Kants Symbolik: Ein Schlüssel zur kritischen Freiheitsphilosophie 9783495997512, 3495480188, 9783495480182


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German Pages [215] Year 2001

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Vorwort
I. Einleitung
1. Das Unbedingte im Bedingten
2. Die Symbolik in den Schriften Kants
3. Sinnbezüge der Freiheit
II. Kants Sokratische Aufklärung
1. Ausgang aus selbstverschuldeter Unmündigkeit
2. Philosophie im Dienste der Aufklärung
3. Das Vorbild des Sokrates
a) Primat des Praktischen
b) Sokratische Hebammenkunst
c) Gegnerschaft zur Sophistik
4. Der Weg der Kritik
5. Symbolische Darstellung des Unbedingten
III. Das Gesetz der Freiheit
1. Das »Faktum der Vernunft«
a) Die Unableitbarkeit des Faktums der Vernunft
b) Die Aufdringlichkeit des Vernunftfaktums
c) Die Vernünftigkeit im Faktum der Vernunft
d) Die Einzigkeit des Faktums der Vernunft
2. Das Naturgesetz als Symbol des Sittengesetzes
3. Achtung vor dem Gesetz
4. Überwindung und Vollendung des Naturrechtsdenkens
5. Die Würde des Menschen
IV. Strukturen und Orientierungen sittlicher Praxis
1. Die Maxime als Medium sittlicher Selhstgesetzgehung
2. Maximenhildung als Lernprozeß
3. Das höchste Gut als Sinnhorizont sittlicher Praxis
4. Die fundamentalen Zwecke sittlichen Handelns
a) Eigene Vollkommenheit
h) Fremde Glückseligkeit
5. Soziale Pflichten
a) Höflichkeit als symholisches Spiel
h) Verantwortung für das Recht
c) Auf dem Weg zu einer ethischen Gemeinschaft
V. Das Menschenrecht als Symbol der Menschenwürde
1. Die Unverfügharkeit des Rechts
2. Rechtliche Freiheit als Symhol der Autonomie
3. Freiheit, Gleichheit, Selbständigkeit
4. Der Allgemeine Volkswille als politisches Gerechtigkeitskriterium
5. Gewaltenteilung als Kennzeichen des Republikanismus
6. Öffentlichkeit
VI. Sinnspuren in Natur und Geschichte
1. Die Frage nach der Weltwirksamkeit sittlichen Handelns
2. Kritische Teleologie
3. Das Naturschöne als Symbol des sittlich Guten
4. Hoffnung auf den Sinn der Geschichte
5. Zur Konfliktnatur des Menschen
6. Etappen im Kampf um den Rechtsfrieden
a) Vom Naturzustand zum Staat
b) Vom Obrigkeitsstaat zur freien Republik
c) Auf dem Weg zum internationalen Rechtsfrieden
7. Grenzen des Fortschritts
VII. Symbolische Rede von Gott
1. Überwindung der dogmatischen Metaphysik
2. Die sittliche Freiheit als Grund des Gottesgedankens
3. Symbolische Vermittlung zwischen Moral, Religion und Recht
4. Die Weisheit Gottes in der Schöpfung
5. Gott als Gesetzgeber eines ethischen Gemeinwesens
6. Die sichtbare als Symbol der unsichtbaren Kirche
7. Auf dem Weg zum mündigen Glauben
a) Schriftkritik
b) Symbolischer Anthropomorphismus
c) Moralischer Gottesdienst
VIII. Zusammenfassung
Literaturverzeichnis
Personenregister
Sachregister
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Kants Symbolik: Ein Schlüssel zur kritischen Freiheitsphilosophie
 9783495997512, 3495480188, 9783495480182

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Heiner Bielefeldt

Kants Symbolik Ein Schlssel zur kritischen Freiheitsphilosophie

ALBE

BAND 69 IE

https://doi.org/10.5771/9783495997512

.

A

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

https://doi.org/10.5771/9783495997512 .

Zu diesem Buch: Die Symbolik hat eine SchlüsselfUmktiou in Kants praktischer Philoso­ phie, weil sie es ermöglicht, den unbedingten Anspruch sittlicher Frei­ heit mit den vielfältigen Bedingtheiten der conditio humana zu vermit­ teln. Damit eröffnet die symbolische Darstellung zugleich den Weg für eine kritische Neuformulierung der metaphysischen Grundfragen des Menschen im Horizont moderner Aufklärung. About this book: Symbolic representation has a key-function in Kant’s practical philosophy, because it mediates between the uncondlti'onah'ty of the moral imperative and the inescapable contingencies of the human condition. At the same time, Kant’s symbolism opens the space for addressing the eternal metaphysical questions of humam'ty in a new and critical way. Der Autor: Dr. phil. habil. Heiner Bielefeldt, geb. 1958, ist Mitarbeiter am Institut für Interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld und zugleich Privatdozent für Philosophie am Fachbereich 9 der Universität Bremen. Fr hat mehrere Bücher zu Fragen der poli­ tischen Ethik und Rechtsphilosophie veröffentlicht.

https://doi.org/10.5771/9783495997512 .

Heiner Bielefeldt Kants Symbolik

https://doi.org/10.5771/9783495997512 .

Alber- Reihe Praktische Philosophie Hnter Mitarbeit von Jan P. Beckmann, Dieter Birnbacher, Deiner Hastedt, Ekkehard Martens, Oswald Schwemmer, Ludwig Siep und Jean-Claude Wolf herausgegeben von Günther Bien, Karl-Heinz Musser und Annemarie Pieper Band 69

https://doi.org/10.5771/9783495997512 .

Heiner Bielefeldt

Kants Symbolik Ein Schlüssel zur kritischen Ereiheitsphilosophie

Verlag Karl Alber Ereiburg/München

https://doi.org/10.5771/9783495997512 .

Die Deutsche Bibliothek - ClP-Finheitsaufnahme Bielefeldt, Heiner: Kants Symbolik : ein Schlüssel zur kritischen Freiheitsphilosophie / Heiner Bielefeld. Freiburg [Breisgau] ; München : Alber 2001 (Alber-Reihe praktische Philosophie ; Bd. 69) ISBN 3-495-48018-8 Texterfassung: Autor Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Alle Rechte Vorbehalten - Printed in Germany © Verlag Karl Alber GmbH Freiburg/München 2001 Finbandgestaltung: Fberle D Kaiser, Freiburg Einband gesetzt in derRotis SemiSerifvon Otl Aicher Satzherstellung: SatzWeise, Föhren Inhalt gesetzt in der Aldus und Gill Sans Druck und Bindung: Difo-Druck, Bamberg 2001 ISBN 3-495-48018-8

https://doi.org/10.5771/9783495997512 .

Für Eva

https://doi.org/10.5771/9783495997512 .

https://doi.org/10.5771/9783495997512 .

Inhalt

Vorwort

.....................................................................................

13

I. Einleitung...........................................................................

15

1. Das Unbedingte im Bedingten ................................... 2. Die Symbolik in den Schriften Kants......................... 3. Sinnbezüge der Freiheit...............................................

15 16 18

II. Kants Sokratische Aufklärung

.........................................

21

1. Ausgang aus selbstverschuldeter Unmündigkeit ... 2. Philosophie im Dienste der Aufklärung...................... 3. Das Vorbild des Sokrates ............................................ a) Primat des Praktischen............................................ b) Sokratische Hebammenkunst ............................... c) Gegnerschaft zur Sophistik ................................... 4. Der Weg der Kritik ..................................................... 5. Symbolische Darstellung des Unbedingten ................

21 24 26 27 28 30 33 40

III. Das Gesetz der Freiheit

..................................................

1. Das »Faktum der Vernunft«......................................... a) Die Unableitbarkeit des Faktums der Vernunft . . b) Die Aufdringlichkeit des Vernunftfaktums . . . . c) Die Vernünftigkeit im Faktum der Vernunft . . . d) Die Einzigkeit des Faktums der Vernunft ........... 2. Das Naturgesetz als Symbol des Sittengesetzes .... 3. Achtung vor dem Gesetz ............................................ 4. Überwindung und Vollendung des Naturrechtsdenkens 5. Die Würde des Menschen............................................

48 48 49 50 51 52 54 60 68 69 ^ 9

Kants Symbolik https://doi.org/10.5771/9783495997512 .

Inhalt

IV. Strukturen und Orientierungen sittlicher Praxis

....

76

1. 2. 3. 4.

Die Maxime als Medium sittlicher Selhstgesetzgehung 76 Maximenhildung als Lernprozeß............................... 80 Das höchste Gut als Sinnhorizont sittlicher Praxis . . 86 Die fundamentalen Zwecke sittlichen Handelns ... 89 a) Eigene Vollkommenheit......................................... 89 h) Fremde Glückseligkeit............................................ 93 5. Soziale Pflichten............................................................ 95 a) Höflichkeit als symholisches Spiel......................... 95 h) Verantwortung für das Recht ............................... 100 c) Auf dem Weg zu einer ethischen Gemeinschaft . . 101

V Das Menschenrecht als Symbol derMenschenwürde . . 1. 2. 3. 4.

Die Unverfügharkeit des Rechts.................................. Rechtliche Freiheit als Symhol der Autonomie . . . . Freiheit, Gleichheit, Selbständigkeit ......................... Der Allgemeine Volkswille als politisches Gerechtig­ keitskriterium ............................................................... 5. Gewaltenteilung als Kennzeichen des Republikanismus 6. Öffentlichkeit...............................................................

VI. Sinnspuren in Natur und Geschichte

10

103 103 107 112 117 123 129

...........................

132

1. Die Frage nach der Weltwirksamkeit sittlichen Han­ delns .............................................................................. 2. Kritische Teleologie..................................................... 3. Das Naturschöne als Symbol des sittlich Guten . . . 4. Hoffnung auf den Sinn der Geschichte ...................... 5. Zur Konfliktnatur des Menschen ............................... 6. Etappen im Kampf um den Rechtsfrieden ................... a) Vom Naturzustand zum Staat ............................... b) Vom Obrigkeitsstaat zur freien Republik............. c) Auf dem Weg zum internationalen Rechtsfrieden . 7. Grenzen des Fortschritts ...............................................

132 134 137 142 148 153 154 159 162 166

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Heiner Bielefeldt

https://doi.org/10.5771/9783495997512 .

Inhalt

VII. Symbolische Rede von Gott............................................

169

1. Überwindung der dogmatischen Metaphysik............. 2. Die sittliche Freiheit als Grund des Gottesgedankens . 3. Symbolische Vermittlung zwischen Moral, Religion und Recht ..................................................................... 4. Die Weisheit Gottes in der Schöpfung ...................... 5. Gott als Gesetzgeber eines ethischen Gemeinwesens . 6. Die sichtbare als Symbol der unsichtbaren Kirche . . 7. Auf dem Weg zum mündigen Glauben...................... a) Schriftkritik ............................................................ b) Symbolischer Anthropomorphismus ................... c) Moralischer Gottesdienst ......................................

169 172

VIII. Zusammenfassung

177 180 183 188 190 191 193 195

............................................................

198

..................................................................

203

Personenregister........................................................................

211

Sachregister

213

Literaturverzeichnis

...............................................................................

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Zitierweise:

Kants Schriften werden zitiert nach der Akademie-Ausgabe (ab­ gekürzt AA, mit Bandangaben in römischen Ziffern). Für die wich­ tigsten Schriften verwende ich folgende Abkürzungen: Prolegomena

Aufklärung Idee GMS KrV KpV KU Religion Gemeinspruch Frieden MS Streit Anthropologie Logik

12

Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphy­ sik, die als Wissenschaft wird auftreten können (1783). Beantwortung der Frage »Was ist Aufklärung«? (1784). Idee zu einer allgemeinen Geschichte in welt­ bürgerlicher Absicht (1784). Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785). Kritik der reinen Vernunft. Zweite Auflage (1787). Kritik der praktischen Vernunft (1788). Kritik der Urteilskraft (1790). Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793). Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (1793). Zum ewigen Frieden (1795). Die Metaphysik der Sitten (1797). Der Streit der Fakultäten (1798). Anthropologie in pragmatischer Hinsicht abge­ faßt (1798). Immanuel Kant's Logik. Ein Handbuch zu Vor­ lesungen, bearbeitet von Gottlob Bejamin Jäsche (1800).

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Heiner Bielefeldt

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Vorwort

Die vorliegende Arbeit ist in einer schwierigen Zeit entstanden, als es so aussah, als sei ich womöglich endgültig über die Fallstricke des deutschen Universitätssystems gestolpert. Daß am Ende dennoch al­ les gut ausging, habe ich vor allem Hans Jörg Sandkühler und den Kolleginnen und Kollegen im Fachbereich 9 der Universität Bremen zu verdanken. Dankbar für Solidarität und Unterstützung bin ich auch meinen Kolleginnen und Kollegen vom Institut für Interdis­ ziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld, unter Leitung von Wilhelm Heitmeyer. Die Arbeit ist unter anderem eine späte Frucht meiner Assistententätigkeit am Tübinger For­ schungsprojekt Menschenrechte, dessen Leiter Johannes Schwartlän­ der in Gesprächen immer wieder auf die Bedeutung der Symbolik für das Verständnis von Kants praktischer Philosophie hingewiesen hat­ te. Ich freue mich, daß der Verlag Karl Alber die Schrift in seine Reihe »Praktische Philosophie« aufgenommen hat und danke in die­ sem Zusammenhang Falk Redecker für seine gute Beratung.

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I.

Einleitung

1.

Das Unbedingte im Bedingten

Die Symbolik hat einen wichtigen Stellenwert in Kants Philosophie. Sie ist nicht nur gelegentlich eingesetztes Darstellungsmittel und auch nicht nur ein Sachthema neben anderen. Vielmehr bietet sie einen Schlüssel zum Verständnis eines zentralen Anliegens von Kants praktischer Philosophie überhaupt, nämlich der Vermittlung des unbedingten Anspruchs der Sittlichkeit mit den unüberholbaren Bedingtheiten der conditio humana. Diese Vermittlung kann nach Kant nur in indirekter Weise, d. h. über Symbole und Analogien ge­ schehen. Allein die Symbolik ermöglicht es, die Unbedingtheit des sittlichen Anspruchs so zu denken und so zum Ausdruck zu bringen, daß das Unbedingte zugleich gegen die Zugriffe des vergegenständli­ chenden Erkennens gewahrt bleibt. Die Verschränkung von Unbedingtheit und Bedingtheit im Menschen zeigt sich in vielfältiger Weise. Sie manifestiert sich im kategorischen Forderungscharakter des Sittlichen und, mit ihm ein­ hergehend, in jenem ambivalenten Gefühl der »Achtung vor dem Gesetz«, in dem der Mensch als endliches und doch zur Freiheit be­ rufenes Wesen gleichzeitig gedemütigt und erhoben wird. Die Ver­ schränkung des Unbedingten und des Bedingten erweist sich aber auch darin, daß der Mensch den sittlichen Anspruch, unter dem er sich vorfindet, nicht theoretisch-spekulativ einholen und in definiti­ ves Wissen transformieren kann. Der Anspruch unbedingten Sollens - aus dem zugleich das Bewußtsein des Könnens, d. h. der sittlichen Freiheit entspringt - drängt sich dem Menschen als »Faktum der Ver­ nunft« auf, d. h. als eine existentielle Tatsache, die theoretisch nicht mehr weiter hintergehbar und doch praktisch gewiß ist. Wenn immer es darum geht, den unbedingten Anspruch sitt­ licher Verantwortung zur Darstellung zu bringen - und dies ge­ schieht vorgängig zu jeder philosophischen Reflexion in der sittW 15

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I. Einleitung

liehen Praxis - sind unbewußt oder bewußt Symbole im Spiel. Schon die Universalisierungsforderung im kategorischen Imperativ läßt sieh als ein grundlegender Akt symbolischer Vermittlung verstehen, in dem die allgemeine Gesetzlichkeit des Verstandes - veranschau­ licht am »Typus« des strengen Naturgesetzes - als Medium zur indi­ rekten Darstellung des sittlich Unbedingten fungiert. Auch die alter­ native Formulierung des kategorischen Imperativs, nämlich die Forderung nach Respektierung jedes Menschen als »Zweck an sich«, hat symbolischen Gehalt, da der Mensch darin als Repräsentant des sittlich Unbedingten zur Geltung kommt. Die Beziehung zwischen Moral und Recht ist ebenfalls eine indirekt vermittelte, da das Men­ schenrecht auf gleiche Freiheit auf jene innere Autonomie des sitt­ lichen Willens verweist, die sich der direkten Vergegenständlichung (und ergo einer direkten Verrechtlichung) entzieht und doch im Frei­ heitsrecht Anerkennung findet. Von vornherein unverzichtbar ist die Symbolik in der Religionsphilosophie, in der die Sinngehalte des sitt­ lichen Freiheitsbewußtseins über die Ebene des lebenspraktisch Einlösbaren hinaus im Blick auf eine nur von Gott zu erhoffende umfassende Versöhnung ausgelegt werden. Man könnte weitere Bei­ spiele nennen. So spricht Kant etwa auch dem Schönen in der Natur Bedeutung als Symbol für das Moralisch-Gute zu.

2.

Die Symbolik in den Schriften Kants

Der zentrale Stellenwert der Symbolik für die praktische Philosophie ist in der Kant-Literatur nicht immer angemessen zum Tragen ge­ kommen.1 Dies mag auch daran liegen, daß Kant selbst auf das The-* S. 1 In vielen Abhandlungen fehlt die Thematik ganz. Ausführlicher thematisiert wird die Rolle der symbolischen Darstellung für Kants praktische Philosophie jedoch u.a. bei Erich Adickes, Kant und die Als-Ob-Philosophie (Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann, 1927); Gerhard Krüger, Philosophie und Moral in der Kantischen Kritik (Tübingen: Mohr-Siebeck, 2. Aufl. 1967), S. 83 ff.; JohnR. Silber, Der Schematismus der prakti­ schen Vernunft, in: Kant-Studien 56 (1965), S. 253-273; Johannes Schwartländer, Der Mensch ist Person. Kants Lehre vom Menschen (Stuttgart: Kohlhammer, 1968), S. 154 ff.; Michel Despland, Kant on History and Religion (Montreal/ London: McGill - Queen's University Press, 1973); Gerhard Luf, Freiheit und Gleichheit. Die Aktualität im politischen Denken Kants (Wien/ New York: Springer, 1978), S. 30 ff.; Friedrich Kaulbach, Das Prinzip Handlung in der Philosophie Kants (Berlin/New York: de Gruyter, 1978), S. 63ff.; 84ff.; Heinrich Böckerstette, Aporien der Freiheit und ihre Aufklä­ rung durch Kant (Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 1982), S. 325 ff.;

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PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

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2. Die Symbolik in den Schriften Kants

ma zwar wiederholt zu sprechen kommt, es aber nicht wirklich ent­ faltet. »Es ist zu bedauern«, schreibt Gerhard Krüger, »daß Kant die indirekte Darstellung nie in ähnlicher Ausführlichkeit untersucht hat wie die direkte.«2 Innerhalb der ethischen Schriften (im engeren Sin­ ne) wird die Thematik vor allem in dem kurzen und schwierigen Abschnitt »Von der Typik der reinen praktischen Urteilskraft« in der Kritik der praktischen Vernunft behandelt.3 Ansonsten finden sich die einschlägigen Ausführungen eher außerhalb der ethischen Darlegungen. Wichtig ist die Dialektik in der Kritik der reinen Ver­ nunft, darin vor allem der Abschnitt »Von der Endabsicht der natürli­ chen Dialektik der menschlichen Vernunft«.4 Einige Hinweise finden sich auch in den Prolegomena.S. 5 Die systematischsten Ausführungen über das Verhältnis von direkter (»schematischer«) und indirekter (»symbolischer«) Darstellung enthält die Kritik der Urteilskraft. Wiederum aber ist die entsprechende Passage recht knapp gehalten. Leider bricht Kant seine Ausführungen bald schon ab - freilich nicht ohne die Bedeutung der Thematik mit den Worten zu würdigen: »Dies Geschäft ist bis jetzt noch wenig auseinander gesetzt worden, so sehr es auch eine tiefere Untersuchung verdient; allein hier ist Hans-Michael Ferdinand, »Einhelligkeit von Moral und Politik«. Zu Kants kritischer Bestimmung des Friedens, Diss. Tübingen 1987, S. 156 ff.; Paul Guyer, Kant and the experience of freedom. Essays on aesthetics and morality (Cambridge: Cambridge University Press, 1993); Guido Löhrer, Menschliche Würde. Wissenschaftliche Geltung und metaphorische Grenze der praktischen Philosophie Kants (Freiburg i.Br.: Alber, 1995), S. 217 ff.; Claus Dierksmeier, Das Noumenon Religion. Eine Untersuchung zur Stellung der Religion im System der praktischen Philosophie Kants. Kantstudien Ergänzungs­ hefte 133 (Berlin/New York: de Gruyter, 1998), S. 40ff. - Überraschenderweise kommt die Kantische Symbolik bei jenem Philosophen nur selten vor, dessen Namen wie der keines anderen mit dem Symbolbegriff verbunden ist und der außerdem selbst im wei­ testen Wortsinne aus der neukantianischen Schule hervorgegangen ist: nämlich bei Ernst Cassirer. Dies mag damit zusammenhängen, daß Cassirer eher an erkenntnistheo­ retischen und kulturphilosophischen Fragen interessiert ist als an praktisch-normativen Problemen. Für Kant ist die symbolische Darstellung indessen vor allem (nicht ausschließlich) in der praktischen Philosophie relevant. Eine knappe Erörterung der Kantischen Symbolik - in Kontrastierung zum für Cassirers Philosophieren letztlich wichtigeren Symbolbegriff Goethes - findet sich in: Ernst Cassirer, Die Idee der repu­ blikanischen Verfassung. Rede zur Verfassungsfeier am 11. August 1928, neu abge­ druckt in: Enno Rudolphl Hans Jörg Sandkühler (Hg.), Symbolische Formen, mögliche Welten - Ernst Cassirer, Dialektik, Heft 1995/1, S. 13-30, hier S. 23-27. 2 Krüger, a.a.O., S. 86. 3 Vgl. KpV, AAV, S. 67 ff. 4 Vgl. KrV, AAIII, S. 442ff. 5 Vgl. Prolegomena, AA IV, S. 357 ff.

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I. Einleitung

nicht der Ort, sich dahei aufzuhalten.«6 Schließlich enthält die Reli­ gionsschrift eine Fülle von Hinweisen, die indessen nicht systema­ tisch entwickelt werden.7 Ziel der vorliegenden Arheit ist es, die teils verstreuten Hinwei­ se Kants zur Rolle der Symholik zusammenzutragen und aufein­ ander zu heziehen. Der auf diese Weise rekonstruierte zentrale Stel­ lenwert der Symholik läßt sich sodann auch für die Interpretation einiger Kantischer Gedankengänge fruchtbar machen, in denen von Symholen nicht ausdrücklich die Rede ist. Dies gilt etwa für den Ab­ schnitt »Von dem erlaubten moralischen Schein« in der Anthropolo­ gie in pragmatischer Hinsicht,8 in dem Kant die konventionelle Höflichkeit als eine spielerische Ausdrucksform wechselseitiger Ach­ tung rechtfertigt.

3.

Sinnbezüge der Freiheit

Die Reflexion auf die vermittelnde Rolle der Symholik ermöglicht es, die unterschiedlichen Sachbereiche der praktischen Philosophie Kants - Moral, Recht, Politik, Geschichte, Religion - systematisch miteinander in Beziehung zu setzen und als offenes Sinnganzes zu verstehen. Dahei zeigt sich einmal mehr, daß der gegen Kant häufig erhobene Vorwurf des »Dualismus« verfehlt ist. Die hegrifflichen Differenzierungen, die Kant einführt und auf die er großen Nach­ druck legt - z.B. zwischen Freiheitsordnung und Naturordnung, Pflicht und Neigung, Ethik und Ästhetik, Moral und Recht, Moral und Religion - laufen nicht etwa auf ahstrakte Trennungen hinaus, sondern dienen gerade dazu, die Beziehung zwischen unterschiedli­ chen Geltungsansprüchen und Erfahrungsehenen zu explizieren. Die hegrifflichen Differenzierungen Kants stehen einer Integration der unterschiedlichen Geltungsansprüche deshalh nicht nur nicht im Wege, sondern hahen ihre Funktion wesentlich darin, diese Integra­ tion als eine kritisch-reflektierte Vermittlung positiv zu ermög­ lichen. In diesem Zusammenhang kommt der Symholik entscheiden-

6 KU, AAV, S. 352. 7 Vgl. Despland, a.a.O., S. 261, der Kants Ausführungen zur Symholik in der Religi­ onsphilosophie eingehend würdigt, darin gleichwohl nur »the heginnings of a systematic theory of symhols« sieht. 8 Vgl. Anthropologie, AAVII, S. 151 ff.

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3. Sinnbezüge der Freiheit

de Bedeutung zu. Denn sie erlaubt es, die unterschiedlichen Sinn­ ebenen menschlicher Praxis auf ihren Grund, die Unbedingtheit sitt­ licher Freiheit, zu beziehen und damit als offenen Sinnzusammen­ hang zu explizieren. Die umfassenden Sinnbezüge, die sich im sittlichen Freiheits­ bewußtsein erschließen, machen es auch möglich, die Themen der Metaphysik in neuer Weise aufzugreifen. Metaphysik - formelhaft verdichtet in der Trias von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit - ist und bleibt für Kant ein legitimes Anliegen, mehr noch: sie bildet, wie er betont, das höchste Ziel der menschlichen Vernunft. Die Art und Weise, in der der Mensch die Grundfragen der Metaphysik stellt und Antworten auf sie sucht, hat sich in der Moderne gegenüber früheren Zeiten allerdings grundlegend verändert. Nirgendwo wird der Umbruch deutlicher als in der Philosophie Kants. Denn Kant un­ terzieht die traditionelle spekulative Metaphysik, wie sie auch in der aufklärerischen Schulphilosophie der Leibniz-Wolffschen Prägung fortbesteht, einer rückhaltlosen Kritik. Diese Kritik bedeutet indes nicht das Ende der metaphysischen Fragen. Vielmehr wird die sich im sittlichen Freiheitsanspruch offenbarende Unbedingtheit des Sollens zur Grundlage einer neuen und kritischen Metaphysik, die sich nicht fälschlich als Wissenschaft ausgibt, sondern einen vernünftigen Glauben ausmacht. In diesem Sinne ist Kants berühmtes Diktum aus der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft zu verstehen: »Ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen«.9 Die Freiheit, die sich als Idee der Vernunft jeder vergegenständlichenden Erkenntnis entzieht, eröffnet die Mög­ lichkeit, die Grundfragen der Metaphysik neu zu stellen und auch Antworten zu wagen. Diese haben nicht den Status gegenständlichen Wissens, sondern kommen zur Geltung als ein vernünftiger Glaube, der sich in der Sprache der Symbole auslegt. Blendet man Kants Interesse an den metaphysischen Grundfra­ gen aus, so wird seine Philophie um eine entscheidende Dimension verkürzt. Der Einwand, den Gerhard Krüger in dieser Hinsicht vor mehr als einem Menschenalter gegen einen primär erkenntnistheo­ retisch orientierten Neukantianismus richtet,10 gilt heute ähnlich auch im Blick auf die »postmetaphysischen« Kantanleihen etwa in

9 KrV, AAIII, S. 19. (Hervorhebungen im Original.) 10 Vgl. Krüger, a.a.O., S. 6f.

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I. Einleitung

der Diskurstheorie:11 Sie sind als »postmetaphysisches« Projekt zu­ gleich »postkantisch«, und zwar nicht nur in dem Sinne, daß sie die Kantische Philosophie in vieler Hinsicht kritisch weiterentwickeln, sondern auch in dem Sinne, daß sie ein wesentliches Anliegen Kants aufgegehen haben. Wenn die Philosophie aber stumm wird ange­ sichts der metaphysischen Fragen des Menschen, dann besteht die Gefahr, daß Metaphysik sich zum Reservat einer Esoterik verengt, die aufklärerischem Denken keinen Raum mehr bietet. Im Gegenzug entsteht der falsche Eindruck, als gehe der moderne Prozeß aufkläre­ rischer »Entzauberung der Welt« (Max Weher) notwendig einher mit sukzessivem Sinnverlust. Demgegenüber eröffnet die Kantische Philosophie ein Verständnis moderner Aufklärung, das zwar um der Freiheit des Menschen willen mit allem »falschen Zauber« rückhalt­ los aufräumt, gerade dadurch aber in neuer Weise »Bewunderung und Ehrfurcht«12 freisetzt.

11 Vgl. den programmatischen Titel von Karl-Otto Apel, Diskursethik als Verantwor­ tungsethik - eine postmetaphysische Transformation der Ethik Kants, in: Gerhard Schönrich! Yasushi Kato (Hg.), Kant in der Diskussion der Moderne (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1996), S. 326-359. Vgl. auch Jürgen Habermas, Nachmetaphysisches Den­ ken: Philosophische Aufsätze (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1988). - Vgl. dagegen z.B. Herbert Schnädelbach, Metaphysik und Religion heute, in: Zur Rehabilierung des ani­ mal rationale. Vorträge und Abhandlungen 2 (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1992), S. 137-157, hier S. 137: »Nach wie vor betrachte ich metaphysische Fragen als unab­ weisbar, weil sie uns >von der Vernunft selbst aufgegebenc (Kant) sind, und wenn be­ stimmte Typen von Antworten nicht länger akzeptabel sind, kann das nicht heißen, daß jene Fragen nicht mehr gestellt werden dürfen.« 12 Vgl. KpV, AAV, S. 161.

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PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

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II. Kants Sokratische Aufklärung

1.

Ausgang aus selbstverschuldeter Unmündigkeit

»Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner seihst ver­ schuldeten Unmündigkeit.«1 Die Pointe dieses herühmten Auftakts in Kants Aufklärungsschrift hesteht im Begriff der »seihst verschul­ deten Unmündigkeit«, der ein Paradox darstellt: Denn Unmündig­ keit heschreiht einen Zustand, in dem der Mensch nicht (oder nur eingeschränkt) fähig ist, Verantwortung für sich selhst, seine Mit­ menschen und das Gemeinwesen zu ühernehmen. Sie ist, so Kant, »das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines ande­ ren zu hedienen«.2 Und doch soll der Mensch diesen Zustand selbst verschuldet hahen, für ihn also hereits Verantwortung tragen. Der Mensch ist dafür verantwortlich, daß er seine Verantwortlichkeit nicht - oder jedenfalls nicht in vollem Umfang - realisieren kann. Soll die paradoxe Wendung nicht einen regelrechten logischen Wi­ derspruch darstellen, so kann die Unmündigkeit, aus der Aufklärung herausführen soll, keine totale Unmündigkeit sein. Als selhst ver­ schuldet, so hetont Kant, kann die Unmündigkeit nur gelten, »wenn die Ursache derselhen nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Anleitung eines andern zu hedienen«.3 Der Mensch könnte, wenn er wollte, seine Situation der - insofern nur relativen - Unmündigkeit verän­ dern. Sein Unvermögen ist kein unahänderliches Schicksal. Aufklä­ rung hat daher immer auch Appell-Charakter: »Sapere aude! Hahe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu hedienen!«4 Aufklärung appelliert an Möglichkeiten des Menschen, die die­ 1 2 3 4

Aufklärung, AAVIII, Aufklärung, AA VIII, Aufklärung, AAVIII, Aufklärung, AAVIII,

S. S. S. S.

35. (Im Original gesperrt.) 35. 35. 35. (Hervorhehung im Original.)

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II. Kants Sokratische Aufklärung

ser um seiner Menschenwürde willen realisieren soll. Der Appell hat imperativen Charakter und schärft dem Menschen eine fundamen­ tale Pflicht ein, nämlich die Verantwortung für die Aktualisierung seiner mündigen Verantwortlichkeit. Da die Würde des Menschen in seiner Befähigung zur verantwortlichen Lebensführung liegt, hie­ ße der bewußte Verzicht auf die Entfaltung der eigenen Verantwort­ lichkeit, »die heiligen Rechte der Menschheit verletzen und mit Füßen treten«.5 Eine förmliche, für alle künftige Zeit geltende ver­ tragliche Absage an Aufklärung und Mündigkeit - wie sie gelegent­ lich in zeitgenössischen Vorstellungen eines Unterwerfungsvertrages gedacht war - wäre für Kant die größte denkbare Absurdität. Ein solcher Vertrag wäre »schlechterdings null und nichtig«,6 ja »ein Ver­ brechen wider die menschliche Natur«.7 Der Imperativ der Aufklärung setzt voraus, daß der Mensch gleichermaßen aufklärungsbedürftig wie aufklärungsfähig ist. Daß Aufklärung keineswegs schon voll realisiert ist, steht für Kant fest. Auf die Frage »Leben wir jetzt in einem aufgeklärten Zeitalter?« lautet seine Antwort: »Nein, aber wohl in einem Zeitalter der Auf­ klärung.«8 Aufklärung ist keine Errungenschaft, die es in postaufklä­ rerischer Selbstgewißheit allenfalls noch zu bewahren gilt, sondern bleibende Aufgabe. Diese kann allerdings nur dann in Angriff ge­ nommen werden, wenn die prinzipielle Aufklärungsfähigkeit des Menschen unterstellt wird. Andernfalls wäre Aufklärung nur denk­ bar als Akt äußerer Einwirkung, durch den der Mensch überhaupt erst als Verantwortungswesen »geschaffen« würde - wie etwa Rous­ seau es von jenem fiktiven »legislateur« erhofft, einem übermensch­ lichen Erzieher, der in der Lage sein müßte, »sozusagen die mensch­ liche Natur zu ändern«.9 Kant weist solche Vorstellungen zurück. Sein Verständnis von Aufklärung kennt keine »Stunde Null«. Ohne absoluten Anfang und ohne absolutes Ende vollzieht Aufklärung sich als beständiger Reformprozeß, d. h. als der selbständige »Ausgang« des Menschen aus einem Zustand der relativen Unmündigkeit hin zu einem Zustand höherer und bewußterer Mündigkeit. Für Kant kann Aufklärung nur gelingen als Selbst-Aufklärung. 5 Aufklärung, AAVIII, S. 39. 6 Aufklärung, AAVIII, S. 39. 7 Aufklärung, AAVIII, S. 39. 8 Aufklärung, AAVIII, S. 40. (Hervorhebungen im Original.) 9 Jean-Jacques Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts II,7 (zitiert nach der Ausgabe von Hans Brockard, Stuttgart: Reclam, 1977), S. 43.

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1. Ausgang aus selbstverschuldeter Unmündigkeit

Nur wenn jeder Einzelne als mögliches Subjekt von Aufklärung re­ spektiert wird, ist diese davor geschützt, sich in autoritärer »Zwangs­ befreiung« zu verlieren. Die Achtung der Freiheit jedes Individuums ist nicht nur Ziel, sondern zugleich auch unabdingbare Vorausset­ zung von Aufklärung. Allerdings wäre es ein Mißverständnis zu glauben, daß die geforderte Selbst-Aufklärung von isolierten Indivi­ duen zustande gebracht werden könnte. Denn die Hindernisse auf dem Weg zur Mündigkeit liegen nicht allein in einem Mangel an individuellem Mut und individueller Entschlußkraft, sondern haben darüber hinaus strukturelle Ursachen. Vormundschaftsverhältnisse können sich strukturell verfestigen, weil nicht nur denjenigen, die sich bevormunden lassen, die Abhängigkeit durch Gewohnheit und Herkommen selbstverständlich vorkommt und »beinahe zur Natur« geworden ist;10 auch die Vormünder sind vielfach daran interessiert, ihre Autoritätsstellung zu verteidigen, und verketzern deshalb Auf­ klärung als gefährlichen Irrweg: »Nachdem sie ihr Hausvieh zuerst dumm gemacht haben und sorgfältig verhüteten, daß diese ruhigen Geschöpfe ja keinen Schritt außer dem Gängelwagen, darin sie sie einsperrten, wagen durften, so zeigen sie ihnen nachher die Gefahr, die ihnen droht, wenn sie es versuchen allein zu gehen.«11 Angesichts der strukturellen Hindernisse bedarf Aufklärung ge­ meinschaftlicher und öffentlicher Bemühungen. Auch wenn sie sich als Appell stets an jeden Einzelnen richtet, muß sie zugleich zum öffentlichen Projekt werden, in dem Menschen einander wechselsei­ tig auffordern und ermutigen, um in gemeinsamer Kritik eine frei­ heitliche politische Kultur zustandezubringen. Individuelle Aufklä­ rung und politische Aufklärung bedingen einander wechselseitig. Nicht nur setzt Aufklärung als politisches Projekt die Möglichkeit individueller Verantwortlichkeit voraus, die unter allen Umständen respektiert werden muß. Umgekehrt gilt auch, daß die Individuen ohne öffentliche Debatten ihre Denkfähigkeit - und damit die Vor­ aussetzung mündiger Verantwortung - nicht wirklich entfalten können. Kant stellt die rhetorische Frage, »wie viel und mit welcher Richtigkeit würden wir wohl denken, wenn wir nicht gleichsam in Gemeinschaft mit andern, denen wir unsere und die uns ihre Gedan­ ken mittheilen, dächten!«12 Aufklärung, die als bloß individuelles 10 Aufklärung, AA VIII, S. 36. 11 Aufklärung, AA VIII, S. 35. 12 Kant, Was heißt: Sich im Denken orientiren? (1786),AAVIII/ S. 144. (Hervorhebun-

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Unterfangen kaum gelingen dürfte,*13 verlangt eine kritische Öffent­ lichkeit. Denn, wie Kant betont: »Daß aber ein Publicum sich selbst aufkläre, ist eher möglich; ja es ist, wenn man ihm nur Freiheit läßt, beinahe unausbleiblich.«14

2.

Philosophie im Dienste der Aufklärung

Eine Philosophie, die sich im Dienst allgemeiner Aufklärung ver­ steht, muß auf jeden autoritären Gestus verzichten. Insofern mag es sinnvoll sein, daß die philosophische Fakultät im Kanon der univer­ sitären Disziplinen lediglich als die »untere« Fakultät gilt, wie Kant ironisch vermerkt.15 Denn anders als die »oberen« Fakultäten, zumal Theologie und Jurisprudenz, kann sie sich nicht auf äußere Autoritä­ ten stützen. Sie spricht nicht im Namen einer göttlichen Offenba­ rung oder eines staatlichen Gesetzgebers, sondern bewegt sich allein im Medium der für jeden Menschen zugänglichen Vernunft. Im Par­ lament der Fakultäten, so drückt Kant sich metaphorisch aus, sitzt die Philosophie auf der linken Seite, weil sie die Autoritätsansprüche der staatstragenden »rechten« Disziplinen kritisch prüft und in die Schranken weist,16 um damit zugleich der Vernunft allgemein die Bahn zu brechen. gen im Original.) Angesichts solcher klarer Aussagen, die sich in großer Zahl finden lassen, bleibt es unerfindlich, wie jemals der Vorwurf des »Solipsismus« gegen Kant aufkommen konnte, der sich bis heute hartnäckig gehalten hat. So z. B. jüngst Wolfgang Kuhlmann, Solipsismus in Kants praktischer Philosophie und die Diskursethik, in: Ger­ hard Schönrichf Yasushi Kato (Hg.), Kant in der Diskussion der Moderne (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1996), S. 360-395. Zur Bedeutung der gesellschaftlichen Öffentlich­ keit für Kants Verständnis von Aufklärung vgl. auch Norbert Hinske, Pluralismus und Publikationsfreiheit im Denken Kants, in: Johannes Schwartländerf Dietmar Willoweit (Hg.), Meinungsfreiheit. Grundgedanken und Geschichte in Europa und USA (Kehl/ Straßburg: N. P. Engel, 1986), S. 31-49. 13 Vgl. Aufklärung, AAVIII, S. 36: »Daher giebt es nur Wenige, denen es gelungen ist, durch eigene Bearbeitung ihres Geistes sich aus der Unmündigkeit heraus zu wickeln und dennoch einen sicheren Gang zu thun.« 14 Aufklärung, AAVIII, S. 36. 15 Vgl. Streit, AAVII, S. 20: »Daß aber eine solche Facultät [nämlich die philosophische] unerachtet dieses großen Vorzugs (der Freiheit) dennoch die untere genannt wird, davon ist die Ursache in der Natur des Menschen anzutreffen: daß nämlich der, welcher befeh­ len kann, ob er gleich ein demüthiger Diener eines andern ist, sich doch vornehmer dünkt als ein anderer, der zwar frei ist, aber niemandem zu befehlen hat.« 16 Vgl. Streit, AAVII, S. 35: »Die Classe der obern Fakultäten (als die rechte Seite des

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2. Philosophie im Dienste der Aufklärung

Alle schulphilosophischen Bemühungen, die die Philosophie als akademische Disziplin unternimmt, gewinnen ihren Sinn erst da­ durch, daß im Philosophieren die Möglichkeiten und Grenzen des Menschseins deutlicher zu Bewußtsein - und zwar ins öffentliche Bewußtsein - kommen sollen. Die Philosophie »nach dem Schulhe­ griffe«17 steht im Dienst jener ewigen Menschheitsfragen, deren Be­ denken Kant als Philosophie »nach dem Welthegriffe«18 hezeichnet: Was kann ich wissen? - Was soll ich tun? - Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch?19 Ein Philosophieren, das sich diesen Mensch­ heitsfragen verpflichtet weiß, kann niemals doktrinär sein. Seine Aufgahe hesteht darin, lediglich das zur Klarheit zu hringen, was auch dem gemeinsten Menschenverstand, wie vage auch immer, doch im Grunde hereits hewußt ist. Wie Aufklärung zuletzt nur als Selbst­ Aufklärung möglich ist, so gilt auch für die Philosophie, daß sie sich nicht anders denn als Selbstdenken vollziehen kann. »Philosophiren läßt sich aher nur durch Ühung und selhsteigenen Gehrauch der Ver­ nunft lernen.«20 Nach dem Zeugnis seines Biographen Borowski hat Kant seine Vorlesungen regelmäßig mit dem Hinweis eingeleitet, »daß er lehren würde nicht Philosophie, sondern philosophieren«.21 Was für die Kantische Philosophie im allgemeinen gilt, trifft in verstärktem Maße für die praktische Philosophie zu. Als Klärung der Prinzipien sittlichen Handelns kann sie sich nur in Rückhindung an die allgemeine Menschenvernunft und das sittliche Bewußtsein jedes Menschen vollziehen. Christian Garve, der der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten den Vorwurf macht, mit dem kategorischen Imperativ »kein neues Princip der Moralität, sondern nur eine neue Parlaments der Gelahrtheit) vertheidigt die Statute der Regierung, indessen daß es in einer so freien Verfassung, als die sein muß, wo es um Wahrheit zu thun ist, auch eine Oppositionspartei (die linke Seite) gehen muß, welche die Bank der philosophischen Facultät ist, weil ohne deren strenge Prüfung und Einwürfe die Regierung von dem, was ihr selhst ersprießlich oder nachtheilig sein dürfte, nicht hinreichend helehrt wer­ den würde.« 17 Logik, AAIX, S. 24. 18 Logik, AA IX, S. 23. 19 Vgl. Logik, AA IX, S. 25. 20 Logik, AA IX, S. 25. 21 Ludwig Ernst Borowski, Darstellung des Lehens und Charakters Immanuel Kants (1804), neu ahgedruckt in: Felix Groß (Hg.), Immanuel Kant. Sein Lehen in Darstel­ lungen von Zeitgenossen. Die Biographien von L. E. Borowski, R. B. Jachmann und E. A. Ch. Wasianski (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1993), S. 1-102, hier S. 36.

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Formel aufgestellt« zu haben, hat, wie Kant ironisch erwidert, »es besser getroffen, als er wohl selbst gemeint haben mag«. Denn, so fragt er rhetorisch: »Wer wollte aber auch einen neuen Grundsatz aller Sittlichkeit einführen und diese gleichsam zuerst erfinden? gleich als ob vor ihm die Welt in dem, was Pflicht sei, unwissend oder in durchgängigem Irrthume gewesen wäre.«22 Im Anschluß an Rous­ seau betont Kant immer wieder, daß Moralität kein Privileg der In­ tellektuellen und Gebildeten sein kann, sondern sich als Anspruch und Möglichkeit an jeden Menschen, unabhängig von dessen Bil­ dungsgrad, richtet. Es wäre deshalb ein Verstoß gegen die gebotene Achtung vor der moralischen Bestimmung jedes Menschen, wollte Philosophie sich anmaßen, moralische Prinzipien von Grund auf neu zu schaffen. Vielmehr erweist sich Moralphilosophie gegenüber der Wirklichkeit des moralischen Anspruchs gewissermaßen als se­ kundär, insofern sie sich reflexiv auf diesen - gegebenen - Anspruch bezieht, um ihn zu klären und methodisch zu vergewissern.23 Ein solches Unterfangen ist nach Kant gleichwohl keine bloß akademi­ sche Übung. Auch wenn seine Grundlegung lediglich eine »neue For­ mel« erbracht hat, wie Garve treffend bemerkt, so hat die dadurch ermöglichte Klärung des sittlichen Bewußtseins durchaus einen praktischen Nutzen. Deshalb fährt Kant in seiner Replik fort: »Wer aber weiß, was dem Mathematiker eine Formel bedeutet, die das, was zu thun sei, um eine Aufgabe zu befolgen, ganz genau bestimmt und nicht verfehlen läßt, wird eine Formel, welche dieses in Ansehung aller Pflicht überhaupt thut, nicht für etwas Unbedeutendes und Ent­ behrliches halten.«24

3.

Das Vorbild des Sokrates

Zum Verständnis der Kantischen Denkungsart ist es aufschlußreich, Kants hohe Wertschätzung für Sokrates in Betracht zu ziehen, den Philosophen schlechthin, von dem er bekennt, daß »dessen Verhalten der Idee eines Weisen am nächsten kommt«.25 In mehrerer Hinsicht 22 KpV, AAV, S. 8 Fußnote. (Hervorhebung im Original.) 23 Vgl. Volker Gerhardtl Friedrich Kaulbach, Kant (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1979), S. 75: Die praktische Philosophie Kants formuliere kein bloß abstraktes Sollen, sondern vollziehe sich als »Selbstreflexion der Praxis«. 24 KpV, AA V, S. 8 Fußnote. (Hervorhebung im Original.) 25 Logik, AA IX, S. 29. (Hervorhebung im Original.)

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3. Das Vorbild des Sokrates

orientiert sich Kant immer wieder an Sokrates. Drei Aspekte seien hier herausgegriffen: a) der Primat des Praktischen, b) die sokratisches »Hebammenkunst« und c) die Frontstellung gegen eine sophi­ stische Halbaufklärung. a)

Primat des Praktischen

»Die wichtigste Epoche der griechischen Philosophie«, schreibt Kant in seinem Kurzüberblick über die Geschichte der Philosophie, »hebt endlich mit dem Sokrates an. Denn er war es, welcher dem philoso­ phischen Geiste und allen speculativen Köpfen eine ganz neue prak­ tische Richtung gab.«26 Wissen ist eitel, wenn es zum Selbstzweck wird. Kant, nach seinem eigenen Zeugnis »aus Neigung ein For­ scher«,27 wird vor allem durch die Lektüre der Schriften Rousseaus darauf gestoßen, daß es ein Irrweg ist, die Ehre der Menschheit in der Wissenschaft zu sehen und die Unwissenden deshalb zu verachten. Sein Bekenntnis zu Rousseau - »Rousseau hat mich zurecht ge­ bracht«28 - ist zugleich ein Bekenntnis zum Sokratischen Philoso­ phieren, das die Aufklärung in den Dienst sittlicher Praxis stellt. Von daher betont er: »ich würde mich unnützer finden wie den ge­ meinen Arbeiter wenn ich nicht glaubete daß diese Betrachtung allen übrigen einen Werth ertheilen könne, die rechte der Menschheit her­ zustellen.«29 In seinen biographischen Notizen schreibt Reinhold Bernhard Jachmann über Kant: »Sein Herz zog seinen Geist aus den Regionen abstrakter Spekulationen in das menschliche Leben her­ ab.«30 Der von Kant in seiner Vernunftkritik systematisch herausgear­ beitete Primat des praktischen Vernunftgebrauchs, daß nämlich »al­ les Interesse zuletzt praktisch ist, und selbst das der speculativen Ver­ nunft nur bedingt und im praktischen Gebrauche allein vollständig 26 Logik, AAIX, S. 29. (Hervorhebungen im Original.) 27 Handschriftlicher Nachlaß, 7. Band, AA XX, S. 44. 28 AA XX, S. 44. Zum Eindruck der Lektüre Rousseaus auf Kant vgl. auch Karl Vorlän­ der, Kants Leben, neu hg. von Rudolf Malter (Hamburg: Meiner, 4. Aufl. 1986), S. 68: »Rousseaus Werke kannte er sämtlich, sein Bild allein - von Freund Ruffmann ge­ schenkt - schmückte die sonst kahlen Wände seines Studierzimmers, und als der Emile 1762 erschien, geschah das Ungewohnte, daß seine Lektüre unseren Philosophen meh­ rere Tage hintereinander von seinem regelmäßigen Spaziergang zurückhielt.« 29 AA XX, S. 44. 30 Reinhold Bernhard Jachmann, Immanuel Kant geschildert in Briefen an einen Freund (1804), neu abgedruckt in: Groß (Hg.), a.a.O., S. S. 103-187, hier S. 124.

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ist«,31 klingt auch bereits in seinen vorkritischen Schriften immer wieder an. Schon in den »Träumen eines Geistersehers«, einer geist­ vollen Absage an eitle metaphysische Spekulationen, beruft Kant sich auf Sokrates: »Wenn die Wissenschaft ihren Kreis durchlaufen hat, so gelangt sie natürlicher Weise zu dem Punkte eines bescheide­ nen Mißtrauens und sagt, unwillig über sich selbst: Wie viel Dinge giebt es doch, die ich nicht einsehe! Aber die durch Erfahrung gereif­ te Vernunft, welche zur Weisheit wird, spricht in dem Munde des Sokrates mitten unter den Waaren eines Jahrmarkts mit heiterer Seele: Wie viel Dinge giebt es doch, die ich alle nicht brauche!«32 Weil der Dünkel des vermeintlichen Vielwissens die Vernunft von ihren wesentlichen praktischen Zwecken ablenkt, preist Kant die Sokratische Selbstbescheidung als »eine rühmliche Unwissenheit, eigentlich ein Wissen des Nichtwissens nach seinem eigenen Ge­ ständnisse«.33 Wenn er in der Kritik der praktischen Vernunft er­ wägt, »daß die unerforschliche Weisheit, durch die wir existiren, nicht minder verehrungswürdig ist in dem, was sie uns versagte, als in dem, was sie uns zu theil werden ließ«,34 weil nämlich nur im letzten Nichtwissen über den Lauf der Welt und die Zukunft des Menschen Freiheit möglich ist, steht er selbst wiederum in der Tradi­ tion des Sokratischen Denkens und seinem Primat des Praktischen. Die praktische Bestimmung zur Moralität ist es denn auch, die den Grund abgibt für Kants kritische Neubegründung einer Metaphysik, die sich nicht als Wissenschaft ausgibt, sondern sich als vernünftiger Glaube ausweisen kann. b)

Sokratische Hebammenkunst

Sokrates, der Sohn einer Hebamme, hat sein eigenes Philosophieren bekanntlich mit der Hebammenkunst verglichen,35 weil es nicht ei­ gentlich einen Zeugungsakt darstellt, durch den etwas Neues in die Welt kommt, sondern nur herauszubringen hilft, was im Grunde be­ reits da ist. Kant versteht sein philosophisches Aufklärungswerk, vor31 32 3

31 KpV, AAV, S. 121. 32 Kant, Träume eines Geistersehers erläutert durch Träume der Metaphysik (1766), AA II, S. 369. (Hervorhebungen im Original.) 33 Logik, AA IX, S. 44f. 34 KpVAAV, S. 148. 35 Vgl. Platon, Theaitetos 149a ff.

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allem seine Moralphilosophie, genau in diesem Sinne. Wiederholt greift er das Motiv der Sokratischen Mäeutik auf. Moralphilosophie kann sich nur als kritisch-reflexive Klärung der sittlichen Praxis vollziehen, indem sie nämlich an das sittliche Bewußtsein der Men­ schen anknüpft und, »ohne sie im mindesten etwas Neues zu lehren, sie nur, wie Sokrates that, auf ihr eigenes Princip aufmerksam macht ...«.36 In seiner Vorlesung über Pädagogik spricht Kant der Sokrati­ schen Methode eine entscheidende Rolle zu: »Bei der Ausbildung der Vernunft muß man sokratisch verfahren. Sokrates nämlich, der sich die Hebamme der Kenntnisse seiner Zuhörer nannte, giebt in seinen Dialogen, die uns Plato gewissermaßen aufbehalten hat, Bei­ spiele, wie man selbst bei alten Leuten manches aus ihrer eigenen Vernunft hervorziehen kann.«37 In der Methodenlehre der Kritik der praktischen Vernunft findet sich ein fiktives Beispiel für dieses Verfahren, wenn Kant sich einen Lehrer vorstellt, der einen etwa zehnjährigen Schüler durch geschicktes Fragen zur selbständigen Entdeckung des Moralprinzips bringt.38 Und auch am Ende der Me­ thodenlehre der Logik steht das Bekenntnis zu Sokrates, dessen dia­ logisches Verfahren den Weg zum Selbstdenken weist: »Der Sokratische Dialog lehrt nämlich durch Fragen, indem er den Lehrling seine eigenen Vernunftprincipien kennen lehrt und ihm die Aufmerksam­ keit darauf schärft.«39 Nicht nur in seiner spekulativen Selbstbescheidung zugunsten des Primats des Praktischen, sondern auch in seinem Verfahren er­ weist sich Kants Philosophieren somit als das Gegenteil jeder dogma­ tischen Doktrin. Es steht in der Tradition des Sokratischen Appells zum Selbstdenken, das sich im Dialog und in öffentlicher Kommuni­ kation entfaltet und bewährt. Daß Kant im Umgang mit seinen Stu­ denten diese Maxime tatsächlich beherzigt hat, betont sein Biograph Borowski, wenn über Kant ausführt: »Aller Nachbeterei war er herz­ lich gram.«40 Herder, einst Schüler und später erbitterter Gegner Kants, berichtet über dessen Vorlesungen: »Er munterte auf und

36 GMS, AAIV, S. 404. 37 Kant, Über Pädagogik, herausgegeben von D. Friedrich Theodor Rink (1803), AA IX, S. 477. (Hervorhebung im Original.) 38 Vgl. KpV AA V, S. 155 ff. 39 Logik, AA IX, S. 150. 40 Borowski, a.a.O., S. 76.

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zwang angenehm zum Selbstdenken; Despotismus war seinem Ge­ müt fremd.«41 Und Moses Mendelssohn schreibt in einem Brief an Kant: »Allein ich weiß auch, daß Sie Widerspruch vertragen, ja daß Sie ihn lieber haben als Nachbeten. So wie ich Sie kenne, ist die Ab­ sicht Ihrer Critikbloß, das Nachbeten aus der Schule der Philosophie zu verbannen.«42 c)

Gegnerschaft zur Sophistik

Mit Rousseau ist Kant davon überzeugt, daß sittliche Praxis nicht von Wissenschaft oder Philosophie abhängig sein kann. »Die Vor­ sehung hat nicht gewollt«, bekennt er in einer seiner Frühschriften, »daß unsre zur Glückseligkeit höchstnöthige Einsichten auf der Spitzfindigkeit feiner Schlüsse beruhen sollten ,..«.43 Diesen Glau­ ben hat Kant sein Leben lang beibehalten und als »eine gewisse lie­ benswürdige Einfachheit«, wie Borowski berichtet, auch praktisch vorgelebt.44 Wäre dann aber nicht der Schluß naheliegend, auf Phi­ losophie ganz zu verzichten, wie dies die Zivilisationskritiker von den antiken Kynikern und Taoisten bis zu Rousseau und seinen Jüngern immer wieder gefordert haben? Kant bleibt entschiedener Anhänger von Aufklärung und Ver­ nunft. In klarer Distanzierung gegenüber Rousseau verweist er dar­ auf, daß die Romantisierung des natürlichen, unverdorbenen Lebens den Ambivalenzen und Gefährdungen menschlicher Existenz nicht gerecht wird: »Es ist eine herrliche Sache um die Unschuld, nur es ist auch wiederum sehr schlimm, daß sie sich nicht wohl bewahren läßt und leicht verführt wird. Deswegen bedarf selbst die Weisheit die sonst wohl mehr im Thun und Lassen als im Wissen besteht -

41 Zitiert nach Vorländer, Kants Leben, a.a.O., S. 47. 42 Brief von Moses Mendelssohn (16. Oktober 1785), Kants Briefwechsel I, AA X, S. 413. 43 Kant, Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes (1763), AA II, S. 65. 44 Borowski, a.a.O., S. 64. Borowski schreibt sogar (ebd.): »Ich pflegte ihn oft einen kindlichen - Mann zu nennen.« Ähnliche Aussagen finden sich auch bei den anderen Biographen, so etwa bei Jachmann, der (a.a.O., S. 128) über Kants Sprache bemerkt: »Wie sehr ihm übrigens alles affektierte Wesen mißfiel, beweiset noch sein Tadel über jede Ziererei in der Sprache.« Kurz darauf heißt es (a.a.O., S. 129): »Daher war er in seiner Sprache selbst so sorglos, daß er Provinzialismen im Munde führte und bei meh­ reren Wörtern der fehlerhaften Aussprache der Provinz folgte.«

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doch auch der Wissenschaft, nicht um von ihr zu lernen, sondern ihrer Vorschrift Eingang und Dauerhaftigkeit zu verschaffen.«45 Die Gefahr der Verführung ist keine bloß äußerliche, gegen die der Mensch sich durch Rückzug aus der Zivilisation immunisieren könnte. Vielmehr liegt sie im Innern des Menschen selbst begründet, nämlich als beständige Versuchung, den unbedingten Anspruch der Moral durch sophistische Einwände zu relativieren. In seiner Religi­ onsschrift spricht Kant von einer »Unredlichkeit, sich selbst blauen Dunst vorzumachen, welche die Gründung ächter moralischer Ge­ sinnung in uns abhält«,46 und den Hang des Menschen zum »radikal Bösen« offenbart.47 Gegen die Gefahr der Selbsttäuschung hilft nicht die Verklärung der Unschuld, sondern nur ein konsequent kritisches Denken. Die intellektuelle Selbsttäuschung, die sich in Fragen der Moral so verderblich auswirkt, aber auch in der Wissenschaft großen Scha­ den anrichtet, nennt Kant ironisch »ars sophistica«.48 Die sprichwört­ liche Gegnerschaft des Sokrates zu den Sophisten kennzeichnet auch sein eigenes kritisches Unterfangen. Es handelt sich um die fun­ damentale Gegnerschaft zwischen einer Philosophie, die ernstlich nach Erkenntnis und zuletzt nach lebenspraktischer Weisheit als dem eigentlichen Vernunftzweck strebt, und einer »Philodoxie«, die auf Schein, Glanz und eitlen Ruhm aus ist, ohne die Frage nach dem Sinn der Erkenntnis zu stellen. »Der Vernunftkünstler oder, wie So­ krates ihn nennt, der Philodox, strebt bloß nach speculativem Wis­ sen, ohne darauf zu sehen, wie viel das Wissen zum letzten Zwecke der menschlichen Vernunft beitrage; er giebt Regeln für den Ge­ brauch der Vernunft zu allerlei beliebigen Zwecken. Der praktische Philosoph, der Lehrer der Weisheit durch Lehre und Beispiel, ist der eigentliche Philosoph.«49 Die sophistische Logik des Scheins zu überwinden ist keine leichte Aufgabe. Denn diese »Dialektik« gründet zuletzt in der Struktur der Vernunft selbst. Einerseits ist die Vernunft in ihrer Funktion gegenständlicher Erkenntnis (d. h. als Verstand) auf den Bereich der Sinneswahrnehmung eingeschränkt, andererseits strebt

45 46 47 48 49

GMS, AAIV, S. 404f. Religion, AA VI, S. 38. Religion, AA VI, S. 28ff. Logik, AA IX, S. 16. Logik, AA IX, S. 24. (Hervorhebungen im Original.)

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sie mit ihrer Tendenz zur Ganzheit - zum Unbedingten, das allen Bedingtheiten zum Grunde liegt - über diesen Bereich des sinnlich Erkennbaren hinaus. Der Mensch sieht sich beispielsweise von der Vernunft zur Idee des Weltganzen gedrängt und gerät dabei in Aporien, weil er einerseits mit seinem Verstand Unendlichkeit nicht fas­ sen kann, andererseits aber die entgegengesetzte Konzeption einer endlichen, begrenzten Welt unvermeidlich die Frage nach dem Jen­ seits dieser Grenze aufwirft.50 Der Widerspruch, in den die Vernunft sich bei solchen letzten Fragen verwickelt, ist unvermeidlich.51 Es handelt sich, genau besehen, um »Sophistikationen, nicht der Men­ schen, sondern der reinen Vernunft selbst, von denen selbst der Wei­ seste unter allen Menschen sich nicht losmachen ... kann«.52 Daher die permanente Gefahr, daß der Mensch die Selbst-Widersprüche der Vernunft als Freibrief für müßige Spekulationen, gewaltsam-dogma­ tische Konstruktionen oder auch für die skeptische Absage an die Vernunft überhaupt mißversteht - mit negativen Auswirkungen nicht nur auf die Wissenschaft, sondern auch auf die Klarheit des sittlichen Bewußtseins. Umso wichtiger ist die Kritik der Vernunft, d. h. der Versuch, über konsequente philosophische Reflexion die in­ neren Widersprüche der Vernunft zwar nicht ein für allemal auf­ zuheben, wohl aber aufzuklären. Was den Philosophen von Philodoxen unterscheidet, ist, daß er sich dieser schwierigen Aufgabe stellt. Er unternimmt es, »1) die Quellen des menschlichen Wissens, 2) den Umfang des möglichen und nützlichen Gebrauchs alles Wissens und endlich 3) die Grenzen der Vernunft« zu bestimmen.53 Von der letz­ ten Aufgabe, der Bestimmung der Grenzen der Vernunft, sagt Kant, daß sie »das nöthigste, aber auch das schwerste« sei, »um das sich aber der Philodox nicht bekümmert«.54 Ohne eine Bestimmung der Geltungsansprüche und der Gren­ zen der Vernunft besteht die Gefahr, daß eine sophistische Halbauf­ 50 Vgl. KrV, AAIII, S. 294 ff. 51 Vgl. KrV, AA III, S. 237: »Es giebt also eine natürliche und unvermeidliche Dialektik der reinen Vernunft, nicht eine, in die sich etwa ein Stümper durch Mangel an Kennt­ nissen selbst verwickelt, oder die irgend ein Sophist, um vernünftige Leute zu verwir­ ren, künstlich ersonnen hat, sondern die der menschlichen Vernunft unhintertreiblich anhängt und selbst, nachdem wir ihr Blendwerk aufgedeckt haben, dennoch nicht aufhören wird ihr vorzugaukeln und sie unablässig in augenblickliche Verwirrungen zu stoßen, die jederzeit gehoben zu werden bedürfen.« 52 KrV, AA III, S. 261. 53 Logik, AA IX, S. 25. 54 Logik, AA IX, S. 25.

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4. Der Weg der Kritik

klärung die Erfahrung des Sittlichen verdunkelt, indem sie beispiels­ weise mit Hinweis auf die kausale Determination allen Naturgesche­ hens die Freiheit und damit die Moralität des Menschen leugnet. Ohne den Sinn von Wissenschaft zu leugnen - davon ist Kant als Verfasser naturwissenschaftlicher Schriften weit entfernt -, geht es ihm doch darum, deren Geltungsanspruch kritisch zu bestimmen und einzuschränken, um für die eigenständige Evidenz moralischer Ein­ sichten wieder Raum zu geben. Auch in diesem Sinne gilt der Satz: »Ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen«.55 Zugleich ist es Kant darum zu tun, diesen moralischen Glauben selbst aufzuklären, d. h. ihn rechenschaftsfähig und kommunikabel zu machen. Nicht um einen blinden und schwärmeri­ schen, sondern um einen vernünftigen Glauben geht es ihm.56 In diesem Bemühen weiß sich Kant wiederum in der Tradition der Sokratischen Aufklärung. Er spricht von dem »unschätzbaren Vorteil« einer systematischen Vernunftkritik, der darin besteht, »allen Einw­ ürfen wider Sittlichkeit und Religion auf sokratische Art, nämlich durch den klärsten Beweis der Unwissenheit der Gegner, auf alle künftige Zeit ein Ende zu machen«.57

4.

Der Weg der Kritik

Sokratisches Philosophieren unterscheidet sich von der Sophistik durch seine Orientierung am letzten Zweck der Vernunft. In ihrer Vorgehensweise sieht es dem sophistischen Vernünfteln hingegen vielfach ähnlich, weshalb die Zeitgenossen auch Sokrates für einen Sophisten gehalten und als solchen verurteilt haben. Auch die Sophistik will Aufklärung und Kritik sein. Mit provozierenden Fragen und Behauptungen reißt sie die Menschen aus ihren Konventionen her­ aus. Die sophistische Aufklärung schlechthin zu verdammen, wie es die konservativen Hüter der traditionellen Moral und Religion im­ mer wieder getan haben, wäre daher ein falscher Weg, der möglicher­ weise in der Vernichtung der Philosophie endet. Die Überwindung

55 KrV, AAIII, S. 19. (Hervorhebungen im Original.) 56 Kants kritische Position gegen den anti-rationalen Glaubensbegriff etwa Jacobis be­ tont EckartFörster, Die Vorreden, in: GeorgMohrf Marcus Willaschek (Hg.), Immanuel Kant. Kritik der reinen Vernunft (Berlin: Akademie Verlag, 1998), S. 37-55, hier S. 52. 57 KrV, AA III, S. 19. (Hervorhebung im Original.)

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der Sophistik kann nur von innen her geschehen, indem die Philo­ sophie den Weg der Aufklärung über die Sophistik hinaus kon­ sequent weitergeht. In seiner kritischen Ethik greift Kant daher die sophistische An­ klage gegen die Tugend auf, wie sie sich in der Neigung der Men­ schen zum »Räsonieren« über moralische Fragen - nicht zuletzt als üble Nachrede - alltäglich zeigt. Mit unverkennbarer Ironie stellt er fest: »Diejenige, welchen sonst alles Subtile und Grüblerische in theoretischen Fragen trocken und verdrießlich ist, treten bald bei, wenn es darauf ankommt, den moralischen Gehalt einer erzählten guten oder bösen Handlung auszumachen, und sind so genau, so grüblerisch, so subtil, alles, was die Reinigkeit der Absicht und mit­ hin den Grad der Tugend in derselben vermindern, oder auch nur verdächtig machen könnte, auszusinnen, als man bei keinem Objecte der Speculation sonst von ihnen erwartet.«58 Man geht nicht fehl in der Vermutung, daß solches Räsonieren oft dazu dient, die Achtung vor anderen Menschen herabzusetzen, um sich selbst dadurch zu­ gleich über die anderen zu erheben. Wem die Demaskierung der Mit­ menschen zum Habitus wird, der wird im Grenzfall womöglich der Moralität überhaupt zynisch eine Absage erteilen. Kant ist sich die­ ser Gefahr - das zeigt der Vorbehalt in seiner Wertschätzung des Räsonierens - wohl bewußt. Und doch erkennt er diesem eine Be­ rechtigung zu, insofern es den Auftakt zu einer wirklichen Kritik bilden kann. In einer wiederum ironischen captatio benevolentiae unterstellt er den sophistischen Entlarvern der vermeintlich all­ gemeinen Tugendheuchelei eine möglicherweise doch implizit mora­ lische Absicht, nämlich eine »wohlgemeinte Strenge« in der Aus­ legung des moralischen Gesetzes. Denen, die »mehr auf Anklage und Beschuldigung sinnen«, könne man »nicht immer die Absicht beimessen, Tugend aus allen Beispielen der Menschen gänzlich weg­ vernünfteln zu wollen, um sie dadurch zum leeren Namen zu ma­ chen, sondern es ist oft nur wohlgemeinte Strenge in Bestimmung des ächten sittlichen Gehalts nach einem unnachsichtigen Gesetze, mit welchem und nicht mit Beispielen verglichen der Eigendünkel im Moralischen sehr sinkt, und Demuth nicht etwa blos gelehrt, son­ dern bei scharfer Selbstprüfung von jedem gefühlt wird.«59 Solange die wahre Absicht der Moralkritiker nicht deutlich 58 KpV, AAV, S. 153. 59 KpV, AAV, S. 153f.

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wird, haben allerdings auch ihre Gegner, die Apologeten der konven­ tionellen Tugend, teilweise Recht. Ihre Absicht, die Möglichkeit ech­ ter Moralität gegen zersetzende Infragestellung zu sichern, ist durch­ aus lobenswert. Sofern sie sich der Kritik aber nicht innerlich stellen, sondern sie durch die Verdächtigung von Aufklärung bloß apologe­ tisch zurückweisen, geraten sie selbst in die Gefahr der Unredlich­ keit, nämlich in die Versuchung, die Dinge zu beschönigen und die bleibende Fragwürdigkeit eines jeden sichtbaren Beispiels mensch­ licher Tugend zu überspielen. Eine unkritische, blinde Verteidigung der Tugend wird deshalb leicht unglaubwürdig. Man kann, schreibt Kant, »den Vertheidigern der Reinigkeit der Absicht in gegebenen Beispielen es mehrentheils ansehen, daß sie ihr da, wo sie die Vermuthung der Rechtschaffenheit für sich hat, auch den mindesten Fleck gerne abwischen möchten, aus dem Bewegungsgrunde, damit nicht, wenn allen Beispielen ihre Wahrhaftigkeit gestritten und aller menschlichen Tugend die Lauterkeit weggeleugnet würde, diese nicht endlich gar für ein bloßes Hirngespienst gehalten ... werde.60 Als einziger Weg, der über zersetzendes Vernünfteln und blinde Tugendapologetik gleichermaßen hinausführt, bleibt der Weg auf­ klärerischer Kritik. Diese nimmt die Anfragen an die Tugend auf, stellt sie aber in den Dienst einer kritischen Prüfung des sittlichen Anspruchs. Zu diesem Zweck führt Kant eine Reihe systematischer Unterscheidungen ein: zwischen Neigung und Pflicht, Legalität und Moralität, empirischen Gefühlen und dem »praktisch gewirkten« Gefühl der Achtung, hypothetischen und kategorischen Imperativen usw.61 Kant ist davon überzeugt, daß diese Unterscheidungen zwar nicht in ihrer schulmäßig-präzisen Formulierung, wohl aber in ihrer Grundrichtung dem gemeinen Menschenverstand, ja selbst Kindern ab einem gewissen Alter einleuchten müssen.62 Jeder wird zustim­ men, daß es in moralischer Hinsicht einen Unterschied macht, ob ein Kaufmann nur aus wohlverstandenem Eigeninteresse darauf ver­ zichtet, seine Kunden zu betrügen, oder ob er deshalb rechtschaffen handelt, weil er sich dazu innerlich verpflichtet weiß.63 Durch die genannten begrifflichen Differenzierungen läßt sich der Anspruch des Moralischen genauer klären und beispielsweise ge­ 60 61 62 63

KpV, AAV, S. 154. Vgl. GMS, erster und zweiter Abschnitt. Vgl. KpV, AAV, S. 155ff. Vgl. GMS, AAIV, S. 397.

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genüber pragmatischen Klugheitsgesichtspunkten ahsetzen. Gleich­ wohl kann man diesen Anspruch nicht unmittelbar »dingfest« ma­ chen. Er läßt sich weder spekulativ herleiten noch empirisch an einem Beispiel unmittelbar veranschaulichen. Wenn man eine solche Absicht hegt, dann erbringen auch die begrifflichen Differenzierun­ gen, wie Kant sie vornimmt, eigentlich nur negative Resultate. Sie zeigen auf, worin genuine Moralität nicht bestehen kann: Sie kann nicht in einem bloß äußerlich normkonformen Verhalten bestehen, hinter dem sich möglicherweise schierer Opportunismus verbirgt; sie kann nicht auf empirische Neigungen reduziert werden, wie immer kultiviert diese sich auch geben mögen; und selbst ein göttliches Ge­ setz kann keine echt moralische Gesinnung erwirken, sofern es sich mit Verheißungen himmlischen Lohnes und der Drohung künftiger Höllenstrafen lediglich an den Heilsegoismus des Einzelnen wendet. Während die negativen Resultate der Kritik eindeutig sind, gibt es kein einziges eindeutig positives Resultat, in dem Moralität in ihrer Reinheit direkt greifbar wäre, wie Kant betont: »In der That ist es schlechterdings unmöglich, durch Erfahrung einen einzigen Fall mit völliger Gewißheit auszumachen, da die Maxime einer sonst pflicht­ mäßigen Handlung lediglich auf moralischen Gründen und auf der Vorstellung seiner Pflicht beruht habe.«64 Es ist nur ein kleiner Schritt, aus der eigentümlichen Ungreif­ barkeit des Moralischen auf seine Unwirklichkeit zu schließen und Moralität pauschal als Selbstbetrug oder Heuchelei zu diskreditieren, wie dies manche Sophisten getan haben, die sich deshalb gern als übermoralische Machtmenschen stilisiert haben. Kant geht den ent­ gegengesetzten Weg. Zunächst erweist er, daß das vermeintlich über­ legene Wissen sophistischer Dekonstruktion nur Blendwerk ist, weil es nämlich ohne erkenntniskritische Reflexion die prinzipielle Be­ grenztheit gegenständlicher Wissenschaft verkennt. Indem er auf­ zeigt, daß der Geltungsanspruch der Wissenschaften auf die Struktu­ rierung empirischer Phänomene beschränkt ist, weist er die im Gestus überlegenen Wissens vorgetragene Leugnung der Freiheit und damit der Voraussetzung jedweder Moralität - zurück. Die Wirklichkeit der Freiheit - und der auf sie gegründeten moralischen Begriffe - läßt sich zwar weder spekulativ noch empirisch beweisen, wohl aber im Blick auf die innere Gewißheit des sittlichen Sollens

64 GMS, AA IV, S. 407.

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praktisch verteidigen: »Wo aber Bestimmung nach Naturgesetzen aufhört, da hört auch alle Erklärung auf, und es bleibt nichts übrig als Vertheidigung, d. i. Abtreibung der Einwürfe derer, die tiefer in das Wesen der Dinge geschaut zu haben vorgeben und darum die Freiheit dreust für unmöglich erklären.«65 Mit der Zurückweisung sophistischer Halbaufklärung wird demnach der Raum erneut geöff­ net, in dem die Evidenz moralischer Erfahrungen - Gewissens­ anspruch, Verantwortungsbewußtsein, Schuld und Freiheit - zur Sprache kommen kann. Diese Evidenz ist nach Kant so eindringlich, daß es auch der subtilsten Sophisterei letztlich nicht möglich ist, »die Freiheit wegzuvernünfteln«.66 Kant geht aber noch einen Schritt weiter. Er will den Raum für die Evidenz des sittlichen Anspruchs nicht nur neu öffnen, sondern sucht diesen Raum auch kritisch zu erhellen. Wiederum greift er auf eine Einsicht zurück, die er in der Kritik der reinen Vernunft erarbei­ tet hat. Es handelt sich um die Einsicht, daß der Vernunft eine Ten­ denz eigen ist, über alle Bedingtheiten des natürlichen Geschehens hinaus das sie tragende Ganze, das schlechthin Unbedingte, zu su­ chen: die Welt als ganze, die Ewigkeit als das Ganze der Zeit, Gott als den Urheber aller Dinge usw. »Die Vernunft fordert dieses nach dem Grundsatze: wenn das Bedingte gegeben ist, so ist auch die gan­ ze Summe der Bedingungen, mithin das schlechthin Unbedingte ge­ geben, wodurch jenes allein möglich war.«67 Diese Tendenz zum Un­ bedingten treibt den an Erkenntnis interessierten Menschen dazu, sich mit keiner Einzelerkenntnis zufriedenzugeben, sondern immer weiter in der Kette der Ursachen zurückzugehen, ohne daß er das Unbedingte als solches je greifen könnte. Das Unbedingte hat deshalb für die Erkenntnis zwar einen »regulativen«, nicht aber einen »kon­ stitutiven« Sinn;68 es treibt das Erkennen an, kann aber niemals di­ rekt zu dessen Gegenstand werden. Sobald menschliche Erkenntnis das Unbedingte hingegen unmittelbar vergegenständlicht, verstrickt

65 GMS, AAIV, S. 459. (Hervorhebungen im Original.) 66 GMS, AA IV, S. 456. 67 KrV, AA 111, S. 283. (Hervorhebung im Original.) 68 Vgl. KrV, AA 111, S. 349: Daher nenne ich es [nämlich das Prinzip der Totalität, H. B.] ein regulatives Princip der Vernunft, da hingegen der Grundsatz der absoluten Totalität der Reihe der Bedingungen, als im Objecte (den Erscheinungen) an sich selbst gegeben, ein constitutives kosmologisches Princip sein würde, dessen Nichtigkeit ich eben durch diese Unterscheidung habe anzeigen ... wollen ...«. (Hervorhebung im Original.)

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sie sich in unauflösliche Widersprüche, durch die die Wissenschaft zum Stillstand kommt oder sich in leerer Spekulation verliert.69 Dem Unbedingten, das dem menschlichem Erkennen als (»regu­ lativer«) Grenzhegriff aufgegeben ist, kommt auch in der sittlichen Praxis Bedeutung zu. Mehr noch: Als kategorischer Imperativ hat das Unbedingte in der sittlichen Praxis nicht nur regulative, sondern konstitutive Funktion; es ist nicht nur Grenzhegriff, sondern Grund­ begriff. Die Unhedingtheit des Sollens wird vom Menschen gleich­ sam als »Faktum« erfahren; sie drängt sich ihm auf und macht sich unabweisbar geltend.70 Es gibt insofern einen Überschuß moralischer Gewißheit über das hinaus, was der Mensch theoretisch zu erkennen und zu beweisen in der Lage ist, weshalb dem praktischen Gebrauch der Vernunft gegenüber dem theoretischen Gebrauch der Primat gebührt.71 Die eigentümliche Erfahrung der theoretischen »Ungreifbar­ keit« des sittlichen Anspruchs, aus der die Sophisten aller Zeiten gern auf dessen Unwirklichkeit geschlossen haben, verweist nach Kant ganz im Gegenteil auf den übersinnlichen Ursprung des moralischen Gesetzes, der sich dem direkten Zugriff menschlichen Erkennens notwendig entzieht und dem Menschen dennoch praktisch gewiß ist. Dieses Unbedingte wäre durch die Ableitung von höheren Prinzipien in seiner Unbedingtheit gerade geleugnet. Die Unbedingtheit des sittlichen Anspruchs impliziert zugleich seine Unableitbarkeit. Seine »Unbegreiflichkeit« macht daher Sinn, läßt sich gewissermaßen »be­ greifen«: »Es ist also kein Tadel für unsere Deduction des obersten Princips der Moralität, sondern ein Vorwurf, den man der mensch­ lichen Vernunft überhaupt machen müßte, daß sie ein unbedingtes praktisches Gesetz (dergleichen der kategorische Imperativ sein muß) seiner absoluten Nothwendigkeit nach nicht begreiflich ma­ chen kann; denn daß sie dieses nicht durch eine Bedingung, nämlich vermittelts irgend eines zum Grunde gelegten Interesses, thun will, kann ihr nicht verdacht werden, weil es dann kein moralisches, d. i. oberstes Gesetz der Freiheit sein würde. Und so begreifen wir zwar nicht die praktische unbedingte Nothwendigkeit des moralischen Im­ perativs, wir begreifen aber doch seine Unbegreiflichkeit; welches 69 Vgl. Alain Renaut, Transzendentale Dialektik, Einleitung und Buch I, in: Mohr! Willaschek (Hg.), a.a.O., S. 353-370. 70 Vgl. KpV, AAV, S. 31. Dazu Näheres unten, Kap. III,1. 71 Vgl. KpV, AAV, S. 119ff.

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alles ist, was billigermaßen von einer Philosophie, die bis zur Grenze der menschlichen Vernunft in Principien strebt, gefordert werden kann.«72 Indem Kant den Sollensanspruch als theoretisch uneinholbare Unbedingtheit expliziert, weist er nicht nur jene sophistischen Kurz­ schlüsse zurück, die die Moralität aus dem Bedingungsgefüge der Welt erklären und damit destruieren. Er stellt sich zugleich gegen die konservative Gleichsetzung des moralischen Imperativs mit kon­ ventionellen Tugendkatalogen. Auch diese stellen eine illegitime Form der Verdinglichung des Unbedingten dar, gegen die sich zu Recht immer wieder Protest regt - und gegen die auch die sophisti­ sche Dekonstruktion ihre relative Berechtigung behält. Denn wer Moralität in bestimmten Konventionen dingfest machen will, degra­ diert ihren Anspruch zu kleiner Münze. Und wer gar meint, die Tu­ gend in einem Beispiel unmittelbar »sichtbar« machen zu können, provoziert gerade den Vorwurf der Bigotterie. Eine sich zur Schau stellende Tugend wäre in der Tat unerträglich.73 Es wäre geradezu unvermeidlich, daß sich dagegen der Vorwurf der Heuchelei erhebt. Im Kampf gegen die Bigotterie hat deshalb sogar der scheinbar amo­ ralische Zynismus - gleichsam als Katharsis - einen indirekt mora­ lischen Sinn, den der Zyniker allerdings nicht affirmativ zur Sprache bringen kann.74 Kants Moralkritik will stets beide komplementären Vereinseiti­ gungen, die sophistische Leugnung der Moral und die blinde Tugend­ apologetik, ausräumen. Nach beiden Seiten hin gilt es, die Unbedingheit des sittlichen Sollensanspruchs gegen zudringliche Zugriffe zu verteidigen. Dies geschieht indessen nicht etwa von einem höheren Standpunkt aus, der den Widersprüchen der menschlichen Vernunft ein für allemal enthoben wäre. Vielmehr führt Moralphilosophie ge­ rade zur Bescheidenheit, nämlich zu jenem »Begreifen des Unbe­ 72 GMS, AAIV, S. 463. (Hervorhebung im Original.) 73 Vgl. auch Gerhard Krüger, Philosophie und Moral in der Kantischen Kritik (Tübin­ gen: Mohr-Siebeck, 2. Aufl. 1967), S. 64: »Kant ereifert sich nicht über die >Sittenlosigkeitc seiner Zeit, aber er geißelt ihrer verlogene Schwärmerei für die Tugend und den Edelmut.« 74 So hält Danton in Büchners Schauspiel dem selbsternannten Tugendwächter Robbespierre entgegen: »Es gibt nur Epikureer, und zwar grobe und feine, Christus war der feinste; das ist der einzige Unterschied, den ich zwischen den Menschen herausbringen kann. Jeder handelt seiner Natur gemäß, d. h. er tut, was ihm wohltut.« Zitat aus: Georg Büchner, Dantons Tod. Ein Drama, in: Werke und Briefe. Gesamtausgabe hg. von Fritz Bergemann (Wiesbaden: Insel, 1958), S. 29.

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greiflichen«, das im »wissenden Nichtwissen« des Sokrates sein Ur­ bild hat.

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Symbolische Darstellung des Unbedingten

Es stellt sich allerdings die Frage, wie jener unbedingte Imperativ des Sittlichen auf die Wirklichkeit des Menschen Einfluß haben kann. Wie läßt sich die Ungreifbarkeit des Unbedingten wahren und dieses zugleich mit der alltäglichen Lebenspraxis vermitteln? Wie kann der Mensch den Anspruch der Moralität überhaupt vernehmen? Und wie kann das Unbedingte zum Movens sittlichen Verhaltens werden? Schließlich könnte der Verdacht aufkommen, daß sich hinter der For­ mel vom »Begreifen der Unbegreiflichkeit« auch nichts anderes als ein sophistisches Wortspiel verbirgt. Denn wie kann etwas Unbe­ greifliches überhaupt »begriffen« werden? Muß man nicht den Schluß ziehen, entweder auf das Begreifenwollen ganz zu verzichten und die moralische Bestimmung des Menschen im Dunkeln zu lassen oder dieses Begreifen so konsequent voranzutreiben, daß die Unbe­ greiflichkeit zuletzt überwunden und der Mensch sich selbst vollends transparent wird? Genau dieser Vorwurf der Inkonsequenz und Halbherzigkeit ist bekanntlich später von den Idealisten gegen Kant erhoben worden. Kants Weg ist der der symbolischen Darstellung. Sie erlaubt es dem Menschen, das Unbedingte indirekt zur Sprache zu bringen, es verständlich auszulegen und als praktisches Handlungsmotiv vor Augen zu nehmen, ohne es zu vergegenständlichen und als Wissen zu beanspruchen. Nur vermittels der Symbolik ist es möglich, die Unbegreiflichkeit des Unbedingten gegen den zudringlichen Zugriff des Begreifenwollens zu schützen und dennoch die Unbedingtheit in einer solchen Weise zu vergegenwärtigen, daß sie in der sittlichen Praxis zur Geltung kommen kann. Die höchsten Begriffe von Ganzheit und Unbedingtheit nennt Kant in kritischen Anschluß an Platons Ideenlehre »Ideen der Ver­ nunft«. Es ist ein Merkmal der Ideen, daß sie sich nicht gegenständ­ lich demonstrieren lassen. »Ich verstehe unter der Idee einen nothwendigen Vernunftbegriff, dem kein congruierender Gegenstand in den Sinnen gegeben werden kann.«75 Anders verhält es sich mit Ka­ 75 KrV, AAIII, S. 254.

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tegorien des Verstandes, die in Verbindung mit sinnlicher Wahrneh­ mung gegenständliche Erkenntnis ermöglichen. Ihre Vermittlung mit der Sinnlichkeit geschieht über die Einbildungskraft, die die Fülle der Sinneseindrücke nach bestimmten Merkmalen schematisiert, auf die der Verstand seine ordnende Tätigkeit richten kann. Auch ab­ strakte Verstandesbegriffe - wie Kausalität oder Substanz - können ihre Funktion für die Erkenntnis nur dann entfalten, wenn sie über die Einbildungskraft mit der Sinnlichkeit vermittelt werden.76 Bei diesen abstrakten Kategorien ist der Vorgang der Schematisierung allerdings komplizierter; er vollzieht sich vermittels der transzen­ dentalen Zeitbestimmung, die allen konkreten Sinneswahrnehmun­ gen zugrundegelegt wird. Die regelmäßige, immer wiederkehrende Abfolge bestimmter Ereignisse in der Zeit bildet das Schema für die Kategorie der Kausalität; die Dauer bestimmter Sinneswahrnehmun­ gen in der Zeit gibt das Schema für die Kategorie der Substanz usw.77 Die Ideen der Vernunft unterscheiden sich von den Kategorien des Verstandes nicht nur graduell - im Grad ihrer Abstraktheit -, sondern prinzipiell, weil sie überhaupt nicht an Gegenständen der Erfahrung aufgewiesen werden können. In diesem Sinne hat bereits Platon von den Ideen gesprochen: »Plato bediente sich des Ausdrucks Idee so, daß man wohl sieht, er habe darunter etwas verstanden, was nicht allein niemals von den Sinnen entlehnt wird, sondern welches sogar die Begriffe des Verstandes ... weit übersteigt, indem in der Erfahrung niemals etwas damit Congruierendes angetroffen wird.«78 Obwohl nicht sinnlich demonstrierbar, sind die Ideen dennoch keine Phantasieprodukte: »Sie sind nicht willkürlich erdichtet, son­ dern durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben ...«.79 Im Be­ reich der Erkenntnis bilden sie den Antrieb dafür, daß der Mensch jeden kontingenten Kausalnexus noch einmal überschreitet und im­ 76 Vgl. KrV, AAIII, S. 135. 77 Vgl. KrV, AA III, S. 136f. Zum Schematismus vgl. Ernst Cassirer, Das Erkenntnis­ problem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Zweiter Band (Nach­ druck der 3. Aufl. von 1922, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1994), S. 712 ff. 78 KrV, AA III, S. 246. (Hervorhebungen im Original.) Vgl. auch Ernst Cassirer, Kants Leben und Werk (Berlin: Bruno Cassirer, 2. Aufl. 1921), der herausstellt, daß Kant im Blick auf die Ideen »ganz als Platoniker fühlt und spricht« (S. 268). Die »Wiederentdekung des Platonischen Grundbegriffs durch Kant« betont Max Wundt, Kant als Meta­ physiker. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Philosophie im 18. Jahrhundert (Stuttgart: Ferdinand Enke, 1924), S. 216 u.ö. 79 KrV, AA III, S. 254.

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mer weiter nach dessen Bedingungen zurückfragt. Im Bereich sitt­ licher Praxis wird die Idee des Unbedingten als apodiktische Forde­ rung gleichsam »erfahrbar«, wenn auch nicht greifbar. Der Mensch kommt deshalb nicht umhin, auch über die seiner Vernunft inhären­ ten Ideen nachzudenken und zu sprechen - und sie damit der vergegenständlichenden Struktur seiner Verstandeskategorien zu unterwerfen. Solche Vergegenständlichung vermittels der Verstan­ deskategorien ist unvermeidlich und muß doch immer wieder refle­ xiv aufgehoben - um es in einem glücklichen Ausdruck von Jaspers zu sagen: »in die Schwebe gebracht« - werden.80 Der Mensch muß sich immer wieder aufs neue darüber bewußt werden, daß der seinem Denken und Sprechen unvermeidliche Zugriff vergegenständlichen­ den Erkennens die Vernunftideen nicht eigentlich treffen, sondern nur indirekt auf sie hindeuten kann. Diese liegen seinem Erkennen ungreifbar voraus und können doch nur in einer Weise gedacht und zur Sprache gebracht werden, als ob der Mensch sie erkennen könnte. Das bewußte »Als-Ob« zeigt den Ausweg sowohl aus schwär­ merischem Mystizismus als auch aus skeptischer Resignation. Im bewußten »Als-Ob« kann der Mensch die unvermeidliche Tendenz seines Verstandes zur Vergegenständlichung der Vernunftideen im­ mer wieder reflexiv aufbrechen. Er muß sich stets aufs neue klarma­ chen, daß es sich bei den »Gegenständen« der Vernunftideen nicht einmal im weitesten Sinne des Wortes um reale Gegenstände han­ delt, sondern um »Analoga von wirklichen Dingen«.81 Die Als-ObStruktur in der (indirekten!) Vergegenständlichung von Vernunft­ ideen hat deshalb den Charakter eines analogischen Denkens, das sich den unmittelbaren Zugriff auf die Idee bewußt versagt und diese dennoch mittelbar zur Sprache bringt. Kant beschreibt die doppelte Denkbewegung der unvermeidlich vergegenständlichenden Vorstel­ lungsweise und der notwendigen Rücknahme solcher Vergegenständlichung mit folgenden Worten: »Wir heben von dem Gegenstand der Idee die Bedingungen auf, welche unseren Verstandesbegriff ein­ schränken, die aber es auch allein möglich machen, daß wir von irgend einem Dinge einen bestimmten Begriff haben können. Und nun denken wir uns ein Etwas, wovon wir, was es an sich selbst sei, 80 Vgl. Karl Jaspers, Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung (Lizenz­ ausgabe Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 3. Aufl. 1984), S. 149 u.ö. 81 KrV, AAIII, S. 445.

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gar keinen Begriff haben, aber wovon wir uns doch ein Verhältnis zu dem Inbegriffe der Erscheinungen denken, das demjenigen ana­ logisch ist, welches die Erscheinungen unter einander haben.«82 Die Als-Ob-Struktur ist von fundamentaler Bedeutung für das Verständnis von Kants praktische Metaphysik. Man hat Kants Phi­ losophie insgesamt mit Recht eine »Als-Ob-Philosophie« genannt wobei dieses »Als-Ob« gerade keine bloßen Fiktionen meint,83 son­ dern jene Grenzbegriffe zu denken erlaubt, die für die sittliche Praxis zugleich konstituierende Grundbegriffe bilden. Der Anspruch gegen­ ständlichen Erkennens, der sich mit dem Denken unvermeidlich ein­ stellt, muß immer wieder in den Modus des »Als-Ob« zurückge­ nommen werden, ohne daß das Denken damit sinnlos würde. Im Gegenteil: Nur so kann es sich aus der falschen Alternative von Dog­ matismus und Skeptizismus befreien und als indirekt-verweisendes Denken eine symbolische Funktion übernehmen. Auch die Formel vom »Begreifen der Unbegreiflichkeit« macht nur dann Sinn, wenn man sie im Lichte des bewußten »Als-Ob« ver­ steht. Aus dem Gesamtkontext des Kantischen Philosophierens ist evident, daß mit dem »Begreifen« hier keine wissenschaftlich ver­ gegenständlichende Erkenntnis gemeint sein kann. Vielmehr nimmt der Mensch hypothetisch gleichsam einen höheren Standpunkt ein, als ob er die »Unbegreiflichkeit« seiner moralischen Existenz unter dem Anspruch des Unbedingten noch einmal umfassend »begreifen« könnte, was als theoretische Verstandesleistung gerade unmöglich ist. Ähnlich bestimmt Kant in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten den unvollkommenen sittlichen Willen des Menschen unter anderem dadurch, daß er ihn mit dem heiligen Willen eines absolu­ ten Wesens kontrastiert, als ob er eine vergleichende Untersuchung über Gott und Mensch durchführen könnte, was wiederum als theo­ retische Erkenntnis unmöglich wäre, wie Kant in der Kritik der rei­ nen Vernunft systematisch aufgewiesen hat. Mißverstünde man die 82 KrV, AAIII, S. 445. (Hervorhebung von mir, H. B.). 83 Vgl. Erich Adickes, Kant und die Als-Ob-Philosophie (Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann, 1927), S. 23. Adickes wendet sich in seinem Buch über »Kant und die AlsOb-Philosophie« duchgängig gegen die von Vaihinger aufgestellte Fiktionentheorie: Hans Vaihinger, Die Philosophie des Als-Ob (Berlin: Reuther & Reichard, 2. durchges. Aufl. 1913). Vaihinger findet hingegen Zustimmung offenbar bei Rolf-Peter Horst­ mann, Der Anhang zur transzendentalen Dialektik, in: Mohr/Willaschek (Hg.), a.a.O., S. 525-545, wenn er den Als-Ob-Einsichten bloß den »Status heuristischer Fiktionen« zuerkennt (S. 528).

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Erörterung über den göttlichen Willen, der jenseits aller Imperative steht,84 als eine theoretische Aussage über die Natur Gottes, so un­ terschiede sich Kants Philosophie in keiner Weise von der doktrinä­ ren Metaphysik, deren Geltungsgrund er in seiner ersten Kritik kon­ sequent zerstört hatte. Kants Diktum vom »Begreifen der Unbegreiflichkeit«, seine Anmerkungen über den heiligen Willen Gottes und andere metaphy­ sische Aussagen machen überhaupt nur dann Sinn, wenn man sie im Sinne von »Als-Ob-Aussagen« versteht. Es handelt sich dabei um Gedanken, die sich dem Menschen, wenn er über das Ganze der Welt, über das Ziel seines Lebens und vor allem über die Unbedingtheit seiner moralischen Bestimmung reflektiert, nahelegen und unter Umständen geradezu aufdrängen, ohne daß sie je den Status gegen­ ständlichen Wissens annehmen könnten. Obwohl sie kein definitives Wissen formulieren, ermöglichen sie doch eine sinnvolle symboli­ sche Selbstauslegung der menschlichen Vernunft. Die symbolische Darstellung, so erläutert Kant in der Kritik der Urteilskraft, unterscheidet sich von der direkten (»demonstrativen«) Darstellung dadurch, daß auf das Darzustellende im Medium der Darstellung nur indirekt verwiesen wird: »Alle Anschauungen, die man Begriffen a priori unterlegt, sind also entweder Schemate oder Symbole, wovon die erstern directe, die zweiten indirecte Darstellun­ gen des Begriffs enthalten.«85 Indirekte Darstellungen haben keinen bestimmenden, sondern verweisenden Charakter. Dies geschieht da­ durch, daß das Symbol zwar weder Bild noch Schema, wohl aber eine Regel der Reflexion enthält. Im Symbol steckt eine Analogie, deren Sinn nicht durch unmittelbare Anschauung, sondern nur durch die reflektierende Urteilskraft erschlossen werden kann.86 Wenn man einen despotischen Staat mit einer Maschine, z. B. mit einer Handm­ 84 Vgl. GMS, AAIV, S. 414: »Daher gelten für den göttlichen und überhaupt für einen heiligen Willen keine Imperativen ...«. (Hervorhebungen im Original.) 85 KU, AAV, S. 352. (Hervorhebungen im Original.) 86 Vgl. Annemarie Pieper, Kant und die Methode der Analogie, in: Gerhard Schönrichf Yasushi Kato, Kant in der Diskussion der Moderne (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1996), S. 92-112, hier S. 106: »Durch Analogie werden mithin nicht die anschaulichen Mo­ mente der Symbole auf etwas Unanschauliches übertragen, sondern übertragen wird das durch die Symbole bloß veranschaulichte Verhältnis bzw. die Form, das Prinzipielle dieses Verhältnisses. Das Symbol soll nicht angeschaut, sondern reflektiert werden.« Auf die Rolle der reflektierenden Urteilskraft für die symbolische Darstellung verweist auch Frank Nobbe, Kants Frage nach dem Menschen. Die Kritik der ästhetischen Ur­ teilskraft als transzendentale Anthropologie (Frankfurt a.M.: Peter Lang, 1995), S. 273.

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ühle, vergleicht, so kann dieser Vergleich nicht direkt-schematisch gemeint sein. Die Handmühle ist kein Abbild des despotischen Staa­ tes. Das tertium comparationis liegt auf einer abstrakteren Ebene, nämlich in der Art der Kausalität, in der die Handmühle und auf seine Weise auch der despotische Staat ihr Geschäft »mechanisch« durchführen.87 »Unsere Sprache«, schreibt Kant, »ist voll von der­ gleichen indirecten Darstellungen nach einer Analogie, wodurch der Ausdruck nicht das eigentliche Schema für den Begriff, sondern bloß ein Symbol für die Reflexion enthält.«88 Symbole gibt es in großer Zahl. Sie haben ihren Sitz im alltäg­ lichen Leben, in der Sprache, in Kunst und Dichtung, in Spott und Ironie, in Sprüchen und Volksweisheiten, aber auch in den gesell­ schaftlichen Verkehrsformen, in denen Menschen einander sym­ bolisch ihre Ehrerbietung erweisen. Nicht immer sind Symbole un­ verzichtbar. Oft stellen sie nur eine spielerische Variante dessen dar, was Menschen prinzipiell auch direkt zum Ausdruck bringen könn­ ten. Wenn es um Vernunftideen geht, die, wie Kant betont, keiner direkten Darstellung fähig sind, bilden Symbole allerdings den ein­ zigen Modus ihrer - insofern immer nur indirekten - Darstellung. Über das Ganze der Welt, Ewigkeit und Unsterblichkeit, die Freiheit und die letzte Bestimmung des Menschen, die Zwecke der Schöpfung und den Willen des Schöpfers können Menschen überhaupt nur symbolisch sprechen. »Auf diese Art kann ich vom Übersinnlichen, z. B. von Gott, zwar eigentlich kein theoretisches Erkenntniß, aber doch ein Erkenntniß nach der Analogie ... haben, wobey die Katego­ rien zum Grunde liegen, weil sie zur Form des Denkens nothwendig gehören ., ob sie gleich, und gerade eben darum, weil sie für sich noch keinen Gegenstand bestimmen, kein Erkenntniß ausmachen.«89 Im Lichte der Symbolik bilden Aufklärung und Metaphysik kei­ neswegs einen Gegensatz. Kant ist der »Alleszermalmer«90 nur der 87 Dieses Beispiel findet sich in KU, AAV, S. 352. 88 KU, AAV, S. 352. 89 Immanuel Kant über die von der Königl. Akademie der Wissenschaften zu Berlin für das Jahr 1791 ausgesetzte Preisfrage: Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibnizens und Wolf's Zeiten in Deutschland gemacht hat?, aus dem Nachlaß herausgegeben von D. Friedrich Theodor Rink (1804), in: Kants handschrift­ licher Nachlaß, 7. Band, AA XX, S. 280. 90 So das bekannte Wort von Moses Mendelssohn, Morgenstunden oder Vorlesungen über das Daseyn Gottes (1785), in: Werke III/2, bearb. von Leo Strauss (Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann, 1974), S. 3.

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II. Kants Sokratische Aufklärung

dogmatischen Anmaßungen einer vermeintlich wissenschaftlichen Metaphysik, nicht der Metaphysik schlechthin. Gegen die neuere Tendenz, »von metaphysischen Nachforschungen als von bloßen Grübeleien verächtlich zu reden«, stellt er das Bekenntnis: »Und doch ist die Metaphysik die eigentliche, wahre Philosophie!«91 Meta­ physischen Fragen nachzugehen entspricht einer »Naturanlage unse­ rer Vernunft, welche Metaphysik als ihr Lieblingskind ausgeboren hat«.92 Das Ende der Metaphysik auszurufen, ist deshalb unmöglich; es wäre geradezu ein Verstoß gegen die menschliche Natur: »Daß der Geist des Menschen metaphysische Untersuchungen einmal gänzlich aufgeben werde, ist eben so wenig zu erwarten, als daß wir, um nicht immer unreine Luft zu schöpfen, das Athemholen einmal lieber ganz und gar einstellen würden.«93 Nicht der Abschied von der Metaphysik, sondern ihre Aufklä­ rung ist angezeigt.94 Genau dazu weist das symbolische Verständnis den Weg. Indem es die Vergegenständlichung des Unbedingten aus­ räumt, schafft es Platz für »die bescheidene Sprache eines vernünf­ tigen Glaubens«,95 der die vermeintlich wissenschaftlichen Erkennt­ nisse in den Modus des »Als-Ob« zurücknimmt, gerade darin aber zugleich kritisch bewahrt.96 Wenn man Metaphysik in diesem sym­ bolischen Sinne versteht, dann findet die Sokratische Aufklärung ihre Fortsetzung auch in dem berühmtesten Schüler des Sokrates. Zwar ist Platon darin fehlgegangen, daß er die Ideen zu Gegenstän­ den theoretischer Spekulation hypostasiert und damit der Schwär­ merei Vorschub geleistet hat.97 Doch obwohl Platon deshalb Kritik verdient, konzediert Kant zugleich, daß »die hohe Sprache, deren er

91 Logik, AAIX, S. 32. (Hervorhebung im Original.) 92 Prolegomena, AA IV, S. 353. 93 Prolegomena, AA IV, S. 367. 94 Vgl. Wundt, a.a.O., S. 198: »Die Erneuerung der Metaphysik ist also die Aufgabe, welche die kritische Philosophie sich gestellt hat; es ist das Ziel, dem sie zustrebt.« 95 Prolegomena, AA IV, S. 278. 96 Vgl. Friedrich Kaulbach, Das Prinzip Handlung in der Philosophie Kants (Berlin/New York: de Gruyter, 1978), S. 69: »Kritik macht es sich zur Aufgabe, schematisch-bildhaf­ tes Sprechen bei seiner Anwendung auf den philosophischen (transzendentalen) Gegen­ stand einer richtigen Hermeneutik zu überantworten, es auf den angemessenen Stand­ punkt des Sprechens und Denkens zu relativieren und es in dieser Form zu rechtfertigen.« (Hervorhebungen im Original.) 97 Vgl. Refl. 6051,AAXVIII, S. 437: »Der Ursprung aller philosophischen Schwärmerei liegt in Platons ursprünglichen gottlichen Anschauungen aller moglichen objecte.«

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5. Symbolische Darstellung des Unbedingten

sich in diesem Felde bediente, einer milderen und der Natur der Din­ ge angemessenen Auslegung ganz wohl fähig ist«.98

98 KrV, AA III, S. 247 Fußnote. Während Wundt in der Kantischen Philosophie durch­ gängig »die Grundzüge der platonischen Weltanschauung« (a.a.O., S. 429) ausmachen will, betont Heimsoeth treffender die ambivalente Haltung Kants gegenüber Platon, der ihm einerseits als Urheber der Ideenlehre und andererseits als Urbild schwärmerischen Enthusiasmus gilt. Vgl. Heinz Heimsoeth, Plato in Kants Werdegang, in: Heinz Heim­ soethl Dieter Henrichl Giorgio Toneüi (Hg.), Studien zu Kants Philosophischer Ent­ wicklung (Hildesheim: Georg Olmer, 1967), S. 124-143.

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III. Das Gesetz der Freiheit

1.

Das »Faktum der Vernunft«

»Man kann das Bewußtsein dieses Grundgesetzes [nämlich des mo­ ralischen Gesetzes, H. B.] ein Factum der Vernunft nennen, weil man es nicht aus vorhergehenden Datis der Vernunft, z. B. dem Bewußt­ sein der Freiheit..., herausvernünfteln kann, sondern weil es sich für sich selbst uns aufdringt als synthetischer Satz a priori, der auf kei­ ner, weder reinen noch empirischen, Anschauung gegründet ist .. .«d Die auf den ersten Blick paradoxe Verschränkung von Faktizität und Vernünftigkeit im Begriff des »Faktums der Vernunft« legt jenes spannungsvolle Zugleich von Unbedingtheit und Bedingtheit frei, das nach Kant die menschliche Existenz im Ganzen auszeichnet.12 Die Lehre vom Faktum der Vernunft bildet deshalb ein Herzstück der Kantischen Philosophie. Auf der einen Seite markiert sie die fun­ damentale Differenz gegenüber einem Idealismus, in dem der Mensch sich mittels der Vernunft über seine Endlichkeit zu erheben sucht. Wenn das moralische Gesetz dem Menschen wie ein Faktum entgegentritt und sich gleichsam »aufdrängt«, dann belegt dies die unaufhebbare Endlichkeit des Menschen, der sich seiner moralischen Bestimmung zwar praktisch vergewissern, sie sich aber weder theo­ retisch vollends transparent machen noch sie aus eigener Spontanei­ tät konstituieren kann. Auf der anderen Seite grenzt sich Kant zu­ gleich von den Vertretern eines relativistischen Empirismus in der Moral ab. Beim Anspruch des Sittlichen, so betont er, handelt es sich keineswegs bloß um ein empirisches Faktum neben andern Fakten,

1 KpV,AAV, S.31. 2 Vgl. Johannes Schwartländer, Sittliche Autonomie als Idee der endlichen Freiheit. Bemerkungen zum Prinzip der Autonomie im kritischen Idealismus Kants, in: Theo­ logische Quartalsschrift 161 (1981), S. 20-33, hier S. 32.

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1. Das »Faktum der Vernunft«

sondern um »das einzige Factum der reinen Vernunft«3. Seine Ein­ zigkeit verweist auf etwas Unbedingtes, das sich als kategorischer Imperativ Geltung verschafft und den Menschen aus der Verfangenheit in seine bloß sinnlichen Antriebe und materiellen Interessen herausreißt. Die »Faktizität« dieses unbedingten Anspruchs ist daher nicht wörtlich, sondern symbolisch zu verstehen. Das moralische Ge­ setz, so heißt es an anderer Stelle, wirkt »gleichsam als ein Factum der Vernunft«.4 Obwohl unableitbar und aufdringlich wie ein Fak­ tum, ist es doch zugleich mehr als ein empirisches Faktum, nämlich die theoretisch nicht mehr hintergehbare Tatsache der sittlichen Be­ stimmung des Menschen. Vier Momente aus Kants Lehre vom Faktum der Vernunft seien im folgenden näher diskutiert: die Unableitbarkeit, die Aufdringlich­ keit, die Vernünftigkeit und schließlich die Einzigkeit des Vernunft­ faktums. Diese Momente gehören innerlich zusammen; und nur in der Zusammenschau erschließt sich, was Kant mit dem Faktum der Vernunft meint. a)

Die Unableitbarkeit des Faktums der Vernunft

Der Anspruch des Sittlichen läßt sich weder empirisch noch spekula­ tiv beweisen. Jeder Versuch, ihn an einem empirischen Beispiel un­ mittelbar zu demonstrieren, muß letztlich scheitern.5 Die Absicht der Moralprediger, die Möglichkeit echter Tugend durch »anschauliche« Vorbilder aufzuzeigen, wirkt bestenfalls ambivalent. Oft erreichen sie damit genau das Gegenteil des Beabsichtigten und fördern unge­ wollt die Tendenz zur zynischen Bestreitung jeder Tugend. Die »sichtbare« Tugend wäre in der Tat ein Skandalon, das beinahe mit Notwendigkeit den Vorwurf der Heuchelei hervorruft. Das mora­ lische Gesetz kann, wie Kant betont, eben niemals auf empirische Anschauung gegründet sein; und die Unbedingtheit des sittlichen Anspruchs läßt sich nur in der Achtung vor seiner letzten Unan­ schaulichkeit wahren. Auch von der Tugend eines konkreten Men­ schen kann man nur im Modus des »Als-Ob« sprechen, d. h. im Wis­ sen um jene letzte Ungewißheit menschlicher Gesinnung, über die 3 KpV, AAV, S. 31. 4 KpV, AA, S. 47. (Hervorhebung von mir, H. B.) 5 Vgl. GMS, AA IV, S. 408: »Man könnte auch der Sittlichkeit nicht übler raten, als wenn man sie von Beispielen entlehnen wollte.«

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selbst die eigene Gewissenserforschung des Menschen nicht hinaus­ hilft, »weil die Tiefe des Herzens (der subjective erste Grund seiner Maximen) ihm selbst unerforschlich ist«.6 Sowenig sich das moralische Gesetz empirisch demonstrieren läßt, sowenig läßt es sich spekulativ herleiten. Man kann es, mit Kants Worten, »nicht aus vorhergehenden Datis der Vernunft... her­ ausvernünfteln«. Seine Unbedingtheit bedeutet zugleich seine theo­ retische Unableitbarkeit. Mit Recht schreibt Dieter Henrich: »Für die sittliche Einsicht ist das Gute, das sie billigt, >in Evidenz< legitim. Es bedarf der Begründung nicht.«7 Die theoretische Unableitbarkeit des sittlichen Anspruchs markiert zugleich eine Grenze spekulativen Wissens, die der Mensch wiederum nur indirekt - im Modus des »Als-Ob« - zur Sprache bringen kann, nämlich in jenem »Begreifen der Unbegreiflichkeit«, in dem das Unbedingte als theoretischer Grenzbegriff aufscheint, ohne jemals zum Gegenstand des erkennen­ den Zugriffs werden zu können. Gegen empirische Fixierungen wie spekulativ-theoretische De­ duktionen hält Kant die Unableitbarkeit des moralischen Anspruchs fest, der nur so in seiner Eigenständigkeit und Unbedingtheit ge­ wahrt bleibt. Diese Unableitbarkeit manifestiert sich gleichsam als Faktizität. »Also kann die objective Realität des moralischen Gesetzes durch keine Deduction, durch keine Anstrengung der theoretischen, speculativen oder empirisch unterstützten Vernunft, bewiesen und also, wenn man auch auf die apodiktische Gewißheit Verzicht thun wollte, durch keine Erfahrung bestätigt und so a posteriori bewiesen werden, und steht dennoch für sich selbst fest.«8 b)

Die Aufdringlichkeit des Vernunftfaktums

Das moralische Gesetz läßt sich nicht nur nicht gleichsam von außen beweisen (»herausvernünfteln«); es läßt sich auch nicht bestreiten (»wegvernünfteln«). Auch in dieser Hinsicht gleicht es einem Fak­ tum. »Das vorher genannte Factum ist unleugbar«, schreibt Kant.9 Wie ein empirisches Faktum sich den Sinnen aufdrängt, ob der 6 Religion, AA VI, S. 51. 7 Dieter Henrich, Der Begriff der sittlichen Einsicht und Kants Lehre vom Faktum der Vernunft, in: Gerold Prauss (Hg.), Kant. Zur Deutung seiner Theorie von Erkennen und Handeln (Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1973), S. 223-254, hier S. 228. 8 KpV, AA V, S. 47. 9 KpV,AAV, S. 32.

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1. Das »Faktum der Vernunft«

Mensch es will oder nicht, so gilt im analogen Sinn auch für das Vernunftfaktum, daß »es sich für sich selbst uns aufdringt«. Die Be­ stimmung des Menschen zur Sittlichkeit hat den Charakter einer ur­ sprünglichen existentiellen Tatsache. Sie ist ihrerseits nicht abhängig von einer vorhergehenden Einsicht oder Entscheidung, sondern bil­ det überhaupt erst den Boden, auf dem praktische Einsicht und Ent­ scheidung sich vollziehen können. In seiner Unbedingtheit wirkt der sittliche Anspruch als Impe­ rativ, und zwar als kategorischer Imperativ, der nicht rät, sondern gebietet.10 Das moralische Gesetzes hat deshalb den Charakter einer praktischen »Nötigung«. An dieser »Nötigung« erweist sich einmal mehr die unaufhebbare Endlichkeit des Menschen, dessen sittlicher Wille niemals ein heiliger, sich selbst in seiner Vollkommenheit ge­ wisser Wille sein kann, sondern im Bann eines Sollensanspruchs bleibt, der nie vollends eingelöst werden kann.11 c)

Die Vernünftigkeit im Faktum der Vernunft

Das Faktum der Vernunft ist nicht ein beliebiges Faktum, sondern »das einzige Factum der reinen Vernunft« und deshalb ein »Faktum« nur im analogen Sinne. Es verweist nicht nur (in seiner Unableitbarkeit und Aufdringlichkeit) auf die Endlichkeit des Menschen, son­ dern zugleich auch auf dessen übersinnliche Bestimmung als mora­ lisches Subjekt. Jenes unbedingte Sollen, in dem sich der sittliche Anspruch als »Nötigung« Geltung verschafft, wirkt nicht etwa als blindes Tabu, sondern als Appell an praktische Einsicht, Selbständig­ keit und Kommunikation. Indem die »Nötigung« des Willens als vernünftig erfahren wird, erweist sie sich als das Gegenteil eines bloß äußeren Zwangs. Denn an ihr wird der Mensch sich seiner Freiheit und Würde als Verantwortungssubjekt bewußt. Das Faktum der Ver­ nunft ist, schreibt Kant, »mit dem Bewußtsein der Freiheit des Wil­ lens unzertrennlich verbunden, ja mit ihm einerlei«.12 Aus dem Sol­ len folgt - jedenfalls im Prinzip - das Können. Die »Nötigung« des Willens ist nicht der Einbruch einer frem­ den Macht, die den Menschen zwingt. Vielmehr erweist sie sich als der Anspruch der eigenen Vernunft, mit der der Mensch sich sein 10 Vgl. GMS, AAIV, S. 416. 11 Vgl. GMS, AA IV, S. 414. 12 KpV, AA V, S. 42.

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III. Das Gesetz der Freiheit

eigenes Gesetz geben und dieses konsequent lebenspraktisch vollzie­ hen soll. Vernunft und Wille gehören deshalb unauflöslich zusam­ men. Mehr noch: sie sind zuinnerst identisch. Genau dies macht die Pointe von Kants Ethik aus, ist doch, wie er betont, zuletzt »der Wille nichts anders als praktische Vernunft«.13 Nicht um eine Verknüpfung von Vernunft und Wille geht es Kant demnach, sondern um die Ein­ sicht, daß der Wille - gleichsam als Vernunft - selbst vernünftig ist, und daß die Vernunft - gleichsam als Wille - selbst zum Bestim­ mungsgrund des Handelns wird. Der Wille ist deshalb mehr als nur das liberum abitrium, die Fähigkeit, »nach Belieben zu thun oder zu lassen«.14 Diese äußere Seite des Willens nennt Kant in seinen Spät­ schriften freie »Willkür«.15 Die freie Willkür, d. h. die Unabhängig­ keit von empirischem Zwang, ist zwar conditio sine qua non des frei­ en Willens, macht aber die noch nicht die eigentliche Autonomie aus, in der Wille und praktische Vernunft als Anspruch sittlicher Selbst­ bestimmung eine Einheit bilden.16 In solcher Einheit von Wille und Vernunft verändert und weitet sich der Bedeutungsgehalt beider Begriffe. Wie der sittliche Wille in seiner inneren Einheit mit der Vernunft mehr sein muß als ein zufäl­ liges, blindes Streben, so muß die praktische Vernunft in ihrer Ein­ heit mit dem Willen mehr sein als ein bloß externes - und insofern heteronomes - Prüfkriterium für die Beurteilung des Willens. Erst die Identität von Wille und Vernunft ermöglicht das Verständnis der sittlichen Autonomie, d. h. der Selbstbindung des Menschen an das und durch das selbstgegebene Gesetz. Wie solche Autonomie mög­ lich ist, bleibt theoretisch unerfindlich. Daß sie hingegen möglich sein muß, erweist sich am Faktum der reinen Vernunft, »die sich dadurch als ursprünglich gesetzgebend (sic volo, sic jubeo) an­ kündigt«.17

13 GMS, AA IV, S. 412. 14 MS, AAVI, S. 213. (Im Original hervorgehoben.) 15 Vgl. MS, AAVI, S. 213. 16 Zum Verhältnis von Wille und Willkür vgl. z.B. Henry E. Allison, Kant's Theory of Freedom (Cambridge: Cambridge University Press, 1990), S. 129: »Kant uses the terms Wille and Willkür to characterize respectively the legislative and executive functions of a united faculty of volition, which he likewise refers to as Wille.« 17 KpV, AA V, S. 31.

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1. Das »Faktum der Vernunft«

d)

Die Einzigkeit des Faktums der Vernunft

Vernunftideen, in denen die Tendenz zum Unbedingten aufscheint, gibt es mehrere. Kant nennt beispielsweise die Idee der Unendlichkeit von Zeit und Raum, die Idee der Unsterblichkeit der Seele oder die Idee des höchsten Gutes; auch Gott, den Schöpfer der Welt und Rich­ ter des menschlichen Herzens, nennt er eine Idee der Vernunft. Es ist ein Kennzeichen der Ideen, daß sie sich dem gegenständlich-erkennenden Verstand entziehen, obwohl sie ihm zugleich als »regulative« Prinzipien zugrundeliegen, indem sie dafür sorgen, daß der Mensch sich mit keiner partikularen Erkenntnis zufrieden gibt und immer wieder weiter nach dem übergeordneten Ganzen sucht. Anders verhält es sich bei der sittlichen Praxis des Menschen. Hier - und nur hier - wird das Unbedingte gleichsam als Faktum erfahrbar. Das Unbedingte bleibt nicht Grenzbegriff - in »regulati­ ver« Funktion -, sondern wird zum Grundbegriff; es hat »konstituti­ ve« Bedeutung. Weil das Unbedingte nur in der sittlichen Praxis als konstitutiv zutage tritt, kommt dem praktischen Vernunftgebrauch in Verbindung mit dem theoretisch-spekulativen Vernunftgebrauch ein prinzipieller Vorrang zu.18 Die praktische Vernunft bereitet über­ haupt erst gleichsam den Boden für eine sinnvolle Beantwortung je­ ner metaphysischen Grundfragen des Menschen, die in bloß theo­ retischer Spekulation ins Bodenlose führen. Erst im Raum des Praktischen gewinnt die Idee der Freiheit, die sich theoretisch weder beweisen noch bestreiten läßt,19 ihre eigentli­ che Realität. Was in theoretischer Spekulation »bloß gedacht werden konnte«, wird nun gewissermaßen »durch ein Factum bestätigt«.20 Denn wie einerseits die Freiheit als »ratio essendi« des moralischen Gesetzes vorausgesetzt werden muß, so wirkt dieses andererseits zugleich als »ratio cognoscendi« der Freiheit.21 »Freiheit und unbe­ dingtes moralisches Gesetz weisen also wechselweise aufeinander zurück.«22 Allein durch das Faktum der Vernunft (das zugleich das Faktum der Freiheit ist) gewinnen auch andere Vernunftideen prak­ 18 Vgl. KpV, AA V, S. 121: »In der Verbindung also der reinen speculativen mit der reinen praktischen Vernunft zu einem Erkenntnisse führt die letztere das Primat...«. (Hervorhebung im Original.) 19 Vgl. KrV, AAIII, S. 362 ff. 20 KpV, AAV, S. 6. (Hervorhebung im Original.) 21 KpV, AA V, S. 4 Fußnote. 22 KpV, AA V, S. 29.

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III. Das Gesetz der Freiheit

tischen Realitätsgehalt. Sie lassen sich - wenn auch nicht als theo­ retische Erkenntnisse, sondern nur im Sinne eines praktischen Vernunftglauhens - auf der Grundlage der Freiheitsgewißheit argumen­ tativ verteidigen: »Der Begriff der Freiheit, so fern dessen Realität durch ein apodiktisches Gesetz der praktischen Vernunft hewiesen ist, macht nun den Schlußstein von dem ganzen Gehäude eines Sy­ stems der reinen, selhst der speculativen Vernunft aus, und alle an­ dere Begriffe (die von Gott und Unsterhlichkeit), welche als hloße Ideen in dieser ohne Haltung hleihen, schließen sich nun an ihn an und hekommen mit ihm und durch ihn Bestand und ohjective Reali­ tät ,..«.23

2.

Das Naturgesetz als Symbol des Sittengesetzes

Ohwohl die Unhedingtheit des sittlichen Sollens weder theoretisch noch empirisch hegründhar ist, muß dieser Anspruch für den Men­ schen vollziehhar sein. Er muß sich sowohl seinen kognitiven Fähig­ keiten vermitteln lassen als auch als Handlungsmotiv zur Geltung kommen können. Beide Aspekte, der kognitive wie der motivationa­ le, gehören unauflöslich zusammen (auch wenn sie hier nachein­ ander thematisiert werden). Wenden wir uns zunächst der Frage zu, wie sich der Anspruch des Sittlichen verstehen und als Kriterium moralischer Normhildung umsetzen läßt. Daß Vernunftideen niemals direkt (»schematisch«) dargestellt werden können, sondern einer indirekten, »symholischen« Vermitt­ lung hedürfen, gilt auch für jenen unhedingten Sollensanspruch, der sich als einziges Faktum der reinen Vernunft dem Menschen auf­ drängt und als kategorischer Imperativ Gehorsam verlangt: »handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst,

23 KpV, AAV, S. 3f. (Hervorhehung im Original.) Vgl. auch KpV, AAV, S. 105: »Also ist jene unhedingte Causalität und das Vermögen derselhen, die Freiheit, mit dieser aher ein Wesen (ich selher), welches zur Sinnenwelt gehört, doch zugleich als zur intelligihelen gehörig nicht hlos unhestimmt und prohlematisch gedacht (welches schon die speculative Vernunft als thunlich ausmitteln konnte), sondern sogar in Ansehung des Ge­ setzes ihrer Causalität bestimmt und assertorisch erkannt und so uns die Wirklichkeit der intelligihelen Welt, und zwar in praktischer Rücksicht bestimmt, gegehen worden, und diese Bestimmung, die in theoretischer Ahsicht transscendent (üherschwenglich) sein würde, ist in praktischer immanent.« (Hervorhehungen im Original.)

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2. Das Naturgesetz als Symbol des Sittengesetzes

daß sie ein allgemeines Gesetz werde.«24 Die Unbedingtheit der Sollensforderung findet ihre symbolische Vermittlung in Gestalt jener strengen Allgemeingültigkeit, die das Gesetz kennzeichnet. Die Taug­ lichkeit zum schlechthin allgemeingültigen Gesetz wird deshalb zum Kriterium, anhand dessen sich der moralische Gehalt einer Maxime, d. h. einer konkreten Lebensregel, bemißt.25 Die allgemeine Gesetzlichkeit ist eine Funktion des Verstandes, der die sinnliche Anschauung kategorial strukturiert. Im Bereich des Sittlichen steht diese Verstandesleistung allerdings im Dienst der praktischen Vernunft. Da die Unbedingtheit im Vernunftanspruch des Sittlichen, wie Kant betont, nicht unmittelbar, sondern nur mit­ telbar (nämlich vermittels des Verstandes) auf welthafte Objekte be­ zogen werden kann,26 fungiert die Verstandesgesetzlichkeit in diesem Fall als notwendiges symbolisches Medium der praktischen Ver­ nunft. Das Unbedingte findet seine Darstellung gleichsam in der for­ malen Strenge der Verstandesgesetzlichkeit. Diese gibt das Symbol ab für die innere »Notwendigkeit«, die dem Sittlichen eignet. Zu­ gleich läßt sich die Verstandesgesetzlichkeit kritisch auf konkrete Maximen beziehen und so mit der Lebenswelt des Menschen vermit­ teln. Johannes Schwartländer stellt die symbolische Rolle des Ver­ standes als Medium des sittlich Unbedingten mit folgenden Worten heraus: »Als formales Gesetz ... gehört das moralische Gesetz dem Verstande an, dem eigentlich spontanen Vermögen; und es zeigt als solches das gleiche Wesen wie die Gesetze überhaupt. Aber der Ver­ stand . übernimmt hier eine symbolische Funktion, er stellt näm­ lich den unbedingten Anspruch des moralischen Seins dar, indem er, das selbst spontane Vermögen, diesen Anspruch gehorchend vermit­ telt und zur Selbstgegebenheit bringt.«27 Die Einsicht in die symbolische Funktion der Verstandesgesetz­ lichkeit bei der Darstellung des Unbedingten macht deutlich, daß es in der Universalisierungsforderung des kategorischen Imperativs nicht um ein bloß logisches Denkexperiment geht. Mit Recht betont 24 GMS, AAIV, S. 421. (Im Original gesperrt.) 25 Näheres dazu unten, Kap. IV,1. 26 Vgl. KrV, AA III, S. 427: »Die Vernunft bezieht sich niemals geradezu auf einen Gegenstand, sondern lediglich auf den Verstand und vermittelst desselben auf ihren eigenen empirischen Gebrauch, schafft also keine Begriff (von Objecten), sondern ord­ net sie nur ...«. (Hervorhebungen im Original.) 27 Johannes Schwartländer, Der Mensch ist Person. Kants Lehre vom Menschen (Stutt­ gart: Kohlhammer, 1968), S. 148.

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III. Das Gesetz der Freiheit

John R. Silber: »Die Forderung der moralischen Vernunftidee ist eine Forderung von Existenz und nicht nur von Erkenntnis.«28 Es ist kei­ neswegs Kants Absicht, praktische Fragen der Lebensführung in bloß logische Problemstellungen zu transformieren, ginge doch dadurch der eigentliche Forderungscharakter des Sittlichen verloren. »Die ra­ tionale Form des Sich-nicht-Widersprechens«, schreibt Karl Jaspers, »ist nur ein Abglanz der intelligiblen Notwendigkeit des Gesetzes.«29 Das moralische Gesetz stellt einen moralisch-existentiellen An­ spruch dar, durch den die kognitiven Fähigkeiten des Menschen in den Dienst seiner moralischen Bestimmung genommen werden. Anders als das Naturgesetz kann das Gesetz der Freiheit nicht an empirischen Gegenständen demonstriert werden. Daß Lügen unmo­ ralisch ist, weil die dahinter stehende Maxime als allgemeines Gesetz genommen zum Zusammenbruch menschlicher Kommunikation führen müßte, läßt sich zwar einsehen, kann aber empirisch nicht veranschaulicht, nicht unmittelbar verifiziert oder falsifiziert wer­ den. Zwischen der sittlichen Freiheitsordnung und der Naturordnung besteht demnach eine fundamentale Differenz, die Kant in aller Klar­ heit herausstellt. Das Sittengesetz als das Gesetz der Freiheit ist nicht gleich dem Gesetz der Natur.30 Zugleich besteht zwischen Naturgesetz und Sittengesetz aber auch eine Analogie, die es ermöglicht, das erstere als Symbol des letzteren zu nehmen. Das tertium comparationis liegt in der strengen Allgemeingültigkeit, die beide Arten von Gesetz gleichermaßen aus­ zeichnet. »Natur«, definiert Kant in den Prolegomena, »ist das Da­ sein der Dinge, so fern es nach allgemeinen Gesetzen bestimmt ist.«31 In diesem Sinne nennt Kant die Natur in ihrer formalen gesetzlichen Ordnung durch den Verstand auch den »Typus« des Sittengesetzes.32 28 John R. Silber, Der Schematismus der praktischen Vernunft, in: Kant-Studien 56 (1965), S. 253-273, hier S. 262. 29 Karl Jaspers, Die großen Philosophen. Erster Band (München/Zürich: Piper, 5. Aufl. 1989), S. 483. 30 Vgl. GMS, AAIV, S. 387: »Denn diese Gesetze sind entweder Gesetze der Natur, oder der Freiheit. Die Wissenschaft von der ersten heißt Physik, die der andern ist Ethik; jene wird auch Naturlehre, diese Sittenlehre genannt.« (Hervorhebungen im Original.) 31 Prolegomena, AA IV, S. 294. (Hervorhebung im Original.) 32 Vgl. H. W. Cassirer, A Commentary on Kant's Critique of Judgment (New York: Barnes & Noble, 1938), S. 76: »Kant calls the universal law of nature which represents the moral law a >Type< (Typus) of the moral law, and the general procedure he calls >Typicc. His meaning would be more adequately expressed by the term >symbolPhysik< und >Ethik< stehen in einem deduktiven Zusammenhang, in dem zwar gelegentlich die Führungsposition wechselt, aher die einheitliche Struktur des Wissens hleiht.« 74 KpV, AA V, S. 8 Fußnote.

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III. Das Gesetz der Freiheit

che« hat. Daß in der Bestimmung des Menschen zur Sittlichkeit seine besondere Würde liegt, ist wiederum keine exklusiv moderne Idee, sondern eine ethische Einsicht, die sich bis in die Quellen der Reli­ gionen und Philosophien zurückverfolgen läßt. Man denke nur an die biblische Idee der Gottebenbildlichkeit des Menschen, die mit dem Auftrag der Mitverantwortung für Gottes Schöpfung einher­ geht,75 oder an die analoge koranische Vorstellung, daß der Mensch Statthalter (khalifa) Gottes auf Erden sei.76 Auch im Blick auf die Idee der Menschenwürde besteht der Anspruch der Kantischen Aufklä­ rung nicht etwa darin, ein neues Prinzip zu konstituieren. Vielmehr geht es darum, eine dem sittlichen Bewußtsein »immer schon« inhä­ rente Vorstellung zu präzisieren und in ihrem Stellenwert systema­ tisch herauszuarbeiten. Ethische Aufklärung hat den Sinn, normative Vorstellungen Wertordnungen und Tugendkataloge - auf ihren unbedingten Ver­ bindlichkeitsgrund hin transparent zu machen, um sie im Blick auf diesen sie tragenden Grund zugleich konkreter Kritik zu unterzie­ hen. Indem Kant zeigt, daß sittliche Verbindlichkeit nur als Auto­ nomie konsequent gedacht werden kann, durchbricht er jene »Me­ diatisierung« des Sittlichen durch »objektive« Wertordnungen, wie sie für das traditionelle Naturrechtsdenken charakteristisch war (und in manchen Varianten bis heute nachwirkt). Der sittliche Sollensanspruch gründet nicht in einer der menschlichen Vernunft und dem menschlichen Willen objektiv vorgegebenen teleologischen Ordnung - in einem »Kosmos«, in einer göttlichen Schöpfungsord­ nung oder auch in einer Offenbarungsurkunde -, deren implizite oder explizite normative Strukturen und Weisungen durch mensch­ liche Vernunft gleichsam erkennend übernommen und unter Aufbie­ tung des eigenen Willens umgesetzt werden müssen. Vielmehr liegt das sittliche Gesetz im Menschen selbst: Es ist das Gesetz seiner ei­ genen Vernunft bzw. seines eigenen Willens. Auch die Vorstellung, daß Moralität im Innersten den Men­ schen gründet, kann sich auf manchen philosophischen oder theo­ logischen Vorläufer berufen. Schon Paulus betont im Römerbrief, daß den Heiden das Gesetz »ins Herz geschrieben« ist.77 Thomas von Aquin stellt die Priorität der inneren moralischen Einsicht und 75 Vgl. Genesis 1,26 ff. 76 Vgl. Koran 2,30 u.ö. 77 Römer 2,15.

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5. Die Würde des Menschen

Willenshaltung gegenüber objektivistisch gedachten äußeren Nor­ men heraus, wenn er selbst dem »irrenden Gewissen« eine mora­ lische Verpflichtungskraft zuerkennt.78 Kant geht allerdings noch einen entscheidenden Schritt über Thomas hinaus, indem er dessen Vorstellung eines »irrendes Gewissens« als »ein Unding« verwirft,79 weil sie bloß halbherzig bleibt und die Moralität gleichsam in eine objektive und eine subjektive Komponente - in Gesetz und Gewis­ sen - aufspaltet.80 Demgegenüber nennt Kant den sittlichen Willen das einzig unbedingt Gute, das allen materiellen sittlichen Werten, Normen und Gütern vorausgeht: »Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Ein­ schränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille.«81 Mit diesem revolutionären Satz überwindet Kant die tradi­ tionelle Dualität von Gesetz und Gewissen. Der sittliche Wille be­ schränkt sich nicht auf die Implementierung vorgegebener mate­ rialer Normen, sondern fungiert als Organ innerer moralischer »Gesetzgebung«, die gleichwohl unter dem »nötigenden« Anspruch einer theoretisch unbegreiflichen Verbindlichkeit steht und sich so als das strikte Gegenteil einer selbstgenügsamen »Souveränität« in normativen Fragen erweist. »Der Wille wird also nicht lediglich dem Gesetze unterworfen, sondern so unterworfen, daß er auch als selbst­ gesetzgebend und eben um deswillen allererst dem Gesetze (davon er selbst sich als Urheber betrachten kann) unterworfen angesehen wer­ den muß.«82 Als die innere Prüfinstanz für die Selbstbindung an das eigene Gesetz ist das Gewissen nicht mehr überbietbar und bildet insofern die letzte Instanz moralischen Urteilens. Deshalb kann der Begriff eines »irrenden Gewissens« keinen Sinn ergeben. Die Emanzipation des Sittlichen, d. h. die systematische Über­ windung verdinglichender Objektivierungen des sittlichen Gesetzes, geht notwendig einher mit der Emanzipation des sittlichen Subjekts. Wenn Kant betont, die Würde des Menschen unterscheide sich von 78 Vgl. Thomas von Aquin, Summa theol. II/I, qu. 19, a. 5, resp. 79 MS, AAVI, S. 401. 80 Vgl. zu diesem traditionellen Gegensatz Erich Heintel, Gesetz und Gewissen. Zur Fundierung und Rangordnung der Menschenrechte im Sinnraum der Freiheit, in: Jo­ hannes Schwartländer (Hg.), Modernes Freiheitsethos und christlicher Glaube. Beiträge zur Bestimmung der Menschenrechte (Mainz: Grünewald/ München: Kaiser, 1981), S. 214-245. 81 GMS, AAIV, S. 393. (Hervorhebung im Original.) 82 GMS, AA IV, S. 431. (Hervorhebung im Original.)

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III. Das Gesetz der Freiheit

jedem »Marktpreis« oder »Affectionspreis« dadurch, daß sie »kein Äquivalent verstattet«,83 so meint dies zugleich, daß die Menschen­ würde etwas qualitativ anderes sein muß als ein materialer Wert ne­ ben anderen Werten. Sie steht gleichsam jenseits aller Werte, die in ihrer Werthaltigkeit überhaupt erst durch die sittliche Selbstgesetz­ gebung des Menschen konstituiert werden. Die Würde des Men­ schen ist unbedingt wie das Sittengesetz selbst. Auch das Gebot der Achtung der Menschenwürde ist demnach nicht ein Gebot neben an­ deren Geboten, sondern erweist sich als dieselbe unbedingte Forde­ rung des kategorischen Imperativs, die allen inhaltlichen Weisungen als Bedingung ihrer Möglichkeit vorausliegt. Der kategorische Impe­ rativ kann deshalb auch wie folgt formuliert werden: »Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.«84 Kant besteht darauf, daß der kategorische Imperativ nur »ein einziger« ist.85 Die unterschiedlichen Formulierungen dieses Impera­ tivs - z. B. das Universalierbarkeitskriterium und die Forderung der Achtung der Menschheit als immer auch Zweck an sich - sind, so schreibt er, »im Grunde nur so viele Formeln eben desselben Geset­ zes«.86 Diese unterschiedlichen Formeln können deshalb nur dann angemessen verstanden werden, wenn man sie nicht lediglich neben­ einander stellt (so daß sie sich womöglich gar wechselseitig relati­ vieren), sondern sie als komplementäre Formulierungen eines und desselben Prinzips begreift. Nur in der inneren Einheit der unter­ schiedlichen Formeln bleibt der Sinn des einen kategorischen Impe­ rativs gewahrt. Stellt man hingegen das Gebot der Achtung der Men­ schenwürde im Sinne der Schelerschen Wertphilosophie als das »materiale« Prinzip der Ethik dem »Formalismus« des kategorischen Imperativs ergänzend oder relativierend gegenüber,87 so geht die Pointe der Kantischen Ethik verloren.88 Durch eine solche bloße Ne­ 83 GMS, AA IV, S. 434. 84 GMS, AA IV, S. 429. (Im Original gesperrt.) 85 GMS, AA IV, S. 421. 86 GMS, AA IV, S. 436. 87 Vgl. Max Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die Materiale Wertethik. Neuer Versuch der Grundlegung eines ethischen Personalismus (Bern: Francke, 4. Aufl. 1954). 88 Dies gilt beispielsweise für Wolfgang Kuhlmann, Solipsismus in Kants praktischer Philosophie und die Diskursethik, in: Schönrichf Kato (Hg.), a.a.O., S. 360-395, bes. S. 375 ff.

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5. Die Würde des Menschen

benordnung (oder Gegenordnung) würde sowohl der Sinn des Kantischen »Formalismus« als auch der »materiale« Gehalt der Men­ schenwürde völlig mißverstanden. Die »Formalität« des moralischen Gesetzes bedeutet nicht ein Weniger, sondern ein Mehr gegenüber allen materialen Werten; sie meint nicht etwa einen leeren, jeder Unbedingtheit beraubten Prozeduralismus in der Ethik (der, um nicht in Voluntarismus oder Ni­ hilismus zu vefallen, der Ergänzung durch ein »materiales« ethisches Prinzip bedürftig wäre), sondern verweist auf die Transzendenz des sittlich Unbedingten gegenüber sämtlichen materialen Werten oder Tugendkatalogen. Genau diese Transzendenz des Unbedingten macht aber zugleich die Würde des Menschen als sittliches Subjekt aus, die deshalb gerade kein materialer Wert neben anderen Werten sein kann, sondern über alle Werte hinausgeht. Die unterschiedlichen Formulierungen des kategorischen Impe­ rativs verweisen aufeinander, indem sie ein und denselben unbeding­ ten Anspruch symbolisch explizieren und sich in solch gemeinsamer Symbolisierung auch wechselseitig beleuchten:89 An der »Formali­ tät« des kategorischen Imperativs erweist sich zugleich die Transzen­ denz der Menschenwürde gegenüber sämtlichen inhaltlichen Wert­ ordnungen; und an der Unbedingtheit im Gebot der Achtung der Menschenwürde als »Zweck an sich« erweist sich zugleich die Tran­ szendenz der Universalisierbarkeitsforderung gegenüber einem blo­ ßen Prozeduralismus in der Ethik. Mit Entschiedenheit weist Karl Vorländer die falsche Entgegensetzung des »formalen« und »mate­ rialen« Prinzips der Sittlichkeit zurück: »Der vielgescholtene >Formalismus< der kritischen Ethik bedeutet ... keineswegs Leerheit des Inhalts, wie ja überhaupt in Kants Philosophie die >Form< keinen Ge­ gensatz zum Inhalt bildet, vielmehr ihn gerade erzeugt. In der Vor­ stellung einer allgemeinen Gesetzgebung liegt vielmehr schon von selbst die Idee der Menschheit, die der Mensch >als das Urbild seiner Handlungen in seiner Seele trägtjederzeitinhalt­ 89 Vgl. in diesem Sinne auch Onora O'Neill, Constructions of Reason. Explorations of Kant's Practical Philosophy (Cambridge: Cambridge University Press, 1989), S. 143. 90 Karl Vorländer, Immanuel Kant. Der Mann und das Werk (Hamburg: Meiner, 2. erw. Aufl., 1977), Erster Band, S. 297 f. (Hervorhebungen im Original.)

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III. Das Gesetz der Freiheit

liche< Begriff der Persönlichkeit oder der >Menschheit< als eines Zwecks an sich.«91 »Formalität« und »Materialität« in den unter­ schiedlichen Formulierungen des einen kategorischen Imperativs gehören demnach unauflöslich zusammen. Und zwar bilden sie einen Zusammenhang nicht etwa wechselseitiger Ergänzung, sondern wechselseitiger Explikation des einen Unbedingten, das in keiner For­ mulierung erschöpfend zum Ausdruck kommt.92 Die Einsicht in die Autonomie des sittlichen Anspruchs ist gleichursprünglich mit der Einsicht in die Autonomie des sittlichen Subjekts. Die Würde des Menschen als sittliches Subjekt kann folg­ lich nicht danach bemessen werden, welchen »Ort« er innerhalb einer vorgegebenen sittlichen Ordnung innehat. Es gibt keine objek­ tive Ordnung, die der praktischen Vernunft verbindlich vorgegeben wäre, und es kann deshalb auch keine Rangabstufung der Menschen innerhalb einer solchen Ordnung geben. Die Unbedingtheit im Ge­ bot der Achtung der Würde impliziert folglich die strikte Gleichheit der Menschenwürde - wie immer auch gesellschaftliches Ansehen und Stellung der Menschen differieren mögen.93 Nicht einmal die Tugend erlaubt eine Differenzierung innerhalb der allgemeinen Menschenwürde; denn sowenig sich Moralität empirisch »dingfest« machen läßt, so wenig darf die (tatsächliche oder vermeintliche) em­ pirische Erfüllung bestimmter Tugendvorschriften zum Kriterium unterschiedlicher Grade von Würde werden. Die Einsicht in die sittliche Autonomie verbindet sich so mit der Einsicht in die wesentliche Gleichheit der Menschen als sittlicher Subjekte. Die moderne Gleichheitsforderung erweist sich im Hori­ zont der Kantischen Autonomie als eine genuin ethische Forderung. Sie zielt nicht etwa auf allgemeine Nivellierung, wie konservative Skeptiker oft behauptet haben, sondern bringt die wahre »Größe« des Menschen, seine Würde als sittlich autonomes Subjekt, systema­ tisch zur Geltung. Da die Würde des Menschen über jeden Markt­ preis und Affektionspreis prinzipiell erhaben ist, muß sie jedem

91 Schwartländer, Der Mensch ist Person, a.a.O., S. 173. 92 Vgl. Heinrich Böckerstette, Aporien der Freiheit und ihre Aufklärung durch Kant (Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 1982), S. 335. 93 Vgl. Allen W Wood, Kant's Ethical Thought (Cambridge: Cambridge University Press, 1999), S. 132: »Absolute worth is noncomparative. The thesis that every rational being is an end in itself with absolute worth has an immediate but radical corrolary: The worth of all rational beings ist equal.«

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5. Die Würde des Menschen

Menschen in gleicher Weise zuerkannt werden. Sie ist denkbar nur als die eine und gleiche Würde eines jeden: als eine Würde jenseits aller gesellschaftlichen »Würdigkeiten«.

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IV Strukturen und Orientierungen sittlicher Praxis

1.

Die Maxime als Medium sittlicher Selbstgesetzgebung

Das sittlich Unbedingte findet seine symbolische Darstellung im Me­ dium des Verstandes als strenge Gesetzlichkeit, wie sie uns in Gestalt des Naturgesetzes vor Augen steht, das deshalb den »Typus« des Sit­ tengesetzes bietet. Sittliches Handeln vollzieht sich stets unter dem kategorischen Anspruch der Universalisierbarkeitsforderung. Zu­ gleich aber steht menschliches Handeln unter den partikularen Bedingungen einer je konkreten, sich immer wieder verändernden und nie ganz überschaubaren Lebenswelt. Wie passen diese beiden Aspekte menschlicher Sittlichkeit zusammen? Besteht zwischen dem Universalen und dem Partikularen zuletzt eine unüberbrück­ bare Kluft? Erweist sich der Universalismus in der Ethik dann aber nicht als ein abstraktes Sollen, das den Kontingenzen menschlichen Lebens unvermittelt und ergo folgenlos gegenübersteht? Genau dies ist bekanntlich der Vorwurf, den Hegel gegen Kants Ethik erhebt: »Das formale Prinzip der Gesetzgebung kommt in dieser Einsamkeit in sich zu keinem Inhalt, keiner Bestimmung.« Und weiter heißt es: »Das Allgemeine, das Sich-nicht-Widersprechen ist etwas Leeres, das im Praktischen sowenig als im Theoretischen zu einer Realität kommt.«1 Ein anderer Einwand besagt, daß der Kantische Universalismus in seiner Formalität mit beliebigen ideologischen Vorstellungen gefüllt werden könne. Komplementär zum Vorwurf des lebensfrem­ den »Dualismus« läuft dieser Einwand darauf hinaus, der Kantischen Ethik jede kritisch-aufklärerische Distanz zur gegebenen Praxis - wie immer autoritär, inhuman oder ideologisch diese auch sein mag - von vornherein abzusprechen. In diesem Sinne führt Hannah Arendt 1 Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, Werke Band 20 (Frank­ furt a.M.: Suhrkamp, 1971), S. 368.

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1. Die Maxime als Medium sittlicher Selbstgesetzgebung

Adolf Eichmanns blinden Pflichteifer hei der Durchführung des na­ tionalsozialistischen Völkermordes als drastisches Beispiel für die Beliebigkeit des Kantischen »Formalismus« an: »... in einer Bezie­ hung hat sich Eichmann ganz zweifellos wirklich an Kants Vorschrif­ ten gehalten: Gesetz war Gesetz, Ausnahmen durfte es nicht ge­ hen.«2 Obwohl die Vorwürfe des Dualismus, der Abstraktheit und des Formalismus den Anspruch der Kantischen Moralphilosophie, wie noch gezeigt werden soll, letztlich nicht treffen, weisen sie doch auf bestehende Defizite und Unklarheiten in Kants Ausführungen hin. Während Kant sich mit den Grundlegungsfragen der Ethik aus­ führlich beschäftigt, behandelt er die Probleme der angewandten Ethik nicht mit vergleichbarer Sorgfalt. Seine Beispiele sind nicht immer glücklich gewählt und haben teils eher zur Verwirrung als zur Klärung beigetragen. Dies gilt besonders für seinen Aufsatz »Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen«,3 der ihm mehr als alle anderen Schriften den Ruf eines blinden Rigoristen eingetragen hat. Ansatzpunkt für eine immanente kritische Weiterführung der Kantischen Ethik ist der Begriff der Maxime, über den Kant die Ver­ mittlung zwischen Universalisierungsanspruch und konkretem Handlungskontext leistet. Ein Problem für die Interpretation besteht allerdings darin, daß Kant den Begriff der Maxime eher nebenbei einführt und nirgends näher erläutert.4 Er verzichtet darauf, die Ent­ stehung und Entwicklung von Maximen im Leben des Menschen zu untersuchen. Daß der Begriff der Maxime geeignet ist, die pragmati­ schen Bezüge von Lebensführung und Lebenserfahrung zu themati­ sieren (und damit ein Grundanliegen der Aristotelischen Philosophie aufzunehmen),5 kommt bei Kant nicht eigentlich zum Tragen. Dieses 2 Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen (München/Zürich: Piper, 6. Aufl. 1987), S. 175. 3 Kant, Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen (1797), AAVIII, S. 423­ 430. 4 Vgl. Christine M. Korsgaard, Creating the Kingdom of Ends (Cambridge: Cambridge University Press, 1996), S. 67: »Unfortunately ... Kant introduces the idea of a maxim with no preparation whatever - he simply says, in a footnote clumsily attached to its fifth usage, that the maxim is a >subjective principle of volitionc.« 5 Daß die praktische Lebenserfahrung in der Kantischen Ethik über den Maximen­ begriff zumindest implizit durchaus Eingang findet, betont Otfried Höffe, Kategorische Rechtsprinzipien. Ein Kontrapunkt der Moderne (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1990), S. 120ff.

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IV. Strukturen und Orientierungen sittlicher Praxis

Defizit spiegelt sich in den genannten Vorwürfen der Abstraktheit und des Formalismus, die insofern nicht ganz unberechtigt sind. Die Maxime, so definiert Kant, »ist das subjective Princip des Wollens«.6 In seiner »Subjektivität« unterscheidet es sich vom mora­ lischen Gesetz, das Kant als »das objective Princip« des Wollens be­ zeichnet.7 Als etwas Subjektives, so wäre in Weiterführung des Kantischen Ansatzes zu sagen, stehen Maximen für die unaufhebbare Kontingenz menschlichen Wollens und Handelns. Maximen sind vielfältig; sie entstehen und verändern sich im Laufe eines Lebens. Als Bestandteile der alltäglichen Lebenspraxis sind sie zugleich Aus­ druck von Lebenserfahrung - oder auch des Mangels an Erfahrung. Bei aller Kontingenz und »Subjektivität« haben Maximen zugleich aber bereits Prinzipiencharakter. In ihnen findet das menschliche Le­ ben eine - gewiß immer nur vorläufige - Ordnung und Struktur. Kontingenz bzw. Partikularität auf der einen Seite und Prinzipienhaftigkeit auf der anderen Seite gehören zusammen, wie Onora O'Neill betont: »A maxim is therefore the principle of action of a particular agent at a particular time ...«.8 Maximen sind Prinzipien im Kontext. Nur in der Zusammensicht der beiden Aspekte, von Prinzipienhaftigkeit und Kontextualität, erschließt sich der vermit­ telnde Status der Maxime zwischen Universalität und Partikularität.9 Der kategorische Imperativ verlangt, die Maximen als »subjek­ tive Prinzipien« dem »objektiven Prinzip«, also dem moralischen Ge­ setz zu unterstellen. Diese Unterordnung ist allerdings nicht so zu verstehen, als sollten die Maximen einem gleichsam von außen an sie herangetragenen »Testverfahren« unterzogen werden. Die Maxi­ men sind auch mehr als nur ein Gegenstand der Universalisierungsforderung des kategorischen Imperativs. Sie bilden nämlich das Me­ dium, durch das allein das moralische Gesetz überhaupt konkrete Gestalt finden kann. Nur im Medium der Maximen kann sich sitt6 GMS, AAIV, S. 400 Fußnote. 7 GMS, AA IV, S. 400 Fußnote. 8 Onora O'Neill, Constructions of Reason. Explorations of Kant's Practical Philosophy (Cambridge: Cambridge University Press, 1989), S. 83. 9 Eine schwierige Frage, die hier nicht diskutiert werden soll, ist die Beziehung zwischen konkreten Handlungen und Maximen. Es ist offenkundig, daß ein und dieselbe Hand­ lung Ausdruck unterschiedlicher Maximen sein und deshalb auch unterschiedlich be­ wertet werden kann. Daraus ergibt sich das Problem angemessener Handlungsbeschrei­ bung. Vgl. dazu die Überlegungen von Barbara Herman, The Practice of Moral Judgment (Cambridge/Mass.: Harvard University Press, 1993), z.B. S. 218.

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1. Die Maxime als Medium sittlicher Selbstgesetzgebung

liehe Selhstgesetzgehung lehenspraktisch vollziehen. Kants um­ ständlich anmutende Formulierung des kategorischen Imperativs, daß man nämlich durch die Maxime (und nicht nur von der Maxime) wollen können soll, daß sie Gesetz werde, ist insofern nicht heiläufig, erst recht keine sprachliche Unheholfenheit, sondern für das Ver­ ständnis der vermittelnden Rolle der Maxime wesentlich: »handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde«.10 Hermann Cohen schreiht dazu erläuternd: »Der Zusammenhang der Erörterungen legt die An­ sicht nahe, daß Kant das Wort >durch< gehraucht hat, um ... die Spon­ taneität der Maxime darzutun, und ihre Fähigkeit, zum Gesetze aus­ zuwachsen. Indem nämlich durch die Maxime zugleich das Gesetz gewollt werden soll, wird damit der Gedanke vorhereitet: daß das Gesetz selhst keinen fremden Gesetzgeber hahe; daß der sittliche Wille autonom sei.«11 Ähnlich hetont Julius Ehhinghaus: »Du mußt den Gesetzescharakter >durch< die Maxime wollen können - d. h. der Grund der Möglichkeit, die Maxime als Gesetz zu wollen, muß in der Maxime selhst ... liegen.«12 Die Universalisierungsforderung ist demnach mehr als ein hloßes Denkexperiment, das sich aus der Di­ stanz des Beohachters gleichsam von außen her auf Maximen hezieht; sie erweist sich als Forderung an die immanente Ausgestaltung der lehenspraktischen Maximen, in denen das Universale und das Partikulare möglicherweise »immer schon« in Beziehung zueinander stehen, auch wenn das Gesetz in seiner formalen Strenge jeder kon­ kreten Maxime zugleich voraus hleiht. Der Universalismus in der Ethik steht nicht in unüherhrückharem Gegensatz zum lehensweltlichen Ethos. Sein philosophischer Sinn hesteht darin, jenes Moment unhedingter Gültigkeit reflexiv zu vergewissern, das implizit oder explizit jedem ethischen Anspruch auch einem lehensweltlich-kontextuellen Ethos - inhärent ist; denn 10 GMS, AA IV, S. 421. (Hervorhehung von mir, H. B.). Während diese vermutlich am häufigsten zitierte Formel den Eindruck erweckt, daß der kategorische Imperativ ledig­ lich die moralische Zulässigkeit hestimmter Maximen prüft, zeigen andere Formulie­ rungen, daß es darüher hinaus auch um die positive Bestimmung von Handlungspflich­ ten geht. Vgl. z.B. KpV, AA V, S. 30: »Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Princip einer allgemeinen Gesetzgehung gelten könne.« 11 Hermann Cohen, Kants Begründung der Ethik nehst ihren Anwendungen auf Recht, Religion und Geschichte (Berlin: Bruno Cassirer, 2. verh. und erw. Aufl. 1910), S. 221. 12 Julius Ebbinghaus, Deutung und Mißdeutung des kategorischen Imperativs, in: Ge­ sammelte Aufsätze, Vorträge und Reden (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesell­ schaft, 1968), S. 80-96, hier S. 92.

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IV. Strukturen und Orientierungen sittlicher Praxis

der Begriff eines rein partikularen Ethos wäre ein Widerspruch in sich. Der kategorische Imperativ, in dem das der sittlichen Praxis selbst innewohnende Unbedingte zum Ausdruck kommt, kann daher auch nichts völlig Neues sein. Wenn auch in seiner philosophischen Formulierung von Kant in neuer Weise systematisch expliziert, hat der kategorische Imperativ im Grunde »immer schon« als Prinzip sittlicher Maximenbildung fungiert. Er ist vor allen philosophischen Erörterungen bereits »der gemeinen Menschenvernunft« gegeben. So schreibt Kant: »Es wäre hier leicht zu zeigen, wie sie [nämlich die gemeine Menschenvernunft, H. B.] mit diesem Compasse in der Hand in allen vorkommenden Fällen sehr gut Bescheid wisse, zu un­ terscheiden, was gut, was böse, pflichtmäßig, oder pflichtwidrig sei, wenn man, ohne sie im mindesten etwas Neues zu lehren, sie nur, wie Sokrates that, auf ihr eigenes Princip aufmerksam macht, und daß es also keiner Wissenschaft und Philosophie bedürfe, um zu wis­ sen, was man zu thun habe, um ehrlich und gut, ja sogar weise und tugendhaft zu sein.«13

2.

Maximenbildung als Lernprozeß

Aufklärung im Sinne der Sokratischen Mäeutik soll dazu verhelfen, den unbedingten Anspruch des Sittlichen in seiner Strenge philoso­ phisch zu vergewissern. Dieser Anspruch wird typischerweise vor allem dadurch relativiert, daß man sich gelegentliche »Ausnahmen« von den »im Prinzip« anerkannten moralischen Verpflichtungen vor­ behält. Kant spricht von einem »Widerstand der Neigung gegen die Vorschrift der Vernunft (antagonismus), wodurch die Allgemeinheit des Prinzips (universalitas) in eine bloße Gemeingültigkeit (generalitas) verwandelt wird, dadurch das praktische Vernunftprincip mit der Maxime auf dem halbem Wege zusammenkommen soll«.14 Ge­ gen diese Tendenz zum faulen Kompromiß insistiert Kant auf der ausnahmslosen Geltung sittlicher Normen, deren strenger Univer­ salitätsanspruch nicht zu einer verschwommenen Generalität her­ abgewürdigt werden darf. Nun hat gerade das Pochen auf Ausnahmslosigkeit viel Wider­ spruch gefunden, scheint es doch jenem »gemeinen Menschenver­ 13 GMS, AA IV, S. 404. 14 GMS, AA IV, S. 424.

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2. Maximenbildung als Lernprozeß

stand« gänzlich zu widersprechen, auf den Kant sich sonst gern be­ ruft. Ist Hannah Arendts Einwand, daß in der Kantischen Ethik die Urteilskraft keinen Raum findet, demnach also berechtigt?15 In der Tat: Die Forderung, daß man das Verbot zu lügen selbst in dem Ex­ tremfall durchhalten soll, in dem potentielle Mörder nach dem Ver­ steck ihres Opfers fragen, ist schwerlich zu akzeptieren. Wenn man dies zugibt, liegt es dann aber nicht nahe, Kants Universalismus ganz aufzugeben und sich mit einer rein kontextuellen Ethik zu begnügen, die universalistischen Ansprüchen abgeschworen hat? Kants strenger Universalismus läßt sich nur dann »retten«, wenn man die verbotenen Ausnahmen näher qualifiziert. Im Zusam­ menhang der Unterscheidung von »universalitas« und »generalitas« verwirft Kant solche Ausnahmen, hinter denen sich ein »Widerstand der Neigung gegen die Vorschrift der Vernunft« verbirgt. In einem solchen Fall »nehmen wir uns die Freiheit, für uns (oder auch nur für diesesmal) zum Vortheil unserer Neigung davon [nämlich von einem von uns prinzipiell anerkannten moralischen Gesetz, H. B.] eine Ausnahme zu machen«.16 Die Ausnahme wird hier von Kant also von vornherein als Einbruch eines blinden, auf bloß egoistische Nei­ gungen gegründeten Partikularismus verstanden, den die Vernunft des Menschen »eigentlich« ablehnt. Wenn Kant von Ausnahmen spricht, steht ihm offenbar meist diese Konstellation vor Augen. Es gibt allerdings auch eine ganz andere Art von Ausnahmen im Kontext sittlicher Praxis. Wenn wir - entgegen Kant - davon aus­ 15 Hannah Arendt hat auf das Paradox hingewiesen, daß Kant die Urteilskraft, der er schließlich eine eigene umfangreiche Kritik gewidmet hat, in seiner praktischen Phi­ losophie kaum zum Tragen bringt. Vgl. Hannah Arendt, Das Urteilen. Texte zu Kants politischer Philosophie, herausgegeben und mit einem Essay von Ronald Beiner (München/Zürich: Piper, 1989). Obwohl Hannah Arendt das Defizit an reflektierender Urteilskraft in Kants Moral- und Rechtsphilosophie zu Recht moniert, bleibt ihr eigener Gegenentwurf einer politischen Philosophie aus der Kantischen Urteilskraft indes nicht weniger einseitig, da sie die Universalisierungsforderung des kategorischen Imperativs darin ausklammert bzw. per se als doktrinären Rationalismus mißversteht, der sich in der Politik zerstörerisch auswirken müsse und den es deshalb zu überwinden gelte. Indem sie die Kantische Urteilskraft als den Sinn für das »Besondere« gegen den Uni­ versalismus ausspielt, spiegelt sie das deduktivistische Selbstmißverständnis der Kantischen Moral- und Rechtsphilosophie, d. h. die unzureichend geklärte Vermittlung von Universalität und Partikularität, lediglich vom entgegengesetzten Standpunkt wider. Vgl. dazu Heiner Bielefeldt, Wiedergewinnung des Politischen. Eine Einführung in Hannah Arendts politisches Denken (Würzburg: Königshausen & Neumann, 1993), S. 82 ff. 16 GMS, AAIV, S. 424. (Hervorhebung im Original.)

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IV. Strukturen und Orientierungen sittlicher Praxis

gehen, daß die bewußte Irreführung eines Verbrechers, der sein Op­ fer verfolgt, keineswegs pflichtwidrig ist, so machen wir scheinbar eine Ausnahme vom Verbot des Lügens. In diesem Fall geschieht die Ausnahme allerdings nicht im Namen partikularer, egoistischer Nei­ gungen. Vielmehr sehen wir uns moralisch geradezu genötigt, von der Maxime rückhaltloser Wahrhaftigkeit abzuweichen. Wir können in der Tat wollen, daß ein jeder in diesem oder einem ähnlichen Fall analog handeln und sein Wissen um das Versteck eines unschuldig Verfolgten ableugnen soll. Was vordergründig als Ausnahme er­ scheint, erweist sich bei näherer Betrachtung als Bestandteil einer impliziten Maxime, die durchaus universalisierbar ist. Die vermeint­ liche »Ausnahme« ist mehr als eine bloße Ausnahme, nämlich ein Präzedenzfall, auf den sich in analoger Situation ein jeder beziehen können soll. Der exemplarische Charakter eines Präzedenzfalls besteht darin, daß er bei aller Konkretheit zugleich die Partikularität des jeweiligen Kontextes transzendiert und ein Moment von Universalisierbarkeit enthält. Wenn ein solcher Präzedenzfall mit einer gegebenen Maxi­ me kollidiert, wird er zugleich zum Movens für deren Korrektur und Modifikation. Das Moment des Universalisierbaren im genannten Präzedenzfall macht deutlich, daß die Maxime, niemals und unter keinen Umständen zu lügen, nicht durchzuhalten ist, genauer: daß sie aus moralischen Gründen nicht durchzuhalten ist. Sie kann im Lichte des genannten Präzedenzfalls nicht mehr als schlechthin uni­ versales Gesetz gewollt werden und bedarf der Modifizierung und Ausdifferenzierung, nämlich derart, daß das Verbot des Lügens unter Bedingungen gestellt werden muß. Damit diese Vorbehalte nicht zum Einfallstor für eine beliebige Relativierung des Verbots der Lüge werden, bedürfen auch sie freilich der kritischen Überprüfung an­ hand des Universalisierbarkeitskriteriums. Durch die Integration des Präzedenzfalls in die bisherige Maxime entsteht im Ergebnis eine modifizierte Maxime, die nun ihrerseits als universales Gesetz ge­ wollt werden kann - bis möglicherweise an neuen Präzedenzfällen die Notwendigkeit weiterer Modifizierungen und Differenzierungen deutlich wird. Die Maximenbildung erweist sich so als ein geschichtlich offe­ ner Lernprozeß, der von der Universalisierbarkeitsforderung vor­ angetrieben wird, ohne daß diese je in einer konkreten Maxime (oder eine Reihe von Maximen) endgültig eingelöst werden kann. Jede als moralisch erlaubt bzw. geboten angenommene Maxime kann sich im 82

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2. Maximenbildung als Lernprozeß

Lichte neuer Erfahrungen und Präzedenzfälle als modifizierungshedürftig erweisen. Diesen dynamischen Charakter geschichtlich of­ fener Maximenhildung hat Kant offensichtlich nicht klar erkannt. Nach Lewis White Beck hat er den Fehler hegangen, den apodik­ tischen Charakter des moralischen Sollens mit der syntaktischen Form ausnahmslos geltender Maximen zu verquicken, die den Uni­ versalismus des kategorischen Imperativs in gleichsam zeitloser Reinheit widerspiegeln sollen.17 Dadurch aher kommen die Kon­ tingenz menschlicher Handlungshedingungen, die Erfahrung von Pflichtenkollisionen und die Notwendigkeit konkreter Ahwägungen viel zu kurz.18 Pragmatische und konsequentialistische Erwägungen, die sich üher Kant hinaus - systematisch in seine Maximenethik integrieren lassen, stehen nicht etwa außerhalb des Universalisierharkeitskriteriums, sondern vollziehen sich, sofern sie in der gehotenen Gewissen­ haftigkeit durchgeführt werden, in seinem Horizont. Auch im Falle kollidierender Pflichten steht der Mensch nicht jenseits der Moral; vielmehr muß er die ggf. unvermeidliche Ahwägung ihrerseits nach moralischen Gesichtspunkten rechtfertigen können, d. h. mithilfe einer Maxime, die er als universales Gesetz wollen kann.19 Ahwägungsprozesse, konsequentialistische Überlegungen und einschrän­ kende Vorhehalte gegenüher hestimmten moralischen Regeln führen deshalh nicht zur äußeren Relativierung des moralischen Gesetzes, sondern sind Bestandteil seiner immanenten Konkretisierung im Medium der Maximen, die sich ihrerseits immer wieder aufs neue hewähren und insofern für Veränderungen offen hleihen müssen. Einige Tendenzen in dieser Richtung klingen in Kants Schriften gelegentlich an. So führt er im Kontext seiner politischen Ethik den Begriff des »Erlauhnisgesetzes« ein, der ausdrücklich dazu dient, der

17 Vgl. Lewis White Beck, Apodictic Imperatives, in: Kant-Studien 49 (1957/58), S. 7­ 24. 18 Demgegenüher hat Beck üherzeugend aufgezeigt, daß nach der Systematik der Kantischen Maximenethik auch apodiktisch-hypothetische Imperative möglich sein müssen, d.h. apodiktische Imperative, die als »Wenn-Dann-Bedingungen« formuliert sind. Vgl. Beck, Apodictic Imperatives, a. a.O., S. 20ff. Unter dem Anspruch der Universalisierungsforderung wird aus dem »Wenn-Dann« ein strenges »Jmmer-Wenn-Dann«, das üher die Konditionalform der Kontingenz menschlicher Lehenspraxis Rechnung trägt, die hloße Kontingenz zugleich aher auf Universalisierharkeit (ein »Immer­ Wenn«) hin transzendiert. 19 Vgl. Otfried Höffe, Immanuel Kant (München: C. H. Beck, 1983), S. 196.

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IV. Strukturen und Orientierungen sittlicher Praxis

Kontingenz menschlicher Handlungshedingungen Rechnung zu tra­ gen. Das Erlauhnisgesetz giht Raum für pragmatische Ahwägungen hei der schrittweisen reformerischen Verwirklichung hestimmter po­ litisch-moralischer Gehote - etwa der Ahschaffung stehender Hee­ re deren überstürzte Umsetzung womöglich mehr Schaden als Nutzen anrichten würde. Bemerkenswerterweise hesteht Kant dar­ auf, daß die unter dem Titel des Erlauhnisgesetzes vorgenommenen pragmatischen und konsequentialistischen Überlegungen nicht »Ausnahmen« von einem hestehenden moralisch-politischen Gesetz genannt werden dürfen, sondern »als einschränkende Bedingung ... in jenes Gesetz mit hinein gehracht« werden müssen.20 Es geht heim Erlauhnisgesetz mithin nicht um eine (äußere) Relativierung, son­ dern um eine (innere) Modifizierung sittlicher Maximen, so daß der strenge Universalismus gewahrt hleiht; nur deshalh hat das ein­ schränkende Erlauhnisgesetz seinerseits gewissermaßen Gesetzes­ charakter. Ähnlich argumentiert Kant hei der Erläuterung des Begrif­ fes der »weiten Pflicht« in der Tugendlehre der Metaphysik der Sitten: »Es wird aher unter einer weiten Pflicht nicht eine Erlauhniß zu Ausnahmen von der Maxime der Handlung, sondern nur die der Einschränkung einer Pflichtmaxime durch die andere (z. B. die all­ gemeine Nächstenliehe durch die Elternliehe) verstanden, wodurch in der That das Feld für die Tugendpraxis erweitert wird.«21 Solche Ansätze in Richtung einer Öffnung des Maximenhegriffs für konsequentialistische Erwägungen und für damit einhergehende Lernprozesse kommen gleichwohl nicht wirklich zum Tragen. Denn Kant hesteht darauf, daß die größere Flexihilität auf einen von vorn­ herein festgelegten Typus von Pflichten hzw. Gesetzen mit nur »wei­ ter« Verhindlichkeit eingeschränkt hleiht, die er von den unter allen Umständen geltenden »vollkommenen Pflichten« hzw. »leges strictae« klar ahgrenzen will.22 20 Frieden, AAVIII, S. 348 Fußnote. 21 MS, AAVI, S. 390. 22 Vgl. Frieden, AAVIII, S. 347. Auf die Unterscheidung zwischen strengen und weiten hzw. zwischen vollkommenen und unvollkommenen Pflichten legt Kant größten Wert. Die Begründungen, die er dafür angiht, schwanken allerdings und können zuletzt alle­ samt nicht üherzeugen. In der Grundlegung definiert er eine vollkommene Pflicht da­ durch, daß sie »keine Ausnahme zum Vortheil der Neigung verstattet« (GMS, AA IV, S. 421 Fußnote.). Wenn man daraus im Gegenzug schließen soll, daß unvollkommene Pflichten mit Ausnahmen zugunsten partikularer und egoistischer Interessen einher­ gehen können, so wäre freilich ihr Status als Pflichten üherhaupt zweifelhaft. Wenig

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2. Maximenbildung als Lernprozeß

Womöglich einen kleinen Schritt weiter geht Kant allerdings in den »kasuistischen Fragen« in der Tugendlehre der Metaphysik der Sitten. An die Erörterung der einzelnen Tugendpflichten schließt er regelmäßig eine Reihe von Fragen und hypothetischen Dilemmata an, anhand derer er die Situationsgehundenheit sittlichen Handelns thematisiert. »Ist es Selhstmord, sich (wie Curtius) in den gewissen Tod zu stürzen, um das Vaterland zu retten? - oder ist das vorsätz­ liche Märtyrerthum, sich für das Heil des Menschengeschlechts üherhaupt zum Opfer hinzugehen, auch wie jenes für Heldenthat anzusehen?«23 »Kann man dem Wein ... einen Gehrauch verstatten, der his nahe an die Berauschung reicht: weil er doch die Gesellschaft zur Gesprächigkeit heleht und damit Offenherzigkeit verhindet?«24 »Kann eine Unwahrheit aus hloßer Höflichkeit (z. B. das ganz gehor­ samster Diener am Ende eines Briefes) für Lüge gehalten werden? Niemand wird ja dadurch hetrogen.«25 Diese und ähnliche moralische Fragen werden von Kant nicht heantwortet. Seine Systematik der Tugendpflichten rundet sich nicht zu einem geschlossenen Tugend­ katalog, in dem die Kontingenz menschlichen Handelns ein für alle­ mal aufgehohen wäre. Daß der Philosoph in einem seiner letzten großen Werke Fragen aufwirft, die er ausdrücklich nicht heantworten will oder kann, ist ein hemerkenswertes Zeugnis für seine lehenslan­ ge Lernoffenheit. »Schon in der Aufwerfung solcher Fragen«, schreiht Karl Vorländer, »hewährt sich der erfahrene und weitsichtige Menschenkenner, der zwar an der Strenge der sittlichen Forderung

plausihel ist auch der Versuch, die Differenz dadurch zu hegründen, daß man im Falle der vollkommenen Pflichten eine Maxime ihrer (gelegentlichen) Verletzung als univer­ sales Gesetz nicht einmal denken könne, während sich die Maxime der Nichtheachtung einer unvollkommenen Pflicht als universales Gesetz nur nicht wollen lasse (vgl. GMS, AAIV, S. 423). Denn der kategorische Imperativ richtet sich grundsätzlich auf den Wil­ len und nicht nur auf das Denkvermögen des Menschen; er fungiert als das Gesetz des Willens. In der Tugendlehre der Metaphysik der Sitten verhindet Kant die Unterschei­ dung zwischen vollkommenen und unvollkommenen Pflichten mit den Prinzipien der Achtung und der Liehe (vgl. MS, AA VI, S. 488). Während der Mensch mit der Erfül­ lung der Achtungspflichten nichts als seine Schuldigkeit tut, erwirht er sich durch die Erfüllung der Liehespflichten Verdienste. Kant definiert die Tugendpflichten im engeren Sinne dadurch, daß ihre Befolgung üher die hloße Schuldigkeit hinaus verdienstlich ist (vgl. MS, AAVI, S. 390). 23 MS,AAVI, S. 423. 24 MS,AAVI, S. 428. 25 MS, AAVI, S. 431. (Hervorhehung im Original.)

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IV. Strukturen und Orientierungen sittlicher Praxis

festhält, aber doch nach seinem Liehlings-Wahlspruche >nichts Menschliches sich fremd sein< läßt.«26

3.

Das höchste Gut als Sinnhorizont sittlicher Praxis

Der kategorische Imperativ fungiert nicht nur als kritische Prüfin­ stanz gegebener Maximen, sondern liegt dem gesamten Prozeß der Ausbildung und Entwicklung von Maximen positiv zu Grunde. Das ganze Lehen des Menschen soll gemäß moralischen Maximen ge­ staltet werden, die deshalb auch untereinander einen Sinnzusam­ menhang ergehen sollen. Um diesen umfassenden Anspruch des kategorischen Imperativs zu Wort zu bringen, führt Kant in der Grundlegung den Begriff des »Reichs der Zwecke« ein, der die Auf­ gabe sittlicher Selbstgesetzgebung in der »Allheit oder Totalität des Systems«27 symbolisch vor Augen stellt. Die der praktischen Vernunft inhärente Idee der Vollkommen­ heit spricht Kant ansonsten zumeist unter dem Begriff des »höchsten Gutes« an. Die Beziehung zwischen dem Reich der Zwecke und der Vernunftidee des höchsten Gutes wird von ihm nirgends systema­ tisch thematisiert. Die Vermutung liegt nahe, daß beide Begriffe eng zusammengehören.28 Ein Unterschied besteht darin, daß in der Idee des höchsten Gutes die Gesamtheit des Guten, nämlich des mora­ lisch-Guten (der Sittlichkeit) und des natürlich-Guten (der Glückse­ ligkeit), ausdrücklich zusammengedacht sind. Das höchste Gut, so heißt es in der Kritik der praktischen Vernunft, macht »die unbe­ dingte Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft« aus.29 Eine solche Totalität wäre erst dann erreicht, wenn Sittlichkeit und Glückseligkeit miteinander versöhnt wären, und zwar nach Maßgabe der Gerechtigkeit. Die Sittlichkeit geht in der Idee des höchsten Gutes - als Bedingung der »Glückswürdigkeit« - mit der 26 Karl Vorländer, Immanuel Kant. Der Mann und das Werk (2. erw. Aufl., Hamburg: Meiner, 1977), Band 1, S. 307. 27 GMS, AA IV, S. 436. 28 Vgl. in diesem Sinne auch Hans-Jürgen Hess, Die Obersten Grundsätze Kantischer Ethik und ihre Konkretisierbarkeit. Kantstudien Ergänzungshefte 102 (Bonn: Bouvier, 1971), S. 65; Manfred Riedel, Urteilskraft und Vernunft. Kants ursprüngliche Fragestel­ lung (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1989), S. 95f.; O'Neill, a.a.O., S. 143; Korsgaard, a. a. O., S. 241. 29 KpV, AAV, S. 108. (Hervorhebung im Original.)

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3. Das höchste Gut als Sinnhorizont sittlicher Praxis

ihr gemäßen Glückseligkeit einher. Das höchste Gut ist in der Ver­ bindung von maximaler Tugend und maximalem Glück »das voll­ endete Gute, worin doch Tugend immer als Bedingung das oberste Gut ist, weil es weiter keine Bedingung über sich hat, Glückseligkeit immer etwas, was dem, der sie besitzt, zwar angenehm, aber nicht für sich allein schlechterdings und in aller Rücksicht gut ist, sondern jederzeit das moralische gesetzmäßige Verhalten als Bedingung vor­ aussetzt.«30 Das höchste Gut ist »Gegenstand« der praktischen Vernunft nicht im Sinne eines der Vernunft äußerlich vorgegebenen Zieles, das diese lediglich »theoretisch« zu erkennen und sodann ins Han­ deln umzusetzen hätte. Es gibt keine der praktischen Vernunft vor­ gegebenen moralischen Werte, Güter und Ziele, die der sittlichen Autonomie des Willens von außen her verbindlich Schranken setzen oder die Richtung weisen könnten. Genau diese Einsicht macht den kritischen Charakter der Kantischen Ethik aus, die den Dogmatismus ontologisch vorgestellter materialer Werte konsequent ausräumt.31 Kants Überlegungen zum höchsten Gut und seine Zwecklehre in der Ethik nehmen davon nichts zurück.32 Denn der »Gegenstand« der praktischen Vernunft geht dieser nicht voraus, sondern wird umge­ kehrt von ihr überhaupt erst konstituiert. Als die Totalität des Ge­ genstandes der praktischen Vernunft repräsentiert das höchste Gut die dem sittlich Unbedingten innewohnende Tendenz zu einer Voll­ kommenheit, die lebenspraktisch niemals eingelöst werden kann und dennoch eine unverzichtbare orientierende Funktion hat. Was sind die Konsequenzen der Idee des höchsten Gutes für die materiale Ethik? Eine direkte Verwirklichung des höchsten Gutes ist dem Menschen nicht möglich. Die in dieser Idee aufleuchtende Voll­ kommenheit überschreitet die Möglichkeiten menschlicher Realisie­ rung nicht nur graduell, sondern prinzipiell. Die Wirklichkeit sitt­ licher Praxis ist gerade nicht durch die Harmonie von Tugend und 30 KpV, AA V, S. 111. 31 Vgl. Friedrich Kaulbach, Das Prinzip Handlung in der Philosophie Kants (Berlin/New York: de Gruyter, 1978), S. 160ff. 32 Abwegig ist die Behauptung von Kurt Borries, Kant als Politiker. Zur Staats- und Gesellschaftslehre des Kritizismus (Leipzig: Meiner, 1928), S. 35f.: »Die Lehre vom höchsten Gut, konsequent durchgeführt, bedeutet, mit einem Gott an der Spitze, der die verantwortliche Aufsicht über das Treiben der Menschen führt, eine Bankerotter­ klärung des kategorischen Imperativs. Aber der kategorische Imperativ, konsequent durchgeführt, macht die Lehre vom höchsten Gut überflüssig.«

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IV. Strukturen und Orientierungen sittlicher Praxis

Glückseligkeit, sondern durch Widersprüche und Kampf gekenn­ zeichnet, aus denen der Mensch sein Lehen lang nicht herauskommt. Er soll sittlich handeln und dadurch »glückswürdig« werden, ohne zu wissen, oh er für sein Bemühen jemals einen Lohn empfangen und tatsächlich glücklich werden wird. Wer die Differenz zwischen Tu­ gend und Glück harmonisierend üherspielt, wie dies in unterschied­ licher Weise Stoiker und Epikureer getan hahen,33 verstellt sich den Blick sowohl für die Endlichkeit des Menschen als auch für den Ernst der sittlichen Forderung. Die Stoiker, die das Glück des Menschen in der sittlichen Selhstvervollkommnung sehen, versteigen sich in ein Ideal des ühermenschlichen Weisen, für den das natürliche Glück unwesentlich geworden ist; die Epikureer, die umgekehrt die Aufgahe des Menschen auf die Pflege einer glücklichen Seelenruhe reduzie­ ren, ermäßigen den sittlichen Anspruch, ja leugnen ihn in seiner Ei­ genständigkeit. Beiden gemeinsam ist, daß sie die Konflikthaftigkeit des menschlichen Bemühens um Moralität verkennen. Die umfassende Versöhnung von Sittlichkeit und der ihr gemä­ ßen Glückseligkeit in der Idee des höchstes Gutes ist im mensch­ lichen Lehen nicht zu verwirklichen; sie erscheint geradezu als das Gegenhild zur menschlichen Wirklichkeit. Nur im Fluchtpunkt der Transzendenz, auf die menschliches Handeln sich hoffend hezieht, können die weltimmanent unauflösharen Widersprüche der sitt­ lichen Existenz des Menschen zur Ruhe kommen. Moralphilosophie hat die Tendenz, sich von innen her zur Religionsphilosophie zu er­ weitern.34 Das höchste Gut stellt deshalh nicht etwa ein »Programm« dar, das durch menschliche Bemühungen tätig umgesetzt werden könnte. Und doch hat es eine Auswirkung auf das Handeln, da es eine um­ fassende Sinnorientierung für die sittliche Praxis hietet. Auf eine solche letzte Sinnperspektive kann der Mensch nicht verzichten. Vielmehr sieht er sich dazu aufgerufen, auf die Verwirklichung die­ ses Ziels wenigstens hinzuwirken, auch wenn er weiß, daß dessen Einlösung seine Möglichkeiten prinzipiell ühersteigt.35 33 Vgl. KpV, AAV, S. 126f. 34 Vgl. dazu unten, Kap. VII,2. 35 Vgl. Religion, AAVI, S. 139: »Weil der Mensch die mit der reinen moralischen Ge­ sinnung unzertrennlich verhundene Idee des höchsten Guts ... nicht selhst realisiren kann, gleichwohl aher darauf hinzuwirken in sich selhst Pflicht antrifft, so findet er sich zum Glauhen an die Mitwirkung oder Veranstaltung eines moralischen Weltherrschers hingezogen, wodurch dieser Zweck allein möglich ist ...«.

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4. Die fundamentalen Zwecke sittlichen Handelns

4.

Die fundamentalen Zwecke sittlichen Handelns

Nicht eine direkte Verwirklichung, wohl aber eine indirekte Beförde­ rung des höchstes Gutes ist Aufgabe des Menschen. Wie kann er dies in Angriff nehmen? Es ist bezeichnend für die Kontingenz mensch­ lichen Daseins, daß die in der Idee des höchsten Gutes zusammenge­ dachten Komponenten der Tugend und des Glücks im menschlichen Handeln wieder auseinandertreten. Die eine Idee umfassender Ver­ söhnung findet ihre - immer nur indirekte - Beförderung in Gestalt von zwei streng voneinander unterschiedenen fundamentalen Zwekken: »Sie sind: Eigene Vollkommenheit - fremde Glückseligkeit.«36 a)

Eigene Vollkommenheit

Daß der Mensch Pflichten nicht nur gegenüber anderen, sondern auch gegenüber sich selbst hat, folgt aus dem kategorischen Impera­ tiv: »Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, nie­ mals bloß als Mittel brauchst.«37 Der Mensch ist es sich selbst schul­ dig, ein seiner Würde gemäßes Leben zu führen. Ohne die in der Verantwortung für die eigene Würde gründenden Pflichten des Menschen gegen sich selbst würden im übrigen auch die Pflichten gegenüber den Mitmenschen leer laufen.38 Die erste konkrete Pflicht des Menschen gegen sich selbst ist die Gewissenserforschung: »Das moralische Selbsterkenntnis, das in die schwerer zu ergründende Tiefen (Abgrund) des Herzens zu dringen verlangt, ist aller menschlichen Weisheit Anfang.«39 Nicht über theo­ retische Spekulation, sondern über Gewissenserforschung führt der Weg der Weisheit, die sich im lebenspraktischen Vollzug des Sitten­ gesetzes bewähren muß. - Konkrete Gestalt findet das sittliche Gesetz 36 MS, AAV, S. 385. (Hervorhebung im Original.) Es ist merkwürdig, daß Kant in der Tugendlehre der Metaphysik der Sitten seine Überlegungen zum höchsten Gut nicht mehr ausdrücklich aufgreift. 37 GMS, AAIV, S. 429. 38 Vgl. MS, AA VI, S. 417 f.: »Denn ich kann mich gegen Andere nicht für verbunden erkennen, als nur so fern ich zugleich mich selbst verbinde: weil das Gesetz, kraft dessen ich mich für verbunden achte, in allen Fällen aus meiner eigenen praktischen Vernunft hervorgeht, durch welche ich genöthigt werde, indem ich zugleich der Nöthigende in Ansehung meiner selbst bin.« 39 MS, AAVI, S. 441.

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IV. Strukturen und Orientierungen sittlicher Praxis

im Medium der Maximen. Damit sittliche Selhstgesetzgehung ge­ schehen kann, muß der Mensch sich zunächst überhaupt Maximen setzen, die seinem Leben Struktur und Richtung geben. - Darüber hinaus soll man seine moralischen Anlagen ausbilden. Sein Gewissen kann der Mensch zwar nicht aus freien Stücken selbst konstituieren; wohl aber hat er die Pflicht, »sein Gewissen zu cultiviren, die Auf­ merksamkeit auf die Stimme des inneren Richters zu schärfen und alle Mittel anzuwenden ..., um ihm Gehör zu verschaffen«.40 - Auch solche »empirischen« Gefühle wie Mitleid und Teilnahme, die der moralischen Praxis dienlich sind, gilt es zu entwickeln. Obwohl sie als Fundament der Ethik nicht ausreichen (Kant ist der entschiedendste Gegner einer reinen Mitleidsethik), haben sie ihren Nutzen als die »in uns von der Natur gelegten Antriebe ..., dasjenige zu thun, was die Pflichtvorstellung für sich allein nicht ausrichten würde«.41 Das eigene Glück zu befördern, ist zunächst keine Pflicht, son­ dern das natürliche Interesse jedes Menschen. Gleichwohl gibt es eine indirekte Verpflichtung, auch auf die eigene Wohlfahrt zu ach­ ten. Denn wenn es dem Menschen persönlich gut geht, er sich seiner Gesundheit erfreut und genügend Mittel für seine Lebensführung verfügbar hat, wird es ihm aller Erfahrung nach leichter fallen, Gutes zu tun.42 Die Unterscheidung zwischen Pflicht und Neigung, wie Kant sie systematisch entwickelt, bleibt damit unangefochen. Sie meint aber nicht einen abstrakten Antagonismus,43 wie beispielswei­ se Schiller dies unterstellt, wenn er eine »grelle Entgegensetzung beider auf den Willen des Menschen wirkenden Prinzipien« bei Kant beklagt.44 Dem eigenen Glücksverlangen aus freien Stüken zu ent­ 40 MS, AAVI, S.401. 41 MS, AAVI, S. 457. In dieser Aussage steckt deshalb kein Widerspruch zur Klärung der autonomen sittlichen Motivation, weil Kant in der Tugendlehre einen Perspektiv­ wechsel von der eigentlichen Moralbegründung hin zu Beobachtungen über die lebens­ praktische Ausgestaltung der moralischen Gebote vollzogen hat. 42 Vgl. KpV, AA V, S. 93: »Es kann sogar in gewissem Betracht Pflicht sein, für seine Glückseligkeit zu sorgen: theils weil sie (wozu Geschicklichkeit, Gesundheit, Reichthum gehört) Mittel zu Erfüllung seiner Pflicht enthält, theils weil der Mangel derselben (z. B. Armuth) Versuchungen enthält, seine Pflicht zu übertreten.« 43 Vgl. KpV, AA V, S. 93: »Aber die Unterscheidung des Glückseligkeitsprincips von dem der Sittlichkeit ist darum nicht sofort Entgegensetzung beider ...«. (Hervorhebun­ gen im Original.) 44 Friedrich Schiller, Über Anmut und Würde (zusammen mit den Fragmenten von »Kallias oder über die Schönheit«) hg. von Klaus L. Berghahn (Stuttgart: Reclam, 1971), S. 107.

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4. Die fundamentalen Zwecke sittlichen Handelns

sagen, wäre Kant zufolge absurd. Und wer darüber hinaus glaubt, seine Tugendhaftigkeit dadurch gleichsam sichtbar unter Beweis stel­ len zu können, daß er sich jedes Lebensglück versagt, macht sich zuletzt nur der Bigotterie schuldig. Damit aber bietet er gerade nicht ein Vorbild für die Mitmenschen, sondern trägt im Gegenteil dazu bei, die Tugend verächtlich zu machen. »Der Purism des Cynikers und die Fleischestödtung des Anachoreten ohne gesellschaftliches Wohlleben sind verzerrte Gestalten der Tugend und für diese nicht einladend ...«.45 Schiller hat bei aller Bewunderung für Kant seiner Ethik vor­ geworfen, daß es ihr an »Anmut« gebricht: »In der Kantischen Mo­ ralphilosophie ist die Idee der Pflicht mit einer Härte vorgetragen, die alle Grazien davon zurückschreckt und einen schwachen Verstand leicht versuchen könnte, auf dem Wege einer finstern und mön­ chischen Asketik die moralische Vollkommenheit zu suchen.«46 Doch dieser Einwand trifft Kant nicht. In seiner Entgegnung schreibt er: »Ich gestehe gern: daß ich dem Pflichtbegriffe, gerade um seiner Würde willen, keine Anmuth beigesellen kann. Denn er enthält un­ bedingte Nöthigung, womit Anmuth in geradem Widerspruch steht. (...) Aber die Tugend ... ist in ihren Folgen auch wohlthätig, mehr wie Alles, was Natur und Kunst in der Welt leisten mag; und das herrliche Bild der Menschheit, in dieser ihrer Gestalt aufgestellt, verstattet gar wohl die Begleitung der Grazien, die aber, wenn von Pflicht allein die Rede ist, sich in ehrerbietiger Entfernung halten.«47 Echte Tugendgesinnung hat mit selbstquälerischer »Mönchsascetik« nicht das Geringste zu tun,48 sondern geht einher mit Mut und Fröhlichkeit: »Die Regeln der Übung in der Tugend (exercitiorum virtutis) gehen auf die zwei Gemüthsstimmungen hinaus, wackeren und fröhlichen Gemüths (animus strenuus et hilaris) in Befolgung ihrer Pflichten zu sein.«49 Es ist bemerkenswert, daß Kant, auf der Ebene der Moralbegründung der schärfste Gegner des Epikureismus, im Blick auf die äußere lebenspraktische Darstellung der Tugend Epi­ kur Recht gibt. Denn, so betont er, »das jederzeit fröhliche Herz in 45 Anthropologie, AAVII, S. 282. (Hervorhebungen im Original.) 46 Schiller, a.a.O., S. 107. (Hervorhebung im Original.) 47 Religion, AAVI, S. 23 Fußnote. Schiller hat sich später in einem Brief an Kant (vom 13. Januar 1794) für dessen Nachsicht in der Gegenkritik bedankt. Vgl. Brief 628, in: AA XI, S. 506f. 48 MS, AAVI, S. 485. 49 MS, AAVI, S. 484. (Hervorhebungen im Original.)

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der Idee des tugendhaften Epikurs«50 verkörpert die rechte Haltung eines Menschen, der nach moralischer Vervollkommnung strebt. »Die Zucht (Disciplin), die der Mensch an sich selbst verübt, kann daher nur durch den Frohsinn, der sie begleitet, verdienstlich und exemplarisch werden.«51 Der virtuelle Endpunkt sittlicher Selbstvervollkommnung be­ steht darin, das moralische Gesetz lieben zu lernen. »Das höchste, für Menschen nie völlig erreichbare Ziel der moralischen Vollkom­ menheit endlicher Geschöpfe ist aber die Liebe des Gesetzes.«52 Der Mensch soll sich darum bemühen, das Gute, das zu tun er sich genö­ tigt weiß, doch zugleich gern zu tun. Diese Forderung, in der Kant mit Schiller einig ist,53 grenzt an einen logischen Widerspruch,54 weshalb er gleich betont, daß ihre volle Einlösung unmöglich ist. Die Liebe zum Guten repräsentiert nicht mehr ein Prinzip der Sitt­ lichkeit, sondern ein Ideal der Heiligkeit, in dem die Differenz von Pflicht und Neigung schließlich aufgehoben wäre. Die Liebe geht über die moralische Forderung hinaus; sie steht, wie es bei Nietzsche heißt, »jenseits von Gut und Böse«.55 Es wäre ein Ausdruck schwärmerischer Vermessenheit, die Lie­ be gegen das Gesetz auszuspielen. Dessen strenge Forderung darf nicht in Enthusiasmus übersprungen werden. Und doch verweist das Gesetz der Moral zugleich über sich selbst hinaus auf das Ideal der Liebe. In der spannungsvollen Verschränkung von Unbedingtheit und Bedingtheit findet menschliche Sittlichkeit in sich selbst keine Ruhe, sondern drängt über das Menschenmögliche hinaus. Im Wis­ sen darum, daß die Vollkommenheit der Liebe unerreichbar ist, sieht der Mensch sich doch aufgerufen, nach ihr wenigstens zu streben. So schreibt Kant: »Jenes Gesetz aller Gesetze [nämlich die Gottes- und Nächstenliebe, H. B.] stellt also, wie alle moralische Vorschrift des Evangelii, die sittliche Gesinnung in ihrer ganzen Vollkommenheit 50 MS, AAVI, S. 485. (Hervorhebung im Original.) 51 MS, AAVI, S. 485. 52 Religion, AAVI, S. 145. 53 Vgl. Schiller, a.a.O., S. 106f.: »... der Mensch ... soll seiner Vernunft mit Freuden gehorchen.« 54 Vgl. KpV, AAV, S. 83: »Denn ein Gebot, daß man etwas gerne thun soll, ist in sich widersprechend ...«. 55 Vgl. Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, in: Werke in drei Bänden hg. von Karl Schlechta, Zweiter Band (München: Hanser, o.J.), S. 637: »Was aus Liebe getan wird, geschieht immer jenseits von Gut und Böse.«

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4. Die fundamentalen Zwecke sittlichen Handelns

dar, so wie sie als ein Ideal der Heiligkeit von keinem Geschöpfe er­ reichbar, dennoch das Urbild ist, welchem wir uns zu nähren und in einem ununterbrochenen, aber unendlichen Progressus gleich zu werden streben sollen.«56 b)

Fremde Glückseligkeit

Auch der zweite fundamentale Zweck sittlichen Handels folgt aus dem kategorischen Imperativ. Während die Achtung vor der eigenen Menschenwürde die Forderung der Selbstvervollkommnung impli­ ziert, findet die Achtung vor der Würde des anderen als »Zweck an sich« ihren tätigen Ausdruck darin, daß man die Zwecke des anderen befördert, d. h. ihm Gutes tut. Daraus ergeben sich konkrete Pflichten der Nächstenliebe wie Wohltätigkeit, Dankbarkeit und Anteilnahme. Hilfsbereitschaft angesichts der Not der anderen ist erste Pflicht tätiger Nächstenliebe. Niemand lebt für sich allein. Vielmehr sind die Menschen »als Mitmenschen, d. i. bedürftige, auf einem Wohnplatz durch die Natur zur wechselseitigen Beihülfe vereinigte vernünftige Wesen anzusehen«.57 Wer aus seinem Überfluß den Armen abgibt, soll sich nicht einbilden, damit große moralische Verdienste erwor­ ben zu haben, ist die Verteilung der Vermögen doch keineswegs frei von Zufällen und Ungerechtigkeiten. Kant erweist sich gleicher­ maßen als Sozialkritiker und als Kritiker jeder selbstgefälligen »Werkgerechtigkeit«, wenn er zu bedenken gibt: »Das Vermögen wohlzuthun ... ist größtentheils ein Erfolg aus der Begünstigung ver­ schiedener Menschen durch die Ungerechtigkeit der Regierung, wel­ che eine Ungleichheit des Wohlstandes, die Anderer Wohlthätigkeit nothwendig macht, einführt. Verdient unter solchen Umständen der Beistand, den der Reiche den Nothleidenden erweisen mag, wohl überhaupt den Namen der Wohlthätigkeit, mit welcher man sich so gern als Verdienst brüstet?«58 Wir haben gesehen, daß das Streben nach eigener Glückseligkeit zwar keine unmittelbare, wohl aber eine mittelbare Pflicht (im Rah­ men der Selbstvervollkommnung) sein kann. Eine ähnlich komplexe Struktur begegnet auch im Verhältnis zu den Mitmenschen. Unmit­ telbar aufgegeben ist nur die Förderung ihres Glücks durch aktive 56 KpV, AAV, S. 83. 57 MS,AAVI, S.453. 58 MS, AAV, S. 454.

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Nächstenliebe. Einen anderen Menschen zur sittlichen Vervoll­ kommnung zu führen, ist hingegen im direkten Zugriff unmöglich, und jeder Versuch in diese Richtung wäre eine Mißachtung der Au­ tonomie des anderen. Sittliche Kultivierung kann nur als selbständi­ ger, frei gewollter Prozeß gelingen; sie ist zuletzt immer Selbstkulti­ vierung. Doch wie die eigene Glückseligkeit mittelbar als Bestandteil sittlicher Selbstvervollkommnung zur Pflicht werden kann, so gilt im Gegenzug, daß die sittliche Entwicklung der anderen mittelbar doch auch zur eigenen Aufgabe werden kann. Schon bei der Förderung der Interessen des Nächsten ist die kri­ tische Prüfung erforderlich, ob diese Interessen überhaupt legitim sind. Nächstenliebe schließt kritische Distanz zum anderen nicht aus, sondern verlangt sie. Unter Freunden ist darüber hinaus auch eine »correctio fraterna« geboten. »Moralisch erwogen, ist es freilich Pflicht, daß ein Freund dem anderen seine Fehler bemerklich mache; denn dies geschieht ja zu seinem Besten, und es ist also Liebespflicht.«59 Mehr noch obliegt es Eltern und Erziehern, die nachwach­ sende Generation moralisch zu sensibilieren. Moralerziehung muß allerdings immer in der Achtung vor dem Zögling geschehen, dem der Erzieher als »die Hebamme seiner Gedanken« nur helfen kann, seine moralische Anlage selbst zu entdecken und zu entwickeln.60 Nicht einmal der Liebe es ist erlaubt, den gebotenen Respekt vor dem anderen zu überspringen. Und doch bleibt die Achtung nicht das Letzte. Über sie hinaus führt die Liebe. Wie die Selbstvervollkommnung ihr höchstes, letzt­ lich unerreichbares Ziel in der Liebe hat, so gilt auch für den ethi­ schen Zweck des Wohltuns, daß er erst in der Liebe seine Vollendung findet. Deshalb betont Kant: »... so ist doch die Liebe, als freie Auf­ nahme des Willens eines Andern unter seine Maximen, ein unent­ behrliches Ergänzungsstück der Unvollkommenheit der mensch­ lichen Natur (zu dem, was die Vernunft durchs Gesetz vorschreibt, genöthigt werden zu müssen): denn was Einer nicht gern thut, das thut er so kärglich, auch wohl mit sophistischen Ausflüchten vom Gebot der Pflicht, daß auf diese als Triebfeder ohne den Beitritt jener nicht sehr viel zu rechnen sein möchte.«61 Obwohl der Mensch den nötigenden Charakter der Pflicht niemals abschütteln kann und sich 59 MS, AAV, S. 470. 60 MS, AAVI, S.478. 61 Kant, Das Ende aller Dinge (1794), AAVIII, S. 338.

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5. Soziale Pflichten

deshalb nicht schwärmerisch über die Härte des Gesetzes hinwegtäu­ schen soll, weist die Pflicht zugleich über sich selbst hinaus auf eine Dimension der Liebe, in der die Achtung bewahrt und zugleich über­ schritten wird.

5.

Soziale Pflichten

Die beiden fundamentalen Pflichten der Selbstkultivierung und der tätigen Nächstenliebe verlangen, daß der Mensch sich der Gesell­ schaft der Mitmenschen öffnet. Es gibt nicht nur Pflichten in der Gesellschaft, sondern auch eine fundamentale Pflicht zur Gesell­ schaft, und zwar um der eigenen wie um der Würde der anderen willen: »Es ist Pflicht sowohl gegen sich selbst als auch gegen Andere, mit seinen sittlichen Vollkommenheiten unter einander Verkehr zu treiben (officium commercii, sociabilitas), sich nicht zu isoliren (separatistam agere) . ,.«.62 Die sozialen Pflichten sind vielfältig. Der Sache nach könnte man sie einteilen in Pflichten der Höflichkeit (der Gesellschaft), der Rechtsförderung (des Staates) und der Bildung eines ethischen Gemeinwesens (der Kirche) - obwohl Kant eine sol­ che Einteilung selbst nicht ausdrücklich vornimmt. (Da das staatliche Recht und die in der Kirche verkörperte ethische Gemeinschaft in den Kapiteln V bzw. VII dieser Arbeit näher behandelt werden, wird die folgende Darstellung sich auf die gesellschaftliche Höflichkeit kon­ zentrieren. Um der Systematik willen sollen die beiden anderen Di­ mensionen sozialer Verpflichtung aber wenigstens kurz mit an­ geführt werden.) a)

Höflichkeit als symbolisches Spiel

Die Formen der gesellschaftlichen Höflichkeit sind ein ambivalentes Phänomen. Die Ehrerweise und Komplimente, wie die Regeln zivili­ sierten Umgangs sie verlangen, geraten leicht zur Heuchelei; sie ha­ ben teils geradezu illusionären Charakter, worauf die Kulturkritiker 62 MS, AAVI, S. 473. (Hervorhebung im Original.) Angesichts dieses klaren Bekennt­ nisses zur Gemeinschaft erweist sich der Vorwurf, die Kantische Ethik sei solipsistisch, als gegenstandslos. Auch wenn Kant die unverrechenbare Verantwortungssubjektivität jedes Einzelnen herausstellt, betont er doch immer wieder, daß sich Verantwortung lebenspraktisch nur in Gemeinschaft mit anderen entfalten kann. Vgl. Allen W. Wood, Kant's Ethical Thought (Cambridge: Cambridge University Press, 1999, S. 302.

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IV. Strukturen und Orientierungen sittlicher Praxis

aller Zeiten immer wieder hingewiesen haben. Und doch sind sie als Ausdrucksmittel menschlicher Achtung unverzichtbar. Kant vertei­ digt sie trotz, man könnte fast sagen wegen dieser Ambivalenz. In seiner Anthropologie widmet er einen eigenen Abschnitt »dem er­ laubten moralischen Schein«.63 Daß die in den konventionellen Ver­ kehrsformen einander entgegengebrachte Ehrerbietung nicht immer wortwörtlich ernst gemeint ist, liegt auf der Hand. Dies ist in gewis­ ser Weise so offensichtlich, daß es gerade darum keine Lüge ist, wenn die Menschen miteinander ein solches Rollenspiel betreiben. Der moralische Schein in den konventionellen Umgangsformen ist des­ halb erlaubt; mehr noch: er ist sinnvoll, da er zur Einübung echter Achtung dienen kann. »Die Verbeugungen (Complimente) und die ganze höfische Galanterie samt den heißesten Freundschaftsver­ sicherungen mit Worten sind zwar nicht eben immer Wahrheit ..., aber sie betrügen darum doch auch nicht, weil ein jeder weiß, wofür er sie nehmen soll, und dann vornehmlich darum, weil diese anfäng­ lich leeren Zeichen des Wohlwollens und der Achtung nach und nach zu wirklichen Gesinnungen dieser Art hinleiten.«64 Die konventionellen Verkehrsformen sind gewissermaßen »Masken«, hinter denen sich die Menschen verbergen und durch die sie sich zugleich nach außen offenbaren können. Schon das mensch­ liche Gesicht hat, wie Helmuth Plessner in seinen anthropologischen Studien gezeigt hat, teils maskenhafte Züge, etwa wenn der Mensch im Lächeln »sein Gesicht wahrt«.65 Die indirekt vermittelte Begeg­ nung der Menschen über Rollen und Masken ist, so Plessner, Aus­ druck der tiefen Verletzlichkeit der menschlichen Seele, die sich ei­ 63 Anthropologie, AA VII, S. 151ff. 64 Anthropologie, AAVII, S. 152. (Hervorhebungen im Original.) Vgl. dazu Reinhard­ Brandt, Das Problem der Erlaubnisgesetze im Spätwerk Kants, in: Otfried Höffe (Hg.), Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden (Berlin: Akademie Verlag, 1995), S. 69-86, hier S. 78f.: »Gegen den Rousseauschen Kulturpessimismus stellt Kant die mögliche positive Funktion des Scheins. Die Natur hat uns vorsorglich, provisorisch, mit einem Hang zum falschen Schein ausgestattet; er dient dazu, die Kluft zwischen bloßer Natur und voll­ endeter Sittlichkeit zu überbrücken. Eine ähnliche Überbrückungsfunktion hat die pro­ visorisch erlaubte Gewalt in den bestehenden Rechtsverhältnissen.« - Die von Brandt angeführte Analogie hat ihre Grenze allerdings darin, daß der ambivalente Charakter gesellschaftlicher Höflichkeit, anders als die provisorisch in Kauf genommene Gewalt des Naturzustandes, niemals verschwinden kann. 65 Vgl. z.B. Helmuth Plessner, Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Ra­ dikalismus, in: Gesammelte Schriften (hg. von Günter Dux u.a.) (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1980ff.), Bd. V, S. 7-133; ders., Die Frage nach der Conditio Humana, in: Gesam­ melte Schriften, Bd. VIII, S. 136-217.

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5. Soziale Pflichten

nerseits nach außen kundtun muß, um in Beziehung zu treten, sich andererseits aber nicht ungeschützt dem gesellschaftlichen Verkehr aussetzen kann.66 Mehr noch gilt dies für die menschliche Morali­ tät.67 Gerade als moralisches Subjekt braucht der Mensch Rollen und Masken, um die Ambivalenz moralischer »Phänomene« aus­ zuhalten und gesellschaftlich zur Darstellung zu bringen. Es ist eine Eigentümlichkeit menschlicher Moralität, daß sie nie­ mals eindeutig greifbar werden kann. Die sichtbar »zur Schau ge­ stellte« Tugend ist ein Skandalon; sie weckt unvermeidlich Mißtrau­ en, und zwar ein Mißtrauen, das als Kritik der Bigotterie selbst moralisch motiviert sein kann, diesen moralischen Impuls jedoch leicht in Zynismus verspielt. Gerade weil Moralität als »Phänomen« stets eigentümlich in der Schwebe bleibt, bedarf es solcher Formen ihrer Darstellung im gesellschaftlichen Verkehr, in denen die Ach­ tung vor der Menschenwürde in der angemessenen Indirektheit zum Ausdruck kommen kann. Auch die gesellschaftlichen Formen der Höflichkeit haben deshalb Anteil an der »Als-Ob-Struktur«, in der allein Moralität zur Sprache kommen kann, in der sie sich ver­ gegenständlicht und in ihrer Vergegenständlichung zugleich wieder zurückgenommen wird. Die Formen zivilisierter Höflichkeit symbolisieren das Sittenge­ setz allerdings nicht in seiner Strenge, wie dies für die Universalisierbarkeitsforderung im kategorischen Imperativ gilt, sondern in einer noch indirekteren, nochmals gebrochenen Form. Höflichkeit ist mehr ein Spiel als ein Gebot. Sie ist nicht selbst schon eine Tugend, son­ dern gehört eher zu den »Grazien«, die der Tugend beigesellt werden sollen, »welches zu bewerkstelligen selbst Tugendpflicht ist«.68 Man könnte ein paradoxes Wortspiel Plessners aufgreifen und sagen, daß die gesellschaftliche Höflichkeit nicht einen kategorischen Imperativ, sondern einen »kategorischen Konjunktiv« darstelle.69 Sie kann nur im Modus des Konjunktivs, nämlich im doppelt gebrochenen »AlsOb« gelingen und ist dennoch mehr als bloße Beliebigkeit. Im zivilisierten Rollenspiel der Höflichkeit wird die Als-ObStruktur, in der allein der Achtungsanspruch des Sittlichen zur Spra­ 66 Vgl. Plessner, Grenzen der Gemeinschaft, a.a.O., S. 63. 67 Moralische Phänomene werden in Plessners Anthropologie indes kaum je zum The­ ma. 68 MS, AAVI, S. 473. 69 Vgl. Helmuth Plessner, Der kategorische Konjunktiv. Ein Versuch über die Leiden­ schaft, in: Gesammelte Schrift, a.a.O., Bd. VIII, S. 338-352.

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che kommen kann, gleichsam noch einmal reflex. Man kann dieses Spiel nur angemessen betreiben, wenn man um seinen Als-ObCharakter weiß - und dieses Wissen gelegentlich zum Ausdruck bringt. Am besten geschieht dies in einer Haltung freundlicher Iro­ nie, die jenseits von puritanischer Verbissenheit und zynischem Amoralismus einen spielerischen und zugleich ernsten Umgang mit den gesellschaftlichen Höflichkeitsformen ermöglicht. Zivili­ sierte Höflichkeit ist gewiß bloß ein Spiel - und darf doch nicht zum Possenspiel ausarten. Sie hat ihren eigenen Ernst, der doch nie zur Zwanghaftigkeit geraten soll. Die freundliche Ironie des Sokrates verkörpert die rechte Verbindung von spielerischer Gelas­ senheit und Ernsthaftigkeit im gesellschaftlichen Umgang der Men­ schen miteinander. Kants Rechtfertigung der zivilisierten Höflichkeit zielt nicht auf eine Apologie des gesellschaftlichen Status quo, sondern geht einher mit konkreter Gesellschaftskritik. Denn die bestehenden Formen des zivilisierten Umgangs spiegeln oft genug die Verhältnisse feudaler Ungleichheit wider, in denen die Achtung gerade nicht jedem Men­ schen in gleicher Weise zugesprochen wird. So mokiert Kant sich über die vor allem in der deutschen Sprache enthaltene Abstufung unterschiedlicher Anredeformen - »Du«, »Ihr«, »Er« und »Sie« -, die gleichsam unterschiedliche Grade der Achtung nahelegt. Er sieht darin eine Folge des Feudalwesens, »nach welchem dafür gesorgt wurde, daß von der königlichen Würde an durch alle Abstufungen bis dahin, wo die Menschenwürde gar aufhört, und blos der Mensch bleibt, d. i. bis zu dem Stande des Leibeigenen, der allein von seinem Oberen durch Du angeredet werden, oder eines Kindes, was noch nicht einen eigenen Willen haben darf, - der Grad der Achtung, der dem Vornehmeren gebührt, ja nicht verfehlt würde«.70 Nur in der Kritik an den Formen ziviler Höflichkeit läßt sich deren humaner Gehalt wahren. Kants Kritik ist indessen kein Bilder­ sturm. Sie zielt nicht auf revolutionären Kahlschlag, sondern auf konkrete Reform. Peter L. Berger hat Unrecht, wenn er glaubt, die Idee der allgemeinen Menschenwürde verlange den Abbau der ge­ sellschaften »Masken«, in denen die Menschen einander begegnen: »In einer Welt der Würde kann der einzelne seine wahre Identität nur dadurch entdecken, daß er sich von seinen gesellschaftlich auf­

70 Anthropologie, AAVII, S. 131. (Hervorhebungen im Original.)

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gezwungenen Rollen emanzipiert: Letztere sind nur Masken, die ihn in Illusionen, >Entfremdung< und >mauvaise foi< verstricken.«71 Nach Kant gilt das Gegenteil: Nur über Masken und Rollen können Men­ schen im gesellschaftlichen Umgang die rechte Balance zwischen Distanz und Nähe finden, in der der wechselseitige Respekt seinen spielerischen Ausdruck findet. Gewiß: Die bunten Wappen der Feu­ dalgesellschaft bilden nicht das angemessene Medium zur Versiche­ rung jener wechselseitigen Gleichachtung, die im Lichte der all­ gemeinen Menschenwürde geboten ist. Die Alternative kann jedoch nicht darin bestehen, die Menschen gleichsam zu entkleiden. Die all­ gemeine Menschenwürde meint nicht das Abstraktum des nackten Menschen, wie Berger behauptet, sondern verlangt Kleider, Formen und Rollen, in denen die Menschen sich teils verbergen und gerade deshalb zugleich füreinander öffnen können. Höflichkeitsformen sind erlaubter moralischer Schein. Sie sind nicht unmittelbar moralisch geboten, aber doch moralisch sinnvoll. Als Medium zur Förderung der Achtung, die nur indirekt, im Modus des doppelt gebrochenen Als-Ob überhaupt Ausdruck finden kann, verdienen sie Pflege und konkrete Kritik. Deshalb sind sie mittelbar dann doch geboten. Als die »Grazien«, die der Tugend beigesellt sind, dürfen sie zwar nicht mit der Tugend verwechselt werden. Und doch gehören sie bei aller Differenz zum unverzichtbaren gesellschaft­ lichen Umfeld wahrer Tugendgesinnung. Wer die wechselseitigen Ehrerbietungen der konventionellen Höflichkeit für unmittelbare Wahrheit hält, ist ein Narr. Wer jedoch glaubt, den Menschen die Maske vom Gesicht ziehen zu müssen, zerstört damit nicht nur die äußere Maske, sondern gleichzeitig das Gesicht der Menschen. Es gilt daher, Maske und Rollenspiel als die Medien anzuerkennen, in denen die wechselseitige Achtung der Menschen untereinander in spielerischem Ernst und in ernstem Spiel zur Darstellung kommen kann. Auch wenn die zivilisierte Höflich­ keit lediglich eine »Scheidemünze« ist, die man nicht »für ächtes Gold« halten darf,72 sind solche Scheidemünzen als Medium gesell­ schaftlicher Anerkennung der Menschenwürde doch anthropologisch sinnvoll. »Sie für lauter Spielmarken, die gar keinen Werth haben,

71 Peter L. Bergerl Brigitte Bergerl Hansfried Kellner, Das Unbehagen in der Moderni­ tät (Frankfurt a.M./New York: Campus, 1975), S. 81. 72 Anthropologie, AAVII, S. 152

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auszugeben«, wäre daher, wie Kant betont, »ein an der Menschheit verübter Hochverrath«.73 b)

Verantwortung für das Recht

Anders als die konventionellen Umgangsformen hat das Recht keine spielerischen Züge, sondern geht mit Zwang einher. »Das Recht ist mit der Befugnis zu zwingen verbunden.«74 Solcher Zwang läßt sich rechtfertigen nur als die Alternative zu jener blinden Gewalt, die immer dann droht, wenn Menschen einander ohne den Schutz der Rechtsordnung begegnen. Die wechselseitige Undurchschaubarkeit der Menschen führt leicht zu wechselseitigem Mißtrauen, das sich in Gewaltakten entladen kann, die womöglich auf allen Seiten nur defensiv gemeint sind und im Grenzfall doch zum Krieg aller gegen alle eskalieren können. Rechtlicher Zwang dient dazu, die stets dro­ hende Gewalt zu bändigen und die Verhältnisse der Menschen nach Prinzipien gleicher Freiheit zu gestalten. Nur »als Verhinderung eines Hindernisses der Freiheit« ist der Rechtszwang »mit der Frei­ heit nach allgemeinen Gesetzen zusammenstimmend, d. i. recht«.75 Als eine Zwangsordnung kann das Recht nur »äußere« Frei­ heitsräume (nach Maßgabe allgemeiner Gleichheit) schaffen. Die »innere« Freiheit des Willens bleibt ihm entzogen. Die infolgedessen notwendige Unterscheidung von Recht und Moral meint gleichwohl keine abstrakte Trennung, sondern steht selbst im Dienste der Moral. Indem das Recht jedem Rechtsgenossen gleiche äußere Freiheit ga­ rantiert, statuiert es Ansprüche, hinter denen der einzelne sich not­ falls schutzsuchend »zurückziehen« kann und die es ihm gerade des­ halb ermöglichen, als freier Bürger am gesellschaftlichen Geschehen teilzuhaben. Das Menschenrecht ist Freiheitsrecht und verweist so auf die Würde des Menschen als sittliches Subjekt. Mit der Garantie gleicher »äußerer« Handlungsfreiheit symbolisiert es auf der Ebene des Politischen jene »innere« Autonomie des Sittlichen, in der der gleiche Achtungsanspruch jedes Menschen gründet. Aus der Pflicht zur Achtung der Menschenwürde folgt deshalb die Verantwortung für das Menschenrecht, und zwar für das eigene wie das Recht der anderen. 73 Anthropologie, AAVII, S. 153. (Hervorhebung im Original.) 74 MS, AAVI, S. 231. (Im Original als Überschrift gesperrt gedruckt.) 75 MS, AAVI, S. 231. (Hervorhebungen im Original.)

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Obwohl Rechtspflichten im Unterschied zu Tugendpflichten er­ zwungen werden können und deshalb nicht unmittelbar vom mora­ lischen Willen abhängig sind, sind sie immer gleichzeitig auch mora­ lisch geboten. Die Rechtsordnung insgesamt - ihre Entstehung, Verteidigung und Weiterentwicklung - ist Gegenstand sittlich-sozia­ ler Verantwortung, die sich in der Haltung eines kritischen Rechts­ gehorsams ausdrückt, in dem sich die Unterwerfung unter das für alle geltende Gesetz mit konkreter Kritik an den Mißständen der gegebenen Rechtsordnung verbindet. c)

Auf dem Weg zu einer ethischen Gemeinschaft

Mit der Pflege ziviler Umgangsformen und dem kritischen Rechts­ gehorsam des Staatsbürgers sind die sozialen Pflichten noch nicht erschöpft. Die Menschen sollen sich darüber hinaus zu einer genuin ethischen Gemeinschaft zusammenfinden.76 Da die schlimmsten La­ ster - Neid, Mißgunst, Schadenfreude - nicht der menschlichen Na­ tur, sondern der Gesellschaft entspringen, wie Kant mit Rousseau betont, kann der Mensch als Einzelner ihre Überwindung nicht er­ folgreich leisten. Es bedarf einer gemeinschaftlichen Bemühung, die über die Regeln der Höflichkeit und die Pflichten der Rechtsför­ derung hinausgeht. Was Not tut, ist die »Errichtung und Ausbrei­ tung einer Gesellschaft nach Tugendgesetzen«77. Eine solche Ge­ meinschaft zu fördern, ist »eine Pflicht von ihrer eigenen Art nicht der Menschen gegen Menschen, sondern des menschlichen Ge­ schlechts gegen sich selbst«.78 Wie kann dies geschehen? Ist eine solche Pflicht des mensch­ lichen Geschlechts gegen sich selbst überhaupt denkbar? Gründet Pflichtbewußtsein nicht in jedem einzelnen Menschen, weshalb der 76 In vielen Kant-Darstellungen fehlt diese Dimension völlig. Sie wird teilweise sogar systematisch ausgeschieden. So z.B. bei Wolfgang Kersting, Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie. Mit einer Einleitung zur Taschenbuch­ ausgabe 1993: Kant und die politische Philosophie der Gegenwart (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1993). In seiner Einleitung beschränkt Kersting sich ausdrücklich auf »zwei Medien der Vergesellschaftung«, die dem negativen Freiheitsbegriff des Liberalismus (und damit auch Kants) entsprechen (S. 47): »Da ist zum einen die marktförmige Ver­ gesellschaft auf der Grundlage des komplementären Interesses und des Austauschs, und da ist zum anderen die rechtsförmige Vergesellschaftung, die die Freiheitspositionen der Individuen und die Formen des Leistungstauschs durch Verrechtlichung stabilisiert.« 77 Religion, VI, S. 94. 78 Religion, AAVI, S. 97.

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kategorische Imperativ ja auch in der zweiten Person Singular for­ muliert ist? Bleiht Moralität nicht letztlich ungreifbar und unsicht­ bar und mithin jeder Form kommunitärer Organisation entzogen? Kant weiß, daß ein ethisches Gemeinwesen nicht direkt machbar ist. Es kann weder aus dem Bemühen des Einzelnen - oder auch der Summe aller Individuen - entstehen, noch darf es gar mit staatlicher Zwangsgewalt ins Werk gesetzt werden. Wieder einmal stoßen wir an eine Grenze menschlicher Sittlichkeit, die unter dem Anspruch des Unbedingten über das hinaustreiht, was von Menschen tatsäch­ lich geleistet werden kann. Und doch muß die Idee des ethisch gemeinen Wesens keine Schimäre bleiben. Sie kann Gestalt finden in der kirchlichen Gemein­ schaft, die letztlich »unsichtbar« bleibt und in den Institutionen der sichtbaren Kirche nur historisch-vorläufig zur Darstellung kommt.79 Als »Volk Gottes«80 ist die Kirche eine Gemeinschaft auf dem Weg zu einer Vollkommenheit, die weltimmanent nie eingelöst werden kann. Über Gebet, sakramentale Zeichen und gemeinschaftliche An­ dacht kann eine Tugendgesinnung kultiviert werden,81 die zwar in jedem einzelnen gründen muß, gleichzeitig aber auf eine substantiel­ le ethische Gemeinschaft verweist, deren Realität als »unsichtbare Kirche«82 indessen letztlich ungewiß bleibt.

79 80 81 82

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Näheres dazu unten, Kap. VII,6. Vgl. Religion, AAVI, S. 100. Vgl. Religion, AAVI, S. 193. Vgl. Religion, AAVI, S. 101.

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V. Das Menschenrecht als Symbol der Menschenwürde

1.

Die Unverfügbarkeit des Rechts

Das Recht stellt im Verständnis der Moderne keine unhefraghar vor­ gegebene, quasi naturale Größe dar, sondern wird von Menschen be­ wußt geschaffen und durchgesetzt. Das Wissen um die politische Gestaltharkeit und Gestaltungshedürftigkeit der Rechtsordnung im ganzen findet seinen philosophischen Ausdruck vor allem in den neuzeitlichen Gesellschaftsvertragstheorien.1 Die Vertragsmetapher eignet sich dazu, die im Wortsinne konstitutive Verantwortung der Menschen für das Recht darzustellen. Sie kann zugleich aber voluntaristische Deutungen nahelegen, wonach das Recht eine in das Be­ lieben der Betroffenen gestellte, vollends disponible Größe sei. In radikaler Zuspitzung zeigt sich dies bei Hobbes, der mit der voluntaristischen Entsubstantialisierung des Rechtsbegriffs einem absoluten Souveränitätsdenken die Bahn bricht. Obwohl Kant sich von Hobbes klar distanziert,2 ist seine Rechts­ philosophie nicht frei von gelegentlichen voluntaristischen Anklän­ gen. So begründet er die Idee der ursprünglichen gesetzgebenden Gewalt des Volkes mit einem Diktum aus dem römischen Recht: »vo­ lenti not fit iniuria«: Weil niemand sich selbst Unrecht zufügen könne, bilde der freiwillige Konsens der Rechtsunterworfenen das Kriterium, das die Rechtsmäßigkeit eines Gesetzes verbürge. »Nun ist es, wenn jemand etwas gegen einen Anderen verfügt, immer möglich, daß er ihm dadurch unrecht thue, nie aber in dem, was er über sich selbst beschließt (denn volenti non fit iniuria).«3 Aufgrund 1 Vgl. Heiner Bielefeldt, Neuzeitliches Freiheitsrecht und politische Gerechtigkeit. Per­ spektiven der Gesellschaftsvertragstheorien (Würzburg: Königshausen & Neumann, 1990). 2 Das zweite Kapitel von Kants »Gemeinspruch« trägt bereits im Titel den (in Klam­ mern gesetzten) Zusatz »Gegen Hobbes«. Vgl. Gemeinspruch, AAVIII, S. 289. 3 MS, AAVI, S. 313. (Hervorhebung im Original.) Vgl. auch Gemeinspruch, AAVIII,

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V Das Menschenrecht als Symbol der Menschenwürde

solcher voluntaristischer Formulierungen ist die Kantische Rechts­ philosophie häufig als Ausdruck eines absoluten Souveränitätsden­ kens interpretiert worden - sei es in der Hobbesschen Variante der Staatssouveränität,4 sei es (seltener) in der Rousseauschen Variante der Volkssouveränität.5 Wie sich die von Kant geklärte sittliche Autonomie im Lichte des kategorischen Imperativs freilich als das genaue Gegenteil von Beliebigkeit erweist, so gilt analog, daß auch die Rechtsordnung nach Kant kein beliebig verfügbares menschliches Artefakt sein kann. Ob­ wohl das Recht politischer Ausgestaltung überantwortet bleibt, macht sich in ihm ein Achtungsanspruch geltend, dessen Unbedingt­ heit die Kontingenz menschlichen Planens und Aushandelns über­ schreitet. Dem Recht wohnt ein Moment von Unverfügbarkeit inne. Kant nennt das Menschenrecht sogar »das Heiligste, was Gott auf Erden hat«, ja den »Augapfel Gottes«.6 Die Unverfügbarkeit des Rechts hat ihren Grund in der Men­ schenwürde, die der Mensch als Zweck an sich zu respektieren hat, und zwar sowohl in seiner Person als auch in der Person jedes ande­ ren. Die Würde besteht in der Bestimmung jedes Menschen zur mündigen Selbstverantwortung, die aber gerade nicht beliebige Selbstverfügung meint. Der Mensch, betont Kant, ist zwar »sein ei­ gener Herr (sui iuris), aber nicht Eigenthümer von sich selbst (sui dominus ...)«.7 Er hat Pflichten nicht nur gegenüber anderen, son­ dern auch gegenüber sich selbst und kann, wenn er diese vernach­ lässigt, sich selbst durchaus Unrecht tun. Kant weist deshalb in der Tugendlehre den Satz »volenti non fit iniuria« ausdrücklich zurück.8 Aus der Tatsache, daß der Mensch um seiner Würde willen Pflichten gegenüber sich selbst hat, ergeben sich Konsequenzen auch für das Verständnis des Rechts. So ist es dem Menschen versagt, S. 92: »Hierzu [nämlich zur öffentlichen Gesetzgebung, H. B.] aber ist kein anderer Wille als der des gesamten Volkes (da alle über alle, mithin ein jeder über sich selbst beschließt) möglich; denn nur sich selbst kann niemand unrecht thun.« 4 Vgl. z.B. Hans-Georg Deggau, Die Aporien der Rechtslehre Kants (Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 1983), S. 275 ff. 5 Besonders prägnant findet sich die radikaldemokratische Deutung Kants als Theoreti­ ker der Volkssouveränität bei Ingeborg Maus, Zur Aufklärung der Demokratietheorie. Rechts- und demokratietheoretische Überlegungen im Anschluß an Kant (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1992). 6 Frieden, AAVIII, S. 353 Fußnote. 7 MS, AAVI, S. 270. (Hervorhebung im Original.) 8 Vgl. MS, AAVI, S. 422.

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1. Die Unverfügbarkeit des Rechts

einen rechtlichen Vertrag einzugehen, hei dem er sich seihst als ver­ antwortliches Subjekt aufgehen und ganz der Vormundschaft eines anderen überlassen würde. Denn dies wäre ein Vertrag, schreibt Kant, »durch den ein Theil zum Vortheil des anderen auf seine ganze Freiheit Verzicht thut, mithin aufhört, eine Person zu sein, folglich auch keine Pflicht hat, einen Vertrag zu halten, sondern nur Gewalt anerkennt«; eine solche Konstruktion aber wäre »in sich selbst wider­ sprechend, d. i. null und nichtig«.9 Ein einseitiger Unterwerfungsver­ trag, selbst wenn er mit freiem Willen aller Beteiligten geschlossen würde, ergäbe kein Recht, sondern nur Unrecht; er wäre nichts ande­ res als ein durch die Vertragsform kaschiertes Gewaltverhältnis. Das­ selbe gilt für einen Vertrag, in dem die Menschen sich verpflichten würden, jeder Aufklärung in moralischen oder religiösen Fragen künftig zu entsagen. Auch ein solcher Vertrag wäre null und nichtig, weil er mit der Mißachtung der Mündigkeit des Menschen gleich­ zeitig dem Recht überhaupt Abbruch täte.10 Die Figur des Gesellschaftsvertrags zielt nicht auf die beliebige Selbstverfügung des Menschen, sondern verweist im Gegenteil auf Mündigkeit und wechselseitige Bindung als normative Bedingungen der Möglichkeit eines rechtlichen Verhältnisses überhaupt. Der Ge­ sellschaftsvertrag erweist sich so als Kriterium für eine kritische Prüfung des gegebenen Rechts - nach dem Prinzip: »was das gesamte Volk nicht über sich selbst beschließen kann, das kann auch der Ge­ setzgeber nicht über das Volk beschließen.«11 Damit der Gesell­ schaftsvertrag als kritisches Prüfkriterium zum Zuge kommen kann, muß er allerdings von allen voluntaristischen Konnotationen gerei­ nigt werden. Nur unter der Voraussetzung, daß der Mensch eben nicht beliebig über sich selbst und über seine Mitmenschen verfügen kann und daß deshalb auch ein Volk nicht alles Mögliche über sich 9 MS, AAVI, S. 283. Diese Passage findet sich im Kontext der Erörterungen des Haus­ herrenrechts. In systematischer Hinsicht gilt die Aussage aber auch für einen öffentlich­ rechtlichen Vertrag, der ebenfalls niemals auf die Preisgabe der Freiheit und eine ein­ seitige Unterwerfung hinauslaufen kann. 10 Vgl. Aufklärung, AA VIII, S. 39: »Ein solcher Contract, der auf immer alle weitere Aufklärung vom Menschengeschlechte abzuhalten geschlossen würde, ist schlechter­ dings null und nichtig ...«. Vgl. ähnlich MS, AAVI, S. 327: »Nun kann aber kein Volk beschließen, in seinen den Glauben betreffenden Einsichten (der Aufklärung) niemals weiter fortzuschreiten, mithin auch sich in Ansehung des Kirchenwesens nie zu refor­ mieren: weil dies der Menschheit in seiner eigenen Person, mithin dem höchsten Recht desselben entgegen sein würde.« 11 MS,AAVI, S. 327.

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V Das Menschenrecht als Symbol der Menschenwürde

beschließen kann, macht das genannte Prinzip überhaupt Sinn. Es gibt, wie Kant betont, in der Tat die »unverlierbaren Rechte«, die der Mensch »nicht einmal aufgeben kann, wenn er auch wollte«.12 Der Gesellschaftsvertrag dient nicht nur als negatives Kriteri­ um, durch das der Rechtsidee widersprechende politische Instrumen­ talisierungen des Menschen kritisch entlarvt und ausgeschlossen werden sollen. Er beinhaltet darüber hinaus ein positives Gebot. Recht zu stiften ist um der Menschenwürde willen unbedingte Auf­ gabe. Denn die Unergründlichkeit des menschlichen Herzens hat zur Folge, daß die Menschen einander im gesellschaftlichen Verkehr nicht sicher einschätzen können, so daß sich leicht Mißtrauen breit macht, welches im Grenzfall zu offener Gewalt eskalieren kann. Das unvermittelte, rechtlich ungeschützte Miteinander der Menschen ist der potentielle Bürgerkrieg, in dem die Menschen - womöglich sogar ohne wirklich böse Absichten - einander faktisch bedrohen. Dieser Zustand aber ist des Menschen unwürdig. Denn die rohe Gewalt, auch die potentielle Gewalt, steht in krassem Gegensatz zum katego­ rischen Imperativ der Achtung der Menschenwürde eines jeden. Wenn immer die Menschen einander auf einem gemeinsamen Terri­ torium faktisch in die Quere kommen, sollen sie ihr Verhältnis des­ halb als Rechtsverhältnis ausgestalten. Die Stiftung des Rechts bleibt nicht dem Belieben der Betroffe­ nen überlassen, sondern erweist sich als Pflicht, mehr noch, wie Kant einschärft: als »unbedingte und erste Pflicht«. Anders als ein ge­ wöhnlicher Vertrag ist der die Rechtsgemeinschaft konstituierende Gesellschaftsvertrag Zweck an sich - so wie die Würde des Menschen Zweck an sich ist. »Unter allen Verträgen, wodurch eine Menge von Menschen sich zu einer Gesellschaft verbindet (pactum sociale), ist der Vertrag der Errichtung einer bürgerlichen Verfassung unter ihnen (pactum unionis civilis) von so eigenthümlicher Art, daß, ob er zwar in Ansehung der Ausführung Vieles mit jedem anderen (der eben sowohl auf irgend einen beliebigen gemeinschaftlich zu befördernden Zweck gerichtet ist) gemein hat, er sich doch im Princip seiner Stiftung (constitutionis civilis) von allen anderen wesentlich unterscheidet. Verbindung Vieler zu irgend einem (gemeinsamen) Zwecke (den Alle haben) ist in allen Gesellschaftsverträgen anzutref­ fen; aber Verbindung derselben, die an sich selbst Zweck ist (den ein jeder haben soll), mithin die in einem jeden äußeren Verhältnisse der 12 Gemeinspruch, AAVIII, S. 304.

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2. Rechtliche Freiheit als Symbol der Autonomie

Menschen überhaupt, welche nicht umhin können in wechselseitigen Einfluß auf einander zu gerathen, unbedingte und erste Pflicht ist: eine solche ist nur in einer Gesellschaft, so fern sie sich im bürger­ lichen Zustande befindet, d. i. ein gemeines Wesen ausmacht, anzu­ treffen.«13

2.

Rechtliche Freiheit als Symbol der Autonomie

Wie die Menschenwürde ist auch das Menschenrecht über alle funk­ tionalen Bezüge hinaus gewissermaßen Zweck an sich; es ist »das Heiligste, was unter Menschen nur sein kann«.14 Das Menschenrecht hat Anteil an der Unbedingtheit der Menschenwürde und ist deshalb wie die Würde unveräußerlich. Worin aber besteht der Zusammen­ hang zwischen Menschenwürde und Menschenrecht? Während die Würde des Menschen in seiner sittlichen Autonomie gründet, die sich jedem objektivierenden Zugriff entzieht, geht das Recht mit äu­ ßerer Zwangsgewalt einher: »Das Recht ist mit der Befugnis zu zwin­ gen verbunden.«15 Die Differenz zwischen der nicht einmal für die eigene Gewissenserforschung eindeutig greifbaren Moralität des Willens und der mit politischen Zwangsmitteln durchsetzbaren Rechtsordnung könnte, so scheint es, größer nicht sein. Der Schluß liegt nahe, die »Innerlichkeit« des sittlichen Willens und die »Äußer­ lichkeit« der Rechtsordnung als zwei voneinander vollends getrennte Bereiche zu verstehen. Genau dies stellt nach Meinung vieler Inter­ preten eine entscheidende Pointe der Kantischen Rechtsphilosophie dar, die man als obrigkeitsstaatlichen Rechtspositivismus beklagen oder auch als Purifizierung des Rechtsbegriffs von sachfremden mo­ ralischen Auflagen begrüßen kann. Die erstere Bewertung findet sich etwa bei Herbert Marcuse, wenn er schreibt: »Mit dieser Zuordnung des Rechts zur Sphäre der >Äußerlichkeit< ist sowohl das Recht wie die durch das Recht geordnete Gesellschaft von der Verantwortung für die >eigentliche< Freiheit entlastet und ... für die Unfreiheit preis­ gegeben.«16 Ganz anders die Position von Ingeborg Maus, die den 13 Gemeinspruch, AAVIII, S. 289. (Hervorhebungen im Original.) 14 MS, AAVI, S. 304. 15 MS, AAVI, S. 231. (Im Original als Überschrift gesperrt gedruckt.) 16 Herbert Marcuse, Kant über Autorität und Freiheit, in: Gerold Prauss (Hg.), Kant. Zur Deutung seiner Theorie von Erkennen und Handeln (Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1973), S. 310-321, hier S. 312.

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emanzipatorischen Gehalt der, wie sie es sieht, moralfreien Rechtshegründung Kants herausstellt: »Tatsächlich hat Kant das Recht nicht ethisch, sondern rein juridisch hegründet. Recht und Ethik sind gleichursprüngliche Emanationen des allgemeinen Grundgesetzes der Freiheit.«17 Bei aller Differenz in der Bewertung stimmen Marcuse und Maus gleichwohl darin üherein, daß Kant Recht und Moral voneinander ahtrennt. Richtig ist, daß Kant die Differenz von Recht und Moral mit einer his dahin unerreichten Klarheit herausgearheitet hat. Die Un­ terscheidung meint aher gerade keine ahstrakte Trennung. Kant hetont, »daß alle Pflichten hlos darum, weil sie Pflichten sind, mit zur Ethik gehören«.18 Die Ethik hildet keinen materialiter hegrenzten normativen »Bereich«, der anderen normativen »Bereichen« - etwa dem Recht - heziehungslos gegenüher stünde, sondern »geht auf al­ les, was Pflicht ist üherhaupt«.19 Es giht keine rechtlichen Pflichten, die nicht zugleich moralische Pflichten sind.20 Kants hegriffliche Dif­ ferenzierung zwischen Recht und Moral zielt nicht darauf ah, zwei geschlossene Normhereiche gegeneinander ahzuschotten, sondern dient dazu, das Recht in angemessener Weise mit der Moral in Be­ ziehung zu setzen, genauer: es dem Imperativ der Moral unterzuord­ nen. Die Unterscheidung von Recht und Moral hat ihren Sinn gerade als conditio sine qua non der richtigen Vermittlung heider, wie Fried­ rich Kaulhach hetont: »Der positiven Rechtsgesetzgehung eignet aher nur dann >Autoritätformal< im transzendentalen Sinn nur, daß dem Unbedingten des Frei­ heitspostulates kein letztgültiger Inhalt in der Erscheinungswelt zugeordnet werden kann, jeder Inhalt aber doch an diesem Postulat zu messen ist.« 45 MS, AAVI, S. 313. 46 Ingeborg Maus (a.a.O.) gebührt das Verdienst, diesen Aspekt mit wünschenswerter Klarheit herausgearbeitet und geradezu zum Leitmotiv ihrer Kant-Interpretation erho­ ben zu haben. 47 Vgl. Bielefeldt, Neuzeitliches Freiheitsrecht ..., a.a.O., S. 62f.

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4. Der Allgemeine Volkswille als politisches Gerechtigkeitskriterium

Recht übernehmen. Deshalb ist der die politische Gemeinschaft kon­ stituierende Gesellschaftsvertrag in der Rousseauschen und Kantischen Fassung etwas fundamental anderes als ein privatrechtlicher Vertrag. Alle privatrechtlichen Anklänge, wie sie sich bei Locke und anderen frühneuzeitlichen Vertretern des Gesellschaftsvertrags noch finden, sind restlos verschwunden. Der Gesellschaftsvertrag ist kein Vertrag wie jeder andere, sondern ein »Vertrag«, dessen Klauseln a priori feststehen, wie Rousseau betont: »Die Bestimmungen dieses Vertrages sind durch die Natur des Aktes so vorgegeben, daß die geringste Abänderung sie null und nichtig machen würde; so daß sie, wiewohl sie vielleicht niemals förmlich ausgesprochen wurden, al­ lenthalben die gleichen sind, allenthalben stillschweigend in Kraft und anerkannt ,..«.48 Kant hebt das »pactum unionis civilis« von einem um partikularer Interessen willen abgeschlossenen »pactum sociale« kategorial ab, indem er ersteres zur unbedingten und ersten bürgerlichen Pflicht erhebt. Wenn Hegel gegen die Gesellschaftsver­ tragstheorie einwendet, daß sie eine Kategorie des privaten Rechts auf das öffentliche Recht übertrage und damit dessen Dignität beschädige,49 so mag dieser Vorwurf zwar im Blick auf Loke und andere frühliberale Kontraktualisten berechtigt sein; er trifft Rousseaus und Kants Konzeptionen aber nicht. Die volonte generale ist Rousseaus Kriterium politisch-recht­ licher Gerechtigkeit, an das die staatliche Gesetzgebung gebunden ist. Gemäß diesem Kriterium können Gesetze nur dann als legitim gelten, wenn sie von allen Rechtsunterworfenen gleichermaßen ge­ wollt werden können. Das Erfordernis streng allgemeiner Zustim­ mungsfähigkeit garantiert die Gleichheit der Rechtsgenossen, die in der Verwirklichung der politisch-rechtlichen Gleichheit zugleich die Freiheit aller zum Zuge bringen. Damit ist, wie Otto Vossler schreibt, »die Schranke der Staatsgewalt von außen nach innen verlegt, von

48 Jean-Jacques Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts, Kap. I,6 (zitiert nach der Ausgabe von Hans Brockard, Stuttgart: Reclam, 1977), S. 17. 49 Vgl. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werke Band 7 (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1970), S. 157: »Ebensowenig liegt die Natur des Staats im Vertragsverhält­ nisse, ob der Staat als ein Vertrag aller mit allen oder als ein Vertrag dieser aller mit dem Fürsten und der Regierung genommen werde. - Die Einmischung dieses, sowie der Ver­ hältnisse des Privateigentums überhaupt, in das Staatsverhältnis hat die größten Ver­ wirrungen im Staatsrecht und in der Wirklichkeit hervorgebracht.« (Hervorhebung im Original.)

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V Das Menschenrecht als Symbol der Menschenwürde

der Macht auf den Willen, vom positiven Recht auf das Prinzip«.50 Genau darin sieht Vossler die qualitative Differenz der Rousseauschen Staatsphilosophie gegenüber den frühliheralen Rechteerklä­ rungen: »Statt der Verletzung bloß der wenigen und besonderen, in der Rechteerklärung einzeln aufgezählten Rechte ist jetzt der Staats­ gewalt die Verletzung des Rechtes überhaupt, allen und jeden Rech­ tes ohne die geringste Ausnahme, verwehrt.«51 Trotz seiner Anleihen hei Rousseau geht Kant über diesen zu­ gleich entscheidend hinaus. Denn er stellt klar, daß das Gerechtig­ keitskriterium der volonte generale in kritischer Differenz zu jeder tatsächlichen Gesetzgebung bleiben muß. Damit löst er die Aporien der Rousseauschen Staatslehre kritisch auf und beseitigt deren tota­ litäre Züge. Der latente Totalitarismus in der Rousseauschen politi­ schen Philosophie besteht darin, daß der Genfer Visionär in seinem Verlangen nach Überwindung der gesellschaftlichen Selbstentfrem­ dung des Menschen ein utopisches Ideal entwirft, in dem alle Diffe­ renzen von Sein und Sollen, von Neigung und Pflicht, von individu­ ellen Interessen und politischem Gemeinwohl verschwinden.52 Die Republik ist für Rousseau nicht nur politisch-rechtliches Gemeinwe­ sen, sondern hat quasi-religiösen Charakter, da ihre vornehmste Auf­ gabe darin besteht, die Erlösung der Menschen von ihrer gesell­ schaftlichen Entfremdung zu bewirken. Wenn eine republikanische Gemeinschaft gleicher Bürger einmal etabliert sein sollte, gehen Recht und Gerechtigkeit in ihr gleichsam restlos auf. Wie das Indivi­ duum im kollektiven Ich (»moi commun«) verschwinden soll,53 so wird auch das Recht mit seiner politischen Einlösung zugleich auf­ gehoben. Ein solcher schwärmerischer Utopismus ist Kant suspekt. Für ihn darf politische Philosophie niemals zu einer Erlösungslehre wer­ den, in der mit der Konflikthaftigkeit menschlicher Existenz zugleich der Raum menschlicher Freiheit verschwinden würde. Gegen die po­ litische Unmittelbarkeitssehnsucht Rousseaus stellt Kant deshalb klar, daß die volonte generale niemals in einem empirischen Kollek­ 50 Otto Vossler, Rousseaus Freiheitslehre (Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht, 1963), S. 286. 51 Vossler, a.a.O., S. 286. 52 Vgl. Friedrich Müller, Entfremdung. Folgeprobleme der anthropologischen Be­ gründung der Staatstheorie bei Rousseau, Hegel, Marx (2. bearb. und stark erw. Aufl. Berlin: Duncker & Humblot, 1985), S. 32. 53 Vgl. Rousseau, Gesellschaftsvertrag Kap. I,6 (Brockard, S. 18).

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4. Der Allgemeine Volkswille als politisches Gerechtigkeitskriterium

tivwillen eingelöst werden kann. Sie kann als Gerechtigkeitskrite­ rium nur dann kritisch zur Geltung kommen, wenn zugleich ihre unaufhehhare Differenz zur tatsächlichen Politik (auch zu einer zu­ künftigen Politik) gewahrt hleiht. Die volonte generale ist kein em­ pirisches Faktum, sondern die symholische Darstellung einer apriori­ schen Vernunftidee, die als kritischer Maßstah jeder wirklichen Politik voraushleiht und mit letzterer nicht anders als im Modus des Als-Ob vermittelt werden kann: »... es ist eine bloße Idee der Ver­ nunft, die aher ihre unhezweifelte (praktische) Realität hat: nämlich jeden Gesetzgeher zu verhinden, daß er seine Gesetze so gehe, als sie aus dem vereinigten Willen eines gesamten Volks hahen entspringen können ...«.54 Indem Kant - mit und zugleich gegen Rousseau - die volonte generale als kritisch-normatives Prinzip herausarheitet, hat er, wie Julius Ehhinghaus formuliert, »den Blitz, mit dem der parado­ xe Rationalismus des Führers der Empfindsamkeit die Natur des Staatsrechts erhellt hatte, in einen Leitstern für alles Menschenrecht verwandelt«.55 Die volonte generale - in Kants Worten: der vereinigte Wille des gesamten Volkes - stellt auf der Ehene politischer Gerechtigkeit das Analogon zum Universalisierharkeitskriterium des kategorischen Imperativs dar. Der Prüfung individueller Maximen auf ihre Universalisierharkeit hin entspricht auf der politischen Ehene die kritische Üherprüfung konkreter Gesetzesprojekte daraufhin, oh sie als streng allgemeine Gesetze von allen Rechtsunterworfenen gewollt werden können. Wie die sittliche Selhstgesetzgehung unter dem Anspruch eines apodiktischen Sollens steht und somit das Gegenteil von Beliehigkeit meint, so kann auch die politische Gesetzgehung nach Maßgahe des allgemeinen Volkswillens kein voluntaristischer Akt sein: Sie steht im Dienst des einen »angehorenen« und unveräußerlichen Menschenrechts auf gleiche Freiheit, das ihr zugleich zur gemein­ schaftlichen Ausgestaltung üherantwortet ist. Wir hahen gesehen, daß für Kant die »Formalität« des Universalisierharkeitsanspruchs und die »materiale« Forderung der Ach­ tung der Menschenwürde als Zweck an sich unauflöslich zusammen­

54 Gemeinspruch, AAVIII, S. 297. (Hervorhehung im Original.) 55 Julius Ebbinghaus, Das Kantische System der Rechte des Menschen und Bürgers in seiner geschichtlichen und aktuellen Bedeutung, in: Gesammelte Aufsätze, Vorträge und Reden (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1968), S. 161-193, hier S. 170.

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gehören.56 Sie machen nicht zwei unterschiedliche Prinzipien aus, sondern bilden zwei komplementäre Formulierungen eines und des­ selben kategorischen Imperativs. Ähnlich gilt, daß auch die »Forma­ lität« der volonte generale und das »materiale« Postulat des einen angeborenen Menschenrechts auf Freiheit innerlich zusammenge­ hören. In komplementären Formulierungen erhellen sie jene aprio­ rische Rechtsidee, die den Legitimationsgrund der politisch-recht­ lichen Ordnung überhaupt bildet und jeder konkreten Politik zugleich uneinholbar vorausbleibt. Die vielfach beschworene Ent­ gegensetzung einer durch materiale Naturrechte lediglich äußerlich (»dogmatisch«) gebundenen und insofern vorgängig beschränkten politisch-gesetzgeberischen Verantwortung des Volkes und einer rein voluntaristischen Konzeption von Volkssouveränität, die auf das Menschenrecht keine Rücksicht nähme, ist deshalb eine falsche Alternative.57 Sie ist genauso falsch wie die Entgegensetzung einer ontologisch vorgestellten Wertordnung, die der aktiv-normgebenden Verantwortung des Menschen von außen Grenzen setzen würde, mit einer voluntaristischen Konzeption von Selbstgesetzgebung, die Normen in das Belieben des Einzelnen stellte und jeder Verbindlich­ keit beraubte und damit das strikte Gegenteil der Kantischen Auto­ nomie wäre. Kants philosophische Leistung besteht genau darin, daß er so­ wohl in der Moralphilosophie als auch in der Rechtsphilosophie eine solche falsche Alternativstellung von Dogmatismus und Voluntaris­ mus 'prinzipiell überwindet. Wie die sittliche Autonomie als unbe­ dingte Aufgabe zugleich die Unverfügbarkeit der Menschenwürde begründet, ja mit ihr identisch ist, so verweisen auch auf der Ebene der politischen Gesetzgebung die Idee des allgemeinen Volkswillens als das (»formale«) Prinzip politischer Gesetzgebung und das eine angeborene Menschenrecht (als die »materiale« Formulierung des Rechtsprinzips) wechselseitig aufeinander: Erst im Dienst am Men­ schenrecht, das politisch-rechtlicher Ausgestaltung überantwortet und doch in seiner »Heiligkeit« zugleich unverfügbar vorgegeben ist, gewinnt die politische Gesetzgebung ihre normative Qualität als Akt

56 Vgl. oben, Kap. 111,4. 57 Genau diese Alternativstellung durchzieht, in polemischer Absicht, das Werk von Carl Schmitt. Vgl. dazu kritisch: Heiner Bielefeldt, Kampf und Entscheidung. Politischer Existentialismus bei Carl Schmitt, Helmuth Plessner und Karl Jaspers (Würzburg: Königshausen & Neumann, 1994), S. 48 ff.

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5. Gewaltenteilung als Kennzeichen des Republikanismus

staatsbürgerlicher Verantwortung. Und erst in einer am Kriterium der volonte generale orientierten politischen Gesetzgebung gewinnt das eine angeborene Menschenrecht auf gleiche Freiheit seine kon­ krete Gestalt. Die politische Gesetzgebung nach Maßgabe des all­ gemeinen Volkswillens ist nicht die Weiterführung absolutistischer Fürstensouveränität unter kollektiven Vorzeichen, sondern hat den Charakter eines Dienstes an der rechtlichen Freiheit, und zwar eines Dienstes, der zugleich selbst bereits Freiheitsvollzug und insofern gewissermaßen auch Zweck an sich, d. h. selbst Menschenrecht ist.58

5.

Gewaltenteilung als Kennzeichen des Republikanismus

Die normative Idee der volonte generale verlangt, daß Gesetze strikt allgemein formuliert sind. Schon Rousseau betont: »... der Gemein­ wille, um wahrhaft ein solcher zu sein, muß in seiner Auswirkung [objet] nicht weniger als in seinem Wesen [essence] allgemein sein; er muß von allen ausgehen, um sich auf alle zu beziehen; und er verliert seine natürliche Richtigkeit, sobald er auf einen einzelnen und festumrissenen Gegenstand [quelque objet individuel et determine] gerichtet ist ...«.59 Die strenge Allgemeinheit des Gesetzes ist conditio sine qua non der Wahrung der allgemeinen rechtlichen Gleichheit, d. h. der gleichen Freiheit aller. Ein Gesetz hingegen, daß von vornherein auf eine »besondere« Person oder Situation abstellt, legt den Verdacht nahe, auf Privilegierung bzw. Diskriminierung hinauszulaufen. Denn ein »Sonderrecht« wäre mit der allgemeinen rechtlichen und staatsbürgerlichen Gleichheit unvereinbar. Die Ver­ mittlung des streng allgemeinen Gesetzes mit dem je besonderen Anwendungsfall darf deshalb nicht der Gesetzgeber schon vorneh­ men, sondern ist Aufgabe eigenständiger administrativer bzw. judi­ kativer Institutionen. Bereits Rousseau entwickelt aus der Idee der 58 Der Aspekt der Bindung der politischen Gesetzgebung an die ihr zur Ausgestaltung aufgegebene und dennoch unverfügbar vorgegebene Menschenrechtsidee geht in der Interpretation von Maus verloren, die nicht zufällig auf die Analogie zwischen Fürsten­ souveränität und Volkssouveränität abstellt: »Die ungeteilte Souveränität des Absolu­ tismus, die in Frage zu stellen auch nicht im vernünftigen Interesse des Volkes liegen kann, ist ... auch Voraussetzung für eine gerechtfertigte und zugleich erfolgreiche Re­ volution durch das Volk.« (a.a.O., S. 132). 59 Rousseau, Gesellschaftsvertrag, Kap. II,4, Brockard S. 33. (Französische Original­ einschübe hinzugefügt, H. B.)

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volonte generale Ansätze einer Gewaltenteilungslehre, die aufgrund seines politischen Mystizismus der »Unmittelbarkeit« allerdings von vornherein wieder verloren gehen.60 Erst Kant gelingt es, die Idee des allgemeinen Volkswillens und die Gewaltenteilung überzeugend miteinander zu vermitteln. Das Erfordernis streng allgemeiner Zustimmungsfähigkeit kann nur dann als kritisches Kriterium der Gesetzgebung zum Zuge kommen, wenn man die vermittelnde Anwendung des Gesetzes auf die be­ sondere Situation sowohl begrifflich als auch institutionell von der Gesetzgebung abtrennt. Kant übernimmt deshalb von Rousseau die Differenz zwischen allgemein-normierendem »Gesetz« und situati­ onsbezogenem »Dekret«;61 er zieht aber über Rousseau hinaus aus dieser begrifflichen Unterscheidung auch klare institutionelle Kon­ sequenzen. Die Befehle der Regierung, so schreibt er, »sind Verord­ nungen, Decrete (nicht Gesetze); denn sie gehen auf Entscheidung in einem besonderen Fall und werden als abänderlich gegeben. Eine Re­ gierung, die zugleich gesetzgebend wäre, würde despotisch zu nen­ nen sein . ,.«.62 Um die Verquickung des »allgemeinen« Gesetzes mit dem »besonderen« Dekret (und damit die Unterminierung des stren­ gen republikanischen Universalismus) zu verhindern, müssen Legis­ lative und Exekutive sowohl konzeptionell als auch institutionell voneinander getrennt werden. Die Gewaltenteilung bildet für Kant deshalb das Kennzeichen des Republikanismus, d. h. einer Staatsverfassung, in der sich die Exekutive an allgemeine Gesetze bindet, die ihrem politischen Zu­ griff entzogen sind. Die Vermischung von Gesetzgebung und admi­ nistrativem (bzw. judikativem) Gesetzesvollzug liefe hingegen auf einen Despotismus hinaus, in dem die Gesetzgebung nicht mehr im Dienste des einen universalen Menschenrechts stünde, sondern der etwaigen Instrumentalisierung durch partikulare Interessen der Re­ gierung schutzlos preisgegeben wäre. Deshalb die Notwendigkeit der 60 Vgl. Bielefeldt, Neuzeitliches Freiheitsrecht a.a.O., S. 202ff. 61 Vgl. Rousseau, Gesellschaftsvertrag, Kap. 11,6, Brockard S. 41: »... was der Souverän über einen einzelnen Gegenstand verfügt, ist kein Gesetz [loi], sondern eine Verord­ nung [decret], kein Akt der Souveränität, sondern der Verwaltung.« (Französische Ori­ ginaleinschübe hinzugefügt, H. B.) Auf die Bedeutung Rousseaus für die Entwicklung der Kantischen Gewaltenteilungslehre verweist zu Recht hing Fetscher, Immanuel Kant und die Französische Revolution, in: Zwi Batscha (Hg.), Materialien zu Kants Rechts­ philosophie (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1976), S. 269-290, bes. S. 278 ff. 62 MS, AAVI, S. 316. (Hervorhebungen im Original.)

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Gewaltenteilung, durch die allein die Bindung der Exekutive an das ihr vorgegebene und zugleich aufgegehene Recht transparent werden kann: »Der Republikanism ist das Staatsprincip der Absonderung der ausführenden Gewalt (der Regierung) von der gesetzgebenden; der Despotism ist das der eigenmächtigen Vollziehung des Staats von Gesetzen, die er selbst gegeben hat, mithin der öffentliche Wille, so­ fern er von dem Regenten als sein Privatwille gehandhabt wird.«63 Die Gewaltenteilung symbolisiert staatsimmanent die Unverfügbar­ keit des Rechts, das zwar durch staatliche Gesetzgebung überhaupt erst konkrete Gestalt gewinnt, zugleich aber gegen die stets drohende politische Instrumentalisierung institutionell geschützt werden soll. Kant ist nicht der erste neuzeitliche Philosoph, der für die Tei­ lung der Staatsgewalten plädiert. Er steht in dieser Hinsicht in einer Tradition, als deren bekanntester Vertreter Montesquieu gilt. Die ei­ gentliche kritische Pointe der Kantischen Position besteht jedoch dar­ in, daß er die Gewaltenteilung aus dem Prinzip des allgemeinen Volkswillens selbst begründet. Dies ist, sieht man von gewissen An­ sätzen bei Rousseau ab, ein Novum in der politischen Philosophie. Kants Begründung unterscheidet sich damit fundamental von den älteren Begründungen der Gewaltenteilung, zumal vom Ansatz Montesquieus, dessen Dreiteilung der Gewalten in Legislative, Exe­ kutive und Judikative er ansonsten übernimmt.64 Während Montes­ quieu mit seiner Trias der Gewalten die aus der Antike herrührende Idealvorstellung des »regimen commixtum«, einer durch Mischung von monarchischen, aristokratischen und demokratischen Verfas­ sungsbestandteilen »gemäßigten« Verfassung fortsetzt,65 weist Kant »die sogenannte gemäßigte Staatsverfassung« als »ein Unding«

63 Frieden, AA VIII, S. 352. (Hervorhebung im Original.) Im nachfolgenden Satz schreibt Kant, die Demokratie sei »nothwendig ein Despotism« (Hervorhebung im Ori­ ginal), weil sie nämlich keine Gewaltenteilung kenne. Er orientiert sich dabei offenbar an einem Verständnis von Demokratie, das an den Erfahrungen der Attischen Polis Maß nimmt, in der das Volk auch die Regierungsgeschäfte unmittelbar innehatte, so daß Legislative und Exekutive in einer Hand waren. Es wäre ein unhistorischer Kurzschluß, daraus ein generelles Verdikt gegen jede Form von Demokratie abzuleiten. 64 Vgl. MS, AAVI, S. 315 ff. 65 Vgl. Max Imboden, Montesquieu und die Lehre der Gewaltentrennung (Berlin: de Gruyter, 1959), S. 16: »In den >trois puissancesc wird die Vorstellung dreier zum re­ gimen commixtum verbundener Strukturformen abgewandelt und fortgesetzt. Ja, in einer zugespitzten Formulierung läßt sich sagen, daß die moderne Teilungslehre das Erbe der klassischen Typenlehre angetreten hat.«

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zurück.66 Sie gilt ihm als Ausdruck eines prinzipienlosen Eklektizis­ mus, der keineswegs geeignet ist, die rechtliche Freiheit systematisch zur Geltung zu bringen. Während Montesquieu eine »übertriebene Freiheit« genauso ablehnt wie eine »übertriebene Gleichheit«,67 geht es Kant um die konsequente Durchsetzung der Freiheit als Prinzip, d. h. der gleichen Freiheit aller, die in einer politischen Gesetzgebung nach Maßgabe des allgemeinen Volkswillens Gestalt annimmt. Und während Montesquieu in der Linie des traditionellen politischen Aristotelismus den »Geist der Mäßigung« repräsentiert,68 sucht Kant systematische Klarheit und Entschiedenheit in der Verwirklichung des einen angeborenen Menschenrechts auf gleiche Freiheit, das kei­ ne relativierende »Ermäßigung« verstattet. Für Kant bilden die Idee des allgemeinen gesetzgebenden Volks­ willens und die Institution der Gewaltenteilung nicht etwa ein En­ semble heterogener Prinzipien, die sich wechselseitig relativieren und nur durch das übergeordnete Prinzip der »Mäßigung« zusam­ mengehalten werden können. Vielmehr verlangt das Prinzip des all­ gemeinen Volkswillens selbst die Gewaltenteilung. Diese bildet denn auch keine äußere Schranke der politischen Gesetzgebung, sondern fungiert als Medium ihrer konsequenten und kontrollierten Ver­ wirklichung. Da die republikanische Gesetzgebung in Selbstbindung an die sie tragende Vernunftidee - den vereinigten Willen des gesam­ ten Volkes - das strikte Gegenteil kollektiver politischer Willkür meint, muß sie sich im Modus der Gewaltenteilung vollziehen.69 Die Kantische Begründung der Gewaltenteilung hat systemati­ sche Bedeutung auch für das gegenwärtige Verfassungsdenken. Denn seit Edmund Burke sich in seiner Kritik der Französischen Revolu­ tion zur gemischten Verfassung bekannt und den Athener Areopag als »Damm gegen die Vergehungen leichtsinniger Demokratien« ge­ 66 MS, AA VI, S. 320. Kurt Borries liegt daher falsch, wenn er behauptet, »daß Kant zwischen Rousseau und Montesquieu, dem glühenden Herold der Demokratie und dem geistvollen, aber kühlen Lobredner der konstitutionellen Monarchie, unsicher hinund herschwankt.« Kurt Borries, Kant als Politiker. Zur Staats- und Gesellschaftslehre des Kritizismus (Leipzig: Meiner, 1928), S. 188. 67 Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, Erster Band, Kap. VIII,3 (deutsche Ausgabe von Ernst Forsthoff, Tübingen: Laupp, 1951), S. 159 f. 68 So Ernst Forsthoff in seiner Einführung in die von ihm besorgte Ausgabe von Montesquieus Geist der Gesetze, a.a.O., S. XXXIII. 69 Vgl. Jan C. Joerden, Das Prinzip der Gewaltenteilung als Bedingung der Möglichkeit eines freiheitlichen Staatswesens, in: Jahrbuch für Recht und Ethik/ Annual Review of Law and Ethics, Bd. 1 (1993), S. 207-220.

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priesen hat,70 ist die Gewaltenteilung von konservativen Politikern und Theoretikern immer wieder als äußere Schranke gegen die radi­ kale Demokratie in Stellung gebracht worden. Dies ist auch heute noch gelegentlich der Fall, wenn etwa Ulrich Matz die »wertplurali­ stische Legitimität der gemischten Verfassung« gegen einen angeb­ lichen »demokratischen Wertmonismus« ausspielt.71 Andere führen dieselbe Entgegensetzung mit umgekehrten Vorzeichen fort, indem sie die Gewaltenteilung mit Carl Schmitt als antidemokratisches Prinzip denunzieren und damit einer rein voluntaristischen Vorstel­ lung von Volkssouveränität die Bahn bereiten.72 Von Kant her läßt sich dieser Antagonismus aufbrechen: Gewaltenteilung ist kein äu­ ßerer Damm zur Zähmung demokratischer Gesetzgebung, sondern ein institutioneller Modus der Selbstvergewisserung jener radikalen menschenrechtlichen Freiheitsidee, die mit dem normativen Prinzip der Demokratie, nämlich der politischen Gesetzgebung nach Maß­ gabe des allgemeinen Volkswillens, zuletzt identisch ist. Oder anders gesagt: Gewaltenteilung ist keine bloß äußerliche und deshalb streng genommen undemokratische Auflage der Demokratie, sondern not­ wendiger Vollzugsmodus einer Demokratie, die sich selbst als frei­ heitliche Verfassungsordnung ernst nimmt und ihren eigenen frei­ heitlichen Prinzipien treu bleiben will. Wenn man Kants philosophische Begründung der Gewaltentei­ lung für aktuelle Debatten fruchtbar machen will, gilt es freilich zu bedenken, daß im gegenwärtigen demokratischen Verfassungsstaat die Gewaltenteilung ganz anders organisiert ist als im Frühkonstitutionalismus des 18. Jahrhunderts, an dem Kant sich naturgemäß ori­ entiert. Deshalb macht es wenig Sinn, sein konkretes Modell der Trennung von Legislative und Exekutive unmittelbar auf die gegen­ wärtigen Staatsordnungen zu übertragen. Die moderne parlamenta­ rische Demokratie ist dadurch charakterisiert, daß in ihr Regierung 70 Edmund Burke, Betrachtungen über die Französische Revolution (1790). Aus dem Englischen übertragen von Friedrich Gentz (Zürich: Manesse Verlag, o.J.), S. 369. Zur Mischverfassung bekennt sich Burke ausdrücklich auch auf S. 241. 71 Ulrich Matz, Zur Legitimität der westlichen Demokratie, in: Peter Graf Kielmannsegg! Ulrich Matz (Hg.), Die Rechtfertigung politischer Herrschaft. Doktrinen und Ver­ fahren in Ost und West (Freiburg i.Br./München: Alber, 1978), S. 27-58, S. 40ff. 72 Vgl. Carl Schmitt, Verfassungslehre (Berlin: Duncker & Humblot, 7. Aufl. 1989), S. 275: »Das Volk ist aber in einer Demokratie der Souverän; es kann das ganze System der verfassungsgesetzlichen Normierung durchbrechen und einen Prozeß entscheiden, wie der Fürst in einer absoluten Monarchie Prozesse entscheiden konnte. Es ist oberster Richter wie es oberster Gesetzgeber ist.«

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und Parlament personell, programmatisch und institutionell vielfach miteinander verwoben sind. Die institutionell kontrollierte Selbsthindung politischer Herrschaft an die unverfügbare Rechtsidee stellt sich deshalb heute weniger in der Trennung von Exekutive und Le­ gislative dar, wie Kant dies postuliert, als vielmehr in der Differenz und Vermittlung von Verfassungsrecht und einfachem Gesetzes­ recht. Übertragen auf die parlamentarische Demokratie liefe Kants Repuhlikanismus demnach auf die Forderung hinaus, daß eine Regie­ rung und die sie unterstützende Parlamentsmehrheit die Verfas­ sungsordnung zu respektieren haben, die - weil nur mit qualifizier­ ter Mehrheit änderbar - ihrem unmittelbaren politischen Zugriff entzogen und zugleich verbindlich vorgegeben ist. Hinzu kommt, daß die Kantische Anforderung an das Gesetz - nämlich die strenge Allgemeingültigkeit - heute am ehesten in den Verfassungsnormen eingelöst wird, die der Rechtsordnung verbindlich und auf Dauer ihre grundlegende Gestalt geben sollen. Das »einfache« Gesetzesrecht entspricht heute hingegen eher dem, was Kant mit Rousseau »De­ kret« nennt: es ist vielfach auf besondere Situationen bezogen und teilweise von vornherein nur auf Zeit erlassen. Wenn Kants Republi­ kanismus die Bindung der Regierungsdekrete an von einer eigen­ ständigen Legislative erlassenene allgemeine Gesetze verlangt, so gilt heute entsprechend, daß die Regierung und die sie tragende Par­ lamentsmehrheit in der Bindung an die Verfassungsordnung ge­ setzgeberisch tätig werden sollen. Besonderen Respekt verlangen die verfassungsmäßig verankerten Grundrechte, in denen das eine ange­ borene Menschenrecht auf gleiche Freiheit in besonders »dichter« Weise institutionalisiert ist.73 Die Bindung der gesetzgebenden Parlamentsmehrheit an all­ gemeine Verfassungsnormen unterliegt heute in vielen Verfassungs­ staaten auch gerichtlicher Kontrolle. Gerichtliche Normenkontrolle läßt sich als moderner institutioneller Modus demokratischer Selbst­ kontrolle verstehen und insofern auch »demokratietheoretisch« rechtfertigen.74 Daß im Verfassungsstaat der jeweiligen gesetzgeben73 Die inhaltlichen Menschenrechte, wie sie im Grundrechtekatalog des Grundgesetzes und anderer moderner Verfassungen verankert sind, stellen gleichsam historische Kon­ kretisierungen des allgemeinen Freiheitsrechts (des Kantischen »angeborenen Rechts«) dar. Vgl. Heiner Bielefeldt, Philosophie der Menschenrechte. Grundlagen eines welt­ weiten Freiheitsethos (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1998), S. 87ff. 74 Daß das Verhältnis zwischen Parlament und Verfassungsgerichtsbarkeit immer wie­ der neu austariert werden muß, soll nicht bestritten werden. Wer die Verfassungs-

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6. Öffentlichkeit

den Mehrheit Schranken auferlegt sind, wird nur derjenige als anti­ demokratische Komponente beklagen, der die Demokratie wie Carl Schmitt mit absoluter Mehrheitsherrschaft identifiziert. Die Mehr­ heitsregel stellt indessen nur ein (gewiß wichtiges) Entscheidungs­ verfahren dar, in dem das normative Prinzip der Demokratie kei­ neswegs aufgeht. Das Mehrheitsverfahren steht selbst unter der Bedingung des allgemeinen Volkswillens und gilt deshalb keineswegs unumschränkt. Denn, wie Kant betont, »so wird doch selbst der Grundsatz, sich diese Mehrheit genügen zu lassen, als mit allgemei­ ner Zusammenstimmung ... angenommen, der oberste Grund der Errichtung einer bürgerlichen Verfassung sein müssen«.75

6.

Öffentlichkeit

Die staatliche Gewaltenteilung bildet ein unverzichtbares Kriterium des Republikanismus; sie schöpft ihn aber noch nicht aus. Nicht we­ niger wichtig ist eine politische Kultur öffentlicher Kritik. Politik kann nur dann als legitim gelten, wenn sie den Test der Publizität besteht, d. h. wenn die leitenden Maximen politischer Praxis öffent­ lich kundbar sein können: »Alle auf das Recht anderer Menschen bezogene Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publicität verträgt, sind unrecht.«76 Soll das Prüfkriterium der Publizität kein leeres Postulat bleiben, so bedarf es eines realen Publikums, das poli­ tische Kritik als staatsbürgerliche Aufgabe ernstnimmt. Allein über ein kritisches Publikum kann die »res publica« politische Wirklich­ keit werden. Öffentliche Kritik am Staat als subversiv zu bezeichnen und mit Zensurmaßnahmen zu unterbinden wäre absurd. Denn indem öf­ fentliche Kritik die politischen Funktionsträger immer wieder an ihre gerichtsbarkeit indes prinzipiell als demokratiefremdes Element ablehnt, muß sich fra­ gen lassen, ob er nicht einer voluntaristischen Konzeption von Volkssouveränität ver­ haftet bleibt, für die man Kant jedenfalls nicht in Anspruch nehmen kann. So aber Maus, a. a. O., S. 235, 291 u. ö. Zwar ist in Kants konkreten Vorstellungen der republika­ nischen Verfassung eine gerichtliche Normenkontrolle nicht vorgesehen. Daraus aber auf die systematische Unvereinbarkeit von Volkssouveränität und Verfassungsgerichts­ barkeit zu schließen, liefe auf eine historisierende Engführung der Kant-Interpretation hinaus, von der Maus ansonsten weit entfernt ist. 75 Gemeinspruch, AAVIII, S. 296. 76 Frieden, AAVIII, S. 381.

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Aufgaben erinnert und auf konkrete Mißstände hinweist, schwächt sie nicht, sondern stärkt sie im Gegenteil die »republikanischen« Le­ gitimationsgrundlagen der staatlichen Ordnung. Die »Freiheit der Feder« ist deshalb, wie Kant gegen Hobbes betont, ein unveräußerli­ ches Recht jedes Bürgers. »Denn diese Freiheit ihm [nämlich: dem Volk, H. B.] auch absprechen zu wollen, ist nicht allein so viel, als ihm allen Anspruch auf Recht in Ansehung des obersten Befehls­ habers (nach Hobbes) nehmen, sondern auch dem letzteren, dessen Wille bloß dadurch, daß er den allgemeinen Volkswillen repräsentirt, Unterthanen als Bürgern Befehle giebt, alle Kenntniß von dem ent­ ziehen, was, wenn er es wüßte, er selbst abändern würde, und ihn mit sich selbst in Widerspruch setzen.«77 Schon um der Legitimität ihrer eigenen Herrschaft willen können die politischen Amtsinhaber »eigentlich« nur wollen, daß die Bürger ihnen kritische Aufmerksamkeit widmen und ihre Kritik auch öffentlich äußern. Ganz gleich deshalb, wie die Herrschenden sich der Öffentlichkeit gegenüber tatsächlich verhalten: man muß ihr Einverständnis mit öffentlicher Kritik - und sei es kontrafaktisch unterstellen. Dieses aus Vernunftgründen postulierte Einverständnis der Herrscher mit öffentlicher Kritik formuliert Kant ironisch als einen »Geheimartikel«, den er seinem in der Form eines zeitgenös­ sischen Friedensvertrags verfaßten Entwurf »Zum ewigen Frieden« einfügt. Der Geheimartikel besagt, daß die Staaten die Philosophen konsultieren sollen: »Die Maximen der Philosophen über die Bedin­ gungen der Möglichkeit des öffentlichen Friedens sollen von den zum Kriege gerüsteten Staaten zu Rathe gezogen werden.«78 Mit den Philosophen ist kein geschlossener akademischer Stand gemeint. Vielmehr steht die Philosophie für das freie Urteil des gemeinen Menschenverstandes. »Geheim« ist der Artikel deshalb, weil es, wie Kant mit spitzer Feder anmerkt, für die Autorität des Staates »verkleinerlich« zu sein scheint, über die Prinzipien der Staatsführung »bei Unterthanen (den Philosophen) Belehrung zu suchen«.79 Des­ 77 Gemeinspruch, AA VIII, S. 304. 78 Frieden, AAVIII, S. 368. (Im Original gesperrt.) 79 Frieden, AA VIII, S. 368. (Hervorhebung im Original.) Vgl. dazu Volker Gerhardt, Der Thronverzicht der Philosophie. Über das moderne Verhältnis von Philosophie und Politik bei Kant, in: Otfried Höffe (Hg.), Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden (Berlin: Akademie Verlag, 1995), S. 171-193, hier S. 171: »Durch die Spezifizierung des Zusat­ zes als >geheim< macht sich Kant ... über die Arkanpraxis der Hof- und Kabinettspolitik lustig.«

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6. Öffentlichkeit

halb kann den Repräsentanten der Staatsmacht nicht zugemutet wer­ den, sich ausdrücklich ratsuchend an die Öffentlichkeit zu wenden. Es reicht, wenn sie eine kritische Öffentlichkeit »stillschweigend« akzeptieren. Die Einsetzung der Öffentlichkeit geschieht nicht in einem ausdrücklichen Gesellschaftsvertrag, sondern in einem »un­ ausgesprochenen« Zusatz zum Gesellschaftsvertrag. Sie bleibt ein Geheimartikel, dessen Gültigkeit stillschweigend von allen voraus­ gesetzt wird. Diese »unausgesprochene« Vereinbarung hat den Vorteil, daß sie die kritische Öffentlichkeit in der Differenz zur Staatsmacht be­ läßt. Die Kritiker haben kein offizielles Amt inne. Ihr Ort ist nicht das Zentrum der Macht, sondern die bewußte Distanz. Weil nur in der bewußten Distanz zur Staatsmacht ein freies, unparteiisches Ur­ teil möglich ist, ist Kant der entschiedenste Gegner der Platonischen Einheit von Philosophie und Macht. Wenn er das Ideal des Phi­ losophenkönigs zurückweist, so nicht etwa deshalb, weil es utopisch, sondern weil es schon im Ansatz verkehrt ist: »Daß Könige philosophiren, oder Philosophen Könige würden, ist nicht zu erwarten, aber auch nicht zu wünschen: weil der Besitz der Gewalt das freie Urtheil der Vernunft unvermeidlich verdirbt.«80 Und doch hat gerade die »stillschweigende« Vereinbarung öf­ fentlicher Meinungsfreiheit republikanische Bedeutung. Der Repu­ blikanismus des Staates, der sich verfassungsimmanent als Gewalten­ teilung manifestiert, erweitert sich dadurch zum Republikanismus der kritischen Öffentlichkeit - modern gesprochen: der Zivilgesell­ schaft - die in der Distanz zum Staat gleichzeitig dessen Legitimi­ tätsgrundlagen stärkt. Auf die Zurückweisung des Platonischen Phi­ losophenkönigtums folgt deshalb Kants Bekenntnis: »Daß aber Könige oder königliche (sich selbst nach Gleichheitsgesetzen beherr­ schende) Völker die Classe der Philosophen nicht schwinden oder verstummen, sondern öffentlich sprechen lassen, ist Beiden zu Be­ leuchtung ihres Geschäfts unentbehrlich ...«.81

80 Frieden, AA VIII, S. 369. 81 Frieden, AA VIII, S. 369.

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VI. Sinnspuren in Natur und Geschichte

1.

Die Frage nach der Weltwirksamkeit sittlichen Handelns

Obwohl der moralische Wert menschlichen Handelns nicht vom äu­ ßeren Erfolg abhängt, sondern im Innern des Willens gründet, können dem Menschen die Folgen des Handelns nicht gleichgültig sein. Der gute Wille, betont Kant, ist kein »bloßer Wunsch«, sondern setzt »die Aufbietung aller Mittel, soweit sie in unserer Gewalt sind« voraus.1 Nur ein Wille, der auch erfolgreich sein will, ist ein ernster Wille. Um der Wirksamkeit sittlichen Handelns willen sieht der Mensch sich daher aufgerufen, nach Strukturen in der Welt - in Na­ tur und Geschichte - zu suchen, die den Aufgaben der Sittlichkeit gleichsam entgegenkommen. Zwar kann sittliche Gesetzgebung nur in der Autonomie der praktischen Vernunft geschehen. Das Gesetz der Freiheit ist kein Gesetz der Natur. Und doch meint die Differenz zwischen Freiheit und Natur keine abstrakte Dichotomie. Das Gesetz der Freiheit ist zwar nicht »von der Welt«, aber doch »in der Welt«, insofern es darauf abzielt, die Welt des Menschen normativ zu durch­ wirken und zu verändern. Der Anspruch des Sittlichen selbst führt daher zur Suche nach entgegenkommenden Strukturen in der Welt, auf die sittliches Handeln sich beziehen kann und die zwar keine Garantie, aber doch Hoffnung auf Erfolg geben können. Die Suche nach solchen Strukturen in der Welt - in Natur und Geschichte -, die sittlichen Handeln entgegenkommen, ist Bestand­ teil der Teleologie, der Lehre von den Zwecken, die Kant in der Kritik der Urteilskraft entwickelt. Deren systematischer Stellenwert im Ganzen der praktischen Philosophie besteht darin, daß sie zwischen Natur und Freiheit vermittelt, ohne die Differenz zwischen beiden aufzuheben. Sittliches Handeln, so hatten wir gesehen, zielt auf einen Sinnzusammenhang ab, der in seiner Totalität - als »Reich 1 GMS, AAIV, S. 394.

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1. Die Frage nach der Weltwirksamkeit sittlichen Handelns

der Zwecke« oder als Idee des höchsten Gutes - letztlich zwar uner­ reichbar, gleichwohl aber dem Menschen zur Förderung überantwor­ tet ist.2 Sittlichkeit ist stets zweckorientiert. Das heißt nicht, daß sitt­ licher Praxis bestimmte naturale Zwecke verbindlich vorgegeben wären. Vielmehr verhält es sich umgekehrt so, daß die Zweckmäßig­ keit der sittlichen Praxis aufgegeben ist. Der Mensch weiß sich dazu aufgerufen, eine zweckmäßige sittliche Gesamtordnung in der Welt zu bewirken oder doch zumindest auf sie hinzuwirken. Eine solche Aufgabe wäre indes von vornherein sinnlos, wenn die Naturordnung nicht ihrerseits Anhaltspunkte zweckmäßiger Organisation geben würde. Deshalb sucht der Mensch nach einer Korrespondenz zwi­ schen der Zweckmäßigkeit in der Natur und der von ihm selbst zu stiftenden Zweckmäßigkeit einer umgreifenden sittlichen Ordnung. Der Begriff der Zweckmäßigkeit, der sowohl in der Ordnung der Na­ tur als auch in der Ordnung nach Freiheitsgesetzen seinen Platz hat, bietet sich als vermittelnde Kategorie zwischen beiden Ordnungen an. »Die Wirkung nach dem Freiheitsbegriffe ist der Enzweck, der (oder dessen Erscheinung in der Sinnenwelt) existiren soll, wozu die Bedingung der Möglichkeit desselben in der Natur (des Subjects als Sinnenwesens, nämlich als Mensch) vorausgesetzt wird. Das, was diese a priori und ohne Rücksicht auf das Praktische voraussetzt, die Urtheilskraft, giebt den vermittelnden Begriff zwischen den Natur­ begriffen und dem Freiheitsbegriffe, der den Übergang von der rei­ nen theoretischen zur reinen praktischen, von der Gesetzmäßigkeit nach der ersten zum Endzwecke nach der letzten möglich macht, in dem Begriffe einer Zweckmäßigkeit der Natur an die Hand; denn dadurch wird die Möglichkeit des Endzwecks, der allein in der Natur und mit Einstimmung ihrer Gesetze wirklich werden kann, er­ kannt.«3 Die von Kant geklärte Differenz zwischen Freiheitsordnung und Naturordnung bleibt gleichwohl bestehen. Sie läuft indessen nicht auf eine dualistische Abtrennung der sittlichen Freiheitsordnung von der Welt der Natur hinaus. Vielmehr ist die klare begriffliche Differenzierung zwischen Freiheit und Natur Voraussetzung der an­ gemessenen Vermittlung zwischen beiden, die aus dem Anspruch der Sittlichkeit auf Wirksamkeit in der Welt folgt. In diesem Sinn schreibt Kant: »Ob nun zwar eine unübersehbare Kluft zwischen 2 Vgl. oben, Kap. IV,3. 3 KU, AAV, S. 195 f. (Hervorhebung im Original.)

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dem Gebiete des Naturbegriffs, als dem Sinnlichen, und dem Gebiete des Freiheitsbegriffs, als dem Übersinnlichen, befestigt ist, so daß von dem ersteren zum anderen (also vermittelst des theoretischen Ge­ brauchs der Vernunft) kein Übergang möglich ist, gleich als ob es so viel verschiedene Welten wären, deren erste auf die zweite keinen Einfluß haben kann: so soll doch diese auf jene einen Einfluß haben, nämlich der Freiheitsbegriff soll den durch seine Gesetze aufgegebe­ nen Zweck in der Sinnenwelt wirklich machen; und die Natur muß folglich auch so gedacht werden können, daß die Gesetzmäßigkeit ihrer Form wenigstens zur Möglichkeit der in ihr zu bewirkenden Zwecke nach Freiheitsgesetzen zusammenstimme.«4 Die Vermittlung zwischen Naturordnung und Freiheitsordnung ist keine Synthese, die sich schließt, sondern bleibt eine offene Ver­ mittlung, ein Fragen nach einem Gesamtzusammenhang, das keine definitive Antwort findet. Es geht, wie Kant schreibt, um die »Mög­ lichkeit« einer Zusammenstimmung der natürlichen Zwecke mit de­ nen der Sittlichkeit, nicht um letzte Gewißheit. Die Gewißheit des Erfolgs würde die Freiheit des Handelns durch »Einsicht in die Not­ wendigkeit« ersetzen und damit die Autonomie des Sittlichen auf­ heben. Nur in der letzten Ungewißheit des Erfolgs, der sittlichem Handeln nie gleichgültig sein kann und auf auf den dieses unver­ meidlich hinzuwirken sucht, ist sittliche Freiheit möglich. Und doch muß die letzte Ungewißheit, soll der Mensch nicht in Verzweiflung versinken, mit Hoffnung auf Erfolg einhergehen, und zwar mit einer Hoffnung, die zumindest Anhaltspunkte in der Betrachtung der Welt finden kann.5

2.

Kritische Teleologie

Kant betont wiederholt, daß durch die Beobachtung von Zweck­ mäßigkeit in der Natur »weder ein theoretisches Erkenntniß der Na-

4 KU, AAV, S. 175f. 5 Vgl. Volker Gerhardt, Immanuel Kants Entwurf »Zum ewigen Frieden«. Eine Theorie der Politik (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1995), S. 110: »Folglich kommt in den teleologischen Urteilen zumindest die Hoffnung auf eine fundamentale Korrespondenz zwischen der belebten Natur und unseren eigenen Absichten zum Aus­ druck: Die teleologisch verfaßte Natur steht in einer praktischen Relation zum Men­ schen.«

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2. Kritische Teleologie

tur, noch ein practisches Princip der Freiheit gegründet« wird.6 Die Zweckmäßigkeit, die wir der Naturordnung als Betrachter zuspre­ chen, ist lediglich »ein heuristisches Princip«.7 So können wir in heu­ ristischer Absicht beispielsweise feststellen, wie sinnvoll die unter­ schiedlichsten Naturphänomene ineinandergreifen: »Der Schnee sichert die Saaten in kalten Ländern wider den Frost; er erleichtert die Gemeinschaft der Menschen (durch Schlitten); der Lappländer findet dort Thiere, die diese Gemeinschaft bewirken (Rennthiere), die sich an einem dürren Moose, welches sie sich selbst unter dem Schnee hervorscharren müssen, hinreichende Nahrung finden, und gleichwohl sich leicht zähmen ... lassen.«8 Solche teleologischen Be­ trachtungen können freilich nicht den Status wissenschaftlicher Er­ kenntnis beanspruchen, und die in ihnen gefundenen Einsichten sind niemals zwingend. Zweckmäßigkeit ist keine bestimmende Kategorie des Verstandes, sondern ein Prinzip der reflektierenden Urteilskraft, die die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen im Blick auf ein sie tra­ gendes Zweckganzes zu ordnen sucht, ohne dieses Ganze je greifen zu können.9 Das Zweckganze, auf das teleologische Betrachtungen sich richten, bleibt als Idee letztlich unerreichbar und wirkt doch zu­ gleich als regulatives Prinzip der reflektierenden Urteilskraft.10 Aufgrund der vergegenständlichenden Struktur seines Verstan­ des kommt der Mensch zwar nicht umhin, auch teleologische Über­ legungen so zu formulieren, als ob sie objektive Erkenntnisse ent6 KU, Einleitung, erste Fassung, in: Handschriftlicher Nachlaß, Band 7, AA XX, S. 204. 7 KU, AA V, S. 411. 8 KU, AA V, S. 369. 9 Zur Differenz zwischen bestimmender und reflektierender Urteilskraft vgl. KU, AA 179: »Urtheilskraft überhaupt ist das Vermögen, das Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken. Ist das Allgemeine (die Regel, das Princip, das Gesetz) gegeben, so ist die Urtheilskraft, welche das Besondere darunter subsumirt, ... bestimmend. Ist aber nur das Besondere gegeben, wozu sie das Allgemeine finden soll, so ist die Urteils­ kraft bloß reflektirend.« (Hervorhebungen im Original.) 10 Vgl. KU, erste Einleitung,AAXX, S. 236: »Da es nun ganz wider die Natur physisch­ mechanischer Ursachen ist, daß das Ganze die Ursache der Möglichkeit der Caussalität der Theile sey, vielmehr diese vorher gegeben werden müssen, um die Möglichkeit eines Ganzen daraus zu begreifen; da ferner die besondere Vorstellung eines Ganzen, welche vor der Möglichkeit der Theile vorhergeht, eine bloße Idee ist, und diese, wenn sie als der Grund der Caussalität angesehen wird, Zweck heißt: so ist klar, daß, wenn es der­ gleichen Producte der Natur gibt, es unmöglich sey, ihrer Beschaffenheit und deren Ursache auch nur in der Erfahrung nachzuforschen (geschweige sie durch die Vernunft zu erklären), ohne sie sich, ihre Form und Caussalität, nach einem Princip der Zwecke bestimmt vorzustellen.«

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hielten. Er muß sich des heuristischen Charakters dieser Überlegun­ gen aber stets aufs neue vergewissern, um so die letztlich unaufheb­ bare Tendenz zur Vergegenständlichung immer wieder in den Modus des bewußten Als-Ob zurückzunehmen. Teleologische Betrachtun­ gen der Natur haben, wie Kant schreibt, regulative, aber nicht kon­ stitutive Bedeutung für die menschliche Erkenntnis: »so wird der Begriff der Zweckmäßigkeit der Natur in ihren Producten ein für die menschliche Urtheilskraft in Ansehung der Natur nothwendiger, aber nicht die Bestimmung der Objecte selbst angehender Begriff sein, also ein subjectives Princip der Vernunft für die Urtheilskraft, welches als regulativ (nicht constitutiv) für unsere menschliche Ur­ theilskraft eben so nothwendig gilt, als ob es ein objectives Princip wäre.«11 In der Wahrnehmung der Zweckmäßigkeit in der Natur verfah­ ren wir nach einer fundamentalen Analogie: Wir betrachten die Na­ tur, als ob in ihr ein Künstler am Werke wäre, der die einzelnen Teile zu einem Sinnganzen zusammenfügt: »D. i. die Natur wird durch diesen Begriff [nämlich den der Zweckmäßigkeit, H. B.] so vorge­ stellt, als ob ein Verstand den Grund der Einheit des Mannigfaltigen ihrer empirischen Gesetze enthalte.«12 Kant spricht auch von der »Technik« der Natur im Unterschied zu ihrer »Mechanik«, wobei beim Begriff der Technik an das griechische Verständnis von »techne« als Kunstfertigkeit zu denken ist.13 In der christlichen Tradition 11 KU, AAV, S. 404. Vgl. hierzu Ernst Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philoso­ phie und Wissenschaft der neueren Zeit. Dritter Band: Die nachkantischen Systeme (Neudruck der 2. Aufl. von 1923, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1994), S. 16: »Nur in der Sprache des >Als obc ... ist der Gedanke, daß die Wirklichkeit der Phänomene >zum Behuf unserer Erkenntnisvermögenc organisiert sei, zulässig. Überschreitet man indessen einmal die schmale und scharfe Grenzlinie, die hier Kant und Leibniz trennt, so steht man wiederum genau an dem Punkt, an dem der >abstraktec und diskursive Verstand des Kategoriendenkens sich zum >intuitivenc Verstand und zur Schau der Ideen erweitert.« 12 KU, AAV, S. 180f. (Hervorhebung von mir, H. B.) Vgl. Jau-hwa Chen, Kants Gottes­ begriff und Vernunftreligion (Diss. Bonn, 1993), S. 116: »Der Begriff des göttlichen Verstandes ist eigentlich eine Idee der reflektierenden Urteilskraft, deren unser Ver­ stand bedarf, um die Notwendigkeit des Begriffs der Zweckmäßigkeit der Natur in der architektonischen Verknüpfung der Weltordnung zu vervollständigen.« 13 Vgl. KU, Einleitung, erste Fassung, AA XX, S. 219: »Die Causalität nun der Natur, in Ansehung der Form ihrer Producte als Zwecke, würde ich die Technik der Natur nennen. Sie wird der Mechanik derselben entgegengesetzt, welche in ihrer Causalität durch die Verbindung des Mannigfaltigen ohne einen der Art ihrer Vereinigung zum Grunde liegenden Begriff besteht ...«. (Hervorhebungen im Original.)

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3. Das Naturschöne als Symbol des sittlich Guten

pflegt man die Natur als Zweckordnung mit dem Begriff der Schöpfung zu belegen, den Kant allerdings vermeidet, weil er teleo­ logische Überlegungen nicht vorschnell mit Theologie in Verbindung bringen will.14 Sowenig die Betrachtung der Zweckmäßigkeit in der Natur als wissenschaftlich-objektive Erkenntnis gelten kann, sowenig darf die Teleologie zum konstitutivem Prinzip sittlicher Praxis hypostasiert werden. Andernfalls würde die Autonomie des Sittlichen in ihren beiden Dimensionen, der autonomen sittlichen Gesetzgebung und der autonomen Triebfeder sittlichen Handelns, verdunkelt werden. Kant stellt deshalb klar, daß nicht die Teleologie die Maßstäbe der Moral setzt, sondern die sittliche Praxis selbst sich unter dem An­ spruch des unbedingten Sollens zur Frage nach dem Sinn und Zweck des Ganzen ausweitet. Diese Frage richtet sich zum einen - gewisser­ maßen nach innen hin - auf die Totalität des sittlichen Anspruchs und führt zum Gedanken eines »Reichs der Zwecke« bzw. zur Idee des höchsten Gutes. Zum anderen richtet sich die Sinnfrage nach außen, nämlich auf die Strukturen der Welt, in der der Mensch - im Bewußtsein bleibender Ungewißheit - doch zumindest Anhaltspunk­ te für die Hoffnung auf den Erfolg seiner Bemühungen sucht.

3.

Das Naturschöne als Symbol des sittlich Guten

Die Ordnung der Natur kann das ästhetische Empfinden des Men­ schen anregen. Und umgekehrt lassen sich in der Erfahrung des Na­ turschönen Sinnzusammenhänge aufweisen oder doch zumindest ahnen. Das griechische Wort »kosmos« faßt in seinem klassischen Verständnis Natur, Ordnung und Schönheit als ursprüngliche Ein­ heit: Die Welt gilt demnach als umfassende Sinnordnung, als harmo­ nia mundi. In ihrer Schönheit manifestieren sich Sinnstrukturen, de­ ren Erkenntnis auch die sittliche Praxis des Menschen anleiten kann. In der Tradition des Platonismus gehören deshalb das Wahre, das Gute und das Schöne unauflöslich zusammen. Sowohl die Verbind­ lichkeit sittlichen Handelns als auch die Qualität ästhetischen Emp­ findens haben ihr Fundament in teleologischen Strukturen der Welt. Kants kritische Philosophie kennt eine solche objektiv gedachte 14 Vgl. KU AAV, S. 381f. Näheres dazu unten, Kap. VII,4. Von der »Anordnung eines weisen Schöpfers« spricht Kant aber z.B. in Idee, AAVIII, S. 22.

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VI. Sinnspuren in Natur und Geschichte

Einheit des Wahren, des Guten und des Schönen nicht. Die wissen­ schaftliche Erkenntnis der Natur und die Praxis sittlicher Freiheit lassen sich in ihren jeweiligen Geltungsansprüchen nicht aufein­ ander reduzieren. Diese Differenz ist unaufhehhar; über sie kann der Mensch nicht wissend hinausgreifen. Er kann allenfalls »ahnen«, daß auch diese Differenz einen transzendenten Sinngrund hat, in deren Fluchtpunkt das Wahre, das Gute und das Schöne schließlich doch zusammen gehören. Der Mensch kann darüber nachsinnen, oh nicht auch die Grenzen des Erkennens sinnvoll sind, weil nur in der letzten Ungewißheit über den Lauf der Welt sittliches Handeln als freies Handeln möglich ist. Mit der Frage nach dem Sinn der Grenzen kann er tastend über diese Grenze hinausgehen, ohne sie aufzuhehen. Es kann ihn in philosophischer Reflexion die Ahnung überkom­ men, »daß die unerforschliche Weisheit, durch die wir existiren, nicht minder verehrungswürdig ist in dem, was sie uns versagte, als in dem, was sie uns zutheil werden ließ«.15 Selbst das Unbegreifliche, das menschlichem Erkennen nicht nur vorläufig, sondern prinzipiell entzogen ist, bildet keine Schranke philosophischen Nachdenkens. Vielmehr macht das »Begreifen der Unbegreiflichkeit« das höchste Ziel philosophischer Besinnung aus. Doch wie beim »wissenden Nichtwissen« des Sokrates handelt es sich beim »Begreifen der Unbe­ greiflichkeit« um ein »Begreifen« nur im Modus des »Als-Ob«. Auch in der Empfindung des Naturschönen leuchtet Sinnhaftigkeit auf. Dies geschieht allerdings in einer doppelt-indirekten, noch­ mals gebrochenen Weise. Die ästhetische Erfahrung des Schönen ist nicht nur keine objektivierende Erkenntnis; sie hat nicht einmal den Charakter einer »Als-Ob-Erkenntnis«, d.h. eines teleologischen Ur­ teils. Der Sinn für das Schöne besteht im freien Spiel von Verstand und Einbildungskraft, in dem sich scheinbar ungeplant Ordnung her­ stellt. Pünktlichkeit, Berechenbarkeit, Organisation sind mit dem Gefühl des Schönen unvereinbar; sie töten die Phantasie. Der Ver­ such, den Bauplan eines schönen Gegenstandes definitiv zu bestim­ men, zerstört die Freude an seiner Schönheit. Die ästhetische Phan­ tasie braucht ihren Freiraum, um sich spielerisch zu entfalten. Und doch hat das Schöne seine eigentümliche Form. Es ist nicht Chaos, sondern Kosmos. In ihm scheint eine Zweckhaftigkeit auf, die keinem konkreten Zweck dient, also gleichsam eine »zweckfreie Zweckhaf­ tigkeit«: eine Ordnung, die sich nicht nach Plan, sondern spielerisch 15 KpV, AAV, S. 148.

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3. Das Naturschöne als Symbol des sittlich Guten

ergibt. Kant definiert: »Schönheit ist die Form der Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes, sofern sie ohne Vorstellung eines Zwecks an ihm wahrgenommen wird.«16 Er spricht von einer »Zweckmäßigkeit ohne Zweck« oder auch von einer »Gesetzmäßigkeit ohne Gesetz«.17 Das Gefühl des Schönen bildet gewissermaßen das Gegenstück zur Stimmung des Erhabenen. In der Erfahrung des Erhabenen in der Natur bricht die menschliche Vorstellungskraft zusammen. Bei der Konfrontation mit überwältigenden Naturphänomenen tut sich ein Abgrund auf, in dem der Mensch seiner eigenen Ohnmacht inne­ wird. Die Stimmung des Erhabenen zeigt deshalb eine Nähe zum Gefühl der Achtung, die das moralische Gesetz dem Menschen abnö­ tigt. Das Widerfahrnis des Erhabenen wirft ihn nieder und erhebt ihn gerade deshalb über seine bloß vitale Natur. In seiner Nähe zum Gefühl der Achtung und seiner ambivalenten Verschränkung von Demütigung und Erbauung läßt sich das Erhabene als »zweckmäßige Unzweckmäßigkeit« verstehen. Indem es menschliche Einbildungs­ kraft zerbrechen läßt - d. h. in seiner scheinbaren »Unzweckmäßig­ keit« -, erfüllt es einen »Zweck« und sensibiliert den Menschen für seine moralische Bestimmung.18 Im Unterschied zur »zweckmäßigen Unzweckmäßigkeit« des Er­ habenen zeigt sich das Schöne umgekehrt als »zweckfreie Zweckmä­ ßigkeit«: als freies, scheinbar planloses Spiel von Einbildungskraft und Verstand. Anders als die Stimmung des Erhabenen weist das ästhetische Gefühl des Schönen keine Nähe zum moralischen Gefühl der Achtung auf. Gleichwohl gibt es eine - wiederum nur indirekte Beziehung zwischen dem Sinn des Menschen für das Schöne in der Natur und dem Bewußtsein seiner eigenen moralischen Bestim­ mung. Denn der Mensch, der will, daß sein sittliches Handeln in der Welt wirksam wird und Folgen zeigt, wird sich an jedem noch so leisen Anzeichen von Sinnhaftigkeit in der Natur freuen, auch an jener ästhetisch empfundenen Zweckmäßigkeit, die keinem erkenn­ baren Zweck dient. Nicht der unmittelbare ästhetische Genuß des Schönen, sondern das prinzipielle Interesse, das der Mensch an der Schönheit der Natur entwickelt, verweist auf ein dahinterliegendes moralisches Motiv: »Da es aber die Vernunft auch interessirt, daß die Ideen (für die sie im moralischen Gefühle ein unmittelbares Interesse 16 KU, AAV, S. 236. (Hervorhebungen im Original.) 17 KU, AAV, S. 241. 18 Vgl. KU AAV, S. 259. Vgl. auch oben, Kap. III,3.

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VI. Sinnspuren in Natur und Geschichte

bewirkt) auch objective Realität haben, d. i. daß die Natur wenigstens eine Spur zeige, oder einen Wink gebe, sie enthalte in sich irgend einen Grund, eine gesetzmäßige Übereinstimmung ihrer Producte zu unserm von allem Interesse unabhängigen Wohlgefallen ... anzu­ nehmen: so muß die Vernunft an jeder Äußerung der Natur von einer dieser ähnlichen Übereinstimmung ein Interesse nehmen; folg­ lich kann das Gemüth über die Schönheit der Natur nicht nachden­ ken, ohne sich dabei zugleich interessirt zu finden. Dieses Interesse aber ist der Verwandtschaft nach moralisch; und der, welcher es am Schönen der Natur nimmt, kann es nur insofern an demselben neh­ men, als er vorher schon sein Interesse am Sittlich-Guten wohl­ gegründet hat.«19 Das Naturschöne in seiner »zweckfreien Zweckmäßigkeit« taugt nicht dazu, dem Menschen praktische Anhaltspunkte für sein Han­ deln an die Hand zu geben. Es bietet keine Basis zur Herleitung sitt­ licher Prinzipien; ja, es kann nicht einmal im weiteren Sinne des Wortes zur praktischen Orientierung dienen. Doch wenn der Mensch die Natur daraufhin betrachtet, ob sie »wenigstens eine Spur zeige oder einen Wink gebe«, kann er in ihr eine »Chiffreschrift« auf­ finden, »wodurch die Natur in ihren schönen Formen figürlich zu uns spricht«.20 Diese Chiffreschrift ist »gleichsam eine Sprache, die die Natur zu uns führt, und die so einen höhern Sinn zu haben scheint«.21 Obwohl wir einen solchen Sinn nicht entschlüsseln, ja nicht einmal wissen können, ob der Sinnerfahrung überhaupt ein Realitätsgehalt entspricht, kann die Chiffreschrift des Naturschönen doch zum Anlaß der Hoffnung werden, daß sittliches Handeln und die Strukturen der Welt in einer uns unerklärlichen Weise koinzidieren. In diesem Sinne sagt Kant: »das Schöne ist das Symbol des Sitt­ lich-Guten«.22 Die symbolische Verweisstruktur des Schönen gilt für die Schönheit der Natur, nicht für das von Menschen geschaffene Kunst­ schöne, das oft genug nur Ausdruck menschlicher Eitelkeit ist. Kant stellt klar, »daß das Interesse am Schönen der Kunst (wozu ich auch den künstlichen Gebrauch der Naturschönheiten zum Putze, mithin 19 KU, AA V, S. 300. (Hervorhebung im Original.) 20 KU, AAV, S. 301. 21 KU, AAV, S. 302. 22 KU, AAV, S. 353. Vgl. dazu Paul Guyer, The Symbols of Freedom in Kant's Aesthetics, in: Herman Parret (Hg.), Kants Ästhetik (Berlin/New York: de Gruyter, 1998), S. 338-355, bes. S. 350f.

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3. Das Naturschöne als Symbol des sittlich Guten

zur Eitelkeit rechne) gar keinen Beweis einer dem Moralisch-Guten anhänglichen, oder auch nur dazu geneigten Denkungsart ahgehe«.23 Wenn ein scheinbar naturschöner Gegenstand sich hei näherem Hin­ sehen als künstlich hergestellt erweist, erlischt das Interesse des Naturliehhahers sofort - und macht womöglich der Eitelkeit Platz: »Es ist aber hiehei merkwürdig, daß, wenn man diesen Liebhaber des Schönen insgeheim hintergangen und künstliche Blumen (die man den natürlichen ganz ähnlich verfertigen kann) in die Erde gesteckt, oder künstlich geschnitzte Vögel auf Zweige von Bäumen gesetzt hätte, und er darauf den Betrug entdeckte, das unmittelhare Inter­ esse, was er vorher daran nahm, alshald verschwinden, vielleicht aber ein anderes, nämlich das Interesse der Eitelkeit, sein Zimmer für fremde Augen damit auszuschmücken, an dessen Stelle sich einfin­ den würde.«24 Damit das Schöne über den ästhetischen Genuß hinaus als Symbol für eine mögliche, uns unbegreifliche Korrespondenz zwischen Naturordnung und sittlich Gutem fungieren kann, muß es sich um ein Naturschönes handeln. »Daß die Natur jene Schönheit hervorgehracht hat: dieser Gedanke muß die Anschauung und Refle­ xion begleiten; und auf diesem gründet sich allein das unmittelbare Interesse, was man daran nimmt.«25 Während das Interesse am Kunstschönen ambivalent hleiht, ist das Interesse am Schönen der Natur für Kant »jederzeit ein Kennzeichen einer guten Seele«, da, »wenn dieses Interesse habituell ist, es wenigstens eine dem mora­ lischen Gefühl günstige Gemüthsstimmung anzeige«.26 Ein solches Interesse beweist letztlich nichts, sondern gibt wiederum nur einen symbolischen Wink. »Wen also die Schönheit der Natur unmittelbar interessirt, hei dem hat man Ursache, wenigstens eine Anlage zu gu­ ter moralischer Gesinnung zu vermuthen.«27 Ästhetische und ethische Geltungsansprüche müssen nach Kant klar unterschieden werden. Sie lassen sich genauso wenig aufein­ ander zurückführen wie die Geltungsansprüche von Ethik und Wis­ senschaft. Die Einheit des metaphysischen Kosmosdenkens, in dem das Wahre, das Gute und das Schöne unmittelbar zusammengehör­ ten, ist aufgesprengt, und zwar nicht zuletzt durch das Bewußtsein

23 24 25 26 27

KU, KU, KU, KU, KU,

AAV, AAV, AAV, AAV, AAV,

S. S. S. S. S.

298. (Hervorhebung im Original.) 299. 299. 298f. 300f. (Hervorhebung von mir, H. B.)

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VI. Sinnspuren in Natur und Geschichte

der umfassenden Verantwortung des Menschen, die nicht an vor­ gegebenen teleologischen Strukturen Halt machen bzw. Stütze fin­ den kann. Und doch ist damit die Frage nach dem Zusammenhang des Ganzen nicht sinnlos geworden. Sie führt auf den Weg der Sym­ bole, in deren Sprache eine Einheit von Wahrheit, Gutheit und Schönheit aufleuchten kann, die dem wissenden Zugriff entzogen bleibt.

4.

Hoffnung auf den Sinn der Geschichte

Die Frage nach Sinnstrukturen in der Welt stellt sich nicht nur im Blick auf die Ordnung der Natur, sondern richtet sich auch auf den Verlauf der Geschichte. In der Moderne hat die Geschichtsphiloso­ phie die naturphilosophische Betrachtung der Welt nicht nur immer mehr ergänzt, sondern ist teilweise an ihre Stelle getreten. Das Sy­ stem des Hegelianismus läßt sich gleichsam als historisch-prozessua­ les Äquivalent des antiken Kosmosdenkens verstehen: Die Sinnhaftigkeit der Welt manifestiert sich demnach nicht in einer zeitlosen Naturordnung, sondern in der Dynamik geschichtlicher Kämpfe, die sich für die philosophische Betrachtung zu einem zweckmäßigen Ganzen zusammenfügen. Die Weltgeschichte wird zur »Darstellung des Geistes«,28 der in ihr sinnhaft wirkt. Auch für Kant haben geschichtsphilosophische Überlegungen einen bedeutenden Stellenwert. Ohne geschichtsphilosophische Per­ spektive wäre politische Ethik gar nicht denkbar. Denn der Erfolg des politischen Ringens um republikanische Freiheit und internationalen Rechtsfrieden stellt sich (wenn überhaupt) nur langfristig ein. Die Frage nach den Folgen des Handelns, die sittlicher Praxis immer in­ härent ist, gewinnt für die Praxis der politischen Ethik deshalb be­ sondere Dramatik. Wenn nur das gemeinsame Bemühen vieler Men­ schen und vieler Generationen zum Erfolg führen kann, dann bleibt ethisch-politisches Engagement des Einzelnen stets dem Verdacht der Sinnlosigkeit ausgesetzt - es sei denn, es gibt eine historische Perspektive, die über das Handeln des Einzelnen hinausgeht. Politi­ sche Ethik führt so aus innerer praktischer Notwendigkeit heraus zur Frage nach dem Sinn der Geschichte im ganzen. 28 Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Werke Band 12 (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1970), S. 31.

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4. Hoffnung auf den Sinn der Geschichte

Diese Frage kann allerdings keine definitive Antwort finden. Geschichtsphilosophische Einsichten haben den Charakter tastender Versuche. Wie die teleologischen Urteile über die Natur stehen auch die Erwägungen über das Telos der Geschichte im Modus des Als-Ob: Wie wir die Natur betrachten können, als ob in ihr ein Künstler ab­ sichtsvoll zu Werke ginge, so ist es uns auch erlaubt, die Geschichte so zu betrachten, als ob sie nach dem Plan einer höheren Weisheit verliefe. In der Sprache der Tradition heißt dies, die Geschichte im Lichte der Vorsehung anzuschauen. Tatsächlich beruft sich Kant ge­ legentlich auf die Vorsehung,29 zeigt generell aber - wie gegenüber dem Begriff der Schöpfung - Zurückhaltung auch gegenüber der theologischen Kategorie der Vorsehung. Lieber spricht er von der »große[n] Künstlerin Natur (natura daedala rerum), aus deren me­ chanischem Laufe sichtbarlich Zweckmäßigkeit hervorleuchtet«.30 Denn der Begriff der Vorsehung führt allzu leicht zu schwärmeri­ scher Vermessenheit: »Der Gebrauch des Wortes Natur ist ... schick­ licher für die Schranken der menschlichen Vernunft ... und beschei­ dener, als der Ausdruck einer für uns erkennbaren Vorsehung, mit dem man sich vermessenerweise ikarische Flügel ansetzt, um dem Geheimniß ihrer unergründlichen Absicht näher zu kommen.«31 Doch auch wenn der Mensch Kants Rat befolgt und den Begriff der Vorsehung durch den bescheideneren Begriff der Natur ersetzt, bleibt zu bedenken, daß er um die »Absichten« der Natur in der Ge­ schichte kein Wissen erwerben kann. Alle diesbezüglichen Überle­ gungen bleiben in der Schwebe. Es geht um Spurensuche, nicht um eigentliche Erkenntnis. Mit Blick auf die Zukunft der Menschheit spricht Kant von »schwachen Spuren der Annäherung« an einen der­ einst vollkommenen Rechtszustand.32 Und wenn er seinen Blick in die Vergangenheit wendet, um über den anderen Pol der Mensch­ heitsgeschichte, ihren »muthmaßlichen Anfang«, nachzudenken, be­ tont er, daß es sich dabei um »eine bloße Lustreise« handelt,33 nicht um Wissenschaft. Sowenig die teleologische Spurensuche nach dem Sinn der Ge­ schichte objektives Wissen ergeben kann, sowenig kann die Ge-

29 30 31 32 33

Vgl. Frieden, AAVIII, S. 361 Fußnote. Frieden, AAVIII, S. 360. (Hervorhebung im Original.) Frieden, AAVIII, S. 362. (Hervorhebungen im Original.) Idee, AAVIII, S.27. Kant, Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (1786), AVIII, S. 109.

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VI. Sinnspuren in Natur und Geschichte

Schichtsphilosophie unmittelbar die sittliche Praxis anleiten. Ge­ schichtsphilosophische Überlegungen haben eine unverzichtbare re­ gulative, aber keine konstitutive Bedeutung für die Praxis.34 Sie können einen Leitfaden für das kritische Nachdenken ergeben und damit auch dem Handeln eine - wenngleich ungewisse - Sinnper­ spektive verleihen. Als Handelnder braucht der Mensch einen Hori­ zont, in dem er sich verorten, den er aber nicht begreifend umfassen kann. Diese Differenz ist von zentraler Bedeutung. An ihr läßt sich der fundamentale Unterschied der Kantischen Geschichtsphilosophie gegenüber dem Hegelianismus (einschließlich seiner prometheischen Umwendung im Marxismus) verdeutlichen, der mit der Auf­ hebung der Ethik in die Geschichtsphilosophie sowohl die prinzipiel­ le Ungeschlossenheit der Geschichte als auch die sittliche Autonomie des Menschen leugnet. Karl Jaspers hat den Gegensatz zwischen Kant und Hegel prägnant zusammengefaßt, wenn er schreibt: »Kant weiß nicht, denkt versuchsweise, hält nicht für unmöglich, hofft. Hegel weiß, denkt endgültig deutend, was wirklich ist, braucht nicht zu hoffen.«35 Wenn Hegel behauptet, »daß die wirkliche Welt ist, wie sie sein soll«,36 setzt er sittliches Sollen und den Prozeß der Geschichte in­ eins - mit der Konsequenz, daß Freiheit und Notwendigkeit identisch werden.37 Für Kant hingegen besteht der Anspruch sittlichen Sollens vorgängig zu geschichtsphilosophischen Erwägungen, gegenüber de­ nen er letztlich zugleich unabhängig bleibt. Die sittliche Qualität des Handelns gründet einzig und allein im guten Willen des Menschen. Gewiß: Da der gute Wille nicht in der Innerlichkeit des Einzelnen bleiben kann (sonst wäre er als »bloßer Wunsch« moralisch belang­ los), sucht er unausbleiblich nach Orientierung in der Welt, d. h. in 34 Dies verkennt Kurt Borries, Kant als Politiker. Zur Staats- und Gesellschaftslehre des Kritizismus (Leipzig: Meiner, 1928), der die Kantische Geschichtsphilosophie als vom »Standpunkt der Vorsehung« her versteht (S. 47) und in Kant deshalb einen Vorbereiter des deutschen Idealismus sieht (S. 49ff.). 35 Karl Jaspers, Kants »Zum ewigen Frieden« (1957), in: Aneignung und Polemik. Ge­ sammelte Reden und Aufsätze zur Geschichte der Philosophie, hg. von Hans Saner (München/Zürich: Piper, 1968), S. 205-232, hier S. 221. 36 Hegel, Philosophie der Geschichte, S. 53. 37 Vgl. Hegel, Philosophie der Geschichte, S. 41: »Jene Frage nimmt auch die Form an, von der Vereinigung der Freiheit und Notwendigkeit, indem wir den inneren, an und für sich seienden Gang des Geistes als das Notwendige betrachten, dagegen das, was im bewußten Willen der Menschen als ihr Interesse erscheint, der Freiheit zuschreiben.« (Hervorhebungen im Original.)

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4. Hoffnung auf den Sinn der Geschichte

Natur und Geschichte. Historische Einschätzungen sind auch für die Bildung sittlicher Maximen relevant, die sich in einem offenen, le­ benslangen Lernprozeß vollzieht.38 Würde man die unverzichtbare orientierende (»regulative«) Bedeutung geschichtsphilosophischer Einsichten jedoch zum Konstitutionsprinzip sittlichen Handelns überziehen, so träte an die Stelle sittlicher Verantwortung eine ver­ meintliche »Einsicht in die Notwendigkeit«, die der sittlichen Auto­ nomie keinen Raum mehr ließe. Gleichsam als Anti-Hegelianer avant la lettre legt Kant deshalb größten Wert darauf, daß Moralphi­ losophie und Geschichtsphilosophie in ihren Geltungsansprüchen unterschieden bleiben.39 »Wenn ich von der Natur sage: sie will, daß dieses oder jenes geschehe, so heißt das nicht soviel als: sie legt uns eine Pflicht auf, es zu thun (denn das kann nur die zwangsfreie prak­ tische Vernunft) ...«.40 Weder darf der Mensch die Verbindlichkeit sittlichen Sollens an die vermeintlich objektiven Tendenzen der Ge­ schichte abgeben, noch kann er umgekehrt die Geschichtsbetrach­ tung in Moralphilosophie auflösen und die Geschichte als ganze gleichsam »moralisieren«. Auch wenn Kants Geschichtsphilosophie wesentlich in prakti­ scher Absicht geschieht, wird sie nicht einfach zum Bestandteil der Moralphilosophie.41 Kant liegt eine moralisierende Geschichts­ betrachtung (die gleichsam die Kehrseite der Reduktion von Moral auf Geschichte wäre) fern. So kann er dem Krieg, der in moralischer Hinsicht der größte Skandal bleibt, in geschichtsphilosophischer Be­ trachtung einen möglichen Sinn abgewinnen. Er äußert den Gedan­ ken, im Krieg zeige sich ein »tief verborgener vielleicht absichtlicher [Versuch] der obersten Weisheit ..., Gesetzmäßigkeit mit der Freiheit der Staaten und dadurch Einheit des moralisch begründeten Systems derselben, wo nicht zu stiften, dennoch vorzubereiten ,..«.42 An an­ derer Stelle gibt Kant zu bedenken, ob nicht die Kriegsgefahr »das 38 Näheres dazu oben, Kap. IV,2. 39 Dies verkennt Yirmiahu Yovel, Kant and the Philosophy of History (Princeton: Princeton University Press, 1980), der Kant generell als Vorläufer der Hegelschen und Marxschen Geschichtsphilosophie ansieht (vgl. z.B. S. 32). 40 Frieden, AAVIII, S. 365. (Hervorhebung im Original.) 41 So mit Recht Klaus Weyand, Kants Geschichtsphilosophie. Ihre Entwicklung und ihr Verhältnis zur Aufklärung. Kantstudien Ergänzungshefte 85 (Köln: Kölner Univer­ sitätsverlag, 1963), S. 37. Anders hingegen Howard Williams, Kant's Political Philoso­ phy (Oxford: Basic Blackwell, 1983), S. 19: »Fundamentally, then, Kant's concept of history is a moral one.« 42 KU, AAV, S. 433.

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VI. Sinnspuren in Natur und Geschichte

einzige, was den Despotismus mäßigt« sei und ob nicht »mit dem Ende aller Kriegsgefahr zugleich das Ende aller Freiheit« eintreten würde.43 Der Krieg »scheint auf die menschliche Natur gepfropft zu sein und sogar als etwas Edles, wozu der Mensch durch den Ehrtrieb, ohne eigennützige Triebfedern beseelt wird, zu gelten«.44 Auch eine gewaltsame Machtergreifung kann in historischer Perspektive sinn­ voll erscheinen. Kant geht nüchtern davon aus, daß die Etablierung eines staatlichen Gewaltmonopols in der politischen Realität nicht durch vertragliche Übereinkunft, sondern durch einen Gewaltakt zu­ standekommt und demnach »auf keinen andern Anfang des recht­ lichen Zustandes zu rechnen [ist], als den durch Gewalt«.45 Schließ­ lich sieht Kant auch in Revolutionen eine historische Chance. Man solle sie »als Ruf der Natur benutzen, eine auf Freiheitsprincipien gegründete gesetzliche Verfassung, als die einzig dauerhafte, durch gründliche Reform zu Stande zu bringen«.46 Solche vorsichtig tastenden Sinnüberlegungen zur Geschichte sind jedoch niemals Rechtfertigungen. Wenn Gott, wie es in der christlichen Tradition heißt, selbst auf krummen Bahnen gerade schreiben kann, so hat der Mensch noch lange kein Recht, krumme Wege einzuschlagen. Und noch viel weniger ist es ihm erlaubt, mit Hegel eine »Rechtfertigung Gottes« in der Geschichte zu unterneh­ men.47 Wer beansprucht, »die Sache Gottes [zu] verfechten,« schreibt Kant in seinem Aufsatz über das Mißlingen aller Versuche in der Theodizee, vertritt zuletzt doch nur »die Sache unserer anmaßenden, hiebei aber ihre Schranken verkennenden Vernunft«.48 Der Stand­ punkt des Menschen ist nicht der der Vorsehung. Daß der gute Aus­ gang einer Sache, »der Gott bonus eventus«49 nachträglich zur Recht­ fertigung von Unrechtstaten herangezogen wird, gehört zu den machiavellistischen »Schlangenwendungen einer unmoralischen Klugheitslehre«,50 die die Politik korrumpieren und den Rechts­ zustand verhindern. Es bleibt deshalb dabei, daß Krieg, gewaltsame 43 Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte, AAVIII, S. 120. 44 Frieden, AAVIII, S.365. 45 Frieden, AAVIII, S. 371. (Hervorhebung im Original.) 46 Frieden, AAVIII, S. 373 Fußnote. 47 Vgl. Hegel, Philosophie der Geschichte, S. 28: »Unsere Betrachtung ist insofern eine Theodizee, eine Rechtfertigung Gottes ...«. 48 Kant, Über das Mißlingen aller Versuche in der Theodicee (1791), AAVIII, S. 255. 49 Frieden, AAVIII, S. 374. 50 Frieden, AAVIII, S.375.

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4. Hoffnung auf den Sinn der Geschichte

Machtergreifung und Revolution kategorisch verboten sind. Unge­ achtet der heuristischen Überlegungen über den möglichen Sinn des Krieges für die Entwicklung der Menschheit gilt, »daß doch die Ver­ nunft vom Throne der höchsten moralisch gesetzgebenden Gewalt herab den Krieg als Rechtsgang schlechterdings verdammt, den Frie­ denszustand dagegen zur unmittelbaren Pflicht macht«.51 Den Krieg als mögliche Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln einzukal­ kulieren, ist deshalb schlechthin verwerflich. Beim Abschluß eines Friedensvertrages den Vorbehalt zu hegen, bei günstiger Gelegenheit wieder loszuschlagen, »gehört zur Jesuitencasuistik und ist unter der Würde der Regenten«.52 Gewaltsame Machtergreifung bleibt als Hochverrrat ein Staatsverbrechen, und ein »Recht auf Revolution« im eigentlichen Sinne kann es nicht geben, ohne die Verbindlichkeit der Rechtsordnung insgesamt zu zerstören.53 Sittliches Handeln läßt sich nicht auf (tatsächliches oder ver­ meintliches) Sinnverstehen der Geschichte reduzieren. Der Mensch, der sich vornimmt, im Wissen um das Ganze der Geschichte sein Handeln zu bestimmen, vergißt die conditio humana - und verfehlt damit zugleich seine sittliche Freiheit, die nur im letzten Nichtwissen zum Tragen kommen kann. Indem er den Standpunkt göttlicher Vor­ sehung (oder ihres atheistischen Äquivalents: der Einsicht in die ob­ jektiven Gesetze der Geschichte) einnimmt, verleugnet er nicht nur seine Endlichkeit, sondern löst er auch die Unbedingtheit des sitt­ lichen Sollens auf. Während nach Hegel die Philosophie zuletzt da­ rauf abzielt, »die Wege der Vorsehung, die Mittel und Erscheinungen in der Geschichte zu erkennen«,54 ist für Kant der Ort des Menschen gerade nicht »der Standpunkt der Vorsehung, der über alle mensch­ liche Weisheit hinausliegt«.55 Die Einheit von Geschichte und Moral, die nur im Lichte göttlicher Vorsehung einsehbar wäre, bleibt dem Menschen verschlossen. Es wäre vermessen, wollte er versuchen, die Geschichte oder Gottes Handeln in der Geschichte moralisch zu »rechtfertigen«. Eher noch hält Kant es mit der Anklage Hiobs gegen Gott als mit der dogmatischen Formelweisheit der Freunde Hiobs, die

51 52 53 54 55

Frieden, AA VIII, S. 356. Frieden, AA VIII, S. 344. Vgl. Frieden, AAVIII, S. 382f. Hegel, Philosophie der Geschichte, S. 26. Streit, AAVII, S. 83. (Hervorhebung im Original.)

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VI. Sinnspuren in Natur und Geschichte

hinter allem Leid das Wirken göttlicher Gerechtigkeit glauben aus­ machen zu können.56 Geschichtsphilosophie bleibt nur dann kritisch, wenn sie die Differenz zwischen Moral und Geschichte wahrt. Die Frage nach dem Sinn der Geschichte, die aus dem Anspruch des sittlichen Sollens selbst erwächst, findet keine definitive Antwort, sondern muß offen bleiben. In solcher Offenheit ist der Mensch aufgerufen, alles zu tun, was in seiner Macht steht, um das Ziel der Geschichte, den allgemei­ nen Rechtsfrieden, zu befördern. Zwischen Ethik und Geschichtsphi­ losophie besteht deshalb durchaus ein innerer Zusammenhang, der aber als indirekter Zusammenhang verstanden werden muß, als heu­ ristischer Brückenschlag, nicht als definitive Synthese. Was letztlich bleibt, ist allein die Hoffnung auf einen Sinn der Geschichte, die in­ des nie zur Gewißheit werden kann und gerade in der Ungewißheit die Verantwortung des Menschen sowohl ermöglicht wie erfordert. Mit den Worten von Jaspers: »Wir können nicht wissen, worauf wir doch hoffen dürfen, wenn wir tun, was wir sollen.«57 Der Mensch, der nach Spuren in der Geschichte sucht, die solche Hoffnung näh­ ren, ist und bleibt ein endliches Wesen, das in der Ungewißheit des Geschichtsverlaufs zugleich für die Zukunft unbedingte Verantwor­ tung trägt. Auch wenn er im Modus es versuchenden Als-Ob gele­ gentlich einen Blick auf das Ganze der Geschichte riskiert, muß ihm bewußt sein, daß die Geschichte für ihn weder als ganze erkennbar noch gar als solche »machbar« ist.

5.

Zur Konfliktnatur des Menschen

In Kants geschichtsphilosophischen Schriften findet sich keine syste­ matische Erörterung der Sinnspuren in der Geschichte. Gleichwohl läßt sich ein Grundmotiv identifizieren, das Kants Anmerkungen zur Geschichte durchzieht, nämlich die Einsicht in die Konfliktnatur des Menschen. Kant spricht von einem unaufhebbaren gesellschaftlichen Antagonismus: »Ich verstehe hier unter dem Antagonism die unge­ sellige Geselligkeit der Menschen, d. i. den Hang derselben in Gesell­ schaft zu treten, der doch mit einem durchgängigen Widerstande, welcher diese Gesellschaft beständig zu trennen droht, verbunden 56 Vgl. Über das Mißlingen aller Versuche in der Theodicee, AAVIII, S. 266f. 57 Jaspers, a.a.O., S. 228.

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5. Zur Konfliktnatur des Menschen

ist.«58 Der Konflikt gründet darin, daß der Mensch beides zugleich ist: ungesellig und gesellig. Er lebt weder in natürlicher Harmonie mit seinen Mitmenschen, noch kann er diesen einfach aus dem Weg gehen und sich mit einem friedlich schiedlichen Nebeneinander iso­ lierter Individuen begnügen. So gerät er in permanenten Konflikt mit sich selbst und seinen Mitmenschen.59 Entscheidend ist, daß Kant die menschliche Konfliktnatur posi­ tiv bewertet. In dieser Hinsicht unterscheidet er sich fundamental von Rousseau, der die gesellschaftliche Existenzweise des Menschen als Entfremdung von der ursprünglichen Harmonie des Naturmen­ schen mit sich selbst und seiner Umwelt denunziert: »der Wilde lebt in sich selbst, der zivilisierte Mensch ist immer sich selbst fern und kann nur im Spiegel der Meinung der anderen leben«.60 Kant hin­ gegen sieht in den gesellschaftlichen Konflikten die Voraussetzung für die Entwicklung des Menschen, und zwar sowohl des Indivi­ duums wie der Gattung: »Der Mensch will Eintracht; aber die Natur weiß besser, was für seine Gattung gut ist: sie will Zwietracht.«61 Und während Rousseau in seiner politischen Philosophie die Vision einer neuen Harmonie entwirft, in der Entfremdung und Konflikt ein für allemal beseitigt sein sollen,62 will Kant die gesellschaftlichen Ant­ agonismen nicht etwa überwinden, sondern kultivieren. Nicht das Ende der Konflikte, sondern die Bändigung der mit den Konflikten oft einhergehenden Gewalt ist das Ziel seiner politischen Philo­ sophie. Konflikte reißen den Menschen aus seiner Ruhe und Selbst­ zufriedenheit und werden so zum Motor zivilisatorischer Entwick­ lung: »Dieser Widerstand [nämlich der Menschen gegeneinander, H. B.] ist es nun, welcher alle Kräfte des Menschen erweckt, ihn da­ 58 Idee, AAVIII, S. 20. (Hervorhebung im Original.) 59 Vgl. Idee, AAVIII, S. 20f.: »Der Mensch hat eine Neigung sich zu vergesellschaften: weil er in einem solchen Zustande sich mehr als Mensch, d.i. die Entwickelung seiner Naturanlagen, fühlt. Er hat aber auch einen großen Hang sich zu vereinzeln (isoliren): weil er in sich zugleich die ungesellige Eigenschaft antrifft, alles bloß nach seinem Sinne richten zu wollen, und daher allerwärts Widerstand erwartet, so wie er von sich weiß, daß er seinerseits zum Widerstande gegen andere geneigt ist.« (Hervorhebungen im Original.) 60 Jean-Jacques Rousseau, Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Un­ gleichheit unter den Menschen (französisch-deutsche Ausgabe von Kurt Weigand, 2. Aufl. Hamburg: Meiner, 1971), S. 265. 61 Idee, AAVIII, S.21. 62 Vgl. Maximilian Forschner, Rousseau (Freiburg i.Br./München: Alber, 1977).

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VI. Sinnspuren in Natur und Geschichte

hin bringt, seinen Hang zur Faulheit zu überwinden und, getrieben durch Ehrsucht, Herrschsucht oder Habsucht, sich einen Rang unter seinen Mitgenossen zu verschaffen, die er nicht wohl leiden, von denen er aber auch nicht lassen kann. Da geschehen nun die ersten wahren Schritte aus der Rohigkeit zur Cultur ...«.63 Es bleibt dabei, daß Ehrsucht, Herrschsucht und Habsucht moralisch zumindest pro­ blematische Neigungen darstellen. Sie schlagen allzu leicht in Neid, Mißgunst und Schadenfreude um, in jene »Laster der Cultur« also, die Kant im Unterschied zu den bloß animalischen Lastern der Völle­ rei und Wollust auch »teuflische Laster« nennt.64 Der Mensch weiß sich moralisch dazu aufgerufen, diese unmoralischen Neigungen im­ mer wieder aufs neue zu bekämpfen. Und doch ist ihm der Gedanke erlaubt, daß der gesellschaftliche Antagonismus einer »Absicht« der Natur dienen könnte. Denn ohne den Stachel des Konflikts, aus dem fast unvermeidlich jene unsympathischen Charakterzüge hervor­ gehen, fehlte dem Menschen jeder Anreiz zur Ausbildung der in ihm schlummernden Fähigkeiten.65 Kant geht deshalb soweit, die Natur regelrecht dafür zu preisen, daß sie die Menschen zum bestän­ digen Wettkampf gegeneinander treibt: »Dank sei also der Natur für die Unvertragsamkeit, für die mißgünstig wetteifernde Eitelkeit, für die nicht zu befriedigende Begierde zum Haben oder auch zum Herr­ schen!«66 Der gesellschaftliche Antagonismus, der einerseits als Motor zi­ vilisatorischer Entwicklung dient, stellt andererseits zugleich dessen größte Bedrohung dar. Er kann nämlich zum allseitigen Vernich­ tungskampf eskalieren, in dem die Früchte des Fortschritts zerstört werden würden. Der Mensch sieht sich deshalb dazu genötigt, die Konflikthaftigkeit des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu bändi­ gen. Der Antagonismus treibt gleichsam aus seiner inneren Dynamik heraus zur Suche nach einem Frieden, der gleichwohl nicht das Ende 63 Idee, AAV111, S. 21. (Hervorhebungen im Original.) 64 Vgl. Religion, AAV1, S. 27. 65 Vgl. Idee, AA V111, S. 21: »Ohne jene an sich zwar eben nicht liebenswürdige Eigen­ schaften der Ungeselligkeit, woraus der Widerstand entspringt, den jeder bei seinen selbstsüchtigen Anmaßungen nothwendig antreffen muß, würden in einem arkadischen Schäferleben bei vollkommener Eintracht, Genügsamkeit und Wechselliebe alle Talente auf ewig in ihren Keimen verborgen bleiben: die Menschen, gutartig wie die Schafe, die sie weiden, würden ihrem Dasein kaum einen größeren Werth verschaffen, als dieses ihr Hausvieh hat; sie würden das Leere der Schöpfung in Ansehung ihres Zwecks, als vernünftige Natur, nicht ausfüllen.« 66 1dee, AAV111, S. 21.

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5. Zur Konfliktnatur des Menschen

der Kämpfe, sondern ihre Disziplinierung durch den Rechtsstaat be­ deutet: »Alle Cultur und Kunst, welche die Menschheit ziert, die schönste gesellschaftliche Ordnung sind Früchte der Ungeselligkeit, die durch sich selbst genöthigt wird sich zu discipliniren und so durch abgedrungene Kunst die Keime der Natur vollständig zu entwikkeln.«67 Die ungesellige Geselligkeit des Menschen zeigt sich nicht nur im Antagonismus der Individuen, sondern auch in der internationa­ len Politik. Es gibt auch einen unvermeidlichen Antagonismus der Völker und Nationen, und zwar aufgrund der »Verschiedenheit der Sprachen und der Religionen«, die Mißtrauen und Haß nähren kann und vielfach gar den »Vorwand zum Kriege bei sich führt«.68 Wie Kant die Zwietracht zwischen den Individuen als Chance mensch­ licher Entwicklung begreift, so sieht er auch im Kampf der Völker gleichsam eine Absicht der Natur am Werke. Denn die Konflikthaftigkeit internationaler Politik verhindert eine »Universalmonarchie«, die nichts anderes als ein »seelenloser Despotism« wäre.69 Selbst der Kriegszustand mit allen seinen Greueln wäre immer noch besser als die Friedhofsruhe in einer Weltmonarchie. Indem die Ungeselligkeit der Völker die despotische Universalmonarchie unmöglich macht, wird sie zur Voraussetzung (allerdings noch nicht zur hinreichenden Voraussetzung) politischer Freiheit. Während die Verschiedenheit der Sprachen und Religionen die Völker trennt, treibt der »Handels­ geist« sie zum Verkehr miteinander.70 Die ökonomischen Interessen sorgen für eine stetige Entwicklung der Verkehrs- und Kommunika­ tionsmöglichkeiten, die schließlich den gesamten Erdball umgreifen. Schon zu Kants Zeiten ist die ökonomische Globalisierung Realität. Die rechtliche Regelung des Miteinander in der globalen Perspektive eines »ius cosmopoliticum« wird daher zur einer von der geschicht­ lichen Realität selbst gestellten Herausforderung.71 67 Idee, AA VIII, S. 22. 68 Frieden, AAVIII, S. 367. (Hervorhebungen im Original.) 69 Frieden, AA VIII, S. 367. 70 Frieden, AA VIII, S.368. 71 Vgl. Frieden, AAVIII, S. 360: »Da es nun mit der unter den Völkern der Erde einmal durchgängig überhand genommenen (engeren oder weiteren) Gemeinschaft so weit ge­ kommen ist, daß die Rechtsverletzung an einem Platz der Erde an allen gefühlt wird: so ist die Idee eines Weltbürgerrechts keine phantastische und überspannte Vorstellungsart des Rechts, sondern eine nothwendige Ergänzung des ungeschriebenen Codex sowohl des Staats- als Völkerrechts zum öffentlichen Menschenrechte überhaupt ...«. (Hervor­ hebungen im Original.)

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In der Spannung zwischen Zwietracht der Völker und dem ten­ denziell weltumspannenden Handelsgeist hleiht internationale Poli­ tik beweglich. Diese Spannung muß erhalten werden, damit Politik nicht in den seelenlosen Despotismus der Weltmonarchie kollabiert oder sich in kriegerischer Gewalt aufreibt. Auch in der internationa­ len Arena kann es nicht darum gehen, die Konflikthaftigkeit einfach abzuschaffen; vielmehr geht es darum, sie zu disziplinieren und zu kultivieren. Dadurch, daß die »Künstlerin Natur« die ungesellige Ge­ selligkeit in die Natur des Menschen gelegt hat, schafft sie die Vor­ aussetzungen dafür, daß dieses Ziel zumindest möglich wird. Es liegt nahe, in dieser Figur der von der Natur selbst vorange­ triebenen Entwicklung zum Rechtsfrieden einen Vorschein der Hegelschen »List der Vernunft« zu sehen, die »die Leidenschaften für sich wirken läßt«,72 um die Menschheit aus dem Stadium ursprüngli­ cher harmonischer Unmittelbarkeit über die Entzweiung in das Sta­ dium des Rechtsstaates zu führen, in dem »die Einheit des allgemei­ nen, wesentlichen Wollens und des subjektiven [Wollens]«73 erreicht ist. Doch bleibt der Unterschied fundamental.74 Wenn Kant in seiner Friedensschrift von der »Garantie des ewigen Friedens« spricht,75 die die Naturordnung selbst gibt, so ist dies der literarischen Komposi­ tion seiner Darstellung geschuldet, die sich an die Form eines zeit­ genössischen Friedensvertrags anlehnt. Neben Präliminarartikeln, Definitivartikeln, Zusätzen und geheimen Ergänzungen bedarf der Friedensvertrag auch einer »Garantie«, von der allerdings allein die Zukunft zeigt, was sie wirklich wert ist. Die »Garantie« des ewigen Friedens erhebt, anders als im System des Hegelianismus, keinen Anspruch auf erkannte Gewißheit, sondern bleibt ein heuristisches Prinzip der reflektierenden Urteilskraft. Die Weltgeschichte ist gera­ de nicht ein »Fortschritt, den wir in seiner Notwendigkeit zu erken­ nen haben«.76 »Kants Gedanken«, schreibt Hans Saner dazu, »sind 72 Hegel, Philosophie der Geschichte, S. 49. 73 Hegel, Philosophie der Geschichte, S. 56. 74 Vgl. Pierre Laberge, Von der Garantie des ewigen Friedens, in: Otfried Höffe (Hg.), Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden (Berlin: Akademie Verlag, 1995), S. 149-170, hier S. 161: »So läßt sich bei Kant der - freilich nicht wörtlich so formulierte - Gedanke einer List der Vernunft erklären, der Hegelschen List der Vernunft vergleichbar, aber natürlich mit dem feinen Unterschied, daß die erste nur der reflektierenden Urteilskraft als Leitfaden dient.« 75 Frieden, AAVIII, S. 360. 76 So Hegel, Philosophie der Geschichte, S. 32.

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6. Etappen im Kampf um den Rechtsfrieden

nicht dialektische Gänge zu einem absoluten Wissen, das das Sein seihst ist, sondern Entwürfe der reflektierenden Urteilskraft, die sich grundsätzlich nie im Wissen verfestigen können. Man lernt an ihnen verstehen, nicht um zu wissen, sondern um nach dem Verstandenen, auf die Gefahr hin, daß es falsch sei, sein Tun auszurichten.«77 Die Aufgabe, für den Rechtsfrieden einzutreten, kann der Mensch nicht an die Geschichte ahgehen. Sie hleiht unhedingt und ungeteilt. Und doch kann der Mensch im Blick auf die Möglichkeit, daß in der Geschichte selbst Tendenzen wirksam sein könnten, die seinen Bemühungen entgegenkommen, die Hoffnung nähren, daß er nicht einem bloßen Trugbild aufsitzt. Nur um diese Möglichkeit, für die es in der Welt zumindest Anhaltspunkte und Spuren gibt, geht es in Kants »Garantie« des ewigen Friedens. Diese hat nicht den Charakter einer Prophezeiung, sondern bleibt im Modus des be­ wußten Als-Ob: »Auf die Art garantirt die Natur durch den Mechanism der menschlichen Neigungen selbst den ewigen Frieden; freilich mit einer Sicherheit, die nicht hinreichend ist, die Zukunft desselben (theoretisch) zu weissagen, aber doch in praktischer Absicht zulangt und es zur Pflicht macht, zu diesem (nicht bloß schimärischen) Zwecke hinzuarbeiten.«78

6.

Etappen im Kampf um den Rechtsfrieden

Wenn die Geschichte Anhaltspunkte dafür gibt, daß der Rechtsfriede möglich ist, bleibt zu fragen, auf welche Weise sich der Mensch für die Verwirklichung dieses Zieles einsetzen kann. Wie kann der ge­ sellschaftliche Antagonismus in einen friedlichen Streit ums Recht verwandelt werden? Kants Antwort ist verblüffend einfach: Wir können nur dann um das Recht streiten, wenn annehmen, daß wir uns schon im Medium des Rechts befinden. Recht kann nicht aus dem Nichts heraus entstehen, sondern kann sich nur unter der Vor­ aussetzung entwickeln, daß die Menschen rechtliche Verhältnisse als bereits bestehend unterstellen. Gewiß: Das Recht ist keine naturale Größe, die dem Menschen inhaltlich vorgegeben wäre, sondern ist ihm zur aktiven Ausgestaltung aufgegeben. »Der Friedenszustand 77 Hans Saner, Kants Weg vom Krieg zum Frieden. Bd. I: Widerstreit und Einheit. Wege zu Kants politischem Denken (München: Piper, 1967), S. 56. 78 Frieden, AAVIII, S. 368. (Hervorhebungen im Original.)

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VI. Sinnspuren in Natur und Geschichte

unter Menschen«, schreibt Kant, »ist kein Naturzustand«. »Er muß also gestiftet werden«.79 Der Mensch trägt umfassende Verantwor­ tung für die Konstitution einer Rechtsordnung, sowohl für ihre in­ haltliche Gestalt als auch für ihre wirksame Durchsetzung. Und den­ noch ist die Konstitution des Rechts keine creatio ex nihilo: Sie kann nur gelingen unter der Voraussetzung, daß es rechtliche Verbindlich­ keit - in wie auch immer vorläufiger Gestalt - bereits gibt, so daß die Menschen das provisorische Recht weiterentwickeln können, und zwar im Blick auf das Ziel einer öffentlichen Rechtsordnung all­ gemeiner und gleicher Freiheit. Die historische Aufgabe der Rechtsentwicklung kennt keine Stunde Null. Sie vollzieht sich ohne absoluten Anfang und findet, solange menschliche Geschichte dauert, auch kein Ende. Es gibt eine Kontinuität der Rechtsentwicklung durch alle historischen Um­ brüche und Revolutionen hinweg. Dies heißt nicht, daß die Geschich­ te keine entscheidenden Zäsuren kennt. Die Entstehung des Staates, der den anarchischen Naturzustand überwinden kann, und der Durchbruch zur freien Republik, die den Obrigkeitsstaat ablöst, mar­ kieren fundamentale Umbrüche auf dem Weg zum internationalen Rechtsfrieden. Doch auch solche epochalen Ereignisse finden inner­ halb der Geschichte der Rechtsrealisierung statt; sie bilden nicht ihren absoluten Beginn oder ihr definitives Ende. a)

Vom Naturzustand zum Staat

Man hat Kant gelegentlich den Vorwurf gemacht, wie Hobbes von einer voluntaristischen Position heraus rechtliche Verbindlichkeit ex nihilo erzeugen zu wollen - was zuletzt in das Dilemma von Anar­ chismus oder Despotismus führt.80 Tatsächlich aber ist die Kantische Rechtslehre vom Hobbesschen Voluntarismus zutiefst verschieden. Denn im Gegensatz zu Hobbes, für den rechtliche Verbindlichkeit überhaupt erst mit der Staatsgründung entsteht,81 unterstellt Kant, 79 Frieden, AAV111, S. 348f. (Hervorhebung im Original.) 80 Eine durchgängig »Hobbesianische« Interpretation der Kantischen Rechtsphilosophie findet sich z. B. bei Hans-Georg Deggau, Die Aporien der Rechtslehre Kants (Stuttgart­ Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 1983). 81 Vgl. Thomas Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bügerlichen Staates. Ausgabe von Iring Fetscher (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1984), Kap. 1,15, S. 110f.: »So liegt also das Wesen der Gerechtigkeit im Einhalten gültiger Verträge. Aber die Gültigkeit von Verträgen beginnt erst mit der Errichtung einer

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6. Etappen im Kampf um den Rechtsfrieden

daß bereits im (fiktiven) vorstaatlichen »Naturzustand« Rechtsbezie­ hungen zwischen den Menschen herrschen.*82 Wie immer anarchisch die Verhältnisse zwischen Menschen sein mögen, sie sind nicht frei von Elementen rechtlicher Verbindlichkeit. Auch der Kampf der Menschen untereinander, den Kant nicht weniger deutlich als Hobbes als einen potentiellen »bellum omnium contra omnes« be­ schreibt,83 ist nicht wie bei Hobbes ein Kampf ums bloße Überleben, sondern immer zugleich und vornehmlich ein Kampf ums Recht. Der Kampf ums Recht kann aber nur im Recht durchgeführt werden, also aufgrund der Unterstellung, daß rechtliche Verbindlichkeiten in wie immer ungeklärter und ungesicherter Weise schon bestehen. Der defizitäre Charakter des Naturzustandes liegt nach Kant nicht darin, daß gar kein Recht existiert, sondern darin, daß es sich um einen Zustand bloß privaten Rechts handelt, das keinerlei öffent­ lich-rechtliche Bestimmung und Sanktion für sich hat. Es handelt sich zwar um einen vorstaatlichen, nicht aber um einen vorrecht­ lichen Zustand. Menschen machen privatrechtliche Ansprüche - Ei­ gentum, Verträge, familiäre Bindungen - geltend, für deren Durch­ setzung sie unter Umständen Gewalt bzw. Gewaltdrohung einsetzen. Sofern sie solche Ansprüche als Rechtsansprüche erheben, müssen sie freilich - zumindest implizit - dem allgemeinen Rechtsprinzip wechselseitiger gleicher Freiheit Respekt erweisen, das auch im Na­ turzustand bereits gültig ist: »Wenn ich (wörtlich oder durch die That) erkläre: ich will, daß etwas Äußeres das Meine sein solle, so erkläre ich jeden Anderen für verbindlich, sich des Gegenstandes meiner Willkür zu enthalten: eine Verbindlichkeit, die niemand ohne diesen meinen rechtlichen Act haben würde. In dieser Anmaßung bürgerlichen Gewalt, die dazu ausreicht, die Menschen zu ihrer Einhaltung zu zwin­ gen ...«. 82 Vgl. Wolfgang Kersting, Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie. Mit einer Einleitung zur Taschenbuchausgabe 1993: Kant und die politische Philosophie der Gegenwart (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1993), S. 325 ff.; Bernd Ludwig, Kants Verabschiedung der Vertragstheorie - Konsequenzen für eine Theorie sozialer Gerechtigkeit, in: Jahrbuch für Recht und Ethik/ Annual Review of Law and Ethics, Bd. 1 (1993), S. 221-254, bes. S. 228ff. 83 Vgl. MS, AAVI, S. 307: »Niemand ist verbunden, sich des Eingriffs in den Besitz des Anderen zu enthalten, wenn dieser ihm nicht gleichmäßig auch Sicherheit giebt, er werde eben dieselbe Enthaltsamkeit gegen ihn beobachten. Er darf also nicht abwarten, bis er etwa durch eine traurige Erfahrung von der entgegengesetzten Gesinnung des letzteren belehrt wird; (...) er ist zu einem Zwange gegen den befugt, der ihm schon seiner Natur nach damit droht.«

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aber liegt zugleich das Bekenntniß: jedem Anderen in Ansehung des äußeren Seinen wechselseitig zu einer gleichmäßigen Enthaltung verbunden zu sein; denn die Verbindlichkeit geht hier aus einer all­ gemeinen Regel des äußeren rechtlichen Verhältnisses hervor.«84 Mit der impliziten Anerkennung privatrechtlicher Verhältnisse geht eine implizite Rechtsbindung auch der im Naturzustand einge­ setzten Gewalt einher, die gleichsam den Charakter einer Privatjustiz hat. Solche Gewalt ist provisorisch »erlaubt«85 - nicht eigentlich le­ gitim! - nur als Vorwegnahme eines öffentlichen Rechtszwangs, der auch in der Struktur der naturzustandlichen Privatjustiz schon anti­ zipiert werden soll. Die gewaltsame Durchsetzung privater Rechts­ ansprüche kann daher nur »erlaubt« sein, wenn sie zugleich auf die Errichtung eines öffentlich-rechtlichen Zustands zielt. Mit anderen Worten: Selbst im potentiellen Krieg aller gegen alle sollen die betei­ ligten Akteure einander als künftige Bürger begegnen und den Kampf um das eigene Recht zugleich als Kampf um das allgemeine Recht, d. h. um einen öffentlichen Rechtszustand überhaupt führen: »Wenn es rechtlich möglich sein muß, einen äußeren Gegenstand als das Seine zu haben: so muß es auch dem Subject erlaubt sein, jeden Anderen, mit dem es zum Streit des Mein und Dein über ein solches Object kommt, zu nöthigen, mit ihm zusammen in eine bürgerliche Verfassung zu treten.«86 Die Differenz zwischen Naturzustand und bürgerlichem Zu­ stand besteht also nicht etwa darin, daß der erste ein Zustand schierer Rechtlosigkeit wäre, zu dessen Überbindung im bürgerlichen Zu­ stand ein Recht gleichsam ex nihilo geschaffen werden müßte, wie dies bei Hobbes gedacht ist. Vielmehr liegt die Differenz nach Kant darin, daß die Struktur des Rechts überhaupt im bloßen Privatrecht des Naturzustandes lediglich implizit vorweggenommen, nicht aber explizit institutionalisiert ist. Letzteres ist erst im öffentlichen Rechtszustand möglich, auf dessen Bewirkung deshalb die Privat­ justiz des Naturzustands abzielen muß. Der (fiktive) chronologische Vorrang des privaten vor dem öffentlichen Recht darf folglich nicht als normativer Primat mißverstanden werden. Der Staat ist keines­

84 MS, AA VI, S. 255. 85 Vgl. Reinhard Brandt, Das Erlaubnisgesetz, oder: Vernunft und Geschichte in Kants Rechtslehre, in: ders. (Hg.), Rechtsphilosophie derAufklärung. SymposiumWolfenbüt­ tel 1981 (Berlin/New York: de Gruyter, 1982), S. 233-285. 86 MS, AAVI, S. 256. (Hervorhebung im Original.)

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wegs bloß »eine Institution zweiter Ordnung, die den Institutionen erster Ordnung, namentlich dem Eigentum an Sachen, dem Ver­ tragswesen sowie der Ehe und Familie, dient«,87 wie dies für die früh­ liberale Staatsphilosophie Lockes gilt. Das Gegenteil ist der Fall. Denn privatrechtliche Ansprüche können im Naturzustand nur des­ halb als provisorisch geltend anerkannt werden, weil sie die Struktur von Recht überhaupt antizipieren - eine Struktur, die erst im öffent­ lichen Recht als solche transparent wird. Kant unterscheidet sich von Locke und anderen frühbürgerlichen Vertretern eines »Besitzindivi­ dualismus«88 markant dadurch, daß er den Menschen bereits im Na­ turzustand abverlangt, einander als 'potentielle Bürger zu begegnen und den Kampf gegeneinander auf Bedingungen einzuschränken, die einen künftigen öffentlichen Rechtszustand zumindest nicht von vornherein verbauen.89 Der Übergang zwischen Naturzustand und bürgerlichem Zu­ stand ist systematisch gesehen nichts anderes als die öffentliche »Ex­ plikation« der im bloßen Privatrecht nur implizierten gegenseitigen Anerkennungsstruktur, wie sie dem Recht überhaupt zugrunde liegt. Diese »Explikation« zu leisten und auf einen Zustand öffentlichen Rechtsfriedens hinzuwirken, erweist sich somit als eine mit jedem Geltendmachen privater Rechtsansprüche immer schon verbundene rechtliche Pflicht. Der den öffentlichen Rechtszustand begründende Gesellschaftsvertrag (»pactum unionis civilis«) ist folglich kein übli­ cher Vertrag (»pactum sociale«), sondern ein Vertrag, dessen Materie selbst Pflicht ist, wie Kant im »Gemeinspruch« betont,90 und zwar näherhin bereits eine Rechtspflicht. Nur weil die Menschen auch im Naturzustand schon im Medium des Rechts miteinander kämpfen, indem sie (privat)rechtliche Ansprüche gegeneinander geltend ma­ chen, ist der Übergang zum öffentlichen Rechtszustand systematisch gesehen überhaupt möglich: »Wollte man vor Eintretung in den 87 So aber Otfried Höffe, Immanuel Kant (München: Beck, 1983), S. 225. 88 Vgl. zu diesem, vor allem im Blick auf Hobbes und Locke verwendeten Begriff, C. B. Macpherson, Die politische Theorie des Besitzindividualismus. Von Hobbes bis Locke (deutsch Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1973). 89 Auch im anarchischen Kampf der Individuen gegeneinander gelten analog jene Bin­ dungen, die Kant in den Präliminarartikeln zum ewigen Frieden für den »Natur­ zustand« zwischen Staaten formuliert hat: z.B. das Verbot von List und Betrug sowie den Ausschluß solcher Gewaltformen, die jedes Vertrauen auf einen künftigen Rechts­ frieden von vornherein unmöglich machen. Vgl. Frieden, AAVIII, S. 346f. 90 Vgl. Gemeinspruch, AAVIII, S. 289.

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bürgerlichen Zustand gar keine Erwerbung, auch nicht einmal pro­ visorisch für rechtlich erkennen, so würde jener selbst unmöglich sein. Denn der Form nach enthalten die Gesetze über das Mein und Dein im Naturzustande ebendasselbe, was die im bürgerlichen vor­ schreiben, so fern dieser bloß nach reinen Vernunftbegriffen gedacht wird (...). - Es würde also, wenn es im Naturzustande auch nicht provisorisch ein äußeres Mein und Dein gäbe, auch keine Rechts­ pflichten in Ansehung desselben, mithin auch kein Gebot geben, aus jenem Zustande herauszugehen.«91 Obwohl Kant schon für den Naturzustand Rechtsverhältnisse unterstellt, bestreitet er die prinzipielle Differenz zum Zustand öffentlichen Rechts keineswegs. Zwischen Naturzustand und Rechts­ zustand bleibt eine Kluft, die selbst mit bestem Willen aller Beteilig­ ten nicht einfach überbrückt werden kann. Das Dilemma ist dies: Wie können die Menschen als Voraussetzung für die Gründung eines öffentlichen Rechtszustandes der vorstaatlichen Privatjustiz entsa­ gen, bevor die öffentlich-rechtlichen Institutionen, von denen sie sich Rechtssicherheit versprechen, in Kraft sind? Dieser Zirkel ist, wie Kant zugibt, praktisch unauflöslich. Der Übergang zwischen Natur­ zustand und bürgerlichem Zustand, auf den hinzuwirken allgemeine Rechtspflicht ist, bedarf daher einer zusätzlichen Ursache, die außer­ halb menschlichen Wollens liegt. Diese zusätzliche Ursache ist eine historisch kontingente Zwangsgewalt - Eroberung oder Unterwer­ fung -, wie sie jeder Staatlichkeit faktisch zugrundeliegt. Während die Idee des Gesellschaftsvertrages den normativen Ursprung des Staates bezeichnet, geht Kant davon aus, daß dessen historischer Ur­ sprung in einem Gewaltakt liegt: »so ist in der Ausführung jener Idee (in der Praxis) auf keinen andern Anfang des rechtlichen Zustandes zu rechnen, als den durch Gewalt, auf deren Zwang nachher das öffentliche Recht gegründet wird .. ,«.92 Es gehört zur Kontingenz menschlicher Politik, daß ein gleich­ sam reiner, von Schuld und Unrecht freier Beginn des öffentlichen Rechts nicht einmal widerspruchslos gedacht, geschweige denn ver­ wirklicht werden kann. Der »Geschichtsurkunde« einer Rechtsver­ fassung nachzuspüren, schreibt Kant deshalb, ist »vergeblich«.93 Und eine solche Nachforschung mit dem Ziel zu betreiben, den 91 MS AAVI, S. 312f. (Hervorhebung im Original.) 92 Frieden, AAVIII, S. 371. (Hervorhebungen im Original.) 93 MS, AAVI, S. 339.

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Rechtszustand revolutionär ahzuändern, so legt er nach, wäre sogar sträflich.94 95 Der Mensch »soll nicht über diesen Ursprung, als ein noch in Ansehung des ihr schuldigen Gehorsams zu bezweifelndes Recht (ius controversum) werkthätig vernünfteln.«95 Das historische Un­ recht der Gewalt zum praktisch-politischen Problem zu erheben hie­ ße im Grunde, dem Projekt einer Identität von Moral und Geschichte nachzuhängen. Dieses Projekt aber wäre ein Ausdruck prometheischer Vermessenheit, die im Ergebnis jedes Recht zerstören muß. Die »Rechtfertigung« der Geschichte übersteigt die Möglichkeiten des Menschen prinzipiell. Er kann die Geschichte nicht als ganze ver­ antworten, sondern nur in der Geschichte handeln und die An­ knüpfungspunkte, die das Recht in seiner geschichtlichen Gewordenheit bei aller Kontingenz dennoch bietet, zur Entwicklung eines freiheitlichen Rechtsfriedens nutzen.96 b)

Vom Obrigkeitsstaat zur freien Republik

Wenn die Entstehung des bürgerlichen Zustandes in solcher Weise durch Gewalt - und d. h. durch Unrecht - bedingt ist, so bedeutet dies, daß der Kampf ums Recht im Staat keineswegs zum Abschluß gekommen ist, sondern weitergehen muß. Er verändert jedoch seinen Charakter. Während im Naturzustand der Einsatz von Gewalt im Kampf ums Recht unter bestimmten Bedingungen jedermann pro­ visorisch »erlaubt« (nicht eigentlich legitim!) ist, hat im bürgerlichen Zustand die Regierung das Monopol legitimer Gewaltausübung inne. Ihr sind die Bürger zum Rechtsgehorsam verpflichtet. Weil die Legi­ 94 Vgl. MSAAVI, S.339f. 95 MS, AAVI, S. 318. (Hervorhebungen im Original.) 96 Wie aktuell diese Einsicht Kants ist, zeigt ein Blick auf die politischen Auseinander­ setzungen in der Türkei. Während ideologische Kemalisten den Gründungsakt der türkischen Republik als moralische Notwendigkeit »rechtfertigen«, verweisen ideologi­ sche Anti-Kemalisten auf das mit der Staatsgründung einhergegangene Ausmaß an Gewalt, um damit zugleich die Legitimität der staatlichen Rechtsordnung überhaupt in Frage zu stellen; damit postulieren aber auch sie im Grunde die »Rechtfertigung« eines staatlichen Gründungsaktes, d. h. die Einheit von Geschichte und Moral. Beide gegneri­ schen Parteien stimmen - von konträren Voraussetzungen her - darin überein, daß sie einen gleichsam »reinen« Ursprung des Staates propagieren, die die eine Seite als histo­ rische Realität behauptet, die andere bestreitet. Damit aber machen sie eine kritische Loyalität gegenüber dem staatlichen Recht unmöglich und blockieren die Weiterent­ wicklung des türkischen Staates zu einer freiheitlichen Demokratie. Diesen Gedanken verdanke ich Gesprächen mit Levent Tezcan.

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timität staatlicher Herrschaft allerdings davon ahhängt, daß die Re­ gierung die ihr unverfüghare Rechtsidee repräsentativ verwirklicht, hleiht der dem Staat geschuldete Rechtsgehorsam ein kritischer. Er gilt nicht eigentlich der Person des Herrschers, sondern der durch ihn repräsentierten Rechtsidee, an der die faktische Herrschaft stets gemessen werden muß. Rechtsgehorsam ist keine Staatsfrömmig­ keit, sondern impliziert kritische Distanz gegenüber der real existie­ renden staatlichen Herrschaft. Die »Freiheit der Feder« ist deshalb, wie Kant betont, ein unveräußerliches Recht - ja, mehr noch eigent­ lich eine Pflicht - jedes Bürgers. »Denn diese Freiheit ihm [nämlich dem Volk, H. B.] auch absprechen zu wollen, ist nicht allein so viel, als ihm allen Anspruch auf Recht in Ansehung des obersten Befehls­ habers (nach Hobbes) nehmen, sondern auch dem letzteren, dessen Wille bloß dadurch, daß er den allgemeinen Volkswillen repräsentirt, Unterthanen als Bürgern Befehle giebt, alle Kenntniß von dem ent­ ziehen, was, wenn er es wüßte, er selbst abändern würde, und ihn mit sich selbst in Widerspruch setzen.«97 Wie die Privatjustiz im Naturzustand nur dann provisorisch »er­ laubt« ist, wenn sie einen öffentlich-rechtlichen Zustand aktiv anti­ zipiert, so gilt analog, daß auch politische Herrschaft nur dadurch legitim sein kann, daß sie die Struktur einer freien und gewaltenteiligen Republik gleichsam antizipiert und aktiv fördert. Auch falls die Verfassung des Staates noch nicht eigentlich republikanisch ist, soll doch die Regierungsart bereits die Idee des Republikanismus erken­ nen lassen, wie dies zumindest rhetorisch durch Friedrich II. gesche­ hen ist, der »wenigstens sagte: er sei bloß der oberste Diener des Staats«.98 Auf Seiten der Bürger bedeutet dies, daß sie die Dienst­ funktion politischer Herrschaft zugunsten der Rechtsidee - unter Umständen kontrafaktisch - unterstellen sollen, um am Maßstabe solcher Unterstellung die reale Politik zu kritisieren. Kant leistet die­ se Kritik einmal mehr in Form einer ironischen captatio benevolentiae, indem er die herrscherlichen Hoheitstitel seiner Zeit zum Schein verteidigt. Die Bezeichnung des Herrschers als »eines Ver­ wesers des göttlichen Willens auf Erden und Stellvertreters dessel­ ben« seien alles andere als hochfahrende Schmeicheleien; sie müßten den Herrscher »vielmehr in seiner Seele demüthigen, wenn er Ver­

97 Gemeinspruch, AAVIII, S. 304. 98 Frieden, AAVIII, S. 352. (Hervorhebung im Original.)

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stand hat (welches man doch voraussetzen muß) und es hedenkt, daß er ein Amt ühernommen hahe, was für einen Menschen zu groß ist, nämlich das Heiligste, was Gott auf Erden hat, das Recht der Men­ schen, zu verwalten, und diesem Augapfel Gottes irgend worin zu nahe getreten zu sein jederzeit in Besorgniß stehen muß«." Die stetige Annäherung an die Idee der Repuhlik kann nur auf dem Wege der Reform, nicht aher durch Revolution geschehen. Kants amhivalente Stellung zur Französischen Revolution liegt darin hegründet, daß er ein »Recht auf Revolution« im strengen Wortsinne für unmöglich erklärt.99 100 Denn der Versuch revolutionärer »Schöp­ fung« eines repuhlikanischen Rechtszustandes setzt voraus, daß die Menschen üher das Recht frei verfügen könnten, daß sie es von einem archimedischen Punkt außerhalb der Geschichte kreieren könnten.101 Demgegenüher hetont Kant, daß die Menschen keinen »reinen Tisch machen« und die Geschichte der Rechtsverwirklichung von vorn heginnen können, ohne durch solche Anmaßung die Rechtsgeltung üherhaupt voluntaristisch zu zerstören. Die förmliche Hinrichtung Ludwigs XVI., des vormaligen Repräsentanten des Staa­ tes, gilt Kant daher als Ausdruck »der gänzlichen Umkehrung aller Rechtshegriffe«.102 Im Gegensatz zur Anmaßung einer souveränen Schöpfung des Rechts verlangt er einen kritischen Respekt vor dem Recht, jenem Augapfel Gottes, üher den Menschen sowenig verfügen können wie üher ihre eigene Menschenwürde, für dessen Ausge­ staltung und Wirksamwerden sie aher gleichwohl umfassende Ver­ antwortung tragen. Die Unverfügharkeit des Rechts impliziert das Gehot, den wie auch immer provisorischen Rechtszusammenhang zunächst zu wahren103 und das gegehene Recht immanent zu kritisie­ 99 Frieden, AAVIII, S. 353 Fußnote. (Hervorhehung im Original.) 100 Vgl. dazu Dieter Henrich, Kant üher die Revolution, in: Zwi Batscha (Hg.), Materia­ lien zu Kants Rechtsphilosophie (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1976), S. 359-365. 101 Genau dies wird indes von Ingehorg Maus als die Kantische Position dargestellt, der gemäß »die Souveränität des verfassung- und gesetzgehenden Volkes ... immer außerhalh von Verfassung und Gesetz« hleihe. So Ingeborg Maus, Zur Aufklärung der Demo­ kratietheorie. Rechts- und demokratietheoretische Üherlegungen im Anschluß an Kant (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1992), S. 235. 102 MS, AA VI, S. 321 Fußnote. 103 Daher auch Kants strikte Ahlehung des Widerstandsrechts, z.B. in Frieden, AAVIII, S. 382 f. Bedenkt man freilich, daß für Kant auch der Naturzustand hereits rechtliche Elemente enthält, erweist sich Kants kategorische Verwerfung des Widerstandsrechts aus der Sorge, daß dies zur Zerstörung des Rechts üherhaupt führen müsse, als nicht zwingend.

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ren und zu reformieren, um es der Idee der Republik - der »respublica noumenon« - stetig anzunähern.104 Wenn Kant gleichwohl die Errichtung der Französischen Repu­ blik begrüßt, so tut er dies auf der Grundlage der Unterstellung, daß es sich in ihr um eine unfreiwillige Reform handelt, in der die Kon­ tinuität des Rechtszusammenhangs - vielleicht sogar ohne klares Be­ wußtsein der Akteure - letztendlich doch gewahrt worden ist. Denn schließlich steht, wie er spöttisch feststellt, zu Beginn der vermeint­ lichen Revolution die förmliche Einberufung der Generalstände, die dadurch vom König ohne Bedenken der Konsequenzen als Vertreter des Volkes in ihr Recht gesetzt wurden: »Es war also ein großer Fehl­ tritt der Urtheilskraft eines mächtigen Beherrschers zu unserer Zeit, sich aus der Verlegenheit wegen großer Staatsschulden dadurch hel­ fen zu wollen, daß er es dem Volk übertrug, diese Last nach dessen eigenem Gutbefinden selbst zu übernehmen und zu vertheilen; da es denn natürlicherweise nicht allein die gesetzgebende Gewalt in An­ sehung der Besteuerung der Unterthanen, sondern auch in An­ sehung der Regierung in die Hände bekam; ... mithin die Herrscher­ gewalt des Monarchen gänzlich verschwand (nicht bloß suspendiert wurde) und aufs Volk überging ...«.105 c)

Auf dem Weg zum internationalen Rechtsfrieden

Mit dem Durchbruch zur Republik ist die Geschichte der Rechtsver­ wirklichung keineswegs beendet. Nicht nur, daß auch die Republik als historisch-kontingentes Phänomen hinter der Idee allgemeiner rechtlicher Freiheit zurücksteht und deshalb beständiger Kritik be­ darf. Es bleibt vor allem auch der Unfriede in den internationalen Verhältnissen. Gerade die französische Republik wird paradoxerwei­ se zum Anlaß neuer europäischer Kriege, in denen es um die Behaup­ tung oder Unterdrückung der republikanischen Ideen geht. Kants Sympathien liegen in diesem Kampf ganz auf Seiten der Franzosen. Die Einwände, die er gegenüber der eigenen preußischen Regierung und ihrer antifranzösischen Außenpolitik hegt, seien, wie er wieder­ um ironisch formuliert, keineswegs ein Ausdruck von Illoyalität. Im Gegenteil: Da die Prinzipien des Republikanismus die Legitimität jeder Rechtsordnung ausmachen (auch die der noch »provisorisch« 104 Streit, AAVII, S. 91. 105 MS, AAVI, S. 341.

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monarchisch regierten Staaten) und darüber hinaus die Struktur eines internationalen Rechtsfriedens enthalten, könne die Kritik an der anti-republikanischen Außenpolitik nur als Ausdruck der »Lie­ be« zum eigenen Staat bewertet werden: »Auch ist das Murren der Unterthanen nicht des Innern der Regierung halber, sondern wegen des Benehmens derselben gegen Auswärtige, wenn sie diese etwa am Republicanisiren hinderte, gar kein Beweis der Unzufriedenheit des Volks mit seiner eigenen Verfassung, sondern vielmehr der Liebe für dieselbe, weil es wider eigene Gefahr desto mehr gesichert ist, je mehr sich andere Völker republicanisiren.«106 Kants Perspektive für die internationale Politik ist nicht ein Weltstaat, der als »seelenloser Despotismus« der Freiheit womöglich ein für allemal den Garaus machen würde. Statt dessen optiert er für einen Bund freier Republiken: »Das Völkerrecht soll auf einen Föderalism freier Staaten gegründet sein.«107 Das Völkerrecht hat genos­ senschaftliche, nicht staatliche Struktur. Eine souveräne Schiedsgewalt innerhalb des Staatenbundes kann es daher nicht geben. Kant definiert den Völkerbund nicht zuletzt dadurch, »daß die Ver­ bindung doch keine souveräne Gewalt (wie in einer bürgerlichen Ver­ fassung), sondern nur eine Genossenschaft (Föderalität) enthalten müsse; eine Verbündung, die zu aller Zeit aufgekündigt werden kann, mithin von Zeit zu Zeit erneuert werden muß«.108 Auch wenn die historische Realität von einem solchen Friedens­ bund weit entfernt ist, gilt die Idee des Völkerbunds bereits hic et nunc. Sie bleibt kein utopisches Ideal, sondern entfaltet rechtliche Verbindlichkeit bereits unter den bestehenden Verhältnissen. Die Idee des Völkerbundes wird zum kritischen Maßstab der aktuellen Außenpolitik. Wie die Individuen im »bellum omnium contra om106 Streit, AA VII, S. 86 Fußnote. 107 Frieden, AA VIII, S. 354. (Hervorhebung im Original.) Zu Kants Beitrag in der hi­ storischen Entwicklung der Völkerbundsidee vgl. Gerhard Beestermöller, Die Völker­ bundsidee. Leistungsfähigkeit und Grenzen der Kriegsächtung durch Staatensolidarität (Stuttgart: Kohlhammer, 1995), S. 19ff. 108 MS, AAVI, S. 344. (Hervorhebung im Original.) Ganz klar ist Kants Haltung aller­ dings nicht. So betont er am Ende seiner Erörterungen zum zweiten Definitivartikel zum ewigen Frieden, der Völkerbund sei nur das »negative Surrogat« für die von der Vernunft eigentlich gebotene, aber praktisch unausführbare Weltrepublik (Frieden, AA VIII, S. 357). Vgl. dazu Matthias Lutz-Bachmann, Kants Friedensidee und das rechts­ philosophische Konzept einer Weltrepublik, in: ders.l James Bohman (Hg.), Frieden durch Recht. Kants Friedensidee und das Problem einer neuen Weltordnung (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1996), S. 25-44.

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nes« des Naturzustandes den öffentlichen Rechtszustandes proviso­ risch antizipieren und am Maßstah einer solchen kontrafaktischen Unterstellung ihr eigenes Konfliktverhalten normativ orientieren sollen, so gilt auch für die internationalen Verhältnisse, daß sie im Vorgriff auf einen internationalen Rechtszustand gestaltet werden sollen. Selhst wenn die Staaten sich noch im Kriegszustand mit­ einander hefinden, sollen sie einander als 'potentielle künftige Bünd­ nispartner hegegnen und die Gewalthandlungen auf solche Bedin­ gungen einschränken, die einen künftigen Frieden zumindest als Möglichkeit offen halten. In diesem Sinne formuliert Kant die Präli­ minarartikel zum ewigen Frieden, von denen einige als »leges strictae« unhedingt - d.h. ohne Aufschuh hier und jetzt - eingehalten werden müssen: Friedensverträge dürfen keinen Vorhehalt zugun­ sten künftiger Kriegsführung enthalten, weil sie sonst das Vertrauen in die Vertragstreue von vornherein unterminieren; gewalttätige In­ terventionen in die Verfassung eines anderen Staates sind untersagt; solche heimtückischen Formen der Kriegsführung, die jedes Vertrau­ en in eine künftige rechtliche Koexistenz von Grund auf zerstören, sind schlechthin unerlauht. Andere Präliminarartikel verlangen die sukzessive Ahschaffung stehender Heere und den Verzicht auf Staatsschulden zugunsten der Kriegskasse.109 Die Präliminarartikel zum ewigen Frieden enthalten freilich, wie der Name schon sagt, nur negative Vorhedingungen des Rechts­ friedens. Sie dienen dazu, Hindernisse auf dem Weg zum Rechtsfrie­ den auszuräumen, ohne daß dieser damit schon erreicht wäre. Wie in den innergesellschaftlichen Verhältnissen ein unahsehhares externes Ereignis, der (vermutlich gewaltsame) Akt der Staatsgründung, die Anarchie des Naturzustandes üherwindet und den öffentlich-recht­ lichen Zustand ermöglicht, so hedarf es auch in der internationalen Politik einer externen Ursache, eines historischen Ereignisses, das zum Kristalisationspunkt des internationalen Rechtsfriedens wird. Dieses Ereignis - ein historischer Glücksfall - ist die Gründung einer Repuhlik, deren historische Wirkung aufgrund der in ihr enthaltenen universalen Prinzipien üher das Territorium des hetreffenden Staates hinausreicht. Die Repuhlik wird zum Zentrum eines Staatenhundes, in dem die Rechtsprinzipien sowohl innenpolitisch wie außenpoli­ tisch sukzessive zur Geltung kommen. »[W]enn das Glück es so fügt: daß ein mächtiges und aufgeklärtes Volk sich zu einer Repuhlik (die 109 Vgl. Frieden, AA VIII, S.343ff.

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ihrer Natur nach zum ewigen Frieden geneigt sein muß) bilden kann, so giebt diese einen Mittelpunkt der föderativen Vereinigung für an­ dere Staaten ab, um sich an sie anzuschließen und so den Freiheits­ zustand der Staaten gemäß der Idee des Völkerrechts zu sichern und sich durch mehrere Verbindungen dieser Art nach und nach immer weiter auszubreiten.«110 Doch selbst wenn der Bund freier Republiken den Erdball um­ spannte, wäre der Rechtsfriede noch nicht erreicht. Denn im Zeitalter der ökonomischen Globalisierung, das im 18. Jahrhundert bereits be­ gonnen hat, begegnen sich die Menschen verstärkt auch über die staatlichen Grenzen hinweg. Es entstehen Konflikte, die weder allein nach Maßgabe innerstaatlichen Rechts noch durch Verträge der Staa­ ten miteinander geregelt werden können. Deshalb bedarf es, wie Kant betont, eines »Weltbürgerrechts«, das Staats- und Völkerrecht ergänzt. Kritische Stoßrichtung entfaltet die Idee des Weltbürger­ rechts vor allem gegen den zeitgenössischen Kolonialismus. Mit deutlichen Worten beschreibt Kant das Unrecht, das die europäischen Kolonisatoren in fremden Ländern anrichten. »Amerika, die Neger­ länder, die Gewürzinseln, das Cap usw. waren bei ihrer Entdeckung für sie Länder, die keinem angehörten; denn die Einwohner rech­ neten sie für nichts. In Ostindien (Hindustan) brachten sie unter dem Vorwande blos beabsichtigter Handelsniederlagen fremde Kriegsvölker hinein, mit ihnen aber Unterdrückung der Eingebornen, Aufwiegelung der verschiedenen Staaten desselben zu weit aus­ gebreiteten Kriegen, Hungersnoth, Aufruhr, Treulosigkeit, und wie die Litanei aller Übel, die das menschliche Geschlecht drücken, weiter lauten mag.«111 Wenn die Protagonisten des Kolonialismus den An­ spruch erheben, »daß eine solche Gewaltthätigkeit zum Weltbesten gereiche: theils durch Cultur roher Völker ..., theils zur Reinigung seines eigenen Landes von verderbten Menschen und gehoffter Bes­ serung derselben oder ihrer Nachkommenschaft in einem anderen Welttheile (wie in Neuholland)«, so bleibt gleichwohl am Ende fest­ zustellen: »alle diese vermeintlich gute Absichten können doch den Flecken der Ungerechtigkeit in den dazu gebrauchten Mitteln nicht abwaschen«.112 Auch der zivilisatorische Fortschritt, den die Europäer (und sei 110 Frieden, AAVIII, S. 356. (Hervorhebung im Original.) 111 Frieden, AAVIII, S. 358f. 112 MS, AAVI, S. 353.

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es womöglich sogar zu Recht) gegenüber anderen Völkern in An­ schlag bringen, ist kein Rechtstitel. Hegels Wort, die Sklaverei habe »mehr Menschliches unter den Negern geweckt« und sei deshalb »ein Moment der Erziehung, eine Weise des Teilhaftigwerdens höhe­ rer Sittlichkeit und mit ihr zusammenhängender Bildung«,113 würde Kant entschieden zurückweisen. Tatsächliche oder vermeintliche hi­ storische Überlegenheit kann kein Rechtfertigungsgrund für gewalt­ same Zivilisationsmission sein. Gegen die kolonialistische Praxis der Besetzung fremden Territoriums betont Kant, daß die Menschen auf­ grund des ursprünglichen gemeinsamen Besitzes der Erdoberfläche zwar ein allgemeines »Besuchsrecht« beanspruchen können, dieses Besuchsrecht aber nicht mit einem »Gastrecht«, geschweige denn mit einem Ansiedlungs- oder Eroberungsrecht, verwechselt werden dürfe. Nur aus dieser antikolonialistischen Ausrichtung ergibt die Kantische Definition des Weltbürgerrechts Sinn, wonach dieses »auf die Bedingungen der allgemeinen Hospitalität eingeschränkt« sein soll.114

7.

Grenzen des Fortschritts

Kant straft die Volksweisheit, daß Menschen im Alter eher pessimi­ stisch werden, Lügen. Es scheint fast umgekehrt so zu sein, daß er mit zunehmendem Alter immer optimistischer auf den Lauf der Ge­ schichte sieht. Anlaß dafür ist die Französische Revolution. Zu einem Zeitpunkt, als das Bekenntnis zur französischen Republik harte staat­ liche Sanktionen nach sich ziehen kann, schreibt er vom Enthusias­ mus, der die politisch interessierten Beobachter der Revolution erfüllt: »Die Revolution eines geistreichen Volks, die wir in unseren Tagen haben vor sich gehen sehen, mag gelingen oder scheitern; sie mag mit Elend und Greuelthaten dermaßen angefüllt sein, daß ein wohldenkender Mensch sie, wenn er sie zum zweitenmale unterneh­ mend glücklich auszuführen hoffen könnte, doch das Experiment auf solche Kosten zu machen nie beschließen würde, - diese Revolution, sage ich, findet doch in den Gemüthern aller Zuschauer ... eine Theilnehmung dem Wunsche nach, die nahe an Enthusiasm grenzt, und deren Äußerung selbst mit Gefahr verbunden war, die also keine 113 Hegel, Philosophie der Geschichte, S. 128 f. 114 Frieden, AAVIII, S. 357. (Hervorhebung im Original.)

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7. Grenzen des Fortschritts

andere als eine moralische Anlage im Menschengeschlecht zur Ursa­ che haben kann.«115 Und doch bleibt Kant kritisch: Der Enthusiasmus der Beobach­ ter, den er selbst teilt, führt nicht zur Rechtfertigung der revolutio­ nären Gewalt. Ein »Recht auf Revolution« kann es nicht geben. Die Betrachtung der Geschichte und die Prinzipien sittlich-politischen Handelns fallen nicht zusammen. Heuristische Überlegungen zum Ziel und Verlauf der Geschichte haben nur indirekt einen praktischen Nutzen für das Handelns, indem sie dem Menschen Hoffnung ver­ leihen, daß sein sittlich-politischer Einsatz nicht vergebens sein wird. In diesem Sinne spricht Kant der Französischen Revolution eine symbolische Bedeutung zu. Er schätzt sie als »Geschichtszeichen (si­ gnum rememorativum, demonstrativum, prognosticum)«, das »die Tendenz des menschlichen Geschlechts im Ganzen« anzeigt.116 Gleichzeitig aber schärft Kant die Grenzen des geschichtlichen Fortschritts ein. Es ist ein Fortschritt der Legalität, nicht (jedenfalls nicht unmittelbar) auch der Moralität. »Welchen Ertrag wird der Fortschritt zum Besseren dem Menschengeschlecht abwerfen? Nicht ein immer wachsendes Quantum der Moralität in der Gesinnung, sondern Vermehrung der Producte ihrer Legalität in pflichtmäßigen Handlungen, durch welche Triebfeder sie auch veranlaßt sein mögen ...«.117 Diese Entwicklung zur Legalität hin soll nicht gering geachtet werden. Wenn die Menschen unter einer rechtlichen Ver­ fassung einander äußerlich den Respekt erweisen, den sie einander als sittliche Subjekte schulden, mag dies auch der Ausbildung eines

115 Streit, AA VII, S. 85. Vgl. dazu Ernst Cassirer, Die Idee der republikanischen Ver­ fassung. Rede zur Verfassungsfeier am 11. August 1928, neu abgedruckt in: Enno Ru­ dolphl Hans Jörg Sandkühler (Hg.), Symbolische Formen, mögliche Welten - Ernst Cassirer. Dialektik, Heft 1995/1, S. 13-30, hier S. 26: »In diesen Sätzen stellt sich aufs reinste und klarste jene Art der symbolischen Betrachtung dar, die den Ethiker, den philosophischen Idealisten Kant kennzeichnet. Er fragt nicht, was unmittelbar in der Reihe des realen Geschehens, aus einer Handlung folgt, sondern er fragt, aus welchem geistig-sittlichen Grunde sie stammt ...«. 116 Streit, AAVII, S. 84. (Hervorhebungen im Original.) Zur Neuartigkeit dieses Argu­ ments gegenüber den früheren Schriften Kants zur Geschichtsphilosophie vgl. Pauline Kleingeld, Fortschritt und Vernunft: Zur Geschichtsphilosophie Kant (Würzburg: Königshausen & Neumann, 1995), S. 77ff. 117 Streit, AA VII, S. 91. (Hervorhebungen im Original. Erster Satz als Zwischenüber­ schrift gesperrt.) Diese kritische Selbstbegrenzung der Kantischen Fortschrittserwar­ tung übersieht Yovel, wenn er die Geschichte als Realisierung des höchsten Gutes ver­ steht (vgl. a. a. O., S. 31).

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innerlich guten Willens förderlich sein. Doch hleiht das Innere dem Menschen ungewiß. Nicht einmal sein eigenes Herz kann er im letz­ ten durchschauen, geschweige denn die inneren Absichten seiner Mitmenschen. Wer weiß: Wenn die Errichtung einer rechtlichen Ver­ fassung selbst einem »Volk von Teufeln« gelingen kann, wie Kant drastisch formuliert,118 könnte dann nicht auch hinter der Fassade des rechtlichen Fortschritts eine Teufelei lauern? Tarnt sich unter der Maske der Zivilisation vielleicht zuletzt nur böse Gesinnung? Kant scheint nicht geneigt zu sein, diese Fragen mit Ja zu beantwor­ ten. Generell wirbt er für einen vernunftgegründeten Optimismus. Doch ein letzter Zweifel bleibt und mag nützlich sein, wenn er dafür sorgt, daß die Menschheit im Stadium ihres Fortschritts nicht der Selbstgerechtigkeit verfällt.

118 Vgl. Frieden, AAVIII, S. 366: »Das Problem der Staatserrichtung ist, so hart wie es auch klingt, selbst für ein Volk von Teufeln (wenn sie nur Verstand haben) auflösbar und lautet so: >Eine Menge von vernünftigen Wesen, die insgesamt allgemeine Gesetze für ihre Erhaltung verlangen, deren jedes aber ingeheim sich davon auszunehmen ge­ neigt ist, so zu ordnen und ihre Verfassung einzurichten, daß, obgleich sie in ihren Privatgesinnungen einander entgegen streben, diese einander doch so aufhalten, daß in ihrem öffentlichen Verhalten der Erfolg eben derselbe ist, als ob sie keine solche böse Gesinnungen hätten.c«

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VII. Symbolische Rede von Gott

1.

Überwindung der dogmatischen Metaphysik

Eine vernünftige Rede von Gott verlangt Behutsamkeit. Nur allzu leicht vergißt der Mensch die Grenzen seines Erkennens und gerät in religiöse Schwärmerei, die sich zwar demütig gehen mag, im Grunde aher Ausdruck von Vermessenheit ist.1 Die Folgen solcher Vermessenheit wiegen schwer: Nicht nur verdirht der Mensch durch die Mißachtung der ihm gesetzten Grenzen möglichen Erkennens die Wissenschaft. Wenn er Gott zum Eckstein eines umfassenden dog­ matischen Systems der Welterklärung macht, verstellt er sich wo­ möglich auch die Einsicht in die Unhedingtheit seiner eigenen sitt­ lichen Bestimmung, die nur im letzten Nichtwissen üher den Lauf der Welt gewahrt hleihen kann. Und schließlich wird die Schwärme­ rei sogar zur Quelle des Unglauhens. Denn der in den doktrinären Gottesheweisen verhorgene Reflexionsahhruch stellt einen hlinden Flecken dar, an dem skeptisches Mißtrauen sich immer wieder aufs neue entzünden kann. Es ist ein Paradox, daß jede dogmatische Got­ teslehre mit innerer Notwendigkeit den Skeptizismus auf den Plan ruft. Gerade auch um des Glauhens willen muß der Mensch in seiner Rede von Gott kritisch hleihen. Wenn Kant sich Gedanken üher die Zweckordnung der Natur und den sinnhaften Verlauf der Geschichte im ganzen macht, vermeidet er es, vorschnell von »Schöpfung« und »Vorsehung« zu sprechen, um die teleologische Betrachtung nicht mit einer theologischen Argumentation zu vermengen.2 Kant he-

1 Vgl. KU, AAV, S. 383 Fußnote: »Ein Urtheil, hei welchem man das Längenmaß seiner Kräfte (des Verstandes) zu üherschlagen vergißt, kann hisweilen sehr demüthig klingen und macht doch große Ansprüche und ist doch sehr vermessen.« 2 Vgl. KU, AAV, S. 381.

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VII. Symbolische Rede von Gott

schränkt sich indessen nicht darauf, Bescheidenheit in der Rede von Gott anzumahnen und seihst zu praktizieren. Vielmehr ist sein Un­ terfangen ein systematisches. Wenn er die Reichweite menschlichen Erkennens grundsätzlich untersucht, unterzieht er auch die meta­ physischen Gottesheweise einer konsequenten Kritik. Das Ziel dieser Selhstkritik menschlichen Erkennens ist der Glauhe: »Ich mußte also das Wissen aufhehen, um zum Glauben Platz zu hekommen«.3 Und weiter heißt es: »der Dogmatism der Metaphysik, d. i. das Vorurteil, in ihr ohne Kritik der reinen Vernunft fortzukommen, ist die wahre Quelle alles der Moralität widerstreitenden Unglauhens, der jeder­ zeit gar sehr dogmatisch ist«.4 Nicht nur die Naturwissenschaft wird, wenn sie sich zum allumfassenden System der Welterklärung üherheht, zum Gegner religiösen Glauhens. Auch eine Metaphysik, die die praeamhula fidei mit dogmatischen Mitteln zu sichern sich an­ schickt, wird zum Nährhoden des Unglauhens. Gerade auch um eines vernünftigen Glauhens willen muß die Metaphysik deshalh kritisch geprüft werden. Der Weg zur Überwindung von Dogmatismus und Skeptizis­ mus führt üher die Aufklärung, und zwar üher eine Aufklärung im Geist des Sokrates. Wenn Kant sich vornimmt, »allen Einwürfen wi­ der Sittlichkeit und Religion auf sokratische Art, nämlich durch den klärsten Beweis der Unwissenheit der Gegner, auf alle künftige Zeit ein Ende zu machen«,5 sieht er seine sophistischen Gegenspieler auf heiden Seiten: auf Seiten des Dogmatismus wie auf Seiten des Skep­ tizismus. Die heiden Varianten des Sophistik sind einander zwar ent­ gegengesetzt. Dennoch hringen sie einander immer wieder neu her­ vor, indem sie die Position des jeweils anderen nur ahstrakt negieren, nicht aher von innen her kritisch üherwinden. Deshalh ist ihr Streit genauso endlos wie müßig. Dogmatiker und Skeptiker hekämpfen einander, so spottet Kant, auf einem »dialektischen Kampfplatz, wo jeder Theil die Oherhand hehält, der die Erlauhniß hat, den Angriff zu thun, und derjenige gewiß unterliegt, der hloß vertheidigungsweise zu verfahren genöthigt ist. Daher auch rüstige Ritter, sie mögen sich für die gute oder schlimme Sache verhürgen, sicher sind, den Siegeskranz davon zu tragen, wenn sie nur dafür sorgen, daß sie

3 KrV, AA III, S. 19. (Hervorhehungen im Original.) 4 KrV, AA III, S. 19. 5 KrV, AA III, S. 19. (Hervorhehung im Original.)

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1. Überwindung der dogmatischen Metaphysik

den letzten Angriff zu thun das Vorrecht haben und nicht verbunden sind, einen neuen Anfall des Gegners auszuhalten.«6 Überwinden läßt sich der Zirkel von Dogmatismus und Skep­ tizismus nur durch eine systematische Kritik des Erkenntnisver­ mögens. Dabei stellt sich heraus, daß menschlichem Erkennen eine Tendenz zum Unbedingten eigen ist, das allen Bedingtheiten zugrun­ deliegt, ohne selbst jemals möglicher Gegenstand des Erkennens sein zu können.7 Das Unbedingte, das den virtuellen Endpunkt des Er­ kenntnisprozesses bildet, läßt sich als solches nicht mehr wissend einholen. Der Versuch, das Unbedingte erkennend zu fixieren, führt vielmehr in jene unauflöslichen Widersprüche, in Dogmatiker und Skeptiker sich von unterschiedlichen Seiten her gleichermaßen ver­ stricken. Die wechselseitige abstrakte Negation ihrer gegensätzlichen metaphysischen Behauptungen sorgt dafür, daß der fruchtlose Streit auf jenem »dialektischen Kampfplatz« immer weiter geht - es sei denn, daß die Gegner dereinst vielleicht, »nachdem sie einander mehr ermüdet als geschadet haben, ... die Nichtigkeit ihres Streit­ handels von selbst einsehen ...«.8 Menschliches Erkennen, dies ist das Ergebnis der kritischen Phi­ losophie, geschieht innerhalb eines Bedingungsgefüges der Welt, dessen unbedingten Grund der Mensch nicht theoretisch »begreifen« kann. Die in spekulativer Absicht gestellte Frage nach dem Ursprung der Welt findet deshalb nur scheinbar Ruhe in der Idee des göttlichen Schöpfers. Denn sobald der Gottesgedanke in begrifflicher Fixierung zum Gegenstand vermeintlicher Erkenntnis geworden ist, ist er um seine Unbedingtheit gebracht und wird nunmehr selbst zum Anlaß neuer Fragen. Mit der Objektivierung zum scheinbaren Wissens­ bestand gerät der Gottesbegriff selbst in jenes Bedingungsgefüge, hinter das der Mensch unvermeidlich immer weiter zurückfragt: »Man kann sich des Gedanken nicht erwehren, man kann ihn aber auch nicht ertragen: daß ein Wesen, welches wir uns auch als das höchste unter allen möglichen vorstellen, gleichsam zu sich selbst sage: Ich bin von Ewigkeit zu Ewigkeit, außer mir ist nichts ohne das,

6 KrV, AAIII, S. 291. 7 Vgl. KrV, AA III, S. 283: »Die Vernunft fordert dieses nach dem Grundsatze: wenn das Bedingte gegeben ist, so ist auch die ganze Summe der Bedingungen, mithin das schlechthin Unbedingte gegeben, wodurch jenes allein möglich war.« (Hervorhebung im Original.) 8 KrV, AA III, S. 291.

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VII. Symbolische Rede von Gott

was bloß durch meinen Willen etwas ist; aber woher bin ich denn?«9 Die spekulativen Gottesbeweise der Metaphysik führen ins Boden­ lose. Sie geben keine Antwort auf die Fragen des Skeptikers, sondern können sie nur mit autoritärem Gestus abweisen. Genau dadurch aber nähren sie den Unglauben.

2.

Die sittliche Freiheit als Grund des Gottesgedankens

Nicht wissenschaftliche Theorie und auch nicht teleologische Welt­ betrachtung, sondern sittliche Praxis gibt den Grund für die Entwick­ lung des Gottesgedankens. Denn das Unbedingte, das menschlichem Erkennen nur in »regulativer« Hinsicht aufgegeben ist, erweist sich im Anspruch des Sittlichen als »konstitutiv«. Deshalb kann die Un­ bedingtheit des Sollens zum Fundament einer Metaphysik werden, die gerade in der bewußten Beschränkung des theoretischen Wissens zu praktischer Gewißheit führt und die Gehalte der spekulativen Me­ taphysik kritisch sichern kann: »Der Begriff der Freiheit, so fern des­ sen Realität durch ein apodiktisches Gesetz der praktischen Vernunft bewiesen ist, macht nun den Schlußstein von dem ganzen Gebäude eines Systems der reinen, selbst der speculativen Vernunft aus, und alle andere Begriffe (die von Gott und Unsterblichkeit), welche als bloße Ideen in dieser ohne Haltung bleiben, schließen sich nun an ihn an und bekommen mit ihm und durch ihn Bestand und objective Realität, d. i. die Möglichkeit derselben wird dadurch bewiesen, daß Freiheit wirklich ist; denn diese Idee offenbart sich durchs moralische Gesetz.«10 Auch das sittliche Freiheitsbewußtsein führt allerdings nicht unmittelbar zur Gottesidee. Gegen eine voreilige Verbindung von Moral und Religion betont Kant zunächst die Differenz beider. Er legt größten Wert darauf, die Autonomie des sittlichen Willens auch gegenüber der Religion festzuhalten. Dies gilt sowohl hinsichtlich der autonomen sittlichen Einsicht, die von positiver religiöser Offen­ barung unabhängig ist, als auch hinsichtlich der autonomen Trieb­ feder sittlichen Handelns, die nicht mit religiöser Heilserwartung verquickt werden darf. Beide Aspekte faßt Kant zusammen, wenn er seine Religionsschrift mit dem prägnanten Satz einleitet: »Die Mo­ 9 KrV, AA III, S. 409. (Hervorhebung im Original.) 10 KpV, AAV, S. 3f. (Hervorhebungen im Original.)

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2. Die sittliche Freiheit als Grund des Gottesgedankens

ral, so fern sie auf dem Begriffe des Menschen als eines freien, eben darum aber auch sich selbst durch seine Vernunft an unbedingte Ge­ setze bindenden Wesens gegründet ist, bedarf weder der Idee eines andern Wesens über ihm, um seine Pflicht zu erkennen, noch einer andern Triebfeder als des Gesetzes selbst, um sie zu beobachten.«11 Religion bildet nicht das Fundament der Moral. Um moralisch han­ deln zu können, »bedarf« der Mensch der Religion nicht. Vielmehr verhält es sich umgekehrt so, daß der dem sittlichen Bewußtsein in­ härente unbedingte Anspruch zur Religion hinführt, indem er näm­ lich symbolisch über das hinausweist, was der Mensch im Leben einlösen kann. Die Vermittlung zwischen Moral und Religion leistet Kant über die Idee des höchsten Gutes, in der die Totalität des sittlichen An­ spruchs in gleichsam gegenständlicher Hinsicht zu Wort kommt. Die Vernunft, so schreibt er, »sucht als reine praktische Vernunft zu dem praktisch Bedingten ... das Unbedingte, ... die unbedingte Tota­ lität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft, unter dem Namen des höchsten Guts«.12 Kant versteht das höchste Gut als die vollendete Verwirklichung von Sittlichkeit und Glückseligkeit, wobei erstere - als Grund der Glückswürdigkeit - die Bedingung der letzte­ ren sein muß.13 Diese in der Idee des höchsten Gutes gedachte Versöhnung von Sittlichkeit und Glückseligkeit hat gelegentlich den Verdacht genährt, daß Kant die von ihm ansonsten betonte Differenz zwischen Pflicht und Neigung nicht konsequent durchgehalten und letztlich zugunsten eines subtilen Eudämonismus preisgegeben hat. Nach Schopenhauer läßt Kant »zwischen Tugend und Glückseligkeit doch noch eine geheime Verbindung übrig, in seiner Lehre vom höchsten Gut, wo sie in einem entlegenen und dunklen Kapitel zu­ sammenkommen, während öffentlich die Tugend gegen die Glückse­ ligkeit ganz fremd thut«.14 Letzten Endes, so Schopenhauers spötti­ 11 Religion, AA VI, S. 3. 12 KpV, AAV, S. 108. (Hervorhebungen im Original.) 13 Vgl. KpV,AAV/ S. 111: Das höchste Gut ist »das vollendete Gute, worin doch Tugend immer als Bedingung das oberste Gut ist, weil es weiter keine Bedingung über sich hat, Glückseligkeit immer etwas, was dem, der sie besitzt, zwar angenehm, aber nicht für sich allein schlechterdings und in aller Rücksicht gut ist, sondern jederzeit das mora­ lische gesetzmäßige Verhalten als Bedingung voraussetzt.« 14 Arthur Schopenhauer, Preisschrift über die Grundlage der Moral (1840), in: Sämt­ liche Werke hg. von Paul Deussen, 3. Bd. (München: Piper, 1912), S. 573-745, hier S. 588.

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scher Einwand, kommt auch Kant über eine instrumenteile Ethik von Lohn und Strafe nicht hinaus: »Dieser Lohn, der für die Tugend, welche also nur scheinbar unentgeltlich arbeitete, hinterdrein postu­ liert wird, tritt aber anständig verschleiert auf, unter dem Namen des höchsten Guts ...«.15 Schopenhauers Vorwurf verkennt allerdings den systemati­ schen Ort der Idee vom höchsten Gut. Denn diese stellt nicht etwa den Grund moralischer Verbindlichkeit dar, sondern ergibt sich als deren Folge.16 Die unableitbare Faktizität des kategorischen Impera­ tivs erweitert sich von innen her zu einer umfassenden Sinnperspek­ tive, die den sittlichen Sollensanspruch nicht etwa begründet, son­ dern aus der Unbedingtheit sittlichen Sollens selbst erwächst. Die Idee des höchsten Gutes kann deshalb auch in motivationaler Hin­ sicht nicht als Bestimmungsgrund des sittlichen Willens fungieren.17 Wäre der sittliche Wille abhängig von der Erwartung, daß Sittlich­ keit und Glückseligkeit - sei es in dieser Welt, sei es in einer kom­ menden Welt - letztlich konvergieren, so wäre er in seiner Triebfeder nicht autonom; Schoperhauer hätte dann Recht. Die um der Un­ bedingtheit des Sittlichen willen notwendige Unterscheidung von Pflicht und Neigung wird von Kant allerdings gerade im Kontext der Ausführungen zum höchsten Gut noch einmal bekräftigt, und zwar in Auseinandersetzung mit Stoikern und Epikureern, denen er vorwirft, von unterschiedlichen Ausgangspunkten her gleicherma­ ßen die Spannung von Pflicht und Neigung harmonisierend zu über­ spielen.18 Damit verfallen sie beide einem Eudämonismus, der im Falle der Epikureer von vornherein offenkundig, im Falle der Stoiker in Gestalt heroischer Selbstüberhebung eher verschleiert ist. Gegen beide komplementären Formen des Eudämonismus stellt Kant fest,

15 Schopenhauer, a. a. O., S. 594. (Hervorhebung im Original.) 16 Die »Grundsätze« der reinen praktischen Vernunft gehen dem »Gegenstand« der reinen praktischen Vernunft voraus. Vgl. KpV, AAV, S. 19ff. bzw. S. 57ff. 17 Vgl. KpV, AAV, S. 109: »Mithin mag das höchste Gut immer der ganze Gegenstand einer reinen praktischen Vernunft, d.i. eines reinen Willens, sein, so ist es darum doch nicht für den Bestimmungsgrund desselben zu halten, und das moralische Gesetz muß allein als der Grund angesehen werden, jenes und dessen Bewirkung oder Beförderung sich zum Objecte zu machen.«(Hervorhebungen im Original.) Anders noch ist die Per­ spektive in Kants erster Kritik, in der er die in der Idee des höchstes Gutes enthaltenen »Verheißungen und Drohungen« als notwendige Triebfeder sittlichen Handelns unter­ stellt. So KrV, AAIII, S. 527. 18 Vgl. KpV, AAV, S. 126f.

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2. Die sittliche Freiheit als Grund des Gottesgedankens

daß die Differenz zwischen Pflicht und Neigung um der Strenge des sittlichen Anspruchs willen festgehalten werden muß. Ein weiteres Mißverständnis Schopenhauers besteht in der Un­ terstellung, daß nach Kant der Mensch im Gedanken der Versöhnung von Sittlichkeit und Glückseligkeit das jeweils eigene, private Glück im Blick hat. Eine solche privatistische Engführung weist Kant indes­ sen klar zurück. Die Forderung nach einer letzten Versöhnung von Sittlichkeit und der ihr gemäßen Glückseligkeit besteht »nicht blos in den parteiischen Augen der Person, die sich selbst zum Zwecke macht, sondern selbst im Urtheile einer unparteiischen Vernunft (...). Denn der Glückseligkeit bedürftig, ihrer auch würdig, dennoch aber derselben nicht theilhaftig zu sein, kann mit dem vollkom­ menen Wollen eines vernünftigen Wesens, welches zugleich alle Ge­ walt hätte, wenn wir uns auch nur ein solches zum Versuche denken, gar nicht zusammen bestehen.«19 Es ist für das moralische Bewußt­ sein offenbar unerträglich sich vorzustellen, daß der Mörder end­ gültig über das unschuldige Opfer triumphieren sollte, um es mit den Worten Max Horkheimers auszudrücken.20 Die in der Idee der kritischen Versöhnung von Sittlichkeit und Glückseligkeit enthalte­ ne Vorstellung vollendeter Gerechtigkeit macht Sinn nur als Folge des sittlichen Bewußtseins, nicht als Ausdruck eines privaten Heils­ kalküls. Sie hat ihren Grund nicht in den Neigungen - seien diese egoistisch oder auch altruistisch -, sondern im Geltungsanspruch der praktischen Vernunft. Eine umfassende Gerechtigkeit, wie sie in der Idee des höchsten Guts aufscheint, überschreitet die Möglichkeit menschlichen Han­ delns nicht nur graduell, sondern prinzipiell. Die Einheit einer voll­ endeten Sittlichkeit mit einer ihr angemessenen Glückseligkeit bildet zwar die letzte Sinnperspektive sittlicher Praxis - eine Perspektive allerdings, die im Handlungsvollzug wieder auseinanderbricht in die Zweiheit der sittlich gebotenen Zwecke: eigene Vollkommenheit und fremde Glückseligkeit.21 Ob die im immer wieder neuen Bemühen um Selbstvervollkommnung erstrebte Glückswürdigkeit tatsächlich

19 KpV, AAV, S. 110. 20 Vgl. Max Horkheimer, Die Sehnsucht nach dem ganz Anderen. Ein Interview mit Kommentar von Helmut Gumnior (Hamburg: Furche-Verlag, 1970), S. 62. Horkheimer bekennt sich zur Gottesidee als einer »Sehnsucht danach, daß der Mörder nicht über das unschuldige Opfer triumphieren möge«. 21 Vgl. oben, Kap. IV,4.

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VII. Symbolische Rede von Gott

mit Glück einhergeht, hleiht ungewiß. Und oh die Mitmenschen, de­ ren Glück zu fördern man sich aufgerufen weiß, solcher Förderung tatsächlich würdig sind, mag in vielen Fällen fraglich sein. Der Mensch kann nicht wissen, oh die heiden Enden, an denen er ansetzt, um auf das höchste Gut hinzuwirken, jemals Zusammentreffen. Nur soviel ist sicher, daß er eine solche Synthese nicht aus eigener Kraft leisten kann.22 Dennoch hleiht die Idee des höchsten Gutes hestehen. Sie ist nicht nur Gegenstand menschlicher Hoffnung, sondern entfaltet auch praktische Verhindlichkeit, nämlich als ein letztes Ziel, auf des­ sen Verwirklichung der Mensch nach Kräften hinzuwirken hat. Wäre dieses Ziel eine hloße Illusion, so hliehe der Anspruch sittlichen Sollens zwar hestehen; er verlöre aher seine Sinnperspektive, auf die der Mensch als handelndes Wesen nicht schlechthin Verzicht tun kann. Deshalh muß die Vernunft das höchste Gut »sich nothwendig als möglich vorstellen ..., weil es ein Gehot derselben ist, zu dessen Hervorhringung alles mögliche heizutragen«.23 Als Bedingung der Möglichkeit des höchsten Gutes, dessen Bewirkung die Grenzen menschlichen Handelns prinzipiell ühersteigt und das dennoch dem Menschen aufgetragen ist, gelangt dieser schließlich zum Postulat Gottes. »Weil der Mensch die mit der reinen moralischen Gesinnung unzertrennlich verhundene Idee des höchsten Guts ... nicht selhst realisiren kann, gleichwohl aher darauf hinzuwirken in sich selhst Pflicht antrifft, so findet er sich zum Glauhen an die Mitwirkung oder Veranstaltung eines moralischen Weltherrschers hingezogen, wodurch dieser Zweck allein möglich ist .. ,«.24

22 Eine vollendete Gerechtigkeit ist auf Erden schon deshalh nicht möglich, weil sie auch das Unrecht der Vergangenheit tilgen müßte. Wenn die Opfer der Geschichte nach Ge­ rechtigkeit schreien, kann der Mensch ihre Forderung jedoch allenfalls in »anamnetischer Solidarität« aufrechterhalten. Praktisch einlösen kann er sie nicht. Vgl. dazu Hel­ mut Peukert, Wissenschaftstheorie - Handlungstheorie - Fundamentale Theologie. Analysen zu Ansatz und Status theologischer Theoriehildung (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1977), S. 305. 23 KpV, AAV, S. 119. 24 Religion, AAVI, S. 139.

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3. Symbolische Vermittlung zwischen Moral, Religion und Recht

3.

Symbolische Vermittlung zwischen Moral, Religion und Recht

Zwischen Moral und Religion besteht für Kant ein unauflösbarer innerer Zusammenhang. »Moral also führt unumgänglich zur Reli­ gion ...«.25 Dieser Zusammenhang ist allerdings ein indirekter. Mo­ ralische Verbindlichkeit ist von der Religion unabhängig. Der Atheist vernimmt nicht weniger als der Religiöse die Stimme des Gewissens, die deshalb nicht voreilig mit der Stimme Gottes gleichgesetzt wer­ den darf. Die Moral »braucht« kein Fundament in religiösem Glau­ ben. Die Idee des höchsten Gutes - und damit zugleich der Gedanke Gottes als Möglichkeitsbedingung des höchsten Gutes - »geht aus der Moral hervor und ist nicht die Grundlage derselben«.26 Wie Max Wundt schreibt: »Die Moral soll nicht auf den Glauben an Gott gegründet sein, wohl aber soll sie sich in ihm vollenden.«27 Weder führt die Religion zu einer inhaltlichen Erweiterung menschlicher Pflichten, noch darf der Mensch mit Blick auf die Reli­ gion die eigenständige Triebfeder sittlichen Handelns überspielen. Spezifisch religiöse Pflichten neben den moralischen lehnt Kant mit aller Entschiedenheit ab: »Es giebt keine besondere Pflichten gegen Gott in einer allgemeinen Religion; denn Gott kann von uns nichts empfangen; wir können auf und für ihn nicht wirken.«28 Nicht um eine äußere Ergänzung der moralischen Pflichten (die am Ende auf ihre Relativierung hinausliefe) geht es in der Religion, sondern um eine neue Sinnperspektive, die alle Pflichten umfaßt. »Religion ist (subjectiv betrachtet) das Erkenntniß aller unserer Pflichten als göttlicher Gebote.«29 Moral und Religion stellen somit nicht zwei »Bereiche« dar, die einander nebengeordnet oder übergeordnet wä­ ren. Vielmehr handelt es sich um ineinander verschränkte Sinnper­ spektiven, derart, daß moralische Verbindlichkeit (die unabhängig von religiösem Glauben besteht) zugleich als religiöse Verbindlich­ keit erscheinen kann (nicht muß). Auch in motivationaler Hinsicht stellt religiöser Glaube nicht etwa eine »Ergänzung« der autonomen Triebfeder der »Achtung vor 25 Religion, AA VI, S. 6. 26 Religion, AA VI, S. 5. 27 Max Wundt, Kant als Metaphysiker. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Phi­ losophie im 18. Jahrhundert (Stuttgart: Ferdinand Enke, 1924), S. 372. 28 Religion, AAVI, S. 154 Fußnote. 29 Religion, AAVI, S. 153. (Hervorhebungen im Original.)

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VII. Symbolische Rede von Gott

dem moralischen Gesetz« dar. Der Bestimmungsgrund des Willens muß frei Weihen von privaten Spekulationen über künftigen Him­ melslohn hzw. von Angst vor etwaiger Höllenstrafe, die den sitt­ lichen Willen nicht etwa stärken, sondern im Kern korrumpieren würden, wie Kant betont. Denn würden »Gott und Ewigkeit mit ihrer furchtbaren Majestät uns unablässig vor Augen liegen«,30 so träte an die Stelle freien moralischen Handelns ein heilsegoistisches Kalku­ lieren. Im Bemühen um himmlischen Lohn hzw. in der Furcht vor göttlicher Bestrafung würden die Menschen sich voraussichtlich zwar normkonform verhalten. Diese Konformität bliebe jedoch bloß äußerlich; sie wäre kein freier, sondern ein sklavischer Gehorsam ohne jeden moralischen Wert. »Das Verhalten der Menschen ... wür­ de also in einen bloßen Mechanismus verwandelt werden, wo wie im Marionettenspiel alles gut gesticuliren, aber in den Figuren doch kein Leben anzutreffen sein würde.«31 Nur eine Moral, die auf eigenen Füßen stehen kann, ist vor der Versuchung geschützt, religiösen Glauben als pädagogische Stütze moralischen Verhaltens zu instrumentalisieren. Mit der Freisetzung der Moral von der Religion wird umgekehrt auch diese von vor­ dergründiger Moralisierung freigehalten. Dies kommt dem Glauben zugute. Die dogmatische Vorstellung von Himmel und Hölle kor­ rumpiert nämlich nicht nur die Moral, sondern auch die Religion, weil sie eine wirkliche Gottesliebe, die nur in Freiheit möglich ist, unmöglich macht. Die Mystiker aller Konfessionen haben dies im­ mer schon gewußt. So wird von Rabi'a al-Adawiyya, der islamischen Mystikerin der Gottesliebe (gest. 801), die Geschichte erzählt, daß sie mit einer brennenden Fackel und einem Eimer Wasser auf den Marktplatz von Basra stand. Auf die Frage, was sie damit vorhabe, habe sie geantwortet: »Ich will Feuer ans Paradies legen und Wasser in die Hölle gießen, damit diese beiden Schleier verschwinden und es deutlich wird, wer Gott aus Liebe und nicht aus Höllenfurcht oder Hoffnung aufs Paradies anbetet.«32 Von einem völlig anderen Ansatz herkommend, trifft Kant sich mit diesem Anliegen der Mystiker. Denn auch ihm geht es darum, den Gottesdienst gegen jede Instru­

30 31 32 te

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KpV, AAV, S. 147. (Hervorhebungen im Original.) KpV, AAV, S. 147. (Hervorhebungen im Original.) Zitiert nach Annemarie Schimmel, Mystische Dimensionen des Islam. Die Geschich­ des Sufismus (Frankfurt a.M.: Insel, 1995), S. 66.

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3. Symbolische Vermittlung zwischen Moral, Religion und Recht

mentalisierung zu schützen und damit als einen freien Akt über­ haupt erst zu ermöglichen.33 Obwohl die Gottesidee im moralischen Bewußtsein des Men­ schen gründet, transzendiert sie den Geltungsanspruch der Moral. »Der Satz: es ist ein Gott, mithin es ist ein höchstes Gut in der Welt, wenn er (als Glaubenssatz) bloß aus der Moral hervorgehen soll, ist ein synthetischer a priori, der, ob er gleich nur in praktischer Bezie­ hung angenommen wird, doch über den Begriff der Pflicht, den die Moral enthält, ... hinausgeht, und aus dieser also analytisch nicht entwickelt werden kann.«34 Erst in dieser Differenz von Moral und Religion kommen beide in ihr Eigenrecht. Und erst in dieser wech­ selseitigen Unabhängigkeit voneinander können sie in Freiheit auf­ einander verweisen. Der symbolische Verweisungszusammenhang zwischen Moral und Religion läßt sich erweitern noch um die Ebene des Rechts. Denn auch Moral und Recht gehören bei aller spezifischen Differenz zu­ sammen, insofern die Würde des Menschen als sittlich autonomes Subjekt eine indirekte Darstellung im Menschenrecht auf gleiche Freiheit findet.35 Wenn aber das Recht um der Achtung der Men­ schenwürde willen einen moralischen Sinn hat und die Moral wieder­ um auf Religion verweist, so kann auch das Recht in einer religiösen Perspektive gewürdigt werden. Vermittelt über die Moral stehen demnach auch Recht und Religion in einem Zusammenhang sym­ bolischer Verweisung. Das Recht wird durch seine mögliche religiöse Würdigung nicht zum religiösen Recht, sondern bleibt säkular. Es ist ein Recht der Menschen, ungeachtet ihrer unterschiedlichen religiösen (oder auch nichtreligiösen) Überzeugungen, die niemals selbst zum Gegenstand rechtlichen Zwangs werden dürfen. Wenn es sich sowohl bei dem Verhältnis von Moral und Religion als auch beim Verhältnis von Recht und Moral um einen indirekten, symbolischen Verweisungs­ zusammenhang handelt, so gilt auch für die Beziehung von Recht und Religion, daß sie von wechselseitiger Unabhängigkeit bestimmt sein muß. Auf keinen Fall dürfen beide sich zum erzwingbaren Got­ tesrecht zusammenschließen, in dem sowohl die rechtliche als auch die religiöse Freiheit verschwinden würde. Nur in der strikten Diffe­ 33 Vgl. Religion, AA VI, S. 179. 34 Religion, AAVI, S. 6 Fußnote. 35 Vgl. oben, Kap. V,2.

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VII. Symbolische Rede von Gott

renz können beide frei sein: nämlich Freiheitsrecht und freier Glaube. Gerade in der Unabhängigkeit von religiöser Begründung hat das Recht freilich zugleich Anteil an der Unbedingtheit der Men­ schenwürde, die ihrerseits auf Religion verweist. Die Differenz von Recht und Religion bildet deshalb die Voraussetzung für ihre indi­ rekte, symbolische Vermittlung. Der Begriff des Gottesrechts, der als juridische Kategorie ein Unding wäre, hat in dieser Perspektive durchaus einen Sinn, indem er nämlich jene Unverfügbarkeit des Rechts symbolisch zu Wort bringt, in der dessen ethischer Sinn­ grund offenbar wird. Das so symbolisch verstandene Gottesrecht aber kann nie und nimmer gegen die Menschenrechte ausgespielt werden, wie dies im autoritären »Gottesstaat« geschieht.36 Es gibt keine Gottesrechte neben den Menschenrechten oder ihnen voraus­ liegend. Vielmehr ist das Menschenrecht selbst zugleich das Gottes­ recht - genauer: es kann im Glauben so verstanden werden. Wie dem gläubigen Menschen alle seine moralischen Pflichten zugleich als göttliche Gebote gelten, so wird er auch seine unveräußerlichen Rechte als göttlichen Auftrag übernehmen. In diesem Sinne nennt Kant das Recht der Menschen »das Heiligste, was Gott auf Erden hat«.37

4.

Die Weisheit Gottes in der Schöpfung

Daß Kants Aufklärung sich als Sokratische Hebammenkunst voll­ zieht, gilt auch für seine Religionsphilosophie. Obwohl sein religi­ onsphilosophischer Argumentationsgang in vieler Hinsicht neu ist, geht Kant deshalb zugleich davon aus, daß die von ihm herausgear­ beitete Beziehung zwischen Moral und Religion den Menschen im Grunde immer schon bekannt gewesen ist. »Dieser moralische Be­ weis [der Existenz Gottes, H. B.] ist nicht etwa ein neu erfundener, sondern allenfalls nur ein neu erörterter Beweisgrund; denn er hat 36 Dies war die Pointe eines Vortrags, den der iranische Philosoph Abdol-Karim Soroush auf der dritten deutsch-iranischen Menschenrechtskonferenz hielt. Vgl. Heiner Bielefeldt, »Die Menschenrechte zwischen Universalisierungsanspruch und kultureller Bedingtheit«. Bericht zur deutsch-iranischen Konferenz vom 22. bis 24. September 1992 in Hamburg, in: ORIENT. Zeitschrift des Deutschen Orient-Instituts 33 (1992), S. 367-374. 37 Frieden, AAVIII, S. 353 Fußnote.

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4. Die Weisheit Gottes in der Schöpfung

vor der frühesten Aufkeimung des menschlichen Vernunftvermö­ gens schon in demselben gelegen und wird mit der fortgehenden Cultur desselben nur immer mehr entwickelt.«38 Auch wenn Kants Religionsphilosophie einen Neuanfang markiert, weil sie im Unter­ schied zu den Gottesbeweisen der Tradition unmittelbar bei der Er­ fahrung des sittlichen Sollens ansetzt, bleiben im Umbruch doch zu­ gleich Elemente der Kontinuität erhalten. Kant ist keineswegs der »Alleszermalmer« der Metaphysik. Indem er dieser die dogmati­ schen Krücken wegnimmt, kann er die metaphysischen Sinneinsich­ ten in kritischer Weise bewahren. Ein erstes Indiz (noch kein eigentlicher Beweis!) dafür, daß die dogmatischen Gottesbeweise der spekulativen Metaphysik fehl ge­ hen, ist schon das Desinteresse der meisten Menschen, deren gesun­ der Menschenverstand die subtilen Deduktionen der Metaphysiker als belanglose Sophistereien erkennt. Es ist für Kant bemerkenswert, »daß solche Beweise, wenn sie sich auch durch allerlei dialektische Subtilität verfechten ließen, doch niemals über die Schule hinaus in das gemeine Wesen hinüberkommen, und auf den bloßen gesunden Verstand den mindesten Einfluß haben könnten«.39 Eine Ausnahme stellt allein der teleologische Gottesbeweis dar, der aus der zweck­ mäßigen Ordnung der Natur auf die ordnende Hand eines göttlichen Schöpfers schließt. Auch für ihn gilt, daß er als wissenschaftlicher Beweisgang unmöglich ist. Dennoch bleibt er für Kant sinnvoll, weil er offenbar dem gemeinen Menschenverstand nahe steht und im Un­ terschied zu den abstrakten Konstruktionen der dogmatischen Meta­ physik eine praktische Wirkung aufs Gemüt der Menschen hat: »Dieses aus der physischen Teleologie genommene Argument ist ver­ ehrungswerth. Es thut gleiche Wirkung zur Überzeugung auf den gemeinen Verstand, als auf den subtilsten Denker ...«.40 Die relative Überzeugungskraft des teleologischen bzw. »physiko-theologischen« Gottesbeweises beruht allerdings darauf, daß in ihm mehr oder minder unbewußt jener »ethiko-theologische« Ge­ dankengang wirksam ist, den erst Kant in seiner Religionsphilo­ sophie klar herausgearbeitet hat. Denn schon bei der Suche nach Spuren der Zweckmäßigkeit in der Natur wird der Menschen im Grunde von einem moralischen Interesse geleitet: Er will die Welt 38 KU, AAV, S. 458. 39 KU, AAV, S. 476. 40 KU, AAV, S. 476.

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VII. Symbolische Rede von Gott

ansehen, als ob in ihr ein Schöpfer am Werke ist, um im Bedenken der Sinnhaftigkeit des Weltganzen Hoffnung für seine sittliche Praxis zu finden. Diese Als-Oh-Einsicht, die in bloß theoretischer Betrachtung haltlos hliehe, findet im moralischen Bewußtsein seinen Boden. Der teleologische »Gottesheweis« ist folglich nicht eigentlich ein theoreti­ sches Argument (weshalb er in der Wissenschaft nichts zu suchen hat), sondern gewinnt seine Plausibilität aus einem praktischen Inter­ esse. »Bei näherer Prüfung würden wir sehen, daß eigentlich eine Idee von einem höchsten Wesen, die auf ganz verschiedenem Vernunft­ gehrauch (dem praktischen) beruht, in uns a priori zum Grunde liege, welche uns antreiht, die mangelhafte Vorstellung einer physischen Teleologie von dem Urgrunde der Zwecke in der Natur his zum Be­ griffe einer Gottheit zu ergänzen; und wir würden uns nicht fälschlich einhilden, diese Idee, mit ihr aher eine Theologie durch den theoreti­ schen Vernunftgehrauch der physischen Weltkenntniß zu Stande ge­ hracht, viel weniger, ihre Realität hewiesen zu hahen.«41 Nicht die Ordnung der Natur giht den Grund ah für die Idee des göttlichen Schöpfers. Vielmehr verhält es sich umgekehrt so, daß der im sittlichen Anspruch gründende Gottesgedanke den Impuls dafür giht, die Welt als Manifestation göttlicher Weisheit anzusehen. Der physiko-theologische Gottesheweis hat sein - relatives - Recht nur insofern, als er zumindest implizit den ethiko-theologischen Gottes­ gedanken repräsentiert: »Daß also der physisch-teleologische Beweis, gleich als oh er zugleich ein theologischer wäre, üherzeugt, rührt nicht von der Benützung der Ideen von Zwecken der Natur als so viel empirischen Beweisgründen eines höchsten Verstandes her; sondern es mischt sich unvermerkt der jedem Menschen heiwohnende und ihn so innigst hewegende moralische Beweisgrund in den Schluß mit ein .. ,«.42 Von der Idee sittlicher Freiheit zur Sinnsuche in der Natur an­ geleitet, kann der Mensch schließlich sogar den Grenzen seiner eige­ nen Natur und seines Erkenntnisvermögens einen Sinn ahgewinnen - wohei eine solche tastende Sinneinsicht ihrerseits freilich nie den Anspruch gegenständlichen Wissens erhehen darf. Auch das

41 KU, AA V, S. 438f. Vgl. auch William James Booth, Interpreting the World: Kant's philosophy of history and politics (Toronto: Toronto University Press, 1986), S. 86: »Moral teleology ... gives voice to our interest in nature an interest in the existence of a certain kind of order in nature.« 42 KU, AA V, S. 477. (Hervorhehung im Original.)

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»Begreifen der Unbegreiflichkeit« hebt die Unbegreiflichkeit nicht auf. Und doch ist dem Menschen der Gedanke erlaubt, daß selbst das Scheitern der theoretisch-spekulativen Metaphysik in prakti­ scher Hinsicht sinnvoll sein mag, weil es »die Eitelkeit und Vermes­ senheit des Vernünftelns«43 verhindert.44 Nur im letzten Nichtwis­ sen kann religiöser Glaube sich entfalten, und nur im letzten Nichtwissen kann der Mensch sittlich frei handeln. Daß er kein de­ finitives Wissen über den Sinn der Welt im ganzen, über die Absicht der göttlichen Vorsehung und über die Vergeltung menschlicher Ta­ ten im Jenseits erwerben kann, mag daher sinnvoll sein. Nur auf den ersten Blick scheint es, daß die Natur uns in dieser Hinsicht »stief­ mütterlich« versorgt hat.45 Bei näherem Bedenken hingegen können uns selbst die Grenzen unseres Erkennens zum Anlaß philosophi­ schen Staunens werden: »Also möchte es auch hier wohl damit seine Richtigkeit haben, was uns das Studium der Natur und des Menschen sonst hinreichend lehrt, daß die unerforschliche Weisheit, durch die wir existiren, nicht minder verehrungswürdig ist in dem, was sie uns versagte, als in dem, was sie uns zutheil werden ließ.«46

5.

Gott als Gesetzgeber eines ethischen Gemeinwesens

Religiöser Glaube kann keine unmittelbare Pflicht sein. Als Gegen­ stand einer Rechtspflicht ist er von von vornherein undenkbar; und auch ein direktes moralisches Gebot zu glauben ergibt keinen Sinn. In indirekter Weise aber kann der Glaube doch zum Gegenstand sitt­ licher Verantwortung werden. Er sorgt nämlich dafür, daß der Mensch in der Befolgung seiner sittlichen Pflichten - deren Verbind­ 43 KU, AAV, S. 459. 44 Vgl. KU, AAV, S. 459: »Die Einschränkung der Vernunft in Ansehung aller unserer Ideen vom Übersinnlichen auf die Bedingungen ihres praktischen Gebrauchs hat, was die Idee von Gott betrifft, den unverkennbaren Nutzen: daß sie verhütet, daß Theologie sich nicht in Theosophie (in vernunftverwirrende überschwengliche Begriffe) versteige, oder zur Dämonologie (einer anthropomorphistischen Vorstellungsart des höchsten Wesens) herabsinke; daß Religion nicht in Theurgie (ein schwärmerischer Wahn, von anderen übersinnlichen Wesen Gefühl und auf sie wiederum Einfluß haben zu können), oder in Idolatrie (ein abergläubischer Wahn, dem höchsten Wesen sich durch andere Mittel, als durch eine moralische Gesinnung wohlgefällig machen zu können) gerathe.«(Hervorhebungen im Original.) 45 KpV,AAV, S. 146. 46 KpV,AAV, S. 148.

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lichkeit unabhängig von der Religion besteht - angesichts vieler Wi­ derstände nicht alsbald resigniert und seine Kräft erlahmen läßt. Im Glauben kann der Mensch »Muth und feste Gesinnung fassen ..., daß er am Gelingen seiner Endabsicht (Gott wohlgefällig zu werden) nicht verzweifelt«.47 Wenn der Mensch die Pflicht hat, all diejenigen Anlagen zu kultivieren, die einer moralischen Lebensführung hilf­ reich sind,48 so umfaßt diese Verantwortung in gewisser Weise auch den Glauben, der somit nicht als religiöse Pflicht, sondern als indi­ rekt-moralische Pflicht geboten ist. In diesem Sinne schreibt Kant: »Religion zu haben ist Pflicht des Menschen gegen sich selbst.«49 Die indirekt-moralische Pflicht zur Religion gilt nicht nur für den Einzelnen, sondern auch für die Gesellschaft. Sie ist implizit vorausgesetzt in einer spezifischen Pflicht »des menschlichen Ge­ schlechts gegen sich selbst«,50 nämlich in der Pflicht zur Errichtung einer ethischen Gemeinschaft. Diese Perspektive wird erstmals in der Religionsschrift entfaltet. In ihr spricht Kant mit unüberbietbarer Schärfe vom Hang des Menschen zum Bösen. Das Böse ist nicht nur Ausdruck menschlicher Endlichkeit und Schwäche, sondern kann sich steigern bis zum »radikal Bösen«, nämlich zur völligen Ver­ kehrtheit des Herzens, in der der Mensch »die sittliche Ordnung in Ansehung der Triebfedern einer freien Willkür umkehrt«.51 Statt seine Maximen dem allgemeinen Gesetz zu unterwerfen, dreht und wendet er die Forderung der Gesetzlichkeit so, daß sie seinen pri­ vaten Absichten dienlich wird. Die Wahrung äußerer Legalität kann einhergehen mit völliger innerer Verderbnis, »und der Mensch ist bei lauter guten Handlungen dennoch böse«.52 Diese Tendenz des Menschen zum radikal Bösen bleibt unerforschlich. Sie läßt sich nicht erklären, denn mit der Erklärung wäre sie bereits entschuldigt.53 Man kann jedoch davon ausgehen, daß sie mit der gesellschaftlichen Existenzweise des Menschen zusammen­ 47 Streit, AA VII, S. 44. 48 Vgl. KpV, AAV, S. 38. 49 MS, AAVI, S.444. 50 Religion, AAVI, S. 97. 51 Religion, AAVI, S. 30. (Hervorhebung im Original.) 52 Religion, AAVI, S. 31. 53 Vgl. Religion, AAVI, S. 43: »Der Vernunftursprung aber dieser Verstimmung unse­ rer Willkür in Ansehung der Art, subordinirte Triebfedern zu oberst in ihre Maximen aufzunehmen, d.i. dieses Hanges zum Bösen, bleibt uns unerforschlich, weil er selbst uns zugerechnet werden muß ...«.

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hängt. Weit schlimmer als die »Laster der Rohigkeit der Natur« wie Völlerei, Wollust und wilde Gesetzlosigkeit54 sind die »Laster der Cultur«. wie Neid, Undankbarkeit und Schadenfreude, die im Unter­ schied zu den bloß animalischen (»viehischen«) Lastern »teuflische Laster« genannt werden.55 Während die animalischen Laster der bloß physischen Selbstliebe entspringen, haben die teuflischen Laster ihren Grund in der »vergleichenden Selbstliebe«: »Von ihr rührt die Neigung her, sich in der Meinung Anderer einen Werth zu verschaf­ fen; und zwar ursprünglich bloß den der Gleichheit: keinem über sich Überlegenheit zu verstatten, mit einer beständigen Besorgniß ver­ bunden, daß Andere darnach streben möchten; woraus nachgerade eine ungerechte Begierde entspringt, sie sich über Andere zu er­ werben.«56 Wie Rousseau den »amour propre«, die vergleichende Eigenliebe im Unterschied zur unschuldigen Selbstliebe (»amour de soi-meme«) als Quell alles Bösen in der Gesellschaft ansieht,57 geht auch Kant davon aus, daß die gesellschaftliche Existenz des Men­ schen neue und erhöhte Gefahren moralischer Korruption birgt.58 Im Unterschied zu Rousseau wird Kant allerdings nicht zum Kritiker von Zivilisation und Kultur. Er fordert nicht ein Weniger, sondern ein Mehr an Kultur: Es geht darum, über die in der Rechts­ gemeinschaft erzwingbare Legalität hinaus auch eine ethische Ge­ meinschaft zu schaffen. Wie aber ist eine solche möglich? Die im Innersten des Herzens gründende Moralität kann niemals kollekti­ viert werden; sie bleibt Sache jedes einzelnen Menschen, der sich in beständiger Gewissenserforschung Rechenschaft über seine Hand­ lungsmotive ablegen soll. Die politisch-rechtliche Organisation des Gemeinwesens hingegen muß darauf verzichten, unmittelbar auf den inneren Willen des Menschen einzuwirken. Auch die zivilen Höflichkeitsformen können die Tugend der anderen nur indirekt an­ 54 Vgl. Religion, AAVI, S. 26 f. (Hervorhebung im Original.) 55 Religion, AAVI, S. 27. (Hervorhebung im Original.) 56 Religion, AAVI, S. 27. (Hervorhebungen im Original.) 57 Vgl. Rousseau, Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, deutsch-französische Ausgabe der beiden Discours, hg. von Kurt Weigand (Hamburg: Meiner, 2. Aufl. 1971), S. 168 Fußnote. 58 Vgl. Religion, AA VI, S. 93 f.: »Der Neid, die Herrschsucht, die Habsucht und die damit verbundenen feindseligen Neigungen bestürmen alsbald seine an sich genügsame Natur, wenn er unter Menschen ist, und es ist nicht einmal nöthig, daß diese schon als im Bösen vesunken und als verleitende Beispiele vorausgesetzt werden; es ist genug, daß sie da sind, daß sie ihn umgeben, und daß sie Menschen sind, um einander wechsel­ seitig in ihrer moralischen Anlage zu verderben und sich einander böse zu machen.«

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sprechen, nämlich im Modus eines spielerischen »Als-Oh«, das die unterhintergehhare Zweideutigkeit des menschlichen Herzens in im­ mer auch ironischer Weise zum Ausdruck hringt. Es will zunächst scheinen, daß es keine Vermittlung giht zwi­ schen der letzten »Unsichtbarkeit« der Moralität und der unerläß­ lichen »Sichtbarkeit« einer gemeinschaftlichen Organisation. Und doch hleiht die Aufgabe der »Errichtung und Ausbreitung einer Ge­ sellschaft nach Jugendgesetzen«59 bestehen. Sie preiszugehen hieße, die Erfolgsaussichten sittlichen Handelns für den Einzelnen ange­ sichts der ihn bestürmenden gesellschaftlichen Anfechtungen erheb­ lich zu reduzieren.60 Es gilt daher, die Möglichkeit eines ethischen Gemeinwesens festzuhalten und nach Spuren seiner Wirklichkeit zu suchen, an denen das aktive Bemühen um Förderung eines gemein­ schaftlichen Ethos ansetzen kann. Die Idee eines solchen ethischen Gemeinwesens sieht Kant in der Kirche gegeben, die als eine in sitt­ licher Glaubensgesinnung verbundene Gemeinschaft zuletzt un­ sichtbar bleibt und doch in den Institutionen einer historischen Kir­ che sichtbare Gestalt annimmt. »Ein ethisches gemeines Wesen unter der göttlichen moralischen Gesetzgebung ist eine Kirche, welche, so fern sie kein Gegenstand möglicher Erfahrung ist, die unsichtbare Kirche heißt (eine bloße Idee von der Vereinigung aller Rechtschaf­ fenen unter der göttlichen unmittelbaren, aber moralischen Welt­ regierung, wie sie jeder von Menschen zu stiftenden zum Urbilde dient). Die sichtbare ist die wirkliche Vereinigung der Menschen zu einem Ganzen, das mit jenem Ideal zusammenstimmt.«61 Die Idee des göttlichen Gesetzgebers ist für die unsichtbare Kir­ che konstitutiv. Denn allein in Hinblick auf Gott können die Men­ schen ihre individuelle Moralität überschreiten, ohne den Respekt

59 Religion, AA VI, S. 94. 60 Vgl. Religion, AAVI, S. 151: »Wir haben gesehen, daß zu einem ethischen gemeinen Wesen sich zu vereinigen eine Pflicht von besonderer Art (officium sui generis) sei, und daß, wenn gleich ein jeder seiner Privatpflicht gehorcht, man daraus wohl eine zufällige Zusammenstimmung aller zu einem gemeinschaftlichen Guten, auch ohne daß dazu noch eine besondere Veranstaltung nöthig wäre, folgern könne, daß aber doch jene Zu­ sammenstimmung aller nicht erhofft werden darf, wenn nicht aus der Vereinigung der­ selben mit einander zu eben demselben Zwecke und Errichtung eines gemeinen Wesens unter moralischen Gesetzen als vereinigter und darum stärkerer Kraft, den Anfechtun­ gen des bösen Princips ... sich zu widersetzen, ein besonderes Geschäfte gemacht wird.« (Hervorhebungen im Original.) 61 Religion, AAVI, S. 101. (Hervorhebungen im Original.)

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vor der letzten Unsichtbarkeit des Moralischen aufzugehen.62 Der Gesetzgeber des ethischen Gemeinwesens muß ein göttlicher »Herzenskündiger« sein,63 der anders als der irdische Gesetzgeber über die Legalität hinaus auch die Moralität der Menschen zu bewerten im­ stande ist. Im Blick auf Gott können die Menschen als Gläubige ihre in der Autonomie der Moral gegründeten sittlichen Pflichten zu­ gleich als göttliche Gebote (d. h. als Theonomie) verstehen und die je individuelle moralische Gesetzgebung zugleich als Werk eines al­ len gemeinsamen göttlichen Gesetzgebers ansehen. Die Autonomie jedes Einzelnen bleibt auf diese Weise ungeschmälert bestehen und findet gleichzeitig in der Transzendenz einen virtuellen (theonomen) Bezugspunkt, der die Koinzidenz mit der moralischen Berufung aller anderen zu denken erlaubt. »Also ist ein ethisches gemeines Wesen nur als ein Volk unter göttlichen Geboten, d. i. als ein Volk Gottes, und zwar nach Jugendgesetzen, zu denken möglich.«64 Indem die Idee der unsichtbaren Kirche die wesentliche Gemeinschaftlichkeit der sittlichen Pflichten zu denken erlaubt, läßt sich schließlich also doch sinnvoll von einen »Pflicht des menschlichen Geschlechts gegen sich selbst« sprechen.65 Die wesentliche Unsichtbarkeit des ethischen Gemeinwesens hat zur Folge, daß der Mensch ein solches nicht im unmittelbaren Zugriff schaffen kann. Nur der göttliche Herzenskündiger könnte unmittelbar eine Gemeinschaft der Herzen bewirken. Deshalb schreibt Kant: »Ein moralisches Volk Gottes zu stiften, ist also ein Werk, dessen Ausführung nicht von Menschen, sondern nur von 62 Vgl. Sharon Anderson-Gold, God and Community: An Inquiry into the Religious Implications of the Hightest Good, in: Philip J. Rossil Michael Wreen (Hg.), Kant's Philosophy of Religion Reconsidered (Bloomington/Indianapolis: Indiana University Press, 1991), S. 113-131, hier S. 128 f.: »The idea of a moral governor is the correlate of the >we< which the human community requires as the condition of individual moral perfection.« 63 Religion, AAVI, S. 99. 64 Religion, AAVI, S. 99. (Hervorhebungen im Original.) 65 Vgl. Alfred Habichler, Das Reich Gottes als Thema des Denkens bei Kant. Entwick­ lungsgeschichtliche und systematische Studie zur kantischen Reich-Gottes-Idee (Mainz: Grünewald, 1991), S. 220: »Diese Radikalität, Moral so unter dem geschicht­ lichen Gemeinschaftsaspekt zu betrachten, ist bei Kant bisher nicht dagewesen und so­ mit ein Novum der Religionsschrift.« Vgl. auch Allen W. Wood, Rational theology, moral faith, and religion, in: Paul Guyer (Hg.), The Cambridge Companion to Kant (Cambridge: Cambridge University Press, 1992), S. 394-415, hier S. 407f.: »In other words, Kantian morality is communitarian, not individualistic. Religion has a place in human life for him because the moral life is not a purely private matter ...«.

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Gott selbst erwartet werden kann.«66 Gleichwohl weiß der Mensch sich aufgerufen, alle seine Kräfte einzusetzen, um auf das ethische Gemeinwesen wenigsten hinzuwirken. Der Verweis auf Gott als den einzig denkbaren Stifter des ethischen Gemeinwesens ist kein Frei­ brief für Passivität und Fatalismus. Verlangt ist im Gegenteil maxi­ male Aktivität, deren letzte Sinnorientierung vom Menschen freilich nur gläubig und hoffend antizipiert werden kann. Er muß handeln, »als ob alles auf ihn ankomme, und nur unter dieser Bedingung darf er hoffen, daß höhere Weisheit seiner wohlgemeinten Bemühung die Vollendung werde angedeihen lassen«.67

6.

Die sichtbare als Symbol der unsichtbaren Kirche

Wie aber kann der Mensch konkret auf die Entstehung eines ethi­ schen Gemeinwesens hinwirken? Kants Antwort besteht im Hinweis auf die sichtbare Kirche als die Statthalterin der unsichtbaren Kirche. Konkret-historische Gestalt findet die Idee der unsichtbaren Kirche in den Institutionen und Bräuchen der sichtbaren Kirche, die mit der Idee zwar niemals gleichgesetzt werden darf, ohne die die Idee jedoch wirkungslos bliebe. Denn, wie Kant schreibt: »Allein das Unsichtbare bedarf doch beim Menschen durch etwas Sichtbares (Sinnliches) repräsentirt, ... gleichsam (nach einer gewissen Analogie) anschaulich gemacht zu werden .. ,«.68 Wenn Kant sich deshalb auch mit der sichtbaren christlichen Kirche auseinandersetzt, so ist sein Interesse an deren Lehre und Kult allerdings nur ein mittelbares. Generell verbleibt er eher in einer Haltung der Distanz. Die sichtbare Kirche gilt ihm als »bloßes sinn­ liches Vehikel«,69 dem eine Dienstfunktion für den vernünftigen Re­ ligionsglauben zukommt. Mehr noch: »Das Leitband der heiligen Überlieferung mit seinen Anhängseln, den Statuten und Observan­ zen, welches zu seiner Zeit gute Dienste that«, so vermutet er, »wird nach und nach entbehrlich, ja endlich zur Fessel ...«.70 Kant bekennt sich dazu, daß ihn die komplizierte Dogmatik des Christentums we-

66 67 68 69 70

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Religion, AA VI, S. 100. Religion, MS, AA VI, S. 101. (Hervorhebung von mir, H. B.) Religion, AA VI, S. 192. Streit, AA VII, S. 37. Religion, AA VI, S. 121.

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nig interessiert. Denn, so ist er überzeugt: »Es muß eine sehr ein­ fache Sache mit der Religion seyn, wenn man annimmt, daß sie für jeden Menschen eine freye Religion seyn soll ...«.71 Aus der Trini­ tätslehre, findet er, »läßt sich schlechterdings nichts fürs Praktische machen«;72 und ähnliche Urteile fällt er auch über die anderen zen­ tralen Dogmen des christlichen Glaubens wie die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus oder die Lehre von der Auferstehung des Fleisches.73 Nach alldem wird man sagen müssen, daß Kant nicht im eigentlichen Sinne als christlicher (oder näherhin als protestanti­ scher) Religionsphilosoph gelten kann.74 Im Unterschied zu anderen Vertretern der Aufklärung wie Hume oder Voltaire geht es Kant andererseits jedoch keineswegs dar­ um, die historische Religion und Kirche überhaupt zu destruieren.75 Sein Ziel besteht vielmehr darin, die Kirche so zu reformieren, daß sie in ihrer symbolischen Funktion als Statthalterin der unsichtbaren Kirche Wirksamkeit entfalten kann. Wie in der Rechtsphilosophie ist Kant auch in der Religionsphilosophie nicht Revolutionär, sondern Reformer.76 Und wie er in seiner Rechtsphilosophie den historischen Staat und sein positives Recht in reformerischer Absicht kritisiert, so unternimmt er in ähnlicher Intention auch in der Religionsphilo­ sophie eine systematische Kritik der historischen Kirche und ihrer positiven Offenbarungsurkunde. Wenn Kant seine kritische Prüfung allein auf die praktische Ver­ nunft stützt, leugnet er damit nicht die Möglichkeit religiöser Offen71 Refl. 8090, Handschriftlicher Nachlaß, 6. Band, AA XIX, S. 635. 72 Streit, AAVII, S. 38. (Hervorhebung im Original.) 73 Vgl. Streit, AA VII, S.39. 74 So aber Josef Bohatec, Die Religionsphilosophie Kants in der »Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft«. Mit besonderer Berücksichtigung ihrer theologisch­ dogmatischen Quellen (Hamburg: Hoffmann und Campe, 1938), S. 637: »Problem­ geschichtlich kann die Schrift als ein Versuch gewertet werden, die geschichtlich-zu­ fälligen Bestandteile der protestantischen Dogmatik in das Licht der nachweislich platonisch gefaßten Idee zu rücken und sie dadurch mit Vernunftgehalt zu füllen.« 75 So aber Friedrich Delekat, Immanuel Kant. Historisch-kritische Interpretation der Hauptschriften (Heidelberg: Quelle & Meier, 3. durchges. Aufl., 1969), S. 365, der sich durch Kants Kirchenkritik an Voltaires Motto »ecrasez l'infame« erinnert sieht. 76 Vgl. Ernst Troeltsch, Das Historische in Kants Religionsphilosophie. Zugleich ein Beitrag zu den Untersuchungen über Kants Philosophie der Geschichte, in: Kant-Stu­ dien 9 (1904), S. 21-154, hier S. 130: »[Kant] will nicht Religion aus reiner Vernunft, sondern >Rektifikation< der positiven Religion durch die Vernunftreligion.« Vgl. ähnlich Michel Despland, Kant on History and Religion (Montreal/ London: McGill - Queen's University Press, 1973, S. 245.

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barung. Diese Frage läßt er vielmehr offen. »Der Rationalist«, so schreibt er, »muß sich vermöge dieses seines Titels von selbst schon innerhalb der Schranken der menschlichen Einsicht halten. Daher wird er nie als Naturalist absprechen und weder die innere Möglich­ keit der Offenbarung überhaupt, noch die Nothwendigkeit einer Of­ fenbarung als eines göttlichen Mittels zur Indroduction der wahren Religion bestreiten; denn hierüber kann kein Mensch durch Vernunft etwas ausmachen.«77 Während die Vernunft hinsichtlich der prin­ zipiellen Frage nach der Möglichkeit oder Unmöglichkeit von Offen­ barung schweigen muß, ist sie in der Konfrontation mit einem konkreten Anspruch auf Offenbarung als Entscheidungskriterium allerdings unverzichtbar. Auch angesichts der Forderungen eines Of­ fenbarungsglaubens besteht die Aufgabe, die Geister zu scheiden und sich praktische Orientierung zu verschaffen. Ein sacrificium rationis im Namen der Offenbarungsreligion wäre schlechterdings unverant­ wortlich. Es käme einem blinden, fanatischen Glauben gleich, einer Selbstentmündigung, mit der der Mensch sich als Verantwortungs­ wesen preisgeben würde. Die fundamentale ethische Aufgabe des »Ausgangs aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit« macht des­ halb auch vor den Forderungen der Religion nicht halt, und der kate­ gorische Imperativ der Aufklärung betrifft auch den Offenbarungs­ glauben.

7.

Auf dem Weg zum mündigen Glauben

Drei Bereiche der historischen Religion bzw. Kirche bilden die zen­ tralen Gegenstände religionsphilosophischer Aufklärung: die Offen­ barungsschrift und ihre Auslegung, die religiösen Dogmen mitsamt ihrem unvermeidlichen Anthropomorphismus, schließlich der kirch­ liche Gottesdienst. 77 Religion, AAVI, S. 155. Den Titel »Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft« hat Kant, wie er im Streit der Fakultäten schreibt, für seine Religionsschrift mit Absicht gewählt, »damit manjene Abhandlung nicht dahin deutete: als sollte sie die Religion aus bloßer Vernunft (ohne Offenbarung) bedeuten; denn das wäre zu viel An­ maßung gewesen: weil es doch sein konnte, daß die Lehren derselben von übernatürlich inspirirten Männern herrührten; sondern daß ich nur dasjenige, was im Text der für geoffenbart geglaubten Religion, der Bibel, auch durch bloße Vernunft erkannt werden kann, hier in einem Zusammenhange vorstellig machen wollte.« Streit, AA VII, S. 6 Fußnote. (Hervorhebungen im Original.)

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7. Auf dem Weg zum mündigen Glauben

a)

Schriftkritik

Offenbarung, mag sie auch Gottes Wort sein, kommt zur Geltung nur in menschlicher Interpretation. Auch wenn ihre Inhalte über das hinausgehen, was die Vernunft (und eine auf sie gestützte Reli­ gionsphilosophie) zu fassen imstande ist, kann der Mensch sich bei der Schriftinterpretation der Vernunft nicht entschlagen. Die Ver­ nunft - genauer: die praktische Vernunft - hält ihren unbedingten Geltungsanspruch auch angesichts der Offenbarungsschrift aufrecht und muß im Konfliktfall Vorrang haben, wie Kant ausführt: »Schrift­ stellen, welche gewisse theoretische, für heilig angekündigte, aber allen (selbst den moralischen) Vernunftbegriff übersteigende Lehren enthalten, dürfen, diejenigen aber, welche der praktischen Vernunft widersprechende Sätze enthalten, müssen zum Vortheil der letzteren ausgelegt werden.«78 Klassisches Beispiel ist das Opfer Abrahams. Das Gebot, einen Menschen (in diesem Fall sogar den eigenen Sohn) zu töten, kann der Mensch aus moralischen Gründen niemals aner­ kennen. »Abraham hätte auf diese vermeinte göttliche Stimme ant­ worten müssen: >Daß ich meinen guten Sohn nicht tödten solle, ist ganz gewiß; daß aber du, der du mir erscheinst, Gott sei, davon bin ich nicht gewiß und kann es auch nicht werdem, selbst wenn sie auch vom (sichtbaren) Himmel herabschallte.«79 Daß selbst angesichts eines Offenbarungsanspruchs die Forde­ rung der Vernunft bestehen bleibt, wissen im Grunde auch die Of­ fenbarungstheologen. Obwohl sie den kritischen Einspruch der Ver­ nunft, wenn er ihnen lästig oder bedrohlich wird, gern zurückweisen, kommen sie nicht umhin, selbst immer wieder von der Vernunft Ge­ brauch zu machen. Der versöhnliche »Vergleich« zwischen Offenba­ rungstheologie und Religionsphilosophie, den Kant im »Streit der Fakultäten«, einem Meisterwerk geistvoller Ironie, zum Schein vor­ schlägt, nämlich daß sich beide Fakultäten exklusiv auf ihre je eigene Quelle zurückziehen und zwischen Offenbarung und Vernunft säu­ berlich trennen, liefe deshalb in letzter Konsequenz auf die Selbst­ aufgabe der Offenbarungstheologie hinaus. Weil sie ohne Philo­ sophie selbst stumm bleiben würde, kann die Theologie sich auf einen solchen Vergleich niemals einlassen. »Soll aber doch, was die Schriftauslegung betrifft, durchaus Streit zwischen beiden sein, so 78 Streit, AAVII, S. 38. (Hervorhebungen im Original.) 79 Streit, AAVII, S. 63 Fußnote.

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VII. Symbolische Rede von Gott

weiß ich keinen andern Vergleich als diesen: wenn der biblische Theolog aufhören wird sich der Vernunft zu seinem Behuf zu bedie­ nen, so wird der philosophische auch aufhören zu Bestätigung seiner Sätze die Bibel zu gebrauchen. Ich zweifle aber sehr, daß der erstere sich auf diesen Vertrag einlassen dürfte.«80 Offenharungstheologie kann ohne philosophische Vernunftreli­ gion gar nicht betrieben werden. Der Theologe, der nicht umhin kommt, mit Vernunft zu argumentieren, ist daher gewissermaßen selbst immer zugleich auch Philosoph. Der aufklärerische Appell »habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen« - meint im Blick auf den Offenbarungstheologen folglich nichts anderes als die Forderung, die der Theologie immanente Philosophie systema­ tisch zur Geltung zu bringen. Einmal mehr erweist sich Aufklärung als Mäeutik, nämlich als Appell an eine Vernunft, die nicht erst ent­ stehen muß, sondern auch in der Offenbarungstheologie bereits da ist.81 Der Streit der Fakultäten ist demnach ein Streit, der auch inner­ halb der Theologie selbst ausgefochten wird, weil diese als »reine« Offenbarungstheologie überhaupt nicht denkbar wäre. Sobald sie aber bewußt Philosophie treibt, setzt sie sich nolens volens einer Kri­ tik aus, die nicht einmal vor den Ansprüchen der Offenbarung Halt machen kann. Deshalb prognostiziert Kant spöttisch: »Bemengt der biblische Theolog sich in Ansehung irgend eines dieser Sätze [näm­ lich bei der Auslegung von Versen der Offenbarungsschrift, H. B.] mit der Vernunft ..., so überspringt er (wie der Bruder des Romulus) die Mauer des allein seligmachenden Kirchenglaubens und verläuft sich in das offene, freie Feld der eigenen Beurtheilung und Philoso­ phie, wo er, der geistlichen Regierung entlaufen, allen Gefahren der Anarchie ausgesetzt ist.«82

80 Streit, AAVII, S. 45. (Hervorhebung im Original.) 81 Vgl. Reiner Wimmer, Kants kritische Religionsphilosophie. Kantstudien Ergänzungs­ hefte 124 (Berlin: de Gruyter, 1990), S. 93: »Es bedarf des Vernünftigen in einer beste­ henden Religion, damit Religion praktisch sein und gelebt werden kann.« 82 Streit, AA VII, S. 24. Der zitierten Passage fügt Kant die Erläuterung hinzu: »Man muß aber wohl merken, daß ich hier vom reinen (purus, putus) biblischen Theologen rede, der von dem verschrieenen Freigeist der Vernunft und Philosophie noch nicht angesteckt ist.« (Hervorhebung im Original.)

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b)

Symbolischer Anthropomorphismus

Von Gott kann der Mensch kein gegenständliches Wissen erwerben, und noch viel weniger kann er Gott in ein Bild bannen. Gleichwohl ist menschliches Denken und Sprechen auf Vergegenständlichung ange­ legt. Sosehr auch Kant das radikale biblische Bilderverbot als die womöglich erhabendste Stelle »im Gesetzbuch der Juden« preist,83 so weiß er doch um die Unvermeidlichkeit bildlicher Darstellung. Sofern der Glaube nicht gänzlich verstummen soll, gibt es keinen anderen Ausweg als den, die gegenständlichen Bilder und Kategorien als Symbole immer wieder in die Schwebe zu bringen, indem der Mensch ihre Gegenständlichkeit, die als solche nie verschwinden wird, stets aufs neue bewußt zurücknimmt: »so ist alle unsere Erkenntniß von Gott bloß symbolisch; und der, welcher sie mit den Eigenschaften Verstand, Wille, u.s.w., die allein an Weltwesen ihre objective Realität beweisen, für schematisch nimmt, geräth in den Anthropomorphism ,..«.84 Wer die Symbole der Transzendenz als gegenständliche Wirk­ lichkeit nimmt, unterminiert den Glauben. Die Vorstellungen von Himmel und Hölle beispielsweise haben ihren Sinn als Symbole je­ ner unbedingten Entscheidung, in der die Existenz des Menschen als ganze auf dem Spiel steht: Zwischen Himmel und Hölle gibt es kein Mittleres; die menschliche Lebenspraxis steht daher vor einer radika­ len Alternative.85 Sobald man die Bilder von Himmel und Hölle je­ doch wörtlich nimmt, zerstört man ihren Gehalt. Die Vorstellung einer ewigen Bestrafung, buchstäblich genommen, wäre mit der Idee göttlicher Gerechtigkeit schlechthin unvereinbar, weil keine noch so schwere Untat eine ewige Höllenstrafe rechtfertigen würde. Umge­ kehrt verleitet die Vorstellung einer bloß zeitlich begrenzten Strafe »im Fegefeuer« allzu leicht zu jenem heilsegoistischen Kalkulieren, das Luther in Gestalt des Ablaßwesens bekämpft hat, weil es den Glauben innerlich korrumpiert. Kant zitiert die Romanfigur eines 83 Vgl. KU, AA V, S. 274: »Vielleicht giebt es keine erhabenere Stelle im Gesetzbuche der Juden, als das Gebot: Du sollst dir kein Bildniß machen, noch irgend ein Gleichniß, weder dessen, was im Himmel, noch auf der Erden, noch unter der Erden ist u. s.w.« 84 KU, AAV, S. 353. 85 Vgl. Religion, AAVI, S. 60 Fußnote: »Es ist eine Eigenthümlichkeit der christlichen Moral: das Sittlich-Gute vom Sittlich-Bösen nicht wie den Himmel von der Erde, son­ dern wie den Himmel von der Hölle unterschieden vorzustellen; eine Vorstellung, die zwar bildlich und als solche empörend, nichts destoweniger aber ihrem Sinn nach phi­ losophisch richtig ist.« (Hervorhebung im Original.)

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VII. Symbolische Rede von Gott

Matrosen, der im Blick auf eine zeitlich befristete Strafe im Fegefeu­ er abwägend meint: »So hoffe ich, ich werde es aushalten können.«86 Die Frage, »ob die Höllenstrafen endliche, oder ewige Strafen sein werden« muß deshalb als einer jener »Kinderfragen« abgewiesen werden,87 die mit einem mündigen Glauben schlechthin unvereinbar sind. Ein weiteres Beispiel bieten die apokalyptischen Vorstellungen vom Weltende und vom Kampf Gottes mit dem Antichrist, die durchaus »ihre gute symbolische Bedeutung«88 haben können. Wört­ lich genommen führen diese apokalyptischen Bilder jedoch in unauf­ lösliche Widersprüche. Genüßlich zitiert Kant die Geschichte eines irokesischen Katechismusschülers, der auf den Bericht über den Kampf zwischen Gott und Teufel mit der Frage reagiert: »aber war­ um schlägt Gott den Teufel nicht todt?«, woraufhin der Missionar »treuherzig gesteht, daß er in der Eil keine Antwort habe finden können«.89 Der gesunde Menschenverstand des Wilden ist offenbar weniger naiv als die Katechismusweisheit des Geistlichen. Wenn Kant systematisch auf den symbolischen Sinn jeder Rede von Gott, dem Weltende, Himmel und Hölle und anderen »Gegen­ ständen« des Glaubens aufmerksam macht, bewegt er sich in der Tradition des Analogie-Denkens der christlichen Philosophie.90 Ernst Konrad Specht sieht Kants Analogie-Denken näherhin in der Kon­ tinuität des Thomas von Aquin, in dessen Werk die mittelalterliche Lehre von der »analogia entis« kulminiert: »Der Ausweg aus der Aporie, den Kant einschlägt, ist derselbe, den schon Thomas beschrit­ ten hat, der der via analogiae: Gott kann nicht wie ein Gegenstand der Erfahrung, wohl aber in analoger Weise erkannt und bestimmt wer­ den; im Jenseits der Erfahrung haben die Kategorien eine dem Erfah­

86 Religion, AAV1, S. 69 Fußnote. 87 Religion, AAV1, S. 69 Fußnote. 88 Religion, AAV1, S. 136. 89 Religion, AAV1, S. 79 Fußnote. 90 Vgl. Despland, a.a.O., S. 149: »Kant's doctrine of symbolic anthropomorphism first arises out of the older doctrine of analogy.« Vgl. auch a.a.O., S. 150: »... Kant was returning to the older metaphysical tradition which had a sense of the mysteriousness of God ...«. Gleichzeitig sieht Despland die Originalität Kants darin, daß die Lehre von der Analogie über die Gotteslehre hinaus auf das gesamte religiöse Leben und all seine Inhalte ausgedehnt hat (vgl. a. a. O., S. 151). Damit gehört Despland zu jenen Interpre­ ten, die die zentrale Bedeutung der Symbolik für Kants Religionsphilosophie mit Recht betonen (vgl. z.B. a.a.O., S. 260f.).

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rungsgebrauch analoge Bedeutung.«91 In der Tat schärft Kant immer wieder den nur analogischen Sinn aller Aussagen über die Transzen­ denz ein: »Hiebei ist nun zu Verhüthung eines leicht eintretenden Mißverständnisses höchst nöthig anzumerken, daß wir erstlich diese Eigenschaften des höchsten Wesens nur nach der Analogie denken können.«92 An anderer Stelle betont er: »Auf diese Weise kann ich vom Übersinnlichen, z.B. von Gott, zwar eigentlich kein theore­ tisches Erkenntnis, aber doch ein Erkenntnis nach der Analogie ... haben.«93 Bei aller Kontinuität mit dem Analogie-Denken der scholasti­ schen Philosophie und Theologie, auf die Specht mit Recht aufmerk­ sam macht, bleibt freilich ein Unterschied zu bedenken, der wesent­ lich ist: Das Analogie-Denken hat bei Kant sein Fundament nicht in einem umfassenden Seinsbegriff, sondern im Bewußtsein der sitt­ lichen Freiheit. Die Unbedingtheit des sittlichen Sollens gibt den Ausgangspunkt für Sinnpostulate, die die Ebene des Sittlichen zu­ gleich überschreiten. Nicht um eine neue Variante der analogia entis handelt es sich bei der Kantischen Religionsphilosophie also, son­ dern, wenn man so will, um eine analogia libertatis.94 c)

Moralischer Gottesdienst

Eine Kirche ist undenkbar ohne gottesdienstliche Praktiken wie z. B. Gebet, Kirchgang, Taufe und Kommunion. Diese haben nach Kant ihre Funktion als gemeinschaftliche Vergegenwärtigung jenes mora­ lischen Anspruchs, in dem die Gläubigen zugleich eine religiöse Auf­ gabe sehen.95 Kant legt allerdings Wert darauf, daß auch der Begriff des »Gottesdienstes« stets symbolisch verstanden wird. Buchstäblich genommen, ergibt er keinen Sinn. Der Gottesdienst kann nicht in einer inhaltlichen Ergänzung oder Erweiterung der Menschenpflich­ ten durch spezifische Dienstpflichten gegenüber Gott bestehen, son-

91 Ernst Konrad Specht, Der Analogiebegriff bei Kant und Hegel, Kantstudien Ergän­ zungshefte 66 (Köln: Kölner Universitätsverlag, 1952), S. 49. 92 KU, AAV, S. 456. (Hervorhebung im Original.) 93 Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik, handschriftlicher Nachlaß, 7. Band, AA XX, S. 280. 94 Den Begriff der analogia libertatis verdanke ich Johannes Schwartländer, der ihn immer wieder in Gesprächen und Diskussionen eingebracht hat. 95 Vgl. Religion, AAVI, S. 194ff.

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VII. Symbolische Rede von Gott

dem nur in der neuen Verortung der allgemeinen Menschenpflichten im Licht des Glaubens. Sobald religiös-gottesdienstliche Pflichten hingegen einen An­ spruch neben den moralischen Pflichten geltend machen, geraten sie mit diesen in mögliche Konkurrenz. Statt durch die Befolgung des moralischen Anspruchs gleichzeitig Gott zu dienen, sieht der Mensch sich dann versucht, über außermoralische Gnadenmittel sich Gott wohlgefällig zu machen. Die dinglich (und nicht mehr symbolisch) vorgestellten Gnadenmittel sind zuletzt nichts als Fetische, durch die der Mensch, der den beschwerlichen Weg der Tugend vermeiden will, glaubt sich einen »Schleichweg«96 zur Gottgefälligkeit eröffnen zu können. Der Mensch befleißigt »sich aller erdenklichen Förmlichkei­ ten, wodurch angezeigt werden soll, wie sehr er die göttlichen Gebote verehre, um nicht nöthig zu haben, sie zu beobachten ...«.97 Es geht dem Menschen in diesem Fall nicht wirklich um den »Dienst« ge­ genüber Gott, der nur in der Erfüllung der allgemeinen sittlichen Pflichten bestehen kann, sondern um sein eigenes Heil, das er möglichst billig zu erwerben bestrebt ist. »Es ist mühsam, ein guter Diener zu sein (man hört da immer nur von Pflichten sprechen); er möchte daher lieber ein Favorit sein, wo ihm vieles nachgesehen, oder, wenn ja zu gröblich gegen Pflicht verstoßen worden, alles durch Vermittelung irgend eines im höchsten Grade Begünstigten wieder gut gemacht wird, indessen daß er immer der lose Knecht bleibt, der er war.«98 Der Fetischglaube führt zur Funktionalisierung Gottes, zur Auf­ weichung moralischer Verbindlichkeit sowie zum Verlust der Frei­ heit, weil der Mensch sich sklavisch an die vermeintlichen Gnaden­ mittel bindet und sich zugleich ihren geistlichen Verwaltern unterwirft. Fetischglaube jedweder Konfession geht einher mit dem »Pfaffenthum«, »von welchem Ehrennamen sich so nennende Pro­ testanten nicht auszuschließen sind«,99 sofern sie den Glauben auf kirchlich administrierte Heilswahrheiten reduzieren, denen sich der Mensch bloß passiv unterwerfen soll. Ein Glaube ohne Freiheit ist jedoch bloßer Aberglaube. Dieser wiederum ist nicht etwa eine Über­ steigerung des Glaubens, sondern dessen genaues Gegenteil, nämlich 96 97 98 99

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Religion, AA VI, S. 193. Religion, AAVI, S. 201. (Hervorhebungen im Original.) Religion, AAVI, S. 200. (Hervorhebungen im Original.) Streit, AAVII, S. 50.

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7. Auf dem Weg zum mündigen Glauben

die Instrumentalisierung des göttlichen Namens zugunsten beliebi­ ger menschlicher Zwecke.100 Der abergläubische Fetischdienst, der den göttlichen Willen in ein handhabbares Gnadenmittel zwingen will, erweist sich zuletzt als eine Form der Idolatrie, in der der Mensch gleichzeitig seine eigene Freiheit und die Transzendenz Got­ tes verleugnet.101 Der symbolisch verstandene Gottesdienst, der in der von reli­ giöser Gesinnung getragenen persönlichen und gemeinschaftlichen Erfüllung der allgemeinen Menschenpflichten besteht, eröffnet dem­ gegenüber ein Verständnis von Gnade, in dem die dingliche Vorstel­ lung des »Gnadenmittels« überwunden ist. Die Bewunderung und Erfurcht, die »das moralische Gesetz in mir« bewirkt, erweitert sich im religiösen Glauben zum Dank gegenüber Gott, dessen Gnade sich vor allem darin erweist, daß er den Menschen zur sittlichen Selbst­ bestimmung befähigt, wie Kant im Streit der Fakultäten bekennt: »[S]o ist Gnade nichts anders als Natur des Menschen, so fern er durch sein eigenes inneres, aber übersinnliches Princip (die Vorstel­ lung seiner Pflicht) zu Handlungen bestimmt wird, welches, weil wir uns es erklären wollen, gleichwohl aber weiter keinen Grund davon wissen, von uns als von der Gottheit in uns gewirkter Antrieb zum Guten, dazu wir die Anlage in uns nicht selbst gegründet haben, mit­ hin als Gnade vorgestellt wird.«102 Das unerklärliche Faktum der Ver­ nunft, das sich dem Menschen aufdrängt, ob er will oder nicht, stellt sich dem Gläubigen so letztlich als göttliches Geschenk dar. Und der Mensch, der weiß, daß in der sittlichen Praxis alles auf ihn selbst ankommt, weiß zugleich, daß seine sittliche Bestimmung als solche ihm unverfügbar vorausbleibt: Sie ist Anspruch und Gnade zugleich.

100 Vgl. Habichler, a. a. O., S. 251 f.: »Es ist unschwer zu ersehen, daß Kant hier [nämlich in der Kritik des Aberglaubens, H. B.] nichts anderes unternimmt als eine Ehrenrettung Gottes vor etwaigen Versuchen, Gott in ungebührender Weise zu >domestizierenc, ihn in kleingeistiger Form zu verzwecken und so erst recht seine Verabschiedung im Denken vorzubereiten.« 101 Vgl. Religion,AAVI, S. 185: »Wenn die Verehrung Gottes das Erste ist, der man also die Tugend unterordnet, so ist dieser Gegenstand ein Idol, d.i. er wird als ein Wesen gedacht, dem wir nicht durch sittliches Wohlverhalten in der Welt, sondern durch An­ betung und Einschmeichelung zu gefallen hoffen dürften; die Religion aber ist alsdann Idolatrie.« (Hervorhebungen im Original.) 102 Streit, AA VII, S. 43.

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VIII. Zusammenfassung

Kants praktische Philosophie läßt sich als »Sokratische« Aufklärung verstehen. Sie zielt darauf ah, die tragenden normativen Prinzipien, an denen sich sittliches Handeln »immer schon« orientiert, reflexiv herauszuarheiten. Ein solches kritisches Unterfangen ist schon deshalh notwendig, weil der Vernunft selhst eine (letztlich unüherwindliche) Tendenz zur Sophistik innewohnt, durch die der Gel­ tungsanspruch des sittlichen Imperativs verdunkelt werden kann. Ohschon sich die Unhedingtheit des sittlichen Sollensanspruchs theoretischem Begreifen entzieht (was manchen Sophisten dazu ver­ leitet hat, diesen Anspruch generell zu leugnen), ist es gleichwohl möglich, die »Unhegreiflichkeit« des sittlich Unhedingten philoso­ phisch als sinnvoll einzusehen und sie daher in gewissem Sinne doch zu »hegreifen«. Ein solches »Begreifen der Unhegreiflichkeit« (vergleichhar dem wissenden Nichtwissen des Sokrates) kann allerdings nicht den Charakter definitiven Wissens hahen, sondern hleiht im Modus einer hewußten »Als-Oh«-Erkenntnis, die sich dann einstellt, wenn das Philosophieren üher die Grenzen gegenständlichen Erkennens hinausgeht. Um das sittlich Unhedingte gegen den verding­ lichenden Zugriff des Wissens zu hewahren und dennoch zur Sprache zu hringen, hedarf es nach Kant einer symholischen Darstellungswei­ se. Im Unterschied zur »schematischen Darstellung«, die auf direktes Begreifen des Gegenstands zielt, kann die »symholische Darstellung« auf ihren Gegenstand vermittels von Analogien lediglich indirekt hinweisen. Da die praktische Philosophie auf das theoretisch uneinholhare Bewußtsein der Freiheit gegründet ist, die sich im sittlichen Anspruch offenhart, ist sie insgesamt auf die symholische Darstel­ lungsweise angewiesen. Die Symholik ermöglicht schließlich auch eine kritische Metaphysik, die sich von dogmatisch-metaphysischen Systemen dadurch unterscheidet, daß sie sich nicht als Wissenschaft ausgiht, sondern einen vernünftigen Glauhen aushildet. Der Mensch erfährt den Anspruch des sittlich Unhedingten nach 198

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VIII. Zusammenfassung

Kant als eine nicht weiter hintergehhare existentielle Tatsache: als »Faktum der Vernunft«. In seiner Unahleitharkeit und Aufdringlich­ keit verweist das Faktum der Vernunft auf die Endlichkeit des Men­ schen; in seiner Vernünftigkeit und Einzigkeit (durch die es sich von einem gewöhnlichen empirischen Faktum fundamental unterschei­ det) zeugt es zugleich von der übersinnlichen Berufung des Men­ schen zur Moralität. Vollziehbar wird der sittliche Anspruch da­ durch, daß er sich dem Menschen im Medium des Verstandes als Forderung streng allgemeiner Gesetzlichkeit darstellt, die ihrerseits in den Maximen der Lebenspraxis ihre konkrete Gestalt findet. Das symbolische Vorbild (den »Typus«) dieser allgemeinen Gesetzlich­ keit bildet die Natur in ihrer durchgängigen gesetzlichen Bestimmt­ heit. Darüber hinaus stellt die Natur in ihrer teleologischen Ord­ nungsgestalt das Symbol für jene umfassende Sinnhaftigkeit (»das Reich der Zwecke«) dar, auf die sittliches Handeln letztlich zielt. Schließlich läßt sich auch die motivationale Komponente der sitt­ lichen Autonomie mit der Naturerfahrung vergleichen, da die Er­ schütterung, die den Menschen in Anbetracht des Erhabenen in der Natur überkommt, dem Gefühl der Achtung vor dem moralischen Gesetz analog ist. Aufgrund dieser komplexen symbolischen Bedeu­ tung der Natur - als Symbol der strengen Gesetzlichkeit, der Ten­ denz zur umfassenden Zweckmäßigkeit und der erschütternden Wir­ kung, die dem sittlichen Anspruch eignet - findet der traditionelle Begriff des »Naturrechts« durch Kant seine kritische Rechtfertigung. Im Horizont seines kritisch-symbolischen Denkens steht der Natur­ begriff allerdings nicht in Konkurrenz zur unbedingten sittlichen Verantwortung des Menschen, die als Autonomie allen ontologisch vorgestellten »Werten« vorausliegt und in der die unveräußerliche Würde jedes Menschen besteht. Die Vermittlung der allgemeinen Gesetzlichkeit des kategori­ schen Imperativs mit der konkreten Lebenswirklichkeit geschieht über moralische Maximen, in denen Universalität und Partikularität »immer schon« in Beziehung stehen. Der Begriff der Maxime ist geeignet, auch pragmatische Klugheitsgesichtspunkte (einschließlich konsequentialistischer Überlegungen) in die Ethik einzubeziehen (ein Aspekt, der von Kant allerdings nur unzureichend entwickelt wird). Über die konkreten Maximen hinaus bildet die Idee des höchsten Gutes, in der die vollendete Sittlichkeit und eine ihr ange­ messene Glückseligkeit zusammengedacht werden, den umfassenden Sinnhorizont, auf den sich moralisches Handeln zuletzt ausrichtet. Kants Symbolik

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VIII. Zusammenfassung

Daß die eine Idee des höchsten Gutes allerdings nur über die Ver­ wirklichung zweier, voneinander streng zu unterscheidender Zwecke - eigene Vollkommenheit, fremde Glückseligkeit - gefördert werden kann, belegt einmal mehr die unüberholbare Endlichkeit des Men­ schen. Obwohl der sittliche Imperativ sich an jeden einzelnen richtet, kann Moralität, wie Kant betont, sich nur im Medium des Sozialen entwickeln. Dieser soziale Charakter der Ethik richtet sich nicht nur auf den Bereich des Staates bzw. des staatlichen Rechts, sondern be­ zieht sich auch auf die (in der Kant-Literatur vernachlässigten) Be­ reiche der Gesellschaft und der Kirche. Die zwischenmenschlichen Beziehungen in der Gesellschaft sind generell von einer eigentümli­ chen Symbolik geprägt, da der Respekt, den die Menschen einander in den Umgangsformen zivilisierter Höflichkeit erweisen, angesichts der Unergründlichkeit des menschlichen Herzens immer wieder die Züge eines ironischen »Als-Ob«, d. h. eines symbolischen Spiels, an­ nimmt. Auch die Rechtsordnung hat - über ihre unumgängliche Prag­ matik hinaus - symbolische Bedeutung, insofern sie auf die Würde des Menschen als sittlich autonomes Subjekt verweist. Zwar muß die im Inneren des Willens gründende Moralität von der Rechtsordnung als einer politischen Zwangsordnung klar unterschieden werden. Ge­ rade in dieser Differenz wird die Rechtsordnung zugleich aber zum Medium der äußeren Anerkennung der Menschenwürde, nämlich dadurch, daß sie einem jeden die gleiche äußere Handlungsfreiheit zuerkennt. Die politische Ausgestaltung der menschenrechtlichen Freiheitsordnung kann ihrerseits nur in Freiheit geschehen, nämlich in einer an der Idee der volonte generale orientierten republika­ nischen Gesetzgebung (aus Kant allerdings Frauen und ökonomisch Unselbständige ausschließt). Die freiheitliche Republik bringt die prinzipielle Unverfügbarkeit des ihr zur Ausgestaltung aufgegebe­ nen Menschenrechts dadurch zum Ausdruck, daß sie sich eine gewaltenteilige Struktur gibt und darüber hinaus die Politik dem öffent­ lichen Diskurs in der Gesellschaft aussetzt. Um in seiner sittlichen Praxis und vor allem auch in seinen po­ litischen Bemühungen nicht zu erlahmen, braucht der Mensch An­ haltspunkte in der Welt, aus denen er Hoffnung auf den möglichen Sinn seines Engagements gewinnen kann. Ohne die letzte Ungewiß­ heit aufzuheben, in der allein sich sittliche Verantwortung entfalten kann, eröffnet Kants kritische Teleologie die Suche nach Sinnspuren in Natur und Geschichte. Natur und Geschichte können teleologisch 200

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VIII. Zusammenfassung

so betrachtet werden, »als ob« sich in ihnen das Wirken eines überle­ genen Künstlers manifestiert. Bereits die Erfahrung des Schönen in der Natur kann die Hoffnung auf eine letztlich unerkennbare Koin­ zidenz zwischen Naturordnung und Freiheitsordnung nähren und in diesem Sinne als Symbol des sittlich Guten dienen. Konkretere Kon­ turen gewinnt die moralische Hoffnung im Blick auf die Geschichte. Kant formuliert den geschichtsphilosophischen Gedanken, daß die unvermeidlichen gesellschaftlichen Konflikte die sukzessive Ausbil­ dung von Rechtsinstitutionen im nationalen wie im internationalen Raum erzwingen werden. Diese geschichtsphilosophische Sinnper­ spektive hat aber - im Gegensatz zum Hegelschen Systemdenken einen nur heuristischen Stellenwert und führt weder zu einer ab­ schließenden Synthese von Moral und Geschichte noch gar zum Ver­ such einer »Rechtfertigung« Gottes durch die Geschichte, mit dem der Mensch sich über seine Endlichkeit erheben würde. Was bleibt, ist vielmehr die begründete Hoffnung auf die reale Möglichkeit eines Rechtsfriedens, dessen Förderung deshalb als sinnvolles Gebot ver­ standen werden kann. Weil das Recht den Menschen einerseits zur Ausgestaltung aufgegeben ist, andererseits den normativen Horizont bildet, in dem der Kampf ums Rechts »immer schon« stattfinden, vollzieht sich die geschichtliche Rechtsentwicklung als beständiger Reformprozeß, d. h. ohne absoluten Anfang und ohne absolutes Ende. Bestehende Rechtsinstitutionen (selbst schon im vorstaatlichen Naturzustand bzw. in einer vorrepublikanischen Staatsordnung so­ wie in der internationalen Staatenwelt) sollen als provisorische Antizipationen eines umfassenden öffentlichen Rechtsfriedens ver­ standen und im Blick diese ihre antizipatorische Repräsentations­ funktion kritisiert und weiterentwickelt werden. Auch die Kantische Religionsphilosophie geht vom Bewußtsein des sittlichen Sollens aus, dessen Unbedingtheitsanspruch über das hinausweist, was der Mensch auf Erden einlösen kann. Die unabgegoltenen Sinnpostulate der Freiheit lassen sich nach Kant nur im Blick auf die Gottesidee aufrechterhalten, ohne daß die Moralität als solche allerdings von religiösem Glauben abhängig wäre. Gerade in der wechselseitigen Unabhängigkeit voneinander bilden Moral und Religion einen offenen Zusammenhang wechselseitiger symboli­ scher Verweisung. Von dieser religiösen Perspektive her kann der Mensch auch die Natur als Schöpfungsordnung verstehen. Kant würdigt deshalb den sogenannten physiko-teleologischen »Gottes­ beweis« als einen sinnvollen Gedanken, dessen eigentliche Grund­ Kants Symbolik

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VIII. Zusammenfassung

läge indessen das moralische Bewußtsein bildet (weshalb es sich nicht um einen theoretischen »Beweisgang«, sondern um die Entfaltung eines praktischen Vernunftinteresses handelt). Da die Gottesidee zwar keineswegs die Voraussetzung moralischer Verbindlichkeit ist, wohl aber sittlichem Engagement Hoffnung und Stärke verleihen kann, erweist sich die Pflege des religiösen Glaubens auch in mora­ lischer Hinsicht als sinnvoll (wenn auch nicht als direkt geboten). Dies gilt nicht nur für den Einzelnen, sondern auch für die Gesell­ schaft, die sich zu einem ethischen Gemeinwesen entwickeln soll. Im Blick auf Gott als den »Herzenskündiger« und zugleich den »Gesetz­ geber« des ethischen Gemeinwesens bleibt die Autonomie jedes Ein­ zelnen ungeschmälert gewahrt und wird die Moralität zugleich als eine gemeinschaftliche Aufgabe aller Menschen vorstellbar. Um die letzte »Ungreifbarkeit« der Moralität im ethischen Gemeinwesen ge­ gen dessen drohende Politisierung aufrechtzuerhalten, soll die ethi­ sche Gemeinschaft als »unsichtbare Kirche« verstanden werden. Ihre symbolische Verkörperung findet sie in den Institutionen der sicht­ baren Kirche. Kants Auseinandersetzung mit Offenbarungsschrift, Dogma und Gottesdienst der sichtbaren (christlichen) Kirche verfolgt das Ziel, die Kirche am Maßstab ihrer Repräsentationsfunktion zu­ gunsten des unsichtbaren Gottesvolkes zu kritisieren und dadurch konkrete Reformimpulse zu geben. Im Kampf gegen jedwede Form des abergläubischen Fetischdiensts dient die Aufklärung dazu, den symbolischen Sinn echten Gottesdienstes zu vergewissern. Damit kann sie zugleich jene moralische und religiöse »Bewunderung und Ehrfurcht« vertiefen, die authentisch nur in Freiheit möglich sind.

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Personenregister

Adickes, Erich 16, 43 Allison, Henry E. 52 Anderson-Gold, Sharon 187 Apel, Karl-Otto 20, 61f. Arendt, Hannah 76 £., 81 Beck, Eewis White 59£., 83 Berger, Peter E. 98£. Bernstein, Eduard 117 Böckerstette, Heinrich 16 Bohatec, Jose£ 189 Booth, William James 182 Borowski, Eudwid Ernst 25, 29 £. Borris, Kurt 87, 126, 144 Brandt, Reinhard 96,156 Büchner, Georg 39 Burke, Edmund 126£. Caird, Edward 58 Cassirer, Ernst 14, 41, 57£., 136,167 Cassirer, H.W. 56 Chen, Jau-hwa 136 Cohen, Hermann 79, 117 Delekat, Friedrich 189 Despland, Michel 16,18, 189,194 Dierksmeier, Claus 17 Ebbinghaus, Julius 59, 79, 121 Epikur 91 £. Ferdinand, Hans-Michael 17 Fetscher, Iring 124 Garve, Christian 25 £. Gerhardt, Volker 26, 69,117, 130, 134 Guyer, Paul 17, 62,140

Habermas, Jürgen 20, 61 Habichler, Al£red 187, 197 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 76, 119£., 142-148,152,166 Heimsoeth, Heinz 47 Heintel, Erich 71 Henrich, Dieter 50 Herder, Johann Gott£ried 29 Herman, Barbara 78 Hinske, Norbert 24 Hiob 147 Hobbes, Thomas 103£., 130, 154££., 160 Hö££e, Ot£ried 77, 157 Horkheimer, Max 175 Imboden, Max 125 Jachmann, Reinhold Bernhard 30 Jacobi, Friedrich Heinrich 33 Jaspers, Karl 42, 56, 144, 148 Kaulbach, Friedrich 16, 26, 46, 87,108 Kersting, Wol£gang 101, 115, 155 Kleingeld, Pauline 114, 167 Korsgaard, Christine M. 77, 86 Krüger, Gerhard 16£., 19, 39 Kuhlmann, Wol£gang 24, 72 Eaberge, Pierre 152 Eocke, John 113,118£., 157 Eöhrer, Guido 17 Eudwig, Bernd 155 Eu£, Gerhard 16, 115, 118 Euther, Martin 193 Macpherson, C.B. 157 Marcuse, Herbert 107£., 110

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Personenregister Matz, Ulrich 127 Maus, Ingeborg 104,107£., 118, 123, 129, 160 Montesquieu, Charles 125££ Moses Mendelssohn 30, 45 Nietzsche, Friedrich 92 O'Neill, Onora 73, 78, 86 Paton, H.J. 59 Paulus 70 Peukert, Helmut 176 Pieper, Annemarie 44 Platon 40£., 46£., 131,137 Plessner, Helmuth 96 ££. Rabi'a al-Adawiyya 178 Rawls, John 60£. Riedel, Man£red 86, 115 Rousseau, Jean-Jacques 22, 26 £., 101, 104, 118££., 123££., 149,185 Saner, Hans 152£. Scheler, Max 72 Schild, Wol£gang 117 Schiller, Friedrich 90 ££.

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Schmitt, Carl 122, 127, 129 Schnädelbach, Herbert 20 Schopenhauer, Arthur 173££. Schwartländer, Johannes 16, 48, 55, 57, 73£., 195 Silber, John R. 16, 56 Sokrates 26-40, 80,138, 170, 198 Soroush, Abdol-Karim 180 Specht, Ernst Konrad 194£. Tezcan, Eevent 159 Thomas von Aquin 70£., 194£. Troeltsch, Ernst 189 Vaihinger, Hans 43 Vorländer, Karl 73, 85£. Vossler, Otto 27, 119£. Weber, Max 20 Weyand, Klaus 145 Williams, Howard 145 Wimmer, Reiner 192 Wood, Allen W. 74, 95, 187 Wundt, Max 41, 46£., 177 Yovel, Yirmiahu 145,167

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Sachregister

Achtung 15, 60-69, 93, 95-100,107-112, 121£., 139,199 Als-Ob-Struktur 42££., 49, 57££., 97££., 135 £., 138 ££., 148,153,182,188,198, 200 Analogie 42, 44£., 51, 56££., 136,194£ Anthropomorphismus 193££. Askese, Asketik 91 £. Au£klärung 21££., 105, 198 Autonomie 52, 54-75,104-112,121£., 145,172 £., 186£., 199£. Bibel 64, 70, 92, 191£. (vgl. auch O££enbarung) Bosheit, das (radikal) Böse 184££. Bürger, Bürgerrecht 106,118££., 156 Christentum, christliche Kirche 102, 186££., 195££., 202 Demokratie 126££. (vgl. auch volonte generale) Diskurstheorie 20, 61£. Endlichkeit 15££., 40££., 48££., 76, 87££., 146 ££., 158£., 198££. Einbildungskra£t 41, 62 ££., 138 ££. Epikureismus 88, 91£., 174 Erhabenheit, das Erhabene 62££., 69,139 Erlaubnisgesetz 83£., 96,156££. Erziehung (siehe Pädagogik) Faktum der Vernun£t 15, 38, 48-54, 65, 197, 199 Formalismus 72££., 76££., 117,121£. Fortschritt 142-153, 166££. Freiheit, Freiheitsrecht 18££., 36££., 53£., 107-123, 126

Friede 142££., 152£., 162££. Gemeinscha£t, ethische Gemeinschaft 95, 101£., 183££. Geschichte, Geschichtsphilosophie 142-154,166 ££. Geschlecht, Geschlechterverhältnis 112, 114£. Gesellscha£t 95-100, 148 ££. Gesellscha£tsvertrag 22, 103££., 118££., 158 Gesetz, Gesetzlichkeit 54-59, 80££. (vgl. auch Naturgesetz) Gesetzgebung, moralische (siehe Auto­ nomie) Gesetzgebung, staatliche (siehe volonte generale) Gewalt 106,110££., 146£., 150££., 158£. Gewaltenteilung 123-129 Gewissen 71, 89 Glaube 19, 46,169-197 Gleichheit, Gleichheitsrecht 74£., 98, 112-117,123 ££. Glück, Glückseligkeit 86££., 90-95 Gnade 196 £. Gott 43££., 102, 104,146 £., 169-197 Gottesdienst 195 ££. Hebammenkunst, sokratische 28££., 80, 94,170,198 Heiligkeit 43, 92£., 104££. Höchstes Gut 86££., 133, 137, 172££., 201£. Hö£lichkeit 18, 95-100 Ho££nung 132££., 137-148,152£., 166££., 183£. Idee, Vernun£tidee 40££., 54££., 121,135

Kants Symbolik

^ 213 https://doi.org/10.5771/9783495997512 .

Sachregister Imperativ, kategorischer 51, 55-62, 72££., 76 ££., 89, 93,104,109,121£. Ironie 24, 31, 34, 98,130, 160££., 191, 200 Kirche 95, 102,186££., 195££. Kon£likt 106, 120,148-153 Koran 64, 70 Krieg 106,146£., 155££., 162££. Kultur, Kultivierung 150££. Liebe 92££. Mäeutik (siehe Hebammenkunst) Maxime 54££., 76-86, 121 Menschenwürde (siehe Würde) Menschenrechte (siehe Recht) Metaphysik 19£., 45£., 169££. Moral, Moralität (siehe Autonomie) Mündigkeit 21££., 105££., 114,190-197 Natur, Naturgesetz, Naturordnung 54-69,132££., 137-142,180££. Naturrecht 68 £. Naturzustand 106,154££., 164 Neukantianismus 17, 19, 117 Öffentlichkeit 23£., 129££. Offenbarung 189££. (vgl. auch Bibel, Ko­ ran) Pädagogik 29, 94 P£licht 18, 35, 66, 85££., 95££., 104££., 108££., 147,157££., 173 Politik 117-123 (vgl. auch Republik) Primat des Praktischen 38, 53 £. Recht 16,18£., 100£., 103-131,153-168, 200 Reform 22, 146,160££., 189 Reich der Zwecke 58££., 68£., 86,132£., 137 Religion, Religionsphilosophie 16, 18 £., 88,169-197, 201£. Republik, Republikanismus 117-131, 159££., 164££. Revolution 146£., 161£., 166££.

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Schema, schematisch, Schematisierung 41, 44, 54££. Schönheit, das Schöne 63,137-142 Schöp£ung 137, 180££. Selbständigkeit 114££. Sittlichkeit (siehe Autonomie, Tugend) Sophistik 30-40, 170££. Sozialismus 117 Staat 95 (vgl. auch Republik) Stoa, Stoizismus 66, 88,174 Symbolik 15££., 40-47, 54-60, 68£., 97££., 107 ££., 121,137-142,167,169,177££., 188££., 193££., 197-202 Teleologie 63££., 134-148, 180££. (vgl. auch Zweckmäßigkeit, Reich der Zwecke) Theodizee 146 ££. Tugend 34££., 84, 89-95, 97,101£., 109 ££. Typik, Typus 17, 55££., 68£., 199 Unbedingtheit, das Unbedingte 15 ££., 38 ££., 48-75,104-112,174££. Universalismus, Universalisierung 54-60, 76-86, 121-126 Urteilskraft 44, 58, 81,135££., 152£. Vernun£t 30££., 40££., 48-56 Vernun£tidee (siehe Idee) Verstand, Verstandesbegri££e 32, 40£., 55 £. Vertrag (siehe Gesellschaffsvertrag) Völkerbund, Völkerrecht 163££. volonte generale 117-127 Vorsehung 143 ££. Weltbürgerrecht 151, 165 Wille 51£., 110££. (vgl. auch Autonomie) Willkür 52, 110££. Wissen, Wissenscha£t 25 ££., 32 ££. Würde des Menschen 22, 51, 60-75, 98, 104££., 110££., 121£. Zweck, Zweckmäßigkeit 63 ££., 72, 86-95, 132-153 (vgl. auch Teleologie)

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Heiner Bielefeldt

https://doi.org/10.5771/9783495997512 .