätere inhaltliche Auseinandersetzungen sind allerdings trotz des für die niederländische Interessenlage an sich naheliegenden Themas nicht überliefert. Als Gastgeber bei Barths gesamtem Amsterdam-Aufenthalt trat der damalige, reformierte Leiter der Amsterdamse Maatschappij voor Jongemannen (AMJV; entspricht dem Amsterdamer CVJM) und spätere erste Direktor des Instituts für Kerk en Wereld (Kirche und Welt), Johan Eijkman, auf. Dieser organisierte am Nachmittag des 2. Juni im Haus der AMJV auch eine Diskussionsveranstaltung mit diversen niederländischen, oftmals als Pfarrer tätigen Theologen aus der ethischen Richtung der Nederlandse Hervormde Kerk. Wie bereits von den Groningern wurde Barth auch von ihnen im Allgemeinen freundlich und sehr interessiert begrüßt. Bei der Diskussion am 2. 6. 1926 waren 16 Personen44 anwesend. Unter ihnen befanden sich bekannte Namen wie J.P. van Bruggen, J.A. Cramer, Frederik W. Grosheide, Theodorus L. Haitjema, Arnold H. de Hartog, Kornelis H. Miskotte, Oepke Noordmans, Gerrit W. Oberman, H.J. Pos, Nico Stufkens, Hendrik C. Touw, Dirk Tromp
38 39 40 41 42 43 44
Barth, Rundbrief v. 4. 6. 1926, 418. Ebd. Ebd. Buskes, Hoera, 87. Ebd. Barth, Rundbrief v. 4. 6. 1926, 419. Nach Barths Erinnerungen handelte es sich um ca. 30 Personen; vgl. Barth, Rundbrief v. 4. 6. 1926, 417.
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und Bastiaan Wielenga.45 Über dieses Gespräch berichtet Buskes, dass „die Diskussionen mit Prof. Haitjema und Prof. de Hartog […] etwas schwierig“46 verlaufen seien und dass insbesondere das Gespräch mit De Hartog, der immer wieder seine eigene Bekehrungsgeschichte zur Sprache gebracht und behauptet habe, dass er Barths Ansichten bereits länger als dieser vertreten habe, „peinlich“47 zu nennen gewesen sei. Das Gespräch zwischen Barth und De Hartog kulminierte nach Buskes in folgender Szene: Und wiederum erzählte De Hartog seine Bekehrungsgeschichte. Das Wort ich wurde dabei viele Male betont ausgesprochen, was in Bekehrungsgeschichten in der Regel der Fall ist. Barth hörte andächtig zu. Als De Hartog ausgeredet hatte, reagierte er : ,ich verstehe, ja, ja… ich und ich und ich…‘ Woraufhin De Hartog entrüstet, mit dem Finger zum Himmel weisend, ausrief: ,nein, Du, Du, Du allein…‘ Und dann Barth: ,ja, ich verstehe, ja, Du, Du, aber erst ich und ich und ich…‘.48
Barths Erinnerungen bestätigen, dass das Gespräch zwischen De Hartog und ihm nicht glücklich ausgegangen war. Ihn, Barth, habe De Hartog an Kutter erinnert, und er respektiere ihn als „dynamische Person: Mystiker mit monistischem Hintergrund, der keinen Augenblick zuhörte, wenn ein anderer redet, aber gewaltig Zeugnis ablegen kann…“49. Barth bestätigt auch, dass De Hartog anfänglich meinte, er schreibe bereits seit 25 Jahren dasselbe, was Barth zu sagen habe, dies aber am Schluss für einen Irrtum gehalten habe und – nachdem Barth ihm gegenüber das „große Nein“50 verteidigt habe – „etwas tragisch das Lokal verließ, nicht ohne gegenseitige Hochachtungsversicherungen“51. Der Gedankenaustausch zwischen Barth und Oepke Noordmans52 erwies sich hingegen sowohl nach den Erinnerungen Barths als auch nach denen Buskes’ als sehr positiv. Buskes berichtet, dass Noordmans vor allem Fragen stellte, denen Barth aufmerksam zuhörte und deren Recht er voll und ganz anerkannte – nach Buskes53 wurden sie von Barth später in der Kirchlichen Dogmatik beantwortet. Die zu diskutierenden Fragen betrafen „die Kontinuität des Glaubenslebens, den Ort der Ethik und das Werk des Heiligen Geistes“54. Im Gegensatz zu vielen anderen habe Noordmans Barth nicht vorgeworfen, die Rolle Gottes bei der Bekehrung und der Wiedergeburt zu schmälern. Doch bilde die Verhältnisbestimmung zwischen reiner Theologie 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54
Vgl. Van der Linde, Het visioen, 189. Buskes, Hoera, 88. Ebd. Ebd. Barth, Rundbrief v. 4. 6. 1926, 418. Ebd. Ebd. Zu Noordmans vgl. ausführlicher Kap. 4 dieser Studie. Buskes, Hoera, 88.218 f. AaO., 218.
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und theologischer Ethik eine Schwachstelle des Römerbriefs. Nach Buskes äußerte Noordmans bei diesem Gespräch auch noch einmal den Gedanken, dass nämlich die hochgespannte Dialektik bei Barth durchaus ein Feld schaffen könne, das Ethik und Kultur gerade ermöglichte. Barth kommentierte in seinem Reisebericht, dass Noordmans „die anderen an Selbständigkeit und Kaliber überragte“55. Er betrachte ihn als fruchtbaren Gesprächspartner, „der von allen am meisten Initiative hat, die wirklichen Probleme unserer Theologie sieht und mir ein Stegreifexpos¦ über die ,sakramentale Sphäre‘ und die Symbolik der Stiftshütte entlockte, das den allzu eifrigen Bejahern des Römerbriefs zeigte, dass die Sache nun weitergehen sollte“56. Am meisten Eindruck machte auf Barth wohl diejenige Gruppe unter den Amsterdamer Theologen, die sich nach Barths Aussagen selbst als Barthianer, „,Barthianen‘“ bezeichneten und bezüglich derer er zutreffend feststellte, dass es sich zumeist um einfache Pfarrer und theologisch interessierte Nichttheologen handelte: Und nun also aus dem Rahmen heraustretend die unvermutete Schar der holländischen ,Barthianen‘, wie man dort sagt. Ja, du liebe Zeit, mit welcher Aufmerksamkeit ist dort in diesen Jahren der Römerbrief und Zw. d. Z. gelesen worden! Ich erschrak förmlich über dieses Echo und über die Erwartungen, die man dort auf uns setzt.57
Kornelis H. Miskotte Auch der später noch sehr bekannt werdende Theologe und spätere Professor für systematische Theologie in Leiden Kornelis Heiko Miskotte58 (1894 – 1976) hatte den Römerbrief bereits vor Barths erstem Besuch gelesen. Am 1. 2. 1923 hielt er „den hässliche[n], schwarze[n] Band“59 laut Eintrag in seinem Tagebuch zum ersten Mal in den Händen. Sein unmittelbarer Eindruck beim Durchblättern am selben Tag: „Bereits beim Durchblättern erscheint mir der Stil expressionistisch, der Gedanke marcionitisch, der Sinn, das wirklich Religiöse dem Abgeleiteten gegenüber zu stellen, oder Christus gegenüber dem Christentum“60. Hin- und hergerissen zwischen Faszination und Protest notierte er in den folgenden Tagen Stichwörter wie: „Relativierung aller Werte“61 – „,Theologie des absoluten Moments‘“62 – „,der Tod zum einzigen (zum einzigen!) Gleichnis des Himmelreichs…‘“63 – „auch der inkarnierte 55 56 57 58 59 60 61 62 63
Barth, Rundbrief v. 4. 6. 1926, 417. AaO., 418. AaO., 415. Vgl. ausführlicher Kap. 9 dieser Studie. Vgl. K.H. Miskotte, Uit de dagboeken 1917 – 1930, hg. v. E. Kuiper-Miskotte/H.H. Miskotte (Verzameld werk van dr. K.H. Miskotte, Teil 4, hg. v. J.T. Bakker/A. Geense/G.G. de Kruif), Kampen 1985, 242. Ebd. Vgl. den Eintrag v. 3. 2. 1923, ebd. Vgl. den Eintrag v. 4. 2. 1923, ebd. Ebd.
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Christus […] doch wieder Versprechen“64 und „[i]ch bin in wildem Widerstand gegen die Nivellierung aller Werte. Gott ist in der Bibel zwar ,groß‘ (typisch unrhetorisch), aber nicht absolut, nicht übermetaphysisch, transzendent und = der Ursprung (Cohen)“65. Bei Barths erstem Besuch in den Niederlanden war Miskotte sowohl in Groningen als auch in Amsterdam anwesend66. Bereits zwei Jahre zuvor, nämlich am 4. 1. 1924 hatte er brieflich erstmals67 mit Barth Kontakt aufgenommen. In diesem ersten, übrigens unbeantworteten Brief macht er ihn auf seine theologische Verwandtschaft mit Herrmann Friedrich Kohlbrügge aufmerksam. 1925 hatte Miskotte sich erfolglos für eine Übersetzung des Römerbriefs ins Niederländische eingesetzt68. Anlässlich des Besuchs Barths im Jahr 1926 entwickelte sich nun eine lebenslange69 Freundschaft und Korrespondenz zwischen ihm und Barth, die bis zu Barths Tod dauern sollte. Am 3. 9. 192770 schrieb Miskotte Barth einen zweiten Brief, in dem er an Barths ersten Besuch in den Niederlanden und insbesondere an die oben erwähnte Diskussionsveranstaltung im Hause der AMJV anknüpfte. In diesem Brief legte Miskotte Barth eine in der Diskussion nicht gestellte Frage vor, die ihn bereits seit den Anfängen seiner Römerbrieflektüre beschäftige: Ihn interessiere die von Barth im Römerbrief erwähnte Begegnung zwischen dem Gott anklagenden Iwan Karamasoff71 und – dem von Barth im Römerbrief als NichtGott und menschliche Projektion enttarnten – Gott, der Iwan Karamasoff nicht antworten könne. Aufgrund der „endlose[n] Pein des Daseins“72 teile er, Miskotte, einerseits menschlich gesehen Karamasoffs’ anklagende Haltung, fühle sich aber andererseits theologisch gesehen in seinem vom Erlösergott ausgehenden Glauben an den Schöpfergott bestätigt. Als Hintergrund dieser 64 65 66 67
68
69 70 71 72
Ebd. Vgl. den Eintrag v. 5. 2. 1923, aaO., 243. Vgl. die Einträge v. 29. 5. 1926 und v. 1. 6. 1926, aaO., 301. Die gesamte Korrespondenz zwischen Miskotte und Barth zwischen 1924 – 1968 ist abgedruckt in: K.H. Miskotte, Briefwisseling, in: Ders., Karl Barth. Inspiratie en vertolking: Inleidingen, essays, briefwisseling, hg. v. A. Geense/H. Stoevesandt (Verzameld werk van dr. K.H. Miskotte, Teil 2, hg. v. J.T. Bakker/A. Geense/G.G. de Kruif), Kampen 1987, 430 – 540. Der Brief vom. 1.1924 befindet sich aaO., 430. Vgl. K.H. Miskotte an K. Barth, Brief v. 5. 2. 1935, in: Ders., Briefwisseling, 438: „Schon früher um das Jahr 1925 habe ich versucht, einen Verlag zu finden, der für eine Übersetzung des ,Römerbriefs‘ Risiko übernehmen wollte: aber der abweisende Satz war immer gleich begründet: wer sich interessiert für solche selbstverständlichen Sachen, ist ein ,Intellektueller‘ und liest Deutsch so gut wie Holländisch, wer aber kein Deutsch kann, von dem kann im Allgemeinen angenommen werden, daß er für das Buch kein tiefes Interesse aufbringen wird. Mit ein paar Ausnahmen kann man aber nicht rechnen [Original Deutsch; SH].“ Der letzte Brief von Miskotte an Barth dat. v. 8. 5. 1968. K.H. Miskotte an K. Barth, Brief v. 3. 9. 1927, in: Ders., Briefwisseling, 430 f. Iwan Karamasoff ist der atheistische Intellektuelle unter den drei Brüdern Karamasoff in Fjodor Dostojewskis Roman Die Brüder Karamasoff, der das sinnlose Leiden in der Welt nicht akzeptieren kann (Theodizeefrage). Miskotte, Brief v. 3. 9. 1927, in: Ders., Briefwisseling, 431.
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Aussagen mag Miskottes Beschäftigung mit Marcion und sein in Bezug auf Barth entstandener Verdacht gelten, dass auch Barth marcionitisch sei, also den Schöpfer- und den Erlösergott voneinander trenne. Miskotte berichtete weiter, dass er von Barths Besuch in Amsterdam sehr „enttäuscht“73 gewesen sei, da Barth die „endlose Pein des Daseins“74 offenbar hinnehme.Barth sei „wieder glatt und gediegen, rund und fest geworden“75 und profiliere einen Gott, der ihm, Iwan – Miskotte –, „das Maul stopf[e] und im Donner der Anklage das antwortlose Schweigen übertönen [wolle]“76, weswegen er, Miskotte, sich in ein „Kellerloch“77 zurückziehen wolle, da Gemeinschaft mit Gott nur im „Protest […] gegen die Grundstruktur dieser Welt“78 möglich sei. Er, Barth, solle ihm, Miskotte, anstelle Gottes antworten. In seinem Antwortbrief vom 20. 9. 192779 teilte Barth mit, Miskottes Gedanken zur Gemeinschaft mit Gott im Protest zustimmen zu können, auch wenn er sich an die Diskussion in Amsterdam nicht mehr erinnern könne. Doch liege die „Legitimation zu bewusstem Protest in Christus und nicht in uns selbst“80, richte dieser Protest „sich in erster Linie gegen uns als Protestierende selber“81. Man stehe darum anders im Protest als Iwan Karamasoff, nämlich in „solidarischer Haftbarkeit“82. Dem in unsere Wirklichkeit konkret ergehenden Gebot Gottes dürfe man sich als „Sünder und Mitschuldige[r]“83 nicht entziehen.84 Er, Barth, sei wie Miskotte ein „verlorener Mensch“, der, wenn er „von Gott rede […] immer nur von ,Gott‘“85 rede. Wenn er, Miskotte, bei der Lektüre des Römerbriefs seit dem 1. 2. 1923 wirklich „durch Gottes Wort zu Gott“86 und nicht vielmehr „in einer pessimistischen Weltansicht zu sich selber“87 gekommen sei, solle er, Miskotte, prüfen, ob Gott ihn tatsächlich zu einem Rückzug in ein Kellerloch aufgerufen habe. Miskotte seinerseits erwiderte nach einem Besuch bei Barth in Münster in einem Brief vom 15. 7. 192888, dass der Hinweis auf den Gehorsam ihm „wirklich geholfen“89 habe. Offensichtlich hatte Barth Miskotte darauf gebracht, deutlicher zwischen Schöpfung und Welt zu unterscheiden, denn er beendete seinen Brief er73 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83 84 85 86 87 88 89
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. K. Barth an Miskotte, Brief v. 20. 9. 1927, in: Miskotte, Briefwisseling, 431 f. AaO., 432. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. K.H. Miskotte an Barth, Brief v. 15. 7. 1928, in: Ders., Briefwisseling, 433. Ebd.
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leichtert mit den Worten: „Dank. Alles was man sieht ist die Schöpfung nicht! Hallelujah! Siehe hier das Ei von Kolumbus, und mein Talisman, wenn die Ängste in dieser Welt (die herrlich ist zu sehen, aber schrecklich zu sein) mich überfallen“90. Valentijn Hepp Nicht nur Miskotte war enttäuscht von Barths Amsterdamer Vortrag. Dies galt auch für den gereformierten Dogmatiker der Freien Universität, Valentijn Hepp, der seine Enttäuschung allerdings nicht zum Anlass nahm, sie Barth persönlich vorzulegen. Hepp berichtete in De Reformatie vom 14. 1. 1927 folgendes über Barths Besuch: Karl Barth beehrte unser Land mit einem Besuch. Seine Gefolgschaft bestand aus einigen deutschen Studenten mit millimeterlangem Haar. Weder sein hölzerner Vortrag noch seine eckige Erscheinung elektrisierten. Imponierend war die Absolutheit, mit der er seine ,Umwertung vieler Werte‘ (Deutsch im Original; SH) vortrug. Prof. Haitjema erlebte ekstatische Tage. Dr. de Hartog fühlte sich desillusioniert. Die Übrigen blieben, soweit bekannt, kritisch und nüchtern.91
Weitere Reaktionen Einer der Organisatoren des Kongresses, Okke Norel, berichtete im Algemeen weekblad voor christendom en cultuur92 über Barths Referat, dass Barth zwar mit besonders hohen Erwartungen eingeladen worden, bei dem ansonsten recht gut verlaufenen Kongress jedoch „für viele eine Enttäuschung“93 gewesen sei. Zwar sei das Thema „Kirche und Kultur“ eine gute Wahl gewesen, doch habe Barth sich nicht genügend auf das Publikum und das Programm des Kongresses eingelassen. Erst seine letzte These, „dass es in der heutigen Zeit erforderlich [sei], Kirche und Kultur unter einem eschatologischen Gesichtspunkt getrennt zu halten“94, habe den Erwartungen des Publikums entsprochen. Für eine Diskussion sei bedauerlicherweise kaum Zeit gewesen, so dass De Hartogs und Kohnstamms Fragen zu Barths Wort-Auffassung und zur Person Jesu erst während des anschließenden persönlichen Gesprächs behandelt worden seien. Auch die Frage, „ob man zu recht in seinen Thesen eine Schwankung wahrgenommen hatte, mehr oder weniger eine Zurücknahme seiner früher so ausgesprochen starken Verkündigung der ,Diastase‘“95, habe Barth erst in dem anschließenden Gespräch verneinend beantworten können. Es sei bedauernswert, dass sowohl mit Barth als auch mit dem anderen Referenten, Prof. Rendtorff aus Kiel, nicht „erst ruhig über die Frage 90 91 92 93 94 95
Ebd. V. Hepp, Het jaar 1926, Re 7, 1927, Nr. 16, 1. O. Norel, Het congres voor inwendige zending, AWCC 2, 1926, Nr. 33, 5. Ebd. Ebd. Ebd.
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Barths erster Besuch der Niederlande
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gesprochen werden konnte, inwiefern und aus welchem Grunde man in ,dem Wort‘ das Objektive sehen kann“96. Natürlich sei die Bedeutung eines jeden Kongresses immer relativ. Barths relativierende Betonung des Spielcharakters alles Tuns sei daher passend gewesen.97 Frits Kuiper Der mennonitische Pfarrer Frits Kuiper (1898 – 1974) repräsentierte Ende der 20er Jahre den liberalen Strang der niederländischen Barth-Rezeptionen, und zwar vor allem anhand seines Beitrags98 über Barths Schrift Die Auferstehung der Toten, in welchem er in grundsätzlicher Sympathie mit Barth bemängelte, dass dieser im Vergleich zu Paulus die Leiblichkeit der Auferstehung zu wenig hervorhebe. Auch sei Barth gegenüber zu betonen, dass im Lichte der Auferstehungsgeschichte jeder Schritt menschlicher Befreiung als wertvoll zu betrachten sei und dass Befreiung auch immer eine soziale und politische Dimension habe. Der Auferstehungsgedanke sei keine Ideologie, sondern habe, indem er notwendigerweise mit der Zukunft und dem Ziel der menschlichen Geschichte zu tun habe, schon jetzt Einfluss auf die persönliche und soziale Ethik. Barths Identifikation der Auferstehung mit der Parusie Christi im Römerbrief habe bedauerlicherweise zu einer faktischen Ausschaltung der Parusie geführt. Barth habe dies zwar im Juli 1926 in einem persönlichen Gespräch mit Kuiper als einen Irrtum eingesehen. Seine positive Bewertung der Geschichte bei seinem Amsterdamer Vortrag „Die Kirche und die Kultur“ sei sehr begrüßenswert, doch bleibe bei Barth zu kritisieren, dass er 1926 eine wesentlich uneindeutigere Haltung zum gesellschaftlichen Leben eingenommen habe als etwa 1919. Aus unter anderem taktischen Gründen habe er 1926 zu wichtigen sozialen und politischen Fragen wie der Friedensbewegung und der Enteignung der Fürstenhäuser zumindest öffentlich geschwiegen. Positiv sei aber Barths Selbstkorrektur zur Interpretation von Rm. 9 – 11 in demselben persönlichen Gespräch zu werten, in dem er seine frühere Auffassung zur doppelten Prädestination als „zu mechanistisch“99 bezeichnet habe.
96 Ebd. 97 W.A. Hoek urteilt in derselben Zeitschrift eine Woche später kurz, dass Barth während des Kongresses ausgesprochen habe, was viele bewege; etwas Neues habe er aber nicht geben können und wollen. Das wirklich aktuelle Problem sei die Person Jesu Christi und die Jugendbewegung, die auf ihre Art und Weise mit der paulinischen Theologie beschäftigt sei, vgl. W.A. Hoek, Na den storm – Reorganisatie. Ethischen en barthianen, AWCC 2, 1926. Nr. 34, 6 f, 7. 98 Vgl. F. Kuiper, De opstanding der doden, in: F.J. de Holl/F. Kuiper, De autoriteit der bergrede/De opstanding, Assen 1928, 15 – 31. 99 AaO., 23, Anm. 1.
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Die Polarisierung der verschiedenen Rezeptionsstränge (1926 – 1933)
3.3 De Hartogs Kritik Der den Gereformierten nahestehende Systematiker De Hartog publizierte nach Barths erstem Besuch in den Niederlanden im Jahr 1926 eine Studie, die er bewusst lapidar Naar aanleiding van Barths verblijf in Nederland (Aus Anlass von Barths Aufenthalt in den Niederlanden) nannte. Wie bereits im persönlichen Gespräch mit Barth in Amsterdam betonte De Hartog noch einmal, dass er Barths Standpunkt nicht so sehr bestreiten wolle – zumal er dessen „Wahrheiten“100 entgegen Barths Einschätzung ja schon seit längerem selber vertrete –, sondern dass es ihm darum gehe, durch den Hinweis auf problematische Punkte die „theologische Orientierung“101 zu fördern. Als Auffälligkeit sei allerdings vermeldet, dass die Zielscheibe seiner Auseinandersetzungen weniger Barths Theologie selber, sondern die niederländische Debatte über Barth und insbesondere die Positionen von Noordmans (ethische reformierte Richtung) und Haitjema (konfessionelle reformierte Richtung) ist. Damit wird die Debatte um Barths Theologie noch einmal stärker zu einer innerniederländischen Auseinandersetzung verschiedener Barth-Rezipienten. Betrachtet man die De Hartog interessierenden Themen (Leserinteresse), ergibt sich folgendes Bild: Erstens sei angesichts von Noordmans’ Verteidigung der kritischen Theologie und Haitjemas Vorschlag, die dialektische und die dogmatische Methode einander gegenüberzustellen, die erkenntnistheoretische Position Barths zu kritisieren. So sei die von Noordmans profilierte Einsicht, dass Barths Rede vom unbekannten Gott an der Grenze der Kritik zu dem Zeugnis umschlage, dass nicht der Mensch Gott, sondern Gott den Menschen erkenne, anhand einer alternativen Interpretation des zugrundeliegenden Bibelzitats in Gal. 4, 9 zu widersprechen und der „Einseitigkeit“102 des Barthschen Standpunktes eine „Vielseitigkeit“103 gegenüberzustellen. Entsprechend sei auch Noordmans’ These von der gerade bei großmöglichem Abstand zwischen Gott und Mensch gegebenen intimsten Vereinigung zu widersprechen. Denn in dem von ihm, De Hartog, vertretenen realistischchristlichen Verständnis korrespondierten menschliche Erkenntnis Gottes und menschliches Erkannt-Werden miteinander. Entsprechend sei auch die bei Noordmans implizierte Abwertung der Ethik, der Kultur, der Persönlichkeit und der Mystik im Rahmen der christlich-realistischen, „stufenweise“104 angelegten Gotteserkenntnis nicht zu billigen. Im christlichen Realismus gehe man nämlich von hierarchisch angeordneten „Seins- und Er100 101 102 103 104
De Hartog, Naar aanleiding, 8.33.38. AaO., 5. Ebd. Ebd. AaO., 6.
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De Hartogs Kritik
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kenntnisstufen“105 etwa der Natur und der Kultur aus, die als Schöpfungsoffenbarungen jeweils ihren eigenen Wert hätten. Das zweite De Hartog interessierende Thema ist die Verhältnisbestimmung zwischen Theologie und Philosophie. Der menschlichen Aktivität sei anders als bei Barth viel Raum zu gewähren. Während die Theologie sich seines Erachtens vorzugsweise „auf Gott, den Ursprung des Alls in seiner selbstmitteilenden Offenbarung nach Wort und Geist“106 richten solle, habe sich die Philosophie auf das „Allgeschehen als solche[s]“107 zu richten, das aber eine Erforschung der Offenbarung „in anderer Sphäre“108 impliziere. Menschliche Gotteserkenntnis sei nur da möglich, wo ein Mensch wiedergeboren werde. Der (neocalvinistischen) Unterscheidung zwischen einer allgemeinen Offenbarung, die sich auf den natürlichen Menschen beziehe, und einer besonderen Offenbarung, die sich auf die wiedergeborenen Menschen beziehe, sei zuzustimmen. Das dritte De Hartog interessierende Thema bezieht sich anlässlich von Haitjemas Gegenüberstellung der dialektischen und der dogmatischen Methode auf die Methodenfrage bei Barth. Haitjema ordne ja nicht nur die wichtigsten neocalvinistischen Theologen Bavinck und Kuyper, sondern auch ihn selber, De Hartog, bei der dogmatischen Methode ein. Entsprechend falle darum auch seine, De Hartogs, Kritik an der dialektischen Methode aus: Er selber vertrete erstens eine sehr viel breitere – nämlich allvermittelnde – Wortund Schriftauffassung als die Theologie des Wortes. Das Wort Gottes sei nach dem zweiten Artikel des Niederländischen Glaubensbekenntnisses eben nicht ausschließlich in der Schrift zu suchen, sondern zunächst in der Schöpfung beziehungsweise in der Natur. So gesehen bezeugten auch andere Wissenschaften wie etwa die Philosophie das Wort Gottes; Tromps Auffassung, dass erst Barth den Zusammenhang zwischen Philosophie und Theologie näher durchdacht habe, sei abzulehnen. Zudem gehörten von der Schrift her gesehen – man denke etwa an Joh. 5, 38 und 15, 20 – eine Theologie des Ortes und menschliche Erfahrungen zusammen. Von einer derartig allseitigen Wortauffassung her müsse man weiterhin die in der dialektischen Theologie so beliebten Ausdrücke wie „Paradox“, „dialektisch“ und „Kategorie“ hinterfragen. Nach Matth. 13, 35 habe nämlich der neue Bund das Verborgene bereits ans Licht gebracht und man könne Noordmans’ These, dass Gottes Gedanken nicht die Maske, sondern das Verborgene des Menschen träfen, nur mit dem Zusatz zustimmen, dass dieses Verborgene durch einen Neuanfang in Christus keimhaft geweckt worden sei. Auch Noordmans’ These von der Neuprädikation sei zu kritisieren und durch den Begriff der Neu-Schöpfung zu ergänzen: Zwar habe man die Heiligkeit Gottes und Gottes Nein an die erste 105 106 107 108
Ebd. AaO., 31. Ebd. Ebd.
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Die Polarisierung der verschiedenen Rezeptionsstränge (1926 – 1933)
Stelle zu setzen109, man müsse aber zugleich bedenken, dass nach 2Kor. 1, 20 dieses Nein in ein nicht erst eschatologisches Ja umschlage. Es gehe also nicht nur um die Distanz zwischen Gott und Mensch, sondern um einen von Konstanz geprägten Prozess des Näherkommens, bei dem die dialektischpolare Verhältnisbestimmung durch eine dialektisch-keimhafte zu ergänzen sei. Anstatt sich auf die Bewusstseinsphilosophie des Neokantianismus zu berufen, solle man sich besser wieder dem christlichen Realismus zuwenden, der die Fleischwerdung des Wortes ernst nehme und das Wort nicht auf halbem Wege vom Geist trenne. Auch was Barth in Amsterdam110 den heimlichen Existenzgrund der Kirche nannte, müsse im Sinne des christlichen Realismus als der Seinsgrund des Menschen im von Gott vollzogenen Allprozess interpretiert werden, also im Sinne eines Strebens nach Gestalt und Verwirklichung von Humanität. Die angeblich erst von Barth entdeckten „,Parolen‘“111 wie „[b]ewegter Gott, göttliches Nein, Auferstehung der Toten, die vertikale Linie“112 seien also zu begrüßen, müssten aber noch „allseitig“113 interpretiert werden. Andernfalls laufe nicht er, De Hartog, sondern Barth Gefahr, Theologie und Philosophie zu identifizieren. Betrachtet man diese drei von De Hartog ausgewählten Themen unter dem Aspekt der Lesermotivation, so ist De Hartogs aufklärend gemeintes Anliegen zu nennen, das niederländische Publikum auf die Gefahren anderer niederländischer Barth-Rezeptionen hinzuweisen. Dieser Anspruch geht mit dem insbesondere auch bei anderen Barth-Rezipienten neocalvinistischer Couleur bereits beobachteten Wunsch einher, Barths Theologie für eigene Zwecke zu vereinnahmen. In diesem Falle handelt es sich speziell um den Versuch, Barths Theologie innerhalb des eigenen christlichen Realismus zu deuten und zu rekontextualisieren.
3.4 Kritik von neocalvinistischer Seite: Das Beispiel Klaas Schilder Die Kritik aus auch explizit gereformierten Kreisen nahm nach Barths erstem Besuch in den Niederlanden in starkem Masse sowohl qualitativ als auch quantitativ zu. Sie entzündete sich wie auch schon bei De Hartog oftmals nicht 109 Tatsächlich setzt Barth etwa in der Tambacher Rede ein großes Ja Gottes durchaus an die erste Stelle. 110 Gemeint ist offensichtlich der oben behandelte Vortrag Die Kirche und die Kultur. Barth sagte dort, dass die Kirche durchaus Kulturarbeit betreibe, dass ihr heimlicher Existenzgrund aber im Schwimmen dagegen und darüber bestehe, also in einer Kulturkritik, die ihrerseits aufgrund des verhüllenden Charakters des Glaubens als heimlich zu bezeichnen sei, vgl. Barth, Die Kirche, 35. 111 AaO., 33. 112 Ebd. 113 Ebd.
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Kritik von neocalvinistischer Seite
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so sehr an Barths Theologie selber, sondern an den niederländischen BarthRezeptionen anderer kirchlicher Richtungen, wobei die Diskussionen im Laufe der späten 20er Jahre immer stärker mit dem konfessionell reformierten Haitjema geführt wurden. Die Zunahme der Kritik lässt sich unter anderem damit erklären, dass, wie George Harinck114 bereits gezeigt hat, ab 1926 die niederländischen Diskussionen um Barths Theologie insbesondere in gereformierten Kreisen mit dem so genannten Geelkerkenkonflikt115 in Zusammenhang gebracht wurden. Die mit diesem Hinweis verbundene Intention, die Schuld an dem sich verschlechternden theologischen Verhältnis zwischen Barth und den Gereformierten der anti-gereformierten Position Haitjemas und anderer im Geelkerkenkonflikt zu geben, musste jedoch in Kapitel 2 dieser Studie insofern nuanciert werden, als die gereformierten Kritikpunkte an Barth ja bereits von Anfang an, jedenfalls deutlich schon vor dem Geelkerkenkonflikt und deutlich vor dem Barthbuch Haitjemas geäußert worden waren. Darauf weist nun im Laufe der Auseinandersetzungen in den späten 20er Jahren auch Klaas Schilder des Öfteren hin! Der These Harincks, dass die zunehmenden Spannungen zwischen den gereformierten und den niederländischen „Barthianern“ vom Geelkerkenkonflikt herrührten, ist darum noch einmal nachdrücklich zu widersprechen. Dieses Kapitel macht insgesamt deutlich, dass vielmehr bereits bestehende theologische Differenzen aufgrund der intensiveren Auseinandersetzung immer deutlicher wahrgenommen und ausgesprochen werden konnten. Die folgenden Auseinandersetzungen um die Theologie Karl Barths stehen so immer deutlicher im Zeichen der Bewusstwerdung des Unterschieds zwischen Reformierten und Gereformierten. Schilder entwickelte sich im Laufe der späten 20er Jahre zu einem der schärfsten und hartnäckigsten niederländischen Kritiker der Theologie Barths. War seine Kritik vor Barths erstem Besuch in den Niederlande noch gemäßigt zu nennen und von geringem Umfang, wird sie dannach zunehmend schärfer und nimmt an Umfang zu. 1926 publizierte Schilder in der neocalvinistischen Wochenzeitschrift De Reformatie aufeinanderfolgend fünf zusammenhängende Beiträge116, die dann noch einmal in seinem 1927 publizierten Buch Bij dichters en schriftgeleerden (Bei Dichtern und Schriftgelehrten)117 aufgenommen wurden. Wie bei De Hartog war das Ziel dieser Beiträge, vor den Gefahren der Theologie Barths zu warnen (Lesermotivation). Der wichtigste Gesprächspartner war dabei Haitjema. Damit war der Konflikt zwischen der Barth114 Vgl. Harinck, The Early Reception, 170 – 187. 115 Im Jahr 1926 beschloss die Synode von Assen, den gereformierten Pfarrer Geelkerken vom Amt auszuschließen, da er behauptete, dass die Schlange im Paradies nicht wirklich – im historischen Sinne – gesprochen habe (vgl. auch die Einleitung dieser Studie). 116 Vgl. K. Schilder, Het paradox in de religie I – V, Re 7, 1926, Nr. 6, 41 – 42.7, 1926, Nr. 7, 49 – 50. 7, 1926, Nr. 8, 57 – 59.7, 1926, Nr. 9, 65 – 66.7, 1926, Nr. 10, 73 – 75. 117 K. Schilder, Bij dichters en schriftgeleerden, Amsterdam 1927.
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Rezeption Haitjemas und den gereformierten Barth-Rezeptionen endgültig in der Welt und wurde eine zunehmende Polarisierung zwischen eher interessierten Barth-Rezipienten mit vorwiegend reformiertem Hintergrund und eher ablehnenden Barth-Rezipienten mit vorwiegend gerefomierten Hintergrund noch einmal verstärkt! Im Folgenden sollen die wichtigsten Kritikpunkte Schilders und damit sein Leserinteresse zusammengestellt werden: Sehr grundlegend ist für Schilder die Kritik der seines Erachtens auch in der niederländischen Theologie118 anzutreffenden Denkform des Paradoxes. Diese sei eine allgemeine Modeerscheinung, der auch Barth als ein Kind seiner Zeit folge. Nach Haitjema sei unter einer paradoxalen Denkform eine mit dem Identitätsprinzip brechende Argumentationsform (A=B) zu verstehen, bei der das übliche rationale, im Sinne eines „,entweder-oder‘“119 funktionierende durch ein irrationales „,Sowohl-Als-Auch‘“120-Denken ersetzt werde. Versuche wie der Haitjemas, diesem irrationalen Denken einen Ort in der reformierten Tradition oder in der Schrift zu geben, seien abzulehnen. Auch die Verhältnisbestimmung zwischen Geschichte beziehungsweise Vernunft und Offenbarung mache den Unterschied zwischen kritischer Theologie und ge/reformierter Tradition deutlich. Gehe man in der ge/reformierten Tradition von der Geschichtlichkeit der Offenbarung und einem kausalen Verhältnis mit der Offenbarung aus, beschreibe Haitjema als Vertreter der kritischen Theologie dieses Verhältnis mittels eines „Dennoch“121. Dabei betone Barth122 gegenüber der Immanenz die Transzendenz Gottes und übersehe das größte Paradox, dass Gott nämlich sowohl transzendent als auch immanent sei. Indem Barth den Ort der Offenbarung auf den Schnittpunkt der Horizontalen mit der Vertikalen reduziere, erweise sich seine Theologie als „Ketzerei“123 und „Hybris“124. Ähnlich brisant verhalte es sich mit der Verhältnisbestimmung zwischen Vernunft und Offenbarung: Während der Ge/ reformierte die Evidenz der Offenbarung unterstelle, ordne die kritische Theologie die Vernunft vor und verstehe die Offenbarung trotz gegenteiliger Behauptungen nicht von ihrem eigenen Wesen, sondern von einem menschlichen Standpunkt her. Der kritischen Theologie sei also zunächst ihr „subjektivistische[r] Ausgangspunkt“125 vorzuwerfen. Sodann sei auf ihre Wehrlosigkeit gegenüber
118 Schilder nennt unter anderem den ethischen Theologen Pierre D. Chantepie de la Saussaye und den gereformierten Theologen Johannes C. Sikkel; vgl. K. Schilder, Het paradox I, 41. 119 AaO., 42. 120 AaO., 41. 121 Schilder, Het paradox II, 50. 122 Gemeint ist selbstverständlich Barths Römerbrieftheologie. 123 Schilder, Het paradox III, 58. 124 Ebd. 125 Schilder, Het paradox IV, 65.
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Nach Barths zweitem Besuch in den Niederlanden
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einer „Verschmelzung aller Religionen“126, insbesondere des Christentums mit dem Buddhismus, zu weisen, die sich als Gleichberechtigung zwischen dem Wort und dem Schweigen manifestiere. Da Vernunft und Offenbarung sich lediglich an einem Schnittpunkt berührten, könne von einem Sieg des Logos nicht gesprochen werden. In der ge/reformierten Tradition gehe man hingegen davon aus, dass das Wort „Gott erklär[e], […] von Gott ,Exegese‘ gegeben“127 habe. Des Weiteren sei Barths vom Kritizismus Kants beeinflusster Theologie schließlich vorzuwerfen, dass sie mit ihrem paradoxalen Wahrheitsbegriff Theologie zu Philosophie mache. Indem Barth die objektive Ungewissheit zum Wesen des Glaubens erkläre, betreibe er faktisch Religionsphilosophie, und indem er Glauben und Wissen voneinander trenne, leiste er trotz der behaupteten Vorordnung der Offenbarung mit der These vom incognito Gottes einem Agnostizismus Vorschub. Der als misslungen zu bezeichnende Versuch Barths, die Theologie aus den Klauen des Rationalismus zu reißen, führe zum „Deismus“128 – so Schilder in seinem letzten Beitrag. Die ge/reformierte Tradition gehe hingegen von der „Evidenz der Offenbarung“ und einer nicht-widersprüchlichen Einfältigkeit Gottes aus und glaube nicht an die Irrationalität und Zweiheit der kritischen Theologie. Schließlich und endlich müsse auch festgehalten werden, dass die ge/reformierte Tradition gegenüber einem abrupten Sprechen der Offenbarung von einem „,organisch [en]‘“129 Sprechen ausgehe: Die Offenbarung passe sich einerseits an die historische Umgebung an und wirke in ihr andererseits reformierend.
3.5 Nach Barths zweitem Besuch in den Niederlanden Vom 29.3.–2. 4. 1927 reiste Barth zum zweiten Mal in die Niederlande, wo er an den Universitäten von Utrecht und Leiden zum einen den zuvor bereits auf einer Studentenkonferenz in Aarau gehaltenen Vortrag Das Halten der Gebote130 und zum anderen den Vortrag Rechtfertigung und Heiligung131 wiederholte. Laut einem Brief vom 7. 4. 1927 an den Freund Eduard Thurneysen132 war sein Gastgeber der Leidener Kirchenhistoriker Albert Eekhof133, der ja einer der ersten niederländischen Rezensenten des Römerbriefs überhaupt 126 127 128 129 130
Ebd. AaO., 66. Schilder, Het paradox V, 73. AaO., 67. Vgl. K. Barth, Das Halten der Gebote, ZZ 5, 1927, 206 – 227; vgl. den Wiederabdruck in: Theologische Fragen und Antworten. Gesammelte Vorträge III, Zollikon 1957, 32 – 53. 131 Vgl. K. Barth, Rechtfertigung und Heiligung, ZZ 5, 1927, 281 – 309. 132 Vgl. K. Barth an E. Thurneysen, Brief v. 7. 4. 1927, in: K. Barth – E. Thurneysen, Briefwechsel 2, 489 – 493. 133 Vgl. Kap. 2 dieser Studie.
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Die Polarisierung der verschiedenen Rezeptionsstränge (1926 – 1933)
gewesen war. In diesem Brief berichtet Barth, dass er „wider Erwarten sehr gute Tage“134 gehabt und die dortige „Offenheit“135 genossen habe, wobei sich „die calvinistische Vergangenheit des Landes“ wohl als eine gute „Verbindungsbrücke“136 erwies. Unterdessen ging die innerniederländische Diskussion um Karl Barths Theologie beständig weiter : Beginn der Diskussionen Wenige Tage vor Barths zweitem Besuch, nämlich am 24. 3. 1927, publizierte der Amsterdamer Pfarrer H[…] Bakker in der der konfessionellen Strömung innerhalb der Nederlandse Hervormde Kerk zuzuordnenden Wochenzeitschrift De Gereformeerde Kerk einen kurzen Artikel137, in dem er Barths Römerbrief und seinen theozentrischen Ansatz als eine Wiederbelebung von Calvins Gedanken würdigte, dass Gott alles und der Mensch nichts sei und in dem er die Reformation als „entscheidenden Schlag gegen die Phalanx Schleiermachers“138 darstellte. Der „neue Frühling“139 in der deutschen Theologie habe auch eine kritische Bedeutung für die in den Niederlanden lebendige Lehre vom wiedergeborenen Ich – die Palingenese – als Quelle theologischer Erkenntnis und für die „Aufweichung der Grenzen zwischen Orthodoxie und Modernismus“140, wie sie derzeit in der jung-ethischen Bewegung141 zu beobachten sei. Bakker zeigt damit nicht nur sehr genau auf, was in der Diskussion auf dem Spiel steht, nämlich das Verhältnis zur Moderne, er benennt auch prägnant die beiden Themen, die im orthodoxen Spektrum niederländischer Barth-Rezeptionen zunehmend an Bedeutung gewinnen werden, nämlich die Calvininterpretation und die Lehre von der Wiedergeburt (Leserinteresse). Beide Themen dienten als Zündstoff für zwei länger andauernde Diskussionsstränge, nämlich zum einen für eine Diskussion zwischen dem konfessionellreformierten Theodorus L. Haitjema und dem gereformierten Ansichten nahestehenden Einzelgänger Arnold H. de Hartog, und zum anderen für eine Diskussion zwischen demselben Theodorus L. Haitjema und dem gereformierten Klaas Schilder. Am 7. 4. 1927 – Barth war inzwischen wieder abgereist – reagierte zunächst De Hartog142 auf Bakkers Notiz, ebenfalls in De Gereformeerde Kerk: Unabhängig von Barths eigenen Ansichten falle auf, dass jedenfalls seine Anhänger gerne von der Unbekanntheit Gottes redeten. Dies sei als Gefahr zu werten, 134 135 136 137 138 139 140 141 142
Vgl. Barth, Brief v. 7. 4. 1927, in: K. Barth – E. Thurneysen, Briefwechsel 2, 490. Ebd. AaO., 491. H. Bakker, God de eer, ook in de theologie, GK 39, 1927, 2007. Ebd. Ebd. Ebd. Eine Erneuerungsbewegung im Mittelfeld der reformierten Kirche. A.H. de Hartog, De theologie van Barth. Aan ds. H. Bakker, GK 39, 1927, 2009.
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Nach Barths zweitem Besuch in den Niederlanden
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zumal Gott sich nach biblischem Zeugnis den Seinen ja auch bekannt mache. Die Rede vom unbekannten Gott bedrohe die „Fülle des Wortes“143, die genau wie die Fülle des Bekenntnisses gleichermaßen Herz, Willen („ethisch“144) und Mund („konfessionell“145) umfasse. Noch in derselben Ausgabe reagierte Bakker146 ausführlich und verteidigte seine Auffassung, dass sowohl Barth als auch seine Anhänger für die Ehre Gottes aufkämen. Der eigentliche Einwand De Hartogs betreffe einen erkenntnistheoretischen Meinungsunterschied: Im Gegensatz zu De Hartog meine Barth nicht den religiösen Menschen, sondern den sich offenbarenden Gott. Die Vorwürfe der Rede von der Unbekanntheit Gottes und des heimlichen Anthropozentrismus träfen weder auf Barth noch auf seine Anhänger zu. Barth gehe es nämlich darum, dass das Finden im Glauben keine Explikation menschlichen Suchens sei, sondern als „tief-religiöser Ausgangspunkt“147 ein unerklärliches Gefunden-Worden-Sein unterstelle: Der Mensch springe nicht selber über die Grenze, sondern werde hinübergezogen. Darin, dass Barth Gott voraussetze, unterscheide sich seine Unzufriedenheit von der Unzufriedenheit der niederländischen Malcontenten148, die zu einer religiösen Christusidee und nicht zum Christus der Schriften vorgedrungen sei. Zwar befinde ich auch „in Barths Gepäck ziemlich viel, das er aus seiner modernen Periode mitgenommen“149 habe, doch lasse seine Orientierung an der Schrift und sein nicht-philosophischer, sondern tief-religiöser Ausgangspunkt darauf hoffen, dass sich Barth noch entschiedener in die Richtung der reformatorischen Theologie entwickeln werde. Daraufhin griff Klaas Schilder mit einem Beitrag150 in De Reformatie in die Debatte ein. Bakker habe De Hartogs Bemerkung zur Gefahr einer Rede von der Unbekanntheit Gottes nicht überzeugend aus dem Weg räumen können. Zwar sei es „ein großes Verdienst“151 Barths, dass dieser anders als die Malcontenten mit der Theologie der Reformation sympathisiere, auch sei es ein „Genuss“152 gewesen, Barths Rede von einem objektiven göttlichen Wort gerade in Leiden153 vernehmen zu können, doch sei die eigentliche Frage De 143 144 145 146 147 148
149 150 151 152 153
Ebd. Ebd. Ebd. H. Bakker, [o.T.], GK 39, 1927, 2009. Ebd. Als prominenter Vertreter der Malcontenten wurde in dieser Studie K.H. Roessingh vorgestellt. Es handelt sich bei den Malcontenten um eine selbstkritische, mit der eigenen modernen Tradition unzufriedene Bewegung innerhalb der modernen (liberalen) niederländischen Theologie. Bakker, [o.T.], 2009. K. Schilder, Over de theologie van Karl Barth, Re 7, 1927, Nr. 29, 231. Ebd. Ebd. Leiden ist eine klassisch liberale Universität. Barth hatte dort bei seinem zweiten Besuch in den Niederlanden einen Vortrag gehalten, s. o.
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Die Polarisierung der verschiedenen Rezeptionsstränge (1926 – 1933)
Hartogs damit noch nicht beantwortet. Barth habe nämlich einen von den Gereformierten und auch von den Konfessionellen ganz unterschiedlichen Begriff des objektiven Wortes. Er meine damit keinesfalls so etwas wie historische Wirklichkeit. Darum lasse sich vermuten, dass es auch große Differenzen zu Barths Auffassung der Gotteserkenntnis des religiösen – und nicht nur des natürlichen – Menschen gebe. Am 21. 4. 1927 reagierte auch De Hartog kurz154 auf Bakkers Beitrag, wiederum in De Gereformeerde Kerk. Die Rede von der Unbekanntheit Gottes stelle eine theologische Gefahr dar. Bereits Noordmans habe festgestellt, dass die Schrift (vgl. Gal. 4, 9) sowohl die menschliche Gotteserkenntnis als auch das Erkannt-Werden durch Gott kenne. Das von Barth vertretene menschliche Nicht-Kennen Gottes sei nach 1.Kor. 2, 14 als Gotteserkenntnis des natürlichen Menschen anzusehen. Barths Erkenntnistheorie sei folglich nur die halbe Wahrheit. Noch in derselben Ausgabe vom 21. 4. 1927 griff anstelle des durch seine Arbeit als Pfarrer zu stark beanspruchten Bakker nun Theodorus L. Haitjema155 persönlich in die Debatte ein. Er habe kürzlich156 auf das Phänomen der immer umfangreicher werdenden Literatur zur so genannten Theologie der Krise hingewiesen und noch einmal Barths wohl wichtigste Erkenntnis hervorgehoben, dass nämlich beim theologischen Erkennen alle Erkenntnis als auf das gläubig-erkennende Subjekt bezogene Erkenntnis zu betrachten sei und es Barth also unmöglich sei, „in abstracto (sozusagen objektiv) über Sünde, Christus, Heilstatsachen, diese Welt zu sprechen“157. De Hartogs allseitiger Interpretation des Zitats aus dem Brief an die Galater sei keinesfalls zuzustimmen. Der in Gal. 4, 9 vorkommende Ausdruck „viel mehr“ durch Gott erkannt werden sei besser mit „oder richtiger gesagt“158 zu übersetzen. Insgesamt dürfe man weder schematisch bei der menschlichen Gotteserkenntnis noch beim Erkannt-Werden des Menschen durch Gott stehen bleiben. Da jede menschliche Gotteserkenntnis den Glauben voraussetze, setze sie eben auch ein Erkannt-Werden durch Gott voraus. Der gläubige Mensch sei im Neuen Testament immer auch der ungläubige Mensch. De Hartogs Realismus sei insofern zu korrigieren, als es bei der Wiedergeburt um eine „Glaubenswahrheit“159 und nicht um „biologisch-organische Wirklichkeit“160 gehe.
154 A.H. de Hartog, Godskennis. Aan ds. H. Bakker, GK 39, 1927, 2011. 155 Th. L. Haitjema, Prof. de Hartog en de theologie van Barth, GK 39, 1927, 2011. 156 Haitjema verweist auf: Th. L. Haitjema, Tijd en eeuwigheid. In verband met de jongste aanvallen op de „dialectische theologie“, NthS 10, 1927, Nr. 9, 180 – 192. 157 AaO., 190. 158 Also: Nachdem Ihr Gott erkannt habt oder, richtiger gesagt, von Gott erkannt worden seid. 159 Haitjema, Prof. de Hartog en de theologie van Barth, 2009. 160 Ebd.
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Die Diskussion zwischen Haitjema und Schilder
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3.6 Die Diskussion zwischen Haitjema und Schilder Unterdessen hatte Klaas Schilder in De Reformatie ebenfalls einen Beitrag161 veröffentlicht, in dem er vor dem modischen Reden über eine Theologie der Krise warnte. Seine frühere Kritik an einer Theologie des Paradoxes sei noch einmal zu verschärfen, da „Barthianismen“162 wie „Paradox, Krisis, Polarität [und] Spannung“163 gerade auch bei der jüngeren Generation im In- und Ausland und selbst bei Gereformierten weit verbreitet seien. Zu denken sei etwa an die Rede von der Kirche als einem „,Haus von dieser Welt‘“164. Die großen theologischen Erkenntnisse Barths, so Schilder weiter, seien die Antithese von Zeit und Ewigkeit und die eschatologische Ausrichtung seiner Theologie. Der antithetische Grundgedanke impliziere, dass Gott seine totale Andersheit auch gegenüber „uns frommen, kirchlichen, bekennenden Menschen“165 erweise und dass man auch die Kirche weltlich betrachten könne. Der eschatologisch inspirierte Krisisgedanke Barths beziehe sich selbst auf die Kirchengeschichte als eine „Vergegenständlichung und Vermenschlichung dessen was Gott [sei]“166 und auf die Heilsgeschichte als „durchlaufende Kritik aller Geschichte“167. Barths „Bewusstsein von einem ungebrochenen Streit zwischen Fleisch und Geist“168 könne man nicht nur als „verständlich“169, sondern auch als „schön“170 und selbst als „biblisch“171 bezeichnen. Auch die Betonung des individuellen unmittelbaren Gottesverhältnisses sei sicherlich nicht verkehrt. Doch, so Schilders deutliche Abweisung am Schluss, diese „Krisisgründe“172 seien nun einmal „unreformiert“. Etwas „in die Krisis“173 bringen zu wollen komme ihm vor wie eine Flucht „aus der Krise“174 und vor dem Urteil. Barth, so die Botschaft Schilders, mache sich selber des Hochmuts schuldig, den er anderen bescheinige. Schilders Versuche, das Verhältnis zwischen Barth und den Gereformierten treffend zu beschreiben, schwankten also zwischen einer ausführlichen Würdigung und einem ebenso ausführlichen zunehmenden Befremden. Die 161 162 163 164 165 166 167 168 169 170 171 172 173 174
K. Schilder, In de crisis II, Re 7, 1927, Nr. 52, 379 f. AaO., 379. Ebd. Ebd.; Schilder zitiert einen Ausdruck von L. Cordier, Evangelische Jugendkunde, Bd. 1, Schwerin 1925. Schilder, In de crisis II, 380. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
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Die Polarisierung der verschiedenen Rezeptionsstränge (1926 – 1933)
bereits von Anfang an anzutreffende ambivalente Stimmung innerhalb der gereformierten Kreise setzte sich fort und ist damit auch nach der Synode von Assen175 anzutreffen. Die These George Harincks176, dass die zunehmende Negativität der (pro Assen eingestellten) gereformierten Barth-Rezeption dem Assen-Kritiker Theodorus L. Haitjema anzulasten sei, ja dass diese Synode das schlechte Verhältnis der Gereformierten zu Barth erkläre, wird von daher noch einmal widerlegt. Vielmehr sind für das Befremden und die schärfer werdende Kritik der Gereformierten von Anfang an inhaltliche Gründe ausschlaggebend, die man zunehmend schärfer und pointierter zu formulieren im Stande war. Nicht nur Schilder, auch Haitjema setzte seine Auseinandersetzung mit Barths Theologie fort. 1927 publizierte er einen Artikel177, in dem er die damals populäre Als-Ob-Philosophie Hans Vaihingers behandelte, die Wahrheit als einen zweckmäßigen Irrtum betrachtete. Theologisch interessant sei Vaihingers Vorschlag, auch die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft als subjektive Fiktion oder Illusion zu betrachten, die paradoxaler Art sei. Diese Paradoxenlehre müsse nur noch „um einen Schlag“178 gewendet werden und man erhalte eine Theologie des „,Trotzdem‘“179. Schilder, der Barth weiterhin von einem explizit reformierten Standpunkt her zu kritisieren und sich auf das Paradox nicht einzulassen wünscht und der inzwischen Barth und Haitjema nahezu identifizierte, reagierte anklagend in De Reformatie: „Haitjema-Barth“180 ziehe offensichtlich die (paradoxale) Vernunft der doch evidenten Offenbarung vor. Haitjema antwortete mit einem Beitrag über die Evidenz der Offenbarung181 in der konfessionell ausgerichteten Zeitschrift Onder eigen vaandel182, in dem er seinerseits versuchte, dem Unterschied zu den Gereformierten auf die Spur zu kommen. Die die Evidenz der Offenbarung verteidigende Position der Gerefomierten bezeichnete er dabei als „Assener Neo-Calvinismus“183 und als „deutliches Symptom der rationalistischen Gesinnung“184 der zeitgenössischen Neocalvinisten, die eine Verflachung der ursprünglichen Thesen neocalvinistischer Theologen wie Kuyper und Bavinck darstelle. Die Selbstoffenbarung Gottes werde „syllogistisch“185 aus der Einfältigkeit Gottes abge175 Vgl. Kap. 1 und 2 dieser Studie. 176 Vgl. Kap. 2 dieser Studie. 177 Th.L. Haitjema, Philosophie van ’t „alsof“ en theologie van ’t „nochthans“, NthS 10, 1927, 257 – 269. 178 AaO., 267. 179 AaO., 269. 180 K. Schilder, „Alsof“ of „nochthans“?, Re 8, 1927, Nr. 10, 73 f, 74. 181 Th.L. Haitjema, De „klaarblijkelijkheid“ der openbaring, OEV 3, 1928, 49 – 154. 182 Diese Zeitschrift berichtete bereits ab 1926 des Öfteren über Karl Barth und publizierte auch die ersten drei Kapitel von Haitjemas 1926 erschienenem Barthbuch (vgl. Kap. 2 dieser Studie). 183 Haitjema, De „klaarblijkelijkheid“, 49. 184 AaO., 52. 185 Ebd.
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Die Diskussion zwischen Haitjema und Schilder
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leitet, so dass Offenbarung praktisch als „Mitteilung von Erkenntnis“186 oder „belehrender Unterricht“187 aufgefasst werde. Da auch Barth von einer Evidenz der Offenbarung spreche, sei der eigentliche Konflikt zwischen Schilder einerseits, Calvin, Barth und ihm selber andererseits die gereformierte Unvertrautheit mit einem glaubenskritischen Standpunkt und einer eschatologischen Auffassung des Glaubens. Bereits Roessingh habe auf den Unterschied zwischen einer (metaphysischen) Irrationalität Gottes als Objekt des Glaubens und der irrationalen Gotteserkenntnis aufmerksam gemacht. Schilder hingegen vermische beide Möglichkeiten. Ihm selber gehe es ausschließlich um das Irrationale im theologisch-erkenntnistheoretischen Sinn. Deswegen sei Schilders Vorwurf, er, Haitjema, wolle die Irrationalität Gottes mittels seines eigenen menschlichen Verstandes behaupten, unzutreffend. Im Gegensatz zu Schilder gehe es ihm um die Kritik einer „Zuschauertheologie“188, also um die Einsicht, dass der individuelle Gläubige beim Denken und Sprechen über die Offenbarung immer schon mit einbezogen sei. Hiermit hänge eine zweite Dimension des Konfliktes zusammen: Während die Neocalvinisten den „so genannten calvinistischen Königsmenschen“189 propagierten, der schon im Diesseits nach einer höheren Einheit greifen wolle und sich dabei mit einem „jubelnden Halleluja“190 auf den Lippen die göttliche Perspektive anmaße, gingen Barth und Calvin von einem eschatologischen Verständnis der Versöhnung und der Erlösung aus. Schilder reagierte mit nicht weniger als fünf aufeinanderfolgenden Leitartikeln191 in De Reformatie auf Haitjemas Analyse. Auch Schilder glaubte, dass es um mehr als nur um eine Differenz zwischen zwei Theologen oder Befürwortern und Gegnern der Assener Beschlüsse von 1926 gehe, nämlich um die wesentlichen Unterschiede zwischen „Gereformierten und Nicht-Gereformierten“192. Diese hätten auch schon vor der Assener Synode bestanden, sich „früher aber [an] anderen Fragen“193 entzündet. Es sei deswegen falsch, wenn man wie Haitjema die Assener Synode immer wieder „mit Gewalt“194 in den Konflikt einbeziehe. Schilder bestätigt also die auch in dieser Studie vertretene Auffassung, dass der Konflikt viel ursprünglicher ist als das, was sich anhand der Synode zu Assen entzündete. Aus gereformierter, die simplicitas Gottes betonender Sichtweise sei gegenüber Barth sowohl die Immanenz als auch die Transzendenz Gottes zu betonen. Barth habe ein anderes Verständnis des 186 187 188 189 190 191
AaO., 53. Ebd. AaO., 55. AaO., 56. Ebd. K. Schilder, Een antwoord van prof. Haitjema I – V, Re 8, 1928, Nr. 18, 135 – 137.8, 1928, Nr. 19, 143 – 144.8, 1928, Nr. 20, 151 – 152.8, 1928, Nr. 21, 159 – 160.8, 1928, Nr. 22, 167 – 169. 192 Ders., Antwoord I, 135. 193 Ebd. 194 Ebd.
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Die Polarisierung der verschiedenen Rezeptionsstränge (1926 – 1933)
„Effekt[s] der Offenbarung“195, indem er nicht zwischen dem „natürliche[n] und de[m] geistige[n] Menschen im historischen Prozess von Widergeburt, Glaubenserkenntnis und durchgängiger Erleuchtung durch den Geist“196 unterscheide. Ebenfalls uncalvinistisch sei Barths Zurückweisung der Möglichkeit, Gott besitzen zu können. Haitjema reagierte197 1930 ein letztes Mal in Nieuwe theologische studieÚn auf die Vorwürfe, indem er wiederum die Übereinstimmungen einer paradoxalen Denkform mit der glaubenskritischen dialektischen Methode nachwies und die Meinung vertrat, dass die paradoxale Denkform bereits bei Calvin angelegt sei. Das Wörtchen dia in dem Wort Dialektik könne nämlich einerseits „hin-durch, bis zum Grund“198 und andererseits „zwischen“199 bedeuten. Im ersten Fall werde ein Dialogprozess bezeichnet, im zweiten Fall ein den qualitativen Unterschied respektierender Dialog, wobei die unanschauliche Wahrheit nur „in der höheren Mitte […] im großen Augenblick von Gottes gegenwärtigem Sprechen“200 anwesend sei, wenn der Heilige Geist zugleich Sprecher und Hörer der Offenbarung sei. Auch Calvin sei als ein Denker des Paradoxes zu bezeichnen, da er im Grunde nur die eine Frage und Antwort thematisiere, nämlich die Frage des sündigen Menschen und die unverfügbare Heilsantwort Gottes. Gegen Schilders Vorwurf der Verwechslung des natürlichen mit dem wiedergeborenen Menschen sei einzuwenden, dass Calvin diesen Gegensatz so nicht kenne. Anders als in der neocalvinistischen Denkweise – Haitjema bezeichnet sie als „eigenartige[…] pietistische Form des Humanismus“201 – betrachte Calvin nicht den wiedergeborenen Menschen, sondern den Heiligen Geist als das Subjekt der Glaubenserkenntnis. Wirklich fatal und absolut nicht im Sinne Calvins sei aber erst Schilders Auffassung, dass die Glaubensgewissheit menschlicherseits verfügbar statt göttlicherseits ermöglichbar sei. Abschließend kann festgehalten werden, dass sich in der hier nachgezeichneten Auseinandersetzung Haitjemas und Schilders zwischen 1927 und 1930 im Vergleich zum Zeitraum zwischen 1919 und 1926 eine Themenverschiebung ergeben hat: Die Themen Calvin-Interpretation und Wiedergeburt beziehungsweise die prozesshafte Auffassung des Glaubens in der neocalvinistischen Tradition erweisen sich immer deutlicher als Achse, entlang derer sich innerhalb des insgesamt eher orthodoxen Spektrums der niederländischen Barth-Rezipienten die Wege zwischen Reformierten und Gereformierten trennen.
195 196 197 198 199 200 201
Ders., Antwoord V, 168. Ebd. Th.L. Haitjema, Bedenkelijke Calvijn-interpretatie, NthS 12, 1930, 105 – 118. AaO., 106. Ebd. AaO., 107. AaO., 108.
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Das Beispiel Valentijn Hepp
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3.7 Weitere Kritik von neocalvinistischer Seite: Das Beispiel Valentijn Hepp Unterdessen publizierte auch Valentijn Hepp, gereformierter Dogmatiker der Freien Universität in Amsterdam, zwischen 1928 und 1929 in De Reformatie eine Reihe von Beiträgen zum Verhältnis zwischen Karl Barth und der gereformierten Tradition. Gehe man in der gereformierten Tradition von der „Klarheit“202 der Schrift aus, werde man diesbezüglich bei Barth in die Irre geleitet, wie seine Christliche Dogmatik zeige. Barth bewege sich auf „subjektivistischem Boden“203 und betrachte die Schrift nicht so sehr als Gottes Wort, sondern als „Mittel des Wortes Gottes“204. Obwohl er von der Einheit der Schrift ausgehe, verkündige er auch deren Fehlbarkeit. Zudem unterscheide er zwischen dem Wort Gottes als solchem und der Bibel selber, was für das gereformierte inspirierte Schriftverständnis ein Ding der Unmöglichkeit sei. Wie ein Vermittlungstheologe gehe Barth von der Dualität zwischen Menschen- und Gotteswort aus, ziehe aber die Grenze zwischen beiden anders als die Vermittlungstheologen, indem er nämlich die ganze Schrift als Menschenwort betrachte, durch die das göttliche Wort hindurchklinge. Letztlich bestimme bei Barth der individuelle Christ selber, was Menschen- und was Gotteswort sei, weswegen seine Rede von der durch das Wort Gottes herbeigeführten Krise letztendlich nur eine „Selbstkrise“205 des Menschen sei. Barth leugne den gerefomierten Ausgangspunkt der Klarheit der Offenbarung schließlich nicht nur, sondern widerspreche ihm sogar mit seiner Rede von der Verhüllung der Offenbarung. Ein zweiter Beitrag Hepps206 bezog sich auf die von Haitjema auf Barth angewandte und von Barth im Vorwort der Christlichen Dogmatik zurückgewiesene Bezeichnung Prophet. Haitjemas „Überschätzung“207 von Barth müsse ehrlicherweise zum Widerruf eines Großteils seiner Barthstudien führen. Barth selber trage ebenfalls Schuld an der Fehleinschätzung – so Hepp208 eine Woche später. Denn er habe den Römerbrief ja trotz verändertem Standpunkt immer weiter drucken lassen. Ungereimtheiten fänden sich auch in der Christlichen Dogmatik: So trete Barth im Haupttext selbstsicher, gar „autoritär“209 auf, während er im Vorwort eine Anfängerhaltung zur Schau stelle. Logisch wäre es für einen selbststilisierten Anfänger sowieso, überhaupt nicht zu publizieren. 202 203 204 205 206 207 208 209
V. Hepp, De duidelijkheid der Heilige Schrift, Re 9, 1928, Nr. 3, 17 f, 17. AaO., 18. Ebd. Ebd. Ders., De klacht van Barth, Re 9, 1929, Nr. 36, 277. Ebd. Ders., Wil Barth gereformeerd zijn?, Re 9, 1929, Nr. 37, 285 f. AaO., 285.
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Die Polarisierung der verschiedenen Rezeptionsstränge (1926 – 1933)
Die eigentliche Frage sei jedoch, ob Barth sich selber als im weitesten Sinne des Wortes ge/reformiert bezeichnen würde. Dies sei angesichts seines Verhältnisses zum Artikel 36210 des Niederländischen Glaubensbekenntnisses und angesichts seines Kirchenverständnisses offensichtlich nicht der Fall. Etwas weniger eindeutig verhalte es sich mit Barths Verhältnis zu den reformierten Bekenntnisschriften im Allgemeinen; Barth gehe es nie um den Inhalt des Bekenntnisses, sondern hauptsächlich um den Bekenntnisakt als als solchen. Inhaltlich gesehen sei er noch indifferenter als die Verteidiger der (ja eher liberalen) so genannten quatenus-Position211. Statt um „Respekt“212 vor dem bestehenden Bekenntnis gehe es ihm um „Aufmerksamkeit“213 für ein zukünftig noch zu erbringendes Bekenntnis214. Barth akzeptiere selbst „die Pluralität der Kirche als eine Tatsache“215 und „darum auch die Pluriformität des Dogmas und der Dogmatik“216, heißt es vorwurfsvoll in der Fortsetzung eine Woche später. Ge/reformiert sein bedeute bei Barth nur eine bestimmte Form und habe nichts mit einem bestimmten Inhalt zu tun. Und da für Barth ge/reformiert sein etwas ganz anderes bedeute als für alle anderen, müsse die Schlussfolgerung lauten, dass Barth eben nicht ge/reformiert sei. Ebenso wenig sei Barth trotz aller historischen Calvin-Zitate ein Calvinist zu nennen, jedenfalls wenn man unter Calvinismus die (neo-)calvinistische Bewegung des 19. und 20. Jahrhunderts verstehe. Indem Barth unter anderem selbst mythologischen Figuren wie Herkules zutraue, eine Offenbarung empfangen zu können, hinterfrage er die Notwendigkeit der Heiligen Schrift und wende sich bewusst gegen Calvin. Von dessen Wahrheiten weiche er grundlegend ab, heißt es217 wiederum eine Woche später. So kritisiere er im Römerbrief Calvins Erwählungslehre, entwickele in der Christlichen Dogmatik eine abweichende Schriftauffassung und erweise seine Unkenntnis des historischen Calvinismus, indem er das Aufkommen des Neocalvinismus noch nicht einmal erwähne geschweige denn Anschluss daran suche. Schon allein, weil Barth sich von der Tradition befreien wolle, der Calvinismus aber nun einmal von der Führung des Heiligen Geistes in der Geschichte ausgehe, könne er nicht Calvinist genannt werden und auch niemals ein solcher werden. Wiederum eine Woche später heißt es218 schließlich und endlich, Barth sei 210 211 212 213 214
215 216 217 218
Dieser Artikel handelt von der von Gott eingesetzten Obrigkeit. Vgl. Kap. 1 dieser Studie. AaO., 286. Ebd. Den Vorwurf, den Bekenntnisakt über den Bekenntnisinhalt zu stellen, erhebt Hepp an anderer Stelle auch gegenüber den niederländischen Barthianern. Dabei sei es verwirrend, dass der Ruf nach einer bekennenden Kirche in den Niederlanden sich gerade auf Barth berufe, bei dem das Bekenntnis doch viel zu kurz komme; vgl. V. Hepp, Belijdeniskerk en belijdende kerk, Re 9, 1929, Nr. 41, 316 f. V. Hepp, Wil Barth Calvinist zijn?, Re 9, 1929, Nr. 38, 291 f, 291. Ebd. V. Hepp, Barth en het historisch calvinisme, Re 9, 1929, Nr. 39, 299. V. Hepp, Barth de eenzame, Re 9, 1929, Nr. 40, 307.
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Die Diskussion zwischen Haitjema und De Hartog
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ein Eklektiker, der den Eindruck zu erwecken verstehe, durch seine Theologie ziehe sich vom Römerbrief bis zur Christlichen Dogmatik ein roter Faden. Zu kritisieren sei auch, dass er theologisch Gleichgesinnte wie etwa Werner Elert ignoriere und mit theologischen Gegenpositionen wie der Vermittlungstheologie und den lutherischen Modernisten sympathisiere. Fasst man das Leserinteresse Hepps zusammen und sieht man dabei von den eher moralischen Vorwürfen ab, zeigt sich nun, dass insbesondere Barths Lehre von der dreifachen Gestalt des Wortes Gottes und damit Barths Schriftverständnis, sein durchaus auch korrigierendes Verhältnis zur theologischen Tradition und seine Ignoranz gegenüber dem Neocalvinismus als der schlechthinnigen historischen Form der Theologie Calvins die entscheidenden und gegenüber den 20er Jahren neuen Themen der Barth-Rezeption Hepps waren. Hervorzuheben ist auch, dass Hepp Barth als tendenziell liberal einstufte – womit sich eine Entwicklung andeutet, die im Laufe der 30er Jahre in der neocalvinistischen Barth-Rezeption noch eine herausragende Rolle spielen wird.
3.8 Die Diskussion zwischen Haitjema und De Hartog Doch zurück zu Haitjemas Beitrag über Die Evidenz der Offenbarung. Nicht nur Schilder219, sondern auch De Hartog reagierte darauf und nahm ihn als Anknüpfungspunkt, um die in der Zeitschrift De Gereformeerde Kerk begonnene und in Nieuwe theologische studieÚn fortgesetzte Diskussion mit Haitjema nun in der Zeitschrift Onder eigen vaandel mit einem Beitrag über die Theologie des woords (Theologie des Wortes)220 weiterzuführen. Es bestehe in Bezug auf die geistigen Ausgangspunkte, die Begrifflichkeiten und die Grundeinsicht der Andersheit des Wortes Gottes eine „merkwürdige“221 Übereinstimmung mit Barth. Seine Kritik an Barth beziehe sich jedoch auf den erkenntnistheoretischen Ausgangpunkt: Barth sei aufgrund des neukantianischen, anthropozentrischen – und nur scheinbar theozentrischen – Ausgangspunktes seiner Theologie des Wortes Gottes insofern am Anfang stehengeblieben, als Wort und Geist doch im Heilswerk Gottes voranschritten. Er selber verstehe mit dem theozentrischen Ausgangspunkt des altchristlichen Realismus die Fleischwerdung des Wortes (1Joh. 4, 2 f) in einem realistischen Sinne. Haitjemas als Vorwurf gemeinte Beobachtung, dass er, De Hartog, nicht mit dem fleischgewordenen Wort aus Joh. 20, 31, sondern bereits mit dem Johannesprolog beginne, sei nicht nur zutreffend sondern auch biblisch. Gehe es Haitjema um das Erkennen und Bekennen des historisch 219 Vgl. Kap. 3.6 dieser Studie. 220 A.H. de Hartog, Theologie des woords, OEV 3, 1928, 155 – 170. 221 AaO., 155.
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Die Polarisierung der verschiedenen Rezeptionsstränge (1926 – 1933)
Erschienenen und um den Ansprachecharakter des göttlichen Wortes, so gehe es ihm, De Hartog, nicht um „,Bewusstsein‘“222 oder einen „,Bewusstseinskreis‘“223, sondern um die Schöpfung und Setzung menschlichen „,Seins“224 oder eines „,Seinsgrund[es]‘“225. Da Bewusstsein immer auch menschliche Erfahrung voraussetze, sei deren Ablehnung bei Barth und den Seinen eine reine Äußerlichkeit. Der tiefste Unterschied zu Barth beziehungsweise Haitjema liege jedoch, wie bereits in Naar aanleiding van betont, im jeweiligen Offenbarungsverständnis: Während Barth eine polare, dialektische und recht mechanische Auffassung pflege, vertrete er selber eine eher keimhafte und organische Auffassung des Verhältnisses zwischen Gott und Mensch. Obwohl er sich mit Barth gegen eine Erlebnistheologie wende, könne er im Gegensatz zu Barth die Vergöttlichung der menschlichen Natur positiv beurteilen. Eine biologisch-organische Auffassung des Heilsprozesses sei entgegen Haitjemas Vorwurf vom 21.4. in De Gereformeerde Kerk biblisch begründet – man habe nur an die Wiedergeburt, das Wachsen der Gnade und das Sein wie eine Rebe am Weinstock zu denken. Eine wirkliche Theologie des Wortes Gottes dürfe nicht bei der halben Wahrheit stehen bleiben, und Barth sei aufgrund seines erkenntnistheoretischen Ausgangspunktes und seiner Abwertung der Dinglichkeit der Dinge ein gewisser „Akosmismus“226 vorzuwerfen. Anlässlich Haitjemas jüngsten Beitrags Tijd en eeuwigheid (Zeit und Ewigkeit) in Nieuwe theologische studieÚn sei nun zu ergänzen, dass es natürlich nicht angehe, hinter Kant zurück zu gehen. Es gehe vielmehr darum, sich neueren philosophischen Einsichten wie denen des Philosophen von Hartmann anzuschließen, die bewusst nachkantianisch wieder beim altchristlichen Realismus anknüpften. Vor Barths Neokantianismus, der für die Halbheit seiner nur vorgeblichen Worttheologie verantwortlich sei, wolle er ernsthaft warnen. Haitjema reagierte in der gleichen Zeitschrift unter dem Titel De Hartog contra Barth. Gnosis of pistis (De Hartog gegen Barth. Gnosis oder Pistis)227 mit der Vermutung, dass sich De Hartogs anfänglich zurückhaltende Barthkritik auch aufgrund von Haitjemas antithetischer Beiträge verschärft haben könnte. Angemessen sei es nun, nicht länger den persönlichen Fortschritt auf dem Heilsweg, sondern die theologischen Unterschiede herauszuarbeiten und zu diskutieren. Die Frage sei, ob es um eine realistisch-metaphysische Theologie gehen solle, die sich selber an der Spitze der Pyramide einer Gottes-, Lebens- und Weltanschauung sehe, oder um eine glaubenskritizistische Theologie, die das Wort Gottes wie einen glühenden Kern in sich trage und das Wesen der Offenbarung als existentiell und konsequent „für uns“228 erfahre. 222 223 224 225 226 227 228
AaO., 161. Ebd. AaO., 162. Ebd. AaO., 197. Th.L. Haitjema, De Hartog contra Barth. Gnosis of pistis, OEV 3, 1928, 216 – 240. AaO., 220.
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Die Diskussion zwischen Haitjema und De Hartog
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Diese Alternative ließe sich als zeitgenössische Variation des Gegensatzes zwischen Gnosis und Pistis beschreiben. Entweder man wolle wie De Hartog eine Synthese zwischen Christentum und moderner Kultur und betone entsprechend die Korrelation zwischen Alloffenbarung und erkennendem Bewusstsein, oder man gehe von einer individuellen Christuserscheinung aus und betone die Korrelation zwischen Heilsoffenbarung und Glauben. Diese soteriologisch-dualistische Linie innerhalb des Christentums sei mit der von De Hartog bevorzugten kosmisch-metaphysischen Linie nicht vereinbar. Diese Unvereinbarkeit lasse sich auch als die erkenntnistheoretische Unvereinbarkeit eines altchristlichen Realismus mit einem kritischen Idealismus beschreiben. Er selber würde aber lieber von der Unvereinbarkeit einer auf schematischer Zweiteilung der Wirklichkeit basierenden philosophischen Zuschauertheologie mit dem nur von der Offenbarung ausgehenden „einzigsachlichen und realen Glaubenskritizismus“229 sprechen. Es gehe Barth nämlich gar nicht um eine erkenntnistheoretische, philosophische Begründung des Glaubens, sondern um eine theologische Erkenntniskritik und um die Korrelation von Offenbarung und Glauben. Barth sei – mit anderen Worten – eben doch kein auf halbem Wege stecken gebliebener, sondern ein umgekehrter Kantianer. Und als kritischer Theologe beginne man nicht mit einem allgemeinen Anfang, sondern mit Jesus Christus als dem fleischgewordenen Worte Gottes. Die kritische Theologie negiere nicht die Wahrheit des Johannesprologs, sondern interpretiere Jesus als gefallenen Menschen. Ebenso negiere sie nicht die einem keimhaften Denken entgegenkommenden Passagen in der Bibel, sondern lese diese existentiell auf den Glauben bezogen. Dies habe Barth De Hartog offensichtlich einmal in einem persönlichen Gespräch als „eschatologisches Verständnis“230 erklären wollen. Die vorzugsweise polare Bildsprache der kritischen Theologie lasse sich nämlich überzeugend durch die Differenz zwischen der neuen und der gefallenen Welt erklären. Die neue Wirklichkeit lasse sich nach Meinung der kritischen Theologie eben nur auf dem Wege des Glaubens anschauen. De Hartog reagierte aus Platzgründen nur kurz, und zwar unter dem Stichwort Woord en geest (Wort und Geist)231: Es sei ein Missverständnis, wenn Haitjema annehme, er identifiziere die Gotteserkenntnis mit einem bestimmten „Weltsystem“232. Vielmehr betrachte er sie als Neuanfang und Möglichkeit nicht des natürlichen, sondern des wiedergeborenen Menschen. Außerdem vertrete er kein graduelles oder evolutionistisches Denken von unten, sondern ein regeneratives Denken von oben, welches er als durchaus vergleichbar mit Barths Rede von einem ganz Anderen erachte. Ihm gehe es im 229 AaO., 226. 230 AaO., 236. Haitjema weist auf De Hartogs Bemerkung in dem Aufsatz: De Hartog, Theologie des woords?, 164, Anm. 2, hin. 231 A.H. de Hartog, Woord en geest, OEV 4, 1929, 53 – 60. 232 AaO., 53.
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Die Polarisierung der verschiedenen Rezeptionsstränge (1926 – 1933)
Gegensatz zu Haitjema einfach nur um Artikel 2 des niederländischen Glaubensbekenntnisses, dem zufolge sich Gott nicht nur in der Schrift, sondern auch in der Natur offenbare. Und im Gegensatz zu den Anhängern der Kopernikanischen Wende in der Theologie gehe es ihm nicht um eine intellektuelle, sondern um eine von ihm bereits persönlich erfahrene ganz andere geistige Erkenntnis, die der Glaubenserkenntnis des ganz Anderen von Barth recht ähnlich sei. Auch stimme seine Auffassung, dass man der Wissenschaft und der Philosophie nur eine propädeutische oder enzyklopädische Rolle zuweisen solle, mit der Auffassung Barths großenteils überein. Auch Schrift und Bekenntnis unterschieden ja zwischen Sein beziehungsweise Leben und Bewusstsein: Der Geist führe zur Wiedergeburt des neuen Menschen und gebe ihm hinsichtlich des Wortes Gewissheit. Barth unterscheide in der Christlichen Dogmatik andeutungsweise zwischen einem erkenntnistheoretischen Realgrund und einem erkenntnistheoretischen Erkenntnisgrund, führe diese Unterscheidung aber nicht streng genug durch. Barths Theozentrismus sei schließlich und endlich zwar zu begrüßen, seine Worttheologie bleibe aber ohne eine tatsächliche Aneignung des ganz Anderen fremd und verkürzt. Haitjema reagierte noch in derselben Ausgabe mit einem als Schlusswort gemeinten Versuch, De Hartogs Aneignungsversuchen von Barths Theologie durch den nochmaligen dreifachen Aufweis der Unterschiede zu widersprechen233 : Erstens gebe es im niederländischen Glaubensbekenntnis einen Unterschied zwischen Glauben und Wiedergeburt. De Hartog ordne wie auch die Neocalvinisten die Wiedergeburt dem Glauben vor, bei Calvin hingegen werde dies, wie auch in der Schrift und im Bekenntnis, abgelehnt. Zweitens sei zu bemerken, dass die Möglichkeit einer natürlichen Gotteserkenntnis sowohl von Calvin als auch von einer glaubenskritischen Position her nicht so sehr zurückgewiesen, sondern vielmehr aufgrund des menschlichen Gefallenseins als unhaltbar erachtet werde. Drittens müsse aus glaubenskritischer Perspektive zum Verhältnis von Theologie und Philosophie festgehalten werden, dass man sein Haus nun einmal nicht als Dachgeschoss mit Aussicht auf der Grundlage einer allgemeinen Offenbarung baue, sondern als eigenständiges theologisches Gebäude aufgrund der besonderen Christusoffenbarung. Mit diesem Schlusswort wurde die Diskussion zwischen Haitjema und de Hartog allerdings immer noch nicht wirklich abgeschlossen. Sie wurde vielmehr in derselben Zeitschrift in den 30er Jahren fortgesetzt und fand ihren Höhepunkt in einer 1936 publizierten Schrift unter dem Titel Christelijk realisme contra dialectische theologie (Christlicher Realismus contra dialektische Theologie)234. Inhaltlich neue Aspekte kamen aber nicht mehr hinzu, weswegen ich auf die weitere Darstellung verzichte. Betrachtet man die oben 233 Th.L. Haitjema, Natuur en schriftuur. Geloof en wedergeboorte, OEV 4, 1929, 61 – 69. 234 A.H. de Hartog/Th.L. Haitjema, Christelijk realisme contra dialectische theologie. Een gedachtewisseling tussen de hoogleraren dr. A.H. de Hartog en dr. Th.L. Haitjema, Wageningen 1936.
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Rückblick auf den Zeitraum zwischen 1926 und 1933
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dargestellte Diskussion zwischen Haitjema und De Hartog rückblickend, so lässt sich sagen, dass sie genau wie die anderen Diskussionen der späten 20er und frühen 30er Jahre deutlich zur allmählichen Klärung der theologischen Unterschiede zwischen der vor allem von Haitjema vertretenen Gruppe der niederländischen Barthianer und der zwar eigenständigen, jedoch dem Neocalvinismus hinsichtlich der Lehre von der Wiedergeburt durchaus nahestehenden Position De Hartogs entschieden beigetragen hat. Anders als Hepp und Schilder hält De Hartog trotz der Einwände Haitjemas und auch Barths selber235 allerdings bis zum Schluss an der Behauptung der Gemeinsamkeiten zwischen Barths und seiner eigenen Theologie fest.
3.9 Rückblick auf den Zeitraum zwischen 1926 und 1933 Rückblick Abgesehen von dem im gegebenen Zeitraum den liberalen Strang der niederländischen Barth-Rezeptionen repräsentierenden Mennoniten Frits Kuiper haben alle anderen Vertreter der verschiedenen Rezeptionsstränge kritisch oder gar ablehnend auf Karl Barths Amsterdamer Vortrag reagiert. Innerhalb der ethischen Theologie (Noordmans, Miskotte) führte dies jedoch weiterhin zu einer ausführlichen Auseinandersetzung mit der Theologie Barths. Darüber hinaus entwickelte der ethische Theologe Oepke Noordmans in den 20er und 30er Jahren im Gespräch mit Barth Facetten einer alternativen Kulturtheologie, die im folgenden Kapitel dargestellt werden sollen. Am stärksten und negativsten reagierte das gereformierte Lager (Hepp, Hoek, Norel, De Hartog) auf Barths Amsterdamer Vortrag. Innerhalb dieses Lagers nahm die Kritik an Barths Theologie nicht nur quantitativ sondern auch qualitativ stark zu. Zum einen wurde das erkenntnistheoretische Thema wieder aufgegriffen und ausgeweitet (De Hartog, Schilder), andererseits kamen neue Themen wie Barths Schriftverständnis (Hepp) und Barths Verhältnis zu Calvin, zur Wiedergeburt und zum Bekenntnis auf. Dabei fällt insgesamt auf, dass sich die Debatte um Barths Theologie oftmals weniger um dessen Texte selber, sondern um die Publikationen anderer niederländischer Barth-Rezipienten drehte. Die Debatte um Barths Theologie entwickelte sich zu einer innerniederländischen Debatte verschiedener Barth-Rezipienten untereinander. Es fällt auf, dass sich diese breit geführten Diskussionen der späten 20er und frühen 30er Jahre des 20. Jahrhunderts stark auf das eher orthodoxe (konfessionelle und neocalvinistische) Spektrum niederländischer Barth-Rezipienten konzentrierten, also auf eine Gruppe, in der die Grenze zwischen Modernität und Orthodoxie jedenfalls von großem Interesse war. Innerhalb dieses Spektrums brach anhand oben genannter Themen der sich 235 Vgl. Kap. 2 dieser Studie.
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Die Polarisierung der verschiedenen Rezeptionsstränge (1926 – 1933)
verstärkende Konflikt zwischen Reformierten einerseits (Haitjema) und Gereformierten andererseits (Schilder, Hepp, in gewisser Hinsicht De Hartog) auf. Konstellationen Sprach ich also oben von einer Polarisierung der verschiedenen Rezeptionsstränge, so kann jetzt präzisierend hinzugefügt werden, dass es sich zunächst um eine auf das eher orthodoxe Spektrum begrenzte Polarisierung handelte, die, wie ich im zweiten Kapitel aufzeigte, von Anfang an und nicht erst durch Haitjemas Kritik an der Assener Synode von 1926 angelegt war. Zu beachten ist weiterhin, dass alle Diskussionen zwischen Haitjema als Vertreter der reformierten Barth-Rezipienten und den gereformierten Barth-Rezipienten einschließlich De Hartog ganz wesentlich zu einer inhaltlichen Klärung der Positionen geführt haben: Die Unterschiede zwischen reformierten und gereformierten Denkmustern konnten anhand der verschiedenen Barth-Rezeptionen nicht nur (neu) entdeckt, erhellt und mehr oder weniger polemisch diskutiert werden, sondern diese Unterschiede wurden durch den gemeinsamen Diskussionsstoff (eben Barths Theologie) zugleich aufeinander bezogen: Barths Theologie konnte zumindest potentiell die Rolle eines dritten Faktors zukommen, der nicht nur trennte, sondern in den konfessionell sehr zerklüfteten Niederlanden auch verband. Die in diesem Kapitel dargestellte und an sich sehr erhellende Diskussion zwischen dem gereformierten und dem reformierten Lager beziehungsweise zwischen Schilder und Haitjema macht auch noch einmal deutlich, inwiefern Barths Theologie in den Niederlanden in einem anderen als dem ursprünglichen Kontext gelesen und verstanden wurde. Spielte für Barth die Auseinandersetzung mit dem Neuprotestantismus eine herausragende Rolle, so fand die Auseinandersetzung in den Niederlanden jedenfalls unter anderem vor der Folie des sehr dominanten Neocalvinismus beziehungsweise der gereformierten Theologie statt. Setzte Barth sich in Deutschland in erster Linie von der liberalen Theologie ab, kam in den Niederlanden eine zweite eher orthodoxe Front hinzu. Damit empfing die Theologie Barths ihre spezifisch niederländische kritische Relevanz (Rekontextualisierung).
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4. Oepke Noordmans’ Barth-Rezeption. Kulturtheologie I 4.1 Einleitung In diesem Kapitel weiche ich von dem bisherigen, chronologischen Aufbau meiner Arbeit insofern ab, als ich mich auf die Barth-Rezeption einer einzigen Person, nämlich Oepke Noordmans, konzentriere und sie über mehrere Jahrzehnte hinweg verfolge. Trotz dieser Abweichung passt das Kapitel in den bisherigen Aufbau, da Oepke Noordmans den Zeitraum der in Kapitel 2 und 3 dargestellten Barth-Rezeptionen der 20er und frühen 30er Jahre des 20. Jahrhunderts mit den im Anschluss an dieses vierte Kapitel darzustellenden Barth-Rezeptionen der späteren 30er Jahre des 20. Jahrhunderts und der Nachkriegszeit nicht nur durch seine Person, sondern auch durch die Kontinuität seiner Thematik und die Eigenständigkeit seines theologischen Ansatzes verbindet. Oepke Noordmans (1871 – 1956) wuchs in einer friesischen Bauernfamilie auf und studierte Theologie in Leiden und Utrecht. Obwohl er zweimal bei der Besetzung eines Lehrstuhls in Utrecht nicht zum Zuge kam und so sein ganzes Leben als Pfarrer tätig blieb, ist Noordmans als einer der großen niederländischen Theologen des 20. Jahrhunderts anzusehen. 1935 erhielt er einen Ehrendoktor von der Universität Groningen. Noordmans ist der ethischen Richtung zuzuordnen, mit der er sich im Laufe seines Studiums insbesondere durch die Begegnung mit dem – neben DaniÚl Chantepie de la Saussaye (1818 – 1874) – führenden ethischen, allgemein als anti-antirevolutionär bekannten Theologen Johannes H. Gunning jun. (1829 – 1905) vertraut machte. Allerdings zeichnete Noordmans sich nicht nur gegenüber der Orthodoxie und der modernen Theologie, sondern auch gegenüber der eigenen ethischen Richtung durch eine kritische und eigenständige Haltung aus. Bereits vor dem Erscheinen der zweiten Auflage von Barths Römerbrief, der für Noordmans die erste Begegnung mit der Theologie Barths darstellte, entwickelte er Ansätze einer der dialektischen Theologie beziehungsweise der Theologie Barths vergleichbaren Wende in der Theologie (4.2). Diese brachte er ab 1925 ins Gespräch mit Barth und führte sie eigenständig weiter. Noordmans’ Auseinandersetzung mit Barths Theologie kann in drei Phasen unterteilt werden, die hier allerdings in nur zwei Abschnitten dargestellt werden sollen: Bis circa 1930 trat Noordmans trotz der von Anfang an vorhandenen Kritikpunkte vor allem als niederländischer Dolmetscher der Theologie Barths auf (4.3). Nach 1930 trat die Kritik an Barth und die Profi-
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Oepke Noordmans’ Barth-Rezeption. Kulturtheologie I
lierung des eigenen theologischen Ansatzes stärker in den Vordergrund (4.4): Vor dem Zweiten Weltkrieg, nämlich zwischen 1930 und 1940, vollzieht sich die Auseinandersetzung mit Barth als Reflexion zu dessen Wende von der experimentellen Römerbrieftheologie zum gefestigten Ansatz der (Kirchlichen) Dogmatik1. Nach dem Zweiten Weltkrieg, genauer gesagt im Zeitraum zwischen 1947 und 1950, entwickelte sich die Barth-Rezeption Noordmans’ anhand der inzwischen erschienenen Schöpfungslehre Barths und konzentrierte sich inhaltlich auf das bereits in der ersten Rezeptionsphase mehr oder weniger latent bestehende und in der zweiten Rezeptionsphase stärker hervortretende Problem der Kontinuität. Zum Schluss soll versucht werden, die von Noordmans im Zusammenhang mit seiner Barth-Rezeption entwickelten Gedanken zu einer alternativen Kulturtheologie rückblickend zusammenzutragen und mithilfe rezeptionsästhetischer Fragestellungen zu systematisieren (4.5). Zu bedenken ist dabei bereits an dieser Stelle, dass sich weder Noordmans’ Auseinandersetzung mit Barth noch seine übrige Theologie jemals zu einem System entwickelt hat. Vielmehr zeichnet sich sein Denken durch einen aphoristischen, bewusst offenen Stil aus, sodass Kornelis Heiko Miskotte ihn einmal als einen „nach systematischem Maßstab […] irreguläre[n] Dogmatiker“2 bezeichnet hat. Durch seine eigenständige Auseinandersetzung mit der Theologie Karl Barths, aber auch mit den liberalen beziehungsweise modernen und den neocalvinistischen beziehungsweise orthodoxen Strömungen in der niederländischen Theologie, hat Oepke Noordmans – neben anderem – einen der wichtigsten Beiträge zur Verbreitung der dialektischen Theologie in den Niederlanden geleistet. Durch die Entwicklung eines durchaus eigenen theologischen Profils im Gespräch mit den wichtigsten niederländischen theologischen Strömungen hat er den Grund für eine selbstständige niederländische Variante der dialektischen Theologie gelegt. Noordmans’ zunehmend kritische, produktive Auseinandersetzung mit der Theologie Barths soll im Folgenden nachgezeichnet werden. Aufgrund der Singularität des Noordmansschen Ansatzes beschränke ich mich hierbei auf nur zwei der im ersten Kapitel dieser Studie erarbeiteten rezeptionsästhetischen Fragestellungen, nämlich auf die Frage, in welchen primären Kontext Noordmans Barth 1 Außer auf den Römerbrief (1922) bezieht sich Noordmans in den 20er Jahren auf einige kleinere Schriften Barths. Eine aktive Rezeption der Christlichen Dogmatik im Entwurf (1927) ist m. E. bei Noordmans nicht gegeben. Von einer Rezeption der Schriften Barths vor dessen Römerbrief ist mir ebenfalls nichts bekannt. Noordmans’ Rezeption der Kirchlichen Dogmatik betrifft in den 30er Jahren ausschließlich die Prolegomena (1932). 2 K.H. Miskotte, Einführung, in: O. Noordmans, Das Evangelium des Geistes (übers. v. H.W. de Knijff/H. Stoevesandt), Zürich 1960, 9 – 29, 9. Miskotte entlehnt den Ausdruck wohl den Dogmatiken Barths; vgl. Barth, Die Christliche Dogmatik, Bd. I: Die Lehre vom Wort Gottes. Prolegomena zur Kichlichen Dogmatik 1927, hg. v. G. Sauter (Karl Barth Gesamtausgabe, im Auftrag der Karl Barth Stiftung hg. v. H. Stoevesandt, II. Akademische Werke 1927), Zürich 1928, 51 f, oder K. Barth, Die Kirchliche Dogmatik, Bd. 1, Die Lehre vom Wort Gottes. Prolegomena zur Kichlichen Dogmatik, 1. Teilbd. [1932], Zollikon-Zürich 61952, 294.
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Abwendung von der Theologie des 19. Jahrhunderts
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einordnet und auf die Frage nach der von Noordmans vorgenommenen Rekontextualisierung der Theologie Barths im niederländischen Kontext. Zur Darstellung seines eigenen theologischen Ansatzes wird es dabei insoweit kommen, als es dem Verständnis seiner Barth-Rezeption dienlich ist.
4.2 Abwendung von der Theologie des 19. Jahrhunderts Noordmans’ Kritik der ethischen Theologie, mit der er sich gleichwohl Zeit seines Lebens verbunden fühlte, findet man nach der niederländischen Noordmansforscherin Akke van der Kooi3 bereits in seinen frühen Schriften zwischen 1906 und 1920. Diese Kritik verstärkte sich in dem Zeitraum zwischen 1921 und 1926 derartig, dass etwa ab 1920 oder 1921 – ganz unabhängig von der dialektischen Theologie – von einem „Bruch“4 oder einer „Wende“5 in seinem Denken auszugehen ist. Noordmans’ zunehmende theologische Kritik aller niederländischen theologischen Strömungen des 19. Jahrhunderts, insbesondere der ethischen Theologie, lässt sich zunächst vor dem Hintergrund einer allgemeinen Kritik der modernen Kultur verstehen. Der niederländische Noordmansforscher Gerrit W. Neven6 stellte heraus, dass Noordmans den Ersten Weltkrieg bereits früh vorausgesehen hatte und von seinem Ausbruch und Verlauf tief schockiert gewesen war. Als Theologe wollte Noordmans von Anfang an auf die verheerenden Entwicklungen in der europäischen Kultur reagieren. Sein Lehrer Gunning, so Neven, verkörperte für ihn deren Kurzatmigkeit und die Frage, mit der er sich sein ganzes Leben lang auseinandersetzte: Was sollte aus dem (europäischen) Menschen werden, aus seiner Humanität, seiner Spiritualität, seinem Denken und Tun, seinem Spiel und seiner Arbeit … wenn Gott tot ist? Was können wir von einer Gesellschaft erwarten, die das Pardon, die Gnade 3 Akke van der Kooi hat sehr schön im Detail aufgezeigt, welche kritischen Elemente in Bezug auf die ethische Theologie bereits in Noordmans’ ganz frühen Publikationen zwischen 1906 – 1920 bestehen; vgl. A. van der Kooi, Het heilige en de Heilige Geest bij Noordmans. Een schets van zijn pneumatisch ontwerp, Kampen 1992, 35 – 54 [Diss. Theologische Universiteit Kampen]. Für eine allgemeine Orientierung zu Noordmans kann auch auf seine Biographie hingewiesen werden, vgl. K. Blei, Noordmans, Kampen 2010. Hier findet sich auch die aktuellste Übersicht zu der wichtigsten Sekundärliteratur. 4 Van der Kooi, Het heilige, 24. Die erkenntnistheoretische Wendung Noordmans’ spiegelt sich besonders gut in zwei Schriften aus dieser Zeit; vgl. O. Noordmans, Predestinatie (dr. O. Noordmans verzamelde werken, hg. v. J.M. Hasselaar u. a., Bd. 2: Dogmatische peilingen. Rondom Schrift en Belijdenis), 124 – 134, Kampen 1979; Ders., Geloven op gezag, aaO. 135 – 152. 5 Van der Kooi, Het heilige, 49. 6 G.W. Neven, Tijdgenoot en getuige. Opstellen over de theologie van dr. O. Noordmans, Kampen 1980 [Teil 1 Diss. Theologische Universiteit Kampen].
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Oepke Noordmans’ Barth-Rezeption. Kulturtheologie I
vergessen hat? Was geschieht im Inneren der Menschen, die ganz und gar auf ihre faktische (ihre nackte und unbeschützte) Existenz zurückgeworfen werden?7
In einer zunehmend als eindimensional8 erfahrenen Kultur suchte Noordmans nach einem neuen spirituellen Raum, nach einer anderen Wirklichkeit und nach wirklich menschlicher Humanität. Noordmans’ Kritik der europäischen Kultur, so Neven, lässt sich anhand zweier Stichwörter zusammenfassen: Zum einen kritisierte Noordmans ihre zunehmende Mechanisierung, deren Anfänge er im modernen wissenschaftlichen Denken Descartes’9 verortete. Zum anderen beklagte er die zunehmende Verbürgerlichung der ihn inspirierenden ursprünglichen reformatorischen Freiheit, deren Anfänge er mit der Institutio von Calvin in Verbindung brachte. Der Kampener Systematiker Jan T. Bakker betont, dass Noordmans in seiner Theologie außer der Existenz der Kirche vor allem „das zerbrochene Gleichgewicht in Kultur und Gesellschaft“10 voraussetze. Der Fragmentierung der modernen Gesellschaft habe Noordmans jedoch nicht mit einem geschlossenen Gegenentwurf begegnen wollen. Vielmehr habe er diese Fragmentierung mit theologischen Gedanken und Entwürfen verarbeiten wollen. Anstatt die Tradition rückwärtsgewandt als unveränderliche Tatsache zu betrachten, habe er vorwärtsgewandt nach ihrer „Funktionalität“11 gesucht. Nach Bakker zeichnete sich im Denken Noordmans’ schon sehr früh – das heißt etwa ab 1919, also bereits vor seiner Auseinandersetzung mit der dialektischen Theologie – eine charakteristische Doppelbewegung12 ab: Zum einen habe Noordmans die zerbrochene Einheit der modernen Kultur als eine Spiegelung der gebrochenen Gestalt Gottes betrachtet, zum anderen habe er Gott als einen angesehen, der sich gerade in gebrochener Gestalt der menschlichen Verlorenheit zuwende. 7 AaO., 34. 8 Den von Herbert Marcuse entlehnten Begriff der Eindimensionalität benutzt Neven, um Noordmans’ Kulturanalyse zusammenzufassen. 9 Descartes-Kritik findet sich auch in zeitgenössischen theologischen Entwürfen, vgl. den differenztheoretisch motivierten befreiungstheologischen Ansatz von E. Dussel, Herrschaft und Befreiung. Ansatz, Stationen und Wege einer lateinamerikanischen Theologie der Befreiung, Freiburg/Schweiz 1985. Auch Barth hat sich mit Descartes auseinandergesetzt; vgl. K. Barth, Die Kirchliche Dogmatik, Bd. 1: Die Lehre vom Wort Gottes. Prolegomena zur Kichlichen Dogmatik, 1. Teilbd. [1932], Zollikon-Zürich 61952, 35.54.102.203 – 206.220.223 f.228.302; Ders., Die Kirchliche Dogmatik, Bd. 1: Die Lehre vom Wort Gottes. Prolegomena zur Kirchlichen Dogmatik, 2. Teilbd. [1938], Zollikon-Zürich 41948, 311.536; Ders., Die Kirchliche Dogmatik, Bd. 3: Die Lehre von der Schöpfung, 1. Teilbd. [1945], Zollikon-Zürich 21947, 401 – 415.476; Ders., Die Kirchliche Dogmatik, Bd. 3: Die Lehre von der Schöpfung, 2. Teilbd. [1948], Zollikon-Zürich 1948, 622. 10 J.T. Bakker, Verbroken evenwicht/Historisch spiritualisme, KeTh 30, 1979, 203 – 214, 208. 11 Ebd. 12 Bakker verweist auf zwei frühe Schriften Noordmans’ aus dem Jahr 1919: O. Noordmans, Historisch spiritualisme. Een herinnering aan de vrijzinningen (dr. O. Noordmans verzamelde werken, hg. v. J.M. Hasselaar u.a, Bd. 1.: Het begin om de ware humaniteit), Kampen: 1978, 188 – 204; Ders., Gemeenschap en persoonlijkheid, aaO., 205 – 230.
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Abwendung von der Theologie des 19. Jahrhunderts
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Noordmans’ in der niederländischen theologischen Landschaft keinesfalls üblicher hermeneutischer Umgang mit der Tradition bezog sich durchaus auch kritisch auf die eigene Richtung, nämlich die ethische Theologie: Diese wurde vom Utrechter Systematiker Henri W. de Knijff einmal als „orthodox-positive Variante des deutschen Kulturprotestantismus“13 bezeichnet. Zwar gehe es in der ethischen Theologie um das Finden einer Synthese von Kirche und (zeitgenössischer) Kultur, und man habe etwa die „Menschlichkeit Christi und deren Bedeutung für die Kultur“14 betont, doch habe man anders als Noordmans unproblematisch eine organische Einheit zwischen Kirche und Kultur, Gott und Mensch, Gott und Welt, Vater und Sohn, Christus und Geist und schließlich auch zwischen Heiligem und menschlichem Geist unterstellt. Zu den bedeutsamsten und von Noordmans zunehmend kritisierten Leitvorstellungen der ethischen Theologie gehörte auch die Rede von einer organischen menschlichen Persönlichkeit des frommen, wiedergeborenen Menschen und die damit zusammenhängende Rede von einer Einheit des Lebens – gemeint ist eine „Synthese von Denken und Sein, von Glauben und Leben, von Spekulation und Handlung“15. Typisch für die ethische Theologie war auch die missverständliche, doch sehr bekannte Losung, dass die Wahrheit ethisch sei. Mit einer ethischen Wahrheit ist nach Ernst J. Beker nicht gemeint, dass Gott oder der Mensch an sich ethisch seien, sondern dass die „Gemeinschaft des Menschen mit Gott“16 ethisch sei. Mit dieser Einsicht grenzten sich Noordmans und die ethische Theologie sowohl von der orthodoxen beziehungsweise neocalvinistischen als auch von der liberalen Theologie ab. Diese Richtungen verselbständigten nämlich nach der Einsicht ethischer Theologen trotz aller Unterschiedlichkeit sowohl Gott als auch den Menschen. Hervorzuheben ist weiterhin, dass das Prädikat „ethisch“ keinesfalls als moralische Kategorie anzusehen ist. Vielmehr bezeichnete es eine vom menschlichen Gefühl getragene lebendige und persönliche Beziehungsqualität gegenüber Gott. Wie anhand seiner Barth-Rezeption noch ausführlicher gezeigt werden wird, stellte Noordmans der in der ethischen Theologie so beliebten monistischen Idee einer Lebenseinheit nun vor dem Hintergrund seiner Kritik der Moderne ein mehr pluralistisches und für die vielfältigen Nöte des wirklichen Lebens offenes, durch ein tiefes Sündenbewusstsein gekennzeichnetes Denken gegenüber, das am Einheitsgedanken nur noch in einem eschatologischen Sinn und als Gegenüber „im Wort der Predigt […] 13 H.W. de Knijff, Oepke Noordmans (1871 – 1956). Zur Einführung in seine Theologie, EvTh 44, 1984, 241 – 254, 244. 14 AaO., 245. 15 J.M. Hasselaar, Dr. O. Noordmans – hoofdmomenten van zijn theologie, ’s Gravenhage 1958, 26. 16 E.J. Beker, Waarheid en verificatie in de ethische theologie, in: G.C. Berkouwer/A.S. van der Wolde (Hg.), Wat is waarheid? Waarheid en verificatie in de theologie, Kampen 1973, 95.
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Oepke Noordmans’ Barth-Rezeption. Kulturtheologie I
und dem Zusammenfügen des Herzens“17 festhalten wollte. Nach Kornelis H. Miskotte kam es Noordmans insbesondere darauf an, „diesen Pluralismus, dieses Vielfältig-Unableitbare zu erkennen als geladen mit Positivität“18, die Einheit des Lebens also nicht zu leugnen, sondern sie als „hineingestellt in den unzugänglichen Raum der kreativen Prädestination“19 zu verstehen. Da Noordmans’ Bruch mit der Bewusstseins- und Erfahrungstheologie des 19. Jahrhunderts bereits vor der Begegnung mit der Theologie Barths erkennbar war, sind De Knijff und andere zu dem Urteil gekommen, dass „Noordmans’ Rolle in der niederländischen Theologie […] mit der von Karl Barth in der deutschen vergleichbar“20 sei. Im Folgenden möchte ich nun zeigen, wie der erwähnte Bruch mit der Theologie des 19. Jahrhunderts bei Noordmans durch die Begegnung mit der Römerbrieftheologie Barths einerseits vertieft, andererseits weiterhin in eigenständiger Weise reflektiert, bearbeitet und für den niederländischen Kontext fruchtbar gemacht wurde.
4.3 Die Auseinandersetzung mit Barths Römerbrieftheologie Im Zeitraum zwischen 1925 und 1930 veröffentlichte Noordmans acht Beiträge, in denen er sich vorwiegend als zwar nicht unkritischer, doch durchaus interessierter niederländischer Dolmetscher insbesondere der Römerbrieftheologie Barths mit dieser auseinander setzte. Außerdem rezipierte Noordmans auch einige kleinere Schriften Barths und setzte sich mit dem Anliegen der Strömung der dialektischen Theologie ganz im Allgemeinen auseinander. Während dieser Rezeptionsphase kam es 1926 auch zu einer persönlichen Begegnung mit Karl Barth, die bereits im dritten Kapitel dieser Studie dargestellt wurde. Diese Begegnung war von gegenseitiger Achtung und einem gemeinsamen Interesse geprägt, durchaus weiter als die Römerbrieftheologie gehen zu wollen. Wie also übersetzte der Dolmetscher Noordmans Karl Barths Theologie in diesem Zeitraum für den niederländischen Kontext und inwiefern ging er dabei tatsächlich weiter als Barth? Es wird sich zeigen, dass das wichtigste Anliegen Noordmans’ die Entwicklung einer auch von Barths Theologie inspirierten alternativen Kulturtheologie war : Große und kleine Religion An erster Stelle ist diesbezüglich der von Noordmans erstmals 1925 in der von reformierten und gereformierten Theologen zusammen herausgegebenen 17 18 19 20
Hasselaar, Hoofdmomenten, 29. Miskotte, Zur Einführung, 17. Ebd. De Knijff, Oepke Noordmans, 245.
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Die Auseinandersetzung mit Barths Römerbrieftheologie
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Zeitschrift Stemmen voor waarheid en vrede veröffentlichte Beitrag De betekenis van Kohlbrugge voor de theologie van onze tijd (Die Bedeutung Kohlbrügges für die Theologie unserer Zeit)21 zu nennen, in dem Noordmans den Unterschied zwischen der reformierten Theologie der Niederlande und der Theologie Karl Barths anhand der von Kohlbrügge inspirierten Unterscheidung zwischen einer dem reformierten Denken entsprechenden kleinen und einer dem lutherischen Denken entsprechenden großen Religion verdeutlichte. Dieser Beitrag ist nicht nur als erste Auseinandersetzung mit Barths Römerbrieftheologie zu betrachten, sondern macht zugleich mit einer für Noordmans’ Denken charakteristischen, hier erstmalig entwickelten Grundunterscheidung bekannt, der Unterscheidung zwischen einer kleinen und einer großen Religion. Von Kohlbrügge, den Noordmans dem lutherischen Lehrtyp zuordnet, habe er gelernt, das konkrete, kreatürliche Menschenleben ernst zu nehmen und das Verhältnis von Schöpfung und Erlösung neu zu überdenken. Kohlbrügge habe ihn zudem inspiriert, die – für die ethische Theologie zentrale – Idee der Persönlichkeit abzulehnen, da diese die menschliche Natur als solche ausschließe und den Menschen vergöttliche. Die Sünde werde dann nicht mehr so sehr als exzentrisches Missverhältnis zwischen Gott und Mensch, sondern als immanente Störung zwischen dem inneren und dem äußeren Menschen gesehen. Die dem reformierten Denken entsprechende kleine Religion sei von daher als eine Sittenlehre, die dem lutherischen Lehrtypus verwandte große Religion hingegen als eine Gnadenlehre zu betrachten. Die These Noordmans’, dass die Theologie Barths „Luthertum ,en marche‘“22 und genauso wie Kohlbrügges Denken ein Beispiel für die große Religion sei, entspricht zunächst einer Kontextualisierung der Theologie Barths im Luthertum. Darüber hinaus führt sie aber angesichts des sekundären Kontextes der ge/reformierten Niederlande im Verlauf der Auseinandersetzung Noordmans’ zu einer Rekontextualisierung der (als lutherisch wahrgenommenen) Theologie Barths „gegenüber [der] reformierte[n] Theologie“23. Sie erkläre, so Noordmans, auch das von Philipp A. Kohnstamm und anderen niederländischen Rezipienten gefühlte Befremden gegenüber Barths Theologie. Ja, mit dem Wissen um den Unterschied zwischen der kleinen und der großen Religion könne man schließlich zustimmend feststellen: „Dieses ist nicht unsere vaterländische Theologie“24 : Wie Luther vertrete auch Barth eine „unpersönliche“25, das heißt eine gegen den im reformierten Lehrtypus vorherrschenden Persönlichkeitsbegriff ge21 Wiederabgedruckt als: O. Noordmans, De betekenis van Kohlbrugge voor de theologie van onze tijd (dr. O. Noordmans verzamelde werken, hg. v. J.M. Hasselaar u. a., Bd. 3: Ontmoetingen. De actualiteit der historie I), Kampen 1981, 507 – 526. 22 AaO., 525. 23 Noordmans, De betekenis, 525. 24 AaO., 516. 25 AaO., 515.
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Oepke Noordmans’ Barth-Rezeption. Kulturtheologie I
richtete „Anthropologie“26, die den empirischen, konkreten, leiblichen und sündigen Menschen ins Zentrum rücke. Wie Luther stelle Barth diesem Menschen und seinem (empirischen) Leben das Evangelium und die Barmherzigkeit Gottes gegenüber. Wie Luther betrachte Barth Jesus Christus als eine rein negative Größe und als eine Aufhebung des Menschen. Und schließlich gehe es Barth genau wie Luther eher um reales als um (moralisch) richtiges Denken. Durch die vorgenommene Kontextualisierung der Theologie Barths als eine der Theologie Luthers entsprechende große Religion kann Noordmans diese in vielerlei Hinsicht besser in den niederländischen Kontext einordnen: Kohnstamms Frage27 nach dem Verhältnis zwischen dem alten und dem neuen Menschen bei Barth könne nun unter dem Nenner des Verhältnisses von Schöpfung und Erlösung thematisiert werden. Dieses werde nämlich in der großen Religion ebenfalls anders gesehen als in der kleinen. Entsprechend dem lutherischen Lehrtyp unterstelle auch Barth, dass die Schöpfung gut sei, bestreite aber, dass sie als Ausgangspunkt für die Erlösung gedacht werden könne. Vielmehr gehe er von einem erneuten Eingreifen Gottes in der Erlösung aus und betone Gottes Freiheit gegenüber der Schöpfung. Im reformierten Lehrtypus hingegen stelle man sich die Erlösung als einen Prozess innerhalb der Schöpfung vor. Die Zuordnung der Theologie Barths erhelle ebenfalls Fragen auf christologischer und anthropologischer Ebene: Die von Kohnstamm bei Barth kritisierte Leugnung der Kontinuität zwischen dem historischen Jesus und dem auferstandenen Christus könne nun als eine im Grunde den reformierten Lehrtyp repräsentierende Kritik verstanden werden. Luther thematisiere die eigentliche Fleischwerdung des Wortes nämlich in der Lehre von der Kenosis und betone damit wie Barth sehr stark den Gegensatz zwischen Geist und Fleisch beziehungsweise Gott und Mensch. Im reformierten Lehrtyp hingegen – beispielsweise in Bavincks Dreischritt „Schöpfung, Offenbarung, Inkarnation“ – stehe die Vermittlung zwischen Geschöpf und Schöpfer im Vordergrund. Bedeute Fleisch im lutherischen Lehrtyp sündiges Fleisch, bedeute es im reformierten Lehrtypus die Menschheit. Die von Barth betonte und von vielen Niederländern missverstandene Rede von der Verborgenheit Gottes habe also mit Gottes Unerkennbarkeit nicht so sehr aufgrund Seiner Hoheit, sondern aufgrund Seiner Niedrigkeit und Verhüllung im menschlichen Fleisch zu tun. Ziele die Fleischwerdung im reformierten Lehrtyp auf einen Ort unterhalb Gottes, so ziele sie im lutherischen Lehrtyp auf einen Ort außerhalb Gottes. Calvin und noch stärker den Neocalvinisten gehe es, anders als dem lutherischen Denken, nicht so sehr um die Austreibung der Gottverlassenheit des Fleisches, sondern um eine vermittelnde Verkleinerung der Kluft innerhalb der kontinuierlichen Linie „Generation,
26 Ebd. 27 Vgl. die Zusammenfassung der kritischen Fragen Kohnstamms in Kap. 3 dieser Studie.
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Schöpfung, Offenbarung, Inkarnation“28. Doch auch in anthropologischer Hinicht sei die Einordnung der Theologie Barths als einer großen Religion erhellend: Betone man in der lutherischen Lehrtradition den zerbrochenen Leib und resultiere das in der Auffassung, dass der gläubige Mensch der gottlose, desorganisierte Mensch sei, dessen Glaube keine bleibende Eigenschaft sei, betone der reformierte Lehrtypus den Heiligen Geist und gehe von einer gläubigen, organisierten menschlichen Persönlichkeit aus. Weiterhin entspreche die Unterscheidung zwischen einer großen und einer kleinen Religion der Unterscheidung zwischen einem absoluten Moment und einer Kontinuität, eine Unterscheidung, die für die Verhältnisbestimmung zwischen der göttlichen und der menschlichen Natur Jesu Christi von Bedeutung sei: Werde Jesus Christus im lutherischen Lehrtyp als der Ort einer nur punktuellen Begegnung beider Naturen betrachtet, so verkörpere er im reformierten Lehrtyp eine Person, die beide Naturen bleibend vereine. Barth vertrete im Römerbrief eine Theologie des absoluten Moments, die das Persönliche und Historische des reformierten Lehrtyps eliminiere. Verhielten sich die einzelnen absoluten Momente wie etwa Gnade und Sünde im lutherischen Lehrtyp durchgehend dialektisch zueinander, stelle man sich im reformierten Lehrtyp ein kausales Verhältnis der Momente vor, etwa eine Folge von Fall und Wiedergeburt beziehungsweise von altem und neuem Menschen. Die Unterscheidung zwischen absolutem Moment beziehungsweise Diskontinuität und Kontinuität29 verdeutliche also, warum die eher als nüchtern zu bezeichnenden Reformierten sich bei einem „Orgiasmus der Begegnung zwischen Natur und Natur“30 nicht zu Hause fühlten und „geistliche Beziehungen“31 bevorzugten, in denen man als Person „,gentlemenlike‘“32 und also ohne die Unterbrechung durch absolute Momente mit einer anderen Person umgehe. Kurzum: Es sei Barths andersartige Prädestinationslehre, die das reformierte Frömmigkeitsgefühl befremde. Schließlich erkläre die Unterscheidung zwischen einer auf absolute Momente und einer auf Kontinuität angelegten Theologie auch Kohnstamms Befremden gegenüber Barths Interpretation des Gleichnisses vom reichen Mann und vom armen Lazarus. Barth nivelliere nämlich nicht so sehr den Unterscheid zwischen diesen beiden Männern, sondern führe die Kreatür28 Noordmans, De betekenis, 519. 29 Die Unterscheidung zwischen Diskontinuität und Kontinuität ist auch nach H.W. de Knijff die zur Klärung der theologischen Herausforderung der Römerbrieftheologie Barths in den ge/ reformierten Niederlanden entscheidende Kategorie. Aallerdings weist er aufgrund seiner Textauswahl nicht auf den für Noordmans damit verbundenen Unterschied zwischen der lutherischen und der reformierten Lehrtradition hin, der sich ebenfalls wie ein roter Faden durch Noordmans’ Barth-Rezeptionen zieht; vgl. H.W. de Knijff, Das Ausland als Echoraum der Theologie Karl Barths, in: Beintker/Link/Trowitzsch, Karl Barth im europäischen Zeitgeschehen, 161 – 179, insbes. 175 f. 30 Noordmans, De betekenis, 522. 31 Ebd. 32 Ebd.
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lichkeit und Sünde des armen Mannes als „Barmherzigkeitsmotiv“33 auf. Anders als etwa der verlorene Sohn, der durch seine Reue ein Moment ethischer Vermittlung zwischen Natur und Geist aufweise, und so gesehen als (organisierte) Persönlichkeit betrachtet werden könne, werde Lazarus rein paradox selig. Sei das Gleichnis von dem reichen Mann und dem armen Lazarus ein Beispiel für die große Religion, die wegen der „metaphysische[n] Kurzschlüsse zweier Naturen“34 keine Kultur hervorbringe, so sei das Gleichnis vom verlorenen Sohn ein Beispiel für die kleine Religion, die die Schöpfung nicht aufhebe, sondern die Kultur zur Parusie führe. Am Ende seiner Ausführungen kommt Noordmans schließlich zu einem expliziten und weitergehenden Versuch, die als lutherisch kontextualisierte Theologie Barths innerhalb der niederländischen theologisch-ge/reformierten Landschaft zu rekontextualisieren. Damit legt er zugleich den Grundstein für den eigenen kulturtheologischen Ansatz: Barths Theologie der Augenblicke35 sei am besten als eine befreiende Korrektur des auf Kontinuität angelegten reformierten Lehrtyps zu betrachten, der in den Niederlanden insbesondere durch Abraham Kuyper36 vertreten werde. Zwar sei die Theologie des lutherischen Lehrtyps angesichts der krisenhaften Entwicklung der europäischen Kultur allein schon durch ihre Betonung des realen, empirischen Menschen als Fleisch anno 1925 aktueller als die reformierte Theologie, doch stelle sie auch aus absoluten Gründen eine Herausforderung für den reformierten Lehrtyp dar. Zu denken sei außer an Kuypers übertriebene Fixierung auf die Kontinuität auch an die „stark abgemagerte“37 rein „historischgrammatische“38 Form der Exegese. Die von der reformierten Lehrtradition repräsentierte kleine Religion sei nun aber durch die vom lutherischen Lehrtyp repräsentierte große Religion nicht so sehr restlos zu ersetzen, sondern zu begrenzen. Die große Religion habe die kleine zu umschließen. Noordmans ging es mithin darum, die Herausforderung des lutherischen Lehrtyps anzunehmen, sie mit der eigenen niederländischen Tradition in einen wechselseitigen, nicht unkritischen Dialog zu bringen und so einen Neuansatz jenseits der Differenz zwischen kleiner und großer Religion, niederländischem Kulturprotestantismus und dialektischer Theologie, zu entwickeln. Soweit zum ersten Ansatz einer noch weiter zu entwickelnden alternativen Kulturtheologie Noordmans’.
33 AaO., 523. 34 AaO., 524. 35 Noordmans spricht nicht nur wie Barth von einem, sondern von mehreren Augenblicken, etwa Sünde und Gnade. 36 A. Kuyper (1837 – 1920) ist neben H. Bavinck der bedeutsamste neocalvinistische Theologe und kann als Begründer des Neocalvinismus und der in den Niederlanden dominanten neocalvinistischen Kulturtheologie gesehen werden; vgl. die Darstellung in Kap. 1 dieser Studie. 37 Noordmans, De betekenis, 525. 38 Ebd.
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Radikal moderne Kulturtheologie Noordmans’ zweiter Beitrag zur Auseinandersetzung mit der Römerbrieftheologie Barths, der in dem mit Tromp und Kohnstamm 1926 gemeinsam publizierten Buch Nieuwe theologie unter dem Titel Die Schweizer Theologie39 publiziert wurde, zeigt den Autor wiederum in der Rolle des Dolmetschers. Dieser Beitrag sollte Barths Theologie gegenüber den Vorwürfen des Agnostizismus, des Heidentums und der sittlichen Leere verteidigen und den, wie Noordmans sagt, „christlichen Gehalt von Barths Paradoxen-Kommentar“40 – gemeint ist der Römerbrief – „ans Licht […] stellen“41. Auch in diesem Beitrag kontextualisiert Noordmans die Theologie Barths, beschreibt sie aber nunmehr nicht länger als Beispiel für den lutherischen Lehrtyp, sondern in Ergänzung hierzu als Teil einer Reaktionsbewegung auf den Humanismus der Theologie des 18. und 19. Jahrhunderts. Neu hinzu kommt, dass er sie als Radikalisierung der historisch-kritischen Methode präsentiert. Dass Barths Theologie als eine Radikalisierung gerade der modernen Theologie betrachtet werden könne, lasse sich am wichtigsten Thema des Römerbriefs festmachen, nämlich der Behauptung der Unbekanntheit Gottes. Diese sei, anders als Kohnstamm und andere behaupteten, nicht als ein Agnostizismus aufzufassen. Denn in dem negativen Ausdruck „Unbekanntheit“ sei durchaus auch ein positiver Sinn42 zu entdecken. Die im Römerbrief artikulierte Kritik könne entgegen dem Verdacht einer „untheologische[n]“43 oder „profane[n]“44 Aktivität besser als eine „critica sacra“45 verstanden werden. Indem die kritische Theologie die Kritik zu ihrem Ausgangspunkt mache, offenbare sie den „heimlichen Agnostizismus der nur literarischhistorischen Herangehensweise“46 und führe „die kritische Linie in der neueren Theologie konsequent weiter[…]“47. Damit vollziehe sie „keine er39 Vgl. O Noordmans, De Zwitsersche theologie, in: Tromp/Kohnstamm/Noordmans, Nieuwe theologie, 93 – 133; vgl. auch ders., De Zwitserse theologie, in: NVW 3, 557 – 582 (leicht geänderte Version). Ich zitiere nach erstgenannter Fassung. 40 AaO., 131. 41 Ebd. 42 Diesbezüglich schließt Noordmans sich also der im Kap. 2 dieser Studie dargestellten Auffassung Tromps in dem gemeinsam herausgegebenen Band Nieuwe theologie an, entwickelt aber eine andere Argumentation: Die Rede vom unbekannten Gott sei nicht nur als theologischer Exponent der kritischen Philosophie Immanuel Kants zu verstehen, sondern ebenso im Zusammenhang mit dem etwa auch von Rudolf Otto vorgebrachten Anliegen, die Heiligkeit Gottes herauszustellen. 43 Noordmans, De Zwitsersche theologie, 98. 44 Ebd. 45 AaO., 99. 46 Ebd. 47 AaO., 97. Noordmans argumentiert, dass die Textkritik die Unbekanntheit des Textes enthüllt habe, die historisch-kritische Forschung die Unbekanntheit der Geschichte und die Evangelienkritik die Unbekanntheit Jesu. Die kritische Theologie radikalisiere diese Kritik, indem sie nun die Unbekanntheit Gottes enthülle.
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bauliche“48, sondern eine metaphysische „Wendung“49 der Theologie um 1808. Habe die historisch-kritische Forschung die Unzulänglichkeit unseres Erkenntnisvermögens enthüllt, so sei die kritische Theologie darin metaphysisch, positiv und keineswegs agnostisch, als sie der Unmöglichkeit menschlicher Gotteserkenntnis das Erkannt-Werden des Menschen durch Gott gegenüber stelle. Auch diese von Noordmans vorgenommene Kontextualisierung der Römerbrieftheologie als radikal-moderne Humanismuskritik wird mit einer Rekontextualisierung innerhalb des niederländischen Kontextes verbunden, und zwar handelt es sich um eine Rekontextualisierung doppelter Art: Zum einen ging es um die Anschlussfähigkeit an die ethische Theologie, die meines Erachtens am besten als eine Reinszenierung der Theologie Barths verstanden werden kann, zum anderen um die Herausforderungen sowohl für die ethische als auch für die neocalvinistische Theologie: Zunächst zur Anschlussfährigkeit an die ethische Theologie: Zwar sei Barths erkenntnistheoretischer Gedankengang durchaus originell, doch habe bereits der ethische Theologe Johannes H. Gunning (jun.)50 in mit Barth vergleichbarer Weise das cogito Descartes’ in ein Gedacht-Werden umgesetzt. Desgleichen habe bereits der ethische Theologe Pierre Daniel Chantepie de la Saussaye51 geschrieben, dass die Gotteserkenntnis kein Kulturbesitz oder -wert sei, sondern dass umgekehrt die Kulturwelt vom „,Vielmehr‘“52 des göttlichen Erkannt-Werdens bewegt werde. Als von Gott Erkannter müsse man in der Vor-wissenschaft Gottes wandern. Aber eben wandern – und hier bringt Noordmans wieder das typisch reformierte Kontinuitätsdenken ins Spiel! Denn der „Schwachpunkt“53 der kritischen Theologie bestehe darin, dass sie über weitere Schritte, „über die Geburt der Ethik und Kultur aus dem ,Gekannt-Werden‘“54, noch wenig nachgedacht habe. Barths Ansatz wäre – so Noordmans’ Reinszenierung der Barthschen Theologie vor dem niederländischen Hintergrund der ethischen Theologie – also im Sinne einer alternativen Verhältnisbestimmung von Offenbarung und Kultur beziehungsweise Ethik weiterzuführen, in der die durchaus aktiven Folgen menschlichen Gekannt-Werdens von Gott (stärker) berücksichtigt werden müssten.55 Außer der Anschlussfähigkeit der kritischen an die ethische Theologie gelte 48 AaO., 100. 49 Ebd. 50 Noordmans verweist hier auf J.H. Gunning, Blikken in de openbaring, Teil 1, Amsterdam 1866 – 1869, 36. 51 Noordmans verweist hier auf: P.D. Chantepie de la Saussaye, De toren van Babel, Overdenkingen 13, 1905, 282 – 303, insbes. 293 ff. 52 Noordmans spielt hier auf einen Ausdruck an, den Barth auch im Römerbrief (vgl. Rm. 8) benutzt. 53 Noordmans, De Zwitsersche theologie, 102. 54 Ebd. 55 Barth gab Noordmans diesbezüglich bei dem persönlichen Gespräch in Amsterdam recht, vgl. Kap. 2 dieser Studie.
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es aber auch, die Herausforderungen der Römerbrieftheologie für die ethische Theologie zu benennen. Diese sollten sich seines Erachtens auf den in der ethischen Theologie so beliebten Begriff der Persönlichkeit56 beziehen. Barths Ausschaltung des empirischen Lebens und die damit einhergehende „abweisende Haltung gegenüber allem, was wir Persönlichkeit, Kultur, Innerlichkeit, Charakter“57 nennen würden, klinge zwar auf den ersten Blick wie ein rein negatives Anliegen, sollte aber besser im Sinne der oben beschriebenen positiven erkenntnistheoretischen Wende verstanden werden: Es sei Barths Anliegen, den Ort der Theologie und den Bezugspunkt der Wahrheit des Glaubens nicht innerhalb, sondern jenseits des empirischen Lebens, das zwischen Geburt und Tod liege, zu bestimmen. Man könne das am besten als einen „Zusammenzug des Lebensbildes“58 verstehen. Der Begriff der menschlichen Persönlichkeit erweise sich dann als eine Maske, um die es (dem wahren) Gott nicht gehe.59 Diese Kontraktion und der damit abgewiesene Begriff der Persönlichkeit bilde somit eine Herausforderung für den Leitgedanken der ethischen Theologie, dass nämlich die Wahrheit ethisch sei. Angesichts des nur relativen ethischen Interesses der Evangelien am Leben Jesu sei ein solcher Leitgedanke nicht von absoluter Gültigkeit. Vielmehr müsse der Anspruch auf die Einsicht begrenzt werden, dass sich „die christliche Wahrheit möglichst tief auf die sittliche Sphäre einlasse“60. Stärker als bisher sei zu beachten, dass Gott immer mehr als Jesus beziehungsweise das Leben Jesu sei und dass die christliche Wahrheit jenseits von Geburt und Tod liege. Die Verborgenheit Gottes, so Noordmans’ weiterführende Gedanken in sehr schönen Wendungen, sei nach Barth gerade dem Verborgenen des Menschen nahe, also dem seiner Persönlichkeits-, Kultur- und Ethikmaske beraubten 56 Noordmans hatte noch um 1918 herum den Versuch unternommen, eine praktisch orientierte Charaktertheologie zu entwerfen, in der er den religiösen Charakter mit dem Gewissen bei Vinet verglich und als Mittelpunkt des religiösen Lebens betrachtete. Er betonte dabei sehr, dass der Charakter als theologische beziehungsweise biblische und nicht als philosophische Kategorie zu betrachten sei. 1919 entwickelte er in dem Aufsatz „Gemeinschaft und Persönlichkeit“ in kritischer Sympathie mit Schleiermacher Ideen zu einer religiösen Persönlichkeitsidee; vgl. hierzu auch G.J. Paul, Schepping en koninkrijk. Een studie over de theologie van dr. O. Noordmans, Wageningen 1959, 48 – 60 [Diss. Groningen]. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von De Zwitsersche theologie ist sein Interesse also bereits deutlich verlagert. 57 Noordmans, De Zwitsersche theologie, 102. 58 Ebd.; m. E. stellt man sich unter dieser Kontraktion am besten eine Art Verdichtung von verschiedenen Momenten vor. 59 Noordmans bemüht sich, den biblischen Charakter dieses Gedankens zu betonen und den Vorwurf, dass Barths Theologie Heidentum sei, noch einmal zu widerlegen: Barth betrachte das menschliche Leben im Allgemeinen in Entsprechung zum paradigmatischen Leben Jesu von seinen Grenzen her, und zwar nicht als Subjekt sondern als Objekt der Gotteserkenntnis. Auch Paulus habe nicht nach der Bedeutung des Lebens Jesu gefragt, sondern nach demjenigen, was jenseits von Geburt und Tod liege, nämlich nach der Sünde und der Auferstehung. Dasselbe gelte auch für die Evangelisten, die ja nur bedingt am Leben Jesu als solchem und viel mehr am Ende des Lebens Jesu interessiert gewesen seien. 60 AaO., 106.
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Menschen. Gott werde gerade „als der Unbekannte“61 erkannt. Diese Unbekanntheit erkläre zwar den größten Abstand zwischen Mensch und Gott, doch sei der „größte Abstand […] hier zugleich die höchste Intimität“62. Gottes Heiligkeit bedeute gerade „die intimste Vereinigung zwischen Gott und Mensch“63. Entsprechend seien auch die diversen Vorwürfe zurückzuweisen, in denen Barths Sündenauffassung als „physisch“64, „ethisch“65 oder „religiös“66 bezeichnet werde. Nur aufgrund unseres Gekannt-Werdens und nicht als solche seien wir nach Barth als Sünder zu betrachten. Das der Sünde entsprechende Korrelat sei bei Barth aber immer die Gnade Gottes. Damit ist Noordmans’ Rekontextualisierungsversuch, wie oben angekündigt, noch nicht abgeschlossen. Denn die Römerbrieftheologie bilde für die neocalvinistische Theologie eine noch weit größere Herausforderung als für die ethische Theologie. Die Kontraktion des Lebensbildes bedeute ja bei Barth keine Reduzierung des empirischen Lebens, und seine Theologie sei keinesfalls kulturfeindlich. Vielmehr handle es sich um eine alternative Kulturtheologie: „Gerade als kritische Theologie ist sie Kulturtheologie, aber in einem anderen Sinn, raffinierter als wir es zu sagen gewöhnt sind“67. Barth versehe ethisches oder kulturelles Streben mit einer neuen Bedeutung: Anders als der Neocalvinismus schiebe er die Wirksamkeit Gottes nicht „halb physisch […], halb ethisch […]“68 zwischen unser menschliches Leben und das Urteil Gottes. Während der Neocalvinismus mit seiner Suche nach einer weltlichen Fundierung dem göttlichen Urteil die Absolutheit nehme, sei gerade dieses von Barth hervorgehobene „Absolute […]das erklärende Prinzip für die Relativität unserer sittlichen Entwicklung, die selber Absolutheit entbehr[e]“69. Die durch die erkenntnistheoretische Wende Barths ermöglichte „schöpferische[…] Neu-Prädikation“70 führe nicht nur nicht sittlich ins Leere, sondern habe sogar Heilsbedeutung: Die Momente Sünde und Gnade seien nicht als zwei aufeinanderfolgende Stationen eines Weges aufzufassen, sondern als „Flächen in zwei (unterschiedlichen, nur dialektisch aufeinander beziehbaren; SH) Welten“71 zu betrachten, deren Verbindung nur im Glauben an die unumkehrbare „göttliche Logik“72, also der Zu-Wendung göttlicher Barmherzigkeit, verstanden werden könne. Dieses rein theologische Problem nur in Gott selber verbundener und 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72
AaO., 108. AaO., 109. Ebd. AaO., 110. Ebd. Ebd. AaO., 113. AaO., 117. AaO., 118. Ebd. Ebd. AaO., 122.
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ansonsten unverbundener absoluter Momente sei aber, so Noordmans’ Pointe, vom Problem der Leugnung ethischer Kontinuität deutlich zu unterscheiden. Das Gefühl eines ethischen Leerlaufs werde möglicherweise auch von Barths dialektischer Denkform als solcher provoziert. Diese erzeuge nämlich den Eindruck, dass die Kontinuität und damit die Zeit ausgeschaltet werde – ein Problem, das Chantepie de la Saussaye73 im Zusammenhang mit seiner Calvinlektüre angeschnitten habe. Als ethisch leer werde eine Theologie dann empfunden, wenn der – notwendigerweise zeitimmanente – ethische vom theologischen Gesichtspunkt losgelöst und der Mensch in seiner Zeit sich selber überlassen werde. Demgegenüber sei die transzendentale dialektische Wende Barths „[b]efreiend“74 zu nennen: „Wir werden von der unerreichbaren Grenze unendlicher Reihen erlöst und mit Unmittelbarkeit und Gedankenkraft über absolute Abstände […] versetzt“75. Die dialektische Wende, so Noordmans, vollziehe sich zeitlos, mühelos, widerstandslos, ohne Kontinuität und unumkehrbar in der Welt des Geistes. Als göttliche Logik sei sie barmherzig und enthülle die Ohnmacht eines vom theologischen losgelösten, rein ethischen und sittlichen Prozesses der Welt, wie er vor allem im Neocalvinismus anzutreffen sei. Im Grunde liege dem Vorwurf, Barths Neuprädikation führe ins sittlich Leere, eine falsche Gottesvorstellung zugrunde, denn Gottes Gedanken zielten nicht ins Leere, sondern gründeten sich lediglich nicht auf einen menschlichen sittlichen Prozess. Gottes Gedanken zielten mit anderen Worten nicht auf die Maske des Menschen, die Persönlichkeit, sondern auf das Verborgene des Menschen, also dessen wirkliche Nöte. Barth spanne die Dialektik so hoch, weil es ihm um unableitbare „freie Gnade“, göttliche „Logik des Herzens“76 und einen unumkehrbaren „unendlichen Komparativ“77 im Verhältnis zwischen Gerechtigkeit und Barmherzigkeit gehe. Insgesamt gesehen sei Barth lediglich vorzuwerfen, dass er zu erklären versäume, wie unser sittliches und kulturelles Leben nun zwischen den beiden Urteilen Gottes von Gott in Bewegung gebracht werden könne. Nicht die göttliche Dialektik, sondern der sittliche Prozess laufe bei Barth ins Leere. Zwischen beiden sollte aber ein Verhältnis hergestellt werden. Wenn die göttliche Dialektik „durch ihre heilige Spannung ein sittliches Feld“78 schaffe, „in dem Ethik und Kultur möglich“ würden, dann könne sich die Dialektik entspannen und entstehe mehr Raum für eine Lehre vom Wort. Erst wenn man erkenne, dass die Wahrheit nicht ethisch sei, lasse sich der Leitspruch der
73 Noordmans verweist hier auf P.D. Chantiepie de la Saussaye, Het christelijke leven, hg. v. K.H. Roessingh, Bd. 1, Haarlem 31922. 74 Noordmans, De Zwitsersche theologie, 121. 75 AaO., 122. 76 AaO., 126. Der Ausdruck stammt von Pascal. 77 AaO., 129. Die göttliche Gnade ist immer unendlich viel mehr. 78 AaO., 132 f.
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ethischen Theologie zu der weiterführenden Erkenntnis korrigieren, „dass die christliche Wahrheit so ethisch wie möglich“79 sei. Eine nicht so direkte Kulturtheologie Bestimmte Noordmans die Römerbrieftheologie Barths bislang vor allem im Verhältnis zur ethischen und zur neocalvinistischen theologischen Richtung, so standen für ihn in dem nach Barths Besuch 1926 publizierten Vortrag De theologie van Barth en Brunner speciaal in verband met hun waardering van het humanisme (Die Theologie Barths und Brunners speziell hinsichtlich ihrer Würdigung des Humanismus)80 Vorwürfe aus der liberalen Richtung im Vordergrund. Deren Behandlung sei auch für die anderen Richtungen relevant. Den Anlass der Auseinandersetzung bildete der nach Noordmans falsche Versuch des liberalen und auf seine (linksmodernistische) Art ebenfalls humanismuskritischen Theologen Tjakko de Graaf81, Barths Theologie mit der des Neocalvinisten Kuyper zu vergleichen und als vorkritisch – also als Rückfall hinter die Aufklärung und hinter die Philosophie Kants – einzustufen. Barth vertrete, so Noordmans, im Gegensatz zu Kuyper keine vorkritische Schriftauffassung, seine Theologie sei wesentlich besser als Ausdruck und Produkt der Krise der Moderne zu verstehen. Im Grunde nehme Barth die bereits in Kants Humanismus angelegten humanismuskritischen Elemente auf, führe sie weiter und verstärke sie. Zu betonen sei, dass Barths Aufhebung der menschlichen Persönlichkeit keinesfalls die Abschaffung, sondern eine Veränderung des Humanitätsgedankens bedeute. Barths Theologie sei als eine alternative Kulturtheologie zu verstehen, die sich auch dadurch auszeichne, dass sie weniger abstrakt über den Menschen rede und etwa dessen Leiblichkeit einen hohen Stellenwert einräume. Entscheidend für das Anliegen Barths sei, dass er den Gottesbezug jenseits der europäischen Kulturgüter suche. Bereits bei Kant, so Noordmans, handle es sich um eine gebrochene Persönlichkeitsphilosophie. Dieser bereits gebrochene Humanismus sei auch der Grund, warum sich die dialektische Theologie vorzugsweise auf einen Philosophen und nicht auf einen Theologen wie etwa Schleiermacher berufen habe. Kants Aufklärungsphilosophie habe einen ernsthafteren Zug als beispielsweise die Philosophie der Renaissance, da Kant Gesetz und Tod in sein Denken miteinbezogen habe. Die klassisch-humanistische Annahme eines „nicht-sündigen Mittelpunktes“82 und „göttlich heiligen Ortes in unserem Inneren“83 bedeuteten eben nicht mehr so viel, wenn im Grunde unser Urteil 79 AaO., 133. 80 O. Noordmans, De theologie van Barth en Brunner speciaal in verband met hun waardering van het humanisme, in: NVW 3, 594 – 609. 81 H.T. de Graaf (1875 – 1930) war einer der führenden liberalen systematischen Theologen und ab 1926 als Nachfolger von K.H. Roessingh Professor in Leiden. Noordmans bezieht sich auf H.T. de Graaf, Levensrichting. Beschouwingen over heden en toekomst, Arnhem 1925. 82 Noordmans, De theologie van Barth en Brunner, 598. 83 Ebd.
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und Tod gemeint sei. Die Schweizer Theologen hätten Kant nun radikalisiert und über sich selbst hinausgeführt. Wo Kant nämlich an die Stelle der transzendentalen Persönlichkeit die drei Postulate – Gott, Unsterblichkeit, Tugend – gesetzt habe, interpretiere Barth diese eindeutig als Gott und hebe damit die Idee der humanen Persönlichkeit auf. Diese Wendung Barths verändere auch den Begriff der Humanität: Gingen der Humanismus und die kleine Religion von einem nicht-sündigen, rationalen und sittlichen Mittelpunkt mit einer sittlichen Umhüllung aus und fassten sie den Begriff der Sünde immanent als Sünde gegen die sittliche Umhüllung, hätte die Schweizer Theologie eine weniger abstrakte, realistische Vorstellung vom Menschen und betrachte auch die Leiblichkeit als Bestandteil der Humanität. Da die dialektische Theologie das ganze wirkliche Leben auf Gottes Gesetz und damit auch auf Gottes Barmherzigkeit beziehe, sei sie „viel humaner […] als viele Sittlichkeitsapostel“84. Der herkömmliche Humanismus abstrahiere und trenne den Menschen von Gott, indem er zwischen Gott und Mensch Instanzen wie die Idee der Persönlichkeit oder auch andere Götter der Humanität wie „Frau, Kind, Innerlichkeit, Charakter, Rasse und Reife“85 schiebe. Die alternative Humanität der Schweizer Theologen habe ihr Zentrum hingegen nicht in sich selber und sei von daher ganz unberührt von der sittlichen Höhe etwa des herkömmlichen Persönlichkeitsbegriffs. Barths Theologie, so Noordmans prägnant, sei so gesehen auch eine Kulturtheologie, „aber [eben] nicht so direkt“86. Aus transzendentaler Perspektive werde der Sinn des Lebens als abgeschlossenes System vielmehr hinterfragt, ja radikal in Stücke zerschlagen; der alternative theologische Humanismus interessiere sich dementsprechend für die unvollendeten Dinge und die tragischen und katastrophalen Momente des Lebens (Geburt, Tod, Schuld, Buße). Im Gegensatz etwa zu dem ebenfalls humanismuskritischen liberalen Theologen De Graaf deute man aus transzendentaler Perspektive die einzelnen Fragmente aber niemals im Sinne eines durch den Glauben verifizierten möglichen heiligen Lebens im jetzigen Leben. Vielmehr unterbreche die transzendentale Perspektive der Schweizer den herkömmlichen Humanismus, so dass man von der Bestimmung des in Bruchstücke zerfallenen Lebens nur spiegelverkehrt – in der Spiegelschrift der Sünde, der Schuld und des Vergessenen – erfahre. Nur das Negative aller Dinge und die Richtung aller Fragen hinterlasse einen Offenbarungseindruck. Barth als religiöser Materialist Kurz darauf erschien ein weiterer Kontextualisierungsversuch87 der Theologie Barths. Kontextualisierte Noordmans Barths Römerbrieftheologie in den 84 85 86 87
AaO., 602. AaO., 603. Ebd. O. Noordmans, Barth en zijn theologie, in: NVW 3, 610 – 616.
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vorhergehenden Beiträgen erstens theologisch als Variante des lutherischen Lehrtyps und zweitens geistesgeschichtlich als Teil einer auch theologischen Protestbewegung gegen den Humanismus des 18. und 19. Jahrhunderts, wird sie nun zum ersten Mal auf ihre auch politische Relevanz hin eingeordnet und als Variante eines religiösen Materialismus beziehungsweise gläubigen Realismus88 bezeichnet. Gerade Barths religiöser Materialismus habe in den Niederlanden zu dem überaus großen, positiven Interesse an Barth geführt, das an theologische Zeiten erinnere, in denen um das Dogma noch als Sache des Volkes gestritten worden sei. Barths Theologie sei so lebensnah mit dem zeitgenössischen Zustand in Kirche und Politik – man denke an den Sozialismus und Bolschewismus – verbunden wie Augustinus mit dem Untergang des Römischen Reiches. Auch wenn nicht alle „Diplomaten und Streikenden“89 Barth tatsächlich lesen würden, sei zumindest ihr theoretisches Interesse vorstellbar. Zu betonen sei auch, dass in der von Barth vorgelegten Religionskritik des 20. Jahrhunderts im Gegensatz zur Religionskritik der Arbeiterbewegung der Glaube miteinbezogen werde und dass sie im Sinne eines gläubigen Realismus die Wirklichkeit gerade aufgrund ihrer Wirklichkeit auf Gott beziehe. Hinzu käme gerade bei jungen Menschen mit einem antiideologischen Sicherheitsbedürfnis Interesse an einem Christentum mit absolutem Selbstverständnis. Barth sei kurzum auch deswegen so attraktiv, weil er zwei Dinge miteinander verbinde, nämlich das wirkliche Leben und die Absolutheit Gottes. Er wolle keine utopische Theologie betreiben, sondern auf die Wirklichkeit Gottes hinweisen. Dabei kenne er kein Drittes zwischen menschlicher und göttlicher Wirklichkeit, etwa einen Heilsweg, den bei kirchlichen Menschen so beliebten neuen Menschen oder den bei nichtkirchlichen Menschen so beliebten Kulturmenschen. Barth interessiere sich hingegen für den Alltagsmenschen, für die „90 %“, [die] am Sonntag keine Zeit [hätten,] eine Persönlichkeit zu werden“90. Barth sei insofern ein Realist, als nach ihm das „absolute[…] Evangelium“91 jedes Stück des alltäglichen Lebens retten solle und man sich die Sittlichkeit Gottes nicht als Gesinnung, sondern als reale Zukunft und volle Wirklichkeit vorzustellen habe. Diese bestehe aus Worten, die sich kritisch auf die menschliche Wirklichkeit bezögen, indem sie die herkömmlichen Lebensformen zerbrächen und diese auf Gott bezögen. Barths religiöser Materialismus oder gläubiger Realismus sei kein Monismus, sondern gehe von zwei Welten aus, da eine nur innerweltliche christliche Wahrheit sentimental und illusionär sei.
88 89 90 91
Noordmans entlehnt diesen Ausdruck von: P. Tillich, Masse und Geist, Berlin 1922. Noordmans, Barth en zijn theologie, 610. AaO., 612. Ebd.
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Staub und Zeit und Masse Den Abschluss dieser Barth-Rezeptionsphase Noordmans’ bildeten zwei 1930 veröffentlichte kürzere Beiträge, die zusammengenommen einen Rückblick auf die Bedeutung Karl Barths für die niederländische Theologie darstellen. Ein letztes Mal trat Noordmans vorwiegend als Dolmetscher auf: In De theologie van Barth (Die Theologie Barths)92 versuchte Noordmans erneut eine zeitgeschichtliche Einordnung und eine kurze Erklärung der Grundbegriffe. Der zeitgenössische geistesgeschichtliche und theologische Epochenwandel und Kontext auch der Theologie Barths sei mehr als der Ausdruck eines einfachen Generationswechsels oder einer Kriegskrise. Zwar sei dieser Wandel vom Ersten Weltkrieg beschleunigt worden, doch habe er „auf jeden Fall vor dem Krieg“93 eingesetzt, nämlich bereits um 1910. Die Allgemeinheit des Epochenwandels – und damit, wie ich hinzufügen möchte, die Rekontextualisierungsbedingungen für die Theologie Barths – mache sich speziell in den Niederlanden auch dadurch bemerkbar, dass der Wandel diverse protestantische theologische Strömungen betreffe, nämlich sowohl die konfessionelle als auch die ethische und die liberale Strömung. So habe sich der Epochenwandel bei den Liberalen bereits ab 1910 mit dem Aufkommen der Strömung der so genannten Malcontenten abgezeichnet, so unterscheide man innerhalb der ethischen Theologie aus inhaltlichen Gründen bereits seit längerem zwischen älteren und jüngeren Ethischen, und so habe der konfessionelle Haitjema die Bedeutung Barths formal gar mit der von Schleiermacher verursachten Wende in der Theologiegeschichte verglichen. Diese Strömungen waren also nach Noordmans von sich aus bereits offen für etwas Neues – wohl im Gegensatz zu den Neocalvinisten, denen Noordmans keine theologische Wahrnehmung und Verarbeitung des allgemeinen Epochenwandels und damit keine Anschlussfähigkeit an die dialektische Theologie bescheinigt. Die dialektischen Theologen, so Noordmans’ Schlussfolgerung, stellten die kulturelle Frage zwar zurück, sie seien aber trotzdem als „Kulturtheologen“94 zu bezeichnen. Denn sie befassten sich ja mit der „gesamten Konstellation“95 des europäischen Geisteslebens und zögen daraus mithilfe des dialektischen Denkansatzes theologische Konsequenzen zur Rechtfertigung des Sünders. Nicht von ungefähr, so die weiterführende These Noordmans’, spiegele sich Barths Bruch mit der Idee der Persönlichkeit theologisch im zerbrochenen Leib Jesu. Die entsprechende theologische Aufmerksamkeit für den Leib als Leib96 und den Menschen überhaupt, der sich als Leib seinem Nächsten of92 93 94 95 96
O. Noordmans, De theologie van Barth, in: NVW 3, 617 – 633. AaO., 617. AaO., 627. Ebd. Diese Thematik wurde im protestantischen Christentum abgesehen von der feministischen Theologie ab den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts auch mit dem so genannten Darmstädter Wort (1947) als Thema der Theologie anerkannt.
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fenbare, sei keine Verabsolutierung des menschlichen Leibes, sondern zeige auf, dass Gottes Barmherzigkeit gerade menschlicher Sünde und Not gelte und dass der Leib der einzige Ort sei, wo der „Kreis von Gottes Ratschluss unser Leben berühr[e]“97. Dass der ethische Theologe Chantepie de la Saussaye bereits vor Barth auf die Bedeutung des Leiblichen für die Theologie aufmerksam gemacht habe, unterstütze nochmals die These von einem bereits vor Barth begonnenen Epochenwechsel. Barth gehe es auch nicht um die Absolutheit des Christentums, sondern um die Bedeutung der Absolutheit des Evangeliums für das gesamte kulturelle und kirchliche Leben. Der Glaube sei für ihn keine Angelegenheit, die sich lediglich auf einen kleinen bürgerlichen Kreis mit Interesse für „spirituelle oder pietistische Übungen“98 beziehe, sondern habe eine universale Intention. Gespenster Ein letzter Beitrag Noordmans’ für diese Phase erschien in Reaktion auf eine im Algemeen weekblad voor christendom en cultuur publizierte Kurznotiz99 am 7. 8. 1930. Unter dem provozierenden Titel Barth al weer voorbij (Barth schon wieder vorüber) berichtete ein anonymer Schreiber, dass die Gruppe der Barthianer in den Niederlanden zwar wie ein „Sturmwind“100 oder auch wie ein „Krampf“101 in der neueren Theologie und in geringerem Maße auch in der Kirche gewirkt habe, dass dieser „Mode-Artikel“102 aber bereits nicht mehr aktuell sei. Obwohl die meisten Barthianer nur Mitläufer gewesen seien, habe der Barthianismus sich verheerend auswirken können. Gruppen, die sonst harmonisch hätten zusammenarbeiten können, seien voneinander entfremdet worden. An die Masse der Ex-Barthianer sei die Frage zu richten, was ein wirklich existentielles im Gegensatz zu einem bloß modischen Denken sei. Zwei Wochen später103 merkte ein christlicher Literat, theologischer Autodidakt und Leiter einer Anstalt für junge Männer in Eindhoven zu diesem ihn sehr interessierenden Votum an, dass er gerne glaube, dass Barth unter den Theologen bereits wieder aus der Mode gekommen sei, dass aber unter dem Kirchenvolk und auch unter den Kirchenfernen Barths Theologie aufgrund fehlender Übersetzungen und also eben wegen des Versäumnisses der Barthianer noch nicht einmal bekannt geworden sei. Diesen Vorwürfen und Wahrnehmungen gegenüber trat Noordmans einige Wochen später unter dem gespenstisch anmutenden Titel De schimmen der
97 Noordmans, De theologie van Barth, 632. 98 Ebd. 99 Anon., Barth al weer voorbij, AWCC 7, 1930/31, 40. Ich zitiere nach dem Wiederabdruck in: NVW 3, 636 – 637. 100 AaO., 636. 101 Ebd. 102 Ebd. 103 P.H. Muller, Rubriek Ingezonden, AWCC 7, 1930/31, 42.
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barthianen (Die Schatten der Barthianer)104 noch ein letztes Mal in seiner Rolle als Dolmetscher und Verteidiger der Sache Barths auf. Zwar zähle er sich selber nicht zu den Barthianern, sondern betrachte sich als „Familie von“105, doch werde er angesichts derartiger Behauptungen noch einmal den advocatus diaboli spielen.Angesichts der großen Ereignisse im zeitgenössischen Europa sei der Wunsch, sich wieder mit existentielleren Fragen zu beschäftigen, abzulehnen. Barth sei nicht modisch, sondern behandle wirklich theologische Themen wie etwa Gott, Christus, Heiliger Geist und Kirche. Das Existentielle sei der höchste Exponent des Dialektischen. Man habe in der Gegenwart vergessen, dass es in der Welt genau wie in der Bibel viele Gottlose gebe und man selber auch gottlos gewesen sei, wie die bei Theologen so beliebte Rede von einem Ewigkeitskern in der Persönlichkeit zeige. Die Existenz des Menschen habe unerwartet viel mehr mit Staub und Zeit und Masse zu tun als gedacht, und es sei deswegen keinesfalls verkehrt, sich auch theologisch mit diesen Dingen zu beschäftigen. Der Schreiber des anonymen Beitrags106 verteidigte sich daraufhin: Die Bedeutung der Barthianer könne schwerlich überschätzt werden, und existentielles Denken sei nicht mit dem Denken vergangener Zeiten gleichzusetzen. Ihm sei einzig die Beobachtung wichtig, dass ein ganzes Heer von ergriffenen Barthianern erst keine Kritik an Barth zuließ und andere ausgegrenzt habe, Barth aber nun bei den meisten von ihnen nicht mehr aktuell sei. Diese Leute hätten zwar Ahnung von modischen, jedoch nicht von existentiellen Dingen. Konstellationen: Eine Vermutung über Gespenster Der gespenstisch anmutende Titel von Noordmans’ Reaktion und der Inhalt des Meinungsaustauschs macht zunächst noch einmal deutlich, was sich schon in Barths Reisebericht nach seinem ersten Besuch abzeichnet hatte: Bis zum Ende der 30er Jahre hatte sich ein offenbar als recht dominant wahrgenommenes, neues theologisches Phänomen in die niederländische theologische Landschaft eingenistet, nämlich das mehr oder weniger gespenstisch anmutende Massenphänomen der Barthianer. Auch Barth selber erschrak nota bene ja bei seinem ersten Besuch laut Bericht107 vor dieser seinem Eindruck nach an seiner Theologie besonders stark interessierten Gruppe, die ja von den Barth nahestehenden „barthianischen“ Barth-Rezipienten Noordmans und Haitjema offensichtlich unterschieden werden muss. Die bei Noordmans angetroffene und oben dargestellte sehr ausführliche Barth-Rezeption zwischen 1926 und 1933 macht es nun an dieser Stelle er104 O. Noordmans, De schimmen der barthianen, AWCC 7, 1930/31, 45, 4 – 5. Ich zitiere nach NVW 3, 634 – 636. 105 AaO., 434. 106 Anon., AWCC 7, 1930/31, 45. Ich zitiere nach NVW 3, 638. 107 Vgl. Barth, Rundbrief v. 4. 6. 1926.
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forderlich, die in Kapitel 3 dieser Studie begonnene Beschreibung der Rezipienten-Konstellation zu ergänzen: Zwar entzündete sich der Konflikt um Barths Theologie, wie dort herausgearbeitet wurde, vor allem im orthodoxeren Lager, nämlich zwischen dem konfessionell-reformierten Haitjema und den gereformierten Theologen Schilder und Hepp beziehungsweise dem Einzelgänger De Hartog, doch erweist sich nun – unter Einbezug der BarthRezeption Noordmans’ – das Lager reformierter Barth-Rezipienten qualitativ und quantitativ als wesentlich umfangreicher als das gerefomierte Lager. Arbeitete Haitjema vor allem die Differenz zum neocalvinistischen Lager heraus, ohne allerdings die Differenzen zu den anderen niederländischen protestantischen Strömungen zu vernachlässigen, so war es Noordmans’ Stärke, einerseits inhaltlich die Herausforderungen der Theologie Barths für die ethische, die konfessionelle und die liberale Theologie aufzuzeigen und andererseits die Anschlussfähigkeit der dialektischen Theologie insbesondere für die ethische Theologie herauszustellen. Wie bereits Haitjema hielt auch Noordmans das neocalvinistische Lager für am wenigsten anschlussfähig und betonte wie dieser gerade die kritische Herausforderung dieser Theologie auch für die eigene Richtung. Somit folgte auch Noordmans dem in allen Lagern festzustellenden Trend, sich Barth gerade in dem jeweils eigenen Lager aneignen zu wollen. Zudem trug Noordmans, indem er als Dolmetscher der Theologie Barths auftrat, wie Haitjema ganz erheblich zur Klärung der Debattenlage in den Niederlanden bei. Doch waren Noordmans’ Dolmetschertätigkeiten umfassender : Seine vielfältigen erklärenden Kontextualisierungen und transponierenden Rekontextualisierungen der Theologie Barths trugen nicht nur zur Klärung und zum Verständnis des Fremden bei, sondern bildeten zugleich den Auftakt für eine ausgeprägte eigene Reinszenierung der Theologie Barths vor dem eigenen (Barth als fremd unterstellten) ge/reformierten Hintergund in den Niederlanden (Horizontabhebung). Dieser Prozess kann genauer wie folgt beschrieben werden: Im Laufe seiner Auseinandersetzung kontextualisierte Noordmans Barths Römerbrieftheologie erstens theologisch als Variante des auf Diskontinuität angelegten lutherischen Lehrtyps, zweitens ideengeschichtlich als Teil einer auch theologischen Protestbewegung gegen den Humanismus des 18. und 19. Jahrhunderts und drittens sozialphilosophisch als Variante eines religiösen Materialismus. Den sekundären Kontext, der die Kulisse für die Rekontextualiserung der Theologie Barths in den Niederlanden bildete, beschrieb er erstens theologisch als einen auf Kontinuität angelegten refomierten Lehrtyp und zweitens ideengeschichtlich als radikal-moderne Humanismuskritik, die Ausdruck eines auch viele niederländische protestantische Strömungen betreffenden Epochenwechsels war. Daraus ergab sich Noordmans’ Bestreben, die Theologie Barths in den Niederlanden nicht einfach zu kopieren, sondern deren Reinszenierung als alternative Kulturtheologie vor einem gleichsam in Bewegung geratenen reformierten Hintergrund vorzuschlagen. Für dieses Bestreben ergaben und ergeben sich im Laufe seiner Auseinandersetzungen verschiedene kombina-
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torische Modelle. Obwohl Noordmans durchaus auch die eigene ethische Theologie kritisch betrachtete, schälte und schält sich als die eigentliche Front zunehmend der niederländische Neocalvinismus heraus. Letzlich ging es dem synthetisch interessierten Noordmans aber nicht um ein Festhalten an der Konfrontation, sondern gerade um eine Kombination des so genannten lutherischen und des so genannten reformierten Lehrtyps. Das in den 20er und frühen 30er Jahren vorherrschende Modell der Kombination war, wie meine Untersuchungen in diesem Abschnitt aufzeigten, das der umschließenden Integration, nämlich der Umschließung der kleinen (reformierten) durch die große (lutherische/barthianische) Theologie. Noordmans’ ausführliche, eigenständige und kreative Barth-Rezeption in den 20er und den frühen 30er Jahren des 20. Jahrhunderts macht stärker als das im vorhergehenden Kapitel Erarbeitete im Ansatz deutlich, dass der eigentliche Konflikt der Barth rezipierenden Lager der Konflikt zwischen einer theologischen Orthodoxie und einer theologischen Modernität war, wobei selbstverständliche Einteilungen und Frontstellungen durch den Epochenwandel des frühen 20. Jahrhunderts in Bewegung gekommen waren. Spreche ich also in dieser Studie von der Polarisierung verschiedener Rezeptionsstränge, so meine ich die zunehmende Polarisierung zwischen theologisch eher liberalen und theologisch eher orthodoxen Strömungen dieser Zeit, zwischen die sich vermittelnd oder im Sinne eines dritten Faktors, eine Barths Theologie gegenüber mehr oder weniger selbständige, immer deutlicher hervortretende niederländische Barth-Schule schiebt. Als deren profiliertester Vertreter neben Haitjema kann in den später 20er Jahren des 20. Jahrhunderts nach der nun geleisteten Untersuchung in diesem Abschnitt nun auch, oder vielleicht sogar in noch stärkerem Maße, Noordmans betrachtet werden. Denn Noordmans reinzenierte, wie gezeigt, Barths Römerbrieftheologie als radikalmoderne Kulturtheologie und stellte damit eine zeitgenössische Alternative zur in den Niederlanden bislang dominanten neocalvinistischen Kulturtheologie des 19. Jahrhunderts bereit. Dieser Versuch einer radikal-modernen Kulturtheologie kann, was diese frühe Barth-Rezeptionsphase betrifft, inhaltlich dahingehend umschrieben werden, dass Noordmans sich von Barth für das Projekt einer alternativen Kulturtheologie nicht nur von dessen erkenntnistheoretischer Wende inspiriert fühlte, sondern sich darüber hinaus durch die damit verbundene Betonung des konkreten, auch leiblichen bedürftigen Alltagsmenschen angesprochen fühlte. Das von Noordmans anvisierte radikal-moderne, eurozentrismuskritische Subjekt sollte gleichsam eine theologisch ernstzunehmende Alternative zu der sowohl im deutschen Idealismus als auch in der niederländischen ethischen und neocalvinistischen Theologie vorherrschenden Persönlichkeitsidee bilden. Weitere wichtige Elemente dieser alternativen Kulturtheologie waren in dieser Phase die Suche nach einer alternativen Integration der Ethik und nach einem alternativen Zeitbegriff, in dem es um das Zusammenspiel von zeitlicher Kontinuität und Diskontinuität ging. Damit
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zusammenhängend stand auch das ge/reformierte progressiv-kausale Verständnis des Verhältnisses zwischen Schöpfung und Erlösung zur Debatte.
4.4 Die Barthsche Wende zur Dogmatik Nach 1933 publizierte Noordmans sechs Beiträge zur Theologie Barths, in denen er sich vorwiegend mit Barths Prolegomena zur Kirchlichen Dogmatik108 auseinandersetzte und in denen er im Vergleich zu den 20er Jahren insgesamt weniger als Dolmetscher und stärker als sympathisierender Kritiker der dogmatischen Theologie Barths auftrat. Letzeres ist auch damit zu erklären, dass Noordmans 1934 eine in den Niederlanden viel beachtete eigene kleine Dogmatik mit dem Titel Herschepping (Neuschöpfung)109 publiziert hatte, in welcher er den eigenen Ansatz stärker als zuvor ausgearbeitet hatte. Vier der ab 1933 publizierten Aufsätze110 beziehe ich in meine Darstellung von Noordmans’ späterer Barth-Rezeption nicht oder kaum ein, da in ihnen keine wesentlich neuen Gedanken erarbeitet wurden. Bedeutend ist hingegen ein erst nach dem Zweiten Weltkrieg publizierter Beitrag über Barths Schöpfungslehre; ihn behandle ich ebenfalls in diesem Abschnitt, da er inhaltlich gesehen zur Klärung der ab 1934 zunehmend deutlicher hervortretenden Differenz zwischen Barth und Noordmans beiträgt. Betrachtet man die späte Barth-Rezeption Noordmans’ in den 30er und 40er Jahren im Überblick, so zeigt sich, dass er seine ursprüngliche These von Barths Theologie als eines Luthertums en marche aus den 20er Jahren wieder aufgriff und weiter ausarbeitete. Obwohl Noordmans in der Kirchlichen Dogmatik eine seinem Denken entgegenkommende Entwicklung Barths in Richtung auf das reformierte Kontinuitätsdenken wahrnahm, blieb ihm diese Theologie aufgrund ihres diskontinuierlichen (lutherischen) Denkens fremd. Setzte Noordmans bereits in seiner 20er-Jahre-Theologie seine Hoffnung auf die Möglichkeit einer fruchtbaren Kombination des reformierten und des lutherischen Lehrtyps (Umschließung der kleinen durch die große Religion), setzte er diesen Ansatz jetzt insofern fort, als er auf eine gegenseitige Korrektur der neocalvinistischen und der Barthschen Theologie hoffte. Noordmans verfolgte mit anderen Worten trotz oder wegen seiner zunehmenden Kritik das Projekt einer alternativen Kulturtheologie im Gespräch mit Barth 108 Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass sich Noordmans’ Reflexionen zur dogmatischen Theologie Barths nicht auf dessen Christliche Dogmatik im Entwurf, sondern im Wesentlichen gleich auf die ausgereifte Theologie der Kirchlichen Dogmatik beziehen. 109 O. Noordmans, Herschepping, in: NVW 2, 214 – 322. 110 Vgl. O. Noordmans, Vragen binnen de dialectische theologie, in: NVW 3, 663 – 667; Ders., De boodschap der Zwitsers, aaO., 668 – 871; Ders., John Knox en Karl Barth, aaO., 672 – 675, Ders., Karl Barth, aaO., 676 – 680.
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weiter, eine Entwicklung, die es im Folgenden im Einzelnen nachzuzeichnen und rückblickend zusammenzufassen gilt. Das Problem des Wortes als Problem des Raumes Der in dem Sammelband De openbaring der verborgenheid (Die Offenbarung der Verborgenheit)111 1934 erstmals herausgegebene Aufsatz Het kerkelijk dogma (Das kirchliche Dogma)112 war einer der wichtigsten theologischen Beiträge Noordmans’ überhaupt. Alle Autoren des Bandes, so Noordmans, teilten „das Bewusstsein von einer kirchlichen und dogmatischen Not“113, die nach dem notwendigen „Abbruch eines gewissen geistlichen Kapitalismus“114 – gemeint ist die idealistische Theologie in Deutschland und der niederländische Neocalvinismus – aufgekommen sei. Dass man in Deutschland trotz des hohen Freiheits- und Persönlichkeitsideals anno 1934 noch nicht einmal „Raum für Luthers ,Freiheit eines Christenmenschen‘“115 habe, zeige das Scheitern des „geistlichen Kapitalismus“ an, lasse viele wieder Anschluss an die Wirklichkeit suchen und werfe sie auf die Armut und Torheit der Bibel zurück. Wie bereits in früheren Beiträgen las Noordmans Barth – in diesem Fall dessen Prolegomena zur Kirchlichen Dogmatik – auch in den 30er Jahren kontextuell und betrachtete ihn als gesellschaftlich engagierten Zeitgenossen: Der Streit um das Dogma zeige, so Noordmans, dass es sich bei der dialektischen Theologie als theologischer Protestbewegung gegen den geistlichen Kapitalismus nicht um eine Studierzimmerrevolution handle. Denn das aufblühende Heidentum in der Politik öffne vielen wieder die Augen für den Gegensatz zwischen christlicher Wahrheit und moderner Gesellschaft, weise einen auf das Scheitern philosophisch-116 oder christlich-humanistischer117 Bewegungen hin und mache deutlich, dass ohne die aufwendige Verpackung vergangener Zeiten vom Dogma nicht viel mehr als ein Skelett übrig geblieben sei. Angesichts des nunmehr mageren Zustands des Dogmas sei es besser, dieses nicht länger als Teil der menschlichen Kulturgeschichte, sondern in seiner eigenen Ordnung zu betrachten und zu hoffen, dass der Geist Gottes es wieder lebendig mache. Noordmans verfolgt in seinem Beitrag das Ziel, in sieben Punkten der Auseinandersetzung mit Barth und dem niederländischen Barth-Rezipienten und -adepten Theodorus L. Haitjema eine eigene pastorale Dogmatik zu 111 S.H.F.J. Berkelbach van der Sprenkel u. a. (Hg.), De openbaring der verborgenheid, Baarn 1934. Der Band wird ausführlich in Kap. 5 dieser Studie behandelt. 112 O. Noordmans, Het kerkelijk dogma, in: Berkelbach van der Sprenkel u. a. (Hg.), De openbaring, 103 – 124. 113 AaO., 104. 114 AaO., 103. 115 AaO., 103. 116 Noordmans denkt an Sokrates. 117 Noordmans denkt an Vinet und den Vater des Neocalvinismus, A. Kuyper.
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entwickeln. Im Gegensatz zur symbolischen und zur rhetorischen Dogmatik der Ost- beziehungsweise Westkirche und in Abgrenzung zum Semi-Pelagianismus der römisch-katholischen Kirche gehe es in der pastoralen Dogmatik um ein reformatorisches Projekt. Man gehe davon aus, dass sich das trinitarische Wort einseitig und einmalig an den Menschen richte und jegliche Korrelation am Ende sei. Die Aktualität eines solchen Vorhabens zeige sich am Widerstand der dialektischen Theologie gegen eine Zeit der Osmose und der Säkularisierung des Dogmas. Mit Barth, der in den Prolegomena ebenfalls zwischen einer pastoralen und einer symbolischen Dogmatik unterscheide, sei erstens an der Härte und der Armut des Dogmas festzuhalten, um es „vor dem Untergang in der Kulturphilosophie“118 zu retten. Barth entwickle auch ein Verständnis des Dogmas als Funktion der Kirche und der kirchlichen Verkündigung. Er trenne es nicht von der Dogmengeschichte, sondern betrachte es als Gespräch aller Dogmatiker inklusive der Laien untereinander. Trotz grundsätzlicher Sympathie für Barths Ansatz sei an diesem Punkte jedoch kritisch auf die Gefahr hinzuweisen, dass das Kind mit dem Bade ausgeschüttet werde und man ins „semi“119 der Rhetorik120 und Scholastik121 zurückfalle. Eine pastorale Dogmatik sei besser als „struktureller Durchschnitt einer Predigt, die damit beschäftigt [sei], ein Herz zu bekehren“122. Sie sei als „Abbild des Heiligen Geistes, der auf frischer Tat beim Trösten eines Gemütes erwischt werde“123, anzusehen. Sie korrespondiere mit der Kirche als einem „actus purus“124, wie Barth sage. Dass Barth das Dogma auf die Predigt gerichtet und dafür gesorgt habe, dass es zwischen Exegese und Predigt seinen „Wort-Charakter“125 nicht verliere, sei als dessen großes Verdienst anzusehen. Nun habe Barth aber zweitens Offenbarung, Schrift und Glaube in einer „zeitlichen Abfolge“126 statt in „räumlicher Ausbreitung“127 angeordnet. Die Predigt habe sich dementsprechend auf ein Heute zu richten, stimme mit den Propheten und Aposteln überein, schneide frühere Erwägungen oder andere Möglichkeiten ab und lasse nur die eine Möglichkeit übrig, nämlich das Wort Gottes zu glauben. Das Wort stelle so eine Art Schalter in einer Geschichte dar, deren unsichtbare Fortsetzung der Glaube sei. Erst das sei das Ende der Pre118 AaO., 112. 119 AaO., 105. 120 Für die Gefahr der Rhetorik seien die Verdoppelungen in Barths Römerbrief und der damit zusammenhängende Prädestinationgedanke ein aktuelles Beispiel. 121 Für die Gefahr der Scholastik habe die erste Auflage von Barths Dogmatik – Noordmans meint vermutlich Barths Christliche Dogmatik im Entwurf – oft als Beispiel gedient. 122 Noordmans, Het kerkelijk, 113. 123 Ebd. 124 Ebd. 125 Ebd. 126 Ebd. 127 Ebd.
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digt als Rhetorik. In der eigenen reformierten Dogmatik128 habe man sich hingegen an eine Grenze begeben, wenn man nach dem Übergang des äußeren zum inneren Wort gesucht und dabei die Grenze zwischen einem räumlich aufgefassten inneren Wort und dem Geist nicht beachtet habe. Zwar hätten die Lutheraner den reinen, unräumlichen Charakter des Wortes besser bewahren können als die Reformierten, doch hätten sie damit trotzdem nicht verhindern können, dass die deutsche Theologie des 19. Jahrhunderts gerade wegen ihrer räumlichen Wortauffassung so viele fremde Inhalte habe aufnehmen können. Demgegenüber sei die dogmatische Armut zu betonen, und die dialektische Theologie lasse sich als ein Aufschrei gegen das Wiederaufleben der platonischen Anamnese im deutschen Idealismus interpretieren. Die aktuelle deutsche Hilflosigkeit angesichts des Auflebens von Kategorien wie Volk und Rasse unterstreiche lediglich, dass der Idealismus keine Alternative für den einen Weg sei, auf den die Schrift letztendlich weise. Zwar seien auch calvinistische Länder wie die Niederlande vom deutschen Idealismus beeinflusst worden und von daher ebenfalls korrekturbedürftig, doch könne die dialektische Theologie, die mit „schrillen Paradoxen wieder auf die Wirklichkeit, die sich hinter der Ideologie verb[erge]“129, hingewiesen habe, aufgrund des unterschiedlichen, reformierten Kontextes „in calvinistischen Ländern […] nicht nachgeschrieben werden“130. Obwohl also nach Noordmans deutlich zwischen dem lutherisch-idealistischen deutschen und dem reformierten niederländischen Kontext zu unterscheiden ist, könne drittens die dialektische die reformierte Theologie dennoch korrigieren: Sie erinnere die reformierte Theologie an „ihre eigene ursprüngliche Haltung gegenüber der existenziellen Sphäre“131, das heisst, an das „Verhältnis zum Staat“132. Gerade im Verhältnis zum Staat habe die Dogmatik „am ärmsten“133 zu sein, und da sich Barth diesbezüglich in seiner Dogmatik verhältnismäßig zurückhaltend verhalte, stehe er von allen dialektischen Theologen „am stärksten“134 da. Seine Dogmatik kenne keine andere Möglichkeit als den actus purus der Kirche. Als unmissverständlicher Leitbegriff einer pastoralen Dogmatik ergebe sich somit das Wort, das auf „die eine Schrift, das eine Dogma, das eine Geschehen der Kirche“135 hinweise. Noordmans führt weiter aus, dass er trotzdem eine Gefahr bei Barth sehe: Barth verhalte sich zwar dem Existentiellen (lies: dem Staat) gegenüber sehr kritisch, doch stamme gerade der für ihn methodisch so wichtige Begriff 128 Noordmans verweist diesbezüglich auf Th.L. Haitjema, Het woord Gods in de moderne cultuur, Groningen/Den Haag/Batavia 1931. 129 Noordmans, Het kerkelijk, 117. 130 Ebd. 131 AaO., 118. 132 Ebd. 133 Ebd. 134 Ebd. 135 Ebd.
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„kritisch“ aus einem (philosophischen) Zusammenhang, der der wahren Funktion des Wortes wenig Verständnis entgegengebracht habe. Wenn man wie Barth die Osmose in der Theologie mit einer glaubenskritischen Methode bestreiten wolle, müsse man sich vor der damit verbundenen Gefahr hüten, durch den Gebrauch von (philosophischen) Methoden erneut von der wahren Funktion des Wortes abzulenken. Nun seien die Prolegomena zur Kirchlichen Dogmatik im Vergleich zum Römerbrief, der sich ja aufgrund seiner lutherischen Wortauffassung durch absolute Momente, Verdoppelungen und immer wieder neue Begegnungen zwischen Gott und Mensch auf dem Heilsweg auszeichne, erfreulicherweise zum einen wesentlich reformierter und zum andern wesentlich kirchlicher : Typisch reformiert beziehungsweise calvinistisch sei etwa die Auffassung, dass das „Wort Gottes in einer einzigen Richtung durch das Leben“136 gehe, beziehungsweise, dass es „von der Prädestination bis hin zur letzten Auferstehung ein fortwährendes Sprechen Gottes“137 gebe. Die reformierte Dogmatik unterstelle auch keine Anthropologie, die für den Menschen eine aufsteigende Treppe (der Begegnung in absoluten Momenten; SH) zum Werk der Dreieinigkeit bereithalte, eine Auffassung, wie sie auch in der Kirchlichen Dogmatik mit der Rede von einem freien Ereignischarakter des Wortes annäherungsweise vertreten werde. Barth spreche dort zwar von einer Einheit von Wort, Tat und Geheimnis, die er in einem bewusst zeitorientierten, die Räumlichkeit ausschaltenden Schema von Erinnerung und Erwartung unterbringe, doch fülle er die Kluft zwischen gestern und morgen nicht. Indem er das Gestern und das Morgen nicht verbinde, führe Barth die reformierte Dogmatik an die Grenze, an der Wort und Geist zusammenfielen, oder gar darüber hinaus. Zudem sei die Kirchliche Dogmatik im Verhältnis zum Römerbrief insofern wesentlich kirchlicher, als sie die sich auf verschiedenen Stufen wiederholenden, sakramentalen, mittelalterlichen Resten gleichenden Ruhe- und Kontaktpunkte zwischen Gott und Mensch zugunsten einer mehr durch die Predigt gerichteten Orientierung auf dem Heilsweg ersetze. Statt um verschiedene neben- oder übereinanderstehende Worte gehe es nun um sich in zeitlicher Abfolge zueinander verhaltende Worte. Die Kirchliche Dogmatik gehe ganz wie in einer pastoralen Dogmatik üblich von einer „zum Wort vergeistlicht[en]“138 „Geschichte“139 aus. Obwohl also Barth in der Kirchlichen Dogmatik die Augenblickstheologie verlassen und mit den Begriffen Erinnerung und Erwartung einen gewissen zeitlichen Zusammenhang ermöglicht habe, habe er „den Zusammenhang der reformierten Theologie“140 als solchen, bei dem Geschichte und Wort ineinander übergingen und der geistliche 136 137 138 139 140
AaO., 119. Ebd. AaO., 120. Ebd. Ebd.
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Kontinuität ermögliche, gerade nicht übernommen. In der reformierten Dogmatik stelle man sich den Christen nicht als einen stillstehenden, sondern als einen sich fortbewegenden Menschen vor, nicht als einen, der sich erinnere, um dann wieder zu warten, sondern als jemanden, bei dem Glauben in Leben übergehe und als einen, der eine Kraft des Wortes kenne, die Erinnerung und Erwartung miteinander verbinde. Zwar bestimme Barth den Heiligen Geist zu Recht als denjenigen, der in der Predigt das letzte Wort zu sagen habe, doch kenne er ihn nicht als Sprecher des nächsten Wortes und als den bleibenden Tröster. Insofern biete auch die Kirchliche Dogmatik noch keine wirkliche Entspannung. Sie schreibe der Prädestination keine „zeitbindende Bedeutung“141zu, sondern lege diese „von Moment zu Moment auf das Hören des Wortes“142 fest. Barths dogmatische Theologie sei viertens als „atomistisch“143 zu bezeichnen. Habe Barth im Römerbrief noch einen umgekehrten Kantianismus vertreten, mit dem man auf den Sinnzusammenhang des Lebens von oben herabschauen könne und der sich dann in der Prädestinationslehre nach zwei Seiten hin entfalte, so habe er diesen in der Kirchlichen Dogmatik aufgrund tieferer Einsichten in die Bedeutung des Wortes und damit den Sinnzusammenhang des Lebens stark reduziert. Ein fünfter Punkt betreffe den Übergang zwischen Wort und Geschichte. Bereits Haitjema habe darauf hingewiesen, dass die religiöse, nur auf das Individuum gerichtete Erkenntnistheorie des Römerbriefs durch eine reformiertere und kirchlichere Erkenntnistheorie zu ergänzen sei. Barth sei diesbezüglich in der Kirchlichen Dogmatik zwar weitergekommen, aber auch hier auf halbem Wege stecken geblieben. Zwar betrachte er beispielsweise den Prediger von gestern und morgen als einen, der „in einer Reihe“144 mit Jeremia und Paulus stehe, doch ständen die Worte bei Barth still und bildeten keine Prozession, in deren Mitte man aufgenommen werde, um weiter zu gehen. Zwischen der Predigt von gestern und der von morgen befinde sich bei Barth eine Leerstelle („Blanco“145), zu der das Dogma nichts sagen könne. Diese Leere zwischen Erinnerung und Erwartung sei das eigentliche, problematische Wesensmerkmal von Barths Prolegomena. Man vermisse bei Barth kurzum einen explizit theologischen Zeitbegriff. Seine Wortauffassung sei letztlich lutherisch geblieben: Die Verkündigung des Wortes finde nicht so sehr an, sondern unter Menschen statt. Wie Luther gehe es Barth nicht um Gemeindebildung und wie bei diesem setze die Predigt bei ihm ein Gegenüber wie den Staat, die Existenz oder den Heiden voraus. Das Wort bilde zwar eine intermittierende Reihe unverbundener Kontaktpunkte, 141 142 143 144 145
Ebd. Ebd. Ebd. AaO., 121. Ebd.
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und die Löcher zwischen den einzelnen Momenten seien in der Kirchlichen Dogmatik etwas reduziert worden, doch bleibe Barths Wortauffassung der astronomischen Zeit verhaftet. So sei das Problem seiner Theologie letztendlich, dass sie im Gegensatz zum trinitarischen Dogma keinen theologischen Zeitbegriff kenne. In der pastoralen Dogmatik gehe es um die Verbindung zwischen dem Wort Gottes und der Zeit im Sinne „einer reinen ,dur¦e‘, die uns an die Grenzen des Ewigen“146 führe und die die verschiedenen Stadien im Leben eines Christen miteinander verbinde. In der reformierten Wortauffassung „gehe“147 das Wort wie in der Geschichte, aber auf verborgenere, geistlichere Weise, während der Heilsweg bei Barth „etwas Doppeltes“148 habe. Einzuräumen sei allenfalls, dass die gespanntere Wortauffassung Barths gegenüber den biologischen oder physischen Fehlinterpretationen der dur¦e der theologischen Zeit in der reformierten Theologie des 17. Jahrhunderts sicherlich eine angemessene Herausforderung darstelle und dass so eine Erhöhung der lutherischen Spannung im Calvinismus zu begrüßen sei. Doch nur mit einer Erinnerung an die lutherische Wortgebundenheit werde man siebtens der Prädestinationslehre nicht ganz gerecht. Die Verbindung zwischen Wort und Trinität bei Luther sei nämlich eine andere als die zwischen Wort und Prädestination bei Calvin. Zudem gebe es letztlich nur ein einziges Dogma, und dieses habe eine tröstendere Rolle als das außerhalb der theologischen Zeit zu uns gekommene intermittierende Wort in der lutherischen Theologie. Bei Barth vermisse man das „Vertrauen des Ausharrens“ der Dordrechter Lehrsätze (Artikel V.13). Und da es hier um das Innerste, das Heiligtum der Dogmatik gehe, sei dieser Punkt sogar wichtiger als etwa das Problem des Anknüpfungspunktes. Insgesamt seien die in Barths Wortauffassung wahrnehmbaren Spannungen am besten als „Restbestand einer transzendentalen Sichtweise“149 zu betrachten, die die Zeitform des Wortes auf gespenstische Weise räumlich durchsetze, derweil das Wort in der reformierten Sichtweise eine die transzendentale Sicht übersteigende zeitliche Gebundenheit habe. Zurückblickend auf sein eigenes Projekt spricht Noordmans am Ende des Beitrags in Abgrenzung zu Haitjema von der Suche nach einem alternativen Kritizismus. Haitjema gehe subjektiv von der Form aus, in der man die Offenbarung empfange, und objektiv von der Gestalt, die die Offenbarung in der Predigt annehmen müsse. Doch beide Ausgangspunkte grenze Haitjema zu sehr ein. Eine transzendentale Begrenzung, wie sie Haitjema vor Augen stehe, laufe Gefahr, Wichtiges auszuschliessen. Ein demgegenüber alternativer Kritizismus beziehe hingegen das gesamte zu erforschende Feld der Predigt mit ein und suche nach einer Form des Dogmas, die dessen Einheit repräsentiere. 146 147 148 149
AaO., 121 f. AaO., 122. Ebd. AaO., 123.
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Trinität und Prädestination könnten dann zusammenhängend betrachtet werden. Der Faden des Wortes breche nicht ab; die theologische Zeit verbinde den Trost des absoluten Augenblicks mit dem Vertrauen des Ausharrens. Das Zeit-Problem des Wortes Inzwischen wurde in den Niederlanden diskutiert, ob man Barth nach seiner Entlassung von der Universität Bonn im Jahr 1934 beziehungsweise 1935 einen besonderen Lehrauftrag geben sollte. Die Bitte wurde von der Synode der Nederlandse Hervormde Kerk zwar abgewiesen, doch konnte Barth aufgrund einer privaten Initiative in den Monaten Februar und März 1935 Seminare an der Universität von Utrecht geben. Von einer Anwesenheit Noordmans’ bei Barths Vorlesungen in Utrecht ist mir nichts bekannt. Doch hielt Noordmans am 16. 3. 1935 in Amsterdam eine wahrscheinlich auf Deutsch vorgetragene Rede, die er nach der Vermutung der Herausgeber der Noordmans-Gesamtausgabe möglicherweise anlässlich einer Begegnung mit Barth in Amsterdam geschrieben hatte. Die damals nicht publizierte, aber in der Gesamtausgabe abgedruckte Rede hat den anregenden, doch nicht näher ausgeführten Titel Ik ben met Barth onder hetzelfde oordeel (Ich stehe mit Barth unter demselben Gericht)150 und bietet eine Ausarbeitung der im letzten Beitrag bereits begonnenen Kritik der Prolegomena zu Barths Kirchlicher Dogmatik. Wie Noordmans selbst einleitend feststellt, seien seine Gedanken151 zum Problem der Kontinuität in den Niederlanden inzwischen unter dem Nenner einer „neuen Kontinuitätslehre“152 bekannt geworden. Wie die Irrwege der modernen (liberalen) Theologie und überhaupt die Theologen des 19. Jahrhunderts zeigten, gebe es viele Gründe, sich vor dem von Descartes begründeten Kontinuitätsdenken in Acht zu nehmen. Barth153 nenne diese Kontinuität, die das Wort ausschalte, existentiell-ontologisch. Nun, so Noordmans noch einmal, seien Barths Prolegomena zwar schon wesentlich reformierter als der Römerbrief, doch sei kritisch zu fragen, ob Barth sich „der Theologie des dynamischen Wortes“154 nicht mit verfeinerten lutherischen Ideen genähert habe und eben darum „die Eigenart des Reformierten“155 nicht erreicht habe. Zur Verdeutlichung führt Noordmans fünf im Grunde schon früher geäußerte Kritikpunkte an: Man müsse sich erstens fragen, ob Barth nicht trotz seiner Intention, die Phänomenologie zugunsten des Heiligen Geistes auszuschalten, dennoch phänomenologisch vorgehe. Man spüre bei ihm eine ge-
150 O. Noordmans, Ik ben met Barth onder hetzelfde oordeel, in: NVW 3, 639 – 645. 151 Gemeint ist Noordmans’ 1934 publiziertes Buch Herschepping; vgl. Noordmans, Herschepping, in: NVW 2, 214 – 322. 152 Noordmans, Ik ben met Barth, 639. 153 Vgl. Barth, KD I/1, 37.41. 154 Noordmans, Ik ben met Barth, 642. 155 Ebd.
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wisse „Projektion des Geheimnisses auf das Bewusstsein“156, während die reformierte Theologie sich durch die Abwesenheit „philosophische[r] Zutaten und Kriterien“157 und durch eine gewisse „Einfachheit und Sachlichkeit“158 auszeichne. Zweitens sei zu bemängeln, dass Barth den Heiligen Geist erst ganz am Ende der Prolegomena und also viel zu spät ins Spiel bringe. Demgegenüber sei die reformierte Theologie weniger idealistisch und insofern realistischer, als sie eine logische und theologische, tröstende Kontinuität zwischen Offenbarung und Verkündigung unterstelle. Drittens sei nochmals zu betonen, dass Barth hinsichtlich des Ereignischarakters des Wortes zwar drei Zeiten unterscheide, dass bei ihm aus der Sukzession aber nie eine Prozession entstehen könne. In der reformierten Theologie bildeten Offenbarung, Schrift und Verkündigung – die drei Gestalten des Wortes Gottes – eine stärkere Einheit, man stehe bei der Sukzession weniger still und warte weniger auf den Antecessor. Anders als bei Barth umspanne das Wort Vergangenheit und Zukunft, ohne das Heute auszuschließen. In der reformierten Auffassung habe das Wort bindenden Charakter. Viertens betone Barth trotz gegenteiligem Versuch noch zu sehr die astronomische statt der theologischen Zeit, was wiederum seine Beeinflussung durch den „griechischen Gedanken“159 veranschauliche. Gehe man bei den Reformatoren von einem einfachen, unhierarchischen Ineinanderfliessen der drei Gestalten des Wortes und der drei Zeiten aus, so breche Barth die Zeiten Vergangenheit und Zukunft und auch das Wort auseinander und erkläre anstelle des Trostes des Ausharrens das Zittern und Wagen zum Wesen des Glaubens. Fünftens und letztens sei noch einmal zu betonen, dass Barth zwar gerade nicht von einem Wesen des Wortes sprechen wolle, dass ihm die Ausschaltung einer Phänomenologie aber nicht gelinge. Wenn man wie Barth das Wort als ein Ereignis beschreibe, spreche man nicht über ein zu hörendes Wort. In der theologischen Zeitauffassung sei das Heute der Gnade ein ausgedehntes Heute. Eben das mache für ihn, Noordmans, „,[e]ine theologische Existenz heute‘“160 aus. Die Forderung nach einer alternativen christlichen Philosophie Ein letztes Mal griff Noordmans im Rahmen seiner Barth-Rezeption der späten 30er Jahre das Problem der Kontinuität explizit in einer vor der Groninger Fakultätsvereinigung gehaltenen Vorlesung mit dem Titel Het probleem der continuteit binnen de dialectische theologie (Das Problem der Kontinuität in der dialektischen Theologie)161 auf. Noch einmal leitet er darin sein Thema mit einer philosophiegeschichtlichen Kontextualisierung der Theologie 156 157 158 159 160 161
Ebd. Ebd. Ebd. AaO., 644. Ebd. Das Manuskript ist abgedruckt als O. Noordmans, Het probleem der continuteit binnen de dialectische theologie, in: NVW 3, 646 – 662.
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Barths ein und lässt die Namen Descartes, Schleiermacher und Kierkegaard Revue passieren. Wiederum hebt er hervor, dass Barths dogmatische Theologie wesentlich weniger mit Paradoxen arbeite als seine Römerbrieftheologie. Zudem weist er darauf hin, dass sich in der zeitgenössischen niederländischen Theologie ein starkes Interesse für die von der dialektischen Theologie angeschnittenen Fragestellungen abzeichne. So habe Theodorus L. Haitjema unlängst auf den Mangel an „existentieller Unruhe“162 in der gereformierten Theologie Abraham Kuypers hingewiesen, und Gerardus van der Leeuw habe versucht, diese Unruhe in seiner Einleitung163 zu verarbeiten, Kuypers Fehler zu vermeiden und nach einer Kombination zwischen der Verkündigung als Ausgangspunkt und der für den Neocalvinismus so wichtigen logischen Aktion gesucht. Noordmans sieht, mit anderen Worten, eine gewisse Schnittmenge zwischen zwei aus verschiedener Richtung kommenden theologischen Bewegungen, nämlich zwischen Barths Wende von der Paradoxen-Theologie des Römerbriefs zu einer noch mangelhaft auf das Wort gerichteten dogmatischen Theologie einerseits und der innerniederländischen reformierten Wende von der insbesondere von Abraham Kuyper repräsentierten gereformierten Kontinuitäts-Theologie zu einer neuartigen Worttheologie. Ausgehend von dieser Schnittmenge, möchte Noordmans in Diskussion mit Barth weiterhin an einer alternativen Kulturtheologie arbeiten. Dabei fällt auf, dass er deutlicher als in früheren Beiträgen weniger den deutschen Kulturprotestantismus und stärker den niederländischen Neocalvinismus als denjenigen Hintergrund betrachtet, vor dem diese alternative Kulturtheologie zu entwickeln wäre. Noordmans rekontextualisiert also die Herausforderung der Bedeutung der Theologie Barths für niederländische Verhältnisse. Hierbei taucht gegenüber früheren Beiträgen zusätzliche Kritik auf: Barth verabsolutiere in den Prolegomena zur Kirchlichen Dogmatik den „Gegensatz zwischen Gehalt und Gestalt“164 und behaupte, man könne „nicht christlich denken“165, was als „Fehler“166 in Barths Denken gewertet werden müsse.167 Einzuwenden sei, dass es durchaus eine Kontinuität zwischen Gehalt 162 AaO., 653. 163 Ebd.; Noordmans verweist auf Th.L. Haitjema, Abraham Kuyper und die Theologie des holländischen Neucalvinismus, ZZ 9, 1931, 331 – 354 und auf G. van der Leeuw, Inleiding tot de theologie, Amsterdam 1935. 164 Noordmans, Het probleem, 655. 165 Ebd. 166 Ebd. 167 Zur Erinnerung: Barth unterscheidet bezüglich des Geheimnischarakters des Wortes im § 5 der KD I/1 (Das Wesen des Wortes) im 4. Abschnitt (Die Rede Gottes als Geheimnis Gottes) zwischen der weltlichen Gestalt und dem göttlichen Gehalt des Wortes. In der welthaften Gestalt enthüllt sich Gott in seinem Wort, indem er sich verhüllt und damit für uns hörbar wird (vgl. barth, KD I/1, 182). Beim göttlichen Gehalt geht es darum, dass Gott sich verhüllt, sich aber eben damit enthüllt. Sowohl bei der Enthüllung Gottes in seiner Verhüllung als auch bei der Verhüllung Gottes in seiner Enthüllung geht es darum, das ganze und wirkliche Wort Gottes zu hören. Eine Aufhebung des Unterschieds beziehungsweise Gegensatzes von Gestalt
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und Gestalt des göttlichen Wortes gebe; diese könne man durchaus als christliches Denken bezeichnen: Das Blitzlicht des Paradoxes sei wie der Geist Gottes, der über dem Tohuwabohu schwebe. Er erleuchte den Gehalt, der noch keine Gestalt habe. Erst das Wort erwecke die Gestalt aus dem Gehalt und gebäre so die Kontinuität. Die eigentliche theologische Aufgabe sei es, von der Schöpfung als Gestalt auszugehen, dabei aber nicht zu vergessen, dass die Gestalt eine Hülle für den Gehalt sei und beide also keinen – nur im Glauben überwindbaren – Gegensatz darstellten. So gesehen sei christliches Denken durchaus möglich. Es gehe mit anderen Worten um die Spannung zwischen Schöpfung als Trennung168 und Schöpfung als Form, wobei es ihm selber aber nicht auf den Gegensatz, sondern auf die Verbindung beider ankomme. Nur das Schöpfungswort Gottes sei das Wort, das Licht und Finsternis trenne und damit an den hohen Preis der Kontinuität dessen erinnere, was man Tag nenne. Diese seine Worttheologie kenne also im Gegensatz zu Barth die Kontinuität und setze im Gegensatz zu Kuyper die Diskontinuität voraus. Während die herkömmliche „Schule“ – Noordmans meint mit diesem von ihm oft gebrauchten Ausdruck die „heidnische“ Philosophie – sich zu stark an der harmonischen Form der Schöpfung orientiere, gedenke man in der alternativen christlichen Philosophie zwar der von Gott hervorgebrachten Kontinuität, betrachte die Schöpfung aber vorwiegend als Trennung, die ja vollzogen werden müsse, um die Form überhaupt möglich zu machen. Da nur der Gehalt, nicht jedoch die Gestalt des Wortes überhaupt Vermögen zur Kontinuität habe, sei Kuyper der Sache (und nur der Sache) nach Recht zu geben, wenn er die schöpferische Wiedergeburt Gottes an den Anfang des christlichen Lebens stelle. Noordmans’ in doppelter Abgrenzung gegen Kuyper und Barth entwickelter eigener Ansatz einer alternativen Kulturtheologie wird schließlich noch einmal näher beleuchtet: Er könne sich Haitjemas und Van der Leeuws Kritik an Kuyper durchaus anschließen: Kuyper sei viel zu kontemplativ, zu wenig existenziell und die von ihm entwickelte Idee der logischen Aktion sei insofern nicht christlich genug, als Kuypers Logik nicht asketisch genug (sprich: zu philosophisch oder mathematisch) sei und „zu wenig unter dem
und Gehalt ist nach Barth unmöglich (ebd.). In beiden Fällen können wir nur im Glauben das ganze Wort Gottes hören. Es geht aber nach Barth im Glauben oder im Denken des Glaubens nicht um beider Synthese. Glauben heißt nach Barth, die Synthese als nicht nachvollziehbar anzuerkennen. Einsichtig werden kann uns immer nur das eine oder das andere: Wir können sowohl „realistisch“ als auch „idealistisch“ denken, „aber nicht christlich“, wie Barth sagt (ebd.). 168 Als Hintergrund für diese Aussagen sei hier auf den von Noordmans in dem 1934 publizierten Buch Herschepping (Neuschöpfung) entwickelten forensischen Schöpfungsbegriff hingewiesen, demzufolge Schaffen kein (harmonisches) Bilden, sondern (richtendes) Trennen ist und der voraussetzt, dass durch die Schöpfung ein starker Bruch, die Sünde, läuft; vgl. Noordmans, Herschepping, in: NVW 2, 214 – 322.
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Urteil“169 stehe. Van der Leeuws Idee, den Ausgangspunkt der Verkündigung mit Kuypers Begriff der logischen Aktion zu kombinieren, sei ergänzend in Richtung auf einen alternativen Begriff der logischen Aktion hin zu korrigieren. Die fehlende Kontinuität und logische Aktion in der dialektischen Theologie erweise sich dabei als ein Problem ungeheuren Ausmaßes. Obwohl sich in Barths Rede von der Erinnerung an das Wort durchaus etwas Kontinuität aufspüren lasse, betone er, dass es gerade keine Kontinuität zwischen Christus und der Kirche gebe. Außerdem bestimme Barth das Wort als ein Geheimnis und behalte am Schluss nur noch eine „mystische Begrifflichkeit“170 übrig, mit der er wiederum jegliche substantielle und funktionale Kontinuität ausschalte. Barth habe die reformierte Theologie insofern über ihre Grenze hinaus verlängert, als die Grenze des Worts einerseits von der Existenz her – Noordmans denkt hier an die trennende Eigenschaft des göttlichen Schöpfungswortes – und andererseits vom Heiligen Geist her gezogen werde. Bei Barth aber, der das Wort am Ende seiner Prolegomena zum Geist mache, werde diese zweite Grenze überschritten. Damit werde das Wort aufs Neue völlig bindungslos. In diesem Zusammenhang sei auch an den Bund in der Geschichte zu erinnern, wo sich das Wort ebenfalls binde. In Wirklichkeit gebe es vielerlei Formen der Kontinuität, zum Beispiel die Kontinuitäten „Vater-Sohn-Geist“171, „Glaube-Hoffnung-Liebe“172 oder auch „Verstand-Gefühl-Wille“173. Zu denken sei aber auch an die Kontinuität zwischen Schrift und Bekenntnis sowie an die Kontinuität zu und zwischen den verschiedenen Predigten. Anders als bei dem Neocalvinisten Schilder174 würden diese Kontinuitäten nicht von der Schöpfung her bestimmt und diese abbremsen, sondern eschatologisch, „vom Ende her“175. Die Kontinuität wolle nicht aus den „Fragmenten“176 und „Resten“177 wieder das verlorene Paradies zusammenbauen, sondern betrachte diese als „Pfänder der Treue, Verbindungen, die in einer anderen Welt zusammengeführt werden“178 müssten. Die Noordmans vor Augen stehende alternative Logik der logischen Aktion erweist sich so als eine Logik, die „nicht von dieser Welt“179 ist, vergleichbar den „Samen“180, die „in den Acker der Welt“181 fielen. 169 170 171 172 173 174 175 176 177 178 179 180 181
Noordmans, Het probleem, 656. AaO., 660. AaO., 661. Ebd. Ebd. Noordmans verweist auf K. Schilder, Jezus Christus en het cultuurleven, in: Ders., Jezus Christus en het mensenleven, Kampen 1932. Noordmans, Het probleem, 661. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
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Das Paradies als Lichtkreis um das Kreuz herum Nach dem Zweiten Weltkrieg begann Noordmans 1947 in monatlichen Abständen in kleiner Runde in Arnhem mit einer Besprechung von Barths Schöpfungslehre182 in der Kirchlichen Dogmatik III/1. Es zeigte sich, dass sich sein eigener, in dem Buch Herschepping (1934) entwickelter Ansatz, vom (trennenden, richtenden) Kreuz zur Schöpfung zurückzugehen, trotz vieler auch gemeinsamer Anliegen von Barths Ansatz doch sehr unterscheidet: Das Grundproblem der Schöpfungslehre Barths bestehe darin, dass dieser, wenn er noetisch von Jesus Christus aus zur Schöpfung komme, vom „Zentrum des Glaubens zur Peripherie“183 abschweife, indem er zentrale Themen wie Sünde und Gnade (das Werk Christi) vernachlässige und eher periphere Themen wie Gnade-Güte, Recht, Macht, Anwesenheit Gottes und das Zusammensein zwischen Gott und Mensch (die Inkarnation) bevorzuge. Auf diese Art lande Barth nicht in Gen. 3, sondern in Gen. 1 und 2, also vor dem für Noordmans’ Denken so wichtigen Sündenfall, beziehungsweise in der geschaffenen Wirklichkeit als solcher und nicht in der gefallenen Welt. Zwar betrachte er mit Barth die Schöpfung als einen Glaubensartikel, könne aber von der Schöpfungsgnade nur dann wirklich als Gnade und nicht nur als Güte sprechen, wenn man zuvor den trennenden und richtenden Aspekt der Schöpfung stärker berücksichtigt habe. Christologisch gesehen wiederhole sich das Problem: Während Barths inkarnatorischer Ausgangspunkt das Zusammensein von Gott und Mensch impliziere, gehe er von der Trennung zwischen Gott und Mensch auf Golgotha aus. Das Kreuz – Symbol der Trennung und des Gerichts – stehe seines Erachtens mitten in der Schöpfung und verbinde auch das Alte mit dem Neuen Testament.184 Das Evangelium könne nicht humaner sein als es ist, weil die Schöpfung – deren Resultat ja für Noordmans der Fall ist – so entsetzlich sei. Dass Jesus der Christus sei, könne man dem Evangelium nicht entnehmen, und genau darum könne man auch nicht wie Barth einfach noetisch von Jesus Christus aus zur Schöpfung als solcher zurückgehen. Die Sünde gehe seines Erachtens vielmehr ebenso weit wie die Schöpfung. Die Anknüpfungspunkte für das Evangelium lägen somit nicht in der Schöpfung, sondern in der Verheißung Gottes (nämlich wiederzukommen; SH). So implizierten sowohl die Schöpfung als auch die Versöhnung jeweils sowohl das Gericht – die Trennung – als auch die Gnade – die Verbindung. Wenn die wahre Schöpfung bis nach Golgatha mitgehe, liege auch das Paradies um das Kreuz herum. Die Inkarnation habe man sich dann 182 O. Noordmans, De scheppingsleer van Barth, in: NVW 3, 681 – 689 (Es handelt sich um das in der Gesamtausgabe publizierte Vorbereitungsmanuskript für den Gesprächskreis). 183 AaO., 685. 184 Als Hintergrund darf hier erklärend hinzugefügt werden, dass der forensische Schöpfungsbegriff Noordmans’ prophetisch und eschatologisch ausgerichtet ist. Der Richtungspfeil des Alten Testaments weist vorwärts, auf die Geschichte zwischen Gott und Mensch, in der Gott mit dem Fall mitgeht und das Böse durch Trennung zum Guten wendet und auf das Evangelium richtet, welches seinerseits ebenfalls eschatologisch ausgerichtet ist.
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Zum Versuch einer Kulturtheologie im Gespräch mit Barth
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anders als bei Barth nicht als Abbildung einer ursprünglichen Form vorzustellen, sondern ihre Bedeutung liege darin, dass Christus sich in ihr zur Sünde gemacht, und sich jeder Gestalt und Form für die entledigte Welt entledigt habe. Noordmans entwickelt also mit anderen Worten Ansätze einer kenotisch orientierten eschatologisch ausgerichteten Theologie, in der jeder noch so kleine Rest einer ursprünglichen Schöpfungshumanität, wie man sie nach Noordmans bei Barth noch finden könne, zugunsten einer starken Betonung der Sünde sowohl in der Schöpfung als auch bei der Versöhnung um der Gnade willen abgewiesen wird.
4.5 Rückblick: Zum Versuch einer Kulturtheologie im Gespräch mit Barth I Es ist als das große Verdienst Noordmans’ anzusehen, im Rahmen seiner Barth-Rezeption den Versuch unternommen zu haben, im eigenständigen Gespräch unter anderem mit Barth eine gegenüber dem Neocalvinismus alternative, radikal-moderne, in ihrem Kulturoptimismus gebrochene Kulturtheologie zu skizzieren, in die Begriffe wie Leiblichkeit, wirkliche Humanität, Alltag und Fragmentierung miteinbezogen werden. Dies ist insbesondere auch darum als ein großes Verdienst zu bezeichnen, weil es Noordmans von Anfang an um eine eigenständige Kombination typisch reformierter – und zwar sowohl ethisch-, liberal- als auch neocalvinistisch- und konfessionell-reformierter – Elemente und den als lutherisch bezeichneten, fremden und herausfordernden Gedanken Barths ging. Diesen zwischen Eigenem und Fremdem vermittelnden kombinatorischen Vorgang kann man am besten als den Versuch einer Reinszenierung Barthscher Theologie vor niederländischem Hintergrund bezeichnen. In der ersten Rezeptionsphase bis 1933 wurde dieser Kombinationsversuch unter dem Stichwort der umschließenden Integration der kleinen durch die große Religion beziehungsweise der Kontinuität durch die Diskontinuität vollzogen. In der zweiten Rezeptionsphase ab 1934 kamen neue Kombinationsmodelle hinzu und wandte sich die Suche nach einer alternativen Kulturtheologie expliziter als zuvor gegen den Neocalvinismus. Darin spiegelte sich auch eine allgemeine Entwicklung in der protestantischen niederländischen Landschaft der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts, nämlich die allgemein zunehmende Spannung zwischen den Neocalvinisten und den Barthianern, die im folgenden Kapitel dieser Studie noch einmal thematisiert werden soll. Die in diesem Kapitel thematisierte Reinszenierung der Theologie Barths durch Noordmans beziehungsweise dessen Suche nach einer alternativen Kulturtheologie vollzog sich – rückblickend gesagt – erstens als Suche nach einem alternativen theologischen Zeitbegriff, bei dem das Moment der Dis-
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kontinuität des Wortes mit dem der Kontinuität verbunden werden soll. Zweitens vollzog sich Noordmans’ Skizze einer alternativen Kulturtheologie als Suche nach einem alternativen Kritizismus. Angestrebt wurde dabei die Korrektur eines räumlichen beziehungsweise zu philosophischen Denkens mittels des diskontinuierlichen Denkens in Richtung auf eine zeitlich-kontinuierlich orientierte Theologie des Wortes. Außerdem wurde eine Kombination des reformierten Vertrauens des Ausharrens mit dem als lutherisch bezeichneten Trost des Augenblicks für wünschwenswert gehalten. Drittens ging es um die Suche nach einem alternativen christlichen Denken und Handeln, das sich nach Noordmans wie eine Schnittmenge zwischen Barths Hinwendung zur dogmatischen Theologie und der notwendigen niederländischen Abwendung vom Neocalvinismus ergeben könne. Gesucht wurde in diesem Zusammenhang nach einer alternativen christlichen Philosophie und Ethik und nach einem neu gedachten Verhältnis zwischen Schöpfung und Erlösung im Sinne eines kontinuierlich gedachten Schöpfungsbegriffs, in den von Anfang an auch diskontinuierliche Elemente integriert werden. Zielpunkt der eigenen Gedanken Noordmans’ war eine kenotische, die Rede von der Verborgenheit Gottes und Momente der Diskontinuität jeweils integrierende Theologie, in der die Schöpfung – und damit die Kultur im formvollendeten harmonischen idealistischen Sinn – über das Kreuz hin zur Parusie geführt und als gebrochene erst von daher wiederhergestellt wird.
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5. Christliche Kunst? (1919 – 1940). Kulturtheologie II 5.1 Einleitung Das kulturelle niederländische Interesse an der Theologie Karl Barths beschränkte sich keinesfalls auf die beiden großen theologischen niederländischen Barth-Rezipienten, den im vorhergehenden Kapitel behandelten Theologen Oepke Noordmans und den an späterer Stelle dieser Studie noch zu behandelnden Theologen Kornelis Heiko Miskotte. Vielmehr konnte die Frage nach der Verhältnisbestimmung zwischen Kirche und Kultur in den Niederlanden auf ein viel breiteres Interesse innerhalb christlich-protestantischer Kreise stoßen. Dafür mag die Tatsache, dass einer der ersten Vorträge, die Karl Barth in den Niederlanden hielt, nämlich der bis heute relativ wenig rezipierte Vortrag Die Kirche und die Kultur1 aus dem Jahr 1926, ausgerechnet ein kulturtheologisch relevantes Thema hatte, bereits ein Hinweis gewesen sein. Kulturell interessierte Barth-Rezeptionen hat es auch außerhalb theologischer Kreise gegeben, insbesondere unter theologisch und literarisch interessierten Intellektuellen und Dichtern. Deren literarische und theologische Reflexionen bilden das diesem Kapitel zugrundeliegende Material.2 Das relativ starke niederländische Interesse an einer kulturellen BarthRezeption auch in intellektuellen Milieus außerhalb fachtheologischer Kreise lässt sich gut vor dem Hintergrund der in der Einleitung zu dieser Studie ausführlicher dargestellten spezifischen gesellschaftlichen Struktur der Niederlande erklären, die in der Fachliteratur ab 1950 zumeist als „Versäulung“ beschrieben wird. Ebenfalls in der Einleitung zeigte ich in Anschluss an den Soziologen Staf Hellemans, dass die dem Ausdruck Versäulung zugrundeliegende Metapher der Säule als eine „nicht-territoriale segmentierte Gruppenform“3 aufzufassen ist, „wobei eine ausgesprochene und relativ geschlossene Subkultur mit einem äußerst umfangreichen gut strukturierten Netzwerk von Organisationen kombiniert werden“4 kann. Ich zeigte ebenfalls, dass es im 1 Karl Barth hielt im Rahmen seiner ersten Reise in die Niederlande im Jahre 1926 (vgl. Kap. 2 dieser Studie) unter anderem am 1. 6. 1926 einen Vortrag über Die Kirche und die Kultur auf dem ersten Kongress des kontinentalen Verbandes für innere Mission in Amsterdam; vgl. Barth, Die Kirche und die Kultur. 2 Einige Teile dieses Kapitels wurden bereits publiziert in: S. Hennecke, Unter Dichtern. Aspekte niederländischer Barthrezeptionen und die geisteswissenschaftliche Fakultät, ZDT 27, 2011, Nr. 2, 62 – 83. 3 Hellemans, Zuilen en Verzuiling, 121 – 150, 123. 4 Ebd.
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Zeitraum zwischen 1870 und 1960 in den Niederlanden verschiedene Säulen gegeben hat: eine orthodox-protestantische, eine katholische, eine sozialistische und schließlich eine vergleichsweise schwach entwickelte liberale Säule. Hierbei waren die niederländischen orthodoxen Protestanten auch europaweit die ersten, die eine solche Säulenstruktur entwickelt hatten. Um ihren wachsenden Protest gegen den Einfluss der weltanschaulich neutralen Schulen und gegen die moderne Führung der niederländischen reformierten Volkskirche – der Nederlandse Hervormde Kerk – geltend zu machen, organisierten sie sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts äußerst erfolgreich unter der Leitung des Begründers des Neocalvinismus und ideologischen Vaters der niederländischen Versäulung, Abraham Kuyper. Unter dem Stichwort „Souveränität im eigenen Kreis“ und mittels der Denkform der so genannten „Antithese“5 gründeten sie mit beinahe sprichwörtlich gewordenem Eifer eigene Schulen, eine eigene antirevolutionäre Partei, eine eigene gereformierte (neocalvinistische) Kirche, eigene Zeitungen und Zeitschriften, eine eigene, freie Universität (in Amsterdam) und eine eigene Gewerkschaft. Speziell im Blick auf das Anliegen dieses Kapitels sollte hervorgehoben werden, dass eine Säule beziehungsweise die Versäulung eines großen Teils der Gesellschaft in Anschluss an den deutschen Soziologen Rudolph Steiniger zwar „primär“6 als „ein zweckgerichteter politischer Prozeß“7 zu verstehen ist, der auf die Organisation, Erhaltung und Ausbreitung politischer Macht gerichtet ist, dass zu der politischen Organisation aber auch eine jeweils entsprechende weltanschaulich kulturelle Organisationsform gehörte. So gab es neben versäulten Kindergärten, Schulen, Universitäten und Krankenhäusern auch versäulte Illustrierte und Jugendzeitschriften, versäulte Rundfunk- und später auch Fernsehsender, versäulte Reisevereinigungen, versäulte Wissenschaft, versäulten Sport, versäulte Gesangsvereine und natürlich auch versäulte Kunst, insbesondere versäulte literarische8 Bemühungen. Vor dem Hintergrund der nicht nur theologisch, sondern eben auch weltanschaulich, politisch und kulturell stark polarisierten gesellschaftlichen Situation in den Niederlanden, möchte ich in diesem Kapitel der Frage nachgehen, welche Sichtweisen von der Theologie Barths inspirierte Intellektuelle und Kulturträger, die keine Fachtheologen waren, speziell zu der Frage nach dem Verhältnis zwischen Christentum beziehungsweise ihrem christlichen Glauben und der allgemeinen, weitgehend säkularisierten Kultur entwickelt 5 Gemeint ist die Unvereinbarkeit zwischen Glauben und Nicht-Glauben beziehungsweise Christentum und Sozialismus oder allgemeiner gesagt zwischen konfessionellen und säkularen Parteien. 6 Steininger, Polarisierung, 45. 7 Ebd. 8 Eine historische Übersicht zur protestantisch-christlichen Literatur in den Niederlanden bietet R.G.K. Kraan, Protestants-christelijke letterkunde in historisch perspectief, in: J. de Bruijn (Hg.), Bepaald gebied. Aspekten van het protestants-christelijk leven in Nederland in de jaren 1880 – 1940, Passage 5, Baarn 1989, 74 – 100.
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Einleitung
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haben. Welche Alternativen haben sie zu den bestehenden Auffassungen über dieses Verhältnis innerhalb der in diesem Fall protestantischen Säule entwickelt? Ich vertrete hier die These, dass christliche Kulturträger und Intellektuelle, die von der Theologie Barths beeinflusst waren, in besonderem Maße zu einer auch kulturellen Variante der politischen Bewegung des so genannten Doorbraak (dt.: Durchbruch, nämlich durch die bestehenden versäulten Strukturen; SH) beigetragen haben, also zu dem Prozess, der bereits vor dem Zweiten Weltkrieg einsetzte und der nach dem Krieg zur Durchbrechung der Versäulung – oder mit anderen Worten zur Entsäulung oder De-Organisation der in diesem Falle protestantisch weltanschaulichen Organisiertheit – geführt hat.9 Während die Rede von einem politischen Doorbraak und der entsprechende Beitrag gerade barthianisch inspirierter Theologen und Staatsmänner zu diesem Vorgang in den Niederlanden recht bekannt ist, ist die Vorstellung von einem auch kulturellen Doorbraak wesentlich weniger vertraut und gerade auch hinsichtlich des Beitrags barthianisch inspirierter Literaturproduzenten weitgehend unerforscht geblieben. Das vorliegende Kapitel möchte die entsprechenden Tendenzen auf kulturellem Gebiet erfassen und in Bezug auf ihre Barth-Rezeption analysieren. Es ergibt sich für dieses Kapitel daher folgender Aufbau: Zunächst sollen in zwei Abschnitten einige wichtige Diskussionen zum Verhältnis zwischen christlichem Glauben und Kunst dargestellt werden, die in der 1923 – 1940 erschienenen protestantisch-literarischen Zeitschrift Opwaartsche wegen geführt wurden. Hierbei soll insbesondere der Frage nachgegangen werden, auf welche Art und Weise die von der Theologie Barths inspirierten Redaktionsmitglieder diese Diskussion mitgestaltet und beeinflusst haben. Weiter soll ihr Beitrag unter dem Aspekt ihrer Barth-Rezeption näher beleuchtet werden. Während sich der erste Abschnitt (5.2) auf einige Debatten im Umfeld eines der Gründer der Zeitschrift, Harmen van der Leek, konzentriert, geht es im zweiten Abschnitt (5.3) um die Analyse einiger Gedichte und literaturwissenschaftlicher Beiträge des Redaktionsmitglieds Roel Houwink. Dann soll in einem dritten Abschnitt (5.4) das Phänomen des niederländischen Barthromans untersucht werden, das mit dem Namen des später recht bekannt gewordenen Journalisten und Anführers des niederländischen Widerstands gegen die deutsche Besatzung, Henk van Randwijk, verbunden ist. Van Randwijk ist ebenfalls dem weiteren Umfeld der Opwaartsche wegen zuzurechnen und kann insbesondere wegen seiner recht populären Barthromane als einer der wichtigeren niederländischen Rezipienten der Theologie Barths überhaupt angesehen werden. In einem kurzen vierten Abschnitt (5.5) soll außer einem Rückblick auf die Zeit zwischen den Kriegen 9 Dass sich spätestens ab 1960 der Prozess einer solchen Entsäulung durchgesetzt hatte, ist in der Versäulungsforschung unumstritten. In Kap. 8 dieser Studie soll er noch einmal in Hinblick auf den spezifischen Beitrag von politisch interessierten niederländischen Barth-Rezipienten untersucht werden.
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ein sehr kurzer Ausblick auf die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg geboten werden.
5.2 Harmen van der Leek und das Problem des christlich-literarischen Mankos Die Zeitschrift Opwaartsche wegen ist ein typisches Produkt der Versäulung; sie war die wichtigste protestantisch-literarische Zeitschrift der Zwischenkriegszeit und repräsentierte die Bewegung der so genannten Jung-Protestanten. Neben Poesie und Prosa von bekannten und weniger bekannten, teilweise aufstrebenden zeitgenössischen christlichen Dichtern enthielt sie auch Buchbesprechungen und theoretisch-literarische Beiträge. Der Titel der Zeitschrift – aufwärts führende Wege – weist zum einen auf die beabsichtigte Entfaltung und Veredelung literarischer Produktionen und zum anderen auf die Ausrichtung der Aktivitäten auf Gott hin. Literarisch gesehen wurde die Zeitschrift als eine Reaktion auf zwei Entwicklungen ins Leben gerufen: Man wollte zum einen eine bewusst christlich engagierte Alternative zu den rein ästhetisch ausgerichteten Idealen der Bewegung der Achtziger10 bilden, zum anderen wollte man sich aber auch dem typisch niederländischen Phänomen des dichtenden Pfarrers entgegenstellen, der als poetischer Laie seine Künste gerne in den Dienst religiöser Erbauung stellte. Somit fühlte man sich durch das l’art pour l’art-Leitbild und Engagement der Achtziger teilweise durchaus auch inspiriert. Opwaartsche wegen verfolgte mit anderen Worten zwei Ziele zugleich: inhaltlich die Verkündigung der christlichen Botschaft und formal die Pflege und Förderung ausschließlich ästhetischer Ideale. Damit bediente die Zeitschrift die Wünsche eines zahlenmäßig eher kleinen Publikums, das sich zwischen den kulturellen Idealen des Mainstream-Protestantismus und denen der als gottlos angesehenen Repräsentanten der Bewegung der Achtziger befand.11 Das spezifische Ziel der Opwaartsche wegen, nämlich innerhalb der protestantischen Säule die Entwicklung künstlerisch niveauvollerer Literatur zu fördern, wurde in den ersten acht Jahrgängen der Zeitschrift im Rahmen einer ausführlichen Diskussion unter dem Stichwort des Manko-Problems erörtert. 10 Die Gruppe der Achtziger waren eine vom Impressionismus und Naturalismus beeinflusste spätromantische, auf Individualismus gerichtete literarische niederländische Bewegung am Ende des 19. Jahrhunderts. 11 Zu beachten ist auch, dass Opwaartsche wegen zwar vielen später sehr bekannten Dichtern wie Gerrit Achterberg als Sprungbrett diente und damit für die große niederländische Literatur nicht völlig unbedeutend war, dass die wirklich wichtigen niederländischen Schriftsteller der Zwischenkriegszeit – etwa die Expressionisten Edgar du Perron, Hendrik Marsman und Menno ter Braak – aber in anderen Kreisen verkehrten und auch nicht in Opwaartsche wegen publizierten.
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Harmen van der Leek und das christlich-literarische Manko
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Im Folgenden möchte ich zunächst drei repräsentative Positionen innerhalb dieser breiter geführten Diskussion vorstellen, die sich hauptsächlich hinsichtlich der Verhältnisbestimmung zwischen dem Ethischen und dem Ästhetischen beziehungsweise dem Inhaltlichen und dem Formalen unterscheiden: Den Auftakt bildete der als Barthianer bekannt gewordene Mitbegründer und Redakteur der Zeitschrift Harmen van der Leek mit einem dreiteiligen Beitrag im ersten Jahrgang der Zeitschrift über Het manco-vraagstuk (Das Manko-Problem)12, in dem er eine erste Bestandsaufnahme und Analyse dieses Problems bietet. Van der Leek betrachtet das Aufkommen auch kultureller Ideale innerhalb des christlichen Literaturbetriebs als Ausdruck eines zeitgenössischen Christentums, das nicht länger mehr nur weltverachtend und jenseitsgerichtet, sondern sympathischerweise nun diesseitsgerichteter und von daher auch stärker kulturell interessiert auftrete. Dieses Interesse gelte insbesondere auch hinsichtlich der in der Vergangenheit misslungenen Entwicklung einer „christlichen Wortkunst“13. Habe man bislang vorwiegend die Quantität und die Qualität der bestehenden Literatur bemängelt, so Van der Leek, müsse man zukünftig zur Ergründung des eigentlichen Wesens des Manko-Problems die Aufmerksamkeit auf „den Zustand des schöpferischen Vermögens des christlichen Dichters“14 und den „Zustand des christlichen Gemüts im Allgemeinen“15 richten. Der Beitrag konzentriert sich auf letzteren Zustand und bietet eine Analyse des christlichen Publikums, der christlichen Verleger, der christlichen Literaturkritik, also des Hintergrunds dessen, was unter dem Stichwort des Manko-Problems diskutiert wurde. Das Publikum für christliche Literatur, so die erste These Van der Leeks, zeichne sich durch Angst vor Gleichförmigkeit mit der Welt, Ablehnung literarischer Fiktionen angesichts der vermeintlichen Gefährdung des Wahrheitsanspruchs der Schrift und durch geistige Trägheit in Kombination mit einer rein rationalistischen oder puritanischen Einstellung aus. Hinzu komme ein Mangel an Lebensfreude, Unverständnis für den Bildungswert eines Romans als Träger moderner Ideen, Mangel an Geschmack und Differenzierungsvermögen oder auch ein „ordinäre[r] Lesehunger“ und eine „literarische Fresssucht“16. Damit böten die Adressaten christlicher Literatur dem christlichen Autor keinerlei Inspiration und verschafften insgesamt einem sich selbst respektierenden Autor keinerlei Anreize zur Identifikation mit dem christlichen Literaturbetrieb. Die christlichen Verleger, so die zweite These Van der Leeks, verursachten aufgrund ihres natürlichen Geschäftsinteresses und ihrer Weigerung, unsitt12 13 14 15 16
H. van der Leek, Het manco-vraagstuk, OW 1, 1923, 17 – 32.59 – 67.91 – 110. AaO., 19. AaO., 24. Ebd. AaO., 62.
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liche Literatur zu verbreiteten, ein „Überströmen des Marktes mit wertloser und minderwertiger so genannter ,christlicher Literatur‘“17. Zu kritisieren sei insbesondere auch die Weigerung der Verleger, ihr Angebot einer professionellen Kritik zu unterziehen. Denn, so die dritte, auf eine Lösung des MankoProblems zielende These Van der Leeks, gerade die Literaturkritik habe aufgrund ihres organischen Zusammenhangs mit der literarischen Produktion eine besonders wichtige, zwischen Publikum und Autor vermittelnde Rolle. Entsprechend gebe es einen Zusammenhang zwischen dem Mangel an christlich Literaturkritik und dem christlich-literarischen Manko. Wolle man die Qualität der christlichen Literaturkritik verbessern, komme es insbesondere auf eine methodische Besinnung an. Denn in der Vergangenheit sei die christliche Literaturkritik zumeist keinesfalls von christlichen Berufskritikern, sondern von dafür nicht ausgebildeten Theologen geleistet und in der Folge oft mit „literarischer Prinzipienkontrolle“18 verwechselt worden, deren Betreiber das Ästhetische zugunsten des Normativen faktisch ignoriert hätten. Diese Methode sei aber praktisch unbrauchbar, da sie „die geistliche Wahrheit des Dogmas“19 mit dem „geistlichen Inhalt der dichterischen Phantasie“20 gleichsetze. In der Kunst gehe es jedoch nicht um Begriffe, sondern um die „sittliche Erfahrung des Lebens selbst“21. Darum sei nicht nur die nur äußerliche Methode der bisherigen christlichen Literaturkritiker abzulehnen und durch „immanente Kritik“22 zu ersetzen, sondern sei auch nach der „prophetisch inspirierten Wahrheit“23 des Künstlers anstatt nach einem „vorgefertigten Ziel“24 zu fragen. Etwas traditioneller präsentierte sich im dritten und vierten Jahrgang der Zeitschrift der gereformierte Pfarrer Everhardus Gerhardus van Teylingen in zwei Beiträgen25, in denen er wie bereits Van der Leek das geringe Interesse des christlichen Publikums für „wirklich gute ursprüngliche christliche Kunst“26, die geringe Relevanz für das wirkliche Leben und deren unverhältnismäßig starke nicht-ästhetische, dogmatische Ausrichtung bemängelte und sich der Forderung nach einer immanenten Literaturkritik grundsätzlich anschloss. Kunst sei als „einer der vielen Wege [anzusehen], auf denen sich das Königreich Gottes realisier[e]“27, und habe sich daher auf den „vollkommenen 17 18 19 20 21 22 23 24 25
AaO., 63. AaO., 99. AaO., 103. Ebd. Ebd. AaO., 104. Ebd. AaO., 106. E.G. van Teylingen, Nieuwe wegen, OW 3, 1925/26, 115 – 124; Ders., Wezen der christelijke literaire kritiek, OW 4, 1926/27, 293 – 298. 26 van Teylingen, Nieuwe wegen, 115. 27 AaO., 119.
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Menschen in einer vollkommenen Gemeinschaft“28 zu richten. Kam es Van der Leek auf die Unterscheidung der in der bestehenden Situation konfligierenden Begriffe Ethik und Ästhetik zugunsten einer stärkeren Betonung der Ästhetik an, will Van Teylingen den Konflikt zwischen beiden Begriffen mit dem Hinweis auf beider Ursprung in Gott entschärfen – in diesem Sinne ist vermutlich auch seine obige Forderung einer „ursprüngliche[n] christliche[n] Kunst“ zu verstehen.29 Der recht liberale Lehrer und spätere Professor für niederländische Literatur Wisse Alfred Pierre Smit setzte mit seinem Beitrag Onze houding tegenover kunst en schoonheid (Unsere Haltung zu Kunst und Schönheit)30 wiederum andere Akzente. Seines Erachtens bildeten das Ästhetische und das Ethische „zwei verschiedene […] vollkommen unabhängig nebeneinander“31 bestehende Gebiete. Zwar führe diese Verhältnisbestimmung in der Einheit des Göttlich-Guten nicht unbedingt zu einem Konflikt, dies gelte aber bedauerlicherweise zumeist nicht für „unsere sündige Welt“32. Die Definition von Kunst als einer „Äußerung-in-Schönheit“33 lehne einerseits die Identifikation von Kunst und Schönheit in der rein ästhetisch ausgerichteten Bewegung der Achtziger ab, begrenze andererseits aber auch die christliche Überbetonung des Ethischen beziehungsweise des Inhaltlich-Normativen. Methodisch gesehen solle seines Erachtens nicht der Leser, sondern das Kunstwerk den Ausgangspunkt der Literaturkritik bilden. So komme dem ästhetischen Urteil unbedingte Priorität zu – eine Auffassung, mit der Smit sowohl die auf das Publikum und die Literaturkritik gerichtete Perspektive Van der Leeks als auch die auf den Gemeinschaftsmenschen und den christlichen Autor gerichtete Perspektive Van Teylingens kontrastiert. Das Prädikat „christlich“ im Ausdruck „christliche Kunst“, so der konstruktive Teil des Beitrags, sei vorzugsweise in Anführungsstriche zu setzen. Christliche Kunst, so die Hauptthese, sei „Kunst von Christen“34 und von daher nicht in christliche und nicht-christliche Kunst zu unterteilen. Habe der christliche Autor möglicherweise eine entsprechend christliche, zusätzliche Verantwortung, gelte für den christlichen Literaturkritiker, dass er ein ausschließlich literarisches Urteil zu fällen habe. Zu betonen sei auch der individuelle Charakter 28 Ebd. 29 In einem weiteren Beitrag vertritt Van Teylingen noch einmal die Auffassung Van der Leeks, dass „wirkliche“ christliche Literaturkritik „immanent“ zu sein habe, relativiert diesen Ansatz aber wiederum mit seinem eigenen theozentrischen Ansatz. Die Literaturkritik sei als eine „persönliche Geisteshandlung des Christen“ zu betrachten, der sich auf die Literatur richte, um darin die von Gott als der Quelle alles Schönen und Springbrunnen alles Guten dort hineingelegten ewigen Werte der Schönheit und der Menschlichkeit „zu erobern“; vgl. van Teylingen, Wezen, 298. 30 W.A.P. Smit, Onze houding tegenover kunst en schoonheid, OW 4, 1926/27, 335 – 348. 31 AaO., 337. 32 Ebd. 33 AaO., 339. 34 AaO., 344.
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der Kunst und die Freiheit des Künstlers, für den die Bibel oder bestimmte Dogmen keinesfalls normativ seien.35 Als es 1935 zu einem Bruch in der Redaktion von Opwaartsche wegen kam, bildeten die Barthianer, die in diesem Abschnitt stellvertretend von der – das Ästhetische und Existentiell-Ethische betondenden – Position Harmen van der Leeks repräsentiert werden, eine Mehrheit und prägten den neuen Kurs der Zeitschrift aktiv mit. Anlass für den Bruch in der Redaktion und die damit verbundene Neuausrichtung der Zeitschrift war eine von dem Dichter und führenden Jung-Protestanten Klaas Heeroma (Pseudonym: Muus Jacobse) 1934 unter dem programmatischen Titel Het derde r¦veil (Die dritte Erweckungsbewegung)36 publizierte Sammlung von hundert Gedichten von insgesamt zehn Dichtern aus dem Umfeld von Opwaartsche wegen. Die Einleitung macht die programmatische Absicht der Sammlung unmissverständlich deutlich: „Die erste Erweckungsbewegung war die von Da Costa und Groen van Prinsterer, mit Bilderdijk als Vorläufer. Die zweite war die von Kuyper und De Savornin Lohman. Die dritte Erweckungsbewegung sind wir“37. Während die erste Erweckungsbewegung38 zwar religiös, doch von zweifelhafter kultureller Qualität gewesen sei, die zweite Erweckungsbewegung39 zwar den Aufbau einer christlichen Kultur versucht habe, jedoch vor allem politisch und organisatorisch ein großer Erfolg gewesen sei, sei das christlichliterarische Leben nach 1920 mit der Gründung von Opwaartsche wegen in Bewegung gekommen. Seitdem habe unter anderem die Theologie von Barth, Brunner und Gogarten das christliche Leben inspiriert, und Gemeinschaftsgefühl und Verantwortungsbewusstsein seien gewachsen.40 Die christliche Gemeinde erwache zu neuem Leben, und das mache sich auch im christlichliterarischen Leben bemerkbar. Dort strebe man an, die „spezifische“41 Auf35 Nach G.J. Peelen ist Smit innerhalb des gesamten Lagers protestantischer Philologen der erste gewesen, der mit seinem eindeutigen Plädoyer für eine rein ästhetische Funktion und Aufgabenbestimmung der Kunst das „früher als gottloses Evangelium der Achtzig“ geltende Ideal vertreten habe, vgl. Vgl. G.J. Peelen, Bewegingen, tijdschriften, kritiek, in: R.G.K. Kraan u. a. (Hg.), Omzien met een glimlach. Aspecten van een eeuw protestantse leescultuur, Den Haag 1991, 225 – 336.279. 36 K. Heeroma (Hg.), Het derde r¦veil. Honderd verzen van jong-protestantse dichters, Amsterdam 1934. 37 AaO., 5. 38 Gemeint ist die niederländische Erweckungsbewegung am Anfang des 19. Jahrhunderts, die im Kontext der Gesamtheit der europäischen Erweckungsbewegungen dieser Zeit als relativ eigenständig eingeschätzt wird. 39 Gemeint ist die Bewegung, die am Ende des 19. Jahrhunderts von Abraham Kuyper angeführt wurde. 40 Heeroma versucht hier mit anderen Worten, nicht nur die eigene Bewegung der jung-protestantischen Dichter, sondern auch die neu aufgekommene Strömung der dialektischen Theologie im Sinne einer Erweckungsbewegung zu deuten, die nicht nur an die Erweckungsbewegung am Anfang des 19. Jahrhunderts, sondern auch an die von Abraham Kuyper angeführte Politik der Antithese angelehnt sei. 41 AaO., 14.
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gabe der Literatur in einer christlichen Kultur zu bestimmen. Unmissverständlich macht Heeroma deutlich, dass der überaus große Kulturauftrag der Bewegung vom Ideal der christlichen Dichtung geprägt sei, dass die Bewegung die gesamte Kultur betreffe und dass sie vom christlichen Dichter angeführt werde. So schreibt er ebenfalls programmatisch: „Aufs Neue haben wir unseren Platz in der Welt erhalten, aufs Neue müssen wir für uns selber und für die Welt den Weg zu Gott finden“42. Harmen van der Leek reagierte schließlich noch im selben Jahr mit einem äußerst kritischen Beitrag43 in Eltheto, der Zeitschrift der Nederlandse Christen Studenten Vereniging. Der Kern seiner Kritik an Heeroma betraf dessen Versuch, „christlich-literarische Versuche […] zu einer ,Bewegung‘ [zu erklären]“44, und zwar „ohne sich vorher der Zustimmung seiner neun Genossen zu versichern“45. Die „Mitverantwortlichkeit für Heeromas Erweckungsgedanken“46 – so Harmen van der Leek mit expliziter Zustimmung der anderen Barthianer „R. Houwink, H.M. van Randwijk und H. Bruin“47 – sei ausdrücklich abzulehnen. Dahinter verberge sich nämlich eine „prinzipielle Haltung“48, die es zu analysieren gelte. Zwar habe Heeroma recht, wenn er postuliere, dass die kulturelle Welt im Allgemeinen und die christliche im Besonderen in Bewegung geraten sei, doch rechtfertigten hundert Verse, die an sich durchaus etwas von der Veränderung im christlichen Leben deutlich machten, noch nicht die Rede von einer Erweckungsbewegung. Außerdem müssten neben der Poesie auch Romane zur christlichen Literatur gezählt und als solche wahrgenommen werden. Noch stärker zu kritisieren sei aber der geistige Hintergrund von Heeromas Erweckungsgedanken. Sein Dichter-Ideal weise eine „schier unbegrenzte […] Machtfülle“49 auf, ja der Dichter nehme selbst „Gottes Werk kraftvoll in die Hand“50. Als schöpferisch gedachtem Menschen, so das Hauptargument, würden dem Dichter gottgleiche Züge zugeschrieben. Für jemanden, „der Gott Gott sein lassen“51 wolle, so der deutlich barthianisch inspirierte Gedankengang Van der Leeks, sei das schöpferische Vermögen hingegen ein Vermögen, „das nur Gott zukomm[e]“52. Indem der Mensch Gott vergessen habe, so der ebenfalls barthianisch inspirierte Exkurs in die Europäische Geistesgeschichte der Neuzeit, sei er selber Gott geworden. Heeromas Konzept des christlichen Dichtertums sei 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52
AaO., 5. H. van der Leek, Heeroma en het derde r¦veil, Elth 89, 1934, Nr. 1, 4 – 13. AaO., 4. Ebd. AaO., 4, Anm. 2. Ebd. AaO., 5. AaO., 7. AaO., 9. AaO., 10. Ebd.
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faktisch romantisch-idealistischen Ursprungs und basiere auf einem „rein heidnische[n] Gedankengang“53. Somit könne Heeromas Gedankengang keinesfalls repräsentativ für eine dritte Erweckungsbewegung sein, sondern sei lediglich „oberflächlich von der zweiten Erweckungsbewegung kopiert“54 worden. Wo Kuyper nämlich auf Grund der göttlichen Souveränität in der Welt von einer „Souveränität im eigenen Kreis“ der Gläubigen gesprochen und damit beispielsweise an Schöpfungsordnungen wie die Familie, den Beruf oder das Amt gedacht habe, spreche Heeroma in nur leichter Variation von einem Dichter statt von einem Gläubigen und von der Literatur, der Kultur oder der Gemeinde statt von der Familie, dem Beruf und dem Amt. Der Aktivismus, mit dem Heeroma „die Kultur und die Welt ,zu Gott bringen‘“55 wolle, sei im Grunde eine „ästhetische Wucherform […] der geistigen und kulturellen Intention in Kuypers ,Pro Rege‘“56. Auch dieser Teil der Analyse Van der Leeks ist also von einem barthianischen Interesse gespeist, galt doch die Kritik an den Prinzipien und Organisationsformen des Neocalvinismus und der dazugehörigen Rede von den Schöpfungsordnungen als eines der Hauptmerkmale und wichtigsten Intentionen derjenigen niederländischen Barth-Rezipienten, die sich selber als Anhänger der Theologie Barths betrachteten.57 Aufgrund dieses Konflikts verließ Heeroma zusammen mit zwei weiteren Personen die Redaktion der Zeitschrift. In der Einleitung zu einer anderen Gedichtsammlung jung-protestantischer Dichter58, die Heeroma 1938 publizierte, gibt er später allerdings zu erkennen, dass er Fehler gemacht habe und dass sein Aufruf zu einer dritten Erweckungsbewegung tatsächlich misslungen sei. In einem äußerst lesenwerten fiktiven Gespräch mit seinem literarischen alter ego Muus Jacobse sowie den für den Band ausgewählten Dichtern arbeitete er die Konflikte auf und klärte unter anderem sein Verhältnis zu den Barthianern. Insbesondere anhand einer Auseinandersetzung mit Roel Houwink und Henk van Randwijk betont er, dass Houwink sein Dichtertum seinem Glauben opfere und dass sein Barthianismus ganz offensichtlich seine poetische Inspiration zerstöre. Allerdings lässt Heeroma die Barthianer in diesem fiktiven Gespräch verständnisvoll antworten, dass sie noch immer aus innerer Notwendigkeit schrieben und sich – wie im Falle von Van Randwijk – 53 54 55 56 57
AaO., 12. AaO., 13. Ebd. Ebd. Tatsächlich hat Barth selber den Begriff der Schöpfungsordnungen erst im Zuge des deutschen Kirchenkampfes und ab 1932 in KD I/1 fallen lassen, während er ihn in seiner Münsteraner Ethik-Vorlesung von 1928/30 noch verwendet. Auffällig ist auch die relativ frühe, bereits ab 1934 einsetzende niederländische Rezeption von Barths Ablehnung der Schöpfungsordnungen, die sich aus einem anti-neocalvinistischen Interesse erklären lässt. Vgl. hierzu auch die im Folgenden noch näher zu untersuchende Kritik von J.J. Buskes, Nationale goederen, in: Berkelbach van der Sprenkel, De openbaring, 187 – 204. 58 K. Heeroma (Hg.), Reünie van jong-protestantse dichters, Ekkerlyc-boekjes, Baarn 1938.
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Roel Houwink als Dichter und Redakteur
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sogar an einen Roman gewagt hätten. Heeroma seinerseits vertritt im Laufe der fiktiven Auseinandersetzung weiterhin das Ideal einer Literatur in und für die Gemeinde. Dieses Ideal wird von den Barthianern weiterhin bekämpft: In der Gemeinde soll nur das reine Wort Gottes verkündigt werden und der Dichter habe dort keine herausgehobene Funktion. Er spreche nicht schöpferisch im von Van der Leek kritisierten Sinn, sondern ausschließlich kraft seiner Phantasie – und eben ausschließlich als Dichter. Der Erweckungsbewegungsgedanke sei als hochmütig abzulehnen, da jede christliche Erneuerung von der Kirche und nicht von christlich organisierten Dichtern auszugehen habe. Die Frontstellung der Barthianer ist somit in Ansätzen klar : Es ging ihnen um die Ablehnung einer politisch oder kulturell organisierten christlichen Bewegung, wie sie sich in den versäulten Niederlanden unter der Führung von Abraham Kuyper entwickelt hatte, nicht aber um die Ablehnung eines erneuerten Christentums und einer künstlerisch niveauvolleren Dichtung. Welche Alternativen entwickelten nun aber die Barthianer zu der bestehenden Verbindung von Glauben und Literatur und wie machte sich ihr Einfluss in dem protestantisch-literarischen Bewegungsblatt Opwaartsche wegen bemerkbar, nachdem sie durch den Bruch in der Redaktion in der Mehrheit waren? Und wie genau lässt sich eine barthianische Inspiration mit dem Schreiben eines Gedichts vereinbaren? Diesen Fragen soll im folgenden Abschnitt anhand von literaturtheoretischen Ausführungen und Gedichten des Barthianers Roel Houwink nachgegangen werden.
5.3 Roel Houwink als Dichter und Redakteur der Opwaartsche wegen Roel Houwink (1899 – 1987) war im Gegensatz zu den meisten anderen Mitarbeitern von Opwaartsche wegen von Haus aus ein freisinniger Protestant, der mit dem Christentum zunächst nicht persönlich verbunden und als freisinniger Protestant auch nicht innerhalb der christlich-protestantischen Säulenkultur sozialisiert worden war. Ab 1918 publizierte er in verschiedenen Zeitschriften und eigenen Ausgaben Gedichte, wobei er sich zunächst zum Expressionismus hingezogen fühlte.59 Etwa ab 1925 öffnete sich Roel Houwink neuen geistigen Einflüssen. So kaufte er sich in Utrecht eine Ausgabe des Römerbriefs (2. Aufl.) von Karl Barth und „bekehrte“ sich unter dessen Einfluss zu einem bekennenden Christen60. 1928 publizierte er zum ersten Mal ein 59 Die 1924 publizierte Novellensammlung Novellen 1920–’22 dokumentiert, dass er der erste Niederländer war, der auch expressionistische Prosa publizierte. 60 Das spiegelt sich auch in seinen Publikationen, etwa in seiner ersten Gedichtsammlung; vgl. R. Houwink, Christus’ ommegang in het westen, Amsterdam 1926.
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Gedicht in Opwaartsche wegen, ein Jahr später einen ersten Essay. 1931 wurde er einer der Redakteure der Zeitschrift und ab 1935 nach dem Bruch in der Redaktion bis zum Ende des Erscheinens der Zeitschrift ihr verantwortlicher Endredakteur. In seiner Zeit bei Opwaartsche wegen entwickelte er sich außerdem zum Coach des später berühmten Dichters Gerrit Achterberg. Roel Houwink wird in der niederländischen Forschung aufgrund seines freisinnigen Hintergrunds und seines Barthianismus als ein avantgardistischliterarischer „,Fremdkörper‘“61 eingeschätzt, der „sogar als Barthianer noch […] mit einem anderen Akzent“62 spreche als die ebenfalls barthianisch inspirierten Mitredakteure, die einen eher orthodoxen protestantischen Hintergrund hatten. Des Weiteren wird Houwink als jemand beschrieben, der „Opwaartsche wegen unter die dogmatische Herrschaft des Barthianismus […] bringen [wolle]“63. Zusammen mit dem ebenfalls von Barth inspirierten Harmen van der Leek habe er „allerlei barthianische Ausdrücke: Paradox, existentiell, Krisis, etc.“64 eingeführt, die vielen Lesern aufgrund unzureichender Kenntnis der Barthschen Theologie wohl „dunkel“65 geblieben seien. Andere Forscher betonen deutlicher, dass Houwinks „unkonventionelle Haltung gegenüber der modernen Poesie“66 und seine „offenherzigen ,Zulassungsvoraussetzungen‘“67 für Publikationswillige die Zeitschrift zu ihrer „eigentlichen Bedeutung“68 geführt hätten, nämlich eine „Brutstätte für junges, dichterisches Talent“69 zu sein. Allgemein anerkannt ist auch die These, dass der unter anderem von Houwink repräsentierte Einzug des Barthianismus in Opwaartsche wegen wie eine „Zeitbombe“70 innerhalb des (herkömmlichen) protestantischen Selbstverständnisses der Zeitschrift getickt habe. Der „Einbruch“71 der Barthianer, so die Einschätzung der niederländischen Forschung, tendiere auf Dauer zu einem „Durchbruch“72, oder genauer gesagt zu einer „starken Relativierung jedweder Notwendigkeit einer ,christlichen Organisation‘“73 und zu einer Orientierung in Richtung auf „,Entsäu61 C. Rijnsdorp, In drie etappen, Baarn 1952, 99. Diese Einschätzung wird übernommen von H. Werkman, Roel Houwink. 1899 – 1987, in: D. Colenbrander u. a. (Hg.), Opwaartsche wegen, Schrijversprentenboek 28, ’s Gravenhage 1989, 50 – 52, 50. 62 Ebd. 63 Ebd. 64 AaO., 52. 65 Ebd. 66 G.J. Peelen, Opkomst en ondergang van de protestants-christelijke dichtkunst, in: Ders. (Hg.), Opwaartsche wegen. Een bloemlezing uit de poezie der „jong-protestanten“ (1923 – 1940), Kampen 1986, 7 – 31. 67 Ebd. 68 Ebd. 69 Ebd. 70 Vgl. Werkman, Houwink, 52. 71 Vgl. Rijnsdorp, Etappen, 136. 72 Ebd., Die These wurde dann übernommen von Werkman. 73 Peelen, Opkomst, 23.
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lung und Durchbruch‘“74. Der Stand der niederländischen Forschung bestätigt also meine eingangs genannte These, dass dem politischen Durchbruch in den Niederlanden ein literarischer Durchbruch entsprach, der namentlich von niederländischen Barthianern beziehungsweise von Barths Theologie inspirierten Intellektuellen christlicherseits mit-initiiert, getragen und gefördert wurde. Der Stand der niederländischen Forschung wirft aber nun die in dieser Studie an der Person Houwinks exemplarisch festzumachende Frage auf, wie es sich mit dessen Barthianismus genau verhalten und was man sich unter dem von Houwink repräsentierten, als dogmatische „Herrschaft“ gefühlten Barthianismus genauer vorzustellen hat. Forschungen, die über die oben genannte Einschätzung hinausgehen, fehlen bislang so gut wie vollständig. Vor dem Hintergrund meiner eigenen Beschäftigung mit der niederländischen Barth-Rezeption kann zunächst festgestellt werden, dass die Auswahl und die negative Konnotation („Herrschaft“) der genannten drei Ausdrücke zur Beschreibung der (Römerbrief-)Theologie Barths – Paradox, existentiell, Krisis75 – als repräsentativ für die Problematisierung und Kritik der Theologie Barths gerade innerhalb der Barth-Rezeptionen im orthodox-neocalvinistischen Spektrum angesehen werden können, welches sich ja der Theologie Barths und deren auf einen Doorbraak hin orientierten Rezeption gegenüber weitgehend ablehnend verhalten hat. Eine genauere Analyse der Publikationen Houwinks macht nun meines Erachtens deutlich, dass es diesem nicht um die Zerstörung christlicher Literatur oder Kultur, sondern auch um die Suche nach einer auch existentiell verankerten Erneuerung des Verhältnisses zwischen (einem neu zu entdeckenden) Christentum und der allgemeinen Kultur ging. Dabei sollten beide Pole zu ihrem Recht kommen. Gesucht wurde eine Kombination, die sich jenseits eingestanzter christlicher Glaubens- und Verhaltensmuster einschließlich entsprechender literarischer Produktionen einerseits und der generellen Ablehnung einer (in diesem Fall: christlich) engagierten Kunst zugunsten eines reinen oder religiös angehauchten Ästhetizismus andererseits befinden sollte. Dementsprechend kann formuliert werden, dass es im literarischen Durchbruch zwar um die Ablehnung einer bestimmten Organisiertheit christlicher Weltanschauung und Kultur ging und dass der literarische Durchbruch dementsprechend als Bedrohung empfunden werden konnte, dass dieses negative, ablehnende Moment aber bei näherer Betrachtung durchaus im Zeichen eines positiven und auch christlich inspirierten Versuchs stand, nämlich des Versuchs einer Neubestimmung des Verhältnisses von Christentum und (allgemeiner) Kultur im Stile der De-
74 Ebd. 75 Dass Barth selber diese Begriffe etwa ab 1932 fallen gelassen hat, tut hier nichts zur Sache, da sich die Rezeption seiner Theologie in diesem Zusammenhang hauptsächlich auf die Römerbrieftheologie bezieht.
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konstruktion bestehender exklusiver Gegensätze etwa zwischen „gereformiert-christlich-ethisch-inhaltlich“ und „säkular-ästhetisch-formal“. Roel Houwink als barthianischer Literaturtheoretiker Stellt man einmal Houwinks theologische und redaktionelle Erneuerungsvorschläge aus seiner Zeit als verantwortlicher Endredakteur von Opwaartsche wegen seit 1935 zusammen, so zeigt sich, dass die oben genannten, im niederländischen Kontext eher negativ konnotierten Begriffe Paradox, existentiell und Krisis bei dem Versuch der Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Christentum und Kultur tatsächlich eine maßgebende Rolle spielten, dass sie aber von Houwink selber jeweils im Kontext einer konstruktiven Begrifflichkeit oder Zielsetzung eingeführt wurden. Zudem ist aus den Beiträgen nicht ableitbar, dass Houwink in seiner Rolle als verantwortlicher Endredakteur seine theologischen Gedanken im Sinne einer dogmatischen Herrschaftsausübung verstand. Im Gegenteil: Bereits in der ersten Reaktion der neuen auf den Bruch der alten Redaktion von Opwaartsche wegen wird betont, dass man eine „prinzipielle Aufgabe […] gegenüber der Kultur“76 habe, die ihren Ausdruck darin finde, zu „Kritik und […] Zeugnis“77 (kurs. v. SH) inmitten des kulturellen Lebens „berufen“78 zu sein. Diese auch positive, nämlich auf die Möglichkeit eines Zeugnisses orientierte Richtlinie wird auch in der ersten, programmatischen Mitteilung der neuen, von Barthianern angeführten Redaktion aufgegriffen: Unter dem programmatischen Titel „Kritik und Zeugnis“ erkennt Houwink zunächst ausdrücklich die „Pluralität des Glaubenslebens“79 an. Die Anerkennung Jesu Christi als einziger Autorität impliziere außer der – eher negativ konnotierten – Aufgabe der „literaturwissenschaftliche[n] Kritik“80 eben auch die – eher positiv konnotierte – Aufgabe eines „persönlichen Zeugnis[ses]“81. Ziel der neuen Redaktion sei es, nicht länger nur die ästhetische Qualität der Zeitschrift, sondern auch „den geistigen Gehalt des Kunstwerkes“82 zu verbessern. Diesbezügliche Kritik sei aufgrund des Kreuzestodes Jesu Christi vor allem als christliche Selbstkritik und keinesfalls im Sinne einer „,Ketzerjagd‘“83 zu verstehen. Vielmehr gehe es bei dem die Kritik begründenden Zeugnis darum,
76 H. De Bruin/R. Houwink/H. van der Leek/P.H. Muller, Een Afscheid, OW 12, 1934/35, 353 – 354, 354. 77 Ebd. 78 Ebd. 79 H. De Bruin/R. Houwink/H. van der Leek/P.H. Muller, Kritiek en getuigenis, OW 12, 1934/ 35, 385 – 386. 80 Ebd. 81 AaO., 386. 82 Ebd. 83 Ebd.
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um Christi willen „dem ,Heiden‘ […] in uns selbst und in unserem Nächsten“84 zu begegnen. Neben dem Begriff der Kritik wurden auch die Begriffe des Existentiellen und des Paradoxes von der neuen Redaktion aufgenommen und wiederum mit einer grundsätzlich positiv gerichteten kulturellen Arbeit verbunden, die sich als Alternative sowohl zur herkömmlichen organisierten Christlichkeit als auch zu einem rein ästhetischen l’art pour l’art-Ideal verstand. Wolle man nicht nur die ästhetische Oberfläche eines Kunstwerkes, sondern auch die existentielle Dimension der zwischenmenschlichen Begegnung von Autor und Leser bei der Beurteilung der Qualität eines Kunstwerkes berücksichtigen, so unter anderem Houwink in einem Beitrag über Gevaarlijk werk (Gefährliche Arbeit)85, erfordere dies eine besondere Offenheit des Autors: In der Kunst gehe es grundlegend um die Einsicht, dem Gefangensein in der eigenen Lebenswirklichkeit in die Augen zu sehen. Dieser eigenen Lebenswirklichkeit stehe eine prinzipiell verborgene, unerkennbare absolute Wirklichkeit gegenüber. Nur im Licht der Offenbarung Gottes in seinem Wort könne man die Welt und das Leben in seiner ganzen Wirklichkeit sehen. Gott, so Houwink in stark barthianisch eingefärbter Terminologie, enthülle uns „die paradoxe wertvolle Wertlosigkeit des menschlichen Lebens in dieser Welt“86. Sehe sich der Mensch von Gott her in diese Wirklichkeit gestellt, existiere er trotz seiner selbst. Ein derart existierender Mensch müsse nicht nur in den Chor zeitgenössischer radikaler Zweifler hinsichtlich der eigenen Menschlichkeit einstimmen, sondern könne kraft des Glaubens auch Gottes Ziel mit dem Menschen und der menschlichen Wirklichkeit erkennen. Nur aufgrund der positiven göttlichen Verheißung sei der christliche Geist immer ein kritischer Geist, wobei es auch in literarischen Dingen eben vom Menschen her nicht um ein Urteil, sondern um ein Zeugnis gehe. Indem nur Gott selber ein Urteil zukomme, seien menschliche Wahrheitsansprüche und Urteile prinzipiell zu relativieren. Wiederum ging es Houwink also um den positiv konnotierten Ausdruck eines persönlichen christlichen Zeugnisses als Grundlage für ein neuartiges Verhältnis zwischen Christentum und Kultur und nicht einfach um die einseitig negative Kritik oder gar Zerstörung der Verbindung zwischen beiden. Das damit verbundene persönliche, existentielle Engagement des Dichters, so noch einmal deutlicher in weiteren Beiträgen, sei ausdrücklich nicht mit „,fromme[n]‘ Erwägungen“87 oder „christliche[n] Weltanschauungen“88 zu verwechseln, sondern dränge auf eine Verarbeitung statt einer bloßen Bearbeitung des christlichen Stoffes. Es gehe um ein zeitgenössisches christliches 84 85 86 87 88
Ebd. Redactie, Gevaarlijk werk, OW 13, 1935/36, 1 – 3. AaO., 2. Redactie, Aan de inzenders, OW 13, 1935/36, 66 – 68, 67. Ebd.
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Zeugnis inmitten der Welt89, also nicht um das Ideal einer christlichen Kultur, sondern um die Bindung an die Wirklichkeit, in die ein Christ göttlicherseits gestellt werde. Es gehe um das reale Leben „im Erdgeschoss“90 und die Auseinandersetzung mit sozialen Problemen wie etwa der Arbeitslosigkeit, dem Krieg und der Sexualität. In weiteren Beiträgen beschäftigten Houwink und andere Redaktionsmitglieder sich auch mit der Vergleichbarkeit und möglichen Verbindung von christlichem und literarischem Engagement. Glauben und literarische Aktivitäten hätten insofern eine Gemeinsamkeit91, als sie beide auf das wirkliche Leben gerichtet seien und die gesamte Persönlichkeit beträfen. Auch als Kulturträger ständen Christen im Dienst Gottes und sollten die oft scheinheilige Realität der bestehenden Kultur als ein Arbeitsfeld zur Verherrlichung Gottes und nicht als „heiligen Ort“92 oder Möglichkeit „zur Verherrlichung des Menschen“93 betrachten. Ein christlicher Künstler oder auch Kunstrezipient könne ausschließlich Christus als Form der Gott-Menschlichkeit anerkennen, so dass seine besondere Aufgabe und Verantwortung eben darin liege, sowohl die Apotheose als auch die Ablehnung des Kulturellen auszuschließen. Die Angst, dass Literatur mit (dogmatischer) Theologie verwechselt werden könne, so Houwink noch einmal zusammenfassend, sei zwar aufgrund einer Theologieauffassung, die eher an „mathematische[n] Formulierungen“94 und „Rechensummen“95 interessiert sei, „historisch sicherlich nicht unbegründet“96, doch gehe es der zeitgenössischen, existentiell am Christuszeugnis orientierten Theologie und Kirche um einen lebendigen, auf die Welt hin orientierten Glauben. Die ästhetische Form und der existentielle Glaubensinhalt seien gleichermaßen wichtig, ja Form und Inhalt erwiesen sich wie Haut und Körper als eine Einheit. Die von Houwink und anderen Barthianern entwickelte Alternative zum herkömmlichen Gegensatz zwischen „christlich-gereformiert“ beziehungsweise „ethisch-dogmatisch“ und „allgemein-säkularisiert“ beziehungsweise „ästhetisch“ bestand also in der Verbindung eines existentiellen Glaubensinhalts und einer ästhetischen Form. Dass diese Offenheit für die säkulare Kultur den christlichen Glauben nicht ausschließen muss und dass Säkularität und Glauben konstruktiv aufeinander bezogen werden können, sind meines Erachtens die wichtigsten Entdeckungen, die man in den stark polarisierten Niederlanden christlicherseits mit Hilfe der Theologie Barths machte. Sie
89 90 91 92 93 94 95 96
Redactie, Waar staan wij?, OW 13, 1935/36, 93 – 94. Redactie, Dienst, OW 13, 1935/36, 160 – 161, 161. Redactie, Uitwijding en inwijding, OW 13, 1935/36, 132 – 134. Redactie, Opdracht, OW 13, 1935/36, 250 – 251, 250. Ebd. Redactie, De taak der redactie, OW 14, 1936/37, 313 – 316, 315. Ebd. Ebd.
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stellen damit ein ganz wesentliches Motiv der niederländischen Barth-Rezeption dar. Die oben zusammengestellten, oft nur sehr kurzen und daher möglicherweise dem breiteren Publikum tatsächlich „dunkel“ (s. o.) erscheinenden Erwägungen Houwinks aus seiner Zeit als verantwortlicher Endredakteur von Opwaartsche wegen seit 1935 sind meines Erachtens durchaus gut verständlich und müssten bei genauerer Beschäftigung mit Houwinks Beiträgen auch für ein theologisch nicht spezifisch gebildetes Publikum prinzipiell nachvollziehbar gewesen sein. Denn sie stellen ja das Resultat einer tieferen Auseinandersetzung Houwinks mit der Bedeutsamkeit der Theologie Barths für das Problem des christlichen Literaturbetriebs in den Niederlanden dar, die Houwink in Form von verschiedenen Beiträgen in Opwaartsche Wegen bereits vor seiner Zeit als verantwortlicher Endredakteur publiziert hatte und die daher dem Leserkreis von Opwaartsche wegen nicht zwingend unbekannt gewesen sein müssen: Bereits in dem im achten Jahrgang von Opwaartsche wegen publizierten Essay Drie brieven over de schoonheid (Drei Briefe über die Schönheit)97 behandelte Houwink die Begriffe Paradox, existentiell und Krisis/Kritik in einem breiteren Kontext. In Anknüpfung an Dostojewskis Roman Die Brüder Karamasow98 dachte er über die dämonische Seite der Schönheit nach. Diese sei eine Projektion menschlicher Verzweiflung und Ausdruck der nicht zu entkommenden Realität menschlicher Sünde und der fundamentalen menschlichen Gebrochenheit. Lasse man diese äußere Sicht der Dinge ganz und gar an sich herankommen, könne man aber auch einen eher inneren, existentiellen Zugang zum befreienden schmalen Weg vom Abgründigen zum Licht entdecken. Dieser innere Weg – für Houwink ein Weg zur Schönheit – erlaube es, von „,christlicher Dichtkunst‘“99 zu sprechen. Entsprechend der Unterscheidung zwischen Glauben und Schauen in 2Kor. 5, 7 sei von der Überlegenheit des Glaubens als einem Leben aus Gott gegenüber der ganzen menschlichen Wirklichkeit zu sprechen, zu der auch die Schönheit gehöre. Es gehe um den inneren Bezug zwischen Dichter und Gott – den ewigen Dialog zwischen dem Vergänglichen und dem Unvergänglichen, der sich als Schönheit-schöpfende Tat äußere und als ein Dienst des Dichters gegenüber Gott zu verstehen sei: Idealerweise entspreche der Dichter einem leeren Blatt Papier, auf dem eine göttliche Schrift erscheine. Insofern lasse die Schönheit den Dichter „ein wenig an Gottes Offenbarung teilnehmen“100. Selbstverständlich müsse aber diese Verbindung zwischen dem Dichterischen und dem Göttlichen mit der 97 R. Houwink, Drie brieven over de schoonheid, OW 8, 1930/31, 356 – 361. 98 Mit seinem Interesse für Dostojewski steht Houwink auch unter Theologen aus dem Umfeld der dialektischen Theologie in seiner Zeit nicht allein da. Es ist etwa auch bei E. Thurneysen, K. Barth und K.H. Miskotte anzutreffen; vgl. hierzu K. Tolstaja, Caleidoscoop. F.M. Dostojewski en de vroege dialectische theologie, Gorinchem 2006. 99 AaO., 360. 100 AaO., 361.
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größten Vorsicht betrachtet werden, da ja der Dichter einerseits nicht unbeschrieben sei und die göttliche Schrift andererseits immer nur in menschlicher Sprache zur Verfügung stehe. Paradoxe Formulierungen wie „[s]prechend[es] Schweigen“101 und „schweigend[es] Sprechen“102 seien am besten geeignet, um diese innere Verbindung auszudrücken. Diese von Barths Theologie inspirierte existentiell-christliche Kunsttheorie entwickelte Houwink in einem längeren Essay über den Zusammenhang von Kunst en religie (Kunst und Religion)103 noch einmal genauer : Eine rein ästhetisch orientierte l’art pour l’art-Kunstauffassung habe zunächst einmal einen guten Sinn, und eine Kunstauffassung, bei der es um hybride Verbindungen zwischen Religion und Kunst – etwa im Sinne einer ästhetisch verkleideten Erbaulichkeit – gehe, sei dementsprechend abzulehnen. Trotzdem sei Kunst mehr als ein rein ästhetisch motiviertes „willkürliches Spiel der Sinne“104. Ihre eigentliche Wurzel liege nicht in einem ästhetischen Normenkomplex, sondern in der Menschlichkeit des mit sich selbst ringenden, von Gott angesprochenen Künstlers, der feststellen müsse, dass die eigene Unvollkommenheit die göttliche Vollkommenheit nicht fassen könne. Wie die Religion sei auch die Kunst auf das menschliche Leben in seiner ganzen Wirklichkeit gerichtet, das als ein unverdientes Geschenk vor Gottes Angesicht aufzufassen sei. Die Annahme eines – dieses, auf das Leben vor Gott gerichteten – positiven Verhältnisses zwischen Kunst und Religion gehöre seines Erachtens zum Wesen der Kunst. Religiöse Kunst sei dementsprechend nicht als ästhetisches Grenzproblem, sondern wesentlich als Kunst zu begreifen. Bei näherer Betrachtung, so Houwinks weitere Gedanken zu einer erweiterten, auf die Vergleichbarkeit mit der Religion hin angelegten Kunstauffassung, erweise sich die Kunst als eine Spiegelung unseres menschlichen Lebens. Sie sei wie dieses von drei Motiven beherrscht, dem ästhetischen (Sehnsucht nach Schönheit), dem ethischen (Sehnsucht nach dem Guten) und dem metaphysischen Motiv (Sehnsucht nach geistigem Gleichgewicht und Einheit). Von diesen drei Motiven deutlich zu unterscheiden sei allerdings das religiöse Motiv. Dieses kenne, wie insbesondere das Beispiel der bestehenden so genannten christlichen Literatur zeige, drei Scheingestalten, bei denen jeweils Göttliches mit Menschlichem auf unzulässige Weise identifiziert werde. Zu denken sei an die Identifikation von Künstler und Schöpfer, an die Identifikation von zu erringender rein menschlicher und höherer Wahrheit und an die Identifikation von menschlich zu erlangender und göttlich geschenkter Erlösung. Demgegenüber sei als alternatives religiöses Motiv der Kunst die
101 102 103 104
AaO., 361. Ebd. R. Houwink, Kunst en religie, OW 9, 1931/32, 153 – 164. AaO., 153.
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„Nähe […] des Persönlichen“105 zu nennen, das an das Ringen des Dichters zwischen menschlicher Unvollkommenheit und göttlicher Vollkommenheit erinnere. Die Kunst spiegle das menschliche Leben nicht als bloßen Widerschein der natürlichen Realität menschlicher Existenz, sondern als Bild einer geistigen Wirklichkeit. In dieser Besonderheit, über sich selbst als rein sinnliche Schönheit auf eine nicht begrifflich zu fassende Einheit hinauszuweisen, liege das spezifisch religiöse Motiv der Kunst. Diese geistige Wirklichkeit lasse sich zwar durch Erinnerung und Vertiefung vernehmen, bilde aber letztlich kein handfestes Kriterium für die Wahrhaftigkeit eines Kunstwerkes. Auch das Sprechen über die Möglichkeit einer christlichen Kunst sei darum immer ein prekäres Unterfangen. Deren mögliche Christlichkeit sei in keinem Fall als ein Besitz oder gar als eine religiöse Sicherheit vor Gott zu betrachten, sondern hänge vom christlichen Selbstverständnis des Künstlers ab; das hieße seines Erachtens von der mutigen Einsicht, dass Schönheit eine „Leihgabe“106 und ein menschlich unverfügbares „Geschenk“107 Gottes sei. Als Schlüsselbegriffe eines christlichen künstlerischen Selbstverständnisses seien der „Gehorsam“108 (gegenüber Gott; SH) und die „Verantwortlichkeit“109 hinsichtlich der eigenen menschlichen, künstlerischen Produktion zu nennen. Die genannten, zweifelsohne von der Theologie Barths inspirierten theologischen Begriffe – Dienstverhältnis des Dichters, Schönheit als Leihgabe, Gehorsam und Verantwortlichkeit als Lebenshaltung – bilden für Houwink also die Grundlage für die von ihm entwickelte neuartige nicht-illusionäre und existentielle Verbindung zwischen Christlichkeit einerseits und Kunst andererseits und mithin für die mögliche Möglichkeit einer christlichen Kunst. All diese Begriffe spielten auch eine tragende Rolle in dem Essay Het vormen inhoudprobleem in de letterkunde in verband met de mogelijkheid eener christelijke literatuur (Das Form- und Inhaltproblem in der Literaturwissenschaft im Zusammenhang mit der Möglichkeit einer christlichen Literatur)110, mit dem Houwink aufgrund seiner darin entfalteten These von der Krisis des Schönen besondere Aufmerksamkeit erregte. Den Gedanken einer Krise des Schönen – und wohl auch die oben genannten Begrifflichkeiten – hatte Houwink in den 30er Jahren zwar nicht von Barth selber, aber immerhin von dem Barth nahestehenden lutherischen Theologen Heinrich Vogel111 über105 AaO., 161. 106 AaO., 163. Der Begriff der „Leihgabe“ spielt auch bereits in Houwinks sieben Thesen zur Frage „Warum ,christlich‘?“ eine entscheidende Rolle; vgl. R. Houwink, Waarom „,christelijk‘“?, OW 8, 1930/31), 435 – 438, 437. 107 Houwink, Kunst en religie, 163. 108 Ebd. 109 Ebd. 110 R. Houwink, Het vorm- en inhoudprobleem in de letterkunde in verband met de mogelijkheid eener christelijke literatuur, OW 11, 1933/34, 241 – 258. 111 H. Vogel, Die Krisis des Schönen. Ein Umweg zur Grundfrage der menschlichen Existenz, Berlin 1931.
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nommen und eigenständig auf die ihn beschäftigende Frage nach der Möglichkeit einer christlichen Literatur angewandt. Worum geht es nun bei dieser Krise des Schönen? Und was hat das mit der Möglichkeit einer sowohl christlich engagierten, als auch ästhetisch verantwortungsvollen Literatur zu tun? Houwinks Ausgangspunkt der Rede von einer Krise des Schönen war die Einsicht, dass das Wesen des Schönen sich weder aufgrund seiner nach Vollendung strebenden Form noch aufgrund seines die gewöhnliche Wirklichkeit transformierenden Inhalts noch aufgrund der Einheit von Form und Inhalt feststellen lasse. Die entscheidende, die Wahrheitsfrage laute vielmehr, ob das Schöne seinem Wesen nach autonom oder heteronom sei, ob es also in sich selbst schön sei oder seine Schönheit von irgendwo anders her empfange. Über dieser Wahrheitsfrage hänge, so Houwink mit Vogel, wie eine Bedrohung die Frage nach der Krise des Schönen. Und diese Krise könne zweierlei Form annehmen, nämlich eine immanente und eine transzendente Form: Bei der immanenten Form werde nach der Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer Krise gefragt. Ein Krise des Schönen sei grundsätzlich möglich, weil ein Kunstwerk prinzipiell unvollkommen sei, weil die ästhetische Realität des Kunstwerks unwirklich sei und weil man mit dem Schönen eben auch dem Nichts begegnen könne. Zugleich sei eine immanente Krise des Schönen aber auch unmöglich, da die ästhetische Realität nun einmal selbst vollkommen, sich selbst genügend und ihrer selbst sicher sei – eben abgeschottet vom wirklichen Leben. Wirklich interessant werde es allerdings erst auf der Grenze zwischen dieser Möglichkeit und dieser Unmöglichkeit: Dort nämlich liege der Ort einer nicht länger unmittelbaren Kunst, einer Kunst voller Sehnsucht nach einem Anderen oder einem ganz Anderen. Freilich, dieser schöne Ort erweise sich als ein Ort, der eigentlich gar keiner ist, nämlich als ein immer flüchtiger Ort, als ein Ort wie eine offene Frage, als ein Ort wie ein Pfeil, der über sich selbst hinausweise, oder wie ein Schluss in Form einer offenen Tür, also als ein Ort, der sich eben gerade durch Selbstaufhebung selbst vollende. Möglichkeit und Unmöglichkeit hielten sich die Waage. Eine wirkliche, eine letzte Entscheidung finde gerade nicht statt. Anders verhalte es sich mit der zweiten, der transzendenten Form der Krise. Hier komme es durchaus zu einer Entscheidung, und selbst der Tod werde hier noch einmal kritisch in Frage gestellt, nämlich von der Auferstehung des Gekreuzigten her : Das Wort des Propheten Jesaja habe Jesus ja gerade als einen angekündigt, der weder Gestalt noch Schöne habe. So gesehen sei mit Jesus eben auch das Schöne ans Kreuz geschlagen worden, und mit ihm die selbstherrlichen, selbstvollkommenen und sich selbst erlösenden Züge des Schönen – und natürlich auch die ebenso schönen Züge des selbstherrlichen Dichtergottes, wie ich hinzufügen möchte. Doch vom Kreuz Christi her gesehen, so der weitere Gedankengang, erweise sich das göttliche Gericht über das Schöne eben auch als verheißungsvolle Gnade – oder genauer gesagt, nicht auch als verheißungsvolle Gnade, sondern viel mehr als verheißungsvolle
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Gnade: Die Gnade sei stärker als das Gericht. Bei dieser transzendenten Form der Krise herrsche gerade keine Ausgewogenheit, von der Auferstehung her sei vielmehr eine bestimmte Entscheidung über das Schöne, über das Kunstwerk oder über den sich gottgleich gebärdenden Dichter bereits gefallen. So gesehen würden die dämonischen Züge des Schönen zu einem zweifachen, verheißungsvollen Dienst bestimmt, nämlich Gleichnis und Schmuckstück Gottes zu sein. Das formale Ideal des Schönen erweise sich dann nicht länger als Selbstherrlichkeit, sondern werde zum Hinweis auf den neuen Menschen, die ästhetische Realität des Schönen fungiere dann nicht länger als Mittel zur Selbsterlösung, sondern schaffe eine Ahnung von der neuen Auferstehungswelt, und die selbstgerechte Autonomie des Schönen könne nun als Schmuckstück betrachtet werden, nicht länger als selbstgerechtes In-SichSelber-Sein, sondern als ein An-Sein. Diese an Heinrich Vogel angelehnten Einsichten über die Krisis des Schönen wendete Houwink schließlich auf die ihn beschäftigende Frage nach der Möglichkeit einer christlichen Literatur an. Diese Möglichkeit, so Houwink, ergebe sich aus der Akzeptanz der Realität der Krise des Schönen, also aus der transzendenten Form der Krise. Diese mache deutlich, dass weder der (ethische) Inhalt noch die (ästhetische) Form des Kunstwerkes entscheidend seien, sondern allein die Art und Weise, in der das Kunstwerk seine Schönheit zeige, nämlich als hinweisendes Gleichnis und als Dienst an Gott. Mit dieser Entdeckung, die ja auch von der Römerbrieftheologie Barths selber her möglich wäre, hat Houwink eine eigene Position in dem oben beschriebenen Konflikt zwischen einer rein ästhetisch orientierten l’art pour l’art-Kunstauffassung einerseits und einer an ethisch-religiösen Maßstäben orientierten traditionellen christlichen Kunstauffassung andererseits gefunden, die beide Seiten gerade nicht ausschließt, diese aber in einen anderen – nämlich verweisenden – Zusammenhang stellt und so auf neue Art verbindet. Roel Houwink als barthianischer Dichter Inwiefern spiegeln sich Houwinks literaturwissenschaftliche Betrachtungen und theologische Erkenntnisse nun in seinen Gedichten wider? Um dieser Frage nachzugehen, habe ich zwei Gedichte Houwinks aus seiner Zeit als Mitarbeiter und Redakteur von Opwaartsche Wegen ausgewählt und dem Inhalt nach übersetzt. Meine jeweils anschließende kurze Interpretation soll andere mögliche Interpretationen und Eindrücke keinesfalls ausschließen:
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Christliche Kunst? (1919 – 1940). Kulturtheologie II
De dichter spreekt
Der Dichter spricht
Heer, geef mij een eenvoudig woord, dat spreekt tot armen en verdrukten, te vaak heb ik het hart bekoord van hen die nimmer voor u bukten.
Herr, gib’ mir ein einfältiges Wort, das zu Armen und Bedrückten spricht, zu oft habe ich gerade die bezaubert, die sich vor Dir niemals bückten.
Die waanden dat wat ik hun zei meer was dan u volkomen woorden; niet ik, o God, niet ik, maar Gij, zeg Gij hun wat hun trots nooit hoorde!
Die wähnten, dass, was ich ihnen sagte mehr war als Deine vollkommenen Worte; nicht ich, oh Gott, nicht ich, sondern Du, sag Du ihnen, was ihr Stolz nie vernahm!
Laat mij maar met de kleinen zijn en met hun hulpelooze vragen, want eenmaal zal Uw zonneschijn ook in de dorste levens dagen:
Lass mich ruhig mit den Kleinen sein und mit ihren hilflosen Fragen, denn einmal wird Dein Sonnenschein auch in den dürrsten Leben tagen.
Ik heb geen haast, o Heer. De tijd is weggegleden uit mijn handen. Ik heb geen haast; Uw eeuwigheid maakte nog nooit geloof ten schande.
Ich hab’ keine Eile, oh Herr. Die Zeit ist weggeglitten aus meinen Händen. Ich habe keine Eile; Deine Ewigkeit hat Glauben noch nie zuschanden gemacht.
Laat mij in deze stilte maar en dit armelijk vertrouwen. Als ik Uw liefde ’dus bewaar, zult Gij wel eens m’ Uw wil ontvouwen.
Lass mich ruhig in dieser Stille und in diesem dürftigen Vertrauen. Wenn ich nur Deine Liebe bewahre, wirst Du mir wohl einmal Deinen Willen zeigen Roel Houwink112
Der Titel des Gedichtes Der Dichter spricht zitiert vermutlich das gleichnamige Stück aus Robert Schumanns Kinderszenen (vgl. op. 15, Nr. 13 aus vom Jahr 1838). Man stellt sich Kinder vor, die einem Dichter zu Füßen sitzen und andächtig den getragenen, choralartigen Klängen des Stückes lauschen. Die religiöse Aufgeladenheit ist unüberhörbar. Zugleich klingt möglicherweise das Kindermotiv aus dem Römerbrief113 auf. Der Dichter ruft sich in Erinnerung, dass er lieber den Kleinen, als den hochmütigen Großen dienen will. In der zweiten Strophe geht der Dichter noch einmal auf seine Rolle als Dichter ein. Dieser stehe immer in der illusionären oder religiösen Versuchung, sich selber an die Stelle Gottes zu setzen, während er doch eigentlich ein Zeuge und Diener Gottes sein sollte. In der vierten Strophe klingt das von Houwink öfter 112 Vgl. R. Houwink, De dichter spreekt, OW 12, 1934/35, 387. 113 Vgl. Barths Exegese zu Röm. 12 in der zweiten Auflage des Römerbriefs.
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Roel Houwink als Dichter und Redakteur
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verwandte barthianische Motiv der leeren Hände (religiöse Besitzlosigkeit) an, diesmal in Kombination mit dem ebenfalls typisch barthianischen Unterschied zwischen Zeit und Ewigkeit: Nicht der zeitliche Mensch, sondern der ewige Gott hat die Zeit in den Händen. Hierzu passen nicht nur die langsamen Tempi, sondern auch die vielen Pausen in der entsprechenden Kinderszene Schumanns. Die letzte Strophe macht deutlich, dass es nicht um großartige religiöse Gefühle oder Taten geht, sondern um dürftiges Vertrauen, um geschenkte Zeit und geschenkten Glauben. Es geht um eine existentielle, liebevolle und menschlicherseits unverfügbare Gottesbeziehung. Lente-morgen
Frühlings-Morgen
Zij hield den spiegel en bewoog toen even het hoofd in zacht gewiebel, want gedachten die haar lippen tot een glimlach samenbrachten waren uitgevlogen….En een beven van verwachting had haar hart zozeer bevangen dat zij nauwlijks scheen te leven anders dan een licht-bewogen, vroeg-ontloken voorjaarsbloem.
Sie hielt den Spiegel und bewegte eben den Kopf in sanftem Wiegen, denn Gedanken, die ihre Lippen zu einem Lächeln zusammenführten, waren weggeflogen…Und ein Beben voller Erwartung hatte ihr Herz so sehr ergriffen, dass sie kaum anders zu leben schien als eine zart-bewegte, früh-entsprung’ne Frühjahrsblume. Roel Houwink114
Das Gedicht trägt den Titel Frühlings-Morgen – möglicherweise eine Anspielung auf Gustav Mahlers Vertonung des gleichnamigen Gedichts von Richard Volkmann. Am Anfang erklingt das Motiv einer sich spiegelnden Frau, das man als Sinnbild für die narzisstische Selbstbezogenheit des Schönen deuten kann. Diese Dämonie des Schönen gerät in eine immanente oder transzendente Krise: Sie wird durch ein innerlich erfahrenes, wohl von Außen herrührendes Beben unterbrochen. Die durch das Beben versinnbildlichte Krise des Schönen unterbricht die – wohl hoffnungslos festgefahrene – Selbstbezogenheit und Selbstverliebtheit der Schönheit und gibt ihr eine neue, erwartungsvolle Richtung – vergleichbar einer klassischen Frühlingsstimmung. So erhält das Schöne, das nun auch mit einer im Winde sich schaukelnden Frühlingsblume verglichen wird, Hinweischarakter – ein Beispiel für sehnsuchtsvolle Kunst auf der Grenze und/oder für das Leben in der neuen Auferstehungswelt. Das Bewegtsein durch Gott oder eine externe Instanz und die innere Selbstbewegung schließen einander gerade nicht aus. 114 Vgl. R. Houwink, Lente-morgen, in: K. Heeroma, Het derde r¦veil, 99.
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Christliche Kunst? (1919 – 1940). Kulturtheologie II
Vielmehr kann das leichte Bewegtsein der Blume als ein Abglanz und Gleichnis des extern verursachten Bebens angesehen werden. Wie auch in anderen Gedichten Houwinks schließen menschliches Handeln und göttliche Initiative einander nicht aus – ein typisches Anliegen niederländischer BarthRezipienten. Entscheidend ist wohl die Ermöglichung der durchaus religiös zu nennenden Erfahrung eines frühlingshaft früh genug gewagten anderen Lebens. Die dichterischen und theoretischen Aktivitäten Roel Houwinks und die Entwicklungen in den literarisch-theologischen Diskussionen in Opwaartsche wegen blieben in der neocalvinistischen, versäulten Presse nicht unbemerkt und wurden dort auch eindeutig als barthianisch beeinflusst wahrgenommen. In der neocalvinistischen Wochenzeitschrift De Reformatie vom 24. Januar 1936 reagierte der sich selbst als offen (neo-)calvinistisch verstehende Redakteur Rudolphus Janus Dam mit einem Hauptartikel zum Thema „Christliche Literatur“115 ganz unverblümt: Nicht „die persönliche Frömmigkeit der Literaten“116, sondern die Heilige Schrift gemäß der Auffassung des gereformierten Bekenntnisses solle der Maßstab des Christlichen sein. Dabei fasse er selber den Begriff gereformiert nicht antithetisch auf, denn er schließe andere Geschmäcker durchaus ein. Christliche Literatur „im eigentlichen Sinn des Wortes“117 sei darum „calvinistische Literatur“118. Von daher seien sowohl die Auffassung, dass christliche Literatur einfach Literatur von Christen sei, als auch die verschiedenen Aussagen aus der „barthianischen Sphäre“119 zurückzuweisen. Houwinks an Heinrich Vogel angelehnte Rede von einem Zusammenhang zwischen der Krisis des Schönen und der Krisis des Todes und der Auferstehung Jesu Christi und seine Forderung einer am persönlichen Glauben orientierten Auffassung in Bezug auf die Möglichkeit einer christlichen Literatur entbehre jeglicher biblischen (ndl.: schriftuurlijk) Norm. Eine im Paradox befangene Literaturauffassung und eine durch „steuerlose Dehnbarkeit“120 gekennzeichnete Schriftauffassung seien als Maßstab für die christliche Literatur entschieden zurückzuweisen. Jedenfalls könne man dann die calvinistische Literatur nicht länger nur als Spielart der christlichen betrachten. Selbst von einem ästhetisch gesehen wertvollen Buch, welches aber nicht gereformiert-calvinistischen Normen entspreche, sei abzuraten. Houwink reagierte in Opwaartsche wegen mit dem Aufruf Bezint…, eer gij verder gaat (Besinnen Sie sich…, bevor Sie weiter gehen)121 und bedauerte den von Dam anvisierten „Separatismus“122 innerhalb des Christlichen. Insbe115 116 117 118 119 120 121 122
R.J. Dam, Christelijk III. Christelijke literatuur, Re 16, 1936, Nr. 17, 129 – 130. AaO., 129. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. R. Houwink, Bezint…, eer gij verder gaat, OW 14, 1936/37, 65 – 67. AaO., 65.
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Roel Houwink als Dichter und Redakteur
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sondere mache der Autor nicht deutlich, was man sich unter der angeblich offen calvinistisch intendierten Literatur vorzustellen habe, die doch faktisch nur den eigenen calvinistischen Normen Dams entspreche. Auch die Norm der Schriftgemäßheit meine faktisch die inklusiv-calvinistische Bibelinterpretation des Autors. Ihm selber, Houwink, gehe es demgegenüber nicht um den Buchstaben, sondern um den Geist der Schrift. Seines Erachtens rufe gerade Christus nicht zu Separatismus auf. So sei in Anschluss an 1Kor. 1, 11 – 13 Folgendes zu sagen: Wir, Calvinisten; wir, Konfessionellen, wir Dialektiker und was Sie noch mehr wollen, wir stehen alle unter diesem Wort. Ist etwa Calvin für uns gekreuzigt worden, oder vielleicht Kuyper oder Barth oder Kohlbrügge – oder aber Christus? Sind wir im Namen des Calvinismus oder im Namen des einen oder anderen -ismus getauft worden – oder im Namen von Christus?123
Dam reagierte mit einem dreigliedrigen Beitrag in De Reformatie: Houwinks „dialektisch gefärbte Ästhetik-in-nuce“124 mit ihrer Rede von einer Krisis und einer Dämonie der Schönheit sei nicht „christlich“125, sondern eine „Blasphemie hinsichtlich der ewigen Fontäne aller Schönheit“126, so Dam am 26. 6. 1936 in der Rubrik „Literatuur en Kunst“. Er, Dam, habe bereits deutlich gemacht, dass seine Auffassung dessen, was unter gereformiert zu verstehen sei, nicht antithetisch sei. Darum könne man ihn auch nicht des Separatismus beschuldigen. Der springende Punkt des Konfliktes mit der Redaktion von Opwaartsche wegen liege seines Erachtens darin, dass diese ein Bekenntnis nur als Menschenwerk betrachte, während er selber es als ein Werk des Heiligen Geistes auffasse. Wo Houwink „chaotisch und atomistisch“127 bestimmen wolle, welcher Geist aus der Bibel zu uns spreche, beriefen die Gereformierten sich auch auf diejenigen Worte, die der Geist zu den Gemeinden spreche. Aufschlussreich ist auch Dams Interpretation128 von Houwinks Gedicht Der Dichter spricht, die er am 3. 7. 1936 im Rahmen der Fortsetzung seines Artikels vom 26. 6. 1936 in De Reformatie veröffentlichte: Könne man nach erstem oberflächlichen Lesen denken, das Gedicht handle von christlicher Einfalt, die auch die Kleinen nicht verachte, bleibe der Inhalt des als Gebet präsentierten Gedichts bei näherer Betrachtung und nach mehrmaligem Lesen äußerst undeutlich und enthalte keinen einzigen biblischen Gedanken; ja es sei unzulässig, dass der Dichter mit dem Titel die Worte des Heilands in den Mund nehme.129 Undeutlich sei zudem, wen der Dichter eigentlich erreichen wolle, wer genau mit den Armen gemeint sei: alle Armen (dann sei unverständlich, 123 124 125 126 127 128 129
AaO., 67. R.J. Dam, Calvinistische litteratuurbeschouwing I, Re 16, 1936, Nr. 39, 329. Ebd. Ebd. Ebd. Ders., Calvinistische litteratuurbeschouwing II, Re 16, 1936, Nr. 40, 236 f. Diese Einschätzung des Titels ist mir leider völlig unverständlich geblieben.
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Christliche Kunst? (1919 – 1940). Kulturtheologie II
was das unterlassene Bücken bedeute), die Gläubigen (die bückten sich zwar, es gebe aber auch reiche Gläubige) oder die gläubigen Armen (was am wahrscheinlichsten erscheine)? Demgegenüber sei es allerdings sehr wohl deutlich, an wen sich der Dichter nicht mehr wenden wolle, nämlich an die Stolzen. Die Polarität zwischen Zeit und Ewigkeit könne man zwar als barthianisches Element deuten, sie entspreche aber nicht dem Geist Christi. Der nämlich wolle im Anschluss an Eph. 5, 16 und 2Petr. 3, 11 – 12, dass die Seinen der Zukunft des Tages Gottes entgegengingen. Während der Dichter sich mit „Stille“ und „dürftigem Vertrauen“ zufrieden gebe, mache Gott den Glauben auch in der gegenwärtigen Zeit nicht zuschanden. Unbiblisch sei auch der Gedanke, dass man als Belohnung für das Bewahren der Liebe Gottes Willen erfahren werde. Vielmehr heiße es in Joh. 15, 10, dass man in der Liebe Gottes bleiben werde, wenn man seine Gebote bewahre. In einem letzten Teil seines Beitrags130 betonte Dam am 10. 7. 1936 in De Reformatie schließlich noch einmal, dass christliche Poesie für ihn weder Poesie von Christen noch von Gereformierten sei, sondern eben schriftgemäße Poesie. Houwink reagierte wiederum in Opwaartsche wegen. In einem längeren Beitrag über Schriftuurlijke kritiek? (Schriftgemäße Kritik?)131 konzentrierte er sich auf die „neocalvinistische Literaturauffassung“132 Dams und dessen Anspruch, diese sei im Worte Gottes fundiert. Seines Erachtens setze Dam sehr wohl „christlich“ und „calvinistisch“ gleich, weswegen es auch unverständlich sei, warum eine Literaturauffassung, deren Christlichkeit eben in der Christlichkeit des Künstlers liege, zurückgewiesen werde. Die Forderung nach einer speziellen neocalvinistischen Literaturauffassung sei abzulehnen, da sie den Interessen einer christlichen Literaturwissenschaft im weiteren Sinne des Wortes nicht diene, während eine Literatur, die den Maßstäben Dams entspreche, keine Literatur mehr sei; man habe es mit „rhetorische[r] Scheinkunst“133 zu tun. Die Beurteilung von Kunst habe sich außer auf geistige Kriterien vor allem auf die dem Kunstwerk immanente Struktur zu beziehen – Houwink hebt also im Gespräch mit dem gereformierten Opponenten die Beachtung gerade der ästhetischen Normen hervor. Zudem sei nochmals zu betonen, dass es Dam nicht um die Schriftgemäßheit als solche, sondern um eine bestimmte, nämlich gereformierte Interpretation der Schrift gehe. Dam sei auch daran zu erinnern, dass ein Dichter niemals direkt spreche und es in der Poesie folglich darum gehe, gerade das Unausgesprochene zu verstehen. Außerdem habe man zwischen dem Dichter als Dichter und dem Dichter als Person zu unterscheiden, wolle man das „mehr“ der Poesie erfassen. Dabei könne die Geisteshaltung eines Gedichts durchaus an den Grundwahrheiten des christlichen Glaubens geprüft werden, ohne dass man es wie Dam mit 130 131 132 133
Ders., Calvinistische litteratuurbeschouwing III, Re 16, 1936, 41, 344 f. R. Houwink, Schriftuurlijke kritiek?, OW 14, 1936/37, 244 – 253. AaO., 244. AaO., 247.
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Der niederländische Barthroman und Henk van Randwijk
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einer Dogmatik oder Predigt verwechseln müsse. Wiederum sucht Houwink also mit einer dekonstruktivistisch zu nennenden Haltung nach einer existentiellen, auf den geistlichen Gehalt gerichteten Alternative zu sowohl der gereformiert-ethisch-inhaltlichen als auch der religiös angehauchten oder ästhetisch-formalen Kunstauffassung – auch wenn er im Gespräch mit dem gereformierten Opponenten die ästhetischen Maßstäbe besonders hervorhebt. Seine Position, so kann abschließend festgehalten werden, hat sich in seiner Zeit als Chefredakteur seit 1935 inhaltlich gegenüber früheren Positionen nicht wesentlich geändert. Da diese Position bereits vor 1935 durchaus deutlich und ausführlicher als danach ausformuliert worden war, sind Houwinks redaktionelle Bemerkungen und Kommentare nach 1935 völlig verständlich und erschließbar. Dementsprechend müssen sie meines Erachtens nicht zwangsläufig als „dunkel“ (s. o.) empfunden werden, wie in Teilen der bestehenden niederländischen Forschung behauptet wird.
5.4 Der niederländische Barthroman und Henk van Randwijk In den Niederlanden gab es außer literaturtheoretischen und poetischen Barth-Rezeptionen auch zwei recht bekannte Barthromane von Henk van Randwijk, einem sehr bekannten niederländischen Journalisten und Intellektuellen. Van Randwijk war auch vor allem dadurch bekannt, weil er ab 1940 einer der Führer des geistigen Widerstands gegen die deutsche Besatzung und der damalige Hauptredakteur der ursprünglich illegalen Zeitung Vrij Nederland wurde.134 Vor dem Krieg war der sozialkritisch eingestellte Van Randwijk bereits ein scharfer Kritiker der vom neocalvinistischen, antirevolutionären christlichen Ministerpräsidenten Colijn angeführten niederländischen Regierung. Wie viele andere suchte Van Randwijk nach einer Alternative zu seinem orthodox-christlichen, neocalvinistischen Herkunftsmilieu – persönlich, politisch, theologisch und kulturell. Van Randwijk publizierte in Opwaartsche wegen regelmäßig, bis zu deren Einstellung 1940. Auf der Pfingstkonferenz des Verbond van Christelijke Letterkundige Kringen hörte der ursprünglich orthodox-gereformiert aufgewachsene Van Randwijk 1932 zum ersten Mal von Karl Barth: Dort hielt nämlich der später als „roter Pfarrer“ bekannt gewordene Jan Buskes wegen des Ausfalls eines anderen Sprechers spontan einen Vortrag über Karl Barth. Van Randwijk war begeistert und fühlte sich darin bestätigt, dass es eine andere als die ihm bekannte Form christlichen Glaubens geben müsse. Damit gehörte er also zu der Gruppe gereformierter Christen, die ein bestimmtes, vom Neocalvinismus 134 Die biographischen Informationen orientieren sich an der Biographie von Van Randwijk; vgl. G. Mulder/P. Koedijk, H.M. van Randwijk. Een biografie, Amsterdam 1988.
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Christliche Kunst? (1919 – 1940). Kulturtheologie II
repräsentiertes orthodoxes Kulturchristentum einschließlich der dazugehörigen christlichen Weltsicht, des entsprechenden Bibelverständnisses und der politischen Organisation in einer protestantisch-christlichen Säule nicht länger überzeugend fanden und die auf der Suche nach Alternativen auch jenseits der freisinnigen Alternative waren. Wie Buskes verließ Van Randwijk Ende der 30er Jahre die Gereformeerde Kerken und schloss sich dem Hersteld Verband an, einer kleinen Abspaltung, die sich jedoch 1940 (wieder) der reformierten Volkskirche (Nederlandse Hervormde Kerk) anschloss.135 Im Zusammenhang mit Van Randwijks sozialkritischem Engagement mag folgendes Zitat von Jan Buskes nützlich sein, welches die spezifische Motivation derjenigen Christen benennt, die in diesen Jahren zunehmend kritisch ihrer eigenen Säule (und damit ihrer ideologischen Heimat) gegenüberzustehen begannen: So schreibt Buskes über sein Verhältnis zum antirevolutionärchristlichen Ministerpräsidenten Colijn: Niemand von den Jüngeren und nur wenige Ältere können sich vorstellen, wie wir Colijn in unseren jungen Jahren als die Personifikation eines harten und unmenschlichen Kapitalismus, Militarismus und Kolonialismus gehasst haben. Das war kein persönlicher Hass gegen den Menschen Colijn, sondern ein Hass gegen die herzlose Gesellschaft, die von Colijn als einem Hauptrepräsentanten mit einem unbiblischen Vorsehungsglauben umgeben wurde, der unseren Hass nur noch stärker machte. Hassen ist das leidenschaftliche Verlangen, dass jemand nicht mehr da sein soll. So haben wir Colijn gehasst, leidenschaftlich verlangend nach der Zeit, wo er als Repräsentant und Erhalter einer kapitalistischen Gesellschaft nicht mehr da sein würde. Dieser Hass war unser Ärgernis und unsere Wut wegen der sozialen Unordnung und der Heucheleien der Colijn-Niederlande.136
Inspiriert von Buskes’ Vortrag über Karl Barth, begann Van Randwijk ab 1932, sich selbständig die Theologie Karl Barths anzueignen. Ebenfalls 1932 begann er auch, erste Prosa zu schreiben, die er ab 1933 auch publizierte. Typische Themen für Van Randwijks Poesie und Prosa waren die Thematisierung des sozialen Elends, die Verbürgerlichung und Heuchelei des Christentums, der Zerfall der gesellschaftlichen Gemeinschaft und der von Barths Theologie wohl am deutlichsten inspirierte Gedanke, dass es um Schulderkenntnis, Gnade und Vergebung für alle Menschen – Sünder und Nicht-Sünder – gehe, also um eine Selbstanklage des Christentums und die christliche Solidarität mit den Gottlosen.137 135 Van Randwijk hatte nicht nur Buskes, sondern auch Barth persönlich kennengelernt, als er 1936 als Zuhörer an einem Treffen führender Männer der Bekennenden Kirche in Doorn teilnahm. Über Buskes hatte er zudem auch Kleijs Kroon und Nico Stufkens kennengelernt, die wie Van Randwijk ebenfalls aktive Mitglieder des Lunterse Kring werden sollten und wie Buskes ebenfalls zu den so genannten Doorbraak-Pfarrern zu rechnen sind. 136 J.J. Buskes, Vier vrienden, Apeldoorn 1971, 39. 137 Neben Karl Barth war auch Jean Pascal ein großer Inspirator Van Randwijks – ging es ihm doch um die Artikulation von Gefühlen menschlicher Ohnmacht, menschlichen Mangels und
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Der niederländische Barthroman und Henk van Randwijk
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Bereits Van Randwijks erster Barthroman, Burgers in nood (Bürger in Not)138, war ein großer Erfolg. In diesem Roman verband der Autor das gesellschaftliche Thema der großen Arbeitslosigkeit in der Zwischenkriegszeit mit dem von Barths Römerbrieftheologie entlehnten Motiv der leeren Hände beziehungsweise der religiösen Besitzlosigkeit – ein Barthmotiv, das in den Niederlanden sehr gern und oft rezipiert wurde, eine Art Codewort für die niederländischen Barthianer. Ich möchte mich in diesem Abschnitt aber auch mit Van Randwijks anderem Barthroman beschäftigen, Een zoon begraaft zijn vader (Ein Sohn begräbt seinen Vater)139. Dieses Werk kann man zwar weniger deutlich dem Genre des gesellschaftlichen Krisenromans zuordnen, doch spiegelt es dafür besser die existentielle Disponiertheit derjenigen niederländischen Barthianer, die speziell einem neocalvinistischen Milieu entstammten und sich davon lösen wollten. In diesem Roman dient die VaterSohn Problematik als Kulisse für die Kritik des neocalvinistischen christlichen Establishments und der versäult-institutionalisierten christlichen Religion in den Niederlanden. Für einen anderen der großen, nicht-christlichen, neutralen niederländischen Dichter der Zeit zwischen den Kriegen, Menno ter Braak, war dies so evident, dass er sich in einer Rezension140 zweifelnd fragte, ob Van Randwijk sich überhaupt noch dem christlichen Teil des Volkes zurechnete. Er sei ja ohne Zweifel als einer der besseren niederländischer Literaten zu betrachten: angesichts der polarisierten Situation ein großes Kompliment, das zugleich die ideologische Heimatlosigkeit sich als Barthianer verstehender Intellektueller spiegelt. Beide Barthromane sollen im Folgenden nicht so sehr anhand literarischer oder ästhetischer Aspekte, sondern unter dem Aspekt ihrer Rezeption von Barths Theologie entnommenen Motiven besprochen werden. Dass diese Motive in literarischer beziehungsweise ästhetischer Hinsicht möglicherweise viel zu wünschen übrig lassen, soll hier zwar erwähnt werden, bildet aber für ihre Auswahl in dieser Studie kein Kriterium. Bürger in Not Der Roman Burgers in nood (Bürger in Not) besteht aus drei Teilen, die jeweils das wichtigste Thema des Romans ansprechen, nämlich die andauernde Arbeitslosigkeit der Hauptfigur Willem Verdoorn. So heißt der erste Teil „Willem Verdoorn geht jetzt stempeln“, der zweite Teil „Willem Verdoorn stempelt“ und der dritte Teil „Willem Verdoorn stempelt immer noch“. Damit widmet sich der Roman einem wichtigen gesellschaftlichen und sozialen Problem in der Zeit der Regierung Colijns, dessen Dramatik vom letzten Satz des Buches menschlicher Verlassenheit und um das Problem der Flucht vor der Wahrheit dieser Einsichten mittels einer Jagd nach Unterhaltung und Zerstreuung. 138 H.M. van Randwijk, Burgers in nood, Nijkerk 1936. 139 Ders., Een zoon begraaft zijn vader, Nijkerk 1938. 140 Vgl. M. ter Braak, […], Het vaderland, 15. 1. 1939.
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Christliche Kunst? (1919 – 1940). Kulturtheologie II
noch einmal illustriert wird. Denn dort heisst es, dass die Zahl der Arbeitslosen inzwischen, das heißt im Sommer 1934, mehr als 400.000 betrage und damit gegenüber dem Frühling 1933 um 100.000 gestiegen sei. Bereits der Titel des Romans, Burgers in nood deutet an, dass es im Folgenden um Bürger gehen soll. Die Bezeichnung ist in diesem Fall allerdings weniger im soziologischen Sinne einer bestimmten gesellschaftlichen Klasse zu verstehen, sondern eher im moralischen Sinne wohlanständiger, ordentlicher und mehr oder weniger wohlhabender Mitbürger die in unterschiedlicher Weise unter den Folgen der wirtschaftlichen Krise zu leiden haben. Da sind auf der einen Seite die Bewohner der ärmeren Viertel der niederländischen Kleinstadt, dem Schauplatz des Romans: Der dreißigjährige Held des Buches, Willem Verdoorn, seine Familie, seine Nachbarn und seine Freunde. Willem wird eines schönen Samstagmorgens in seiner Stellung als Chauffeur in einer Mehlfabrik entlassen. Er ist orthodox-protestantisch erzogen worden und ging früher auch in die Kirche, kann aber schon seit längerem mit dem Glauben kaum noch etwas anfangen und verzichtet auch darauf, in die Kirche zu gehen. Seine Frau Heiltje liegt am Tag der Entlassung ihres Mannes im Krankenhaus, das sie bald verlassen soll. Als Tochter einer stolzen Bauernfamilie fühlt sie sich als etwas Besseres als die Arbeiter und Arbeitslosen des Viertels, in dem sie mit ihrem Mann und ihrer dreijährigen Tochter Rietje wohnt. Weitere Bewohner des Viertels sind die Nachbarn der Familie Verdoorn, der arbeitslose Sozialist Branderhorst, seine Frau mit fernem katholischen Hintergrund und beider sieben Kinder. Sehr zum Leidwesen von Heiltje Verdoorn nimmt Branderhorst Willem nach seiner Entlassung mit zu sozialistischen und anderen Veranstaltungen gegen die Arbeitslosigkeit. Die völlig kirchenfernen, aber nicht explizit atheistischen Nachbarn Herr und Frau Haakman sind ebenfalls arbeitslos. Willems Eltern wohnen als armes Gärtnerehepaar außerhalb der Kleinstadt, sind in einem guten Sinne orthodox-christlich und betrachten das soziale Elend als Folge der gesellschaftlichen Gottlosigkeit. Dementsprechend können sie kein Verständnis für das aktuelle sozialistische Interesse ihres Sohnes aufbringen, halten aber im Gegensatz zu den Eltern Heiltjes zu ihrem arbeitslosen Sohn und seiner Frau. Willem selbst steht zwischen dem orthodoxen Christentum seiner Eltern, von dem er sich entfernt hat, und dem Sozialismus, für den er sich seit seiner Arbeitslosigkeit zu interessieren beginnt. So sagt er diesbezüglich zu seinen Eltern: „Ihr habt Euren Gott und Euren Himmel, und was weiß ich noch mehr … ich wollte das wohl auch gerne – aber es ist für uns zu weit weg….“141 In dem reicheren Villenviertel der Stadt trifft man die wohlhabenden und gebildeten Bürger an, Beamte und Unternehmer und natürlich ihre Gattinnen. Die Bewohner des Villenviertels sind teilweise durchaus christlich-sozial interessiert und haben ein Bewusstsein für ihren vergleichsweise gehobenen gesellschaftlichen Status entwickelt. Das sie verbindende Motto lautet in an141 Van Randwijk, Burgers, 80.
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Der niederländische Barthroman und Henk van Randwijk
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gemessenem Französisch: Toujours garder le d¦corum. Auch die Bewohner dieses Viertels leiden unter der Krise. Sie können zum Beispiel ihre Hypotheken nicht mehr abbezahlen, sehen sich gezwungen, ihre Arbeiter und ihre ungewünscht schwangeren Dienstmädchen zu entlassen und entwickeln zunehmend eine Angst vor dem Anwachsen der unkultivierten Massen, wie sie die Bewohner der ärmeren Viertel seit kurzem nennen. Unter diesen gehobeneren Bürgern befindet sich auch der junge Hilfsprediger Herman Braans, Sohn des steil-calvinistischen Direktors der pädagogischen Hochschule und seiner Gattin. Er hat im Vergleich zu seinem älteren Kollegen und zu seinem Vater durchaus moderne theologische und soziale Ideen, die er im Villenviertel teilweise auch diskutieren kann. Sein älterer Kollege betrachtet ihn als typischen Repräsentanten der Nachkriegsgeneration, als einen, der wehrlos allerlei auch theologischen neuen Einflüssen ausgesetzt ist. Die anderen Bewohner des Viertels finden den Hilfsprediger ebenfalls nicht unsympathisch, erwarten aber, dass er seine neuartigen Ideen noch ein wenig an die im Viertel übliche gewünschte kirchliche Norm anpassen wird. Irgendwo in der Mitte zwischen diesen in sich bereits differenzierten und zudem durch die Folgen der wirtschaftlichen und sozialen Krise in Bewegung geratenen sozialen klein-, bildungs- und großbürgerlichen Milieus und dem Arbeitermilieu befinden sich Leute wie etwa der ehemalige unmittelbare Vorgesetzte von Willem Verdoorn, der ebenfalls von Entlassung bedrohte Büromensch Arie Bresler und seine Freundin Anna, Dienstmädchen im Villenviertel. Arie will nichts lieber als heiraten und Kinder haben, muss sich aber diesbezüglich aus finanziellen Gründen zurückhalten. Deswegen wird er von sexuellen Sehnsüchten mehr und mehr zerfressen und nach deren Erfüllung religiös von Schuldgefühlen und Angst gepeinigt. Ist die Arbeitslosigkeit das gesellschaftskritische Hauptthema des Romans, so ist sein religiöses, deutlich von der Theologie Barths inspiriertes Hauptmotiv die Schuld aller Menschen und damit eben auch die Schuld der wohlanständigen Bürger. Das gesellschaftskritische und das religiöse Thema hängen im Roman eng zusammen, denn die Schuld aller Menschen wird als ein Abstieg von der gesellschaftlichen Leiter dargestellt, der ja zugleich ein Fall aus den das neocalvinistische Weltbild prägenden christlichen Schöpfungsordnungen wie Arbeit und Ehe ist. Können sich die Bewohner des Villenviertels noch an diesen Ordnungen festklammern, wird das für die Arbeitslosen oder von Arbeitslosigkeit Bedrohten zunehmend schwieriger, auch hinsichtlich ihrer Ehen. Ihre gesamte Welt steht auf einmal still, ja stürzt ein. Auf einmal stehen sie wiederholt mit leeren Händen da – ein Motiv, das mit seinem Protest gegen das religiöse Besitzdenken wohl am deutlichsten der RömerbriefTheologie Barths entnommen und von Van Randwijk konkret auf die Situation der Arbeitslosigkeit und ihrer Folgen bezogen wurde. Im Folgenden werde ich dem Motiv der leeren Hände in allen drei Teilen des Romans nachgehen: Im ersten Teil des Romans wird gezeigt, wie Willem sich mit aller Kraft gegen die Arbeitslosigkeit wehrt und das Fallen von der gesellschaftlichen
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Leiter nicht akzeptieren will und kann. Seine Hände wollen einerseits die aus dem Krankenhaus entlassene Frau endlich umarmen, sind aber andererseits erschreckend leer : „Nun steht er still“, heißt es, „[e]r kann sie umarmen, Dienstag, aber danach muss er zwei leere Hände sehen lassen. Das Spiel ist aus, und es darf aber noch nicht aus sein“142. Um eine Lösung des drohenden ehelichen Konflikts herbeizuführen und also schnell neue Arbeit zu finden, schickt Willem seine aus dem Krankenhaus entlassene Frau Heiltje erst noch zu ihren Eltern. Heiltje ihrerseits ist auch sehr enttäuscht, hat sie sich doch auf eine stimmige Rückkehr in die Familie gefreut und fühlt sich nun in ihren Erwartungen betrogen: „[S]ie hatte gedacht, dass das Leben da draußen zwei ausgebreitete Arme waren, ein klopfendes Herz und Blumen auf einem sonnenbeschienenen Tisch […]“143. Willem fühlt die Leere seiner Hände immer eindringlicher, außer als fehlende Arbeitsstelle und im Verhältnis zu seiner Frau auch als religiöse Besitzlosigkeit. Als er einmal an einer Kirche vorbeigeht, muss er bedauernd feststellen: Früher ging er auch zur Kirche, aber er ist weggegangen in der Meinung, sie entbehren zu können. Jetzt….jetzt schien es ihm so, als ob drinnen allen, die es wollten, Trost und Kraft geschenkt werde, und jetzt steht er mit leeren Händen [davor] und sieht zu, wie andere die Beute schon unter sich verteilt haben.144 Im zweiten Teil des Romans wird das Motiv der leeren Hände wieder aufgegriffen. Unterdessen hat sich der Konflikt zwischen Willem Verdoorn und seiner inzwischen nach Hause zurückgekehrten Frau Heiltje verschärft. Während Willem es wichtig findet, mit Seinesgleichen und also mit anderen Arbeitslosen umzugehen, besteht Heiltje darauf, trotz der Arbeitslosigkeit ihres Mannes etwas Besseres zu sein. Willems Schulfreund Frans macht ihn in dieser Situation auf sein eigentliches Problem aufmerksam, nämlich dass er sich mit seinen leeren arbeitslosen Händen seiner Frau gegenüber nicht mehr wie ein Mann vorkomme und in Gefahr stehe, seine Ehe aufs Spiel zu setzen. Der Fall aus den christlichen Schöpfungsordnungen droht bodenlos zu werden und lässt Willem am Sinn des Lebens zweifeln: Nun ist es für Verdoorn so, als ob die letzten Schrauben, die die Welt zusammengehalten haben, lose sind. Wenn nun plötzlich alles in die Brüche ginge, würde ihn das nicht verwundern. Deine Arbeit stützt Dich wie ein Fels, und sie verschwindet wie Treibsand unter Deinen Füßen. Wenn Du zu Deiner Frau kommst, versinkt sie mit Dir im Keller oder Du setzt sie aufs Spiel. Die anderen rümpfen ihre Nase und verstehen Dich nicht…. Was bleibt noch bestehen und was ist noch wahr? Man hat sich selbst jahrelang an der Nase herumgeführt. Die vorbeifahrenden Autos, die vorbeilaufenden Menschen, die sich öffnenden und schließenden Ladentüren, alles …warum macht man das eigentlich. Es ist umsonst….Nur dies eine hier, das ist wirklich, 142 AaO., 17. 143 AaO., 24 f. 144 AaO., 18.
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Lemmen und er […], Nachbar Haakman, die Branderhorst, und Leute wie Arie Bresler auch, und der Schneider Sijmons ebenfalls, alles Leute, die mit leeren Händen dastehen[…].145
Die Erfahrung, mit leeren Händen dazustehen, führt mit der Zeit jedoch zu veränderten Einstellungen, ja alternativen Ordnungen, zuallererst in der Ehe der Verdoorns: Als Heiltje eine Anstellung als Hausmädchen im Villenviertel erhalten kann, sagt sie nicht nein. Willem Verdoorn gewöhnt sich nur langsam an die neue Situation: [Heiltje] hat die kleine Rie schon in einem anderen Zimmer ins Bett gebracht, bevor sie wegging. Das ist keine Arbeit für Männer, und Warten, bis sie zurück ist, würde zu lange dauern. Nun sitzt Willem Verdoorn mit leeren Händen in der Stille des Zimmers und seine Frau ist nach draußen zum Arbeiten gegangen. Die umgekehrte Welt! […] Dann sieht er seine eigenen Hände. Starrend dreht und dreht er sie immer wieder um, sie werden schlaff. Der Spiegel zeigt einen dicken gesunden Kopf vor seinem Gesicht; er schämt sich darüber.146
Was man einerseits als Glück im Unglück bezeichnen kann, nämlich ein Familieneinkommen umgekehrter Art, erweist sich für Willem als Herausforderung im Blick auf sein traditionelles Eheverständnis: „Glücklich, also, nennt Ihr das glücklich?…. Aber ich sage Dir, dass das nun gerade das Schlimmste für einen Mann ist….“147 Doch fehlen selbst dem sehr gläubigen Vater letztlich die Argumente: „Vater fängt mit Gottes Schöpfungsordnungen an und endet damit, ihm recht zu geben“148. Nicht nur die zwischenmenschlichen Verhältnisse, auch das Gottesverhältnis von Willem ändert sich aufgrund der Erfahrung der leeren Hände. Willem merkt das zum ersten Mal, als er zu Beginn seiner Arbeitslosigkeit – im ersten Teil des Buches – den ehemaligen Vorgesetzten Arie Bresler aufsucht. Wo er den Repräsentanten eines Ausbeuters erwartet hatte, trifft er ein Häufchen schuldbewussten, sich gottverlassen wähnenden Elends an. Willem begegnet dem selbst von Arbeitslosigkeit und einer ungewollten Schwangerschaft bedrohten Hoffnungslosen unerwartet kameradschaftlich. Beide sehen sie sich an einer Grenze ihres Lebens. Auf eine Art Gottesbegegnung in dieser Grenzsituation reagieren sie jedoch unterschiedlich: „Der eine schaut verwundert nach oben, das Licht war zu schnell, um es fest zu halten, aber es war da, er hat es gesehen und sucht die Spur. Der andere hat sich zitternd zurückgezogen. Es ist für kurze Zeit still“149. In seinem Elend fängt Willem nach dieser Begegnung an, die Frage nach Gott zu stellen: „Und Gott…. Gott! Ein grenzenloses Verlangen bricht durch. 145 146 147 148 149
AaO., 97. AaO., 117. AaO., 143. AaO., 143 f. AaO., 47.
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Jeglichen Glanzes beraubt liegt das Leben nun hinter ihm, die Not und die Hoffnungslosigkeit Tausender geht in seinem Kopf herum. Gott! Wo aber ist Gott“150 ? Später, im zweiten Teil des Buches, entwickelt Willem aufgrund seiner Gottesbegegnung während der Szene mit seinem Vorgesetzten Arie Bresler ein neues Gottesbild, bei dem die leeren Hände nicht länger mit dem Fallen aus Gottes Gnade assoziiert werden und bei dem Sonnenlicht und menschliches Glück Bilder für die Güte der Schöpfung sind: Kann ein Mensch ohne Geld glücklich sein? Kann man an Gott glauben, wenn man arbeitslos ist? Natürlich, sagt Willem Verdoorn, und er muss einsehen, niemals mit höherer Sicherheit gesprochen zu haben als dort, wo er zu Arie Bresler in dem Büro gesagt hatte: Gott gibt es noch. Das ist so wahrhaftig wie die Sonne und wie er, Willem Verdoorn, atmet. Aber er muss sich daran gewöhnen, dass Gott seine Segnungen nicht in Silbergeld ausbezahlt, denn der Himmel ist keine niederländische Bank. Menschen, die er früher keines Blickes würdigte, sind seine Kameraden geworden, und er freut sich über eine Tasse Kaffee von Nachbarin Jaantje […].151
Zu schaffen macht ihm allerdings noch die von Arie Bresler in dem Gespräch angesprochene Erfahrung des Mangels und des Versagens. Ausgerechnet die atheistische Nachbarin Jaantje bringt ihn darauf – ein deutlich barthianischer Gedanke –, dass er Gott doch selber fragen solle, wenn er wissen wolle, ob diese Art der Erfahrung des Scheiterns und der zerbrochenen Wahrheit wirklich das Ende sein solle. Willem gelingt es immer besser, die neue Situation der Arbeitslosigkeit und des umgekehrten Geschlechterverhältnisses zu akzeptieren. Schließlich entwickelt er abgesehen von einer gewissen Zufriedenheit auch eine gewisse Frömmigkeit und geht aufgrund der Begegnung mit dem modernen Pfarrer Herman Braans sogar einmal wieder in die Kirche. Der Glanz des Lebens kehrt zurück. Er akzeptiert das Leben wieder so, wie es ist. Im weiteren Verlauf des Romans lässt der Autor den arbeitslosen Helden zudem einsehen, dass auch er ein Sünder gewesen ist, der seiner Frau das Leben zu Hause zur Hölle gemacht und seinen besten Freund um eine Arbeitsstelle betrogen hat. Auch das neue, sonnige Gottesbild wird noch einmal hinterfragt: Er [Willem; SH] ist nun Richter und Angeklagter zugleich. Er schlägt mit unbarmherziger Genauigkeit und krümmt sich wie ein geschlagener Hund. – Gott?…. Schweig! Früher hast Du ihn von hinter den Wolken her zurückrufen wollen. Dummkopf! Das ist wie wenn man Feuer in die Hände nimmt! Er vernichtet Dich!152
Während Willem zwischen der Erfahrung leerer Hände, neuer erbaulicher Frömmigkeit und der Möglichkeit göttlicher Verurteilung laviert, entwickelt 150 AaO., 85. 151 AaO., 115 f. 152 AaO., 210 f.
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sich Arie Breslers Gottessuche in eine andere Richtung: Zunächst führt ihn die Begegnung mit seinem früheren Untergebenen Willem und ihr Gespräch über Gott zu einem Besuch bei Willem. Inzwischen ist der frühere Vorgesetzte tatsächlich entlassen worden. Außerdem hat sich herausgestellt, dass seine Freundin tatsächlich ein Kind von ihm erwartet. Arie Bresler erschrickt vor sich selber, vor dem Gegensatz zwischen der äußeren Fassade und der inneren Unordnung seines Zustands. Willem versucht, ihn an seiner neu entdeckten Frömmigkeit und seiner Lichtsuche teilnehmen zu lassen und fordert ihn auf, seine Freundin trotz der prekären finanziellen Situation zu heiraten. Als diese dann auch noch entlassen wird und eine Fehlgeburt erleidet, entscheidet Arie sich, zusammen mit seiner Freundin einen eigenen Weg – ohne den Gott der Bürger – zu gehen: Im dritten und letzten Teil des Buches akzeptiert Arie Bresler die komplette Hoffnungslosigkeit seiner Situation und weigert sich, seine Schuld an der Situation und die von diesem Bekenntnis abhängigen gutgemeinten Hilfsangebote für einen reuigen Sünder anzunehmen: „Er geht seinen eignen Weg, ohne Schuldbewusstsein, ohne Dankbarkeit, Pfeifen auf die Kirche, Pfeifen auf die guten Absichten, Pfeifen auf die von Gott angeordneten Sitten….“153. Dagegen beginnt Willem zu ahnen, dass es eine Alternative zu dem Hin und Her zwischen neuer Frömmigkeit und traditioneller Angst vor dem Zorn Gottes gibt. Bei dieser Entdeckung spielt der Hilfsprediger Herman Braans eine Rolle, der der Träger der eigentlichen theologischen Botschaft des Romans ist: Wurde Braans im ersten Teil des Buches zwar als moderner und sozial interessierter, aber doch den Bewohnern des Villenviertels zugehöriger junger Theologe eingeführt, macht er im zweiten Teil des Buches eine Entwicklung durch, die im dritten Teil dazu führt, dass er das Villenviertel verlässt, um zusammen mit den Arbeitslosen im Armenviertel zu leben. Herman Braans ist nach niederländischem Verständnis des Romans als Repräsentant eines von der Theologie Barths inspirierten Pfarrers zu betrachten – nach meinem eigenen Verständnis kann man ihn mit demselben Recht auch als Vorläufer einer westeuropäischen Befreiungstheologie betrachten.154 Beides schließt einander in den Niederlanden gerade nicht aus, spielt hier doch das Interesse an ethischen Fragestellungen und die Bezogenheit auf den eigenen Kontext von Anfang an eine wichtige Rolle in den Barth-Rezeptionen aller Lager. Pfarrer Braans ist der Meinung, dass die Kirche die Not der Welt nicht mehr zur Kenntnis nimmt und dass sich Kirche auch außerhalb der Kirchenmauern ereignen kann und sollte. Wenn er im Villenviertel von der Notwendigkeit der Nächstenliebe und christlichen Gemeinschaft als wahre Brüderlichkeit und 153 AaO., 232. 154 Als eine Besonderheit niederländischer Barth-Rezeption darf hier vorgreifend festgehalten werden, dass diese von Anfang an auch die politischen Implikationen von Barths Theologie herausstellte – im Gegensatz zur deutschen Wahrnehmung der Theologie Barths.
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auch soziale Solidarität zwischen Armen und Reichen predigt und damit auch die Unzulänglichkeit der herrschenden Barmherzigkeitspraxis in der Gemeinde der Reichen anspricht, fühlt er, dass er „etwas unterworfen wird, das stärker als er selber ist“155. Getrieben von der lebendigen Kraft des Wortes Gottes, sagt er mehr als er eigentlich sagen will: Es gehe ihm um eine „Gemeinschaft von Verfehlungen, Tod und Schuld“156. Man müsse erkennen, dass sowohl Reiche als auch Arme auf die Gnade Gottes und die Gemeinschaft Gottes mit den Menschen angewiesen seien. Als überdeutlich barthianisch darf angesehen werden, dass die Konstitution dieser Gemeinschaft nicht vom Menschen ausgeht, sondern von Menschen als Gemeinschaft Gottes mit den Menschen erbeten wird: „Nicht ich, Gott, sondern Du und wir, die Bettler Deiner Gnade. Alle, ohne Unterschied, Arbeitslose und Müßiggänger, Reiche und Arme“157. Braans sucht entsprechend gezielt den Kontakt mit den Arbeitslosen. Als er Willem Verdoorn einmal in der Stadt trifft, gelingt es ihm, ihn als Kontaktperson zu gewinnen. Willem findet ebenfalls, dass die Kirche sich mehr um diejenigen kümmern solle, für die das Evangelium geschrieben ist, um Menschen im Elend, eben um die Arbeitslosen. Ihm sei dabei ein Stück Fleisch wichtiger als ein frommer Spruch oder ein Text. Zwar ist die Begegnung zwischen der Welt des Villenviertels und der Welt der Arbeitslosen für beide Seiten zunächst durchaus konfrontierend, doch erweist sie sich schließlich für beide als unverdiente, übermächtige und wohltuende Gnade. Als der Pfarrer Willem Verdoorn abends tatsächlich einige Koteletts bringen lässt, ist Willem außer sich vor Freude: Dann bricht eine wunderlich unablässige Freude bei ihm durch. Sein Kopf sagt: zu groß, zu großartig für so etwas Stinknormales (der Mann ist ja auch nicht gerade arm), aber seine Hände reißen das Papier in Stücke und lachend stupst er Heil[tje] mit der Nase ins Fleisch[.]158
Dem Pfarrer geht es ähnlich. Auch er erfährt die Hilfsbereitschaft von Willem als rational gesehen unbegründete Gnade, die ihm das inspirierende Gefühl gibt, eine Aufgabe für die Zukunft zu haben. Auch bei ihm breitet sich trotz rationaler Widerstände Freude aus: „[W]as ist nun eigentlich geschehen? Er begegnete einem arbeitslosen Kerl und schenkte ihm eine Kleinigkeit. Wird dabei auch noch ziemlich erbarmungslos angemeckert! Stärker ist jedoch das Gefühl, dass es mehr gewesen ist, mehr gewesen sein muss. Das stimmt ihn froh.159
155 156 157 158 159
AaO., 138. AaO., 139. Ebd. AaO., 161. Ebd.
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Um seine Botschaft, dass alle des Evangeliums bedürfen, wirklich verkündigen zu können, müsste er deutlicher auf der Seite der Armen stehen – so seine anschließenden Überlegungen. Schließlich kommt er zu der theologischen Einsicht, dass die von den Reichen zunehmend verachtete Masse der Arbeitslosen nichts anderes sei als die Schar des Volkes, die sich laut der Evangelienberichte um Jesus herum versammelt habe. Mit seiner Rede über die Sündenvergebung für alle Menschen überzeugt er unterdessen auch die Arbeitslosen, als er dorthin einmal unerwartet zu einer Beerdigung gerufen wird. Zugleich kann er die Verweigerungshaltung eines Arie Bresler durchaus verstehen und respektieren. Im dritten Teil des Buchs lebt Herman Braans dann tatsächlich zusammen mit und unter den Arbeitslosen. Die Bewohner des Villenviertels fühlen sich in ihrem mildtätigen sozialen Engagement verurteilt, weisen jede Schuld an der Armut der Armen ab und bezichtigen den jungen Pfarrer des Idealismus. Braans geht es aber weder um Schuldzuweisungen noch um Idealismus oder um Geld, sondern um Schulderkenntnis und wirkliche Solidarität, auch in der Schuld: „Ich habe gerade nach dem Ort gesucht, wo ich sie ihre Sünden sehen lassen konnte, aber dann ohne selber immer wieder reine Hände vorzuzeigen….“160. Am Schluss des Romans herrscht bei einem gemeinsamen sommerlichen Ausflug der Bewohner des Armenviertels eine entspannte und fröhliche Stimmung. Willem Verdoorn ist zwar immer noch arbeitslos, hat aber ein neues, entkrampftes Selbstverständnis gewonnen, als Mensch unter Gottes offenem Himmel lebend, in die Zukunft blickend. Braans hingegen betont, weder allwissend noch Gott zu sein. Für ihn ist es eine befreiende Einsicht, dass nicht Gott sondern Menschen die Verursacher der sozialen Krise sind. Noch einmal klingt das Motiv der leeren Hände an. Sie haben eine neue Bedeutung erhalten: [V]ielleicht, dass Er [Gott; SH] uns diesen schwierigen Weg gehen lässt, um uns zu lehren, wieder froh zu sein mit dem, was wir von ihm kriegen, unsere Hände aufhalten und nicht mehr Grapschen und Greifen….vielleicht müssen wir es [alles; SH] verspielen, um es Ihn gewinnen lassen zu wollen,….und dann auf in die Stadt, um andere sehen zu lassen, was man braucht, um glücklich zu sein….161
Für Willem Verdoorn ist dies eine Möglichkeit, um wieder glauben zu können: „Dies ist eigentlich dasselbe wie bei Vater, aber doch anders….“162, so sein kurzer Kommentar. Für Pfarrer Braans ist es eine Vertiefung und Konkretisierung seiner Glaubensüberzeugungen, ja ein Hinweis auf die bleibende Treue Gottes: Christus ist auf verborgene und Ärgernis erregende Weise unter den Arbeitslosen anwesend. 160 AaO., 235. 161 AaO., 247. 162 Ebd.
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Ein Sohn begräbt seinen Vater Bereits im Titel des Romans, Een zoon begraaft zijn vader, deutet Van Randwijk an, dass in diesem zweiten Barthroman nicht ein gesellschaftlicher, sondern ein persönlicher Konflikt im Vordergrund steht, nämlich eine Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn. Allerdings spielt diese persönliche Auseinandersetzung sich vor der Kulisse eines gesellschaftlichen Problems ab. So repräsentieren die wichtigsten Personen des Romans verschiedene gesellschaftliche Milieus der versäulten Niederlande in der Zwischenkriegszeit. Der Roman konzentriert sich dabei einerseits auf die Darstellung des orthodoxcalvinistischen und andererseits auf die des sozialistischen beziehungsweise kommunistischen Milieus. Die Auswahl ist keinesfalls zufällig, denn sie verkörpert eine der wichtigsten vom Neocalvinismus entwickelten und verbreiteten Ideen, nämlich die so genannte Antithese zwischen Gott beziehungsweise christlicher Kirche und (säkularer) Welt. Allgemeiner geht es also um den Gegensatz zwischen Glauben und Unglauben, und faktisch ist ein Widerspruch zwischen Christentum und Sozialismus/Kommunismus gemeint. Doch nun zu den Hauptfiguren des Romans, die diese Milieus gleichsam verkörpern: Auf der einen Seite ist da der 66jährige Vater Haagendoorn (sen.). Er ist ein erfolgreicher Großhändler, der zu Beginn des Romans gerade sein 40jähriges Geschäftsjubiläum feiert. Haagendoorn sen. ist ein typischer Repräsentant der christlichen Säule: überzeugter Calvinist beziehungsweise die Inkarnation eines Neocalvinisten und Antirevolutionärs. Als solcher ist er Parteimitglied der von Abraham Kuyper gegründeten Antirevolutionären Partei, glaubt er selbstverständlich daran, dass die Niederlande eine von Gott erwählte Nation seien und dass die Regierung unter dem christlichen Ministerpräsidenten Colijn die christlichen Grundlagen der Gesellschaft repräsentiere und erhalte. Haagendoorn sen. liebt außer seiner Schirmlampe – das Wahrzeichen wahrer niederländischer Gemütlichkeit – die Schlichtheit, den Fleiß, den Mut und die Gottesfurcht und verkörpert damit angesehene calvinistische Tugenden. Er ist verheiratet, hat drei Kinder und ist Presbyter in einer gereformierten Gemeinde und Vorstandsmitglied einer christlichen Schule. Vater Haagendoorn hat die typisch neocalvinistische Antithese zwischen Christentum und Welt tief verinnerlicht: Auf der einen Seite verstand er sich selber im Kontext der Gläubigen aller Jahrhunderte, der Kirche, der christlichen Politik und Schule, aller christlichen Aktion und Organisation, die, wie er zu sagen pflegte, ,das Banner des Kreuzes‘ führte. Gegenüber, auf der anderen Seite, wühlten die Heiden, die Feinde der Kirche Gottes, der Pharao von Ägypten, Pilatus, Nero, Alva, Marx, Lenin, Sozialismus, Kino und speziell in seiner Branche die kooperativen Ein- und Verkaufsvereinigungen.163
163 Van Randwijk, Een zoon, 17 f.
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Auf der anderen Seite wird uns im Roman von der deutlich anderen, von der kommunistischen beziehungsweise sozialistischen Säule und Lebenswelt erzählt. Diese wird vom Caf¦- beziehungsweise Kneipenbetreiber Frans Zonruiter und seiner Tochter Anna repräsentiert. Frans ist zwar nach eigener Einschätzung in Wirklichkeit gar kein Kommunist, sondern Individualist, aber für seine Umgebung ist er trotzdem Kommunist. Die Lebenswelt der Zonruiters zeichnet sich durch Armut, Krankheit und finanzielle Abhängigkeit aus: Frans Zonruiter muss sein Caf¦ schließen und wird arbeitslos, Anna muss deswegen die Schule verlassen und ist aufgrund ihrer Tuberkulose-Erkrankung gezwungen, die Frau eines ihr eher unsympathischen Mannes zu werden. Der Anti-Held des Romans, Vater Haagendoorns Sohn Philip, bewegt sich zwischen oder vielleicht besser jenseits dieser beiden Welten. Philip ist ein selbstverschuldet arbeitslos gewordener Lehrer und auch sonst nicht sehr erfolgreich im Leben. Sehr zum Leidwesen seiner Eltern weigert er sich, die ihm zugedachte Rolle eines Stammhalters und Geschäftsnachfolgers einzunehmen. Denn wo der Vater den Erfolg seiner Geschäfte als selbstverständlichen Beweis für Gottes Segen ansieht, da findet der Sohn den väterlichen Erfolg willkürlich und insofern unrechtmäßig, als er sich einem aus kolonialen Geschäften stammenden Erbe verdankt. Philip verzweifelt angesichts derartiger göttlicher Segnungen, auch deshalb, weil er und seine Frau ja faktisch vom Besitz des Vaters leben. Außerdem wünscht sich der Sohn sehnlich, dass der Vater einmal seine „Uniform“164 ablege – womit er die von ihm nur als reine Äußerlichkeit empfundene perfekt versäulte Identität des unnahbaren Vaters meint. Der gesellschaftlich erfolglose Philip fühlt sich auch innerlich als gesellschaftlicher Außenseiter. Im Vergleich zur Kommunistentochter Anna fühlt er sich bürgerlich-christlich. Und im Vergleich zu seinem orthodox-christlichen Vater fühlt er sich durchaus weltlich im Sinne der neocalvinistischen Antithese. Selbst im Vergleich zu seiner liberal-christlichen Frau Tine fühlt er sich anders, nämlich orthodox-christlich. Dabei geht es ihm nicht nur um zu diskutierende Meinungsunterschiede, sondern um ein anderes innerliches Fühlen der Dinge. Doch fühlt Philip sich eben auch außerstande, entsprechend den gesellschaftlichen Erwartungen und Konventionen eine der bestehenden Positionen zu wählen. Philips Gefühl, Außenseiter ohne eigenen Ort in der Welt zu sein, hat sich bei genauerer Betrachtung bereits in seiner Kindheit entwickelt. Als er als kleiner Junge versehentlich einmal einen Kater tötete, der sich wohl über eine Katze hergemacht hatte, und dafür von seinen Eltern nicht bestraft wurde, zerbrach sein Vertrauen in die Welt und das Weltbild der Eltern zum ersten Mal. Da das Töten des Tieres offensichtlich nicht strafwürdig war, konnte die von ihm empfundene Schuld auch nicht vergeben werden. Seit dieser Kind164 AaO., 24.
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heitserfahrung hatte das Leben für Philip einen bedrohlichen Unterton bekommen, und neben Schuldgefühlen verfolgen ihn auch Angstgefühle. Mit siebzehn Jahren verlässt Philip die Welt der Eltern und begibt sich auf die romantische Suche nach einem besseren Land. Seine Eltern verstehen überhaupt nicht, dass seine oft verzweifelten Schritte eigentlich ein Rufen nach gesellschaftlicher Gerechtigkeit und persönlicher Schuldvergebung sind. Schließlich erkennt Philip widerstrebend, dass auch er an der Doppelbödigkeit und Schuldverflochtenheit der Gesellschaft teilnimmt und im Grunde auf der Suche nach der Position eines Schuldlosen ist. Im Gegensatz zum Vater stellt der Sohn also die neocalvinistische Antithese zwischen Christentum und Welt existentiell in Frage – allerdings ohne ausreichend Phantasie für die Entwicklung einer ihn überzeugenden eigenen, nämlich vor allem schuldlosen Position zu haben. Mit seiner ideologischen Heimatlosigkeit und existentiellen Verzweiflung besetzt der Sohn also eine in den versäulten Niederlanden nicht bestehende Subjektposition, die ihn deswegen zwar noch nicht zu einem Barthianer machen muss, deren NichtExistenz ihn aber doch in Richtung auf eine Konfliktlösung treibt, die jedenfalls für die Niederlande typische Barth-Effekte aufweist. Als Philips Vater unerwartet stirbt, erzählt die Mutter den Kindern von der anderen Seite des so uniformiert wirkenden Vaters: Er habe oft unter der harten Arbeit gelitten und jeden Tag für alle Kinder gebetet. Philip ist zum ersten Mal seit seiner Rückkehr ins elterliche Haus gerührt, und für einen Moment meint der Leser, dass er sich nun tatsächlich in die Fußstapfen des Vaters begeben und das Geschäft weiterführen werde. Ob er das dann wirklich tut, bleibt jedoch offen. Der typische Barth-Effekt des Buches zeigt sich vielmehr anhand einer Reihe neugewonnener Einsichten und Konfliktlösungen, mit deren Hilfe der Sohn den Vater und mit ihm die Welt der Antithese zwar nicht wörtlich, aber immerhin symbolisch tatsächlich begräbt. Ich habe sechs meines Erachtens typisch niederländische Barth-Effekte aufspüren können: Noch während des nahenden Todes des Vaters klingt erstens das Thema der Sündhaftigkeit aller Menschen auf. Während der Vater im Gespräch mit dem Sohn ganz im Sinne der Antithese die Meinung vertritt, dass der Kommunist Zonruiter „ein schlechter Mensch“165 und „ein Feind Gottes und seines Volkes“166 sei, vertritt Philip die Meinung, dass „wir alle Sünder“167 seien. Die Bedeutung dieser zweifelsohne von der Theologie Barths inspirierten Ansicht relativiert er allerdings insofern selber mit einem Lächeln, als er sich darüber im Klaren ist, dass der christlich-orthodoxe Vater ihm diesbezüglich vermutlich zustimmen würde. In einem Gespräch mit dem Bruder kommt es dann zweitens plötzlich zu einer wesentlich neuen Erkenntnis, deren Unmittelbarkeit im Text mit typisch 165 AaO., 132. 166 Ebd. 167 Ebd.
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barthianischem Vokabular wie „in einem einzigen Augenblick“168 oder „wie bei einem Blitzlicht“169 angekündigt wird. Ausgangspunkt der neuen Erkenntnis ist die ebenfalls typisch barthianische und auch in den Niederlanden viel rezipierte Umkehrung des Subjektes der Gotteserkenntnis: Es heißt nun nicht länger, dass er, Philip, Gott finden müsse, sondern: „Gott muss mich finden, hier wo ich bin“170. Philip erkennt, dass Gott ihn zwar schon immer gesucht, aber nichts als „leere Fußstapfen“171 gefunden habe. Philip gelangt daraufhin zu einer – wie er findet – ernüchternden und befreienden Einsicht: Indem er sein Leben lang vor der Sünde weggelaufen war, war er auch vor der Gnade Gottes weggelaufen, um die es ihm ja ging. Unruhig überlegt er sich, sehr zur Freude seiner Eltern, ob und wie er nicht doch die Geschäftsführung des sterbenden Vaters übernehmen könne. Ein dritter Barth-Effekt kündigt sich unterdessen in Hinsicht auf die von ihm seit seiner Kindheit gefühlte vernichtende Kehrseite der christlich-bürgerlichen Grundlagen der Welt an. Der Sohn erkennt zunächst, dass die bestehende Ordnung nun einmal „[sowohl] Recht [als auch] Unrecht“172 impliziere. Er versucht noch einmal, sich der Welt des Vaters zuzuwenden und seine eigene Rolle innerhalb ihrer Gesetzmäßigkeiten zu finden, indem er den Schuldnern des Vaters ihre Schulden erlassen will, sieht aber ein, dass er so das Geschäft nicht auf Dauer weiterführen könnte. Als er nach dem Tode des Vaters erfährt, dass der Vater jeden Tag auch für ihn gebetet hat, kann er seine Verlassenheitsängste als Kind erkennen, deuten und annehmen: Bei „keiner Angst“, so der Sohn im Rückblick auf sein bisheriges Leben, in keiner der Schreckens- und Unheilsnächte, weder in seinen Ernüchterungen noch in seinen immer wieder aufkeimenden Sehnsüchten als Kind, Jugendlicher und Mann, hat jemand von denen, die nun den Schlaf der Gerechten schlafen, neben ihm gestanden. Nicht weil sie nicht wollten oder weil sie ihn im Stich gelassen hatten, sondern weil man von zu Hause weg gewesen sein muss, um die Verlassenheit zu kennen.173
Seine eigene Rolle, so erkennt er, liege gerade im Verlassenkönnen: im Aufgeben der christlichen Sicherheiten, im Wagnis des Ungeschütztseins angesichts des Rufes Gottes. Diese konstruktive Deutung des Verlassenseins führt ihn zugleich zu einer Relativierung der Verlassenheitsängste. Denn „trotz alledem“174, so die entscheidende und weiterführende Erkenntnis, konnte er „nie so weit von zu Hause weggehen […], dass er, ungeachtet aller Verfremdung, derartig allein gelassen worden war, dass er nicht mehr dem Bund 168 169 170 171 172 173 174
AaO., 143. Ebd. AaO., 143. Ebd. AaO., 161. AaO., 209. AaO., 210.
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zugehörig war, den ihm der Vater jeden Abend neu in der Gnade des Herrn zusprach“175. Diese vom Vater repräsentierte Versicherung der bleibenden Bundesgenossenschaft Gottes angesichts des von ihm gefühlten Abgrunds der Welt und die so zugesprochene Solidarität und Nähe Gottes hilft ihm schließlich, die Welt und die Umwelt immer mehr so anzunehmen, wie sie nun einmal sind und sie trotz alledem – mit ihren Unvollkommenheiten – als seine Heimat zu betrachten. Die Erfahrung, dass die Welt auf einem heimatlichen Grund und nicht auf einem Abgrund ruht, ist meines Erachtens insofern als ein vierter und sehr typischer Barth-Effekt zu betrachten, als hier eine Alternative zu jedenfalls den psychosozialen Folgen der in den Niederlanden sehr verbreiteten und bis heute einflussreichen klassisch-calvinistischen Prädestinationslehre angeboten wird. Die diesen Zusammenhang noch einmal vertiefende Schlüsselszene des Romans sorgt für einen fünften, meines Erachtens entscheidenden BarthEffekt: Nach dem Tode des Vaters begibt sich Philip an dessen Bett, um sich in Ruhe ein erwartungsgemäß friedvoll und zufrieden lächelndes Gesicht anzuschauen. Doch der Sohn hat sich getäuscht. Der Anblick des toten Vaters ist schrecklich, seine Gesichtszüge abgründig und verzweifelt, seine Hände verkrampft und versteift. Anstatt wie erwartet „einen Abglanz […] der himmlischen Ruhe und Herrlichkeit“176 vorzufinden, trifft der Sohn nun endlich einen Menschen, den er als seinesgleichen erkennt und versteht: Einen Vater ohne die verhasste Uniform christlicher Gewissheiten und Absicherungen, einen Menschen, der an der Grenze seines Lebens ganz offensichtlich um Gnade gebettelt hat: Wo ist der Bürger, der so sehr gesegnet wurde? Wo ist der Parteimann? Sie sind nicht da! Hinweggefegt vom letzten Sturm, als die Abgründe vor seinen trüben Augen aufgingen, als all sein Besitz aus seinen krampfenden Händen fiel und der letzte und tiefste, alles übertönende Schrei seines Lebens seine Lippen auseinanderriss: Christus, Gnade…177
Es kommt für Philip zu einer ersten wirklichen Begegnung mit dem Vater – einer völlig ungeschützten Begegnung zwischen zwei – jedenfalls symbolisch – Nackten und Sündern. Angesichts des um Gnade bettelnden sterbenden Vaters kann Philip seine Kindheitserfahrungen nun noch genauer als ein Rufen um Gnade deuten. Die posthume Versöhnung mit dem Vater führt Philip jedoch nun gerade nicht dazu, einfach in dessen Fußstapfen zu treten, wie man beim Lesen des Romans in Erwartung eines überglücklichen und möglichst triefenden happy ends möglicherweise sekundenlang denken könnte. Vielmehr erkennt Philip, 175 Ebd. 176 AaO., 211. 177 AaO., 212.
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Der niederländische Barthroman und Henk van Randwijk
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dass die Welt des Vaters ihm eine unbezahlte und vermutlich unbezahlbare Rechnung hinterlässt, wie er sagt. Doch weiß er nun, dass er nicht nur der Gnade bedarf, sondern dass diese ihm auch zugesprochen worden ist, und zwar nicht vom Vater, sondern von Christus. So klingt es beinahe wie ein Bekenntnis, wenn Philip angesichts der ihm hinterlassenen väterlichen Rechnung schließlich sagt, dass „das Königreich Gottes nirgendwo anders zu suchen [sei] als in Christus, der sich selbst zwei verlorenen Menschen wie Haagendoorn sen. und seinem Sohn gegenüber als gnädig erwiesen hatte“178. Doch endet der Roman nicht mit einem mehr oder weniger inbrünstigen Christus-Bekenntnis, sondern verweist auf die lebenspraktischen, persönlichen und gesellschaftlichen Implikationen der einem solchen Bekenntnis zugrundeliegenden Erfahrung, in diesem Fall also der Erfahrung der Gnade Gottes. Diese Implikationen möchte ich als den sechsten – möglicherweise besonders niederländischen – Barth-Effekt des Romans bezeichnen. Zum einen kann der Sohn mit der Erfahrung der Gnade dem Leben nun auf eigene – ungeschützte – Art direkt ins Gesicht sehen: „Damit wagt er es nun zu leben“179, heißt es, und gemeint ist: „ohne eine Gebrauchsanleitung mit vorgefertigten Idealen und Weltanschauungen“180. Plötzlich auftauchende Militärflugzeuge und Gewehrschüsse bei der Beerdigung des Vaters versinnbildlichen den Untergang eines wahnsinnigen und schuldbeladenen Zeitalters und weisen damit über die rein persönliche Dimension der Konfliktlösung unseres Helden hinaus. Philip fühlt sich „ruhig und sachlich“181 – und nimmt damit eine der säkularen Welt gegenüber offene Lebenshaltung ein, die in den Niederlanden nahezu sprichwörtlich die gefühlte barthianische Alternative zur bisherigen Identifizierung von christlichem Glauben und christlichen weltanschaulichen Organisationen repräsentiert. Zum Schluss Nach dem Tod Henk van Randwijks wurden auf einer Gedenkmauer auf dem ehemaligen Weteringplatsoen in Amsterdam, wo die Deutschen mehrere Niederländer erschossen hatten, die folgenden – von mir hier übersetzten Worte – des Widerstandskämpfers angebracht: …een volk dat voor tirannen zwicht, zal …ein Volk, das sich vor Tyrannen beugt, meer dan lijf en goed verliezen, dan dooft wird mehr als nur Leib und Gut verlieren, het licht dann erlischt das Licht
178 179 180 181
AaO., 220. Ebd. Ebd. AaO., 222.
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5.5 Rückblick und Ausblick: Zum Versuch einer Kulturtheologie im Gespräch mit Barth II Die auf einen Doorbraak gerichteten theoretischen und praktischen Aktivitäten barthianisch inspirierter Künstler und Intellektueller in der niederländischen Zwischenkriegszeit verkörperten eine Verbindung eines existentiellen persönlichen Glaubens mit der Aufmerksamkeit für die ästhetisch-formale Seite der Kunst (Beispiel: Roel Houwink) und der Teilnahme an und Solidarität mit der politischen oder persönlichen menschlichen Lebensrealität (Beispiel: Henk van Randwijk). Bei dieser Verbindung spielte einerseits der von der Akzeptanz einer Krisis des Schönen abhängige Hinweischarakter der Kunst, das Dienstverhältnis und der Gehorsam des Künstlers gegenüber Gott eine wichtige Rolle, wie insbesondere die theoretischen Arbeiten Roel Houwinks zeigen, andererseits die neuartige Verbindung zwischen Glauben und einer auf das wirkliche Leben gerichteten, also nicht länger im Sinne der christlichen Schöpfungsordnungen organisierten Ethik, wie das Beispiel Van Randwijk zeigt. Weitere wichtige rezipierte Themen aus der Theologie Barths sind die religiöse Besitzlosigkeit („leere Hände“) und die Solidarität mit den Gottlosen aufgrund der Einsicht, dass alle Menschen Sünder seien. Die angestrebte Verbindung zwischen (säkularer) Ästhetik beziehungsweise dem realen Leben und dem Glauben hat man sich anders als in der herkömmlichen Verbindung des Christlichen mit dem Gesellschaftlichen nicht im Sinne einer Verschmelzung oder im Sinne einer Bindestrich-Theologie vorzustellen, sondern im Sinne einer neuartigen Zusammenstellung zweier an sich unabhängiger Motive, nämlich des christlichen Glaubens einerseits und der ästhetischen Kriterien beziehungsweise der realen gesellschaftlichen Handlungsfelder andererseits. Der Vorgang der neuartigen Verbindung beider Motive – allgemein gesagt: des christlichen Glaubens einerseits und der Offenheit für die moderne säkulare Welt andererseits – ist von einem heutigen Standpunkt aus meines Erachtens am besten mit dem der postmodernen Theoriebildung entnommenen Wort De-Konstruktion zu bezeichnen. Hierbei geht es um die Zerstörung eines früheren Gegensatzpaares und um die erneute Zusammensetzung von dessen Bestandteilen, in diesem Falle also um die De-Konstruktion des Gegensatzes zwischen dem Wortfeld „ethisch-gereformiert-inhaltlich“ einerseits und dem Wortfeld „rein oder religiös ästhetisch-säkularisiert-formal“ andererseits. Die Suche nach einem neuartigen Verhältnis von christlichem Glauben und allgemeiner Kultur wurde nach dem Krieg unvermindert fortgesetzt. So spielte der wohl bekannteste niederländische Theologe des 20. Jahrhunderts, Kornelis Heiko Miskotte, eine sehr wichtige Rolle für die weitere Entwicklung der auf Doorbraak ausgerichteten Aktivitäten von Theologen und Künstlern. Das zeigt sich nicht nur am Beispiel seiner eigenen Theologie, die ich in Kapitel 9
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Zum Versuch einer Kulturtheologie im Gespräch mit Barth II
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dieser Studie anhand der darin anzutreffenden Barth-Rezeption noch darstellen werde, sondern auch an seinen Aktivitäten als Chefredakteur der 1945 gegründeten Zeitschrift In de waagschaal. Die Zeitschrift In de waagschaal (Auf der Waage; SH) ist die wohl bekannteste, auf einen Doorbraak gerichtete, von der Theologie Barths wesentlich mitgeprägte niederländische theologische Zeitschrift. Sie wurde 1945 von unter anderen Kornelis Heiko Miskotte182, Johan Jan Buskes und Kleijs Hendrik Kroon – drei der sieben so genannten Doorbraak-Pfarrer, die der sozialdemokratischen Partei beigetreten waren – gegründet. Karl Barth war ab der siebten Ausgabe fester Mitarbeiter. Obwohl In de waagschaal in erster Linie als die Nachfolgerin der Zeitschriften Woord en geest und Woord en wereld zu verstehen ist, kann sie in gewisser Hinsicht auch als die Nachfolgerin und Erbin der in Opwaartsche wegen begonnen kulturellen Versuche gesehen werden. Allerdings publizierte In de waagschaal im Gegensatz zu Opwaartsche wegen außer zu kulturellen auch zu explizit theologischen und politischen Themen. Die Zeitschrift In de waagschaal hat in der Nachkriegszeit wohl am stärksten zur weiteren Verbreitung der Theologie Karl Barths in den Niederlanden und zur Verbreitung der niederländischen Rezeption der Theologie Karl Barths beigetragen. Auf eine detaillierte Analyse unter dem Aspekt ihrer kulturellen, politischen und theologischen BarthRezeption muss jedoch im Rahmen dieser Studie aus Platzgründen verzichtet werden. Miskottes zentrale Bedeutung für die Entwicklung der barthianisch inspirierten niederländischen Nachkriegstheologie zeigt sich außerdem anhand seiner von 1950 – 1959 währenden Arbeit als Vorsitzender der Kommission für eine neue Psalmenbereimung des Genfer Psalters – der Psalter ist in der niederländischen Gottesdiensttradition schon immer sehr wichtig gewesen und bildet in der von Miskotte mitbegründeten Übersetzung auch heute noch den ersten Teil des Gesangbuches. Diese 1968 vollendete neue Bereimung ist nämlich als ein wichtiges Produkt einer von der Theologie Barths inspirierten, auf kulturellen Doorbraak gerichteten Entwicklung zu betrachten. Noch während des Krieges, nämlich im November 1943, wurde von der Allgemeinen Synode der Nederlandse Hervormde Kerk eine Kommission ins Leben gerufen, die die Möglichkeiten für eine neue Psalmenbereimung untersuchen sollte. Von Anfang an suchte man zu diesem Zweck den Kontakt zu Dichtern, so etwa zu dem ehemaligen Opwaartsche wegen-Redakteur Klaas Heeroma (Pseudonym: Muus Jacobse) und dem klassisch modernen niederländischen Dichter Martinus Nijhoff (1894 – 1953), aber auch zu Musikwissenschaftlern, Niederlandisten, Hebraisten und Literaturwissenschaftlern. Zum Gelingen dieses 182 Zur Bedeutung K.H. Miskottes für In de waagschaal vgl. G.G. de Kruif/A.J. Rasker/B.A. Venemans/J.R. Wolthaus (Hg.), Inleiding, in: K.H. Miskotte, In de waagschaal. Een keur uit de artikelen van dr. K.H. Miskotte uit de eerste vijf jaargangen van „In de waagschaal“, hg. v. Dies. (Verzameld werk van dr. K.H. Miskotte, Teil 1, hg. v. J.T. Bakker/A. Geense/G.G. de Kruif), Kampen 1982, 9 – 28.
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Christliche Kunst? (1919 – 1940). Kulturtheologie II
auch als Öffnung zur modernen säkularisierten Welt gedachten Vorhabens hat Kornelis Heiko Miskotte entscheidend beigetragen. Außerdem war für die Ausrichtung der Arbeit der Kommission der Einfluss von Martinus Nijhoff besonders prägend. Zum einen sorgte er zusammen mit Miskotte dafür, dass junge talentierte Dichter – Theologen und eben gerade auch Nicht-Theologen – wie Willem Barnard (Pseudonym: Guillaume van der Graft), Jan Wit, Jan Willem Schulte Noordholt, Ad den Besten und Willem Johan van der Molen in die Arbeit mit einbezogen wurden. Ein Blick in das niederländische Gesangbuch, das Liedboek voor de kerken von 1973, macht deutlich, dass diese Dichter nicht nur für die Psalmenbereimung, sondern auch für die Texte zahlreicher neuerer Lieder des Gesangsbuchs verantwortlich waren.183 Zum anderen prägte Nijhoff auch den Stil der Psalmenübersetzung wesentlich mit. Er setzte sich dafür ein, dass einerseits der hebräische Grundtext der Psalmen ernst genommen wurde, dieser aber insofern in eine neue, zeitgenössische Sprache übersetzt wurde, als andererseits auch niederländische Redewendungen, Wortspielereien und Gegenwartssprache in die Übersetzung miteinbezogen wurden. Nijhoff betrachtete die Psalmen als Volkslieder und als Lieder mit irdischer Lebensnähe und bot so eine Alternative zu einer pietistischen, individualisierten und spiritualisierten Übersetzung.184 Festzuhalten bleibt am Schluss dieses Kapitels, dass die Frage nach der Möglichkeit einer „christlichen“ Kunst der Infragestellung der traditionellen direkten Verbindung zwischen christlichem Glauben und christlicher Kultur entspricht. Hervorzuheben ist, dass die zahlreichen auf einen kulturellen Doorbraak gerichteten vorwiegend literarischen Aktivitäten in der Zwischenkriegszeit und also die kulturelle Variante des politischen Doorbraak dem politischen Doorbraak sogar vorausgeht, da dieser erst nach dem Zweiten Weltkrieg seinen Höhepunkt erreichen wird.
183 Die Darstellung des vorangehenden Abschnitts basiert im wesentlichen auf H. Schroten, Psalmen in nieuwe bereiming, in: A.W. Lazonder/H. Schroten/J.W. Schulte Nordholt (Hg.), Uit de werkplaats van het liedboek, ’s Gravenhage 1974, 17 – 37; A.W. Lazonder, De nieuwe psalmbereiming, in: Raad voor eredienst van de Nederlandse Hervormde Kerk (Hg.), Jaarboek voor de eredienst van de Nederlandse Hervormde Kerk 1963 – 1964, ’s Gravenhage 1964, 70 – 87; J.W. Schulte Nordholt, Dichters op de Pietersberg, in: Lazonder u. a. (Hg.), Uit de werkplaats, 39 – 49. 184 M. Pfirrmann, Freie Poesie und gottesdienstliche Lieder. Zum Verhältnis von Bibel, Liturgie und Dichtung im frühen Werk von Willem Barnard (Guillaume van der Graft), VLH 36, Göttingen 2001, 110.
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6. Die Konsolidierung der Polarisierung. Theologische Barth-Rezeptionen in den 30er Jahren 6.1 Einleitung In diesem Kapitel nehme ich den im zweiten und dritten Kapitel dieser Studie entwickelten historischen Faden zur Entwicklung der theologischen BarthRezeptionen in den Niederlanden wieder auf und stelle nunmehr die Konsolidierung der sich in den 20er Jahren abzeichnenden Polarisierung der verschiedenen Rezeptionsstränge der Theologie Karl Barths in den 30er Jahren dar. Dazu beschränke ich mich auf eine Erforschung des orthodox-gerefomierten und des liberalen Flügels theologischer Barth-Rezeptionen: Auf gereformierter Seite profilierte sich im Laufe der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts als bedeutsamer Kritiker der Theologie Karl Barths der damalige Pfarrer und später bekannte Dogmatiker an der Freien Universität in Amsterdam, Gerrit Cornelis Berkouwer (1903–1996). Gleichsam als liberaler Gegenpol trat ab 1935 der remonstrantische Dogmatiker an der Universität Leiden, Gerrit Jan Heering (1879–1955) auf. Beide Theologen beschäftigten sich in ihren dogmatischen Hauptwerken mit der Verhältnisbestimmung von Glauben und Offenbarung und beide rezipierten in diesem Zusammenhang die Theologie Karl Barths. Beide entwickelten ihre jeweils eigenen Positionen insbesondere im Zusammenhang mit der Schriftauffassung Karl Barths; diese war in den Niederlanden unter anderem darum ein sehr wichtiges theologisches Thema, weil die Akzeptanz der historisch-kritischen Methode in den verhältnismäßig starken orthodoxen theologischen Kreisen keinesfalls gegeben war. Beide Barth-Rezeptionen sollen im Folgenden dargestellt werden. Zusammengenommen, so meine These, bildeten sie einen sich in den 30er Jahren verstärkt herauskristallisierenden polarisierten Rahmen, der die Verhärtung der theologischen Gegensätze in den Niederlanden der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts spiegelt. Die Polarität dieses Rahmens, so meine weiterführende These in Anschluss an einen Ausdruck des Religionstheoretikers Charles Taylor, erzeugte eine Art doppelten, gegenläufigen Druck1, der schließlich in der Mitte der reformierten 1 Die Rede von einem doppelten, gegenläufigen Druck entnehme ich Ch. Taylor, Ein säkulares Zeitalter (übers. v. J. Schulte), Frankfurt a. M. 2009 (urspr.: A Secular Age, 2007). Taylor gebraucht den Ausdruck, um die Entstehung eines kreativen Zwischenraums in der ausklingenden Moderne zu beschreiben, der sich zwischen der auch unter modernen Bedingungen weiter bestehenden christlichen Orthodoxie einerseits und der Entstehung einer humanistischen, säkularen Alternative andererseits entfaltete und in der Dynamik eines so genannten Nova-Effekts zur Bildung
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Die Konsolidierung der Polarisierung
Volkskirche – der Nederlandse Hervormde Kerk – zur Genese und zum Erstarken einer vielfältig positionierten Bewegung führte, nämlich der Bewegung des niederländischen Barthianismus. Diese in sich durchaus vielfältige Bewegung ist rezeptionsästhetisch gesehen als das Zentrum der weiterführenden, die Herausforderungen der Theologie Barths annehmenden und verarbeitenden Barth-Rezeptionen zu betrachten. Ihr Zustandekommen soll im folgenden Kapitel näher erforscht und interpretiert werden. Um der Vollständigkeit willen ist an dieser Stelle im Hinblick auf die theologischen Entwicklungen in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts zudem daran zu erinnern, dass die in den 1920ern begonnenen Diskussionen zwischen dem reformiert-konfessionellen Systematiker der Universität Groningen, Theodorus Lambertus Haitjema und dem ethisch-gereformierten, mit der Universität Utrecht verbundenen Dogmatiker Arnold Hendrik de Hartog nicht nur fortgesetzt wurden, sondern ihren Höhepunkt und Abschluss in zwei Positionspapieren fanden, die 1936 in Theologische Aufsätze. Karl Barth zum 50. Geburtstag publiziert wurden. Formal2 gesehen gehören diese Diskussionen ebenfalls zu den Barth-Rezeptionen der 30er Jahre. Die in diesem Kapitel zunächst darzustellende Konsolidierung der Polarisierung des orthodoxen Pols (6.2) und des liberalen Pols (6.3) soll mit einer vergleichenden Übersicht über beide Positionen (6.4) abgeschlossen werden.
vielfältiger, neuer spiritueller Optionen führte. Im Zusammenhang dieser Arbeit lässt sich der Ausdruck m.E. gut auf die polarisierten Bedingungen im Verhältnis zwischen protestantischer Orthodoxie und protestantischem Liberalismus übertragen, die ab den 30er Jahren in den Niederlanden zu einer von der Theologie Karl Barths wesentlich mitinspirierten kirchlich-theologischen Neuentwicklung geführt haben. 2 Aus inhaltlichen Gründen habe ich die gesamte Kontroverse bis zu ihrem Abschluss im Jahr 1936 bereits in Kap. 3 dieser Studie dargestellt. Die in Barths Festschrift veröffentlichten Positionspapiere bringen keine neuen Argumente gegenüber der bereits geführten Diskussion, machten und machen die Diskussion aber der deutschen Leserschaft leichter zugänglich; vgl. Th. L. Haitjema, Der Kampf des holländischen Neu-Calvinismus gegen die dialektische Theologie, in: E. Wolf (Hg.), Theologische Aufsätze Karl Barth zum 50. Geburtstag, München 1936, 571–589, A.H. de Hartog, Dialektik oder Realismus, in: Wolf, Theologische Aufsätze, 590–603. Haitjema spricht in Bezug auf das Verhältnis zwischen Neocalvinisten und der barthianischen Theologie hier sogar für die „letzte[…]“ Zeit von einem „Kriegszustand“; vgl. aaO., 571. Während Haitjema also den Konflikt zwischen den Neocalvinisten und den Barthianern betont, versucht diese Arbeit, das Aufkommen und Erstarken des Barthianismus nicht nur aus der zweifelsohne bezeichnenden Opposition zum Neocalvinismus zu erklären, sondern auch durch die Polarisierung neocalvinistischer/orthodoxer/gereformierter und liberaler Positionen und durch die kreative Suche nach einer Position zwischen den Polen. Dass, wie Haitjema sagt, der Neocalvinismus auch in Bezug auf den Barthianismus polarisierend gewirkt haben mag, steht auf einem anderen Blatt und soll hier genauso wenig bestritten werden wie die hier nicht mehr untersuchte Tatsache, dass insbesondere auch der spätere – erstarkte – Barthianismus polarisierend genannt werden kann.
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Gerrit Cornelis Berkouwer
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6.2 Gerrit Cornelis Berkouwer : Der Exponent des orthodoxen Pols Hatten auf orthodoxer, gereformierter Seite bislang vor allem der Kampener Theologe Klaas Schilder und Valentijn Hepp von der Freien Universität in Amsterdam die Rezeption der Theologie Karl Barths in den Niederlanden geprägt, nimmt diese Rolle seit 1931 bis in die Nachkriegsjahre hinein Gerrit Cornelis Berkouwer ein, der spätere Dogmatiker der Freien Universität. 1931 veröffentlichte Berkouwer unter der Überschrift De ethiek van Karl Barth acht aufeinanderfolgende vorwiegend kritische Artikel3 in der von Klaas Schilder mitherausgegebenen gereformierten Wochenzeitschrift De Reformatie, die auch als späte Reaktion auf Barths Amsterdamer Vortrag von 1926, Die Kirche und die Kultur4, aufzufassen sind. In Barths Theologie, so Berkouwer, habe sich seit dem Römerbrief mit seiner Trennung zwischen göttlichen und menschlichen Werken keinesfalls eine „Frontveränderung“5 ergeben. Vielmehr erweise Barth sich noch immer als Kulturpessimist, der einen ethischen Nihilismus demonstriere. Man müsse darum weiterhin kritisch erstens nach dem „ethischen Subjekt“6 seiner Theologie und zweitens nach der „Bestimmtheit und Erkennbarkeit von Gottes Gebot“7 fragen. Zur Diskussion steht also die für die gereformierte Theologie zentrale Rolle der Lehre von den Schöpfungsordnungen. Der inhärente Widerspruch der theozentrischen Theologie Barths, so Berkouwer weiter, bestehe in einem heimlichen Anthropozentrismus. Zwar sei ihr intendierter Theozentrismus zu loben, doch befinde dieser sich nur scheinbar in Übereinstimmung mit dem Soli Deo gloria der (ge)reformierten Orthodoxie. Diese erste Auseinandersetzung vertiefte Berkouwer in seiner 1932 publizierten Dissertation Geloof en openbaring in de nieuwere Duitse theologie (Glauben und Offenbarung in der neueren deutschen Theologie)8. Hierin entwickelte er unter anderem seine zentrale These, dass in der dialektischen Theologie die Korrelation zwischen Glauben und Offenbarung im Sinne einer einfachen „Destruktion“9 aufgehoben worden sei. 1934 erschien ein weiterer Beitrag10 zur dialektischen Theologie Karl Barths. Zusammengenommen mündeten diese Beiträge schließlich in eine 1936 publizierte größere Studie, Karl Barth11, in der die Argumente der vorhergehenden Publikationen noch 3 4 5 6 7 8 9 10
G.C. Berkouwer, De ethiek van Karl Barth I–VIII, Re 11, 1931, Nr. 28–35. Vgl. hierzu Kap. 2 dieser Studie. Ders., De ethiek van Karl Barth I, Re 11, 1931, Nr. 28, 217. Ders., De ethiek van Karl Barth III, Re 11, 1931, Nr. 30, 233. Ebd. Ders., Geloof en openbaring in de nieuwere Duitsche theologie, Utrecht 1934. AaO., 199. Ders., De dialektische theologie, in: N. Buffinga u.a. (Hg.), Beproeft de geesten. Hedendaagsche stromingen op religieus gebied, Culemborg 1934, 76–124. 11 G.C. Berkouwer, Karl Barth, Kampen 1936.
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Die Konsolidierung der Polarisierung
einmal gesammelt und ergänzt wurden und die im Folgenden unter den in der Einleitung genannten rezeptionsästhetischen Gesichtspunkten ausgewertet werden soll.12 Einen zweiten Schwerpunkt der Auseinandersetzung mit Karl Barths Theologie, die Berkouwer weiterhin kontinuierlich führte13, bildete das 1954 erschienene Buch De triomf der genade in de theologie van Karl Barth (Der Triumph der Gnade in der Theologie Karl Barths)14, das – obwohl dadurch zeitlich der Rahmen der 30er Jahren überschritten wird – ebenfalls in diesem Abschnitt besprochen und mit der früheren Kritik verglichen werden soll. Berkouwers Studie über Karl Barth In der 1936 erschienenen Studie Karl Barth behandelte der Autor die Wirkungsgeschichte Karl Barths, und zwar insbesondere in den Niederlanden. Als solche kann sie als das gereformierte Pendant zu der 1926 publizierten gleichnamigen Studie15 des konfessionell-reformierten Theodorus Lambertus Haitjema angesehen werden. In der Einleitung nennt Berkouwer zunächst sein wichtigstes Leserinteresse, nämlich die im Laufe des Buches entschieden verneinte Frage, ob Barth sein Ziel, das Soli Deo gloria wieder zum Leuchten zu bringen, auch tatsächlich erreicht habe. Besondere Aufmerksamkeit verdiene zudem Barths (in den Niederlanden; SH) inzwischen nicht mehr nur theologische sondern auch politische Wirkung in theologischen, allgemein wissenschaftlichen und intellektuell interessierten Kreisen – eine berechtigte Bemerkung über einen Tatbestand, mit dem sich diese Studie in späteren Kapiteln noch eingehender auseinandersetzen wird. Berkouwer benennt zunächst den primären Kontext von Barths Theologie und steckt damit auch den Rahmen für seine eigenen Auseinandersetzungen ab. Als die wichtigsten nicht-niederländischen Leserinteressen hätten sich neben der Frage nach der Möglichkeit einer Ethik in der Theologie Barths auch die von römisch-katholischer Seite aufgeworfene Frage nach dem Verhältnis zwischen Subjektivismus und Objektivismus ergeben. Neu hinzuge-
12 M.E. Brinkman hat in seiner Studie zum Verhältnis zwischen Barthianern und Neocalvinisten vorwiegend die beiden erstgenannten Publikationen untersucht; vgl. Brinkman, De theologie. 13 G.C. Berkouwer, Barthianisme en katholicisme. Rede gehouden bij de aanvarding van het ambt van buitengewoon hoogleraar in de faculteit der godgeleerdheid aan de Vrije Universiteit te Amsterdam op vrijdag 11 october, Kampen o.J. [1940]; Ders., Wereldoorlog en theologie. Rede uitgesproken ter gelegenheid van den dies natalis der Vrije Universiteit op 22 october 1945, Kampen o.J. [1945]; Ders., Karl Barth en de kinderdoop, Kampen 1947. Auch nach 1954 hat Berkouwer seine Kritik an Barth, insbesondere seine Kritik an Barths Erwählungslehre, wiederholt; vgl. insgesamt: Ders., Het werk van Christus, Kampen 1953; Ders., De verkiezing Gods, Kampen 1955. Viele weitere kleinere Beiträge bleiben in dieser Übersicht unerwähnt. 14 G.C. Berkouwer, De triomf der genade in de theologie van Karl Barth, Kampen 1954; ich zitiere im Folgenden nach der deutschen Übersetzung; vgl. G.C. Berkouwer, Der Triumph der Gnade in der Theologie Karl Barths (übers. v. Th. Preis), Neukirchen 1957. 15 Th.L. Haitjema, Karl Barth, Wageningen 1926; vgl. die Besprechung in Kap. 2 dieser Arbeit.
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Gerrit Cornelis Berkouwer
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kommen seien außerdem Barths Haltung im deutschen Kirchenkampf und die Auseinandersetzungen und Brüche innerhalb der dialektischen Theologie. Im Folgenden behandelt Berkouwer gerade diejenigen Themen aus neocalvinistischer/gereformierter Sicht, die er zuvor als das nicht-niederländische Leserinteresse herausgeschält hat und erweitert damit den sekundären, niederländischen Kontext von Barths Theologie. Bislang sei auf der eigenen, gereformierten Seite das Paradoxe von Barths Theologie und dessen universalistische Prädestinationslehre kritisch beleuchtet worden; insbesondere habe Barths Schriftauffassung die Gemüter bewegt. In der in letzter Zeit zunehmenden Rezeption Barths in der ethischen Theologie sei bislang hingegen vor allem die Frage nach dem historischen Jesus und nach Barths Agnostizismus thematisiert worden. Zudem sei bei den – die aufkommende Strömung des niederländischen Barthianismus repräsentierenden – Autoren von De openbaring der verborgenheid die seines Erachtens vor allem an die gereformierte Seite gerichtete herausfordernde Frage aufgekommen, inwieweit die Grundgedanken Barths als ein „heilsames“16 Korrektiv aufzufassen seien – eine These des Verfassers des Vorworts, Martinus Cornelis Slotermaker de Brune, die Berkouwer im Verlauf des Buches aufnehmen und bestreiten wird. Nicht zuletzt sei die Barth-Rezeption des reformierten, konfessionellen Theologen Haitjema zu nennen, die die Frage nach dem Verhältnis zwischen Barth und Kuyper aufgeworfen habe. So mache die Debattenlage insgesamt bereits deutlich, dass in den Niederlanden „der Barthianismus vor allem für einen scharfen Angriff auf den Neocalvinismus“17 benutzt werde, bei dem sich „verschiedene Richtungen miteinander […] gefunden“18 hätten. Dieser Kampf betreffe zudem nicht nur die Theologie, sondern reiche bis in die Politik hinein, nämlich bis zum „,to be or not to be‘ für jegliche Form christlicher Politik“19. Gemäß seiner Einschätzung und These, dass der sekundäre niederländische Kontext von Barths Theologie vor allem ein von nicht-neocalvinistischen Richtungen geführter Kampf gegen den Neocalvinismus sei, besteht die Herausforderung für Berkouwer im Folgenden nun darin, seinerseits die Theologie Barths und ihren eventuell herausfordernden Charakter nicht nur darzustellen und einzuordnen, sondern schließlich insgesamt begründet abzulehnen. Mit diesem Vorhaben schafft Berkouwer meines Erachtens mehr Klarheit in der Debattenlage als faktisch von den Autoren von De openbaring der verborgenheid intendiert war. Denn diese betrachteten die Herausforderung von Karl Barths Theologie nicht nur als mögliches Korrektiv für den 16 Berkouwer bezieht sich auf M.C. Slotemaker de Brune, Voorrede, in: Berkelbach van der Sprenkel, De openbaring, 5–6, 5. Das Buch wird erst im folgenden Kapitel – im Zusammenhang mit den weiterführenden Barth-Rezeptionen, für die es ein Beispiel ist – ausführlich thematisiert werden. 17 Berkouwer, Karl Barth, 20. 18 Ebd. 19 Ebd.
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Neocalvinismus, sondern auch für die ethische Theologie, der die Autoren des Buches in der Überzahl selber zuzurechnen waren. So heißt es unter anderem selbstkritisch in De openbaring der verborgenheid einleitend: „Es wird den Lesern auffallen, dass in mehreren Artikeln gegen einflussreiche Denkrichtungen im niederländischen christlichen Leben polemisiert wird, insbesondere gegen bestimmte Züge der ethischen und der neocalvinistischen Theologie“20. Berkouwers Wunsch nach deutlichen Fronten hat meines Erachtens insofern auch eine positive Kehrseite, als er den Weg dafür öffnete, die faktischen Konflikte und eine Debatte um die Möglichkeit einer nicht unpolitischen Alternative zum vorherrschenden Modell einer explizit christlichen Politik und Kultur als die wichtigsten Herausforderungen von Barths Theologie in der niederländischen theologisch und politisch versäulten Landschaft herauszustellen. Die drei bedeutendsten und die Differenzen zur eigenen neocalvinistischen Position verdeutlichenden und damit herausfordernden Themen Barths sind nach Berkouwer die Betonung der Freiheit, der Souveränität und der Aktualität des Wortes Gottes. Barths Theologie, so Berkouwers diesen und früheren Ausführungen zugrundeliegende These, weise trotz aller Veränderungen seit 1918 (!) eine „prinzipielle Kontinuität“21 auf. Noch immer verkündige Barth unverändert den qualitativen Unterschied zwischen Gott und Mensch, einen Dualismus, der auch eine neue, für Berkouwer unangemessene Auffassung der paulinischen und reformatorischen Prädestinationslehre mit sich bringe. Faktisch sei Barths Theologie trotz des angestrebten gegenteiligen ersten Eindrucks ein Plädoyer für eine unerhörte Selbstverteidigung des Menschen und der Kirche, die die zu Recht erhobene Kritik am Selbstruhm der Kirche und des Menschen zu Unrecht mit der Kritik an jeglichem religiösen Besitz überhaupt identifiziere. Zu kritisieren sei im Zusammenhang mit Barths Betonung der göttlichen Freiheit erstens seine Verhältnisbestimmung von Rechtfertigung und Heiligung. Barth stimme eben nur scheinbar der in der (ge)reformierten Tradition angelegten Verhältnisbestimmung zu, in der Rechtfertigung und Heiligung zwar unterschieden, aber nicht geschieden würden. In Wirklichkeit identifiziere Barth aber beide im Sinne eines rein paradoxen „peccator-justus“22 und spreche an keiner Stelle von der Heiligung im Sinne einer „realen Veränderung im empirischen Menschenleben“23. Zu fragen sei, wie Barth dann überhaupt von der Negativität (Krise) zur Positivität der göttlichen Gnade kommen könne. 20 Slotemaker de Brune, Voorrede, 6. 21 Berkouwer, Karl Barth, 22. Vermutlich meint Berkouwer trotz Nennung des Jahres 1918 nicht die 1919 erschienene erste, sondern die 1922 erschienene zweite Auflage des Römerbriefs. 22 AaO., 45. 23 Ebd.
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Zu kritisieren sei zweitens Barths aktualistischer Offenbarungsbegriff, der von der Betonung der göttlichen Freiheit und des dualen Verhältnisses von Gott und Geschichte her motiviert sei. Historisch bedeute bei Barth in Bezug auf die „,historische‘ Offenbarung“24 nicht „das Historische an sich“25, sondern werde im Sinne von Urgeschichte und einem jeweils aktuellen Handeln Gottes in der Geschichte gebraucht. Von einer geschichtlichen Offenbarung im Sinne eines kontinuierlichen Mitgehens Gottes mit seinem Volk im Rahmen der gewöhnlichen Geschichte könne folglich keine Rede sein. Vom aktualistischen Offenbarungsverständnis her ergebe sich auch Barths von gereformierter Seite (und von der damit einhergehenden Verteidigung der Verbalinspiration her) ebenfalls abzulehnendes aktualistisches Schriftverständnis. Die Schrift sei für Barth nicht die Offenbarung selber, sondern das historische Zeugnis der urgeschichtlichen Offenbarung. Darum finde sich bei Barth auch in der Schriftbetrachtung ein eigentümlicher Dualismus, mit dem er das Zeugnis der Schrift prinzipiell von der aktuell gedachten Offenbarung trenne: Einerseits betrachte er die Schrift als rein historisches Dokument, andererseits könne man darin nach ihm die Stimme Gottes vernehmen. Noch merkwürdiger sei in diesem Zusammenhang, dass Barth den Kanonbegriff trotz alledem weiter verwende, den Kanon aber zugleich für offen erkläre. Vergleichbare Inkonsequenzen ergäben sich in seiner Lehre von der Jungfrauengeburt, in der er einerseits zwischen Sache (Inkarnation) und Zeichen (Jungfrauengeburt) unterscheide, andererseits aber deren Untrennbarkeit nicht überzeugend deutlich machen könne. Dazu müsse er nämlich einen ontischen Zusammenhang zwischen Sache und Zeichen annehmen, was er gerade ablehne. Barth kümmere sich aber nicht um derartige Inkonsequenzen, sondern gebe sich mit der Durchführung des Grundmotivs seiner Theologie zufrieden, der Freiheit des gnädig handelnden Gottes. Eine vergleichbare Zwitterstellung ergebe sich, um ein letztes der vielen Beispiele Berkouwers zu nennen, auch in Barths Lehre vom Geheimnischarakter des Wortes Gottes. Entgegen der von den Gereformierten bevorzugten Rede von der Evidenz der Offenbarung verteidige Barth zwar nicht deren Verborgenheit an sich, aber doch ihre Verborgenheit als Offenbarung. Als grundsätzliches und tiefstes Problem ergebe sich aufgrund der Betonung der Souveränität und Aktualität des Wortes Gottes gegenüber der neocalvinistischen Betonung seiner zugesagten Beständigkeit die Frage, ob erstere nicht – wie etwa im Occamismus – eine Bedrohung für die Zuverlässigkeit des Wortes darstelle beziehungsweise die Frage, wie Barth Willkür und Souveränität unterscheiden wolle? In der Bundesauffassung etwa verschlinge die Aktualität die Kontinuität. Darum sei Barths Theologie bereits aufgrund ihres alles beherrschenden Grundmotivs „das Gegenteil […] einer schriftgemäßen
24 AaO., 48. 25 AaO., 49.
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Dogmatik [geworden]“26. Eine solche habe nämlich keine Vorbehalte hinsichtlich der nun einmal in der Schrift gegebenen Offenbarung und weise jeden Dualismus im Gottesbegriff zurück. Andere Kritikpunkte Berkouwers beziehen sich auf das christliche Leben. Man habe sich kritisch gegen Barths theologisches „,System‘“27 zu wenden, von dem aus kein Weg zur „vollen Wirklichkeit“28 unseres menschlichen Lebens führe. Denn erstens sei Barth bereits mit seiner Römerbrieftheologie in eine „Sackgasse“29 geraten, bei der Verhältnisbestimmung von Rechtfertigung und Heiligung, welche sich auch in dem als nur „gebremst“30 eschatologisch zu qualifizierenden, aber letztlich eben doch in derselben aussichtslosen „Antinomie“31 gefangen gebliebenen Amsterdamer Vortrag von 1926 wiederholt habe. Und zweitens bleibe bei Barth undeutlich, wie der Wille Gottes überhaupt erkennbar sei oder sich konkret äußere, da er ja eine ausgesprochen antithetische Lehre von der imago dei vertrete, eine Theologie des Anknüpfungspunktes ablehne und auch die für den Neocalvinismus so wichtige Idee der Schöpfungsordnungen deutlich abgelehnt habe, wobei er zudem dem Vater des Neocalvinismus, Abraham Kuyper, mit völligem Unverständnis begegnet sei: „Er [Barth; SH] versteh[e] nicht, wie jemand (und er wende[e] sich hier gegen Dr. A. Kuyper) die Revolution im historischen Sinn des Wortes wie die Inkarnation des Bösen und demgegenüber seinen eigenen antirevolutionären Willen konform dem Willen Gottes zu behandeln wag[e]“32. Angesichts dieses bei Barth anzutreffenden ethischen Desinteresses sei drittens dessen entschiedene Haltung im Kirchenkampf näher zu analysieren. Diese sei ja, so jedenfalls Berkouwer, auch nach Barth selbst weniger als eine gegen den Staat gerichtete politische, sondern als eine intern kirchliche Protesthaltung zu bewerten, die vor allem gegen die Einführung einer zweiten Erkenntnisquelle (neben der des Wortes Gottes) gerichtet gewesen sei. Ohne den Standpunkt der Deutschen Christen verteidigen zu wollen, sei anzumerken, dass „eine derartige Kritik der Zwei-Quellen-Theorie der Deutschen Christen nur von dem Standpunkt her sinnvoll ist, der die Heilige Schrift als gegebene Norm und Quelle auch wirklich anerkennt“33. Der entscheidende Punkt sei aber, dass „in der barthianischen, radikalen ,Aktualisierung‘ der Offenbarung und des Gebotes Gottes […] der Weg hin zu den Extravaganzen der Deutschen Christen gerade gebahnt“34 worden sei. Gerade Barths aktualistischer Offenbarungsbegriff und die damit verbundene 26 27 28 29 30 31 32 33 34
AaO., 97. AaO., 99. Ebd. AaO., 100. AaO., 104. AaO., 105. AaO., 110. AaO., 122. Ebd.
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Unmöglichkeit einer Ethik sowie sein unterlassenes Engagement für „das eine Erkenntnisprinzip“35 treibt Barth also nach Berkouwer jedenfalls theologisch gesehen auf die Seite der Deutschen Christen. Zu fragen sei dann, ob es ein Wunder [sei], dass der zwischen Menschenworten und dem Wort Gottes [konstruierte] Dualismus des Barthianismus schließlich machtlos sei gegenüber der Theorie der deutschen Christen? Gegenüber ihrem ,Glauben‘, dass nun – aktuell – am 12. Januar 1933 die Stimme Gottes zu uns durchdringe?36
Hervorhebenswert sei in diesem Zusammenhang schließlich die für Berkouwer völlig unverständliche Meinung Barths, dass die Niederländer eine Geschichtstheologie verträten. Barth begründe seine Meinung mit der so genannten „Holländischen Parole“37, die er in den Grundfragen mit der ZweiQuellen-Theorie der Deutschen Christen vergleiche – eine Auffassung, die von holländischer (das heißt in diesem Fall: neocalvinistischer) Seite entschieden abzulehnen sei. In den Niederlanden gehe es nicht um eine Zwei-QuellenTheorie, sondern um das Finden konkreter Worte und Weisungen in der Schrift. Es sei in diesem Zusammenhang sehr zu bedauern, dass gerade auch in den Niederlanden – Berkouwer weist auf die Meinung des reformierten Theologen Haitjema hin – das Thema des Verhältnisses zwischen Schrift und Geschichte in dem Verhältnis „Barth-Niederlande“38 auf vergleichbar unzutreffende Weise aufgebracht worden sei. Barth beachte nämlich erstens nicht, dass eine richtige Schriftauffassung eine Verbindung von Schrift und Geschichte mit sich bringe (das Problem der Ethik), und er vertrete zudem eine verkehrte, nämlich aktualistische und nicht konkrete Schriftauffassung. Berkouwer bemüht sich hier mit anderen Worten, den ihm von Haitjema zugespielten Ball zurückzuspielen – und weist damit auf eine in den Niederlanden intensiv geführte Debatte über das Verhältnis von Theologie und Politik beziehungsweise Geschichte hin. Barths Theologie insgesamt und seine Auffassung von der alles konkrete menschliche Wollen und Handeln relativierenden Königsherrschaft Jesu Christi im Besonderen, so Berkouwer, lasse kein „wirkliches, direktes Verhältnis zwischen christlichem Glauben und politischer Handlung“39 zu. Es sei geradezu „tragisch“40 zu nennen, dass Barth aufgrund der Ablösung der verschiedenen Lebensgebiete vom souveränen Willen Gottes zu einem „Exponenten […] der Verweltlichung des Lebens“41 35 AaO., 123. 36 Ebd.; Es ist auch dem weiteren Textzusammenhang nicht zu entnehmen, warum Berkouwer gerade dieses Datum gewählt hat. 37 Gemeint ist das in gereformierten Kreisen verbreitete: „Es steht geschrieben“ anstatt des „Es hat sich ereignet“. Vgl. dazu auch kritisch den im folgenden Kapitel zu besprechenden Beitrag von Buskes, Nationale goederen. 38 Berkouwer, Karl Barth, 127. 39 AaO., 132. 40 AaO., 131. 41 Ebd.
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geworden sei und christliche Überzeugungen verlassen habe. Die eigene, neocalvinistische Auffassung einer Souveränität im eigenen Kreise habe hingegen mit der nationalsozialistischen Einschränkung der Religion und der damit einhergehenden Degradierung der Kirche zu einem bloßen Institut für die Seele nichts zu tun. Abschließend verteidigt Berkouwer seine von den Barthianern mit dem Argument der Königsherrschaft Jesu Christi bestrittene Meinung, dass „die [durchaus als verschieden zu betrachtende; SH] Motivierung des Liberalismus und Barthianismus […] letztendlich […] zu demselben Resultat führ[t]en“42. Beide drängten die Religion letztendlich auf ein eigenes, abgegrenztes Gebiet zurück und lehnten eine konkretere Verbindung von Religion und Politik ab. Es entspreche sogar dem Selbstverständnis der Barthianer, aufgrund der Rede von einer „viel sachlicheren Haltung“43 eine christliche Lebenshaltung ins Wanken zu bringen. Nur kurz soll an dieser Stelle noch über Berkouwers Reaktion auf die von Barth 1935 gehaltenen Vorlesungen über das Apostolische Glaubensbekenntnis44 in Utrecht berichtet werden. Die Vorlesungen seien aktuell, da sie indirekt auch zu der – in den Niederlanden aktuellen Frage – nach einer Kirchenvereinigung auf der Grundlage des Credos der Alten Kirche beitrügen. Berkouwer, der methodisch gesehen generell jede Neuinterpretation des Credos als „Subjektivismus“45 verwirft, ordnet auch Barths Interpretation des Credos als Versuch einer Neuinterpretation ein, die er dementsprechend ableht. Nur scheinbar erwecke Barth den Eindruck, „einen Damm […] gegen den ständig zunehmenden Strom subjektivistisch-moderner ,Interpretationen‘ des Dogmas der Kirche“46 zu errichten, in Wirklichkeit aber zeige sich „im Licht seiner anderen Publikationen“47, dass es sich auch bei Barths Erklärung des Credos um „eine der verblüffendsten ,Interpretationen‘ aus der Theologie des 20. Jahrhunderts“48 handele, mit der Barth „dem Dogma der Kirche entschieden Gewalt antu[e]“49. Indem er das Dogma nicht als Offenbarungswahrheit, sondern lediglich als einen in Menschenworten formulierten Hinweis auf diese betrachte, erhalte seine „Haltung gegenüber dem Dogma und
42 AaO., 133. 43 AaO., 138. 44 Vgl. K. Barth, De apostolische geloofsbelijdenis. Voor Nederland bewerkt en van aantekeningen voorzien door dr. K.H. Miskotte, Nijkerk 1935; vgl. die deutsche Ausgabe von: Ders., Credo. Die Hauptprobleme der Dogmatik dargestellt im Anschluss an das Apostolische Glaubensbekenntnis. 16 Vorlesungen, gehalten an der Universität Utrecht im Februar und März 1935, München 1935. Diese Vorlesungen werden im folgenden Kapitel noch einmal erörtert werden. 45 berkouwer, Karl Barth, 153. 46 AaO., 155. 47 Ebd. 48 Ebd. 49 Ebd.
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dem kirchlichen Bekenntnis […] einen schlechthin relativen Charakter“50. Nach Abschluss der kritischen Besprechung von Barths Ausführungen zu den einzelnen Lehrstücken des Credos schlussfolgert Berkouwer, dass die „Möglichkeit eines Missverständnisses, nämlich eines orthodoxen ,Interpretierens‘ von Barths Werk nirgendwo so groß [sei] wie bei diesem ,Credo‘“51. Als in den Niederlanden nur allzu beliebtes Beispiel für eine modernistische Interpretation einer orthodoxen Auffassung, bei der den alten Begriffen einfach ein neuer Inhalt untergeschoben würde, führt Berkouwer die sprechende Schlange im Paradies an, zu deren Sprechen Barth sich in einem anschließenden Fragegespräch geäußert hatte: Barth erkenne zwar an, dass die Schlange gesprochen habe, meine damit aber in Wirklichkeit kein historisches Sprechen, sondern ein Sprechen im übertragenden Sinne. Dies sei eine eindrucksvolle Illustration für Barths Methode, auf dem Wege der Interpretation die eigene Dialektik ins Apostolische Glaubensbekenntnis einzutragen. Aus rezeptionsästhetischer Perspektive erweisen sich meines Erachtens die beiden letzten Kapitel Berkouwers als besonders interessant. Er unternimmt hier – wie Haitjema bereits zehn Jahre zuvor – den Versuch, Barths Theologie erst in ihrem primären und dann auch im niederländischen, sekundären Kontext einzuordnen und so ihre Bedeutung und Herausforderung zu erfassen. Barth, so Berkouwer, führe außerhalb der Niederlande eine Polemik an drei Fronten, nämlich gegen den Objektivismus der römisch-katholischen Theologie, gegen den Anthropozentrismus des Neuprotestantismus und innerhalb des eigenen Kreises der dialektischen Theologie, beispielsweise gegen Brunners Verhältnisbestimmung zwischen Natur und Gnade. Die erste Polemik treffe nun zugleich die Offenbarungsauffassung der reformierten Orthodoxie in den Niederlanden. Barth selber nehme mit seinem aktualistischen Offenbarungsbegriff weder eine subjektivistische noch eine objektivistische Position ein und wende sich insofern nicht überzeugend gegen den Neuprotestantismus, als er mit seinem Aktualismus nicht dessen Grundproblem bekämpfe, welches nach Berkouwer in der die gegebene Offenbarung begrenzenden Funktion der Subjektivität und der neuprotestantischen (sprich: historisch-kritischen, das heißt nur relativen) Schriftauffassung liege. Darum verstärke Barth faktisch die subjektivistische Position des Neuprotestantismus: Es ist einer der tragischsten Momente aus Barths Theologie, dass er die subjektivistische, anthropozentrische neuprotestantische Theologie an einem Punkt angriff, wo der Feind sich mit seinen stärksten Verschanzungen nicht verborgen hatte. Aus solch einer Polemik kann nichts anderes entstehen, als dass die neuprotestantische Theologie auf Dauer (leider!) gestärkt aus dem Kampf hervorgehen wird.52 50 AaO., 157. 51 AaO., 177. 52 AaO., 200.
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Wie sieht nun Berkouwer die Bedeutung von Barths Theologie im sekundären, niederländischen Kontext? Nach seiner Einschätzung könne erstens auf Dauer „die Möglichkeit eines engeren Zusammenhangs“53 zwischen der modernen Theologie (Roessingh, Heering) mit dem Barthianismus nicht „a priori“54 ausgeschlossen werden, es sei denn, die von vielen unterstellte Charakterisierung seiner Theologie als einer neuaufgelegten Orthodoxie“55 erweise sich als „richtig“56. Die aus diversen Strömungen zusammengesetzte und unter anderen von Schleiermacher und Ritschl geprägte ethische Theologie (Kohnstamm, Noordmans, Miskotte) habe zweitens eine unbestimmte Beziehung zu Barth. Da es nicht viele Anknüpfungspunkte gebe, sei a priori nicht zu erwarten, dass von zukünftig engeren Beziehungen gesprochen werden könne. Allerdings zeige sich gerade in letzter Zeit in dieser Richtung ein gesteigertes positives Interesse an Barth (Noordmans, Miskotte); so könne sich gerade wegen Barths Schriftauffassung und des bei ihm durchaus nachweisbaren subjektiven Interesses eine engere Beziehung ergeben – eine Einschätzung mit der Berkouwer Recht behalten sollte. Während Noordmans als Vertreter der ethischen reformierten Theologie Barth vor allem als Vertiefung der ethischen Theologie und Miskotte ihn vor allem als Bundesgenossen im Kampf gegen den Neocalvinismus betrachte, habe ihn drittens Haitjema als Vertreter des konfessionellen reformierten Flügels als Vertiefung der vaterländischen reformierten Theologie gesehen. Indem Haitjema Barth aufgrund von dessen religiöser Erkenntnistheorie vor allem als existentiellen Beziehungstheologen (zwischen Subjektivismus und Objektivismus) schätze, habe er ihn ebenfalls in Opposition zu der seines Erachtens als Zuschauertheologie zu qualifizierenden Theologie des Neocalvinismus ins Feld geführt. Insbesondere Haitjemas methodisches Vorverständnis – gegen das Berkouwer sich mit der These von der Freiheit und Souveränität Gottes als den Leitbegriffen der Theologie Barths gewendet hatte – habe zu der nach Berkouwer falschen Schlussfolgerung geführt, dass eine Synthese zwischen der reformierten Theologie und dem Barthianismus nicht nur wünschenswert, sondern eben auch möglich sei. Haitjema sei jedoch insbesondere da mit Misstrauen zu begegnen, wo er Barths Entwicklung eines Dualismus von Schrift und Wort Gottes als eine Entwicklung in Richtung einer reformatorischen Theologie habe verstehen können. Zu vermuten sei nämlich, dass es sich andersherum verhalte: Nicht Barth habe sich in die Richtung der (konfessionell)-reformierten Orthodoxie, sondern Haitjema in die Richtung von Barths Dualismus entwickelt. Haitjema habe, mit anderen Worten, ein Opfer „auf dem Altar der modern-protestantischen Theologie [darge53 54 55 56
AaO., 225. Ebd. Ebd. Ebd.
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bracht], die von einer vollen Schriftautorität seit vielen Jahren nichts mehr wissen woll[t]e“57. Berkouwers Auseinandersetzung mit der Barth-Rezeption Haitjemas – die als paradigmatisch für das damalige polemische Verhältnis zwischen Gereformierten und Reformierten angesehen werden kann – endet schließlich mit der These, dass diese weichenstellend für die Frage nach Barths Bedeutung in den Niederlanden gewesen sei. Haitjema verbinde seine Sympathie für Barth als einen Erneuerer der reformierten Theologie in den Niederlanden und als Fortsetzer der Linie Bilderdijk-Kohnstamm-Hoedemaker mit einer Antipathie für den Vater der gerefomierten/neocalvinistischen Theologie, Abraham Kuyper. Da jedoch nicht nur Barth, sondern auch Kuyper eine Leidenschaft für das soli Deo gloria gehabt habe, ergebe sich aufgrund der Auslassung von Kuyper in der Reihe Bilderdijk-Kohnstamm-Hoedemaker ein für die Bedeutsamkeit Barths speziell in den Niederlanden entscheidender „Konflikt“58. Haitjema habe offensichtlich bei Barth gefunden, was er bei Kuyper vermisst habe, nämlich einen Theologen des souveränen Wortes Gottes, der tiefer in der Diastase als in der Synthese von Christentum und Kultur stehe. Hinter Haitjemas Sympathie für Barth verberge sich eine bereits länger bestehende Kritik einer – allerdings aus gereformierter Sicht falschen –partikularistischen Interpretation des gereformierten Ausgangspunktes der Souveränität im eigenen Kreise. Wo Haitjema nämlich die Ansicht vertrete, diese Souveränität im eigenen Kreise begrenze die Souveränität des Wortes Gottes und trage zur Verweltlichung des Lebens bei, verhalte es sich in Wirklichkeit umgekehrt. So vertrete Kuyper durchaus den universalen – alle Lebensgebiete betreffenden – Charakter der christlichen Religion. Einen herausfordernden Charakter, geschweige denn eine korrigierende Funktion – so die Gesamtintention von Berkouwers Darstellung – habe die Theologie Barths für die Niederlande und insbesondere für den Neocalvinismus also nicht. Umgekehrt sei allerdings kritisch zu fragen, ob Barth eine Verbindung zwischen dem Leben und dem Willen Gottes kenne, wie sie etwa in der neocalvinistischen Lehre von den Schöpfungsordnungen gegeben sei. Im Gegensatz zu Haitjema vertrete er, Berkouwer, die Meinung, dass der Barthianismus die Souveränität Gottes nicht stärker betone als der Neocalvinismus, sondern dass er sie überhaupt nicht beziehungsweise nicht „wahrhaftig“59 betone. Als vierten und letzten Kontext, in dem die Theologie Barths in den Niederlanden rezipiert werde, nennt Berkouwer die sich als Einheit präsentierende, von den Autoren von De openbaring der verborgenheid vertretene Strömung des Barthianismus in den Niederlanden. Ihrem Selbstverständnis nach hätten die Autoren eine theologia crucis gegenüber der neocalvinistischem theologia gloriae ins Feld führen und den Eindruck erwecken 57 AaO., 258. 58 AaO., 263. 59 AaO., 288.
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wollen, „Zeugnis der Kirche zu sein, die noch Gemeinde unter dem Kreuz“60 sein wolle. Berkouwer hat aus neocalvinistischer Perspektive einen anderen Eindruck: „[F]ür uns ist dieses Buch ein Symptom dafür, wie eine Theologie wie die Barths assimiliert und popularisiert werden kann und wie diese Theologie der Krise zu einer Krise nicht nur für die Theologie wird“61. Was Berkouwer hier als eine über das Theologische im engeren Sinne hinausgehende Krise bezeichnet, nämlich die Krise eines explizit christlichen Politikverständnisses, soll, wie bereits angekündigt, in einem späteren Kapitel eingehender dargestellt werden. Der Triumph der Gnade in der Theologie Karl Barths Als interessant erweist sich nämlich zunächst der Vergleich mit der 1954 publizierten zweiten größeren Barthstudie Berkouwers, De triompf der genade in de theologie van Karl Barth. In dieser Studie fasst Berkouwer in einem ersten Teil die bis dahin erschienenen Bände von Barths Kirchlicher Dogmatik unter dem Stichwort des Triumphes der Gnade zusammen und beurteilt sie nach einem kurzen Intermezzo in einem zweiten Teil zwar nicht länger unfreundlich und schroff, aber inhaltlich wiederum durchaus kritisch und in theologischer Abgrenzung zur eigenen gereformierten Position. Als Berkouwers kritische Leitfrage erweist sich hierbei, „ob dieser Triumph mit dem biblischen Triumph identisch“62 sei? Diese zweite größere Barthstudie Berkouwers wird in der neueren niederländischen Diskussion manchmal als eine positive Kursänderung Berkouwers – der ja zu der Zeit zugleich der wichtigste Exponent der gereformierten Theologie war – in seinem Verhältnis zu Karl Barth gesehen. So betont Dirk van Keulen in seiner Dissertation über Berkouwers (und H. Bavincks) Schriftauffassung63, dass sich Berkouwer zu diesem nicht mehr im Sinne seiner früheren Kritik äußere und dass eine „allmählich[e]“64 Veränderung hin zu einer größeren Akzeptanz stattgefunden habe. Kees van der Kooi65 spricht von einer „sehr viel kongenialeren Interpretation“66 und ungeachtet der weiterhin bestehenden und vor allem der neu hinzukommenden Differenzen von einer „sehr ausgewogenen Wertung und sogar Wertschätzung von Barths Theologie“67. Barth selber äußerte nach vorherigen eher verstimmten 60 61 62 63 64 65 66 67
AaO., 299. Ebd. Berkouwer, Der Triumph, 13. D. van Keulen, Bijbel en dogmatiek. Schriftbeschouwing en schriftgebruik in het dogmatisch werk van A. Kuyper, H. Bavinck en G.C. Berkouwer, Kampen 2003 [Diss.Vrije Universiteit Amsterdam]. AaO., 412. K. van der Kooi, Karl Barth als Katalysator. Die niederländische neocalvinistische BarthRezeption nach 1926 als Funktion kulturtheologischer und offenbarungstheologischer Debatten, ZDT 25, 2009, Nr. 2, 95–117. AaO., 112. AaO., 114.
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Kontakten mit Gereformierten im Allgemeinen in Hinsicht auf Berkouwers neues Buch in einem Brief an den Verfasser68, er sei „wohltuend überrascht durch die grosse Sorgfalt – um nicht zu sagen Liebe“69, mit der Berkouwer versucht habe, ihn positiv zu verstehen. Wichtig sei ihm „zunächst schlicht das Mass des [zwischen Berkouwer und ihm] erreichten Konsensus“70. Die Tragweite des „nicht zu verkennenden Dissensus“71 übersehe er zwar noch nicht, doch sehe er bezüglich Berkouwers Kritik seiner Rede vom Nichtigen nicht ein, „wie man ernsthaft christologisch denkend […] den ganzen Teufelsbereich grundsätzlich anders sehen“72 könne als er es getan habe. Zudem schlage er als alternativen, weniger geschlossenen Titel „Die Freiheit […] Jesu Christi“73 vor. Wie also ist die These von einem positiven Kurswechsel Berkouwers in De triomf der genade in de theologie van Karl Barth zu beurteilen? Eine eingehende Analyse dieser zweiten Barthstudie Berkouwers zeigt, dass der Autor einerseits wichtige Vorwürfe nicht mehr wiederholte und sein Leserinteresse somit verschoben oder implizit korrigiert hatte: An ein verschobenes Leserinteresse ist zum Beispiel hinsichtlich des Vorwurfs des ethischen Desinteresses, der Unmöglichkeit einer christlichen Politik,74 des aktualistischen Offenbarungsbegriffes und der aktualistischen Schriftauffassung zu denken, an ein korrigiertes Leserinteresse hinsichtlich seiner früheren Ablehnung einer dynamischen Interpretation des Bekenntnisses und hinsichtlich seiner These vom heimlichen Anthropozentrismus Barths. Andererseits zeigt eine eingehende Analyse aber auch, dass andere Thesen und Themen in teilweise revidierter – abgeschwächter oder gerade vertiefter und ergänzter – Form durchaus wieder aufgenommen werden. Außerdem ist als neu hinzugekommenes Leserinteresse und als Lesermotivation Berkouwers zudem der direkte Bezug von Barths Theologie zur kirchlichen Verkündigung zu nennen. Thematisch ist hier insbesondere an das Verhältnis von Gesetz und Evangelium75 und an die Sündenthematik zu denken. Revidiert im Sinne einer Abschwächung wird zunächst die frühere Auf68 K. Barth an Gerrit C. Berkouwer, Brief v. 30.12.1954; abgedruckt in: Van Keulen, Bijbel, 643–645. 69 AaO., 643. 70 AaO., 644. 71 Ebd. 72 Ebd. 73 AaO., 645. 74 Da Brinkman sich in De theologie van Barth insbesondere für das Thema Politik interessiert, bespricht er das Buch Berkouwers nicht und kann dementsprechend auch nicht die m.E. weiterhin bestehende starke theologische Kritik Berkouwers an Barth erfassen. 75 Bezüglich des Themas „Evangelium und Gesetz“ als Problem in der kirchlichen Verkündigung verweist Berkouwer zusätzlich auf H. Berkhof, Crisis der middenorthodoxie, Nijkerk 1955. Dem Thema Sünde als Problem der kirchlichen Verkündigung widmet er sich mit der vorliegenden Studie selber.
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fassung, Barth habe nur scheinbar eine Theologie des soli Deo gloria entwickelt. Statt einer scheinbaren handele es sich genauer – und anerkennender – gesagt um eine im Vergleich zur gereformierten Tradition andere Theologie des soli Deo gloria. Barths Theologie, so Berkouwer weiter revidierend, sei bereits von Anfang an eine Theologie des Triumphes der Gnade gewesen. Berkouwer hält also an der früheren Behauptung einer Kontinuität in Barths Theologie fest, sieht diese aber nun nicht mehr in ihrem ethischen Nihilismus und einer theologia crucis gelegen, sondern in der spezifischen engen Kombination einer theologia gloriae mit einer theologia crucis. Revidiert im Sinne von ergänzend verstärkt wird hingegen zum einen die bereits früher geäußerte Ablehnung der – gegenüber der reformatorischen Tradition stark veränderten – Prädestinationslehre Barths und zum anderen der Vorwurf, Barths Theologie stärke faktisch liberale theologische Positionen. Die Konsequenzen der Prädestinationslehre Barths, so Berkouwer, spiegelten sich nämlich in seiner unbiblischen Sündenauffassung beziehungsweise in der Art und Weise, wie Barth das Verhältnis zwischen der (guten) Schöpfung und dem Bösen beschreibe. Dieses Berkouwer interessierende Grundthema wird im zweiten Teil des Buches in mehrfacher Hinsicht vertieft: Bei Barths Sündenauffassung handele es sich um eine „Illustration“76 des Problems seiner Erwählungslehre und ihrer Rede von einer ewigen Selbstunterscheidung Gottes, nach der Gott sich immer von dem unterscheide, was nicht Gott sei. Hier konstruiere Barth einen inakzeptablen Zusammenhang zwischen der Sünde und dem Rat Gottes; das Nichtige lebe bei ihm gerade davon, dass es sei, was Gott nicht wolle. Entsprechend bestimme er auch den Menschen in doppelter Absicht, nämlich zum Zeugen seines Wollens und zum Zeugen seines Nicht-Wollens. Zwar sei es Barth genau wie der (ge)reformierten Tradition unmöglich, die Sünde zu erklären, doch gehe es ihm bei der Rätselhaftigkeit der Sünde nicht um ein noetisches Problem. Vielmehr spreche er – ausgehend von der Apriorität der Gnade Gottes – von einer „,ontologische[n] Unmöglichkeit der Sünde‘“77. Er gehe davon aus, dass der wirkliche – sündige – Mensch gut und seine wahre Humanität unverlierbar sei. Auch wenn Barth erklärtermaßen mit der Rede von der ontologischen Unmöglichkeit der Sünde deren Wirklichkeit keinesfalls leugnen wolle, impliziere sie eine unzulässige „spekulative Durchbrechung des biblischen Zeugnisses“78, da das biblische Zeugnis anstatt spannungsvoll über ihre Möglichkeiten und Unmöglichkeiten über ihre Wirklichkeit spreche. Aufgrund dieser eigentümlichen Spannung könne Barth entsprechend auch keinen Übergang zwischen dem Zorn und der Gnade Gottes als einer historischen Realität denken. Obwohl er eine liberale Position wie die Ritschls ausdrücklich abgelehnt habe, 76 Berkouwer, Der Triumph, 201. 77 AaO., 203. Berkouwer zitiert Barth, KD III/2, 174. 78 Berkouwer, Der Triumph, 213.
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weise Barths Theologie mit ihrer relativierenden Unterordnung des Zorns unter die Gnade Gottes und der Verharmlosung der Sünde des Menschen einen deutlichen „Anknüpfungspunkt“79 zu Ritschls Ablehnung des Zorns auf. Sodann habe Barth in seiner Dämonologie trotz gegenteiliger Intention faktisch die die Dämonologie verwerfende Linie des 19. Jahrhunderts weiter durchgezogen, da er der Dämonologie einen nur verhältnismäßig geringen Stellenwert zumesse. Unter dem Eindruck des Triumphes der Gnade kulminiere seine Dämonologie in einer existentiellen „Kürze des Blickes in diese Wüstenei“80, der einer unbiblischen „theologischen Verbannung“81 gleichkäme. Er ignoriere nämlich, dass das Neue Testament, indem es von einem realen Streit mit ihnen ausgehe, zwar auch nicht länger, aber anders über die Wirklichkeit der Dämonen spreche. Entsprechend der Rede von der Unmöglichkeit der Sünde werde bei Barth auch über das bereits erledigte Nichtige als etwas gesprochen, das am Rande der guten Schöpfung situiert sei. Das Nichtige werde so ganz und gar unbiblisch zu einem „metaphysische[n] Problem von ,Sein‘ und ,Nicht-Sein‘“82. Insgesamt werde deutlich, dass bei Barth die an sich lobenswerte Betonung des Triumphes der Gnade und sein gegenüber der Tradition korrigierter Supralapsarismus nicht zu einer „vollausgeschriebene[n] historische[n] Bedeutung des Bösen“83 führe. Entsprechend lehne er in seiner Versöhnungslehre den Gedanken der Strafe als dogmatischen Hauptbegriff und den Begriff der Satisfaktion als neutestamentlich unmöglich ab. In Wirklichkeit sei Barths Theologie entgegen eigenen früheren Annahmen also nicht so sehr als eine Krisentheologie zu interpretieren, die die Verzweiflung des modernen Lebensgefühls verstärke, sondern in ihr werde dem Triumph von „keiner einzigen empirischen (gemeint ist: sündigen; SH) Wirklichkeit“84 widersprochen. Barths spezifische Relation zwischen der Schöpfung und dem Nichtigen werfe überall ihre Schatten, wie Berkouwers weitere Ausführungen deutlich machen: Schließlich werde nämlich in Barths – nach Berkouwer unreformatorischer und wiederum unbiblischer – Erwählungslehre, die eine eigenartige „Spannung zwischen der universalen Erwählung Gottes und der menschlichen Antwort“85 aufweise, entsprechend der Rede von der ontologischen Unmöglichkeit der Sünde sogar die machtlose Antwort des Unglaubens als ontologisch unmögliche Wirklichkeit integriert und, wie Brunner bereits gezeigt habe, die subjektive Entscheidung zwischen Glauben und Unglauben auf79 80 81 82 83 84 85
AaO., 216. AaO., 358. Ebd. AaO., 224. AaO., 233. AaO., 241. AaO., 242.
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grund von Gottes apriorischer Entscheidung vernachlässigt.86 Entgegen seiner Intention, das in der traditionellen Prädestinationslehre entdeckte Vakuum mittels eines christologischen Fundaments der Erwählung zu eliminieren, habe Barth das Vakuum mit der Rede von der ontologischen Unmöglichkeit der Sünde und des Unglaubens „unwiderlegbar an einer anderen Stelle“87 wieder auftreten lassen. Neben einigen kleineren Punkten88 sei schließlich und endlich zu bemerken, dass Barth den Kampf gegen den Synergismus und die modern-protestantische Theologie nur dann gewinnen könne, wenn er den Triumph der Gnade von der Existenz des nicht-kreatürlichen Nichtigen her derart anders akzentuiere, dass ihr apriorischer Triumph „nicht mehr zu einer Verwischung der Heilsgeschichte“89 führe. Faktisch geht es Berkouwer also insgesamt um die Kritik des apriorischen Charakters des Triumphes der Gnade. Seine These von 1932, dass Barth die Korrelation zwischen Glaube und Unglauben aufhebe, widerrief Berkouwer erst 1974 in einem allgemeinen Rückblick auf 50 Jahre Theologie in den Niederlanden90, wie Martien Brinkman91 bereits herausstellte. Ingesamt würde ich darum im Hinblick auf das 1954 publizierte Buch noch nicht von einer eingreifenden positiven Kursänderung im Verhältnis zu Karl Barths Theologie sprechen, sondern von einer mit diesem Buch sehr vorsichtig einsetzenden Aufweichung der verhärteten Fronten. Ich teile damit Eginhard Meijerings92 zusammenfassende Einschätzung, dass „bei allem Wohlwollen […] dieses Buch doch eine Bestreitung Barths“93 geblieben sei, obwohl es „sehr wohl etwas anderes war als die gereformierte Polemik, die früher – auch von Berkouwer selber – gegen Barth geführt“94 worden war. Dass aber die zunehmend verständnisvollere BarthRezeption Berkouwers ein wichtiger Schritt zu einer Verständigung der beiden reformierten Kirchen und damit der Vorbereitung und Unterstützung des nach dem Krieg eintretenden Samen-op-weg (Zusammen unterwegs; SH)86 Es darf angenommen werden, dass Berkouwer sich darum der Integration des Unglaubens widersetzt, weil in der gereformierten Tradition gerade die Antithese von Glaube und Unglauben eine tragende Rolle spielt. Aus denselben Gründen wendet Berkouwer sich auch gegen die Universalität des Triumphes. Berkouwer benennt dies aber nicht explizit. 87 AaO., 268. 88 So sei fünftens aus biblischen Gründen kritisch darauf hinzuweisen, dass man es in Barths Betonung des „Gott selbst“ in der Versöhnungslehre faktisch mit einem „Theopaschitismus in neuem Gewand“ zu tun habe; vgl. aaO., 279. Aus den gleichen Gründen sei bei Barth sechstens kritisch das Problem der so genannten „,Verewigung‘“ des menschlichen zeitlichen Lebens anzusprechen, das mit dem Gedanken verbunden sei, dass dessen Begrenzung zu der gut geschaffenen menschlichen Natur gehöre; vgl. aaO., 308. 89 AaO., 364. 90 G.C. Berkouwer, Een halve eeuw theologie. Motieven en stromingen van 1920–1974, Kampen 1974, insbes. 67. 91 Brinkman, De theologie, 88. 92 Meijering, Het Nederlands christendom. 93 AaO., 306. 94 Ebd.
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Gerrit J. Heering
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Prozesses und so ein Beitrag zur innerkonfessionellen Ökumene in der sehr gespaltenen protestantischen Welt in den Niederlanden war, die 2004 zu einer Kirchenfusion der Gereformeerde Kerken in Nederland (Gereformierte Kirchen in den Niederlanden), der Nederlandse Hervormde Kerk (Niederländische Reformierte Kirche) und der sehr kleinen lutherischen Kirche in den Niederlanden zur Protestantse Kerk in Nederland (Protestantische Kirche in den Niederlanden/PKN) führte, soll hier ungeachtet meiner vorsichtigen Einschätzung des vollzogenen Kurswechsels als ein großes Verdienst Berkouwers unterstrichen werden.
6.3 Gerrit J. Heering: Der Exponent des liberalen Pols Gerrit Jan Heering war ein älterer Zeitgenosse des 1926 früh verstorbenen liberalen Theologen Karel Hendrikus Roessingh95, und er kann insofern als dessen Nachfolger betrachtet werden, als er an dessen Theologie und rechtsmoderne Ausrichtung anknüpfte, seine wichtigsten theologischen Schriften aber erst nach Roessinghs Tod schrieb. Der niederländische liberale Theologe Eginhard Peter Meijering96 charakterisierte ihn einmal als einen, der gegen die Orthodoxie polemisiere, aber auch das Verbindende mit ihr suche. Dieses doppelte Verhältnis im Umgang mit Andersdenkenden kann man meines Erachtens auch bei seinem Umgang mit der Theologie Karl Barths beobachten, die er während seiner gesamten Schaffensperiode immer wieder teils zustimmend zitierte, teils ablehnend kritisierte. Inhaltlich gesehen fiel der Schwerpunkt seiner Beschäftigung mit Barth – abgesehen von seiner Auseinandersetzung mit Barths Haltung zum Pazifismus97 – in den Zeitraum zwischen 1935 und 1945. Hierbei verfolgte Heering im Gegensatz zu seinem orthodoxen Gegenpol Berkouwer nicht so sehr den Anspruch, Barths gesamte bis dahin erschienenen theologischen Werke unter einem bestimmten Nenner darzustellen und zu beurteilen, sondern deutlicher bestimmte Themen auszuwählen und sie im Zusammenhang mit den jeweiligen eigenen Ausführungen zu besprechen. So bezog Heering sich in seinem dogmatischen Hauptwerk Geloof en openbaring in den 30er Jahren auf die zweite Auflage von Barths Römerbrief, auf die Aufsätze „Das Wort Gottes und die Theologie“ und „Das Problem der Ethik in der gegenwart“, auf Die christliche Dogmatik und auf die Kirchliche Dogmatik I/1, auf Barths Grundfragen und insbesondere auch auf die aus Anlass der von Barth in Utrecht gegebenen Seminare er95 Vgl. Kap. 2.6 dieser Studie. 96 E.P. Meijering, Een eeuw denken over christelijk geloven. Van Roessingh via Schilder tot Kuitert, Kampen 1999, 31. 97 Vgl. folgende Anmerkung.
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schienene Broschüre Credo.98 Die von Heering ausgewählten Themen und mithin sein Leserinteresse möchte ich im Folgenden anders als bei Berkouwer nicht chronologisch, sondern anhand von vier Themenkomplexen besprechen, nämlich erstens anhand der Verortung der Bedeutung Barths innerhalb des Kontextes des rechtsmodernen Protestes gegen die moderne Theologie, zweitens anhand der Auseinandersetzung mit Barths theologischer Exegese, drittens anhand der Bedeutung Barths im Zusammenhang mit der Zurückweisung theologischer Spekulationen und viertens anhand der Auseinandersetzung mit Barths Thesen zur Verhältnisbestimmung zwischen Glaube und Offenbarung:99 Verortung innerhalb des Kontextes der rechtsmodernen Theologie Während Roessingh die Bedeutung Karl Barths als Exponent der neuen theologischen Strömung der dialektischen Theologie innerhalb der liberalen Selbstkritik situierte, liegt eine entsprechende Lesermotivation im Werk Heerings nicht vor. Theoretisch mögliche Anknüpfungspunkte – etwa das Interesse am Thema der Sünde als Kritik der modernen Theologie, der christozentrische theologische Ansatz, die Betonung der Selbstoffenbarung Gottes und die Priorität der Offenbarung gegenüber dem menschlichen Glauben – dienen bei Heering gerade nicht einer positiven Bezugnahme. Zum Thema der Sünde stellt Heering in seinem dogmatischen Hauptwerk Glaube und Offenbarung sogar explizit fest: „Man braucht uns, die wir Rechtsmoderne genannt werden, nicht auf die dunklen Seiten des Menschen hinzuweisen. Wir hatten anders als Barth keinen Weltkrieg nötig, um dahinter zu kommen, dass ,die Tiefen Satans‘ im Menschen und in der Menschheit groß sind“100. Im Folgenden wird deutlich werden, dass Heering Barth weniger als Vertreter einer neuen theologischen Richtung mit kultur- beziehungsweise modernitätskritischen Implikationen betrachtete, sondern als einen inzwischen auch für die Niederlande bedeutsamen zeitgenössischen Theologen, dessen Positionen man nicht mehr unbeachtet lassen konnte.
98 Hinzu kommt in der erst 1950 publizierten dritten Auflage von Glaube und Offenbarung, die ich hier zitiere, eine Auseinandersetzung mit KD I/2 (§ 19), KD II/2 und KD III/2. Gelegentlich bezieht er sich auch auf (Vorpublikationen von) Barths Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert. In seinem 1945 erschienenen Buch Die christliche Gottesvorstellung verweist Heering insbesondere auf Barths Lehre von der Trinität (Barth, KD I/1, insbes. §§ 8 und 9). Nach dem Krieg behandelt er Barths in KD III/4 dargelegte Haltung zum Pazifismus in einer 1951 erschienenen Schrift Karl Barth über das Problem des Krieges. In seinem 1955 erschienenen, auch auf Deutsch publizierten Buch Die menschliche Seele. Ihr Wesen und ihre Bestimmung bezieht er sich – was Barth betrifft – wiederum auf die zweite Auflage des Römerbriefs, auf Barths Schrift Die Auferstehung der Toten, auf KD I/1 und KD III/2. 99 Einen fünften Punkt, Heerings Auseinandersetzung mit Barths Haltung zum Pazifismus, werde ich an anderer Stelle darstellen. 100 G.J. Heering, Geloof en openbaring, Arnhem 31950 (11935–1937), 340.
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Gerrit J. Heering
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Theologische Exegese/Schriftauffassung Als ein großes Verdienst Barths hebt Heering unmissverständlich dessen Kritik am biblizistischen Schriftverständnis der Orthodoxie hervor, da es ein „,reines‘ Evangelium“101 nicht gebe. Gerade in der Frage der Irrtumsfähigkeit der biblischen Schriften, und zwar nicht nur hinsichtlich der „Daten und Fakten“102 sondern auch hinsichtlich der „Wiedergabe der Offenbarung“103, fühle er sich dem Anliegen Barths verbunden, der in der Kirchliche[n] Dogmatik I/2 darauf hingewiesen habe, dass sich die „Anfechtbarkeit bzw. Irrtumsfähigkeit der Bibel […] auch auf ihren religiösen bzw. theologischen Gehalt erstreck[e]“104. Doch ist er gleichzeitig der Meinung, dass Barth aus seiner Kritik der Orthodoxie beziehungsweise des biblizistischen Schriftverständnisses nicht immer die richtigen Schlussfolgerungen gezogen habe. Während Heering sich klar dafür ausspricht, die biblischen Schriften des Alten und des Neuen Testaments als „menschliche Wiedergabe der Tradition“105 zu betrachten, die ihrerseits wiederum auch als „menschliche Wiedergabe“106 zu betrachten sei, auch hinsichtlich der „Wiedergabe der Offenbarung“107, unterstellt er Barth, die Ergebnisse der historisch-kritischen Bibelforschung eben doch nicht voll und ganz zu akzeptieren. Heering verdeutlicht dies anhand der Verhältnisbestimmung zwischen Evangelium und (historischer) Geschichte, die zunächst auf das Verhältnis zwischen dem historischen Jesus und Christus zuläuft, wobei er Letzteren als das „,Gesamtbild‘“108 betrachtet, welches im Neuen Testament von Jesus konzipiert wird. Während die biblizistische Orthodoxie nun den historischen Jesus mit dem Gesamtbild Christus identifiziere, seien seines Erachtens beide Größen keinesfalls deckungsgleich. Vielmehr sei das Gesamtbild Christus der Ausgangspunkt für den Glauben, in welchem der historische Jesus im Hegelschen Sinne des Wortes aufgehoben sei. In diesem Sinn sei dann auch von Jesus Christus als der Offenbarung Gottes zu sprechen. Während der Identifizierungsversuch der Orthodoxie als „naiv“109 zu qualifizieren und die damit verbundene exegetische Methode abzulehnen sei,könne man die von Barth entwickelte theologische Exegese zwar explizit als „nicht naiv“110 qualifizieren, sie aber dennoch ablehnen. Als Stein des Anstoßes erweist sich Barths Geschichtsauffassung. Barth erkenne zwar grundlegend die Ergebnisse historisch-kritischer Bibelforschung an und betrachte die Analyse auch der im 101 102 103 104 105 106 107 108 109 110
AaO., 200. AaO., 201. Ebd. Heering zitiert hier Barth, KD I/2, §19.2 (Die Schrift als Wort Gottes), 565. Heering, Geloof en openbaring, 201. Ebd. Ebd. AaO., 213. AaO., 214. Ebd.
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Neuen Testament beschriebenen Geschichte im Sinne der historischen Geschichte als eine Aufgabe für Geschichtswissenschaftler ; Barth erkenne außerdem mehr noch als Heering an, dass sich aufgrund der historisch-kritischen Rekonstruktion der Geschichte viele, wenn nicht die meisten Glaubenswahrheiten als historisch nicht haltbar erwiesen; zudem könne man Barth nur darin zustimmen, dass man „das Haus seines Glaubens“111 nicht auf den Resultaten historisch-kritischer Bibelforschung bauen könne, wie man es nach Heering in der Vergangenheit auch in liberalen Kreisen getan habe, was im Rückblick als „sehr naiv“112 zu bezeichnen sei; Barth sei diesbezüglich also weder im orthodoxen noch im liberalen Sinne als naiv zu bezeichnen, doch begehe er einen unverzeihlichen Fehler, wenn er mit Hilfe einer alternativen Geschichtsauffassung an sich unhistorische Ereignisse dann doch als „historische Gewissheiten“113 betrachte. Ein Beispiel dafür sei das Konzept der Urgeschichte in der Christlichen Dogmatik114, eine nach Barth ursprüngliche, ganz eigene Form der Geschichte, die als mit dem Glauben identische Geschichte die irdische (historische) Geschichte durchkreuze. Bestimmte Glaubenswahrheiten, so Heering, beispielsweise der Glauben an die Offenbarung Gottes, erhielten auf diese Weise doch wieder den Status historisch abgesicherter Tatsachen. Eine vergleichbare Vorgehensweise liege auch in der ethischen theologischen Richtung der niederländischen Theologie vor, die ebenfalls als „irreführend“115 abzulehnen sei. Selber nehme er im Gegensatz zu Barth nicht an, „dass nur die allerradikalste historische Kritik haltbar“116 sei, und er baue seinen Glauben auch nicht auf den Resultaten der historischen Kritik auf. Dass Barth den von ihm behaupteten Unterschied zwischen historischer und unhistorischer Geschichte nicht wirklich anerkenne, mache auch die Rolle deutlich, die die historisch-kritische Bibelforschung bei ihm spiele. Deren Recht erkenne Barth nur scheinbar an, da er die von dieser Methode kritisch bestrittenen Tatsachen weiterhin als Tatsachen gelten lasse. In Wirklichkeit „jonglier[e]“117 Barth mit der historisch-kritischen Methode und „zauber[e]“118 sie „weg“119. Zwar behaupte er, dass es ihm um eine andere Geschichtlichkeit als die historische gehe, doch sei es, so Heering, eben ein
111 112 113 114 115 116 117 118 119
AaO., 215. Ebd. Ebd. Heering gibt aaO., 215, Anm. 1 und 2 an, er beziehe sich auf K. Barth, Christliche Dogmatik 1; vgl. dort insb. § 15.1 (Geschichte und Urgeschichte). Heering, Geloof en openbaring, 217. Ebd. AaO., 218. Ebd. Ebd.
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Zirkelschluss, wenn erst „der Glaube die Tatsache begründe […] und dann die Tatsache den Glauben“120. Als Beweis für die Richtigkeit seiner Kritik weist Heering insbesondere auf die von Barth anlässlich seiner 1935 gegebenen Seminare an der Universität von Utrecht beantworteten Grundfragen121, genauer gesagt auf die im fünften Kapitel behandelte Grundfrage über das Verhältnis von „Exegese und Geschichtswissenschaft“122 hin. Dort antwortete Barth auf die ihm gestellte Frage, „ob die Schlange im Paradies ,wirklich‘ gesprochen habe?“123 – ein Thema, dass in den Niederlanden wegen der vor und auf der Synode von Assen geschehenen Ereignisse von besonders starkem Interesse war und auf das sich auch schon Heerings orthodoxer Gegenpol Berkouwer bezogen hatte. Barth – so macht ein Blick in den betreffenden Text deutlich – weigerte sich, eine Antwort im Sinne der Alternative der historischen Bibelforschung zu geben, nämlich das Sprechen der Schlange entweder als historisches Faktum oder als (geschichts- und geschehenslosen) Mythos zu deuten. Hingegen schlug er als andere Betrachtungsweise die Methode der theologischen Exegese vor, das heißt den biblischen Text als solchen anzuerkennen – „sich daran zu halten, dass das nun einmal ,geschrieben steht‘“124– und ihn hinsichtlich der in ihm gemeinten theologischen Sache auszulegen – „sich für das zu interessieren, was die Schlange gesprochen hat“125. Ich erlaube mir im Folgenden einen kurzen Einwand, denn meines Erachtens zauberte Barth die historisch-kritische Bibelforschung keinesfalls weg, wie Heering ihm vorwirft. Vielmehr nahm Barth bestimmte Ergebnisse dieser Forschung in seine theologische Exegese auf, wobei als Kriterium galt, dass sie beim Verständnis des biblischen Textes behilflich sind: Die Bibel ist ja auch ein ein document humain. Das ist nicht zu leugnen und auch die daraus sich ergebenen Konsequenzen sind keineswegs einfach zu beklagen. Warum sollte die geschichtswissenschaftliche Methode nicht auch zur Erforschung und Auslegung der Texte der Schrift ihre ganz bestimmten Dienste leisten können? Auch die theologische Exegese kann von ihr ganz bestimmte Dinge lernen.126
Barth benannte diese Dienste auch: Zwar lehnte er bezüglich der Frage nach dem Sprechen der Schlange den von der kritischen Bibelforschung verwendeten Begriff des Mythos zur Bezeichnung des theologisch interessanten Ereignisses einer sprechenden Schlange ab, die von derselben Forschung verwendeten Begriffe „Sage“ oder „Legende“ erschienen ihm aber sehr wohl als relevant für ein besseres Textverständnis. Diesen beiden Begriffen liege 120 121 122 123 124 125 126
Ebd. K. Barth, Grundfragen. Beantwortet von Prof. Dr. Karl Barth, Nijkerk 1935. AaO., 26–30. AaO., 30. Ebd. Ebd. AaO., 27.
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nämlich im Gegensatz zu dem des Mythos die Idee zugrunde, dass hier von einem „Geschehen“127 berichtet werde, „das als menschliches Geschehen problematisch“128 sei. Das eigentlich trennende Thema zwischen Heering und Barth war darum meines Erachtens nicht so sehr die Akzeptanz der historischen Bibelkritik, sondern abgesehen vom Maß der Akzeptanz vielmehr der Wahrheitsbegriff. Während Barth den Wahrheitsbegriff der historischen Bibelforschung als „eingeschränkt […]“129 betrachtete, da er die „Vorstellung eines in der Geschichte handelnden Gottes und in der Geschichte sich bezeugenden Gottes“130 nicht denken kann, betrachtete Heering diesen breiter gefassten – theologischen – Wahrheitsbegriff als einen (nicht nachvollziehbaren) „Sprung“131, bei dem mithilfe von Glaubensansichten historische „Fakten“132 geschaffen werden sollen. Es gibt mit anderen Worten nach Heering keinen dritten Weg zwischen oder jenseits der Alternative von historischer Bibelforschung und biblizistischer Theologie. Bemerkenswerterweise fühlt sich Heering im Zweifelsfalle letztendlich vertrauter mit der biblizistischen Theologie, wie sie auf der Synode zu Assen vertreten worden war, als mit Barths theologischer Exegese. Auf der Synode zu Assen sei zumindest noch anerkannt worden, dass ein nicht auf historischen Tatsachen begründeter Glauben „auf wackligen Füssen“133 stehe. Als zweiten Beweis für seine These, dass Barth die historische Bibelkritik wegzaubere, flicht Heering in seinen Argumentationszusammenhang Barths Umgang mit der Jungfrauengeburt ein, die Barth allerdings nicht erst in der fünften, sondern bereits in der zweiten Frage der Grundfragen behandelt hatte. Hier liege ein vergleichbarer Zirkelschluss vor: Die Jungfrauengeburt werde bei Barth insofern doch als eine (historische) Tatsache betrachtet, als Barth den biblischen Text als solchen zum Ausgangpunkt nehme und ihn gemäß seiner theologisch-exegetischen Methode als Dokument eines „Geschehen[s], aber eben [eines] Geschehen[s] der groszen Taten Gottes“134 betrachte. Anhand der Behandlung der von Heering nicht zitierten zweiten, nach dem Verhältnis zwischen Dogmatik und Exegese fragenden Grundfrage, machte Barth selber noch einmal seinen Standpunkt zur Jungfrauengeburt deutlich: Anders als Heering unterstellt, ging es Barth nicht um eine kritiklose Übernahme des Glaubens an die Jungfrauengeburt, sondern um eine theologische Erklärung derselben. Die Jungfrauengeburt sei, so Barth, als ein „Zeichen“ zu betrachten, mit dem adäquat die „Sache“ zum Ausdruck gebracht werden soll, 127 128 129 130 131 132 133 134
AaO., 28. Ebd. AaO., 27. Ebd. Heering, Geloof en openbaring, 217. Ebd. AaO., 219. Barth, Grundfragen, 29.
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um die es in der Weihnachtsgeschichte gehe, nämlich das Wunder der Menschwerdung Gottes: Gewisz ist die Jungfrauengeburt mit merkwürdigen Fragezeichen umgeben und darum in der Dogmatik entsprechend zu behandeln. Ich hoffe, Sie haben von meiner Vorlesung nicht nur in Erinnerung, dasz ich mich hier positiv stellte, sondern auch, wie und in welchem Verhältnis (res und signum!) ich dies getan habe.135
Barth betrachtete die Jungfrauengeburt also sehr nachdrücklich gerade nicht als historisches „Faktum“ und auch nicht als „Sache“ im Sinne seiner theologischen Exegese, sondern eben lediglich als ein zu dieser „Sache“ dazugehöriges „Zeichen“. Betrachte ich Heerings Auseinandersetzung mit Barths theologischer Schriftauslegung im Ganzen, so erhalte ich den Eindruck, dass der Kern des Problems nicht so sehr Barths (wohl nicht ganz begriffene) Geschichtsauffassung war und auch nicht so sehr das (nicht ausreichend begriffene) Maß, in dem Barth die Ergebnisse der historischen Bibelforschung aufheben wollte. Vielmehr denke ich, dass Heering im Kern nicht mit der spezifischen Art dieser Aufhebung einverstanden war. Wo Heering sich am Ideal eines unproblematischen Nebeneinanders (Verhältnis zwischen historischem Wissen und Glauben) und Aufgehoben-Seins (historischer Jesus) der Ergebnisse der historisch-kritischen Forschung und den davon letztlich unabhängigen Glauben orientierte, welcher für ihn aufgrund von Berichten wie dem von der sprechenden Schlange oder der Jungfrauengeburt dann allerdings problematisch werden konnte, unterstellte er an dieser Stelle Barth meines Erachtens zurecht einen „Sprung“, bei dem der Glauben an unhistorische Ereignisse tatsächlich auf im Sinne der Geschichtswissenschaft wackligen Füßen stand. Wähend Barth die Ergebnisse der historischen Bibelforschung im Sinne einer unaufhebbaren Differenz neben den (historisch) nicht gesicherten Glaubenswahrheiten stehen ließ und beide im Sinne eines Dienstverhältnisses gegenüber dem Text als solchem aufheben wollte, unterschied Heering zwischen historischen Fakten einerseits und Glaubenswahrheiten andererseits. Der von Heering bei Barth diagnostizierte Sprung vollzieht sich also nicht so sehr zwischen den historischen Fakten und den Glaubenswahrheiten, sondern zwischen den historischen Fakten und dem Text als solchem, dem wohlgemerkt nicht immer Historizität im engeren Sinne des Wortes unterstellt wurde. In diesem Sinn dachte Barth tatsächlich gewagter im Sinne von textbezogener als der an der Alternative von (biblizistischer) Orthodoxie und (historisch-kritischer) Liberalität orientierte und darin gefangene Heering. Heerings meines Erachtens zu Unrecht dem Wortfeld des Zirkus’ entnommene Wortwahl (jonglieren, zaubern) zur Charakterisierung von Barths Umgangsweise mit der historisch-kritischen Bibelforschung mag sich dadurch erklären, dass Barth seinerseits in einer von Heering allerdings nicht 135 AaO., 16.
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zitierten Passage seiner Grundfragen in Hinblick auf die liberale Theologie von einem „Zauber“136 sprach, bei dem die Orthodoxie als „Vogelscheuche“137 und „Kinderschreck“138 instrumentalisiert worden sei, um möglicherweise von den eigenen liberalen Dogmen abzulenken: Je mehr man zuhört und sich freimacht von dem Wahn, die Welt beginne mit der eigenen Person, um so mehr wird man entdecken, dasz jene Väter Einiges wuszten und dasz die verpönten ,Orthodoxen‘ etwa des 17. Jahrhunderts Theologen von Format waren. Und es kann einem sogar geschehen, dasz einem die moderne theologische Literatur daneben ein wenig schal und ein wenig langweilig wird. Sie müssen das Experiment selber machen. Ich bin auch einmal liberal gewesen und kenne den Zauber!139
Zurückweisung theologischer Spekulationen Barth spielt für Heering auch insbesondere dann eine Rolle, wenn es um die Ablehnung theologischer Spekulationen geht – ein bei Remonstranten häufig vorkommendes Anliegen, wie der remonstrantische Theologe Meijering140 betont. Heerings Kritik bezieht sich insbesondere auf die Annahme ewiger göttlicher Dekrete, die so genannte Wesenstrinität und die Zweinaturenlehre. Seine diesbezügliche Barth-Rezeption bezieht sich allerdings nur auf die göttlichen Dekrete und die Wesenstrinität. In Glaube und Offenbarung setzt Heering sich zunächst von denjenigen Liberalen ab, nach deren Meinung die Dogmatik überflüssig geworden sei. In diesem Zusammenhang kann er Barths Einsichten aus der Kirchlichen Dogmatik I/1 (Die Lehre vom Wort Gottes) oft positiv einordnen. So teilt er grundsätzlich Barths Gedanken zur Eigenständigkeit der Theologie beziehungsweise der Dogmatik als Wissenschaft und lobt ihn ausdrücklich dafür, die Rolle der Dogmatik als „,[…] Krone der Theologie‘“141 wiederhergestellt zu haben. Mit Barth ist Heering auch der Meinung, die sachlichen Hauptfragen der Dogmatik konzentrierten sich auf die Pole Glaube und Offenbarung. Heering hätte es begrüßt, wenn Barth den Symbolcharakter142 des Wortes Gottes etwas offener herausgearbeitet hätte; damit meint Heering die Einsicht, dass es beim Wort Gottes um ein kollektiv angenommenes Bild der Wirklichkeit gehe. Weiterhin stimmt Heering Barths Ausführungen in der Kirchlichen Dogmatik I/1 darin zu, dass Dogmatik nur als „,Glaubensakt‘“143 möglich sei und dass es auf die Übereinstimmung der zu verkündigenden Wahrheit mit der Predigt ankomme. 136 137 138 139 140 141 142 143
AaO., 20. Ebd. AaO., 19. AaO., 20. Vgl. Meijering, Een eeuw denken, 31f. Heering, Geloof en openbaring, 61. AaO., 62–64. AaO., 41ff; Heering bezieht sich auf Barth, KD I/1, § 1.3.
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Gerrit J. Heering
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Kritisch sieht Heering allerdings Barths Versuch, „,das Dogma‘ als ,Inbegriff aller Dogmen‘“144 zu verstehen und es dann mit der in der Predigt zum Ausdruck gebrachten Wahrheit des Wortes Gottes gleichzustellen. Dies sei Barth möglich, weil er die gesamte Dogmengeschichte, die dem Begriff des Dogmas ja die Bedeutung eines unfehlbaren Lehrsatzes zuerkannte, als Fehlentwicklung betrachte und als Alternative zum Begriff des Dogmas den (neutestamentlichen) Begriff des Dekrets oder den Begriff des Befehls vorgeschlagen habe.Heering lehnt einen derartigen Vorschlag im Interesse eines undogmatischen Christentums ab. Besser sei es, einerseits die Bedeutung des Wortes Dogma als unfehlbaren Lehrsatz zu akzeptieren und andererseits zu betonen, dass es im Protestantismus keine Dogmen, sondern lediglich Glaubenswahrheiten gebe. In der 1945 erschienenen Studie De christelijke Godsidee145 tritt Heerings Ablehnung theologischer Spekulationen im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit Karl Barth wohl am deutlichsten hervor. Im Zusammenhang mit seiner Besprechung der Gefährdung der Einheit und Einzigartigkeit Gottes durch die christliche Trinitätslehre setzt Heering sich ausführlich mit §§ 8 und 9 der Kirchlichen Dogmatik I/1 auseinander. Barth gehöre zu den zeitgenössischen Theologen, die in wenn auch eingeschränkter Weise eine Wesenstrinität verteidigten und damit zur Schwächung des für Heering so wichtigen Gedankens der Einheit und Einzigartigkeit Gottes beitrügen. Barth sei darin beizupflichten, dass die Lehre von der Dreieinigkeit nicht biblisch, sondern ein Resultat kirchlicher Exegese sei. Enttäuschend und ein Zeugnis „von den schwächsten Seiten“146 Barths sei es allerdings, dass er die Angemessenheit der kirchlichen Exegese in dieser Frage verteidige, indem er eine alternative, biblisch inspirierte Interpretation vorschlage. Der „eigentliche Grund“147 für Barths Überzeugung seien aber nicht die biblischen Wurzeln, sondern der Wunsch, an der Tradition beziehungsweise den kirchlichen Lehraussagen festhalten zu wollen. Wolle man wie Barth die Gefahr eines Tritheismus vermeiden, sei es wesentlich „sicherer“148, sich auf die – von Barth ja auch anerkannte – Offenbarungstrinität zu beschränken. Barths etwas „krampfhaftes“149 Festhalten an der Lehre der Kirche beschädige sowohl die „Majestät des einzigen Gottes als auch [die] Farbenvielfalt seines Schöpfungs- und Erlösungswerkes“150.
144 145 146 147 148 149 150
Heering, Geloof en openbaring, 38. Heering bezieht sich auf Barth, KD I/1, 283. G.J. Heering, De christelijke godsidee, Arnhem 1945. AaO., 110. Ebd. AaO., 111. AaO., 112. Ebd.
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Zur Verhältnisbestimmung von Glaube und Offenbarung Immer wieder kritisiert Heering in Geloof en openbaring Barths negative, kritische Haltung gegenüber der Kultur. Er selbst spricht sich für ein positives Verhältnis sowohl zwischen Dogmatik und Kultur als auch zwischen Theologie und Philosophie aus und äußert sich auch immer wieder positiv über die Aufnahme psychologischer Erkenntnisse. Bezüglich der Verhältnisbestimmung zwischen dem sich selbst offenbarenden Gott und dem menschlichen Glauben151 teilt er zwar mit Barth den Widerspruch zwischen beiden Polen, sucht aber im Gegensatz zu diesem auch nach einer positiven Beziehung. Barth habe mit seiner Lehre vom Glauben als der subjektiven Möglichkeit der Offenbarung den bereits bei den Reformatoren angelegten doketischen Charakter des menschlichen Glaubens auf eine inakzeptable Weise „systematisiert und verhärtet“152. Barths negatives Menschenbild, so Heering in seinen Überlegungen zur imago dei153, sei aus rechtsmoderner Sicht zwar begreiflich, doch teile er selber es nicht. Anders als Barth unterstelle er eine latente, vom Heiligen Geist aktualisierbare menschliche Empfänglichkeit für die Offenbarung: keine menschliche „Anlage zum Glauben“154, sondern eine „religiöse Anlage“155 im Sinne einer menschlichen „Empfänglichkeit für den Glauben“156. Ein optimistischer Humanismus sei insofern zurückzuweisen. Sehr ausführlich bespricht Heering Barths Umformulierung der Lehre von der doppelten Prädestination in der Kirchliche[n] Dogmatik II/2. Als beeindruckend erweise sich die Betonung der allmächtigen Liebe und Gnade Gottes. Trotzdem verwechsle Barth Prädestination und Erwählung. Man habe sich außerdem an die historische Form der Prädestination anzupassen, wenn man diese Lehre wirklich weiterhin gebrauchen wolle. Barth hätte die Lehre von der doppelten Prädestination lieber ganz fallen lassen sollen, statt sie radikal umzuformulieren. Brunners diesbezüglicher Kritik an Barth sei insofern zuzustimmen, als Barth sowohl den Glauben als auch die reale Möglichkeit des Verlorengehens abstreite. Außerdem drohten Barths Ausführungen da „irreal“157 zu werden, wo der allmächtige, rettende Willen Gottes stark mit dem elenden Zustand des Menschen kontrastiert werde. Um die Gnade Gottes aufzuzeigen, sei eine stärker eschatologisch ausgerichtete Haltung angebracht. Ein letzter wichtiger Einwand gegen Barths Prädestinationslehre bestehe darin, dass sie den grundlegenden Gedanken des deus absconditus und das,
151 152 153 154 155 156 157
Vgl. aaO. 334–392 (Kap. VI: Der Glaube an Gott und der Glaube an den Menschen). AaO., 312. A.a.O, 340ff. A.a.O, 345. Ebd. Ebd. AaO., 374.
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Gerrit J. Heering
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was Rudolph Otto das mysterium158 genannt habe, nicht aufgenommen habe. Ebenso wie Brunner verbinde Barth zu vorschnell den Gedanken des deus absconditus mit dem Gedanken des deus revelatus – nach Heering ein Zeichen dafür, dass er sich „auf der Linie der lutherischen Theologie“159 zu bewegen und „den Weg der reformierten Theologie aus den Augen [zu verlieren]“160drohe. Der Remonstrant Heering ordnet – wie vor ihm auch Noordmans – Barths Erneuerungsversuche im Kontext der reformierten Niederlande also als tendenziell lutherisch ein und verteidigt gegenüber Barth die an sich abgelehnte calvinistische Tradition, was er selber als „eigenartig“ bezeichnet: Es ist vielleicht etwas eigenartig, dass ein Remonstrant, der Calvins Prädestinationslehre ebenso prinzipiell verwirft wie seine remonstrantischen Väter, sie gegen eine Theologie in Schutz nimmt, die – trotz ihrer reformierten Sympathien – eher lutherisch als calvinistisch orientiert ist.161
Zu erklären sei diese Eigenartigkeit aber mit einer auch remonstrantischen Sensibilität für den dunklen Unterton in Gottes Wesen. Zu kritisieren sei der Calvinismus nur deswegen, weil er die hellen Seiten Gottes nicht überwiegen lasse. Insgesamt sei Barths Plädoyer für die alles überstrahlende Liebe Gottes also dankbar zuzustimmen, und seine Theologie verdiene das Prädikat „wohltuend“162 gegenüber der „,gewalttätige[n] Theologie‘“163 der klassischen Prädestinationslehre. Dankbar habe man auch für Barths Wertschätzung der in der Betonung der Theonomie implizierten menschlichen Autonomie zu sein. Kritisch anzumerken sei lediglich Barths geringes Interesse an der menschlichen Psyche und an dem Glauben als geistigem Akt. Das werfe die Frage auf, ob es sich bei der von Barth angeführten Lösung des Widerspruchs zwischen Theonomie und menschlicher Autonomie nur um eine „Scheinlösung“164 handele. Vergleichbar positiv und kritisch zugleich ist Heerings Rezeption der theologischen Anthropologie Barths in der Kirchliche[n] Dogmatik III/2165. Darin betont er, dass man vor allem wegen des positiven Menschenbildes und Barths nochmaliger Entfernung von der dogmatischen Tradition dankbar zu sein habe. Zu kritisieren sei aber, dass Barth den Menschen nicht als ein „gespaltenes“166 Wesen sehe, das eine „doppelte“167 Natur habe, nämlich die 158 Vgl. R. Otto, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, Breslau 1917. 159 Heering, De christelijke, 375. 160 Ebd. 161 AaO., 378. 162 AaO., 381. 163 Ebd. 164 AaO., 383. 165 AaO., 384–392. 166 AaO., 389.
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Die Konsolidierung der Polarisierung
von Gott gut geschaffene und die von der Sünde verdorbene Natur. Mit seinem „,theologischen‘ Konstrukt“168 der menschlichen Natur mache sich nicht nur wieder Barths mangelndes Interesse für psychologische Fragen bemerkbar, sondern auch ein mangelndes Bewusstsein für die empirische Wirklichkeit des Menschen. Barths positives Menschenbild schwäche zudem die Bedeutung der Erlösung, da der Abstand zwischen dem noch nicht wiedergeborenen und dem wiedergeborenen Menschen zu sehr heruntergespielt werde. Auch gerate Barth da in einen „inneren Widerspruch“169, wo er die früher von ihm verteidigte menschliche Ohnmacht weiterhin behaupte.
6.4 Berkouwer und Heering: vergleichende Zusammenfassung Vergleicht man das jeweilige Leserinteresse Berkouwers und Heerings, ergibt sich eine überraschend große Schnittmenge: Beide rezipierten erstens ausführlich Barths Schriftverständnis. Wurde es von Berkouwer im Zusammenhang mit dem Vorwurf eines aktualistischen Offenbarungsverständnisses abgelehnt, so unterstützte Heering Barths Kritik des bibilizistischen Schriftverständnisses der Orthodoxie, wollte diese aber in Richtung auf eine konsequentere Akzeptanz der historisch-kritischen Methode noch verstärken. Zweitens hoben sowohl Berkouwer als auch Heering gegenüber Barth die Bedeutung der menschlichen Handlungsfähigkeit hervor. Während Berkouwer in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts vor allem die Gefährdung der Möglichkeit einer christlichen Politik und der Ethik bei Barth kritisierte und in den 50er Jahren Barths positive Integration des Unglaubens ablehnte, vermisste Heering bei Barth eine stärkere und deutlichere Betonung des subjektiven Glaubens und der menschlichen Autonomie im Verhältnis zur Theonomie. Drittens wiesen beide Barths Gebrauch philosophischer Begriffe beziehungsweise spekulativer Theologie ab und setzten sich kritisch ganz allgemein mit Barths erneuernder Umgangsweise mit der kirchlichen Lehrtradition auseinander. Wo Berkouwer Barth allerdings am Erbe der reformatorischen Theologie und der reformierten Bekenntnisschriften maß, da maß Heering Barth vorzugsweise am Ideal einer dogmen-kritischen liberalen christlichen Tradition. Viertens bezogen beide sich recht ausführlich auf Barths Neuformulierung der klassischen Prädestinationslehre. Während Berkouwer Barths Innovation ablehnte und in ihr die Grundlage für weitere abzulehnende theologische Entwicklungen bei Barth sah, fand sich bei Heering eine vorwiegend positive Wertschätzung. Fünftens kritisierten beide Barths Vernachlässigung der Sünde und des Bösen, wobei diese Kritik bei 167 Ebd. 168 AaO., 391. 169 Ebd.
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Berkouwer und Heering
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Berkouwer ungleich stärker und umfangreicher geriet als bei Heering. Schließlich hoben beide sechstens hervor, dass Barth die Verborgenheit Gottes zu stark betone – ein Thema, das die sich profilierenden niederländischen Barthianer gerade als Losung ihrer Bemühungen erwählt hatten, wie bereits der Titel ihrer im nächsten Kapitel zu besprechenden Studie De openbaring der verborgenheid deutlich macht. Betrachtet man die Lesermotivation von Berkouwer und Heering, so geht es beiden um das richtige Textverständnis und den Versuch, zu einem eigenen Standpunkt gegenüber Barths Theologie zu finden. Dieser Standpunkt war jeweils von der eigenen theologischen Tradition bestimmt, die es zu verteidigen galt. Betrachtet man in diesem Kontext die Frage nach der Bedeutung, die sie Karl Barth im sekundären niederländischen Kontext zumaßen, also die Frage einer möglichen Horizontabhebung der Theologie Barths aufgrund ihrer Rezeption, so ergibt sich eine Auffälligkeit. Beide versuchten nämlich, die Theologie Barths der Tendenz nach gerade dem anderen theologischen Lager zuzuordnen und sich so mehr (Berkouwer) oder weniger (Heering) stark von ihr abzusetzen: Während der orthodoxe Berkouwer Barths Theologie als tendenziell liberal einstuft, stuft Heering sie trotz aller Wertschätzung als gemäßigt orthodox ein. Eine Horizontabhebung gegenüber dem jeweils eigenen niederländischen Kontext fand also nicht statt. Die Theologie Barths motivierte keinen von beiden zu wesentlich neuen Erfahrungen: Die eigene Tradition blieb der Maßstab, an dem sie gemessen wurde. Barths Theologie führte dabei nicht zu einer Erweiterung des eigenen theologischen Horizonts, sondern bildete eine Art exemplarischen Spiegel für die Fragen, an denen die Meinungen der orthodoxen und der liberalen Theologie in den Niederlanden der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts auseinandergingen. Dass dabei auf liberaler Seite eine wesentlich offenere und positivere Rezeption anzutreffen war, schmälert diese These nicht. Es kann also festgestellt werden, dass sich die Polarisierung der niederländischen theologischen Landschaft der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts auch in ihrer BarthRezeption spiegelt. Damit wird aber, so meine im folgenden Kapitel näher zu erläuternde These, zugleich der Rahmen für die Entstehung eines offenen Bereichs zwischen den in den 30er Jahren festgefahrenen, sich in fruchtloser Spannung befindlichen Polen geschaffen. Die Barth-Rezeptionen Berkouwers und Heerings sollten meines Erachtens trotz des fehlenden Austauschs unter beiden Theologen nicht isoliert voneinander, sondern in einem allein durch die Bezugnahme auf die Theologie Karl Barths entstandenen Zusammenhang betrachtet werden. Im Sinne der von Dieter Henrich entwickelten und im ersten Kapitel dieser Studie beschriebenen Konstellationsforschung bilden beide Barth-Rezeptionen zusammen eine Konstellation im Sinne einer spannungsreichen Di-Konstellation, die als solche die Grundlage für einen gemeinsamen Denkraum bilden kann. Das Entstehen eines derartigen potentiellen gemeinsamen Denkraums hat meines Erachtens die Entstehung eines eigenen niederländischen Bar-
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Die Konsolidierung der Polarisierung
thianismus gefördert. Dieser befand sich zu beiden Polen einerseits in einer Spannung, verband beide Pole andererseits aber auch. So trug der frühe niederländische Barthianismus zur Erweiterung der bestehenden Konstellation bei und erzeugte im Sinne des von Charles Taylor entlehnten Vokabulars aufgrund des doppelt gegenläufigen Drucks einen kreativen Zwischenraum. Dessen sich zwischen den Polen ereignende Entwicklung wird in den nächsten Kapiteln noch einmal deutlicher aufgezeigt werden. Im nächsten Kapitel soll sie zunächst grundlegend dargestellt werden.
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7. Aufbrüche: Die Entstehung des niederländischen Barthianismus als eine theologische und kirchenpolitische Herausforderung (1933 – 1950) 7.1 Einleitung Inzwischen war in den Niederlanden eine eigene barthianische Bewegung entstanden, die sich im Laufe der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts zwischen dem gerefomierten/neo-orthodoxen Pol einerseits und dem liberalen Pol andererseits1 weiter entwickelte. Sie soll in diesem und den folgenden Kapiteln im Hinblick auf die im vorigen Kapitel aufgeworfene Vermutung, dass sich der niederländische Barthianismus gerade im Sinne eines kreativen Zwischenraums innerhalb eines polarisierten Rahmens entwickelt hat, untersucht werden. Zu beobachten ist zunächst, dass sich der niederländische Barthianismus in den 30er Jahren mit dem 1934 publizierten Sammelband De openbaring der verborgenheid erstmals nachdrücklich als eine eigenständige Bewegung präsentierte. Die theologisch-kirchenpolitischen Herausforderungen, die dieser Sammelband dokumentiert, sollen darum in einem ersten Abschnitt anhand der rezeptionsästhetischen Fragestellungen evaluiert werden (7.2). Die Bedeutung der Theologie und auch der Person Karl Barths wurde im Laufe der 30er Jahre und in der ersten Hälfte der 40er Jahre des 20. Jahrhunderts bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges durch verschiedene historische Entwicklungen noch einmal gesteigert, wie in den weiteren Abschnitten dieses Kapitels anhand einer historisch-kirchenpolitischen Darstellung der Entwicklungen in der niederländischen Vorkriegszeit (7.3) und anhand einer historisch-kirchenpolitischen Übersicht über die Bedeutung Karl Barths für den niederländischen Widerstand (7.4) dargestellt werden soll. Im darauffolgenden Abschnitt (7.5) soll dann wieder der theologisch-kirchenpolitische Faden aufgenommen werden: Wiederum anhand rezeptionsästhetischer Fragestellungen soll nachgezeichnet werden, welche theologischen und kirchenpolitischen Bedeutungen Barths Theologie und deren Rezeption in den Niederlanden der Nachkriegszeit für die neue Kirchenverfassung beziehungsweise die Formulierung eines neuen Bekenntnisses der Nederlandse Hervormde Kerk hatte. Insgesamt wird sich in einem Rückblick auf den Zeitraum 1933 – 1950 (7.6) zeigen, dass die Entstehung einer eigenständigen barthianischen Bewegung in den Niederlanden, die ihren vorläufigen Höhepunkt in dem kirchlichen Erneuerungsstreben und der Verfassung einer 1 Vgl. Kap. 6 dieser Studie.
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238 Die Entstehung des niederländischen Barthianismus als Herausforderung neuen Kirchenordnung der Nederlandse Hervormde Kerk nach dem Zweiten Weltkrieg fand, insofern sehr relevant war, als sie eine theologische und kirchliche Möglichkeit bot, den fruchtlosen Richtungsstreit zwischen Konfessionellen, Ethischen und Freisinnigen/Liberalen innerhalb der Nederlandse Hervormde Kerk zu überwinden. Der Versuch einer Überwindung des Richtungsstreites innerhalb der Nederlandse Hervormde Kerk hatte darüber hinaus auch eine Bedeutung für die gesamte innerprotestantische Ökumene.
7.2 Die Offenbarung der Verborgenheit Die elf Autoren, die mit der gemeinsamen Publikation des Sammelbandes De openbaring der verborgenheid den Beginn des niederländischen Barthianismus als einer eigenständigen Bewegung dokumentieren, sind überwiegend dem damaligen breiten Mittelfeld der Nederlandse Hervormde Kerk2 zuzuordnen und gehörten zum großen Teil zum Kreis derer, die sich bereits von Anfang an mit der Theologie Barths auseinandergesetzt hatten: Oepke Noordmans und Kornelis H. Miskotte waren inzwischen profilierte Vertreter der Barth-Rezeption innerhalb der ethischen Strömung geworden. Theodorus L. Haitjema war der bekannte Vertreter der Barth-Rezeption innerhalb der konfessionellen Strömung. Der reformierte Theologe und kirchliche Sozialarbeiter Johan Eijkman und der gereformierte Pfarrer Dirk Tromp galten ebenfalls als bekannte Anhänger der Theologie Barths, waren bereits bei dessen erstem Besuch in den Niederlanden anwesend gewesen und spielten wie die anderen eine maßgebliche Rolle bei der niederländischen Rezeption des Römerbriefs. Zudem waren viele Autoren der NCSV, der Nederlandse Christen-Studenten Vereniging zuzuordnen. Außer für Dirk Tromp und Jo Eijkman galt das auch für den Ökumeniker uns späteren Generalsekretär des Weltkirchenrats Willem Adolph Visser ’t Hooft, den später als „roter Pfarrer“ bekannt gewordenen Johan Jan Buskes und den Utrechter Professor für Religionsphilosphie Arnoldus Ewout Loen. Auffällig war gegenüber früheren Publikationen aus dem Kreise der Barthianer die relativ hohe Anzahl mitwirkender kirchlicher oder universitärer Professoren. Außer für den bereits genannten Systematiker Haitjema und den Religionsphilosophen Loen galt dies für den Utrechter Professor für Dogmatik, praktische Theologie und christliche Ethik und späteren Dozenten für Ökumene Simon Hendrik Frederik Jan Berkelbach van der Sprenkel. Neu hinzugekommen in den Kreis der publizierenden Barthianer war auch Martinus Cornelis Slotemaker de Brune, der wie Berkelbach van der Sprenkel, Miskotte, Noordmans und Haitjema unter anderem für sein Engagement in den Reorganisationsbewegungen der Nederlandse Hervormde Kerk bekannt geworden war. Aus dem 2 Dirk Tromp bildet als gereformierter Pfarrer die einzige Ausnahme.
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Die Offenbarung der Verborgenheit
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Bereich der Pfarrerschaft ist außer Dirk Tromp und Johan Jan Buskes noch der reformierte Pfarrer Johannes Jacobus Stam zu nennen. Insgesamt kann also gesagt werden, dass sich die niederländischen Barthianer zunehmend in universitären und kirchlich institutionellen Kreisen bewegten, eine Entwicklung, die in der niederländischen Nachkriegszeit einen vorläufigen Höhepunkt erreichen wird. Auch thematisch bot De openbaring der verborgenheid eine große Vielfalt; es lässt sich grob in drei Komplexe einteilen: Erstens wird die insbesondere zwischen gereformierten und reformierten Theologen bereits länger bestehende Debatte über erkenntnistheoretische Fragen im Zusammenhang mit der Theologie Barths und deren herausforderndem Charakter aufgegriffen (Tromp, Loen, Haitjema). Zweitens wird die Herausforderung der Theologie Barths für die verschiedenen theologischen Fachdisziplinen erarbeitet (Miskotte für die Exegese, Noordmans für die Dogmatik, Slotemaker de Brune für die Kirchengeschichte). Und drittens wird die Relevanz und Herausforderung von Barths Theologie für verschiedene kirchliche Arbeitsfelder erkundet (Stam über die Verkündigung, Visser ’t Hooft über die Ökumene, Eijkman über die kirchliche Jugendarbeit); zusätzlich werden auch allgemein interessierende Überlegungen zum Wesen der Kirche (Berkelbach van der Sprenkel) und zum Verhältnis von Kirche und Kultur (Buskes) angestellt. Überblickt man diese Themenfelder, kann zunächst eine Verschiebung in der Debattenlage innerhalb der barthianischen Bewegung beziehungsweise bei den Barth-Rezeptionen innerhalb des Spektrums der Nederlandse Hervormde Kerk und damit auch bei den theologischen Barth-Rezeptionen in den Niederlanden überhaupt festgestellt werden. Standen früher erkenntnistheoretische Probleme und die Frage nach der Möglichkeit der Ethik in Barths Theologie im Vordergrund, bekommen nun auch direkt kirchlich relevante Themen eine verhältnismäßig große Aufmerksamkeit. Damit spiegelt das thematische Interesse des Buches den Kontext, in dem die Theologie Barths von den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts bis in die Nachkriegszeit hinein ihre größte Relevanz entfaltet hat, nämlich die Reorganisationsbestrebungen innerhalb der Nederlandse Hervormde Kerk: Bereits seit dem Algemeen Reglement (Allgemeine Regelung) von 1816 spielte immer wieder die Frage eine Rolle, ob und wie man die Kirche wieder so organisieren könne, dass die Kirchenleitung nicht nur – wie im Reglement festgelegt – rein formale, das heißt organisatorische, sondern auch geistliche Leitungsaufgaben ausüben und Aussagen zur Frage nach der Autorität und dem Status des Bekenntnisses machen könne. Die Bekenntnis-Frage spielte also in der niederländischen Diskussion im Gegensatz zur deutschen Diskussion um die Barmer theologische Erklärung bereits lange vor den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts eine Rolle. Die in der niederländischen Diskussion entscheidende Frage war, wie die Nederlandse Hervormde Kerk, die aufgrund ihres breitgefächerten theologischen Spektrums und des damit verbundenen Richtungsstreits zwischen den verschiedenen Strömungen oft als Hotelkirche bezeichnet wurde und die
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240 Die Entstehung des niederländischen Barthianismus als Herausforderung zwischen Lehrzucht und Lehrfreiheit lavierte, wieder zu einer bekennenden Kirche werden, und damit wieder zu einer gewissen Einheit kommen könne. In den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts spielte der Wunsch nach einer Reorganisation der Volkskirche eine besonders große Rolle. So wurde 1930 der eher konfessionell und teilweise auch orthodox ausgerichtete so genannte Verbond tot Kerkherstel (Bund für Kirchenerneuerung) gegründet, dessen Vorsitzender Haitjema war. Und 1931 wurde die mehr ethisch und teilweise liberal geprägte Verenigung Kerkopbouw (Vereinigung Kirchenaufbau) unter Vorsitz von Noordmans ins Leben gerufen. Beide Zusammenschlüsse arbeiteten ab 1935 auch zusammen, doch wurde ein gemeinschaftlich erarbeitetes Reorganisationsdokument 1939 von der Synode der Nederlandse Hervormde Kerk nicht angenommen. Man war also Ende der 30er Jahre erneut in eine Sackgasse geraten. Vor diesem Hintergrund lässt sich feststellen, dass De openbaring der verborgenheid nicht nur thematisch das wachsende Interesse an einem kirchlichen und kirchenreformerischen Anliegen spiegelte, sondern eben auch die Annäherung beider Reorganisationsströmungen: Federführende Theologen beider Gruppen, etwa Haitjema und Noordmans, waren ja maßgeblich am Zustandekommen des Buches beteiligt und dessen Herausgeber, Slotemaker De Brune, sollte auch in Zukunft eine wichtige Funktion bei Bestrebungen zur kirchlichen Reorganisation haben. Um sich ein genaueres Bild von der Vielschichtigkeit der aufkommenden Bewegung des Barthianismus zu verschaffen, sollen im Folgenden die Vorrede und die in die drei thematischen Felder unterteilten anderen Beiträge von De openbaring der verborgenheid anhand der diese Studie leitenden rezeptionsästhetischen Fragestellungen3 analysiert werden. Betrachtet man unter den genannten rezeptionsästhetischen Fragestellungen zunächst die von Slotemaker de Brune verfasste Voorrede (Vorrede)4, so ergibt sich folgendes Bild: Bereits der aus Rm. 16, 25 entlehnte Titel des Buches verrät das gemeinschaftliche thematische Leserinteresse aller Autoren, nämlich „de[n] positive [n] Sinn“5 der nicht zu eliminierenden „Faktoren der Unbekanntheit und Verborgenheit“6 der göttlichen Offenbarung herauszustellen. In diesem auch als Aufruf zu verstehenden Motto, mit dem viele der Autoren (Noordmans, Tromp, Haitjema) durchaus an frühere Beiträge und Diskussionen anknüpfen, zeigt sich nach wie vor „das Herz […] der dialektischen Theologie“7. Anhand dieses „Kern[s] der Sache“8, so die Hoffnung und die verbindende Lesermotivation der Autoren, möge im doppelten Sinne des Wortes die Einheit 3 4 5 6 7 8
Vgl. Kap. 1 dieser Studie. Slotemaker de Brune, Voorrede, in: Berkelbach van der Sprenkel, De openbaring, 5 f. AaO., 6. Ebd. Ebd. Ebd.
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Die Offenbarung der Verborgenheit
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der recht unterschiedlichen Beiträge und Anliegen „richtend“9 – also sowohl wegweisend als auch urteilend – zum Durchbruch kommen. Außer auf die eigene, sich als Strömung erst noch konstituierende Gruppe der niederländischen Barthianer bezieht sich die gemeinsame Lesermotivation in einem mehr abgrenzenden Sinn aber auch auf andere, bereits bestehende theologische Strömungen: Es gehe, so Slotemaker de Brune, um eine Polemik gegen den „Betrachtungsreichtum und die Betrachtungsstabilität“10 zweier „einflussreicher Denkrichtungen im niederländischen christlichen Leben“11, nämlich gegen bestimmte Züge innerhalb der ethischen und der neocalvinistischen/gereformierten Theologie. Anzumerken ist dabei, dass viele der Autoren selbst der ethischen Richtung entstammten und dass ihr Engagement darum auch als Selbstkritik zu verstehen ist. Dabei betrifft der Kern der unter den Stichworten „Armut“12 und „Torheit“13 geführten Polemik das nach Meinung der Autoren in beiden Strömungen – der ethischen und der neocalvinistischen – verankerte theologische Besitzdenken, also den Gedanken einer Verfügbarkeit und direkten Gegebenheit der göttlichen Offenbarung. Eine dritte Lesermotivation ergibt sich aus der „tiefen Dankbarkeit“14 der Autoren für die dialektische Theologie im Allgemeinen und für das Werk Karl Barths im Besonderen. Damit verbunden ist die Befürchtung, dass die von der Theologie der Krise faktisch bereits „befruchtet[e]“15 niederländische Theologie nicht in ausreichendem Maße von deren „heilsamer und notwendiger Wirkung“16 „profitieren“17 könne. Anders als in den Barth-Rezeptionen der im vorhergehenden Kapitel dargestellten Exponenten der liberalen und der gereformierten/neocalvinistischen Theologie in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts geht es den elf Autoren von De openbaring der verborgenheid also nicht so sehr darum, nach eingehenden Verständnisbemühungen ihr Verhältnis zur Theologie Barths zu bestimmen und vom eigenen Hintergrund wenn notwendig abzugrenzen, sondern darum, die bereits bestehende praktische, auch ganz alltäglich sich bemerkbar machende herausfordernde Wirkung („keine Studierzimmerrevolution“18 !) der Theologie Barths aufzuzeigen, zu vertiefen und zu profilieren. Um die Vielfalt der von der dialektischen Theologie inspirierten neuen Erfahrungen und also die Herausforderungen, zu denen die Barthlektüre beziehungsweise das ausgewählte gemeinsame Thema der Verborgenheit der 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18
AaO., 5. AaO., 6. Ebd. Ebd. Ebd. AaO., 5. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
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242 Die Entstehung des niederländischen Barthianismus als Herausforderung Offenbarung bei den Autoren in je unterschiedlicher Weise geführt hat, erfassen zu können, sollen im Folgenden die einzelnen Beiträge anhand der oben beschriebenen Themenkomplexe dargestellt und auf ihre spezifische Bedeutung innerhalb des niederländischen sekundären Kontextes hin befragt werden. Mit meiner Vorgehensweise möchte ich insgesamt demjenigen Phänomen auf die Spur kommen, das sich von einem ursprünglich kleinen Wicht zwischen den Polen in den Jahren zwischen 1945 und 1965 zu dem entwickelte, was der remonstrantische Theologe Eginhard Meijering einmal als den „dominante[n] Faktor : Karl Barth […]“19 bezeichnet hat. Die Herausforderung für erkenntnistheoretische Fragen Dirk Tromp eröffnet seinen Beitrag, De levende God (Der lebendige Gott)20, indem er – auf den reformierten Ökumeniker Adolf Keller und auf den jüdischen Religionsphilosophen Franz Rosenzweig hinweisend – von einer allgemeinen geistesgeschichtlichen Bewegung spricht, die in Entsprechung zu den gesellschaftlichen Veränderungen die theologische Verschiebung zur Rede von einem „,vollkommen verborgenen Gott‘“21 reflektiere und ihren Ausdruck, positiver gesehen, auch in dem Ruf nach dem lebendigen Gott gefunden habe. Als einer der zeitgenössischen Zeugen dieses Gottes sei auch Karl Barth anzusehen. Der Ruf nach dem lebendigen Gott verbinde zwar viele Christen gerade in ihrem kultur- und gesellschaftskritischen Interesse, das neben der Kritik des „grauen Humanismus“22, der „roten Massenbewegung“23, der „schwarzbraunen Brutalität“24 durchaus auch die Kritik der „dumpfen Christlichkeit“25 und der „grauen Kirchlichkeit“26 umfasse, doch sei darauf hinzuweisen, dass Gott oder die Rede von Gott diejenigen, die sich scheinbar im Ruf um den lebendigen Gott verbunden fühlten, gerade auch ihre gegenseitige Fremdheit erkennen lasse: „Die Erkenntnis, dass Gott uns mehr trennt als wir denken, bringt uns in Verlegenheit, da wir dann ahnen, wie fremd das Bekannte und wie bekannt das Fremde […] werden kann“27. Entscheidend sei, neben dem negierenden Element vor allem auch die positive Herausforderung der Rede vom unbekannten, lebendigen Gott anzunehmen: Der lebendige Gott lasse sich jenseits aller bestehenden – rationalen oder irrationalen – Zugänge zu Gott und jenseits aller bestehenden – freisinnigen, ethischen, konfessionellen und gereformierten, aber auch methodistischen, apostolischen, eschatologischen, prädestianischen und vom 19 20 21 22 23 24 25 26 27
Meijering, Het Nederlands christendom, 275. D. Tromp, De levende God, in: Berkelbach van der Sprenkel, De openbaring, 9 – 24. AaO., 11. AaO., 13. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. AaO., 12.
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Die Offenbarung der Verborgenheit
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Ideal der una sancta bestimmten – Gottesbilder entdecken. Es gehe darum, dass der lebendige Gott zwar zu allen diesen Gottesbildern in ein Verhältnis treten wolle, dass er jedoch dabei nie zu einem menschlichen Besitz werden könne. Das Geheimnis der Verborgenheit des lebendigen Gottes – Tromp spricht auch von einer Erlösung Gottes – sei ein „rätselhaftes Zuviel“28, eben Gottes Güte, erwählende Liebe und Barmherzigkeit. Tromp verbindet an dieser Stelle die Entdeckung der Alterität Gottes mit der Entdeckung der Alterität des anderen Menschen – eine Entdeckung, die meines Erachtens als zukunftsweisend für die niederländische Barth-Rezeption ab den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts29 angesehen werden kann. Der Religionsphilosoph Loen widmet seinen Beitrag dem Thema Denken in filosofie en theologie (Denken in der Philosophie und in der Theologie)30. Während die Philosophie als eine „autonome Grundwissenschaft“31 zu betrachten sei, handele es sich bei der Theologie um eine „Wissenschaft der Offenbarung“32. Sei die Theologie geneigt, über die Offenbarung als ihren Besitz zu verfügen, neige die Philosophie (in concreto: die des vorherrschenden Neukantianismus) dazu, die Autonomie zu verabsolutieren. Beide Wissenschaften seien aber – insbesondere, da sich beide mit den so genannten letzten Fragen beschäftigten – entgegen ihrem weitverbreiteten Selbstverständnis dialektisch aufeinander bezogen und hätten ihren lebendigen Grund gerade in dieser – mit der geschöpflichen Existenz des Menschen bereits gegebenen – dialektischen Bezogenheit, so die Hauptthese des Beitrags. Durch die Trennung beider Denkrichtungen werde der existentielle Bruch der Sünde sowohl ans Licht gebracht als auch verhüllt. Die im Zusammenhang mit der Fragestellung des Buches aufzuwerfende theologische Frage sei nun, ob nicht in der neuen Schöpfung „der existentielle Bruch der Sünde wieder geheilt“33 werde, „sodass ein Festhalten an dem dialektischen Verhältnis zwischen Autonomie und Offenbarung einem Übersehen der neuen Schöpfung in der 28 AaO., 24. 29 In den Niederlanden wurde das Thema Alterität insbesondere ab den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts auf vielerlei Weise mit der Theologie Barths verbunden, beispielsweise im Blick auf schwarze Theologie (Th. Witvliet), über einen Vergleich mit der Philosophie von E. L¦vinas (J.F. Goud, Ch. Hack) oder auch anhand differenzphilosophischer genderorientierter Ansätze (S. Hennecke). Vgl. Th. Witvliet, De weg van de zwarte Messias. De hermeneutische uitdaging van zwarte theologie als een theologie van bevrijding, Baarn 1984 [Diss. Universiteit van Amsterdam]; J.F. Goud, Levinas en Barth. Een godsdienstwijsgerige en ethische vergelijking, Amsterdam 1984 [Diss. Leiden]; Ch. Hack, Groter dan ons hart. De verhouding tussen God en mens bij Karl Barth en Emmanuel Levinas met het oog op het nieuwe tijds denken, Zoetermeer 1993 [Diss. Universiteit van Amsterdam]; S. Hennecke, Der vergessene Schleier. Ein theologisches Gespräch zwischen Luce Irigaray und Karl Barth, Gütersloh 2001 [Diss. Universiteit van Amsterdam]. 30 A.E. Loen, Denken in filosofie en theologie, in: Berkelbach van der Sprenkel, De openbaring, 25 – 35. 31 AaO., 27. 32 Ebd. 33 AaO., 33.
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244 Die Entstehung des niederländischen Barthianismus als Herausforderung Erlösung gleichkomme“34 ? Die neue Schöpfung, so die Antwort, bleibe verborgen in Gott, man könne diesbezüglich nur „im Glauben wandeln, und nicht im Schauen“35. Doch gehe es insofern um eine bereichernde Erweiterung des Offenbarungsbegriffs, als man als Einzelner und als Gemeinde dazu aufgerufen werde, seine Situation als Gemeinschaft denkender Menschen ernst zu nehmen und sich also der Dialektik von Autonomie und Offenbarung beziehungsweise Philosophie und Theologie nicht zu entziehen. Insbesondere die Theologie müsse sich darüber bewusst werden, dass sie auf dem „Abgrund der fehlenden Legitimation“36 gebaut sei – so die im Zusammenhang mit dem Titel des Sammelbandes sich herausschälende Herausforderung, der Loen sich als Religionsphilosoph stellen möchte. Der Dogmatiker Haitjema knüpft mit seinem ebenfalls philosophisch interessierten Beitrag, Het geloofscriticisme als methode der theologie (Der Glaubenskritizismus als Methode der Theologie)37, an sein bereits 1931 publiziertes Buch Het woord Gods en de moderne cultuur Das Wort Gottes und die moderne Kultur)38 an und wendet sich gegen die in den Niederlanden oft gehörte – negativ gemeinte – Unterstellung, dass insbesondere die Erkenntnistheorie Kants den Boden für die dialektische Theologie bereitet habe. In Het woord Gods en de moderne cultuur hatte Haitjema den reformatorischen Ursprung der dialektischen Theologie und die von ihr geleistete Rehabilitation der Wortoffenbarung betont. Der dialektischen Theologie gehe es im Wesentlichen um eine Betonung des sola fide. Diesen Typus einer Glaubenstheologie, der außer bei den Reformatoren etwa auch bei Kohlbrügge vorliege, könne man am besten als einen Glaubenskritizismus bezeichnen. Der Ausdruck verdeutliche, dass man eine Glaubenstheologie in zweierlei Weise betreiben könne, nämlich dogmatisch – dem Inhalt nach – oder kritisch – der Form der Gotteserkenntnis nach.39 Letztere sei selber Gnade und könne nur das in der Gottesoffenbarung selbst Gegebene als Gotteserkenntnis erfassen. Die Parallele zum philosophischen Kritizismus sei als ein dreifacher Vorteil anzusehen: Der Begriff inspiriere erstens dazu, auch innerhalb der Theologie die Frage nach dem menschlichen Erkennen (nämlich als Glaubenserkenntnis in Bezug auf die Offenbarung) zu stellen und einzusehen, dass der Erkennende beim Erkennen Gottes tatsächlich miteinbezogen sei. Entsprechend ließe sich zweitens eine Kritik des reinen Glaubens entwickeln, als deren a priori-Formen anders als bei Kant der Glaube der Gemeinde und das Werk des Heiligen Geistes 34 35 36 37
Ebd. Ebd. AaO., 34 f. Th.L. Haitjema, Het geloofscriticisme als methode der theologie, in: Berkelbach van der Sprenkel, De openbaring, 37 – 62. 38 Haitjema, Het woord Gods, insb. 77 – 101. 39 Barth selber unterscheidet etwa in Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie zwischen „dogmatisch“, „kritisch“ und „dialektisch“, findet aber alle drei Begriffe untauglich, obwohl er sich noch am ehesten dem dialektischen Weg anschließen kann; vgl. K. Barth, Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie, in: Moltmann, Anfänge I, 197 – 218.
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anzusehen seien. Drittens trage der Begriff dazu bei, eine einseitige Betonung der Wortoffenbarung zu verhindern.40 Missverständlich sei der Begriff jedoch insofern, als er die Annahme erlaube, dass es vor Kant keine glaubenskritische Theologie gegeben habe.
In dem Beitrag für De openbaring der verborgenheid betont Haitjema nun ergänzend den Einfluss41 des existentiellen Denkens Kierkegaards auf das Denken Barths. Zu betonen sei zudem, dass es Barth bei der Glaubenserkenntnis als Wahrheitserkenntnis um die Gotteserkenntnis, also nicht um die Entscheidungen des gläubigen Subjekts, sondern um die Entscheidung des sich offenbarenden, souveränen Gottes gehe. Anders als Berkouwer behaupte, destruiere Barth keinesfalls die Korrelation zwischen Glauben und Offenbarung. Er zerstöre lediglich die Selbstverständlichkeit dieser Korrelation, indem er den Glauben nicht im Menschen, sondern in Gott verankere. Während Neocalvinisten geneigt seien, die beiden Größen Glauben und gläubiger Mensch gleichzusetzen, bestehe bei Barth zwischen beiden Größen eine Spannung. Barths von Haitjema Glaubenskritizismus genannte Methode, die auf dem Gegensatz zwischen Betrachten/Zuschauen und Erkennen/Erkannt-Werden aufbaue, bilde nach wie vor eine große Herausforderung für die niederländische Theologie, auch wenn dies mit dem Hinweis auf den gereformierten Kuyper und den ethischen Theologen Gunning oft abgestritten werde. Die Herausforderung äußere sich entsprechend der drei Komponenten dieser Methode auf dreifache Weise: Die transzendental-theologische Komponente des Glaubenskritizismus, die sich am besten in der calvinistischen Theologie verorten lasse, wende sie gegen einen beschaulichen Realismus. Man könnte sie in den Niederlanden am ehesten bei Kuyper vermuten, doch befinde man sich mit dieser Vermutung aufgrund von Kuypers im Wesen kulturphilosophischen Ansatz im Irrtum. Die kritisch-existentielle Komponente des Glaubenskritizismus fühle sich am meisten in der lutherischen Theologie zu Hause; sie stelle den theologisch Denkenden unter die Kritik Gottes und eröffne ihm als Einzelnen eine Existenz in Beziehung zu Gott. Man könnte sie in den Niederlanden am ehesten in der Theologie Gunnings finden. Die dialektisch-paradoxale Komponente des Glaubenskritizismus sei dem bundestheologischen Denken Bullingers verwandt; sie weise auf das Fortschreiten religiösen Denkens und auf die paradoxe Form der Erkenntnisurteile hin. In den Niederlanden werde sie 40 Der Nachteil des Begriffs, so räumt Haitjema ein, sei die leichte Verwechselbarkeit des Wortes „transzendental“ mit dem Wort „transzendent“ , aber auch das leicht mögliche Missverständnis einer Abhängigkeit des Begriffs vom philosophischen Kritizismus. Beide Methoden seien nur formal identisch. Inhaltlich unterschieden sie sich durchaus und verhielten sich wie ein „Spiegelbild“ zueinander ; vgl. Haitjema, Het geloofscriticisme, 90 f. 41 Barth hat sich allerdings auch kritisch mit Kierkegaard auseinandergesetzt, vgl. etwa Barth, KD I/1, 19.
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246 Die Entstehung des niederländischen Barthianismus als Herausforderung am ehesten von Hoedemaker repräsentiert. Trotz dieser teilweisen Parallelen liege aber bei allen drei genannten niederländischen Theologen methodisch gesehen kein Glaubenskritizismus vor: Kuyper stehe deutlich auf der Seite des Betrachtens (Zuschauertheologie); nicht von ungefähr lehnten seine Anhänger die Theologie Barths ja auch betont ab. Gunning stehe zwar dem Glaubenskritizismus näher als Kuyper ; er betrachte aber zum einen Gott letztlich als intellektuelle Abstraktion, als Gott ohne Gottheit, und gebe zum anderen dem Glauben letztendlich doch beschaulich einen Grund in der Menschlichkeit des Menschen. Der Bundestheologe Hoedemaker stehe dem Glaubenskritizismus möglicherweise etwas näher als Gunning; er habe aber als Dogmatiker die realistische Schematik nicht überwinden und den Unterschied zwischen Theologie und Philosophie nie wirklich verarbeiten können. Die deutlichsten Anknüpfungspunkte für den Glaubenskritizismus sieht Haitjema im niederländischen Kontext bei zwei „,irreguläre[n] Dogmati[kern]‘“42, dem Dichter-Denker Bilderdijk und dem Prediger Kohlbrügge. Barth sei für die Niederlande erkenntnistheoretisch gesehen Neuland gewesen – so die Botschaft Haitjemas. Das Neue entsprach dabei der bereits in anderen Beiträgen zu erkenntnistheoretischen Fragestellungen gemachten herausfordernden Entdeckung der Möglichkeit einer unverfügbaren Bezugnahme Gottes auf den Menschen. Die Herausforderung für die theologischen Fachdisziplinen Miskotte, der unter den niederländischen Barthianern aufgrund seines inzwischen bereits zehnjährigen Briefwechsels wohl den intensivsten auch persönlichen Austausch mit Barth pflegte, beklagt in seinem Beitrag, Opmerkingen over theologische exegese (Bemerkungen zur theologische Exegese)43, zunächst die Wehrlosigkeit des geschriebenen Wortes gegenüber seinen Interpreten. Nur manchmal breche auf wunderbare Weise sein fremder, aktueller, wesentlich den Menschen betreffender Sinn auf, so Miskottes Zugang zum Thema der Verborgenheit der Offenbarung. Die am Beginn des 20. Jahrhunderts aufkeimende Diskussion über das Wesen der Geisteswissenschaften biete nun erfreulicherweise wieder Raum für das so genannte priesterliche Wissen44 und führe auf theologischem Gebiet direkt zu der Frage nach dem Verhältnis von historisch-kritischer Methode und theologischer Exegese. Zu fragen sei, ob nicht sowohl die historisch-kritische Exegese als auch ein mehr oder weniger eingefrorenes priesterliches Wissen ein Verlangen nach Sicherheit repräsentierten, welches mit dem dem Menschen gegebenen Leben nun einmal nicht zu vereinigen sei. Zu erwägen sei, ob die biblischen 42 Haitjema, Het geloofscriticisme, 60. 43 K.H. Miskotte, Opmerkingen over theologische exegese, in: Berkelbach van der Sprenkel, De openbaring, 63 – 99. 44 Miskotte bezieht sich auf Stefan George und auf strukturpsychologische und phänomenologische Methoden.
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Texte nicht vielmehr wie „zeitgenössische Poesie“45 zu lesen seien, zumal ja auch ein Dichter wie Hugo Ball daran erinnert habe, dass ein Misstrauen gegenüber „billigen religiösen Weisheiten“46 und die Möglichkeit, dass Gott selber zu uns spreche, sehr gut zusammenpassten. Die dialektische Theologie, so Miskottes Lesermotivation, die wie jede große und notwendige geistige Bewegung „alle alltäglichen Probleme mit einem einzige Schlag berührt“47 habe, habe aus „ehrlichem Modernismus“48 heraus noch einmal ganz von vorne angefangen, auf die Schrift zu hören. Sie habe sowohl die Grenzen wissenschaftlichen Erkennens durchbrochen als auch das priesterliche Wissen relativiert. Sie habe sich zudem nicht nur um die Kritik aller Systeme und Weltanschauungen bemüht, sondern sich auf die Suche nach dem positiven Sinn der Unbekanntheit der unbekannten Faktoren des Textes gemacht. Ihre Exegese sei ein „doppeldeutiges“49 Unternehmen, da sowohl die Erkenntnisse der historisch-kritischen Methode als auch das priesterliche Wissen miteinbezogen werden müssten, wolle man den die Worte als solche transzendierenden Sinn des Textes erfassen. Im Folgenden entwickelt Miskotte, vermutlich inspiriert von Barths Hinweis auf die Unbekanntheit des Textes im Vorwort des Römerbriefs50 und im Austausch mit Barths Ansatz, eine eigene theologische – die phänomenologische – Methode51. Diese ist meines Erachtens ein gutes Beispiel für die Zwischen-Position der niederländischen Barthianer : Zwischen der liberalen Verteidigung der historisch-kritischen Methode (vgl. das Beispiel Heering) und der neocalvinistischen (orthodoxen) Verteidigung der Verbalinspiration (vgl. das Beispiel Berkouwer) schlägt Miskotte nämlich im Kontext eines allgemeinen geisteswissenschaftlichen Gesprächszusammenhangs und in Anlehnung an Barth eine neuartige, theologisch genannte Exegese vor, die sich genauer gesagt nicht nur zwischen, sondern vielmehr auch jenseits der in den Niederlanden damals gängigen Auffassungen bewegt. Dass die Rezeption Barths gerade im Bereich der Exegese bis in die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts hinein ein ausgeprägtes niederländisches Interesse52 war, ist somit keinesfalls zufällig. Sie erklärt sich historisch aus dem einander ausschließenden Interesse liberaler und orthodoxer Theologen an diesem Thema und der damit verbundenen Suche nach einer Alternative zu beiden Polen. 45 46 47 48 49 50
Miskotte, Opmerkingen, 71. AaO., 72. AaO., 73. Ebd. AaO., 74. Vgl. die Rede von einem, „Rätsel der Sache“ und einem „Rätsel der Urkunde“ im ersten Vorwort zur zweiten Auflage des Römerbriefs. 51 Vgl. ausführlicher Kap. 9 dieser Studie. 52 Innerhalb der so genannten Amsterdamer Schule (K. Deurloo, R. Zuurmond u. a.) wurde im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts beispielsweise eine eigenständige konkordante und synchrone statt diachrone Exegesemethode entwickelt.
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248 Die Entstehung des niederländischen Barthianismus als Herausforderung Der Beitrag von Noordmans, Het kerkelijk dogma (Das kirchliche Dogma)53 verfolgt im kritischen Gespräch mit Barth die Weiterentwicklung des Projekts einer pastoralen Dogmatik54 und entwickelt Ansätze zu einer eigenen Kulturtheologie, die sich sowohl in Abgrenzung zu dem Neocalvinisten Kuyper als auch dem kritischen Theologen Barth herauskristallisieren. Seine Auseinandersetzung mit Haitjema55 zeigt meines Erachtens gut, dass es innerhalb der Bewegung der niederländischen Barthianer durchaus unterschiedliche Auffassungen über die Frage gab, wohin genau die Auseinandersetzung mit Barths Theologie führen solle oder könne. Noordmans geht auf das übergeordnete Thema der Verborgenheit der Offenbarung ein, indem er sich insbesondere mit den Begriffen „Armut“ und „Torheit“ der Theologie beschäftigt. Dabei wendet sich Noordmans, der gerne zwischen „Schule“ (allgemeine Wissenschaft, Philosophie) und „Kirche“ (Theologie) unterscheidet, mit der von Barth entlehnten Rede von der „Härte“56 des Dogmas nicht nur kritisch gegen dessen „Untergang in der Kulturphilosophie“57, sondern auch gegen den von Haitjema zuvor entwickelten Begriff des „Glaubenskritizismus’“58. Er macht geltend, dass das Wort „kritisch“ aus einem Kontext stamme, der gegenüber der wahren Funktion des Wortes – einem der Hauptbegriffe der pastoralen Dogmatik – wenig Verständnis aufgebracht habe. Haitjemas These, dass die transzendentale Erkenntnismethode Kants sogar ein Spiegelbild der Erkenntnis durch Wortoffenbarung sei, sei als zu weitgehend abzulehnen. Anders als Haitjema behaupte, sei es Kant nicht so sehr um den Unterschied zwischen Form und Inhalt gegangen, sondern um die Unterscheidung verschiedener Gebiete menschlichen Erkennens, etwa Natur, Sitte und Glauben. Um Verwirrungen zu vermeiden, wolle er von einem Kritizismus lieber nur in Hinsicht auf das Dogma sprechen. In Barths Wortauffassung mache sich der Rest einer transzendentalen Perspektive bemerkbar, die zu einer Spannung geführt habe. Dabei werde übersehen, dass das Wort durch seine höhere Gebundenheit eine solche übersteige und also dessen Reichtum gerade in seiner Armut in bezug auf transzendentale Erkenntnisse bestehe. Sein eigener Versuch einer Kritik des Dogmas gehe weder subjektiv von der Form aus, in der der Gläubige die 53 O. Noordmans, Het kerkelijk, in: Berkelbach van der Sprenkel, De openbaring, 101 – 124. 54 Noordmans publizierte 1934 eine ursprünglich für den Gebrauch während der Sommerfreizeiten der NCSV (Niederländische Vereinigung christlicher Studenten) bestimmte eigene kleine Dogmatik; vgl. Noordmans, Herschepping. 55 Da ich auf Noordmans’ Beitrag genau wie auf den Beitrag Miskottes in einem jeweils eigenen Kapitel noch genauer eingehen werde, beschränke ich mich an dieser Stelle auf Noordmans’ in diesem Beitrag ebenfalls geführte Auseinandersetzung mit Haitjema; Vgl. Noordmans, Het kerkelijk, 123 f. 56 Gemeint ist die auf das Aussprechen göttlicher, nicht menschlicher Wahrheit gerichtete Aufgabe des Dogmatischen. 57 Noordmans, Het kerkelijk, 112. Gemeint ist insbesondere die neocalvinistische Theologie von Bavinck und Kuyper. 58 Dieser Begriff ist vornehmlich gegen die neocalvinistische Theologie gewandt.
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Offenbarung empfange, noch objektiv vom Inhalt, den das Dogma in der Predigt erhalte, noch von einer Kombination, wie Haitjema sie anstrebe. Es sei als eine falsche Armut anzusehen, wenn man mittels einer „transzendentale [n] Begrenzung“59 bestimmte – etwa rationale, mystische, spekulative oder praktische – Aspekte des Wortes ausschließe. Anstatt sich der Gefahr einer Verengung des Wortes durch die transzendentale Methode auszusetzen, gelte es vielmehr, zunächst die in der Kirche faktisch bestehenden verschiedenen Formen der Predigt und des Dogmas zu erforschen. Noordmans möchte offensichtlich betont innertheologisch arbeiten. Dabei versucht er allerdings, auch den möglichen Gefahren einer Rede von der Härte und der Armut des Dogmas zu begegnen, die seines Erachtens in der Abstraktion von der Wirklichkeit oder dem Leben liegt. Ein Dogma solle „anwendbar“60 sein, und es habe eine tröstende Zielrichtung. Erarbeitet Noordmans sich in seinem Beitrag die Grundlagen einer kritischen Dogmatik, handelt es sich im Beitrag Slotemaker de Brunes, Kritische kerkgeschiedenis61, um den Entwurf einer kritischen Kirchengeschichte. Wie schon viele der vorhergehenden Beiträge betrachtet auch er die Theologie Barths als den Ausdruck einer allgemeinen zeitgeschichtlichen Suche nach Erneuerung. So suchten die meisten historischen Studien derzeit ganz allgemein nach einem neuen Verhältnis zur Vergangenheit; diese Selbstbesinnung äußere sich eben gerade auch in der dialektischen Theologie. Deren Ton sei oftmals von einem „robusten, aggressiven Entdeckerdrang“ gekennzeichnet und habe wenig „Respekt vor [den] Resultaten der historischen Wissenschaft“62. Der kritische Geist der dialektischen Theologen sei als eine „Äußerung des Notzustandes der christlichen Kirche“63 zu verstehen, die sich auf sich selber besinnen wolle. Zu beachten sei zudem, dass die dialektischen Theologen sich mit der Geschichte aus einem aktuellen Verantwortungsbewusstsein gegenüber der zeitgenössischen Kirche beschäftigten und auch von daher historische Arbeit unter systematischen Gesichtspunkten betrieben. Damit wiesen sie zwar den Historismus zurück, hielten aber aufgrund ihres Wissens um den sich geschichtlich offenbarenden Gott an der historischen Forschung als einer wesentlichen Lebensfunktion der Kirche fest. Eine kritische Kirchengeschichtsschreibung, so Slotemaker de Brune, habe drei Gefahren zu vermeiden, nämlich erstens Kirchengeschichte in allgemeine Kultur- und Religionsgeschichte aufgehen zu lassen, zweitens Kirchengeschichte von der allgemeinen Geschichte zu isolieren und drittens historische Ereignisse geschichtsphilosophisch zu deuten. Mit Georg Merz sei festzuhalten, dass eine kritische Kirchengeschichtsschreibung nicht im eigentlichen 59 Noordmans, Het kerkelijk, 124. 60 AaO., 113. 61 M.C. Slotemaker de Brune, Kritische kerkgeschiedenis, in: Berkelbach van der Sprenkel, De openbaring, 171 – 185. 62 AaO., 173. 63 Ebd.
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250 Die Entstehung des niederländischen Barthianismus als Herausforderung Sinne beschreibend sein könne. Gottes verborgene Taten könne man nämlich nicht beschreiben, sondern nur bezeugen. Es komme darum auf die Verbindung zwischen dem „Zeugnis der Kirche in ihrer Verkündigung und dem Zeugnis der Kirche in ihrer historischen Arbeit“64 an. Hiervon ausgehend seien nun drei positive Aspekte einer kritischen Kirchengeschichtsschreibung zu nennen, nämlich erstens die Einsicht, dass die Grenzen der Kirche menschlich gesehen nicht sichtbar und somit das Objekt der Kirchengeschichtsschreibung zugleich auffindbar und unauffindbar sei, zweitens die Bereitschaft, die historisch-kritische Forschung ganz und gar zu respektieren und drittens die Verpflichtung gegenüber der biblischen „,Urkunde‘“65. Die dialektischen Theologen seien hinsichtlich des Projekts einer kritischen Kirchengeschichtsschreibung folglich dahingehend zu korrigieren, die „Aufmerksamkeit für die historischen Details“66 nicht zu begrenzen. Die Herausforderungen für kirchliche Praxisfelder Berkelbach van der Sprenkel eignet sich das Thema des Sammelbandes in seinem Beitrag, De kerk (Die Kirche)67, anhand einer Interpretation des Begriffs „Kirche“ als einer von Gott offenbarten, sich am Menschen ereignenden und damit zur Geschichte gewordenen Verborgenheit an. Sie sei von Haus aus nicht so sehr als Institution oder Vereinigung, sondern als ein Objekt des Glaubens anzusehen. Als Tat Gottes am Menschen habe sie auch eine menschliche, nicht einheitliche Gestalt und sei als in der Welt kämpfende Kirche anzusehen. In der Konsequenz des von Barth entlehnten Offenbarungsbegriffs68 seien Kirche und Welt also nicht als zwei getrennte Bereiche anzusehen. Ebenfalls mit Barth69 sei an die faktische Sündhaftigkeit der Kirche zu erinnern. Ein derartiger Kirchenbegriff impliziere auch eine kirchliche – allerdings nicht sich selbst verherrlichende – Kulturaufgabe. Mit Barth sei die wesentliche Einsicht festzuhalten, dass eine sich als Tat Gottes verstehende Kirche keine Angst vor Selbstverlust haben sollte – ein Thema, mit dem Berkelbach van der Sprenkel wohl eine der größten Herausforderungen für ein neues kirchliches Selbstverständnis im Rahmen des kirchlichen Reorganisationsprozesses der Nederlandse Hervormde Kerk punktgenau benennt. In einer ähnlich weltoffenen Richtung versteht Eijkmann in seinem Beitrag, Christelijk jeugdwerk (Christliche Jugendarbeit)70 die Herausforderungen der dialektischen Theologie für die verschiedenen Praxisfelder der kirchlichen Arbeit, insbesondere in der ihn beschäftigenden Zukunft der kirchlichen Jugendarbeit. Zwar habe die dialektische Theologie sich bislang wenig mit Ethik 64 65 66 67 68 69 70
AaO., 180. AaO., 183. AaO., 185. S.F.H.J. Berkelbach van der Sprenkel, De kerk, in: Ders., De openbaring, 125 – 142. Berkelbach van der Sprenkel weist auf Barth, KD I/1, § 5, 160. Zu denken ist m. E. an die zweite Auflage des Römerbriefs. J. Eijkman, Christelijk jeugdwerk, in: Berkelbach van der Sprenkel, De openbaring, 205 – 218.
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und persönlicher, sozialer und politischer Lebenspraxis beschäftigt, doch könne man ihr spätestens seit Barths Stellungnahme im Kirchenkampf und dem Erscheinen von Theologische Existenz heute keinen Quietismus71 mehr vorwerfen, zumal Barth ja auch aktives Mitglied der Sozialdemokratischen Partei sei – für niederländische versäulte Verhältnisse, so möchte ich hinzufügen, ein durchaus herausfordernder Tatbestand. Obwohl die dialektischen Theologen selber ein christliches Organisieren oder eine christliche Organisation ja eher mit Misstrauen betrachteten, so Eijkman, habe ihr Ausgangspunkt, dass allein der Geist Gottes das Königreich begründe, durchaus weitreichende praktische Folgen; er impliziere nämlich eine Problematisierung des Prädikats „christlich“ bei christlichen Schulen, Vereinigungen und Gruppen – in den versäulten Niederlanden ja tatsächlich eine Problematisierung der Versäulung als solcher. Ausgehend vom Gedanken, dass der Geist selber das Königreich Gottes baue, ergebe sich als Herausforderung der dialektischen Theologie für niederländische Verhältnisse, so Eijkman, eine Öffnung hin zu nicht-christlichen Organisationen: Das bedeutet, dass es also theologisch, dass es also christlich möglich ist, dass es von Gott aus möglich ist, dass Er Sein Königreich für die Jugend mithilfe der nicht„christlichen“ Arbeiter-Jugend-Zentrale, oder der öffentlichen Schule oder der Sportvereinigung Ajax baut.72
Die Antithese zwischen Königreich und Welt – ein in der neocalvinistischen Tradition grundlegender Merksatz – verschwinde dabei nicht, verschiebe sich aber : Beide könnten „zugleich sowohl das Königreich Gottes als auch die Welt sein, oder einmal Königreich und dann wieder Welt oder hierin […] Königreich Gottes und darin Welt“73. Das heilsam nüchterne Wort vom vollkommenen Gehorsam gegenüber dem Wort Gottes sei ein von den dialektischen Theologen wieder ausgegrabener Grund für die praktische Arbeit in der Kirche. Der Ausdruck schließe einen Kooperationsgedanken gründlich aus und habe den Vorteil, dass er das übliche Jagen nach Mitgliederbeiträgen und Resultaten unterbinde. Zu verteidigen sei bezüglich der Jugendarbeit eine nicht nur theoretische, sondern auch praktische „Politik der ,Offenen Tür‘“74, die einerseits das Wort „christlich“ nicht zu einer Barriere werden lasse, andererseits aber, wo notwendig, eine Selbstabgrenzung und gewisse Isolierung gegenüber der Welt nicht ausschließe. Es gehe darum, die Jugendlichen als „Nächste im Namen Gottes“75 in ihrer Not und in ihren Bedürfnissen als solche ernst zu nehmen. 71 Gerade dieser Aufsatz ist in Deutschland oftmals als quietistisches Dokument wahrgenommen worden. 72 Eijkman, Christelijk jeugdwerk, 209. 73 AaO., 210. 74 AaO., 216. 75 AaO., 214.
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252 Die Entstehung des niederländischen Barthianismus als Herausforderung An dieser Stelle verdienen die Entwicklungen innerhalb der christlichen Jugendarbeit der Amsterdamse Maatschappij voor Jongemannen (AMVJ, Amsterdamer YMCA; SH) weitere Beachtung. Darum sollen sie mittels eines Exkurses dargestellt werden: Johan Eijkman (1892 – 1945) wurde 1920 der Generalsekretär der Vereinigung und prägte deren Erscheinungsbild in den 20er und 30er Jahren entscheidend mit. Im zweiten Kapitel dieser Studie stellte ich bereits dar, dass Eijkman schon sehr früh mit Karl Barth als Person und mit Barths Theologie in Kontakt gekommen war. So lernte er Barths Gedanken bereits ab 1922 nach seiner von 1911 – 1919 währenden Studentenzeit als Theologiestudent in Utrecht über Nico Stufkens in der Nederlandse Christen Studenten Vereniging (NCSV) kennen. Und so fand sich bereits in seiner 1924 an der Utrechter Universität verteidigten Promotion über den deutschen Pädagogen Friedrich Wilhelm Foerster (1869 – 1966)76 eine abschließende kritische Würdigung von Foersters Gedankengut aus der Perspektive des „Streben[s] von Männern wie BARTH, BRUNNER, KUTTER, THURNEYSEN u. a., [die] in unseren Tagen einen kräftigen Versuch unternommen hätten, um von theologischer Seite zu einer ,Neu-Orientierung‘ zu kommen“77. Dieser Versuch impliziere vor allem „die Anerkennung der Sünde einerseits und der Heiligkeit Gottes andererseits“78. Beachtenswert ist außerdem Eijkmans vielfältiger persönlicher Kontakt zu Karl Barth: So trat er nach dem Eijkman-Biographen Maarten van der Linde79 nicht nur als Barths Gastgeber bei dessen erstem Niederlande-Besuch im Jahr 1926 auf, sondern beherbergte Barth und seine Frau bis zum Jahr 1939 auch bei vielen anderen offiziellen und nicht-offiziellen Besuchen in den Niederlanden. Zudem spielte er eine organisatorische Rolle bei der Frage, ob und wie man dem an der Bonner Universität entlassenen Barth eine Professur an der Utrechter Universität verschaffen könne. Bekannt wurde er etwa auch durch seine Rede De vragen van het volk en de antwoord van de kerk (Die Fragen des Volkes und die Antwort der Kirche)80, in der er sich angesichts des richtenden Urteils Gottes gegen christliche „Programme“81 und „Richtlinien“82 aussprach83 und sich dadurch als so genannter konsequenter Barthianer84 auszeichnete. 76 J. Eijkman, F.W. Foerster als zedelijk opvoeder, ’s Gravenhage [J. unbek.]. 77 AaO., 71. 78 AaO., 73. Eijkman bezieht sich in seiner Auseinandersetzung mit der aufkommenden dialektischen Theologie vor allem auf E. Brunner, Die Mystik und das Wort. Der Gegensatz zwischen moderner Religionsauffassung und christlichem Glauben dargestellt an der Theologie Schleiermachers, Tübingen 1924 und auf E. Thurneysen, Dostojewski, München 1921. 79 Vgl. die Recherchen von Van der Linde, Het visioen, 188 ff. 80 J. Eijkman, De vragen van het volk en het antwoord van de kerk, Elth 92, 1937/38, 22 – 27. 81 Eijkman, De vragen, 25. 82 Ebd. 83 Das gesamte Zitat lautet: „Keine anderen Götter vor Seinem Angesicht. Die Antwort Gottes, keine anderen Antworten vor Seinem Angesicht, keine Programme, keine Richtlinien, es geht von Weide zu Weide: der Herr wird dafür sorgen. Kein einziger sicherer Kurs als der Seinige wird vor Seinem Angesicht standhalten. Das darf dem in Linien denkenden, Gräben und Kanäle grabenden und Deiche errichtenden Volk in erster Linie gesagt werden“ (Übers. SH); aaO., 25. 84 Zu der in den Niederlanden geläufigen Unterteilung in konsequente und nicht konsequente Barthianer vgl. ausführlicher Kap. 8 dieser Studie.
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Als Generalsekretär der AMVJ sorgte Eijkman für die Verbreitung der theologischen Ideen Karl Barths. Dabei konnte er durchaus an bereits bestehende, AMVJ-interne Diskussionen anknüpfen: Dort grenzte man sich nämlich schon seit der Gründung der AMVJ am 17. November 1909 insofern bewusst von der traditionellen christlichen Jugendarbeit ab, als man im Gegensatz zur Mutterorganisation (YMCA) das „C“ im Namen wegließ. So findet man bereits 1919 in der in diesem Jahr erstmalig herausgegebenen AMVJ-Mitgliederzeitschrift De Stuwing eine Diskussion über den Gebrauch des Wortes „christlich“: Die zeitgenössische Jugend, so ein unbekannter Autor in der Oktobernummer, sei weniger dogmatisch, eher allgemein religiös interessiert. Gegen den Gebrauch des Wortes „christlich“ habe sich bei ihr eine allgemeine Abneigung entwickelt. Außer Wahrheit und Schönheit erwarte die Jugend von der Religion vor allem „soziale Taten, soziale Praxis“85 – eine Erwartungshaltung, auf die man im AMVJ in Kombination mit einer offenen christlichen Grundeinstellung aus Überzeugung einging. Das Ideal der AMVJ, so hiess es bereits 1919, sei die weltanschauliche Verschiedenheit der Mitglieder. Der politischen, nämlich gegen die neocalvinistische Politik der Antithese gerichteten Relevanz dieses Ideals war man sich durchaus bewusst: „In der Welt der Jugend soll die Antithese auf gar keinen Fall herrschen“86, hieß es in der Novembernummer desselben Jahrgangs. Anders als etwa in Amerika oder in England hätten in den Niederlanden viele Jugendliche aufgrund ihrer Unkenntnis oder gerade auch aufgrund ihrer Kenntnis des niederländischen Christentums diesem gegenüber eine sehr negative Einstellung. In der Juninummer von 1931 findet sich ein Beitrag von Johan Eijkman, in dem dieser sich explizit gegen die „wohlbewusste Isolierung“87 des niederländischen Protestantismus im Allgemeinen und der christlichen Jugendarbeit im besonderen wandte, ja die Meinung vertrat, dass die niederländische christliche Jugendarbeit durch eine bewusste Teilnahme „am Leben Andersdenkender“88 selbst ein weltweit relevantes Zeichen setzen könne. 1934 wurde De openbaring der verborgenheid begeistert rezensiert89, und 1938 folgte eine ebenso begeisterte Rezension90 des Barthromans Een zoon begraaft zijn vader von Henk von Randwijk. Die Septembernummer von 1935 widmete sich noch einmal selbstbewusst und grundlegend den Zielen der AMVJ: Da diese eine Vereinigung christlichen Ursprungs für junge Menschen aller religiösen und politischen Richtungen sein wolle, stelle sie in den politisch und weltanschaulich sehr polarisierten Niederlanden „eine theoretische Unmöglichkeit“91 dar. Die bei der AMVJ bestehende und gelebte Praxis beweise, „dass in dieser felsenfesten holländi-
85 86 87 88 89 90 91
Anon., Geen verslag maar enkele gedachten, Stuw 1, 1919, Nr. 9, 86 f, 87. Anon., Waarom geen ,C‘?, Stuw 1, 1919, Nr. 10, 95 f, 95. J. Eijkman, Wat is een YMCA, Stuw 13, 1931, Nr. 6, 101 – 103, 102. AaO., 103. J.P. van Bruggen, Jeugdwerk en …. Theologie, Stuw 16, 1934, Nr. 7, 143 f. E. van W[…], Een zoon begraaft zijn vader, Stuw 20, 1938, Nr. 11, 187 f. Anon., Wat wil toch de A.M.V.J.?, Stuw 17, 1935, Nr. 9, 166 f, 166.
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254 Die Entstehung des niederländischen Barthianismus als Herausforderung schen Theorie ein Fehler verborgen“92 sein müsse. Der letzte Beitrag dieser Ausgabe endete programmatisch mit den Worten: So rufen wir alle Gruppen und alle Einzelnen innerhalb ,der‘ niederländischen Jugend auf, alle, die von den ,Trennwänden‘ und ,Schubladen‘ genug haben, alle, die mit uns erkennen, dass unser niederländisches Volk an dieser Volkszersplitterung zugrunde geht und vor allem auch diejenigen, die für sich selber wissen, dass diese ,Isolier-Politik‘ nicht nur unsere Volksseele angreift, sondern dass damit unser höchster Auftrag verleugnet wird.93 Dass die gegen die Antithese gerichtete Politik der offenen Tür der AMVJ, die die Jugendlichen aller christlichen und weltanschaulichen Strömungen mit einem auf die Belange und Interessen der Jugend selbst ausgerichteten Programm ansprechen sollte, tatsächlich von der Theologie Barths mitinspiriert wurde, macht nicht nur Eijkmans obiger Beitrag über den Heiligen Geist als den einzigen wirklichen Errichter des Königreichs Gottes in De openbaring der verborgenheid deutlich. Der Sachverhalt wurde innerhalb der AMVJ auch von anderen entsprechend wahrgenommen. So schrieb van Eijkmans Mitarbeiter J[…] P. van Bruggen in der bereits erwähnten Rezension von De openbaring der verborgenheid anknüpfend an ein Zitat aus Eijkmans Beitrag in De stuwing: Das Prinzip der ,Offenen Tür‘, nicht ,im Prinzip‘ sondern wirklich ein ,alle praktisch Willkommen‘ ist die einzige Antwort, die wir angesichts der Not der Jugend, die uns als Nächste im Namen Gottes fragt, geben dürfen.“ Nicht wahr, A.M.V.J.-er? Bekannte Gedanken! Aber ihr wusstet wahrscheinlich nicht, dass sie einem verborgenen Grund entspringen, der mehr als eine persönliche Ansicht ist. Dass die Jugendarbeit auf diese Art und Weise ihren Ort im Arbeitszimmer der zeitgenössischen Theologie94 findet, darf uns durchaus kurz ganz still machen, uns, die wir es meistens nicht gewohnt sind, danach zu fragen, aus welchen letzten Tiefen unsere Argumente für oder gegen diese Ansichten kommen!95 Seit 1925 wurden für die jugendlichen Leser von De stuwing auch immer wieder kleine Fragmente von Karl Barth selber übersetzt und abgedruckt: So findet sich in der Novembernummer des Jahres 1925 ein Fragment aus dem Römerbrief, in welchem Barth das Bild des chinesischen Philosophen Lao Tse von der leeren Mitte des Wagenrades zur Illustration der um Gottes Offenbarung selber willen notwendigen Begrenzung menschlicher Gotteserkenntnis heranzog – ein Motiv, welches das in der niederländischen Barth-Rezeption sehr verbreitete Interesse an erkenntnistheoretischen Frage spiegelt. Und so fand sich in der Aprilnummer des Jahres 1926 ein 92 AaO., 167. Gemeint ist die Antithese beziehungsweise die damit zusammenhängende Versäulung. 93 Anon., A.M.V.J. aan de Nederlandse jeugd. Ook aan de christen jeugd gericht, Stuw 17, 1935, Nr. 9, 185 f, 186. 94 Gemeint ist die so genannte Schweizer Theologie und insbesondere die Theologie Karl Barths. 95 Van Bruggen, Jeugdwerk, aaO., 144.
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Fragment aus Barths Die Auferstehung der Toten, in dem eine Zuschauertheologie nicht nur abgelehnt, sondern auch an Gott als den Herrn gerade des irdischschwachen Körpers und an die biblische Bedeutung der Leiblichkeit erinnert wurde – ein Motiv, welches beispielsweise auch von Oepke Noordmans explizit im Zusammenhang mit seiner Barth-Rezeption aufgegriffen wurde. Und so fand sich in der Juninummer desselben Jahres wiederum ein Zitat aus Barths Römerbrief, in dem der oft vergessene Unterschied zwischen Ewigkeit und Zeit auch für jeden einzelnen Menschen betont und die dem Menschen verfügbaren zeitlichen Begriffe und Maßstäbe relativiert wurden – ein Motiv, welches nicht nur persönlich-existentielle Bedeutsamkeit hat, sondern auch eine Kritik des christlichen Organisierens und Verfügens impliziert und von daher auch ein zentrales Anliegen niederländisch-barthianischer Kritik an der neocalvinistischen Organisationskultur trifft. Und so fand sich in der Januarausgabe des Jahres 1934 ein Fragment aus der von Karl Barth und Eduard Thurneysen herausgegebenen Reihe Theologische Existenz heute96, das über den Kirchenkampf in Deutschland orientieren sollte, auf Barths Engagement gegen die Deutschen Christen einging und auf die Gefahr aufmerksam machte, dass es im Ausland vergleichbare Fronten gebe. Doch wurde die Theologie Karl Barths in De stuwing nicht nur übersetzt und publiziert, es finden sich in mehreren Beiträgen auch erste kulturtheoretische Interpretationen und Anwendungen. So zeigte J[…]P. Bruggen in der Mainummer von 193297, dass das von Barth inspirierte Motiv der Rechtfertigung auch der Gottlosen beziehungsweise aller Sünder praktisch gesehen zu einer gegenüber der traditionellen christlichen oder auch humanistischen Auffassung von Nächstenliebe alternativen Solidaritätsauffassung führen könne, die auch die Jugendarbeit betreffen könne, dass nämlich alle Menschen der Hilfe bedürften. Und so wies J[…] Haveman in einem Beitrag in der Oktobernummer des Jahres 193698 darauf hin, dass Karl Barths Theologie im Hinblick auf die Frage nach der Verhältnisbestimmung zwischen Christentum und Kultur nicht nur eine Kritik an der theologischen Philosophie eines Thomas von Aquin sei, sondern auch eine Kritik an der Idee einer christlichen Wissenschaft auf Grundlage der Wiedergeburt bei Abraham Kuyper impliziere. Barth weise demgegenüber wieder auf die Diskontinuität zwischen Mensch und Offenbarung hin. Mit ihm könne man nicht mehr im Sinne einer Synthese zwischen Theologie und Philosophie arbeiten. Zu einer positiven Ausformulierung dieser Erkenntnis kam es aber in Havemans Beitrag nicht.
Zurück zu den Beiträgen in De openbaring der verborgenheid: Auch der Ökumeniker Visser ’t Hooft sieht im Begriff des Gehorsams ein wichtiges Stichwort, welches er in seinem von der kritischen Anfrage Barths inspirierten Beitrag Het thema der oecumenische beweging (Das Thema der ökumenischen 96 Vgl. K. Barth, Die Kirche Jesu Christi, TEH 5, 1933, 3 – 10. 97 J.P. van Bruggen, Populariteit en beginsel, Stuw 14, 1932, Nr. 5, 94 – 96. 98 J. HAVEMAN, De onmogelijkheid van de theologie als wetenschap, Stuw 9, 1936, Nr. 10, 196 – 199.
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256 Die Entstehung des niederländischen Barthianismus als Herausforderung Bewegung)99 als eine diesbezügliche Herausforderung betrachtet. Die paradoxe Hauptproblematik der ökumenischen Bewegung sei ja die Spannung zwischen der geglaubten Einheit der Kirche als Leib Jesu Christi und der faktischen Vielzahl der historisch bestehenden Kirchen. Die einzig denkbare Lösung dieses Problems bestehe wie bei allen christlichen Themen in der Einsicht, dass es „keine Lösung habe, es sei denn in der aktuellen Tat Gottes selber“100 Ein derartiges Verlangen lasse sich nicht mit abstrakten Visionen befriedigen, sondern eben nur mit der Gnade Gottes an denjenigen, die sich im Gehorsam gegenüber Gott übten. Einen anderen ebenfalls praxisorientierten Beitrag, der sich wieder direkter mit dem Thema der Offenbarung der Verborgenheit auseinandersetzt, bietet der später berühmt gewordene Doorbraak-Pfarrer Buskes. In Nationale goederen (Nationaler Besitz)101 skizziert er anhand zahlreicher Einzelbeispiele das Aufblühen des Nationalismus und die zunehmende Wertschätzung nationalen Besitztums auch in den Niederlanden. Der zunehmende Nationalismus sei in den Niederlanden zwar nicht religiös zu nennen, habe aber eine kirchliche Variante, die vom orthodoxen Protestantismus in vielerlei Hinsicht verteidigt werde. Buskes schließt sich Barths Kritik am Begriff der Schöpfungsordnungen102 an und weist auf die Gefahr einer Verwechslung dieses Begriffs mit dem Begriff des Gebotes Gottes hin. In den Niederlanden habe diese zu einer Verteidigung „bestimmter Formen der Familie, der Autorität und des Volkes als Schöpfungsordnungen“103 und der Verwechslung einer „bestimmten christlichen bürgerlichen Weltanschauung“104 mit dem „Glauben an Jesus Christus“105 geführt. Die Kritik des Begriffs „Schöpfungsordnungen“ führe in den Niederlanden insbesondere auch zu einer Kritik der typisch gereformierten Lehre der algemene gratie (allgemeine Gnade) und einer souvereiniteit in eigen kring (Souveränität im eigenen Kreis), die vom Vater des Neocalvinismus Abraham Kuyper entwickelt und vom ebenfalls gereformierten Philosophen Herman Dooyeweerd untermauert und neu formuliert worden sei. Hierbei sei insbesondere die religiöse Ehrung des Nationalen als einer Schöpfungsordnung abzulehnen, wie sie etwa in der von orthodox-christlicher Seite sehr geliebten Parole „Gott, Niederlande und Oranje (das Königshaus; SH)“ oder in den geschichtstheologischen Implikationen der ursprünglich von Groen van Prinsterer stammenden und in der Orthodoxie ebenfalls sehr beliebten Parole „Es steht geschrieben und es ist geschehen“ zum Ausdruck komme. Letztere Parole identifiziere praktisch das 99 W.A. Visser ’t Hooft, Het thema der oecumenische beweging, in: Berkelbach van der Sprenkel, De openbaring 159 – 170. 100 AaO., 168. 101 J.J. Buskes, Nationale goederen, in: Berkelbach van der Sprenkel, De openbaring, 187 – 204. 102 Barth wandte sich erst ab 1932 in KD I/1 gegen diesen Begriff. 103 Buskes, Nationale goederen, 193. 104 Ebd. 105 Ebd.
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Die Offenbarung der Verborgenheit
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Zeugnis der Bibel mit historischen Anschauungen und legitimiere das historisch Gewordene mit der Offenbarung Gottes, so dass das historisch Gewordene als das historisch Notwendige angesehen werde.106 Indem man die Offenbarung Gottes in Jesus Christus neben die Offenbarung Gottes in der Geschichte gestellt habe, so Buskes’ Bezug zum Thema des Buches, habe man die Verborgenheit Gottes in der Geschichte ignoriert, die Grenze zwischen Gottes offenbarem und seinem verborgenen Willen ausgelöscht und die Geschichte und das Gebot Gottes gleichgesetzt. Gehe die eschatologische Erwartung zugrunde, spreche man mit zu großer Selbstverständlichkeit über „das christliche Europa, die christlichen Niederlande, christliche Kulturgüter [und] die christlichen Grundlagen des gesellschaftlichen Lebens“107. In Wahrheit aber löse „das Evangelium des Kreuzes […] den Menschen aus dem nationalen Zusammenhang“108 und mache ihn zu einem der Not des eigenen Volkes gegenüber allerdings nicht gleichgültigen „Fremdling“109. Rückblick Im Rückblick lassen sich einige Tendenzen von De openbaring der verborgenheid und damit der Entwicklung des niederländischen Barthianismus in den 30er Jahren festhalten: Hervorzuheben ist erstens das breite Spektrum der repräsentierten theologischen und kirchlichen Fach- und Interessengebiete, für die die Theologie Barths eine Herausforderung darstellten. Zweitens ist die Tatsache hervorzuheben, dass die Barths Theologie in allen Strömungen der niederländischen reformierten Kirche oft im Zusammenhang mit allgemeinen geistesgechichtlichen Strömungen gelesen wurde; ihre Rezeption verfolgte also von Anfang an ein kontextuelles Interesse. Dieser Ansatz ließ sich zuvor auch schon bei dem niederländischen rechtsmodernen (liberalen), remonstrantischen Theologen Karel Hendrik Roessingh beobachten. Betrachtet man einmal die inhaltlichen Haupttendenzen der drei genannten Themenfelder, so ist drittens festzuhalten, dass die wohl bedeutsamste erkenntnistheoretische Herausforderung in der Entdeckung der Möglichkeit einer freien Bezugsnahme Gottes auf den Menschen lag. Als die wichtigste Herausforderung für die theologischen Fachdisziplinen ist viertens die eigenständige niederländische Entwicklung einer exegetischen Methode jenseits des Gegensatzes zwischen historisch-kritischer Methode und orthodoxer Verbalinspiration anzusehen. Hinsichtlich der kirchlichen Praxisfelder ist fünftens die Entwicklung einer weltoffenen Orientierung der Kirche und der kirchlichen Arbeitsfelder hervorzuheben, eine Tendenz, die sich im Zusammenhang mit dem in den folgenden Kapiteln noch näher zu beschreibenden Doorbraak 106 Buskes stellt die These auf, dass der in den Niederlanden sehr einflussreiche G. van Prinsterer seinerseits vom deutschen Rechtsphilosophen F.J. Stahl beeinflusst worden war. 107 AaO., 201. 108 Buskes, Nationale goederen, 203. 109 Ebd.
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258 Die Entstehung des niederländischen Barthianismus als Herausforderung auch weiterhin durchsetzen wird. Darin deutete sich eine Alternative zu der besonders von neocalvinistischen Kreisen profilierten Rede von einer christlichen Politik und einer christlichen Kultur an, die selber allerdings nicht unpolitisch oder antikulturell war. Als die theologische Hauptfront der Barthianer innerhalb des im vorherigen Kapitel beschriebenen polarisierten Rahmens schälte sich somit entgegen den auch selbstkritischen Intentionen der zumeist der kirchlichen Mitte entstammenden Autoren von De openbaring der verborgenheid anders als teilweise in Deutschland weniger die liberale Theologie heraus, sondern immer deutlicher die vor allem in neocalvinistischen Kreisen verbreitete Politik der so genannten Antithese, also die Behauptung der Ausschließlichkeit von Christentum und (säkularer) Welt, einschließlich der dazugehörigen Theologie der Schöpfungsordnungen.
7.3 Historische Entwicklungen der Vorkriegszeit in den Niederlanden110 Die Entstehung eines niederländischen Barthianismus in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts vollzog sich allerdings nicht nur intern als Auseinandersetzung zwischen (akademischen) Theologen und kirchlichen Funktionären, sondern wie bereits in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts auch weiterhin im direkten Austausch mit Karl Barth selber : In den 30er Jahren des 230. Jahrhunderts war Barth zweimal aus offiziellem Anlass beziehungsweise in seiner Funktion als Exponent einer neuen theologischen Richtung in den Niederlanden, 1935 und 1939. Zudem reiste er vor der deutschen Besetzung der Niederlande am 10. 5. 1940 noch mehrere Male auf Grund seiner Rolle im deutschen Kirchenkampf in die Niederlande, da diese sich als Gastgeber der für die Bekennende Kirche wichtigen Gespräche mit dem seit 1935 aus Deutschland ausgewiesenen Karl Barth angeboten hatten. Im Folgenden greife ich in chronologischer Reihenfolge die wichtigsten Ereignisse aus der Zeit vor der deutschen Besatzung heraus. Die Entwicklungen in Deutschland ließen die theologische und kirchenpolitische Reflexion Barthscher Theologie in den Niederlanden nicht unberührt. Laut Ger van Roon111, einem renommierten niederländischen Kirchenhistoriker, gab es vor der Zeit der Besatzung immer wieder warnende Stimmen hinsichtlich der Situation in Deutschland, wobei die genaue Einschätzung der Lage von der jeweiligen Sichtweise des Kirchenkampfes in 110 Den folgenden Teil übernehme ich in nur leicht geänderter Form meinem bereits früher publizierten Übersichtsartikel; Hennecke, Zur Barthrezeption, insbes. 143 – 150 (Auswahl). 111 G. van Roon, Protestants Nederland en Duitsland 1933 – 1941, Aula paperback 24, Utrecht/ Antwerpen 1973.
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Historische Entwicklungen der Vorkriegszeit
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Deutschland abhing. Die Synode der Nederlandse Hervormde Kerk unterhielt in dieser Zeit keine offiziellen Kontakte zur Bekennenden Kirche, doch erreichten sie viele Briefe zur Judenverfolgung und zur Verfolgung politisch Andersdenkender in Deutschland. Die abwartende Haltung der Synode der Nederlandse Hervormde Kerk gab dann der niederländischen Kirchengeschichtsschreibung Anlass zu der Schlussfolgerung, dass die organisatorische Spitze der Nederlandse Hervormde Kerk zwar äußerlich unberührt schien, unter der Oberfläche jedoch die Bedingungen geschaffen wurden, um wieder wirklich Kirche werden zu können: durch Impulse in Form von Hilfsaktionen, Gebeten und Berichten an die Synode zur Judenverfolgung. In der Vereinigung für Kirchenaufbau, deren Vorsitzender seit 1931 Prof. Anneus M. Brouwer aus Utrecht war, wurden die Ereignisse besonders aufmerksam verfolgt112 ; die Frage, ob man sich als Kirche hinter die Bekennende Kirche stellen sollte, wurde unter den Mitgliedern, zu denen außer Oepke Noordmans etwa Philipp Kohnstamm, Martinus C. Slotemaker de Brune (abwartend), Gerardus van der Leeuw und Gerrit W. Oberman (beide weniger abwartend) gehörten, kontrovers diskutiert. Zu einer offiziellen Erklärung zum deutschen Kirchenkampf kam es allerdings auch in dieser Kommission nicht. Für dieselbe Periode schlussfolgert die niederländische Kirchengeschichtsschreibung hinsichtlich der Gereformeerde Kerken in Nederland (Gereformierten Kirchen in den Niederlanden), dass in ihnen – anders als in der Nederlandse Hervormde Kerk – der deutsche Kirchenkampf offiziell keine große Rolle spielte. In der Presse nahm man sogar eine auffallend positive Stellung zu Adolf Hitler ein. Gerade auch die in gereformierten Kreisen beachtlichen theologischen Vorbehalte gegen Barth verhinderten eine positive Haltung zur Bekennenden Kirche. Doch gab es Diskussionen über die Unvereinbarkeit der Mitgliedschaft in der NSB (Nationaal-Socialistische Beweging), der zeitweise ca. acht Prozent der Wähler umfassenden niederländischen NSDAP, mit dem (ge)reformierten Bekenntnis. 1936 erklärte die allgemeine Synode der Gereformeerde Kerken in Nederland (Gereformierte Kirchen in den Niederlanden) nicht nur die Mitgliedschaft im NSB, sondern zugleich auch die in der CDU (Christelijk-Democratische Unie), einer linksorientierten, christlichen Duchbruchpartei, welcher viele Barthianer angehörten, als unvereinbar mit dem Bekenntnis. Dass nicht nur die NSB, sondern damit zugleich die (antifaschistische) CDU abgelehnt wurde, ist unter anderem auf den Einfluss des Kampener Dogmatikers Klaas Schilder113 zurückzuführen. Schilder sprach sich auch bereits vor der Synode gegen die Vereinbarkeit der CDU mit dem (ge)reformierten Bekenntnis aus und ging dabei 112 AaO., 14 f. 113 Zum Verhältnis zwischen Schilder und der Amsterdamer Synode vgl. J. Ridderbos, Strijd op twee fronten. Schilder en de gereformeerde „elite“ in de jaren 1933 – 1945 tussen aanpassing, collaboratie en verzet op kerkelijk en politiek terrein, Kampen 21995, 203 – 234 [Diss. Vrije Universiteit Amsterdam].
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260 Die Entstehung des niederländischen Barthianismus als Herausforderung selbst so weit, einen direkten Zusammenhang zwischen dem Aufkommen des niederländischen Barthianismus und dem gerade bei Jugendlichen zunehmenden Hang zum Faschismus114 zu behaupten. Der oben erwähnte neutrale Standpunkt der Synode der Nederlandse Hervormde Kerk spielte auch eine Rolle bei der Frage, ob man Karl Barth nach seiner Entlassung aus Bonn einen besonderen Lehrauftrag in den Niederlanden geben sollte, worum die Utrechter Theologiestudenten in Kooperation mit der commissie voor kerkopbouw (Kommission für Kirchenaufbau) gebeten hatten. Diese Bitte wurde laut Ger van Roon von der Synode zwar abgelehnt, doch konnte Barth aufgrund einer privaten Initiative in den Monaten Februar und März 1935 Seminare an der Universität von Utrecht halten. Das Thema dieser Seminare war die Auslegung des Apostolischen Glaubensbekenntnisses. Dem Kommen Barths wurde in der theologischen Welt mit besonderer Aufmerksamkeit entgegengesehen, wie viele Briefe115 und Publikationen im Vorfeld bezeugen. Die Lesungen wurden, wie zu erwarten, von Studenten und Interessierten aus dem ganzen Lande sehr gut116 besucht. Bereits einige Monate nach Barths Besuch wurden sie, inzwischen von Kornelis H. Miskotte übersetzt und mit Anmerkungen versehen, beim Verlag Callenbach in Nijkerk herausgegeben117, kurze Zeit später auch in Deutschland118. Der Kampener Dogmatiker Klaas Schilder, der seine Polemik gegen Barth bereits in seiner nicht publizierten Inauguralrede vom 17. 1. 1934119 fortgesetzt hatte, nahm Barths Vorträge zum Apostolikum in seinen Lehrveranstaltungen von Mai bis Dezember 1935 zum Anlass, um sich erneut kräftig gegen ihn abzusetzen. Hatte er zu einem früheren Zeitpunkt bereits Barths aktualistische Schriftauffassung kritisiert, richtete er sich nun insbesondere gegen dessen Auffassung einer relativen, aktualisierenden Funktion von Dogmen und Glaubensbekenntnissen120. Doch nicht nur Niederländer zeigten Interesse an Karl Barths Reise: Die 114 K. Schilder, Ook de Christelijke politiek is in gevaar, Re 14, 1933/34, 8 – 20. 115 Vgl. W.A. Visser ’t Hooft an M.C. Slotemaker de Brune, Brief v. 31. 1. 1935, in: Van Roon, Protestants Nederland, 143. Vgl. auch den Artikel von H. Visscher im Gereformeerd Weekblad, der die Aktion stark kritisierte; aaO., 143, Anm. 118. 116 In der ersten Woche wurden sie von 400 und in der zweiten von 300 Interessierten besucht, wie man in einem Brief von M.C. Slotemaker de Brune an W.A. Visser ’t Hooft vom 16. 2. 1935 (WFCS) lesen kann; vgl. aaO., 143, Anm. 119. 117 Barth, De apostolische. Zum Verhältnis zwischen Karl Barth und dem niederländischen Theologen K. H. Miskotte im Zeitraum zwischen 1935 und 1950 vgl. auch H.J. Adriaanse, Karl Barth und Kornelis Heiko Miskotte, in: Beintker/Link/Trowitzsch, Karl Barth im europäischen Zeitgeschehen, 355 – 365. 118 K. Barth, Credo; Ders., Grundfragen. 119 Der Titel dieser Rede lautete: Barthiaanse Existentie-Philosophie contra Gereformeerde Geloofsgehoor-Theologie. Eine Zusammenfassung und Analyse dieser Rede findet sich in: J.J.C. Dee, K. Schilder. Zijn leven en werk, Teil I (1890 – 1934), Goes 1990, insbes. 273 – 279, [Diss. Kampen]. 120 K. Schilder, Dictaat „Credo“. Behandeling der 12 artikelen in verband met „Credo“ van Karl Barth, colleges mei–december 1935, [Kampen] 1935.
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Historische Entwicklungen der Vorkriegszeit
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Gestapo erlegte Barth bereits am Bonner Bahnhof ein Sprechverbot121 auf, das allerdings nach dessen daran anschließenden Erkundigungen nicht auf die Niederlande übertragen werden konnte. Es darf in diesem Zusammenhang schließlich noch erwähnt werden, dass Karl Barth im Jahre 1936 die Ehrendoktorwürde der Utrechter theologischen Fakultät erhielt. 1936 reiste Karl Barth erneut in die Niederlande, diesmal, um dort vom 13.–16.4. im Haus der Amsterdamse Maatschappij voor Jonge Mannen (Amsterdamer CVJM) bei Doorn122 an einem Gespräch führender Männer der Bekennenden Kirche teilzunehmen. Nach Van Roon handelte es sich um „E. Hesse, Immer, Obendiek, Klugkist, Hesse, Vogel, Asmussen, Hellbardt, Harder, Albertz, Niesel und Schlier mit Halstenbach“123. Von niederländischer Seite nahmen auch Johan Eijkman und E[…] van Bruggen teil. Angesichts der prekären Situation der Bekennenden Kirche probierte man auch, die Erlaubnis zu einer Audienz beim in Doorn lebenden emigrierten deutschen ExKaiser Wilhelm II zu erhalten. Da dieser abwesend war, hinterlegte man lediglich die Beschlüsse von Barmen und Dahlem. Beachtenswert erscheint mir der Versuch insbesondere der niederländischen Abteilung der so genannten Ökumenisch-Theologischen-Sozietät, der Bekennenden Kirche mit der Einrichtung einer ökumenisch-theologischen Ausbildungsstätte außerhalb Deutschlands beizustehen. Willem A. Visser ’t Hooft, Simon F.H.J. Berkelbach van der Sprenkel und Geradus H. Slotemaker de Brune gehörten zu den Mitgliedern beziehungsweise dem Vorstand der Sozietät. In Erinnerung an Karl Barths Besuch von 1936 entstand speziell in der niederländischen Abteilung die Idee, ihn nochmals in die Niederlande einzuladen, und zwar nun als einen der Hauptredner. Geradus H. Slotemaker de Brune ergriff hierzu im März 1938 die Initative, während Simon F.H.J. Berkelbach van der Sprenkel und Willem A. Visser ’t Hooft die Anfrage bei Karl Barth unterstützten.124 Dieser stimmte zu, so dass man Mitte Juli 1938 wiederum in Utrecht zu einem Gespräch zusammenkam, diesmal unter wesentlich stärkerer Geheimhaltung als 1936. Die deutschen Gäste waren nach Van Roon unter anderem „Gollwitzer, Schlink, Kreck, Steck, Graffmann, Dehn und Hellbardt“125. Nicht alle eingeladenen Deutschen waren gekommen, und die, die gekommen waren, hatten sich schlecht vorbereitet. Aus der Schweiz kam außer Barth auch Arthur Frey, der Direktor des schweizerischen protestantischen Pressebüros. Viele Teilnehmer fühlten sich unbehaglich, ja meinten, auf dem Wege Gestapospione gesehen zu haben. Die Gesprächsthemen waren: die politischen Implikationen des Kirchenkampfes, Martin Niemöllers Verhaftung und Transport in ein Konzentrationslager, Karl Barths 121 Vgl. K. Barth an den unbekannten Pfarrer, Brief v. 2. 3. 1935 [Abschrift K. Barth], in: Van Roon, Protestants Nederland, 143, Anm. 122. 122 AaO., 143. 123 AaO., 153. 124 AaO., 154. 125 AaO., 155.
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262 Die Entstehung des niederländischen Barthianismus als Herausforderung für viele Teilnehmer nicht ganz unproblematischer Vortrag Rechtfertigung und Recht vom Juni 1938 über eine nähere Verbindung zwischen Theologie und Politik und die beiden Aufsätze Schrift und Bekenntnis126 und Kirche und Staat127. Bereits im Oktober desselben Jahres schrieb Geradus H. Slotemaker de Brune erneut an Karl Barth und Willem A. Visser ’t Hooft, weil sowohl die Deutschen als auch die Niederländer das Bedürfnis hatten, die Gespräche fortzusetzen. Aus praktischen Gründen sollten diese Gespräche dann im Zusammenhang mit dem bereits für März 1939 in Planung befindlichen zweiten offiziellen theologischen Aufenthalt Karl Barths in den Niederlanden stattfinden. Trotz eines persönlichen Besuchs von Jan Koopmans bei Karl Barth in Basel entschied dieser sich aber letztlich aus persönlichen und organisatorischen Gründen, aber auch aus Enttäuschung hinsichtlich der politischen Bedeutung der Theologie bei vielen Deutschen während des vorherigen Gesprächs dagegen.128 So wurde das ursprüngliche Ziel der Sozietät, nämlich der Bekennenden Kirche von niederländischer Seite mit der Gründung einer theologischen Ausbildungsstätte weiterzuhelfen, aus dem Auge verloren. Karl Barths gerade auch von studentischer Seite sehr gut besuchten theologische Vorträge im Jahre 1939 an den fünf theologischen Fakultäten der Niederlande (Utrecht, Leiden, Kampen, Groningen und Amsterdam) hatten das Interesse am deutschen Kirchenkampf in den Niederlanden jedenfalls vergrößert. Dass es sich gerade auch um ein studentisches Interesse handelte, darf nicht unterschätzt werden: zwar hatten die Studenten in der Zeit vor der Besatzung kaum öffentlichen Einfluss, das änderte sich jedoch nach 1940. Während seiner Reise durch die Niederlande wurde Karl Barth vom Geheimdienst beschattet.129 Bereits im Vorfeld ordnete der niederländische (gereformierte) Ministerpräsident Hendricus Colijn an, dass Karl Barths Vorträge vorher kontrolliert und gutgeheißen werden mussten. Barth wies diese Prozedur zurück130 und er lehnte es auch ab, nicht über Politik zu sprechen.131 Die Vereinigung Niederländischer Theologiestudenten gab auf Empfehlung der Leidener Polizei daraufhin Ratschläge zur größtmöglichen Vermeidung politischer Diskussionen. Zwar handelte es sich bei Karl Barths Vortrag in Groningen, Die Souveränität des Wortes Gottes und die Entschei-
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Ebd., Anm. 75. Ebd., Anm. 76. AaO., 156. Zu den Details vgl. Van Roon, Protestants Nederland, 144 f. K. Barth an S.F.H.J. Berkelbach van der Sprenkel, Brief v. 27. 2. 1939 [Abschrift K. Barth], in: Van Roon, Protestants Nederland, 144, Anm. 127. 131 Vgl. K. Barth an die Theologische Faculteitsvereniging van de SU Amsterdam, Brief v. 27. 2. 1939 [Abschrift K. Barth] und K. Barth an die Vereniging van Studenten van de Theologische Faculteiten (VSTF), Brief v. 27. 2. 1939 [Abschrift K. Barth], in: Van Roon, Protestants Nederland, 144, Anm. 128.
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dung des Glaubens132, vor allem um eine theologische Abhandlung, doch ging Barth in den fünf Universitätsstädten je nach dem vom Geheimdienst zugestandenen Spielraum in der Diskussion immer wieder auf politische Fragen und Fragen zum deutschen Kirchenkampf ein. Zu einem Kaffeetrinken mit dem „christlichen Ministerpräsidenten Colijn“133 hatte er allerdings dann keine Lust mehr.
7.4 Die erste Hälfte der 40er Jahre: Karl Barths Bedeutung für den niederländischen Widerstand134 Am 10. 5. 1940 wurden die Niederlande von Deutschland angegriffen und besetzt. Damit war die bislang neutrale Haltung der Niederlande aufgegeben. Will man verstehen, wie es dazu kam, dass die Person und Theologie Karl Barths nach dem Krieg zu einem dominanten Faktor in der niederländischen theologischen Landschaft wurde, so darf eine Darstellung seines bedeutenden Einflusses auf die kirchliche Widerstandsbewegung keinesfalls fehlen. Der folgende Abschnitt soll helfen, sich einen Überblick zu verschaffen: Der Barmer Theologischen Erklärung, als deren tonangebender Verfasser Karl Barth bezeichnet werden kann, wurde in kirchlichen Kreisen viel Aufmerksamkeit geschenkt. Allerdings wurde sie nur von der Gereformeerde Kerken in Hersteld Verband (Wiederhergestellte Reformierte Kirchen), einer kleinen Gruppe gereformierter Christen, die sich wieder in die Richtung der alten Nederlandse Hervormde Kerk bewegten, offiziell unterstützt. Doch kam auf Grund des Einflusses dieser Thesen in der Nederlandse Hervormde Kerk ein neuer Elan auf, der zur Anfertigung mehrerer offizieller und inoffizieller kirchlicher Dokumente führte, von denen ich hier die wichtigsten nennen möchte: Im so genannten Lunterse Kring entstanden unter der Leitung von Jan Koopmans, dem Geschäftsführer der NCSV, in starker Anlehnung an die Barmer Theologische Erklärung die so genannten Amersfoorter Thesen. Der Lunterse Kring bestand aus ungefähr vierzig Pfarrern und Gemeindemitgliedern, zumeist aus der Nederlandse Hervormde Kerk, in geringerem Maße auch aus der Gereformeerde Kerken in Hersteld Verband und den Gereformeerde Kerken in Nederland. Viele der Teilnehmer hatten auch schon vor der Besat132 Der Text wurde im Jahre 1939 sogleich ins Niederländische übersetzt: K. Barth, De souvereiniteit van het woord Gods en de beslissing des geloofs (übers. v. A.G. de Bruin), Amsterdam 1939. 133 Vgl. auch K. Barths Kommentar zu dieser Reise: K. Barth an K.L. Schmidt, Brief v. 7.5 1939, in: Van Roon, Protestants Nederland, 145, Anm. 138. 134 Die Arbeitsergebnisse dieses Abschnitts wurden bereits aufgenommen in: Hennecke, Zur Barthrezeption, insbes. 151 – 155.
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264 Die Entstehung des niederländischen Barthianismus als Herausforderung zung Kontakte mit der Bekennenden Kirche gehabt und waren darum besonders gut über die Situation in Deutschland informiert. Die Initiatoren dieses Kreises waren nach Maarten van der Linde Hebe Kohlbrugge, Jan Koopmans und Gerardus H. Slotemaker de Brune, zu den weiteren Teilnehmern sind unter anderem auch Hendrik Kraemer, Nico Stufkens, Kornelis H. Miskotte, Dirk Tromp, Johan Eijkman, Hendrikus Berkhof, Alex Bronkhorst, Henk van der Linde und Johan J. Buskes zu zählen.135 Hebe Kohlbrugge berichtet ergänzend, dass auch der Schriftsteller Henk van Randwijk, der aus Deutschland stammende Pfarrer Klaus Oppenheimer und Hebe Kohlbrugges Schwester Hanna Kohlbrugge zu den Teilnehmenden des Kreises gehörten.136 Des Weiteren hat nach Ger van Roon auch die werkgroep Duitse kerkstrijd (Arbeitsgruppe deutscher Kirchenkampf) unter der Führung des gereformierten Pfarrers Dirk Tromp am Zustandekommen der Thesen mitgearbeitet.137 Deren Mitglieder überschneiden sich teilweise mit denen des Lunterse Kring. Schließlich haben aber nur die Barthianer die Thesen unterzeichnet, von den Professoren lediglich der Jurist Paul Scholten. Die Amersfoorter Thesen wurden in der Illegalität von Menschen aus der Umgebung des Lunterse Kring beziehungsweise der Arbeitsgruppe zum deutschen Kirchenkampf umgearbeitet und 1941 als Bekenntniserklärung von Jan Koopmans unter dem Titel Wat we wel en wat we niet geloven (Was wir glauben und was wir nicht glauben)138 publiziert und heimlich verbreitet. Des Weiteren arbeiteten Kornelis H. Miskotte und Kleijs H. Kroon an dieser Erklärung mit. Sowohl Karl Barth als auch Willem A. Visser ’t Hooft konnten sich mit diesen Thesen einverstanden erklären.139 Im Unterschied zur Barmer Erklärung weisen die
135 Vgl. Van der Linde, Het visioen, 286. 136 Hebe Kohlbrugge berichtete dies in einem Gespräch mit der Verfasserin am 22. 1. 2007 in Utrecht. 137 Ger van Roon berichtet, dass die Initiative zu diesen Thesen bereits auf das Jahr 1937 zurückgeht, als in Doorn wiederum eine Konferenz zum Deutschen Kirchenkampf stattfand, an der Barth diesmal allerdings nicht teilnehmen konnte. Vom gereformierten Pfarrer Dirk Tromp wurde damals bereits eine Arbeitsgruppe initiiert, die „Arbeitsgruppe Deutscher Kirchenkampf“, die sich intensiv mit der Situation in Deutschland beschäftigen wollte. Die Mitglieder dieser Arbeitsgruppe sind nach Ger van Roon nicht mehr genau zu ermitteln, doch waren „auf jeden Fall Tromp, Koopmans, N. de Graaf, N. Stufkens, H. Berkhof, K.E.H. Oppenheimer, G.H. Slotemaker de Brune, H. van Slooten, J.E. Uitman und wahrscheinlich G. Oorthuys“ unter ihnen, wobei namentlich H. Berkhof ein Expos¦ über das Verhältnis von Juden und NichtJuden schrieb; Vgl. Van Roon, Protestants Nederland, 159 [Übersetzung SH]. 138 Abgedruckt in: H.C. Touw, Het verzet der Hervormde Kerk, Bd. 2: Documenten van het kerkelijk verzet, ’s Gravenhage 1946, 227 – 232. Es mag interessant sein, dass zu diesem Bekenntnis eine Gegenschrift von dem nationalsozialistischen (reformierten) Pfarrer W. Th. Boissevain verfasst wurde, Waar wij voor en waar wij tegen getuigen; vgl. H.C. Touw, Het verzet 2, 227. Zu weiteren Informationen über die Amerfoorter Thesen vgl. Ders., Het verzet der Hervormde Kerk, Bd. 1: Geschiedenis van het kerkelijk verzet, ’s Gravenhage 1946, 27 f.85 f.92 f.384. 139 Van Roon, Protestants Nederland, 160, Anm. 113.
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Amersfoorter Thesen, namentlich die vierte These, auch auf die Gefahr des Antisemitismus und auf die bleibende Erwählung Israels hin: Wir glauben und bekennen, dass Gott seit jeher das Volk Israel erwählt hat, um Seine Offenbarung bis zum Erscheinen Jesu, dem aus diesem Volk geborenen Messias, zu empfangen, zu bewahren und im Gehorsam Ihm gegenüber in der Welt zu verkündigen. Es ist eine Tat von Gottes unbegreiflicher freier Gnade, durch die Israel diese Berufung empfangen hat, denn an sich war Israel nicht besser, würdiger oder geeigneter als die anderen Völker. Aber diesem Volk hat der Herr Sein Wort anvertraut, sodass wer zu Gott kommt, bei Israel eingegliedert wird. Darum glauben wir, dass, wer sich gegen Israel stellt, sich dem Gott Israels widersetzt.140 Israel ist zwar ungehorsam gewesen und hat das Wunder seiner Berufung verachtet, als es den Herrn der Herrlichkeit kreuzigte. Und es stimmt, dass Gott Israel dann zeitweise und teilweise eine Verstockung auferlegte, aber in diese Angelegenheit zwischen Gott und Seinem Volk darf sich niemand eigenmächtig und hoffärtig einmischen. Alle, die nicht aus Israel sind, müssen in Israel vielmehr das Zeichen der allmächtigen göttlichen Erwählung und das Zeichen des allgemeinen menschlichen Ungehorsams sehen. Und alle, die aus Israel sind, werden ihre Bestimmung finden, wenn sie sich zum Messias bekehren. Dann wird erfüllt sein, was der Apostel sagt: ,Wenn die Vollzahl der Heiden eingegangen sein wird, so wird ganz Israel selig werden.‘ Darum halten wir den Antisemitismus für viel schwer wiegender als eine unmenschliche Rassenideologie. Wir halten ihn für eine der hartnäckigsten und tödlichsten Formen des Widerstands gegen den heiligen und barmherzigen Gott, dessen Namen wir bekennen.141
Entgegen den Hoffnungen der Verfasser wurden die Amersfoorter Thesen 1941 von der Synode der Nederlandse Hervormde Kerk nicht angenommen. Allerdings wurde von der werkgroep kerk en overheid (Arbeitsgruppe Kirche und Staat) unter dem Vorsitz des Juristen Paul Scholten ein Dokument mit ähnlichem, allerdings sehr entschärftem Gedankengang erarbeitet und im September 1941 von der Synode als Hirtenbrief142 angenommen und verbreitet. Im Oktober 1943 nahm die Synode einen weiteren Hirtenbrief143 an, in 140 Vgl. ähnlich schon Karl Barth: „Was wären, was sind wir denn ohne Israel? Wer den Juden verwirft und verfolgt, der verwirft und verfolgt doch den, der für die Sünden der Juden und dann und damit erst auch für unsere Sünden gestorben ist. Wer ein prinzipieller Judenfeind ist, der gibt sich als solcher, und wenn er im übrigen ein Engel des Lichts wäre, als prinzipieller Feind Jesu Christi zu erkennen. Antisemitismus ist Sünde gegen den Heiligen Geist. Denn Antisemitismus heißt Verwerfung der Gnade Gottes“; vgl. K. Barth, Die Kirche und die politische Frage von heute, in: Eine Schweizer Stimme (1938 – 1945), Zollikon-Zürich 1945, 69 – 107, 90. 141 Touw, Het verzet 2, 228 f. 142 Herderlijk Schrijven I. Herderlijke Brief aan de Kerkeraden tot principieele voorlichting en herderlijke leiding. (September 1941), in: Touw, Het verzet 2, 44 – 51. Weitere Informationen vgl. Ders., Het verzet 1, 93 f. 143 Christelijk geloof en Nationaalsocialisme. Herderlijk schrijven (II) aan de Kerkeraden tot principieele voorlichting bij de leiding der gemeente. (Geschreven in het begin van 1943, maar verzonden october 1943), abgedruckt in: Touw, Het verzet 2, 161 – 169.
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266 Die Entstehung des niederländischen Barthianismus als Herausforderung dem der Nationalsozialismus als fremde Religion verworfen wurde. Ein unversöhnlicher Gegensatz zwischen der christlichen Kirche und dem Nationalsozialismus wurde festgestellt (vgl. die Thesen 2, 4, 5 und 7) und der Antisemitismus wurde als Aufstand gegen Gott und Angriff auf die christliche Kirche bewertet (These 3). An der Vorbereitung dieser Erklärung hatten Kornelis H. Miskotte (Ethik), Theodorus L. Haitjema (Kirchenzucht) und […] Bijlsma (Hauptverfasser) mitgearbeitet. Ein weiteres, wirkungsvolles kirchliches Widerstandsdokument sind die 1943 entstandenen Doornse Thesen144. Sie wurden von Kornelis H. Miskotte unter dem Titel Wij geloven en belijden (Wir glauben und bekennen)145 erarbeitet und von Hendrikus Berkhof mit einem Kommentar vorsehen. Diese Thesen sind weniger als direktes Dokument des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus, sondern vielmehr als ein Produkt kirchenreformerischer Bestrebungen der Vorkriegszeit zu verstehen. Zwar entstanden sie sehr wohl auf Initiative einer offiziellen kirchlichen Körperschaft, nämlich der von Hendrik Kraemer geleiteten werkgroep kerk en gemeenteopbouw (Arbeitsgruppe Kirche und Gemeindeaufbau), doch wurden sie von der Synode nicht als offizielles kirchliches Dokument anerkannt. Die Thesen wurden heimlich verbreitet und erst nach dem Krieg publiziert. Zudem dienten sie als Anknüpfungspunkt für die Reorganisationsbewegung der Nederlandse Hervormde Kerk nach dem Krieg, deren Resultate im nächsten Abschnitt dieses Kapitels beschrieben werden. Von großer Bedeutung sind während der Besatzungszeit auch die verschiedenen Briefe Barths in die Niederlande gewesen: Noch vor der Besatzung der Niederlande schrieb Barth am 28. 2. 1940146 eine umgehende Antwort auf die Anfrage des lutherischen Studentenpfarrers und Vorsitzenden der NCSV, Frans M. Kooyman. Die Anfrage Frans M. Kooymans vom 24. 2. 1940147 bezog sich auf einen zunächst in der niederländischen Wochenzeitung Algemeen Weekblad voor kerk en christendom publizierten offenen Brief Karl Barths an Pfarrer Charles Westphal vom Dezember 1939148, in dem Barth sich einerseits für die Neutralität der neutralen Länder wie der Schweiz und der Niederlande ausgesprochen und andererseits eine direkte Verbindung zwischen dem deutschen Luthertum und dem (nihilistisch ausgeprägten) Nationalsozialis144 Eine von H. Fischer angefertigte Übersetzung befindet sich in: O. Weber (Hg.), Lebendiges Bekenntnis (übers. v. H. Fischer, mit einer Einleitung v. O. Weber), Neukirchen-Vluyn 2 1959, 73 – 75. 145 Für nähere Informationen vgl. Touw, Het verzet 1, 664ff; Ein Abdruck des Textes findet sich in: Generale Synode der Nederlandse Hervormde Kerk (Hg.), Documenten der Nederlandse Hervormde Kerk, 1945 – 1955, ’s Gravenhage 1956, 469 – 496. 146 K. Barth an F.M. Kooyman, Brief v. 28. 2. 1940, in: K. Barth, Offene Briefe 1935 – 1942, hg, v. D. Koch (Karl Barth Gesamtausgabe, im Auftrag der Karl Barth-Stiftung hg. v. H.A. Drewes, V. Briefe), Zürich 2001, 227 – 232 (224 – 237). 147 Ebd. 148 AaO., 213 – 223.
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mus in Deutschland behauptet hatte. Frans M. Kooymans Anfrage vom 24. 2. 1940, wie denn eine solche Neutralität angesichts der Mitschuld der neutralen Länder (namentlich der Niederlande) am Aufkommen des Nationalsozialismus politisch und geistig zu rechtfertigen sei, und ob nicht die freiwillige aktive Beteiligung am Krieg gegen Hitlerdeutschland das angemessene Gebot der Stunde sei, begegnete Karl Barth mit der Erläuterung, dass die neutralen Länder eine aktive, aufmerksame, engagierte Neutralität vertreten müssten: Wir müssen in der Schweiz wie in Holland alles tun, um das Verständnis zu wecken und wach zu erhalten dafür, daß es in diesem Krieg allerdings um die Freiheit von ganz Europa und insofern jetzt schon um unsere eigene Sache geht, daß aber, bis wir direkt zu etwas anderem aufgerufen werden, unser Tun in dieser Sache darin besteht, daß wir unseren Posten halten.149
Den zweiten Teil der Anfrage Frans M. Kooymans führte Karl Barth insofern aus, als er seine Aussagen über einen Zusammenhang zwischen dem Aufkommen des Nationalsozialismus und des Luthertums tatsächlich konkret auf die Verhältnisse in Deutschland bezogen wissen wollte.150 Nach dem Einmarsch deutscher Truppen in die Niederlande und also der Verletzung der niederländischen Neutralität unterstützte Barth aktiv den niederländischen Widerstand. Der bekannteste Brief Karl Barths ist wohl der An meine Freunde in den Niederlanden151 gewesen. Er wurde im Sommer des Jahres Jahre 1942 von einem Mitglied des Lunterse Kring, Hebe Kohlbrugge, über die Grenze geschmuggelt, von Kleijs H. Kroon übersetzt, illegal gedruckt und von Mitgliedern der illegalen Presse von Vrij Nederland und dem Lunterse Kring in großer Anzahl verbreitet.152 Er wurde von vielen, die sich Karl Barth in den Niederlanden verbunden wussten und die im Widerstand aktiv waren, als sehr ermutigend empfunden, da er auf viele praktische Fragen der Illegalität einging. So behandelt der Brief etwa Themen wie die Fürbitte für die Königin, die Unterstützung von Arbeitsdienstverweigerern für Deutschland, die Unterstützung illegaler Organisationen, die Frage nach dem Sprechen der Wahrheit, Probleme kirchlicher Vorhut und die Frage nach den inoffiziellen kirchlichen Zeugnissen und Bekenntnissen. Weniger bekannte Briefe, von denen aber doch einige die Niederlande erreichten, sind der Brief nach Hol-
149 AaO., 231. 150 Eine vergleichbare Explikation des Begriffs der Neutralität der neutralen Länder im Sinne einer aktiven, engagierten Neutralität vertritt Barth auch in dem am 1. 5. 1940 an G.H. Slotemaker de Brune gerichteten Brief, von dem er am 22. 4. 1940 eine vergleichbare Anfrage in dieser Frage erhalten hatte. Vgl. K. Barth an G.H. Slotemaker de Brune, Brief v. 22. 4. 1940, aaO., 232 – 237. 151 K. Barth, An meine Freunde in den Niederlanden, aaO., 346 – 354. 152 Vgl. hierzu die Erinnerungen von H. Kohlbrugge, Twee maal twee is vijf. Getuige in oost en west, Kampen 2002, insb. 38 – 43. Der Brief ist in der niederländischen Übersetzung Aan de Nederlandsche christenen abgedruckt in: Touw, Het verzet 2, 244 – 248.
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268 Die Entstehung des niederländischen Barthianismus als Herausforderung land153 vom Advent 1942 und der Brief uit Zwitserland naar Groot-BritanniÚ154. Ebenfalls durchgedrungen ist ein Artikel von Karl Barth155, in dem im Auftrag der in New York erscheinenden Zeitschrift Foreign Affairs der Deutsche Kirchenkampf analysiert wurde.156 Zusammenfassend kann man hinsichtlich der Bedeutung Karl Barths in der ersten Hälfte der 40er Jahre sagen, dass fast alle wichtigen kirchlichen Widerstandsdokumente aus dem Kreise von Barthianern innerhalb der Nederlandse Hervormde Kerk stammen. Den Mitgliedern des Lunterse Kring kommt hierbei eine führende Rolle zu.
7.5 Die theologische und kirchenpolitische Bedeutung der (Rezeption der) Theologie Karl Barths für die neue Kirchenverfassung der Nederlandse Hervormde Kerk Nach dem Krieg setzte sich das Bemühen um ein Ende des kirchlichen Richtungsstreites und um eine Erneuerung der seit dem Algemeen Reglement (Allgemeines Reglement) von 1816 nur noch kirchenbehördlich verwalteten Volkskirche in Richtung auf ein neues gemeinsames Bekenntnis innerhalb der Nederlandse Hervormde Kerk und in Richtung auf eine erneute christliche Durchdringung des niederländischen Volkes durch. Am 31. 10. 1945 trat zum ersten Mal seit 1618 wieder die Generalsynode zusammen. Am 24. 11. 1945 wurde ihr ein erster Entwurf für eine neue Kirchenordnung vorgelegt, die 1951 endgültig verabschiedet wurde und bis zur Gründung der Protestantse Kerk in Nederland (Protestantische Kirche in den Niederlanden, PKN) im Jahr 2004 gültig war. Federführend für den kirchenerneuernden Prozess innerhalb der Nederlandse Hervormde Kerk war die bereits 1940 ins Leben gerufene commissie voor gemeente-opbouw (Kommission für Gemeindeaufbau), die stark gemeindeorientierte gemeinsame Nachfolgerin der Kommissionen für kerkherstel (Kirchenerneuerung) beziehungsweise kerkopbouw (Kirchenaufbau). Unter Leitung des Missionstheologen Hendrik Kraemer repräsentierte diese Kommission zusammen mit dem politisch linken und kirchlich liberalen Theologen Willem Banning und dem ehemaligen Generalsekretär der Synode und theologisch eher orthodoxen Koeno H.E. Gravemeyer das gesamte 153 K. Barth, Brief nach Holland (November 1942), in: Barth, Offene Briefe, 401 – 404; vgl. auch in: Ders., Eine Schweizer Stimme, 303 – 306. 154 K. Barth, Ein Brief aus der Schweiz nach Großbritannien (April 1941), in: Barth, Offene Briefe, 280 – 303; vgl. auch in: Ders., Eine Schweizer Stimme, 179–200. 155 K. Barth, Die protestantischen Kirchen in Europa – ihre Gegenwart und ihre Zukunft, in: Ders., Eine Schweizer Stimme, 251 – 271. 156 Vgl. zu den Briefen insgesamt Touw, Het verzet 1, 158 – 162.
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Bedeutung der Theologie Karl Barths für die neue Kirchenverfassung
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Spektrum der verschiedenen Richtungen innerhalb der Nederlandse Hervormde Kerk. Zeitgleich wurde 1946 eine Kommission damit beauftragt, die Grundlagen für ein neues gemeinsames Bekenntnis der Nederlandse Hervormde Kerk zu formulieren. Das Resultat, die so genannten Fundamenten en perspectieven van belijden (Grundlagen und Perspektiven des Bekennens)157, wurde am 19. Mai 1949 von der Generalsynode der Nederlandse Hervormde Kerk angenommen. Das Bekenntnis enthält 19 Artikel, die jeweils mit einem erklärenden Kommentar des einflussreichen niederländischen Theologen Hendrikus Berkhof158 versehen wurden. Es wurde zusammen mit einer Einführung von Otto Weber unter dem Titel Lebendiges Bekenntnis159 ins Deutsche übertragen und 1951 in Deutschland erstmals veröffentlicht. Seinem Selbstverständnis nach160 sollte das neue Bekenntnis die bestehenden Bekenntnisse nicht ersetzen, sondern ergänzen und aktualisieren. Ganz allgemein kann festgestellt werden, dass es aufgrund seiner durchgängigen Ausrichtung auf die Königsherrschaft Gottes sehr kohärent aufgebaut ist, sich durch eine starke apostolatstheologische und ökumenische Ausrichtung auszeichnet, durch die Anerkennung der bleibenden Erwählung Israels das Gespräch mit Israel beziehungsweise der Synagoge sucht und insgesamt stark auf Gemeindeaufbau ausgerichtet ist. Auf eine endgültige Klärung der problematischen Fragen in der niederländischen theologischen Landschaft wie etwa des formalen Schriftverständnisses oder des Verhältnisses zur Theokratie wurde gezielt zugunsten einer Betonung des Inhalts der Schrift verzichtet. Im bewussten Gegensatz etwa zur Barmer theologischen Erklärung entschied man sich auch dagegen, Verwerfungen auszusprechen. Es sollte um ein ausschließlich positives Bekenntnis gehen. Außerdem ging man von der Zusammengehörigkeit von Wort Gottes und Ethik aus, verzichtete jedoch auf eine ausführliche Behandlung ethischer Fragen. Bis zum heutigen Tag gilt dieses Bekenntnis für viele niederländische Christen als typisch barthianisch. Der Leidener Theologe Eginhard Meijering bestätigt diesen Eindruck in seiner 2007 erschienenen niederländischen Kirchengeschichte des 20. Jahrhunderts noch einmal, indem er feststellt, dass „der theologisch einigermaßen versierte Leser [darin] recht einfach an vielen 157 Generale Synode der Nederlandse Hervormde Kerk (Hg.), Fundamenten en perspectieven van belijden. Proeve van beschrijving, ’s Gravenhage 1949. 158 Berkhof war seit 1945 Dozent an der Reformierten Ausbildungseinrichtung Kerk en wereld, seit 1950 Rektor des reformierten Predigerseminars in Driebergen und seit 1960 Professor für Dogmatik in Leiden. Er war dafür bekannt, sowohl mit den liberalen als auch den orthodoxen Strömungen in gutem Kontakt zu stehen. 159 Ich beziehe mich im Folgenden auf die 1959 erschienene zweite Auflage: Weber, Lebendiges Bekenntnis. 160 Zum Selbstverständnis des Bekenntnisses vgl. auch die niederländische Einleitung zu den Fundamenten en perspectieven, die in die Übersetzung Otto Webers zugunsten einer eigenen deutschen Einleitung nicht aufgenommen wurde; vgl. Generale Synode, Fundamenten en perspectieven, 9 – 15.
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270 Die Entstehung des niederländischen Barthianismus als Herausforderung Punkten die Spuren der Theologie Karl Barths wiedererkennt“161. Im Folgenden benennt Meijering diesbezüglich „einige wichtige Punkte“162, wobei er faktisch fast alle Artikel des Bekenntnisses aufzählt und kurz zusammenfasst. Damit suggeriert er, dass das Bekenntnis tatsächlich sehr viele, um nicht zu sagen fast durchgängig Spuren der Theologie Barths aufweise, er spezifiziert diese aber nicht näher. Meijerings Behauptung soll im Folgenden genauer nachgegangen werden. Hierbei dient mir seine Zusammenfassung des angeblich evidenterweise von Spuren barthianischer Theologie durchzogenen Bekenntnisses zunächst als von mir nur leicht ergänzte Orientierung über den genaueren Aufbau und den Inhalt des Bekenntnisses: Man beginnt mit dem Bekenntnis der Königseins Gottes [Art. 1; SH], spricht über den Menschen als Geschöpf und Sünder [Art. 2; SH], akzentuiert die Erwählung Israels [Art. 3; SH], die, wie man in einem späteren Artikel [Art. 17; SH] nachdrücklich erklärt, noch immer gilt, man bekennt sich zu Christus als ,Gott-mit-uns‘ und spezifiziert das näher, indem man ihn wahrer Gott und wahrer Mensch nach Gottes Bild nennt [Art. 4; SH], man beschreibt sein Werk mit Hilfe der drei Ämter als Prophet, Priester und König [Art. 5 – 8; SH]. Der Glaube wird nicht als eine religiöse Überzeugung betrachtet, sondern als eine Antwort auf Gottes besondere Offenbarung. Nur der Heilige Geist, so behauptet man, kann uns Gott erkennen lassen [Art. 9; SH]. [Zu den Heilsmitteln werden nicht nur die Sakramente Taufe und Abendmahl, sondern auch die Predigt gerechnet [Art. 10; SH]]. Der Glaube ist kein Werk, keine religiöse Lebens- und Weltanschauung, sondern die ,völlige Auslieferung an Christus und das Sich-Bergen in seinem Werk als dem einzigen und vollkommenen Grund unserer Seligkeit‘ [Art. 11; SH]. [Rechtfertigung und Heiligung, Glaube und Werke werden von Gott her als Einheit angesehen [Art. 12; SH]]. Von der Kirche wird gesagt, dass sie überall lebt, wo Jesus Christus allein und völlig der Inhalt des Glaubens ist. [Art. 13; SH]. Die Kirche muss alles aus ihrer Mitte verbannen, was die Fülle und Ausschließlichkeit ihres prophetisch-apostolischen Zeugnisses von Christus als Heiland und Herr antastet [Art. 13; SH]. Die Ausrichtung auf die ewige Zukunft wird als selbstverständlicher Bestandteil des christlichen Glaubens beschrieben [Art.14 über die Geschichte; es folgen Art. 15 über das persönliche Leben, Art. 16 über die Obrigkeit und Art. 17 über die Gegenwart und Zukunft Israels; SH]. Über das Jüngste Gericht wird gesagt, dass darin alle freigesprochen werden, die ihre Hoffnung völlig auf die im Gericht des Kreuzes aufgerichtete Gnade gesetzt und sich damit selber verurteilt haben. Die sich nicht selber verurteilt haben, sondern den Grund ihrer Gerechtigkeit anderswo als in dem freien Erbarmen Gottes gesucht haben, werden verurteilt werden, denn wer das Licht der Gnade verachtet hat, der gehört in die äußerste Finsternis der Gottverlassenheit [Art. 18 über die Vollendung; SH]. Die Schrift endet mit einem Lobpreis des dreieinigen Gottes [Art. 19; SH].163 161 Meijering, Het Nederlands christendom, 316. 162 Ebd. 163 AaO., 316 f.
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Bedeutung der Theologie Karl Barths für die neue Kirchenverfassung
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Die Fundamenten en perspektieven van belijden wurden von verschiedenen Seiten kommentiert: Außer einem dem Bekenntnis selbst beigefügten erläuternden Kommentar von Hendrikus Berkhof164 entstanden sowohl von freisinniger165 als auch von konfessioneller166 Seite gesonderte Kommentare, die 1950 beziehungsweise 1953 publiziert wurden. Außerdem schrieb Kornelis H. Miskotte, der im Gegensatz zu den freisinnigen beziehungsweise konfessionellen Kommentatoren selber Kommissionsmitglied der Fundamenten en perspectieven war, eine unter dem Titel De kern van de zaak (Der Kern der Sache)167 publizierte Erläuterung, in der er ebenfalls außer einer Würdigung auch die seines Erachtens kritisch zu betrachtenden Passagen des Bekenntnisses hervorhebt. Diese Kommentare sollen in meine Analyse der von Meijering suggerierten These, dass sich im Bekenntnis evidenterweise viele Spuren der Theologie Karl Barths aufspüren ließen, mit einbezogen werden. Bereits der konfessionelle Kommentar aus dem Jahr 1953 betont bezüglich derartiger Vermutungen, dass „[m]an von diesem Büchlein mit seinen 19 Artikeln nicht selten gesagt [habe], dass es der ,barthianischen‘ theologischen Richtung das Echtheitszeichen kirchlichen Bekennens zu geben versuchte“168. Nun will der konfessionelle Kommentar zwar nicht bestreiten, dass „in dieser Bemerkung über die Vorherrschaft des sog. Barthianismus in diesem ,Versuch des Bekennens‘ ein Stückchen Wahrheit“169 stecke, doch erachtet er „den Vorwurf als nicht berechtigt, in den Fundamenten en perspectieven van belijden nichts Anderes als einen Niederschlag der barthianischen Theologie zu finden“170. Neben „,barthianischen‘ Wendungen“171 und eigener niederländischer Theologie, so der Kommentar, fänden sich „hier und da Gedankengänge, die ausgesprochen nicht-barthianisch“172 seien. Miskotte nennt den Namen Karl Barth in seinem Kommentar hingegen nicht explizit, macht aber meines Erachtens stärker als der konfessionelle Kommentar oder Berkhof deutlich, inwiefern von einem Einfluss barthianischer Theologie beziehungsweise der Rezeption dieser Theologie in den Niederlanden gesprochen 164 Im Folgenden „Berkhof“ genannt. 165 Vgl. Vereniging van Vrijzinnig Hervormden in Nederland, Fundamenten en perspectieven van belijden. Rapport uitgebracht door de Vrijzinnige Hervormde Studiecommissie ad hoc aan het hoofdbestuur der Vereniging van Vrijzinnige Hervormden in Nederland, Assen 1950; im Folgenden „freisinniger Kommentar“ genannt. 166 Th.L. Haitjema u. a., Een proeve van actueel belijden. Een critische beschouwing voor „Fundamenten en Perspectieven van Belijden“, Wageningen 1953, im Folgenden „konfessioneller Kommentar“ genannt. 167 K.H. Miskotte, De kern van de zaak. Toelichting bij een proeve van hernieuwd belijden, in: Ders., De kern van de zaak/De blijde wetenschap (Verzameld Werk van dr. K.H. Miskotte, Teil 11, hg. v. J.T. Bakker/A. Geense/G.G. de Kruif), Kampen 1989, 3 – 272; im Folgenden „Miskottes Kommentar“ genannt. 168 Haitjema, Een critische beschouwing, 8. 169 Ebd. 170 AaO., 9. 171 Ebd. 172 Ebd.
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272 Die Entstehung des niederländischen Barthianismus als Herausforderung werden kann. Wiederum anders verhält es sich bei den Freisinnigen: Für sie ist im gesamten Kommentar der Name Karl Barth oder (die Rezeption) von dessen Theologie weder implizit noch explizit ein Referenzpunkt. Im Folgenden sollen die Schwerpunkte und die wichtigsten Kritikpunkte der verschiedenen Kommentatoren zusammengestellt werden. Mein Leserinteresse ist dabei weniger auf eine ausführliche Erfassung der internen niederländischen Diskussion gerichtet, sondern eher auf die von Meijering suggerierte These, dass die Spuren der Theologie Barths in fast allen Artikeln aufzuspüren seien.173 Welche Themen der Theologie Karl Barths kann man also in den Kommentaren zum neuen Bekenntnis der Nederlandse Hervormde Kerk aufspüren, und wo kommt diese Theologie entgegen der Suggestion von Meijering gerade nicht zum Tragen? Nach Berkhof setzt der erste Artikel (Gott, unser König) mit seiner Betonung der Königsherrschaft Gottes in Jesus Christus den Ton für das gesamte Dokument. Der Artikel will ihm zufolge eine Verbindung zwischen Calvins soli Deo gloria und Luthers Frage nach dem gnädigen Gott bieten. Miskotte hebt hingegen hervor, dass der Artikel nicht abstrakt mit einer Abhandlung zu den Eigenschaften Gottes, sondern konkret mit Jesus Christus als der Mitte der Zeit und dem Hinweis auf Gottes königliches Handeln beginne. Das Bekenntnis breche so mit einer spekulativen Gotteserkenntnis, spreche sich für die Erkenntnis Gottes aus Seinen Taten174 und also für einen Weg der Gotteserkenntnis aus, der entgegen der Tradition unumkehrbar vom Besonderen zum Allgemeinen verlaufe. Zwar nennt Miskotte den Namen Karl Barths hier nicht, sondern weist auf die „Grundstruktur des Alten Testaments“175 und den Immanuel-Namen Gottes hin, doch dürfte deutlich sein, dass Miskotte den ersten Artikel als deutlich von der Theologie Barths inspiriert interpretiert. Nach Berkhof knüpft der zweite Artikel (Der Mensch, Geschöpf und Sünder) mit der neuen Definition der Erbsünde als menschlicher Unfähigkeit, menschlichen Unvermögens und menschlicher Ohnmacht explizit an das Bekenntnis der Synode von Barmen (1934) an. Dies gelte auch hinsichtlich der expliziten Zurückweisung natürlicher Gotteserkenntnis. Somit dürfte hier nach Berkhof von einem deutlichen Einfluss barthianisch geprägter Theologie gesprochen werden. Zugleich bleibe aber die Frage, „inwiefern und in wel-
173 Da es sich um sehr komplexes, für die Zwecke dieser Studie zu komplexes Textmaterial handelt, zitiere ich nur gelegentlich an besonders prägnanten Stellen und gebe ansonsten die für meine Zwecke wichtigen Intentionen der Texte wieder. Zudem beziehe ich mich nur dann auf die Kommentare, wenn sie entweder einen (indirekten) Bezug zur Theologie Karl Barths oder einen in der niederländischen Diskussion selber sehr strittigen Punkt berühren. Es handelt sich mithin keinesfalls um eine vollständige Analyse der verschiedenen Kommentare. Jedenfalls gibt es eine solche Analyse bislang in der wissenschaftlichen Diskussion in den Niederlanden noch nicht. 174 Vgl. etwa K. Barth, KD II/1, § 28.1 (Gottes Sein in der Tat). 175 Miskotte, De kern, 19.
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chem Sinne wir von einer Offenbarung Gottes in der Natur sprechen“176 dürften, „offen“177. Miskotte kritisiert, dass das Bekenntnis zwar das Erscheinen Jesu Christi unterstelle, sich aber trotzdem bemühe, etwas über das (sündige) Wesen des Menschen zu sagen, „ohne Christus selber auch nur zu erwähnen“178. Miskottes Zurückweisung eines pessimistischen Menschenbildes und seine diesbezügliche Kritik des Bekenntnisses darf meines Erachtens als eine von der Theologie Barths her inspirierte Ergänzung und Korrektur des Bekenntnisses aufgefasst werden. Die konfessionellen Kommentatoren können zwar dem zweiten Artikel grundsätzlich zustimmen, doch bezweifeln sie in Übereinstimmung mit der freisinnigen Kommission, dass die Ablehnung der natürlichen Gotteserkenntnis biblisch sei. Der dritte Artikel (Die Erwählung Israels) betont nach Berkhof, dass der Unglauben des erwählten Volkes Israel Gottes Absicht nicht vereitle, sondern in negativer Weise erfülle und damit ein Spiegel für alle Menschen sei. Miskotte lobt, dass zwar das Bekenntnis zur bleibenden Erwähltheit Israels im Vergleich zu älteren Bekenntnisschriften ein neues Element sei, betont aber, dass seines Erachtens die Erwählung Jesu Christi der Erwählung Israels vorangehe. Das Bekenntnis argumentiere zu historisch beziehungsweise zu „horizontal“179. Das im Bekenntnis verwandte Wort „Spiegel“180 mache nicht genügend deutlich, dass das Schicksal Israels von Jesus Christus her gesehen eben „nicht tragisch“181, sondern Abglanz seiner Erwählung sei. Damit bringt Miskotte eine Kritik an, die so auch von der Theologie Barths182 her formuliert werden könnte und vermutlich von dort her inspiriert wurde. Die freisinnigen Kommentatoren kritisieren, dass das Bekenntnis an dieser Stelle angesichts des Leidens des jüdischen Volkes unter dem Hitlerregime Gefühllosigkeit dokumentiere, und die konfessionellen Kommentatoren betonen, dass eine Kontinuität zwischen dem biblischen Volk Israel und dem heutigen Judentum zu bestreiten sei. Artikel 17 des Bekenntnisses („Gegenwart und Zukunft Israels“) enthält im Vergleich zu älteren Bekenntnissen mit der Betonung der bleibenden Erwähltheit Israels sicherlich eine Neuerung. Zwar bietet keiner der Kommentatoren hier einen Hinweis auf eine mögliche Beeinflussung von Barthscher oder durch Barth-Rezeption beeinflusster niederländischer Theologie, doch muss gesagt werden, dass bereits die hauptsächlich von niederländischen Barthianern erstellten und von Barth befürworteten oben behandelten Amersfoorter Thesen wohl als Patinnen dieses Artikels gelten dürfen. Der vierte Artikel (Jesus Christus, Gott mit uns) will nach Berkhof alte 176 177 178 179 180 181 182
Weber, Lebendiges Bekenntnis, 26. Ebd. Miskotte, De kern, 40. Miskotte, De kern, 45. AaO., 53. Ebd. Vgl. etwa K. Barth, KD II/2, § 34.1(Israel und die Kirche).
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274 Die Entstehung des niederländischen Barthianismus als Herausforderung Richtungsgegensätze zwischen Liberalen und Orthodoxen überwinden, indem er als Ausgangspunkt die Taten Gottes in Jesus Christus nehme und erst von da aus zu einem Bekenntnis über das Sein Christi komme. Allerdings gelte umgekehrt auch, dass man über die Taten Gottes nicht unabhängig vom Sein Christi reden könne. Mit der Betonung der Taten Gottes dürfte das Bekenntnis tatsächlich Spuren barthianischer Theologie183 aufweisen, auch wenn dies nicht explizit erwähnt wird. Miskotte betont aber ergänzend, dass das Zentrum des neuen Bekenntnisses „nicht so sehr die Christologie“184, sondern der Akt „des Bekenntnisses zu Christus“185 sei, wobei das Bekennen als „von Gott gegebenes Ereignis“186 und als „Abglanz unserer Erwählung“187 aufzufassen sei und eben „nicht in einer Schrift“188 liege. Bekennen, so Miskotte, sei bereits im Kern Apostolat. Kritisiert wird von Miskotte wiederum der horizontale – heilshistorisch lineare anstatt vertikale – Ansatz des Bekenntnisses, eine Kritik, die wohl deutlich von der christozentrischen Theologie Karl Barths inspiriert sein dürfte. Die freisinnigen Kommentatoren begrüßen, dass nicht das Sein, sondern die Taten Jesu Christi als Ausgangspunkt gewählt worden seien, vermissen aber im gesamten Bekenntnis eine Thematisierung des Schriftverständnisses. Die konfessionellen Kommentatoren begrüßen ebenfalls den Versuch, verschiedene Traditionsstränge nicht länger gegeneinander auszuspielen und schließen sich Miskottes Warnung an: Der (linear-heilshistorische) Gedanke, dass nie eine Kirche hätte entstehen können, wenn Jesus Christus nicht als Messias verworfen worden wäre, sei insgesamt abzulehnen.189 Berkhof hebt weiterhin hervor, dass im neunten Artikel (Der Heilige Geist) wiederum erst über das Werk und erst dann über das Sein des Heiligen Geistes gesprochen werde. Erkenntnistheoretisch gesehen wolle der Artikel, dessen erster Satz davon handele, dass Gott sich allein aus Gott zu erkennen gebe190, einen Mittelweg zwischen Subjektivismus und Objektivismus gehen und eine fromme Passivität ausschließen. Miskotte betont hingegen die mit der Zurückweisung der natürlichen Gotteserkenntnis gegebene Befreiung – aller183 184 185 186 187 188 189
Vgl. nochmals Barth, KD II/1, § 28.1(Gottes Sein in der Tat). Miskotte, De kern, 61. Ebd. AaO., 59. Ebd. Ebd. Art. 5 (Jesus Christus in der Einheit seiner Person und seines Werkes) betont nach Berkhof die Einheit der Person und des Werkes Jesu Christi und die Einheit von Inkarnation und Versöhnung. In den Art. 6 – 8 werden dann jeweils die drei Seiten des Amtes Jesu Christi als Prophet, Priester und König ausgeleuchtet. Miskotte betont dabei, dass die im Bekenntnis gewählte historische Reihenfolge der Heilstatsachen manchmal eben auch vorteilhaft sei. So werde nicht abstrakt (vertikal) über Jesus als König gesprochen, sondern über die Art und Weise seines Machterwerbs. Nähere Bemerkungen zum möglichen Einfluss der Theologie Karl Barths konnte ich bei keinem der Kommentatoren ausfindig machen. 190 Barths bekannter Ausgangspunkt in der zweiten Auflage des Römerbriefs.
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dings ohne den Namen Karl Barths oder die Barmer theologische Erklärung ausdrücklich zu nennen, die zweifelsohne Paten für die These gewesen sind. Die freisinnige Kommission stimmt dem Artikel zu, will aber das kognitive Moment im Werk des Heiligen Geistes stärker betont sehen. Bemängelt wird auch, dass neben einem Artikel zum Schriftverständnis auch ein Artikel über religiöse Erkenntnislehre fehle. Die konfessionellen Kommentatoren stimmen dem Artikel im Großen und Ganzen zu.191 Berkhof bemerkt, dass der 13. Artikel (Die Kirche) die Begriffe Kirche und Gemeinde vermische und dass mit dem Artikel sowohl katholisierende als auch neuprotestantische Tendenzen zurückgewiesen würden. Neu gegenüber älteren Bekenntnissen sei die Betonung der bereits bestehenden Einheit der Kirche in Christus. Damit knüpfe man positiv an den fünften Absatz der Doorner Thesen an. Indem sich Berkhof hier explizit auf die Doorner Thesen bezieht und insofern die Doorner Thesen von als Barthianern bekannten niederländischen Theologen verfasst wurden,192 kann man zwar nicht direkt von einem Einfluss barthianischer Theologie, aber doch von einem Einfluss des niederländischen Barthianismus sprechen. Miskotte betont den Antwortcharakter des kirchlichen Handels in Bezug auf das Handeln des Heiligen Geistes und hebt die Tatsache hervor, dass das vorliegende Bekenntnis gegenüber älteren Bekenntnissen eine stark apostolatstheologische Ausrichtung habe. Es akzeptiere zwar die Antithese zwischen Kirche und Welt, bleibe aber „in Antithese […] solidarisch“193 mit der Welt. Der freisinnige Rapport betont als Kennzeichen der Kirche weniger das Bekenntnis zu Jesus Christus als Herrn und Heiland, sondern stärker die Nachfolge Christi in der Kirche als einer Lebens- und Liebesgemeinschaft. Die konfessionellen Kommentatoren stimmen dem Bekenntnis darin zu, dass die Einheit der Kirche in der Einheit ihres Christuszeugnisses zu sehen sei. Miskotte betont seine Sehnsucht nach einer Zeit „wo kein Freisinniger sich mehr an der Verkündigung des ,Christus allein‘ störe und kein Orthodoxer mehr Vorbehalte hinsichtlich der Verkündigung des ,Christus-für-alle‘“194 habe. An Karl Barth, dessen Theologie die gesuchte Kombination bietet, wird nicht direkt angeknüpft. In Bezug auf Artikel 14 (Die Geschichte): hebt Berkhof hervor, dass ein Artikel über die Geschichte älteren Bekenntnissen gegenüber eine Neuerung darstelle. Der Artikel mache deutlich, dass der Mensch angstfrei in der Geschichte existieren dürfe. Miskotte warnt ganz im Sinne Barths, ohne aller191 Art. 10 (Die Heilsmittel) findet bei allen Kommentatoren kaum Beachtung. Zu Art. 11 (Der Glaube) und Art. 12 (Glaube und Werke) betont Berkhof, dass das sola fide nicht als Einseitigkeit, sondern als Allseitigkeit zu verstehen sei und dass Rechtfertigung und Heiligung zusammengehörten. Miskotte betont – möglicherweise barthianisch inspiriert – dass der christliche Glauben etwas Unableitbares sei, keinesfalls sei er Variante einer allgemeinen Fähigkeit zum Glauben. 192 Vgl. Abschnitt 7.3 dieser Studie. 193 Miskotte, De kern, 191. 194 AaO., 181.
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276 Die Entstehung des niederländischen Barthianismus als Herausforderung dings dessen Namen zu erwähnen, davor, die Geschichte als solche als Offenbarung Gottes aufzufassen und betont die Entgöttlichung der Welt durch das Wort Gottes. Die Taten Gottes in der Geschichte bildeten kein System, sondern hätten ihre Mitte in der einen Tat Gottes, nämlich der Sendung des Sohnes. Die freisinnigen Kommentatoren stimmen der Absicht des Bekenntnisses zu, finden aber, dass man über Geschichte nicht im Sinne eines kanalisierten Prophetismus sprechen solle. Die konfessionellen Kommentatoren äußern sich zu diesem Artikel nicht. Der folgende Artikel 15 (Das persönliche Leben) stellt dem Kommentar Berkhofs zufolge wiederum etwas Neues in der Bekenntnistradition dar, denn das bestehende Leben werde nicht abgewertet, sondern in einer sinnvollen und erwartungsvollen Perspektive betrachtet. Miskotte kommentiert in einer für ihn typischen und vermutlich von Barths Zurückweisung der natürlichen Theologie inspirierten Weise, dass der im Artikel erwähnte Vater, in dessen Händen wir uns geborgen wissen dürfen, tatsächlich der Vater Jesu Christi195 sei: Es gehe darum, außer den dunklen Erfahrungen des Lebens auch die hellen Erfahrungen des Glaubens wahrzunehmen. Zwischen der alternativen Erfahrung kleiner alltäglicher Freude und der ewigen Freude bestehe kein absoluter Qualitätsunterschied – ein Gedanke, der von Karl Barth so wohl nicht geäußert worden wäre. Während die konfessionellen Kommentatoren zu diesem Artikel nichts weiter vermelden, sind die freisinnigen Kommentatoren der Meinung, dass ein Zusammenhang zwischen zeitlicher und ewiger Freude keinesfalls immer gegeben sei und kritisieren Miskottes Hervorhebungen. Starke Kritik wird auch an der Erläuterung Berkhofs geäußert, der nicht deutlich genug zwischen dem biologischen und dem geistlichen Tod unterscheide. Der Artikel 16 (Über die Obrigkeit/Regierung) bietet nach Berkhof eine zeitgemäße Interpretation des Artikels 36 des Niederländischen Glaubensbekenntnisses, der ja unter anderem den in den orthodox-reformierten Niederlanden recht stark und breit vertretenen Theokratiegedanken zum Gegenstand des Bekennens machte. Der neue Artikel 16 bringe „in zeitgemäßer Weise die Grundtendenz [des alten; SH] Artikels 36 zum Ausdruck“196, indem er nämlich behaupte, dass „der Staat/die Obrigkeit im Dienste des Reiches Christi steh[e] und sich daher mit seinem/ihrem Werk nicht auf neutralem Boden beweg[e]“.197 Weiterhin betont Berkhof, dass der neue Artikel 16 insofern über den alten, eine theokratische Politik befürwortenden Artikel 36 des Niederländischen Glaubensbekenntnisses hinausgehe, als er eine „bewusste[…] Unterscheidung zwischen den Funktionen von Kirche und Obrigkeit“198 befürworte. Es könne mit diesem Artikel „weder von einem Kir195 196 197 198
Vgl. etwa Barth, De apostolische, 56. Weber, Lebendiges Bekenntnis, 62. AaO., 63. AaO., 64.
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chenstaat noch von einer Staatskirche“199 gesprochen werden. Dass die Meinungen der am Bekenntnis Mitarbeitenden in der Frage nach der Obrigkeit sehr weit auseinandergingen, spiegelt sich nicht nur bereits in den Erläuterungen zum Bekenntnis selber, sondern auch bei den verschiedenen Kommentatoren: Miskotte überlegt, ob ein Artikel über die Obrigkeit aufgrund der veränderten politischen Situation (moderner demokratischer Staat) und aufgrund des (in dieser Frage äußerst spärlichen) biblischen Zeugnisses in das neue Bekenntnis überhaupt hineingehöre. Er selber bevorzuge anstatt des theokratischen Gedankens das im neuen Bekenntnis dominierende Modell der Königsherrschaft Christi. Zu begrüßen sei zudem die Aussage, dass die Macht der Obrigkeit nicht identisch mit der Macht Gottes sei. Abzulehnen sei hingegen die Schlussformulierung des Artikels, nach der die Beziehung der Offenbarung zur Kirche und zum Staat identisch sein solle. Miskotte kombiniert mit anderen Worten anders als das Bekenntnis selber das theologische Modell der Königsherrschaft Christi mit der Anerkennung eines religiös neutralen Staates. Hierin kommt er wohl der Position Barths200 sehr nahe.201 Der freisinnige Kommentar ist der Meinung, dass „in der Juxtaposition von Staat/Obrigkeit und Kirche im Plan Gottes der Gedanke des corpus christianum“202 zum Ausdruck komme und er fragt sich, ob dies der „faktischen Situation in der modernen Welt, in der das öffentliche Leben sich nahezu vollständig von Evangelium und Kirche […] emanzipiert [habe]“203, noch entspreche. Damit setzt er sich für eine Anerkennung der Neutralität des Staates unter gleichzeitiger Anerkennung des Zeugnisauftrags der Kirche gegenüber der Welt ein. Miskotte und die freisinnigen Kommentatoren stehen also, was die Anerkennung des religiös neutralen demokratischen Staates betrifft, einander und auch der Theologie Barths recht nahe. Der konfessionelle Kommentar unterscheidet vier Ansätze, die in den neuen Artikel eingegangen seien, nämlich den Ansatz einer allgemeinen naturrechtlichen Staatslehre, den klassisch reformierten (also theokratischen) Ansatz, den dialektisch-theologischen Ansatz (und also einen punktualistisch gedachten Ansatz der Königsherrschaft Christi) und den neocalvinistischen Ansatz der allgemeinen Gnade Gottes. Doch habe sich offensichtlich keine Mehrheit mehr für die in Artikel 36 des alten Bekenntnisses noch verteidigte theokratische Politikauffassung gefunden. Nach Meinung der konfessionellen Kommentatoren sollte „der ,klassische‘ Gedanke des ,Kirchenstaates‘ erneut […]
199 Ebd. 200 Vgl. K. Barth, Christengemeinde und Bürgergemeinde, ThSt(B) 20, 1946, 1 – 43. 201 Vgl. M. Hofheinz, Das Problem der Theokratie im reformierten Protestantismus. Calvin, Kuyper, Barth und der säkulare, weltanschaulich neutrale Rechtsstaat, in: M. Freudenberg/G. Plasger (Hg.), Kirche, Theologie und Politik im reformierten Protestantismus, Emdener Beiträge zur Geschichte des reformierten Protestantismus 14, Neukirchen-Vluyn 2011, 51 – 77. 202 Vereniging van Vrijzinnig Hervormden, Rapport, 31. 203 Ebd.
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278 Die Entstehung des niederländischen Barthianismus als Herausforderung durchdacht werden“204. Zuzustimmen sei der im Bekenntnis vollzogenen Trennung der Aufgaben von Kirche und Obrigkeit. Im Gegensatz zu der freisinnigen Position sei jedoch „der echt-theokratische Gedanke[…]“205 des Bekenntnisses zu betonen, dass nämlich auch die Obrigkeit als solche auf die Predigt der Kirche zu hören habe. Dass in dem Bekenntnis etwas von der Idee des corpus christianum und einer theokratischen Perspektive bewahrt geblieben sei, sei mit Dankbarkeit zu begrüßen. Die Bedeutung des 18. Artikels (Die Vollendung) liegt nach Berkhof darin, dass die Vollendung hier anders als in älteren Bekenntnisschriften nicht lose neben dem Vorhergegangenen gesehen werde, sondern vielmehr alles im Lichte des Reiches Gottes zu sehen sei. Die Möglichkeit einer Allversöhnung wird nach Berkhof in dem Artikel zurückgewiesen. Miskotte schließt sich der Auffassung an, das mit diesem Artikel auch alle vorhergehenden Artikel ins Licht des Reiches Gottes gerückt werden und betont den bleibenden, aber nicht totalen („sehr anders aber doch nicht ganz-anders“206) Unterschied zwischen dem eschatologischen Schauen Gottes und der Erfahrung göttlicher Anwesenheit in der gegenwärtigen Zeit, da die Schöpfung ja in der NeuSchöpfung aufgehoben und von dieser durchleuchtet werde. Der Name Karl Barth wird hier zwar nicht genannt, doch nimmt Miskotte mit der Relativierung des Unterschiedes zwischen Zeit und Ewigkeit meines Erachtens eine Korrektur an der (Römerbrief)-Theologie Barths vor, die mit seinem sonstigen Interesse an der Erfahrbarmachung der Offenbarung207 korrespondiert. Weiterhin betont Miskotte, dass die Gnade der unermessliche Grund dafür sei, dass die Existenz nicht ins Nichts versinke. Die freisinnigen Kommentatoren betonen in Übereinstimmung mit dem Bekenntnis, dass eine doppelte Prädestination zwar abzulehnen sei, dass aber an der ebenfalls abgelehnten Allversöhnung doch im Sinne einer göttlichen Möglichkeit festgehalten werden solle. Der konfessionelle Kommentar stimmt zu dass es in dem Artikel um mehr als das persönliche Seelenheil, nämlich um die Grundlagen einer heiligen Politik gehe. Die Geschichte werde im Gericht Gottes nicht so sehr abgebrochen, sondern zu ihrer Bestimmung geführt. Zudem wird hervorgehoben, dass der Artikel zwar keine Allversöhnung kenne, dass aber wesentlich weniger scharf über die Bestrafung der Gottlosen gesprochen werde als im Niederländischen Glaubensbekenntnis. Keiner der Kommentatoren verweist auf Barths Korrektur208 der klassischen calvinistischen Prädestinationslehre. Der 19. und letzte Artikel des Bekenntnisses (Gott, der Dreieinige) geht wiederum davon aus, dass das Tun und das Wesen Gottes nicht zu trennen seien, sich letzteres vielmehr aus ersterem ergebe. Die ökonomische und die 204 205 206 207 208
Haitjema, Een critische beschouwing, 96. AaO., 97. Miskotte, De kern, 263. Vgl. Kap. 9 dieser Studie. Vgl. K. Barth, KD II/2, § 33.1 (Jesus Christus, der Erwählte und der Erwählende), z. B. 136.
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Bedeutung der Theologie Karl Barths für die neue Kirchenverfassung
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Wesenstrinität werden mithin als zusammenhörig gesehen. Miskotte betont insbesondere den doxologischen Charakter des letzten Artikels. Zudem hält er ein Bekenntnis zur Dreieinigkeit Gottes keineswegs für unbiblisch, da die Dreieinigkeit Gottes eine Bestätigung von Gottes Einheit, die gerade in seinen Taten offenbar werde, und auch eine Bestätigung der Einheit des Menschengeschlechts sei. Eine positive oder negative Verbindung zu Barths Theologie oder dessen Rezeption wird nicht hergestellt. Der freisinnige Kommentar betont, dass die Annahme eines Zusammenhangs zwischen einer ökonomischen Trinität und einer Wesenstrinität nach Meinung der Freisinnigen zu gezwungen wirke, Er setzt sich für eine stärkere Betonung der ökonomischen Trinität ein. Der konfessionelle Kommentar kommentiert diesen Artikel nicht. Doch hält er in der Einleitung fest, dass das „Zurückdrängen des Bekenntnisses zur Dreieinheit in dem letzten Artikel“209 ganz „sicher nicht barthianisch“210 sei und sieht sich diesbezüglich in Übereinstimmung mit Miskotte. Als weiteres nicht gerade typisch barthianisches Element des Bekenntnisses wird in der Einleitung zum konfessionellen Kommentar „der gesamte Aufbau […] mit dem Leitgedanken des Königreich-Gottes-Gedankens anstelle des klassischen Bekenntnisses zum dreieinigen Gott“211 genannt. Regelrecht nichtbarthianisch sei die in Artikel 1 verwandte Reihenfolge „Schöpfer, Retter und Erhalter“, da sie sich nicht in Übereinstimmung mit dem Aufbau der letzten Teile der Kirchliche[n] Dogmatik befinde. „[K]aum barthianisch“212 sei der Artikel 14 über die Geschichte zu nennen, und die sehr zu begrüßende Rede von einem geistlichen Amt in Artikel 13 würde Barth zweifelsohne als „Klerikalismus“213 betrachten. Last but not least möchte ich anmerken, dass die Betonung des Eschatologischen und des Königreiches Gottes an sich natürlich durchaus als ein Einfluss barthianischer Theologie interpretiert werden könnte. Die niederländische Kirchengeschichtsschreibung214 legt aber Wert darauf, dass das diesbezügliche Manko im niederländischen Glaubensbekenntnis bereits von niederländischen Theologen selber bemerkt worden sei: So habe im 19. Jahrhundert bereits Isaac Da Costa darauf verwiesen, und ihm seien die ethischen Theologen Chantepie D. de la Saussaye und Johannes H. Gunning gefolgt. Kurzer Rückblick Fragt man also noch einmal zusammenfassend nach den positiven oder negativen Bedeutungen der Theologie Karl Barths für das neue Bekenntnis der Nederlandse Hervormde Kerk, so lassen sich folgende Themen und also das folgende Leserinteresse zusammenstellen: 209 210 211 212 213 214
Haitjema, Een critische beschouwing, 9f. AaO., 10. AaO., 9. Ebd. Ebd. Vgl. Rasker, De Nederlandse Hervormde Kerk, 301.
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280 Die Entstehung des niederländischen Barthianismus als Herausforderung Als positive Rezeptionen der Theologie Karl Barths erweisen sich die Betonung der Königsherrschaft Christi, der christologische Ausgangspunkt, die Absage an die spekulative Gotteserkenntnis, die Vorordnung der Taten Gottes vor seinem Wesen, die – allerdings nicht totale – Zurückweisung der natürlichen Gotteserkenntnis (Barmen), die Vorordnung des Bundes sowie die Rede von einer (bleibenden) Erwählung Israels. Dagegen stehen jedoch bestimmte Themen Barths, die gerade nicht verarbeitet wurden: So finden sich nach Miskotte Spuren einer Geschichtstheologie in dem Bekenntnis, wird der christologische Ansatz Barths (etwa beim Thema Sünde) nicht immer konsequent verfolgt und wird das Bekenntnis zum dreieinigen Gott anders als bei Barth nach- und nicht vorgeordnet. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Spuren der Theologie Barths im weiteren Sinne des Wortes zwar durchaus vielfältig nachzuweisen sind, allerdings nicht in allen von Meijering zur Untermauerung dieser These zitierten Artikeln. Außerdem ist die unspezifizierte These Meijerings auch insofern zu relativieren, als eben bestimmte Gedanken der Theologie Barths nicht oder nicht konsequent genug rezipiert werden. Von einem wirklich durchgängigen oder dominanten Einfluss Barthscher Theologie im Bekenntnis kann also nicht gesprochen werden. Festzuhalten ist auch, dass der Kommentar Miskottes wesentlich stärkere Einflüsse Barthscher Theologie enthält als das Bekenntnis selber, diese aber zugleich auch weiterführt oder ergänzt werden. Miskotte setzte sich mit anderen Worten wesentlich stärker mit der Theologie Barths auseinander als die (übrigen) Verfasser des Bekenntnisses. Fragt man, nachdem die von Barth rezipierten oder gerade nicht rezipierten Themen – also das Leserinteresse – einmal genauer zusammengetragen worden sind, noch einmal nach der spezifischen Lesermotivation bezüglich der Barth-Rezeption, so lässt sich das Bestreben nach der Formulierung eines neuen gemeinsamen Bekenntnisses im Kontext des Richtungsstreites innerhalb der Nederlandse Hervormde Kerk festhalten. Das Produkt dieses Bestrebens, das neue Bekenntnis der Nederlandse Hervormde Kerk, lässt sich mit Hilfe rezeptionsästhetischer Fragestellungen nun genauer als eine Rekontextualisierung auch barthianischer Theologie umschreiben: Spielte diese Theologie in Deutschland seit den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts vor allem in der Abgrenzung gegen den Nationalsozialismus eine Rolle, erhielt sie in den Niederlanden ihre Rolle in den bereits vor den 30er Jahren einsetzenden Bemühungen um eine kirchliche Reorgansiation und bei der Suche nach einem neuen gemeinsamen Bekenntnis im Rahmen des Richtungsstreites in der Nederlandse Hervormde Kerk. Dieser war als solcher nicht gegen den Nationalsozialismus, sondern gegen die Integrationsschwäche der modernen Führung der Nederlandse Hervormde Kerk gerichtet. Außerdem spielte sich die Suche nach einem neuen Bekenntnis anders als in Deutschland im Kontext eines traditionell liberalen und demokratischen Staates ab, der allerdings, wie meine Forschungen ergaben, von den Bekennern noch nicht
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Bedeutung der Theologie Karl Barths für die neue Kirchenverfassung
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durchgängig als säkular beschrieben wurde. Indem die Theologie Barths so in einem gegenüber dem primären Kontext anderen, sekundären Kontext rezipiert wurde, ermöglichte sie innerhalb dieses neuen Kontextes nicht nur neue Erfahrungen, nämlich die Erfahrung eines gemeinsamen Bekenntnisses, sondern produzierte auch neue Bedeutungen dieser Theologie: Barths Theologie erhielt ihre spezifische Bedeutung weniger innerhalb eines gesellschaftlichen Verwerfungszusammenhangs, wie er etwa für die Barmer Theologische Erklärung maßgeblich war, sondern ganz bewusst viel positiver215 innerhalb eines apostolatstheologischen Zusammenhangs, in dem es neben der Gewinnung einer neuen gemeinsamen Perspektive um das Zeugnis der Kirche gegenüber nicht mehr kirchlichen Zeitgenossen ging. Weiterer Rückblick Will man die spezifische Bedeutung der Theologie Karl Barths im Rahmen dieses Bekenntnisses als eines Produkts kirchlicher Erneuerungsbestrebungen innerhalb der Nederlandse Hervormde Kerk noch einmal genauer beschreiben, so ist es sinnvoll, sich eines Vokabulars zu bedienen, das den Rahmen der von der Konstanzer Schule übernommenen rezeptionsästhetischen Fragestellungen noch einmal erweitert. Mit dem in der Einleitung zu dieser Arbeit herangezogenem Vokabular der von Dieter Henrich entwickelten holistisch gerichteten Konstellationsforschung kann das Bekenntnis im Sinne einer Konstellation betrachtet werden, etwa als der Versuch eines aus verschiedenen Komponenten zusammengesetzten Denk-Raums. Es ginge dann um eine Konstellation216, bei der durch die gemeinsame Denkanstrengung und das Zusammenwirken verschiedener Traditionen ein Raum konstituiert wird, in dem Spannungen in einem synthetisch gerichteten Sinne durchaus integriert werden. Für die Betrachtung des neuen Bekenntnisses im Sinne einer Konstellation spricht weiterhin, dass dieses Bekenntnis ein konkretes Produkt darstellt, das aufgrund einer gewissen Dichte im kommunikativen Austausch verschiedener Strömungen innerhalb der Nederlandse Hervormde Kerk entstanden ist. Der spezifisch barthianische Anteil an diesem Bekenntnis könnte dann im Sinne einer vormals externen, zu integrierenden und nunmehr integrierten Komponente in der Gesamttheologie des Be215 So betont etwa Alexander J. Bronkhorst in seiner Einleitung zu Fundamenten en perspectieven: „[W]ir wollen nicht gegen etwas, sondern für etwas zeugen. Die Positivität des Evangeliums der Gnade Gottes ist selber die beste Apologie und Polemik. Das deutliche überzeugte Bekennen in Formulierungen des 20. Jahrhunderts ist der beste Dienst an der Welt von heute.“, vgl. A.J. Bronkhorst, Op weg naar een nieuw belijden? Een eerste inleiding tot het geschrift „Fundamenten en Perspectieven van belijden“, hg. v. Synodale Commissie „De Hervormde Jeugdraad“, Amsterdam 1949, 8 f; Damit schließt er sich wortwörtlich an die niederländische Einleitung zum Bekenntnis selber an; vgl. Generale Synode, Fundamenten en perspectieven, 14. 216 Vgl. die in der Einleitung beschriebenen Merkmale für eine Konstellation im Sinne der Konstellationsforschung: gemeinsamer Denkraum, Di-Konstellation (Integration von Spannungen), internes und externes Spannungsverhältnis, Dichte der Kommunikation und Anschlussfähigkeit an die Problemstellung der Gegenwartsphilosophie.
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282 Die Entstehung des niederländischen Barthianismus als Herausforderung kenntnisses gedeutet werden. Betrachtet man einmal alle Komponenten der nunmehr erweiterten Konstellation, so ergibt sich folgendes Bild sich teilweise überlappender gemeinsamer Denkanstrengungen: Zum ersten ist in dem gemeinsamen neuen Bekenntnis ein deutlicher Einfluss der ethischen Theologie wahrzunehmen, der sich an einem besonderen Interesse für die Geschichte und für die persönliche und politische Ethik bemerkbar macht, das sich teilweise mit der Theologie Barths in einem Spannungsverhältnis befindet, diese jedenfalls im weiterführenden Sinne herausfordert217. Zum zweiten machen sich in Bezug auf eine stärkere Betonung des Eschatologischen und der Königsherrschaft Christi auch andere Einflüsse aus der niederländischen Tradition bemerkbar, nämlich aus dem R¦veil (Da Costa) und wiederum aus der ethischen Theologie (Gunning, Chantepie de La Saussaye), an die das Bekenntnis ganz bewusst anknüpfen will218, die aber ebenso gut von barthianischer Theologie inspiriert sein könnten. Zum dritten wären typisch barthianische Einflüsse zu nennen, die sich die niederländischen Barth-Rezipienten aus der ethischen und der konfessionellen Richtung inzwischen angeeignet hatten. Theologen dieser Richtungen stellten sich ja der Herausforderunge des Neuen in besonders prägnanter Weise. Zu denken ist an die an die Ablehnung der natürlichen Gotteserkenntnis (mit direktem Hinweis auf die Barmer theologische Erklärung von 1934), die Rede von einer unsichtbaren Einheit der Kirche (mit Hinweis auf die vorwiegend von niederländischen Barthianern zusammengestellten Doorner Thesen), die allerdings nicht konsequent durchgezogene christologische Konzentration beziehungsweise die Vorordnung des Bundes vor der Schöpfung im Bekenntnis und die Absage an spekulative Gotteserkenntnis beziehungsweise der Ansatzpunkt bei den Taten statt beim Wesen Gottes. Viertens wären die Erfahrungen des Krieges und der Besatzung zu nennen, die sich auf jeden Fall in der erhöhten Sensibilität für eine Anerkennung der bleibenden Erwählung Israels niederschlägt – eine Sensibilität, die zugleich auch von der Theologie Barths mit bewirkt sein könnte. Fünftens ist der Einfluss des Anliegens konfessioneller Theologen insofern bemerkbar, als es im Bekenntnis nur zu einer unvollständigen Zurückweisung des Theokratiegedankens kommt, was in der Theologie Barths nicht der Fall ist. Nimmt man diese verschiedenen, von mir unter dem Gesichtspunkt ihrer Beziehung zur Theologie Karl Barths erarbeiteten, sich teilweise überlappenden Einflüsse innerhalb des Bekenntnisses zusammen, zeigt sich auch eine Lücke. Bestimmte, die protestantisch-theologische Landschaft der Niederlande insgesamt kennzeichnende Spannungen werden nämlich bewusst aus217 Vgl. die Barth-Rezeption von Noordmans. 218 Vgl. den Hinweis in der niederländischen Einleitung zum Bekenntnis, Generale Synode, Fundamenten en perspectieven, 13.
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Rückblick auf den Zeitraum zwischen 1933 und 1950
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geklammert oder offen gelassen. Ersteres gilt etwa für das nicht thematisierte Schriftverständnis und die Frage nach dem Verhältnis von ökonomischer und Wesens-Trinität219, letzteres etwa für die deutliche Ablehnung des theokratischen Ideals. Trotzdem, so meine These, trug der Einfluss niederländischer Barthianer oder niederländischer Barth-Rezeption in dem neuen Bekenntnis zu einem Erstarken des niederländischen Barthianismus als einer eigenen Bewegung bei: Die Barthianer wurden zum Zeitpunkt des Bekenntnisses als eine eigene, identifizierbare Strömung innerhalb der niederländischen theologische Landschaft betrachtet, die mit ihrer Einflussnahme auf ein neues Bekenntnis sozusagen den Status eines Beitragenden zu einem entscheidenden offiziellen kirchenpolitischen Dokument erhalten haben. Stand dieses kirchenreformerische Dokument insgesamt im Zeichen der längst überfällig gewordenen Überwindung des Richtungsstreites innerhalb der Nederlandse Hervormde Kerk und wird man seine spezifische Relevanz in seiner apostolatstheologischen Ausrichtung, also in der Öffnung der Verkündigung der Kirche auch für nicht-kirchliche Zeitgenossen, zu sehen haben, so passt das zu dem anhand einer Analyse von De openbaring der verborgenheid in Abschnitt 7.2 dieses Kapitels festgestellten theologischen Bestreben der niederländischen Barthianer als einer eigenständigen Bewegung, sich gegen die Politik der neocalvinistischen Antithese und in Richtung auf eine Durchbrechung der Ausschließlichkeit zwischen Christentum und säkularer Welt hin zu orientieren. Ob der gleichsam doppelte Effekt der Theologie Karl Barths diese wirklich zu einem dominanten Faktor werden läßt, wie der niederländische Theologe Eginhard Meijering in Bezug auf den Zeitraum zwischen 1945 und 1965 meint feststellen zu können, wird in einem späteren Kapitel noch ausführlicher zu ergründen sein. Bislang zeigte sich jedenfalls für den Zeitraum zwischen 1930 und 1950, dass der Barthianismus innerhalb der Nederlandse Hervormde Kerk insbesondere in der Nachkriegszeit als eigenständige Bewegung anzusehen ist, die sowohl kirchenpolitisch als auch theologisch zu Aufbrüchen innerhalb des Richtungsstreites geführt hat. Sie ist also ein wichtiger, aber (noch) nicht unbedingt ein dominanter Faktor geworden.
7.6 Rückblick auf den Zeitraum zwischen 1933 und 1950 Über den Kontext der Entwicklungen innerhalb der Nederlandse Hervormde Kerk hinaus kann man die Bedeutung der Rezeption der Theologie Karl Barths zwischen 1930 und 1950 in den Niederlanden aber auch noch einmal inner219 Heering lehnte diese ja explizit ab, und auch der freisinnige Kommentar des Bekenntnisses spricht sich – etwas moderater – für eine stärkere Betonung der ökonomischen Trinität aus.
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284 Die Entstehung des niederländischen Barthianismus als Herausforderung halb der gesamten, ebenfalls recht zerklüfteten protestantisch-theologischen Landschaft der Niederlande einordnen, die ich im vorigen Kapitel anhand der Barth-Rezeptionen eines liberalen (Heering) und eines orthodoxen (Berkouwer) Repräsentanten skizziert habe. Ich habe die These formuliert, dass beider Barth-Rezeptionen einen sich in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts verstärkt herauskristallisierenden polarisierten Rahmen bildeten, der die Verhärtung der theologischen Gegensätze in den Niederlanden der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts spiegelte und damit einen doppelten, gegenläufigen Druck220 erzeugte. Dieser doppelt gegenläufige Druck führte schließlich im Mittelfeld der reformierten Volkskirche (Nederlands Hervormde Kerk) zur Genese und zum Erstarken einer durchaus vielfältigen Positionierung der Bewegung eines niederländischen Barthianismus. Näher habe ich die sich auch anhand der Barth-Rezeption spiegelnde Polarisierung auch als eine Konstellation im Sinne einer spannungsreichen Di-Konstellation beschrieben, die als solche die Grundlage für einen gemeinsamen Denkraum bilden könnte. Ich habe die Meinung vertreten, dass dieser polarisierte, durch doppelten gegenläufigen Druck erzeugte Denkraum die Entstehung eines eigenen niederländischen Barthianismus beförderte, der sich in Spannung zu beiden Polen befand, diese aber auch verbinden konnte. Die Verbindung der Pole war möglich, weil sich verschiedene Lager auf die Theologie Barths beziehen konnten und diese Theologie tendenziell eine bestimmte Schnittmenge zwischen den bestehenden Lagern verhieß. Der niederländische Barthianismus konnte mithin zur Erweiterung der bestehenden Di-Konstellation in Richtung auf eine Tri-Konstellation führen. Worin bestand aber nun im Rückblick auf die Jahre 1933 – 1950 gesehen die Eigenart dieses die bisherige Konstellation erweiternden neuen Faktors? Es zeigte sich, dass der entstehende Barthianismus genau diejenigen theologischen Themen aufgriff und weiterführte, an denen sich die Vorstellungen des liberalen und des orthodoxen Pols trennten. Im vorigen Kapitel habe ich herausgearbeitet, dass die Unterschiede zwischen den liberalen und den orthodoxen Theologen sich anhand gemeinsamer Themen der Barth-Rezeptionen feststellen ließen, nämlich hauptsächlich im Gegensatz zwischen Theonomie und menschlicher Autonomie, im Schriftverständnis und in der Ethik. Meines Erachtens ist es keinesfalls als ein Zufall zu betrachten, dass die Themenfelder und Überlegungen der Autoren von De openbaring der verborgenheid sich genau auf diese strittigen Punkte bezogen und dass die Autoren genau hier eine weiterführende Alternative anbieten konnten: So bot der Subjektwechsel in der Gotteserkenntnis, und also die Denk-Möglichkeit einer freien Bezugnahme Gottes zum Menschen eine Alternative zur zwischen Orthodoxen und Liberalen strittigen Gewichtung des Verhältnisses zwischen Theonomie und menschlicher Autonomie (erkenntnistheoretisches The220 Die Rede von einem doppelten gegenläufigen Druck übernahm ich in Kap. 6 dieser Studie von Taylor, Ein säkulares Zeitalter.
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Rückblick auf den Zeitraum zwischen 1933 und 1950
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menfeld). Und so bot insbesondere die von Miskotte im weiterführenden Gespräch mit Barth entwickelte theologische Exegese eine Alternative zu den bestehenden Schriftverständnissen in der liberalen und der orthodoxen Theologie (hermeneutisches Themenfeld). Am wichtigsten – wie man mit Blick auf die Zukunft sagen darf – war wohl die dritte barthianische Alternative: Gegenüber dem neocalvinistischen Vorwurf der Unmöglichkeit einer christlichen Ethik auf „barthianischer“ Grundlage und gegenüber dem von liberaler Seite erhobenen Vorwurf, die menschliche Autonomie werde nicht genügend betont, entwickelten die Barthianer die Möglichkeit eines auf die Kritik der Politik und Kultur der Antithese gerichteten, der säkularisierten Gesellschaft gegenüber offenen Politik- und Kulturverständnisses. Will man an der These Meijerings, dass sich die Bedeutung der Theologie Barths in den Jahren zwischen 1945 und 1965 in den Niederlanden zu einem tatsächlich dominanten Faktor entwickelte, festhalten, wird man ergänzend nicht nur auf die theologische Rezeption der Theologie Karl Barths zu verweisen haben, sondern gerade auch auf deren politische und kulturelle Rezeption. Um dem eventuell dominanten Faktor also tatsächlich auf die Spur kommen zu können, dürften nicht länger nur die theologischen Analysen und Beiträge im Vordergrund stehen, sondern müssen zum einen die in Kapitel 5 dieser Studie dargestellten nicht-fachtheologischen kulturellen Barth-Rezeptionen und zum anderen die im folgenden Kapitel darzustellenden ebenfalls nicht fachtheologischen politischen Barth-Rezeptionen stärker berücksichtigt werden. Angedeutet sei hiermit die Tendenz, dass der Bedeutungshorizont der Theologie Karl Barths in den Niederlanden immer weiter wird: Spielte die Rezeption dieser Theologie zunächst im kirchenpolitischen Erneuerungsstreben innerhalb der Nederlandse Hervormde Kerk und dann auch innerhalb der gesamten protestantischen Theologie der Niederlande eine verbindende, ökumenische Rolle, bekommt sie durch die mithilfe dieser Theologie vollzogene Öffnung christlicher Kultur und Politik in Richtung auf die säkularisierte Welt vor und nach dem Zweiten Weltkrieg zunehmend auch größere explizit gesellschaftliche Relevanz.
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8. Durchbrechung der Polarisierung in der niederländischen Nachkriegszeit (1945–1960)? Kulturtheologie III: Christliche Politik? 8.1 Einleitung Theologische Entwicklungen Nach dem Krieg war Karl Barth sehr populär in der Nederlandse Hervormde Kerk (Niederländische Reformierte Kirche), und viele der reformierten Theologen waren Barthianer. Zudem verbesserte sich spätestens mit dem Erscheinen des zweiten Barthbuchs1 von Berkouwer im Jahr 1954, in dem dieser einen vorsichtigen Kurswechsel2 der gereformierten Theologie in Richtung auf Barth vollzogen hatte, langsam das äußerst gespannte Verhältnis zwischen den Neocalvinisten und Barth beziehungsweise den niederländischen Barthianern. Der ebenfalls gereformierte Klaas Schilder3 setzte seine Polemik allerdings unvermindert fort. In seinem 1950 erschienenen Kommentar zum Heidelberger Katechismus4 setze er sich ausführlich mit Karl Barths Lehre vom Nichtigen auseinander, wobei auch der von Barth sehr geschätzte Wolfgang Amadeus Mozart kritisiert wurde. Wie bereits bei früheren Polemiken reagierte Barth lustlos und wenig inhaltlich, weswegen sich die Kontroverse in der Folge auf die Bedeutung Mozarts zuspitzte. Der niederländische Ökumeniker Martien Brinkman5 meint, dass die von Karl Barth im Vorwort von Band III/4 der Kirchlichen Dogmatik6 publizierten scharfen Auslassungen gegen die niederländischen Neocalvinisten auch auf diese Polemik Klaas Schilders anspielen, der seinerseits wiederum darauf verbittert reagierte. Schaut man auf das Mittelfeld der Nederlandse Hervormde Kerk, so zeigt sich, dass dort auch nach dem Krieg die wohl wichtigsten theologischen Barth-Rezeptionsleistungen vollbracht wurden. Als den bedeutensten niederländischen Barth-Rezipienten und Theologen möchte ich den Leidener 1 2 3 4 5
Vgl. Berkouwer, De triomf; vgl. auch meine Analyse in Kap. 3 dieser Studie. Vgl. Kap. 6 dieser Studie. Vgl. Kap. 3 dieser Studie. K. Schilder, Heidelbergsche Catechismus, Goes 1950. M.E. Brinkman, Schilder en Barth. Gebrekkige communicatie, in: J. de Bruijn/G. Harinck (Hg.), Geen duimbreed. Facetten van leven en werk van prof. dr. K. Schilder (1890–1952), Passage 6, Baarn 1990, 60–73, insbes. 61–64. 6 K. Barth, Die Kirchliche Dogmatik, Bd. 3: Die Lehre von der Schöpfung, 4. Teilbd. [1951], Zollikon-Zürich 1951, IXf.
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Einleitung
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Systematiker Kornelis H. Miskotte hervorheben, dessen Barth-Rezeption ich im nächsten Kapitel ausführlich anhand seines 1956 publizierten Hauptwerkes Als de goden zwijgen (Wenn die Götter schweigen) gesondert vorstellen werde und den ich an dieser Stelle entsprechend vernachlässige. Ausdrückliche Erwähnung soll auch Gerrit Cornelis van Niftrik (1904–1972) finden, der als kirchlicher Professor für Dogmatik 1947 an die kommunale Universität von Amsterdam berufen worden war. Van Niftrik, der sich schon seit seiner Promotion7 im Jahr 1940 mit Karl Barth beschäftigt hatte, trug nach dem Krieg insbesondere durch die Publikation zweier Bücher zur weiteren Verbreitung der Theologie Karl Barths in den Niederlanden bei. Beide Bücher verfolgten nicht so sehr ein interpretatorisches oder gar hermeneutisches Interesse, sondern verstanden sich vor allem als allgemeinverständliche Darstellungen und Erklärungen der Theologie Barths: In dem 1948 publizierten Een beroerder Israels (Ein Verderber Israels)8 fasst van Niftrik die wichtigsten Gedanken der Theologie Barths zusammen. Wie einst Elia gefragt worden sei, ob er nicht das Volk Israel ins Unglück gestürzt habe (vgl. 1Kön. 18, 17), so könne man auch Barth fragen, ob er „durch seine kritischen Fragen, durch seine strenge christologische Haltung, durch seine Verwerfung der natürlichen Theologie, seinen Kampf gegen eine subjektivistisch–anthropologische Theologie“9 nicht „das geistliche und kirchliche Israel“10 ins Unglück gestürzt habe. Der Einfluss von Barths Theologie habe auf jeden Fall einen „Bruch“11 gebracht: die „geschlossenen Fronten“12 seien in Bewegung geraten und „Gegensätze verschoben“13 worden. Insbesondere habe sich erwiesen, dass nicht nur die liberale, sondern auch die orthodoxe Theologie mit einem religiösen Anthropozentrismus arbeite und dass der Unterschied zwischen dem „kulturellen […] und dem frommen, bekehrten, wiedergeborenen Menschen“14 wesentlich geringer sei als bisher gedacht. 1951 folgte die Publikation des ebenfalls sehr einflussreichen Buchs Zie, de mens (Siehe, der Mensch; vgl. Joh. 19, 5)15, in dem Van Niftrik eine Beschreibung und Erklärung der Anthropologie Karl Barths – so auch der Untertitel des Buches – in der Kirchlichen Dogmatik III/2 bot. Auf liberaler Seite ist hingegen in der niederländischen Nachkriegszeit eine auffallend geringe Beschäftigung mit der Theologie Karl Barths erkennbar – 7 G.C. van Niftrik, Sola fide. De rechtvaardingingsleer in de nieuwere theologie, ’s Gravenhage 1940. 8 G.C. van Niftrik, Een beroerder IsraÚls. Enkele hoofdgedachten in de theologie van Karl Barth, Nijkerk 1948. 9 AaO., 8f. 10 AaO., 8. 11 Ebd. 12 Ebd. 13 Ebd. 14 Ebd. 15 G.C. van Niftrik, Zie, de mens. Beschrijving en verklaring van de Anthropologie van Karl Barth, Nijkerk 1951.
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288 Durchbrechung der Polarisierung in der niederländischen Nachkriegszeit ein Tatbestand, der sich erst ab 1960 wieder verändern wird: Gerrit J. Heering16, dessen Barth-Rezeption schwerpunktmäßig in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts erfolgt war, setzte sich nach dem Krieg mit Barths nur relativem Pazifismus auseinander und publizierte 1951 die Broschüre Karl Barth over het oorlogsprobleem (Karl Barth zum Problem des Krieges)17, in der er auch positiv auf Barths Bezugnahme auf sein bekanntes Buch De zondeval van het Christendom (Der Sündenfall des Christentums)18 in § 55 der Kirchlichen Dogmatik III/4 einging. Barths und Heerings Wege trennten sich nach Heering außer in der Frage nach dem prinzipiellen Pazifismus auch wegen Barths relativ positiver Staatsauffassung und wegen seiner optimistischen Sicht auf die Kirche. Ein anderes Beispiel für die verhältnismäßig geringe liberale Barth-Rezeption in der niederländischen Nachkriegszeit bildet der remonstratische Theologe George J. Sirks (1887–1969). Thematisch gesehen schnitt Sirks allerdings eine neue Frage in der Barth-Rezeption an, indem er das Verhältnis von Christologie und Pneumatologie19 beleuchtete: In seinem 1956 publizierten Artikel De centrale betekenis van de leer van de Heilige Geest (Die zentrale Bedeutung der Lehre vom Heiligen Geist)20 beschreibt er die Position der Pneumatologie gegenüber der Christologie bei Barth kritisch als „vollständig umklammert“21. Vergleichbar marginal ist die Barth-Rezeption des ebenfalls liberalen Remonstranten Gerrit Jan Hoenderdaal (1910–1998). In seiner 1948 publizierten Dissertation über Schleiermacher, Religieuze existentie en aesthetische aanschouwing (Religiöse Existenz und ästhetische Betrachtung)22, erwähnt er kurz die Unklarheit des Barthschen Offenbarungsbegriffs und der dreifachen Gestalt des Wortes Gottes. Dass Barth an der als nicht-biblisch erkannten kirchlichen Trinitätslehre dennoch festhalte, sei paradox. Dem dialektischen Denken sei vorzuwerfen, den „Kontakt mit dem wirklichen Glaubensleben, mit der religiösen Existenz“23 zu verlieren. Zudem sei zu Barths Ausführungen 16 Vgl. Kap. 3 dieser Studie. 17 G.J. Heering, Karl Barth over het oorlogsprobleem, Hoofdbestuur „Kerk en Vrede“ 9, Amsterdam 1952. 18 G.J. Heering, De zondeval van het Christendom. Een studie over Christendom, staat en oorlog, Arnhem 1928. 19 Vgl. Barths Unterscheidung zwischen subjektiver und objektiver Möglichkeit der Offenbarung in §16 der KD I/2. Die Thematik ist auch insofern relevant, als Hoenderdaal (s.u.) sie später noch einmal aufgriff und sie auch im remonstrantischen Glaubensbekentnis von 1940 eine Rolle gespielt hat. 20 G.J. Sirks, De centrale betekenis van de leer van de Heilige Geest, OriÚntatie. Referatenreeks uit Remonstrantse kring I/II, Lochem 1956, 3–23. 21 AaO., 7. 22 G.J. Hoenderdaal, Religieuze existentie en aesthetische aanschauwing. Een studie over het misverstand omtrent het aesthetische element in Schleiermachers wezensbepaling der religie, Arnhem 1948 [Diss. Leiden]. 23 AaO., 127.
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Einleitung
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zur Schönheit Gottes in der Kirchlichen Dogmatik II/1 anzumerken, dass Barth mit einem metaphysischen, wenig konkreten Schönheitsbegriff arbeite. Politische und kirchenpolitische Entwicklungen Entscheidend für die Barth-Rezeption in der niederländischen Nachkriegszeit war aber – abgesehen von Berkouwers vorsichtigem theologischem Kurswechsel und Miskottes Versuch einer barthianisch inspirierten alternativen Kulturtheologie – die Bedeutung Karl Barths für eine ganz bestimmte politische Bewegung innerhalb der Nederlandse Hervormde Kerk und zum kleineren Teil auch innerhalb der Gereformeerde Kerken in Nederland. Gemeint ist der so genannte Doorbraak (Durchbruch). Dabei handelte es sich um den Versuch zu verhindern, dass nach dem Krieg die von den Deutschen 1941 aufgehobenen Parteien in den Niederlanden aufs Neue entlang den Begrenzungen der so genannten verzuiling (Versäulung) organisiert würden24. Die Rolle, die Karl Barth beziehungsweise dessen Theologie in diesem kirchlichen und gesellschaftlichen Erneuerungsprozess in den Niederlanden gespielt hat, kann kaum überschätzt werden. Das hat der bekannte Doorbraak-Pfarrer Buskes eindrucksvoll in seinen Erinnerungen von 1959 festgehalten: Was Barths Einfluss in den Niederlanden betrifft, so kann ich, ohne Widerspruch befürchten zu müssen, sagen, dass die Erneuerung der und in der Hervormde Kerk ohne Barth völlig undenkbar ist. Diejenigen, die sich in den Jahren vor, während und nach dem Krieg für diese Erneuerung eingesetzt haben, sind fast alle mehr oder weniger von Barth beeinflusst und angeregt worden. Natürlich hat diese Erneuerung ihre Vorgeschichte, die weit zurück im letzten Jahrhundert angesetzt werden kann, doch als sie sich durchsetzte, wurde sie, was ihre Art und ihre Zielrichtung betrifft, zum großen Teil von Barth und seiner Theologie bestimmt. Dass die festgefahrenen Fronten, kirchliche und theologische, durchbrochen wurden, dass das Gespräch zwischen Liberalen und Orthodoxen wieder in Gang gebracht wurde, dass die Hervormde Kerk wieder damit beschäftigt ist, eine bekennende Kirche zu werden,dass die Frage nach dem Verhältnis von Kirche und Welt auf neue Weise gestellt wird, das alles ist zu einem großen Teil Barth zu verdanken. Der Doorbraak auf politischem und sozialem Gebiet – die Begegnung von Sozialismus und Christentum – hat durchaus weitergehend etwas, wenn nicht alles mit diesem Doorbraak auf kirchlichem und theologischem Gebiet zu tun, was zugleich bedeutet, dass man sich in den Niederlanden enorm irrt, wenn man den Doorbraak auf politischem und sozialem Gebiet als eine zeitbedingte und vorübergehende Erscheinung betrachtet, die [lediglich] zu den bereits vergangenen Jahren nach der Besatzung gehört. Der in der P.v.d.A. [Sozialdemokratische Partei; SH] konsolidierte Doorbraak hat viele Quellen, für protestantische Kreise ist die Theologie Barths mit sehr großer Gewissheit eine der wichtigsten. Diese Quelle bringt noch immer einen Überfluss klaren und frischen Wassers
24 Vgl. Kap. 1 dieser Studie.
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290 Durchbrechung der Polarisierung in der niederländischen Nachkriegszeit hervor, welches wie ein breiter Strom seinen Weg sucht und das Land fruchtbar macht [kurs. v. SH].25
Die Erinnerungen von Buskes fassen gut zusammen, was in diesem Kapitel besprochen werden soll. Buskes erinnert zunächst an das, was bereits im vorangehenden Kapitel 7 besprochen wurde, nämlich die Bedeutung der Theologie Karl Barths für die Beendigung des Richtungsstreits innerhalb der Nederlandse Hervormde Kerk und für die Entwicklung eines neuen gemeinsamen Bekenntnisses. Dass Karl Barths Theologie auch bedeutend für eine gegenüber der neocalvinistischen Antithese-Politik neue Verhältnisbestimmung von Glaube beziehungsweise Kirche und Gesellschaft beziehungsweise Politik war, die sich innerhalb des gegebenen niederländischen Kontextes bis ca. 1960 vor allem als eine Begegnung von Christentum und Sozialismus beziehungsweise Sozialdemokratie manifestierte, also als Begegnung jender beiden weltanschaulicher Lager, die durch die Antithese-Politik mit dem Verhältnis zwischen Glaube und Unglaube identifiziert wurde, ist hingegen das Thema des vorliegenden Kapitels. Buskes weist in seinen Erinnerungen zu Recht darauf hin, dass der Doorbraak viele Wurzeln hatte: politische, theologische und kirchliche. Diese Wurzeln werde ich im zweiten Abschnitt dieses Kapitels unter besonderer Berücksichtigung des durch die (Rezeption der) Theologie Karl Barths geleisteten Beitrags untersuchen (8.2). Hierbei wird Buskes’ These, dass Barths Einfluss für protestantische Kreise überaus wichtig war, bestätigt. Im dritten Abschnitt sollen dann die wichtigsten kirchlichen Doorbraak-Dokumente analysiert (8.3) und im vierten Abschnitt die so genannte Doorbraak-Bibel auf ihre Barth-Rezeption hin befragt werden (8.4). Das Kapitel endet mit einem parodistischen Gedicht, einer Parodie der Parodie (8.5) und einem Rückblick (8.6).
8.2 Die Wurzeln des Doorbraak in den politischen Parteien und Bewegungen vor 1945 Dass der Doorbraak nicht nur eine politische, sondern auch eine kulturelle Bewegung zur Durchbrechung der neocalvinistischen Antithese war, deren Enstehung bereits seit den 20er Jahren nachzuweisen ist, habe ich in Kapitel 5 dieser Studie anhand des niederländischen Barthromans und der Entwicklungen innerhalb der literarischen Zeitschrift Opwaartsche wegen dargestellt. In den Kapiteln 2 und 7 habe ich dann anhand der Person Johan Eijkmans und der als Doorbraak-Laboratorium26 bezeichneten Amsterdamse Maatschappij 25 Vgl. den wohl bekanntesten Doorbraak-Pfarrer J.J. Buskes, in: Buskes, Hoera, 80f. 26 Den Ausdruck entnehme ich dem Eijkman-Biographen Maarten van der Linde, vgl. Van der Linde, Het visioen, 188.
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Doorbraak in den politischen Parteien und Bewegungen vor 1945
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voor Jonge Mannen (AMVJ; Amsterdamer Abteilung des niederländischen YMCA), die eng mit der studentischen Jugendarbeit der Nederlandse ChristenStudenten Vereniging (NCSV; Niederländische Christen-Studenten Vereinigung) verbunden war, herausgearbeitet, dass Doorbraak-Ideen vor dem Krieg vor allem auch in der christlichen Bildungs- und Jugendarbeit Fuß gefasst hatten. Festzuhalten ist an dieser Stelle darum zunächst noch einmal die Erkenntnis, dass die in dieser Studie nachgewiesene kulturelle Variante des Doorbraak offensichtlich wesentlich früher als die politische zum Tragen kam: Während die kulturelle Ausprägung des Doorbraak ihren Schwerpunkt in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts hatte, kam die politische Seite erst in und nach dem Krieg zu ihrer breitesten Entfaltung. Ebenfalls bereits vor dem Krieg kamen bei Vertretern der kleineren27 sich explizit als christlich verstehenden Parteien erste für die politische Variante relevante Diskussionen auf, die sich mit der Möglichkeit beziehungsweise Unmöglichkeit der bestehenden Form christlicher Politik als einer Politik der Antithese beschäftigten. Im Folgenden28 stelle ich die Diskussionen in der Christelijk-Historische Unie (CHU; Christlich-Historische Union), der Christelijke-Democratische Unie (CDU; Christlich-Demokratische Union) und in der so genannten Nederlandse Volksbeweging (Niederländische Volksbewegung) dar : Die CHU Als eine der Wurzeln des politischen Doorbraak sind die Diskussionen um die Möglichkeit einer christlichen Politik innerhalb der Christelijke-Historische Unie (CHU) zu betrachten, einer kleineren christlichen Partei, der vor allem Mitglieder aus dem (zumeist orthodoxen beziehungsweise konfessionellen) Spektrum der Nederlandse Hervormde Kerk angehörten. Bereits 1937 publizierten einige der CHU nahestehende Juristen unter dem Titel Christen en burger (Christ und Bürger)29 ein Buch mit verschiedenen Beiträgen, deren gemeinsamer Nenner neben dem Thema des Verhältnisses von Christentum und Politik auch die Inspiration durch die Wort-Gottes-Theologie Karl Barths war. Da die Theologie Barths in den Niederlanden bis tief in die 30er Jahre des 20. Jahrhunderts hinein als weitgehend unpolitisch, ethisch desinteressiert und quietistisch empfunden wurde, handelt es sich um einen durchaus interessanten Diskussionsbeitrag, der sich als „eine Ergänzung“30 zu dem 1934 vorwiegend von Theologen publizierten Buch Openbaring der verborgenheid versteht. Im Folgenden greife ich die beiden ersten der insgesamt vier Beiträge 27 Die große protestantisch-christliche Partei war die von Abraham Kuyper gegründete, den Gedanken der Antithese nahezu verkörpernde neocalvinistische Antirevolutionäre Partei (ARP). 28 Weitere, von mir nicht behandelte bekannte Niederländer, die von der Theologie Barths in politischer Hinsicht beeinflusst waren, sind der friesische Dichter, Journalist und Friedensaktivist Fedde Schurer und der Politiker Gerardus H. Slotemaker de Brune. 29 P. Scholten (Hg.), Christen en burger. Opstellen over de verhouding van christendom en staat, Zwolle 1937. 30 AaO., VII.
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292 Durchbrechung der Polarisierung in der niederländischen Nachkriegszeit heraus. Beide Beiträge diskutieren die Frage nach der Möglichkeit einer christlichen Politik in unterschiedlicher Weise in aktiver Auseinandersetzung mit der Theologie Karl Barths: Paul Scholten untersucht in seinem Beitrag zunächst die für das christliche politische Denken der Niederlande maßgebliche Position des orthodox-reformierten Staatsmannes Guillaume Groen van Prinsterer (1801–1876) und geht hierbei insbesondere auf dessen bekannte und sowohl für die neocalvinistische Antirevolutionaire Partij (ARP) als auch für die Christelijke-Historische Unie (CHU) maßgebliche Losung ein, die zugleich der Titel31 des Beitrags ist: Es steht geschrieben, es ist geschehen32. Der erste Teil dieses Satzes weise auf die Heilige Schrift hin, der zweite Teil hingegen auf die Geschichte, und die für christliche Parteipolitiker relevante Aufgabe bestehe nun darin, die Geschichte ins rechte Verhältnis zur Schrift zu setzen. Das aber heiße im Falle der CHU-Politiker, sich auch gegen die Interpretation des Satzes in der antirevolutionären neocalvinistischen Schwesterpartei abzugrenzen. Um dieses Ziel zu verwirklichen, bedient sich Scholten dreier der Theologie Barths entlehnten Motive. Als erstes politisch zu verarbeitendes theologisches Barthmotiv ergebe sich das so genannte Recht des Augenblicks, das tatsächlich auch als ein Recht anzusehen sei. Mit Groen van Prinsterer sei zwar zu betonen, dass ein Christ Gottes Führung in bestimmten historischen Ereignissen sehen könne. Dem sei aber die von Barth inspirierte Forderung nach der Anerkennung auch der konkreten Situation im Hier und Jetzt33 gegenüberzustellen. Damit könne dem in den christlichen Niederlanden so beliebten Versuch einer auf Dauer angelegten begrifflichen Systematisierung des Christlichen in der Gesellschaft widersprochen werden. Gegenüber der Ausschließlichkeit beider Positionen betont Scholten deren Vereinbarkeit: Die der Theologie Barths entlehnte Betonung des diskontinuierlichen Moments der Geschichte widerspreche der kontinuierlichen Seite der Geschichte und der Anerkennung der bestehenden Rechtsordnung keinesfalls. Mit Groen van Prinsterer, so die Zusammenfassung Scholtens, sei die bestehende Ordnung anzuerkennen, gegen Groen van Prinsterer sei das Antirevolutionäre nicht zu verabsolutieren. Stattdessen habe man von der Führung Gottes in der Geschichte im Sinne einer nicht beweisbaren „Wahrheit für den Glauben“34 und nicht von einer „letzte[n] Wahrheit“35 des Glaubens zu sprechen. Gegen Barths Auffassung vom Ver-
31 P. Scholten, Er staat geschreven, er is geschied, in: Ders., Christen en burger, 1–53. 32 Die bekannte Wendung stammt aus dem Vorwort von Groen van Prinsterers Unglaube und Revolution von 1847. 33 Scholten weist auf Barths Die theologischen Voraussetzungen kirchlicher Gestaltung hin; vgl. K. Barth, Die theologischen Voraussetzungen kirchlicher Gestaltung (1935), in: Ders., Theologische Fragen und Antworten. Gesammelte Vorträge, Bd. 3, 233–256, Zollikon 1957. 34 Scholten, Er staat geschreven, 24. 35 AaO., 25.
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hältnis zwischen dem Geschichtlichen und dem Biblischen36 sei kritisch anzumerken, dass er das Geschichtliche zugunsten des Biblischen zu schnell verworfen habe. Ja, er habe damit sogar seiner eigenen Lehre37, dass nämlich auch die kirchliche Verkündigung des Wortes Gottes Offenbarung genannt werden könne, widersprochen. Die Schrift sei zwar nicht gleichrangig mit der Geschichte, sondern dieser überzuordnen, doch sei sie auch nie ohne Geschichte – eine Erkenntnis, die für Scholten anders als für die Neocalvinisten gerade mit der Notwendigkeit einer hermeneutisch orientierten Exegese verbunden wird. In diesem Zusammenhang ergibt sich die Relevanz eines zweiten der Theologie Barths entlehnten Gedankens, nämlich des Rechts des ExistentiellPersönlichen. Der Ausdruck „es steht geschrieben“ sei nämlich wie auch der Ausdruck „es ist geschehen“ als eine Glaubens-Wahrheit aufzufassen. Die Bibel sei nicht so sehr ein Buch, aus dem man selbstherrlich bestimmte Prinzipien ableiten und in dem man eine bestimmte Wahrheit finden könne, sondern das Finden von Wahrheit in der Bibel sei – mit Barth gesagt – als „,das Handeln Gottes an uns‘“38 zu verstehen. Mit Barth sei drittens auch hervorzuheben, dass das Reden über Gottes Gebot immer auch mit einem Hören auf dieses Gebot verbunden sei. Dabei sei es nicht isoliert und nicht im Sinne eines ewiggültigen Prinzips zu betrachten, sondern müsse als „konkretes Gebot“39 gehört werden. Von daher ergebe sich, 36 Scholten bezieht sich auf Barth, Grundfragen, 31. K. Barth hatte im Rahmen seines Seminars über das Apostolische Glaubensbekenntnis bei seinem Aufenthalt in Utrecht 1935 so genannte Grundfragen beantwortet. In der sechsten Grundfrage (Die Regierung der Kirche) bezog er sich auch auf den Satz Groen van Prinsterers, „Es steht geschrieben, es ist geschehen“ und wies die Möglichkeit eines Geschichtsglaubens, einer Geschichtsphilosophie oder einer Geschichtsdeutung energisch zurück zugunsten eines Hörens auf das Wort. 37 Scholten bezieht sich auf Barth, Christliche Dogmatik 1, 89. Dort schreibt Barth, dass die Aktion der Predigt ein menschliches Korrelat des Wortes Gottes sei, in dem Gott selbst handelndes Subjekt sei. Die Predigt ist also nach Barth als eine der drei Gestalten des Wortes Gottes ein menschliches Handeln und keinesfalls identisch mit der Offenbarung Gottes, wie Scholten etwas vorschnell suggeriert; vgl. Barth, Christliche Dogmatik 1, 88f. 38 Scholten, Er staat geschreven, 34. Scholten bezieht sich hier auf Barth, Credo, 85. Dort erklärt Barth im Zusammenhang mit dem Bekenntnis zur Jungfrauengeburt und der Empfängnis durch den Heiligen Geist: „Das Geheimnis der Offenbarung besteht ganz einfach hierin […], dass sie in dem wirklich-biblischen Sinne des Begriffs die Wahrheit, das ist: Das Handeln des wahren Gottes ist, das, was Er am wahren Menschen tut; dieses Handeln ist frei […], gnädig […]“. Der Satz bezieht sich also ursprünglich auf das Handeln Gottes am wahren Menschen Jesus Christus. 39 Scholten bezieht sich auf Barth, Ethik, 85. Barth betont in der Ethik in der Tat, dass es ihm nicht um ein abstraktes theozentrisches Prinzip gehe, dass einfach nur angewendet werden müsse, sondern um den Aufweis der jeweiligen Inanspruchname Gottes; vgl. K. Barth, Ethik I. Vorlesung Münster Sommersemester 1928, wiederholt in Bonn Sommersemester 1930, hg. v. D. Braun (Karl Barth Gesamtausgabe, II. Akademische Werke 1928), Zürich 1973. Wie Scholten zu der genauen Seitenangabe aus der damals ja noch nicht publizierten Ethik kam, ist mir nicht deutlich geworden. Deren Herausgeber, Dietrich Braun, weist in seinem Vorwort allerdings darauf hin, dass es eine von Rudolf Pestalozzi hergestellte und hektographierte Abschrift der von Barths Mitarbeiterin Charlotte von Kirschbaum erstellten handschriftlichen Mitschrift
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294 Durchbrechung der Polarisierung in der niederländischen Nachkriegszeit dass die Kirche im Gegensatz zum Staat keine Gesetzgeberin sondern Verkündigerin des Wortes Gottes zu sein habe. Die „Wahrheit-Für-Den-Glauben“ sei von der Wahrheit des politischen Kampfes zu unterscheiden. Weder aus der Bibel noch aus der Geschichte könne man politische Prinzipien ableiten. So müssten sich Christen auch nicht in christlichen Parteien organisieren, was aber nicht ausschließe, dass dies in einer konkreten Situation trotzdem wünschenswert sein könnte. Das Kriterium sei hier die Frage, ob die Verkündigung der Kirche in Gefahr sei beziehungsweise ob man in einem bestimmten Staat überhaupt als Christ leben könne. Christliche Parteibildung sei dann erforderlich, wenn es um der Kirche willen notwendig sei. Alle drei Barthmotive – das Recht des Augenblicks, die Bedeutsamkeit des Existentiell-Persönlichen, die Konkretheit des Gebotes – werden von Scholten also rezipiert, um eine christliche, politische Alternative zur christlichen Politik des Neocalvinismus zu entwickeln. Die prinzipielle Notwendigkeit christlicher politischer Organisation kann dabei zugunsten einer möglicherweise konkret erforderlichen Notwendigkeit fallen gelassen werden. Der zweite zu besprechende Beitrag, Christelijk-historisch40 von Samuel Rozemond, ist hinsichtlich der Relevanz der Theologie Barths für die Möglichkeit einer christlichen Politik wesentlich zurückhaltender und arbeitet vor allem die eigenen niederländischen Wurzeln zur Problematisierung dieser Möglichkeit hinaus. Rozemond wählt als Ausgangspunkt eine im Jahr 1935 in der niederländischen Tagespresse geführte Diskussion über die Unmöglichkeit einer christlichen Politik, ein Vorwurf, der ja gerade von neocalvinistischer Seite immer wieder gegen Barth beziehungsweise den niederländischen Barthianismus geäußert worden war. Rozemond ist der Meinung, die in den Niederlanden schon länger bestehende Frage nach der Existenzberechtigung einer christlichen Politik sei durch den Einfluss der dialektischen Theologie lediglich in ein neues Stadium gekommen, in dem man sich nun politisch und nicht theologisch zu orientieren habe. Hierzu sei zunächst zwischen Barth selber beziehungsweise der akademischen Debatte und dem niederländischen Barthianismus, der ja aus der akademischen eine politische Debatte gemacht habe, zu unterscheiden: Zunächst wendet sich Rozemond anhand einer Besprechung der Position von Johann J. Buskes in dem 1934 publizierten Band De openbaring der verborgenheid dem niederländischen Barthianismus zu. Buskes habe anhand einer Besprechung von Groen van Prinsterers Satz „Es steht geschrieben, es ist geschehen“ vor der Gefahr einer Identifikation der Bibel mit historischen Betrachtungen und vor der Gefahr einer Theologie der Schöpfungsordnungen gewarnt. Es sei zu bemerken, dass Buskes, der ja selber auch einer christlichen gegeben habe, die in Form von zwei Heften, nämlich Ethik I und Ethik II, vom Christlichen Studentenweltbund in Genf vertrieben worden sei; vgl. aaO., IX. Zu vermuten ist, dass Scholten über eine derartig verbreitete Ab- beziehungsweise Mitschrift verfügte. 40 S. Rozemond, Christelijk-historisch, in: Scholten, Christen en burger, 54–90.
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Partei angehöre, die Möglichkeit einer christlichen Politik mit keinem Wort verwerfe. Vielmehr wolle er an deren Reinigung mitarbeiten. Gehe man nun etwas grundlegender der Frage nach, was überhaupt unter christlicher Politik zu verstehen sei, so komme man mit Hebr. 11 zu der Antwort, dass es um Gehorsam gegenüber Gott zu gehen habe. Selbstkritisch zuzugeben sei, auch gegenüber Buskes, dass sich biblisch und kritisch-philosophisch gesehen sowohl antirevolutionäre als auch christlich-historisch orientierte Politiker in der Vergangenheit auf oft unzulässige Weise auf die Natur oder die Geschichte berufen hätten. Selbstkritisch zuzugeben sei auch, dass etwa der erste Artikel des Parteiprogramms der CHU41 durchaus im Sinne einer Gleichrangigkeit von Geschichte und Bibel interpretiert werden könne. Von Barth her42, der neben dem Gebot Gottes „kein und“43 anerkenne, sei an einem christlichhistorischen Denken im Sinne einer Denkweise, „die man sich zueigen machen“44 könne, durchaus eine Korrektur angebracht. Mit Pascal und Buskes sei aber dennoch auf die ein christlich-historisches Denken eröffnende Möglichkeit hinzuweisen, dass „Geschichte zu Offenbarung werden könne […], wenn Gott ihren Sinn enthülle“45. Heutzutage stehe man vor der Alternative Säkularisation oder Gehorsam gegenüber Gott. Wolle man sich – wie Rozemond – sowohl gegen eine autonome Demokratie als auch gegen antirevolutionäres Denken wehren, müsse man über die Reformatoren und über die Antirevolutionäre hinausgehen. Barths Position sei durchaus hilfreich, wenn es um die notwendige Kritik von „Selbstgerechtigkeit und Ungehorsam“46 gehe, ja, es sei durchaus „möglich“ – so Rozemond mit einem Hinweis auf den Römerbrief 47 und auf die Grundfragen48 – „zu beweisen, dass er [Barth; SH] durchaus antirevolutionär
41 Dort heißt es: „Um auf staatlichem Gebiet die Frage zu beantworten, was die Ordnung Gottes ist, achte man nicht nur auf die wesentlichen Aussagen der Heiligen Schrift, sondern auch auf das Urteil der christlichen Kirche und auf die Führung Gottes, wie sie in der Geschichte der Völker wahrgenommen wird.“ 42 Rozemond bezieht sich genau wie Scholten auf Barths Abweisung einer Geschichtstheologie; vgl. Barth, Grundfragen, 31. 43 Rozemond, Christelijk-historisch, 70. 44 Ebd. 45 AaO., 71. 46 AaO., 76. 47 Rozemond verweist auf eine Passage aus dem zwölften Kapitel der zweiten Auflage des Römerbriefs (Das Problem der Ethik). Vermutlich meint er Barths Ausführungen zu einem erneuerten Denken, dass dem Wort und dem Werk Gottes Raum zu geben habe; vgl. etwa Barth, Römerbrief (1922), 461: „Die Gnade genügt, auch für die Ethik! […]. Genügt, den Menschen in seiner verfluchten Sicherheit zu erschüttern und seiner seligen Bestimmung durch den neuen Menschen in Christus zuzuführen“. 48 Rozemond verweist auf Barths Einleitung zu den Grundfragen. Dort hebt Barth den Unterschied zwischen der deutschen und der holländischen Situation hervor, wobei er unter anderen die „Gemächlichkeit“ der niederländischen Theologie, die es in Deutschland so nicht mehr geben könne, und ihren Hang, „Fragen offen [zu lassen]“ lobend hervorhob; vgl. Barth, Grundfra-
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296 Durchbrechung der Polarisierung in der niederländischen Nachkriegszeit und christlich-historisch“49 sei. Trotzdem gebe es einen bleibenden Unterschied zwischen Barths Theologie und einer christlichen Parteipolitik: Barth sei eben „in der Politik [ein] Dilettant und eigentlich [ein] Zuschauer“50. Barths Argument, dass die Gefahr einer christlichen Partei darin bestehe, andersdenkende Christen als unchristlich abzustempeln, gelte für die „nüchterne holländische Wirklichkeit“51 nur begrenzt. Mit großem Bedauern sei hinsichtlich der Möglichkeit einer christlichen Politik oder Partei festzustellen: „Barth lässt uns im Stich“52. Barth habe, wie seine Behandlung von Röm. 13 im Römerbrief und seine eher spielerische53 Politikauffassung zeige, die Ernsthaftigkeit eines christlichen politischen Anliegens verkannt, deren einziges Kriterium der Gehorsam gegen Gott sei. Zwar dürften „so genannte konfessionelle, kirchliche oder christliche Parteien in Wirklichkeit nicht christliche Parteien“54 genannt werden, doch mache das den praktischen Wert christlicher Parteipolitik noch nicht hinfällig. Zu hoffen sei auf eine Reinigung des christlich-historischen in Richtung auf ein christlich-realistisches Denken und auf die Durchbrechung einer geistlich politischen Erstarrung in den Niederlanden. Somit endet Rozemonds selbstkritischer und gerade nur in Bezug auf die notwendige Selbstrelativierung christlich-historischen Denkens von Barths Theologie mitinspirierter Beitrag mit einem Plädoyer für den Doorbraak. 1938 erschien mit der Broschüre Het isolement van „het christelijk volksdeel“ (Die Isolierung des „christlichen Volksteils“)55 ein weiterer Beitrag, der sich mit dem Verhältnis christlicher Parteipolitik zu Karl Barth befasste. Es stammte aus der Feder des als inkonsequenter Barthianer bekannten CHUPolitikers Gerard Ewout van Walsum (1900–1980). Van Walsum betont den Unterschied zwischen der im Apostolischen Glaubensbekenntnis bekannten Gemeinschaft der Heiligen, die eine Sache Gottes und menschlich unverfügbar sei, und der vor allem im „neocalvinistischen Lager“56 bewusst angestrebten Isolierung eines christlichen Volksteils, die Menschenwerk und insofern ein Ausdruck menschlichen Unglaubens sei, als man „IHM die Arbeit aus den Händen nehmen“57 wolle und auch die christliche Verantwortlichkeit gegen-
49 50 51 52 53 54 55 56 57
gen, 9f; zur Möglichkeit einer christlichen Politik äußert sich Barth in dem Vorwort allerdings nicht. Rozemond, Christelijk-historisch, 76. AaO., 77. AaO., 79. AaO., 82. Rozemond bezieht sich auf Barths Relativierung der Position des Revolutionärs, aber auch der des Legitimisten, vgl. Barth, Römerbrief (1922), 506ff; zum „Spielcharakter“ der Politik vgl. auch aaO., 514. Rozemond, Christelijk-historisch, 86. G.E. van Walsum, Het isolement van het „christelijk volksdeel“, Tijdseinen 5, ’s Gravenhage, 1938. AaO., 6. AaO., 8.
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über dem „Volksganzen“58 in Gefahr zu bringen drohe. Der Beitrag ist auch darum erwähnenswert, weil hier erstmals die in der Literatur inzwischen gängige Unterscheidung zwischen konsequenten und inkonsequenten Barthianern in Bezug auf die Möglichkeit einer christlichen Parteipolitik erörtert wurde: Als konsequenter Barthianer sei etwa Jan Eijkman zu bezeichnen. Er wende sich, geleitet vom Gedanken eines theologischen Aktualismus, konsequent gegen christliche Parteipolitik, Programme und Richtlinien. Als inkonsequente Barthianer seien hingegen der CHU nahestehende oder mit ihr verbundene Barthianer wie Paul Scholten, Samuel Rozemond und schließlich Van Walsum selbst anzusehen. Sie lehnten die Möglichkeit christlicher Politik und Programme aufgrund eines theologischen Kontinuitätsdenkens nicht vollständig ab. Van Walsum spricht sich zwar gegen die Idee der Antithese aus, lehnt aber eine alternative und weniger prinzipielle Form christlicher Politik aus pragmatischen und historisch gewachsenen Gründen nicht vollständig ab. So seien christliche Schulen anders als öffentliche Schulen mit Möglichkeit zum christlichen Religionsunterricht sehr wohl abzulehnen. Christliche Arbeitnehmervereinigungen seien wegen der faktisch sozialistischen Ausrichtung anderer Arbeitnehmerverbände wiederum durchaus notwendig, die historisch gewachsene Unterscheidung zwischen einem allgemeinen und einem christlichen Radiosender hingegen zu bedauern. Fazit: Die Isolierung eines christlichen Volksteils sei zwar prinzipiell und unter Berufung auf das Evangelium abzulehnen, doch könne eine bestimmte christliche Organisation manchmal dennoch wünschenswert sein. Barths theologische Einsichten entsprächen jedenfalls insofern dem Parteiprogramms der CHU, als beide sich gegen eine religiöse Unterteilung des Volkes in einen christlichen und einen nicht-christlichen Teil wendeten. Zu erinnern sei etwa an die folgende Formulierung Barths in De apostolische geloofsbelijdenis (Das apostolische Glaubensbekenntnis)59, der von Kornelis H. Miskotte kommentierten und publizierten Übersetzung von Barths im Jahr 1935 an der Universität von Utrecht gehaltenen Vorträgen: Die derart geordnete Kirche wird mit innerlicher Notwendigkeit Sendungs-Kirche sein, d.h. sie wird ihre Existenz nicht für die ,Christen‘ führen, so dass sie sozusagen um ihrer selbst willen leben würde, sondern sie wird, während und indem sie für die ,Christen‘ existiert zugleich für die ,Heiden‘ ihr Leben haben und ihren Auftrag erfüllen.60
Ganz offensichtlich überträgt Van Walsum eine ursprünglich ekklesiologischmissiologische Aussage Barths auf die Funktion christlicher politischer Parteien in der stark polarisierten niederländischen Landschaft. So unterstreicht 58 Ebd. 59 Barth, De apostolische. 60 AaO., 174f.
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298 Durchbrechung der Polarisierung in der niederländischen Nachkriegszeit er mit deren Hilfe die Ablehnung der Politik der Antithese und den volkskirchlichen Gedanken, dass sich die Kirche an das ganze Volk zu richten habe. Ein letztes Beispiel für die von (inkonsequenten) Barthianern geführten Diskussionen über die Möglichkeiten christlicher Politik innerhalb der CHU stellt der CHU-Politiker, Theologe und spätere Professor für Dogmatik und Kirchengeschichte an der Universität von Amsterdam Gerrit Cornelis van Niftrik (s.o.) dar. In einer 1940 publizierten CHU-Broschüre De boodschap van Karl Barth (Die Botschaft Karl Barths)61 fragt er sich anlässlich der vor allem in der antirevolutionären Presse geführten Auseinandersetzung über die Gefährdung des Politischen durch die Theologie Barths einerseits und angesichts der Publikation von De openbaring der verborgenheid andererseits, ob „Barth uns für unsere christlich-historische Politik etwas Wichtiges zu sagen“62 habe? Die theologische Botschaft Barths, so Van Niftriks treffende Charakterisierung der niederländischen Diskussionslage der 30er Jahre, sei in drei Sätzen zusammenzufassen, deren Bedeutsamkeit vor allem in ihrer Anwendung liege: Dass erstens Gott der Herr sei, bedeute, dass man über Gott nicht verfügen könne, und impliziere eine Ablehnung der gerade bei Neocalvinisten beliebten Ansicht, die Bibel als ein Gesetz- und Regelbuch zu betrachten. Dass zweitens Jesus Christus der Herr sei, bedeute, dass es keinen Weg vom Menschen zu Gott gebe, und impliziere die Zurückweisung der neocalvinistischen Unterscheidung von besonderer und allgemeiner Gnade. Dass drittens der Heilige Geist der Herr sei, bedeute, dass der Glaube kein Menschenwerk sei, und impliziere eine Abwendung von der neocalvinistischen Lehre von der Wiedergeburt. Nachdem Barths Theologie in den Niederlanden eine „Verschiebung auch von [theologischen; SH] Richtungsgrenzen [zwischen Liberalen und Orthodoxen; SH]“63 zustande gebracht habe, wolle er sich selber nun für eine politische Kursänderung in der CHU einsetzen. Zwar habe Barth bis 1938 aufgrund seiner politischen Enthaltsamkeit auf den ersten Blick vor allem eine negative politische Wirkung gehabt, seit 1938 habe er die Kirche jedoch zu einem Engagement gegen den Nationalsozialismus und für die Demokratie aufgerufen64 und sei damit politisch nicht länger passiv geblieben. Auf den zweiten Blick verhalte es sich mit Barths politischem Einfluss jedenfalls hinsichtlich der niederländischen Situation jedoch nuancierter als die obige allgemein übliche Einteilung nahelege. Man könne seine Haltung pointiert dahingehend zusammenfassen, dass Barths politischer Einfluss vor 1938 negativ-positiv65 und nach 1938 positiv-negativ gewesen sei. 61 62 63 64
G.C. van Niftrik, De boodschap van Karl Barth, Tijdseinen 28, ’s Gravenhage 1940. AaO., 5. AaO., 12. Van Niftrik dürfte sich beziehen auf: K. Barth, Die Kirche und die politische Frage von heute (1938), in: Ders., Eine Schweizer Stimme, 69–107. 65 Van Niftrik verweist auf das Erscheinen von Christen und burger als Relativierung der vor allem in der antirevolutionären Presse und Theologie gefühlten Angst der Gefährdung des Politischen durch Karl Barths Theologie.
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In Bezug auf Barths negativ-positiven Einfluss vor 1938 seien vier Aspekte seiner Theologie hervorzuheben: Die Betonung des qualitativen Unterschieds von Zeit und Ewigkeit in der zweiten Auflage des Römerbriefs impliziere erstens zwar die Unmöglichkeit einer Identifikation der Sache Gottes mit menschlichen Aktivitäten, die von den radikalen niederländischen Barthianern66 daraus abgeleiteten nihilistischen Konsequenzen seien jedoch keinesfalls im Sinne Barths. Gott könne, so Van Niftriks Hoffnung, „in Seiner großen Gnade wahrscheinlich auch unser politisches Streben in unserer niederländischen Situation […] als eine Tat des Gehorsams [annehmen]“67. Weiter sorge das eschatologische Motiv in Barths Theologie dafür, dass der Bedeutung des Christlichen bewusst jedes falsche Pathos genommen werde. Ein dritter, besonders in antirevolutionären Kreisen stark abgelehnter Aspekt sei Barths Aktualismus. Dieser impliziere zwar eine Kritik allgemeiner und allgemeingültiger biblischer Wahrheiten und stehe wegen des damit verbundenen persönlichen Entscheidungscharakters auch konträr zu jeder Idee eines Parteiprogramms. Die notwendige „heilsame Aushöhlung der Selbstsicherheit“68 dürfe aber nicht mit dem „Abbruchzeugnis einiger extremer Barthianer“69 verwechselt werden. Vielmehr habe auch Barths Offenbarungslehre keine ausschließlich negative Bedeutung. Sein Bestehen auf Jesus Christus als der einzigen Quelle der Offenbarung habe in den Niederlanden eine Diskussion über den zweiten Artikel des Niederländischen Glaubensbekenntnisses70 ausgelöst und sei Grund für die Kritik der niederländischen Barthianer an der Gleichrangigkeit von Bibel und Geschichte im ersten Artikel des Parteiprogramms der CHU71 gewesen. Von Barths Betonung der einen Quelle der 66 Van Niftrik weist auf Johan Eijkman und dessen recht bekannt gewordene Überzeugung hin, dass Gott sein Königreich auch beispielsweise mithilfe der nicht-christlichen, neutralen Sportvereinigung Ajax bauen könne, als Beispiel für einen (zu) radikalen Barthianer. S.E. könne Gott sein Königreich „genauso gut mit Hilfe der Christelijke-Historische Unie“ bauen; vgl. Van Niftrik, De boodschap, 22. 67 AaO., 18. 68 AaO., 21. 69 Ebd. 70 Van Niftrik weist hin auf J. Koopman, De Nederlandsche geloofsbelijdenis, […] 1939, 29–37. Der zweite Artikel dieses Bekenntnisses (Von der Erkenntnis Gottes) lautet: „Wir erkennen aber Gott auf zwei Weisen: Zuerst durch die Schöpfung, Erhaltung und Regierung dieser ganzen Welt. Denn diese ist für unsere Augen wie ein schönes Buch, in welchem alle Geschöpfe, kleine und große, gleich wie hingeschriebene Buchstaben sind, aus denen das unsichtbare Wesen Gottes ersehen und erkannt werden kann, nämlich seine ewige Macht und Göttlichkeit, wie der Apostel Paulus sagt Röm. 1, 20. Dies alles reicht hin, um die Menschen zu überführen und zu machen, dass sie keine Entschuldigung haben. Zweitens gibt er sich uns weit klarer und deutlicher in seinem heiligen und göttlichen Worte zu erkennen und offenbart sich, soviel nämlich uns in diesem Leben zu seiner Ehre und zum Heil der Seinigen notwendig ist.“ (Übers. SH) 71 Vgl. die Ausführungen in Christen en burger. Der Text des Artikels lautet: „Um auf staatlichem Gebiet die Frage zu beantworten, was die Ordnung Gottes ist, achte man nicht nur auf die wesentlichen Aussagen der Heiligen Schrift, sondern auch auf das Urteil der christlichen Kirche und auf die Führung Gottes, wie sie in der Geschichte der Völker wahrgenommen wird.“; vgl. Van Niftrik, De boodschap, 23.
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300 Durchbrechung der Polarisierung in der niederländischen Nachkriegszeit Gotteserkenntnis sei positiv zu lernen, dass man das Historische dem Christlichen deutlicher unterzuordnen habe und die niederländische Kirchengeschichte nicht länger als eine Erkenntnisquelle für die Offenbarung Gottes ansehen könne. Das sei jedoch nicht als eine Absage an christliche Politik überhaupt zu verstehen, denn in der praktischen Politik gehe es nicht um die Exklusivität der Schrift als Erkenntnisquelle für die Offenbarung, sondern um deren Priorität. Spätestens seit 1938 sei aber auch von einem positiv-negativen Einfluss der Theologie Barths hinsichtlich der Frage nach der Möglichkeit einer christlichen Politik zu reden. Dies gelte insbesondere für die CHU. Der positiv-negative Einfluss bestehe allgemein gesagt in dem Aufruf zu geistiger Bescheidenheit und in einer Dämpfung des christlich-politischen Pathos. Konkreter gesagt sei entgegen den Einschätzungen radikaler niederländischer Barthianer und antirevolutionärer Barthopponenten anzumerken, dass Barths aktuelles Bekenntnis zur Demokratie72 und andere aktuelle politisch relevante Stellungnahmen – vor allem gegen den Nationalsozialismus und den Antisemitismus73 – durchaus auf der Linie seiner früheren Gedanken lägen: So habe er bereits im Römerbrief (zweite Auflage) die ethische Handlung eine Demonstration zur Ehre Gottes genannt. Von besonderer Wichtigkeit sei zudem Barths Aussage, dass ein direkter Weg vom Glauben zur Politik führe und seine in Hinsicht auf Artikel 24 der confessio scotica entwickelte Rede von einem politischen Gottesdienst74 : Diese Aufassung gleiche Artikel 36 der confessio belgica (Niederländisches Glaubensbekenntnis)75. Die Frage sei 72 Van Niftrik bezieht sich auf K. Barth, Rechtfertigung und Recht (1938), in: Ders., Eine Schweizer Stimme, 13–57. 73 Van Niftrik bezieht sich u.a. auf Barths Brief an Hromdka, vgl. K. Barth, Brief an Prof. Hromadka in Prag (1938), in: Ders., aaO., 58f; Außerdem bezieht Van Nifrik sich auf K. Barth, Die Kirche und die politische Frage von heute (1939), in: Ders., aaO., 69–107. 74 Van Niftrik verweist darauf, dass Barth diesen Begriff in seinem Buch über das Schottische Bekenntnis einführte; vgl. K. Barth, Gotteserkenntnis und Gottesdienst nach reformatorischer Lehre. 20 Vorlesungen über das Schottische Bekenntnis von 1560, Zollikon 1938, Vgl. insbes. die 19. Vorlesung (Der politische Gottesdienst), aaO., 203–215. 75 Der Artikel lautet: „Wir glauben, dass der liebe Gott wegen der Verderbnis des Menschengeschlechts Könige, Fürsten und Obrigkeiten eingesetzt hat und dass er will, dass diese Welt durch Gesetze und eine bestimmte Verwaltung regiert werde, um die Fehler der Menschen zu beschränken und damit alles unter den Menschen in rechter Ordnung geführt werde. Deshalb hat er die Obrigkeiten selbst mit dem Schwert bewaffnet, damit sie die Bösen strafen, die Guten aber schützen. Ihres Amtes ist es ferner, nicht nur für die bürgerliche Verfassung besorgt zu sein, sondern auch, sich zu bemühen, dass der Gottesdienst erhalten werde und zu bewirken, dass jeder Gott auf reine Weise nach Vorschrift seines Wortes frei verehren und anbeten könne. Dies sollen sie ohne jede Anmaßung absoluter Autorität und eingedenk der Sphäre ihres Einflusses anhand der ihnen anvertrauten Mitteln tun. Übrigens müssen sich alle Menschen, welchen Ranges, Verhältnisses oder Standes sie auch seien, den gesetzmäßigen Obrigkeiten unterwerfen, ihnen Zoll und Abgaben bezahlen und ihnen in allem folgen und gehorchen, was dem Wort Gottes nicht widerstreitet, auch für sie beten, dass Gott sie in allen ihren Handlungen zu lenken würdige, wir aber unter ihnen ein stilles und ruhiges Leben führen können in aller Frömmigkeit und allem Anstand. Deshalb verabscheuen wir die Wiedertäufer und alle Aufrührer, die Re-
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Doorbraak in den politischen Parteien und Bewegungen vor 1945
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deshalb nicht länger, ob es überhaupt eine christliche Politik geben könne, sondern wie man sich als Mensch, der christliche Politik betreibe, „in aller Aufrichtigkeit bemühen [könne], Gott zu dienen und Christus zu gehorchen“76, wie man also politischen Gottesdienst betreiben könne. Kritisch sei zudem zu sagen, dass in den Bekenntnissen als „Sinn der politischen Ordnung nur Recht, Friede und Freiheit“77 herausgestellt werde, obwohl es in der zweiten Gesetzestafel auch um die Ehre Gottes gehe. Anders als Barth gehe es ihm auch um ein „reales Ehren“78. Für „einseitig spiritualistisch“79 halte er Barths Auffassung, dass geistliche Irrtümer nicht politisch, sondern geistlich überwunden werde müssten. Und Barths „allzu humanistische Auffassung des religiösen Sinns der politischen Ordnung [habe] eine einseitige Verherrlichung der Demokratie [zur Folge]“80, ja die Verherrlichung der Demokratie sei „ein Stückchen ,Natur‘ in der ,Gnadentheologie‘ von Barth“81. Barth betreibe also wie alle anderen Theologen auch „ein Stückchen natürliche Theologie“. Mit Haitjema sei zu sagen, dass das Heil weder in der Demokratie noch im Totalitarismus, sondern in der Theokratie liege. Trotz teilweiser Kritik an Barth überwiege bei ihm, Van Niftrik, jedoch die Freude darüber, dass Barth nun „all seinen Schülern deutlich gemacht [habe], dass der christliche Glaube auch politische Folgen mit sich [bringe]“82. Gott in einer konkreten Situation gehorsam zu sein, könne unter anderem auch einmal bedeuten – so Van Niftriks Schlussfolgerung –, dass man „mit… der S.D.A.P. (Sozialdemokratische Arbeiterpartei; SH) […] zusammen arbeiten [müsse]“83. Die CDU Neben der von Abraham Kuyper gegründeten neocalvinistischen Antirevolutionaire Partij (ARP) und der vornehmlich aus Mitgliedern der Nederlandse Hervormde Kerk bestehenden Christelijk-Historische Unie, gab es bis zur (Neu-)Gründung der PvdA 1946 noch eine weitere, kleine christlich-progressive Partei, die vornehmlich aus gereformierten Mitgliedern bestehende Christen-Democratische Unie (Christlich-Demokratische Union; CDU). Auch in ihr waren wie in der CHU viele Barthianer vertreten: sehr bekannt ist Johan J. Buskes, der vor seinem Übertritt in die sozialdemokratische Partei mit der CDU verbunden war.
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gierungen und Obrigkeiten verwerfen, Recht und Gericht verkehren, alle Güter gemeinschaftlich machen und Stand und Rang, die Gott um der Ehre willen unter den Menschen eingesetzt hat, abschaffen und vermengen.“ Van Niftrik, De boodschap, 30. AaO., 34. AaO., 35. Ebd. AaO., 36. Ebd. AaO., 37. Ebd.
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302 Durchbrechung der Polarisierung in der niederländischen Nachkriegszeit Die niederländische Volksbewegung Sodann ist im Zusammenhang mit dem politischen Doorbraak die Nederlandse Volksbeweging (Niederländische Volksbewegung; NVB) zu nennen, die von dem freisinnig-reformierten Pfarrer und religiösen Sozialisten Willem Banning angeführt wurde. Die NVB84 war eine politische Erneuerungsbewegung, die versuchte, die durch die ökonomisch brisante Situation der 30er Jahre und das Aufkommen des Nationalsozialismus verursachte Krise des versäulten niederländischen Gesellschaftssystems zu durchbrechen. Bereits während des Krieges formierte die Bewegung sich in einem von den deutschen Besatzern eingerichteten Lager für führende politische und gesellschaftliche niederländische Kräfte in Sint Michielsgestel: für die aus den unterschiedlichen Säulen stammenden Gefangenen bot sich eine Möglichkeit, „mit Andersdenkenden aus dem anderen Vaterland“85 zusammenzukommen und sich über die Vorstellungen über die Zukunft der Niederlande nach dem Krieg auszutauschen. Es entstand die so genannte Gruppe der Heeren Zeventien (Siebzehn Herren). Diskutiert wurde unter anderem über die Zukunft des Sozialismus im Sinne eines demokratischen und personalistischen Sozialismus und über den Wert des Christentums in der niederländischen Gesellschaft. Nach dem Zweiten Weltkrieg publizierten die Führer der Bewegung einen Aufruf86 zur geistlichen Erneuerung der Niederlande, die vom Christentum und vom Humanismus zugleich inspiriert sein sollte und sich sowohl gegen das christliche Konzept der Antithese als auch gegen die sozialistische Klassenkampftheorie wandte. Dieser Aufruf wurde außer von Parteimitgliedern diverser Parteien auch von sehr vielen reformierten Pfarrern unterzeichnet: Von den 33 Erst-Unterzeichnern waren sechs Pfarrer der Nederlandse Hervormde Kerk, unter ihnen neben Willem Banning und Hendrik Kraemer auch der als Barthianer bekannte Johan J. Buskes. Obgleich die Nederlandse Volksbeweging nur kurze Zeit, nämlich von 1945 bis zum Beginn der 50er Jahre, bestand, kann man doch die Gründung der niederländischen Sozialdemokratischen Partei (PvdA)87 am 9.2.1946 und damit das Entstehen einer die Versäulung durchbrechenden Partei als eines ihrer Ergebnisse betrachten. Die Parlamentswahl vom 17.5.1946 machte allerdings deutlich, dass der angestrebte Doorbraak durch die auch parteipolitisch versäulten Niederlande gescheitert war. Im Gefangenenlager in Sint Michielsgestel begegneten sich die verschie84 Die folgenden Informationen über die Niederländische Volksbewegung entnehme ich hauptsächlich der sehr ausführlichen Studie von J. Bak, Opkomst en ondergang van de Nederlandse Volksbeweging (NVB), Cahiers Nederlandse politiek, Deventer 1978. 85 AaO., 16. 86 Vgl. Program en toelichting van de Nederlandse Volksbeweging, Amsterdam 1945. 87 Es handelt sich um eine Fusion der alten S.D.A.P. (Sozialdemokratischen Arbeiterpartei) mit mehreren kleineren Gruppierungen. Die S.D.A.P. selber war seit den 30er Jahren des 20 Jahrhunderts bestrebt, ihre Basis zu verbreitern und im Sinne eines demokratischen Sozialismus zu reformieren.
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Kirchliche Entwicklungen und kirchliche Doorbraak-Dokumente
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denen Richtungen angehörenden reformierten Theologen Hendrik Kraemer, Willem Banning und Koeno Hendricus Eskelhoff Gravemeyer. Hier lag also der Ausgangspunkt ihrer späteren Zusammenarbeit, die zur Kirchenerneuerung der Nederlandse Hervormde Kerk und zum Entwurf einer neuen Kirchenordung führte. Da die politische Dimension der Kirchenerneuerung in der Nederlandse Hervormde Kerk wesentlich weiter ging als der politische Erneuerungsgeist in der CHU – also der christlichen Partei, die von den meisten Reformierten gewählt wurde –, kann festgehalten werden, dass der Einfluss (des freisinnigen und mittelorthodoxen Teils) der Nederlandse Hervormde Kerk für das Entstehen der NVB „von großem Einfluss“88 gewesen ist. Insgesamt kann gesagt werden, dass die Wurzeln für den politischen Doorbraak außer im kulturellen Doorbraak und der christlichen Jugend-, Studenten- und Bildungsarbeit vor allem in den kleineren, fortschrittlicheren christlichen politischen Parteien – und natürlich in der PvdA (der Sozialdemokratischen Partei)89 selber gesucht werden müssen, die sich nach dem Krieg einfach geweigert hatte, sich erneut entlang der Grenzen der so genannten Antithesepolitik zu formieren. Sie interessierte sich dementsprechend auch für ehemals „christliche“ Wähler und damit für eine Verbreiterung ihres ursprünglichen Wählerspektrums. Explizit festgehalten werden soll an dieser Stelle auch, dass der Einfluss der Theologie Karl Barths in den Niederlanden sich nicht nur auf theologische fach- oder auch kirchlich-theologische Debatten beschränkte, sondern außer auf kulturellem Gebiet auch und nicht zuletzt auf (partei)politischem Gebiet eine nicht geringe Relevanz gehabt hat und auf diese Weise auch die politische Landschaft der Niederlande nach dem Zweiten Weltkrieg mit prägte.
8.3 Kirchliche Entwicklungen und kirchliche Doorbraak-Dokumente Zu den Wurzeln oder genauer gesagt zum Stamm des politischen Doorbraak sind nun aber vor allem die Entwicklungen auf kirchlichem Gebiet zu zählen, die zusammen mit der neuen Kirchenverfassung90 auch als kirchlicher Doorbraak beschrieben werden können. Dabei ist insbesondere auf zwei Aufrufe der Synode der Nederlandse Hervormde Kerk und auf das Motivationsschreiben von sieben Amsterdamer Pfarrern hinzuweisen, in dem diese ihren Übertritt zur sozialdemokratischen Partei erläutert und begründet hatten. 88 Vgl. die Einschätzung von Bak, De Nederlandse, 120. 89 Vgl. hierzu auch die Studie von H.M. Ruitenbeek, Het ontstaan van de Partij van de Arbeid, Amsterdam 1960 [Diss. Leiden]. 90 Vgl. Kap. 7 dieser Studie.
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304 Durchbrechung der Polarisierung in der niederländischen Nachkriegszeit Pfingstbotschaft In der vornehmlich von Willem Banning entworfenen Pinksterboodschap (Pfingstbotschaft)91 von 1945 forderte die Synode der Nederlandse Hervormde Kerk das niederländische Volk dazu auf, in der neuen Situation nach dem Krieg nicht in die alten Verhältnisse der Zwischenkriegszeit, also nicht in den scharfen Klassenkampf oder die krassen Klassenunterschiede zurückzufallen, sondern sein soziales Leben auf der Basis der christlichen Gerechtigkeit und gegenseitigen Verantwortung aufzubauen: Die christliche Kirche, die ihren Teil der Verantwortlichkeit trägt, wird dabei immer auf Jesus Christus, den wahrhaften Befreier der Welt, und auf seine rettende Botschaft hinweisen. Aus diesem Grund sagt sie nun zum gesamten niederländischen Volk: Errichte dein soziales Leben auf der Grundlage der christlichen Gerechtigkeit und der gegenseitigen Verantwortung. […] Im Namen dieser Gerechtigkeit bittet sie [die Kirche, SH] das ganze Volk, insbesondere die Arbeitgeber, Kapitalbesitzer und Arbeiter, dass sie nicht zu den himmelschreienden Klassengegensätzen und dem scharfen Klassenkampf der Vergangenheit zurückkehren, sondern alle Kräfte für eine Rechtsordnung der Arbeit einsetzen, in der der Arbeiter als verantwortlicher Mitarbeiter anerkannt wird und in der sein Existenzrecht gesichert ist. […] Die Kirche, die im Auftrag ihres Herren dient, dienend mitten im Volk steht, fühlt die Not der heutigen Gesellschaft schmerzhaft und tief und legt sie dem Gewissen eines jeden Niederländers vor. In dieser Not bezeugt sie die prophetische, apostolische Liebe und Verantwortung, die Jesus Christus in der Welt entzündet hat und entzündet. Sein Geist führe unser Volk weiterhin auf dem Weg zu einer wahrhaften Erneuerung in Gerechtigkeit und Frieden!92
Zwar wird der Name Karl Barth hier an keiner Stelle genannt, doch wird weiter unten noch deutlich werden, dass gerade das Stichwort Gerechtigkeit in den maßgeblichen Doorbraak-Dokumenten wiederholt zur Sprache gebracht und auch mit der Theologie verschiedener kleinerer Schriften Barths in Verbindung gebracht wurde. Was inspiriert sie? Die von sieben mehr oder weniger orthodoxen Amsterdamer Pfarrern verfasste und ebenfalls 1945 veröffentlichte und verbreitete Broschüre Wat bezielt ze? (Was treibt sie an?)93, mit der diese ihren Übertritt zur sozialdemokratischen Partei, der S.D.A.P., bekannt gaben, 94 ist wohl als das berühmteste 91 Vgl. Pinksterboodschap 1945, in: Generale Synode der Nederlandse Hervormde Kerk (Hg.), Documenten, 6–7. 92 AaO., 7. 93 Vgl. J.J. Buskes u.a., Wat bezielt ze?, Amsterdam 1945. 94 Es wäre falsch zu denken, es habe nicht schon vor diesem Übertritt Pfarrer gegeben, die in der Sozialdemokratie aktiv waren. Neu war allerdings, dass es sich in diesem Fall nicht – wie zumeist bisher – um freisinnige, sondern um mehr oder auch weniger (!) orthodoxe Pfarrer handelte, und auch, dass es sich um einen öffentlichen und programmatischen Übertritt handelte.
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Kirchliche Entwicklungen und kirchliche Doorbraak-Dokumente
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kirchliche Doorbraak-Dokument überhaupt anzusehen. Neben den inzwischen recht bekannten Barthianern Johan J. Buskes, Kornelis H. Miskotte, Dirk Tromp und Kleijs Kroon gehörten M. Groeneberg, A.C. van Uchelen und H.A Visser zu den Unterzeichnern. Nun wird man bezweifeln können, dass Miskotte als ein orthodoxer Pfarrer zu bezeichnen ist – er entstammte ja eher der ethischen Mitte der Nederlandse Hervormde Kerk. Doch sollte mit der auch in Buskes’ Erinnerungen anzutreffenden Betonung der Orthodoxie der Pfarrer wohl die Bedeutung ihres Schritts unterstrichen werden: Ein positives Verhältnis von nicht-liberalen Pfarrern und Theologen zur Sozialdemokratie war ja für damalige Verhältnisse etwas Unerhörtes. Nach Buskes’ Erinnerungen95 wurde die Konzeptfassung des Dokuments von ihm selber verfasst und von Miskotte ergänzt und bearbeitet. Buskes hebt in seinen Erinnerungen auch hervor, dass er und andere ihren Entschluss als direkte Reaktion auf die Pfingstbotschaft der 1945er Synode der Nederlandse Hervormde Kerk auffassten und als eine „konkrete Anwendung“96 dieser Botschaft betrachteten: Wir meinten unsererseits anders als andere, dass wir diesem Aufruf nicht wirklich nachkommen würden, wenn wir auch nur in eine einzige der alten christlichen politischen Parteien eintreten würden. Als kurz nach der Befreiung in Amsterdam eine große Zusammenkunft des christlichen Teils des Volkes angekündigt wurde – wo seitens der A.R.P. und der C.H.U. Versammeln angesagt würde – fanden Miskotte und ich, dass wir nicht länger warten konnten und wollten. Zusammen mit Pfr. M. Groeneberg, Pfr. K.H. Kroon, Pfr. D. Tromp, Pfr. A. van Uchelen und Pfr. H.A. Visser – sieben orthodoxen Pfarrern aus Amsterdam – beschlossen wir, der S.D.A.P. beizutreten und in einer Erklärung öffentlich Rechenschaft über unseren Zutritt abzulegen.97
Einige Monate später schlussfolgert Buskes zurückblickend98 auf seinen Schritt, dass dieser zwar zu spät, aber keinesfalls zu früh gewesen sei. Zu spät sei dieser Schritt leider insofern gewesen, als er diejenigen (zumeist freisinnigen; SH) Pfarrer, die sich 20 Jahre vor ihm zum Sozialismus bekannt hätten, „in ihrem schwierigen Kampf allein stehen lassen“99 habe. Zu früh sei dieser Schritt aber ganz sicher nicht gewesen. Zwar sei es richtig, dass die alte S.D.A.P. einen starken Parteikonservativismus kenne, diesen habe er aber mit aktiver Teilnahme an den Erneuerungsprozessen gerade nicht unterstützen wollen. Mit dem Schritt der sieben Amsterdamer Pfarrer seien „im Bewusstsein vieler bestimmte Gegensätze durchbrochen worden“100. Fest stehe nun jedenfalls, dass man „in orthodox reformierten Kreisen nun nicht mehr wie vorher sagen 95 96 97 98 99 100
Vgl. Buskes, Hoera, 224. Ebd. AaO., 223. J.J. Buskes, Te laat of te vroeg? Naar aanleiding van „Wat bezielt ze?“, S&D 3, 1946, Nr. 1, 27–29. AaO., 27. AaO., 28.
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306 Durchbrechung der Polarisierung in der niederländischen Nachkriegszeit [könne], dass ein Christ kein Sozialist und kein S.D.A.P.-Mitglied“101 sein könne. Analysiert man das Dokument Wat bezielt ze? genauer, so wird unter anderem deutlich, dass die Entscheidung der Pfarrer für den Sozialismus nicht prinzipiell gewesen ist, sondern als angemessenes zeitgenössisches und konkretes Beispiel angesehen wurde:102 Das Dokument beginnt mit einer Bilanz der für die Niederlande verheerenden Folgen des Krieges und der Besatzungszeit, weist aber auch nachdrücklich auf die neuen Chancen hin, die die Befreiung mit sich bringe (S. 5–7). Sodann wird an die bisherige Einseitigkeit sowohl von Sozialismus als auch Kirche erinnert: Während der Sozialismus einseitig auf den Klassenkampf ausgerichtet gewesen sei, habe die Kirche den Materialismus verurteilt und sich von der konkreten Not der Arbeiterklasse abgewandt. Eine Abwertung des Materialistischen sei aber ganz und gar unbiblisch, da auch die Materie zu Gottes Schöpfung gehöre (S. 7–11). Der entscheidende nächste Schritt des Dokuments ist dann die Zurückweisung der Ausgangspunkte und Folgen der neocalvinistischen Politik der Antithese (S. 11–19): Erwählung und Verwerfung als göttliche Urteile sind vollzogen, aber nicht greifbar ; Glaube und Unglaube sind ein Gegensatz, aber ohne sichtbare Gestalt […]. Dass man eine Partei der Erwählten, eine Partei von Gläubigen aufrichten kann, ist selbstverständlich ausgeschlossen: dass es ein christliches ,Prinzip‘ gebe, mit dem eine auf allen Gebieten des Lebens durchgängige, vollständige Entfremdung zwischen den Menschen begründet werden könne, weisen wir mit Nachdruck zurück.103
Eine derartige Zurückweisung schließe aber nicht aus, dass es statt prinzipieller durchaus relative und konkrete Gegensätze geben könne, wie das Beispiel des nach den Verfassern zu Recht geführten Schulstreites in den Niederlanden zeige. Zu bestreiten sei aber ein „notwendiger Zusammenhang“ zwischen dem Bekenntnis zu Jesus Christus und einem bestimmten Parteiprogramm. Im politischen und gesellschaftlichen Leben gehe es nämlich nicht so sehr um angeblich christliche „,ewige‘ Prinzipien“104, sondern um „die rechte Tat“105. Darum befürworten die Verfasser eine Trennung von Kirche und (demokratischem Rechts-) Staat: Eine Regierung nach Gottes Willen ist keine Regierung, die ewige Prinzipien bekennt und christliche Worte spricht, sondern die tut, was sie als gottgewollte Regierung tun muss: Die Errichtung und Erhaltung einer Rechtsordnung, die ein menschliches 101 Ebd. 102 Zu bedenken ist, dass dies die einzige größere, nicht-konfessionelle Partei in den Niederlanden war. 103 Buskes, Wat bezielt ze?, 11; zur Zurückweisung der Option einer christlichen Partei vgl. auch These 30 in: Barth, Christengemeinde und Bürgergemeinde, 36–39. 104 Buskes, Wat bezielt ze?, 12. 105 Ebd.
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Kirchliche Entwicklungen und kirchliche Doorbraak-Dokumente
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Leben möglich macht und der Kirche den ihr von Gott zukommenden Raum gibt, eine Regierung, die die rechte Regierung ist, weil sie als Obrigkeit nicht christlich predigt, sondern als Dienerin Gottes gerecht handelt, gerecht, liebevoll, mit reiner Autorität und strenger Weisheit.106
Gerade das Kriterium des Tuns des Gerechten sei vom Antithese-Gedanken getrübt worden. Der durchaus bestehende Zusammenhang von Glaube und Politik könne immer zu sehr unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Einsichten, nie aber zu einer Identifizierung des geistlichen Kampfes der Kirche mit politischer und gesellschaftlicher Gestaltung führen. Das bedeute aber keinesfalls, dass Religion nun als eine Privatsache zu betrachten sei. Bei der Zurückweisung einer christlichen Politik gehe es nicht um ein Plädoyer für neutrale, sondern für „sachliche“ Politik – ein bei den Vertretern des Doorbraak überaus beliebter und vielfach verwendeter Begriff zur Bezeichnung der sowohl auf die sachliche, inhaltlich bestimmte politische Zusammenarbeit als auch auf die Sache des Evangeliums (Gerechtigkeit/Rechtfertigung) verweisende Alternative zu einem entweder christlich-parteipolitischen oder neutral-liberalen Politikverständnis. Theologisch sei die Antithese auch darum zurückzuweisen, weil sie der überparteilichen Ausrichtung der Evangeliumsverkündigung widerspreche und einen Großteil des Volkes vom Evangelium und von der Kirche entfremdet habe. Es gehe nun darum, zusammenzustehen und mit einem konkreten und sachlichen Programm für ein menschenwürdiges Leben für alle zusammenzuarbeiten. Dazu habe die S.D.A.P. aufgrund ihres Parteiprogramms von 1937 mit ihrem Bekenntnis zu einem demokratischen Sozialismus einen konkreten Betrag geleistet. Letztendlich gehe es also nicht um die S.D.A.P. oder um ihr Programm als solches, sondern um eine menschenwürdige Gesellschaft. Schließlich begründen die Verfasser der Broschüre noch einmal, warum sie persönlich das Parteiprogramm der S.D.A.P von 1937 tatsächlich für einen geeigneten Ausgangspunkt zur Zusammenarbeit von Christen und Sozialisten innerhalb der sozialdemokratischen Partei hielten (S. 19–27). Die S.D.A.P habe den Marxismus als Weltanschauung und den Klassenkampf mittlerweile verworfen. Dem sei zwar zuzustimmen, doch bedeute es keine Leugnung der ökonomischen Einsichten von Karl Marx. Diese hätten gerade für Christen bleibende Bedeutung, da sie zu einer auch theologisch korrekten Anerkennung des Materiellen und der Fleischlichkeit des Menschen und zudem zur Anerkennung der Faktizität des Klassenkampfes geführt hätten.107 Als positive 106 Ebd. 107 Vgl. ähnlich auch These 5 des von Hans Joachim Iwand und Karl Barth verfassten Darmstädter Wortes. Ein Wort zum politischen Weg unseres Volkes von 1947. Die These lautet: „Wir sind in die Irre gegangen, als wir übersahen, dass der ökonomische Materialismus der marxistischen Lehre die Kirche an den Auftrag und die Verheißung der Gemeinde für das Leben und Zusammenleben der Menschen im Diesseits hätte gemahnen müssen. Wir haben es unterlassen, die Sache der Armen und Entrechteten gemäß dem Evangelium von Gottes kommendem Reich zur Sache der Christenheit zu machen.“ Der vollständige Text ist abgedruckt als: Flugblätter
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308 Durchbrechung der Polarisierung in der niederländischen Nachkriegszeit Entwicklung innerhalb der S.D.A.P. sei auch deren Einsicht anzusehen, dass eine Partei lediglich eine politische Bewegung und kein Surrogat für eine Kirche sei. Anzustreben sei ein „offenes Verhältnis“108 zwischen Kirche und Sozialdemokratie, wie es etwa in England schon seit längerem bestehe. Insofern liege die Bedeutung des in dem Dokument verteidigten Schrittes, als (orthodoxer) Christ der S.D.A.P. beizutreten, unter anderem darin, dass er eine „konkrete Anwendung“109 des Aufrufs der Pfingstbotschaft der Nederlandse Hervormde Kerk von 1945 zu christlicher Gerechtigkeit und radikaler gesellschaftlicher Veränderung darstelle. Der Schritt sei zugleich ein „Zeugnis“110 und ein „Versuch des Gehorsams“111. Es gehe darum, „Recht auszuüben und Liebe anzuschauen und mit unserem Gott in den sachlichen Verhältnissen des wirklichen Lebens zu wandern!“112 Der Name Karl Barth taucht zwar an keiner Stelle des Dokuments auf. Doch macht Buskes an anderer Stelle113 deutlich, wie sehr er von der Theologie Barths im Allgemeinen und von dessen 1946 publizierter Schrift Christengemeinde und Bürgergemeinde im Besonderen beeinflusst und bestätigt worden sei. Dies gelte in Bezug auf die formale Unterscheidung von Kirche und Staat und die Zurückweisung einer christlichen Parteipolitik oder Programmatik, aber auch in Bezug auf eine angemessene Richtungsangabe für die politische Entscheidung, wie die Gerechtigkeit des Staates aufgrund der eigenen christlichen Sache der Gerechtigkeit zu befördern sei. In demselben Aufsatz erklärt Buskes auch noch einmal, dass er mit dem von ihm gern verwandten Begriff „sachlich“ tatsächlich „gerecht“ meine und dass für ihn so gesehen die zeitgenössische Entscheidung für den Sozialismus tatsächlich materiellchristlich begründet sei, und zwar ausdrücklich nicht im Sinne einer Bindestrich- oder natürlichen Theologie: Das dominierende Element im Sozialismus ist für mich die Gerechtigkeit, aber diese trägt einen mehr sachlichen als persönlichen Charakter. In ihm geht es nicht um ein Verhältnis zwischen Einzelnen, sondern um Gemeinschaft. In dieser Richtung will ich auch das Wort sachlich verstehen, wenn wir sagen, dass es auf dem politischen Gebiet um die Erfüllung von allerlei sachlichen Aufträgen geht, um die sachliche
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der Bekennenden Kirche. Ein Wort des Bruderrats der Evangelischen Kirche in Deutschland zum politischen Weg unseres Volkes vom 8.8.1947 in: H.-J. Joppien (Hg.), Als Kirche Schuld bekennen. Zur Entstehung- und Wirkungsgeschichte des „Darmstädter Wortes“ von 1947, Mühlheim/Ruhr 1987, 1. Die materialistische Interpretation einer Auferstehung des Fleisches findet sich namentlich auch in der vierten These des Entwurfes von Karl Barth; vgl. aaO., Anlage 3. AaO., 25. Ebd. AaO., 27. Ebd. Ebd.; Vermutlich spielt der Satz auf Micha 6, 8 an. Vgl. J.J. Buskes, Het probleem van de christelijke organisatie II, S&D 1, 1957, Bijlage, 197–209, insbes. 206ff.
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Kirchliche Entwicklungen und kirchliche Doorbraak-Dokumente
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Arbeit zugunsten des Menschen und der menschlichen Existenz. Ich sehe nicht ein, dass ich damit natürliche Theologie propagiere.114
Der Hirtenbrief von 1955 Der von der Synode der Nederlandse Hervormde Kerk im Jahr 1955 verabschiedete Hirtenbrief Christen-zijn in de Nederlandse samenleving (ChristSein in der niederländischen Gesellschaft)115 versteht sich als Fortsetzung der Pinksterboodschap von 1945 und als Reaktion auf die Erklärung der römischkatholischen Bischöfe von 1954, De katholiek in het openbare leven van deze tijd (Der Katholik im öffentlichen Leben dieser Zeit). Der Hirtenbrief besteht aus sechs Teilen, in denen sich die Synode sich auf ein zeitgenössisches Verhältnis von Kirche und Kultur, Kirche und Staat, Kirche und Gesellschaft und auf Fragen der Ökumene besinnt. Nach direkten Hinweisen auf die Theologie Karl Barths wird man auch in diesem Dokument vergeblich suchen. Ein Großteil der Mitglieder der vorbereitenden Kommissionen ist allerdings zur Gruppe der konsequenten oder auch der inkonsequenten Barthianer zu rechnen: Neben Kornelis H. Miskotte als Vorsitzendem sind das Gerrit C. van Niftrik und Samuel Rozemond. Andere Mitglieder der Vorbereitungskommission waren Willem Banning, der Pfarrer Frederik H. Landsman, Hendricus Berkhof und bis zum Ende des zweiten Vorbereitungstreffens auch Christine W. Wttewaall van Stoetwegen, ein CHUund Parlamentsmitglied. Als ein typisches Doorbraak-Dokument ist dieses Schreiben insofern anzusehen, als es sich mehrmals eindeutig von der Politik der Antithese und der gesellschaftlichen Struktur der Versäulung abgrenzt. So heißt es anlässlich einer Erörterung über die gebotene Solidarität mit dem zeitgenössischen, sich in existentiellen Nöten befindlichen, oftmals vor den Scherben seiner Mündigkeit stehenden Mitmenschen: Wir wissen, dass wir uns mit dieser Sichtweise der christlichen Berufung von vielen Mitgläubigen unterscheiden, die theoretisch die Distanz zur Welt verkünden und praktisch die Antithese, den Gegensatz zwischen Christen und Nicht-Christen. Auch wir glauben, dass der Kampf zwischen der Herrschaft Christi und den Mächten der Finsternis das eigentliche ist, das dem Weltgeschehen und unserem darin stattfindenden Handeln seinen Sinn verleiht. Aber wir glauben auch, dass die Trennlinie zwischen beiden in unserer Zeit sehr schwer anzugeben ist und dass sie im Allgemeinen nicht mit der [Trennlinie; SH] zwischen den Bestrebungen und Organisationen von Christen und Nicht-Christen zusammenfällt.116
114 AaO., 200. 115 Vgl. den Hirtenbrief der Allgemeinen Synode der Nederlandse Hervormde Kerk von 1955: Christen-zijn in de Nederlandse samenleving. Herderlijk schrijven vanwege de Generale Synode van de Nederlandse Hervormde Kerk, in: Generale Synode der Nederlandse Hervormde Kerk (Hg.), Documenten, 441–468. 116 AaO., 446f.
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310 Durchbrechung der Polarisierung in der niederländischen Nachkriegszeit Zwar bringt man Verständnis für die Motivation reformatorisch denkender Christen auf, die sich im 19. Jahrhundert durch die Gründung konfessioneller Parteien der „aufgeklärte[n] Diktatur des damaligen Liberalismus“117 widersetzt haben, bedauert aber, dass daraus ein „überall und immer gültiges Prinzip“118 gemacht worden sei. Da derartige Bestrebungen derzeit nicht nur bei reformatorischen, sondern auch bei katholischen Christen verstärkt aufträten, sei, so das Dokument warnend, die Gefahr nicht ausgeschlossen, dass unser Volk auf Dauer so gut wie völlig in eine Anzahl geschlossener Gruppen auseinanderfällt, die nur noch in Organisationsspitzen miteinander in Kontakt kommen, aber ansonsten nur noch wenig miteinander zu tun haben, wie es oftmals faktisch schon der Fall ist.119
Dementsprechend wird in dem Dokument die bewusste Zusammenarbeit mit Nicht-Christen, wo sinnvoll und möglich, empfohlen und auch die persönliche Entscheidung für eine so genannte nicht-christliche Partei ausdrücklich anerkannt: Die Wahl für eine bestimmte politische Partei ist Sache des gläubigen Gewissens des Einzelnen, der sich zu fragen hat, wo er nach bestem Wissen und Gewissen am fruchtbarsten an der Verwirklichung von Gottes Gebot in der Erhaltung der menschlichen Existenz mitarbeiten kann.120
Und weiter unten heißt es noch einmal: Die Frage jedoch, ob eine Partei gemäß diesem Wort [Gottes; SH] handelt, kann nicht nur anhand ihrer Programme und Ideale beurteilt werden, auch nicht anhand des Maßes, in welchem sie zu ihrer Rechtfertigung vielleicht auf dieses Wort hinweist, sondern muss auch anhand ihrer konkreten Positionsbestimmungen hinsichtlich der Fragen des politischen Lebens beantwortet werden. […] Das Tun des Willens Gottes ist in dieser Zeit in den Niederlanden nicht mit der Praxis nur einer unserer demokratischen Parteien in eins zu setzen.121
Wird die Politik der Antithese und die gesellschaftliche Struktur der Versäulung auch theoretisch deutlich zurückgewiesen, so spricht sich die Synode dennoch für eine Politik der „Zweiseitigkeit“122 aus: Die Kirche habe sowohl in christlichen als auch öffentlichen (= neutralen) Organisationen (Schulen, Kindergärten, Krankenhäusern usf.) eine Mitverantwortung. Auch wenn man den Namen Karl Barth in diesem Dokument nicht findet, so ist deutlich, dass sich in ihm die wohl wichtigste politische Wirkkraft seiner Theologie deutlich artikuliert, nämlich der Widerstand gegen die neocalvi117 118 119 120 121 122
AaO., 460. AaO., 461. Ebd. AaO., 454. AaO., 457. AaO., 463.
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nistische Politik und Kultur der Antithese und insbesondere die Identifikation des Christ-Seins mit der Wahl einer explizit christlichen Partei.
8.4 Die Doorbraak-„Bibel“ von 1947 Als der Autor des wohl wichtigsten, ja des Doorbraak-Buches schlechthin123 ist allerdings kein Theologe, sondern der Naturwissenschaftler und (reformierte) Christ Cornelis Johannes Dippel (1902–1971)124 zu nennen. Auf beinahe 500 Seiten, die 1947 unter dem Titel Kerk en wereld in de crisis (Kirche und Welt in der Krise)125 publiziert wurden, begründete Dippel entsprechend ausführlich seine Teilnahme am Doorbraak beziehungsweise seinen Eintritt in die sozialdemokratische Partei und seine Entscheidung für einen auf Begegnung und Gemeinschaft gerichteten, antidoktrinären demokratischen Sozialismus. Dippel war der Überzeugung, dass er als Christ nicht nur eine Alternative zum sowjetischen Kommunismus und zum Kapitalismus, sondern auch zur Politik der Antithese entwickeln müsse; er sah die Voraussetzungen dafür in der neu gegründeten sozialdemokratischen Partei gegeben, die sich vom Theorem des Klassenkampfes inzwischen gelöst hatte. Aufbau Dippels Doorbraak-„Bibel“ besteht aus drei Teilen, Vor- und Nachwort und einem Geleitwort von Kornelis H. Miskotte, der außer dem nahezu durchgehend zitierten, verarbeiteten und angewandten Karl Barth der meistzitierte Autor in Dippels Buch ist. Im ersten Teil des Buches beschreibt Dippel zunächst die zeitgenössische Krise. Diese sei nicht nur gesellschaftlicher (technologischer Kapitalismus, Individualismus, Massengesellschaft) und politischer (Krise der Demokratie, konfessionelle Parteipolitik, Versäulung, Frage nach sozialer Gerechtigkeit) Natur, sondern in erster Linie geistlicher Art (definitives Ende des christlichen Zeitalters, Verzerrung der christlichen Botschaft innerhalb der Kirche, Herausforderung des Nihilismus). Im zweiten Teil des Buches unternimmt Dippel dann zunächst den Versuch, eine geistliche beziehungsweise pastorale Antwort auf diese diagnostizierte Krise zu finden. Den Ausgangspunkt seiner Überlegungen bildet hierbei der Auftrag eines Kirchenrates der niederländischen Kleinstadt Enschede, Dippel möge doch auf einen vom Kirchenrat 1945 verfassten Hirtenbrief zur zeitgenössischen 123 Die Wichtigkeit des Buches rechtfertigt m.E. den Ausdruck „Bibel“. 124 Über Dippel vgl. J.M. van Veen, In memoriam dr. C.J. Dippel, Wend 26(1971), 619–625; H.E.S. Woldring/D.Th. Kuiper, Reformatorische maatschappij-kritiek. Ontwikkelingen op het gebied van sociale filosofie en sociologie in de kring van het Nederlandse protestantisme van de 19e eeuw tot heden, Kampen 1980, 232–247. 125 C.J. Dippel, Kerk en wereld in de crisis: Een appÀl tot christelijke solidariteit in een democratisch-socialistische politieke en maatschappelijke omwenteling, ’s Gravenhage 1947.
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312 Durchbrechung der Polarisierung in der niederländischen Nachkriegszeit Situation der Christen einmal theologisch reagieren. Der dritte Teil des Buches kann schließlich als Versuch einer politischen Antwort auf die Krise verstanden werden, der die eigentliche, die politische Begründung für Dippels (aufgrund christlicher Überzeugungen getroffene) Entscheidung für einen demokratischen Sozialismus entwickelt. Dass Dippel sich dafür entscheidet, zwei Antworten, nämlich sowohl eine pastorale als auch eine politische Antwort als Reaktion auf die zuvor erstellte Gesellschaftsanalyse zu geben, ist meines Erachtens charakteristisch für ein typisch barthianisch geprägtes niederländisches christliches Politikverständnis: es soll keine prinzipielle, christlich-weltanschaulich geprägte, sondern eine sachbezogene und nüchterne Entscheidung für eine bestimmte Politik getroffen werden. Das schließt eine ebenso sachliche christliche Motivierung gerade nicht aus. Sachbezogene theologische/religiöse und sachbezogene politische Argumente werden allerdings nicht identifiziert, sondern in einem gemeinsamen Bezug auf die Problemlage hin differenziert. Schon im Geleitwort betont Miskotte, dass das eigentliche Anliegen des Buches die „fröhliche Durchbrechung verrosteter Denkzwänge“126 sei, das heißt des althergebrachten Gegensatzes zwischen christlich-antirevolutionärer „,prinzipielle[r]‘ Parteipolitik“127 auf der einen und der politischen Zusammenarbeit von Menschen verschiedener Überzeugungen in „neutrale[r] Perspektive“128 aufgrund „sachlicher Zielsetzung“129 auf der anderen Seite. Es geht mithin um die De-Konstruktion ehemals als Gegensatz erfahrener Handlungsgrundlagen (prinzipiell christlich vs. weltanschaulich neutral), wobei nach der De-struktion der Identifikation beider Größen das politische Handeln aufgrund des davon differenzierten Glaubens durch eine neuartige Verbindung oder Zusammenstellung eines sachlich bezogenen politischen Handelns und eines ebensolchen sachlichen gläubigen Ausgangspunkts erneut begründet und ermöglicht werden soll (Kon-struktion). Ein derart neuartig differenziertes religiös motiviertes politisches Handeln könne, so Miskotte in der Beurteilung von Dippels Anliegen, durchaus als ein „Gegensatz“130 zu prinzipiellem politischen Handeln aufgefasst werden. Es geht Dippel mithin nicht um die De-struktion politischen Handelns, sondern um die Kon-struktion eines alternativen christlichen politisch handelnden Subjektes. Entsprechend seinem Anliegen, ehemalige Gegensätze wie christlich vs. neutral mittels der Konstruktion neuer Zusammenstellungen zu destruieren, lehne Dippel, so Miskotte, sowohl den christlichen als auch den neutralen Staat ab und begebe sich auf die Suche nach „neuen geistlichen Entscheidungen“131, die der „Dämonie“132 der Zusammenarbeit von Kapital und Arbeit 126 127 128 129 130 131
AaO., V. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. AaO., VI.
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zur Erhaltung des status quo wirklich etwas entgegensetzen könnten. Es gehe in dem Buch, so Dippel wenig später selbst, um eine neue Verhältnisbestimmung von „Glaube und Politik“133, um die Frage nach der Möglichkeit einer in diesem neuen Sinne „christliche[n] Politik“134, „christliche[n] Kultur“135 und nach der Möglichkeit eines in diesem Sinne neuen „christlichen Staat[es]“136. Sei man auf der Suche nach der passenden Haltung von Christen in einer unchristlichen (gemeint ist: säkularisierten) Welt, bilde die „Durchbrechung der Antithese“137 – aber eben nicht in Form einer anderen „geistliche[n] Synthese“138 – den Kern der zu meisternden Aufgabe. Dabei sei das zeitliche Zusammenfallen des „Erwachen[s]“139 der niederländischen reformierten Kirche (das heisst der Suche nach einem neuen Bekenntnis und der Überwindung des Richtungsstreites) mit der praktischen und theoretischen Infragestellung der Politik der Antithese „nicht einfach eine Zufälligkeit“140. Denn die Funktion der Kirche als Ort der Verkündigung des Wortes Gottes sei ja praktisch gesehen längst auf das im Sinne neocalvinistischer Prinzipien organisierte christliche Leben, also auf eine christliche „Partei, Organisation und Vereinigung“141 übertragen worden. Dippels Perspektive besteht demgegenüber ausdrücklich darin, in der Kirche zu bleiben und sich dort an der Verkündigung des Evangeliums zu orientieren. Inzwischen mag deutlich geworden sein: Die doppelte, nämlich einerseits pastorale und andererseits politische Antwort Dippels auf die im ersten Teil des Buches gebotene Situationsanalyse der gesellschaftlichen Krise versinnbildlicht bereits die vom Autor gesuchte neuartige Zusammenstellung ehemals als Gegensatz von „christlich“ und „neutral“ beschriebener Handlungsmotivationen. Alle drei Hauptteile des Buches sollen nun unter dem Aspekt ihrer Barth-Rezeption mit Hilfe der in der Einleitung zu dieser Studie entwickelten rezeptionsästhetischen Fragestellungen analysiert werden. Dabei konzentriere ich mich auf eine Übersicht über die von Dippel selektierten Themen aus der Theologie Karl Barths (Leserinteresse), beziehe mich aber soweit möglich und angemessen auch auf die anderen rezeptionsästhetischen Fragestellungen wie die nach der Lesermotivation, der Rekontextualisierung oder den Herausforderungen. Hervorheben möchte ich, dass Dippel insgesamt eine sehr dichte Barth-Rezeption liefert, die sich insbesondere auf den zweiten und dritten Teil des Buches konzentriert. Anzumerken ist wei132 133 134 135 136 137 138 139 140 141
AaO., VII. AaO., 11. Ebd. Ebd. Ebd. AaO., 143. AaO., 144. AaO., 156. Ebd. Ebd.
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314 Durchbrechung der Polarisierung in der niederländischen Nachkriegszeit terhin, dass Dippel es versäumt, den genauen Ort der vielfältigen Zitate anzugeben, weswegen versucht werden soll, dieses Versäumnis so gut wie möglich auszugleichen.142 Der erste Teil Bereits im ersten Teil des Buches, in dem es um die Analyse der zeitgenössischen Krise geht, wird der Name Karl Barth wiederholt genannt. Erinnert wird an das Sprechverbot, das Barth während seines Niederlandeaufenthaltes 1939 von der christlichen niederländischen Regierung auferlegt wurde. Erinnert wird weiterhin an die Tatsache, dass Barth in den Niederlanden (hinsichtlich des Richtungsstreits) als die „schwerste Bedrohung nach dem Ersten Weltkrieg“143 innerhalb der Nederlandse Hervormde Kerk wahrgenommen wurde. Weitaus ausführlicher wird Barth bereits herangezogen, wenn es um die Analyse der geistigen zeitgenössischen Krise geht: Man habe sich klar zu machen, dass die Zeit der Dominanz des Christentums und der christlichen Kultur in Europa trotz starker gegenläufiger Bewegungen endgültig vorbei sei, dass der „letzte Nachdruck des Denkens und Handelns dieser Menschheit […] offensichtlich anderswoher [komme], um anderswohin zu gehen“144. Da traditionelle Formen der Synthese von Evangelium und Welt zerbröckelt seien, könne das Evangelium nun seine „freie, kritische, revolutionäre und dynamische Macht“145 zurückgewinnen. Damit sei, mit Barth gesprochen, „dem Evangelium seine Freiheit [der Welt] gegenüber zurückgegeben“146 worden. Die Christenheit beziehungsweise die Kirche sei nun – weiterhin mit Barth gesprochen – zu einer „ganz neuen Freiheit ihres Bekenntnisses und ihrer
142 Hierbei half mir freundlicherweise Hans-Anton Drewes vom Karl-Barth-Archiv in Basel, dem ich an dieser Stelle aufs Allerherzlichste dafür danken möchte. 143 AaO., 11. 144 AaO., 18. Dippel bezieht sich hier auf Barths Vortrag Evangelium und Christentum. Einen Vortrag unter diesem Titel hat Barth m.W. aber nicht gehalten. Dippel meint offensichtlich den von Barth am 3.6.1935 in Bern und am 4.6.1935 in Basel gehaltenen Vortrag Das Evangelium in der Gegenwart; vgl. K. Barth, Das Evangelium in der Gegenwart, TEH 25, 1935, 18–36. Barth geht hier auf die weitverbreitete Gleichgültigkeit des zeitgenössischen Menschen gegenüber dem Christentum und der „Säkularisierung und Negation des Christentums“ (aaO., 33) ein, der er das Evangelium in der Gegenwart gegenüberstellt. Die „Verselbstständigung eines Reiches der Profanität“ (ebd.) sei jedoch „nicht zu bejammern […]“ (ebd.). Vielmehr sei das Ende des „christlich-bürgerliche[n] oder bürgerlich-christliche[n] Zeitalter[s]“ „nüchtern“ (ebd.) anzuerkennen. Der von Dippel zitierte und übersetzte Satz dieser Rede („De laatste nadrukkelijkheid van het denken en handelen van de menschheid komt toch kennelijk ergens anders vandaan en is ergens anders op gericht“; vgl. Dippel, Kerk en wereld, 18) ist wörtlich im deutschsprachigen Original von Das Evangelium in der Gegenwart zu finden: „Der letzte Nachdruck des Denkens und Handelns dieser Menschheit kommt offensichtlich anderswoher, um anderswohin zu gehen.“ (aaO., 19). Den Hinweis auf diesen Vortrag verdanke ich ebenfalls Hans-Anton Drewes vom Karl-Barth-Archiv in Basel. 145 Dippel, Kerk en wereld, 20. 146 AaO., 23. Das Zitat findet sich ebenfalls in Barth, Das Evangelium, 34.
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Erkenntnis aufgerufen“147. Mit der These von der Entthronung der christlichen Kultur meint Dippel – hierbei wieder inspiriert von Barth148 – mithin etwas Positives, nämlich die Möglichkeit, durch Rückbesinnung auf den Ursprung – das Evangelium – „neue Formen für die Begegnung zwischen Evangelium und Gesellschaft in der heutigen Zeit“149 zu finden und also einen „[n]eue[n] Anfang!“150 zu wagen. Dies sei in erster Linie nicht eine politische oder moralische, sondern eine kirchliche beziehungsweise missionarische Aufgabe. Der zweite Teil Im zweiten Teil des Buches, der pastoralen Antwort auf die zeitgenössische Krise, entwickelt Dippel vier Ausgangspunkte: den kirchenreformerischen Anspruch des sola fide, die christliche Solidarität mit dem ganzen Volk, die priesterliche Haltung der Christen in einer unchristlichen Welt und die Herausforderung einer sachlichen und konfliktfähigen Lebenshaltung. Anschließend werden einige Gedanken zur theoretischen und praktischen Durchbrechung der so genannten Antithese entwickelt. Insgesamt rezipiert Dippel dabei sehr ausführlich diverse theologische Arbeiten Karl Barths: Der Ausgangspunkt der christlichen Solidarität mit dem ganzen Volk wird mit einer Passage aus Barths Kirchlicher Dogmatik vertieft, wonach diese genauer als helfende Solidarität im Sinne einer „,Antwort des Menschen an Gott‘“151 zu verstehen sei. So wie „Gott für den Menschen da“152 sei, müsse „dieser Mensch auch für seine Mitmenschen […] da sein“153. Dabei sei die christliche Solidarität, so Dippel, als eine Konsequenz des sola fide aufzufassen. Demzufolge sei die auch von Barth kritisierte Trennung von Rechtfertigung und Heiligung154 beziehungsweise der Versuch der Selbstrechtfertigung zu beenden. Barth habe ja in der Kirchlichen Dogmatik155 dargelegt, wie Gesetz und Evangelium auf dem Weg des Glaubens zusammengehörten. Dieser Gedanke sei kritisch auf die Verhältnisse innerhalb der Nederlandse Hervormde 147 Dippel, Kerk en wereld, 23; Das Zitat stammt wiederum aus Barth, Das Evangelium, 34. 148 Bei Dippel (vgl. Dippel, Kerk en wereld, 24f) findet sich eine nicht näher belegte Aussage von Barth, nach der es heute nicht darauf ankomme „ob Millionen diese oder diese Stellung zum Christentum einnehmen […], sondern wichtig – auch für die Lage des Christentums wichtig – wird allein dies sein, ob einige die rechte, die sachlich gebotene Stellung zum Evangelium gewinnen“; vgl. Barth, Das Evangelium, 26. 149 Dippel, Kerk en wereld, 25. 150 Ebd. 151 AaO., 90; Dippel bezieht sich vermutlich auf Barth, KD I/1, 50. 152 Ebd.; Dippel bezieht sich vermutlich auf Barth, KD I/1, 50 (kurs. v. Dippel). 153 Ebd.; Dippel bezieht sich vermutlich auf Barth, KD I/1, 50 (kurs. v. Dippel). 154 Barth behandelt beispielsweise das Verhältnis zwischen der christlichen Religion und dem Namen Jesus Christus in seiner Religionstheorie im § 17 der KD sowohl unter dem Aspekt der Rechtfertigung als auch unter dem Aspekt der Heiligung. Da Dippel diesen Paragraphen mit Sicherheit gelesen hat, könnte er sich hierauf bezogen haben; vgl. Barth, KD I/2, 387–397. 155 Dippel bezieht sich vermutlich auf Barth, KD II/2, 599f; vgl. auch die dazugehörigen Ausführungen im gesamten achten Kap. (Gottes Gebot), insbes. den § 36 (Ethik als Aufgabe der Gotteslehre).
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316 Durchbrechung der Polarisierung in der niederländischen Nachkriegszeit Kerk anzuwenden (Lesermotivation): Gehe es nach Barths Einsicht156 um einen „unmotivierbaren“157 (gemeint ist: unsichtbaren, unbegründbaren; SH) und „wehrlos[en]“158 Weg des Glaubens, habe man in den Niederlanden den Versuch eines risikolosen „Weg[s] des Beweises aus Gottes Wort“159 mit einem „Hang nach Vorschriften und sichtbar motivierbaren Glaubenswegen christlicher politischer Aktion“160 unternommen, die die Trennung des Volkes in einen christlichen und einen nicht-christlichen Teil unterstelle. Gehe es aber nun demgegenüber um christliche Solidarität mit „allen Menschen“161 und nicht nur mit einem Teil der Menschheit, so sei mit Barth162 darauf hinzuweisen, dass die Begründung dieser universalen Solidarität gegenüber einer partikularen zutiefst mit dem Verhältnis von Christen und Staat beziehungsweise Obrigkeit zu tun habe. Der christliche Dienst habe nämlich die drei Komponenten „,Zeugnis ablegen, Nächstenliebe und Fürbitte‘“163. Diese drei Kerne oder Funktionen des christlichen Lebens durchbrächen auf radikale Art die Antithese von christlich und nicht-christlich. Alle drei Funktionen werden von Dippel mithilfe Barthscher theologischer Aussagen begründet: Barth fasse nämlich das (christliche oder auch theologische) Zeugnis als „,menschliches Wort [auf] dem von Gott die Mächtigkeit gegeben [sei], anderen Menschen die Herrschaft, die Gnade und das Gericht Gottes in Erinnerung zu bringen‘“164, und zugleich fasse er „,[d]e[n] Christen als Zeuge[n]‘“165 auf, „,vor der Weisheit und Torheit seines menschlichen Wortes auf der Flucht [sei] zum Zeugnis Gottes‘“166. Somit unterscheide der Zeuge zwischen einer menschlichen und einer göttlichen Weisheit und zeige damit, dass „die Abgeschlossenheit von christlicher und heidnischer Welt durchbrochen […] werden [müsse]“167. Eine Flucht zum Zeugnis Gottes – Barth meint damit die Bibel und 156 Dippel (vgl. Dippel, Kerk en wereld, 98f) bezieht sich vermutlich auf die von Barth in der Kirchlichen Dogmatik vertretene Einheit von Gesetz und Evangelium beziehungsweise Gebot und Verheißung; vgl. etwa Barth, KD II/2, 619f und die Ausführungen davor ; vgl. desweiteren Barth, KD II/1, 518. 157 Dippel, Kerk en wereld, 99. 158 Ebd.; Dippel knüpft mit seiner Wortwahl möglicherweise an Formulierungen Barths an. So könnte das Wort „wehrlos“ eine Übertragung von Barths Satz sein: „Indem er sich für Gott entschieden hat, hat er sich geradezu dagegen entschieden, jemals der Macht als Macht gehorsam zu sein.“ Das Wort „unmotivierbar“ könnte eine Übertragung von Barths Satz sein: „Die Macht als Macht könnte auf keinen Fall der Grund seines Gehorsams sein, weil sie auch nicht der Grund des an ihn gerichteten Anspruchs ist, obwohl und indem dieser der Anspruch Gottes, des Allmächtigen, ist“; beide Sätze vgl. Barth, KD II/2, 614. 159 Dippel, Kerk en wereld, 99. 160 Ebd. 161 AaO., 100. 162 Dippel bezieht sich vermutlich auf Barth, Rechtfertigung und Recht, 37. 163 Dippel, Kerk en wereld, 101. 164 AaO., 101; Dippel zit. hier vermutlich K. Barth, Der Christ als Zeuge, TEH 12, 1934, 5. 165 Dippel, Kerk en wereld, 101; Dippel zit. hier vermutlich Barth, Der Christ, 15. 166 Dippel, Kerk en wereld, 101f; Dippel zit. hier vermutlich weiter Barth, ebd. 167 Dippel, Kerk en wereld, 102.
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die biblischen Zeugen – sei etwas anderes als die Verteidigung des Christentums. Entsprechend verhalte es sich, so Dippel, mit der Nächstenliebe, die man immer als eine die – möglicherweise auch abstoßende – Andersartigkeit des Anderen respektierende Ich-Du-Beziehung aufzufassen habe. Auch bei einer derart aufgefassten Nächstenliebe falle die „Antithese-Mauer“168. Der „Kern aller Anti-Revolutionarität“169 sei aber die Fürbitte, also das christliche Einstehen der Kirche für den Staat, das mit Barth gesprochen „,geschehen [solle], ohne danach zu fragen, ob der vom Staat der Kirche zu leistende Gegendienst geleistet‘“170 werde und der „,offenbar umso nötiger [sei], je negativer jene Frage beantwortet‘“171 werde. Barth habe nämlich bereits vor dem Krieg darauf hingewiesen, dass die Fürbitte172 das intensivste Handeln einer Person sei, und das habe eben auch eine persönliche Mitverantwortung in der Gesellschaft zur Folge. Das manchmal etwas schwierige Verhältnis der niederländischen Orthodoxie zur Demokratie sei darum zurückzuweisen (Lesermotivation). Barths relativer Bevorzugung der Staatsform der Demokratie173 in seiner Schrift Rechtfertigung und Recht sei hingegen zuzustimmen. Die Schrift Rechtfertigung und Recht aus dem Jahr 1938 ist der von Dippel am gründlichsten, im siebten Kapitel seines Buches (Kirche und Obrigkeit) sogar beinahe durchgängig174 rezipierte Text Karl Barths (Leserinteresse). Die „einseitige Fokussierung ,christlich-politischer‘ Richtlinien auf Röm. 13 und der dort ,geforderte‘ Gehorsam gegenüber der Macht“175, so Dippels Lesermotivation, habe zu einer unkritischen Sanktionierung bestehender Verhältnisse geführt. Barth habe zu Recht darauf hingewiesen, dass bei Luther und Calvin eine christologische Motivierung ihrer Ansichten noch ausstehe.176 „,[D]er Staat als solcher‘“177, so ein Barthzitat Dippels, gehöre „,ursprünglich und endlich zu Jesus Christus‘“178 und habe „,in seiner relativ selbstständigen Substanz, Würde, Funktion und Zielsetzung der Person und dem Werk Jesu Christi […] zu dienen‘“179. Dem Staat untertan zu sein bedeute darum, Christus untertan zu sein – das sei „tausend Mal mehr als Schöpfungsord168 AaO., 104. 169 Ebd. Das Wort bezieht sich offenbar gerade nicht auf die Neocalvinisten, die ja auch die Antirevolutionäre Partei gegründet haben. Möglicherweise geht es Dippel um eine Neuinterpretation des Begriffs. 170 AaO., 105; Dippel zit. hier Barth, Rechtfertigung und Recht, 45. 171 Dippel, Kerk en wereld, 105; Dippel zit. hier Barth, Rechtfertigung und Recht, 45. 172 Dippel bezieht sich vermutlich auf Barth, Rechtfertigung und Recht, 44ff. 173 Vgl. Barth, Rechtfertigung und Recht, 53. 174 Dippel lässt nach eigenen Aussagen nur die umstrittene Exegese zu den Engelmächten weg; vgl. BARTH, Rechtfertigung und Recht, 24ff. 175 Dippel, Kerk en wereld, 111. 176 Dippel bezieht sich vermutlich auf Barth, Rechtfertigung und Recht, 14. 177 Dippel, Kerk en wereld, 117. 178 Dippel, Kerk en wereld, 117; Dippel bezieht sich vermutlich auf Barth, Rechtfertigung und Recht, 28. 179 Dippel, Kerk en wereld, 117; Dippel bezieht sich vermutlich auf Barth, Rechtfertigung und Recht, 28.
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318 Durchbrechung der Polarisierung in der niederländischen Nachkriegszeit nung“180 und habe zudem keine passive sondern eine aktive181 Bedeutung. Die christologische Begründung des Staates, so Dippels Schlussfolgerung182, führe zu einer jeweils eigenen Berufung von Kirche und Staat. So wie die Kirche allen das Evangelium zu verkündigen habe, müsse der Staat für alle Menschen Sorge tragen. Barth sei schließlich auch da zu folgen, wo er einen Zusammenhang der christlichen Fürbitte für alle Menschen (1.Tim. 2, 1) mit Röm. 13 sehe, ja, das Verhältnis von Kirche und Staat sei mit Barths Betonung der universalen Ausrichtung der Fürbitte183 als ein wechselseitiges Verhältnis und als Garantie für die Ausübung der jeweils eigenen Berufung des jeweils anderen Pols zu sehen. Der zweite Teil des Buches schließt mit jeweils einem theoretischen und einem praktischen Kapitel zur „Durchbrechung eines so genannten christlichpolitischen Prinzips“184, also der Antithese, ab. Hilfreich ist zunächst Dippels Erklärung zum möglichen dreifachen Verständnis des Wortes Antithese, wobei das dritte Verständnis das im Zusammenhang des Buches gemeinte ist. Unter Antithese könne man erstens die göttliche Antithese von Erwählung und Verwerfung verstehen, wobei aber sogleich an deren von Barth vollzogene Neuinterpretation zu erinnern sei. Zweitens gebe es eine sichtbare antikirchliche Antithese, womit der Gegensatz zwischen Bekennern und NichtBekennern angedeutet sein soll. Diese Antithese sei insofern antikirchlich zu nennen, als die Kirche mit ihrer Christusbotschaft derlei Gegensätze ja gar nicht aufbauen dürfe. Die dritte und für Dippels Gesprächszusammenhang besonders relevante Form der Antithese sei die zwischen den Verehrern und den Verächtern christlicher Prinzipien, wie sie in den Niederlanden innerhalb des Neocalvinismus entwickelt worden seien. Die ursprünglich vom Vater des Neocalvinismus, Abraham Kuyper, konzipierte Antithese sei reines Menschenwerk, das von dem neocalvinistischen Philosophen Herman Dooyeweerd (1894–1977)185 im Rahmen seines Entwurfs einer christlichen Philosophie186 dann verabsolutiert worden sei. Dippels Ausführungen zum dreifach möglichen Gebrauch des Wortes Antithese dienen nun dazu, den Gegensatz zwischen einer barthianisch inspirierten kirchlichen Doorbraak-Lebenshaltung und der antithetischen Lebenshaltung des politisch und gesellschaftlich organisierten Neocalvinismus in den Niederlanden klar hervorzuheben und zuzuspitzen (Rekontextualisierung): Wird bei Dippel zunächst von einem Gegensatz zwischen Christus als dem Anfang und einem allgemeinen christlichem Prinzip gesprochen, und sodann 180 181 182 183 184 185
Dippel, Kerk en wereld, 117. Vgl. etwa Barth, Rechtfertigung und Recht, 47f. Vgl. Dippel, Kerk en wereld, 119. Vgl. etwa Barth, Rechtfertgung und Recht, 48f. Dippel, Kerk en wereld, 123. Herrman Doyeweerd war ein niederländischer Jurist und neocalvinistischer Philosoph, der die Lehre von Kuyper in sein philosophisches System aufnahm und erneuerte. 186 Dippel fühlt sich bei der Ablehnung einer christlichen Philosophie von Barth bestärkt.
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vom Glauben als Gehorsam gegenüber dem konkreten Willen Gottes und dem Glauben als gesetzlicher Ausrede und eigener Wunscherfüllung, kulminiert die theoretische Auseinandersetzung mit der neocalvinistischen Antithese – einschließlich ihrer insbesondere von Herman Dooyeweerd zugespitzten Theologie der Schöpfungsordnungen – schließlich in der Entlarvung des Neocalvinismus als einer Religion beziehungsweise als Unglauben, dem die geduldige Aufhebung der Religion in der Kirche gegenüber stehe. Diese Zuspitzung der Problematik vollzieht Dippel mithilfe der Barthschen Religionstheorie aus der Kirchlichen Dogmatik I/2; er bezieht sich konkret auf eine Passage aus § 17 über Gottes Offenbarung als Aufhebung der Religion. In diesem Paragraphen entwickle Barth als eine Alternative zur (von Dippel als neocalvinistisch konkretisierten) „polemische[n] antithetische[n] Haltung inmitten anderer Religionen, unter die auch die atheistische [falle]“187, die Haltung der „,Geduld [Christi]‘“188, die den gottlosen Menschen mitsamt seiner Religion versöhnt habe. In der Kirche lebe man anders als in der neocalvinistischen Religion aus Glauben allein und ohne Konkurrenz zur Welt. Man verkündige dort anstatt einer Antithese die von Gott in Christus gesetzte These. Das Resultat dieser Gegenüberstellung sei die Unterscheidung von „Bekenner[n] der Souveränität im eigenen Kreis und deren Bestreiter[n]“189. „Außerhalb der Verkündigung der Kirche“, so Dippels Schlussfolgerung, gebe es „keine christlichen Prinzipien, die beanspruchen dürf[t]en, allgemein gültig, allgemein normativ“190 zu sein. Es gehe um die „wesentliche Entscheidung“191 zwischen einem priesterlichen Dienst in der Nachfolge Christi entlang des Kreuzweges, im Glauben allein, und der selbstgewissen Repräsentation durch einige Auserwählte entlang des königlichen Weges, in aller Sichtbarkeit. Es ist der Gegensatz zwischen der Verkündigung der Botschaft an alle Menschen und dem Haben von Absichten mit dem nichtchristlichen, feindlichen Teil der Menschheit. Guten Absichten oft!192
Beide Gruppen, die „Gemeinde-Aufbau-Menschen“193 in der Nachfolge des Kreuzes und die „[c]hristlich-nationalen Imperialisten“194, glaubten an die Berufung der Kirche und deren Botschaft, dass die Königsherrschaft Christi das ganze Leben betreffe. Doch hätten sich, so Dippels Schlussfolgerung, eben zwei verschiedene Wege entwickelt, die ich als zwei unterschiedliche religiöse 187 Dippel, Kerk en wereld, 152. 188 AaO., 153; Dippel zitiert und übersetzt hier eine längere Passage aus Barths Religionstheorie im § 17 der Kirchlichen Dogmatik, in der die „Geduld Christi“ im Zentrum steht; vgl. Barth, KD I/2, 326f. 189 Dippel, Kerk en wereld, 154. 190 AaO., 163f. 191 AaO., 170. 192 AaO., 170f. 193 AaO., 171. 194 Ebd.
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320 Durchbrechung der Polarisierung in der niederländischen Nachkriegszeit Subjektpositionen bezeichnen möchte. Bei der Wahl zwischen beiden Positionen, gehe es aber nicht erneut um eine Antithese. Zwar müsse man sich entscheiden, doch vollziehe sich diese Entscheidung angesichts „unser aller Sünde“195. Auf Barth wird dann konsequenterweise ein letztes Mal verwiesen, wenn es um die Einheit und Gemeinschaft der Kirche als einer durch den Heiligen Geist „,geschenkten‘“196 Gemeinschaft „,all‘“197 dieser Menschen geht, also um eine Relativierung eines jeglichen menschlichen Weges und einer jeglichen menschlichen Subjektposition. Dippels Lesermotivation bezüglich der bisher selektierten Themen aus Barths Theologie ist expliziter Art: der obrigkeitshörigen Haltung („Obrigkeit ist Obrigkeit und Rebell ist Rebell“198) vieler orthodoxer Protestanten in den Niederlanden soll mithilfe alternativer theologischer Argumentationen widersprochen werden. Die universale Ausrichtung der Theologie Barths (Christus ist „für alle“ gestorben, „für alle“ soll die Gemeinde beten und „für alle“ soll der Staat sorgen) hilft dabei, Konturen einer neuartigen inklusiven statt exklusiven christlichen Lebenshaltung zu entwickeln. Und Barths Religionstheorie hilft schließlich dabei, den Neocalvinismus als Unglauben zu entlarven. Diese Anwendung der Barthschen Religionstheorie auf den Neocalvinimsus darf man wohl als den deutlichsten Re-Kontextualisierungsversuch Barthscher theologischer Theorien auf einen sekundären, nämlich den niederländischen neocalvinistischen Kontext betrachten (Re-Kontextualisierung): Barths Theologie hilft den Niederländern, ein bestehendes „königliches“ oder auch „imperialistisches“, sichtbar christliches, organisiertes Subjekt zu de-organisieren beziehungsweise zu destruieren, und ein alternatives religiöses „nachfolgendes“ oder auch „dienendes“ unsichtbar christliches, kirchliches Subjekt zu konstruieren. Dabei ist zu betonen, dass das von Barth entlehnte universalistische Motiv des Christusglaubens gerade nicht erneut exklusiv beziehungsweise antithetisch angewandt wird. Daraus ergibt sich meines Erachtens eine wirkliche Horizontabhebung gegenüber der ursprünglichen Religionstheorie Barths oder besser gesagt gegenüber einer geläufigen Interpretation dieser Religionstheorie. Dippel geht es nicht um den Anspruch eines wahren christlichen Glaubens gegenüber einer als unwahr entlarvten Religion. Vielmehr konstruiert Dippel ein alternatives religiöses „gläubiges“ Subjekt, beschränkt sich mit anderen Worten auf das Gebiet interner religiöser Widersprüche und lässt die Wahrheitsfrage anders als Barths Religionstheorie offen. Damit entwickelt Dippel exemplarisch eine Methode der Barth-Rezeption, die später vom großen niederländischen Theologen und
195 AaO., 178. 196 Ebd.; Dippel bezieht sich vermutlich auf K. Barth, Die Gemeinschaft der Kirche, St. Gallen 1943, 3. 197 Dippel, Kerk en wereld, 178; Dippel bezieht sich vermutlich auf Barth, Die Gemeinschaft, 4. 198 Dippel, Kerk en wereld, 111.123.
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Die Doorbraak-„Bibel“ von 1947
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Barth-Rezipienten Kornelis H. Miskotte vielfältig angewandt, ergänzt und weiterentwickelt werden wird.199 Der dritte Teil Im dritten Teil des Buches, der konkreten politischen Antwort auf die mit der Analyse der Krisensituation des Christentums im ersten Teil aufgeworfenen Frage, geht es Dippel um die positive Suche nach einer christlichen Lebenshaltung inmitten einer unchristlichen Welt, die nicht länger auf christlichen Prinzipien aufgebaut ist. In diesem Zusammenhang wird noch einmal ausführlich auf Barth zurückgegriffen (Leserinteresse) und auf drei Dinge hingewiesen: Erstens erinnert Dippel an die „befreiende Unverantwortlichkeit“200, auf die auch Barth in der Kirchlichen Dogmatik hinweise, dass nämlich das Wort Gottes nicht mit unendlicher Verantwortlichkeit belaste, sondern nach einer dienenden Antwort auf Gottes konkretes Gebot frage, wobei es sich aufgrund seiner eigenständigen Wirksamkeit als tragend und deckend zugleich erweise. Es gehe bei dieser Grundlage für wirkliche Verantwortung darum, bei der an sich selbstständigen Wirksamkeit des Wortes Gottes „,dabei zu sein‘“201, wobei vorausgesetzt sei, „,dass wir Menschen, und zwar ungehorsame und also zu diesem Werk untaugliche Menschen‘“202 seien. Zweitens sei mit Barth daran zu erinnern, dass ein Gebot kein „weites sittliches Feld“203 etabliere und also nicht „,allgemein[…] formal[…] und abstrakt[…]‘“204, sondern „konkret und deutlich“205 und von der Person Gottes unablösbar sei. In diesem Zusammenhang wird auch der Gedanke Barths aufgegriffen, dass das Gebot Gottes immer Teil der Bundesgeschichte Gottes mit dem Menschen sei, die sich inmitten der profanen Geschichte abspiele. Drittens sie an die „Sachlichkeit“206 zu erinnern, die zwischen der Unbesorgtheit einerseits und dem Gehorsam andererseits zu verorten sei. Hierbei sei die Reihenfolge wichtig. Alle drei Haltungen zusammen bedeuteten eigentlich nichts anderes, als in allen Dingen bei Christus zu bleiben und sich nicht aus der Kirche vertreiben zu lassen. Danach unternimmt Dippel eigenständig den Versuch, drei praktische Folgen der von Barth entlehnten Konkretisierung des Gebotes Gottes innerhalb der spezifischen niederländischen Situation der Identifizierung des Gebotes Gottes mit einem christlich-politischen Prinzip zu erarbeiten (Rekontextualisierung). Konkretisierung bedeute zunächst eine permanente Er199 200 201 202 203 204 205
Vgl. Kap. 9 dieser Studie. Dippel, Kerk en wereld, 234; Dippel bezieht sich hier auf Barth, KD I/2, 299. Dippel, Kerk en wereld, 235; Dippel zit. Barth, KD I/2, 300. Dippel, Kerk en wereld, 235; Dippel zit. Barth, KD I/2, 300. Dippel, Kerk en wereld, 238. Ebd.; Dippel zitiert hier Barth, KD II/2, 741. Dippel, Kerk en wereld, 238; Barth spricht in Barth, KD II/2, 739 von einer „konkrete[n] Erfüllung“, und aaO., 740 gebraucht er den Ausdruck „konkret gefüllt“. 206 Dippel, Kerk en wereld, 240.
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322 Durchbrechung der Polarisierung in der niederländischen Nachkriegszeit niedrigung, da sie einen fortwährend ins Unrecht setze. Konkretisierung bedeute, dass Gebote von Fall zu Fall anders zu verstehen seien und man sich also besser Gottes Leitung anvertraue. Man merke, dass man als Mensch dieses Gebot selber nicht erfülle und unvollkommen bleibe, dabei aber trotzdem getragen werde. Es sei daran festzuhalten, dass das Vollbringen des göttlichen Gebotes unsichtbar bleibe und also nicht beweisbar sei. Sichtbar seien nur die menschlichen Entscheidungen. Zu bedenken sei zudem, dass die (absolute) Konkretheit Gottes sich von der (relativen) menschlichen unterscheide, ja dass die erstere letztere durchdringe und den Menschen auf seine Relativität verweise. Der qualitative Unterschied von Gott und Mensch – ein deutlich der Römerbrieftheologie Barths entlehntes Motiv – relativiere alles Menschliche. Dieser qualitative Unterschied sei als „Absurdität“207 oder auch Ungereimtheit zu bezeichnen. Gottes Gebot sei – mit anderen Worten – insofern absurd zu nennen, als es einerseits zur konkreten menschlichen Situation passe, andererseits aber gerade nicht. Ausgehend von dieser Absurdität entwickelt Dippel in der Folge eine, wie ich formulieren möchte, postchristliche Alternative, nämlich eine heilsam gebrochene Kulturtheorie beziehungsweise -theologie im aufkommenden nihilistischen Zeitalter. Diesen Re-Kontextualisierungsversuch kann man am deutlichsten als eine wirkliche Horizontabhebung im Verhältnis zum – von Dippel nicht näher definierten – primären Kontext der Barthschen Religionstheorie ansehen: Werde das Absurde oder Ungereimte in der bestehenden Kultur zumeist verdrängt und vertrieben, erinnere der absurde qualitative Unterschied von Gott und Mensch daran, dass das Leben von Absurdität und Ungereimtheiten geprägt sei, ja dass man dieses Absurde beziehungsweise Ungereimte gerade im Glauben annehmen müsse. Das „rätselhafte Negative und Absurde in unserer Relativität“208 könne nur durch „die absurde Positivität von Gottes Liebe“209 versöhnt werden. Ohne Gott und also den qualitativen Unterschied sei das Leben trostlos absurd, mit Gott hingegen heilsam absurd. So treibe das „lebendige Bewusstsein der göttlichen und der menschlichen Absurdität [den zeitgenössischen Menschen; SH] über die Abgründe in die Flucht aus der Welt, aus der Kultur zu Christus, um dort Kultur und Welt, gebrochen, zu erkennen und wiederzufinden“210. Nur zwischen beiden Absurditäten einschließlich der Flucht aus der (bestehenden) Welt könne eine neue Kultur entstehen, nämlich eine „Kultur als Kunst des Zusammenlebens“211. Andernfalls verflache Kultur zu „Geschichte, Wiederholung, Langeweile, Zerstreuung, Interesse an unserem uninteressanten Selbst, […] Zusammenprall von Instinkten und Selbstvernichtung“212. 207 208 209 210 211 212
AaO., 252. AaO., 255. Ebd. AaO., 256. Ebd. Ebd.
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Die Doorbraak-„Bibel“ von 1947
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Als praktisches Pendant einer vom im oben genannten Sinn absurden Evangelium getragenen Lebenshaltung nennt Dippel das Vermögen, einer „kollektivistischen Scham und dem kollektivistischen Minderwertigkeitskomplex [mit; SH] einem Leben aus Glauben“213 widerstehen zu können. Alle niederländischen Strömungen und Richtungen – Dippel nennt die Orthodoxie, die Freisinnigkeit, den Katholizismus und den Neocalvinismus – hätten den Versuch unternommen, Gott mit menschlichem Verstand zu erklären und zu verstehen. Sie hätten dabei das Absurde vergessen beziehungsweise verdrängt und kollektiv einen Götzen namens „gesunder Menschenverstand“214 beziehungsweise „Anschauung“215 errichtet. Wer seine menschliche Relativität bejahe und sich am Erkannt-Werden von Gott und am Nicht-Nach-Denken-Können Gottes erfreue – zwei für niederländische Verhältnisse überdeutlich von der Theologie Barths entlehnte Motive – halte sich an den Wortcharakter des Evangeliums und also an die Verkündigung der christlichen Kirche, und zwar im Sinne eines Zeugen. Ein letztes Mal wird Barth in dichter Form zitiert, wenn es schließlich um die Folgen dieser Kulturkritik für das politische Leben oder jedenfalls um die „Vorbereitung für einige konkret-politische Antworten“216 geht: Wie die exklusive Absolutheit des Gebotes Gottes eine Relativierung aller gesellschaftlichen Gestaltung217 bedeute, so bedeute die Konkretheit des Gebotes Gottes inmitten der menschlichen Relativität218 das Angebot einer tragenden Einheit219 des Lebens. Gottes Gebote stifteten Gemeinschaft, weil sie alle unter das gleiche Urteil stelle. So sei das Hören von Gottes konkretem Gebot „in unseren gleichen und verschiedenen persönlichen Situationen […] das wichtigste Ziel unseres Lebens“220. Zurecht habe Barth in seiner Exegese zu Röm. 12 und 13 bemerkt, das Christen gerade auch gegenüber ihren Feinden – Dippel konkretisiert in der niederländischen Situation: gegenüber NichtChristen – ein „,Friedensangebot‘“221 zu sein hätten, bei dem nicht Gleiches mit Gleichem222 vergolten werde. Genau darin liege, so Dippel wieder für die niederländische Situation, der große Unterschied zwischen der Anerkennung 213 214 215 216 217
218 219 220 221 222
AaO., 257. Ebd. Ebd. AaO., 268. Dippel zit. aaO., 266 Barth, KD II/2, 795: „Alle solche Sachbereichs- und Schubladenweisheit müssen wir, sofern wir sie praktisch für unvermeidlich halten, restlos auf unsere eigene Verantwortung nehmen. Sie haben keinen Grund in Gottes Gebot. Von Gottes Gebot her wird sie vielmehr notwendig begrenzt und relativiert.“ Vgl. Dippel, Kerk en werekld, 266; Dippel spielt vermutlich an auf Barth, KD II/2, 795: „Eben darum läßt sich das Gebot Gottes aber auch nicht aufspalten in verschiedene für die Menschen dieses und jenes Zeitalters […], für diesen und jenen Lebensbereich […]“. Barth spricht davon aaO., 796. Dippel, Kerk en wereld, 266. AaO., 267; Dippel zit. Barth, KD II/2, 805. Dippel, Kerk en wereld, 267; Dippel zit. Barth, KD II/2, 805.
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324 Durchbrechung der Polarisierung in der niederländischen Nachkriegszeit moralischer Prinzipen einerseits und dem konkreten Gebot Gottes andererseits. Barth habe sogar gesagt223, dass aufgrund moralischer Prinzipien noch niemals eine wirkliche Gemeinschaft entstanden sei, während das konkrete Gebot Gottes dem Menschen nicht zugestehe, sich seiner persönlichen Verantwortung zu entziehen und die Einheit mit anderen aufzukündigen. Das Gebot Gottes224 lasse relativen, nicht aber absoluten Streit zu und spiele Recht und Heil nicht gegeneinander aus. Abschließend sei darauf hinzuweisen, dass Barth nicht zitiert worden sei, weil er Barth sei, sondern weil er die Schrift (Rm.12 und 13) ausgelegt habe. Es sei evident, so Dippels Schlussfolgerung und deutlicher Versuch einer Rekontextualisierung der bei Barth gewonnenen Erkenntnisse, dass man in den christlichen Niederlanden nicht auf das konkrete Gebot Gottes höre und sich deshalb „auf dem Weg der Standpunkte und nicht auf dem der Gemeinschaft“225 befinde, wobei man menschliche „Relativitäten […] zu einem absoluten Streit“226 hochstilisiere. Zusammenfassung Zusammengefasst lassen sich zwei herausragende Merkmale der Barth-Rezeption Dippels unterscheiden: Erstens kann sie als der Versuch bezeichnet werden, eine bestehende (neocalvinistische, organisierte) christliche Identität zu destruieren und eine alternative (barthianisch inspirierte, nur nachfolgende oder bezeugende) christliche Identität zu konstruieren. Dadurch entstehen zwei verschieden begründete christliche Subjektpositionen. Zweitens zeichnet sich die Barth-Rezeption Dippels dadurch aus, dass sie bei Barth gefundene Einsichten vielfältig und eigenständig auf die niederländische Situation anwendet (Rekontextualisierung, Horizontabhebung). Dabei wirkt Barths Theologie faktisch als methodisches Instrumentarium zur Entwicklung einer Kulturkritik. Am deutlichsten zeigt sich dies bei Dippels „Entlarvung“ des Neocalvinismus als Unglauben und der Anwendung der Barthschen Rede von einem qualitativen Unterschied von Gott und Mensch in einem postchristlichen227, nihilistischen Kontext zur Entwicklung einer ebenfalls postchristlich christlich begründeten Kulturkritik.
223 224 225 226 227
Dippel, Kerk en wereld, 267; Dippel zit. Barth, KD II/2, 801. Dippel, Kerk en wereld, 267; Dippel zit. Barth, KD II/2, 801. Dippel, Kerk en wereld, 268. Ebd. Unter postchristlich verstehe ich dabei den nicht nur von Dippel, sondern auch von niederländischen Theologen wie Miskotte als nihilistisch qualifizierten Kontext der niederländischen Nachkriegszeit, der von einer Abwendung vieler Christen von der institutionalisierten (christlichen) Religion gekennzeichnet ist.
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Die Parodie der Parodie: Zwei Doorbraak-Gedichte
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8.5 Die Parodie der Parodie: Zwei Doorbraak-Gedichte Der politische Doorbraak war zweifelsohne ein hitzig diskutiertes Thema in der Nachkriegszeit. Die Frage, ob er als solcher gelungen ist, kann in diesem Zusammenhang nicht in der notwendigen Ausführlichkeit diskutiert werden. Dass es sich aber um einen gesellschaftlich relevanten, vieldiskutierten und die Gemüter bewegenden Versuch gehandelt hat, zeigt unter anderem die Tatsache, dass er auch Thema von Spottgedichten gewesen ist. Zwei solche Doorbraak-Gedichte erschienen in der Zeitschrift In de waagschaal (Auf der Waage)228, der wohl bekanntesten auf einen Doorbraak gerichteten und von der Theologie Barths wesentlich mitgeprägten niederländischen theologischen Zeitschrift. Die beiden Gedichte bringen die polemische Stimmung zwischen Barthianern und Neocalvinisten in der niederländischen Nachkriegszeit auf amüsante Weise zum Ausdruck. In der Ausgabe vom 27.1.1950 druckte die Redaktion von In de waagschaal ein Anti-Doorbraak-Spottgedicht von „Robbie Radar“ – vermutlich ein Kunstname – ab, das dieser zuvor in der antirevolutionären Tageszeitung De Rotterdamer publiziert hatte. Ein unbekannter Mitarbeiter von In de waagschaal – Kenner der niederländischen Landschaft vermuten, dass es Buskes war – formulierte daraufhin ein dieses Spottgedicht nun seinerseits verspottendes Gedicht. Dabei wurde das ursprüngliche Anti-Doorbraak-Gedicht mit nur wenigen Änderungen in ein Pro-Doorbraak-Gedicht229 umformuliert. Zunächst zum antirevolutionären Spottgedicht (Übers. beider Gedichte: SH):
228 Die Zeitschrift wurde 1945 von unter anderem Kornelis H. Miskotte, Johan J. Buskes und Kleijs H. Kroon – drei der sieben so genannten Doorbraak-Pfarrer, die der sozialdemokratischen Partei beigetreten waren, gegründet. Karl Barth war ab der siebten Ausgabe fester Mitarbeiter. 1970 wurde das Erscheinen der Zeitschrift eingestellt, und ab 1972 wurde sie in veränderter Form erneut herausgegeben. Die Zeitschrift existiert bis heute. Obwohl In de waagschaal in erster Linie als die Nachfolgerin der Zeitschriften Woord en Geest (Wort und Geist) und Woord en wereld (Wort und Welt) zu verstehen ist, kann sie in gewisser Hinsicht auch als die Nachfolgerin und Erbin der in Opwaartsche wegen begonnenen kulturellen Versuche gesehen werden. Allerdings publizierte In de waagschaal im Gegensatz zu Opwaartsche wegen außer zu kulturellen auch zu theologischen und politischen Themen. Zur Bedeutung Kornelis Heiko Miskottes für In de waagschaal vgl. G.G. de Kruif u.a., Einleitung, in: VWM 1, 9–28. 229 Anon., Rubrik Terzijde, IdW 5, 1950, Nr. 17, 6.
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326 Durchbrechung der Polarisierung in der niederländischen Nachkriegszeit Wij kennen hier het luid geroep Van Buskes, Dippel en hun groep Die zeggen tot het groot publiek: G¦¦n „christeljke“ politiek! De Kerk leeft enkel verticaal En spreekt alleen dr „eigen“ taal, Doch op elk ander werkterrein Dient ieder mens gelijk te zijn!
Wir kennen hier das laute Geschrei Von Buskes, Dippel und ihrer Gruppe, Die sagen zum großen Publikum: Nieder mit der „christlichen“ Politik! Die Kirche lebt nur vertikal und spricht nur dort „eigene“ Sprache, doch auf allen anderen Gebieten soll jeder Mensch gleich sein!
Die eenheidzin, ons zo vertrouwd! Heeft helaas reeds veel kwaad gebrouwd. In duistere bezettingstijd Dwong zij de Kerk tot zware strijd. Ze heeft zelfs Hitler overleefd, want dat zij zeer veel invloed heeft toont ons ’t bericht uit Engeland, waar ’t huwelijk wordt aangerand!
Dieses uns so vertraute Einheitsstreben! Hat leider bereits viel Schlechtes zusammengebraut. In der finsteren Zeit der Besatzung Hat es die Kirche zu einem schweren Kampf gezwungen, Es hat sogar Hitler überlebt, Denn dass es sehr viel Einfluss hat, Zeigt uns der Bericht230 aus England, Wo man sich an der Ehe vergreift
Daar toch verscheen laatst een rapport Waarvan de strekking is – in ’t kort Om – onder toezicht der regering Een zuiv’re rationalisering Van ’t sexeleven voor te staan! Will Buskes ook die kant opgaan? Voor hem is Engeland ideaal! Maar – ’t spreekt hier toch een vreemde taal! D’ Ontkerstening groeit wijd en zijd. Stopt toch die „Doorbraak“! ’t wordt hoog tijd!
Denn dort erschien letztens ein Rapport, Dessen Inhalt kurz gesagt lautet, Dass unter Aufsicht der Regierung Eine saubere Rationalisierung Des Geschlechtslebens zu befürworten sei. Will Buskes sich auch in diese Richtung orientieren? Für ihn wäre England ideal! Aber – hier ist es doch ein wenig fremdartig! Die Entchristlichung nimmt weit und breit zu. Schluss mit dem „Doorbraak“! Es wird höchste Zeit!
Die Version des Mitarbeiters von In de waagschaal lautet hingegen folgendermaßen:
230 Es muss sich um eine von Christen entwickelte Infragestellung des als christlich angesehenen Instituts der Ehe handeln. Den konkreten Anlass der Anspielung konnte ich bisher nicht ermitteln.
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Die Parodie der Parodie: Zwei Doorbraak-Gedichte
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Komt, christenen, hoort naar ons geroep: Het christendom moet in de soep! A.R., C.H., de hele kliek Heet christelijk, maar is doodziek. Jan Schouten leeft horizontaal En Rome spreekt een vreemde taal. In staat en kerk, op elk terrein Moet Jansen met Tilanus zijn! Waarom beginselen vertrouwd? Veeleer een eenheidsdrank gebrouwd. Reeds in de donkere oorlogstijd Werd eenheid van ons volk bepleit. Wij hebben Hitler overleefd. En wat ons nu voor ogen zweeft? Wij zetten ’t huwelijk aan kant Tot zegen van ons vaderland!
Herbei ihr Christen, hört unser Rufen: Das Christentum soll durcheinander gebracht werden! A.R231, C.H.232, die ganze Clique Wird christlich genannt, ist aber todkrank. Jan Schouten233 lebt (natürlich; SH) horizontal Und Rom spricht (nun einmal; SH) eine fremde Sprache In Staat und Kirche, auf jedem Gebiet Muss Jansen mit Tilanus234 sein! Warum soll man Prinzipien vertrauen? Besser, man braut sich einen Einheitstrank. Bereits in der dunklen Zeit des Krieges Hat man sich für die Einheit235 unseres Volkes eingesetzt! Wir haben Hitler überlebt. Und was uns nun vor Augen steht? Wir heben die Ehe auf, unserem Vaterland zum Segen!
Heb nog geduld, want binnenkort Komt Dippel met een fraai rapport. Het is compleet een samenzwering, weg met geloof, weg met bekering! Het huwelijk, het moet er aan, om vrij en verticaal te gaan. Dat is ons heilig ideaal, de Dippel en de Buskes-taal. Wij raken ’t christendom wel kwijt. Steunt dus de Doorbraak! ’t wordt hoog tijd!
Hab’ noch eben Geduld, denn schon in Kürze Wird Dippel mit einem schönen Rapport ankommen. Es wird eine totale Verschwörung sein, weg mit dem Glauben, weg mit der Bekehrung! Die Ehe muss aufgegeben werden, um frei und vertikal ausgerichtet zu werden, Das ist nämlich unser heiliges Ideal, die Dippel- und die Buskessprache. Wir schaffen es schon, uns vom Christentum236 zu befreien. Solidarität mit dem Doorbraak! Es wird höchste Zeit!
231 Die von Kuyper gegründete Antirevolutionäre Partei der Neocalvinisten. 232 Die Christen-Historische-Unie, also die wesentlich kleinere und fortschrittlichere „reformierte“ Variante einer christlichen Partei. 233 Verhältnismäßig fortschrittlicher gereformierter Politiker der Antirevolutionären Partei. 234 Hendrik Willem Tilanus war ein niederländischer Politiker der Christen-Historische-Unie (CHU). Jansen & Tilanus war ein bis in die 1960er Jahre hinein sehr erfolgreiches niederländisches Textilunternehmen, das vor allem Unterwäsche produzierte. 235 Gemeint ist die Durchbrechung der (polarisierenden) Antithesepolitik (ndl. doorbraak). 236 Gemeint ist die organisierte Form des Christentums als geschichtliche Größe.
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328 Durchbrechung der Polarisierung in der niederländischen Nachkriegszeit
8.6 Rückblick: Zum Versuch einer Kulturtheologie im Gespräch mit Barth III Auch nach dem Krieg wurde Barth in allen niederländischen theologischen und kirchenpolitischen Strömungen rezipiert und fungierte so auch weiterhin als Knotenpunkt bei dem Versuch, den Richtungsstreit innerhalb der Nederlandse Hervormde Kerk zu beenden und auch die theologischen Gegensätze zwischen Liberalen und Neocalvinisten zu überbrücken. Dieses Kapitel machte deutlich, dass Barths Theologie insbesondere in reformierten Kreisen dazu inspirierte, nach dem Ende des Krieges nicht wieder in die alten polarisierten politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse, wie sie aufgrund der Antithesepolitik entstanden waren, zurückzukehren. Diese auch eminent politische Bedeutung der Theologie Karl Barths darf als Besonderheit der niederländischen Barth-Rezeption hervorgehoben werden. Dabei wurden als wichtigste Motive der Theologie Barths dessen theologischer Aktualismus, die existenzielle Dimension des Glaubens und die Konkretheit des Gebotes im Gegensatz zu einer auf Prinzipien beruhenden neocalvinistischen Antithesepolitik betrachtet. Während die inkonsequenten Barthianer Barth zwar vielfach im Sinne einer Korrektur einer christlichen Parteipolitik rezipierten und dabei Barths Ablehnung der Geschichtstheologie eher relativierten, findet sich auf der Seite der konsequenten Barthianer ein von Barths Theologie inspiriertes deutliches Bekenntnis zur Demokratie bei gleichzeitiger Ablehnung einer christlichen Partei-politik. Man entwickelte ein kritisch-solidarisches Obrigkeitsverständnis und eröffnete die Chancen eines christlich engagierten Politikverständnisses in Richtung auf nicht-christliche Parteien – in concreto die Sozialdemokratie. Außer zur Trennung von Kirche und Staat inspirierte die Theologie Karl Barths insbesondere ein am theologischen und politischen Begriff der Gerechtigkeit orientiertes sachliches Politikverständnis, welches sich theologisch mit Hilfe von Barths Theologie als Zeugendienst und Gehorsam in Bezug auf das Zeugnis Jesu Christi verstand. Anstatt für einen theologischen christlichen Partikularismus (protestantisches Christentum als eine Säule unter anderen) plädierte man für einen christlichen Universalismus (Christus ist für alle gestorben), der im Sinne einer christlichen Solidarität mit allen Menschen mit dem (reformierten) Volkskirchengedanken verbunden wurde. Das Ende des christlichen Zeitalters und der Synthese von Christentum und (herrschender) Kultur wurde von den Theologen des Doorbraak dabei als Voraussetzung angenommen, bejaht und dahingehend fruchtbar gemacht, dass man nach einem neuartigen, differenzierten Verhältnis nicht nur von Glauben und Politik sondern auch von Christentum und Kultur im Sinne eines kritisch-solidarischen Verhältnisses zur herrschenden Kultur suchte. Dies führte außer zu der in diesem Kapitel dargestellten Suche nach einer neuartigen Verbindung zwischen Politik und Glauben vielfach zu Ansätzen einer
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Zum Versuch einer Kulturtheologie im Gespräch mit Barth III
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alternativen, von Barth inspirierten Kulturtheologie. Es ist die These meiner Arbeit, dass die politische und gesellschaftliche Bedeutung der Theologie Karl Barths in den Niederlanden – also der Versuch des politischen Doorbraak in der niederländischen Nachkriegszeit – gerade auch darum so eminent war, weil der politische Doorbraak durch einen kulturellen beziehungsweise (kultur-)theologischen Doorbraak antizipiert, begleitet und auch fortgesetzt wurde. Das Bestreben, eine von der Theologie Barths inspirierte, gegenüber dem Neocalvinismus alternative Kulturtheologie zu entwickeln, wurde am systematischsten von Kornelis H. Miskotte verfolgt, dessen alternative Konzeption im folgenden Kapitel eingehend untersucht werden soll.
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9. Barth-Rezeption als Sinngebung des Sinnlosen bei Kornelis H. Miskotte. Kulturtheologie IV 9.1 Einleitung Kornelis Heiko Miskotte (1894–1976) ist nicht nur einer der wichtigsten niederländischen Theologen des 20. Jahrhunderts überhaupt, sondern auch der wohl bekannteste niederländische Rezipient und Interpret der Theologie Barths.1 Am 1.2.19232 hielt er zum ersten Mal den Römerbrief Barths (in der zweiten Auflage) in der Hand und las ihn, hin- und hergerissen zwischen Faszination und Protest. Nachdem er am 4.1.19243 erstmals schriftlich mit Barth Kontakt aufgenommen und diesen dann auch bei dessen erstem Besuch4 in den Niederlanden persönlich kennengelernt hatte, entstand zwischen Miskotte und Barth eine sehr umfangreiche Korrespondenzund eine herzliche Freundschaft, die bis zu Barths Tod im Jahre 19685 dauern sollte. Miskotte hat in den Niederlanden auf vielfältige Weise dazu beigetragen, Karl Barth auch außerhalb des Kreises von Fachtheologen bekannt zu machen. So übersetzte er Barths 1935 in Utrecht gehaltene Vorträge über das Credo6, die bald nach Barths Besuch zusammen mit einem ausführlichen Kommentar von Miskotte beim Verlag Callenberg in Nijkerk herausgegeben wurden. Außerdem kommentierte7 Miskotte als Chefredakteur der von ihm mitbegründeten Zeitschrift In de waagschaal regelmäßig die jeweils neu erschienenen Bände der Kirchlichen Dogmatik. Zu erinnern ist auch an Miskottes Mitarbeit am Entwurf des neuen niederländischen Glaubensbekenntnisses, Fundamenten en perspectieven van belijden8, und der neuen Kirchenordnung von 1951, die beide starke und deutliche Spuren der Theologie Barths tragen. Nicht zuletzt sollen hier auch die eher wissenschaftlichen Publikationen Miskottes zu Karl Barth9 erwähnt werden, die in diesem Kapitel ebenfalls nicht alle im Einzelnen 1 Vgl. die aktuellste Übersicht über einige Aspekte der Beziehung zwischen Karl Barth und Kornelis H. Miskotte von H. J. Adriaanse, Karl Barth und Kornelis Heiko Miskotte, in: Beintker/Link/ Trowitzsch, Karl Barth im europäischen Zeitgeschehen, 355–366. 2 Vgl. Eintragung im Tagebuch v. 1.2. 1923 in: VWM 4, 242. 3 Vgl. K.H. Miskotte an K. Barth, Brief v. 4.1.1924 in: VWM 2, 430. 4 Vgl. Eintragungen im Tagebuch v. 29.5.1926, 1.6.1926 und 2.6.1926, in: Miskotte, VWM 4, 301. 5 Vgl. K.H. Miskottes letzten Brief an K. Barth v. 8.5.1968, in: Miskotte, VWM 2, 540. 6 Barth, De apostolische. Die deutsche Ausgabe erschien noch im gleichen Jahr ; vgl. Barth, Credo. 7 Die Kommentare sind aufgenommen in Miskotte, VWM 2, 12–73. 8 Vgl. Kap. 7.5 dieser Studie. 9 Vgl. Miskotte, VWM 2.
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abgehandelt werden können. Trotzdem soll die überaus umfangreiche BarthRezeption Miskottes repräsentativ behandelt werden:10 Will man in aller Kürze den Kern und die Grundrichtung des theologischen Denkens Miskottes erfassen, bietet sich ein Zitat aus einem 1967 gehaltenen Interview an. Zurückblickend auf wichtige theologische Stationen seines Lebens schließt Miskotte das mehrstündige Gespräch mit folgenden Worten: Nun ja, dies steht natürlich alles unter dem gewaltigem Vorbehalt, dass […] die Strategie Gottes und die Inspiration des Geistes uns einmal plötzlich oder schrittweise aus den Kirchenformationen hinaustreiben könnte, in die bedrohte Welt, damit wir mit der Welt ,verweltlichen‘, und zwar sogar so sehr, dass ein früheres Geschlecht oder gar unsere ,kirchlichen‘ Zeitgenossen uns kaum noch wiedererkennen würden. Was allerdings nicht ausschließt, dass wir in dieser letzten Grenzüberschreitung von Gott erkannt sein würden!11
Ähnlich heißt es in Miskottes 1956 publiziertem Hauptwerk Als de goden zwijgen. Over de zin van het Oude Testament (Wenn die Götter schweigen. Vom Sinn des Alten Testaments)12 im Kontext der theologischen Arbeit für und mit so genannten randkirchlichen13 Christen und Christinnen: „Der Mut zum Leben erwächst aus der Kraft der Erkenntnis, welche wesentlich zusammenfällt mit dem Vermögen, sich selber zu erkennen als einen Erkannten“14. Die Umkehrung der menschlichen Gotteserkenntnis zu einem ErkanntWerden von Gott und also der Wechsel zur besonderen Offenbarung als Ausgangspunkt theologischer Erkenntnis, ist zweifellos eines der wichtigsten der aus Barths Theologie entlehnten Motive im Werk Miskottes. Es durchzieht sein gesamtes theologisches Denken wie ein roter Faden. So besteht nach Miskotte der größte „Charme“15 der Kirchlichen Dogmatik Barths in diesem 10 Dieses Kapitel wurde in anderer Form bereits publiziert als S. Hennecke, ATheology of Culture in the Mirror of its Barth-reception: the Dutch theologian Kornelis Heiko Miskotte, in: G. Thomas/R.H. Reeling Brouwer/B. Mc Cormack (Hg.), Dogmatics after Barth. Facing Challenges in Church, Society and the Academy, Leipzig 2012, 37–52 11 Gespräch mit Prof. Dr. K.H. Miskotte v. 3.–4.6.1967 in Voorst, in: G. Puchinger, Christenen en secularisatie, Delft 1968, 203–260, 260. 12 K.H. Miskotte, Als de goden zwijgen. Over de zin van het Oude Testament, Amsterdam 1956; vgl. Ders., Wenn die Götter schweigen. Vom Sinn des Alten Testaments (übers. v. H. Stoevesandt), München 1966. Ich zitiere im Folgenden nach der deutschen Übersetzung. 13 Die sog. Randkirchlichkeit ist in den Niederlanden ein feststehender Ausdruck, mit dem das Phänomen am Rande der christlichen Tradition stehender kirchlicher oder nicht-kirchlicher Christen und Christinnen ungefähr seit den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts bezeichnet wird. Miskotte hatte in seiner Zeit als Pfarrer der Nederlandse Hervormde Kerk den spezifischen Auftrag, sich um diese Gruppe zu kümmern. 14 K.H. Miskotte, Wenn die Götter, 364. Der Kursivdruck findet sich nur in der niederländischen Ausgabe, vgl. Ders., Als de goden, 259. 15 K.H. Miskotte, Über Karl Barths Kirchliche Dogmatik. Kleine Präludien und Phantasien, in: K.G. Steck/G. Eichholz (Hg.), TEH 89(1962), 5–63, 28; vgl. die niederländische Version: K.H.
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332 Barth-Rezeption als Sinngebung des Sinnlosen bei Kornelis H. Miskotte erkenntnistheoretischen Ausgangspunkt. Dieser sei eben nicht die abstrakte, allgemeine menschliche Erfahrung, sondern die besondere göttliche Offenbarung. Im gleichen Beitrag, Über Karl Barths Kirchliche Dogmatik16, heißt es, dass die für die niederländische theologische Landschaft wichtigste Herausforderung insbesondere in Barths Lehre von Gottes Wesen und Gottes Eigenschaften im zweiten Teil der Kirchlichen Dogmatik II/1 bestehe. In dem 1956 in der Festschrift zu Karl Barths 70stem Geburtstag publizierten Beitrag über Die Erlaubnis zum schriftgemäßen Denken17 bestätigt Miskotte anhand der zentralen Rolle der Barthschen Eigenschaftenlehre für die niederländische Barth-Rezeption noch einmal den herausfordernden Charakter der erkenntnistheoretischen Umkehrung des theologischen Ausgangspunkts. Es sei ein „großer Glücksfall“18 gewesen, dass gerade die Kirchliche Dogmatik II/1 noch vor dem Krieg die Niederlande erreicht habe. Sei die Barth-Rezeption in den Niederlanden bis dahin insbesondere bei den universitären Fachtheologen der verschiedenen kirchlichen Richtungen weitgehend ablehnend verlaufen, habe gerade der zweite Teil dieses Bandes, die Eigenschaftenlehre19, dafür gesorgt, dass sich auch bei interessierten Gemeindegliedern ein gewisses Vertrauen zu dieser Theologie sowie ein „Aufhorchen“20 und ein „frohes Entdecken“21 in Hinblick auf ihre Botschaft eingestellt habe. Man habe zu ahnen angefangen, dass man mit der Schriftgemäßheit dieser Theologie eine Alternative zum gängigen Biblizismus finden könne und dass deren „israelitische[s] Idiom“22 eine befreiende Kritik an der Orthodoxie und der scholastischen Spekulation impliziere. Als schriftgemäß im Gegensatz zu biblizistisch erweise sich Barths Theologie insbesondere aufgrund der Vorordnung des Besonderen gegenüber dem Allgemeinen – wobei die Rede vom Besonderen genauer gesagt den besonderen Gottesnamen meine. Miskotte spricht diesbezüglich auch von einer „Induktion aus dem Namen“23 als Alternative zu einer „Deduktion aus dem Begriff“24, also der in der scholastischen Theologie gängigen Bemühung, ein absolutes, allgemeines Wesen Gottes zu postulieren. Als biblisch beziehungsweise schriftgemäß erweise sich nämlich gerade die „wunderbare Um-
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Miskotte, Kleine pr¦ludes en fantasieÚn over Karl Barth’s „Kirchliche Dogmatik“, in: VWM 2, 93–140, 115. AaO., 97. K.H. Miskotte, Die Erlaubnis zum schriftgemäßen Denken, in: Miskotte, VWM 2, 196–220. Der Aufsatz ist ebenfalls abgedruckt in: E. Wolf u.a. (Hg.), Antwort. Karl Barth zum siebzigsten Geburtstag am 10. Mai 1956, Zollikon-Zürich 1956, 29–51. AaO., 205. Barth spricht dort allerdings in Abgrenzung von der Tradition nicht von göttlichen Eigenschaften, sondern nennt diese göttliche Vollkommenheiten. Ebd. Ebd. AaO., 206. Ebd. Ebd.
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kehrung“25 des herkömmlichen Ausgangspunktes, also die Vorordnung und Betonung der Exklusivität des besonderen Namens Gottes. Diese Umkehrung könne man gerade im zweiten Teil der Kirchlichen Dogmatik II/1, also in der Eigenschaftenlehre Barths, sehr gut beobachten. Auch wenn Miskotte niemals explizit erklärt, warum er im Zusammenhang mit der Vorordnung des Besonderen beziehungsweise des Namens von einer Induktion spricht, lässt sich aufgrund der Lektüre des Gesamtwerks von Miskotte vermuten, dass diese die befreiende Erfahrbarkeit der erkenntnistheoretischen Umkehrung Barths impliziert: Es gehe nicht nur darum, „den Namen über alle Begriffe triumphieren zu lassen“26, sondern auch darum, bei diesem „Siegeszug mitzugehen“27. Und an anderer Stelle heißt es, dass mit der „Geltung des Namens als einer besonderen“28 durchaus auch eine „allgemeingültige[…] Wirklichkeit“29 gegeben sei. Damit deutet sich bereits an, dass Miskotte die Umkehrung Barths nicht nur rezipiert, sondern in gewisser Weise auch ergänzt. Die namenstheologische Induktion impliziert bei ihm außer der Vorordnung des Besonderen auch dessen Erfahrbarkeit.30 Aufgrund dieses Befundes komme ich nun zu einer dreifachen These zu Miskottes Barth-Rezeption, die im Laufe dieses Kapitels anhand einer genauen Lektüre von Wenn die Götter schweigen näher entfaltet werden soll. Kann nämlich Barths Umkehrung des erkenntnistheoretischen Ausgangspunktes vom Allgemeinen zum Besonderen wie oben ausgeführt als das Miskotte treibende Hauptmotiv seiner Barth-Rezeption betrachtet werden (Miskottes Grundakkord), so besteht meiner ersten These zufolge der spezifische, den neuen Ausgangspunkt Barths variierende Eigenbeitrag Miskottes zur Barthschen Umkehrung darin, dass er dessen befreiende Implikation für den zeitgenössischen Menschen erfahrbar machen möchte, indem er seine Relevanz in einem spezifischen Kontext darstellt (Miskottes erste Umkehrung). Darüber hinaus, so meine zweite These, geht es Miskotte nicht nur um die Reprise der erkenntnistheoretischen Umkehrung Barths in einer spezifischen zeitgenössischen Erfahrung (Miskottes erste Umkehrung), sondern auch um eine weitere Umkehrung des Verhältnisses von allgemeiner menschlicher Erfahrung und besonderer göttlicher Offenbarung, die die oben angesprochene Induktion des Namens noch verstärkt (Miskottes zweite Umkehrung). Bei Miskottes zweiter Umkehrung des Barthschen Grundmotivs handelt es 25 26 27 28 29 30
Ebd. AaO., 213. Ebd. AaO., 218. Ebd. Ein Vergleich mit G. Casalis’ Konzept einer „induktiven Theologie“ könnte interessnat sein; vgl. G. Casalis (übers. v. K. Füssel), Die richtigen Ideen fallen nicht vom Himmel. Grundlagen einer induktiven Theologie, UB T-Reihe 640, Stuttgart 1980 [urspr.: Les id¦es justes ne tombent pas du ciel. Êl¦ments de th¦ologie inductive, 1977].
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334 Barth-Rezeption als Sinngebung des Sinnlosen bei Kornelis H. Miskotte sich entsprechend den Umkehrungen eines Grundakkords in der Musik nicht um eine (unmittelbare) Rückkehr zum Grundakkord (dem Wechsel zum Ausgangspunkt der besonderen göttlichen Offenbarung) und auch nicht um eine Rückkehr zur Vorordnung der allgemeinen menschlichen Erfahrung, sondern um eine Weiterführung der ersten Umkehrung (der Reprise der erkenntnistheoretischen Umkehrung Barths in einer spezifischen zeitgenössischen Erfahrung) zu einer weiteren Umkehrung, nämlich der Ermöglichung alternativer menschlicher Erfahrungen aufgrund des als befreiend erfahrenen Wechsels zur göttlichen Offenbarung als Ausgangspunkt theologischer Erkenntnis.31 Beide Umkehrungen des Barthschen Grundakkords, also beide Umkehrungen der Vorordnung der besonderen Offenbarung vor die allgemeine menschliche Erfahrung, spiegeln sich meines Erachtens auch in der von Miskotte vielfach verwendeten Formulierung, dass Gott sich in der Welt von der Welt unterscheide. Während die erste Umkehrung dem „von“ dieser Formulierung entspricht, entspricht die zweite Umkehrung dem „in“. In diesem Kapitel sollen beide Umkehrungen ausführlicher dargestellt werden. Zusammengenommen bilden sie meines Erachtens den Grund dafür, warum die Theologie Miskottes als eine Kulturtheologie eigener Prägung zu bezeichnen ist. Dass es sich bei der Theologie Miskottes um eine solche handelt, ist die dritte These und Schlussfolgerung aus den Erläuterungen zu den ersten beiden Thesen. Das Eigene dieser Kulturtheologie32 bestünde dann zunächst darin, dass sie zwar den Barthschen Ausgangspunkt der erkenntnistheoretischen Umkehrung berücksichtigt, diesen aber durch die beiden weiteren Umkehrungen wesentlich expliziter als Barth mit der Erfahrung des modernen Menschen33 und der befreienden Erfahrbarkeit Gottes kombinieren kann. 31 Bei meinem der Musiktheorie entlehnten Bild vom Grundakkord handelt es sich um einen Dreiklang, also nicht um zwei Pole, die nur umgekehrt werden, sondern um drei Töne, die in anderer, aufsteigender Reihenfolge nacheinander aufklingen. Es ist auch zu beachten, dass die erste Umkehrung der drei Töne gegenüber dem Grundakkord bereits weniger und die zweite Umkehrung noch weniger stabil ist. Die Umkehrungen tendieren also zu einer Rückkehr zum Grundakkord, der sich allerdings insofern von der Ausgangslage unterscheidet, als er eine Oktave höher erklingt. 32 Dass es sich bei Miskottes Theologie um eine Kulturtheologie handelt, ist in den Niederlanden unbestritten; vgl. etwa G.J. de Kruif, Miskottes phänomenologische Kulturbetrachtung, ZDT 5, 1989, Nr. 1, 9–20; D. Boer, Miskotte: Betere weerstand, in: Ders., Protest tegen een verkeerde wereld. Een geschiedenis van de protestantse theologie van de 19e en 20e eeuw in Europa, Voorburg 1991, 211–224; E.J. de Wijer, Die Erlaubnis zu nonkonformistischem Denken. Über den Einfluss Karl Barths auf die kulturkritische Haltung K.H. Miskottes, ZDT 25, 2009, Nr. 1, 63–73. Schwieriger wird es allerdings, wenn man aus diesen und anderen Beiträgen Näheres darüber erfahren möchte, was genau mit der Rede von einer Kulturtheologie Miskottes gemeint ist. 33 Hier stimmt meine Wahrnehmung grundlegend überein mit den entsprechenden Passagen in der ausführlichen Studie von Jan Muis, die dem Verständnis der Heiligen Schrift bei Miskotte und Barth gewidmet ist. Muis schreibt etwa (Übers. SH), dass Miskotte „eine Verlebendigung von Barths Offenbarungs- und Verstehensbegiff“ bezwecke und dass Miskotte „das unableitbare
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Einschränkend soll nicht verschwiegen werden, dass nicht nur Miskottes Oeuvre als Ganzes, sondern auch seine Barth-Rezeption einen derart großen Umfang haben, dass sie unmöglich in nur einem Kapitel vollständig dargestellt werden können und mit der Bearbeitung oben genannter Thesen keineswegs erschöpft sind. Zur Orientierung des Lesers, der Leserin sei bemerkt, dass die drei wichtigsten, nicht voneinander zu isolierenden theologischen Themen34 Wort Gottes […] in unserer Erfahrung [sprechen lassen wolle,] ohne die Offenbarung als Variante oder Modifikation des allgemein-menschlichen Lebens“ verstehen zu wollen; vgl. J. Muis, Openbaring en interpretatie. Het verstaan van de Heilige Schrift volgens K. Barth en K. H. Miskotte, ’s Gravenhage 1989 [Diss. Utrecht], 365. In den Niederlanden gibt es jedoch auch eine andere Position, nach der die Vorordnung beziehungsweise Gleichordnung der modernen menschlichen Erfahrung mit der Offenbarung lediglich als Ironie anzusehen ist. Diese Auffassung verteidigt etwa G.H. Ter Schegget anhand des Ausdrucks „Kleiner Zeitspiegel“, unter dessen Nenner Miskotte in Wenn die Götter schweigen eine Analyse des modernen nihilistisch geprägten Menschen bietet und mit der er seine Ausführungen beginnt und insofern die Erfahrung des modernen Menschen bewusst vorordnet. Miskotte, so Ter Schegget, interessiere sich aber in Wirklichkeit nicht so sehr für eine allgemeine Reflexion der zeitgenössischen Situation, sondern für die Herausforderung, die diesem modernen Menschen durch den „großen Spiegel der Thora“ (vgl. Jak. 1, 19–27; Übers. SH) geboten werde; vgl. G.H. ter Schegget, Adhesie aan de Naam. Een opstel over Miskottes hermeneutiek, in: K.H. Miskotte, De weg der verwachting, Baarn 1975, 82–90, 83. Meiner Analyse zufolge rückt Miskotte zwar im Vergleich mit Barth die Erfahrung stärker in den Vordergrund, betont aber letztendlich beide Pole zugleich. 34 A. Zonneberg, Hermeneutiek bij K.H. Miskotte, Nijmegen 1970 [unpubl. Examensarbeit]; Ter Schegget, Adhesie; G.G. de Kruif, Heiden, jood en christen. Een studie over der theologie van K.H. Miskotte, Baarn 1981 [Diss. Utrecht]; W. Aalders/ C. den Boer/A. de Reuver, Barth, Kohlbrugge, Miskotte. Ontwikkeling of breuk? Kampen 1984; M.J.G. van der Velden, K.H. Miskotte als prediker. Een homiletisch onderzoek, ’s Gravenhage 1984 [Diss. Utrecht]; M. den Dulk, De taal van het verhaal. Een handreiking voor de bespreking van het „Bijbels ABC“ van dr. K.H. Miskotte, Driebergen 1985; G.G. de Kruif, Miskottes phänomenologische Kulturbetrachtung, ZDT 5, 1989, Nr. 1, 9–20; J. Muis, Openbaring en interpretatie. Het verstaan van de Heilige Schrift volgens K. Barth en K.H. Miskotte, ’s Gravenhage 1989 [Diss. Utrecht]; G.H. ter Schegget, Die innere Erfahrung der Welt. Versuch über „bevinding“ bei K.H. Miskotte, ZDT 9, 1989, Nr. 1, 37–64; H.W. de Knijff/G.W. Neven, Horen en zien. Opstellen over de theologie van K. H. Miskotte, Kampen 1991; D. Boer, Miskotte: Betere Weerstand; G.C. den Hartog/G.W. Neven (Hg.), Miskotte. Hoofdlijnen van zijn theologie, Kampen 1993; K.A. Deurloo/R. Venema (Hg.), Antwoord aan het nihilisme. Met Miskotte op de weg der verwachting, Baarn 1994; C. Doude van Troostwijk/J. Beumer/D. Stegeman (Hg.), „Wij willen het heidendom eren“. Miskotte in de „nieuwe tijd“, Baarn 1994; Dr. K.H. Miskotte-Stichting (Hg.), Kornelis Heiko Miskotte. Brug tussen cultuur en theologie, Kampen 1995; H.C. van der Sar, Verborgen in eenvoud. De hermeneutische functie van de Godsleer in de theologie van K.H. Miskotte, Kampen 1995 [Diss. Theologische Universiteit Kampen]; M. Kessler, Kornelis Miskotte. A Biblical Theology, Selinsgrove PA, 1997; E.J. de Wijer, De naam op de toverberg. De denkfiguren uit Thomas Manns „Zauberberg“ als transparanten voor de cultuurkritiek van K.H. Miskotte, Kampen 1997 [Diss. Leiden]; K. Ijkema, Nietzsche in de hermeneutiek van K.H. Miskotte, Kampen 1999 [unpubl. Diss. Theologische Universiteit van de Gereformeerde Kerken in Nederland]; W. Dekker/G.C. den Hartog/T. de Reus (Hg.), Het tegoed van K.H. Miskotte. De actuele betekenis van zijn theologie voor de gereformeerde theologie, Zoetermeer 2006; A.H. Drost, Is God veranderd? Een onderzoek naar de relatie God-IsraÚl in de theologie van K.H. Miskotte, IRTI research publication, Zoetermeer 2007; De Wijer, Die Erlaubnis; H.J. Adri-
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336 Barth-Rezeption als Sinngebung des Sinnlosen bei Kornelis H. Miskotte Miskottes die Bedeutung des Judentums und des Alten Testaments für die christliche Theologie, die biblische Hermeneutik und das Verhältnis von moderner Kultur und Theologie sind. Alle drei Themen spiegeln sich auch in seiner Barth-Rezeption. Diese soll in diesem Kapitel nicht nur angesichts ihrer Relevanz für Miskottes Theologie, sondern auch aufgrund des spezifischen kulturtheologischen Interesses dieser Arbeit und aufgrund bestehender Forschungslücken in der Miskotteforschung speziell vom dritten Thema her erschlossen werden, dem Verhältnis von moderner Kultur und Theologie.Dass die beiden anderen thematischen Schwerpunkte der Theologie Miskottes davon tatsächlich nicht zu isolieren sind, wird sich im Verlauf der Darstellung zeigen. Das Verhältnis von moderner (das heißt bei Miskotte: säkularisierter) Kultur und Theologie zeichnet sich bei Miskotte einerseits durch ein theologisches Ernstnehmen der Modernität des modernen Menschen und andererseits durch das Bedürfnis nach einer auch theologischen Kritik der Moderne aus. Wie also spiegelt sich in Miskottes Barth-Rezeption dessen Verhältnisbestimmung zwischen moderner Kultur und Theologie? Ganz allgemein gesehen ist die moderne Kultur nach Miskotte durch zunehmende Säkularisierung gekennzeichnet, die auch die noch bestehenden kirchlichen Kreise intern in zunehmendem Maße betrifft und unter anderem zum Phänomen so genannter randkirchlicher Christen und Christinnen geführt hat. Mehr im Besonderen bezieht sich Miskotte mit dem Ausdruck moderne Kultur auf den Kontext der kirchlichen und gesellschaftlichen Neuorientierung nach dem Zweiten Weltkrieg. Dieser Kontext ist seines Erachtens außer von Säkularisierung von einem weitverbreiteten Nihilismus geprägt. Um nun Miskottes Barth-Rezeption im Zusammenhang mit seinem theologischen Umgang mit der durch Säkularisation und Nihilismus gekennzeichneten Moderne genauer beschreiben zu können, beziehe ich mich im Folgenden hauptsächlich auf sein diesbezügliches Leserinteresse in dem 1956 zunächst auf Niederländisch publizierten Hauptwerk Wenn die Götter schweigen. Vom Sinn des Alten Testaments. Hierin verarbeitet Miskotte zusätzlich zu dem oben genannten Ausgangspunkt der erkenntnistheoretischen theologischen Umkehrung der Gotteserkenntnis drei wichtige Motive aus der Theologie Barths: Miskottes Leserinteresse bezieht sich erstens auf Karl Barths These von der Ambivalenz der Religion, wie sie in der zweiten Auflage des Römerbriefs35 und aanse, Karl Barth und Kornelis Heiko Miskotte, in: Beintker/Link/Trowitzsch, Karl Barth im europäischen Zeitgeschehen, 355–366. 35 Miskotte bezieht sich bezüglich der Ambivalenz der Religion in dem Unterkapitel Der christlichreligiöse Bestand in Wenn die Götter schweigen insbesondere auf Zitate aus Karl Barths Römerbrief in der zweiten Auflage; ich zitiere hier nach Barth, Der Römerbrief (1922); vgl. Miskotte, Wenn die Götter, 48–51. Genauer gesagt handelt es sich um Bezugnahme auf Fragmente des Römerbriefs auf den Seiten 297f (Zweideutigkeit), 288 (Disharmonie), 318 (nicht wissen und nicht haben), 349f (Gott interessiert sich für das nicht-religiöse Interesse der
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im § 17 der Kirchlichen Dogmatik36 entwickelt wurde.37 Zweitens wählt Miskotte Barths Lehre von der Dialektik von Offenbarung und Verborgenheit in der Kirchlichen Dogmatik38 aus und verknüpft dieses Thema mit dem ersten. Drittens bezieht sich Miskottes Leserinteresse insbesondere auf Karl Barths theologisches Zeitdenken39 in der Kirchlichen Dogmatik. Während die Verknüpfung des ersten und des zweiten ausgewählten Themas ihm hilft, zu einer auch theologischen Analyse des Phänomens des modernen Nihilismus zu kommen, besteht die Lesermotivation hinsichtlich des dritten Themas entsprechend dem Untertitel des Buches in einer Verdeutlichung des Sinnes gerade des Alten Testaments in der Situation des neuzeitlichen Nihilismus. Rezipiert Miskotte die beiden erstgenannten Themen im ersten Teil seines Buches, steht im zweiten Teil die Rezeption des dritten Themas im Vordergrund. Alle rezipierten Themen zusammengenommen machen meines Erachtens die oben entwickelte erste These plausibel, dass es nämlich Miskotte um eine auf Erfahrbarkeit gerichtete Reprise der Barthschen erkenntnistheoretischen Umkehrung des theologischen Ausgangspunktes geht, rezeptionsästhetisch gesprochen also um eine Re-Kontextualisierung der Theologie und insbesondere der Religionstheorie Barths in der modernen, vom Nihilismus geprägten Gesellschaft der Niederlande nach dem Zweiten Weltkrieg. Indem Miskotte den Barthschen Ausgangspunkt innerhalb der Situation des von Barth kaum thematisierten modernen Nihilismus anwendet, möchte er deren befreiende Implikationen erfahrbar machen. Im Folgenden soll zunächst diese erste These näher ausgeführt werden. Dabei soll insbesondere auf die rezeptionsästhetische Fragestellung geachtet werden, zu welchen neuen Erfahrungen die Barth(re)lektüre motiviert und welche neuen Bedeutungen von Barths Theologie hierbei produziert werden (9.2–9.4). Danach (9.5) soll deutlich gemacht werden, inwiefern im Werk
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Weltkinder), 396/398 (Glauben ist kein Ding), 465 (Gott stellt die bestehende Legalität in Frage), 469 (Geltenlassen des Bestehenden ist dessen effektivste Unterhöhlung), 285f (Entleerung bestehender Werte lässt ein Licht sehen). Miskotte bezieht sich in Wenn die Götter schweigen, 11 bzw. 75 bezüglich dieses Themas insbesondere auf Barth, KD I/2., § 17.2 (Religion als Unglaube), 343 bzw. auf: Ders., aaO., § 17.3 (Die wahre Religion), 387ff. Doch sollte der gesamte § 17 (Gottes Offenbarung als Aufhebung der Religion) als relevant für seine Ausführungen betrachtet werden. Miskotte nimmt Barths religionstheoretische Betrachtungen im Römerbrief und in der Kirchlichen Dogmatik als kontinuierlich wahr, da jeweils die Ambivalenz, Dualität, Zweideutigkeit, Disharmonie etc. der Religion thematisiert werden. Miskotte bezieht sich in Wenn die Götter schweigen, 48, insbesondere auf Barth, KD II/1, 213ff, ein Fragment aus dem ersten Abschnitt (Die Verborgenheit Gottes) des § 27 der Kirchlichen Dogmatik (Die Grenzen der Erkenntnis Gottes). Wiederum sollte der gesamte § 27 als Hintergrund für Miskottes Erwägungen betrachtet werden. Miskotte bezieht sich in Wenn die Götter schweigen, 118, explizit auf Abschnitt 2 (Die Zeit der Erwartung) und Abschnitt 3 (Die Zeit der Erinnerung) des § 14 (Die Zeit der Offenbarung) von Barth, KD I/2 und auf Abschnitt 1 (Schöpfung, Geschichte, Schöpfungsgeschichte) von § 41 (Schöpfung und Bund) in Barth, KD III/1.
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338 Barth-Rezeption als Sinngebung des Sinnlosen bei Kornelis H. Miskotte Miskottes außer von der in der ersten These gemeinten, auf aktuelle kontextuelle Erfahrbarkeit gerichteten, auch von der in der zweiten These gemeinten, auf faktische individuelle, persönliche Erfahrbarkeit gerichteten Rekontextualisierung der Barthschen erkenntnistheoretischen Umkehrung – im Sinne des von Barth übernommenen Grundakkords Miskottes – gesprochen werden kann. Abschließend (9.6) soll in einem Rückblick noch einmal der Frage nachgegangen werden, inwiefern beide Thesen zusammengenommen die dritte These belegen, dass es sich nämlich bei der Barth-Rezeption Miskottes um eine spezifische kulturtheologische Barth-Rezeption handelt.
9.2 Barths Religionsbegriff im Kontext des modernen Nihilismus Der erste Teil von Wenn die Götter schweigen wird von Miskotte als Kleiner Zeitspiegel bezeichnet und bietet außer einer Analyse der zeitgenössischen Situation des modernen Menschen einen Vorschlag zu einer angemessenen theologischen Umgangsweise mit dieser Situation. Die Situationsanalyse besteht insbesondere aus einer spezifischen Anwendung und Variation von Barths These von der Ambivalenz der Religion, wie sie im § 17 der Kirchlichen Dogmatik systematisch entfaltet wurde. Um die von Miskotte vorgenommene Variation der Barthschen Vorlage erfassen zu können, werde ich im Folgenden zunächst den Aufbau des § 17 der Kirchlichen Dogmatik kurz skizzieren und dann die von Miskotte im „Kleine[n] Zeitspiegel“ vollzogene Rezeptions-Bewegung nachzeichnen. Durch den Vergleich des Aufbaus und des Spannungsbogens beider Texte kann dann die eigene Variationsleistung Miskottes aufgezeigt werden, das heißt die von ihm bei der Rezeption neu produzierten Bedeutungen des Textes. Zunächst also zu Barths Religionstheorie40 in § 17 der Kirchlichen Dogmatik: Der Ausgangspunkt, den Barth in diesem Paragraphen zur Bestimmung des Phänomens der Religion wählt, ist die Offenbarung, „wie sie der Kirche Jesu Christi durch die heilige Schrift bezeugt ist“41. Von hier aus setzt er sich in drei Schritten näher mit der Religion auseinander, wobei es sich bei den ersten beiden Schritten genauer gesagt um Doppelschritte und beim dritten Schritt um eine selbstkritische Konzentration auf die eigene christliche Religion handelt. Barths Schritte Den ersten Schritt von Barths theologischer Religionstheorie bezeichne ich als einen Doppelschritt. Denn in Barths Religionstheorie wird zum einen von Anfang an Raum für eine eigenständige kulturwissenschaftliche Herange40 K. Barth, § 17 (Gottes Offenbarung als Aufhebung der Religion), in: Ders., KD I/2, 304–396. 41 AaO., 305.
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Barths Religionsbegriff
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hensweise42 an die Religion als ein menschliches Phänomen geschaffen und zum anderen wird die Religion dort ebenfalls von Anfang an vom gewählten Standpunkt der Offenbarung her betrachtet. So wendet Barth sich zunächst gegen eine Auffassung von der Offenbarung, in der die Idee eines menschlichgöttlichen Zusammenwirkens vertreten wird – etwa in dem Sinne, dass die besondere göttliche Wirklichkeit der Offenbarung einen Anknüpfungspunkt in einer allgemeinen menschlichen Möglichkeit habe. Demgegenüber sei das Ereignis der Offenbarung wie ein „in sich geschlossene[r] Kreis“43 sowohl als die Wirklichkeit als auch als die Möglichkeit Gottes zu betrachten.Indem die Offenbarung aber immer auch ein dem Menschen widerfahrendes, transeuntes Ereignis sei, habe sie in der Gestalt der Religion auch „das Gesicht eines menschlich, historisch und psychologisch fassbaren Phänomens“44. Dies gelte auch für die christliche Religion, die darum als eine Religion unter anderen Religionen zu betrachten sei und wie diese auch rein kulturwissenschaftlich untersucht werden könne. Indem sich für Barth gerade auch die christliche Religion als „menschliche[s] Gesicht“45 der Offenbarung und so als ein Ort der Verborgenheit göttlicher Gegenwart erweist, wendet er sich insbesondere gegen den modernen Protestantismus, der seines Erachtens nicht die Religion von der Offenbarung, sondern umgekehrt die Offenbarung von der Religion her betrachtet habe. Diese „Umkehrung“46 des Verhältnisses zwischen Offenbarung und Religion sei als „Häresie“47 zu bezeichnen, der gerade um der freien theologischen Wahrheitsfindung willen zu widersprechen sei. Nicht erst „nachträglich“48, so Barth, sondern von Anfang an, nicht als „systematische Zusammenordnung von Gott und Mensch“49, sondern als „Erzählung einer Geschichte“50 des im Lichte der Offenbarung erst sichtbar werdenden Menschen sei über die Offenbarung und also auch über die Reli42 Es handelt sich um eine Herangehensweise, die genauer gesagt sowohl als kultur- oder religionswissenschaftlich als auch als religionsphilosophisch bezeichnet werden könnte. Bereits Günter Thomas hat betont, dass Barth in diesem Paragraphen theologische und nicht-theologische Herangehensweisen an die Religion miteinander kombiniert; vgl. G. Thomas, Medien – Ritual – Religion. Zur religiösen Funktion des Fernsehens, stw 1370, Frankfurt a.M. 1998 [zugl. Diss. Heidelberg, 1996], insb. Kap. 1.3 (Theologische Modelle des Umweltbezugs in der Theologie Barths), 82–125. 43 KD I/2, 305. 44 Ebd. 45 AaO., 306. 46 AaO., 318. Es ist zu beachten, dass die von Barth hier gemeinte Umkehrung nicht parallel läuft zu den Umkehrungen in meinen Thesen oder zu der von mir so bezeichneten erkenntnistheoretischen Umkehrung Barths, die Miskotte als „Grundakkord“ und Ausgangssituation übernimmt. Barth meint hier vielmehr eine Verkehrung, Verdrehung oder auch Anthropologisierung eines von ihm als richtig erkannten Verhältnisses, bei dem die Religion als menschliche Erfahrung der besonderen Offenbarung vorgeordnet wurde. 47 Ebd. 48 AaO., 323. 49 Ebd. 50 Ebd.
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340 Barth-Rezeption als Sinngebung des Sinnlosen bei Kornelis H. Miskotte gion zu reden. Über die Einheit beider Größen könne man am besten im Sinne einer analogia fidei und in Anlehnung an die Lehre von der assumptio carnis nachdenken: Wie Gott als Gott den Menschen als Menschen im Sinne eines vollendeten Geschehens an- und aufgenommen habe, so könne von der Offenbarung als von einer „Aufhebung der Religion“51 im Sinne eines allerdings noch zu vollendenden Geschehens gesprochen werden. Barths zweiter Schritt besteht aus einer „theologische[n] Würdigung der Religion und der Religionen“52. Wiederum räumt er dabei im Sinne eines Doppelschritts neben einer theologischen auch einer nicht-theologischen, kulturwissenschaftlichen Betrachtungsweise Raum ein: Theologisch gesehen sei der Mensch als Subjekt der Religion nicht an sich, sondern immer als ein im Wort Gottes bereits von Gott Mitgemeinter zu betrachten. Es handle sich bei aller Religion theologisch, das heißt vom Urteil der göttlichen Offenbarung in Jesus Christus her gesehen, um Unglauben – also um eigenmächtigen Götzendienst und Werkgerechtigkeit und somit um „die Angelegenheit des gottlosen Menschen“53 und um einen „Widerspruch gegen die Offenbarung“54. Doch könne man von dieser externen, theologischen Betrachtungsweise wiederum eine immanente religionsgeschichtliche und phänomenologische Wahrnehmung der Religion unterscheiden. Eine solche nicht-theologische Betrachtungsweise enthülle die „innere Dialektik“55 der Religion und bestätige, dass Religion immer auch ein „sich selbst widersprechendes, ein in sich selbst unmögliches Unternehmen“56 sei. Insbesondere die Mystik und der Atheismus entlarvten die letzte Nicht-Notwendigkeit und die Schwäche der Religion, führten aber aufgrund ihrer ausgeprägten Negativität letztlich wieder zur Bestätigung der alten (Mystik) oder zur Bildung neuer (Atheismus) Religionen. Aufgrund ihrer wenn auch kritischen Zugehörigkeit zu den Religionen, so Barths in Form einer rhetorischen Frage vorgebrachte Vermutung, führe die von der Mystik und dem Atheismus aufgeworfene Kritik letztlich „nirgendwohin“57. Eine wirkliche Krisis der Religion könne nur von einem Ort außerhalb des Menschen anheben. Unterscheidet Barth auch in seinem zweiten Schritt „bewusst“58 nicht zwischen der christlichen und den nicht-christlichen Religionen,behandelt er im dritten Schritt schließlich die Frage, inwiefern sich eine Religion vom Niveau eines Phänomens auf dem Gebiet der allgemeinen Religionsgeschichte auch unterscheiden könne. Zwar erweise sich keine der Religionen als solche als wahr, doch könne eine Religion – wie ein gerechtfertigter Sünder – von der 51 52 53 54 55 56 57 58
AaO., 324. Ebd. AaO., 327. AaO., 330. AaO., 343. Ebd. AaO., 352. AaO., 357.
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Offenbarung Gottes in Jesus Christus nicht nur verurteilt, sondern auch angenommen und aufgehoben und somit wahr werden. In diesem Sinn erweise sich nur die christliche Religion als wahr – ein Satz, den Barth bewusst als einen „Glaubenssatz“59 und unter ausdrücklicher Anerkennung des auch ungläubigen Charakters der christlichen Religion in christlich-selbstkritischer Absicht ausspricht. Interessant sind in diesem Zusammenhang die beiden Exkurse, die auf das Verhältnis der christlichen Religion zum alttestamentlichen Judentum beziehungsweise zum Buddhismus eingehen: Das Beispiel der alttestamentlichen Offenbarungsreligion zeige, das diese zwar an Gottes Offenbarung, Gottes Offenbarung jedoch nicht umgekehrt an die Offenbarungsreligion gebunden sei. So bilde die jüdische Religion, von der „Gott sein Angesicht abgewendet“60 habe, ein lehrreiches und warnendes „Exempel“61 für die christliche Religion. Zwei mit dem reformatorischen Christentum strukturell vergleichbare buddhistische Varianten einer Gnadenreligion (Jo¯do-Shin und Jo¯do-Shinshu¯) machten außerdem deutlich, dass letztlich nicht die Gnade als solche, sondern nur „der Name Jesus Christus“62 das Kriterium für die Wahrheit einer Religion sein könne. Als die von der Gnade lebenden Träger dieser wahren Religion seien die Kirche und die Kinder Gottes zu betrachten. Miskottes Schritte Wie verhält sich nun Miskottes Darstellung im Kleine[n] Zeitspiegel zu dieser Analyse? Miskotte vollzieht zwar keine der Barthschen Religionsanalyse widerläufige, aber doch eine diese variierende, erweiternde und darum anders zu benennende theologische Bewegung. Entsprechend seiner Überzeugung, dass das Wort Gottes immer innerhalb einer bestimmten zeitgenössischen Situation spreche und zu verstehen sei, wählt er nicht die Offenbarung, sondern bestimmte Erfahrungen zu seinem Ausgangspunkt, nämlich die Erfahrungen des modernen, zum Nihilismus neigenden Menschen, dem er nach dem Zweiten Weltkrieg in den 50er und 60er Jahren des 20 Jahrhunderts begegnet ist und den er theologisch ernst nehmen und dem er Raum geben will. Bereits im ersten Schritt seiner Bewegung bezieht Miskotte die nihilistischen Erfahrungen dieses modernen Menschen formal explizit auf den zweiten Teil des zweiten Schrittes von Barths Religionstheorie. Dort hatte Barth im Rahmen einer theologischen Würdigung der Religionen mit einer kulturwissenschaftlichen Herangehensweise den Atheismus als einen immanenten Widerspruch der Religion bestimmt. Genauer gesagt vollzieht sich diese Anknüpfung an die bei Barth bereits angelegte Berücksichtigung einer 59 60 61 62
Ebd. AaO., 361. Ebd. AaO., 376.
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342 Barth-Rezeption als Sinngebung des Sinnlosen bei Kornelis H. Miskotte auch nicht-theologischen Betrachtungsweise unter Auslassung nicht nur der explizit theologischen Betrachtung der Religionen im ersten Teil des zweiten Doppelschrittes, sondern ebenfalls unter formaler Auslassung der im ersten Schritt Barths programmatisch verfassten Vorordnung der Offenbarung – eine Auslassung, die Miskotte selber weiter nicht benannt hat, die sich aber als paradigmatisch für seine Rezeption auch anderer Texte Barths erweisen wird.63 Wie bei Barth der Atheismus, so Miskottes Erläuterungen zu seiner Bezugnahme auf den kulturwissenschaftlichen zweiten Teil des zweiten Schrittes von Barth, könne nun auch der zeitgenössische Nihilismus „als religionsgeschichtliche Gegebenheit“64 evident gemacht werden. Er erweise er sich als religiöse „Selbstkritik“65 und sei damit „ein Strukturelement der Religion selbst“66. In Auseinandersetzung mit Dietrich Bonhoeffers Rede vom mündigen Menschen und einem religionslosen Christentum und unter Bezugnahme auf die Thesen des Soziologen Alfred Weber67 bezeichnet Miskotte diesen zumeist als nihilistisch umschriebenen Exponenten des modernen Menschen auch als den so genannten vierten Menschen. Diesen umschreibt er außer als nihilistisch in nicht immer scharf abgegrenzten Begriffen auch als säkularisiert, atheistisch und nach-christlich.68 Genauer gesagt zeichne sich der vierte Mensch dadurch aus, dass er „nicht mehr im Sinne der Bibel“69 glaube und auch „für andere Götter taub und frei von der bindenden Kraft der gottähnlichen Werte“70 sei. Er durchschaue die Religion ganz selbstverständlich als eine Projektion und könne den spielerischen Ernst des religiösen Lebens nicht mehr aufbringen. Doch gerate er bei genauerem Hinsehen auch in „Enttäuschung und Beschämung“71, ja die Modernität des nihilistischen Menschen bestehe darin, dass er „auch sich selbst bestürzend“72 sei. Indem sich Miskotte an dieser Stelle aufgrund seiner Befunde zusätzlich auf Barths Römerbrief-These von der Ambivalenz der Religion73 bezieht und diese ebenfalls auf das Phänomen des modernen Nihilismus anwendet, gelangt er zu der Einschätzung, dass es unwahrscheinlich sei, den vierten Menschen in „Frie-
63 Dass Miskotte inhaltlich weiterhin stillschweigend von einer Vorordnung der Offenbarung ausgeht, soll hiermit keinesfalls bestritten werden. 64 Miskotte, Wenn die Götter, 11. 65 AaO., 12. 66 Ebd. 67 Vgl. A. Weber, Der dritte oder der vierte Mensch. Vom Sinn des geschichtlichen Daseins, München 1953. 68 Vgl. Miskotte, Wenn die Götter, 11–16. 69 AaO., 11. 70 Ebd. 71 AaO., 13. 72 Ebd. 73 Miskotte spricht davon, dass „die Religion […] nun einmal das große Unternehmen des Menschen und der große, fatale Fehlschlag des Menschen“ sei und bezieht sich mit dieser Wortwahl auf die des Römerbriefs; vgl. aaO., 15.
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den“74 anzutreffen. Wahrscheinlicher sei es, dass „die Angelegenheit der Religion noch nicht geschlichtet“75 sei, dass also auch der vierte Mensch in einem spezifischen religiösen Unfrieden lebe. In einem zweiten Schritt bezieht Miskotte andere Religionsbildungen in seine bisherigen Erwägungen mit ein, nämlich einerseits das deutsche NeuHeidentum und andererseits den JHWH-Glauben des alten Israel. So kommt er zu einer eigenständigen Illustration des von Barth inspirierten Ansatzes einer kulturwissenschaftlichen Religionsanalyse und von dessen These von der immanenten Widersprüchlichkeit und Unüberwindlichkeit der Religion. Da Miskotte aber die neu gewonnenen Einsichten auf das von Barth nicht behandelte Phänomen des modernen Nihilismus bezieht und dieses Phänomen dadurch als religiöse Neubildung erfassen kann, ist außer von einer Illustration nun auch deutlicher von einer Miskotteschen Erweiterung der Barthschen These zu sprechen. Umgekehrt ist festzuhalten, dass Barths kulturwissenschaftliche Analyse der Religion Miskottes Analyse des für ihn relevanten Problems des Nihilismus inspiriert und erweitert hat. Darum kann, was Miskotte betrifft, von einer wechselseitigen Erweiterung der Religionsanalysen Barths und Miskottes gesprochen werden. Zum Phänomen des neuen Heidentums76 in der deutschen Jugendbewegung sei anzumerken, so Miskotte, dass es sich um ein Zurückrufen der Götter handle, das als Protest gegen die „luftleere Atmosphäre eines Wohlfahrtsstaates“77 zu deuten sei. Es illustriere besonders deutlich die Unüberwindbarkeit der Religion und bilde ein durchaus ernst zu nehmendes Beispiel für das unvermeidliche Entstehen religiöser Neubildungen. Ein kurzer Blick auf die Religion des alten Israel illustriere hingegen Barths These vom immanenten Widerspruch der Religion und trage in dreifacher Hinsicht zur besseren Interpretation des Nihilismus bei: Da dieser im Grunde erstens eine Protestreaktion auf das Christentum sei, müsse er als dessen immanenter Widerspruch interpretiert werden. Er reagiere insbesondere auf ein Christentum, in dem das Wort Gottes keine zukunftsweisende Kraft mehr gehabt habe, in dem das „,Wort‘“78 nur noch eine „Reflexion“79 menschlicher Intentionen und mithin eine „Selbstprojektion“80 gewesen sei und in dem die Religion als „Schlußstein“81 des modernen Subjektivismus funktioniert habe,
74 AaO., 15. 75 Ebd. 76 Miskotte setzte sich bereits in seiner 1939 publizierten vergleichenden Studie Edda en Thora für ein Ernstnehmen des Heidentums als Religion ein; vgl. K.H. Miskotte, Edda en Thora. Een vergelijking van germaanse en israelitische religie, Nijkerk 1939. 77 Miskotte, Wenn die Götter, 17. 78 AaO., 23. 79 Ebd. 80 Ebd. 81 Ebd.
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344 Barth-Rezeption als Sinngebung des Sinnlosen bei Kornelis H. Miskotte während Gott zu einem „Welt-Moment“82, einem Aspekt des Seins, geworden sei. Doch mache zweitens ein Blick auf den Glauben Israels auch auf den befreienden Aspekt des Nihilismus’ aufmerksam. Denn Israels Bekenntnis zu JHWH setze als negative Kehrseite die Erkenntnis des Schweigens der Götter oder – moderner gesagt – die Entlarvung der Gottheit als einer Projektion voraus. Der Glaube Israels unterstelle somit als seine negative Kehrseite den Atheismus, der sich bereits damals als „frohe Sache“83 erwiesen habe. Die Heiligung des Namens Gottes fange „immer mit dem Bekennen dieses ,Atheismus‘ an“84. Nun habe es sich im alten Israel genauer gesagt um einen Atheismus gehandelt, der nicht so sehr die Existenz der Götter geleugnet, sondern auf deren Schweigen hingewiesen habe. Entsprechend dürfe man auch den modernen Nihilismus nicht nur als Proklamation des Todes Gottes auffassen, sondern auch oder sogar viel besser als Hinweis auf das Schweigen der Götter. Drittens lasse sich vor diesem Hintergrund der Verbindung zwischen dem Glauben Israels und dem Atheismus als dessen negativer Kehrseite also auch der zeitgenössische Nihilismus als die befreiende, negative Kehrseite der Heiligung des Namens deuten. Meines Erachtens kann diese Nihilismusdeutung nicht länger nur als eine bloße Illustration der Barthschen These vom Atheismus als immanenten Widerspruch der Religion betrachtet werden. Vielmehr handelt es sich um eine auch inhaltliche Erweiterung und Rekontextualisierung, die eine Horizontabhebung gegenüber der ursprünglichen These Barths impliziert: Betrachtete Barth den Atheismus in seiner Religionstheorie als ein Phänomen, das sich vorzugsweise mit „säkularen Autoritäten und Mächten“85 verbünde und sich im „Kampf“86 gegen die Religion befinde, ordnet Miskotte den Atheismus in seiner spezifisch zeitgenössischen nihilistischen Ausprägung als negative Kehrseite der Heiligung des Namens ein. Damit behauptet Miskotte im Gegensatz zu Barth eine produktive Verbindung zwischen dem Atheismus als immanenten Widerspruch der Religion und der Heiligung des Namens Gottes und entwickelt von daher Ansatzpunkte zu einer theologischen Würdigung des Nihilismus.87 Die Entdeckung, dass der – henotheistische88 – Glaube Israels produktiv mit dem Atheismus verbunden ist, dass sich also (biblischer) Glaube und Atheismus nicht notwendigerweise zu widersprechen 82 83 84 85 86 87
Ebd. AaO., 20. Ebd. Barth, KD I/2, 351. Ebd. Theologische Würdigungen des Atheismus sind keinesfalls ein Spezifikum Miskottes. Auch Bonhoeffer spricht beispielsweise außer von einer „religiös-christlich verbrämten Gottlosigkeit, die wir eine hoffnungslose Gottlosigkeit nannten“ auch von einer „verheißungsvolle[n] Gottlosigkeit, die antireligiös und antikirchlich spricht“; vgl. D. Bonhoeffer, Ethik, hg. v. I. Tödt/ H.E. Tödt/E. Feil/C. Green (Dietrich Bonhoeffer Werke, hg. v. E. Bethge, Bd. 6), München 21989. 88 Henotheismus meint die Hinwendung zu einem Gott in einem pluralistischen Kontext.
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brauchen, dient Miskotte dazu, das ihn beschäftigende Phänomen des modernen Nihilismus zunächst rein religions- oder kulturwissenschaftlich einordnen zu können. Anzumerken ist schließlich bezüglich dieses zweiten Schritts Miskottes ausdrücklich, dass Barths theologische Bestimmung der Religion als Unglaube im ersten Teil seines Doppelschrittes im Gegensatz zu dessen kulturwissenschaftlichem zweiten Teil von Miskotte nicht rezipiert wird! Der dritte Schritt Miskottes bietet eine dreiteilige zusätzliche Erweiterung der in den ersten beiden Schritten begonnenen Nihilismusanalyse. Nun unterscheidet Miskotte religionsphänomenologisch zwischen einem echten und einem unechten Nihilismus und bezieht die Erfahrungen der modernen Literatur in seine diesbezüglichen Überlegungen mit ein: Als Vertreter des echten Nihilismus figuriert insbesondere Friedrich Nietzsche. Sein Denken sei als eine vor allem intellektuelle Reaktion auf ein Christentum anzusehen, das durch den Subjektivismus des modernen Denkens befangen gewesen sei und sich nicht auf die „glutvollen, geladenen Negationen“89 eingelassen habe, die mit der Grundstruktur der Bibel gegeben seien und die zur Aufhebung der Autonomie des menschlichen Geistes führten. Sprach Barth davon, dass der Atheismus außer zu neuen Religionsbildungen „nirgendswohin“90 führe, so stellt Miskotte bezüglich des echten Nihilismus fest, dass er sehr wohl „irgendwo“91 hinführe, nämlich zu der von Miskotte als unausweichliche „erbauliche[…] Wendung“ qualifizierten Erkenntnis, dass man als Mensch die „Erlaubnis ergreifen“92 müsse, „zu verstehen“, dass man „verstanden wird, erkannt ist, erwählt ist“93, also zu der oben von mir angesprochenen Barthschen Umkehrung des erkenntnistheoretischen Ausgangspunktes, der in der Reprise in der ersten Umkehrung Miskottes gleichsam als der zweite Ton erscheint. Den von Barth entlehnten, nunmehr in der zeitgenössischen nihilistischen Erfahrung aufklingenden erkenntnistheoretischen Subjektwechsel verbindet Miskotte an dieser Stelle mit dem ebenfalls bei Barth gefundenen Grundgedanken der Neuprädikation, demzufolge sich der Bedeutungsinhalt der allgemeinen menschlichen Prädikate bei der Bestimmung des Göttlichen als einer Besonderheit verschiebe. Gerade eine vom Alten Testament her vollzogene Neuprädikation mache den Nihilismus überflüssig, wie im zweiten Teil von Wenn die Götter schweigen noch ausführlicher dargestellt werden wird. Vom echten Nihilismus unterscheidet Miskotte die seines Erachtens weniger entschlossene und weniger ernsthafte, doch menschlichere und wärmere Variante des stärker erfahrungsbezogenen unechten Nihilismus. Diese un89 90 91 92 93
AaO., 23. Barth, KD I/2, 352. Miskotte verwendet diesen Ausdruck mehrmals; vgl. Miskotte, Wenn die Götter, 24. AaO., 24. Ebd.
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346 Barth-Rezeption als Sinngebung des Sinnlosen bei Kornelis H. Miskotte echte Variante des Nihilismus erweise sich bei näherer Betrachtung aufgrund ihrer größeren Popularität und ihrer ambivalenten, zweifelnden Grundhaltung als der wirkliche Nihilismus und bilde als solcher ein Pendant zur (nicht wahren) Religion. Somit stelle insbesondere der unechte Nihilismus ein Beispiel für die von Barth entlehnte These von der Ambivalenz und Unvergänglichkeit der Religion dar. Gerade diese Variante illustriere den immanenten Widerspruch der Religion. Die erstgenannte echte, intellektuelle Variante des Nihilismus habe hingegen außer in der Philosophie Nietzsches gerade auch in der modernen Literatur ihren besonderen Ausdruck gefunden. Diese Literatur sei als ein Spiegel der Abwesenheit Gottes zu betrachten und die modernen Autoren als deren „Zeugen“94. In den Romanen von FranÅoise Sagan etwa gehe es „um die Abwesenheit Gottes unter dem Gesichtspunkt der Unmöglichkeit für den Menschen, hic et nunc selber real zu sein, real zu sein und sich selber real zu nehmen“95. Die zwischenmenschliche Leere werde von einem „Wetterleuchten des Selbst“96 durchschienen, welches auf die Möglichkeit einer Anwesenheit hinweisen könne. Ebenso könne man die Abwesenheit Godots in Samuel Becketts Warten auf Godot im Fluchtpunkt der Dimension von Gegenwart – beispielsweise als „Kraft“97 zu einer „,positiven‘ Erwartung“98 – interpretieren. Da in der modernen Literatur jeglicher Lebenssinn geleugnet werde, beende sie die Ambivalenz der Religion oder des (unechten) Nihilismus, weise aber auch über ihren eigenen Nihilismus hinaus: In La Chute von Albert Camus weise beispielsweise die Schuld des modernen Helden auf die Gemeinschaft der Schuldigen hin. Die Anwesenheit der Schuld könne man als „Reflex“99 verstehen, und zwar nicht als Reflex einer allgemeinen Gegenwart (Allgegenwart), sondern als Reflex der besonderen Gegenwart dessen, der alle Schuld getragen und aufgehoben habe. Betrachtet Miskotte also den unechten Nihilismus als Pendant zu einer unwahren Religion, erweisen sich der echte Nihilismus und die moderne Literatur als Verweise auf die Abwesenheit eines Anwesenden und bezeugen so im Sinne einer negativen Kehrseite die Theophanie des Namens. Im vierten Schritt untersucht Miskotte den Humanismus und das aktuelle Christentum als zeitgenössische Alternativen zum Nihilismus und erweitert damit wiederum seine Nihilismusanalyse. Als Stimme des Menschen angesichts des Schweigens der Götter sei der Humanismus als Widerstand gegen den vierten Menschen aufzufassen und mit Barth positiv100 zu bewerten. Seine
94 95 96 97 98 99 100
AaO., 33. AaO., 34. Ebd. AaO., 35. Ebd. AaO., 37. Miskotte weist bezüglich Barths positiver Einstellung zum Humanismus auf Barth, KD III/2,
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„Wankelmütigkeit“101 erinnere aber an die Wankelmütigkeit jeder Religion und führe mithin nicht aus deren Problematik heraus. Gegenüber aktuellen christlichen Positionen sei zudem die strukturelle Notwendigkeit des „Übergang[s] der Religion zum Nihilismus“102 zu betonen. Der Nihilismus solle weder – wie etwa bei Romano Guardini – christlich-liberal überboten, noch konservativ-christlich im Namen Gottes negiert werden. Vielmehr müsse man sich mit Barths Römerbrief103, der ja sowohl von liberaler als auch von orthodoxer Seite wegen seiner Negativität kritisiert worden sei, klar machen, dass in dessen Negationen der besondere, positiv auf die Liebe zum lebendigen Gott bezogene Nihilismus der Propheten aufklinge. Die aktuelle Relevanz des Römerbriefs bestehe insbesondere im Protest gegen das konservativ-christliche Festhalten am „christlich-religiösen Bestand“104. Demgegenüber hätten aktuelle humanistische Positionen – neben Guardini nennt Miskotte unter anderen105 Eugen Rosenstock-Huessy – zumindest deutlicher das dem Nihilismus zugrundeliegende Problem des Endes der Neuzeit erfasst. In einem fünften – für sein Anliegen meines Erachtens methodisch entscheidenden – Schritt bietet Miskotte schließlich einen eigenen Vorschlag zum sinnvollen theologischen Umgang mit dem Phänomen des Nihilismus. Es geht um den Versuch, eine Verbindung zwischen der in der modernen Literatur artikulierten Erfahrung der Abwesenheit einer Anwesenheit und der theologischen Rede von der Verborgenheit Gottes als einem Aspekt seiner Offenbarung zu legen. Als Ansatzpunkt für diesen Versuch dient Miskotte Martin Bubers Schrift Gottesfinsternis106, in der der moderne Nihilismus und das Alte Testament aufeinander bezogen werden. Nach Buber habe das aktuelle menschliche Denken das Licht Gottes abgeblendet oder verdunkelt, und Gott sei auch unserer Erfahrung entfremdet worden. Doch, so die für Miskotte entscheidende Einsicht Bubers, man könne diese aktuelle oder gar prinzipielle menschliche Erfahrung in Anschluss an Jes. 45, 15 auch als ein sich Verbergen Gottes selber deuten. Interpretiere man die Verborgenheit Gottes im Sinne eines genitivus subjectivus, also als einen Akt Gottes, befinde man sich (wieder) im „Kraftfeld“107 des Wortes und komme bezüglich des Nihilismus zu „fröhlicheren“108 Einsichten, ja zu einer für die Wirkkraft des Wortes Gottes
101 102 103 104 105 106 107 108
329–344 und Barths Streitschrift gegen Brunner hin. Vgl. K. Barth, Nein! Antwort an Emil Brunner, TEH 14, 1934. AaO., 56. AaO., 48. Vgl. auch die oben bereits genannten Römerbriefzitate. Vgl. 46ff. Miskotte bezieht sich auch auf den m.E. nicht als humanistisch einzuordnenden Ernst Jünger. Vgl. M. Buber, Gottesfinsternis. Betrachtungen zur Beziehung zwischen Religion und Philosophie, Zürich 1953. Buber schrieb das Buch im Kontext der Situation nach Auschwitz. AaO., 58. Ebd.
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348 Barth-Rezeption als Sinngebung des Sinnlosen bei Kornelis H. Miskotte typischen „Entspannung und Fröhlichkeit“109. Die Interpretation der Verborgenheit Gottes als Akt Gottes entspräche einem Glaubensbekenntnis, ergänzt durch das Entdecken des Schweigens der Götter als sekundäre Anerkenntnis Gottes. Die Fröhlichkeit eines derartigen Glaubens ergebe sich, weil die Verborgenheit Gottes nicht mehr als negativ geladene Dramatik in Bezug auf Besitzen und Begehren des Geheimnisses unseres Daseins erfahren werden müsse, sondern als eine mit Erinnerung und Verheißung umgebene Anwesenheit einer Abwesenheit erfahren werden könne. Zu vermuten ist, dass für Miskotte bei diesem von Buber inspirierten Subjektwechsel auch der Grundgedanke Barths eine Rolle spielt, nach dem die allgemeinen menschlichen Bestimmungen Gottes eine andere Bedeutung erhalten, wenn man sie als die besonderen Bestimmungen Gottes selber auffasst. Konkret wird der Bezug zu Barth an dieser Stelle allerdings nicht durch den Gedanken dieser Neuprädikation, sondern durch den Hinweis auf einen dem § 27 der Kirchlichen Dogmatik (Die Grenzen der Erkenntnis Gottes) entnommenen Abschnitt110 aus Barths Lehre von der Erkenntnis Gottes. Barth erläutert hier, dass der Anfang der Erkenntnis Gottes als ein Anfang Gottes mit dem Menschen anstatt umgekehrt als ein Anfang des Menschen mit Gott aufzufassen sei. Doch lässt sich Miskottes Gedankengang wohl am besten interpretieren, wenn man den gesamten § 27 vor Augen hat: Geht es Barth in diesem Paragraphen um die Teilnahme menschlicher Erkenntnis an der Selbsterkenntnis Gottes, die sich auf einem teleologisch-dialektischen Weg von Seiner Verborgenheit als Anfangspunkt zu Seiner Enthüllung als Zielpunkt im Sinne eines in sich geschlossenen Kreises vollzieht, nimmt Miskotte den Menschen mit seiner Wendung zur Verborgenheit Gottes im Sinne eines genitivus subjectivus gleichsam mit zum Anfangspunkt dieses Weges der Selbsterkenntnis Gottes, nämlich zur Teilnahme am Anfang der Erkenntnis Gottes als Erkenntnis Seiner Verborgenheit. Haben sich die bisherigen Schritte Miskottes als nähere Ausführungen zu der oben aufgestellten ersten These über die kontextuell vermittelte Erfahrungsbezogenheit der Offenbarung erwiesen, finden sich in diesem methodisch entscheidenden fünften Schritt zusätzlich einige Ausführungen zu der von mir oben aufgestellten zweiten These über die auch individuelle, persönliche Erfahrbarkeit der Offenbarung. Es kommt Miskotte im Folgenden darauf an, den entscheidenden Subjektwechsel hinsichtlich der Verborgenheit und die damit verbundene Heilkraft des Wortes gegenüber bestimmten menschlichen Erfahrungen nicht nur mit theologischen, sondern auch mit „rein historisch[en]“111 Einsichten, also im Rahmen einer auch kulturwissenschaftlich möglichen Erkenntnis, zu begründen. Das Denken des westlichen Menschen habe sich nun einmal sowohl in Verwandtschaft als auch in 109 AaO., 59. 110 Miskotte bezieht sich auf Barth, KD II/1, 213ff. 111 AaO., 59.
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Gegnerschaft zum Wort entwickelt, und in der Philosophie habe man den Glauben nicht als direkte Kommunikation mit dem göttlichen Sein sondern als ein diesbezügliches Gehörgeben verstanden. Eine Gewissheit vom Sein Gottes könne, etwa nach Jaspers, zwar eine Voraussetzung, doch nie ein Ergebnis der Philosophie sein. Der biblische Fundamentalbegriff des Wortes und die Auffassung von der Schrift als einem Zeugnis vom Wort seien auch für das nichttheologische Denken so etwas wie ein Siegel für dessen Ernst gewesen. Von daher sei das Desinteresse des vierten Menschen an der Schrift und insbesondere am Alten Testament auch auf nicht-theologischer Ebene als katastrophal einzuschätzen. Während Barth die Religion also bewusst aus der Perspektive der Offenbarung betrachtet und von hier aus gesehen auch von der Aufhebung der Religion spricht, betrachtet Miskotte die Wirkmacht der Schrift selber – also mit Barth gesprochen das menschliche Zeugnis vom göttlichen Wort – als eine Möglichkeit, dem Nihilismus theoretisch entgegenzuwirken und diesen durch das Angebot einer befreienden Perspektive auch praktisch erfahrbar aufzuheben. Barths offenbarungstheologischer Ausgangspunkt wird gleichsam mithilfe eines biblisch-literarischen Ausgangspunktes, der auch einer rein kulturwissenschaftlichen Herangehensweise genügen könnte, interpretiert. Ich komme zu Miskottes sechstem und letzten Schritt im Kleine[n] Zeitspiegel. Miskotte bezieht sich nun ausführlich auf den ersten (!) Teil des zweiten Schrittes, die Entlarvung der Religion als Unglaube, und auf den dritten Schritt von Barths Religionstheorie, die Aufhebung der christlichen zu einer wahren Religion. Wie Barth unterscheidet Miskotte zwischen Religion und Glauben. Im Gegensatz zu Barth stellt er aber der unwahren keine wahre Religion gegenüber. Vielmehr ergänzt Miskotte den dritten Schritt Barths ebenfalls mit einer nicht-theologischen, nämlich einer phänomenologischen Religionsanalyse und gewinnt von daher Einsichten über das Verhältnis zwischen Glaube und Religion (Unglaube), die die Gegensätzlichkeit beider Größen gleichsam dekonstruieren: Zunächst dekonstruiert Miskotte das Verhältnis zwischen Glaube und Religion vom Glauben her. Die durchaus bestehende Grenze zwischen Glaube und Religion sei ebenso fließend wie etwa die zwischen Religion und Magie. Sei die Religion phänomenologisch gesehen gemeinschaftsstabilisierend und hänge sie an einer gegenseitigen Ordnung des gott-menschlichen Verhältnisses, erweise sich Glaube immer als eine störende Macht und hänge er nur an der freien Zuwendung Gottes. Von dieser Einsicht ausgehend könne man dann entweder wie C.G. Jung zu einer „psychologischen Gleichschaltung“112 oder wie K. Barth zu einer „theologischen Einebnung“113 beider Größen kommen. Zu beachten sei allerdings, dass Barths theologische Bestimmung der Religion als Unglauben kein negatives Urteil über menschliches, christliches oder bibli112 AaO., 74. 113 Ebd.
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350 Barth-Rezeption als Sinngebung des Sinnlosen bei Kornelis H. Miskotte sches Wollen darstelle, sondern vielmehr die unbeweisbare Einsicht ausdrücke, dass die Offenbarung sich als Krisis jeder Religion erweise. Dem entspreche religionsphänomenologisch gesehen, dass gerade der Gläubige immer wieder feststelle, nur aus dem Unglauben zum Glauben kommen zu können. Die Religion, so Miskotte, könne zwar religiöse Neubildungen erzeugen, sei aber als solche unüberwindbar. Entsprechend zeichnet sich an dieser Stelle ein weiterer Unterschied zwischen Barth und Miskotte ab, nämlich ein Unterscheid in Bezug auf den Namen Gottes als kritischen Maßstab für jede Religion. Zwar erkennt Miskotte diesen Maßstab als solchen an und kann sich insofern auch dem dritten Schritt Barths anschließen. Doch endet dieser Schritt für Miskotte nicht mit dem (wenn auch selbstkritisch gemeinten) Hinweis auf die Möglichkeit des Wahrwerdens gerade der christlichen Religion, sondern mit einer Warnung vor der Gefahr einer jeglichen wahren (etablierten) Religion. Auch der Name Gottes, so Miskotte, könne religiös werden und damit seine Kraft als kritischer Maßstab auch verlieren: „Seit dem Augenblick aber, in dem auch der ,Name‘ religiös wird, gehört er mit zu den Ursachen des Zerfalls der Werte“114. Miskotte führt den namenstheologischen ideologiekritischen Ansatz Barths bezüglich des christlichen Glaubens also wesentlich radikaler als dieser weiter, indem er ihn auch auf den Namen Gottes selbst bezieht. Entsprechend räumt er menschlichen Zweifeln einen großen Raum ein und nimmt eine Haltung des „Abwartens“115 ein. Auf vergleichbare Weise hinterfragt und dekonstruiert Miskotte aus phänomenologischer Perspektive sodann den Gegensatz zwischen Glaube und Religion (Unglauben) von der zweiten Größe, der Religion (Unglauben) her. Der sich am Wort orientierende störende Glaube befinde sich nämlich wegen seines negierenden Elements phänomenologisch gesehen in enger Verwandtschaft zum Nihilismus als einer Form des immanenten Widerspruchs der Religion. Phänomenologisch gesehen könne der Glaubende auch nie ausmachen, ob er glaube oder nicht. Gott sei gerade auch dem Glaubenden immer unerreichbar und unerkennbar und liefere weder religiösen Besitz noch eine unmittelbare Verheißung. Trotz der Verwandtschaft des Glaubens mit dem Unglauben gehe der Glaube aber anders als der Nihilismus von einer Vermutung aus, nämlich dass der Name den Menschen ins Leben sende und ihm gerade im gewöhnlichen – nicht im religiösen – Leben einen Ort gebe. Indem der Name nicht auf eine neue Weltanschauung, sondern auf das Leben hinweise, sei der Glaube letztlich – mit dem entsprechenden ideologiekritischen Vorbehalt – eine verheißungsvolle Macht. Mit positivem Bezug auf Martin Heidegger spricht Miskotte an dieser Stelle auch von einer „,Geborgenheit im Glauben als einer eigenen Weise, in der Wahrheit zu stehen‘“116. 114 AaO., 77. 115 AaO., 78. 116 AaO., 80. Miskotte zitiert hier aus M. Heidegger, Einführung in die Metaphysik, Tübingen 1953, 6.
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Barths Religionsbegriff
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Obwohl Miskotte eine sowohl auf den Namen Gottes selbst als auch auf den christlichen Glauben bezogene starke Religions- und Christentumskritik betreibt, nimmt er keinesfalls die distanzierte Haltung eines Zuschauertheologen ein. Vielmehr geht es ihm um eine Standortsuche auf der dynamischen Linie des christlichen Bekenntnisses. Es sei mit Barth117 positiv hervorzuheben, dass die Kirche von Anfang an den Namen Gottes mit dem Namen Jesu Christi identifiziert habe, was aber nicht mit der Etablierung einer im Sinne eines gerechtfertigten Sünders wahren Religion verwechselt werden sollte. Von dieser Identifizierung her ergebe sich für einen christlichen Standpunkt, der einerseits an der Einheit von Kirche und Synagoge festhalten wolle und der andererseits keine Judenmission oder eine Verwerfungs- oder Substitutionstheologie vertreten wolle, die Frage, wie man Israel dann überhaupt begegnen solle. Aufgrund der Identifikation des Namens Jesu Christi mit dem Namen Gottes stelle sich mit anderen Worten die Frage nach dem Sinn des Alten Testaments. Miskottes Antwort auf diese Frage erweist sich trotz des gemeinsamen Anliegens mit Barth, an der Einheit von Kirche und Synagoge118 festzuhalten, nicht länger nur als eine religionsphänomenologische Ergänzung des dritten Schritts der Barthschen Religionstheorie, sondern als eine Verschiebung und Revision des Barthschen Schritts: Denn das Bekenntnis zur christlichen Religion ist für Miskotte keine Antwort auf eine Wahrheitsfrage, sondern viel relativer als Antwort auf eine durch „Herkunft“119, „Ort“120 und „Berufung“121 gegebene Standortfrage zu verstehen. Rezeptionsästhetisch gesehen lässt sich am Ende dieses Abschnitts zusammenfassend feststellen, dass Barths Theologie für Miskotte eine Herausforderung im Kontext des modernen Nihilismus darstellte und dass er durch die diesbezügliche Rekontextualisierung des Barthschen Ansatzes auch neue Bedeutungen dieser Theologie hervorbrachte. Barths Standpunkt erwies sich für Miskotte als eine Position neben anderen, auch nicht-theologischen Positionen, um das Problem des modernen Nihilismus zu analysieren. Miskotte verlieh Barth also durchaus die Bedeutung eines Zeit- und Kulturdiagnostikers, doch setzte er die anhand seiner Barthlektüre gewonnenen theologischen Einsichten nicht so sehr zur Verteidigung einer spezifisch christlichen oder konfessionellen Wahrheit ein, sondern benutzte sie zur Weiterentwicklung eines eigenen biblisch-kulturell orientierten Standpunktes im Gespräch mit anderen, sowohl theologischen als auch nicht-theologischen Standpunkten. Miskotte akzeptierte somit deutlicher oder ausgesprochener als Barth den pluralistischen Kontext, innerhalb dessen er sich mit der eigenen christlichen Tradition auseinandersetzte. 117 118 119 120 121
Miskotte weist aaO., 85 auf Barth, KD IV/1, 749. Miskotte weist auf Barth, KD II/2, 215ff hin. AaO., 84. Ebd. Ebd.
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352 Barth-Rezeption als Sinngebung des Sinnlosen bei Kornelis H. Miskotte
9.3 Miskotte als Kulturtheologe I: Die phänomenologische Methode In der niederländischen Miskotteforschung gilt Miskotte nicht nur als einer der wichtigsten Rezipienten der Theologie Karl Barths, sondern auch als ein Kulturtheologe, und zwar genauer gesagt als „,Kulturprotestant‘, aber dann ganz eigener Art“122, der sich vor allem mit einer noch zukünftigen – lies: anstatt der bestehenden, tendenziell unterdrückerischen – Kultur verbunden wisse. Unbeantwortetblieb in der Forschung aber bislang die Frage, worauf sich diese Qualifizierung genau gründet und inwiefern sich darin der spezifische Unterschied zur Theologie Barths spiegelt. Bekannt ist, dass Miskotte sich bereits in der Zeit seines ersten Pfarramts für einen humanistisch geprägten Sozialismus einsetzte. Zudem kann man anhand der Publikationen und der Tagebucheintragungen Miskottes feststellen, dass dieser tatsächlich ein überaus großes Interesse an der modernen und zeitgenössischen Kultur im engeren Sinne hatte. Neben der Poesie (Goethe, Rilke, HenriÚtte Roland Holst) und Philosophie (Nietzsche, Heidegger) galt sein Interesse insbesondere der zeitgenössischen Literatur (Th. Mann, französischer Existentialismus123) und der jüdischen Religionsphilosophie (Rosenzweig, Buber), aber auch der darstellenden Kunst und der Musik. Diese vielfältigen kulturellen Interessen verband Miskotte immer wieder auf spezifische Art mit seinem von der Theologie Barths wesentlich mitgeprägten theologischen Interesse. Spricht man von einer Kulturtheologie Miskottes, betrifft das meines Erachtens in erster Linie die genaue Art und Weise, in der diese Verbindungen in seinem theologischen Denken zustande kommen. Meine Analyse des Kleine[n] Zeitspiegels machte exemplarisch deutlich, dass Miskotte von der – hier vor allem in der zeitgenössischen Literatur gespiegelten – menschlichen Situation ausgeht, der er das Wort Gottes als ein in dieser Situation sich als befreiend erweisendes und als befreiend erfahrbares Wort gegenüberstellt. Als Auffälligkeit von Miskottes Rezeption der Religionstheorie – und, wie unten noch gezeigt werden soll, auch der theologischen Zeitlehre – Barths konnte formal festgestellt werden, dass Miskotte sich zwar jeweils auf den zweiten und dritten Abschnitt der entsprechenden Paragraphen der Kirchlichen Dogmatik, nicht jedoch auf deren ersten Abschnitt bezieht, in dem Barth seinen offenbarungstheologischen Ansatz expliziert. Diese 122 Vgl. Boer, Protest, 213. Die These Boers wurde vom niederländischen katholischen Theologen Erik Borgman wieder aufgenommen. Während Boer sie vor allem in Hinsicht auf Miskottes sozialistisches Engagement hin ausgearbeitet hat, wendet Borgman sie in Bezug auf die negative Theologie und deren Relevanz in einem postmodernen Zeitalter an; vgl. E. Borgman, Theologie in de postmoderniteit. Als de goden zwijgen als cultuurtheologie, in: G.C. den Hertog/G.W. Neven (Hg.), Miskotte. Hoofdlijnen van zijn theologie, Kampen 1994, 127–148. 123 Barth hat sich ausführlich mit Sartre als einem Vertreter des zeitgenössischen Existentialismus beschäftigt, zwar nicht in seiner Religionstheorie, aber im Zusammenhang mit der Rede vom Nichtigen in § 50 von KD III/3.
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Miskotte als Kulturtheologe I
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von Miskotte nicht weiter thematisierte Auslassung ist meines Erachtens keinesfalls zufällig. Vielmehr spiegelt sich darin der spezifische Unterschied zwischen der Theologie Barths und der Theologie Miskottes. Denn Miskotte setzt mit seinen theologischen Reflexionen nicht nur explizit in der zeitgenössischen menschlichen Situation – dem Kontext – an, sondern er verzahnt die Situationsanalyse mit Hilfe der phänomenologischen Methode auf spezifische Weise mit ihrem Gegenpol, der göttlichen Offenbarung. Um die Funktion der phänomenologischen Methode für Miskottes kulturtheologisches Denken und die spezifische Verzahnung124 von „Situation“ (beziehungsweise Erfahrung oder Kontext) und „Offenbarung“ besser verstehen zu können, möchte ich mich im Folgenden auf seinen Beitrag De opdracht der exegese (Der Auftrag der Exegese)125 beziehen, in dem er die phänomenologische Methode wesentlich systematischer als in Wenn die Götter schweigen darlegt. In De opdracht der exegese legt Miskotte seine Methode anhand seines Umgangs mit Bibeltexten dar, die er methodisch gesehen von nicht-biblischen Texten nicht unterscheidet. Die prinzipielle Vergleichbarkeit biblischer und nicht-biblischer Texte ergibt sich seines Erachtens aus der inkarnationstheologischen Einsicht, dass das Wort Gottes (im Sinne von Offenbarung) „in die Gestalt geschriebener Menschenworte“126 „eingegangen“127 sei. Ein Durchgang durch den Beitrag macht deutlich, dass Miskotte einen Text in drei zu unterscheidenden, aber zusammenhängenden Schritten interpretieren will. Der erste Schritt ist das einfache Betrachten der Worte und deren Erforschung im Sinne der historisch-kritischen Methode. Diese wird von Miskotte mit wiederholter Berufung auf Karl Barth voll und ganz anerkannt. Der dritte und letzte Schritt ist die theologische Exegese, die im Hören auf den formal gesehen vorausgesetzten Sinn der Worte besteht. Wiederum fühlt sich Miskotte unter anderem der dialektischen Theologie zu Dank verpflichtet: Sie habe die Grenzen der historisch-kritischen Betrachtungsweise durchbrochen, die Bedeutung der vorwissenschaftlichen so genannten priesterlichen Exegese relativiert und Raum für das dogmatisch und philosophisch voraussetzungslose Hören auf das Wort Gottes geschaffen. Zwischen Betrachten und Hören schiebt Miskotte dann als zweiten Schritt das Sehen, das heißt die phänomenologische Exegese128. Mit deren Hilfe soll das historisch-kritische 124 Ein Vergleich mit der Methode der Korrelation von Paul Tillich wäre an dieser Stelle lohnend. 125 K.H. Miskotte, De opdracht der exegese, in: Ders., Om het levende woord. Opstellen over de praktijk der exegese, ’s Gravenhage 1948, 7–114. 126 AaO., 9. 127 Ebd. 128 Es ist zu beachten, dass der Ausdruck phänomenologische Exegese nach Gerrit G. de Kruif wohl „keinen allzu stringenten philosophischen Gedankengang“ meine, sondern Miskottes „natürlicher Anlage einen Namen“ gibt. Diese sei als „Begabung zur Einfühlung“ zu verstehen, das Wesentliche und Unteilbare eines Phänomens zu erfassen; vgl. De Kruif, Phänomenologische Kulturbetrachtung, 11.
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354 Barth-Rezeption als Sinngebung des Sinnlosen bei Kornelis H. Miskotte Betrachten der Worte derart erweitert werden, dass es schließlich zu einem theologischen Hören des Textsinns kommen kann. Um das durchaus auch umkehrbare, auch wechselseitige Verhältnis von Betrachten und Hören zu bestimmen, bezeichnet Miskotte den „Weg der Worte zum Sinn und [den] Weg vom Sinn zu den Worten“129 in Anlehnung an die Formulierungen des Dogmas von Chalcedon als „ungetrennt-ungeschieden“130. Die zwischen Wort und Sinn vermittelnde phänomenologische Methode zielt darauf ab, den Sinnoder Offenbarungsgehalt nicht idealistisch hinter dem Text, sondern immanent in den Textstrukturen und den Zusammenhängen der beim Betrachten gefundenen Grundworte zu suchen. Sie will mittels der Vereinfachung oder auch Reduktion der in den Worten des Textes gefundenen Vielfalt die dem Text immanente Tendenz zur Einheit aufspüren und geht vom hinweisenden Gleichnischarakter der Sprache überhaupt aus. Der Text selber verweist auf seinen Sinn, den er zugleich voraussetzt. Als die spezifische Aufgabe der phänomenologischen Methode ergibt sich nach Miskotte die so genannte Übersetzung oder auch Transposition der Wortzusammenhänge des Textes in eine andere, nämlich theologische Tonart mit Hilfe vom Übersetzer zu entwickelnder „Äquivalente“131 für die beim Betrachten gefundene und transparent gemachte Grundstruktur des Textes. Bezieht man diese Gedanken auf Miskottes Analyse im Kleine[n] Zeitspiegel, kann man dessen methodisch entscheidenden fünften Schritt nun genauer als Anwendung der phänomenologischen Methode und als ein Beispiel für die mit dieser Methode gemeinte Arbeit der Übersetzung beziehungsweise Transposition bezeichnen. Auch die im sechsten Schritt der Analyse Miskottes vorgenommenen Dekonstruktionen gegensätzlicher Größen wie Glaube und Religion (Unglaube) können nun in Miskottes eigener Wortwahl umschrieben und als Beispiele derartiger Übersetzungs- beziehungsweise Transpositionsarbeit bezeichnet werden. Zwar handelt es sich beim letzten Beispiel nicht um eine vergleichende Gegenüberstellung verschiedener Textbestände, doch geht es ebenfalls um eine Verzahnung von Verschiedenem: dogmatisch gesehen gegensätzliche Begriffe werden vergleichbar gemacht – relativiert – und einander angenähert. Miskotte hat die phänomenologische Methode auch in seinem übrigen Gesamtwerk sehr häufig angewandt. Neben den beiden oben genannten Varianten gibt es noch zahlreiche andere. So kam Miskotte mit Hilfe der phänomenologischen Methode in Edda en Thora (1939) zu einem einfachen Vergleich spezifischer Themen beider Textsammlungen, in dem Aufsatz Nietzsche en Barth (Nietzsche und Barth)132 zu einer schlichten Gegenüber129 130 131 132
Miskotte, De opdracht, 44. Ebd. AaO., 50. K.H. Miskotte, Nietzsche en Barth, in: Miskotte, VWM 2, 391–404. Auch Miskottes Aufsatz Barth over Sartre kann als Beispiel für die phänomenologische Methode angesehen werden und
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Keine Zeit für Illusionen
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stellung der Philosophien Nietzsches und Barths. In Wenn die Götter schweigen nahm Miskotte wie oben gezeigt eine regelrechte Transposition des Verborgenheit-Themas von der modernen existentialistischen Literatur über Martin Bubers Religionsphilosophie zur Gotteslehre Karl Barths vor. Trotz der unterschiedlichen Anwendungen bleibt es jeweils das spezifische Ziel der phänomenologischen Methode, die Relevanz des einen Pols im Lichte des ersten und die Relevanz des ersten im Lichte des zweiten einsichtig zu machen, das heißt beide Pole vergleichsweise einander anzunähern und zu relativieren.
9.4 Keine Zeit für Illusionen: Miskottes biblische Hermeneutik In Kapitel 9.2 habe ich im Zusammenhang mit Miskottes Rezeption der Religionstheorie Barths im ersten Teil von Wenn die Götter schweigen betont, dass es Miskotte um die negierende, ideologiekritische Kraft des Namens beziehungsweise der Offenbarung Gottes gehe, die gerade auch in der Situation des modernen, nihilistischen Menschen befreiend erfahrbar sei. Anhand dieser These habe ich untersucht, wie Miskotte das Verhältnis von Offenbarung und Erfahrung gestaltet. Dabei habe ich unterstrichen, dass es dem Autor um erfahrungsbezogene Umkehrungen der bei Barth gefundenen Vorordnung des Offenbarungs-Pols gehe, die sich auch als Dekonstruktion der Gegensätzlichkeit beider Pole auffassen lasse. In diesem Abschnitt wende ich mich nun dem zweiten Teil von Wenn die Götter schweigen zu, in dem Miskotte seine biblische Hermeneutik ausführlich entfaltet. Der Grundgedanke ist hier, dass gerade eine alttestamentlich inspirierte Interpretation des Namens zu oben genannter befreiender Erfahrung beitrage. Bei der Darstellung von Miskottes Hermeneutik werde ich mich wiederum auf den Gesichtspunkt ihrer BarthRezeption konzentrieren. Wie schon im Kleine[n] Zeitspiegel hat Barths Gedankengang einerseits eine tragende Bedeutung für Miskottes Entwurf, wird aber andererseits auch auf ganz eigene Weise vielfältig weitergeführt und kreativ angewandt. Zunächst setzt Miskottes hermeneutischer Entwurf – wenn auch ohne expliziten Bezug – Barths Auffassung von der dreifachen Gestalt des Wortes voraus. Unterschied Barth im § 4 der Prolegomena zur Kirchlichen Dogmatik, also in Band I/1, in Erinnerung an Luther und in teilweiser Abgrenzung gegen die protestantische Orthodoxie drei zusammenhängende Gestalten des einen Wortes Gottes, nämlich das in der Kirche verkündigte, das in der Heiligen Schrift geschriebene und das (von der Kirche verkündigte und von der Bibel bezeugte) offenbarte Wort Gottes, so unterscheidet Miskotte entsprechend, aber in variierter Reihenfolge das Ereignis des WORTES Gottes (= Offenbabietet mithin ein Beispiel dafür, wie Miskotte sich in seinem Anliegen auch von Barth inspiriert fühlt; vgl. Miskotte, Barth over Sartre, in: Miskotte, VWM 2, 153–169.
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356 Barth-Rezeption als Sinngebung des Sinnlosen bei Kornelis H. Miskotte rung, Name Gottes), das Wort vom WORT (= das menschliche Zeugnis vom Wort Gottes: bei Barth die Verkündigung der Kirche, bei Miskotte expliziter auch die Verkündigung der Propheten133) und „das Wort über das Wort von dem WORT“134 (= die Heilige Schrift). Im Licht früherer Beobachtungen betrachtet überrascht diese Variation keinesfalls. Denn wiederum lässt Miskotte etwas von Barth zuerst Genanntes zunächst aus und fügt es später, in diesem Fall am Ende, wieder ein. So wird von Anfang an deutlich, dass das von den Propheten verkündigte Wort zur Verkündigung der Kirche gehört. Hierzu passend lassen sich weitere Variationen beobachten: Interpretiert Barth das eine Wort Gottes neutestamentlich vom Johannesprolog her, versteht Miskotte es alttestamentlich vom unaussprechlichen Namen Gottes her. So bieten beide Theologen eine unterschiedliche Herangehensweise an den sie verbindenden Gedanken, dass der unaussprechliche Name Gottes und der Name Jesus Christus identisch seien. Zudem betrachten beide Theologen die Lehre von der dreifachen Gestalt des Wortes Gottes als eine Hilfe, eine einfache Identifikation der Bibel mit der Offenbarung auszuschliessen. Hierbei steht für Miskotte aufgrund seines spezifischen Kontextes der Ausschluss einer einfachen Identifikation des Neuen Testaments mit der Offenbarung im Vordergrund: Solange wir von der Idee ausgehen, dass wenigstens das Neue Testament Offenbarung ist – und davon gehen, mit wechselndem Offenbarungsbegriff, alle aus, Fundamentalisten wie Spekulative, Rationalisten wie Moralisten – solange wird es in Kirche und Welt bei der Unsicherheit gegenüber dem Alten Testament bleiben. Von einem solchen verwestlichten, verflachten Begriff von „Offenbarung“ nun kann gerade der Befund des Alten Testaments uns befreien, indem er uns die Erkenntnis nahelegt, dass kein Menschenwort als solches Offenbarung ist, das profane so wenig wie das sakrale, das neutestamentliche so wenig wie das alttestamentliche, die Sprache der Priesterschrift so wenig wie das Wort der großen Schriftpropheten. Weder der Bericht von Gott noch der Gottesspruch kann den NAMEN aussprechen, repräsentieren, geschweige denn ersetzen.135
Bildet Barths Lehre von der dreifachen Gestalt des Wortes in Wenn die Götter schweigen einen nur impliziten Ausgangspunkt der biblischen Hermeneutik 133 Während es bei Barth um die Verkündigung des geschriebenen Wortes in der Predigt geht, geht es bei Miskotte an dieser Stelle allerdings auch um die Verkündigung des (beispielsweise den Propheten) offenbarten Wortes. Damit variiert Miskotte nicht nur die Reihenfolge der drei Gestalten des Wortes Gottes, sondern auch die inhaltliche Bedeutung des menschlichen Zeugnisses vom Wort Gottes. Dies hat aber insofern doch einen direkten Anknüpfungspunkt bei Karl Barth, als dieser im Zusammenhang mit der zweiten Gestalt des Wortes, dem in der Heiligen Schrift geschriebenen Wort, anerkennt, dass es sich bei diesem „nicht primär sondern erst sekundär um Schrift handelt: Sie [sei] selbst der Niederschlag einst geschehener Verkündigung durch Menschenmund“; vgl. Barth, KD I/1, 104. 134 AaO., 119. 135 AaO., 115.
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Miskottes, so ist der explizite und zugleich grundlegende Ausgangspunkt dieses fast dreihundertseitigen, zweiten Teil des Buches Barths theologische Lehre von der Zeit der Offenbarung im § 14 (Die Zeit der Offenbarung) der Kirchlichen Dogmatik I/2. Zusammen mit Barths Religionstheorie bildet Barths Zeitlehre den Kern der Barth-Rezeption Miskottes. Miskotte folgt zunächst Barths Unterscheidung dreier Zeiten, nämlich der erfüllten Offenbarungszeit (§ 14.1), dem „Ereignis der Gegenwart Jesu Christi“136, deren vom Alten Testament bezeugter Vorzeit, der Zeit der Erwartung (§ 14.2), und deren vom Neuen Testament bezeugter Nachzeit, der Zeit der Erinnerung (§ 14.3). Als Auffälligkeit137 sei ausdrücklich vermerkt, dass sich Miskottes aktive, explizite Rezeption genau wie in der Religionstheorie nur auf den zweiten und dritten Abschnitt des § 14 bezieht. Wiederum wird also Barths offenbarungstheologische Einleitung ausgelassen, was in diesem Fall meines Erachtens dem doppelten spezifischen Interesse Miskottes entspricht, erstens stärker noch als Barth die Bedeutung des Alten Testaments im Verhältnis zum Neuen Testament hervorzuheben und zweitens von daher zu einer alttestamentlichen Interpretation der Offenbarung zu kommen. Wie oben bereits gesagt, identifiziert Miskotte zwar genau wie Barth den Namen Gottes mit dem Namen Jesus Christus, interessiert sich von hier aus jedoch insbesondere für die alttestamentliche Interpretation oder Voraussetzung dieses Namens.138 Miskottes besonderes Interesse gilt Barths Unterscheidung zwischen einer Offenbarungszeit als solcher und den diese Offenbarungszeit bezeugenden Zeiten der Erwartung und der Erinnerung. Diese Unterscheidung hilft ihm, Raum für die „Gegebenheiten der Bibel“139 als solche zu gewinnen und die Unterschiedenheit und Zusammengehörigkeit von Kirche und Synagoge anhand des Themas des Verhältnisses zwischen den Zeiten des Neuen und des Alten Testaments näher und neu bestimmen zu können. Ausgehend von Barths Einsicht, dass weder das Alte noch das Neue Testament mit der Offenbarung als solcher zu identifizieren seien, entwickelt er eine eigene biblische Hermeneutik, mit deren Hilfe er genau wie Barth traditionelle, lineare und progressive Verhältnisbestimmungen der Größen „Gesetz und Evangelium“ oder „Verheißung und Erfüllung“ kritisieren, ja im Sinne der oben genannten phänomenologischen Methode dekonstruieren kann. Miskotte kommt es dabei wie Barth insbesondere darauf an, sowohl an der Unterschiedenheit beider Zeiten und Zeugnisse als auch an deren durch den jeweiligen Bezug auf die Zeit der Offenbarung selber gegebene Einheit festzuhalten. Noch stärker als Barth will Miskotte jedoch den Sinn speziell des Alten 136 Vgl. Barth, KD I/2, 50. 137 Vgl. Miskotte, Wenn die Götter, 118, Anm. 14. 138 Miskotte knüpft hinsichtlich seines eigenen Projekts durchaus auch bei Barth an. So bezieht er sich aaO., Anm. 15, 119 an Barths Auffassung in Barth, KD I/1, 335, dass der Name Gottes wegen seiner Unaussprechlichkeit gerade an den Aspekt der Verborgenheit des offenbaren Gottes erinnere. 139 Miskotte, Wenn die Götter, 119.
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358 Barth-Rezeption als Sinngebung des Sinnlosen bei Kornelis H. Miskotte Testaments und der darin artikulierten Zeit in ihrem Bezug zur Zeit der Offenbarung hervorheben und damit wesentlich radikaler als dieser einer linearen, progressiven Verhältnisbestimmung beider Zeiten entgegenwirken. Die für Miskotte entscheidende Entdeckung in der theologischen Zeitlehre Barths ist zunächst, dass „[d]ie Zeit der Erwartung […] zur Offenbarung“140 gehört und dass die vom Neuen Testament dokumentierte Zeit der Erinnerung erst zusammen mit der vom Alten Testament dokumentierten Zeit der Erwartung auf das beiden Zeiten gemeinsame Thema verweist, dass nämlich „JHWH […] die Gottheit“141 ist. Die besonders aktuelle Funktion gerade des Alten Testaments besteht für Miskotte in der kritischen Kraft des namenlosen Namens hinsichtlich der Religion und – aktueller – hinsichtlich des Atheismus beziehungsweise des Nihilismus. So betone das Alte Testament nachdrücklicher als das Neue, dass die Schöpfung nur in der Retrospektive, nur als ein Auftakt zu Gottes Bund und nur durch das Wort zu erkennen sei.142 Wenn man die Schöpfung als ein sekundäres Bekenntnis zum Namen auffasse und nicht als „Grundlage an sich“143, „Ausgangspunkt“144 oder „Problem“145, entfalle die vom Atheismus kritisierte Unterstellung, dass die Schöpfung aus der Natur erkannt werde. Ebenso verhalte es sich mit der alttestamentlichen Auffassung des Gesetzes: Da es dort als „heilsamgeleitende Weisung“146 und nicht als allgemeine Moral aufgefasst werde, widerspreche die Gesetzesauffassung des Alten Testaments der Annahme des Atheismus, dass Gott als Grund und Garant einer sittlichen Weltordnung aufzufassen sei. Das Alte Testament, so Miskotte, sei einerseits mit der atheistischen Religionsnegation vergleichbar, habe aber andererseits eine andere Pointe, nämlich den Aufweis der Menschlichkeit des Wortes Gottes.
140 AaO., 122. 141 Ebd. 142 Miskotte schließt sich auch hier einer Grundeinsicht Karl Barths an, der in § 41 (Schöpfung und Bund) von KD III/1 das Verhältnis zwischen der Schöpfung als dem ersten Werk Gottes und dem Bund als einem der weiteren Werke Gottes untersucht. Die Schöpfung, so Barth, sei als eine Hülle oder auch ein Vorwort zur Geschichte des Gnadenbundes zu betrachten und als solche selber auch Vorgeschichte und keine geschichtslose Vorwahrheit. Als Gegenbild zur Schöpfungszeit betrachtet Barth die Gnadenzeit (die Zeit Jesu Christi = die Zeit der Offenbarung), die bei näherer Betrachtung allerdings als das Urbild aller Zeit einschließlich der Schöpfungszeit zu betrachten sei. Die Schöpfung gehe der Versöhnung (der Gnadenzeit) nicht voran, sondern folge dieser. Als Abbild und Gegenbild dieser wirklichen Zeit sei aber eben auch die Schöpfungszeit wirkliche Zeit. Entsprechend dem Schema in der theologischen Zeitlehre bezeichnet Barth die Geschichte Israels und die Existenz der Kirche wiederum als Vor- beziehungsweise Nachzeit der wirklichen Zeit (= die Lebenszeit Jesu Christi einschließlich der Wende vom Tod zur Auferstehung). 143 Miskotte, Wenn die Götter, 161. 144 Ebd. 145 Ebd. 146 Ebd.
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Keine Zeit für Illusionen
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Abgesehen von dieser positiven Rezeption der Zeitlehre Barths unterscheidet sich die daran angelehnte Hermeneutik Miskottes durchaus auch von der Hermeneutik Barths. Der Unterschied wird deutlich, wenn man sich genauer ansieht, wie Barth die Einheit der vom Alten und Neuen Testament jeweils bezeugten Zeit der Offenbarung beschreibt. Es zeigt sich dann, dass bei Barth die Zeit der alttestamentlichen Erwartung in der Zeit der neutestamentlichen Erinnerung inhaltlich fortgesetzt wird; dabei sind drei Linien zu identifizieren: Erstens, so Barth, sei das Neue Testament ebenso wie das Alte ein Zeugnis des „freie[n] Sich-Verhaltens Gottes zum Menschen“147. Zeige sich dies im Zeugnis des Alten Testaments anhand einer Vielheit von Bundesschlüssen und kenne dieses eine nur dunkle, „implizit[e]“148 Messiashoffnung, so spreche das Neue Testament von nur einem Bund und beziehe sich die Erinnerung hier auf einen explizit[en]149 Namen, nämlich Jesus Christus. Zweitens bezeugten beide Testamente den verborgenen Gott.150 Äußere sich die Verborgenheit Gottes im Alten Testament als das Gericht Gottes über die Völker und über sein Volk Israel, werde sie im Neuen Testament im Kreuz Christi noch einmal vertieft. Allerdings blicke das Neue Testament im Gegensatz zum Alten auf ein bereits durchgeführtes Programm zurück: Es setze die im Alten Testament lediglich gemeinte „Entgötterung“151 der Natur, der Geschichte und der Kultur voraus und betrachte das Problem des Leidens als „erledigtes Problem“152. Drittens bezeugten sowohl das Neue als auch das Alte Testament die Offenbarung als die eines dem Menschen gegenwärtigen Gottes, der aber zugleich der kommende sei.153 Während jedoch das Alte Testament lediglich eine eschatologische Linie habe, seien die Aussagen des Neuen Testaments abgesehen von den Ostergeschichten ganz und gar eschatologisch. Die Veränderung gegenüber dem Alten Testament bestehe nur darin, dass der kommende Christus „als der Gekommene schon Gegenstand der Erinnerung“154 sei. Von dieser Systematik ausgehend nimmt Barth auch Stellung zum Verhältnis von Kirche und Synagoge: Es sei verständlich, wenn die Kirche sich als den „legitimen Erben der Synagoge“155 betrachte. Ihr sei es nämlich nicht nur darum gegangen, in Christus die Erfüllung der Erwartung zu sehen, sondern sie habe auch aufgrund der Erscheinung Jesu Christi gerade in der Erwartung dasjenige Element gesehen, in dem sie selber als Kirche gelebt habe. Zu fragen sei 147 148 149 150 151 152 153 154 155
Vgl. K. Barth, KD I/1, 114ff, 114. AaO., 115. Ebd. AaO., 117ff. AaO., 118 AaO., 119. AaO., 125ff. AaO., 132. AaO., 129.
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360 Barth-Rezeption als Sinngebung des Sinnlosen bei Kornelis H. Miskotte aufgrund der tatsächlichen Erscheinung Jesu Christi auch, ob das noch andauernde Warten der Synagoge überhaupt als ein wirkliches – eben ein nach Barth auf die Offenbarung Gottes in Jesus Christus bezogenes – Warten betrachtet werden könne. Miskotte greift, wie bereits ausgeführt, das Denken Barths insofern auf, als er sowohl die Zeit der Erwartung als auch die Zeit der Erinnerung auf die von beiden Zeiten unterschiedene Offenbarung Gottes bezieht. Dabei betont er aber stärker als Barth die Dazugehörigkeit des alttestamentlichen Zeugnisses und die Folgen dieser Dazugehörigkeit für die Theologie, ja, er betrachtet es als ein dem Neuen Testament ebenbürtiges Zeugnis: „So dient uns das Alte Testament als Zeugnis der einen Offenbarung, des einen Bundes, der einen Menschwerdung, der einen Gegenwart Gottes auf Erden“156. Aus den von ihm gefundenen übereinstimmenden Strukturen beider Testamente soll aber kein „phänomenologische[s] oder systematische[s] Fazit“157 gezogen werden. Da das Neue im Alten Testament im Wesentlichen bereits enthalten sei, könne man vom Alten Testament Genaueres über den Inhalt, den Sinn und die Absicht dessen lernen, was im Neuen Testament Christus genannt werde. Zweifelsohne habe das Neue Testament mit der Rede von der Fleischwerdung Gottes tatsächlich etwas Neues geboten, über den Wahrheitsgehalt dieses Gedankens sei jedoch unmöglich zu entscheiden, da er bereits als Wahrheit die Welt erreicht habe. Trotzdem gebe es auch andere Fortsetzungen des Alten Testaments – etwa den Talmud – und andere Verwirklichungen des alten Bundes – etwa im Fleisch des Gottesvolkes: „Warum hat das Alte Testament außer dem Neuen noch eine andere Fortsetzung, nämlich den Talmud? Weil der alte Bund gedeutet werden kann als realisiert im Fleisch des Gottesvolkes […]“158. Wie bereits oben gesehen zeigt sich hier noch einmal, dass Miskotte die Bekenntnisfrage viel partikularer als Barth als Standortfrage betrachtet, die andere Bekenntnisse keinesfalls ausschließt. Das wohl bekannteste biblisch-hermeneutische Stichwort Miskottes ist die Rede von einem „Überschuss“ (ndl. tegoed) des Alten Testaments, mit der er die auch von ihm anerkannte Auffassung von einem Defizit des Alten im Verhältnis zum Neuen Testament entscheidend ergänzt und die größere zeitgenössische Relevanz des Alten Testaments gegenüber dem Neuen plausibel macht: Zum einen mache das Alte Testament viel deutlicher als das Neue, dass die Offenbarung keine Kategorie des (ewigen) Seins, sondern eine unableitbare Beziehung Gottes zum Sein sei. Miskotte umschreibt diese Beziehung wiederholt mit der Formel „grundlos, in der Mitte“. Die Formel bringe erstens die Negativität der Offenbarung und deren verwandtschaftliche Nähe zum Nihilismus zum Ausdruck und belege zweitens auch das Surplus hin156 AaO., 186. 157 AaO., 167. 158 AaO., 171.
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Keine Zeit für Illusionen
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sichtlich des Nihilismus, indem sie die Grundlosigkeit mit einer Mitte verbinde und das Leben so der Sinnlosigkeit unseres Denkens entreiße.159 Zum anderen betreffe die Rede von einem alttestamentlichen Überschuss auch einen thematischen „Rand von Gedanken“160. Dabei gehe es um vier im Neuen Testament nicht oder nur ansatzweise behandelte Themen, die im Neuen Testament nicht erfüllt worden seien, doch gerade im Kontext des Nihilismus eine direkte Relevanz hätten, nämlich die Skepsis, die Auflehnung, die Erotik und die Politik. Die Skepsis und die Auflehnung seien von Barth theologisch vernachlässigt worden, ermöglichten aber eine Erweiterung der Glaubenserfahrungen gerade auch im Hinblick auf die Theologie Barths: dieser ersetze das auf das menschliche „Warum?“161 antwortende alttestamentliche „,Dennoch des Glaubens‘“162 durch ein „,Darum‘“163. Demgegenüber helfe das Alte Testament, den Schmerz und das Leid menschlich bekennen und aussprechen zu lernen und ermögliche so, mehr Offenheit für die psychologische Dimension des Glaubens zu entwickeln und kritische Fragen zu stellen, anstatt nur Antworten zu vernehmen. Das insbesondere in Gen. 2 und im Hohen Lied aufklingende und auch bundestheologisch durchgeführte Thema des Eros sei vor allem gegen populärchristliche Missverständnisse hinsichtlich der geist-leiblichen Liebe stärker zu betonen. Mit dem alttestamentlichen Politikverständnis könne man insbesondere die Möglichkeit einer christlichen Politik und überhaupt einer als solche organisierten christlichen Weltanschauung bekämpfen. Der Name, so Miskotte, bedeute das Ende aller sakralen Bindungen und führe zu einer „Säkularisierung des üblicherweise für sakral Gehaltenen“164. Wie die im Alten Testament gemeinte Entgötterung der Natur Raum für eine wissenschaftlich betriebene Naturwissenschaft und die Entdämonisierung der Geschichte Raum für eine prinzipielle Ideologiekritik schaffe, so motiviere der alttestamentliche Glaube an das Handeln Gottes zu politischer Nüchternheit, die ihrerseits Raum für eine wissenschaftliche (also nicht religiös begründete) Politik165 schaffe. 159 Der Einfluss Franz Rosenzweigs auf das Denken Miskottes ist in diesem Zusammenhang unbestritten, müsste aber an anderer Stelle eingehender erforscht werden. Gerben G. Manen ist derzeit mit einem solchen Projekt beschäftigt. Ihm verdanke ich auch den Hinweis auf die Sekundärliteratur zum Verhältnis zwischen Rosenzweig und Miskotte: H.J. Adriaanse, In het spoor van Rosenzweig, in: Den Hertog/Neven, Miskotte, 38–58; De Kruif, Heiden, jood en christen; Muis, Openbaring, 409–412.362–365; R. Reeling Brouwer, Erzählendes Denken bei K.H. Miskotte. Lehre im offenen Raum, ZDT 23, 2007, Nr. 1, 34–56. 160 Miskotte, Wenn die Götter, 177. 161 AaO., 249. 162 Ebd. 163 Ebd. 164 AaO., 277. 165 Miskottes alttestamentlich inspiriertes Politikverständnis bildet bewusst einen Gegenpol zu einem christlich-weltanschaulich orientierten Politikverständnis, wie es in den versäulten Niederlanden bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts hinein sehr nachdrücklich vertreten wurde. Somit bildet es einen intern-christlichen Beitrag zum Prozess der Entsäulung, dem so genannten Doorbraak, der in Kap. 8 dieser Studie eingehender untersucht wurde.
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362 Barth-Rezeption als Sinngebung des Sinnlosen bei Kornelis H. Miskotte Schließlich ist die wohl wichtigste Übereinstimung Miskottes mit Barth bezüglich der Einheit der Schrift hervorzuheben, die Annahme einer im Neuen Testament selbst noch radikalisierten eschatologischen Ausrichtung. So meint Miskotte, „[d]aß nach der mit Christi erster Erscheinung eingetretenen Erfüllung die Erwartung erst recht lebendig und kräftig w[erde] – es [sei] die Schuld der berufsmäßigen Gläubigen, wenn das für tausende innerhalb und außerhalb der Kirche eine Neuigkeit“166 sei. Zu fragen bleibt, warum Miskotte Barths Zeitlehre trotz der weitgehenden inhaltlichen Zustimmung betont alttestamentlich interpretiert. Dies hat meines Erachtens damit zu tun, dass Miskotte den Nihilismus als eine Reaktion auf das Christentum und wohl auch schon auf bestimmte Formulierungen des Neuen Testaments sieht, so dass er sich von einem alttestamentlichen Zugang eine größere theologische Heilkraft verspricht, die gleichsam an der Wurzel ansetzt. Bezüglich des Nihilismus formuliert Miskotte: So sieht das Ende des Weges aus, der damit anfing, dass man den metaphysischen Gott, den ontologischen Kosmos, die lex naturalis, die providentia und den amor fati voranstellte und damit das Licht des Gottes Israels abblendete. Auf diesem Weg der Vermischung oder der Verdoppelung der Gottesgedanken im Zeugnis wächst und gedeiht die Leugnung, die sich in der Erfahrung als eine Befreiung und zugleich als eine Entleerung des Lebens darstellt.167
Die alttestamentliche Re-Interpretation des christlichen Offenbarungsbegriffs und des Neuen Testaments kann dann wie beim Brechtschen Verfremdungseffekt zu einer Neuentdeckung gerade der eigenen christlichen Überlieferung führen. Der Name wird mithin nicht nur als kritische Instanz hinsichtlich des Nihilismus, sondern auch hinsichtlich der ihm zugrundeliegenden christlichen Religion und Kultur ins Feld geführt. Miskottes biblische Hermeneutik unterstützt also sein kulturtheologisches Anliegen. Es geht Miskotte nicht um die bestehende Kultur und noch weniger um deren Unterstützung mittels einer christlichen Weltanschauung, sondern um die Zukunft einer anderen, neuartigen Kultur.
9.5 Miskotte als Kulturtheologe II: Von der Offenbarung zur Erfahrung Wie verhält es sich nun genauer mit meiner anfangs genannten zweiten These, dass es nämlich Miskotte nicht nur um die Reprise der Barthschen erkenntnistheoretischen Umkehrung in der zeitgenössischen Situation gehe, sondern auch um eine von mir zweite Umkehrung genannte weitere Umkehrung des 166 Miskotte, Wenn die Götter, 285. 167 AaO., 311.
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Miskotte als Kulturtheologe II
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Verhältnisses von menschlicher Erfahrung und göttlicher Offenbarung, die das verstärke und voranstelle, was oben unter dem Stichwort Induktion des Namens ausgeführt wurde, also die Erfahrbarkeit der Offenbarung. Meine Analyse des Kleine[n] Zeitspiegel[s] machte bereits exemplarisch deutlich, dass Miskotte jeweils von einer in verschiedenen kulturellen Produkten (Beispiel: zeitgenössische Literatur) zum Ausdruck kommenden spezifischen menschlichen Erfahrung ausgeht, der er das Wort Gottes als ein in dieser Situation sich als befreiend erweisendes und befreiend erfahrbares Wort gegenüberstellt. Als Auffälligkeit von Miskottes Rezeption der Religionstheorie Barths im ersten und der Rezeption der Zeitlehre Barths im zweiten Teil von Wenn die Götter schweigen konnte herausgestellt werden, dass Miskotte sich zwar jeweils auf den zweiten und dritten Abschnitt der entsprechenden Paragrafen der Kirchlichen Dogmatik, nicht jedoch auf den jeweiligen ersten Abschnitt bezieht. Diese von Miskotte nicht weiter thematisierte Auslassung ist, wie beriets früher angemerkt, meines Erachtens keinesfalls zufällig. Vielmehr spiegelt sich darin der spezifische Unterschied zwischen der Theologie Barths und der Theologie Miskottes, so dass hier von einer negativen – nämlich nicht stattfindenden, Barth aber korrigierenden – Barth-Rezeption gesprochen werden kann. Mittels eines exemplarischen Vergleichs des von Miskotte nicht rezipierten § 14.1 der Kirchlichen Dogmatik und einer Darstellung von Miskottes eigenem Schwerpunkt soll der Unterschied zu Barth und das spezifische kultur-theologische Interesse Miskottes herausgearbeitet werden: In § 14.1 bestimmt Barth den Begriff der Zeit nicht als menschliche Selbstbestimmung, sondern von der Offenbarung her. Wirkliche, erfüllte Zeit sei nur die Offenbarungszeit, die „Zeit, die Gott für uns ha[be]“168. Als solche sei die Offenbarung von unserer menschlichen Zeit streng zu unterscheiden, gehe aber in Analogie zur Fleischwerdung des Wortes als von unserer Zeit unterschiedene in unsere Zeit ein: „Sie bleibt der Zeit nicht transzendent, sie tangiert sie nicht bloß, sondern sie geht in die Zeit ein, nein: sie nimmt Zeit an, nein, sie schafft sich Zeit“169. Obwohl also selber ganz und gar zeitlich, dürfe die Offenbarung mit keiner anderen Zeit – neben „unserer Zeit“ behandelt Barth auch die uns entzogene ursprünglich von Gott geschaffene Zeit – verwechselt werden. Zwar soll sie als dem Menschen zugeeignete Zeit vom Menschen tatsächlich auch ergriffen werden, doch bleibe Gott das Subjekt seiner Offenbarung: Gott verhülle sich, indem er unsere Zeit annehme und er enthülle sich, indem er unsere zu seiner Zeit mache. Die unter dem Stichwort „Offenbarung und Geschichte“ behandelte moderne Fragestellung, ob und inwiefern nicht auch die Offenbarung als Prädikat der Geschichte aufgefasst werden könne, wird von Barth dabei scharf zurückgewiesen. 168 Barth, KD I/2, § 14.1, 50. 169 AaO., 55.
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364 Barth-Rezeption als Sinngebung des Sinnlosen bei Kornelis H. Miskotte Demgegenüber setzt Miskotte andere Akzente. Ihm geht es, in Barths Worten gesagt, darum, den befreienden Gehalt dieser sich der menschlichen Zeit annehmenden Offenbarungszeit als menschlicherseits wirklich erfahrbar aufzuzeigen. Gott unterscheide sich, mit Miskottes Worten gesagt, in seiner uns zugeeigneten Offenbarung nicht nur von unserer Wirklichkeit, sondern in unserer Wirklichkeit (erfahrbar) von unserer Wirklichkeit. Die von Barth profilierte Vorordnung der besonderen Offenbarung Gottes gegenüber einer allgemeinen menschlichen Erfahrung wird hierbei nicht rückgängig gemacht, sondern weitergeführt. Denn die besondere Offenbarung korrespondiert bei Miskotte mit besonderen Erfahrungen in unserer menschlichen Erfahrungswelt, die sich insbesondere auch als Erfahrbarkeit der Besonderheit der göttlichen Offenbarung als ein zukünftiges menschliches Leben äußert. Philosophisch gesprochen könnte man den Unterschied zwischen Barth und Miskotte vielleicht als den Unterschied zwischen einer vertikalen und einer mit dieser zusammenhängenden (auf Zukunft gerichteten) horizontalen Transzendenz beschreiben. Immer wieder spielt die – horizontale, persönliche – Erfahrbarkeit der göttlichen Offenbarung in der Theologie Miskottes eine unterschwellige, explizit aber kaum eigens thematisierte Rolle. So spricht Miskotte in einem 1958 erstmals publizierten Beitrag Over de tegenwoordigheid Gods (Über die Anwesenheit Gottes)170 über eine „legitime Extrapolation“171 des Namens Gottes. Lebendige Gotteserkenntnis vollziehe sich „immer“172 auf dem Weg vom Besonderen zum Allgemeinen, „vom Bund zur Schöpfung und niemals umgekehrt“173. Das sich ereignende Wort sei dann auch tatsächlich erfahrbar, nämlich insbesondere in der Freude über das Angerührtsein durch die göttliche Anwesenheit und durch die Erkenntnis der „unendlichen Güte dieses bestimmten Gottes“174. Und an anderer Stelle heißt es, dass die „Explikation“175oder „Selbstbezeugung“176 Gottes sich als „Analogie“177, „Gleichnis“178, „Abglanz“179 oder „Echo“180 in bestimmten, besonderen menschlichen Erfahrungen spiegle. Als Beispiele solcher mit der Besonderheit der göttlichen Offenbarung gleichnishaft korrespondierenden besonderen menschlichen Erfahrungen nennt Miskotte in diesem Beitrag etwa die „innerliche Geste 170 K.H. Miskotte, Over de tegenwoordigheid Gods, in: Ders., Theologische opstellen, hg. v. J.T. Bakker/H.C. van der Sar (Verzameld werk van dr. K H. Miskotte, Teil 9, hg. v. J.T. Bakker/A. Geense/G.G. de Kruif), Kampen 1990, 220–251. 171 AaO., 246. 172 Ebd. 173 Ebd. 174 Ebd. 175 AaO., 247. 176 Ebd. 177 Ebd. 178 Ebd. 179 Ebd. 180 Ebd.
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Miskotte als Kulturtheologe II
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anderer Menschen“181, ein Glänzen „ferner und naher Dinge“182, aber auch „die Stimme der Kinder“183, den „Ruf eines Vogels“184 und die „Freudentränen einer sich gesegnet wissenden Frau“185. Diese Explikation ist nach Miskotte in die „Proklamation“186 des Wortes Gottes „eingefaltet“187 und „eingebettet“188, kann also als dessen Implikation betrachtet werden. Sie führt den Menschen nicht in ein speziell frommes christliches Leben, sondern trifft ihn gerade im gewöhnlichen Leben189 an. In Wenn die Götter schweigen nennt Miskotte noch eine weitere Fundstelle für die Erfahrung göttlicher Anwesenheit, nämlich die Kunst. Die Kunst sei biblisch gesehen als ein Vorzeichen der Zukunft aufzufassen. In ihr leuchte einerseits als überzeitliche Freude das Eschaton „in der Zeit“190 auf, andererseits sei sie selber als ein „Zeichen der Antizipation“191, „Abglanz“192 des neuen Himmels und der neuen Erde und als „Repräsentanz des Eschaton“193 zu betrachten. Wohl zu seiner eigenen – freudigen – Überraschung kann der Kulturtheologe ganz eigener Prägung, Miskotte, sich hinsichtlich der Wertschätzung des eschatologischen Appellcharakters der Kunst durchaus auf Karl Barth beziehen: In seinen 1928 gehaltenen Ethikvorlesungen194 würdigte dieser ausdrücklich die antizipierende Funktion der Kunst, ihr spielerisches Wesen und ihren hinweisenden Charakter. 181 182 183 184 185 186 187 188 189 190 191 192 193 194
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. hierzu K.H. Miskotte, Het gewone leven. In den Spiegel van het boek Ruth, in: Ders., Antwoord uit het onweer/Het gewone leven (Verzameld werk van dr. K.H. Miskotte, Teil 10, hg. v. J.T. Bakker/A.Geense/G.G. de Kruif), Kampen 1984, 327–659. Miskotte, Wenn die Götter, 368. Ebd. Ebd. AaO., 369. Miskotte verweist inhaltlich gesehen auf Karl Barths Ausführungen über die Kunst in: K. Barth, Ethik II. Vorlesung Münster Wintersemester 1928/1929, wiederholt in Bonn, Wintersemester 1930/31, hg. v. D. Braun (Karl Barth Gesamtausgabe, II. Akademische Werke 1928), Zürich 1978, § 17 (Die Dankbarkeit), 422–455. Formal gesehen gibt Miskotte (vgl. Miskotte, Wenn die Götter, 370) an, dass ihm eine „Kollegnachschrift“ der Vorlesung zur Verfügung gestanden habe. Der Herausgeber Dietrich Braun weist in seinem Vorwort zur Ethik I darauf hin, dass es eine von Rudolf Pestalozzi hergestellte und hektographierte Abschrift der von Barths Mitarbeiterin Charlotte von Kirschbaum erstellten handschriftlichen Mitschrift gegeben habe, die in Form von zwei Heften, nämlich Ethik I und Ethik II, vom Christlichen Studentenweltbund in Genf vertrieben worden sei; vgl. K. Barth, Ethik I. Vorlesung Münster Sommersemester 1928, wiederholt in Bonn Sommersemester 1930, hg. v. D. Braun (Karl Barth Gesamtausgabe, II. Akademische Werke 1928), Zürich 1973, IX. Miskotte bezieht sich offenbar auf diese Ausgabe.
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366 Barth-Rezeption als Sinngebung des Sinnlosen bei Kornelis H. Miskotte Die hier näher beschriebene zweite Umkehrung – der Weg von der Offenbarung zur menschlichen Erfahrung – führt also nach Miskotte nicht etwa zur Allgemeinheit menschlicher Erfahrungen zurück und qualifiziert diese auch nicht im Sinne der natürlichen Theologie als Anknüpfungspunkte für die göttliche Offenbarung. Vielmehr führt sie, indem sie die Besonderheit der göttlichen Offenbarung voraussetzt, zu besonderen menschlichen Erfahrungen. Somit qualifiziert oder erweitert sie deren Alltäglichkeit und Allgemeinheit und richtet den Menschen auf ein zukünftiges Leben aus.
9.6 Rückblick: Zum Versuch einer Kulturtheologie im Gespräch mit Barth IV Miskotte geht es nicht um die bestehende Kultur, sondern um die Veränderung der bestehenden und die Perspektive und erfahrbare Hoffnung auf eine neue Kultur. Insofern ist der Barth-Rezipient Miskotte tatsächlich als ein Kulturtheologe ganz eigener, nämlich kulturkritischer Prägung zu sehen. Die Qualifizierung Miskottes als eines – kritischen – Kulturtheologen geschieht meines Erachtens vor allem aufgrund von dessen vielfältiger Anwendung der phänomenologischen Methode zu Recht. Mithilfe dieser Methode relativiert Miskotte nämlich die auch in der Barthforschung sonst so geläufige und geliebte Gegenüberstellung eines offenbarungstheologischen und eines erfahrungsbezogenen Ansatzes. Miskotte geht es hingegen weder um die Diastase noch um die Identifikation beider Pole, sondern um deren bleibende Differenz innerhalb einer beide Pole relativierenden Annährung. Der relativierende Aspekt der phänomenologischen Methode wird noch einmal unterstrichen, indem er die Anerkennung eines auch religiösen Pluralismus voraussetzt – es werden ja auch theologische mit philosophischen oder verschiedene religiöse Ansätze miteinander verglichen. Das führt bei Miskotte zur Interpretation der Wahrheitsfrage als einer Standortfrage. Thetisch soll zum Abschluss dieses rückblickenden Abschnitts vorausblickend formuliert werden, dass die Ausstrahlungskraft der phänomenologischen Methode Miskottes und die Modernität seines auf Erfahrbarkeit und standortbewusste Relativität gerichteten alternativen offenbarungstheologischen Ansatzes zu einem großen Teil die in internationalen Zusammenhängen oft wahrgenommene, aber selten erklärte Andersheit der niederländischen Barth-Rezeptionen vor allem ab dem Paradigmenwechsel der 70er Jahre mit ermöglicht hat. So entstand etwa gerade in der liberalen niederländischen Theologie ein großes Interesse an einem Vergleich195 zwischen dem Werk 195 Vgl. H.J. Adriaanse, Zu den Sachen selbst. Versuch einer Konfrontation der Theologie Karl Barths mit der phänomenologischen Philosophie Edmund Husserls, also dann ’s Gravenhage 1974 [Diss. Leiden]; Goud, Levinas en Barth; Hack, Groter dan ons hart.
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Rückblick: Zum Versuch einer Kulturtheologie im Gespräch mit Barth IV 367
Barths und phänomenologischen Ansätzen. Aufgrund der in obigem Abschnitt gemachten Beobachtung der intentionalen Vergleichbarkeit der phänomenologischen und der dekonstruktiven Methode lässt sich meines Erachtens auch erklären, warum die europaweit gesehen vergleichsweise wohlwollende Aufnahme des Themas Barth und Postmodernismus196 im niederländischen Sprachraum keineswegs als Zufall oder Modeerscheinung abzutun ist. Diese Auffälligkeit erklärt sich aus der von postmodernen Theoretikern und Miskotte geteilten Freude am Dekonstruieren und am Aufschieben endgültiger Beantwortungen der Wahrheitsfrage. Auch die spezifische Kontextualisierung des Offenbarungsbegriffs einschließlich der Erfahrbarmachung gerade der befreienden Implikationen des Wortes Gottes ist ein wichtiger Ansatzpunkt für neuere Barthinterpretationen in der niederländischen Theologie. Zu denken ist hierbei197 an die verhältnismäßig früh einsetzende Rezeption Barths in befreiungs-theologischen und differenztheoretisch–feministischen beziehungsweise gendertheoretischen Kontexten. Überhaupt lässt sich schließlich die überaus große Affinität des niederländischen Forschungsinteresses gerade zu vergleichenden Barthstudien im Kontext eines Gesprächs zwischen Theologie und Philosophie speziell ab den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts von dem Ansatz und großen Einfluss Miskottes her erklären.
196 Zum Gespräch zwischen Karl Barth und VertreterInnen der so genannten Postmoderne in den Niederlanden vgl. B. van den Toren, Breuk en Brug. In gesprek met Karl Barth en postmoderne theologie over geloofsverantwoording, Zoetermer 1995 [Diss. Theologische Universiteit Kampen); I.N. Bulhof, Derrida en Barth. Representatiecrisis en openbaring: Een confrontatie, in: I.N. Bulhof/R. Welten (Hg.), Over de representatiecrisis in religie, kunst, media en politiek, Kampen 1996, 60–80; L. ten Kate, Randgänge der Theologie. Prolegomena einer „Theologie der Differenz“ im Ausgang von Derrida und Barth , ZDT 14, 1998, Nr. 1, 9–31; L. Karelse, Dwalen. Over Mark C. Taylor en Karl Barth, Zoetermeer 1999 [Diss. Theologische Universiteit van de Gereformeerde Kerken in Nederland]; Hennecke, Der vergessene Schleier; K. Doevendans, Calvijn, Barth en de postmoderne tijd, IdW 30, 2002, Nr. 4, 122–125; S. Hennecke, Het beeld van God (m/v) en de postmoderne single, IdW 39, 2010, Nr. 5, 137–140. 197 Vgl. etwa M. Baas/H. Zorgdrager, Freiheit aus zweiter Hand. Feministische Anfragen an die Stellung der Frau in Karl Barths Theologie, ZDT 3, 1987, Nr. 1, 135–150; Witvliet, De weg; Hennecke, Der vergessene Schleier ; D. Boer, De plaats van de bevrijdingsbeweging in de KD, IdW 22, 1993/94, Nr. 14, 424–431.
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10. Einsichten und Aussichten: Einige Erwägungen 10.1 Einleitung Es ist die Hauptthese der vorliegenden Arbeit, dass sich der Barthianismus in den Niederlanden in dem hier untersuchten Zeitraum (1919–ca. 1960) im Sinne einer alternativen Form der Kulturtheologie entwickelt hat. Die in dieser Studie diesbezüglich erforschten Ansätze niederländischer Barth-Rezeptionen verstehen sich dabei in erster Linie als Alternative zu der neo-orthodoxen Kulturtheologie des Neocalvinismus, sind aber auch als Alternative zu der klassischen liberalen Form der niederländischen Kulturtheologie zu verstehen. In den Niederlanden gab es zu Beginn der Rezeptionsgeschichte der Theologie Karl Barths zwei sehr unterschiedliche Varianten der Kulturtheologie: In der liberalen Form kann man dabei das Verhältnis von moderner Kultur und christlichem Glauben am besten als synthetisch charakterisieren. Die Synthese konnte aber, wie das Beispiel des liberalen Theologen Karel H. Roessingh und anderer Malcontenten zeigte, auch in der innerliberalen Diskussion durchaus antithetische, kulturkritische Elemente aufweisen. Demgegenüber kann das Verhältnis von moderner Kultur und christlichem Glauben in der neocalvinistischen Variante als antithetisch bezeichnet werden. Dabei wurden allerdings typisch moderne Elemente wie die Akzeptanz des gesellschaftlichen Pluralismus zur Wahrung eigener, (orthodox) christlicher Interessen integriert. Im Folgenden soll es nun – gewissermaßen stellvertretend für einen noch ausstehenden größeren internationalen Vergleich mit der Situation in anderen Ländern – zunächst darum gehen, sich der Bedeutung der These einer durch die Rezeption von Karl Barths Theologie inspirierten Kulturtheologie in den Niederlanden aus deutscher theologiegeschichtlicher und zeitgenössischer Perspektive zu nähern (10.2). Sodann soll es im Sinn eines letzten Rückblicks auf die Forschungsergebnisse dieser Studie darum gehen, die historischen (10.3) und systematischen (10.4) Einsichten noch einmal im Hinblick auf die spezifische These dieser Arbeit zu evaluieren. In beiden Fällen wird eine niederländische Perspektive vertreten werden. Abschließend soll erwogen werden, inwieweit die in Hinsicht auf die Entwicklung des niederländischen Barthianismus gewonnenen Einsichten auch als mögliche Aussichten hinsichtlich der deutschen Debattenlage verstanden werden können (10.5). Bei diesem letzten Kapitel handelt es sich im Ganzen nur um einige wenige, die niederländische Situation betreffende Erwägungen und mögliche Ansätze. In ihrer Offenheit können sie auch als Hinweis auf einen – über das hier exemplarisch in den Blick genommene deutsch-niederländische Verhältnis
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Kulturtheologische Debatten in Deutschland
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hinausweisenden – internationalen Vergleich angesehen werden. Will man zudem die Geschichte des niederländischen Barthianismus und die Vielfalt niederländischer Barth-Rezeptionen in ihrer Gesamtheit erfassen, ist über den in dieser Studie bearbeiteten Zeitraum unbedingt hinauszugehen. Die These jedoch, dass sich der niederländische Barthianismus in dem hier untersuchten Zeitraum tatsächlich als eine alternative Form der Kulturtheologie entwickelt hat, bleibt trotz der vielfältigen Unabgeschlossenheit dieser Studie unvermindert gültig.
10.2 Kulturtheologische Debatten in Deutschland Die Frage nach der Verhältnisbestimmung zwischen christlichem Glauben und Kultur spielt in der deutschen zeitgenössischen Debattenlage unter anderem insofern eine besonders aktuelle Rolle, als in den letzten Jahren verstärkt die Frage thematisiert wurde, „ob und in welcher Weise sich die Theologie unter modernen Bedingungen als Kulturwissenschaft“1 beschreiben lasse. Zu Recht hat Friederike Nüssel in einem Forschungsüberblick darauf hingewiesen, dass „es sich dabei doch für die Theologie keineswegs um eine neue Frage“2 handele. So habe sich die evangelische Theologie bereits seit Friedrich Schleiermacher auf den Kulturbegriff konzentriert. Es habe sich dann3 unter liberalen Theologen einerseits eine Debatte um das Projekt einer möglichen Versöhnung von (christlicher) Religion und (moderner) Kultur und andererseits unter neulutherischen Theologen eine eher modernitätskritische Debattenlage entwickelt. Dabei, so Nüssel in Anschluss an die Forschungen Friedrich Wilhelm Grafs, habe es in der deutschen protestantischen Theologie am Ende des 19. Jahrhunderts „[t]rotz des äußerst polemisch geführten Methodenstreites […] zwischen den verschiedenen Lagern und Schulen insoweit einen untergründigen Konsens über die Aufgabe der Theologie“4 gegeben, als diese eben als eine „normative Kulturwissenschaft“5 zu betrachten sei. Die kulturtheologischen Debatten im Deutschland des ausklingenden 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts, die nach Friedrich Wilhelm Graf6 auch 1 2 3 4
F. Nìssel, Theologie als Kulturwissenschaft?, ThLZ 130, 2005, Nr. 11, 1154 – 1168, 1154. Ebd. Ebd.; Nüssel schließt sich hier den Forschungen Friedrich Wilhelm Grafs an. F.W. Graf, Rettung der Persönlichkeit. Protestantische Theologie als Kulturwissenschaft des Christentums, in: R. vom Bruch/F.W. Graf/G. Hübinger, Kultur und Kulturwissenschaft um 1900. Krise der Moderne und Glaube an Wissenschaft, Stuttgart 1989, 103 – 131, 118. 5 Ebd. 6 Friedrich Wilhelm Graf hat in einem begriffsgeschichtlichen Beitrag zum Thema Kulturprotestantismus nachgewiesen, dass „[s]pätestens seit den achtziger Jahren des letzten [= 19.; SH] Jahrhunderts […] innerhalb der protestantischen Theologie Begriffe wie Fortschrittsgläubigkeit,
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Einsichten und Aussichten: Einige Erwägungen
im liberalen Lager keineswegs unkritisch in Bezug auf die moderne Kultur verlaufen seien, wurden dann von einer Phase abgelöst, in der die WortGottes-Theologie von Karl Barth und anderen wegweisend war. Diese Phase hat nach Nüssel „maßgeblich dazu beigetragen, dass in weiten Bereichen evangelischer Theologie bis in die 70er Jahre hinein Kultur nicht mehr als Gegenstand der Theologie angesehen w[orden sei]“7. Damit sei erst durch die maßgeblich von Wolfhart Pannenberg und Trutz Rendtorff, in anderer Weise aber auch von Gerhard Ebeling angestoßenen Diskussionen seit den 1960er Jahren ein Ende gemacht worden. Neben diesen „innertheologisch[en] Impulse[n]“8 sei aber insbesondere auch die „außertheologische Debattenlage in den Geisteswissenschaften ab den 70er Jahren“9 dafür verantwortlich, dass „die Kulturthematik wieder verstärkt in das Blickfeld der Theologie“10 gerückt sei. In neuester Zeit nehmen Theologen wie Christoph Schwöbel und Eilert Herms das Thema Theologie und Kultur beziehungsweise Theologie und Kulturwissenschaften wieder verstärkt auf. Schwöbel weist in Anknüpfung an Paul Tillich zunächst ebenfalls darauf hin, dass „[d]ie Frage nach dem Verhältnis von Theologie und Kultur […] bis heute nichts an Aktualität verloren“11 habe. Und „die Tatsache“, „daß dabei die Fragestellungen theologischer Kulturreflexion nach dem Ersten Weltkrieg oftmals fast unverändert wiederaufgenommen“12 worden seien, weise darauf hin, dass „die weitgehende kulturtheologische Abstinenz der evangelischen Theologie nach dem Zweiten Weltkrieg die Problemkonstellationen nicht zum Verschwinden gebracht [habe], die schon vor 75 Jahren die theologische Beschäftigung mit dem Thema der Kultur dringlich erscheinen ließen“13. Als gegenüber der Situation nach dem Ersten Weltkrieg verschärfte Fragestellungen heute bezeichnet Schwöbel „die Durchsetzung der Autonomie der Kultursphären und Lebensbereiche, die zur Segmentierung der Lebenswelt [geführt habe] und sowohl die Säkularisierung […] als auch die Rereligionisierung […] freige-
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Fortschrittsoptimismus und Fortschrittskult sowie Kulturkomposita wie Kulturseligkeit, Kulturgläubigkeit, Kulturoptimismus, Kulturanpassung, Kulturvergötterung, Kulturimmanenz“ im Allgemeinen von protestantischen Theologen polemisch gebraucht wurden und also keineswegs als „genuiner Ausdruck der von der Dialektischen Theologie formulierten Kritik an religiösem Liberalismus, theologischem Historismus und sog. >Kulturprotestantismus