Kant und die Logik: Am Beispiel seiner »Logik der vorläufigen Urteile« [1 ed.] 9783428516896, 9783428116898

Lange Zeit haben die apodiktischen Sätze als das goldene Eingangstor zum Kantianismus gegolten. So fand eine spürbare un

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German Pages 396 [397] Year 2005

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Kant und die Logik: Am Beispiel seiner »Logik der vorläufigen Urteile« [1 ed.]
 9783428516896, 9783428116898

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Richard Regvald . Kant und die Logik

Philosophische Schriften Band 61

Kant und die Logik Am Beispiel seiner "Logik der vorläufigen Urteile"

Von

Richard Regvald

Duncker & Humblot . Berlin

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrutbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2005 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-6053 ISBN 3-428-11689-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 El

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Meinem Lehrer an der Sorbonne Pierre Aubenque und den Freunden, die meine philosophischen Schritte sympathetisch begleitet haben

,,Jede Begebenheit ist historisch: alle Sätze sind dogmatisch."

Logik Philippi ,,Es ist wunderbar, wie einem jeden bestimmenden Urteil ein vorläufiges vorhergeht. Wenn wir lesen, so buchstabiren wir zuerst. Und so handeln wir überall. "

Philosophische Enzyklopädie ,,Das würde vielmehr ein organon der Philosophie werden, welches man gegenwärtig wohl noch nicht hat."

Wiener Logik ,,Es giebt einige Erkenntnisse, bey denen der Mensch verfahren muß, als bey einem Elephanten, der den 4ten Fuß nicht eher hebt, bis er merkt, daß er auf den 3 andern fest steht."

Logik Bauch "Wenn wir uns nur bewußt sind, daß es ein vorläufiges Unheil ist: / so können wir immer urtheilen. "

Wiener Logik ,,Dieses Kapitel ist bis jetzt in der Logik vernachlässigt. Jeder Erfinder muß vorläufig urtheilen."

Logik Dohna-Wundlacken ,,Die Logic könnte sich durch die Lehre von dem vorläufigen Unheil sehr bereichern, . wenn das nicht zu tief für sie wäre."

Logik Hechsel

Inhaltsverzeichnis I. Einleitung... . ........................ . .................. .. . . ........ 1. Der Kritizismus und die "logische" Einstellung der Philosophie - Das

11

Fach "Logik und Metaphysik". . . . . .. .. . . . . . . . .. . . . . .. . . . . . . . .. . . . .. 11 2. Die Konstituierung des Corpus logicus - Verflechtungen der allgemeinen und speziellen Logiken - Das Problem der praktischen Logik. . . . . 19 3. Der "unbekannte Kant" und die Logik der vorläufigen Urteile. . ... .... 24 4. Zur Methode und Darstellung der Problematik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31

11. Das Urteilen und die Endlichkeit des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 36 1. Die Konstituierung der wissenschaftlichen Sprache: Satz und Urteil ... 36 2. Syntaktische und phänomenologische Struktur der Urteile - Die Hinterlassenschaft der Stoiker ..... . . . .. . . . . . . . . . . . .. . . . . . . .. . .. . . . . . .. 45 3. Das Projekt einer Kriterienlehre im 18. Jh. und in der Gegenwart Vorläufige Urteile im konservativen und liberalen Sinne. . . . . . . . . . . . . . 49 4. Die Urteilslehre und die Endlichkeit des Menschen - Absteigende Metaphysik und Ausschaltung der ous{a. ... ..... ... . .... . .. .. ... .. .. 59

111. Perspektivisches Denken - Logischer Egoismus und Pluralismus. . . . .. 68 1. Perspektiven und Standpunkte des Denkens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 68 2. 3. 4. 5.

Die Intersubjektivität in den Logik-Vorlesungen .......... .. ... . . .. , .. Die Kantsche Deontologie des Argumentierens ...... .... .. ...... .... Horizonte des Erkennens - Horizonte des Lebens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Problem der partiellen Wahrheiten.. ........ . . ............. . ....

73 77

82 85

IV. Meinen, Glauben, Wissen - Radikalität und Schlußunf8higkeit des Meinens .................... . ...... .. ............................ . ... 90 1. Das Meinen und die kritische Methode.. ........ .... .... ....... ... .. 2. Epistemische Ausdriicke - Stufen und Arten des Fürwahrhaltens, Modalitäten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 3. Gewißheit und Fürwahrhalten ...... .. ...... . .... . . . . . . .. ..... . ... . . 4. Meinen - Theoretisches und pragmatisches Glauben. . . . . . . . . . . . . . . . ..

90 95 104 109

V. Konstituierung und VoUzug von Urteilsakten - Die Bedeutung der epoche für die kritische Methode ................. . ........ . ......... 120 1. Das Bewußtsein und die Urteilsstruktur der Begriffe - Grade des Bewußtseins - Das Bewußtsein und die logische Form der Urteile .. . .. 120 2. Variationen über die Intentionalität - Willentliche Akte und die Kraft der Gründe - Selbstkorrekturen ................................. .. .. 128

6

Inhaltsverzeichnis 3. Die Sonderstellung der Gefühle bei Kant - Ergänzungen zu seiner "klassischen" Theorie der Gefühle. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 135 4. Die "Kritik der reinen Vernunft" aus der Perspektive der epoche Die epoche als satzfreies Urteil ................................... 141 5. Die kritische Umwandlung eines Cartesianischen Motivs und der skeptischen Tradition .......................... . .............. . .. 147

VI. Vorurteile, Urteile und vorläufige Urteile ......... . ..... . ....... .. .. 1. Die unendliche Reihe aller Urteile - Dynamik, Tragschwere und Tragweite der Urteile - Die bestimmenden Urteile ...... . ........... 2. Allgemeinheit der Sätze - Die Betrachtung der Gegenstände als Therapie: Grenze eines kritischen Projekts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 3. F. G. Meiers Vorurteilslehre - Kritische Überlegungen und Entscheidungen ... ................................... .. ................. 4. Kant und Frege: vorläufige Gemeinsamkeiten .. .. ...... .. ..........

153

VII. Vorwissen, Antizipationen und Apriori .. ......................... . .. 1. Kants radikale Abwertung des Vorwissens aus dem Geiste der Aufklärung - Kritische Überlegungen und Berichtigungen ........... . .. 2. Der ,,konservative" und offene Charakter der Formen - Aufnahme und Erschließung von Kontexten ............................... . .. 3. Das Verhältnis der rationalen zu den historischen Wissenschaften Die "formalen" Wissenschaften und die Kunst ........ . ............ 4. Induktive und konstruktive Elemente in der Konstitution des Apriori am Beispiel der Antizipationen der Wahrnehmungen und der Analogien der Erfahrung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

180

VIII. Zum Verhältnis der problematischen Urteile zur Wahrheit . .. . ...... 1. Darstellung eines "konstitutiven Prädikates" des Kritizismus: Problematisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 2. Der metaphysische und der historische Rahmen der reinen Vernunft.. 3. Der transzendentale "Gürtel" der Annahmen und der Vernunftglaube . 4. Das Geheimnis der Kantschen Topik .. . . . ............ . ..... . ......

203

IX. Stufenweises phänomenologisches Verfahren: Benennung und Identifikation der Fälle in concreto . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Kantsche Urteilslehre - Phänomenologische und logische Einstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 2. Anschauliche und begriffliche Deutlichkeit - Konstituierung und Rekonstruktion der Gegenstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 3. Phänomenologische Betrachtung der Gegenstände - Information und Formation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 4. Das Formale und die Mannigfaltigkeit der Fälle in concreto .... . .. . .

153 157 160 167

180 185 190 195

203 207 210 216 223 223 227 232 237

Inhaltsverzeichnis

7

X. Vorläufige Urteile, Wahrscheinlichkeit und Scheinbarkeit als Wahrheitsähnlichkeit (verisimilitudo) - Kants zweite Phänomenologie ..... 247 1. Wahrheit, Schein und Irrtum - Die Aussonderung des Beurteilbaren .. 247 2. Die Kantsche vorwiegend intellektuelle Struktur des Irrtums ......... 255 3. Wahrscheinlichkeit und Scheinbarkeit als Wahrheitsähnlichkeit Umkehrung der Gründe ................................ . ......... 259 4. Wahrnehmungs- und Erfahrungsurteile - Objekt und Objektivität .... 266

XI. Die vorläufigen ("provisorischen'') Schlüsse der Urteilskraft Induktion und Analogie: ,,Praeswntionen" .......................... 274 1. Die Kantsche graduelle Anerkennung, Aufwertung und Umwandlung der Schlüsse der Urteilskraft ...................................... 274 2. Die "leichten Füße" und die notwendige Vorläufigkeit der Hypothesen 281 3. Gibt es einen Ausgleich mit dem deduktiven Verfahren? Folgerichtigkeit der Schlüsse und Wahrscheinlichkeit der Prämissen ........... . . 286 4. Regeln und Maximen (unvollständige Formen) - Einschränkung oder Erweiterung der logischen Regeln? .................... . .......... 293

XII. Die Urteilskraft als universelles Vermögen und die Logik der vorläufigen Urteile . . . . . ... . .. . ........... . ......... . .. . ............ 299 1. Kantsche Vermögenslehre und logische Implikationen - Logischer Monismus und Dualismus, die transzendentale Urteilskraft . . . . . . . . .. 299 2. Der Übergang von der allgemeinen zur praktischen Logik - Theoretische und ästhetische Urteile - Die Einheit der Urteilskraft und die Prädizierung des Individuums. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 304

3. Facultas discretiva und meditativa - Urteilskraft und zunehmendes Alter ............................................... . . . ....... .. . 315 4. Weitere Verflechtungen der bestimmenden und reflektierenden Urteilskraft - Die Urteilskraft als Rückgrat des Kritizismus. . . . . . . . .. 322 5. Intuitionismus und Formalismus - Kreativität - Formale Strukturen der Urteilskraft .......................................... . ....... 328

XIII. Der Kritizismus und das Projekt einer "universellen" Logik (Es gibt "viel vorläufige Arbeit") ............... .. .................. 336 1. Die allgemeine Vernunftlehre und die Logik als "Kanon" - Verstand und Vernunft - Empirie und Panlogismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 336 2. Der normative Charakter der Logik am Beispiel einer universellen Grammatik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 346 3. Kantsche Unsicherheiten - Wie soll das Organon aussehen? ........ 351 4. Die Logik: Wissenschaft oder Kunstlehre? Die Berichtigungen der Urteilskraft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 358 5. Die Logik der vorläufigen Urteile und die semantische "Unvollständigkeit" der transzendentalen Logik - Formale und symbolische Logik aus der Sicht des Kritizismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 363

8

Inhaltsverzeichnis

Anschließende Notiz zum Kant-Bild Friedrich Hagemanns ................ 378 Literaturverzeichnis . ............... . ............... . ..................... 380 Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 389 Stichwortverzeichnis . . ................... . .... . .......................... 391

Kant rührt Senf an Zeichnung von Friedrich Hagemann

I. Einleitung 1. Der Kritizismus und die ,,logische" Einstellung der Philosophie Das Fach "Logik und Metaphysik" Die Logik der vorläufigen Urteile, Kants längst vergessene Dialektik, betrifft letztendlich das Verhältnis des induktiven und des deduktiven Verfahrens und fordert eine neuere und aufmerksame Untersuchung. Dieser noch zu gewinnende Blickwinkel ermöglicht ein differenziertes Bild des Kritizismus und ein besseres Verständnis seiner Einstellung zur Methode und zur Logik. Gemeinsamkeiten lassen sich von vornherein feststellen, aber wo beginnt und wie verläuft die Trennungslinie? Eine Methode ohne Logik ist unvorstellbar, aber gibt es eine funktionierende Logik ohne Methode? Dasselbe gilt für die merklichen Verstrickungen des induktiven und des deduktiven Verfahrens. Sie bilden das Hinterland, wo die Unterscheidung zwischen synthetischen und analytischen Urteilen schöpft und ihre wechselnden Konturen ankündigt. Wäre diese Unterscheidung allein methodologisch und ohne logische Implikationen, so wäre mancher Streit längst entschieden. Der panlogistische Kant, der Verwalter der Regeln, bindet aber programmatisch die Meinungen an die Gegenstände oder an die Erkenntnisse im kritischen Sinne und somit nur mittelbar an die Regeln selbst. Die nachhaltigen phänomenologischen Ausführungen ergänzen seine klassische Theorie der Gegenstände und offenbaren den tieferen Sinn der Nachbarschaft der Uneile und der Sätze. Über die Zusammengehörigkeit der Methode und der Logik notiert Kant in seinen Reflexionen: "Wenn sie also über ihr Denken nachdenken wollen, so müssen sie von einer Logik den Anfang machen." I

Die Methode ist vom Nachdenken geprägt, selbst wenn sie sich als Vor-denken versteht. Sie entfaltet sich, indem sie Regeln entdeckt und nach ihrer Anwendung strebt. Die viel skeptischere Einstellung der Modeme schränkt kaum die Gültigkeit der Regeln ein. Die Chaostheorie und die damit verbundene Interpretation der Ausnahmen, als mögliche Glieder in einer unbekannten (auch singulären) Reihe, gehen Hand in der Hand mit der vorsichtigen Annahme, daß Korrespondenzen uns zunächst versteckt bleiben oder daß wir diese nicht völlig

I

Reflexion 1620,20 - 21.

12

I. Einleitung

auszudrücken vermögen. Der Kritizismus trägt selbst zu einer neuen und dynamischeren Entsprechung zwischen Regeln und Fällen in concreto bei. Wie die Punkte in eine Linie gehören können, ist nicht zuletzt, im Abstand von der bloß klassischen These der Konstruierbarkeit der mathematischen Gegenstände, eine Entscheidung der heautonomischen Urteilskraft. Philosophieren heißt im Kantschen Sinne die Suspendierung vorheriger, auswendig gelernter, Regeln und die Erfindung neuer Entsprechungen. Nur die Prinzipien, welche die allgemeinsten Formen darstellen und welche über kein vollständiges Verzeichnis der Fälle verfügen, kommen zur ,,Anwendung". Sie berufen sich bekanntlich auf die Spontaneität und damit auf die Freiheit des Denkens. Ob die Philosophie die logische Analyse oder das natürliche logische Denken die philosophische Reflexion entdeckte, ist nicht mehr auszumachen. Es entstand ein Komplex, der selbst in der Moderne nicht mehr aufzulösen ist. Die Frage, welche Seite die andere berichtigen soll, hat noch heute ihre Richtigkeit. Die Schuld der Philosophie scheint längst bewiesen zu sein, ohne daß die Unschuld der Logik daraus notwendig folgt. Die ,,logischen Fehler" oder Versäumnisse berühmter Logiker sind zahlreich genug, um über die Gründe ihrer Entstehung wieder zu reflektieren. Ryles Abhandlung über die formale und informelle Logik wird unterwegs ein guter Begleiter sein. 2 "Wie sind synthetische Sätze apriori möglich" lautet die zentrale logischphilosophische Aufgabenstellung des Kritizismus. Kant erzählt im Repetitorium einer späteren Vorlesungsreihe beeindruckend seinen Studenten - bei ihm eine eher seltene Verhaltensweise - wie viel methodologischer Aufwand und tägliche Mühe notwendig waren, um dieses Forschungsfeld zu durchschauen und zu bestimmen, d. h. die Ziele erst zu entdecken, "worauf es ankommt.·.3 Das Meditieren und die Methode hätten ihm geholfen, um zu verstehen, was er überhaupt wollte. Das "Wie" der Möglichkeit synthetischer Sätze verweist, wie üblich bei Kant, auf formale Bedingungen der Synthese, und es galt alsdann, diese Bedingungen zu umschreiben bzw. mit Inhalten zu füllen oder die Konstitution der synthetischen Sätze in concreto aufzuzeigen. Dies wäre niemals möglich gewesen, so sagt Kant weiter, ohne die Aufdeckung und Einbeziehung des Raumes und der Zeit als Formen der Sinnlichkeit. Wir wollen nicht die weite Problematik der synthetischen Sätze wieder aufrollen, sondern allein kurz darauf hinweisen, daß ihre Möglichkeit auf einer Überschreitung der Grenzen der Logik in die Richtung der Formen des Denkens und der Anschauungen beruht. Die ersten bieten einen erläuternden und umfassenden Rahmen an, die letzten aber widersprechen zutiefst der Analytizität, also einem rein logischen Denken. Doch will Kant die Anschauungen als 2

Ryle, G., Dilemmas, Cambridge, 1954. Dohna-Wundlacken, 135,33 -7.

3 Logik

1. Die ,,logische" Einstellung der Philosophie

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Formen interpretieren und übernimmt teilweise Platonische Ansätze, ohne die Phänomene aus dem Blick zu verlieren. Aus diesen Zusammenhängen läßt sich die Grundauffassung entnehmen, welche Kants Verhältnis zur Logik schon von den früheren Jahren kennzeichnete. Die panlogistische und niemals aufgegebene Berufung auf logische Regeln geht mit der Berücksichtigung der Kontexte zusammen: eine dauernde Quelle sowohl von Spannungen als auch von bahnbrechenden Ergebnissen. Die Legitimation der Kantschen Überschreitung ist spätestens nach Gödel verständlicher, ja sie wirft sogar die Frage auf, ob die Gödelschen Aporien im Rahmen eines logischen Monismus überhaupt lösbar sind, denn die Differenz braucht dualistische Spuren, um als solche auch wirken zu können. Man steigt in der monistischen Perspektive schwindelig hoch auf und sieht nicht mehr, daß die Treppen, wenn überhaupt, identisch bleiben. Die Kantsche Synthese mag einen symbolischen Charakter haben und vielmehr zum Standpunkt der Reflexion als zu einer tatsächlichen Durchführung auf der empirischen Ebene gehören, die ,,Regel" der Synthese apriori mag nicht immer schlüssig sein und Raum für entgegengesetzte Interpretationen lassen, die Einführung zweier Typen von Sätzen bringt aber offensichtlich Bewegung in die Logik und fördert die Untersuchung der Kontexte, wenn es vor allem darum geht, die Grenzen zwischen analytisch und synthetisch deutlich festzulegen. Diese Orientierung zeigt sich produktiv, sobald man die Anwendung der Logik im Auge hat, und problematisch, wenn man über die Letztbegründung der Logik reflektiert. Die Analytizität läßt sich in ihrer Domäne nicht leicht stören und kann keine Einschränkung ihrer Souveränität dulden, was einem Verlust an eigener schöpferischer Kraft gliche. Wenn man die KR als eine Methode betrachtet, wie Kant selbst sie in der Vorrede der zweiten Auflage programmatisch vorstellt, dann könnte man die Unterscheidung synthetisch - analytisch in dem weiteren Raum des induktiven und deduktiven Verfahrens wahrnehmen, und zwar nicht nur als ein exklusives Prinzip der Gründung, sondern als ein allgemeines Prinzip der Entdeckung oder vor allem der Reflexion. Die Analyse der Begriffe bringt auf diese Weise Befunde oder Nebenergebnisse zutage, die manchmal wichtiger und deutlicher als die eigentlichen Ziele der Untersuchung erscheinen. Die Unterscheidung selbst führt dann nicht mehr unmittelbar zur Wahrheit, die ohnehin kritisch gesehen auf Inhalte beruhen soll, ermöglicht aber die laufende Auffindung von Relationen und Sachverhalte, die doch zur Wahrheit oder zur Landschaft der Wahrheit gehören. Alles in allem fordert die Synthese einen Zusatz an Informationen, welcher Natur diese auch immer sein mögen, und bildet insofern den entferntesten Hintergrund einer Logik der vorläufigen Urteile, die sich im allgemeinen als Urteile in der Wartestelle empfehlen. Die Synthese ist die strittige Schnittstelle zwischen Logik und Wirklichkeit und die Methode der Versuch, den Dualismus dieser Gegebenheiten zu überwinden. Die jeweilige Definition der Begriffe, wovon die Feststellung der synthetischen Verbindung abhängt, läßt sich ihrerseits nur unter besonderen Bedingungen endgültig bestimmen. Die Erfindung der synthetischen Urteile apriori steht im unmittelbaren Zusam-

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I. Einleitung

menhang mit dem Satz des zureichenden Grundes, welches Kant als crux metapysicorum bezeichnet. Er bildet das heimliche Zentrum der Metaphysik schlechthin und bleibt somit eine dauernde Quelle von Leidenschaften. Wie viel soll man der Logik und wie viel soll man der Erfahrung zutrauen? Wie kann man die Tragweite der logischen Regeln bestimmen? ,,Leibnitz meinte, wenn dieser Satz in ein besseres Licht gesetzt würde, könnte man ihn besser gebrauchen. W olff hat aber diesen Satz ohne alle Restriktion gebraucht. (Alles was ist, hat seinen Grund; also muß alles, was ist, eine Folge seyn). Um die Falschheit dieses allgemeinen Satzes einzusehen, darf man ihn nur mit andern Worten geben: Quidquid est, est rationatum. Da sieht man es gleich, daß es nicht geht. Also, alle Dinge sind Folgen? Woraus folgen sie denn? Die Unmöglichkeit dieses Satzes fällt also gleich in die Augen.,,4

Man interpretiert manchmal Kants Kritik an der Philologie (ein Teil der ars humaniora) zu einseitig und übersieht zu schnell das Faktum, daß der Gründer des Kritizismus selbst ein Originalphilologe war, und zwar nicht nur wenn er seine Thesen mit reichlichen Anführungen aus lateinischen und griechischen Dichtern illustrierte, sondern auch dann, wenn er - wie an diesem Beispiel schwerwiegende und trockene Argumente vorführte. Will man sich der Welt öffnen und ihre metaphysische Perspektive nicht verstellen, so muß man den Gebrauch des Satzes vom zureichenden Grunde einschränken. Rationatum verweist unmißverständlich auf ratio, und zwar als Ergebnis derselben. Daß alles, was es gibt, ein rationatum sei, sagt wegen der lateinischen Syntax mehr, als daß alles, was es gibt, vernünftig sei. Der uneingeschränkte Gebrauch des Satzes des zureichenden Grunde bedeutete, daß alles was es gibt, analytisch wäre. Aus dieser - hier mit philologischen Mitteln bewiesenen - faktischen Unmöglichkeit einer durchgängigen Analytizität entsteht die kritische Suche nach der Möglichkeit synthetischer Sätze apriori. Nicht die bessere Beleuchtung des Satzes des zureichenden Grundes, wie Leibniz meinte, welche allein als Selbstbeleuchtung zu verstehen wäre, sondern die Beleuchtung der Kontexte entscheidet über den richtigen Gebrauch der Logik. Dasselbe gilt für die epistemische Bestimmung der Platonischen Ideen. Man kann von diesem Standpunkt den weiten Horizont einer Logik der vorläufigen Urteile überblicken. Nur die analytischen Urteile, welche die ,,Anwendungen" in sich selbst mit einschließen, sind im engen Sinne als abgeschlossen zu betrachten. Die übrigen Urteile brauchen Ergänzungen oder Korrekturen und nicht zuletzt den transzendentalen Rahmen der synthetischen Grundsätze a priori als Orientierungsinstanz. Um alles, was es gibt, ohne Unterscheidung in Analytizität wieder einzubetten, wären riesige logische Projektionen vonnöten, die ohne eine Reihe von Annahmen, welche dann kaum logizierbar sind, nicht bestehen können. So lautet die eigene logische Erfahrung Kants, wenn er in der 4

Metaphysik L 2, 34,4 - 12.

1. Die ,)ogische" Einstellung der Philosophie

15

Dialektik der reinen Vernunft von den hypothetischen Vernunftschlüssen Gebrauch macht. Seine logischen Untersuchungen wandeln sich allmählich in eine aufmerksame und fast pragmatische Forschung der Formen, welche der Metaphysik eine neue Grundlage geben und zugleich die sichere Erkenntnis der Gegenstände fundieren können. Die panlogistischen Züge stoßen innerhalb des Kritizismus auf entgegengesetzte Strömungen. Kants elaborierte Antwort findet sich in seiner These über die Konstituierung der Gegenstände. Sie sind halb Gedachtes und halb Empfundenes, also der Empirie nicht einfach gleichzustellen. Besonders die formale Struktur der Gegenstände ist eine Errungenschaft des Kritizismus. ,,Das intellektuelle von den Gegenständen der Sinne (oder der Erfahrung) ist nicht, daß sie auf andere Weise als durch Sinne gegeben werden, sondern das, wodurch sie a priori gedacht werden, und wie man alles durch Begriffe denken würde, es mächte gegeben sein, wie es wolle. Die alten schienen sich der reflektierenden Erkenntnis entziehen zu wollen, und glaubten, der Verstand sei eigenen anschauung fähig,'.5

Zwischen der Kantschen Auffassung der Formen und der von Kant prinzipiell abgelehnten intellektuellen Anschauung gibt es also eine mittelbare Beziehung: Die ,,reflektierende Erkenntnis" oder Erkenntnis des Gegebenen durch Formen. Die Reflexion, welche eine symbolische Unterbrechung der Zeit bedeutet, ist nach Kant der einzig mögliche Ersatz der intellektuellen Anschauung. Sie liefert die metaphysische Fundierung der Erkenntnisakte. Man muß den Kern der Kantschen Lehre, welche die Begriffe und Schlüsse zu einem neuen Glanz und Leben aufruft, von der polemischen Absicht des Werkes trennen. Die lange Auseinandersetzung mit der Schulmetaphysik betrifft den Gebrauch des dedukti ven Verfahrens auf dem Gebiet der Metaphysik (bzw. des Übersinnlichen) und die Handhabung einer von lebendigen Bedeutungen entleerten Begrifflichkeit. So der Schluß auf die Unsterblichkeit der Seele von ihrer Einfachheit als Substanz. Die kritische Umwandlung beruht also merklich auf einem historischen Verständnis der Dinge. Kant will die Korrespondenz zwischen formalen und materiellen Bedeutungen der Begriffe eigentlich wiederherstellen und widersteht nicht weniger der nominalistischen Versuchung. Die KR steht gleichermaßen in der Tradition Francis Bacons und Descartes, welche aus sehr unterschiedlichen Perspektiven eine Umwälzung der herkömmlichen Aristotelisch geprägten Logik bewirkten. Der erste befestigte durch Bewertung von Beobachtungen und Experimenten die Grundlagen der Induktion, der zweite führte das Primat der Methode in der Forschung und in der Philosophie ein. Kant nimmt sich programmatisch vor, an die Wurzeln der Erkenntnis zu gehen, die dualistischen Quellen derselben aufzudecken und diese in einer monistischen Synthese, als eine Einleitung zur Wahrheit, endgül-

5

Reflexionen zur Metaphysik, 5029.

16

I. Einleitung

tig zu verflechten. Die höchsten Sätze der Philosophie, also Prinzipien im eigentlichen Sinne des Wortes 6 , sind im Kritizismus die transzendentalen synthetischen Grundsätze. Sie sollen apodiktisch und paradigmatisch (als Formen) für alle Urteile gelten. Die Vermittlung zwischen Rationalismus und Empirismus impliziert eine gegenseitige Einschränkung und Erweiterung (bzw. Verwirklichung) der beiden philosophischen Hauptrichtungen. Ihre Zusammenfügung kam nicht ohne Widerstand zustande und ließ strittige Momente nachträglich fortwirken, so daß der ersehnte Frieden in der Philosophie nur teilweise oder allein für kürzere Zeit erreicht werden konnte. Die Implizierung der obersten Sätze der Philosophie in die Welt über die Formen der Sinnlichkeit und als synthetische Grundsätze apriori hat ihren Preis. Diese "schwangeren" Sätze wollen die alleinige Wahrheit deduktiver Schlüsse nicht mehr anerkennen, jedoch an ihrer Richtigkeit - wie könnte es sonst anders geschehen? - weiter festhalten. ,,Richtig" und nichtsdestoweniger "falsch" bereitet noch heute den Logikern Kopfschmerzen, die sie mutig ertragen müssen, denn der einzige Ausweg ist nur die schmale und wackelige Hintertür zum Skeptizismus, welcher alle philosophischen Bemühungen lahmlegt. Die Logiker sind aber und bleiben für immer Verteidiger des Logos. Auch Kant will die Welt logizieren. Er bekämpft die unterstellte Zufälligkeit oder Irrationalität der Erfahrung und versucht, diese durch eine neue und formale Begründung der Erkenntnisakte philosophisch zu rehabilitieren. So fern die transzendentalen Grundsätze als Formen wirken und der ,,Entwirrung" oder Entschlüsselung der Empirie dienen, behält die Kantsche synthetische Lösung weiterhin ihre logisch fundierte Berechtigung. Kein Philosoph hat der Empirie so viel gegeben und zugleich so viel entzogen. Es gibt im Kritizismus letztendlich keine empirischen, sondern konstituierte Gegenstände. Das Gleiche gilt mit einer wichtigen Korrektur (die Zweckorientierung) für die Stellung der Vernunft. Zwar verfügt sie über eine universelle Übersicht, kann jedoch nicht selbst Gegenstände konstituieren und leidet an dieser scheinbare Behinderung. Die spekulative Phrase Kants entspringt somit einer spannungsreichen Stätte. Ihr geläufiger breiter Atem ist durch eine bewegliche ,ja, aber ..... Struktur reguliert. Behauptungen und Gegenbehauptungen werden nacheinander moderiert oder eingeschränkt und nur selten ausgeglichen. Es wird immer vorsorglich darauf hingewiesen, daß die gleiche Behauptung auch etwas ganz anderes bedeuten könnte. Man braucht eine gewisse spekulative Bereitschaft, Kant rechtzeitig beim Lesen zu begegnen. Wollte man ihn bei den Empiristen treffen, so ist er schon bei den Rationalisten. Das Gegenteil ist aber ebenso wahr. Der Metaphysiker Kant denkt eigentlich an "ätherische" (im Sinne von OP) Schlüsse und durchdringende Implikationen, welche

6

KR, B 358, 17.

1. Die ,,logische" Einstellung der Philosophie

17

die sinnliche und übersinnliche Welt zusammenzubringen vermögen. Seine logische monistische Orientierung zeigt eine gewisse Ähnlichkeit mit der Art und Weise, wie die Bahn der Sterne und das menschliche Handeln durch moralische Entschlüsse symbolisch korrespondieren. Die transzendentale Logik will endlich in das Projekt einer universellen Logik münden. Dieses Projekt stolpert über eine konstitutive ·Schwierigkeit. Die Logik nach der Vernunft, die einzige universelle Logik, kann nicht gesetzgeberisch in demselben Sinne wie die Logik nach dem Verstande sein. Sie ist von vornherein auf Regeln des Verstandes sowie auf die den Verstand erweiternden Maximen und dementsprechend sowohl auf die bestimmende als auch auf die reflektierende Urteilskraft angewiesen. Die formale Logik als Kanon der allgemeinen Logik und als völlig unabhängig von den Kontexten der Vernunft ist von ihm als höchste Referenz anerkannt und nur selten thematisiert. Kant hält an der Leibnizschen These der Beweisbarkeit der logischen Prinzipien fest, betont aber zugleich die Unzulänglichkeit derselben, was die Wahrheit anbetrifft. Der Metaphysiker Kant bezweifelt übrigens, daß die Wahrheit nach den Regeln des Verstandes die ganze Wahrheit ausmachen kann. Die Dialektik der reinen Vernunft ist, trotz Verschiedenheit der Horizonte, eine Fortsetzung der Analytik und insofern prinzipiell eine Dialektik der Wahrheit. Verlassen von physikalischen Gegenständen bleibt die Intentionalität auf sich selbst gestellt, aber das Ziel ihres Strebens offenbart sich weiterhin in einem logischen Raum. Die verwirklichten Teile der universellen Logik sind die Kantsche Theorie der Formen und seine Lehre der Urteilskraft. Aus dieser Perspektive werden in dieser Abhandlung sowohl Kants Verhältnis zu Lamberts symbolischer Logik als auch die Selbstkorrekturen an seinem eigenen Werk neu betrachtet. Die inneren Verflechtungen zwischen Logik und Philosophie lassen sich am Beispiel des Faches Logik und Metaphysik verfolgen. Es widerspiegelt das Aufkommen im 18. Jb. einer alten und mehrmals im Laufe der Geschichte umgewandelten Tradition. Im vierten Buch seiner ,,Metaphysik" hat Aristoteles erstmals sowohl die "Ontologie", die Wissenschaft des Seienden als Seienden, als auch den Satz vom Widerspruch ("das sicherste Prinzip unter allen") thematisiert. Genau diese, auf den ersten Blick überraschende, thematische Zusammenfügung sichert nach uns die manchmal bestrittene Einheit des vierten Buches. Die systematische Verbindung läßt sich gut nachvollziehen: Dem Licht des Seienden soll die Klarheit und Kohärenz der Ausdrücke entsprechen. Es wird in der Folge eine Umwälzung stattfinden. Aristoteles hat in der Tat über eine radikale und nachträglich wirkungsvolle logische Bestimmung der philosophischen Inhalte entschieden. Das Prinzip par excellence ist nicht mehr Element oder Stoff wie bei seinen Vorgängern, sondern fungiert als logische Einheit. Daß lediglich ein Satz die Ereignisse der Welt bestimmen könnte, hat ungeheure Folgen: was man an Deutlichkeit gewinnt, verliert man an Aufnahmebereitschaft für die Außenwelt. Aristoteles hat durch seine Formulierung des Satzes vom Widerspruch das Primat der Regeln über die Ereignisse als erster

I. Einleitung

18

postuliert (Regvald, 1984). Wie alle panlogistischen Bekenntnisse wurzelt die Entscheidung Aristoteles in der Parmenidschen Tradition und richtet sich gegen die späteren Ausschweifungen und maximalen Forderungen der Heraklitschen Schule. Den Phänomenen getreu zögerte aber der Stagirit, dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten ein ähnliches Recht einzuräumen. Er richtete sich aus demselben Grund gegen die monistische Einstellung Parmenides und vermerkte mit offensichtlicher Genugtuung, daß die Eleaten "gezwungen durch die Phänomene,,7 später die Annahme eines zweiten Prinzips erwägen mußten. Diese frühe Begegnung der Logik und der ersten Philosophie prägte thematisch für Jahrhunderte die Forschung und erklärt die Etablierung des Faches Logik und Metaphysik an der Universität. Die sich später selbständig konstituierende Logik sucht noch heute nach einer eigenen Philosophie, um der Zersplitterung der Forschungen entgegenzuwirken und ihr Verhältnis zur Welt oder zu möglichen Welten zu bestimmen. Die Frage der Logik nach ihrem eigenen Objekt ist ebenfalls philosophischer Natur. Im Gegenzug bleibt die Logik an vielen Orten dieser Welt die letzte Stütze der Metaphysik, denn nichts ist ihr virtualiter we~ niger erträglich als die Abhängigkeit von Empirie. Kant bewarb sich um die Professur für Logik und Metaphysik schon im Jahre 1758, seine Bemühungen hatten aber erst 1770 Erfolg. Damit setzte er die Tradition seines akademischen Lehrers Knutzen fort. Die kritische Wendung fand durchaus im Rahmen dieses Faches statt. Die tradierte Metaphysik benutzte eine logisch schematisierte Ontologie, um die radikale Unterscheidung zweier Welten zu untermauern. Genau diese deduktiv gewonnene ontologische Fundierung der Metaphysik und das systematische Übersehen der Erfahrung wurden von Kant in Frage gestellt. Nicht die Logik war daran schuld, sondern ihr Gebrauch. Kants Panlogismus führt eine neue Betrachtungsweise ein und legitimiert die vordergründige Stellung die Urteilskraft. Der Gebrauch ist bei ihm zunächst ein Gebrauch der Vermögen. Die kritische genuine philosophische Apologie der Anwendungen beabsichtigt letztendlich die Doppelrechtfertigung der Logik und der Wirklichkeit. Die Gründe dafür sind ganz unterschieden, doch in einer monistischen Perspektive aus Kantscher Sicht vereinbar. Die transzendentale Logik hat den weiteren Horizont der Anwendungen im Blick und will das "Sehen" möglicher Fälle durch eine vollständige Deduktion der Kategorien oder Formen der Urteile sichern. Dank ihrer mannigfaltigen kategorialen Ausrüstung "sieht" die transzendentale Logik prinzipiell in allen Richtungen. Ihre Tragweite ist allerdings vom Kritizismus streng vorbestimmt. Sie bildet eine Kriterienlehre und verweist ständig auf die Durchführung der Beurteilungsakte. Das einheitliche Streben der Kriterien und die unvermeidliche transzendentale Zerstreuung der Beuneilungsakte spiegeln die innere Dynamik des Kritizismus wider. 7 Metaphysica,

A. 986 b, 30 - 35.

2. Die Konstituierung des Corpus logicus

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2. Die Konstituierung des Corpus logicus Verflechtungen der allgemeinen und speziellen Logiken Das Problem der praktischen Logik Kants Corpus logicus besteht aus seinen jetzt fast vollständig veröffentlichten Logik- Vorlesungen 8, der ,,zugelassenen" Logik Jäsches, seiner eigenhändigen Reflexionen zur Logik, den wenigen Logikschriften und einer beträchtlichen in dem Gesamtwerk zerstreuten Ausführungen und Textstellen. Die Berücksichtigung dieses logischen Netzwerks in seiner Gesamtheit gibt Anlaß zu einer neueren Bewertung der Entwicklungsstufen des Kritizismus und ermöglicht die Wiederentdeckung der inneren Bindung zwischen den kritische Hauptschriften und dem Nachlaß. Die lange vernachlässigten, erst in den letzten Jahren systematisch erforschten Kolleg-Nachschriften, die einen Zeitraum von mehr als drei Jahrzehnten abdecken, bilden in Verbindung mit den Reflexionen zur Logik und weiteren Teilen des Nachlasses (der neulich herausgegebenen Anthropologie-Vorlesungen), eine riesige und aufschlußreiche philosophische Baustelle. Wie immer an solchen einst sich in der Bewegung und Umwandlung befindenden Stätten. entdeckt man erstaunliche Gebilde und Zeugnisse aufgegebener Projekte oder bloß veraltete Gerüstteile des Bauwerkes, anscheinend "überflüssige" Materialien neben symbolischen Restbeständen und vor allem Spuren. die darauf hindeuten. daß das Kantsche Lehrgebäude auch anders hätte aussehen können. Kant begann sein Kolleg über Logik gleich nach seiner Disputation im September 1755. Laut einer neulich erschienenen (von Kant mit Bedenken akzeptierten) ministeriellen Verordnung hatte jeder Dozent die akademische Pflicht, ein anerkanntes Kompendium als Grundlage der Vorlesungen zu benutzen. Kant berücksichtigte bei der Wahl den Wunsch seiner Studenten und entschied sich für F. G. Meiers Auszug aus der Vemunftlehre (Halle, 1752). Vemunftlehre, die damals übliche Benennung der Logik, ist die deutsche Übersetzung von philosophia rationalis. Das Kompendium behandelte logische Themen und nebenan ohne systematische Sorge Elemente der Metaphysik, Rhetorik, Erkenntnistheorie, Psychologie, Ästhetik und Anthropologie. Der junge Dozent Kant wurde durch diese barocke Verschiedenheit und gelehrte Weitläufigkeit gefördert, aber konzentrierte sich merklich auf die theoretische und die pragmatische Zielsetzung seines eigenen Programms. ,,Ich werde die Logik von der ersten Art vortragen und zwar nach dem Handbuche des Hrn. Prof. Meier. weil dieser die Grenzen der jetzt gedächten Absichten wohl vor Augen hat und zugleich Anlaß giebt, neben der Kultur der feineren und gelehrten 8 Für die Datierung, Entstehung und Überlieferung der Kollegnachschriften siehe die Arbeiten, Kommentare und Beiträge von Norben Hinske, Tillman Pinder, Reinhardt Brand. Ricardo Pozzo, Bruno Bianco und Giorgio Tonelli.

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I. Einleitung

Vernunft die Bildung des zwar gemeinen, aber tätigen und gesunden Verstandes zu begreifen, jene für das betrachtende, diese für das thätige und bürgerliche Leben...9

Neben der systematischen Darstellung des Stoffes enthalten die meisten Logikkompendien des 18. Jhs. einen kurzen philosophie geschichtlichen Anhang. Die Logik-Vorlesungen übernehmen und erweitern diese Struktur. Die spontanen und manchmal widersprüchlichen Kommentare verschiedener Standpunkte der Logik bilden eine eigenartige persönliche Doxographie und geben reichlich Auskunft über Kants Suche nach einem eigenen Weg durch die Tradition hindurch. Er steht im Gespräch und streitet mit seinen Vorgängern vor der Öffentlichkeit. Über die Nützlichkeit des Vortrages hat Kant nachgedacht und die Spontaneität, also .das kreative Moment, immer hervorgehoben. Die Unvollkommenheit der mündlichen Darstellung fördert die Interaktion in der Lehre. Die gesprochene Sprache ist in diesem Sinne der geschriebenen überlegen. Sie ist eine offene Sprache, ein sich in der Gegenwart immer wieder konstituierendes Logos. Sie fördert das Denken und entspricht dem Wesen des Menschen. "Selbst denken ist gut aber selbst lernen nicht. Ein mündlicher Vortrag wenn er auch fnicht gantz ausgearbeitet ist, hat sehr viel instruierendes. Man hön nicht etwas vollkomen ausgearbeitetes und ausgedachtes, sondem man sieht die natürliche An wie man denkt und das ist viel nützlicher. Wenn ich einen höre so bemerke ich etwas, entweder falsches oder wahres. Beim hören denkt man auch immer mehr als beym lesen. Das lesen ist auch nicht so natürlich als das hören... 10

Man lernt nicht Rezepte und Denkformen, sondern die lebendige Form oder

Art und Weise, wie man in der Tat denkt. Man findet hier einen Hinweis auf

sein neues Verständnis der Formen, welche grundSätzlich Formen der Ereignisse und nicht Formen der Substanzen bezeichnen. Die Denkform ist die Form des Urteilens. Wie alle Handlungen braucht das Denken eine praktische Anweisung und Vorführung. Im Vortrag war Kant - wie zu erwarten - selbständig und folgte seinem eigenen Gedankengang. ,,Das Kompendium, welches er etwas zu Grunde legte, befolgte er nie strenge und inso ferne, daß er seine Belehrungen nach der Ordnung des Autors anreihte. Oft fühne ihn die Fülle seiner Kenntnisse auf Abscheifungen, die aber doch immer sehr interessant waren, von der Hauptsache ... lI

Die Logik-Vorlesungen liefern bemerkenswerte Stellungnahmen zur zeitgenössischen deutschen und europäischen Logik und Philosophie. Die Einbindung Kants in das 18. Jh. ist hier wie nirgends sonst bis ins einzelne dokumentiert, was ein besseres historisches und sachliches Verstehen seines Werkes Nachricht, 310, 36 - 311, 5. Encyklopädie, 90, 16 - 91, 24. 11 Kant in Rede und Gespräche, 26 (Borowski). Vgl. "Überhaupt ging er - wie bekannt - stets seinen eigenen Gedankengang, und die zum Grunde gelegte Compendium brauchte er nur so pro fonna und nicht als Canon. ",48 (Wonowski). 9

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2. Die Konstituierung des Corpus logicus

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ermöglicht. Das dominierende Interesse am Transzendentalen hat eine sicher unbeabsichtigte, aber doch spürbare ,,Nivellierung" des Werkprofils mit sich gebracht. Es hat die internen Spannungen des Denkens Kants, die doch zu den Quellen seiner philosophischen Fruchtbarkeit gehörten, vielfach neutralisiert und die der unmittelbaren Wirklichkeit zugewandten Schriften, welche dem Hauptanliegen des Transzendentalismus eigentlich entsprechen, weitgehend zu Schriften zweiten Ranges erklärt. Die fiüheren Logik- Vorlesungen machen von dem aus der KR bekannten Dualismus "formal - transzendental" keinen Gebrauch, erst später erscheinen dazu bündige Äußerungen. Dagegen findet man in allen Phasen zahlreiche Versuche - manchmal mit eigenständiger Gestalt die Logik neu zu definieren und ihre Bestimmung philosophisch aufzufassen. Zwar gehen alle Bemerkungen und Kommentare von dem Kompendium F. G. Meiers aus, doch bleibt der Vortrag unübersehbar Kantscher Prägung - von den breiten und vergleichsweise ordentlichen Darstellungen der Logik BIomberg (1761 - 64) bis zu den nicht selten erstaunlichen Ausführungen der späteren Logik Dohna- Wundlacken (1792). Trotz nachträglicher Ausarbeitung der Texte (im Falle der Wiener Logik durch eine Gemeinschaft von Hörern) läßt sich der Vortrag Kants gut identifizieren und gegebenenfalls rekonstruieren. Man muß sich allerdings von der Naivität mancher Wiedergabe nicht täuschen lassen. Die Philosophie hat bekanntlich einen Janus Kopf: sie ist einfach und zugleich kompliziert. Sie lebt am meisten in der Alternative und ist so zu sagen erst kompliziert, wenn sie einfach sein kann. Man muß wohl Kant zuerkennen, daß sein Element die Philosophie war und die lange Zeit, die er in Vorlesungen verbrachte, eine fruchtbare war. Er konnte sich nicht selbst verbieten, auf schöpferische Weise zu denken. Der in Vorlesungen dargestellte Stoff hält eigenartige Konturen bei, die nur mit Geduld herauszulesen sind. Die Logik- Vorlesungen geben zunächst ein Bild der allgemeinen Logik und führen schon deshalb in ein Spannungsfeld. Die allgemeine Logik ist die Logik ohne Bezug auf Gegenstände oder genauer formuliert eine Logik für alle Gegenstände ohne Unterschied. Die transzendentale Logik bringt die entscheidende, aber noch nicht die vollständige Antwort, denn sie begründet die Gegenständlichkeit der Gegenstände und kaum den Bezug auf die individuellen Gegenstände selbst oder, Kantisch ausgedrückt, auf die Fälle in concreto. Weder die allgemeine noch die transzendentale Logik sind in diesem Sinne als abgeschlossen zu betrachten und brauchen Erweiterungen und Ergänzungen. Die Problematik fordert u. a. eine Berücksichtigung der Beurteilungsakte und gehört in den thematischen Bereich der Anwendbarkeit der Logik überhaupt.

Bei einer näheren Betrachtung der meist wiederkehrenden Topoi der Vorlesungen lassen sich verschiedene Logiken umgrenzen, die in der breiten logischen Kultur des 18. Jhs. wurzeln. Sie wurden von Kant unterschiedlich behandelt und ausgearbeitet, blieben manchmal in dem Zustand eines bündigen Entwurfs: Praktische und theoretische Logik. Logik der moralischen Urteile, Logik der juristischen Urteile, Logik der ästhetischen Urteile, Wahrscheinlich-

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I. Einleitung

keitstheorie usw. Die ständige Verflechtung der allgemeinen und speziellen Logiken bringen an Hand von Beispielen den Gebrauch der logischen Regeln in den Vordergrund. Teile dieser speziellen Logiken können als Vorübungen zur Elaborierung der transzendentalen Logik angesehen werden und geben Anlaß zu einem aufschlußreichen Rückblick auf die Entstehungsgeschichte des Kritizismus. Unmittelbare Verweise auf die KR gibt es allein in den Vorlesungsreihen der mittleren und späteren Zeit (Warschauer Logik, Logik Pölitz, Logik Hechsel, Wiener Logik). Die Logik der vorläufigen Urteile ist Kants eigene Erfindung, welche aber ohne die feste Tradition der praktischen Logik im 18. Jh. (Reimarus, Darjes, Thomasius, von Rohr, Baumgarten, Wolff, Hennings, Meier, Lambert, Tetens, Lehmann, Hanow. Fabritius, Euler, Reuß) kaum vorzustellen wäre. Bedeutenderweise hatten alle Lehrbücher der Logik oder "Vernunftlehre" dieser Zeit einen gleichberechtigten theoretischen und praktischen Teil. Schon fast ein Jahrzehnt vor der Jahrhundertwende verfaßte Thomasius eine selbständige Ausübung der Vemunjtlehre l2, welche die Intentionen und Grundthemen der praktischen Logik zusammenfaßte. Obwohl Kant sich von Thomasius entschieden distanzierte, bleibt der Schlüsselbegriff der praktischen Logik ,.Ausübung" maßgebend für die Entwicklung seiner Tugendlehre und seiner Schrift Zum ewigen Frieden. Kants Verhältnis zur praktischen Logik bleibt bis zum Ende zwiespältig und wird im Laufe dieser Abhandlung näher untersucht. 13 Einerseits bestreitet er nicht nur einmal in den Logik- Vorlesungen die Möglichkeit einer solchen Logik überhaupt und verweist sie auf andere Wissensgebiete (Anthropologie, Psychologie), anderseits macht er Zugeständnisse dieser Tradition und Thomasius, Christian, Ausübung der Vemunftlehre, Halle, 169l. Die unmittelbaren modemen philosophiegeschichtlichen Quellen der praktischen Logik, die für diese Abhandlung von Bedeutung sind. pendeln zwischen der Topik Aristoteies und ihrer radikalen Umgestaltung durch Cicero. Sie lassen sich stichwortartig folgendermaßen einordnen: a) Die Logiken protestantischer Prägung wie die Dialektiken Melanchtons (Dialectica liber quatuor, Erotemata dialectices). Sie behandeln u. a. Aspekte der Rechtslehre und vermitteln aus kirchlicher Perspektive zwischen lateinischem und deutschem Recht. Selbst die Dogmatik, die lehrsatzmäßig vorgetragen werden sollte, nimmt die Gestalt einer Topos-Lehre an (Melanchtons Loci communes). b) Francis Bacon: Sein Neues Organon stellt sich ausdrücklich gegen die überkommene Aristotelische Apodeiktik, widmet sich methodologisch der Erfahrung durch Experimente und strebt eine modeme Theorie der induktiven Schlüsse an. c) Die Logik von Port-Royal wird in Deutschland am Anfang des 18. Jhs von Buddeus, J. F. ins Lateinische (Ars cogitandi) übersetzt. Ihre Lehre der "gesellschaftlichen Schlüsse" - eigentlich eine frühe Logik der Soziologie - übt einen besonderen Einfluß unter Zeitgenossen und wirkt noch in den Logik-Vorlesungen Kants, wo französische Wendungen keine Seltenheit darstellen. d) Praktische Lehrbiicher der Mathematik (AufgabensteIlung und Problemlösung). 12

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2. Die Konstituierung des Corpus logicus

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betreibt selbst in seiner Lehrtätigkeit eine praktische Logik sui generis, die sein transzendentales Werk zweckmäßig ergänzt. Es geht hier nicht um die praktische Absicht der Logik, vom Kritizismus mit seiner Vorliebe für Anwendungen durchaus gefördert, sondern um die theoretische Möglichkeit der Konstituierung einer praktischen Logik als Wissenschaft. Sein Hauptinteresse geht auf das Formale des Denkens und fordert dementsprechend eine strenge Abgrenzung vom Kontext. Diese Situationslage erklärt bis zu einem gewissen Punkt, warum die Logik der vorläufigen Urteile nur fragmentarisch entwickelt werden konnte. Sie ist strukturell eine Grenzlogik, wo Entscheidungen in zwei Richtungen gefällt werden müssen, um Formen und Anwendungen zusammenzubringen. Man kann Kants Unzufriedenheit mit der praktischen Logik seiner Zeit nur gut verstehen. Manches Kompendium gleicht in ihrem praktischen Teil einer Auflistung von Rezepten, welche zwar Regeln des Gebrauchs formulieren, die Mannigfaltigkeit der Fälle in concreto nichtsdestoweniger verdecken, so daß die Regeln selbst - nicht nur dem modemen Leser - fast überflüssig und zwecklos zu sein scheinen. Die Spannung zwischen der logischen Einstimmigkeit der Urteile untereinander und den konkreten Bedingungen ihrer Erfüllung erfordert eine besondere Überlegung und eine Reihe von zusätzlichen Urteilen, welche Notwendigkeit und Möglichkeit jeweils in Einklang bringen können. Der Übergang zu einer praktischen Logik setzt eine Umwandlung der Denkart und neuere Prinzipien voraus. Die dualistische Einstellung selbst steht an der Quelle mancher Verwechslungen. ,.Auf solche Weise hat man zweierley principia der Logik 1. rationalia 2. practica. Die letzteren fehlen noch sehr. In den sogenannten practischen Logiken sind der Fragen viel, aber die Auflösung mebrentbeils tautologisch.,,14

Kant meint, daß die Beantwortung der Fragen allein durch andere Regeln oder Definitionen, also rein analytisch, erfolgt. Damit wird aber die ursprüngliche Aufgabe einer praktischen Logik eigentlich verfehlt. Es geht in erste Linie um die Fälle und nicht um die Regeln. Das Denken der Identität kann die Kluft zwischen Formen und Anwendungen nicht überbrücken. Es gilt alsdann, synthetische Wege zu gehen, um die Mannigfaltigkeit der Fälle in concreto so weit wie nur möglich zu erfassen. Die noch fehlenden Prinzipen beschäftigten Kant während der Redaktion der drei Kritiken. Die monistische Zielsetzung der kritischen Synthese braucht in praktischer Hinsicht die noch aufzuschlagende Brücke zwischen Logik und Methode. Sie soll die Handhabung konkreter und möglicher Fälle sichern. Die praktische Logik ist eine einleitende Methode oder die Anleitung zu einer vielförmigen Methodologie. ,,Praktische Logik ist Anleitung von der Methode und deren Verschiedenheit. ,,15

14 Logik Pbilippi, 10, 31 - 11, 4. 15 Reflexion 3325.

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I. Einleitung

Kant verlangt von der praktischen Logik aber Regeln, welche die Methode selbst präformieren und ihrer unmittelbaren Verstrickungen mit der Wirklichkeit eine Richtung gibt. Sie hat dann eine deutlich formale Dimension und ist nur als reine Methodenlehre vorstellbar. Solche Überlegungen begleiten die Redaktion der KR selbst und lassen den Ursprung der transzendentale Logik in einem anderen Licht erscheinen: ,,Die Praktische Logik konnte man demnach auch nennen die pure allgemeine Methodenlehre. ,,16

Die Entwicklungen der praktischen Logik sind ebenso bedeutend im europäischen Raum. William Hamilton vertrat - nicht lange Zeit nach Kants Tod an der Universität Edinburgh das Fach Logik und Metaphysik. Er knüpfte in erster Linie an die Lehre Lockes an, kannte aber auch das ,,zugelassene" Kompendium Jäsches. Durch eine Analyse verschiedener Erfahrungsarten und Beobactungsweisen gelang es ihm, das Verhältnis zwischen Wahrheit und Fürwahrhalten (Belief) neu zu beleuchten und eine Concrete or Modified Logic zu gründen. 17

3. Der "unbekannte" Kant und die Logik der vorläufigen Urteile Neben dem klassischen, ,,kanonisierten" Kant steht ein weniger bekannter Kant voll Schattierungen. Es handelt sich nicht um eine Projektion, sondern um die lebendige Gestalt des Philosophen. Berichte einheimischer und ausländischer Besucher und Zuhörer ergänzen und modifizieren das apollinische Bild des Volkslehrers. Das Werk hat ebenfalls differenzierte Strukturen und Schichten. Neben der Kantschen apodiktischen Transzendentallehre gibt es eine Logik der vorläufigen Urteile, welche die Aufmerksamkeit der Forschung nur gelegentlich an sich zog. Sie betrifft nichtsdestoweniger die meisten Beurteilungsakte, bringt die Logik in Berührung mit der Zeit und läßt eine universelle Dimension vermuten: ,,Die Logik der vorläufigen Urteile zum Unterschied der bestimmenden. "IR

WO läuft und wie weit reicht die Grenze der bestimmenden Urteile? Der Kritizismus zögert mit einer schlüssigen Antwort. Vorläufige Urteile sind keineswegs ganz unbestimmt und nur selten durchaus bestimmt. Die Logik der vorläufigen Urteile ist hauptsächlich in der Kantschen Lehre vom Meinen, Glauben und Wissen eingebettet, welche sich vornimmt, die Verflechtungen

Logik Busolt, 158, 29 - 30. William, Lectures on Metapysics and Logic, Edinburgh, 1859/60, Nachdruck Stuttgart, Bad Cannstatt, 1969nO, Lecture XXXII, Modified Methodology, 152 ff. IR Reflexion 2531. 16

17 Hamilton.

3. Der "unbekannte" Kant und das vorläufige Urteilen

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der subjektiven und objektiven Bedingungen des Erkennens zu untersuchen und Stufen des Fürwahrhaltens festzustellen. Diese Lehre bleibt im Hintergrund, bedingt jedoch maßgebend die Konstituierung der transzendentalen Logik und ermöglicht die Profilierung des apodiktischen Wissens. Die vorläufigen Urteile illustrieren das ursprüngliche Verhältnis der Bestimmungen zur Unbestimmtheit (vagueness) sowohl auf dem Gebiet des Erkennens als auch auf dem Gebiet der schöpferischen Akte. Das Erkennen selbst hat im Kritizismus eine kreative Dimension. Aus diesem Grund ist Kants theoretisches und logisches Interesse für die ästhetischen Urteile relevant für das Verständnis der kritischen Lehre. Die Thematisierung des Fürwahrhaltens, ein wichtiger Teil der ,,Phänomenologie" Kants, erfolgt schon früh in seinen Logik- und Metaphysik- Vorlesungen, wurde in die Methodenlehre der drei Kritiken übernommen und spielt auch in den späteren Schriften eine besondere Rolle. In Verbindung mit der Theorie der Urteilskraft ergänzt die Analyse der Stufen des Fürwahrhaltens die transzendentale Logik - als Unterscheidungslehre zwischen Phainomena und Noumena - und öffnet sie zu möglichen Kontexten. Die transzendentale Logik hat notwendigerweise eine aufsteigende und eine absteigenden Seite, ein Woher und ein Wohin, einen Rechtfertigungs- und einen Anwendungsbereich: Letztendlich geht es um die allmähliche Annäherung des Erkennens an seine Gegenstände und um die unausbleiblichen Korrekturen der Urteile über die Gegenstände, bis das Ergebnis sich in adäquaten Sätzen ausdrücken läßt. Die Lehre vom Meinen, Glauben und Wissen ist kein Randthema des Kritizismus, sondern betrifft das Zentrum dieses Philosophierens. Die dreifache Frage "Was kann ich wissen?", "Was soll ich tun?", "Was darf ich hoffen?", welche die kritische Philosophie durchdringt und rechtfertigt, gipfelt in der kumulativen Frage "Was ist der Mensch?" Erst im Bewußtsein der menschlichen Endlichkeit, die das philosophische Fragen von vornherein seinem inneren Sinn nach bestimmt, werden der Horizont der Kantschen Philosophie und ihre systematischen Zusammenhänge deutlich. Der Mensch ist in seinem Naturzustand ethisch und erkenntnistheoretisch fehlerhaft. Nicht das höchste Wissen, das eine lange metaphysische Tradition anstrebte, ist Kants ureigenstes Thema, sondern vielmehr das Verhältnis des Menschen zu jenem Wissen, soweit er es erreichen kann, und dessen Wirkungen für das menschliche Tun und Schaffen. Das Wahre, das Gute und das Schöne, die unvermeidlichen Grundthemen jeder Philosophie seit Plato, werden in den drei Kritiken sowohl der modernen nachprüfenden philosophischen Einstellung als auch der Welt der Erfahrung ausgesetzt. Der aus ,,krummem Holz,,19 geschnittene Mensch, der ständig hinter seinen geschichtlichen Anforderungen zurückbleibt, obwohl er die natürliche Anlage zum Besseren besitzt, ist erkenntnistheoretisch ebensowenig imstande, das höchste Wissen unmittelbar zu erlangen und muß sich vorerst mit seinen 19 Allgemeine Geschichte, 23, 23 - 24.

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I. Einleitung

Meinungen zurechtfinden. Die Bewertung des Meinens als Wissen - wenn schon als unzureichendes - in den Logik- Vorlesungen bildet ein Hauptargument in der langen Auseinandersetzung mit dem Skeptizismus, die letztendlich die Mittel der Vernunft gegen die Vernunft einsetzt. In seiner Deutung des Menschen zieht Kant neben den noetischen Akten des apodiktischen Wissens die dianoetischen Akten der Überlegungen, Fallfindung und Entscheidungen in Betracht. In diesem Sinne ist der Mensch das Lebewesen, das vorläufig urteilen muß. Wo die Transzendentalphilosophie kein Meinen erlaubt und allein Wissen fordert, formuliert sie vielmehr die Kriterien des Erkennens und noch nicht das entsprechende Wissen selbst. Das kritische Wissen ist allerdings nicht bei nachfolgenden Philosophen zu finden, sondern in den Kantschen "empirischen" Schriften selbst, die der Kriterienlehre folgen. Da in der transzendentalen Dialektik die Vernunft keine Gegenstände mehr identifizieren kann und allein im Rahmen der logischen Form des Verstandes handelt, ist Meinen anscheinend ,,zu wenig" und aus demselben Grunde (von Kant ironisch gemeint) ,,zu viel" das Wissen. 2o Die herkömmliche Absicht der Philosophie war, das Gebiet der Meinungen zu überschreiten und zu Einsichten oder zu sicheren Erkenntnissen zu gelangen. Dieses Ziel wurde niemals völlig erreicht und die erfolgreichsten unter den Philosophen konnten allein eine ausgeglichene Zusammensetzung beider Perspektiven vorweisen. Diese sich mehr oder weniger harmonisierende Darstellung der Ergebnisse der Forschung und Errungenschaften der Philosophie blieb als Vorbild bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt bestehen. Der klassische Kant will durch die transzendentalen Prinzipien und eine bis dahin noch nicht bekannte radikale und systematische Integrierung der Empirie ebenfalls eine scharfe Aussonderung des apodiktischen Wissens durchsetzen, seine phänomenologischen Untersuchungen und logischen Analysen leiten ihn aber auf eine pragmatische Weise zu einer parallelen und vorsichtigen Anerkennung der Stufen des Fürwahrhaltens. Zur Klärung dieser Problematik und der Nachwirkungen in den kritischen Schriften sind die Logik- Vorlesungen unersetzlich. Der Kritizismus hat ein Hinterland und ein Vorland. Das Gebiet der Meinungen ist kaum zu überspringen. Hier liegt eine konstitutive Besonderheit des Kritizismus, welche der Forschung noch offen steht. Die Formulierung der synthetischen Grundsätze apriori lassen die Anwendungen von der Urteilskraft und in Verbindung damit vom Meinen abhängen. Die Urteilskraft ist nicht nur subsumierend und keineswegs automatisch subsumierend. Sie hat mannigfaltige Funktionen. Die Kantsche Lehre der Urteilskraft ist unentbehrlich für die Vervollkommnung des Systems, jedoch an sich unvollständig. Sie illustriert ausreichend die Merkmale der bestimmenden Urteilskraft und nur unter Vorbehalt diejenigen der reflektierenden Urteilskraft. Sie stellt allerdings ein für allemal

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KR, B 851, 3 -5.

3. Der "unbekannte" Kant und das vorläufige Urteilen

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fest, daß die Regeln das Problem der Anwendungen nicht lösen können. Das von Kant entworfene, aber nicht verwirklichte Organon steht in Verbindung mit der Logik der vorläufigen Urteile und sollte neuere Wege betreten. Im Unterschied zu anderen Projekten spezieller Logiken hat die Logik der vorläufigen Urteile einen allgemeineren Charakter und spielt für die Konstituierung bzw. Deutung des Gesamtwerkes eine besondere Rolle. Auf der Grundlage der Kantsehen Reflexionen zur Logik ist es möglich, Entstehungsumstände der Logik der vorläufigen Urteile mit Genauigkeit festzustellen. Im 6. Abschnitt - Von der Gewißheit der gelehrten Erkennmis - seines Kompendiums behandelt Meier in systematischer Absicht die Problematik der Vorurteile: "Vorurteile des zu grossen Zutrauen (praejudicium nimiae confidentiae) und Vorurteile des Misstrauens, welches man auf sich selbst setzt (praejudicium nimiae confidentae in se ipsum positae)". Es geht um einen verbreiteten Topos des Zeitalters, der auf Francis Bacon (idola) zurückgeführt werden kann, den Kant ja gut kennt und dessen Instauratio magna er in der KR anführt. Meier knüpft weiter an die skeptische Tradition an und empfiehlt eine vorbeugende Zurückhaltung der Urteile (suspensio judicii). Kants genaue Wiedergabe des lateinischen durch den griechischen Ausdruck epoche stellt schon von selbst eine merkliche Seltenheit dar. 21 Später referiert er, daß diese Zurückhaltung vornehmlich "bey einem man von Erfahrung Statt findet.'.n Man kann dies als Ausgangspunkt der Logik der vorläufigen Urteile betrachten. Die Aufmerksamkeit, die Kant schon in den 60er Jahren dieser Problematik widmete, ist auffallend. Seine sich mit der Zeit schichtweise bereichernden Vennerke und Reflexionen überschwemmen tatsächlich die wenigen Zeilen aus dem vorliegenden Kompendium. Wo Meier "Vorurteil" als "vorgefaßte Meinung" und dann als ,.praecaria notitia" bezeichnet, übersetzt Kant dies ins Deutsche eindeutig bildhaft "armselige Erkenntnis". Offensichtlich fühlte er sich von der lehrbuchmäßigen Darstellung Meiers angesprochen und griff in seinen Vorlesungen mehrmals darauf zurück. Die eigene Entdeckung der erkenntnistheoretischen und phänomenologischen Dimension der Problematik führte in den nachträglichen Reflexionen zu einer neueren Schreibweise "Vor-Urteile" und später zu einer entscheidenden Erweiterung seiner Urteilslehre. Aus einer originellen ,)ogischen" Therapie der Vorurteile in pragmatischer Hinsicht entfaltet sich schrittweise der Entwurf einer Logik, die jedem wissenschaftlichen Verfahren zugrunde liegen soll. So wenig apodiktisch-kantisch ihr Titel klingen mag, so mannigfaltig sind die Spuren und Auswirkungen dieser Logik innerhalb des Gesamtwerkes. Sie schlägt eine weitgespannte Brücke innerhalb des Kritizismus, zwischen Prinzipien und Anwendungen, Zielen und Handlungen, reiner und historischer Ver21

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Reflexion 2506. Wiener Logik, 197, 7.

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1. Einleitung

nunft. Kants implizite Grundthese lautet: Die geduldige, perspektivische Betrachtung der Gegenstände und Sachverhalte am Leitfaden dieser Logik macht Stufen des Erkennens ersichtlich, die im Erkenntnisprozeß ihr Eigenrecht bewahren. Man muß zwischen Vorurteilen und Vor-Urteilen sorgfältig und scharf unterscheiden. Das Vorläufige ist nicht einfach retrospektiv das Vergängliche, das Falsche oder sogar das Irrtümliche (judicia praevia gegen praejudicia). Ist die Logik der vorläufigen Urteile eine praktische oder eine theoretische Logik? Es gibt Anzeichen anzunehmen, daß Kant durch das Verfahren der vorläufigen Urteile eben diese traditionelle Unterscheidung zu überwinden beabsichtigte. Kant bestreitet oft in den frühen Logik-Vorlesungen den Anspruch der Erfindungskunst auf wissenschaftliche Geltung mit dem Argument, daß sie keine Regeln ihrer Methode angeben könne. Eine systematische Darstellung und logische Fundierung der Maximen (unvollständige Regeln oder Formen) findet man, trotz spekulativer Profilierung derselben, auch in seinem späteren Werk kaum. Die KR ist nichtsdestoweniger teilweise eine "verwirklichte" ars inveniendi, und zwar in demselben Sinne, in dem sein Zeitgenosse Tetens diese alte und ehrwürdige Lehre verstand und öffentlich verteidigte: als Entdeckung von Denkzusammenhängen durch das Reflektieren. 23 Schon der Titel Kritik gehört traditionell in eine praktische Logik: "bey der Kritik lehre ich nicht die Regeln, sondern ich sehe blos ob sie angewand sind.'.24 Laut Überschrift mancher Unterteilungen ("vorläufige Erinnerung" A 98, "Vorläufige Erklärung", A 110) erfolgen die Darstellungen der Inhalte und die Beweisführungen in der KR stufenweise. Die berühmte Transzendentale Deduktion mit ihrem von Kant unterstrichenen juristischen (pragmatischen) Konnotationen versucht nicht die Grenzen zwischen praktischer und theoretischer Logik zu überwinden? Da es zwei Fassungen dieser Deduktion gibt - wie auch zwei Einleitungen in die KU - und die erste nicht als falsch oder ungültig erklärt werden kann, ist es anzunehmen, daß die Stufen der jeweiligen Untersuchung einen eigenen Wert beibehalten - ein Gesichtspunkt, der ein differenziertes Verständnis des Kantschen Werkes, ja der ganzen Geschichte der Philosophie anleiten könnte. Die Logik der vorläufigen Urteile ist ebensosehr theoretisch, wie praktisch und spekulativ relevant. Kant denkt an Anwendungen auf dem apodiktischen Feld der Mathematik. Die Einbildungskraft kann die Konstruktion mathematischer Gegenstände und die Lösung mancher Probleme fördern. Diese neue Logik reflektiert das Wesen des Denkens überhaupt, das in seiner Fortentwicklung verschiedene Standpunkte annimmt und Selbstkorrekturen vollzieht.

23 Tetens, Johan Nicolaus, Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwicklung, Leipzig, 1776,313 - 14. 24 Logik Bauch RT, 6A, 34 - 36.

3. Der "unbekannte" Kant und das vorläufige Urteilen

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Allein auf diese Weise wird der Skeptizismus dauerhaft überwunden und die stets lauernde Falle des Dogmatismus vermieden. Am Anfang eine stoische Vorstellung2S , welche mit dem allgemeinen Fortschrittsgedanken in Verbindung steht, verleiht die Kunst, sich selbst zu korrigieren, der philosophischen Reflexion eine logische Normativität. Ist die Logik der vorläufigen Urteile im Kritizismus eine Logik oder eine Methode? Kant ist nicht immer bereit, zwischen beiden deutlich zu unterscheiden, wie er auch nicht immer die praktische Logik mit der Methode identifizieren will. Er zieht vor, den sehr breiten und unspezifischen Begriff der Logik des 18. Jhs. weiter zu gebrauchen, weist zugleich ständig auf die Einschränkung hin, daß sie von allen Inhalten abstrahieren müsse. Abstrahieren heißt aber Kantisch nicht, die Inhalte einfach verschwinden lassen, sondern vielmehr sie einklammern oder auf eine andere Weise betrachten. So ist die transzendentale Logik auf die Gegenständlichkeit der Gegenstände, also auf eine formale Auffassung der Inhalte, angewiesen. Wenn Kant die Logik der vorläufigen Urteile eine Methode nennt, überläßt er doch auffallend die Aufgabe ihrer AusarbeitUng den Logikern: ,,Disses Capitel ist von den Logicern noch zu bearbeiten und gehört in die Methodenlehre. ,,26

Das liegt bestimmt nicht allein an dem unscharfen Begriff der Logik, sondern drückt vielmehr Kants Anliegen hinsichtlich der formalen Strukturen der Logik der vorläufigen Urteile aus. Die Logik abstrahiert von der Materie der Erkenntnisse, jedoch kaum von ihrer Form. Vorläufige Urteile vollziehen positiv Erkenntnisakte und gehören in ein noch nicht elaboriertes Organon. Damit will Kant sagen, daß weder Bacon noch Lambert die formalen Strukturen ihres Organons ausreichend freilegen konnten. Die Logik der vorläufigen Urteile verspricht eine nur der transzendentalen Logik zugemutete Umwandlung der Denkart. Man muß in diesem Fall Kant beim Wort nehmen. "Vorläufige Erkenntniße machen eine so große Wissenschaft aus, daß es ein sehr brauchbares Kapitel vor die Logik sein könnte, wenn es nicht vor sie zu tief wäre zu entscheiden, wie z. B. vorläufige zu bestimmten Urteile gemacht werden können. Es gehört dazu die genaueste Kenntnis der Gegenstände selbst. Daher kann die Logik von der Natur, Nutzen, Grenzen, Requisiten und Bedingung der vorläufigen Erkenntnis nicht hinreichend reden. Das würde vielmehr ein Organen der Philosophie werden, welches man gegenwärtig wohl noch nicht hat. ..21

Die Logik der vorläufigen Urteile ist zu tief in die Niederungen der Welt involviert, daß sie allein mit herkömmlichen logischen Mitteln operieren könne. Ihre Stärke besteht genau in dieser Nähe zu Phänomenen. Die Logik der vorläu25 Studium corrigendae mentis, Seneca, Lucius Annoeus, Epistulae morales, Oxford 1961, Epist. 90, 3. 26 Logik Bauch RT, 87 A, 732 - 734. 21 Wiener Logik, 198, 13 - 19.

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I. Einleitung

figen Urteile ist eine kontextuelle Logik, welche die Anwendungen in Kauf nimmt. Es kommt auch vor, daß Kant die Logik der vorläufigen Urteile von den strengen kritischen Kriterien, so weit diese wenigstens von der geläufigen Interpretation wahrgenommen werden, entbindet und ihr Gebiet auf das spekulative Feld der reinen Vernunft erweitert. Man könnte fast glauben, daß Kant zu diesem Zeitpunkt die Strukturen apriori nicht mehr als erstarrt betrachtete. Hängt das Apriori nicht zuletzt von seinem jeweiligen Bewußtwerden ab? Das Fürwahrhalten behauptet sein Recht im Vollzug der Berurteilungsakte. Folgende Bemerkung entstand nach der Redaktion der KR. ,,Ich habe diese Betrachtungen nicht in diesen Stand setzen können, ohne zur gleichen Zeit auf die übrigen Einflüsse der reinen Vernunft Acht zu geben, die ich zugleich vollendet habe. Denn ich bin nicht der Meinung eines vortrefflichen Mannes, die da empfiehlt, wenn man einmal, sich wovon überzeugt hat, daran nachher nicht mehr zu zweifeln. In der reinen Philosophie geht das nicht. Selbst hat der Verstand auch einen natürlichen Widerwillen dagegen. Man muß eben die Sätze in allerlei Anwendungen erwägen, und selbst wenn diese einen besonderen Beweis entbehren (,,nicht zu bedürfen scheinen", so Erdmann), das Gegenteil versuchen anzunehmen, und so längeren Aufschub nehmen, bis die Wahrheit von allen Seiten, einleuchtet. •.28

Kant möchte sich von der dogmatischen Darstellung der Cartesianismus in der Wolffschen Fassung distanzieren und bestreitet die Möglichkeit, Gewißheit durch eine Offenbarungsinstanz ein für alle Mal zu erreichen. Er unterstellt auf eine unerwartete Weise Descartes, vom Zweifeln nicht die richtigen Konsequenzen gezogen zu haben. Kants systematische Absicht ist, zwischen Apodiktizität (im kritischen Verständnis selbst ein antidogmatisches Mittel) und Dogmatismus zu unterscheiden. Die Aporien der notwendigen Sätze scheinen allerdings schwierig zu beseitigen. Der Weg zu bestimmenden Urteilen ist lang genug oder, genauer gesehen, hat kein Ende in Sicht. Sollten diese Urteile doch zur Erfüllung kommen, so sind sie durch außersyntaktische und gar außerlogische Mittel (hier ,,Einleuchtung") definiert und lassen sich dann von unerweislichen Sätzen kaum unterscheiden. Die Cartesianische Offenbarungsinstanz ist damit nur aufgeschoben und auf eine andere Weise und Grundlage wieder konstituiert. Allein die kritische Synthese bietet eine annehmbare Stütze der Notwendigkeit an. Die Einführung der Stufen des Führwahrhaltens erweitert dann diese Perspektive. Noch wichtiger für die Logik der vorläufigen Urteile ist die Kantsche weite Auffassung der Anwendungen ("die Sätze in allerlei Anwendungen erwägen"), welche sich nicht bloß auf Gegenstände beschränkt, sondern Bedeutungen und - noch mehr - formale Bedeutungen in sich schließt. Die Logik der vorläufigen Urteile ist eine Bedingung des Fortschritts überhaupt und damit in der Philosophie des 18. Jhs. fest eingewurzelt. Innovatives Verfahren und progressives Lernen gehören schon seit Bacon in die philosophi28

Reflexionen Kants zur kritischen Philosophie (Hrsg. Erdmann, B.), 2, 4.

4. Zur Methode und Darstellung der Problematik.

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sche Methode. Meinen, Glauben und Wissen sind virtuelle Stufen des sich selbst und die umliegende Welt entdeckenden Menschen. Der "unbekannte" Kant, welcher schöpferische Kräfte und Regeln, Apodiktizität und Kontingenz in einer neuen, sich umwandelnden und universellen Vision in Einklang bringen wollte, gehört zur Sonnenseite des Kritizismus.

4. Zur Methode und Darstellung der Problematik Die bloße Chronologie kann bekanntlich die innere Dynamik der Ereignisse kaum erklären. Die Chronologie ist an sich selbst keine Form. Die Kreativität verfügt über eine eigene Ordnung der Zeit. Die späteren "empirischen" Schriften Kants, welche eigentlich phänomenologische heißen sollten, weisen genug auf die Unzulänglichkeit der Dreiteilung in vorkritische, kritische und postkritische Schriften hin. Die Logik- Vorlesungen sind eine ununterbrochene Baustelle und enthalten von vornherein "postkritische" Elemente, so die Äther Hypothese eines universellen Stoffes in der Logik Philippi, die dann im OP entwickelt wurde, oder reife Ausführungen über die Anwendbarkeit der Logik schon in der Logik BIomberg. Sie verzichten später niemals auf innovative aber noch nicht endgültig statuierte "vorkritische" Denkelemente und fangen allmählich neuere Motive, die weder in die transzendentale Logik einmünden konnten noch dieser untergeordnet werden durften. Das Erste (der Sache nach), um eine Aristotelische Ausdrucksweise zu benutzen, erscheint nicht immer laut einer geradlinigen Entwicklung am spätesten. Es gibt fruchtbare Abweichungen, welche die Hauptbewegung und thematische Entfaltung des Werkes bereichern und einer chronologischen Einordnung widerstehen. Wir werden folgerichtig den chronologischen mit dem thematischen Kriterium verflechten und auf die Chronologie dann verweisen, wenn diese bei der Erschließung der Texte helfen kann. Unsere Aufmerksamkeit geht vor allem auf die schöpferischen Momente des Werkes ein, selbst wenn diese nicht immer zur vollen Erfüllung kommen. Das lebendige Projekt des Kritizismus überschreitet merklich seine kanonische und schulmäßige Darstellung. Der junge Kant denkt in Anlehnung an Bacon an eine Experimental-Logik. welche aufgrund von Beobachtungen die Irrwege des Denkens genauer untersuchen und korrigieren sollte. ,,Es wäre eben so nötig eine Experimental-Logic als Physic zu schreiben, in welcher man untersuchen sollte, wie der Mensch durch Vorurtheile, und über-Eilung, wie auch auf andere Arten irren kann, damit ihm Reguln vorgeschrieben werden können, wie er sich davor in Acht nehmen soll. Man sollte beobachtungen anstellen, wie man am richtigsten urtheilen kann, und auch davon in der Logica Reguln vorschreiben...29

Dieses Programm hat Gemeinsamkeiten sowohl mit der Logik der vorläufigen Urteile als auch mit der transzendentalen Logik. Ist eine Brücke überhaupt 29

Logik BIomberg, 36, 15 - 21.

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1. Einleitung

vorstellbar? Welche Bedeutung kommt der vorausgehenden Strukturen apriori zu? Die Spannung zwischen Regeln und Anwendungen läßt sich allein durch eine Einteilung der Aufgaben überwinden. Die Regeln können sich als Regeln nur behaupten, wenn sie auf ihre Dimension apriori bestehen. Die Anwendungen sollen die Regeln erfüllen, aber nur insofern sie sich auf unmittelbaren Beobachtungen stützen. Die Gewährleistung der Kontinuität wird nicht gesichert, sondern allein intendiert. Sie fordert das Zusammenwirken induktiver und deduktiver Bemühungen. Anwendungen in abstracto gibt es nicht oder dann sind sie nur als Experiment und unter streng definierten Bedingungen denkbar. Da sich die Logik der vorläufigen Urteile dagegen hauptsächlich als eine "tiefe", d. h. kontextuelle Logik versteht, ist die Absonderung ihrer winzigen Strukturen, methodologisch weniger relevant als die Analyse derselben in philosophischen Kontexten, wo sich die Notwendigkeit vorläufig zu urteilen von selbst meldet. Auch eine radikale Abstrahierung oder Enttextualisierung der transzendentalen Logik ist weder wünschenswert noch produktiv. Das in den lateinischen L6gikkompendien der Zeit geläufig benutzte judicium bezeichnet das Endergebnis eines Verfahrens oder das Verfahren selbst und wurde je nachdem durch das Nennwort Urteil oder das Zeitwort urteilen übersetzt. Die zunächst terminologische Unterscheidung (die Wiedergabe durch Zuhörer sorgt in den Logik- Vorlesungen für einige sprachlichen Unstimmigkeiten) hat auch merkliche systematische Nachwirkungen. Es gibt bei Kant eine Logik der vorläufigen Urteile und eine dazugehörige Theorie des vorläufigen Urteilens. Der Vollzug logischer Strukturen hat Vorrang und offenbart die Bestimmung des Kantschen Formalismus. Es empfiehlt sich deshalb, im Laufe dieser Abhandlung näher zu untersuchen, wie sich die Urteilsakte selbst konstituieren. Diese Konstituierung läuft parallel oder umflechtet die Konstituierung der Gegenstände. Kein Erscheinen findet ohne vorherige Urteile über Erscheinungen statt. Der Kritizismus hat - noch in der Modeme wirkende mentalistische und sprachphilosophische Implikationen. Die Vorläufigkeit ist eine Immanenz der vorläufigen Urteile, die sich sonst in nichts von anderen Urteilen unterscheiden. Diese Immanenz will sagen, daß man glaubt, so weit Gründe zur Verfügung stehen, daß das Behauptete wahr sei, wobei das Glauben nicht bloß als propositionale Einstellung, sondern als epistemischer Ausdruck, also in demselben Register mit "es ist wahr", fungiert. Neben einer philosophischen und philologischen Rekonstruktion und einer der Kantschen Intentionen möglichst entsprechenden - Zusammensetzung der im gesamten Werk zerstreuten Textstellen bedarf die Logik der vorläufigen Urteile der Aufdeckung ihres eigenen hermeneutischen Horizontes. Rekonstruktion heißt in diesem Sinne nicht allein Sammlung, Entschlüsselung und Neuordnung von Texten, sondern auch die Betrachtung von weiteren Bedeutungszusammenhängen, welche die schöpferischen Fäden dieser Logik offenlegen können. Vorläufiges Urteilen geschieht oft auch ohne ausdrückliche Erwähnung der vorläufigen Urteile. Was durch die Logik-Vorlesungen wesentlich

4. Zur Methode und Darstellung der Problematik

33

erhalten blieb, ist eine kleine in verschiedenen Variationen auftretende Sammlung von Regeln und Anweisungen zu dieser Logik. Die mit diesem Projekt verbundenen Hoffnungen werden ständig wiederholt. Die Kantschen Reflexionen sind nicht selten Anmerkungen zu wirklichen oder fingierten Kontexten, die viel besser erklärt und verstanden werden könnten, stünde schon eine solche Logik zur Verfügung. Diese kurzen Beiträge, die einen parallelen Gedankengang einleiten, sind nicht immer leicht einzuordnen. So entstand die Idee einer thematischen Gruppierung der dazugehörenden Texte. Sie hat den Vorteil, die innere Dynamik des Werkes zu berücksichtigen und die Art und Weise, wie diese Logik entsteht, an Ort und Stelle aufzuzeigen. Die Disposition der Kapitel entspricht den Schwerpunkten dieser Abhandlung: das ,,Fundament" der Logik der vorläufigen Urteile, Strukturen und Vollzug der vorläufigen Urteile und endlich eine Aufzeichnung der Perspektiven, die sich aus den vorliegenden Untersuchungen ergeben. Sie betreffen vor allem das Verhältnis der Urteilskraft zur Logik. Aufgrund verschiedener logischer Projekte und Stellungnahmen innerhalb des Werkes werden wir Kants Vorstellungen über eine universelle Logik, welche nicht mit den Strukturen der transzendentalen Logik zusammenfallen, in dem Schlußkapitel dieser Abhandlung ausführlich darstellen. Wir referieren fast unterschiedslos die Hauptwerke und die Schriften oder Fragmente aus dem Nachlaß. Neben der Absicht, die lebendige Entstehung des Kritizimus zu vermitteln, ist das Kriterium der philosophischen Relevanz maßgebend. Wir hoffen, daß die sich am Anfang des Buches befindende kleine Auswahl von Textstellen überzeugen kann. Sie sind nicht nur Fragmente einer geplanten Logik, sondern auch Aufzeichnungen von Hauptrichtungen des Kritizismus. Kant verleiht offensichtlich der Logik der vorläufigen Urteile eine bahnbrechende Bedeutung wie sonst nur der transzendentalen Logik. Wer könnte die Ausführung dieser ohne die Ausrichtungen jener verstehen? Der allein in der Richtung wichtiger Dinge erstarrte Blick ist von hermeneutischer Blindheit bedroht. Es gibt im logischen und philosophischem Sinne keine unansehnlichen Dinge in der Welt. Wichtigkeit ist kein Maß, sondern allein eine Bezeichnung für schon gemessene Dinge. Der "tiefe bathos der Erfahrung" will mehr als bloß philosophische Bodenständigkeit bedeuten. Die Logik der vorläufigen Urteile ist eine Bedingung der Entdeckung und Identifizierung von Dingen überhaupt. An ihrem Beispiel lassen sich wesentliche Funktionen der Logik entziffern und Grundlinien ihres Gebrauchs formulieren. Die Anwendungen können nicht "blind" erfolgen, sondern in der Überwindung einer ursprünglichen Indifferenz der Formen und durch ihre Involvierung in Erkenntnisakte, welche unausbleiblich einen progressiven und deshalb auch vorläufigen Charakter haben. Ehe wir diese Einleitung schlieBen, sind einige Worte über die Kantsehen Widersprüchlichkeiten nötig. Die erwähnte exklusive Liebe zum Transzendentalismus vermied die Auseinandersetzung mit dieser Problematik und ließ vielmehr die These der Ergänzungsbedürftigkeit der transzendentalen Logik gelten.

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I. Einleitung

Kants Logik, trotz oder wegen ihrer berühmten Dimension apriori, ist wesentlich eine phänomenale und philosophische Logik. Sie ist auf das Dilemma der Existenz (Gegenständlichkeit der Gegenstände) aufgebaut und ihre universelle Anwendung ist deshalb kaum widerspruchsfrei. Diese Logik zu ergänzen, indem man die eine oder andere Seite betont, heißt so gut wie sie aufzuheben und ihre Intention zu verfehlen. Durch geläufig mikroskopische Analysen werden genau die Widersprüche minimiert oder gar bestritten. Die "Kanonisierung" des Kritizismus ebnet unerwartete Klippen des Werkes und verdeckt dessen Geist. Die Kantschen Widersprüche sind so zahlreich und offensichtlich, daß kaum jemand in der heutigen Forschung eine These vertreten könnte, ohne sich einer Gegenthese auszusetzen, die sich gleichermaßen auf Kanttexte stützen würde. Es ist vielleicht nützlich daran zu erinnern, daß sich die beste und gründlichste Kritik am Platonismus in Platos eigenem Dialog Sophistes befindet. Die Größe Platos hat bekanntlich niemals daran gelitten. In diesem Sinne werden wir einige zu eilig übersehene kritische Textstellen in Betracht ziehen. Manche Widersprüche sind auf die EntwiCklungsstufen des Kritizismus wie auch auf das Kants eingeübtes Verfahren der Suspendierung und des Gedankenexperiments zurückzuführen. Auf eine genauere Beschreibung und Untersuchung derselben wird nicht immer eingegangen, sondern mit "vektoriellen" Sätzen werden allein diejenigen Richtungen angezeigt, welche für die Konstituierung des Systems fruchtbar wirken. Sie lassen sich unter den Titel der Selbstkorrekturen einordnen und brauchen keine nachträgliche Kosmetik. Durch Augustinus gewann bekanntlich die Gattung einen pathetischen Glanz (Retractationes). Der alte Kant erinnert sich bestimmt, wenn er das OP redigiert und verwegene physikalische Thesen einführt, an seine früheren programmatischen Ausführungen. ,,Philosophische Sachen muß man immer verbessern. Wolff schrieb zu viel. Crusius ist so eigensinnig dasjenige was er in der Jugend geschrieben nicht verbessern zu wollen. 0 wir irren ja alle, und ist es nicht lobenswürdiger wenn man nach erlangten besseren Einsichten seine Meinung ändert und verbessert. Die Resi nation auf seine eigene Ehre ist ein grosser !Probierstein eines Wahrheitsliebenden.,,3

8

Es gibt aber Widersprüche, die sich aus der Sache selbst ergeben, sich nur bedingt oder gar nicht auflösen lassen. Sie sind innerhalb eines philosophischen Werkes produktiv und lassen eigenständige Standpunkte gleichgebürtig weiter bestehen. Sie gehören somit der Denkstruktur selbst. Sie sind vorläufige Urteile einer besonderen Art. Kant vermittelt zwischen so unterschiedlichen und mannigfaltigen Perspektiven des Denkens, daß auftretende Spannungen nicht völlig geschlichtet werden können. Diese Widersprüchlichkeiten sind aber der positive Grund, warum so viele Philosophen und Logiker aus den entferntesten Horizonten Anschluß an Kant fanden und noch finden. Der geeignete Zugang zu Kant heißt dann: mit Kant gegen Kant zu argumentieren oder sich auf Kants 30

Logik Philippi, 90, 17 - 22.

4. Zur Methode und Darstellung der Problematik

35

Gespräch mit sich selbst in der Hoffnung einzulassen, denfilum Ariadnes (nach Leibniz den Sinn selbst der Methode) des Werkes allmählich zu entdecken, denn die innere Verfassung des Meisters zu Königsberg ist, trotz auf den ersten Blick ausgeglichener Lebensführung, nicht weniger kompliziert als diejenige seines leidenschaftlichen Widersachers, des Einzelgängers Nietzsche Der eine wollte Schotten, der andere aber Polen unter seinen Vorfahren zählen. Beide hatten eine Umstellung aller philosophischen Perspektiven im Auge. Trotz des durchaus unterschiedlichen Verständnisses der Logik sind manche "Widersprüche" des Kritizismus auf eine gemeinsame (bei Kant selbstbeherrschte) philosophische und schöpferische Disposition zur Mehrdeutigkeit zurückzuführen. Zwischen der eindeutigen logischen Form und der Vielfältigkeit der Phänomene ist die einfache und eilige Wahl mit dem Risiko der Täuschung nur zu gut . verbunden. Erscheinungen sind im Kritizismus nicht bloß Erscheinungen. Sie sind vor allem konstituierte Erscheinungen und verlieren niemals völlig ihre subjektive Wurzel. Kant sah sich in der Folge gezwungen, eine zweite Phänomenologie zu entwickeln und zwar die nicht immer beachtete Lehre über die Scheinbarkeit (verisimilitudo). Das Verhältnis der Empirie zur logischen Form ist eine unaufhörliche Herausforderung. Selbst die Autlösung der natürlichen Gegenstände in Empfindungen und die kategoriale Konstituierung derselben gewähren nicht von selbst die unabdingbare Geltung fortkommender Sätze über die Gegenstände. Die Urteile "stimmen" und sichern den Vollzug der Sätze. Man kann das allgemeine Thema der Widersprüchlichkeiten entdramatisieren, indem man merkt, daß die nennenswerten Philosophen, These und Antithese gleichermaßen, obwohl mit verschiedener Akzentsetzung, behandelten, und daß die Philosophie niemals auf eine innere dialogische Struktur verzichtete, welche die feineren Unterschiede zu bewahren vermag. Aus Kants Gespräch mit sich selbst ist nur ein Teil erhalten: das Werk. An diesen Bestand hat jede Rekonstruktion anzuknüpfen. Eine Abhandlung über die Logik der vorläufigen Urteile kann selbst nur vorläufig sein. Am Anfang seiner Untersuchungen, die sich auf vorherigen Forschungen über das Thema Vermögen und Welt bei Kant stützten, glaubte der Verfasser, daß es zu wenig Stoff für eine neuere Interpretation des Kritizismus geben würde, am Ende weiß er, daß es zu viel gibt und daß nur die Zeit dafür immer weniger wird. Dem Dogmatismus in der KantRezeption entgegenzuwirken, ist aber niemals zu spät.

II. Das Urteilen und die Endlichkeit des Menschen 1. Die Konstituierung der wissenschaftlichen Sprache: Satz und Urteil Wir werden uns im Laufe dieser Abhandlung auf die Unterscheidung zwischen Satz und Urteil berufen, welche von Kant niemals wirklich systematisch dargestellt, jedoch von seinen bekanntesten Schriften implizit angenommen wurde. Eine Zusammenstellung von Textstellen verschiedener Perioden wird seine Position zu diesem Problem zu rekonstruieren und zu verdeutlichen versuchen. Es mag sein, daß Kant selbst die zahlreichen Konflikte, die diese einfache Unterscheidung in sich birgt, nicht immer genau eingeschätzt hat. Im Hintergrund steht das uralte und genuine Versprechen der Logik, die Sätze von Urteilen zu befreien. Die Logiker stempeln die Urteile (,judgements") zu einer metaphysischen Angelegenheit). Nicht so die Sprachphilosophen und die Phänomenologen, die verschiedenartig die Kontexte des Urteilens in Betracht ziehen. Dummett bleibt in diesem Sinne eine Ausnahme. In einem Gespräch mit Schulte über die Sprechakte betrachtet er das Urteilen als die andere (innere) Seite des Behauptens und betont seinen Bezug auf die Wahrheit. Behauptungen setzen Entscheidungen voraus und sind in Beurteilungsakten eingebettet. Das Behaupten präformiert die Sprechakte, selbst wenn sie Bitten, Wünschen, Fragen oder Befehle heißen. Damit wird dem Behaupten bzw. Urteilen auch in dem alltäglichen Sprachgebrauch eine wichtigere Rolle zugesprochen. Die Mannigfaltigkeit der Sprechakte ist nicht zahlenmäßig festzulegen. In jedem Sprechakt steckt ein behauptender Kern. ,,Mit Bezug auf das Behaupten dagegen ist es äußerst schwierig, das liegt auf der Hand. Und das Behaupten ist so wichtig, weil es durch sprachliche Elemente mit der Wahrheit verknüpft ist. Nun sagt Frege, der Gedanke sei mit der Wahrheit verbunden; aber ebenso ist die Wahrheit mit dem Behaupten oder mit dem Urteilen verbunden (je nachdem, ob vom Äußeren oder Inneren die Rede ist), Aber so lange man nicht weiß, was mit einer assertorischen Äußerung auf sich hat, weiß man auch nicht, was Wahrheit oder Falschheit ist. Es gibt dann noch keine Basis für eine Unterscheidung zwischen Wahrheit und Falschheit. Nach meiner Auffassung ist ,Behaupten' also wohl

) ,,Negatively, I have attempted to keep within the range indicated by my title: have touched hardly at all "scientific method", and have indulged in a minimum of metaphysical reflection (avoiding, for exemple, such topics as the relations beteween ,propositions' and sentences)" Prior, A. N., Logic, Oxford, 1955, Preface.

1. Satz und Urteil

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ein weit schwierigerer Begriff als ,Fragen' , ,Befehlen' usw. als auch ein weit fundamentaler. ,,2

Hier liegt nur eine Dimension der Problematik, denn wer könnte die neuere symbolische Logik allein aufdie Wahrheitstafeln reduzieren? Sie besteht gleichermaßen aus Übersetzungen und Interpretationen, welche die Urteile auf unerwartete Weise und im hohen Maße rehabilitieren. Die bloß verifikationistische Auffassung übersieht die schöpferischen und innovativen Komponenten der symbolischen Logik. Das Calculus entsteht aus modifizierten Übersetzungen, wobei man mit Alternativen operieren muß, und endet mit Interpretationen, welche die Bestimmungen des Calculus zweckmäßig ergänzen oder gar ändern, so daß das Gleichgewicht zwischen Sätzen und Urteilen nicht von vornherein gegeben, sondern erst mühsam und allmählich gewonnen wird. Man kann diese zahlreichen Beiträge als die immanente philosophische Reflexion der modernen Logik ansehen. Für Kant ist der Satz grundSätzlich ein assertorisches Urteil. Die Frage bleibt, ob der Satz durch die vollständige Assertion autbört, ein Urteil zu sein oder nicht. Gibt es gültige Sätze ohne Behauptungen oder können propositionale Gehalte ohne propositionale Einstellungen bestehen? Nach Kant haben die Urteile konstitutiv eine vorläufige Dimension, während die Sätze endgültige Behauptungen sind, und zwar so, daß ein problematischer Satz an sich einen Widerspruch darstellt. Dagegen widerspricht sich nach Kant ein apodiktischer Urteil nicht, obwohl es gute Gründe dafür gibt, denn das Urteil hat immer eine problematische Seite. Diese paradoxe Ausgangslage läßt die gleichzeitigen kritischen Bemühungen erklären, eine Brücke zwischen Urteilen und Sätzen aufzuschlagen, um den Status der Erkenntnisse apriori zu befestigen. Da es um die Konstituierung der wissenschaftlichen Sprache (oder nachprüfbar wahrer Sätze) geht, folgt Kant unter den besonderen Bedingungen seines eigenen Zeitalters der früheren Aristotelischen Reduktion. "Unheile die nicht bloß logisch sind; sondem auch unser Gemüth zu rühren suchen als z. E. Exclamationen müssen niemals vorkommen in der Art der Erkenntnis, wo die logische Vollkommenheit die Hauptabsicht ist. Es ist ungereimt in der Philosophie Empfmdungen und Erscheinungen einzumischen. Meyer und Feder haben diesen Fehler. Wenn der Autor sagt: Solche Urteile sind sehr praktisch, so sollte er sagen, sie sind rührend und reizend.'

Kants Gleichstellung der Logik und der Objektivität spricht eindeutig für seinen ursprünglichen Panlogismus. In diesem neuen Rahmen widerspricht der praktische Charakter der Logik überhaupt nicht dem theoretischen. Die Konstituierung der Gegenstände durch die kategoriale Synthese verkörpert die kriti2 Dummett, M., Ursprünge der analytischen Philosophie, dt. Übers von Schulte, J., FrankfurtlM., 1988, 179 3 Logik Philippi, 153, 12 - 18.

38

ll. Das Urteilen und die Endlichkeit

sche These. Daß man nicht mit ,,Exc1amationen" eine Abhandlung über Physik schreiben kann, ist eher eine Binsenwahrheit. Doch sind die Implikationen in der Philosophie viel breiter schwerwiegender. Wie soll man das Verhältnis der geplanten Metaphysik als Wissenschaft zur Kunst und zu den Gefühlen verstehen? Die Metaphysik ist dann objektiv in einem anderen Sinne. Die Objektivität ohne (physikalische) Objekte ist eine Herausforderung an den Kritizismus. Kant bezichtigt in demselben Paragraphen Rousseau und Hume der Schönschreiberei, d.h. des uneingeschränkten Gebrauchs der metaphorischen Mittel, die scharfsinnige Argumente verdeckt und unverständlich macht. Beide verstoßen also gegen die wissenschaftliche Sprache. Kant wird seinen Standpunkt mehrmals korrigieren und dann selbst vortreffliche Beispiele von schön geschriebene und bildliche Texte anbieten. Die Bescheidenheit und zu gleich der aufklärende Vorrang der Philosophie vor der Theologie werden im Streit der Fakultäten durch das Bild der die Fackel (und nicht die Schleppe) "vortrageden Magd" verdeutlicht. In der KR unsinnige philosophische Fragen scheinen, "den belachenswerthen Anblick zu geben, daß einer (wie die Alten sagten) den Bock melkt, der andre ein Sieb unterhält" 4 usw. Die synthetische Alternative wird die Empfindungen durch die Konstituierung von Gegenständen in die Bahn der Kategorien und also der Logik bringen. Was die Empfindsamkeit und ihren sprachlichen Ausdruck anbetrifft, so steht im Mittelpunkt der kritischen Lehre eine lang elaborierte Theorie der ästhetischen Urteile. Die Sonderstellung der Gefühle bei Kant gipfelt in der Begründung des Unterscheidungsvermögens, also der höchsten Instanz, welche über Urteile und Sätze verfügt. Die Absonderung der rein logischen Komponente in den Beurteilungsakten ist keine einfache Unternehmung. Man darf behaupten, daß die Urteile getrennt von ihren Kontexten kaum zu verstehen sind. Für diese Abhängigkeit gibt es tiefere ontologische Gründe: die notwendig postulierte Einstimmigkeit oder Entsprechung zwischen Sätzen und Welt, d. h. aber nichts anderes als die allgemeine Bedingung der Anwendbarkeit der Logik überhaupt. Die Urteile probieren und "stimmen" die Sätze bis zu ihrer endgültigen Formulierung. Problematische Sätze gibt es keine. ,,Der Unterschied ist der: ein Urtheil wird als im Verhältnis 2er Begriffe als problematisch gedacht, ein Satz als aßertorisch. Ehe ich einen Satz habe muß ich doch urteilen, ich urteile über vieles, was ich nicht ausmache. Aber bei jedem Satz muß ich die Wahrheit der Begriffe ausmachen. Ein problematischer Satz ist aber eine Contradiction'.s

Die Kantsche Unterscheidung ist eindeutig und setzt Maßstäbe. Sätze ohne Welt sind "gegenstandslos" oder bilden dann ihre eigene Welt. Es geht hier nicht um diejenigen wenigen "unerweislichen" Sätze, welche auf eine "Offen4

KR, B 83,29 - 30. Pölitz, 107, 4 - 10.

5 Logik

1. Satz und Urteil

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barung" oder intellektuelle Evidenz zurückzuführen sind, wohl aber um die beträchtliche Menge aller Sätze, welche die Wissenschaften konstituieren. Die Frage nach dem Satz und dem Urteil ist eine Frage nach den Bedingungen der wissenschaftlichen Sprache und fordert eine entsprechende Berücksichtigung. Diese Sprache besteht nach Kant wesentlich aus "ausgemachten" Sätzen, d. h. deren Wahrheit schon festgelegt ist. Diese Entscheidung ist das Ergebnis einer andauernden Reihe von Urteilen, welche bemüht sind, die problematischen Implikationen zu überwinden, um sich erst als Sätze zu behaupten. Die Bewährung umfaßt die Formulierung, die Behauptung und die Überprüfung der Sätze. Nicht alle Urteile enden in Sätzen, wohl aber alle Sätze beginnen mit Urteilen. Selbst unerweisliche Sätze implizieren eine Zustimmung (Aufnahme der ,,Einleuchtung"), also kommen letztendlich doch mit Urteilsakten in Berührung. Das Urteilen ist kein Messen nach vorbestimmten Gewichten, sondern ein originärer Akt, der allmählich zu sich selbst finden muß. Das Umfeld der Urteilsakte ist durchaus mitbestimmend. Was nicht ausgemacht werden kann, gilt weiter, aber als problematisch. Die Mehrdeutigkeit dieses Ausdrucks und sein Verhältnis zur Wahrheit bedingen ein adäquates Verständnis des Kritizismus. Die Stellung der Sätze wird fragwürdig, wenn Kant eine Gleichheit der bestimmenden und der synthetischen Urteilen herstellen will. Wo enden die Urteile und wo fangen die Sätze an? "Wahr oder Falsch, oder logisches adiaphoron: non liquet (problematisches Urteil, kein Satz), wenn aus den datis nicht bestimmt ist,,6

Die wahren Sätze sind von einem logisch noch undifferenzierten (,,adiaphoron") Gebiet des Beurteilbaren umgeben, wo Entscheidungen erst fallen müs-

sen. Daß die Bestimmung der Sätze sich "aus den datis" ergibt, ist deutlich eine synthetische Vorstellung. Kant hat immer darauf hingewiesen, daß die Wahrheit sich nicht allein mit formalen Bedingungen "ausmachen" läßt. Die Berufung auf empirische Kontexte, Vollzugsakte und Entscheidungen beeinträchtigt zwar erheblich oder vermag die Geschäfte der Logik gar lahmzulegen, aber die panlogistische These urteilsfreier Sätze ist, was die Wahrheit anbetrifft, nicht leicht zu verteidigen, sofern die Wahrheit auch die Anerkennung der Wahrheit in sich schließt. Bei Frege bedeutet die behauptende Kraft merklich eine Behauptung dieser Anerkennung. Urteile haben dieselbe logische Form wie die Sätze. Der Unterschied liegt woanders. "Gut ist es, wenn wir für unsere Begriffe immer ganz eigenthümliche Worte haben können, und uns nicht mit Umschreibungen behelfen dürfen. So sind Urteil und Satz dem Redegebrauch nach wircldich unterschieden. Wenn aber die Logiker sagen: ein Unheil ist ein Satz in Worte eingekleidet: so heiBt das nichts, und diese Definition taugt gar nichts. Denn wie werden Sie Unheile denken können ohne Wörter? Wir sagen lieber: ein Urteil betrachtet das Verhältnis zweyer Begriffe, so fern / es proble-

6

Reflexion 2211.

n. Das Urteilen und die Endlichkeit

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matisch ist, hingegen durch Sätze verstehen wir ein assertorischer Urtheil. Im Urteilen probiere ich meinen Satz: ich urtheile vorher, daß ich behaupte. Beim Satz aber setze ich, und aßerire etwa, und eben in der Aßertion besteht der Satz.,,7

Kant erweitert das Gebiet der Anwendungen und beruft sich auf den Gebrauch in der Normalsprache. Daß der Satz nur gedacht wird, während das Urteil ausgesprochen wird, trifft nach Kant nicht den Kern der Sache, denn auch ein "gedachtes" Urteil braucht von vornherein Wörter, um eben gedacht zu werden. Kant lehnt reine mentale Akte ab. s Der Satz ist vielmehr eine eindeutige Setzung, während das Urteil im Auffinden und Probieren des richtigen Satzes besteht. Beim Urteilen muß man vor allem die vorläufige Dimension wahrnehmen. Die Würfel sind geworfen, aber noch nicht gefallen. Die Ergebnisse stehen noch nicht fest. Der Wurf kann beliebig wiederholt werden und das Spiel fortgesetzt werden. Die Zeit ist in diesem Fall ausdehnbar. Die Urteile haben eine flexibleres Verhältnis zur Zeitlichkeit und zu Kontexten. Beim Satz bleibt aber die Zeit stehen. Die Sache ist "ausgemacht". Man kann die Würfel nicht mehr werfen. Der Satz oder "vollendetes Urteil", es sei nun wahr oder falsch, nicht darauf kommt es an, hebt eigentlich das Urteilen auf. Die vorläufigen Urteile entstammen aus einem noch laufenden Verfahren des Denkens. Der Ausdruck ausgemacht läßt aber raten, daß die Sätze nicht völlig entscheidungsfrei sind. Die Auseinanderlegung der Sätze und Urteile ist in der Fassung von Jäsche noch schärfer formuliert. ,,Auf dem Unterschiede zwischen prolematischem und assertorischem Urteilen beruht der wahre Unterschied zwischen Urteilen und Sätzen ... Ein problematischer Satz ist eine contradictio in adiecto. - Ehe ich einen Satz habe, muß ich doch erst urtheilen; und ich urtheile über vieles, was ich nicht ausmache, welches ich aber tun muß, so bald ich ein Urteil als Satz bestimme. - Es ist übrigens gut, erst problematisch zu urtheilen, ehe das Urtheil assertorisch annimmt, um es auf diese Weise zu prüfen. Auch ist es nicht allemal zu unserer Absicht, assertorische Urteile zu haben ...9

Trotz des eingefahrenen Sprachgebrauchs sind die Urteile viel weniger als die Sätze zu befürchten. Sie sind allein Probesätze und können sich noch ändern. Sollte man sich für einen Satz entscheiden, so muß man (auf eigene Verantwortung) "ausgemacht" hinzusetzen. Die Sprache ist bei Kant unscharf aufgefaßt: Sie soll nicht nur aus Sätzen bestehen. Urteile sind in mancher Hinsicht gut gebraucht. Die kathartische Funktion der Logik entbindet die Sätze 7 Wiener Logik, 456, 18 - 457, 28. damals geläufige Definition der Sätze lautet: ,,Ein Urtheil, das mit Worten ausgedrückt ist, heißt ein Satz" Reimarus, Vernunftlehre, Von Urtheilen und Sätzen, § 108. Eine Theorie mentaler Akte gibt es bei Locke: "This faculty of the mind, when it is exercised immediately about things, is called judgement; when about truths delivered in words, is most commonly called assent or dissent.", Essay concerning human understanding, Oxford, u. a., 1979, Book IV, XIV, 3. 9 Compendium Jäsche, 109 Anmerk. 3, 11 - 22. M Die

1. Satz und Urteil

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von ihrer schon statuierten Verfassung, um diese auf ihre Gültigkeit hin zu überprüfen. Das Rückwärtsverfahren - von Bestimmtheit zur Unbestimmtheit zugunsten einer nachträglichen Verdeutlichung und Präzisierung der Sätze bedeutet eine Rekonstruktion inder Reihe der vorläufigen Urteile, welche den Dogmatismus entkräftet und ein tieferes Erläuterungsverfahren des Urteilens einleitet. Die Antwort auf Eberhardt (1790) verdient eine besondere Aufmerksamkeit, weil sie aus der Blütezeit des Kritizismus stammt und von Kant in polemischer Absicht und mit entsprechenden Genauigkeit und argumentativen Sorge redigiert wurde. Die Schrift ist eine systematische Verteidigung der kritischen Grundpositionen gegen die Einwände seines Widersachers, welcher analytisch mit synthetisch verwechselt und die Kopernikanische Wendung mißversteht. Kant erinnert daran, daß er die Unterscheidung zwischen Sätzen und Urteilen in der KR "angemerkt" habe. Er bezieht sich auf den § 4, B 100 - 101 und höchstwahrscheinlich auf die Ausführungen aus den B 620 - B 624, wo Mathematik und Metaphysik verglichen werden. ,,Die unbedingte Notwendigkeit der Urteile ist aber nicht eine absolute Notwendigkeit der Sachen. Denn die absolute Notwendigkeit des Urteils ist nur eine bedingte Notwendigkeit der Sache, oder des Prädikats im Urteile."lO

Die durch Urteile angezeigte Notwendigkeit bedingt allein die Notwendigkeit der Dinge, läßt sich aber mit dieser nicht verwechseln Die Satzung der Urteile hat eine beliebige Dimension, wenn sie nicht mit einem synthetischen Akt in Verbindung steht. Die Sätze der Geometrie beruhen auf der (wirklichen) Möglichkeit ihrer Konstruktion in der reinen Anschauung und unterscheiden sich darum von den Urteilen der Schulmetaphysik, die nur auf einer bloß logischen Möglichkeit beruhen. Die Gründe, die aus dem Satz vom Widerspruch folgen und die Prädizierung berechtigen, fallen nicht mit dem zureichenden Grunde oder mit dem Realgrunde zusammen. Die "Sätze" der zeitgenössischen Schulmetaphysik sind in der Tat problematische und nicht assertorische Urteile. Die Kantsche Neubegründung der Metaphysik will dann den hypothetischen Gebrauch der Vernunft verstärken. ,,Die Kritik hat den Unterschied zwischen problematischen und assertorischen Unheilen angemerkt. Ein assertorisches Unheil ist ein Satz... In dem bedingten Satze: Wenn ein Körper einfach ist, so ist er unveränderlich, ist ein Verhältniß zweier Unheile, deren keines ein Satz ist, sondern nur die Consequenz des letzteren (des consequens) aus dem ersteren (antecedens) macht den Satz aus. Das Unheil: Einige Körper sind einfach, mag immer widersprechend sein, es kann gleichwohl doch aufgestellt werden, um zusehen, was daraus folgte, wenn es als Assertion, d.i. als Satz, ausgesagt würde. Das assertorische Unheil: Ein jeder Körper ist theilbar, sagt mehr als das blos problematische (man denke sich, ein jeder Körper sei theilbar etc.) und steht unter JO

KR, B 621, 22 - 26.

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11. Das Urteilen und die Endlichkeit dem allgemeinen logischen Princip der Sätze, nämlich ein jeder Satz muß gegründet (nicht ein blos mögliches Unheil) sein, welches aus dem Satze des Widerspruchs folgt, weil jener sonst kein Satz sein würde" 11

Es gibt keine hypothetischen Sätze aus Kantscher Perspektive. Sich hypothetisch äußern, impliziert eine Annahme oder eine Entscheidung über die Auswahl der Prämisse. Das hypothetische Urteil ist die Zusammenführung zweier sehr unterschiedlicher Urteile. Das erste hat auch eine heuristische Dimension. Der "Grund" wird nur angenommen und nicht kategorisch behauptet. Es gibt eine setzende (modus ponens) und eine aufhebende (modus tollens) Form der Verknüpfung in den hypothetischen Urteilen, die ihnen die logische Operationsfähigkeit sichert. Die Satzung der Prämisse ist eine Satzung zugunsten der Folge. Die Konstruktion oder Rekonstruktion beansprucht gleichermaßen die Urteils- und die Einbildungskraft und ist jederzeit mit einem Risiko verbunden, denn es könnte auch anders werden oder gewesen sein. Zwar will die Prämisse als Beleg dienen, aber nur weil es keinen anderen Beleg gibt. Die beiden Urteile stützen sich untereinander und lassen einer tatsächlichen Überprüfung wenig Raum. Die Analytizität ist durch keine synthetische Verbindung getrübt. Man behandelt die Urteile, als ob sie Sätze wären. Der wohl nicht ausgesprochene Satz ist hier die Regel der Folgerung oder die logische Form, die an sich gewiß und unbestritten ist. Die Wahrheit der Behauptung einer hypothetischen Aussage beschränkt sich demzufolge auf die Gültigkeit der Regel. Die Gleichstellung der Sätze und der logischen Form ("die Form der Konsequenz") hat als durchaus denkbare Folge die Einschränkung der Sätze auf eine sehr geringe Zahl. ,,Daher behaupten wir: die consequenz der hypotethischen Urteile wird Satz genannt, weil diese Folgerung gewiß, und folglich eine position ist. .. 12

Kants Analyse der hypothetischen Urteile antizipiert gewissermaßen die spätere Polemik über Möglichkeit einer durchgehenden Übersetzung der natürlichen Konditionalausdrücke in die formale Sprache des materiellen, vom Denken des Grundes und der Folge befreiten Konditionals. Die Annahme als logische Form eines durchaus spezifizierten oder individualisierten Doppelkonditionals zeigt die logischen Bemühungen um eine Harmonisierung der hypothetischen und kategorischen (zu Wahrheitswerte befähigten) Alternative. Kant hat darauf hingewiesen, daß die Form der Konsequenz als eine Position der Kopula, der zugrundeliegenden logischen Form, zu gelten habe. Wenn die Prämissen wahr sind, so ist die Schlußfolgerung wahr. Der materielle Konditional und die Äquivalenz oder der Doppelte Konditional scheinen nun dieser Grundbedingung entgehen zu wollen, indem sie allein die Stimmigkeit der Urteile gelten lassen. Nur wenn beide Urteile wahr oder falsch sind, und zwar unabhängig

11 12

Über eine Entdeckung, Anmerk., 193,33 - 194, 38. Wiener Logik, 457, 28 - 30.

1. Satz und Urteil

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von ihrer tatsächlichen Position, ist die Schlußfolgerung wahr. Die Unstimmigkeit (oder Inkohärenz?) erzeugt dagegen falsche Schlußfolgerungen. Die Wahrheit der Schlußfolgerung hängt nicht von der Wahrheit der Prämisse, sondern von der fonnalen Übereinstimmung mit derselben ab. Der Rahmen der Übereinstimmung kann wohl als Form gedacht werden, aber die Erfüllung des Rahmens ist letztendlich eine Funktion der Urteilskraft. Die Antwort auf Eberhardt nimmt teilweise die Argumentation aus B 100 10 1 wieder auf, wo Kant versucht, die Modalitäten mit den Urteilen zusammen zu denken. Die Problematik fand sich in der KR nur zu einer vorübergehenden Lösung. Die Modalisierung sichert vorerst die Qualifizierung als Urteile, weil sie bekanntlich den Bezug des Gegenstandes auf das Subjekt in sich schließt. Die Urteile aber als bloß beliebige und logische Möglichkeiten zu denken, stößt bei Kant auf die Forderung der Tafel der Urteile. Das Urteil über die Möglichkeit mag eine logische Möglichkeit bezeichnen, beinhaltet jedoch den Bezug auf das Subjekt und, noch mehr, hat apodiktische Geltung. Kant benutzt, um dieser Situation zu entsprechen, einen Ausdruck, den er an anderen Stellen als einen Widerspruch in sich betrachtet: problematischer Satz. Er entdeckt vor Frege die nur logische Geltung falscher Urteile und schreibt ihnen einen heuristischen Wert zu. Sie fungieren im Rahmen eines Denkexperimentes oder in einer vorübergehenden Darstellung. ,,Daher können solche Urteile auch offenbar falsch sein, und doch, problematisch genommen, Bedingungen der Erkenntnis der Wahrheit sein. So ist das Urteil: Die Welt ist durch blinden Zufall da, in dem disjunktiven Urteil nur von problematischer Bedeutung, nämlich, daß jemand diesen Satz etwa auf einen Augenblick annehmen möge, und dient doch, (wie die Verzeichnung des falschen Weges, unter der Zahl aller derer, die man nehmen kann) den wahren zu finden. ,,13

Es gibt wohl eine weitere und schwächere Kantsche Auffassung der Sätze, die alle mögliche Satzungen umschließt, aber dann sind die Sätze unvenneidlich, wenigsten in historischen Kontexten, dogmatisch und brauchen dringend einen zusätzlichen Beurteilungsakt. Ob die Beurteilungsakte je den Dogmatismus überwinden können und nicht selbst in seine Falle geraten werden? Kann man die Sätze von Urteilen trennen? Die drei Kritiken stehen vor einer nicht leicht aufzulösenden Aufgabe, welche die Verzahnung der Logik-Vorlesungen mit der Kantschen Hauptschriften einmalig belegt. Es muß eine Gemeinsamkeit zwischen theoretischen, ästhetischen und moralischen Urteilen als Urteilen geben. Sie hängt von dem unterschiedlichen Verhältnis des Subjektiven zum Objektiven ab. Sätze im eigentlichen Sinne sind allein theoretische Sätze wegen ihren exklusiven Bezugs zur Objektivität. Soll man über synthetische Urteile oder synthetische Sätze apriori reden? Kant bevorzugt die erste Redeweise, bewilligt jedoch die zweite durchaus. Die Unterscheidung zwischen analytisch

13

KR, B WO, 17 -101, 26.

44

ll. Das Urteilen und die Endlichkeit

und synthetisch kongruiert nicht mit der Unterscheidung zwischen Urteilen und Sätzen, hat aber Berührungspunkte mit derselben. Die Sätze sollen dem zureichenden Grunde völlig entsprechen. Allein die synthetischen Grundsätze sind deshalb unmißverständlich Sätze. Die Kantsehe Neugründung der Metaphysik steht damit vor einem neuen Problem. Soll die Metaphysik aus Urteilen oder aus Sätzen bestehen? ,,Man sollte denken, er trage einen metaphysischen Satz vor, der etwas apriori von Dingen bestimme, und er ist ein blos logischer, der nichts weiter sagt, als: damit ein Unheil ein Satz sei, muß es nicht blos als möglich (problematisch), sondern zugleich als gegründet (ob analytisch oder synthetisch, ist einerlei) vorgestellt werden.,,14

Nun wird ein weiteres und anscheinend das entscheidende Kriterium zur Unterscheidung zwischen Urteilen und Sätzen geliefert. Es findet am meisten Anwendung im Kritizismus. Kant räumt zugleich die Möglichkeit einer festen Begründung der analytischen Sätze ein. Dementsprechend sind Sätze begründete Urteile, welche sich der problematischen Dimension entziehen können. Sie sind von den logischen, d. h. grammatikalischen Sätzen dadurch unterschieden. Die Sätze bleiben aber auch in dieser vordergründigen Stellung in Beurteilsakten eingebettet, also sie sind erst durch Urteile begründet, welche konstitutiv auf die Grenze zum Problematischen stoßen. Die Reflexion umfaßt das weitere Feld der ästhetischen und moralischen Urteile. Es gibt also Sätze, denn Urteile ohne Sätze sind kaum vorstellbar, welche nicht unmittelbar zur Wahrheit stehen, sondern nur ihre Richtigkeit behaupten wollen. Oder schließen solche Sätze, wenn schon unterschwellig, doch Erkenntnisgründe in sich? Kants Aufmerksamkeit geht besonders auf die ästhetischen Urteile, und zwar wegen ihrer anschaulichen "Genauigkeit" und Glaubwürdigkeit, die in logischen Zusammenhängen abermals reflektiert werden. Die Kunstwerke, sagen wir Malerei oder Bildhauerei, existieren, obwohl nicht im Sinne der physikalischen Gegenstände, die sie sonst selbst bloß sein können. Sie haben eine eigenständige und definierbare ,,Realität". Die Anschauungen, welche für die Konstituierung physikalischer Gegenstände verbürgen, erfüllen im Kunstwerk eine erweiterte und schöpferische Aufgabe. Die "Unwirklichkeit" des Kunstwerkes haftet dicht an die Wirklichkeit, ohne einfach eine Verdoppelung derselben darzustellen. Die Objektivität gerät in Verlegenheit, denn die in Anschauungen fundierte Subjektivität der ästhetischen Urteile geht mit einer allgemeinen Anerkennung zusammen, welche prinzipiell nur der wahren Sätzen gebührt. Die ästhetischen Urteile "objektivieren" sich auf diese Weise, beanspruchen universelle Geltung und regen an, die Objektivität ohne Objekte mancher wissenschaftlichen Behauptung nachzufragen. Die für die ,,materielle" oder inhaltlich erfüllte Wahrheit so wichtige Verflechtung der Allgemeinheit und der Besonderheit kann dagegen von den theoretischen Sätzen manchmal allein erhofft werden. Die 14 Über eine Entdeckung, 238, 37 - 239, 5.

2. Die Struktur der Urteile

45

ästhetische Erfahrung konstituien aber keine Gegenstände. Die reflektierende Uneilskraft läßt die Wirklichkeit unberühn und gibt sich selbst ein Gesetz der Reflexion über dieselbe, das auf seine eigene Weise Geltung apriori hat. 15 Die bestimmende und reflektierende Uneilskraft handeln auf dieser Ebene in Vereinigung oder die reflektierende Uneilskraft erhält zusätzlich die bestimmende Verfügungsgewalt der ersteren. Die Uneile werden in letzter Instanz zu Bedingungen der Sätze. Das Kantsche Projekt einer universelle Logik (nach der Vernunft) soll die nur mögliche Gesetzgebung der reflektierenden Uneilskraft mit berücksichtigen.

2. Syntaktische und phänomenologische Struktur der Urteile Die Hinterlassenschaft der Stoiker Die Uneile haben auf den ersten Blick eine komplizienere Struktur als die Sätze. Neben der traditionellen syntaktischen Struktur (Subjekt - Prädikat), die propositionale Gehalte umgrenzen, haben sie eine phänomenologische Struktur, die in die Richtung der Subjektivität zeigt und propositionale Einstellungen zusammenflicht. Die genauere Analyse belegt Gemeinsamkeiten, Schattierungen und Interdependenzen. Das Behaupten beginnt mit der Annahme der propositionalen Gehalte, welche ihrerseits auf einer Zustimmung beruht. Es handelt sich um die in einer langen Tradition eingebettete und allmählich verwandelte Unterscheidung stoischer Herkunft zwischen "Uneil" (Satz, propositio) und ,,Beurteilung"(eigentlich Urteil, assensio, dann sententia, judicium, bei Leibniz decretum in Verbindung mit Gott). Den Bemühungen des ,,klassischen" Kant - wie später Freges - unter dem Namen "Uneil" eine Identität der beiden Ausdrücke durchzuführen (die Konstituierung einer wissenschaftlichen Sprache hängt von der Verfügbarkeit völlig gewisser Sätze ab) scheint die im Kritizismus thematisiene vonreffliche Rolle der Uneilskraft einen nicht geringzuschätzenden Widerstand zu leisten. Denn die Urteilskraft ist im eigentliche Sinne des Wones erst eine Beurteilungsinstanz im deutlichen Abstand vom Verstande als Vermögen der Formen der Uneile oder der Regeln. Der tatsächliche Vollzug des Uneilens steht so der Uneilskraft und nicht dem Verstande zu. Die praktische Logik ist auf einem ähnlichen Unterschied gebaut. In der Acroasis logica Baumgartens ist die theoretische eine lehrende (docens), die praktische aber eine ausübende (utens) Logik. Man darf wohl die letztere ebensosehr eine ,Jemende" Logik nennen, weil sie ein Auge auf die Wirklichkeit offen hält und sich nicht scheut, dessen Strukturen zu folgen. Der theoretische Teil beschäftigt sich hauptsächlich mit dem Uneilen überhaupt (de judiciis), während der praktische auf die Beurteilung (de dijudicando, Critica) eingeht. Aus der

15

KU, XXVI - XXVll.

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II. Das Urteilen und die Endlichkeit

Perspektive dieser Einteilung ist dann der Verstand ein Vennögen der Urteile im Sinne des reinen Denkens lfacultas judicandt), die Urteilskraft vorzüglich ein Unterscheidungs- und Entscheidungsvennögen lfacultas dijudicandt)16. Sie ist deshalb von vornherein in kritischen Unternehmungen involviert. Als Mittelglied zwischen Verstand und Vernunft soll die Urteilskraft zwischen empirischer und rationaler Gewißheit vennitteln und der ersteren so weit wie möglich die Deutlichkeit und Stichhaltigkeit der letzteren gewähren. Die Perspektiven der Philosophie werden aber im Kritizismus umgestellt und damit auch der Sinn der Urteile. Im großen Unterschied zur tradierten Metaphysik gibt es bei Kant eine sichere Erkenntnis der Empirie - streng kritisch gesehen auch die einzige Erkenntnis. Die synthetischen Grundsätze ersetzen die bis dahin geltenden rein deduktiven Maßstäbe der Objektivität. Kant gibt sich allein mit der syntaktischen Struktur der Urteile nicht zufrieden, selbst im Falle der Sätze nicht. Die Subjektivität fallt mit dem syntaktischen Subjekt des Satzes nicht zusammen, sondern ist ausdrücklich der Bezug auf ein Bewußtsein. Dieser Bezug soll der logischen Fonn entsprechen. Im Vollzug des Urteilens hat man in der Tat mit zwei "Subjekten" zu tun, das syntaktische Subjekt (bzw. Objekt) des zu beurteilenden Satzes und das transzendentale Subjekt der beurteilenden Person, welche durch Synthese ein einheitliches Subjekt konstituieren sollen. Der Übergang von den Wahmehmungs- zu den Erfahrungsurteilen findet unter dieser Bedingung statt und ist in der Transzendentalen Deduktion besonders berücksichtigt Die Zustimmung und die Ablehnung sind nichts anderes als die propositionalen Einstellungen zweier logischer Grundoperationen: Bejahung und Verneinung. Die logische Schematisierung der Einstellungen hat spürbare Folgen für die Erfassung propositionaler Gehalte. Aber es geht hier um viel mehr als die Interdependenz. Die semantische Zusammensetzung belegt einmalig die ursprüngliche und verhängnisvolle Zusammengehörigkeit der logischen Struktur und der Intentionalität. "Wie nun bei ihnen (bei Stoikern) zu hören ist, ist die Erkenntnis eine Zustimmung zu erkennenden Vorstellungen und scheint damit eine zweiteilige Sache zu sein, nämlich einerseits etwas Unfreiwilliges zu enthalten und anderseits etwas, was freiwillig ist und im Bereich unserer Entscheidung liegt.,,17

Das Wort ,,Entscheidung" lautet im Originaltext krisis und steht in einem gedanklichen Zusammenhang mit "Kriterium" und nicht zuletzt mit ,,Kritik". Die gemeinsame Wurzel bedeutet "Sehen und Unterscheiden". Der "willentliche" Akt des Verstandes hält die eingesehene Sache fest und bringt sie zur Geltung. Baumgarten. A. G., Acroasis Logica, Halle, 1761, Prolegomena logices, § 14. 17 Sextus Empiricus, Adv. Math. vm, 397. In: Die Fragmente zur Dialektik der Stoiker, hrsg. von Hülse K., Stuttgart u. a., 1987/88. 16

2. Die Struktur der Urteile

47

Die Stoiker entdecken eine Dimension des Urteilens, die außerhalb der reinen intellektuellen Handlung liegt. Die Urteile sind in weiteren Zusammenhängen eingebettet oder sie haben einen mehrschichtigen Kontext. Die späteren Cartesianischen Cogitationen flechten ebenfalls intellektuelle, willentliche und gefühlsmäßige Akte zusammen. Verschiedene Grade der Zustimmung bei Stoikern sind - so weit wir wissen - nicht durch Texte belegt; dies hätte einen Vergleich mit dem Fürwahrhalten erlaubt. Eine Ähnlichkeit besteht doch, denn das Fürwahrhalten bei Kant ist das Gegenteil vom Verwerfen. Diese zweiteilige Struktur der Urteile ist nicht Aristotelisch - syntaktisch (ti kard rinos, Subjekt und Prädikat), sondern phänomenologisch (Gegebenheit bzw. Aufnahme derselben). Die Urteile sind somit Verflechtungen oder Synthesen unfrei- und freiwilliger Elemente, objektiver und subjektiver Momente. Die Urteilslehre der Stoiker gipfelt in der verallgemeinernden Behauptung des Marcus Aurelius: Alles ist wie man es an- oder aufnimmt. 18 Beide Arten der Zweiteiligkeit bleiben in Urteilen (je facto bestehen, so daß man behaupten kann, sie seien allein unterschiedliche Weisen der Analyse der Urteile, während die Urteile selbst einheitliche Phänomene darstellen. Frege wird später die syntaktische Struktur völlig entschwinden lassen und durch die allgemeine Verbindlichkeit der Funktion ersetzen. ,,Man sieht hieraus, daß die grammatischen Kategorien des Subjekts und Prädikats fiir die Logik nicht von Bedeutung sein können.,,19

Wir beabsichtigen, in unseren Analysen zunächst die reine logische Funktion der Zustimmung (bei Kant am meisten Beyfall) bzw. Ablehnung zu berücksichtigen, welche eine deutlichere Einsicht in die Komplexität der Urteilsakte gewährt. Diese schärfere Abgrenzung betont die Positivität der epistemischen Stufen des Fürwahrhaltens, die alle innerhalb der Zustimmung zusammenfallen. Zustimmung unter Vorbehalt, wie im Falle der vorläufigen Urteile, heißt alsdann nicht weniger Bejahung, sondern weniger Wissen über die gegebenen Sachverhalte. Die Überzeugung mag davon berührt sein, aber nicht die grundlegende Unterscheidung zwischen Bejahen und Verneinen. Sie operiert auch in einer mehrwertigen Logik, denn für jeden Wert soll doch am Ende eine deutliche Entscheidung fallen. Die oben erwähnte und längst gesuchte und in der Tat offensichtlich vorkommende Identität zwischen "Satz" und "Urteil" (nicht anerkennungsbedürftige völlig gewisse Sätze) läßt sich nicht leicht erklären und noch weniger ausreichend begründen. Dies scheint vielmehr eine stetige Aufgabe der Logik und nichtsdestoweniger der Mathematik. Der Abstand, welchen Wittgenstein später von Russell nahm, läßt sich im Rahmen derselben Problematik orten. Bekannt18 ,,Pan hup61epsis", Antoninus, Marc Aurelius, Ad se ipsum, Leipzig, 1987,11, 15. 19 Logik. In: Nachgelassene Schriften, Hamburg, 1969,153.

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II. Das Urteilen und die Endlichkeit

lich spricht Wittgenstein nicht über Urteile, sondern über mathematische Sätze, aber beschreibt ständig sehr genau das Umfeld der Beurteilung (,,Interpretationen", ,.Annahmen" und nicht zuletzt "Verwendung,,).2o Auf dieser Grundlage werden die Sätze hinterfragt, relativiert oder umformuliert. Die kritischen Beiträge geben der Problematik der Urteile durch die synthetische Alternative eine dynamische Orientierung. Die Begriffe werden zu fundierten Erkenntnisgründen. Kant postuliert weiter die Implizierung der Urteile auf der obersten formalen Ebene des Denkens. ,,Die Regel ist ein Satz. Ein Unheil ist eine Regel in abstracto. Alle Regel ist ein jedes Unheil einer Regel. Ein Unheil drückt unser gesamtes Denken aus".21

Das Zitat ist nicht leicht zu interpretieren, verzeichnet jedoch wiederholt die Hauptunterscheidung zwischen Sätzen und Urteilen und stellt eindeutig die mentalistischen Implikationen der Urteile fest. Im Unterschied zu den logischen Prinzipien wurzeln die Urteile in einem geistigen Hinterland. Wir stehen damit vor der strittigen Problematik der Kantschen Tafel der Urteile. Sie sind von Kant schlagartig dargestellt, als wären sie Sätze, und haben infolgedessen die meisten und verschiedenartigsten Einwendungen herangezogen. Man kann die Sichtweise über das Kantsche Verfahren radikalisieren und an dieser Stelle behaupten, daß es eigentlich keine Logik Kants gibt, allein eine ununterbrochene philosophische Reflexion über dieselbe. Die transzendentale Logik wäre dann das umfassendere Projekt, das Formale des Informellen zu statuieren und es zur einer vollständigen logischen Schematisierung zu verhelfen. Das Informelle läßt sich allerdings allein als Empirie, bzw. Gegenstände, stichhaltig definieren, so daß das Denken nicht auf logische Weise seinen endlichen Rahmen überspringen kann und vermag weitere Dimensionen nur zu raten. Es wird von Sätzen zu Urteilen verdrängt, also in eine Position gestellt, wo es sich selbst erst rechtfertigen muß. Dies ist der Sinn der weniger beachteten metaphysischen Deduktion und zugleich der Einladung zu einer transzendentalen Deduktion. Die Kategorien der äußeren Welt mögen rapsodisch sein, aber nicht die in dem Verstand selbst wurzelnden Kategorien. Ihre Aufstellung soll gemäß der Funktionen (auch Formen benannt) des intellektuellen Vermögens vollständig erfolgen. Obwohl die Urteile "das gesamte Denken" ausdrücken, bleiben sie auf die Hypothek der äußeren Welt angewiesen, welche sinngemäß als das Formale des Informellen im nachhinein aufgefaßt wird. Sie können deshalb kein unabhängiges System von Sätzen bilden und verbürgen sich vielmehr für die Verstehbarkeit oder Anwendbarkeit der Logik. Die panlogistische Hoffnung der metaphysischen Deduktion stößt an die Grenze der Erkennbarkeit, die im Horizonte der Logik unausbleiblich auftaucht. Die genaueren Argumente gegen 20 Wittgenstein, L., Vorlesungen über die Grundlagen der Mathematik (Cambridge, 1939) Schriften, Bd. 7, FrankfurtlM., 1978 21 Enzyklopädie, 44, 13 - 15.

3. Das Projekt einer Kriterienlehre

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die Tafel der Urteile (keine mehrstelligen Prädikate, keine multiple Quantifizierung) treffen allerdings nur kollateral die metaphysische und transzendentale Deduktion, sofern beide keinen Kanon, auch keinen fragmentarischen, der Logik darstellen. Kant wird sich in den Logik- Vorlesungen oft auf die Untastbarkeit der logischen Prinzipien berufen und sie als sich selbst genügende Sätze verstehen, also ihnen den auch in der Modeme geltenden Status von logischen Wahrheiten verleihen. Er will aber hartnäckig nicht die Existenz in einem logischen Nexus auflösen und stolpert später selbst über die Unvollständigkeit der kategorialen Antwort. Wie dem auch sei, es handelt sich offensichtlich um eine Tafel von Urteilen, deren objektivierende Bestimmung sich durch ihre allgemeine mentalistische Involvierung (transzendentale Apperzeption) erst erklären läßt. Strawson übernimmt ohne Kommentar die auch in der Kantschen Interpretation geläufige Gleichstellung der Urteile und der Sätze (judgement or proposition22 ), betont aber reichlich in seinen Abhandlungen die Unabdingbarkeit des Mentalismus. Die Urteile im Sinne der Tafel der Urteile haben primär den Nachvollzug der Regeln oder die gleichzeitige Durchführung logischer und mentalistischer Operationen im Blick, so daß sie nicht als Sätze mit endgültigem Erfolg widerlegt werden können.

3. Das Projekt einer Kriterienlehre im 18. Jh. und in der Gegenwart Vorläufige Urteile im konservativen und liberalen Sinne Die Kriterienlehre, Grundteil der Logikkompendien im 18. Jh., ist eine konventionelle Unterscheidungslehre des Wahren und des Falschen und eine naive Metalogik. Die formalen Prinzipien des Denkens (der Satz vom Widerspruch, des zureichenden Grundes usw.) werden auseinander deduziert oder aufeinanander bezogen. Die Logikkompendien verflechten und verwechseln metaphysische und logische Prinzipien. Die Kriterienlehre als philosophische Gattung ist eine Erfindung der Stoiker und der Epikureer und folgte der Zersplitterung der klassischen ontologischen Tradition. Die ideelle ursprünglich Parmenidsche Einheit zwischen Sein, Sprache und Wahrheit wirkte fast schwindelig in den so wenig klassischen und so viel globalisierenden Zeiten der Spätantike. Diese grundlegende Entsprechung blieb nichtsdestoweniger unterschwellig erhalten wie in viel höherem Maße die Platonische Einheit des Wahren, des Guten und des Schönen. Die Spaltung hatte als Folge die merkliche Thematisierung des Fürwahrhaltens oder des theoretischen Glaubens. Das verständliche Orientierungsbedürfnis der Zeit äußerte sich in einer allgemeinen Suche nach Kriterien. Die Logik entdeckt ihre praktische Dimension. Die neu formulierten Grundsätze bildeten dann den Kanon jeder philosophischen Lehre. Im 18. Jh. ist die 22 Strawson, P. F., Kants New Foundations of Metaphysics. In: Entity and Identity, London,1992,238.

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11. Das Urteilen und die Endlichkeit

Kriterienlehre durch eine mehr oder weniger elaborierte Darstellung der Quellen des Irrtums ergänzt. Der von Wissenschaften bestimmte feste Glaube an die Wahrheit hat die phänomenologische Wirklichkeit des Irrtums allmählich verdrängt oder allein auf eine rein technische Angelegenheit (Fehlschlüsse) reduziert. Auch die Wahrheit kann unter gewissen Umständen zu ihrem eigenen Vorurteil werden. Wir können mit wahren und verifizierten Sätzen leben und doch irren. Mit anderen Worten, man kann den Gebrauch nicht überspringen. ,,Denn jeder Irrtum ist ein wirkliches Phänomenon und Erscheinung in der Menschlichen Seele. ,,23

Daher die Lebensnotwendigkeit eines Prinzips der Unterscheidung. Die Geschichte der Logik ist nicht allein eine Geschichte der Wahrheiten, sondern gleichermaßen eine Geschichte der Irrtümer der Logik. Wittgenstein konnte dieses partielle Versagen genauer dokumentieren. Der moderne Trend zur wissenschaftlich festgelegten Eindeutigkeit ist auch bei Kant bis zu einem gewissen Punkt bestimmend, so in der strengen Aussonderung der apodiktischen (wahren) Sätze. Die Notwendigkeit der apodiktischen Sätze wird nachgewiesen, aber die apodiktischen Sätze selbst sind nicht immer kritisch ausreichend hinterfragt. Dafür sind sie aber in der Endlichkeit des Menschen eingebettet, welche ihre Tragweite in Schranken hält. Die Sätze apriori sind unvermeidliche Hilfen zur Beurteilung. Eine elaborierte, auch in den Logik-Vorlesungen entfaltete Theorie des Fürwahrhaltens ergänzt und moderiert den Horizont der Apodiktizität. Die Kantsche Kriterienlehre konstituiert sich schon in der Frühabhandlung Principiorum primorum cognitionis metapysicae nova dilucidatio (1755) und vollzieht eine letzte Umwandlung im OP, durch eine erweiterte Bestimmung ihrer formalen Komponenten (Deduktion des Stoffes). Man kann bei Kant den Übergang von der traditionellen Prinzipienlehre zu einer Kriterienlehre gut beobachten. Die Entontologisierung der ersten Philosophie geschieht zugunsten ihrer logischen Strukturen. Deduktive Schlüsse und Definitionen können allein das auf diese Weise entstandene Vakuum nicht erfüllen. Gilt noch die Korrespondenztheorie der Wahrheit in Abwesenheit der herkömmlichen Ontologie? Worüber und wie können wir dann urteilen? Die Abhandlung Untersuchungen über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral (1763), welche als Antwort auf eine Preisfrage der königlichen Akademie der Wissenschaften entstand, spitzt diese Problematik zu und betont erstmalig die Relevanz der Gefühle für eine Kriterienlehre. Die Umstellung zum Kritizismus wird durch die Habilitationsschrift De mundi sensibilis atque intelligibilis Forma et principiis (1770) eingeleitet. Mangels einer Ontologie findet die Korrespondenztheorie eine Stütze in ihrer Zurückführung auf die menschlichen Ver-

23

Metaphysik Herder, 3,18 - 19.

3. Das Projekt einer Kriterienlehre

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mögen. Die Kehre gilt für das gesamte kritische Werk und erklärt Kants Interesse für Locke und Hume. Die Wirklichkeit der Vermögen ist in der KR eingeklammert, in der Anthropologie aber verteidigt. Die strenge Grenzziehung zwischen sinnlichen und intellektuellen Erkenntnissen in der Habilitationsschrift bestimmt den Rahmen der Kantschen Theorie des Irrtums. Der Anlaß zum Irrtum ist lediglich die Verwechslung der Kompetenz der Vermögen. Die Schrift weist schon den Formen eine konstitutive Rolle zu. Das Kerngefüge der drei Kritiken bildet in dem o. g. Sinne eine Kriterienlehre, die Maßstäbe und Bedingungen für das Beurteilen auf drei Hauptgebiete formuliert. Der reale Gebrauch des Verstandes und der damit unmittelbare Bezug auf Noumena werden endgültig aufgegeben. Die drei Kritiken lassen sich auf drei Ausdrücke reduzieren: "es ist wahr", "es ist gut", "es ist schön", die in der einheitlichen Platonischen Vision wurzeln. Der erste Ausdruck "es ist wahr" hat einen Vorrang über die anderen, denn es stellt sich immer die Frage, ob die anderen Sätze stimmen oder nicht stimmen, was den Anfang einer Frage nach der Wahrheit darstellt. Diese Frage kann sich der erste Ausdruck ("es ist wahr") selbst stellen und dies allein zeigt, daß die Kriterienlehre eine Theorie des Fürwahrhaltens nötig hat, um ein regressum ad infinitum zu vermeiden. Wenn man von Kontexten und Einstellungen absieht, sind diese Ausdrücke logisch völlig durchsichtig, aber unvollendet, denn sie brauchen eine jeweilige Spezifizierung. Die Analytik der KR ist hauptsächlich eine Unterscheidungslehre zwischen Noumena und Phainomena. Diese unsichtbare Grenze läuft durch die Texte der Philosophie selbst, so daß nachträglich Überlegungen und Nachprüfungen über das Wahre und das Falsche eingeleitet werden müssen. Die Analytik ist ohne die transzendentale Logik nicht denkbar. Doch die kritische Kriterienlehre ist nicht mehr wie im 18. Jahrhunderts üblich eine ,,Metalogik", d. h. eine Darstellung der Grundsätze der Logik. sondern eine Theorie der synthetischen Erkenntnisse apriori. Die erste Folge ist die kritische Trennung zwischen Logik und Dialektik und die Verschiebung eines Teils der Kriterienlehre in die Dialektik der reinen Vernunft.. Die synthetischen Grundsätze können nicht die Beurteilung metaphysischer Gegenstände bestimmen. Die Kantsche Kriterienlehre stellt ein begrenztes Wissen apriori zur Verfügung, welches aufgrund von Erfahrungen erst bewußt, dann verwirklicht und erweitert werden kann. Die Ursätze der Kriterienlehre müssen - wie die transzendentale Apperzeption - alle Urteile begleiten können, d. h. sich in der Welt der Kontexte bewähren. Man hat die Nachwirkung dieser radikalen These auf die Konstituierung der Metaphysik vielerorts kommentiert, nicht aber die Rückwirkung auf die transzendentale Einrichtung selbst ausreichend erwogen. Die transzendentalen Sätze sind semantisch unvollständig. Sie bilden erst in Verbindung mit den Gegenständen selbständige semantische Einheiten. Die Erfüllung (oder der Abschluß) kommt von der sinnlichen Welt. Die Empfin-

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ll. Das Urteilen und die Endlichkeit

dungen geben bekanntlich den Begriffen ,,sinn und Bedeutung". Das transzendentale Wissen geht allen Urteilen vorher. Vorläufig hat einen formalen und auch einen tatsächlichen (historischen) Bezug auf die Zeit. Vorläufige Urteile heißen dann temporale Urteile. Sie sind immer unvollständig, aber nicht immer vergänglich. Sie dienen ständig zur Anleitung. Die Anleitung als Gattung findet bei Kant unterschiedliche Verwendungen und gestaltet die im 18. Jh. vorhandene Tradition des discursus praeliminaris um. Sie besteht manchmal aus einer vorhergehenden Zusammensetzung von Bedingungen. Schon in der Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels (1755) vertritt Kant die These, daß man ohne irgendeine formale Grundannahme oder Anleitung zur Forschung das Weltall nicht zum Reden bringen kann. Die anleitende, unvollständige Rede oder Form der Forschung ist eine Vorbedingung der wissenschaftlichen Darstellung der Dinge. Das Weltall schweigt ohne eine passende Form zur seiner Entschlüsselung. Dies ist der Sinn der logischen Form überhaupt. Aus dieser Perspektive ist das Apriori selbst ein vorläufiges Urteil und keine bloße Regel. Kant definiert folgendermaßen die Funktion der Anleitung iri der Urteilslehre: "Wir müssen eine Anleitung zum urtheilen haben, sonst würden wir bloß Mechanisch oder von ohngefehr urtheilen. Diese Anleitung giebt uns eine praesumtion, ist ein vorläutiges Urteil, welches vor allen bestimmenden Urtheilen vorhergeht. Es bedarf noch einer Beurtheilung. Wenn man das, was eine Praesumtion ist, für ein bestimmendes Urtheil / hält, so entsteht daraus eine illusion, ein Irrtum.,,24

Die Anleitung offenbart den Zweck der Formen im Kritizismus. Sie sollen der mechanischen Anwendung der Regeln widerstehen und die Zuflucht auf den Zufall als eine dogmatische Folge des Skeptizismus bloßstellen. Apodiktische Sätze und Praesumtionen, welche auf Induktionen und Analogien verweisen, lassen sich allerdings nicht recht gut paaren. Es geht vielmehr um fundierte Grundannahmen, denn die kritische Deduktion - nicht zu vergessen - vermengt in einer einmaligen Synthese induktive und deduktive Momente. Sie ist juristisch und nicht logisch strukturiert. Zwar sind die Funktionen (Formen) des Denkens nicht empirisch-intuitiv gewonnen, aber sie entsprechen auch keinem rein logischen Gefüge und bestehen nur insofern, als die innere durch die äußere Erfahrung ermöglicht wird. Die Funktionen bilden den Rahmen, so die metaphysische Deduktion, wo sinnvolle Sätze geschehen können. Wir werden uns mit einer phänomenologischen Lektüre des Apriori begnügen, welche der Zielsetzung unserer Abhandlung auch besser entspricht. Wir wollen den kritischen Perspektiven wechsel und seine doppelte systematische Bedeutung hervorheben. Das höchste theoretische Akt ist bei Kant, die Wirklichkeit zu sehen, und sich zugleich zu merken, das die Wirklichkeit nicht das letzte Wort über die Wirklichkeit darstellen kann. Gegebenheiten brauchen immer eine formale 24 Enzyklopädie, 62, 17 - 63, 23.

3. Das Projekt einer Kriterienlehre

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Ingredienz, um als solche "gesehen" zu werden. Der formale Zusatz ist nichts anderes als die in der natürlichen Einstellung zunächst "unsichtbare" Seite der Gegenstände. Die phänomenologische Betrachtung der Gegenstände schließt die Betrachtung und die Analyse der Begriffe von Gegenständen ein. Die transzendentale Deduktion beginnt mit Gegebenheiten und zielt auf eine nicht rein deduktiv erreichbare Erklärung der Gegebenheiten ab. Die weitere Entwicklung der Kantschen Argumentation und die Thematisierung der Anwendungen bewilligen durchaus die phänomenologische Lektüre. ,,Dasjenige in einer Erkenntnis was vor alle Vorstellungen, die wir von der Sache haben können, gilt, das ist das wahre darinnen. Es gehört viel dazu, sich z. B. nur den Begriff von einem Stuhl zu machen. Stuhl drückt in mir gantz etwas anderes aus, als was mir unter so viel Tausend Gestalten erschienen ist. ,,25

Der Stuhl entsteht nicht aus einer Verallgemeinerung, denn man verallgemeinert Begriffe, aber kaum "Gestalten". Er ist das Ergebnis vorläufiger Urteile, welche unzählige Gesichtspunkten berücksichtigen. Diese vorläufige Urteile brauchen ein allgemeines anleitendes Urteil, das in einem ganz anderen Sinn als vorläufig bezeichnet werden darf. Das "wahre darinnen" braucht allerdings, wie oben von Kant angemerkt, noch einen ,,Beurteilungsakt", um die Logik der Phänomene und die Phänomene selbst in Einklang zu bringen oder die formalen und materiellen Bedingungen der Wahrheit gleichermaßen zu erfüllen. Das Apriori hat einen Bezug auf die Zeit nicht allein aposteriori durch Anwendungen, sondern schon konstitutiv durch die Form der Zeit. Die vorläufigen Urteile leiten die weitere Bestimmung der Urteile ein, ohne daß sie selbst diese Bestimmung vollziehen zu können. Sie sind gleichsam "offene Sätze", die auf eine Ergänzung warten. Sie sind Urteile, die den anderen Urteilen vorhergehen, und sich mit den letzteren in eine durchgängige Reihe mit einordnen lassen. Die Kantschen Strukturen apriori gehen allen Erfahrungsurteilen voran und erreichen durch die letzteren ihre sinnvolle Erfüllung. Nur in Richtung der Gegenstände ist die transzendentale Ausstattung bestimmbar, im transzendenten Gebrauch bleibt sie unbestimmt. Das transzendentale Grundwissen ist apodiktisch, d. h. allgemein und notwendig, selbst wenn es um problematische Urteile (im Sinne der Tafel der Kategorien) geht, und führt letztendlich eine Metaebene der Notwendigkeit ein, die sich von den notwendigen Urteilen grundsätzlich unterscheidet. Das Grundwissen ist zugleich eine Grundannahme. Offensichtlich unterscheiden sich die vorläufigen Urteile in der Objektsprache von den vorläufigen Urteilen in der Metasprache. Beide Sprachen haben ein ganz unterschiedliches Verhältnis zur Zeit. Die Sonderstellung des Apriori fordert eine systematische Einteilung der vorläufigen Urteile (Judicia praevia) in konservative,

25

Enzyklopädie, 63, 27 - 31.

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II. Das Urteilen und die Endlichkeit

welche Erkenntnisakte symbolisch auf der Metaebene vollziehen, und liberale, welche sich mit der Wirklichkeit auseinandersetzen. Ähnlich, obwohl nicht gleich, laufen die Variablen den Konstanten voraus. Die vorläufigen und anbahnenden Urteile haben in der Metasprache ein wesentliches Merkmal: Die Strukturen apriori sind nicht solche Sätze, aus denen die Wahrheiten deduktiv folgt. Man kann keine Regeln der Anwendung formulieren, so daß man sich auf die Funktionen der Urteilskraft verlassen muß. Das Rücken in die Zeitlichkeit der Strukturen apriori veranlaßt die Entstehung verschiedenartiger Gesetzmäßigkeiten. Man soll nicht die Vollständigkeit der Begründung mit der tatsächlichen Vollständigkeit der Urteile verwechseln. Die letztere geschieht erst in der Ausübung der Logik und setzt das ,.Buchstabieren" der Kontexte voraus. Kant erklärt auf diese Weise die Funktion der vorläufigen Urteile. ,,Es ist wunderbar, wie einem jeden bestimmenden Urteil ein vorläufiges vorhergeht. Wenn wir lesen, so buchstabiren wir zuerst. Und so handeln wir überall:.26

Die Buchstaben sind Sinnträger, die sich nur in sinnvollen Kombinationen, offenbaren. Das Buchstabieren verdeutlicht die symbolische Tätigkeit des Verstandes und verrät das Verhältnis zwischen Formen und vorläufigen Urteilen. Das Buchstabieren ist der wiederholte Versuch, den Kontexten zur Lektüre zu helfen. Der Verstand verfügt über die Formen, aber nicht über die Inhalte der Urteile. Die Wahrheit fordert den Übergang zu den letzteren und die gleichzeitige Synthese beider Komponenten. Die Vervollständigung der Lektüre entspricht einer graduellen Annäherung an die Gegenstände. Das Buchstabieren wird zu einer wesentlichen Bestimmung der Strukturen apriori. ,,sie (die Kategorien) dienen gleichsam nur, Erscheinungen zu buchstabieren, um sie als Erfahrung lesen zu können; die Grundsätze, die aus der Beziehung derselben auf die Sinnenwelt entspringen, dienen nur unserm Verstande zum Erfahrungsgebrauch; weiter hinaus sind es willkürliche Verbindungen ohne objektive Realität, deren Möglichkeit man weder a prjori erkennen, noch ihre Beziehung auf Gegenstände durch irgend ein Beispiel bestätigen oder nur verständlich machen kann, weil alle Beispiele nur aus irgend einer möglichen Erfahrung entlehnt, mithin auch die Gegenstände jener Be§riffe nirgend anders, als in einer möglichen Erfahrung angetroffen werden können' 7

In der Dialektik der reinen Vernunft, dem anderen Teil der Kriterienlehre wird das Buchstabieren der Erfahrung als eine Einschränkung des Denkens empfunden (Von den Ideen überhaupt). Die symbolische Funktion der Kriterienlehre bleibt aber weiter bestehen. Sie entscheidet über die Zweckmäßigkeit des hypothetischen Gebrauchs der Vernunft und offenbart neue logische Verbindungen. Das Buchstabieren entschlüsselt und legitimiert die metaphysische Begrifflichkeit. Kant betont die paradigmatische und einleuchtende Funktion 26

27

Enzyklopädie, 70, 20 - 22. Prolegomena, 312, 33 - 313, 7.

3. Das Projekt einer Kriterienlehre

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der Platonischen Ideen. Diese Funktion wird bei der Konstituierung der Kantschen Formenlehre eine besondere Rolle spielen. Sie bietet die einzige Möglichkeit an, die Ausübung der Urteilskraft zu optimieren, was bekanntlich nicht über Begriffe oder Regeln geschehen kann. Kant glaubte damit den ursprünglichen Sinn der Platonischen Lehre wieder entdeckt zu haben und formulierte dabei eine später für die Hermeneutiker wichtige These: Es sei ,,nichts Ungewöhnliches" einen Philosophen "besser zu verstehen, als er sich selbst verstand".28 Kants Berufung auf Plato wollte die transzendentalen Strukturen als unabhängig von Erfahrung denken und seinem eigenen Projekt der Metaphysik den Weg bereiten. Das Buchstabieren ist der gemeinsame Zug der vorläufigen Urteile im konservativen und im liberalen Sinne oder der vorläufigen Urteile in der Metasprache und in der Objektsprache. Die Kriterienlehre nimmt in der Gegenwart meistens eine operative Stellung ein und definiert die Maßstäbe des wissenschaftlichen und rationalen Denkens (Standards of reasoning). Abgesehen von den weiteren Implikationen der Metalogik legt sie die Rangordnung der Sätze bzw. Urteile fest und bestimmt ihr Verhältnis zur Wahrheit und zur Zeit. Wir werden dies am Beispiel Quines verfolgen, welcher - wie die meisten bekannten Logiker - wenigstens ein Mal Vorlesungen über Kant hielt. Der unversöhnliche Standpunkt, was das Verständnis der Analytizität und der Logik anbetrifft, soll kein endgültiges und unüberwindbares Hindernis für einen solchen Vergleich darstellen. Gemeinsam bleiben doch das Ideal einer wissenschaftlichen Sprache und ihr Anspruch auf Objektivität. Quines kanonische Schrift löst sich im Soge Freges endgültig von der normalen und auch gesprochenen Sprache. Seine thematische Vorliebe für Beobachtungssätze (eine verdeckte empirische Stütze) und die realistischen Züge seiner späteren Entwicklung bieten Anhaltspunkte für manche nützliche, wenn schon sich auf Kontraste beziehende, gedankliche Parallele an. Der naturwissenschaftliche Schwerpunkt Kants und der moderne universelle Physikalismus behavioristischer Prägung stehen trotz allem in einer einzigen philosophiegeschichtlichen Entwicklungslinie. Strawson bemerkt eine Harmonisierung der Standpunkte in bezug auf die sich ständig bewegende Materie. 29 Auch Kant wollte Dogmen des Empirismus, allerdings auch des Rationalismus, bloßstellen und abschaffen. Quines sparsame Ontologie läßt den Kantschen sparsamen Umgang mit den Kategorien in ein besseres Licht erscheinen. Es gibt ebensogut eine Kriterienlehre bei Quine. Es handelt sich um ein·Leitmotiv seines Werkes, das sich unter verschiedenen Formen entfaltet, und nach dem Erscheinen des Two Dogmas 0/ Empiricism merklich an Bedeutung gewinnt. Im Unterschied zu Kant werden die Sätze ohne Bezug auf ein Vermögen betrachtet, so daß ihre ontologische Involvierung nur in Richtung "Welt" fungiert, welche als ein sich 28

29

KR, B 370, 39. Strawson, P. F.. Kant on substance. In: Entity and Identity, London, 1992, 279.

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II. Das Urteilen und die Endlichkeit

ständig neu konstituierendes Netz von Impulsen aufgefaßt wird. Satz und wissenschaftliches Urteil werden in dieser Perspektive zusammengeschmolzen. Die Kernsätze einer Theorie sind nach Quine kreisförmig (fast parmenidisch) aufgestellt und von entgegengesetzten Fliehkräften (fast heraklitisch) geschleudert. Diese neue dynamische Darstellung der Judicia praevia stellt eine "verschwommene" und sich umwandelnde Palette von Prioritäten fest und verzeichnet die merkliche Beharrungskraft der ,,Prinzipien". Eine Spezifizierung oder lllustrierung derselben wie im Falle der ,,Erfahrungssätze" ist in dem folgenden Text nicht vorhanden. Quine meint damit gleichermaßen physikalische und logische Gesetzmäßigkeiten. ,,Die Auswahl dessen, was geändert werden soll, wird nach einem verschwommenen Schema von Prioritäten getroffen. Manche Sätze über physikalische Objekte wie ,Mein Füllhalter ist in meiner Hand', ,Das Thermometer ist auf 27°' sind in gewissem Sinne der Erfahrung näher als andere; und solche Sätze müssen sehr eifersüchtig bewahrt werden, sobald die entsprechenden Erfahrungen gemacht sind. Sollte eine Änderung des Systems nötig werden, müssen es andere Sätze büßen, aber nicht diese. Nur durch eine solche Zuweisung von Prioritäten können wir hoffen, irgend welchen empirischen Gehalt oder einen objektiven Bezug für das System als Ganzes zu beanspruchen. Daneben gibt es eine andere und in gewissem Sinn entgegengesetzte Priorität: je grundlegender ein Gesetz für unser Begriffsnetz ist, desto weniger gern werden wir es für eine Änderung in Betracht ziehen. Wenn eine Änderung unseres Systems von Sätzen erforderlich ist, bevorzugen wir unter sonst gleichen Umständen eine Änderung, die das System am wenigstens stört. Trotz dem offensichtlichen Gegensatz zwischen dieser Priorität und der oben angegebenen folgt die eine aus der anderen. Denn die Verknüpfung zwischen einem Satz wie ,Mein Füllhalter ist in meiner Hand' und die Erfahrungen, die ihn verifizieren sollen, ist selbst eine Sache allgemeiner Prinzipien, die für das System zentral sind." 30

Quine entdeckt somit - wie Aristoteteles in der Topik - die problematische Verwandtschaft der Prinzipien und der empirischen Sätze, was Kant übersehen zu haben scheint. Quines Panlogismus geht viel weiter und postuliert die Korrespondenz der Beobachtungssätze und der ,,Prinzipien". Beide sind, obwohl im unterschiedlichen Maße, der Veränderung ausgesetzt. Die Verschiebung der Empirie auf die Grenze der Theorie und die nachfolgende Auflösung der Empirie in Impulse tragen zur Konstituierung eines zentrierten und mobilen Netzes bei. Die Theorie ist einerseits unabhängig und in sich geschlossen, andererseits aber durchaus nicht taub für die umgrenzenden nachhaltigen Impulse, welche die Entstehung der Beobachtungssätze teilweise regieren. Der Physikalismus ist somit nicht deterministisch, und die theoretische Fortentwicklung besteht in

30 Quine V. O. W., Grundzüge der Logik dt. Übersetzung, 1974, S. 19, Originalausgabe Methods of Logik, Revised Edition, 1964. Die Wiedergabe des Originaltitels ist leider unglücklich. Quine wollte eben darauf aufmerksam machen, daß er das strittige Verhältnis der Methode zur Logik neu etabliert.

3. Das Projekt einer Kriterienlehre

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dieser Perspektive aus einem Geflecht von vorläufigen oder virtualiter vorläufigen Urteilen (bzw. Sätzen). Ewige Sätze sind nun nicht die theoretischen Sätze schlechthin, sondern die im logischen Sinne vollständigen Sätze, was eine gleichzeitige Auf~ und Abwertung der Empirie oder der Information bedeutet. Unter dem Druck eines folgerichtigen Panlogismus bricht die Welt der Gegenstände zusammen. Quines radikale Auffassung wird nur durch seine vorsichtige These über die Undurchsichtigkeit der Bezugnahme auf Gegenstände gemildert. Der Vergleich mit der Parmenidischen Vision scheint geeignet, panlogistische Strukturen zu entschlüsseln. Sie beruhen auf einer zugrundeliegenden und wahrheitgewährenden Einheit des Seins, des Denkens und der Sprache, selbst wenn sie die letztere transzendieren wollen. Die kanonische Schrift soll die Mitteilbarkeit und Verständlichkeit der Wirklichkeit sichern. Die Sphäre des Seins oder das vortreffliche Gebiet der ontologischen Involvierung ist die exklusive Sphäre der Sätze schlechthin oder, in dieser Interpretation, der gebundenen Variablen, welchen einen nachvollziehbaren Bezug zu Wahrheits werte haben. Der logische Calculus regiert uneingeschränkt diese Sphäre, aber scheint doch von Übersetzungen abhängig. Was die Sprache anbetrifft, definiert Quine seine ontologische Aufgabe nicht als eine Suche nach dem, was es ist, sondern nach dem, was die Wissenschaften zu sein behaupten. 3 ) Die Objektivität erhält einen neuen und eigenständigen Sinn. Quines sprachphilosophische Involvierung ist auch eine symbolische. Weder der normale Sprachgebrauch noch die Sachverhältnisse entscheiden über ontologische Fragen, sondern die logische und wissenschaftliche, d. h. quantifizierte Annahme der Dinge. 32 Quine bleibt durch die Verankerung in der Sprache dem Parmenidischen Ideal viel näher als die anderen Zeitgenossen. Die Analytizität, die sich nur in einer Auseinandersetzung mit der synthetischen Alternative behaupten kann, wird in seiner logischen Analyse überflüssig. Man kann zugunsten Kants sein Projekt der Logik der vorläufigen Urteile hervorheben und seine mannigfaltigen Verflechtungen mit der Kriterienlehre berücksichtigen. Die Kantsche Lehre der Apodiktizität wird auf diese Weise gegen den Vorwurf des Immobilismus verteidigt. Kant denkt zugleich an eine allgemeinere Bestimmung und eine formale Auffassung der Logik der vorläufigen Urteile. Nicht nur die bestimmenden Urteile, welche nach der Würde der Sätze streben, sondern auch die vorläufigen Urteile, die zunächst nur zu sich selbst finden wollen, brauchen - so fern sie Urteile sind - eine Form oder gar ein Apriori. Nur formale Strukturen können die erfolgreiche Anwendung dieser Logik in der Mathematik erklären, selbst wenn Kant nun allein die mathematischen Erfindungen referiert.

31

32

Quine, W. V. Q., On what there iso In: From a logical point of view, 15 - 16. Quine, W. V. Q., Logic and reification of universals. In: From a logical point of

view, 103.

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ll. Das Urteilen und die Endlichkeit ,,[Denn es ist eine an die Logik ergehende, noch nicht genugsam beherzigte Forderung: daß sie auch Regeln an die Hand gebe, wie man zweckmäßig suchen solle, d.i. nicht immer blos für bestimmende, sondern auch für vorläufige Unheile (iudicia praevia), durch die man auf Gedanken gebracht wird; eine Lehre, die selbst dem Mathematiker zu Erfindungen ein Fingerzeig sein kann und die von ihm auch oft angewandt wird.]'.33

Die vorläufigen Urteile sind in die transzendentale Bahn des Ausdruckes "es ist wahr" fest eingebunden. Thre Vorläufigkeit bezieht sich auf die Dynamik der Forschung. Die Kreativität impliziert vorläufiges Urteilen in einem noch höheren Maße. Damit wird aber das induktive Verfahren aus dem engeren Bereich der empirischen Fälle losgelöst und in theoretische Zusammenhänge involviert. Dies bringt neues Licht in das problematische Feld der Art und Weise, wie man den Ausdruck Fall verstehen soll. Etymologisch bedeutet der Fall (casus) eine Abnormalität, ein gefallener Nominativ, der sich zu sich selbst und zur Allgemeinheit finden muß. Der Fall läßt sich nicht bloß auf die Position der Gegenstände reduzieren, sondern referiert Momente des logischen Ereignisses. Die Logik wird dann zu einer Wissenschaft der Rehabilitation der Fälle. Kants theoretischer Fallibismus kommt in seiner Lehre über das Meinen, Glauben und Wissen mehrmals zum Ausdruck. Diese doppelte Funktion der Induktion und die mögliche Überwindung des Fallibilismus (und der Angst davor) wird früh ein Thema der Untersuchungen Putnams. Wie kann man die Wahrscheinlichkeit und die wissenschaftliche Demonstration zusammen bringen? ,,since we do use quasi-empirical methods a great deal in mathematics (and we aren't even Martians!) I believe that it would be of great value to attempt to systematize and study these methods. Perhaps such an enterprise is premature in the present stage of our knowledge. However, a mathematical friend has suggested that model theoretic methods might be used, for exemple, to try to convert ,probability' arguments like the one for the existence of infinitely many twin primes, into proofs. ".14 Eine Wurzel des Verifikationismus führt auf Kants Aufarbeitung des Empirismus zurück. Nur eine, denn der Kritizismus läßt die Analytizität in der Synthese quasi verschwinden. Die neue Legitimität der Gegenstände beruht aber 33 MS, 478, 20 - 26 . Pumam, H., What is mathematical truth? In: Philosophical Papers, Volume I, Mathematics, Matter and Method, Cambridge u. a., 1975,69. Putnam betont weiter (76) die besondere Stellung der Kreativität: ,,In this paper, I have stressed the importance of quasi-empirical and downright empirical methods in mathematics. These methods are the source of new axioms, of new ,objects' and of new theorems, that we often know to be true before we succeed in findig a proof. Quasi-empirical inferences support the claim that mathematics is (largely) true, and place constraints on the interpretation under which it can be called ,true', but a word of caution is in order. None of this is to downgrade the notion of proof. Rather, Proof and Quasi-empirical inference are to be viewed as complemenrary." .14

4. Absteigende Metaphysik

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auf einer überraschenden Schwächung der Empirie durch den konstitutiven Akt, so daß genug Raum für Interpretationen bleibt. Putnams Analyse des Veri fikationismus, seine Überlegungen über Regeln und Anwendungen wollen die "Stufen der Bestätigung" (Carnap) aufheben und der Induktion durch mathematische Verfahren und ,,lernende Maschinen" die Sicherheit der Deduktion gewähren. Die Aufwertung des Theoretischen (Mathematischen) vor dem herkömmlichen empirisch bestimmbaren Praktischen leitet eine neuere Auffassung der Logik der vorläufigen Urteile ein. Das Stichwort lernend läßt die epistemische Orientierung und die paradoxe Lage der praktischen Logik raten. Von wem sollte man lernen - wenn nicht von der Wirklichkeit? Man kann sich die lernende Maschine aber nur vorstellen, wenn sie erst mit Bezug auf Quine als Übersetzungsmaschine fungiert und das Induktive mittels der Symbole ins Deduktive gleich umfonnt. Die mathematischen Rechnungen antizipieren währenddessen die Ereignisse. Die Deduktion überspannt die möglichen induktiven Momente. Putnam bezieht sich auf wissenschaftliche Experimente, deren Fol gen schwerwiegend und gar unwiderruflich sein könnten. Die vom logischen Positivismus eingeplanten "Stufen der Bestätigung" kommen hier immer zu spät. Die voranlaufenden Urteile müssen nicht nur als bestimmt angesehen werden, sondern auch als durchaus bestimmend gelten. Allein neue mathematische Verfahren können dabei helfen. Kant sind solche Überlegungen nicht ganz fremd. Die Gewißheit theoretischer (diskursiven) Einsichten läßt sich nicht zufällig oder kontextuell gewinnen, aber auch nicht durch das deduktive Verfahren ausreichend legitimieren.

4. Die Urteilslehre und die Endlichkeit des Menschen Absteigende Metaphysik und Ausschaltung der ousfa Die Kantsche Urteilslehre ist in anthropologischen Zusammenhängen eingebettet. Dadurch wird der Vorrang der philosophischen Reflexion über die logische Analyse durchgesetzt. Es gibt unterschiedliche Weisen, Kants Auffassung der Endlichkeit des Menschen ins Auge zu fassen. Wir werden es über seine Vennögenslehre tun, weil diese mit der Theorie der Urteile zusammenhängt. Die Vernetzung der Funktionen der Vennögen antizipiert die Konstituierung der Welt. Die "Ontologie" entsteht aus Beurteilungsakten. ,,Erkennbare Dinge sind nun von dreifacher Art: Sachen der Meinung (opinabile) , Thatsachen (scibile) und Glaubenssachen (mere credibile).'.J5

Alles was es gibt, gibt es nur insofern, als es zu einem übergreifenden Gebiet des Beurteilbaren gehört. Die Existenz ist also in erster Linie epistemisch definiert. Die Dinge existieren, soweit sie mit epistemischen Ausdrücken in 35

KU, 454, 13 - 15.

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ll. Das Urteilen und die Endlichkeit

Berührung kommen. Das Glauben als Komponente der Urteilsakte wird seine Sonderstellung beibehalten. Die ontologische Dreiteilung verweist auf Kants Lehre über das Meinen, Wissen und Glauben und stellt damit die bis dahin zurückgestellte Methodenlehre in eine universelle Dimension. Sie referiert die Konstituierung der Welt mit. Der Standpunkt der Endlichkeit des Menschen bedingt das Bewußtsein eines begrenzten Könnens. Die Begrenzung ist das Merkmal und zugleich die Form dieses Könnens. ,,Die Attention, die Abstraction, die Reflexion, die Comparation sind alles nur Hilfsmitteln eines discursiven Verstandes; sie können also von Gott nicht gedacht werden; denn Gott hat keine conceptus, sondern lauter intuitus, wodurch sein Verstand alle Gegenstände, wie sie an sich selbst sind, unmittelbar erkennet; dahingegen alle Begriffe nur mittelbar sind, indem sie aus allgemeinen Merkmalen entstehen. Ein Verstand aber, der Alles unmittelbar erkennet, ein intuitiver Verstand, hat keine Vernunft nöthig; denn die Vernunft ist nur ein Merkmal der Schranken des Verstandes, und verschaffet demselben Begriffe. Wo aber dieser durch sich selbst schon Begriffe bekommt, bedarf er keiner Vernunft. Der Ausdruck Vernunft ist daher unter der Würde der göttlichen Natur. Man muß diesen BegritI aus einem allerrealsten Wesen ganz weglassen, und schreibt ihm besser blos intuitiven Verstand, als eine höchste Vollkommenheit des Erkenntnisses zu. Von dieser unmittelbaren Anschauung des Verstandes haben wir jetzt gar keinen Begriff...36

Die logischen Operationen und Begrifflichkeiten - mit der alleinigen Ausnahme der Kategorien, welche auf eine höhere und universelle Ordnung hinweisen (nicht so aber ihre Deduktion und kontextuelle Einbeziehung), - sind insgesamt Hilfsmittel zur Orientierung des endlichen Wesens Mensch. Gott hat keine Vernunft (ratio) und braucht deshalb auch keine Vernunftlehre (Logik). Er redet überhaupt nicht und erst recht nicht im Schweigen. Nur der Verstand (intellectus) des Menschen ist ein diskursives Vermögen. Die Kluft zwischen dem intuitiven Verstand Gottes und dem discursiven Verstand des Menschen wird bei Kant weitgehend gemildert durch die implizite Annahme, daß die Gottähnlichkeit des Menschen intellektueller Natur ist. Trotz empirischer Ablagerungen fließt damit die Quelle Spinozas unterschwellig im Kritizismus weiter: Gott ist reiner Verstand (intellectus dei). Wenn man die apodiktischen Sätze (bzw. Urteile) referiert, wird es geboten, den Ausgangspunkt der Entstehung der Logik, das Ausbleiben des intuitiven Verstandes, im Auge zu behalten. Diese ursprüngliche menschliche Hilfsbedürftigkeit rechtfertigt und bestimmt das logische Gefüge bei Kant. Es intendiert von vornherein eine Korrektur und bringt wie bei Parmenides eine Verlagerung innerhalb der Sprache zustande: die Unterscheidung zwischen sprechen und reden (vernünftig oder wissenschaftlich sprechen). Der geistige Rettungsring des einzigartigen und höchst individualisierten Wesens Mensch bleibt sein - oft mißverstandener Hang zur Universalität. 36

Vorlesungen über die Philosophische Religionsphilosoophie (Pölitz) PR 106 CD.

4. Absteigende Metaphysik

61

Die Endlichkeit des Menschen ist der Grund für den Doppelgang des deduktiven und induktiven Verfahrens und für die Mannigfaltigkeit der Weisen des Schließens. Obwohl das Vermögen zum Schließen die Vernunft ist, erhält die logische Unfehlbarkeit der Regeln vielmehr ihre Legitimität vom Verstand als Vermögen der Regeln. Die konstitutive Schwäche der Induktion und Analogie ist durch intuitive Momente gewissermaßen ausgeglichen. Die Vernunft rechtfertigt ihr Tun durch notwendige Annahmen, die gleichermaßen in der Endlichkeit des Menschen wurzeln. In den Logik- Vorlesungen gibt es eine graduelle Aufwertung der Schlüsse der Urteilskraft. Man kann den Kritizismus neu entdecken am Leitfaden des versuchten Ausgleichs des deduktiven und induktiven Verfahrens. Auf metaphysischer Ebene kann die Vernunft kaum ihre höchsten Aufgaben erfüllen, ohne auf Analogien und Induktionen zuzugreifen, welche bis dahin nur als empirisch gültig anerkannt zu sein schienen. Die Endlichkeit des Menschen bedingt auch Lockes Unterscheidung zwischen Meinungen und Einsichten und seine Thematisierung des Fürwahrhaltens. Der unverkürzte Titel seiner Schrift lautet: An Essay conceming Human understanding, Knowledge, Opinion and Assent. Seine Urteilslehre steht einer Logik der vorläufigen Urteile sehr nah. Der Essay, Frucht einer langjährigen Redaktion, setzt einen vergleichbaren radikalen Wechsel der philosophischen Einstellung durch. Die Aufgabenstellung der KR findet sich schon in Lockes Abhandlung: Prüfung der Eignung und der Tragweite der menschlichen Vermögen in bezug auf Erkenntnisse. Der springende Unterschied liegt in der Begrifflichkeit selbst. Lockes Fallibilismus ist eine Folge der von ihm angenommenen empirischen Herkunft der Begriffe und führt zu einer Mäßigung der Überzeugungen und einer entsprechenden Lenkung der Urteilsakte. Das Urteilen als Verfahren hat eine reinigende und aufhebende Funktion. Kant befreit die Grundbegriffe von der Abhängigkeit der Empirie, ohne in das realistische Modell der Schulmetaphysik zu verfallen. Die Begrifflichkeit hat eine logische Struktur, aber kein intellektuelles Substrat - wie bei Leibniz. Diese Entscheidung am Scheideweg zwischen Rationalismus und Empirismus verrät wenigstens eine panlogistische Orientierung. Das führende Vermögen ist bei Locke die Vernunft. Sie ist in Erinnerung an den griechischen nous (intellectus) göttlicher Natur. Es gibt übervernünftige Wahrheiten, aber der Glaube ist nicht mehr als die Vernunft und zumindest nicht der Vernunft entgegengesetzt. AlleWahrheiten müssen die Gesetzmäßigkeiten der Vernunft einhalten. Die Menschen haben ein Erkenntnis- (knowledge) und ein Beurteilungsvermögen (judgement). Das erste verfügt über sichere Erkenntnisse, darunter merklich Erkenntnisse über metaphysische Gegenstände, und das zweite entscheidet über Erkenntnisse, die noch nicht evident sind, aber evident werden können. Dieses Vermögen fungiert in der Absicht Gottes als Ausgleich für die menschliche Endlichkeit.und sorgt für die Sicherheit empirischer Erkenntnisse ,.)udgement is the presuming things to be so, without perceiving it. - Thus the mind has two faculties, conversant about truth and falsehood.

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ll. Das Urteilen und die Endlichkeit First, knowledge, whereby it certainly perceives, and is undoubtedly satisfied of the agreement or desagreement of any ideas. Secondly, judgement, which is the putting ideas together, or separating them from one another in the mind, when their certain agreeement or disagreement is not perceived, but presumed to be so; which is, as the word imports, taken to be so before it certainly appears. And if it so unites, or separates them, as in reality things are, it is right judgement. •.37

Kant wird sich im Laufe seines Lebens auf den "berühmten Locke" mehrmals beziehen. Die Eigenständigkeit seiner Logik der vorläufigen Urteile beruht auf einer elaborierten, allerdings unvollständigen Lehre der Urteilskraft und auf dem synthetischen Charakter der Erkenntnisse. Die Interpreten sind uneinig, ob durch Kant die Neubegründung der Metaphysik tatsächlich erfolgte oder ob es zu einer andauernden Krise der Metaphysik kam. Der springende und strittige Punkt ist die Anwesenheit der Zeit und des Raumes (selbst wenn als Formen) im Kerngefüge der KR .und die damit verbundene Möglichkeit, die transzendentale Logik als Hindernis oder als Förderer metaphysischer Gegenstände zu deuten. Die "absteigende Metaphysik" bedeutet die Aneignung der Wirklichkeit unter Berücksichtigung der universellen sowie überzeitlichen Zwecke der Menschheit. Das Aufsteigen vom Sinnlichen zum Übersinnlichen besteht als Aufgabe, aber die Forderung an die damalige platonisierende Philosophie, die Wirklichkeit nicht zu überfliegen, hat im Kritizismus ein unbestrittenes Primat. Man kann im Hintergrund pietistische Motive durchblicken, die Wahrheit in der Nähe und nicht in der Ferne zu suchen, aber den Himmel "auf dem niederen Boden der Erfahrung" eröffnen zu wollen, ist philosophisch keine leichte Unternehmung. Die Möglichkeit eines begrenzten Einflusses des Übersinnlichen über das Sinnliche wird wenigstens in der Ethik angenommen. Die Ethik bliebe dann allein der einzig verwirklichte Teil der Metaphysik. Die Tugendlehre steht allerdings in Verbindung mit einer Methoden- oder Anwendungslehre, welche die absteigende Bahn der Metaphysik bestätigt. Die Neuorientierung der Metaphysik konnte ohne eine äußere und innere Krise derselben nicht geschehen. ,,Die Königin aller Wissenschaften" mußte das Schicksal Hecubas teilen, um sich selbst wiederfinden zu können. 3M Die triviale Erfahrung der Niederungen der Welt verbirgt alles in allem das Versprechen der Rettung in sich. Die Krise der Metaphysik bei Kant ist zunächst eine Krise des deduktiven Systems der Schulmetaphysik. Metaphysische Gegenstände lassen sich weder kategorial konstituieren noch einfach durch Vernunftschlüsse deduzieren. Sie entziehen sich aber nicht weniger als die physikalischen Gegenstände einer analytischen Annäherung, welche nur eine Erklärung der Beziehung zwischen Begriffen leisten kann. Der philosophische Blick

J., An Essay concerning human understanding, Oxford, u. a., 1996, XN, 4. KR, A vm, 26 - IX, 5.

37 Locke, 38

4. Absteigende Metaphysik

63

bleibt weiterhin der Wirklichkeit zugewandt. Wenn dieser Blick einen Richtungswechsel nach oben vornimmt, entdeckt er zunächst seine eigene Hilflosigkeit und die Leere der metaphysischen Begrifflichkeit. Die intellektuelle Anschauung bleibt ein Vorrecht Gottes. Der einzige Ersatz dieser konstitutiven menschlichen Halbblindheit ist die Reflexion. Es ist nicht von ungefähr, daß die Begriffe, die bekanntlich die "Blindheit" der Anschauungen ausgleichen, ein Produkt der Reflexion darstellen. Die Herkunft der Begriffe bleibt im Kritizismus fragwürdig. Kant ist kein entschiedener Nominalist und seine Analysen der Begriffe lassen gelegentlich realistische Momente entdecken. Es gibt "eidetische Spuren" in seiner Rekonstruktion der Metaphysik. Die Begrifflichkeit der Dialektik der reinen Vernunft hat - unabhängig von Empfindungen - ihre eigene Bedeutung. Formale Bedeutungen sind die entfernteste Entsprechung des Eidetischen. Die reflektierende, also durch die Reflexion gerechtfertigte, Urteilskraft kann - ohne begriffliche Instrumente - Zusammenhänge einsehen, die sonst niemals zur Sicht kommen würden. Sie ist nicht nur eine künstliche Ergänzung der bestimmenden Urteilskraft, sondern die Bedingung der Möglichkeit derselben. Die ganze Logik ist letztendlich ein Ergebnis der Reflexion. Sie ,,sieht" Sachverhalte oder Relationen, welche sonst versteckt hätten bleiben können. Kant lehnt ,,noetische Gegenstände" (Brentano) ab, räumt jedoch die notwendige Möglichkeit metaphysischer "Gegenstände" ein. Da die mathematischen Gegenstände sich konstruieren lassen und die Abstrahierung eine zwar reduktive, aber nicht bloß nominalistische Bedeutung hat, ist es bei Kant ungeeignet, über abstrakte Gegenstände zu reden. Hinter den "abstrakten" Gegenständen der Dialektik der reinen Vernunft stehen die nicht völlig bestimmten und doch die Bestimmung anleitenden und fördernden Formen. Die überzeitlichen Ideen erfüllen analogisch eine kategoriale und apophantische Funktion. Sie können aber nicht auf die Weise der Kategorien als Formen der Urteile deduziert und angewandt werden. Die nur "abstrakte Zeit", eigentlich auch die meßbare Zeit, hat ihre offensichtliche Nützlichkeit, aber nicht dann, wenn es darum geht, das Wesen der Zeit und der Gegenstände zu bestimmen. Die logisch bedingte Konstituierung der Gegenstände beruht auf der Zeit als Form. ,,Der Ausdruck einer abstracten Zeit S.170 im Gegensatz des hier vorkommenden der concreten Zeit ist ganz unrichtig und muß billig niemals, vornehmlich wo es auf die größte logische Pünktlichkeit ankommt, zugelassen werden, wenn dieser Mißbrauch gleich selbst durch die neueren Logiker authorisirt worden. Man abstrahiert nicht einen Begriff als gemeinsames Merkmal, sondern man abstrahiert in dem Gebrauche eines Begriffs von der Verschiedenheit desjenigen, was unter ihm enthalten ist. Die Chemiker sind allein im Besitz, etwas zu abstrahiren, wenn sie eine Flüssigkeit von von anderen Materien ausheben, um sie besonders zu haben, der Philosoph abstahiert von demjenigen, worauf er in einem gewissen Gebrauche des Begriffs nicht Rücksicht nehmen will .•.39

39

Über eine Entdeckung, 199, Anmerk., 14 - 23.

64

II. Das Urteilen und die Endlichkeit

Die Kantsche Ausschaltung der Aristotelischen ousia ist die weitaus radikalste Umwälzung der metaphysischen Tradition. Sie intendiert eine Logisierung der Inhalte und zugleich eine Umwandlung der logischen Instrumente. Diese Zweideutigkeit erklärt bis zu einem gewissen Punkt die Anziehungskraft, die die Texte Kants sowohl auf Formalisten als auch auf Intuitionisten üben. Die Ersetzung der ousia durch den Zusammenhang "Ursache - Wirkung" ist einerseits eine Formalisierung oder Loslösung von der inhaltsträchtigen ousia, anderseits aber eine Annäherung an die Wirklichkeit und die Erklärung derselben. In seiner Polemik mit Hurne verteidigte Kant die ,,metaphysische" Würde der Kausalität, schränkte allerdings ihren Gebrauch auf Phänomenen ein. Es ist hier nicht der Ort, die Aristotelische ousia und die folgenschwerere Spaltung in "Wesen" und "Substanz" zu thematisieren. Kant erwähnt allerdings nur das Verhältnis der Kausalität zur Substanz. ,,Diese Kausalität führt auf den Begriff der Handlung, diese auf den Begriff der Kraft, und dadurch auf den Begriff der Substanz. Da ich mein kritisches Vorhaben, welches lediglich auf die Quellen der synthetischen Erkenntnis apriori geht, nicht mit der Zergliederungen bemengen will, die bloß die Erläuterung (nicht Erweiterung) der Begriffe angehen, so überlasse ich die umständliche Erörterung derselben einem künftigen System der reinen Vernunft: wiewohl man eine solche Analysis im reichen Maße, auch schon in den bisher bekannten Lehrbüchern dieser Art antrifft .•.40

Der Einschnitt war aber so tief und der Bruch mit der Tradition so radikal, daß die Dialektik der reinen Vernunft nicht mehr zu sich selbst finden zu können scheint. Die Umgestaltung geht weit über die realistisch-nominalistische Polemik hinaus und betrifft die Bestimmung der Philosophie selbst. Ein so wenig zur klassischen Metaphysik geneigter und der Verteidigung der Transzendenz verdächtiger Philosoph wie Russel bevorzugt die wesensmäßige (auf Eigenschaften beruhende) Definition der natürlichen Zahlen vor der bloß nominalistischen Aufzählung derselben. 41 Diese allein ermöglicht den Schluß der vollständigen Induktion. Die Einstellung Russels gilt trotz seiner radikalen Ablehnung der Logik Aristoteles, die er für so überaltert wie die Ptolemäische Astronomie hielt. Man kann die Logik Aristoteles in der Analyse neuerer Kontexte einklammern, aber kaum die philosophische Reflexion die zur Entstehung dieser Logik führte. Russel glaubte, sich mit den Ergebnissen Platos auf diesem Gebiet begnügen zu können. Die Phänomenologie Husserls postuliert bekanntlich die Wesensschau, um dem Skeptizismus in der Moderne entgegenzuwirken. Die Mathematiker, selbst wenn sie offenkundig Antirnetaphysiker heißen, wie Carnap, sprechen unvermeidlich durch die Natur ihrer Forschungen die Aristotelische ousia im Sinne des Wesens (und nicht der Substanz) an. Die

KR, B 249, 7 - 17. Russel, B., Einführung in die mathematische Philosophie (mit einem Vorwort von Hilbert, D.), München, 1923, 11 - 19. 40 41

4. Absteigende Metaphysik

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Ambiguität Kants läßt sich in der Behandlung der Kausalität gut erkennen. Niemals wurde der Kausalität so viel gegeben (Überwindung des bloß empirischen Standpunktes Humes) und zur selben Zeit so viel entzogen (die metaphysische substantielle Kausalität). Die entscheidende kritische Neuerung besteht in der endgültigen Festlegung der Kausalität in der Logik, die dann zur Normalität wurde. Ihre kategoriale Einreihung muß aber immer erstaunen, denn die Kausalität ähnelt schon strukturell keiner der bekannten, von Kant und seinen Nachfolgern gebrauchten Kategorien. Zwar wurde die Kausalität schon vor geraumer Zeit von Bacon als höchstes Kriterium der Erklärung physikalischer Ereignisse eingeführt, aber niemals als Kategorie thematisiert. Die Kausalität ist die kritische Antwort auf den metaphysischen Satz des zureichenden Grundes und führt zu einer zeitlichen Bestimmung der ersten Philosophie, welche den übergreifenden Rahmen der Kantschen Urteilslehre bildet. Das Aufsteigen zu metaphysischen Gegenständen beginnt auf einer niederen Stufe und braucht eine Methoden- und Orientierungslehre. Die Kantsche Liberalisierung der Metaphysik setzt eine äußerst formale Auffassung der Subjektivität voraus, deren ursprüngliche Struktur jedoch untilgbar bleibt. ,,Die Kritik erlaubt schlechterdings keine anerschaffene oder angeborene Vorstellungen; alle insgesamt, sie mögen zur Anschauung oder zu Verstandesbegriffen gehören, nimmt sie als erworben an. Es giebt aber auch eine ursprüngliche Erwerbung (wie die Lehrer des Naturrechts sich ausdrücken), folglich auch dessen, was vorher gar noch nicht existirt, mithin keiner Sache vor dieser Handlung angehört hat. Dergleichen ist, wie die Kritik behauptet, erstlich die Form der Dinge im Raum und der Zeit, zweitens die synthetische Einheit des Mannigfaltigen in Begriffen; denn keine von beiden nimmt unser Erkenntnißvermögen von den Objecten, als in ihnen an sich selbst gegeben, her, sondern bringt sie aus sich selbst apriori zu Stande. Es muß aber doch ein Grund dazu im Subjecte sein, der es möglich macht, daß die gedachten Vorstellungen so und nicht anders entstehen und noch dazu auf Objecte, die noch nicht gegeben sind, bezogen werden können, und dieser Grund wenigstens ist angeboren,,42

Statt der Aristotelischen ousla leuchtet von nun an am metaphysischen Himmel die Konstellation der Kausalität. Auch hier führt Kant wichtige Korrekturen ein. Er erweitert die wirkende durch die formale Kausalität und durch die noch nicht deutlich - mit einem Fachterminus - benannte Kausalität nach Freiheit. Diese erhält keinen Name in der Reihe der herkömmlichen Ursachen und ist allein als Kausalität dargestellt. Die Freiheit nicht spezifisch zu benennen ist philosophisch klug, sie als Kausalität zu interpretieren aber zu eng. Es hat einen Sinn am Ende dieses Kapitels daran zu erinnern, daß die Kausalität nach Freiheit das Ergebnis eines Beurteilungaktes (Ziber arbitrium), also voller Subjektivität ist, und daß Kant nach unauffindbaren Sätzen sucht, um ihre Objektivität zu legitimieren. Das Verführerische am Kritizismus besteht weiterhin darin, daß die Freiheit eben ein Urteil in Abwesenheit von Sätzen bleibt. Der 42

Über eine Entdeckung, 221, 6 - 222, 2.

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II. Das Urteilen und die Endlichkeit

kategorische Imperativ ist letztendlich diejenige höchste ,,Maxime", welche ihre Forderungen nur als Entsprechung, d. h. ohne eigene propositionale Inhalte, behaupten kann. Die Maximen sind wegen ihrer strukturellen Einschränkung unvollständige Formen. Die formale Vollständigkeit des kategorischen Imperativs als Maxime ist nur durch das Schweigen möglich. Unsere früheren Vermutungen, daß der metaphysische Kern des Kritizismus in seiner Ethik besteht, finden auf diese Weise nur Bestätigung. Die kritische Umwälzung bringt mit sich, daß die Metaphysik unter dieser Gestalt praktisch zu sein hat, während die Erkenntnistheorie allein eine theoretische Angelegenheit zu bleiben scheint. Doch die empirische und damit tatsächliche Erkenntnis der Gegenstände ist metaphysisch (kategorial) fundiert, und möglicherweise findet man auf dieser Zwischenebene den entscheidenden Hinweis auf die strukturelle "Tauglichkeit" der Natur für eine teleologische Interpretation. Die Kantsche Urteilslehre steht vor dieser Herausforderung. Die Ausschaltung der ous(a ist durch die Kantsehe unterschiedliche Auffassung der Kausalität gewissermaßen ausgeglichen. Wenn man von der in der Modeme geläufigen und fast trivialen Reduzierung der Kausalität auf die wirkende Ursache absieht, haben genau neuere bahnbrechende wissenschaftliche Entdeckungen und Interpretationen die Vielfalt der Kausalität rehabilitiert und damit ihre Fähigkeit, über das Wesen der Dinge viel mehr als nur Geringeres auszusagen. Sie widersteht aber bekanntlich weiterhin dem Prädikatcalculus. Die Kausalität ist im Kritizismus mit der Logik so eng verbunden, daß Kant, wenn er in der KU die Zweckmäßigkeit einführen will, über eine Logik der reflektierenden Urteilskraft spricht. Er übernimmt auf diese Weise die Unterscheidung aus der KR zwischen Ästhetik und Analytik. ,,Es wird also die Ästhetik der reflectirenden Urtheilskraft einen Theil der Kritik dieses Vennögens beschäftigen, so wie die Logik eben desselben Vermögens, unter dem Namen der Teleologie, den andem Theil derselben ausmacht.,,43

Aus der Perspektive der kontinentalen Tradition bedeutet der Kritizismus vorwiegend eine Krise der Metaphysik, weil er offensichtlich das herkömmliche Glauben an die metaphysische Begrifflichkeit und an das Wesen der Dinge aufhob. Die Theorie zweier Welten wurde umgestaltet und neuere Trennungslinien wurden durchgesetzt. Der Schatten der Dinge an sich enthält zwar viel Licht, aber erlaubt niemals die Konstituierung von Gegenständen, um diese (wie Plato) bloß als Schatten zu erklären. Aus der analytischen Perspektive, geprägt durch Nominalismus und logische Überlegungen, stellt der Kritizismus, nicht zuletzt wegen seiner Fähigkeit, die Empirie mit logischen Mitteln zu integrieren, vorwiegend eine neue Grundlegung der Metaphysik dar. Es bleibt doch die Annäherung an die eine Welt der Erfahrung ein Grundzug des Kriti43

KU, Erste Einleitung, 249, 9 - 12.

4. Absteigende Metaphysik

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zismus. Die absteigende Metaphysik sorgt für eine Aufhebung der bloß empirischen Reduktion der Welt. Auf dem Gebiet der Begrifflichkeit läßt sich eine von Kant erstrebte Therapie durch die Gegenstände beobachten. Diese allein ermöglichen Erkenntnisse im strengeren Sinne und damit Gewißheit. Die neue Bindung an Gegenstände bringt in der Tat frische Luft in den philosophischen Auseinandersetzungen und fördert den Fortschritt auf vielen anderen Gebiete. Das Kantsche Projekt hat aber seine Grenzen, denn er erfüllt nicht völlig die exklusive logische Forderung, daß wir allein in Sätzen über Gegenstände reden sollen. Schon die Tatsache, daß die Gegenstände nicht bloß gegeben, sondern konstituiert werden, also die Subjektivität implizieren müssen, lassen die Grenze zwischen Urteilen und Sätzen anscheinend verwischen. Dies schwächt und gar relativiert die Stellung der Objektivität im strengsten Sinne, aber eine losgelöste Objektivität würde noch verhängnisvoller wirken, und wie könnte eine solche Objektivität je die Brucke zu Sätzen finden, oder sollte sie allein aus Sätzen bestehen und dem ursprunglichen intersubjektiven Sinn der Objektivität auf diese Weise widersprechen?

ID. Perspektivisches Denken Logischer Egoismus und Pluralismus 1. Perspektiven und Standpunkte des Denkens "Wenn uns ein fremdes Urteil widerspricht, so ist das schon sehr wichtig. Bey Widerlegungen hat man darauf zu sehen, daß man fremde Vernunft mit der seinigen stimmend Machen, nicht daß man die Irrtümer zeige. "I

Kants Behauptung hat eine unerwartete Folge. Sie verwandelt die Logik in eine Dialektik und dokumentiert zugleich deren ursprüngliche Zusammengehörigkeit. Die Aussagen werden zu einem Gespräch und lassen verschiedene Standpunkte aufkommen. Das Gespräch bietet die Möglichkeit, partielle Wahrheiten zusammenzuflechten und vorläufige Urteile allmählich zu bestimmen. Wer etwas behaupten möchte, muß auch zu hören lernen. Die Widerlegung wird zu einer ersten Bedingung der Objektivität und zwar zu ihrem unverzichtbaren äußeren Kriterium. Wahrheiten ohne Anerkennung sind problematische Wahrheiten. Der erste Schritt zur Anerkennung ist die Mitteilung. Kants praktische Anweisung, den Anderen nicht zu bezichtigen, sondern die Übereinstimmung im Auge zu behalten, fördert die theoretischen Zwecke des Gesprächs. Der Standpunkt des Anderen entscheidet nicht, aber bietet Stützpunkte der Argumentation und öffnet neuere Dimensionen. Die Angst vor dem Vakuum ist hier schlimmer als jeder Gegner. Die Dialektik setzt Ansprechpanner voraus und gilt als Vorspiel zur Objektivierung. Der Gegenstand der Rede gleicht nicht von vornherein dem Gegenstand der Erkenntnis. Ist eine solche Gleichung jederzeit erzielbar? Sie ist allerdings erstrebenswert. Die Widerlegung entscheidet nur, daß eine Entscheidung über Wahrheit aufgrund unterschiedlicher Argumente möglich wird. Die Dialektik ist also in ihrem Ursprung und Konstitution dialogisch. Der Weg zu höheren Gegenständen führt über den Weg der Übereinstimmung und Anerkennung. Die statuierte Logik ist somit auf ihre Wurzeln angewiesen. Der ersehnte Frieden in der Philosophie heißt kein Verschweigen der Argumente, sondern der öffentliche Vortrag derselben. Die gemeinsame Besinnung bringt die Bestimmung der Urteile erst zur Geltung. Das perspektivische Denken bildet gleichsam das Milieu, wo vorläufige Urteile entstehen, weilen, sich behaupten und dann zur Reife kommen. Trotz einer gewissen Ähnlichkeit mit dem vorantreibenden Subjektivismus des 19. Jhs. gehört die Vorstellung der sich in einen Horizont der Erkenntnis vermengenden 1 Logik

Philippi, 121,26 - 30.

1. Standpunkte des Denkens

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Perspektiven so heimlich in die Philosophie des 18. Jhs., daß die Feststellung von Filiationen oder die Rückverfolgung eines geschichtlichen Pfades sich nur in besonderen Fällen philosophisch fruchtbar erweist. Es handelte sich vielmehr in der damaligen Öffentlichkeit um eine philosophische koine, die verschiedene Topoi integriert. Einen vergleichbaren Eindruck erweckt die heutige Besichtigung älterer Kirchen in Italien, deren Bausteine aus römischen Heiligtümern herkommen. Es stellt sich die Frage, ob diese oder jene noch eigene Lichter werfen oder erst aus dem neuen Zusammenhang eS tun können. Die Neubauten des durchaus baulustigen und barockgesinnten 18. Jhs. pflegen - ohne sich historisch zu kümmern - Motive unterschiedlicher Herkunft. Es kann sein, daß die Modelle der Baukunst den Topos der Perspektiven mitgeprägt haben. In derselben Hinsicht sind zu erwähnen die Abhandlungen über Astronomie, Geographie und Schiffahrt und nicht weniger über Optik, welche als Teil der Physik in die philosophischen Kompendien gehörte. Die graphischen Darstellungen des 18. Jhs. wimmeln von Perspektiven. Die philosophische Suche nach einem (kosmischen, moralischen und logischen) Standpunkt, wo sich die gesuchte Kriterienlehre ansiedeln und weiterentwickeln ließe, nimmt Gestalt in den Kantschen Frühschriften an. Die Geschichte und Naturbeschreibung der merkwürdigen Vorfälle des Erdbebens (1756) bezweifelt die doktrinären Ansprüche des Anthropozentrismus und stellt erneut die Frage nach der Stellung des Menschen im All. Die logisch-phänomenologische Abhandlung Von den ersten Gründen des Unterschiedes der Gegenstände im Raum (1768) untersucht auf formale Weise, wie ein Standpunkt überhaupt zustande kommen kann, und definiert seine Funktion als U nterscheidungsgrund. In Zusammenhang mit diesem thematischen Feld entsteht die Metaphorik des Sichorientierens und der Schiffahrt, welche vom Versuch einiger Betrachtungen über den Optimismus (1759) bis zu den drei Kritiken und darüber hinaus immer neue Motive entfaltet. Der Standpunkt ist bestimmend für jede Urteilslehre. Die Sätze stehen in einem reinen logischen Raum, die Urteile sind aber in Kontexte eingebettet. Der Standpunkt bietet Übersicht und Gewißheit, ermöglicht schärfere Unterscheidungen und läßt entfernte Perspektiven konvergieren. Die Kunst der Schiffahrt, wo der Standpunkt immer wechselt oder voranschreitet, ist eine bildliche Einführung in die Logik der vorläufigen Urteile überhaupt. Einige seemännische Topoi sind auf Bacons Einfluß auf die ,,kontinentalen" Philosophie zurückzuführen, einige entstehen in Königsberg selbst. Kant war und blieb für immer Bürger einer Hafenstadt. Im bemerkenswerten Unterschied zu Bacon preist Kant vor allem das Festland und betrachtet viel weniger die bewegliche Praxis der Seefahrer. Der Kritizismus bringt aber gleichermaßen deutlich zum Bewußtsein, daß das gelobte Festland allein eine Insel ist und daß die gespendete Geborgenheit nur komparativen Wert hat. Die Insel wird zu einem Symbol der Endlichkeit des Menschen. Etliche Fragen der Vernunft finden keine Beantwortung in den Grenzen der gesicherten Ortschaft und die Zwecke des Menschen schweben in einem

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ill. Perspektivisches Denken

entfernten Horizonte. So ist die Analytik der KR eine feste logisch-philosophische Anlagestelle und ein bewährtes systematisches Rückzugsgebiet, aber keine Entdeckungsstätte und noch weniger ein Niederlassungsort metaphysischer Gegenstände. Die Analytik der Wahrheit ist, wenn man so will, nicht die ganze Wahrheit, nur der geprüfte Teil derselben, so daß die Dialektik der reinen Vernunft die Untersuchungen weiter fortsetzen muß. "Wir haben jetzt das Land des reinen Verstandes nicht allein durchreist, und jeden Teil davon sorgfaJ.tig im Augenschein genommen, sondern auch durchmessen, und jedem Dinge auf demselben seine Stelle bestimmt. Dieses Land ist aber eine Insel, und durch die Natur selbst in unveränderliche Grenzen eingeschlossen. Es ist das Land der Wahrheit (ein reizender Name), umgeben von einem weiten und stünnisehen Ozeane, dem eigentlichen Sitze des Scheins, wo manche Nebelbank, und manches bald wegschmelzende Eis neue Länder lügt, und indem es den auf Entdeckungen herumschwärmenden Seefahrer unaufhörlich mit leeren Hoffnungen täuscht, ihn in Abenteuer verflechtet, von denen er niemals ablassen und sie doch auch niemals zu Ende bringen kann...2

In dieser verabscheuten, nebeligen und täuschenden Region haben sich aber die Götter den philosophierenden Griechen gezeigt und manche Entdeckung oder Erfindung in der Modeme hat Pioniergeist und Überwindung von Gefahren gefordert. Zwar brauchen die Institutionen das Festland und die gründliche Kultur desselben, aber der Geist der Institutionen kann sich den mutigen Blick in die Feme nicht ersparen, sollte er sich weiter entfalten und zur Blüte kommen. Kant versucht über die Formen die beiden Dimensionen der kulturellen Entwicklung auszugleichen. Dem unvermeidlichen Schein auf der Hochsee steht im Kritizismus die gründliche transzendentale Überlegung gegenüber. Zwar ist die Logik der vorläufigen Urteile eine geeignete Logik des Scheins, aber jede Dialektik soll möglichst in die Bahn der Analytik gebracht und der transzendentalen Schein entkräftet werden. Die praktische Logik der Erfindungen und der Entdeckungen - der Unterschied ist von Kant in der Anthropologie noch einmal unterstrichen - bleibt unter diesen Aussichten an zweiter Stelle. Sie hätte der Logik der vorläufigen Urteile neuere Impulse geben und die Befestigung ihrer. Strukturen fördern können. Die Sicherheit scheint aber das erste Gebot der Stunde. Vorläufige Urteile sollten allein bewährte Orientierungsmittel zur Entdeckung unbekannter Landschaften anbieten. Der tatsächliche Vollzug der Urteile zeigt allerdings einen graduellen und manchmal mühsamen Weg von Unsicherheit zur Sicherheit. ,,Es hat nie einen Erfinder in der Welt gegeben, und ist keiner gewesen, der etwas erfand, der nicht zu gleicher Zeit ein Vorläuftigtes Unheil von seiner Erfmdung, und der erfundenen Sache sollte geflillet haben. Er war von der Sache nicht gewiß, sondern das Unheil bahnete ihm den Weg zu versuchen, zu Experirnentiren. Z. B. die Bergleute Unheilen bey den Schichten in der Erde, wo sie die Metalle fmden sollen,

2

KR, B 294, 7 - 295, 22.

1. Standpunkte des Denkens

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und muthmaßen so Lange immer, bis sie gewisse Kenntniße von den MetalenJ gruben, die sie nicht mehr trügen, und denen zu folge zu ihren Zweck nicht erreichen bekommen haben .•.3

Kant konzentriert sich auf die Möglichkeit, die formale Dimension dieser Urteile aufzufassen, und begünstigt damit die vorläufigen Urteile im konservativen Sinne vor den liberalen. Eine Grundlegung ist besser als die unmittelbare Untersuchung. Grundlegungen bestehen aber aus Prinzipien, so daß das Problem der Anwendungen unausbleiblich wiederkehrt. Diese innere Spannung führt zu einer wiederholten Aufschiebung des sonst immer geWÜrdigten Projekts. Trotz ihrer allgemeinen Brauchbarkeit, kann die Logik der vorläufigen Urteile an den Wurzeln der apodiktischen Sätzen rütteln. Der Verzicht auf diesen logisch-philosophischen Grundbestand öffnet aber nicht nur dem Skeptizismus weit die Tür, sondern ermöglicht als eilige und unreflektierte Reaktion die gleichzeitige Verwandlung der apodiktischen in dogmatische Sätze. Beide setzen ein Glauben, obwohl ganz unterschiedlicher Art, voraus und führen zu ganz entgegengesetzten Folgen. Kants konservative Entscheidung präformiert die Konstituierung des Systems. ,,Die Kritik der reinen Vernunft ist ein Präservativ für eine Krankheit der Vernunft, welche ihren Keim in unserer Natur hat. Sie ist das Gegenteil von der Neigung, die uns an unser Vaterland fesselt (Heimweh). Eine Sehnsucht, uns ausser unserem Kreise zu verlieren und andere Welten zu beziehen.'.4

Das System wird letztendlich einen Rahmen vorschreiben, wo die Perspektiven nicht mehr zu selbständigen Standpunkten werden können, aber die Frage nach der Vollständigkeit dieses Rahmens wird auch späterhin kaum nachlassen. Die Allgemeingültigkeit der logischen Form des Verstandes kann den metaphysischen Raum von selbst nicht abdecken. Die Polarisierung möglicher Antworten auf die Frage nach dem optimalen Standpunkt des Denkens wird in der kritischen Periode deutlich. In den Prolegomena (1783) sind standfeste Ausführungen maßgebend: ,,Mein Platz ist das fruchtbare Bathos der Erfahrung.'.5 Die Auseinandersetzung mit Bume wird auf einmal pathetisch unterlegt. Der Skeptizismus sei lediglich ein "Strand" worauf die Schiffe einfach ruhen können. Kant vergißt anscheinend zu schnell, daß der "sanfte (mitigated) Skeptizismus" Humes keine lahmlegende Wirkung hat und ein lebendiges Prinzip der Forschung darstellt. Der "geistreichste unter allen Skeptikern" wurde in der KR höchst gepriesen und verstummt allerdings nicht in den Logik-Vorlesungen, wo seine Argumente weiter analysiert und seine Verdienste wieder anerkannt werden. Die Prolegomena stellen nach einer kurzen und bildliehen Darstellung der Gefahren einen zuverlässigen Piloten in Aussicht, "der nach sicheren Prinzipien der Steuermannskunst, die aus der Kenntnis des Globus gezogen sind, mit einer 3 Logik

BIomberg, 508, 3 - 509, 11. Reflexionen Kants zur kritischen Philosophie (Hrsg. Erdmann, B.), Bd.2, 204. 5 Prolegomena, 373, Fußnote, 31.

4

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ill. Perspektivisches Denken

vollständigen Seekarte und einem Kompaß versehen, das Schiff sicher führen könne, wohin es ihm gut dünkt.,,6 Mit nur drei Jahren Abstand entsteht aber die auffallend gefühlsbetonte Schrift Was heißt: sich im Denken orientieren (1786). Das Gebiet der Metaphysik erscheint nicht mehr im vollen Lichte des Horizontes. Der mühsame Fortgang zu Fuß in den "für uns mit dicker Nacht erfüllten Raume des Übersinnlichen" tritt an der Stelle der sicheren Fahrt. Die Logik der vorläufigen Urteile übernimmt anderweitige Aufgaben in dieser Landschaft ohne LichttürIDe. Ein ursprüngliches Grundgefühl ersetzt den Kompaß, und es gibt nun keine vollständige Karte mehr. Das von historischen Kontexten und persönlichen Erlebnissen bedingte, verschärfte Bewußtsein der Endlichkeit des Menschen wirft auf einmal ein anderes Licht über das Projekt der absteigenden Metaphysik. Kants Werk beweist aber, daß sich so unterschiedliche Standpunkte gut ergänzen können. In der späteren Zeit der reifen Transzendentalphilosophie und der Kleinschriften mit geschichtlichen Themen wird die Orientierung als allgemeine Aufgabe des Philosophierens aufgefaßt. Der Kompaß als Instrument liefert zwar genaue Angaben über die Richtung der Fahrt, aber nicht über die in dieser Richtung anzutreffenden Gegenstände. Die "vollständige Karte" wird zu einem erstrebten Ziel des Kantschen Projekts einer formalen Topik, welche das Verhältnis allgemeiner Begriffe zu einzelnen Dinge näher zu bestimmen versucht. Die Formen können wohl die Dinge ersichtlich machen, aber die Dinge selbst niemals ersetzen. Der philosophische Blick soll sich dementsprechend nach außen und nach vorne richten. Die Logik ist da, um Gegenstände zu beleuchten oder als sinnvoll zu offenbaren . ..Sich orientieren heißt sich in einen gewissen Standpunkt zu setzen, wo man die Dinge bequem in conc:reto betrachten kann.,,7

Neben den allgemeinen pragmatischen Aufgaben erfüllt die Orientierung eine innere und wesentliche Forderung der kritischen Philosophie: Sie intendiert, die gepriesene, weil wahrheitsgebundene, ,,Materialität" der Begriffe zu gewinnen. Abstrakte Ausführungen schwächen die Begrifflichkeit und erzeugen den Schein. Der Infinitiv (Kant empfiehlt diesen besonderen Gebrauch) drückt den Imperativ der Orientierung aus. (Sich orientiren, wenn man zu sehr abstract geworden ist; sonst ist der Begriff leerl

Die transzendentale Logik ist der logische Ort, wo man zwischen Phaenomena und Noumena unterscheiden kann, und ist in diesem Sinne von vornherein auf Anwendungen ausgerichtet. Es ließe sich sogar fragen, ob die transzendentale Logik nicht ein Teil der nicht leicht zu findenden Kantschen Topik sei. Die radikale formale Auffassung des Raumes und der Zeit erschwert aber die positive Antwort. Die transzendentale Logik will ein Ort aller Orte sein und Prolegomena, 262, 8 - 11. Dohna-Wundlacken, 125,26- 126,27. MReflexion 1629,24. 6

7 Logik

2. Die Intersubjektivität in den Logik-Vorlesungen

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einen allgemeingültigen Standpunkt einführen. Ihre umfassendere Bestimmung schließt jedoch metaphysische Gegenstände aus und erfüllt somit nur teilweise die formale und universelle Aufgabe der Logik. Metaphysische Gegenstände sind zwar denkbar, aber zunächst logisch unbestimmbar. Nicht selten beeinflussen Sprachregelungen die Behandlung philosophischer Themen. Der kundige Kant konnte kaum übersehen, daß lateinisch ,,Meinung" bald opinio, bald positio heißt. Den Meinungen entsprechen also Standpunkte. Die Logik der vorläufigen Urteile ist dynamisch, und insofern eine Logik der wechselnden Standpunkte. Die Polemik mit Wolf und Leibniz aktualisiert den Topos der Perspektivität: Die Monaden sind ,,metaphysische Punkte" und gleichermaßen "Gesichtspunkte" (,.points de vue"). Sie verbinden die möglichst minimale Ausdehnung, welche selbst den Begriff der Existenz überflüssig machen kann (Der Bezug auf Quantität entfällt.), mit einer äußerst optimalen Rezeptivität. Kant hat zeitlebens diese unendlich vielen Punkte unter die strengen Bedingungen der Zeit und des Raumes zu stellen und zu bündeln versucht. Seine kraftvolle und entschiedene Zuweisung auf Empirie beabsichtigte die Blindheit (Leere) oder wenigstens die Kurzsichtigkeit metaphysischer Begriffe zu heilen. Der Kritizismus kann angesichts dieses Programms als eine philosophische Therapie verstanden werden. Die Suche nach dem optimalen Standpunkt des Denkens, der dem Urteilen Objektivität gewähren sollte, findet in der KR eine maßgebende Erfüllung, aber ist lange noch nicht beendet. Das aufgewertete systematische Gewicht der Anschauungen sichert noch nicht die volle Durchschaubarkeit der Empirie, und der reine Verstand muß sich deshalb noch in verschiedenen Perspektiven verwirklichen. Die Empirie braucht die Mannigfaltigkeit der Standpunkte, um "gesehen" zu werden, und das Formale des Verstandes die Mannigfaltigkeit der Gesichtspunkte, um besser "sehen" zu können. Es geht um eine Antwort auf die schon von Tetens formulierte Aufgabe der Philosophie, eine Synthese der beobachtenden und spekulativen Wissenschaften in die Tat umzusetzen. Der Kritizismus wird auf diesem Gebiet mit phänomenologischen Analysen ergänzt, welche nicht selten in den Logik- Vorlesungen stattfinden.

2. Die Intersubjektivität in den Logik-Vorlesungen Die Perspektivität des Denkens ist als globale Erscheinung die Wechselwirkung des logischen Egoismus und Pluralismus. Exklusiver Pluralismus wäre dann nur eine andere Form des Egoismus. Es gibt einen kosmologischen und einen logischen Egoismus. Mit dem ,,kosmologischen Egoismus" meint Kant die stilisierten Denkfiguren des dogmatischen und problematischen Idealismus, weIche der Außenwelt die Existenz bloß absprechen oder ständig in Zweifel ziehen wollen. Die programmatisch intendierte Entkräftung der Gegenstände hindert die Objektivität dei Sprache und vereitelt das wissenschaftliche Projekt Der logische Egoist lehnt ohne Prüfung fremde Urteile ab und bestreite sogar

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III. Perspektivisches Denken

ihre Verstandesmäßigkeit. Seine Haltung zeigt in der Tat den eigenen Mangel an Verstand. Die Urteile des logischen Egoisten sind einseitig und blind. Sie stellen eine beträchtliche Einschränkung der urspriinglichen Perspektivität des Denkens dar und wurzeln im Vorurteil. ,,Ein jeder fast, er sey wer er wolle, achtet die Moden, und gewohnheiten seines Landes, oder Vaterlandes, vor die besten, und schicklichsten. Bei uns z. b. entblößten wir den Kopf, bey denen Türcken aber nicht, wir halten dahero diese vor grob, ob es gleich noch nicht ausgemacht ist ob es eine Grobheit seye den Kopf zu bedecken, oder zu entblößen. Die Türken halten uns vielleicht wiederum vor unhöflich. Dieses aber ist wircklich kein Vorurtheil selbst, sondern etwas, was durch ein Vorurtheil angenommen I wird.,,9

Ein radikaler logischer Egoist, der zugleich ein kosmologischer wäre, ist nicht denkbar, weil das Mitteilen, welches eine Bedingung der Möglichkeit des menschlichen Verstandes in bezug auf die Welt darstellt, entfallen würde. Die Denkstrukturen sind in letzter Instanz dialogisch. Die Logosfabigkeit des Verstandes fundiert somit die allgemeine Logik. Als diskursives Vermögen ist der Verstand von vornherein und wesentlich Sprache. Nur die Anschauungen sind stumm. Eine frühe These Kants lautet: ,,Der Verstand des Menschen ist schon aus Instinkt communicatio.',J()

Dies bedeutet: der Verstand ist schon von Natur unnatürlich oder metaphysisch. Das heißt aber auch: Der Verstand ist schon im phänomenalen Zustand reiner Verstand, denn die Mittelbarkeit setzt Formen voraus. Die Logik "transzendiert" die Sprache (Strawson). Eine Grammatik des Denkens kann nur analogisch 'fungieren. Der reine Verstand ist jedoch nicht weniger natürlich als der empirische Verstand, denn die logischen Regeln können ebensowenig wie die Regeln der Grammatik durch Konventionen vereinbart werden. Die uspriingliehe ,,Redseligkeit" (Baumgarten) des Menschen vervieWiltigt die Standpunkte des Urteilens und infolgedessen die Instanzen, die für die Gültigkeit der Urteile sorgen. Die jeweilige Behauptung wird eingeklammert und dementsprechend als "vorläufig" erklärt. Die These wird eine Weile zur Hypothese oder die Hypothese zur vorläufigen These. Dies ist nicht ohne Folge für die Kantschen metaphysischen Überlegungen und gibt eine erste Einsicht in seine spätere Bemühungen, die niedere Ebene des hypothetischen Denkens so weit wie nur möglich aufzuheben. Gemeinsame Untersuchungen führen zu einem Geflecht von Urteilen. Aus dieser philosophischen Situationslage erscheint die Konstituierung einer Logik der vorläufigen Urteile sinnvoll und sogar notwendig. Der alte Traum einer Versetzung der Geschäfte der Philosophie in die urspriinglich~ Lage des So9 Logik

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26.

BIomberg, 520, 5 - 12. Logik BIomberg, 578, 3 - 4. Vgl. Logik Philippi, 121, 16 und Wiener Logik, 347,

2. Die Intersubjektivität in den Logik-Vorlesungen

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kratischen Gesprächs als intersubjektive Dimension der Objektivierung liegt nahe. Das Gespräch erlegt dem Denken mindestens zwei entgegengesetzten Richtungen auf. Seine Spielregeln sind zweigleisig: Mitteilen und Teilnehmen, Sagen und Hören, Vorschlagen und Zurücknehmen. Die Untersuchung der Gegenstände aus logischer Sicht ist eine Untersuchung des Wahren und des Falschen und findet nun statt durch "die Mitteilung der Urteile samt der gemeinsamen und wechselseitigen Prüfung (Unterscheidung) derselben"". Die Intersubjektivität, obwohl noch nicht als solche bezeichnet, wird in den LogikVorlesungen ausführlich thematisiert. Das gemeinsame Mitteilen sichert vor einer ,,Entgleisung" die Läufe des Denkens und schlägt die Brücke von den ,,individuellen" zu den "allgemeinen" Urteilen. Die Individualität und Allgemeinheit der Konzepte wird somit in menschliche Koordinaten eingebettet, und zwar um der Objektivierung willen. Die Intersubjektivität ist die lebendige Seite der Objektivität. Kant sucht die Brücke zwischen Wahrheit und Anerkennung der Urteile. Die Spiegelfunktion des Gesprächspartners warnt vor Selbsttäuschung. Im Verfahren des Urteilens erfüllt das Gespräch die von Kant der praktischen Logik zugeschriebene Aufgabe eines ,,kathartikons,,.'2 Mit anderen Worten, es wirkt klärend und befreit von Blendwerken, denen der logische Egoist ausgeliefert bleibt. Die Vorurteile werden damit zu "vorläufigen Urteilen". Es geht weniger um die individuelle Anerkennung der Urteile, die außerhalb der allgemeinen Definition der Wahrheit allein eine subjektive Bedingung der Gesprächsführung ist, sondern vielmehr um die gemeinsame Entdeckung eines Standpunktes der "Objektivität" hinsichtlich der Gegenstände. Man sucht den reinen Verstand im Verstand anderer und somit die logische Form selbst. Das Gespräch im Kantschen Sinne schließt das Moment der Kreativität ein, das die Tradition der ars inveniendi belebt. Die Urteile werden bei gegenseitiger Mitteilung erst als solche neu erfunden, dann erprobt und experimentiert (vorgeschlagen und zurückgenommen, ehe sie zu ihrem Ausgleich finden.): ,,Es ist eine Art der Experience des Urtheils an mehr als einem Verstand.,,'3

Die Urteilskraft braucht dringend solche Vorkommnisse, um ihre logischen Leistungen zu verbessern. Daß Erfahrungen und Anwendungen auf dem Gebiet des Redens stattfinden, erlaubt eine erweiterte Wahrnehmung des Kantschen Denkens. Die nichtgegenständliche Erfahrung der Intersubjektivität wird in den Logik-Vorlesungen bei der Bewertung historischer Wahrheiten mitberücksichtigt. Solche Wahrheiten sind nicht unmittelbar empirisch bedingt und doch, in der Weise der Vernunftbegriffe, in die Empirie tief involviert. Die Intersubjektivität ist auf der Ebene der diskursiven Objektivität aufgehobene Subjektivität. Das heuristische Verfahren des Gesprächs bedeutet die Umformung und die 11 ,.per communicationem judiciorum, et mutuam dijudicationem eorum invicem", Logik BIomberg, 617, 5 - 6. 12 Reflexion 1600. 13 Wiener Logik, 239, 30 - 31.

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ill. Perspektivisches Denken

allmähliche Bestimmung oder Verfeinerung der Urteile. Die Menschen sind durch die Natur des Verstandes selbst dazu geleitet. Die Mannigfaltigkeit der Gesichtspunkte ergänzen die Urteile. ,,Diese Neigung entspringet gar nicht aus Eitelkeit, sondern aus einer besonderen und vorzüglichen mitteilenden Beschaffenheit der menschlichen Vernunft, wenn man nemlich allein, und vor sich selbst unheilt, so ist man niemals recht sicher, ob das Uneil nicht aus einem gewißen Blendwerk entspringt, das uns irgendt etwas vormachen könnte. Dahero ist man dan begierig, es eben an dem Verstande anderer Menschen zu prüfen! und zu untersuchen. man macht hier gleichsam ein Experiment, und probien, ob das, was wir Dencken, allgemeingültig sey, ob es andere annehmen, oder ob es mit der Vernunft nicht übereinstimmend seye. man schleifet also dabey, so zu sagen, gleichsam diejenigen Uneile, die man hat, d.i. deren ErfInder man ist, an dem sicheren Probier-Stein des Verstandes, und denen Einsichten anderer Menschen" 14

Der logische Egoist nimmt die Übereinstimmung der Erkenntnisse mit seinem eigenen Verstand für die Übereinstimmung mit dem allen innewohnenden allgemeinen Verstand. Er verkennt, daß erst der fremde Verstand die phänomenologische Entdeckung der Allgemeinheit ermöglicht und verfehlt damit den nächststehenden Probierstein der Wahrheit. Kant vermerkt bei dieser Gelegenheit die politischen und kulturellen Folgen einer mangelnden öffentlichen Auseinandersetzung und fundiert damit philosophisch die Pressefreiheit. Macht ohne Gegenmacht verleitet unausweichlich zum Irrtum. Die Objektivität entsteht aus der Auseinandersetzung subjektiver Einstellungen. Sie ist also nicht gegeben, sondern konstituiert sich im Raum der Öffentlichkeit. ,,Der logische Egoist hält es für unnöthig, sein Unheil auch am Verstande Anderer zu prüfen; gleich als ob er dieses Probirsteins (criterium veritatis extemum) gar nicht bedürfe. Es ist aber so gewiß, daß wir dieses Mittel, uns der Wahrheit unseres Unheils zu versichern, nicht entbehren können, daß es vielleicht der wichtigste Grund ist, warum das gelehrte Volk so dringend nach der Freiheit der Feder schreit; weil, wenn diese verweigen wird, uns zugleich ein großes Mittel entzogen wird, die Richtigkeit unserer eigenen Unheile zu prüfen, und wir dem Irrthum preis gegeben werden.,,15

Der Standpunkt des Anderen ist ein äußeres, aber unentbehrliches Kriterium der Wahrheit, so daß Kant nicht zögert, es in bestimmten Situationen "das starke Kriterium" der Wahrheit zu nennen. 16 Die Bemühungen des klassischen Kant um die Objektivität der Urteile wird die Intersubjekivität anscheinend in den Hintergrund verdrängen oder für eine Weile gar verschwinden lassen. Doch die Gegenstände setzen sich nicht von selbst durch (sie sind übrigens mitkonstituiert) und das Problem ihrer Anerkennung und der Perspektiven des Vollzugs dieser Anerkennung bleibt weiter bestehen, als würden die Urteile nie völlig sich zu Sätzen durchdringen wollen. Das Problem der Intersubjektivität kann gleichermaßen am Leitpfaden des gemeinen Verstandes - diese historisch 14 Logik Blomberg, 576,22 - 577,34. 15 Anthropologie, 128,21 - 129,3. 16 Logik Dohna-Wund1acken, 58, 14.

3. Die Kantsche Deonto1ogie des Argumentierens

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fundierte Urintersubjektivität, die zeitlich uneingeschränkt und ohne historische Bezüge fungieren will - verfolgt werden. Kant räumt bekanntlich in gewissen Situationen dem gemeinen Verstand eine vortreffliche Rolle ein. Gelobt werden seine Fähigkeit mit Fällen in concreto umzugehen und seine Weise, Regeln (ohne besondere Kenntnis der Regeln) sicher anzuwenden. Die vermeinte Verwandtschaft mit der Urteilskraft sorgt für Überraschungen. Die Anzahl der Perspektiven, die der gemeine Verstand in sich schließt, stellt nur eine Aproximation der Entscheidungen zur Verfügung und verfehlt insofern den sicheren und persönlichen Griff zu den Gegenständen. Die Urteilskraft ist währenddessen jederzeit individuell und scheut darüber hinaus kaum die theoretische Begrifflichkeit, wenn es den Fall geben sollte. Kant spricht dem gemeinen Verstand die Kompetenz in spekulativen Fragen und in Bewertung besonderer Situationen ab. Der gemeine Verstand bleibt als Vermögen in der Schwebe, denn er kann Verwahrer aber auch Verfälscher der Intersubjektivität sein. Bemerkenswert scheint in diesem Kontext Lockes Darstellung des common sense, welche mit seiner Lehre über das Meinen zusammenhängt. Ryle beauptet, daß erst Locke den common sense erfunden habe. Daniit meint er, daß fundamentalistische und kriegerische Auseinandersetzungen durch die neue philosophische Einstellung geschichtlich überwunden werden konnten. Locke hat das blinde Glauben eingeschränkt und das ("objektivierende") Meinen aufgewertet 17 • Das Gedeihen der Intersubjektivität fordert die allgemeine Mäßigung der Überzeugungen. Dafür braucht man gemeinsame Maßstäbe und Rahmenbedingungen. Kant wird sich in seinen Logik-Vorlesungen lange damit beschäftigen.

3. Die Kantsehe Deontologie des Argumentierens So weit es Argumente gibt, gibt es vorläufige Urteile. Gegen die Ausschreitungen der ,,Egoisterey" und ungerechtfertigte Ansprüche des Dogmatismus stellt Kant die Grundlinien einer kleinen Deontologie des Argumentationsverfahrens dar: eine Zusammenstellung von Motiven der Topik Aristoteles und Ciceros im aufgeklärten Geiste des 18 Jhs. Manche französischen Ausdrücke und soziologische Betrachtungen sprechen über den damals lebendigen Einfluß der Logique de Port-Royal. Die Verfasser der Abhandlung benutzten bei der Redaktion bekanntlich eine verlorengegangene logische Schrift Descartes. Die Verbindungen der Logik und der Philosophie finden somit Bestätigung und frühe Anerkennung. Kant formuliert Anweisungen zur Führung einer fruchtbaren philosophischen Diskussion. Der Geist der Aufklärung wirkt förderlich und erfrischend. Die Polemik soll sich "diktatorische Ausdrücke und angemaßter Superiorität,,18 verbieten, sich vor allem um Gründe kümmern, welche nie als Mittel zur Erlangung einer Machtposition mißbraucht werden dürfen. Die teilnehmende Vernunft regiert über den Verlauf jeweiliger Auseinandersetzungen. 17

Ryle, G., John Locke. In: Collected Papers, Bristo1, 1990, 147

18 Logik Philippi, 115,16.

78

III. Perspektivisches Denken

Sie ist merklich republikanisch und brüderlich eingestellt. Die formale Intersubjektivität begegnet den geschichtlichen Perspektiven der Freiheit und entdeckt die Spielregeln der Demokratie. ,,Im menschlichen Leben stehen alle Menschen in Absicht ihrer Vernunft gleichsam in einer Democratie. Es gilt auch hier die Einschränkung, die in der Moral gilt. Diese lehrt uns aber von der Freyheit einen solchen Gebrauch zu machen, daß man anderer Freyheit nicht schadet, sondern daß andere dabey auch frey bleiben können. Ich muß meine Freyheit teilnehmend machen. Meine Vernunft muß an der Vernunft anderer theilnehmend seyn. In Gesellschaft und Conversation muß ich nicht docieren, sondern resoniren."J9

Es ist gut für das Verständnis anderen Kantschen Texte zu wissen, daß resoniren eine öffentliche Auseinandersetzung impliziert. Sollten die eiligen An-

nahmen des Gegners zu falschen Schlüssen führen, so empfiehlt sich eine ,,Dekonstruktion" und die Vereinbarung eines neuen Anfangs des Verfahrens. Das Einfühlungsvermögen, die Fähigkeit, sich in den Standpunkt des anderen zu versetzen, spielt im polemischen Gespräch die entscheidende Rolle. Die Prüfung der vom Gegner dargestellten, allein seinem Standpunkte zugänglichen Gründe kann als wahr angenommene Sätze zu wahrscheinlichen erklären. 2o Die vorläufigen Urteile werden dann den entgegengesetzten Weg nehmen. Aus "bestimmten" Urteilen werden unbestimmte, oder die ersteren werden in Klammem gesetzt. Die Dialogisierung des Urteilens setzt die Widerlegung des Dogmatismus fort, dessen allgemeine Behauptungen den ursprünglichen logischen Egoismus kaum verdecken können und den Widerspruch ausschließen. Das dogmatische ("allgemeine") Wir ist wesentlich ein ausgedehntes und durchaus unbestimmte Ich, das den Begriff selbst des allgemeinen (formalen) Verstandes usurpiert. Es gibt keine "verschmolzene" oder "glatte" Allgemeinheit Die Berücksichtigung der Perspektiven führt zu keiner relativierenden Fundierung der Urteile. Der Phänomenologe Kant untersucht vielmehr die logische Relevanz der Kontexte. Die Logik übt eine aufklärende und ausgleichende gesellschaftliche Rolle. Sie lädt zur Mäßigung und kritischer Überprüfung eigener Ansprüche und dann zur Harmonisierung der Gesichtspunkte ein. Die allein fachliche Kompetenz der Gelehrten wird im Sinne Rousseaus ihrer menschlichen Kompetenz untergeordnet. In der gegenseitigen Achtung der einzelnen Gesichtspunkte entsteht "die wahre Freundschaft des Sentiments·.2I, welche die nachhaltige Verbesserung des Gebrauchs des Verstandes fOrdert. Die gesellschaftliche Anerkennung des Mitmenschen setzt seine transzendentale Anerkennung durch. Die Auseinandersetzung soll den Menschen in seiner Eigenschaft als Person offenbaren und der Ausdruck "Gegner" seinen beiläufigen Sinn einbüßen. Die Entdeckung von Fehlern ist ein leichtes, zweischneidiges und irreführendes Spiel. Es besteht die Gefahr, Ziele und Mittel leicht zu 19

20 21

Logik Bauch, 588 - 595. Logik BIomberg, 450, 22 - 451,33. Logik Blomberg, 617, 2.

3. Die Kantsche Deontologie des Argumentierens

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verwechseln. Was gemeinsam untersucht und gefunden werden soll, ist selbstverständlich die Wahrheit. ,,Da es leichter ist, Falschheiten als Wahrheiten zu fmden: so betrachte ich mich nicht als Gegner (das der absurdeste Gesichtspunkt von der Welt ist) sondern sezze mich in seinem Zustand als eine Person, betrachte die Sache in seinem eigenen Gesichtspunkt, untersuche die gute Seite und die Partialwahrheiten'.n

Jedes Urteil setzt eine Reihe von vorhergehenden Urteilen voraus, die insgesamt als vorläufig betrachtet werden müssen. Die Gegner sind Gesprächspartner. Das Geflecht von Urteilen bindet die Menschen zusammen. Trotz psychologischer Merkmale (,,Eigenliebe", ,,Eigendunkel", ,,Eitelkeit", "Selbstsucht", ,,Arroganz") grundet der logische Egoismus hauptsächlich in einer ursprünglicheren Entscheidun~ der Vernunft. Der Egoismus wird damit zu "einer Art logischer Grundsatz,,2 erhoben, welcher ohne irgendeine Prüfung fremde Urteile ausschaltet. Diese prinzipielle Entscheidung richtet sich gegen den mitteilenden Charakter des Verstandes als Naturanlage und letztendlich gegen die Vernunft selbst. ,,Dieser ist das Principium der Indifferenz in Ansehung aller fremden Urteile als Criterien der Wahrheit. Die Übereinstimmung der Urteile anderer reicht zwar lange nicht zu, ist aber doch ein criterium, weil mein Erkenntniß durch subjektive Gründe sehr verfälscht werden kann, die beim anderen nicht stattfmden, aber es gleich andere hat. ,,24

Der unabdingbare Streit der Subjektivitäten zeigt die Grenzen, aber auch die Unentbehrlichkeit der Subjektivität. Widerlegungen sind heuristische Hilfsmitteln und Offenbarungsinstanzen. Die Anerkennung der Wahrheit beruht auf einem allgemeinen und öffentlich durchzusetzenden Konsens. Kant analysiert die dynamischen Strukturen der Intersubjektivität und ihren unmittelbaren Einfluß auf die Auffassung der Wahrheit. Dem Egoismus wird der logische Pluralismus entgegengesetzt. Das Dogma einer vom Publikum unangetasteten Wahrheit wird somit ausgeschaltet. "Wenn man seine Einsichten mit denjenigen anderer vergleicht und aus dem Verhältnis der Übereinstimmung mit anderer Vernunft die Wahrheit entscheidet, ist das der logische Pluralismus."2S

Der Pluralismus hebt den logischen Egoismus auf, indem er die Bedingungen der Unvoreingenommenheit behauptet. Der Mitteilende wird zugleich der Andere für den Anderen. Die Annahme der Spielregeln scheint schon ein wichtiger Schritt nach vorne zu sein. Ein mitteilender Egoist ist schon ein logischer Pluralist. Da die Suche nach der Wahrheit prinzipiell keine Unterwerfung forMetaphysik Herder, 2, 11 - 15. Logik Dohna-Wundlacken, 58, 6 - 7. 24 Logik Pölitz, 65, 32 - 37. 2S Logik Philippi, 122,20 - 23. 22

23

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III. Perspektivisches Denken

dert, rechtfertigt Kant durchaus den individuellen Standpunkt. 26 Mit anderen Worten, der logische Pluralismus besteht in den Bemühungen einzelner, den allgemeinen Verstand durch Gründe einsichtig zu machen. Die formale Objektivität der Wahrheit läßt sich nicht privatisieren, d. h. auf eine oder andere Seite, oder gleichermaßen allerseits verteilen. Im Gegenspiel und Zusammenwirken des logischen Egoismus und Pluralismus gilt die Maxime der Klugheit, welche das Verfahren des vorläufigen Urteilens mitbestimmt: ,,Man traue weder sich selbst noch andern zu viel zu ...27 Der Mangel an Maß wird nun zu einer Quelle von Vorurteilen. Die Gründe entscheiden über die Gültigkeit der Urteile und nicht die eine oder die andere Perspektive. Die Objektivität aber, die mit der logischen Form kongruieren soll, setzt virtuell die gleichzeitige Zusammensetzung aller Perspektiven voraus. Es gibt bei Kant eine phänomenologisch beschriebene und logisch begründete Konstituierung der Intersubjektivität. Selbst die Wahrnehmungsurteile, die Wurzeln aller Urteile aus kritischer Sicht, brauchen Korrekturen. Die Wirklichkeit wird nicht ohne weiteres objektiv wahrgenommen. Der logische Pluralismus hat dann eine tiefere und konstitutive Struktur. ,,Den Fehler den ich beging, entstand aus einer illusion, die aus der Lage entstand, wie ich die Erkenntnisse erkannte, daher kann ich das Urteil anderer nicht vor entbehrlich halten. Denn diese können das Meinige corrigieren, z. B. wenn ich in der Feme etwas sehe, sage ich, es ist ein Pferd, der andere, es ist ein Baum. Ich habe vielleicht nur den Gedanken vom Pferde vorher tief eingeprägt, und durch diese illusion glaube ich in der Feme ein Pferd zu sehen. Der Egoismus ist dennoch der Fehler, wo man glaubt, daß, wenn vom criterium der Wahrheit die Frage ist, man die Beurteilung anderer nicht bedarf. ,,28 Die Urteile des zum logischen Egoismus neigenden Menschen sind richtig allein unter dem Vorbehalt des logischen Pluralismus. Die formale Übereinstimmung des Urteils mit sich selbst - seine Verstandesmäßigkeit oder Widerspruchlosigkeit - schließt die Mitteilbarkeit ein. Die Subjektivität hat ihren eigenen Zugang zur logischer Form, d. h. sie ist gewissermaßen ursprünglich und formal pluralisisch. Ähnlich findet die Konstituierung der Erfahrung statt, welche sich um der Objektivität willen auf den logischen Pluralismus stützen muß. Die Übereinstimmung mit der Empirie heißt zugleich die Übereinstimmung der perspektivischen Behauptungen über die Empirie Der logische Egoist verhindert die Entfaltung der logischen Form und somit die unmittelbare Offenbarung des Erscheinens selbst. ,,Der Egoist verwandelt die Erkenntnisse auch die Vernunftsätze selbst in Schein (apparentia) indem er ihnen eine Privatgültigkeit giebt:.29 Logik BIomberg, 615, 27 - 616,32. Metaphysik Herder, 2, 3. 28 Wiener Logik. 246, 12 - 247,20. 29 Logik Philippi, 121, 1 - 2. 26 27

3. Die Kantsche Deontologie des Argumentierens

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Ihrem Wesen nach ist die Philosophie anfälliger für diese Gefahr als die Mathematik. Die Gründe der intuitiven Erkenntnis sind (von sich selbst) augenscheinlich, lassen sich selbst bei einer individuellen Prüfung kaum verfehlen, während die Evidenz der diskursiven Erkenntnisse auf intersubjektive Leistungen angewiesen bleibt. Die Gewißheit der Urteile, welche sich nicht mathematisch konstruieren lassen, ist anhand mehrerer Perspektiven und Standpunkte zu erreichen. Vorläufige Urteile sind korrekturfähig und ergänzungsbedürftig. In diesem Sinne gibt es ,,Partialwahrheiten", jedoch keine Privatwahrheiten. Eine zufällige Übereinstimmung des egoistischen Gesichtspunktes mit dem allgemeinen Verstand bewirkt keine Privatisierung des letzteren. Die Formen des Verstandes bleiben allgemein und durchaus maßgebend. Die Allgemeinheit ist in diesem Fall keine äußere umfassendere Hülle, sondern verbindet innerlich die Perspektiven des Erscheinens. Es kann keine kollektive Wahrheit ohne individuelle Anerkennung geben. Nur der doktrinäre Dogmatismus erzeugt diesen Anschein, indem er sich eines verkehrten Kriteriums bedient: ,,Das Urteil der Menge ist ein criterium der Wahrheit. Das Knechtische." 30

Die Wahrheit gilt für alle, ihre Anerkennung soll jedoch durch Überzeugung, also durch Darstellung von Gründen, und nicht durch Überredung erfolgen. Kant kennt zu gut das Beispiel des Sokrates und das ältere Beispiel Hiobs, um die Wahrheit von der Zahl der Zustimmenden abhängen zu lassen. Er schließt deshalb nicht prinzipiell den originellen und durchaus individuellen Bezug auf die (historische) Objektivität aus. Dafür spricht die logische Form, welche aller Menschen zusteht und über die Rahmenbedingungen der Intersubjektivität regiert. Der gute Wille der Teilnehmer an das Geschehen des Urteilens ist von Karrt vorausgesetzt. Nur vorsichtigkeitshalber und allein in hermeneutischer Absicht fügt er hinzu: ,,Nur ist nöthig, daß wir das Urteil anderer verstehen, und es nicht misdeuten .•.31

Die Kantsche kleine Verfassung der Argumentation drückt ein "Soll" des Denkens unter den besten Voraussetzungen für die Wahrheitsfmdung aus und überspannt die Kluft zwischen materiellen und formalen Komponenten derselben. Sie geht davon aus, daß der gute Wille in der Diskussion herrscht und jederzeit im Dienste der Objektivität stehen mag. Sie unterstellt den Teilnehmer eine reine Intentionalität, welche eine geschwiegene Ausschaltung derselben zugunsten der logisch formalen Modellierung des Gesprächs darstellt. Die materielle subjektive Komponente der Teilnahme bleibt allerdings versteckt. Der Kritizismus insgesamt ist aber nicht anfällig für eine durchgehende Idealisierung der materiellen Bedingungen und anerkennt, zur Beunruhigung mancher Zeitgenossen, die phänomenale Realität des Bösen. Die Entscheidung dafür darf als Ausdruck der Urintentionalität angesehen werden. Das Thema der

30

31

Reflexion 2574. Logik BIomberg, 250, 31 - 32.

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III. Perspektivisches Denken

Intersubjektivität verliert an Intensität in der Schriften der blühenden Zeit des Kritizismus, wo sich die klassische Auffassung der Wahrheit und die Bindung an Gegenständen durchsetzten. Wir haben aber bemerkt, daß das Fungieren der logischen Form die Intesubjektivität in der lebendigen Dimension der Anerkennung der Wahrheit miteinschließt. Sie ist eine unausbleibliche Komponente dieser Anerkennung. Während die KR sich anscheinend zu festeren Stützpunkten für die Objektivität der wissenschaftlichen Sprache bewegt, bleibt die Intersubjektivität durch die Zeiten hindurch ein ständiges Thema der Logik- Vorlesungen. Es hat einen Grund dafür gegeben: Kants milde und nüchterne politische Gesinnung. Er räsonierte in seinem Kolleg über die Bedeutung der öffentlichen Debatte und über die gesellschaftliche Dimension der Urteile. Der Gründer des Kritizismus war ein Verteidiger der Institutionen und in seiner Jugend bestimmt ein Sympathisant der republikanischen Ideale. Was ihm fehlte (im Unterschied zu Locke), um seine Reflexionen über das perspektivische Denken und über die Intersubjektivität in eine vollständige Lehre zu entfalten, war die geschichtliche Erfahrung eines Parlaments.

4. Horizonte des Erkennens - Horizonte des Lebens Es gibt in den Logik- Vorlesungen eine lang elaborierte Theorie der Horizonte, die im Hinterland der drei Kritiken bleibt und dieselben sinnvoll ergänzt oder methodologisch erweitert. Alle Perspektiven des Denkens münden in eine einheitliche menschlichen Perspektive ein, die nicht anders - wegen der unbegrenzten Verschiedenheit der Standpunkte - als ein universeller Horizont vorgestellt werden kann. Es ist ein wesentlicher Teil der Phänomenologie Kants, die durch die radikale Unterscheidung zwischen Phainomena und Noumena erst ihre richtunggebenden Konturen befestigt. Jede weitere Differenzierung innerhalb der Phänomene hat einen Sinn, sofern sie sich auf die eine oder andere Weise auf diese primäre Unterscheidung bezieht. Die individuellen und fachlichen Perspektiven sind konvergent. Der Kritizismus erstrebt eine einheitliche Vision und betrachtet die Erkenntnisse mit den Zwecken der Menschheit zusammen. Das Leben selbst fungiert als Horizont. Das Erkennen ist allein eine Komponente des universellen Ereignisses Mensch. "Wir müssen hier noch eine Bestimmung des Horizontes unserer Erkenntniße hinzufügen. Der Horizont ist die Kongruenz der Grenzen unserer Erkenntniße mit den Zwecken der Menschheit. ..32

Der theoretische Horizont soll dem praktischen Horizont möglichst entsprechen. Die Grundtätigkeiten des Menschen laufen nicht getrennt, sondern gehören in die ursprüngliche Einheit des Lebens. Daraus folgen wichtige Entscheidungen für den Kritizismus. Das metaphysische Verlangen der Vernunft geht über die streng bestimmte Grenze der Gegenständlichkeit weit hinaus. Im offen

32

Warschauer Logik, 921 - 923.

4. Erkennen und Leben

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stehenden Raum der Horizonte gelten unterschiedliche Arten von Gewißheit und Fürwahrhalten. Das 18. Jh. steht für die Lust am Entdecken. Die äußerliche Erweiterung bedingt die Vervielfachung der Wege zur Selbstentdeckung. Man kann zwischen Horizonten fast wandern und verschiedene Stufen aufsteigen. Den eigenen Horizont zu bestimmen, d. h. die innerliche Verbindungen zu anderen Horizonten zu finden und zu harmonisieren, fordert Urteilskraft. Die Einordnung der Horizonte, die einem Vorspiel zur pänomenologischen Konstitution der Welt ähnelt, fördert die Entfaltung der Persönlichkeit und bringt (nicht zuletzt) Klarheit in Begrifflickeit. ,,Nehmen wir die Zwecke allgemein, so ist der Horizont absolut, nehmen wir aber die Zwecke besonders in dieser oder jener Absicht I so ist der Horizont relativ determiniert. Den Horizont zu bestimmen gehört Kultur unserer Urtheilskraft, obgleich dieses ein schweres Werk ist; so ists doch nüzlich, weil dadurch viel Confusion in unsern Begriffen und Urteilen vermieden wird.'.J3

Kant prüft und bewertet soziologische, anthropologische und geschichtliche Gesichtspunkte. Bei der Bestimmung der Horizonte werden lebendige Personen in ihrer Individualität ("Geschlecht", "Stand", ,,Alter" ,,Fähigkeiten") in Betracht gezogen. Die erzieherische Absicht hat dann Vorrang. Der akademische Lehrer gibt den Schülern Anweisungen zur Konstituierung eines eigenen Horizontes. 34 Diese wichtige Aufgabe der Lebensführung braucht Geduld, denn es gilt zwischen unteren und oberen Stufen der Konstituierung eine harmonische Kontinuität herzustellen. Schon die drei Grade des Erkennens - "verstehen, einsehen, begreifen,,35 -, die in den eigentlichen kritischen Schriften kaum Anwendung finden, verlangen nach einer Logik der vorläufigen Urteile, denn sie hängen mit den Stufen des Fürwahrhaltens zusammen. Der ,,Privathorizont" soll sich den weiteren gesellschaftlichen, kulturellen und anthropologischen Horizonte einfügen. In Anspielung auf die drei Kritiken werden ein logischer, d. h. ein "objektiver", ein praktischer und ein ästhetischer Horizont postuliert. Der Horizont hat letztendlich eine universelle Dimension. Man kann mit viel Mühe den historischen Horizont des ganzen menschlichen Geschlechts wiederaufbauen. In den Logik-Vorlesungen findet sich die Brücke zwischen Kants Anthropologie und der KR. Die bloße Aufzählung von Ereignissen, Einsichten, Erfindungen und Fortschritten reicht noch nicht zur einer adäquaten und einleuchtenden Rekonstruktion aus. Dazu braucht man eine Kritik der Vernunft. Man muß Leistungen und menschliche Vermögen in Verbindung setzen. Der Rationalhorizont ist der Kern jeder gelungenen Konstitution des universellen Horizontes. ,,Den Rationalhorizont des menschlichen Erkenntnis zu bestimmen ist eine der edelsten und schwersten Beschäftigungen des menschlichen Geistes. Hier pflegen sich die 33 Logik Pölitz, 29, 10 - 30, 1. 34 Logik Jäsche, 41, 25 - 42, 25. 3S Logik Dohna-Wundlacken, 45.

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ill. Perspektivisches Denken Metaphysiker zu verlieren. - Nur die Metaphysik oder ihre Grundlage die Kritik der reinen Vernunft kann zeigen, wo die Grenzen der Vernunft anfangen und wo all ihr Vennögen aufhört. ,,36

Man wird in diesem Kontext die fortgesetzte Polemik mit Leibniz wohl erkennen, denn das Kantsche Projekt einer absteigenden Metaphysik verlangt nach einer neuen, in die Welt involvierten Begrifflichkeit. Die Theorie der Horizonte will aber nicht auf den Effekt der Widerspiegelung der Monaden völlig verzichten und postuliert eine Wechselwirkung und (gegen Leibniz) gleichzeitige Öffnung der Horizonte. Es gibt so viele Horizonte wie Standpunkte, denn zu jedem Kreis gehört ein Zentrum. Jede Wissenschaft hat ihren eigenen Horizont, der sich zu weiteren Horizonte öffnen muß, um dem Universalhorizont der Zwecke der Menschheit zu entsprechen. Deshalb gehört zu den einzelnen Wissenschaften jeweils eine Kritik, die dann in die allgemeine Kritik der Vernunft einmündet. Die engeren Horizonte der einzelnen Fächer führen zu einer mangelhaften Übersicht. Die logisch-positivistische Forderung nach einer einheitlichen Wissenschaft hat Kantsche Wurzeln. Die Bestimmung der Wissenschaften als menschliches Werk ist die übergreifende Aufgabe der kritischen Philosophie. Sie tritt unvermeidlich in Konkurrenz mit der Theologie, welche selbst - so Kant - einer Kritik bedarf (Der Streit der Fakultäten). ,,Eine Gelehrsamkeit ohne Philosophie ist eine cyklopische Gelehrsamkeit. Die Philosophie ist / das zweyte Auge, und sieht, wie die gesammelten Kenntnisse des einen Auges zum gesanunten Zweck stimmen.•..37

Es geht hier also weniger um die Philosophie als Theorie der Wissenschaften oder als Wissenschaft schlechthin, sondern vielmehr um eine eigenartige Begründung der Interdisziplinarität und um die gesellschaftliche und humanistische Dimension der Wissenschaften. Was die Philosophie den einzelnen Wissenschaften zeigen will und kann, sind die gemeinsamen Zwecke der Menschheit. Erst aus dieser Perspektive lassen sich die Aufgaben der Wissenschaften neu und gründlich defInieren. Die manchmal bildhaften Ausführungen aus den Logik-Vorlesungen brauchen nicht von der allgemeinen Kritik der Vernunft aus den Kantschen Hauptwerke getrennt zu werden. Die These einer gegenseitigen Ergänzung scheint zumal in späteren Zeiten plausibel. Dieselben Motive und Einsichten werden in dem von Kant zuletzt veröffentlichten Buch, der Anthropologie in pragmatischer Absicht abgefaßt wieder aufgenommen. Es gibt keine Wissenschaft ohne Wissenschaftler. Das von Locke verteidigte und aufgeklärte Ideal eines Communwealth of leaming wirkt weiter im Kritizismus. Jeder Wissenschaftler hat einen eigenen Horizont, eigene Erfahrungen und Erkenntnisse auf seinem Fachgebiet. Der mitteilende Charakter der Vernunft will die Verflechtung unterschiedlicher Perspektiven. Kant fordert in seinen Schriften eine kommunizierende Gemeinschaft der Lernenden und keineswegs der Cyklopen. 36 37

Logik Dohna-Wundlacken, 22, 8 - 13. Wiener Logik, 68, 32 - 35.

5. Die partiellen Wahrheiten

85

Man hört die deutliche Stimme eines humanistischen Imperativs und entdeckt die bildende und gesellschaftliche Funktion der Wissenschaften. ,,Ich nenne einen solchen Gelehrten einen Cyklopen. Er ist ein Egoist der Wissenschaft, und es ist ihm noch ein Auge nötig, welches macht, dass er seinen Gegenstand noch aus dem Gesichtspunkte anderer Menschen aussieht. Hierauf grundet die Humanität der Wissenschaft, d. i. die Leutseligkeit des Uneils, dadurch man es andrer Uneil mit unterwirft, zu geben.,..3H

Die Theorie der Horizonte ist eine Ergänzung der Kantschen Urteilslehre und steht dementsprechend in Verbindung mit der Methodenlehre der drei Kritiken. Sie stellt die Kriterienlehre der KR in ein anderes Licht. Die Kritik der Vernunft formuliert die Bedingungen der Objektivität und vollzieht zugleich ein Akt der Selbsterkenntnis. Diese Dimension ist nicht bloß subjektiv, sondern als Zeichen der Endlichkeit sinngebend und übergreifend. Sie hält die Analytik und die Dialektik der reinen Vernunft zusammen. Die philosophische Reflexion sichert die Zusammenfügung der inneren und äußeren Perspektiven. ,,Das zweite Auge ist also das der Selbsterkenntnis der menschlichen Vernunft, ohne welches wir kein Augenmass der Grösse unserer Erkenntnis haben. Jene gibt die Standlinie der Messung. ,..39

5. Das Problem der partiellen Wahrheiten Die partiellen ("partialen") Wahrheiten sind im Sinne Kants keine Halbwahrheiten. Sie können es aber jederzeit werden. Sie können sogar die Wahrheit verstellen, wenn sie beanspruchen, die ganze Wahrheit zu sein. Das Problem der partiellen Wahrheiten ist dann - wie es in einem Puzzlespiel geschieht - sich zu ihrem Ganzen zu finden. Die perspektivische Konstituierung der Wahrheit führt zu einer merklichen Demokratisierung der Urteilsakte. Man plädiert öffentlich dafür und nimmt die Einwendungen anderen wahr. ,,Eine logische Maxime ist die Teilnehmung. Nichts ist totaliter falsch. Wenn ich Ankläger und Richter (in meinem Verstande) sein will, so muß ich auch einen Advocaten haben. ,,40

Wahres und Falsches beziehen sich nun nicht unmittelbar auf Sätze, sondern auf ganze Argumente. Das übergreifende Urteil hat Geflechte von Sätzen in Sicht. Die Besonderheit der Argumente besteht darin, daß sie wahre Sätze enthalten können und doch falsch sein können. Der Vorfall ruft die Unterscheidung zwischen Sätzen und Urteilen in Erinnerung. Sind die ersteren oder die letzteren als wahr oder als falsch anzuerkennen, oder ist eine radikale Trennung doch nicht durchzusetzen? Die Teilnehmung ist eine Maxime und keine Regel der Logik. Ob die Maximen die Regeln einschränken oder erweitern, ist eine 38 Reflexionen Kants zur kritischen Philosophie (Hrsg. Erdrmann), 209. 39 Reflexionen Kants zur kritischen Philosophie (Hrsg. Erdrmann), 209. 40 Reflexion 1616.

86

III. Perspektivisches Denken

Frage die im Laufe dieses Buches behandelt wird. Sie gehören allerdings in eine praktische Logik und in dem oben erwähnten Fall in eine Pragmatik der Sprache. Die Maxime der Teilnehmung verstärkt die apophantische Funktion der Dialektik und des virtuellen Gesprächs. Kant zeichnet den Rahmen einer liberalen Argumentationstheorie. Wahrheiten müssen nicht nur formuliert, sondern legitimiert und verteidigt bzw. bestritten werden können. Die vorläufigen Urteile, soweit sie Erkenntnisgrunde enthalten, sind partielle Wahrheiten, die bis zu einem gewissen Punkt den Bedingungen der Objektivität standhalten können. Sie drücken allerdings nicht die Wahrheit über den Gegenstand in seiner Ganzheit aus und sind von subjektiven Entscheidungen abhängig. "Wenn man totale und partiale Wahrheit unterscheiden will; so muß ich einen Unterschied machen, zwischen meinem Erkenntnis als Erkenntniß, und dem Erkenntnis aufs Objekt. Ist eine Erkenntnis im ersten Fall partial wahr: so ist gewis etwas falsches darin. Im anderen Fall kann sie zwar an sich selbst wahr seyn, nur ich erkenne durch sie das ganze Objekt...41

Ein Konsens über vorläufige Urteile ist jederzeit so gut wie möglich und annehmbar. Die Verflechtung unterschiedlicher Perspektiven ist ein weiterer Schritt zur Objektivität. Unzureichende Gründe sind niemals gleich zu verwerfen, sonst würde die Dynamik der Urteile außer Kraft gesetzt, und die Erfindung der Wahrheit erschwert. Man kann hier nur einen Mangel an Gründen beobachten, jedoch keinen Fehler feststellen. Man braucht dementsprechend eine Ergänzung fordern. "Wenn ich die wahre Erkenntnis nicht ganz, sondern nur einen Theil davon gebe; so ist das keine Falschheit, die den übrigen Erkenntnissen widerspricht; sondern ein Mangel, ein fehlendes Stück der abgemeßnen Erkenntnis. ,,42

Auch die Wahrscheinlichkeit ist nach Kant eine partielle Wahrheit, aber in einem anderen Sinne, denn die Angabe eines Grades der Wahrscheinlichkeit ist in sich ein abgeschlossenes Urteil. Die Sache ist wahrscheinlich, die Erkenntnis über die Wahrscheinlichkeit der Sache aber gewiß. Die Wahrscheinlichkeitsurteile sind zwar partielle Urteile, tragen aber die Tendenz zur Vollendung mit und stehen manchmal dieser sehr nahe. Man muß weiter zwischen partiellen Wahrheiten, die keine Eigenständigkeit vorweisen können, und "partialiter wahren Erkenntnissen" unterscheiden, welche allein die Untersuchung eines Teils des Gegenstandes als abgeschlossen betrachten. Die letzteren haben ihre eigene Legitimität. ,,Eine Erkenntnis kann partialiter wahr seyn, indem sie zwar gantz wahr ist, aber nicht auf das ganze Objekt, sondern nur auf einen Teil deßelben geht, nichts destoweniger sind solche Erkenntniße immer gewiß. ,,43

WarschauerLogik. 207 - 212. Logik Bauch, 553 - 556. 43 Logik BIomberg, 251, 36 - 39. 41

42

5. Die partiellen Wahrheiten

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Man muß den komparativen Charakter solcher Erkenntnisse im Auge behalten und verhindern, daß sie sich als unbestrittene Erkenntnisse des Ganzen ausgeben und durch ,,Erschleichung" zur Bildung von Vorurteilen beitragen. Die Selbsteinschränkung löst kaum das zentrale Problem der Urteilslehre und der Begründung von Sätzen. Es geht um die virtuelle Grenze der vorläufigen Urteile. Wo endet die partielle und wo beginnt die durchgängige Erkenntnis des Ganzen? Gibt es eine solche? Partielle Wahrheiten können sich pragmatisch nach Zwecken definieren. Der "unbekannte" Kant hat - im Unterschied zum kanonisierten - einen toleranteren Begriff der Genauigkeit und der Pünktlichkeit, soweit die Zwecke nicht beeinträchtigt werden. "tolerabiliter wahr ist etwas das Unheil das wenn es auch nicht (z.B. das Unheil) richtig ist, doch dem Zwecke nicht schadet z. B. ich sage in einer Stunde bin ich dort - wenn nun auch 5 Minuten gefehlt ist, so schadets dem Zwecke nicht, oder wenn an sich unter Millionen Kubikfuß etwa um 10 Irrt, das hindert den Zweck nicht. ,,44

Die erste Konsequenz der "Endlichkeit ist die perspektivische Konstituierung der Wahrheit. Die KR will durch die Kriterienlehre die Kongruenz aller Perspektiven sichern und die Wahrheit von der Konstituierung der Wahrheit scharf trennen. Die Überprüfung der Wahrheit kann sich nicht auf eine eingehende Betrachtung des perspektivischen Verfahrens einlassen. Die Anwesenheit der Methodenlehre in der KR beweist, daß Kant die Durchführung der Urteilsakte in concreto nichtsdestoweniger als Teil der kritischen Aufgabe ansah. Der Kritizismus läßt aber nicht zu, daß der manchmal lange Weg zur Wahrheit die Wahrheit selbst bestimmt und dadurch ihre formale Autonomie beeinträchtigt. Die Verwechslung dieser Ebenen kann zur gleichzeitigen Behauptung verschiedener und sogar entgegengesetzter Wahrheiten verleiten. Es gibt nur eine logische Form der Wahrheit, und zwar unabhängig von den verwendeten Methoden zu ihrer Entdeckung. Der Verstoß gegen den Satz vom Widerspruch ist hier kritisch unzulässig. Sollte es sich um Widersprüche in der Wirklichkeit handeln, so ist diejenige Perspektive oder logische Form auszusuchen, die diese Widersprüche ohne Widerspruch der Urteile ausdrückt. Kant ist ein Philosoph des Seins und nicht des Werdens. Partielle Wahrheiten sind nicht mit Deutungen der Wahrheit zu verwechseln. Die Deutungen gehören in die Methode und sind manchmal auch fruchtbare Wege, die Wahrheit zu entdecken, aber keineswegs Kriterien zur Überprüfung derselben, geschweige denn diese selbst. Die genauere Vorstellung der Wahrheit wäre dann, daß sich Geflechte von Urteilen perspektivisch konstituieren, die sich gegenseitig korrigieren, so daß es allmählich zu einer Übereinstimmung der Teile zu einem Ganzen kommt, welches die allgemeine Form des Verstandes nicht verletzt. In einem polemischen Gespräch werden die Redner diejenigen ,,Partialwahrheiten", die mit der Wahrheit selbst kongruieren und nicht auf subjektive Weise nur "die gute Seite" des Opponenten - was eher zu einer Deontologie (Fair play) der Gesprächsführung 44

Logik Bauch RT, 51 A, 376 - 380.

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m. Perspektivisches Denken

gehört - geduldig aussuchen. Diese Puzzle-Theorie der Wahrheit wurzelt bei Kant in der Auffassung der Endlichkeit. Der Mensch vermag nicht allein alle Seiten und Einzelheiten eines Gegenstandes oder Sachverhaltes zu betrachten. Dies gilt für Beobachtungen, Wahrnehmungen und Formulierung von Gründen. Der dahinter stehende Konflikt zwischen objektiven und subjektiven Kriterien der Wahrheit wird von Kant lange analysiert und niemals wirklich gelöst. Selbst in der Blütezeit des Kritizismus werden Intersubjektivität und Objektivität gleichermaßen bedacht. ,,Es giebt daher Objektive Kriteria der Wahrheit, diese bestehen in der Übereinstimmung der Erkenntniß mit den Gesezzen des Verstandes und der Vernunft. Diese sind nicht hinreichend. Es giebt zwei subjektive Kriteria der Wahrheit, welche zu den vorigen kommen müssen, und darin bestehen, daß man das Unheil verschiedener Leute zusammennimmt. Ich bekümmere mich also hier um die Übereinstimmung der subjekte.,,45

Eine Objektivität, die nicht subjektiv, also individuell, erfahren und anerkannt wird, ist noch keine Objektivität. Mit anderen Worten die Objektivität braucht gleichermaßen ein Fürwahrhalten ihrer selbst, um sich objektiv behaupten zu können. Das eine subjektive Kriterium besteht in der individuellen Selbstobjektivierung durch den Vergleich eigener Erkenntnisse mit den schon als wahr anerkannten Erkenntnissen, das andere aber in der unmittelbaren Übereinstimmung mit anderen Subjekten. Es gibt eine Form des Selbstgesprächs und eine Form des öffentlichen Gesprächs. Diese "subjektive" und nichtsdestoweniger formale Seite der Objektivität ist nicht weniger entscheidend als die Seite der Gegenstände. Die logische Form ist selbst intersubjektiv. Zwischen Wahrheit und Überzeugung läuft eine verschwommene Grenze. Beide betreffen dieselbe Sache, gehören aber in verschiedenen Register. "Überhaupt ist das wahr, was für jeder Mann gilt, und was nur eine Privatgültigkeit hat ist nur ein Schein.,,46

Diese Behauptung gilt ihrerseits allein und nur unter der Bedingung eines festen Gegenstandsbezugs. Der klassische Kant verlegt oder sublimiert die Subjektivität in die reine Form der Anschauung und sichert die "Objektivität" derselben durch die Gegenstände. Diese Lösung scheint ihm nicht volle Zufriedenheitgegeben zu haben und wurde ergänzt durch die Wiedereinführung der Stufen des Fürwahrhaltens in der Methodenlehre in der KR und durch wiederholte phänomenologische Überlegungen. Die reine Form der Perspektivität, der Kreis aller Horizonte, birgt anderseits die Gefahr der Täuschungen in sich, welche aufgrund der Endlichkeit der Menschen zur "Wirklichkeit" werden können. Die Maler des Barocks haben diese Effekte (trompe-l'oei!) bewußt benutzt und durch perspektivische Winkelfunktionen den Raum vertieft und 45 Logik Busolt, 41, 35 - 42,2. 46 Logik Busölt, 42, 10 - 11.

5. Die partiellen Wahrheiten

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bereichert. Auch die Phänomenologie Lamberts gründet in seiner frühen Beschäftigung als Mathematiker mit dem freien perspektivischen Zeichnen. Wie Nichtsachverhalte zu Sachverhalten werden und sogar die Wahrnehmung beeinflussen können, ist für die philosophische Analyse von Belang, denn sie· stellt die Konstituierung der Gegenstände und damit die Objektivität selbst in Frage. Die Kantsche Antwort ist eine Theorie der Scheinbarkeit als Wahrheitsähnlichkeit (verisimilitudo), und das Überdenken der induktiven Schlüsse der Urteilskraft. Seine Untersuchungen werden die praktische Unmöglichkeit zeigen, den Schein allein subjektiv zu begründen, wie die Kantsche Urteilslehre zugunsten der Objektivität ursprünglich fordert. Die kritische (Kopernikanische) Wendung bedeutet die Umstellung aller Perspektiven oder die Einführung eines neuen Standpunktes. Sie geschieht analogisch (nach dem hypothetischen physikalischen Modell). Die transzendentale Deduktion wird niemals deduktiv werden können und wird vielmehr von Rechtsmitteln Gebrauch machen. Was man an phänomenologischer Aufweisbarkeit gewinnt, verliert man an rein deduktiver Beweisbarkeit. Die transzendentale Deduktion räumt auf diese Weise implizit ein neues Recht der Argumentation ein. Nicht von ungefähr übernimmt Kant Ciceros juristische Auffassung der Deduktion (Topik) und unterscheidet zwischen Rechtsfrage und Gegenstand des Streites. Die aus einer panlogistischen Perspektive erwünschte Identität wird damit gebrochen. Der Gegenstand läßt sich nicht in der Rechtsfrage einfach lösen. Das Glauben an Empirie ist stark und konstitutiv, aber durch die Endlichkeit des Menschen ebensosehr eingeschränkt. Das Glauben kann Erkenntnisakte rechtfertigen, aber nicht vollziehen oder gar ersetzen. Die Empirie braucht Formen, um glaubhaft aufzutreten. Die Perspektiven ergänzen die Formen, wo solche nicht vollständig gegeben werden können. Der für alle Perspektiven geltende transzendentale Gegenstand residiert in einem logischem Raum und ist perspektivlos. Er liefert nicht den letzte Grund aller Erscheinungen, jedoch den Grund der objektiven Anerkennung der Erscheinungen als Erscheinungen. Der transzendentale Gegenstand entsteht aus Kants panlogistischem Glauben, aber beleuchtet nur ein Teil der Welt.

IV. Meinen, Glauben, WissenRadikalität und Schlußunfähigkeit des Meinens 1. Das Meinen und die kritische Methode Die vorläufigen Urteile sind insgesamt eine Weise des Meinens - ein elaboriertes, reflektiertes, und bewußt intendiertes Meinen. Um vorläufige Urteile zu verstehen, muß man das Meinen in Kantschen Kontexten näher untersuchen. ,,Das Meinen oder das Fürwahrhalten aus einem Erkenntnisgrunde, der weder subjektiv noch objektiv hinreichend ist, kann als ein vorläufiges Urteilen (sub conditione suspensiva ad interim) angesehen werden, dessen man nicht leicht entbehren kann. Man muß erst meinen, ehe man annimmt und behauptet, sich dabei aber auch hüten, eine Meinung für etwas mehr als bloße Meinung zu halten. "I

Ohne Meinen können wir nicht reden, also unsere alltäglichen Eindrücke und Gedanken mitteilen. Das Sprechen ist fast immer ergänzungsbedürftig und schließt eine dialogische Struktur ein. Meinungen sind so zu sagen eine wesentliche Bedingung der Normalsprache, welche fast immer von einem öffentlichen Raum abhängt. Das nur anscheinend in kritisch-theoretischer Perspektive abgewertete Meinen ermöglicht eine geeignete und noch zu erwartende Analyse der Rechts- und politischen Philosophie Kants. Wenn die Gesetzgebung und die allgemeine Verfassung auf Einsichten und sicheres Wissen gründen, so bleiben die Moralität und das praktische politische Leben auf die öffentliche Meinung angewiesen. Diese bewegende Grenze verrät manchmal Besonderheiten des Kritizismus. Zwischen dem Rahmen der Einsichtigkeit und dem Ausdruck der jeweiligen Entscheidungen in concreto ist sofortige Stimmigkeit nur als Ausnahmefall zu erwarten. Im folgenden wird das Verhältnis des Meinens zur wissenschaftlichen Sprache betrachtet. Im Meinen wurzeln alle unseren reifen Behauptungen. Durchs Meinen wird die weiteste Sphäre des überhaupt Beurteilbaren umschrieben und umformt, denn Meinungen vollziehen Erkenntnisakte, sie sind Urteile auf Widerruf. Sie können - aber müssen nicht - zurückgenommen werden. Eine durchaus begründete Behauptung ist mit einer Meinung syntaktisch völlig identisch. Dies führt am meisten zu einer ungenauen Ausdrucksweise. Das Meinen ist eigentlich kein reines Fürwahrhalten, sondern ein Aussagen aufgrund eines Fürwahrhaltens, welches mindestens auf einem Erkenntnisgrund und der persönlichen Einstellung zu diesem 1 Compendium Jäsche,

66, 32 - 37.

1. Das Meinen und die kritische Methode

91

Erkenntnisgrund beruht. Die Kantsche Denkweise ist aber immer zweigleisig. Neben der Berücksichtigung der epistemischen Dimension der vorläufigen Urteile besteht er darauf, daß diese "Urteile" auch reine propositionale Einstellungen sein können. Die kritische epoche ist ein satzfreies Urteil. Sie leitet die Transzendentalphilosophie ein, bildet aber keinen konstitutiven Teil derselben. ,,Der erste Grad des Fürwahrhaltens ist - annehmen. Hier ist ein Schein und einige Gründe, aus denen man ein und das andre erklären darf. Man könnte dieses Annehmen ein vorläufiges Urtheil nennen. In der reinen Philosophie kann man nicht annehmen.,a

Die propositionalen Einstellungen erfüllen eine Lücke und überbrücken den Schein. Sie sind unvermeidlich in Anfangssituationen. Thre Berührung mit Gründen läßt manche Alternative offen. Die strukturelle Heterogenität der Meinungen wird zu einem Leitmotiv in den Logik-Vorlesungen. Erkenntnisgründe sind im Sinne Kants nicht rätselhaft, sondern Merkmale der Dinge und somit prinzipiell Begriffe. Können Begriffe ohne proposionale Einstellungen bestehen, selbst wenn man von ihrem Inhalt abstrahiert hat? Wie korrespondieren Gründe. die sich logisch definieren, und futentionalität? Das Meinen ist die erste Bedingung des logischen Pluralismus, aber nicht die letzte. Eine feste Behauptung kann ebenso sehr pluralistisch sein, jedoch ihr Entstehen hängt immerhin vom Meinen ab. Meinungen brauchen Augenmaß, denn sie sind letztendlich Behauptungen, die allein über unzureichende Gründe verfügen, und können Wahrheiten nicht ,,ausmachen". Sie sind sozusagen schlußunfabig. Nach Kant ist aber die Vernunft das Vermögen zu schließen. Das heißt jedoch lange noch nicht, daß· die Vernunft keine Meinungen bräuchte, denn der weitgehend hypothetische Gebrauch der Vernunft gründet in Annahmen. Während er an seiner Theorie modelliert, wiederholt Kant, daß es in der reinen transzendentalen und praktischen Philosophie nicht erlaubt sei, irgend etwas nur zu meinen. Allein Wissen und Glauben (Postulate) haben ein Hausrecht. Die diskursive Erkenntnis kann nicht ihre Begriffe apriori konstruieren und muß sich einer strengeren Beweisführung unterziehen, die dann zu apodiktischen Sätzen führt. Hier gilt lediglich die ideale Vorstellung einer unlösbaren Verbindung zwischen Notwendigkeit und Allgemeinheit. Zwischen Wissen und Nichtwissen gibt es erkenntnistheoretisch kein modales Verhältnis. ,,In Urtheilen aus reiner Vernunft ist es gar nicht erlaubt. zu meinen. Denn weil sie

nicht auf Erfahrungsgründe gestützt werden, sondern alles apriori erkannt werden soll, wo alles nothwendig ist, so erfordert das Princip der Verknüpfung Allgemeinheit und Nothwendigkeit, mithin völlige Gewißheit. widrigenfalls gar keine Leitung auf Wahrheit angetroffen wird. Daher ist es ungereimt. in der reinen Mathematik zu meinen; man muß wissen, oder sich allen Urtheilens enthalten.,,3

2 Logik

3

Bauch, 551 - 554. KR, B 850, 29 - 851,38.

92

IV. Meinen, Glauben, Wissen

Das moralische Handeln braucht seinerseits eine feste Grundlage, um überhaupt möglich zu sein. Die praktischen Säzte (nach Wolff "Übungssätze") der Ethik sind notwendig und - kaum zu übersehen - subjektiv allgemein. Es ist der einzige Fall, wo die Subjektivität der Allgemeinheit nicht widerspricht. Die moralischen Sätze können der individuellen Zustimmung nicht entbehren, um allgemein und notwendig zu wirken. Der Anerkennung theoretischer Sätze als wahr entspricht in der Moral die Notwendigkeit der Handlung. Kant will gleichermaßen vermerken, daß die Notwendigkeit moralischer Sätze eine andere Bedeutung als die Ausnahmelosigkeit theoretisch-physikalischer Gesetze hat. ,,Ich kann nicht sagen: das ist moralisch Gewiß denn dis bezieht sich aufs theoretische, nur ich bin moralisch gewiß, d. h. mein Bewustsein steht mit meiner Pflicht nicht im Widerstreit, ich bin gewiß, daß diese Handlung nicht wider meine Pflicht ist. ,,4

Diese Behauptung steht im Widerspruch mit den Bedingungen der Objektivität, sowie sie in der Transzendentalen Deduktion definiert sind. d. h. nicht die moralischen Gegenstände sollen das letzte Wort haben, sondern die individuellen Entscheidungen über moralische Gegenstände. Die Sphäre des Apriori ist meinungs frei, jedoch nicht die Sphäre der Anwendungen, wo die Notwendigkeit moralischer Handlungen der Reihe empirischer Kontexte begegnet und zu ihrem Weg finden muß. Darauf macht die Methodenlehre der KP aufmerksam. Wenn nicht über die Entscheidung, so werden doch über die Durchführung der Handlung Meinungen, und zwar theoretische gebraucht. Die KR beginnt mit einer Stelle aus der Vorrede (Praefatio) zur Instauratio magna des Baco von Verulam. Das Meinen wird hier nicht dem Wissen, sondern dem Werk (opus) entgegengesetzt. Die Tat und nicht das Wort, die Untersuchungen und Experimente und nicht die logischen Spekulationen des Scholastikers entscheiden über den Fortgang der Wissenschaften. Erwähnt sei, daß im Kantschen Sprachgebrauch zumal in Cartesianischen Zusammenhängen "Gelehrte" Scholastiker meint. Bis auf die Lehre des Apriori, wo sich die Geister endgültig scheiden, findet Kant bei Bacon nennenswerte Anregungen. Sowohl die angeführte Vorrede zum Gesamtwerk als auch die speziellere Vorrede zum Neuen Organon und die darauffolgende Einleitung erläutern den Plan einer bahnbrechenden ,,Erklärung der Natur", die sich als einen Teil der Logik verstehen will. Das deduktive Verfahren des Scholastikers lasse die Natur "entschwinden", allein das Induktive könne zum Wachstum der Wissenschaften wirklich etwas beitragen. Die Induktion halte die sinnliche Wahrnehmung fest, dringe in die Sache ein und fundiere damit ihre Begriffe, während die Deduktion nur mit einer leeren Begrifflichkeit operiere. Das deduktive Verfahren wird zu einer Argumentationslehre eingeschränkt. Die ,,Kopernikanische Wendung" ist in einer gewissen Hinsicht die Kantsche Antwort auf Instauratio magna. Die

4

Logik Bauch RT, 102 A, 851 - 854.

1. Das Meinen und die kritische Methode

93

KR ist allerdings kein neues Organon, sondern programmatisch eine Kriterienlehre (Fundierung synthetischer Erkenntnisse apriori). Das Organon, welches nicht nur aus notwendigen Sätzen besteht, soll nach Kant einer Erweiterung der Wissenschaften dienen. Die Kantsche Aufmerksamkeit auf das Organon in der Tradition Bacons läßt die Topik, welche der Kriterienlehre folgen soll, außer Acht. Die äußerst formale transzendentale Topik bezieht sich kaum auf problematische Urteile. Das Meinen wird nicht mehr dem Werk (oder Tatsachen) entgegengesetzt, sondern als epistemischer Ausdruck dem apodiktischen Wissen. Die Notwendigkeit impliziert das Ausschließen des Führwahrhaltens. Das Organon hat im Kantschen Werk keinen eigenständigen Platz. Die Logik der vorläufigen Urteile sollte zu einem Organon sui generis werden. Kant geht es hauptsächlich um die Verflechtung induktiver und deduktiver Momente. Er gibt in der KR das Beispiel einer "transzendentalen Deduktion", die sich auf formale, jedoch phänomenologisch nachweisbare Elemente des Denkens stützt. Baco von Verulam und Kant stiinmen darin überein, daß die wissenschaftliche Erkenntnis keine Erkenntnis des primär Erkennbaren sein kann, wie eine lange metaphysische Tradition Platonischer und Aristotelischer Prägung lehrte. Selbst Descartes bleibt in diesem Sinne ein Metaphysiker. Wie alle Mathematiker, die mit Idealgegenständen umgehen, neigt er zu einer Platonischen Einstellung. In der vierten Meditation ist die "vortreffliche Erkenntnis" (la connaissance excellente) eine ,,Erkenntnis des Intelligiblen" (connaissance des intelligibles). Später definiert Baumgarten die Wissenschaft und die Philosophie als eine sichere Erkenntnis aus sicheren Prämissen ("Cognitio ex certis certa"s), ein Sondergebiet voller Klarheit und Rationalität, wo allein Vernunftschlüsse regieren. Für das weitere Gebiet des Unbekannten - darunter die Empirie - wo die Gewißheit der Prämissen nicht gegeben wird, ist allein die Erfindungskunst zuständig (,Jncognita cognoscere est invenire,,).6. Zwischen De mundi sensibilis atque intellegibilis forma et principiis und der KR vollzieht sich eine Umwandlung. Der Weg des Erkennens führt nicht mehr vom Licht zum Licht, vom Sicheren und Klaren zum Sicheren und Klaren, sondern vielmehr von Dunkelheit zum Licht. Der Weg des Erkennens impliziert Grade der Gewißheit und Stufen des Fürwahrhaltens. Hier liegt aber nur eine Richtung der Kantsehen Entwicklung. Die andere Richtung bedeutet genau die Umkehrung der ersten durch die Ausarbeitung einer Kriterienlehre und die Feststellung von sicheren Regeln zur Entschlüsselung der Empirie. Damit entsteht das kritische Problem der Anwendungen, sonst in den Kompendien seiner Zeit nur ein Anhang der deduktiven Systeme. Das induktive Verfahren beginnt mit der Registrierung von Fällen und kennt prinzipiell keine vorgegebene Regel. Diese beiden entgegengesetzten Richtungen kreuzen sich ständig im Kritizismus. Es

Baumgarten, A. G., Logica acroasis, Prolegomena philosophica, 1. Baumgarten, A. G., Loggia acroasis Heuristica apriori, 102. Kant bestreitet die Möglichkeit einer Heuristik apriori. 5

6

94

IV. Meinen, Glauben, Wissen

gibt im kritischen Sinne eine sichere Erkenntnis des Empirischen. Der Rahmen der Schulmetaphysik wird unwiderruflich gesprengt. Im Unterschied zu Bacon braucht der rationalistisch und cartesianisch geschulte Kant eine Theorie des Apriori. Die praktische Logik Bacons, seine Beiträge zum induktiven Schluß und zur Überwindung der Vorurteile (,,Idolen") spielen nachweislich eine Rolle bei der Konstituierung der Kantschen Logik der vorläufigen Urteile. Die Verlegung des Gewichtspunktes des Denkens auf die Empirie bringt unausbleiblich eine methodologische Aufwertung des Meinens mit sich. Die Demonstrationen bleiben ein Vorrecht der Mathematik, wo Regeln und Schlußsätze kongruieren können. Die unmittelbare Betrachtung der Welt, welche der phänomenologischen Hauptrichtung des Kritizismus entspricht, soll sich mit Probationen zurechtfinden. Unter Probationen versteht Kant nicht die bloße Ausstellung der empirischen Evidenz, die es als solche - kritisch gesehen - nicht geben kann, sondern ein vorläufiges oder experimentelles Verfahren, das sich auf induktive Schlüsse und auch auf mittelbare Elemente stützen muß. ,,Es giebt demnach wenige Demonstrationes. Alle empirische Sätze können nur Probationen haben. Eine ästhetische Probation ist, wenn etwas aqus dem Geschmack und den Leidenschaften überredet. Diese Probationen sind nicht objectiv sondern nur subjectiv. Es sind Überredungen nach Regeln der Erscheinung z. B. die Anständigkeit eines Mannes kann zum Beweise seiner Rechtschaffenheit dienen. Der Demonstriergeist wird durch die Mathematik excolirt. ,,7

Kants Absicht ist zwischen Probationen und Demonstrationen zu vermitteln oder der ersteren auf dem wissenschaftlichen Gebiet die Festhaltigkeit der letzteren zu gewähren. Der Subjektivität der Empfindungen werden die Formen der Anschauungen entgegengesetzt, welche zugleich als Formen des Erscheinens auftreten und damit eine objektivierende Dimension haben. Es gibt übrigens eine vorcartesianische Auffassung der Subjektivität und der Objektivität, die andere Namen trägt und in den Logik-Vorlesungen Kants fortwirkt. Es handelt sich um den Grundunterschied zwischen Gegebenheiten und Aufnahme oder Anerkennung derselben. Eine nicht an die Thematisierung des "ego" gebundene Theorie der Subjektivität und damit des Meinens gab es schon bei Parmenides und läßt sich gleichermaßen in der Modeme feststellen (z.B. Peirce: Reasoning and the logic 0/ things). Die semantische Auslegung der Welt beruht auf der Intersubjektivität der sprachlichen Gemeinschaft und bringt eine losere (nicht gegenstandsgebundene) Auffassung der Objektivität. Kant will in der KR formale und verbindliche Strukturen apriori gewinnen und nimmt entschieden Abschied von der empirischen Auffassung der Objektivität. Seine logisch fundierte ,,Erklärung der Natur" findet ihre erste und entscheidende Erfüllung in der transzendentalen Logik. Das Meinen wird zunächst aufgeschoben aber nicht aufgegeben. Es geht darum, die Grundstrukturen der Gegenstände, worüber man meint, erst festzuhalten. 7 Logik

Philippi, 136, 12 - 19.

2. Epistemische Ausdrücke, Fürwahrhalten, Modalitäten

95

Das Projekt der Logik der vorläufigen Urteile, wie alle nicht bis zum Ende durchgeführten Projekte, läßt viele Fragen unbeantwortet. Soll sie der Verbindlichkeiten apriori vorhergehen, dagegen spricht die von ihr geforderte genauere Kenntnis der Gegenstände, oder soll sie derselben nachgehen, ihre einleitende Bestimmung aufgeben und bloß zu einer Logik der Ergebnisse werden? Oder soll sie zwischen Formen und Anwendungen vermitteln? Gibt es ein Metagebiet der Meinungen wie es ein Metagebiet der Erkenntnisse apriori gibt? Das Meinen wird erst in der Methodenlehre der KR unter dem Titel Vom Meinen, Wissen und Glauben behandelt. Insofern die KR sich selbst gleichsam cartesianisch als "einen Traktat über die Methode"H versteht, ist die Methodenlehre entscheidend für die Fortführung des Systems. Die Methode ist anbahnend und erschließend, impliziert also die Kreativität, welche die oberste Ebene des Meinens umschreibt. Diese privilegierte Stellung der Meinungen mildert keineswegs ihre konstitutive Zerbrechlichkeit, welche sich. in unzureichenden Gründen äußert. Die Meinungen sind aber ein Produkt der Freiheit und können Gründe projizieren oder experimentell ersetzen. Sie begegnen der Tradition der ars inveniendi. Methode heißt deshalb auch diesen Teil der Methode, den man noch nicht hat oder nicht völlig haben kann. Die Äußerungen Kants über die Logik der vorläufigen Urteile lassen sich somit wiederholen. Das Hauptwerk Descartes ist nicht die Methode selbst, sondern, vorsichtig genug, ein Discours sur la Methode und eine unmißverständliche, ja unwiderrufliche Ablehnung jedes Dogmatismus. Grund genug für Kant, später die Formel eines problematischen Idealismus zu erfinden. Mangels Kantscher systematischer Texte über die Kreativität werden wir uns auf die vielfältigen Funktionen der Urteilskraft beziehen und Kants ununterbrochene Aufmerksamkeit auf die ästhetischen Urteile aus einer logischen Perspektive zu erklären versuchen.

2. Epistemische Ausdrücke Stufen und Arten des Fücwahrhaltens, Modalitäten Unter diesem mehrteiligen Titel werden wir das Fürwahrhalten näher untersuchen, welches in der Konstituierung der kritischen Methode eine besondere Rolle spielt. Da es keine Gradeder Wahrheit geben kann, muß es Grade der Feststellung oder Anerkennung der Wahrheit geben. Sie sind nicht nur intentional gefärbt (Überzeugungen), sondern durch stufenartige Erkenntnisakte definierbar. Hinske bemerkt die "zunächst verblüffende", immer zunehmende Häufigkeit des Begriffs Fürwahrhalten in dem kritischen Werk. 9 Eine schlüssige Statistik zeigt, daß in der späteren Zeit mehr das Fürwahrhalten als die Apodiktizität Kants Aufmerksamkeit beansprucht hat. Diese Entwicklung hat einen deutlichen antidogmatischen Zug und statuiert die Stellung der epistemischen Vorrede, B xxn, 14. Hinske, N., Kant-Index, Bd. 14, xvn -

8 KR, 9

xvrn, Abb. 18.

96

N. Meinen, Glauben, Wissen

Ausdrücke im Kritizismus. Der Streit mit dem Dogmatismus läßt sich allein gewinnen, wenn man ihn dann unerläßlich führt. Das Fürwahrhalten ist eine künstliche Bildung, ein Neologismus, und wurde als philosophischer Terminus von Ch. Wolff durchgesetzt. Die Wortbildung ist in der Cartesianischen Tradition ("tenir pour vrai"lO) entstanden. Es gibt mehrere Gründe für die Kantsche Übernahme und Umwandlung des Begriffs. Manche Auseinandersetzung mit Descartes und mit Locke wird nur aus diesem Blickwinkel durchsichtig. 11 Kant brauchte einen Oberbegriff für Meinen, Glauben und Wissen, um sie als Stufen des Erkennens darzustellen, welche dementsprechend mit der Wahrheit auf unterschiedliche Weise in Verbindung stehen. Er ist aber grundSätzlich weder bereit, eine endgültige Offenbarungsinstanz aller Wahrheiten noch Grade des Glaubens anzuerkennen. Die Annahme von Graden des Glaubens würde paradoxerweise die epistemische Bestimmung desselben Ausdrucks in der Reihe des Fürwahrhaltens verstellen. Kant entscheidet sich letztendlich für unterschiedliche Arten des Glaubens, um nicht alle Schattierungen verwischen zu lassen. Alle drei Stufen des Fürwahrhaltens implizieren prinzipiell ein allgemeines Glauben, ohne welches der Ausdruck seinen Sinn verlieren würde. Dieses Glauben ist parallel zu dem jeweiligen Erkenntnisinhalt dieser Stufen . Gedoch nicht ganz unabhängig davon). Schwierigkeiten melden sich erst am Ende der Reihe, denn angesichts der apodiktischen Wahrheiten scheint das Glauben fast überflüssig zu sein. Das allgemeine Glauben ist das Glauben, daß die Sätze wahr sind. Bemerkenswerterweise hat Kant bei seinen Analysen formale Bedeutungen im Blick. Das Glauben als eigenständige Stufe des Erkennens impliziert das allgemeine Glauben an die Wahrheit der Sätze, postuliert aber währenddessen die Vollständigkeit der Gründe ungeachtet ihrer deutlichen theoretischen Unvollständigkeit. Dazu wird ein spezifiziertes Glauben erforderlich. Die epistemische Involvierung im Rahmen des allgemeinen Glaubens bleibt nichtsdestoweniger weiter bestehen und sichert aus Kants Sicht, wenn nicht die durchgehende Einheit, dann doch die Zusammengehörigkeit der drei Stufen. Das Fürwahrhalten bildet die systematische Grundlage der Logik der vorläufigen Urteile. Meinen, Glauben und Wissen sind unterschiedliche Artikulationsweisen oder Konkretisierungen des Ausdruckes "es ist wahr" der alle Urteile begleiten muß. Sollte man sie unabhängig von propositionalen Gehalten oder mit ihnen innig verbunden betrachten? Die Entscheidung fällt nicht leicht. Kant nennt das Meinen ein Fürwahrhalten aus einem unzureichendem Grund. Der Grund gehört zur Konstitution der propositionalen Gehalte und bedingt nur bis zu einem gewissen Punkt das Fürwahrhalten. Es kommt vor, und zwar in dem besonderen Fall der bestimmenden Urteile, daß Kant die propositionalen Gehalte durch das Fürwahrhalten definiert: Bestimmende Urteile sind solche, Descartes, R., Discours de la methode, Ouevres, Paris, 1973, erste Regel. Die neue englische Übersetzung der Logik-Vorlesungen, Kants Lectures of Logic, Cambridge, 1997, zieht deshalb die wortwörtliche Wiedergabe "to hold for true" dem geläufigen ,,Belief' vor. 10

II

2. Epistemische Ausdrücke, Fürwahrhalten, Modalitäten

97

die den Beifall veranlassen. Oder wird nun das Fürwahrhalten ausgeschaltet und der Weg vom Satz zur Zustimmung frei gemacht? Man muß allerdings vermeiden, das Meinen, Glauben und Wissen als zusätzliche Bestimmungen des Ausdruckes "es ist wahr" zu betrachten (ich meine, daß es wahr ist, daß ...). Dafür gibt es keine phänomenologische Rechtfertigung. Der Sinn des Ausdruckes Fürwahrhalten plädiert zugunsten der Hypothese der Kongruenz. Das Meinen, Wissen und Glauben sind wie der Ausdruck "es ist wahr" meistens impliziert und nicht von Urteilen ausgedrückt. Sie fordern nicht unbedingt die Konstruktion von ,,Daß-Sätzen". Sie sind mehr und weniger als die propositionalen Einstellungen. Sie vollziehen mit unterschiedlicher Intensität Erkenntnisakte und profilieren sich unabhängig von ihrer Einbettung in psychologischen Zusammenhängen. Nicht aber so die Wünsche und die Hoffnungen, welche nach einer ausdrücklichen Erwähnung verlangen. Was die indirekte Rede anbetrifft, so bedeutet sie aus der Sicht Kants eine partielle und historische Wahrheit. Das theoretische Glauben geht in diesem Fall nicht unmittelbar auf die propositionalen Gehalte, sondern auf die Glaubwürdigkeit der Zeugen. Wir können aber den Zeugen, so Kant, manchmal mehr Glauben schenken als uns selbst. Die Absonderung epistemischer Ausdrücke von der unübersicht-lichen Liste propositionaler Einstellungen ist, trotz weiter bestehender Gemeinsamkeiten, erforderlich. Dafür spricht unmißverständlich ihre epistemische Qualifizierung. Der Panlogismus Kants ist nun auf die Probe gestellt. Bekanntlich wird Frege das Fürwahrhalten als subjektive Komponente von der logischen Betrachtung der Wahrheit entschieden ausschließen. Weder die Zustimmung noch die Anerkennung der Wahrheit werden zugelassen. Die Wahrheit ist die Referenz der Sätze. Frege will die Reinheit der Bedeutungen und der Region des Wahrseins unantastbar aufrechterhalten. Diese abgesonderte und unabhängige dritte Welt der Gedanken wird von neueren Generationen von Logikern in Frage gestellt. Die Problematik des Fürwahrhaltens gewinnt an Aktualität aus einem pragmatischen Gesichtspunkt. Kant ergänzt die "senkrechte" Aufstellung der Stufen des Fürwahrhaltens durch die "waagerechte" Disposition der partiellen Wahrheiten. Der Fortschrittsgedanke ist aufrechterhalten. Die Eindeutigkeit und die Unverträglichkeit der Wahrheitswerte bilden weiterhin ein strittiges Thema in der Perspektive der Anwendungen, wo die Logik der Erkenntnistheorie unvermeidlich begegnet und ist dann verpflichtet, Eigenschaften einer unbeständigen Wirklichkeit genauer zu berücksichtigen. So entstand die mathematische Theorie der unscharfen Mengen und die entsprechende ,.fuzzy Logik" (L. A. Zadeh). Sie ist eine reagierende, wechselnde oder sich anpassende Logik. Außer ihrer Bedeutung im Bereich der künstlichen Intelligenz, und insbesondere dem der Steuerung operativer Systeme, trifft sie in der Medizin die alte und ehrwürdige Diagnostik, welche auch Aristoteles zu logischen Reflexionen bewegte. Sie ist ein Versuch, die Funktionen der Urteilskraft mit mathematischen Mitteln zu rekonstruieren, und entdeckt auf diese Weise die formalen Strukturen der Beurteilungsakte.

98

IV. Meinen, Glauben, Wissen

Die Stufen des Fürwahrhaltens entsprechen dem Ideal der Aufklärung, indem sie den Fortschritt des Denkens behaupten und illustrieren. Innere Spannungen der kritischen Lehre lassen sich auch auf diesem Gebiet beobachten. System und Aufklärung stimmen nicht immer überein. Es gibt bei Kant zwei unterschiedliche Einordnungen der Stufen des Fürwahrhaltens: die rein erkenntnistheoretische - Meinen, Glauben, Wissen - und die metaphysisch gefärbte Einordnung - Meinen, Wissen, Glauben - . Im merklichen Unterschied zur KR, wo metaphysische Gesichtspunkte berücksichtigt werden, ziehen die meisten Logik-Vorlesungen, unabhängig von ihrem Entstehungsjahr, die erkenntistheoretische Disposition der Termini vor, welche dem Weg von unzureichenden zu zureichenden Gründen Rechenschaft tragen. Folgende Unterscheidung, welche die Verwandtschaft mit den propositionalen Einstellungen bestätigt, wird hinzugefügt: "Wissen und Gauben ist entschieden, Meinen unentschieden. ,,12 Zum Meinen gehört alsdann eine Entscheidungslogik, und zwar eine andere als die des Glaubens als epistemischer Stufe, denn nur theoretische Gesichtspunkte werden bei dem Meinen berücksichtigt. Die unterschiedliche Disposition der Stufen des Erkennens illustriert sowohl das enge Verhältnis als auch die Spannung zwischen Logik und Metaphysik. Die Unbestimmtheit und Zersplitterung des Begriffs des Glaubens in der Moderne hat zu dieser Spannung beigetragen. In der KR wird aus programmatischen Gründen das metaphysische ("doktrinale") Glauben hervorgehoben und diesem eine, wenn schon indirekte, erkenntnistheoretische Dimension zuerkannt. Es gilt, den unendlichen Raum zu erfüllen, innerhalb dessen Meinen zu wenig, Wissen aber zu viel bedeutet. Obwohl die Transzendentale Dialektik zu einer Kritik der reinen Vernunft gehört, haftet sie am historischen Rahmen der Metaphysik Baumgartens. Das Glauben ist als die höchste Stufe des Fürwahrhaltens bewertet, nicht zuletzt, weil es über die transzendentalen Annahmen und damit über die Möglichkeit der Metaphysik entscheidet. Den Stufen des Fürwahrhaltens phänomenologisch und erkenntnistheoretisch gerecht zu werden, ist eine schwierige und zeitraubende Unternehmung. Die Modallogik berücksichtigt nur formale Aspekte, übersieht aber die Leistungen der Vermögen und die vielfaltigen Kontexte des Urteilens. Es sieht vorerst so aus, als blieben wir schon konstitutiv am Meinen haften. Kants Logik- Vorlesungen schlagen nennenswerte Alternativen vor. So gewährt die Logik Philippi dem Meinen überraschend eine mittlere Stellung zwischen Glauben und Wissen. Das Meinen wird somit zu einer Brutstätte sowohl des Wissens als auch des Glaubens. ,,In der Mitte zwischen Wissen und Glauben steht meynen. Es ist ein

unvollständi~es

theoretisches Vorwahrhalten so fern ich mir bewust bin, daß es unzureichend ist." 1

12

13

Reflexion 2450, 18. Logik Philippi, 114,23 - 25.

2. Epistemische Ausdrücke, Fürwahrhalten, Modalitäten

99

Das Meinen, diese "unentschiedene" und stets bewegliche Ebene bildet die Grundlage des Denkens überhaupt. Die Rolle des Glaubens wird währenddessen erkenntnistheoretisch aufgewertet als einer anderen Art vom Wissen. Man schreitet vom Meinen zum Wissen oder zum Glauben fort. Zwischen dem allgemeinen Glauben an die Wahrheit der Sätze und dem speziflzierten Glauben scheint zunächst eine Kommunikation wohl möglich. Das Meinen wird wegen seiner theoretischen Grundeinstellung positiv mit dem Wissen verglichen. Kant erwägt eine gewisse Unabhängigkeit der Stufen und spricht über unterschiedliche Arten des Fürwahrhaltens: ,,Nicht so wohl Grade, als Arten des Fürwahrhaltens,,14 oder Modi. Das Glauben - in Verbindung mit einem Zweck - kann wie das Wissen ,,zureichende" Gründe vorweisen. Die Gründe des Glaubens sind nicht "unvollständiger" als die Gründe des Wissens, sondern einfach anderer Art. Das Glauben ist keine Ergänzung des Meinens, welches sich ausschließlich theoretisch definieren will. Die Dimension der Zweckursache, soweit sie die Zwecke der Menschheit umschreibt, ersetzt im Kritizismus den fehlenden Begriff einer praktischen Wahrheit und verdeutlicht Kants Zweifel an die Konstituierung einer praktischen Logik. ,,zwischen Glauben und Meinen ist der Unterschied nicht completudinis. Der Glaube hat praktische, das Wissen theoretische Completudinem. ,,15

Die mit der Problematik des Fürwahrhaltens verbundenen Schwierigkeiten lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Es gibt keine eindeutige und normative sprachliche Darstellung der drei Formen des Fürwahrhaltens. Die gemeinten Unterschiede können selbst einer anstrengenden Analyse entgehen. In den drei Fällen bleiben die Urteile vielmehr in Form und Inhalt gleich. In einer ähnlichen Lage befmdet sich der Ausdruck "es ist wahr". ,,Durch diese Ausmachung der Wahrheit wird wircldich keine neue Erkenntniß zu derselben hinzugethan, sondern es geschieht nichts anders, als daß alle andere Menschen darüber zu utheilen aufhören und derselben beypflichten. ,,16

Die Anerkennung der Wahrheit ist zwar nur eine Bedingung aposteriori der Wahrheit, jedoch als unzertrennlich von dieser betrachtet. In dem angeführten Beispiel geht es um historische Erkenntnisse und nämlich um die Kundgebung derselben. Es wird stipuliert, daß die Wahrheit eine von Kontexten unabhängige Geltung hat, jedoch sich erst in jeweiligen Kontexten meldet. Das Ergebnis der öffentlichen Erwägung sind Sätze und dementsprechend aufgehobene Urteile. Die Sätze sind aber wiederum durch propositionale Einstellungen (,,Beypflicht") definiert und damit von Urteilsakten nicht völlig befreit. Eine ähnliche Ambivalenz betrifft die epistemischen Ausdrücke. Die Alltagssprache bietet zwar die Möglichkeit, sich mit einem Zusatzurteil je zu helfen, bewahrt

Reflexion 2459, 2. Logik Philippi, 115,36 - 38. 16 Logik Blomberg, 681, 3 - 9. 14

15

100

IV. Meinen, Glauben, Wissen

aber nicht vor der Verwechslung der subjektiven und objektiven Ebene. Die Thematisierung des Meinens, Wissens und Glaubens muß ein Wissen über diese Stufen vermitteln und infolgedessen sich auf einer metasprachlichen Ebene bewegen. Ist ein Wissen über das Wissen, das auf einer Identität beruht, dem Wissen über dem Glauben gleichzustellen oder wird eine zusätzliche Reihe von Urteilen benötigt? Damit wird die Thematisierung des Fürwahrhaltens aber allmählich von der Objektsprache losgelöst und die eigentlichen Wurzeln der Problematik werden verdeckt. Es gibt bei Kant verschiedene Weisen zwischen Meinen, Wissen und Glauben zu unterscheiden oder ihre Ähnlichkeit hervorzuheben. Kein endgültiger Standpunkt der Forschung kann festgestellt werden. Die Logik- Vorlesungen ergänzen sinnvoll die ,,klassischen" Ausführungen aus der Methodenlehre der KR und führen nicht selten feinere Unterschiede oder nützliche Kontraste ein. ,,Hier ist nicht die Rede von der Wahrheit, sondern vom Fürwahrhalten [objektiv sind alle Sätze gewiß wahr oder gewiß falsch].. Dies ist das Urteil in Beziehung auf das Subjekt. Wir wollen dabei nicht eben die Grunde der Wahrheit, sondern nur die des Fürwahrhaltens wissen. Die Stufen sind: 1. meinen 2. glauben 3. wissen. Man kann diese drei Begriffe die Modalitäten des sensus veri et falsi nennen.,,17

Zunächst in der in den Klammern gesetzten Anmerkung spricht Kant deutlich über "wahre Sätze" und versucht, die Gewißheit von der Subjektivität abzulösen und sie in die gleiche Reihe, wenigstens als Adjektiv, mit der Objektivität zu stellen. Dagegen wird das Fürwahrhalten als subjektive Leistung dargestellt: Die Gründe der Wahrheit sind eben nicht die Gründe des Fürwahrhaltens. Trotz subjektiver Kriterien wird das Wissen als letzte Stufe des Fürwahrhaltens weiter beibehalten, und nicht als objektive Leistung betrachtet. Das geforderte Wissen über die Gründe des Fürwahrhaltens könnte sich in diesem Kontext eigentlich nur als Metawissen konstituieren. Anscheinend wird derselbe Sachverhalt aus zwei Perspektiven gleichzeitig betrachtet. Eigenartig und vorsichtig genug klingt der Schlußsatz: ,,Man kann diese drei Begriffe die Modalitäten des sensus veri und falsi nennen." Am Anfang seines Logikkompendiums erwähnt Baumgarten stichwortartig die geläufigen Definitionen der Logik - darunter sensus veri et falsi. 18 Der Ausdruck steht also für die Logik schlechthin, und insofern auch für die transzendentale Logik Kants. Im engeren Sinne sichert der Sinn des Wahren und des Falschen den Übergang zwischen der allgemeinen Theorie der Urteile (de judiciis) und der Theorie der Anwendung der Urteile (dijudicatio) und fundiert dann die ausübende oder praktische Logik. Aus Kantscher Sicht wird eine Logik erst durch die Urteilskraft funktionsfähig, die über die Stufen des Führwahrhaltens im Einzelfall verfugt. 19 Sie muß vorher die Verbindungen zur Empirie genauer überprüfen und über den Fall oder den

17 Logik Dohna-Wundlacken, 46, 36 - 47, 5. 18 Baumgarten, AG., Logica acroasis, Prolegomena Logices, 9. 19 Reflexion 2474, 19 - 21.

2. Epistemische Ausdrücke, Fürwahrhalten, Modalitäten

101

Unfall der Empirie entscheiden. Bekanntlich "tragen [die Modalitäten] nichts zum Inhalte der Urteile ... bei.'.20 Im Rahmen der Objektivität, d.h. in der Analytik des reinen Verstandes haben sie jedoch eine schwerwiegende Folge und bestimmen "den Wert des Kopula". Das heißt aber nichts anderes, als daß sie "den Wert" der Wahrheit mitbestimmen. Erst als Kategorien werden die Modalitäten verständlich und der Bezug vom Subjekt zum Gegenstand (Empirie) ergründet. Die Urteile nach der Modalität sind insgesamt objektiv. Sie fungieren eigentlich als Sätze. Dies setzt aber ein apodiktisches Wissen über die problematischen Urteile voraus. Nur die letzte Stufe des Fürwahrhaltens kann jedoch diese Höhe erreichen. Um den kritischen Sinn der Modalitäten offen zu legen, braucht man einen Pespektivenwechsel. Die Kategorien sind nicht einmal Sätze, sondern allein Formen oder Regeln der Urteile. Damit wird aber die Verbindung zwischen logischen Modalitäten und Fürwahrhalten abgebrochen und das Fürwahrhalten auf die Urteilskraft angewiesen. ,,Denn diese Unterscheidung des Fürwahrhaltens nach den so eben genannten drei

modis betrifft nur die Urtheilskraft in Ansehung der subjectiven Kriterien der Subsumtion eines Urtheils unter objective Regeln.'.21

Die Modi werden in der Regel nicht ausgedrückt, sondern sind in ganz normalen Urteilen, auf dieselbe Weise wie der Ausdruck "es ist wahr" mitenthalten (Die Sonne kreist um die Erde). Sie werden aufgrund einer Analyse aufgedeckt, die darauf abzielt, den Wert der Kopula festzustellen oder festzulegen. Die Konstituierung einer Modallogik 1st auf dieser Grundlage nicht möglich. Ausgedrückt werden allein die Regeln der drei Modalitäten. Sie sind wichtig . genug, denn der Urteilende muß sinnvoll vorerst schon wissen, ob er meint, ob er glaubt oder ob er weiß. Die Korrespondenz zwischen den Stufen des Fürwahrhaltens als Modalitäten und den Modalitäten der Sachverhalte selbst verlangt nach einem besonderem Wissen. Das Glauben allein entscheidet kaum über die wirkliche Möglichkeit der Sachen. Die richtige Anwendung der Regeln durch die Urteilskraft hat als Folge die Objektivierung des Fürwahrhaltens. Die Modallogik braucht erst eine Übersetzung dieses Verfahrens, um Schlußfolgerungen über die Lage der Dinge ziehen zu können. ,,Modalität (Bestimmung des Verbindungsbegriffs). Die 3 Bestimmungen der Copula [oder des Verbindungsbegriffs] (vorzüglich für kategorische Urteile) sind: a) problematische Urterile, enthalten die logische Möglichkeit, b). assertorische Urteile, enthalten die logische Wirklichkeit [Wahrheit] c). apodiktische Urteile, enthalten die logische Notwendigkeit.'.22

Die Stufen des Fürwahrhaltens lassen sich nicht völlig in die Dreigliederung der problematischen, assertorischen und apodiktischen Urteile auflösen. Das

20

KR, B 100, 38.

21 Compendium Jäsche, 66, 20 - 23. 22 Logik Dohna-Wundlacken, 103, 11 - 17.

102

IV. Meinen, Glauben, Wissen

Meinen ist bestimmt nicht apodiktisch, aber ist das Glauben nur assertorisch oder doch teilweise apodiktisch? Ersetzt das Glauben nicht die objektive Notwendigkeit? Die Stufen des Fürwahrhaltens gehören in ein anderes Register und ,,korrespondieren" nur mit der logischen Einteilung. Kants Variationen über dieses parallele Bestehen führt in den Logik-Vorlesungen zu keiner verbindlichen Stellungnahme. Das Hauptziel Kantscher Bemühungen scheint, die Befestigung einer Dimension apriori der Modalitäten zu bleiben. "Was die Modalität der Uneile betrifft, so haben die Alten die Einteilung nicht so genau genommen als wir, sondern jeden Verbindungsbegriff nannten sie Modalität. Z. B. die Welt ist notwendiger Weise da. Hier war- bei ihnen das Won: notwendiger Weise, die modalitaet. Aber kann die Logik wohl unheilen, ob ein Ding notwendig sey oder nicht? Nein, denn sie hat nicht mit den Dingen und ihrer Notwendigkeit zu thun. Daher kann sie nur fragen, ob ein Unheil mit Notwendigkeit ausgedrückt sey, oder nicht?,,23

Die logische Analyse unternimmt die Vermittlung zwischen Fürwahrhalten und den Sachen selbst. Sie soll sich aber auf die Analyse der Urteile einschränken. Das Fürwahrhalten überschreitet am meisten diese Grenze, denn das Glauben an die Urteile erweist sich gleichsam als ein Glauben an die Dinge, worüber man urteilt. Der Widerstand des Fürwahrhaltens ist nichts anderes als der Widerstand des (in diesem Falle subjektiven) Kontextes, der nicht im Text aufgehen will. Es bleiben damit zwei Reihen von Urteilen, die zwar dasselbe intendieren, aber unabhängig laufen und nicht gleich ineinander aufgehen. Die Funktionen der Modalitäten strukturieren das Denken selbst. Der Verstand erreicht damit eine ,,logische Verbesserung" und bleibt auf das kategoriale Modell angewiesen. Die allmähliche ,,Einverleibung" (Klärung) der Sachverhalte zeigt den Zweck einer Logik der vorläufigen Urteile. "Weil nun hier alles sich gradweise einverleibt, so daß man zuvor etwas problematisch uneilt, darauf auch wohl es assenorisch als wahr annimmt, endlich als unzertrennlich mit dem Verstande verbunden, dies als notwendig und apodiktisch behauptet, so kann man diese drei Funktionen der Modalität soviel Momente des Denkens überhaupt nennen ...24

,,Problematisch urteilen", "wahr annehmen", "apodiktisch behaupten" sind wohl keine stilistischen Unterschiede und deuten darauf hin, daß das Fürwahrhalten das Denken mitkonstituiert. Die praktische Logik hieße dann nicht nur die Anwendung der theoretischen, sondern trüge selbst zur Konstituierung derselben bei. Die Frage nach dem Gültigkeitsbereich des Apriori soll sinngemäß diese Zusammenhänge in Betracht ziehen und sowohl die Grenzen des Formalen auf der Seite des Subjekts als auch der Empirie berücksichtigen. Der positive Beitrag Kants ist die Darstellung des Meinens, Glaubens und Wissens als epistemische Ausdrücke. Seine Begründung läßt aber das Fürwahrhalten 23 Wiener Logik, 461, 25 - 33. 24 KR, B 101, 7 - 13.

2. Epistemische Ausdrücke, Fürwahrhalten, Modalitäten

103

den propositionalen Einstellungen nicht völlig entkommen, selbst dann nicht, wie im Falle der apodiktischen Sätze, eine Ausschaltung des Fürwahrhaltens beabsichtigt wird. Diese doppelte Perspektive veranlaßt später Quine zu einer Übersetzung der propositionalen Einstellungen inpropositionale Gehalte. Die Stufen des Fürwahrhaltens gehören bei ihm in eine übergreifendere Reihe propositionaler Einstellungen (Zweifel, Vermutung, Erwartungen, Befürchtungen, Wünsche und, wie bei Frege, indirekte Rede). Was diese Einstellungen aus der logischen Perspektive bedeuten, ist ein unvollständiges Wissen oder die modalisierte Erscheinung der Sachverhalte. Der Schritt vom Fürwahrhalten zu den Modalitäten der Sachverhalte wird vollzogen und erlaubt anhand von Operatoren die Aufnahme der Kontexte in die formale Sprache. ,,Hence a fInal alternative that I find as appealing as any is simply to dispense with the objects of the propositional attitudes. We kann continue to formulate the propositional attitudes with the help of the notation of intensional abstraction as in § 35 but just cease to view these notations as singular tenns referring to objects; This means viewing ,Tom believes [Cicero denounced Catiline]' no longer as ofform ,Fab' with a = Tom and b = [Cicero denounced Catiline], but rather as of the form ,Fa' with a = Tom and complex ,F'. The verbe ,believes' here ceases to be a term and becomes part of an operator ,believes that' or ,believes' [ ], which, applied to a sentence, produces a composite absolute general term whereof the sentence counted an immediate constituent. ..25

Bringt aber diese mögliche Übersetzung die von der formalen Sprache geforderte Gewißheit? Das unvollständige Wissen über Sachverhalte ist ebenfalls ein unsicheres. Dieses · Wissen hat eine leicht abzusondernde Bedeutung in kognitiven Kontexten. Zwischen Wünschen und Meinen als epistemische Stufe besteht eine Kluft. Die philosophische Analyse der subjektiven und objektiven Implikationen scheint insofern unersetzbar. Das Kantsche Projekt einer universellen Logik (nach der Vernunft) will das Fürwahrhalten mit einbeziehen. Die kategoriale Durchsichtigkeit des Verstandes bleibt vor der konstitutionellen Undurchsichtigkeit der Kontexte der Welt unbeholfen. Sie kann aber auch nicht allein durch formal-logischen Mitteln die Tür zu einer besseren Welt öffnen. Der ältere Quine entscheidet sich für die Behandlung propositionaler Einstellungen als Prädikate, um die Einheit und die Extensionalität der propositionalen Gehalte - salva veritate, so seine Leibnizsche Ausdrucksweise - zu retten. Die feste Trennungslinie zwischen intensionalen Implikationen oder undurchsichtigen Kontexten und der formal-logischen Struktur der Sätze wird durch die Partikel daß symbolisiert. Er warnt vor einer Verdinglichung oder Substanzialisierung des Glaubens. ,,Even philosophicallicence, however, cannot condone the futher step of identifying beliefs, douts, hopes, expectation and regrets with the sentences believed, doubted,

2S Quine, W. V .0., Word and Object, Cambridge Mass., 216. Für das Problem des Glaubens siehe Quine, W.V.O./ Ullian, J. S., The Web ofbelief, New-York, u. a., 1978.

104

IV. Meinen, Glauben, Wissen

hoped, expected, regretted. Sentences differ, if merely in phrasing or spelling, though bellefs be reckoned identical. We speak of shared bellefs and of sameness of belief where the sentences vary fairly freely. Individuation of bellefs, and therewith reification of bellefs, is a piece with the individuation and reification of meanings, ideas, propreties, and proposition. All these are entia non grata by my lights, and similary for doubts, hopes, expectations,regrets. But believing, doubting, hoping, expecting, regretting, all continue alive and weil. And their objects, by my lights, are sentences.,,26

Quine stellt also fest, daß die propositionalen Einstellungen trotz ihrer Undurchsichtigkeit kaum auszuklammern sind. Im logischen und ontologischen Raum als entia non grata eingestuft bleiben sie weiterhin lebendiger Bestandteil der täglichen Rede. Da das "Objekt" der Einstellungen die Sätze sind, wird auch die Auffassung der Objektivität eine ganz neue Dimension erhalten. Die Betrachtung des Glaubens als zwei- oder mehrstelliges Prädikat bringt kaum mehr Klarheit in intensionalen Kontexten, denn sie verwischt oder bewegt ständig die Grenze zwischen subjektiven und objektiven Dimensionen oder zwischen Relationen und Prädikation. 27 Bei Kant gibt es keine bedeutende Trennungslinie und das Partikel daß findet keine besondere Analyse. Die epistemischen Ausdrücke oder Einstellungen durchdringen die Sätze und brauchen nicht immer eine festgelegte sprachliche Form. Innerhalb der proposionalen Einstellungen bilden sie aber durch ihre erkenntnistheoretische Orientierung eine streng gesonderte Klasse. Die Absicht des Philosophen Kant ist, die Wahrheit so gut wie die Phänomene (oder die Phänomene im Namen der Wahrheit) zu retten.

3. Gewißheit und Fürwahrhalten ,,Bey der gewisheit ist nicht die wahrheit selbst der Sache, die wir erkennen, sondern das Vorwahrhalten derselben nöthig. Je größer die Wahrscheinlichkeit einer Sache ist, desto mehr wird der Verstand genötiget, dieselbe vor wahr zu halten. Diese Nothwendigkeit aber die Sache anzunehmen Liegt nicht in dem Objekte selbst, sonderen in dem Subjekt, weil die Gründe des Gegentheils mit nichten denen Bey kommen, die ich vor die Wahrheit der Sache erkenne.! Diese Subjektive Nothwendigkeit etwas anzunehmen, ist sehr täuschend und wandelbar, weil sie nicht im Objekte gründet. ,,28

In dieser frühen Logik-Vorlesung definiert Kant die Gewißheit als eine Eigenschaft des Fürwahrhaltens. Er bemerkt währenddessen, daß der Verstand durch gesicherte Sachverhalte, welche keine dagegen strebenden Gründe herbeiführen, zur Gewißheit geleitet und noch mehr "genötigt" wird. Indossieren die Sachverhalte die Gewißheit oder das Gegenteil findet statt? Im letzten Fall 26

93.

Quine, W. V .0., Things of the mind. In: From stimulus 10 science, Harvard, 1995,

27 Strawson, P. F., Belief, Reference and Quantification. In: Entity and Identity and other Essays, Oxford, 1997. 28 Logik BIomberg, 781, 2 - 782, 10.

3. Gewißheit und Fürwahrhalten

105

wäre die Gewißheit auf psychologische Zusammenhänge zurückzuführen, eine von Kant offensichtlich unerwünschte Alternative, denn sie trägt kaum Rechenschaft über die mathematischen Wahrheiten und verschleiert die wissenschaftlich fundierte Erweiterung von Erkenntnissen. Im ersten Fall wäre eine deterministische oder bloß mechanistische Schlußfolgerung unvermeidbar und das Fürwahrhalten als epistemisches Verfahren gleich ausgeschlossen. Man begegnet in der Tat auf einer neueren Ebene der Unterscheidung zwischen Urteilen und Sätzen und den problematischen Bedingungen ihrer konsequenten Durchsetzung in philosophischen Kontexten. Die Aporien der Gewißheit in der Moderne entstehen aus der Vermengung zweier unterschiedlicher Quellen - der mathematischen Evidenz und des christlichen Glaubens - die dann ungeachtet von ihren ursprünglichen Zielrichtungen nicht selten auf paradoxe Weise weiterwirken. 29 Selbst die Unterscheidung zwischen Meinen, Glauben und Wissen belegt Spuren der theologischen Auseinandersetzung, welche lange Zeit die philosophische Entwicklung und Fragestellung gekennzeichnete. Paulus wertet das Wissen im Silme der philosophierenden Griechen, d. h. das auf Vernunftgründen beruhende Wissen, zugunsten des neuen Glaubens radikal ab (Wenn ihr wißt und nicht glaubt, dann wißt euch zu wenig ... ). St. Thomas wird sich später auf Aristotelische Quellen berufen, um Glauben und Wissen miteinander zu versöhnen und dem letzteren zu einem neuen Leben zu verhelfen: Das Wissen ist schon eine Art von Glauben, während der Glaube eine Art vom Wissen darstellt. In der Moderne verlegt Descartes endgültig den Standpunkt der Gewißheit auf das Subjekt und läßt jede äußere Stütze derselben fallen. Die empirische Gewißheit verliert an Attraktivität. Das mathematische Modell wird allmählich maßgebend in der philosophischen Argumentation. Die schulmäßige Darstellung dogmatischer Thesen folgt dem mathematischen Vorbild und entdeckt mit Erleichterung und Begeisterung die Demonstration metaphysischer Lehrsätze. Ein neues metaphysisches Glauben setzt sich anscheinend durch. Kants Lehre über die Konstruierbarkeit mathematischer Gegenstände entzieht endgültig den Boden des deduktiven Verfahrens in der Metaphysik. Philosophische Begriffe lassen sich nicht konstruieren. An dem mathematischen Modell der Gewißheit hält er aber weiterhin fest. ,,Es entspringen viele Fehler daher, daß man nicht genugsam kennt was zur volligen Gewißheit erfordert wird; Locke räht daher das Studium der Mathematik sehr dringend an.,JO

Ist Gewißheit ein Verhältnis zum Wissen oder selbst ein Wissen? Äußert der Ausdruck ,,Ich bin sicher" einen Zustand gegenüber Sachverhalte, oder teilt ein Wissen darüber mit? Wenn ich sicher bin, weiß ich es auch? Ist Gewißheit ein Fürwahrhalten oder begleitet mit unterschiedlicher Intensität die Stufen des 29 Heidegger, M., Die Frage nach dem Ding, Gesamtausgabe, Frankfurt.IM., 1962, Bd. 41, 96 - 97. 30 Logik Philippi, 134, 18 - 28.

106

IV. Meinen, Glauben, Wissen

FÜTwahrhaltens? Kant hat Mühe, auf diese Frage eine widerspruchsfreie Antwort zu finden. Die von ihm vorgenommene systematische Spaltung in Subjektivität und Objektivität bildet nun offensichtlich das wesentliche Hindernis für eine einheitliche Auffassung .. Er bringt zunächst in der Logik Blomberg ein philologisches Argument zugunsten der inneren Verbundenheit zwischen Gewißheit und Wissen. ,,Das Wort wißen ist der Ursprung, oder das Stammwort von der gewissheit.,.31

Kein Wissen ohne irgendeine Gewißheit oder keine Gewißheit ohne vorheriges Wissen. Um so mehr Wissen, desto mehr Gewißheit. Diese gegenseitige Beeinflussung bringt aber nicht viel mehr zum Bewußtsein als das alt bekannte Verhältnis der Hypochondrie zur Krankheit: Sie bedingen sich, ohne sich auszuschließen, und lassen sich sogfU' substituieren, denn die Hypochondrie kann selbst zur Krankheit werden. Das Meinen, soweit es über seine unzureichenden Grunde bewußt ist, schließt Gewißheit nicht völlig aus. Dafür plädieren eben die Grunde, die das Meinen rechtfertigen. Zwischen Glauben und Gewißheit besteht ein spannungsreiches Verhältnis. Das Glauben als epistemische Stufe bedeutet sicheres Auftreten trotz theoretischer Ungewißheit. Es ist manchmal eben die Gewißheit über ungewisse Dinge. Der Glaube schlechthin kennt keine Bedingungen und vervielfacht nur die Paradoxien. Tertullian gibt als persönlicher Grund seines Glaubens die Absurdität der Dinge. Sie sind glaubwürdig, weil unglaubwürdig und unglaubwürdig, weil unverständlich und unbegrundbar. Die Gewißheit wäre dann das Ideal des Fürwahrhaltens, jedoch von diesem unterschieden? ,,Es gibt aber in Absicht auf die Gewissheit drey verschiedene Arten, oder Grade des vorwahrhaltens. ,.32

Die Vorstellung von Graden des Glaubens wird hier, trotz Vorbehalt, erwähnt. Die Logik Jäsches geht über diesen Standpunkt hinaus und spricht über ein gewisses und ungewisses FÜTwahrhalten. 33 Die möglichen Verflechtungen der Objektivität und Subjektivität folgen manchmal unvorausehbare Wege. So hat das ungewisse Fürwahrhalten subjektive aber auch objektive Grunde. Das gewisse FÜTwahrhalten geht mit der Notwendigkeit zusammen, während das ungewisse mit der Zufalligkeit zusammengeht. Es gilt also, unterschiedliche Bereiche und Kompetenzen näher zu bringen. Zwischen Modalitäten und Gewißheit zu vermitteln heißt nicht gleich, zwischen Objektivität und Subjektivität zu vermitteln. Man braucht eine elaborierte Analyse. Trotz vorwiegend subjektiver Einwurzelung folgt die Gewißheit äußeren Kriterien und definiert sich nach Gebieten. Es gibt mathematische, rationale, praktische, pragmatische, empirische Gewißheit. Kants Panlogismus kennt seine Tiefen und leidet an dieser

31 LogikBIomberg, 777, 4-5. 32 Logik BIomberg, 451, 34 - 36. 33 CompendiumJäsche, 66, 3 - 10.

3. Gewißheit und Fürwahrhalten

107

Zersplitterung. Die vorläufige Versuchung aber, die Gewißheit doch in letzter Instanz auf die Sinnlichkeit zurückzuführen, wird ohne wesentliche Korrekturen nicht lange standhalten. Sie bleibt nur als Notiz vermerkt: ,,Alle Gewißheit resolviert sich endlich in eine sinnliche. ,,34 Das Glauben verliert ihre Bestimmung, falls es bestätigt wird. Aber ist eine Bestätigung überhaupt möglich? Die Konstituierung der Gegenstände kehrt die Perspektiven um. Die empirische Gewißheit ist letztendlich aus kritischer Sicht sekundär. Es fehlt ihr an Notwendigkeit. Die Sinnen ohne die Formen der Sinnlichkeit und nicht zuletzt ohne Begriffe bleiben dunkel und stumm. Die sinnvolle Gewißheit ist die Gewißheit der Sätze. Die Sinnlichkeit "existiert" nur, insofern sie Gegenstände mitkonstituiert und auf diese Weise einsichtig und "ausgesagt" wird. Die synthetische Alternative will zwischen empirischer und rationaler Evidenz vermitteln, zwischen Augenscheinlichkeit und Einsichtigkeit, und gibt Auskunft über die Zweckmäßigkeit der Formen. Die Evidenz ist allerdings von der Gewißheit unterschieden, sie überzeugt und ,,zwingt" zur Gewißheit. Dieses Verhältnis ist im Falle der Unterredung schwieriger zu klären, es sei denn es gäbe falsche Evidenzen. Zur Behandlung solcher Zusammenhänge wird von Kant der Begriff der Scheinbarkeit (verisimilitudo) eingeführt. Die sinnliche Gewißheit wird zu einem entfernten aber immer der Erinnerung würdigen Element, denn was wäre eine Welt ohne sie, könnte man dann überhaupt sinnvoll über Gewißheit reden? Die sinnliche Evidenz bürgt analogisch für die Möglichkeit der Objektivierung. Empirische und rationale Evidenz sind manchmal verflochten und manchmal streiten gegeneinander. ,,Alle unsere sämtliche Vorstellungen sind dergleichen Phänomena, z.E. bey dem Regen-Bogen scheint es, als wenn sich derselbe auf die Erde stutze; es ist also eine blose Erscheinung, bey nähere Untersuchung sehen wir aber ein, daß diesem nicht also sey.'.35 Man merkt den Unterschied eigentlich nicht bloß mit den Augen, sondern mittels einer ,,Erklärung der Natur", welche erlaubt, die Zusammenhänge der Phänomene einzusehen. Das Sehen der Gegenstände wird durch Prinzipien bedingt und präformiert. Die Evidenz ist hier vorwiegend rational und nur zuletzt empirisch. In der Logik Philippi unterscheidet Kant wieder zwischen Evidenz (,,Augenscheinlichkeit") und Gewißheit und gewährt allein der Gewißheit nach den Regeln des Verstandes einen objektiven Charakter. Seine Ausdrucksweise verrät allerdings das Streben nach einer Synthese der beiden: ,,Die anschauende Gewißheit nach den Regeln des Verstandes ist Evidenz.•.36 Es ist nur verständlich, warum Kant die Gewißheit vom Fürwahrhalten absondern und die Erkenntnisse strenger bestimmen will. In dem Bereich der Reflexion 2460, 15. 35 Logik BIomberg, 446, 24 - 27. 36 Logik Philippi, 129, 17 - 18. 34

108

N. Meinen, Glauben, Wissen

Gewißheit sind die Urteile nicht mehr wandelbar. Die Wahrheit der Sätze ist "ausgemacht" und keinem Einfluß ausgesetzt. Kant definiert am meisten die Gewißheit durch eine zureichende Reihe von subjektiven und objektiven Gründen als eine Bewußtseinstatsache. "Gewißheit ist ein hinreichendes bewuBtseyn der Wahrheit. Es ist also ein Zustand unserer Vernunft. Fürwahrhalten bedeutet den Zustand des Gemüts in so fern es von einer Sache urtheilt. Gewißheit ist objektiv:.37

Die behauptete Objektivität der Gewißheit wird fragwürdig, wenn Kant die Gewißheit als Gefühl auffaßt und eine ästhetische Grundlage derselben postuliert. Die Gewißheit ist dann ein Zustand der Selbsterfüllung oder der Übereinstimmung mit Formen. Eine tiefere Ebene der Objektivität wird angenommen. ,,Denn die Gewißheit kann nicht vermehrt werden; denn sie ist das maximum des Vorwahrhaltens. Die Gewißheit ist ein Gefühl der menschlichen Seele .•.38

Man soll in diesem Zusammenhang nicht vergessen, daß bei Kant die Erkennung und die individuelle Anerkennung der Wahrheit die Ebene der Gefühle (das ursprüngliche Unterscheidungsvermögen) gleichermaßen berührt. In seinen Reflexionen zur Logik wird kurz bemerkt: "objektiv ist kein Unterschied zwischen Wahrheit und Gewißheit,,39 Nicht die Gewißheit ist nun objektiv, sondern die Unmöglichkeit, sie von der Wahrheit zu unterscheiden. Damit sind. die Urteile von Sätzen abgesondert und weggestrichen. In der Methodenlehre der KR wird weniger über die Gewißheit geredet. Statt dessen treten die Überzeugung und Überredung in den Vordergrund. Bei Gebrauch dieser Terminologie gibt es wie in den Logik-Vorlesungen eine Tendenz, die Gewißheit um ihrer Objektivität willen abzusondern und sie parallel zu den Stufen des Fürwahrhaltens zu behandeln. Die stichwortartige Wiedergabe der Gewißheit durch "Überzeugung für jedermann" hätte eine nähere Erläuterung ihrer Verbindlichkeit gebraucht, denn die Intersubjektivität hat einen historischen Charakter. Die Eviidenz wird somit von der Zustimmung (welche allerdings ein äußeres Kriterium der Wahrheit bleibt) der anderen abhängig,. Der Irrtum aller wird prinzipiell nicht ausgeschlossen.

,.In der Mathematik ist die evidenz so groß, daß keiner ihr widerstehen kann, wenn nur den vorgelegten Beweisen folget. Aber sonst kann dieses criterium der Beistimmung andrer nicht ganz entbehrt werden. Denn ob es gleich nicht allein ein criterium ist: so ist es mit ein criterium. ,,40 Dazu kommt, daß es kein objektives, unfehlbares Unterscheidungsmerkmal zwischen Überzeugung und Überredung gibt. Die Gewißheit ist beidenfalls 37 Logik Busolt, 60, 21 - 23. 38 Logik Philippi, 114, 8 - 11. 39 Reflexion 2481. 40 Wiener Logik, 246, 3 - 8.

4. Meinen und Glauben

109

gleich, die Stichhaltichkeit der Gründe aber sehr unterschiedlich. In der Objektivierung spielen deshalb die Mitteilbarkeit und die allgemeine Einsichtigkeit der Gründe eine wichtige Rolle. Objektiv gesehen sollte das objektive Unzureichendsein der Gründe das subjektive Unzureichendsein derselben veranlassen, dies Meinen wäre dann schon ein Wissen. Die Fundierung der Gewißheit letztendlich ins Formale des Denkens braucht als Ergänzung eine Analyse des Fürwahrhaltens. Das stufenartige Verfahren setzt eine Logik der vorläufigen Urteile voraus oder kann kaum vermeiden, eine solche zu erfinden. Es fragt sich, wie sich intellektuelle und affektive Komponenten in einem (objektiven) Urteil zusammenbringen lassen und was ein "Urteil des Gemüts" bedeuten kann. Wie sieht dann der Übergang von der Privatsprache der Gefühle zu einer allgemeinen Sprache aus oder wie ist dann eine wissenschaftliche Sprache überhaupt möglich? Dies setzt die Aufhebung der zwei Reihen von Urteilen und die Offenheit der Gefühle für das Formale oder den Gedanken (Frege) voraus. Die Sätze beanspruchen eine vollständige Kongruenz zwischen propositionalen Einstellungen und propositionalen Gehalten. Dies hieße aber, daß es ein apodiktisches Fürwahrhalten geben kann, wie Kant in einer kurzen Bemerkung festhalten will: "apodiktisches Fürwahrhalten - Satz".41 Die Behauptung widerspricht aber der allgemeinen Auffassung des Fürwarhaltens, welches keine durchgängige Logizierung erlaubt. Die Kontexte des Führwahrhaltens wie die der Intentionalität beharren in ihrer Undurchsichtigkeit. Die ,,Notwendigkeit" des Glaubens trifft niemals genau auf die logische Notwendigkeit. In der KR ist Kant ebenfalls bemüht, eine Verbindung zwischen Notwendigkeit und Führwahrhalten herzustellen. Die somit entzweite Perspektive der Wahrheit läßt aber die Durchführung einer solchen Synthese kaum zu. ,,Die Notwendigkeit des Vorwahrhaltens ist, wenn sie subjektiv ist, Überzeugung, objektiv, Gewißheit.,,42

Die Annäherung der Perspektiven wäre nur vorstellbar, wenn man eine radikale Übersetzung des Objektiven ins Subjektive und umgekehrt annähme. Das Ergebnis würde immerhin eine Annahme bleiben. Ein notwendiges Fürwahrhalten zu denken heißt so gut wie das Fürwahrhalten auszuschließen oder auszuschalten. Das Führwahrhalten ist durch Stufen und Fortschritte (auch Rückfälle) innerlich konstituiert.

4. Meinen - Theoretisches und pragmatisches Glauben Über das metaphysische ("doktrinäre") und das moralisch-praktische Glauben gibt es eine reiche Literatur, welche sich unausbleiblich auf eine bekannte Stelle aus der Vorrede der KR bezieht und diese dann merklich unterschiedlich interpretiert: ,,Ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu 41 Reflexion 2496. 42 Reflexion 2596, 11 - 12.

IV. Meinen, Glauben, Wissen

110

bekommen, ... ,,43 Kant lebt in einer pietistischen Umgebung und ist bemüht, im Geiste der Aufklärung seinen eigenen Standpunkt zu gewinnen. Der Gott der Philosophen, der mitten in eitlen deduktiven Systemen steckt, ist ihm nicht weniger befremdlich als der Gott, welcher den schwärmerischen Ausführungen beiwohnt. Wir werden uns im Rahmen dieser Abhandlung mit dem Glauben im engeren Sinne beschäftigen, das viel bescheidener aussieht, das Wissen nicht aufhebt und grundsätzlich dem Meinen entspricht, welches seinerseits wie alle Erkenntnisakte ein minimales Glauben voraussetzt. Über den Vernunftglauben, welcher vornehmlich nicht zur Erweiterung der Erkenntnisse, sondern zur Selbsterhaltung der Vernunft (ohne welche jedoch keine Erweiterung der Erkenntnisse stattfindet) dient, wird später in Verbindung mit den Schlüssen der Urteilskraft die Rede sein. Wenn man einen flüchtigen Blick auf Kants Reflexionen wirft, bemerkt man gleich seine Bemühungen, um den Ort des theoretischen Glaubens unter Modalitäten und propositionalen Einstellungen zu finden. Manche Verflechtungen und Querverbindungen können nur überraschen. "Glaube - Was ich wünsche, glaube ich gern, wenn ich nur Grund dazu hätte (aber darum nicht leicht, sondern ich suche mich zu überreden, daß ich es auch hoffen könne, welches in praktischer gebotenen Absicht gut ist) - Ist es aber Ptlicht es zu wünschen (denn zu Glauben giebt es keine Pflicht), so habe ich Recht zu Glauben, wenn ich kann.- Kann ich es nicht glauben (z. B. das künftige Leben), so habe ich doch Grund gnug doch zu handeln, als ob ein solches bevorstände. - Also giebt es einen in praktischer Hinsicht hinreichenden Grund zu glauben, wenn gleich der theoretische für mich unzureichend ist, und, was den letzteren betrifft, so mag ich immer zweifeln. ,,44

Zweifeln allein löst aber bekanntlich keine Probleme und erst recht nicht Probleme des Glaubens. Unabhängig von dem praktischen (moralisch und metaphysisch begründeten) Handeln durch Freiheit gibt es ein pragmatisches Handeln. Pragmatisch handelt auch der Theoretiker, wenn er Forschungen unternimmt. Auch er muß Entscheidungen treffen und an den Erfolg seiner Handlungen glauben. Sein Glauben ist allerdings nicht praktisch im kritischen Sinne, sondern durchaus theoretisch, gemäß der Ziele und Gegenstände seiner Forschung. Nach einem neuen Theorem oder gar Prinzipien apriori zu suchen, ist von der Suche nach empirischen Gegenständen unterschiedlich. Die Art der Begegnung und die Gewißheit dieser Begegnung nehmen andere Merkmale in Kauf und profilieren sich auf eine andere Weise. Die Kantsche Grundorientierung nach empirischen Gegenständen läßt wenig Raum für die semantische Annahme abstrakter Gegenstände. Das kritisch fundierte theoretische Glauben ist jedoch dem modernen Glauben sehr nah und ein wichtiges Argument gegen die skeptische Versuchung. Kant behauptet nun, daß ein begrenztes (vorläufiges) Wissen immerhin ein Wissen (unter Vorbehalt) darstellt. Mit anderen Worten, er behandelt das Wissen in der Perspektive des jeweiligen Standes der 43 44

KR, B XXX, 11 - 12. Reflexion 2503.

4. Meinen und Glauben

111

Dinge. Welches Wissen ist aber in diesem Sinne nicht auf die eine oder andere Weise begrenzt und kann sich völlig unabhängig von wissenschaftlichen Kontexten konstituieren? Der Stand der Dinge ist epistemisch definiert und wenigstens so wichtig wie der subjektive Standpunkt des Philosophen. Das mannigfaltige perspektivische Denken ist letztendlich die jeweilige Widerspiegelung des erreichten Standes der Dinge. "Wir meynen vor der Untersuchung. Wir glauben nach dem, was wir jetzt wissen, mit dem Vorbehalt bey künftig verändertem oder vermehrtem Erkenntnis anderes zu urteilen...45

Ein solches Zugeständnis öffnet allerdings das Tor zu einer problematischen Relativierung der Erkenntnisse. Daraus entsteht die Notwendigkeit formaler Grundsätze apriori, welche den Weg solcher Forschungen beleuchten, aber nicht mitentscheiden. Die denkende Brücke zwischen diesen zwei Arten von Wissen wird durch eine Reihe von kritischen Überlegungen illustriert. In welchem Sinne kann man in entdeckenden Zusammenhängen von Anwendungen sprechen, wo erst die Regeln erfunden werden inüssen?Brauchen die bekannten Regeln Erweiterungen? Ihre bloße Anwendung ist jederzeit vorbestimmt und zu eng für die Mannigfaltigkeit der Fälle in concreto. Um dem Skeptizismus nicht in den Arm zu fallen, braucht das Wissen anscheinend auch eine praktische Selbstrechtfertigung und Fundierung. Wir werden zwei neuere Stellungnahmen zu dieser Problematik erwähnen, deren Ursprung in dem logischen Positivismus liegt. Popper entscheidet sich in seiner Logik der Forschung für eine Aufwertung des begrenzten Wissens. Er gewährt dem theoretischen Glauben einen epistemischen Wert und unterstützt dadurch Tarskis Theorie der Wahrheit. Man kann über die Grenzen hinweg, eine Fortsetzung des Fallibilismus Peirce aufspüren, welcher seinerseits mit der Kantschen Lehre über das Meinen, Wissen und Glauben in Verbindung steht. Popper will zwischen Rationalität und Glauben (bemerkbar traditionell aufgefaßt) eine Brücke aufbauen und berührt somit die Aporien der Intentionalität. Es gibt ein (intentionales) Glauben an die Rationalität und ein rationales Glauben hinsichtlich der Wahrheit der Sätze. Der Fallibilismus soll die logische Geltung nicht beeinträchtigen. ,,1 do not see any reason why we should not attribute still greater epistemic dignity to

the statement. In the light of all the evidence available to me I believe that is rational to believe that snow is white. The same could be done, of course, with probability statements ...46

Wittgenstein, der zur selben Zeit Vorlesungen über Mathematik in Cambridge hielt, sieht vor allem die philosophischen Rückwirkungen einer solchen Annahme und scheint (wie übrigens Kant) viel weniger geneigt, die Verbin45 46

Reflexion 246311, 18 - 20. Popper. K., Objective Knowledge, Oxford, 1979, 141.

112

IV. Meinen, Glauben, Wissen

dung zwischen Notwendigkeit und Wissen aufzugeben. Der Bezug der Evidenz auf die Zeit, welche eigentlich eine Evidenz auf Zeit bedeutet, beunruhigt ihn offensichtlich am tiefsten. ,,Das Selstsame ist, daß ich in so einem Falle immer sagen möchte (obwohl es falsch ist): Ich weiß das - soweit man so etwas wissen kann. Das ist unrichtig, aber es steckt etwas Richtiges dahinter.,,47

Das "Seltsame" besteht höchstwahrscheinlich darin, daß wir schon immer ohne bewußt zu sein - vorläufig urteilen müssen und erst nachträglich nach einer Rechtfertigung suchen. Die Begründung aposteriori hat aber ihre Schwäche, sie ist allein eine Erklärung. Es gibt also ein Wissen, das sich nicht gleich und endgültig als wahres oder als falsches einstufen läßt. Über logische Wahrheiten auf Zeit zu sprechen ist aber sinnlos. Die von uns unternommene Unterscheidung der Zustimmung und des Fürwahrhaltens kann zur Verdeutlichung dieser Zusammenhänge beitragen. Die Zustimmung als reine logische Operation (Bejahung) ist unabhängig von den Graden des Wissens. Es ist vielmehr entscheidend, daß es um feststellbares Wissen geht, und daß Gründe ausfindig gemacht werden können. Wittgensteins Rigorismus hat eine Identität des Glaubens und des Wissens im Blick und setzt deshalb ein vollständiges Wissen voraus. Wir werden dann sehr selten bejahen können. Diese Forderung wird aber an der gleichen Stelle von Wittgenstein relativiert. Eine durchgängige Gleichung zwischen epistemischen Inhalten und logischer Form kann nicht erfolgen: Die wahrgenommene Wahrheit bleibt in der Schwebe. Manche Stelle aus seinem späteren Werk trägt diese ursprüngliche Konstellation in sich. Trotz unterschiedlicher Gründe gibt es eine Gemeinsamkeit des theoretischen und des pragmatischen Glaubens. Sie lassen sich in den erweiterten Rahmen des "praktischen Schlusses" des Aristoteles einordnen. 48 Die jeweilige Schlußfolgerung ist kein Satz, sondern eine Handlung, welche als solche, wie die Spielzüge auf dem Schachbrett, weder falsch noch wahr sein können. Nur die logische Form ist an sich wahr. Beiden Arten von Glauben steht ein unzureichendes theoretisches Wissen vor. Die deduktive Rekonstruktion des Schlusses ist mit Schwierigkeiten verbunden und weist darauf hin, daß die Deduktion schon immer nach der Vollständigkeit des Wissens verlangt. Der genauere Aristotelische Ausdruck ist nicht "praktischer Schluß", was in der Nachfolge als praktische Logik interpretiert wurde, sondern "Schluß in praktischen Dinge oder Angelegenheiten" und bewahrt damit die formale Reinheit logischer Operationen. Das pragmatische Glauben verfährt nach den Regeln der Klugheit49 , also der Urteilskraft, und beruht deshalb auf induktiven Schlüssen, auf Dispositionen oder auf Gewohnheiten. Es rechnet mit Erwartungen und Projektionen und ermöglicht dem Handelnden eine optimale Entscheidung. Der Grund zum Wittgenstein, L., Schriften, FrankfurtlM., 1978, Bd. 8, Reflexion 623. Aristoteies, Ethica Nicomachea, 144 a. 49 Dohna-Wundlacken, 49, 6 - 8.

47 48

4. Meinen und Glauben

113

Handeln ist also nicht aus Prinzipien deduktiv gewonnen. Dafür reicht das theoretische Wissen nicht aus. Die Handlung ist trotzdem rational. Die kategoriale Gesetzmäßigkeit des Verstandes kann allerdings nicht über die kontingente Zukunft verfügen. Erwartungen sind bestimmt keine Erkenntnisakte. Da die Kontexte weiter unbekannt und undurchsichtig bleiben, sind allein vorläufige Urteile angebracht. ,,Dieser Glaube kann ein ganz vernünftiger Glaube seyn, und ich kann subjektive einen so hinreichenden Grund, etwas für wahr zu halten, haben, daß ich demach meine Erkenntnisentschließung nehmen kann. Z.B. das Säen, Ausschiffen etc. gründet sich darauf. Man glaubt das Kom würde aufgehen, der Ostwind werde auch, und dann der Westwind wehen. Indeß kann man von allen diesen Sachen nicht gewiß seyn, und man hat nur subjektive Gründe des Fürwahrhaltens. ,.so

Der Grund der Erwartungen ist nur eine ,,hypothetische Notwendigkeit". Das pragmatische Glauben ist also bloß ,,zufällig". Der Ausdruck ist wichtig für das Verständnis des Kritizismus. Die Kontingenz umfaßt das riesige. Gebiet der Anwendungen, Kants Hauptanliegen. Das Gebiet erstreckt sich außerhalb der Kriterienlehre. Das Einsehen dieser offenen Region ist allein möglich durch das Zusammenwirken der bestimmenden und der reflektierenden Urteilskraft. Die Regeln erschöpfen nicht die "unendliche" Kontingenz. Das moralisch notwendige Glauben ist von dem pragmatischen Glauben wohl unterschieden, begegnet ihm aber in der Wirklichkeit. Die Hauptaufgabe des Kritizismus ist dann, diese ungleichartigen Ebenen auszugleichen. ,,Der Arzt muß bei einem Kranken, der in Gefahr ist, etwas thun, kennt aber die Krankheit nicht. Er sieht auf die Erscheinungen und urtheilt, weil er nichts Besseres weiß, es sei die Schwindsucht. Sein Glaube ist selbst in seinem eigenen Urtheile bloß zuflillig, ein anderer möchte es vielleicht besser treffen. Ich nenne dergleichen zufälligen Glauben, der aber dem wirklichen Gebrauche der Mittel zu gewissen Handlungen zum Grunde liegt, den pragmatischen Glauben.,.sl

Die Handlung ist moralisch notwendig, die Durchführung der Handlung nur zufällig. Die Endlichkeit des Menschen offenbart sich in dieser doppelten Perspektive. In erster Instanz hat man nur eine richtige Entscheidung, in der zweiten steht man vor der Wahl. Der Determinismus der Kontingenz hat nur eine bedingte Macht über die Freiheit. Jede Wahl beansprucht die Verantwortung des Menschen. Die erste Verantwortung ist jederzeit moralisch. Sie sagt nur, daß man etwas ohne Zögern und unbedingt unternehmen muß. Die Schlußfolgerung ist abermals eine Handlung, die allein unter Bedingungen stattfinden kann, und sich in eine Reihe von wirklichen Ereignissen einordnen muß. Die konkrete Handlung ist notwendig, obwohl nicht im Sinne des formalen Denkens. Man kann sich diese Notwendigkeit hinter allen vorläufigen Urteilen vorstellen und sie insgesamt als besondere Handlungen auffassen. Erst dann wird 50 51

Wiener Logik, 165, 15 - 20. KR, B 852, 28 - 37.

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IV. Meinen, Glauben, Wissen

die Verbindung aposteriori mit der transzendentalen Logik ersichtlich und die unendliche Reihe der Anwendungen durchleuchtet. Die Überzeugung und ihre objektivierte Form, die Gewißheit, sind erkenntnistheoretisch nur als Ergebnis eines Verfahrens verständlich. Apodiktische Sätze entspringen nicht deduktiv aus apodiktischen Prämissen. Der Weg des Erkennens ist ein geduldiges Durchlaufen der Stufen des Fürwahrhaltens. ,,Durch Vorläufige Unheile suchen wir uns zur höheren Überzeugung zu verhelfen, wir urteilen aber schon, ehe wir die Sache näher betrachtet, und erkannt haben. Die Wahrheit trifft man nicht an, ohne sie auf zu suchen, aber selbst ohne sie zu suchen, muß man schon Unheile fällen, von dem jenigen Wege, auf welchem man sie anzutreffen gedenckt. Wir gelangen zur völligen Gewißheit nie anders als vermittelst der Untersuchung, allein vor allen Untersuchung muß noch ein vorläufiges Urteil vorhergehen.,.52

Das vorläufige Urteil ist gegebenenfalls allein eine Meinung, die aber das Denken in Bewegung setzt. Die Radikalität des Meinens offenbart sich in der ganzen Reihe von Urteilen, die einem sicheren Urteil vorhergehen und diesem bis zur Reife beistehen. Das Urteilen ist schon deshalb als Geflecht von Urteilen zu interpretieren. Jedes Urteil ist prinzipell "ungesättigt" und der Untersuchung bedürftig. Selbst wenn es von vornherein ,,stimmt", kann es jedoch im nachhinein als vorläufig erklärt werden. Das Gleiche zu sagen am Anfang und am Ende ist nicht mehr das Gleiche. Das im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehende Urteil modifiziert sich nicht von selbst, sondern im Zusammenspiel von Erscheinungen und Fürwahrhalten (Meinungen). Die Wirklichkeit selbst erscheint während der Untersuchung in der Dimension des Fürwahrhaltens. Es gibt bei Kant ein Verständnis des Meinens, welches subjektive und objektive Momente in demselben Maße, wie der griechische Ausdruck d6xa zusammenbindet. Das Meinen bahnt den Weg zur ,,Zeitlosigkeit" allgemeiner und notwendiger Sätze und es sichert im nachhinein deren problematisches Verhältnis zur Zeitlichkeit und Empirie. Bei der Anwendung der Prinzipien in concreto kann das Versagen nicht ausgeschlossen werden. Deshalb müssen die Meinungen dann und wann ihre materielle Gültigkeit einbüßen. Meinungen sind logisch korrekte Urteile, haben eine eigene logische Form und unterhalten selbst einen Bezug zur Zeitlosigkeit. Mit anderen Worten, sie dürfen selbst als Variablen fungieren. ,,Der Eventus der Sache"s3 entscheidet nicht über die Gültigkeit ihrer Form. Man kann sich die Meinungen als auf- und absteigende Reihen von Urteile vorstellen. Sie wirken wie eine Rückversicherung der apodiktischen Urteile. Ihr unbehindertes Verhältnis zur Zeit zeigt nicht nur die konstitutionelle Schwäche, sondern auch die Flexibilität und vor allem die Aufnahmebereitschaft für neue Gründe. Meinungen können das sehen, wofür die

52 53

Logik BIomberg, 516, 1 - 9. Logik Blomberg, 745, 25.

4. Meinen und Glauben

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Augen des Dogmatismus verschlossen bleiben: Die Logik der Dinge und das Sichzeigen von Gründen. Deshalb gehört das Meinen in die wissenschaftliche und philosophische Methode. ,,Alle und jede Meynungen sind sehr wandelbar. Heute kann man mehr Grunde vor, morgen wider die Meynungen haben, da man denn sogleich seine Meinung ändern, und eine andere oft jeder entgegengesetzten annehmen muß, welches denn auch einem wahren Philosophen in der Tat auch gar nicht nachteiliges seyn kann.'.54 Die radikale Änderung der Meinungen wird hier als Therapie gegen den Dogmatismus und als heuristisches Mittel gelobt, und insofern sie nicht die Grundkonfiguration der Objektivität beeinträchtigt. Es geht um die phänomenale Entdeckung und nicht um die eigentliche Konstitution von Gegenständen. Sonst ist der Seitenwechsel in theoretischen Sachen bekanntlich dem Kritizismus zuwider. Es gibt allerdings zwei innere kritische Komponenten, die diese Stelle frühzeitig kundtut und Aufmerksamkeit verdienen. Der Satz vom Widerspruch ist eine logisch formale, von der Stichhaltigkeit und Eindeutigkeit der Begriffe geforderte Bedingung und gehört nicht zur Logik der Dinge. Man kann der Wirklichkeit nicht widersprechen. Tut man es doch, so widerspricht man sich selbst. Der Satz vom Widerspruch ist eine minimale und zugleich maximale Bedingung, wenn es sich um die Sicherung der inhaltlichen Elemente der Wahrheit handelt. Das Erscheinen der Gegenstände ist widerspruchsfrei. Um dem phänomenologischen Nachvollzug der Konstitution, welche Täuschungsmomente in Kauf nehmen muß, zurecht zu werden, entwickelt Kant eine spezielle Phänomenologie, seine Lehre über die Scheinbarkeit. Die zweite Komponente ist das kritische Verhältnis zum theoretischen Glauben, das so weit wie nur möglich vom eigentlichen Glauben gehalten werden muß, denn die Annahme entgegengesetzter Positionen, würde allein fundamentalistische Züge hervorheben und den Frieden der Argumentation gefährden. Die Aufldärung bleibt ein ständiger Begleiter des Krtizismus. Um seine eigene Reformation der Philosophie durchzuführen, wird Kant von epoche Gebrauch machen. Das Auffinden von Gründen geschieht im Gedankenexperiment oder während der tatsächlichen Untersuchung. Im Kantschen Sinne (OP) kann man wohl allgemeine physikalische Theorien erdichten, aber nicht Gründe, welche einen unmittelbaren Bezug zur Objektivität haben müssen. Sie sind also mehr als Argumentationselemente. Sie konstituieren sogar die nichtgegenständliche Seite der Objektivität. So wird die Kausalität zur Kategorie und hält ihren Einzug in die Logik. Man kann Gründe entdecken, wenn man darüber nachdenkt oder danach forscht. Man provoziert die Natur, ihre Geheimnisse preiszugeben. Zwischen objektiven und formal-subjektiven oder mentalistischen Gründen ist trotz Kantschen Beteurungen die Unterscheidung kaum einzuhalten. Die Gewißheit ist rational oder empirisch. Die letztere stützt sich auf die Erfahrung und kann dann auch durch die Erfahrung widerlegt werden. Man braucht ei-

S4

Logik BIomberg, 746, 34 - 38.

116

N. Meinen, Glauben, Wissen

gentlich eine phänomenologische Darstellung des Formalen, um es selbst als Grund zu verstehen - zumal die empirische Gewißheit auf die rationale angewiesen bleibt. Die Spannung innerhalb der Gewißheit räumt dem Meinen ein weiteres Feld ein. Trotz der Einwände, die dann auch die Bedeutung des Fürwahrhaltens für die Wissenschaft in Frage stellen sollen, schwächen die Meinungen die Urteilskraft nicht. Erst im Meinen wird das richtige Urteilen eingeübt und erprobt. Das Meinen ist eine starke Form der Rationalität. Es zeigt zugleich die Grenzen derselben, wo man der Empirie ein Recht einräumen muß. Darüber läßt sich nicht streiten: ,,Nur von dem was in die Sinne fallt kann der Beyfall nicht versagt werden. ,.55

Das Meinen bedeutet vor allem das volle Bewußtsein, das die Gründe weder subjektiv noch objektiv zureichen. Das Ergebnis entscheidet über die Richtigkeit der vorgenommenen Schritte, aber ohne diese anfänglichen und unsicheren Schritte des Denkens wäre wohl kein Ergebnis möglich. Das Meinen lehrt somit die volle Verantwortung für selbständige Wege, auf denen sich zunächst keine Ergebnisse zeigen, und das bescheidene Auftreten, wenn die Forschung endlich erfolgt. Die apodiktischen Sätze werden sich auf Beweisführungen berufen, obwohl sie höchstwahrscheinlich erst durchs Meinen entstehen. Diesem heuristischen Verfahren wird Kant gerecht, wenn er in der Logik BIomberg über das ,,Erfinden" von Urteilen spricht. Das Meinen kümmert sich um Gründe und erfüllt prospektive Aufgaben der Vernunft. ,,Meinen heißt etwas unvollständig urtheilen, und kommt als denn vor, wenn die Gründe, welche wir haben, etwas vor wahr zu halten unzureichend sind, und nicht das übergewicht gegen das Gegentheil haben, und das ist als denn eine Opinion. In diesen Meinungen aber können! die Gründe, und also auch die Grade des Vorwahrhaltens wachsen und zunehmen. ,.56

Jedes Lehrgebäude, die im 18. Jh. geläufige und schöne Benennung des Systems, steckt am Anfang in einem Gerüst von Meinungen, und jeder verwirklichte philosophische Entwurf versucht sich vom Schatten des Gerüstes zu befreien. Die ideale und vollständige Befreiung von Meinungen wird mit Mitteln der Normalsprache niemals erreicht. Die formale Auffassung der Dinge trägt noch Spuren der Intentionalität. "Von Meinungen fangen wir gröstenteils bei unseren Erkenntnissen an. Bis weilen hat man ein dunkles Vorausahnen, wo wir aber selbst nicht wissen was wir eigentlich denken, obgleich die Sache ein Merkmal der Wahrheit zu haben scheint. Meinen ist ein vorläufiges Uneil und wir können es nicht leicht entbehren, ..." 57

Die apodiktische Gewißheit gilt für die Mathematik und für eine bestimmte Zahl philosophischer Sätze, die selbst die Bedingungen der Erfahrung angeben. Logik Philippi, 136, 11 - 12. Logik Blomberg, 452, 5 - 453, 12. 57 Logik Pölitz, 53, 20 - 24.

55

56

4. Meinen und Glauben

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Es wäre eine unzulässige Einschränkung zu behaupten, daß Kant allein aus apodiktischen Sätzen spricht. Das Meinen hat einen sicheren Platz in dem geplanten System. Die Logikvorlesungen enthalten Erläuterungen und Ergänzungen zu den veröffentlichten Schriften wie auch selbstkritische Bemerkungen. Die Dynamik der Meinungen ist eine wesentliche Bedingung des Fortschritts im Denken. Sie sind offen für Einwände und Gegenargumente, eigen sich die Gesichtspunkte anderer an oder erfinden neue im Laufe der Polemik. Das Glauben hört nicht auf "Gegengründe", das Meinen tut dies, um seine eigenen Gründe zu befestigen oder zu ergänzen. 58 Die heuristische Kompetenz qualifiziert die Meinungen noch nicht als konstitutive Sätze der Wissenschaft. Man kann eine Wissenschaft problematisch abgrenzen, jedoch nicht problematisch konstituieren. Die Meinungen können sich kaum in ein deduktives System einfügen, welches vorwiegend mit Sätzen operiert. Ihre Unentschiedenheit bedeutet eine konstitutionelle Schlußunfähigkeit - allerdings aus der Pen;pektive der objektiven Feststellung, daß die Gründe dafür nicht zureichen. Allein eine Logik der vorläufigen Urteile kann diese Besonderheiten berücksichtigen und die wissenschaftliche Legitimität der einzelnen Schritte bestimmen. Das Meinen bleibt mit dem Wissen unzertrennlich verbunden. "Wenn ich meinen sage, habe ich einen Anspruch auf das Wissen zu machenlBey dem Meinen thue ich immer einen Schritt zum Wissen. Denn es ist ein unzureichender Grund, wozu noch Complemente kommen müße, um es vollkommen zu machen. Ich denke mir hier ein Complementum ad totum ein Ergänzungssruck zum Ganzen. Wenn eine Erkenntnis von der Art ist, daß das Wissen für sie unmöglich ist, so ist es auch das meinen. ,,59 Damit ist das Meinen auch mit den Urteilsakten systematisch eng verbunden. Es umschreibt die äußere Grenze des Beurteilbaren überhaupt. Wo kein Wissen ist, ist auch kein Meinen und umgekehrt: Wo kein Meinen kein Wissen. Die Kantsche epistemisch definierte und problematische Ontologie hängt davon ab. Der Meinende weiß noch nicht, aber er hat eine gute Hoffnung auf Wissen. Er ist sowohl dem Dogmatiker als auch dem Skeptiker überlegen. Er nimmt die Lehre anderer ernst, hat viel Mut und gibt seine Aufgabe nicht auf. Als unbestrittener Erfinder der apodiktischen Sätze hat er seine eigene philosophische Lehrlingszeit hinter sich und braucht eine Logik der vorläufigen Urteile, um seine Dienste weiter zu leisten. Wenn der induktive Schluß versagt, wird er zunächst sinnvolle Verbindungen herstellen. Der Meinende ist ein angeborener, wenn auch nicht immer bewußter, Semantiker. Wie es bei dem Theologen Erasmus von Rotterdam ein Lob des Zweifels gibt, so gibt es bei dem apodiktischen Kant ein heimliches Lob des Meinens. Es ist genau die Schule, wo man lernt, Wahrheiten zu entdecken und dann zu behaupten. Eine "vorläufige Assertion

58 59

Logik Pölitz, 55, 5 -7. Wiener Logik, 159,34 -160, 1.

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IV. Meinen, Glauben, Wissen

ist die Ursache der Meinung.,,6o Der Meinende ist redselig und keineswegs Misologe - bei Kant wie bei Plato eine Sünde gegen die Philosophie selbst. 61 Er nimmt sich der unbequemen Aufgabe an, noch nicht "ausgemachte" Wahrheiten zu behaupten. Er rettet das Wissen vom Schweigen und gibt ihm die Chance der Lebendigkeit. Die Schlußunfahigkeit des Meinens ist letztendlich die tapfere Kunst, vorläufig zu schließen und dann den Sachen selbst das letzte Wort zu geben. Die früher erwähnte zunehmende Häufigkeit des Fürwahrhaltens im Kantschen Sprachgut korrigiert das Bild des Kritizismus. Der apodiktische Kant ist wohl kein Dogmatiker, sondern ein Erfinder von Kriterien, welche ihm erlauben, den Engpaß zwischen Dogmatismus und Skeptizismus möglichst ohne Verluste zu überqueren. Die Stufen des Fürwahrhaltens gehören zu einem inneren kritischen fallibilistischen Trend, der erst später im Werk Peirces zu einer systematischen Gestalt findet. Man kann rückblickend leicht bedauern, daß anders wie bei Locke und in anderen Zusammenhängen bei Kant selbst, die semantische Dimension des Meinens nicht hinterfragt wird, welche zur Findung eines feineren Schlüssel der Intersubjektivität und der Wissenschaftlichkeit hätte führen können. Schon bei Sokrates heißt die einleitende und auch leitende Frage: Was meinen Sie, wenn sie meinen ... ? Die Meinungen sind bedeutungsträchtig und insofern interpretationsbedürftig. Kant besteht auf eine rein formale Auffassung des Meinens und entscheidet den Ausschluß der Meinungen aus den strengen Wissenschaften, der Metaphysik und der Moralphilosophie. Es gibt aber auch auf diesem Gebiet Besonderheiten zu erwähnen, welche auf einen performativen Charakter des Meinens hindeuten. Mitten in Meinungen stehen Urteile und Sätze in nächster Berührung. Eine Meinung, die keinen Keim oder Kern vom Satz enthielte, wäre im eigentlichen Sinne keine Meinung. Kant behauptet nachweislich den legitimen Anspruch der Meinungen, Erkenntnisse zu vermitteln. In diesem Sinne spricht man noch heute von unterschiedlichen wissenschaftlichen Meinungen. Die Sätze sind verborgen oder ausformuliert, die Urteile aber immer einer Angleichung ausgesetzt. Die Urteilskomponente des Meinens erklärt die merkliche Dynamik der Meinungen. Es gibt aber Urteile, die keine Korrektur dulden und welche die Grundstrukturen des Kritizismus legitimieren. Sie regieren in der Transzendentalen Dialektik über die Entstehung metaphysischer Sätze, welche der Meinungen kategorisch Abbruch tun. Sie sind allein von der Endlichkeit des Menschen abgedeckt und haben ursprünglich eine hypothetische Dimension. Zwei Grund-

Reflexion 250 l. ,,Die Ungewisheit einer, oder anderen Sache aber macht den Zweifel gantz möglich, also daß man Gründe zum Gegenteil hat. Oftmals entstehet wircklich daraus, daß man gesehen, und Bemercket hat, die Vemuft seye irrig sehr oft eine Art von VernunftFeindschaft, Misologie, ohnegefehr auf die an, als die Misanthropie Menschen-Feindschaft, welche aus einem Argewohn gegen das Gantze Menschliche Geschlecht, welchen man aus der Bemerckung, wie wenig gerecht die Menschen handeln, Schöpft, entspringt." Logik Blomberg, 683, 26 - 684, 33. 60 61

4. Meinen und Glauben

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züge des Kritizismus erklären diesen Schritt. Die Letztbestimmung der Vernunft ist praktisch zu sein - ohne ihre theoretischen Befugnisse aufzugeben. Die Vernunft ist nicht nur berechtigt, aber auch genötigt (Die Möglichkeit ihrer Existenz setzt das Zusammenhalten von Notwendigkeit und Freiheit voraus), mit unvollständigen Fonnen über höchst fonnale Handlungen zu verfügen. Die Logik-Vorlesungen lassen offen, ob die hypothetischen Urteile je zu Sätzen werden können. Der Satz ist in hypothetischen Zusammenhängen anscheinend die logische Fonn allein. Kann eine solche ohne Urteile fungieren?

V. Konstituierung und Vollzug von Urteilsakten Die Bedeutung der epoche für die kritische Methode 1. Das Bewußtsein und die Urteilsstruktur der BegriffeGrade des Bewußtseins Das Bewußtsein und die logische Fonn der Urteile Bezieht sich das Bewußtsein auf Begriffe oder auf Urteile? Ist es von syntaktischen Strukturen bedingt oder unterscheidet es formale Bedeutungen? Die syntaktischen Strukturen sind auch formal, sofern von Regeln bestimmt, aber in einem weniger ursprünglichen Sinne. Der Verstand ist das Vermögen der Begriffe und der Regeln. Die Begriffe in der Kantschen Auffassung sind, mit Ausnahme der Kategorien, keine endgültig konstituierten Gebilde. In der Begriffsbildung äußert sich letztendlich die Spontaneität des Verstandes. Die mentalistischen Spuren bleiben zunächst verdeckt und sind allein der begrifflichen Äußerungen abzulesen. Die Begriffe sind graduelle und komparative Ergebnisse des Urteilens, die von Klarheit zur Deutlichkeit fortschreiten. Sie sind also ohne vorläufige Urteile nicht zu denken. Ein Blick in die Kantsche Dynamik der Be grifflichkeit wird notwendig. Kant übernimmt die vorwiegend Aristotelische namengebundene und substantielle Auffassung der Begriffe. Dies erschwert die Einsicht in die logischen Strukturen der Sätze. Doch Kant bereichert diese Lehre, indem er seine Urteilslehre miteinbezieht. Der Unterschied zwischen Wörtern und Begriffen besteht in der logischen Einstellung des Betrachters. Die Bedeutung der Wörter geht zur formalen Bedeutung der Begriffe über. Haus als Wort bedeutet dasselbe wie Haus als Begriff. Zum letzteren kommt aber das Bewußtsein des Vollzugs der logischen Funktionen hinzu. Die Wörter haben eine tief verwurzelte leibliche Eigenschaft, während die Begriffe eine Vorliebe für Klarheit und Deutlichkeit. Die Begriffe tragen eine kategoriale Bestimmung mit sich. Wir können wohl den Begriff Haus abstrahieren, aber wir operieren im Denken am meisten mit Urteilen über das Haus. Wir verstehen das Haus aufgrund von Urteilen. Dieser Standpunkt hat wichtige Folgen, denn die Urteile nehmen Bezug auf Kontexte und tragen insofern zur Individualisierung der Begriffe bei. Die Spuren der unauffmdbaren Kantschen Topik führen somit zu seiner Urteilslehre. Trotz der allgemeinen Definition des Verstandes als Vermögen der Begriffe, sind die Vernunft als Vermögen der Schlüsse und nicht zuletzt die Urteilskraft in die Begriffsbildung involviert. Ohne Schlüsse - seien es nur vorläufige - und die darauf folgende Subsumtion von Fällen sind Begriffe überhaupt nicht möglich. Begriffe setzen bei Kant Urteile voraus. Selbst

l. Die Urteilsstruktur der Begriffe

121

die Kategorien beruhen auf Urteilen, d.h. auf denselben Handlungen des Verstandes, die die Einheit der Mannigfaltigkeit vollziehen und in Begriffen die logische Form eines Urteils zustande bringen. 1 Es sind deshalb so viele Kategorien wie logische Funktionen in allen möglichen Urteilen. Dies bedeutet im kritischen Kontext nicht die funktionelle Bestimmung der Formen, sondern die formale Bestimmung der Funktionen. Hier liegt die tiefere Ebene der Beurteilungsakte, von denen selbst die Sätze abhängen, soweit sie auf einer logischen Form beruhen. Die Kantschen Kategorien sind keine Prädikate im klassischen Sinne wie die Aristotelischen. (z. B. Quantität heißt "drei Ellen", Qualität "weiß" usw.). Sie sind damit keine Formen des Seienden, sondern ganz unterschieden davon Formen der Urteile über das Seiende (besondere, kategorische usw.) oder ganz allgemein ,,Denkformen,,2 und begründen erst hierin ihren Totalitätsanspruch. Die Kategorien beteiligen sich aber zugleich an das Geschehen der Welt und mitbestimmen die Ereignisse. Diese erkenntnistheoretische Dynamik bleibt fern von Hegels Vision. ,,Die Vorstellungen, in so fern sie nicht auf ein Objekt bezogen werden, sind nur Predikate zu möglichen Unheilen; beziehen sie sich aber auf ein Objekt, so muß ich eine Form der Unheile ausmitteln, in der ich sie aufs Objekt beziehe. Erkenntniß ist nur empirische Erkenntniß, oder die Beziehung der Vorstellungen auf ein Objekt; sie ist also nur möglich durch Unheile, und zwar ihre Form muß bestimmt seyn. Die Begriffe, die nun in Ansehung jedes Objekts die Form der Unheile bestimmen, sind die reinen Verstandesbegriffe, oder Kategorien, und diese sind als die Grunde der Möglichkeit aller Erfahrung. ,,3

Merklich sind die "Gründe" logische Entitäten. Wir können vom Seienden genau so viel begrifflich aufnehmen und verstehen, wie wir darüber urteilen können. Die Kategorientafel funktioniert dann wie ein Radargerät zur Identifizierung von Gegenständen. Es gibt eine Dimension des Erkennens, wo jede Erscheinung, indem sie erscheint, registriert wird. Die Formen des Raumes und der Zeit bestimmen die Tragweite dieser logischen und "ontologischen" Grundausstattung und begründen den transzendentalen Schematismus. Die Aristotelische ousza konnte nicht als eine Form der Urteile übernommen werden, sofern sie den wesentlichen Teil eines Urteils (das Subjekt) darstellt. Die Spuren der ousza lassen sich nur merken, wo Kant über das "bleibende Ich" spricht, das eigentlichen transzendentale Subjekt. Es wird damit das Substrat der Identität als Bedingung der strukturellen Nichtidentität der Urteile postuliert. Die transzendentalen Prädikate im Sinne Kants prädizieren tatsächlich niemals, sie zeigen lediglich den formalen Rahmen auf, in dem die Urteile sinnvoll fungieren. Sie entstehen und verbleiben allein in Urteilen als unausgesprochene Weisen derselben, also als Formen. Die Urteils struktur der Begriffe - nämlich die Vereinigung verschiedener Vorstellungen oder auch Momente einer Vorstellung in 1 KR,

B 105,30 - 39.

2 Metaphysik 3

Dohna, 106, 13. Metaphysik L 2,23,7 - 16.

122

V. Konstiruierung und Vollzug von Urteilsakten

einem Bewußtsein - wird von Kant mittels die Bedeutung des Begriffes ,,Begriff' illustriert. ,.Das Wort Begriff könnte uns schon von selbst zu dieser Bemerkung Anleirung geben. Denn dieses eine Bewußtsein ist es, was das Mannigfaltige, nach und nach Angeschaute, und dann auch reproduzierte, in eine Vorstellung vereinigt. Dieses Bewußtsein kann oft nur schwach sein, so daß wir es nur in der Wirkung, nicht aber in dem Aktus selbst, d.h. unmittelbar mit der Erzeugung der Vorstellung verknüpfen; aber unerachtet der Unterschiede, muß doch immer ein Bewußtsein angetroffen wer den, wenn ihm gleich die hervorstehende Klarheit mangelt, und ohne dasselbe sind Begriffe und mit ihnen Erkenntnis von Gegenstände ganz unmöglich.,,4

Der Schlüsselbegriff zur Kantschen Urteilslehre ist also das Bewußtsein. Kant achtet auf den Vollzug und das Geschehen der Urteile und weiter auf jenen Teil des Kontextes (transzendentale Apperzeption, Formen der Sinnlichkeit), worauf sich seine Auffassung der Objektivität stützt. Der Kontext gewinnt damit eine formale Bedeutung und läßt sich nicht auf die bloß empirische Ebene einschränken. Die logische Interpretation der Urteile ist in Kants Augen unzureichend. ,,Ich habe mich niemals durch die Erklärung, welche die Logiker von einem Urteil überhaupt geben befriedigen können: es ist, wie sie sagen, die Vorstellung eines Verhältnisses zwischen zwei Begriffe. ,05

Die Begriffe sind auf diese Weise vom Kontext ihrer Konstituierung abgeschnitten. Weder eine Theorie der Wahrheit noch der Objektivität kann sich ohne diese Stützpunkte konsistent behaupten. Die syntaktische Verbindung, worauf sich die klassische Logik bezieht, übersieht die originelle Verbindung im Bewußtsein und die vorausgehende Aussonderung des Beurteilbaren. Die wissenschaftliche Sprache ist bei Kant bewußt und durchsichtig. Sie bleibt eingebettet in der Normalsprache, aber sie besteht nicht aus Wörtern, sondern aus Begriffen. Kant geht über dieses Ziel hinaus. Wir erleben bei ihm eine phänomenologische Wiederentdeckung der Begriffe. Aus Vorstellungen oder früheren Begriffen entstehen durchs Urteilen neue Begriffe. ,,Ein jeder Begriff ist von der Art, daß er verschiedene Vorstellungen in einem Bewußtsein vereinigt, kann man nun wieder verschiedene Begriffe in einem Bewußtsein vereinigen, so ist das ein Urtheil. ,,6

Diese Behauptung läßt sich in unzähligen Formulierungen finden. Sie relativiert und verwischt sogar die traditionellen Grenzen zwischen Begriff, Urteil und Schluß. Diese logischen Strukturen sind gleichursprünglich. Die Begriffe setzen Urteile voraus, welche allerdings vorerst als Schlüsse operieren müssen, denn sie erzeugen die Einheit der Vorstellungen. Urteile sind jedoch ohne BeKR, A 103, 8 - 104, 5. KR, B 140, 23 - 26. 6 Logik Pölitz, 104, 12 - 14.

4

5

1. Die Urteilsstruktur der Begriffe

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griffe nicht denkbar, es sei denn, sie fungieren als reine Urteile - außerhalb der syntaktischen Form. ,,Das Generale, was aller Erkenntnis zum Grunde, ist Vorstellung - ein unerklärbarer Grundbegriff. Erkenntnis ist Beziehung der Vorstellung auf einen Gegenstand - verbunden mit einer actio im Gemüt - Bewußtsein. (Vorstellung von Vorstellung), welches den dunklen Vorstellungen fehlt.,,7

Das Bewußtsein ist vor allem Tätigkeit und genau wie die Begriffe eine Vorstellung von Vorstellung. Die ,,Allgemeinheit" des Bewußtseins hat jedoch eine andere Bedeutung. Sie schließt die Vorstellungen nicht ein, sondern beleuchtet ihre Mannigfaltigkeit, hält sie zusammen und ermöglicht erst die Urteilsakte. Man kann Begriffe nur durch Urteile konstituieren, die die Mannigfaltigkeit der Vorstellungen verbinden. Die Urteilsstruktur der Begriffe erlaubt, die bestimmenden Urteile als definite Deskriptionen aufzufassen. Sie ist sowohl auf mentalistische als auch auf physikalische Zusammenhänge ausgerichtet und erklärt den epistemischen Beitrag der vorläufigen Urteile in der Identifizierung von Einzeldingen. Die bewußte und verbundenen Vorstellungen erscheinen dann als Sprache (Urteile) in dem diskursiven Verstand: ,,Die Vereinigung der Vorstellungen in einem Bewußtsein ist das Urteil.'.8

Der Begriff kann später in einer weiteren Reihe von Urteilen als Vorstellung oder Merkmal fungieren und zur Bildung anderer Begriffe dienen. Ein Begriff wird eigentlich erst zum Begriff, wenn er mit seinen Merkmalen (anderen Begriffen) verglichen wird. Die Begriffe haben bei Kant eine bis dahin noch nicht bekannte Verfügbarkeit. Sie fungieren nicht immer, entsprechend der früher erwähnten aristotelisierenden Tradition, als Substanzen, sondern - dank ihrer Allgemeinheit - als Prädikate. Alle Begriffe sind mögliche Prädikate und stehen potentiell in Verbindung mit anderen Begriffen. Es sieht fast so aus, als wollte Kant die Monaden Leibniz durch eine formal logische Vernetzung der Begriffe ersetzen, die sich zum Bewußtsein in verschiedenen Kombinationen wiederfinden und Erkenntnisakte ermöglichen. Das Bewußtsein ist weder eidetisch noch bloß nominalistisch, sondern als transzendentale Apperzeption formal aufgefaßt. ,,Ein Begriff hat vermöge seiner Gemeingültigkeit die function eines Urteils. Er bezieht sich auf andere Begriffe potentialiter. Die wirkliche Beziehung eines Begriffs auf andere als ein Mittel ihrer Erkenntnis ist das Urteil. ,,