Kant und die Aporetik moderner Subjektivität: Zur Verschränkung historischer und systematischer Momente im Begriff der Selbstbestimmung 9783050057118, 9783050051802

Die äußeren Bedingungen, unter denen gehandelt und gedacht wird, beeinflussen das Denken nicht bloß auf der Ebene der em

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Kant und die Aporetik moderner Subjektivität: Zur Verschränkung historischer und systematischer Momente im Begriff der Selbstbestimmung
 9783050057118, 9783050051802

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Kant und die Aporetik moderner Subjektivität

Michael Städtler

Kant und die Aporetik moderner Subjektivität Zur Verschränkung historischer und systematischer Momente im Begriff der Selbstbestimmung

Akademie Verlag

Gedruckt mit Unterstützung des Exzellenzclusters „Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und der Moderne“ aus Mitteln der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Akademie Verlag GmbH, Berlin 2011 Ein Wissenschaftsverlag der Oldenbourg Gruppe www.akademie-verlag.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Lektorat: Mischka Dammaschke Einbandgestaltung: hauser lacour Satz: Frank Hermenau, Kassel Druck und Bindung: Druckhaus »Thomas Müntzer«, Bad Langensalza Dieses Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. ISBN 978-3-05-005180-2

„Denkst Du noch an eines unserer ersten Gespräche, in denen Du bei Gelegenheit einer von mir wiedergegebenen Theorie zur Ermittlung des Alters der Platonischen Dialoge erklärtest, es komme vielleicht nicht so sehr darauf an, daß die Theorie den Zweck erfülle, dem sie dienen solle, wesentlicher sei vielmehr, daß mit ihrer Hilfe ein Ziel erreicht werde, das sie gar nicht suchte? Heute glaube ich Dich zu verstehen. Ich fühle tief, wie lächerlich der Ernst war, mit dem ich Philologie betrieb, fühle die ganze Unangemessenheit der großen Straßen, die uns vorgezeichnet sind und die in diesen Krieg führten. Der Ort, zu dem sie nicht führen, er genau ist der Ort, an den wir gelangen müssen.“ (Siegfried Kracauer, Ginster, 85)

Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Subjekte und Objekte. Zur Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 1. Begriffe und Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 2. Elemente eines kritischen Subjektbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 3. Ein rücklaufender Kommentar. Zur Form von Argument und Darstellung 37

I. Teil: Praxis I.

Zur Subjektivität in der Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Sittlicher Fortschritt unter unsittlichen Bedingungen . . . . . . . 2. Die politische Möglichkeit sittlichen Fortschritts . . . . . . . . . 3. Fortschritt in der Sittlichkeit oder Weltgeist als Naturgeschichte?

II.

Rechtssubjekte – Subjekte des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Völkerrecht als sittliche Form politischer Geschichte . . . . . . . 2. Das Staatsrecht: Allgemeinheit der Privatsubjekte . . . . . . . . . . . 3. Recht an Sachen: Subjekte zwischen Rechtsansprüchen und sittlicher Pflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Bedingungen praktischer Subjektivität im Recht . . . . . . . . . . b. Subjekte von Verträgen und Subjekte von Eigentum . . . . . . . . c. Rechte an Personen: Von Personalisierung, Verdingung und Verdinglichung der Subjekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d. Anschlußüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Exkurs: Über Schulpädagogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

III. Das autonome Subjekt . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zur Gesetzmäßigkeit praktischer Subjektivität 2. Gesetzmäßigkeit und Gegenstände . . . . . . 3. Subjekte des Sittengesetzes . . . . . . . . . .

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211 211 224 232

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I 4. 5. 6. 7.

Zur Subjektivität von Autonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Subjektivität unter der Dialektik der reinen praktischen Vernunft . Korollar: Die Tugendlehre – Ein gelungener Vermittlungsversuch? Exkurs: Über Moralpädagogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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IV. Die transzendentale Form praktischer Subjektivität . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Antinomien der reinen Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Subjektivität zwischen Vernunft und Erfahrung . . . . . . . . . . . . b. Zur Darstellung der Antinomien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c. Bedingungen der ‚Auflösung‘ der Antinomien . . . . . . . . . . . . . d. Zur ‚Auflösung‘ der mathematischen Antinomien . . . . . . . . . . . e. Zur ‚Auflösung‘ der dynamischen Antinomien . . . . . . . . . . . . . 2. Das Subjekt der Paralogismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Selbsttäuschung über Subjektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Zur logischen Bestimmung des Subjekts: Die Fassung B . . . . . . . . c. Subjekte und Ideen. Zwischenspiel zwischen Vernunft und Erfahrung . 3. Subjekt und Objekt: Deduktion und Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . a. Objektivität aus dem Subjekt: Die ‚Deduktion B‘ . . . . . . . . . . . b. Probleme objektiver Bedingungen von Subjektivität: Die ‚Deduktion A‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c. Subjektivität bestimmter Erfahrung: ‚Schematismus‘ und ‚Grundsätze‘ d. Exkurs: Über Wahnsysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Das Ideal der reinen Vernunft: Zur Objektivität subjektiver Erfahrung . . a. Der Weg des Bewußtseins zu Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Korollar: Natürliche Theologie als ‚Grenzwissenschaft‘? . . . . . . . . c. Das Selbstbewußtsein des Bewußtseins vom ‚Transzendentalen Ideal‘ . d. Zur praktischen Wahrheit des ‚Transzendentalen Ideals‘ . . . . . . . .

309 309 309 316 326 335 340 358 358 378 383 389 389

II. Teil: Subjektivität

428 439 466 471 474 487 490 492

III. Teil: Subjekte der Praxis V.

Objektivierte Subjektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zur vermittelnden Funktion der Urteilskraft . . . . . . . . . . . . . . . 2. Teleologie: Unverfügbare Objektivierung von Subjektivität . . . . . . . a. Subjekt und Naturzweck. Zur ‚Kritik der teleologischen Urteilskraft‘ b. Menschheit als Endzweck: Die ‚Methodenlehre der transzendentalen Urteilskraft‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ästhetik: Natur als Vermittlung von Subjektivität im Objekt . . . . . . . a. Subjektive Grundlegung von Teleologie: Die ‚Kritik der ästhetischen Urteilskraft‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Geschichte als Grenze von Teleologie – Kunst und Bildung als negative Orte von Subjektivität: Die ‚Analytik des Erhabenen‘ . . . VI. Mauerschau. Résumé und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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501 501 516 516

. 538 . 552 . 552 . 564 . 586

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 599 a. Immanuel Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 599 b. Weitere Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 600 Namenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 623

Vorwort

Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2009 vom Fachbereich 8 der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster als Habilitationsschrift angenommen. Entstanden ist sie an verschiedenen Orten und in verschiedenen Arbeitszusammenhängen. Damit ist die unverzichtbare Hilfe Vieler verbunden, denen zu danken der wesentliche Zweck dieses Vorworts ist. Daß nicht alle namhaft gemacht werden können, die in den Jahren mich unterstützten, scheint selbstverständlich; der Versuch gleichwohl, der besonderen Unterstützung möglichst im Besonderen auch gerecht zu werden, liegt im philosophischen telos dieser Arbeit. Zuerst schulde ich denjenigen aufrichtigen und herzlichen Dank, die sich der Mühe unterzogen haben, die Schrift zu begutachten. Das war zunächst Thomas Leinkauf, der die Hauptlast, auch des Verfahrens, auf sich genommen hat und dem ich es verdanke, daß diese anstrengende Zeit doch, auf verschiedene Weisen, auch sehr angenehm war. Für das zweite Gutachten danke ich Ludwig Siep und für die auswärtigen Gutachten Günther Mensching und Matthias Lutz-Bachmann. Von ihnen allen habe ich wertvolle Ratschläge, Hinweise und Korrekturen erhalten, sowie die Möglichkeit, Konzept und Teile der Arbeit in Colloquien zur Diskussion zu stellen. Den engagierten Teilnehmern dieser Colloquien danke ich ebenso herzlich. Dem Exzellenzcluster ‚Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und der Moderne‘ danke ich für die großzügige Finanzierung des Buches. Sodann schulde ich einen ganz besonderen Dank meinen Eltern Ingrid und Herbert Städtler, die mich in vielfältiger Weise gefördert haben und offenbar an den Sinn meines Unternehmens geglaubt haben, obwohl er nicht immer eben klar zutage lag. Die ersten Überlegungen zum Thema fallen in die Zeit meiner Tätigkeit am Lehrgebiet Rechtsphilosophie der Juristischen Fakultät in Hannover. Manfred Walther und den Mitgliedern seines Colloquiums verdanke ich, auch über die Jahre, wertvolle Hinweise zur Entwicklung des Problems. Zugleich konnte ich die ersten Entwürfe noch mit meinem, inzwischen verstorbenen, Lehrer Peter Bulthaup diskutieren, dem ich ohnehin, so läßt sich in der Philosophie ohne Hyperbel formulieren, Unendliches zu verdanken habe, letztlich den Impuls seines philosophischen Lehrers, sich nicht dumm machen zu

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lassen. Die Mitarbeit bei der Erschließung seines Nachlasses, der nun in Hannover als Peter-Bulthaup-Archiv vorliegt, hat mir manches Problem erschlossen. Seiner Frau Ingrid danke ich für die Gastfreundschaft während meiner Recherchen an der Deutschen Bibliothek in Frankfurt am Main. Noch einmal ist an dieser Stelle Günther Mensching zu erwähnen, der über seine Gutachtertätigkeit hinaus seit 1991 mein Lehrer war. Von ihm habe ich gelernt, den Anspruch auf begriffliche Tiefe und Präzision im Detail mit dem Blick auf größere geschichtliche Entwicklungen zu verknüpfen, um die Geschichtlichkeit des gleichwohl systematischen Gedankens selbst sichtbar zu machen; ein Anspruch ans Denken, der heute zu verfallen scheint. Als Lehrbeauftragter am Philosophischen Seminar in Hannover habe ich in einer ganzen Reihe von Lehrveranstaltungen vor allem mir selbst die Texte Kants klar machen können, und den Studenten und Kommilitonen, die das ausgehalten haben, gilt mein Dank ebenso wie den Teilnehmern an entsprechenden Arbeitsgruppen im Gesellschaftswissenschaftlichen Institut Hannover sowie den Studenten der Sv. Kliment Ochridski Universität in Sofia. Die Möglichkeit, dort über Kant zu arbeiten, verdanke ich Georgi Kapriev. Schließlich danke ich für die Möglichkeit, vor allem als die akademische Philosophie in Hannover in die Krise geriet, am Forschungsinstitut für Philosophie im Colloquium von Gerhard Kruip und Christian Thies mitzuwirken. Der Wechsel an den Exzellenzcluster, den mir Ludwig Siep ermöglichte, brachte dann die Situation mit sich, in der die Arbeit abgeschlossen werden konnte. Im Cluster habe ich vor allem Iris Fleßenkämper zu danken, sowohl für die unkomplizierten Arbeitsbedingungen als auch, und ganz besonders, für freundschaftliche Unterstützung. Ihr und den Freunden, die teils mit und teils ohne fachlichen Rat zu dieser Arbeit beigetragen haben, bin ich besonders verbunden. Sonja Dolinar und Leo Šešerko danke ich für die großzügige Gastfreundschaft in ihrem Haus in Savudrija, das so abgelegen ist, daß sich dort selbst in schwersten Zeiten arbeiten ließ. Ohne diese Möglichkeit hätte die Arbeit nicht geschrieben werden können, denn schwere Zeiten gab es viele. Im strengen Sinn moralische Unterstützung verdanke ich Moshe Zuckermann, Heide Homann, und meinen hannöverschen Freunden, nur stellvertretend seien Helge Nickelé, Sophie Kolbow, Alia Estakhr, Andreas Walter, Jan Müller, Holger Günther und Andreas Knahl genannt sowie Rüdiger Mackenthun, der einen Teil der Arbeit gelesen und kommentiert hat, wie auch Thomas Micklich in Münster. Meinen Münsteraner Kommilitonen, Kollegen und vor allem meinen Studenten danke ich für tiefe Gespräche und scharfe Einwände. Für Hinweise in rechtswissenschaftlichen wie in philosophischen Fragen danke ich Thomas Gutmann und Bernhard Jakl. Joachim March verdanke ich die lebendige Erfahrung, daß Philosophie das Wichtigste in der Welt ist; – aber so wichtig nun auch wieder nicht. Maxi Berger ist schließlich diejenige, in der die Fäden im Grunde zusammenlaufen. Ihr danke ich fachlichen Rat, moralische Unterstützung, Teilnahme in den Zweifeln und vor allem die große Liebe, durch die teils finstere Zeiten auch glückliche waren. Savudrija, im März 2010

Subjekte und Objekte. Zur Einleitung

1.

Begriffe und Probleme

Vom Subjekt ist heute kritisch zu reden. Das haben die System- und Rationalitätskritiken des 19. Jahrhunderts, vollends aber die im 20. Jahrhundert so oft wiederholten Erklärungen vom ‚Ende der Subjektivität‘ bewirkt, ob diese nun handlungstheoretisch, positivistisch, sprachanalytisch, linguistisch, psychoanalytisch, soziologisch, strukturalistisch, poststrukturalistisch, dekonstruktivistisch, schließlich neurobiologisch oder noch anders motiviert waren.1 Zwar ließe sich allen Varianten mit Aristoteles entgegenhalten, daß diejenigen, die solches erklären, dies gar nicht in Wahrheit so meinen, weil sie im Zweifel ihre subjektiven Zwecke ganz gut auf Objekte zu beziehen wissen. – Deshalb sind aber die Angriffe aufs Subjekt nicht einfach als gestrig, vorgestrig oder vorvorgestrig abzulegen.2 Umgekehrt ist aber auch die Renaissance von Subjektivität nicht bedenkenlos zu nehmen.3 Die These, daß die Referenz beim Subjektgebrauch von ‚ich‘ unmittel1

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Für die positivistisch-empiristische Bewußtseinskritik vgl. grundlegend Ernst Mach, Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen, Jena 1922, 22: „Das Ich ist unrettbar.“ Weiterhin Bertrand Russell, The Analysis of Mind, London 1922, 9ff. – Für die anderen, oft als ‚postmodern‘ generalisierten Richtungen vgl. die Zusammenfassung bei Peter V. Zima, Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne, Tübingen/ Basel 2000. Vgl. auch Manfred Frank, Die Unhintergehbarkeit von Individualität. Reflexionen über Subjekt, Person und Individuum aus Anlaß ihrer ‚postmodernen‘ Toterklärung, Frankfurt am Main 1986; Herta Nagl-Docekal/Helmuth Vetter, Tod des Subjekts?, Wien/München 1987; Klaus Düsing, Selbstbewußtseinsmodelle. Moderne Kritiken und systematische Entwürfe zur konkreten Subjektivität, München 1997. – Zur neurobiologischen Leugnung von Subjektivität vgl. Christine Zunke, Kritik der Hirnforschung. Neurophysiologie und Willensfreiheit, Berlin 2008: Als „Subjekt erscheint der Cortex“ (80). Vgl. Volker Gerhardt, Individualität. Das Element der Welt, München 2000, 11. Auf diese Renaissance weisen hin: Thomas Grundmann/Frank Hofmann/Catrin Misselhorn/Violetta L. Waibel/Véronique Zanetti (Hgg.), Anatomie der Subjektivität. Bewußtsein, Selbstbewußtsein und Selbstgefühl, Frankfurt am Main 2005, 9.

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bar und daher irrtumsresistent sei,4 provoziert den nicht bloß laxen Zwischenruf, daß es bei manchen doch schon eine Unverschämtheit sei, wenn sie ‚ich‘ nur sagten; die Schwierigkeiten, die Kant mit dem Begriff der Subjektivität nicht grundlos hatte, sind in seiner Wiedergeburt als Selbstreferenz nicht bewältigt, sondern ausgeklammert. Von der philosophischen Scham oder wenigstens Zurückhaltung in Selbstsicherheit, die den Gestehungskosten von Subjektivität angemessen wäre,5 ist damit dispensiert. Durchaus aber haben die Angriffe aufs Subjekt ein Ungenügen an dessen Begriff ausgedrückt, dem in der Sache etwas entspricht: Die Subjekte stehen mit ihrer Subjektivität nicht in Übereinstimmung, sondern im Widerspruch. Deshalb scheiterten auch alle Bemühungen um die Rettung des Subjekts, wie sie etwa in der Diskussion Dieter Henrichs und anderer mit Ernst Tugendhat oder mit Jürgen Habermas oder mit Niklas Luhmann unternommen worden sind.6 Aber die Rettung des Subjekts mußte schon darum scheitern, weil es ‚das Subjekt‘ nicht gibt. Zuallererst ist von Subjekten im Plural zu reden, besser noch von Menschen. Da aber Philosophie ihre Gegenstände durch begriffliche Abstraktion erst gewinnt, und da Abstrakta immer singulär sind, war die Rede vom ‚Subjekt‘ durchaus konsequent, und in der Beschäftigung mit ihr bleibt es auch notwendig, sie zu führen. Was aber mit ‚dem Subjekt‘ gemeint sein kann, ist ‚Subjektivität‘ als dasjenige, wodurch die Einzelnen Subjekte sind und nicht etwas Anderes. Was nun in der vorliegenden Arbeit überhaupt mit ‚Subjektivität‘ gemeint sei, ist etwas durchaus Grundsätzliches. Daß zwischen Selbst, Subjekt, Selbstbewußtsein, Person und Vernunft – anfügen ließen sich zwanglos Subjektivität, Mensch, Individuum und anderes mehr – zu unterscheiden ist,7 sodann zwischen ‚Ich‘ und ‚ich‘,8 und daß es zuletzt noch eine Reihe besonderer Formen von Selbstbeziehung gibt,9 ist ausführlich herausgearbeitet worden; gleichwohl soll das Spektrum hier einmal wieder zusammengeführt werden auf die Bestimmung dessen, wodurch Menschen Subjekte sind: ihre Subjektivität mit den beiden zentralen Momenten theoretischer Selbstbestimmung oder Selbstbewußtsein und praktischer Selbstbestimmung oder Autonomie. Die notwendige

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Vgl. grundlegend für eine lange Debatte Sydney S. Shoemaker, Self-Reference and Self-Awareness, in: Australasian Journal of Philosophy 46/2 (1986), 555ff. Einen Überblick über diese Debatte bietet Manfred Frank (Hg.), Analytische Theorien des Selbstbewußtseins, Frankfurt am Main 1994. Zum Verhältnis von Philosophie und Scham vgl. Rolf Tiedemann, Kulturindustrielles und der Begriff Scham. Unordentliche Überlegungen zwischen Geschichts- und Moralphilosophie, in: Elisabeth Lenk/Gesa Lolling (Hgg.), Philologie und Scham und andere Texte von, über und für Rolf Tiedemann, Wetzlar 2005. Auf Details dieser und anderer Diskussionen ist in den Anmerkungen der Hauptteile näher einzugehen. Vgl. Peter Rohs, Über Sinn und Sinnlosigkeit von Kants Theorie der Subjektivität, in: Neue Hefte für Philosophie 27/28 (1988), bes. 58ff. und 64. Vgl. auch Dieter Henrich, Denken und Selbstsein. Vorlesungen über Subjektivität, Frankfurt am Main 2007, 23f. Vgl. Ernst Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung. Sprachanalytische Interpretationen, Frankfurt am Main 1979, 68ff. und grundlegend dazu Peter F. Strawson, Einzelding und logisches Subjekt, Stuttgart 1972, 111f. Volker Gerhardt baut sein Buch Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität, Stuttgart 1999, an der Abfolge dieser Bedeutungen auf.

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praktische Vermittlung beider ist der terminus ad quem der vorliegenden Arbeit.10 Dafür sind allgemeine Bestimmungen im Verhältnis der Menschen zueinander und zur Natur zu ermitteln, deren Wahrheit zwar begrifflich zu bestimmen, allerdings aus metaphysisch-ungeschichtlichen Voraussetzungen so wenig abzuleiten ist, wie es als ein ‚Bündel von Eigenschaften‘11 , das durch nichts und niemanden gebunden würde, zu beschreiben wäre; zudem führt der empiristische Abstieg vom ‚Ich‘ als allgemeinem Begriff zum ‚ich‘ als Zeichen für die Individuen praktisch zurück zum Kernproblem der Aristotelischen Ethik, die nur Einzelfälle von Handlungen kennt und daher keine allgemeinen Bestimmungen moralischer Art zu begründen vermag, sondern auf komparativ allgemein ermittelte und vermittelte Regeln verwiesen bleibt. Mit dem Begriff von Subjektivität steht zugleich der von Objektivität in Frage. Noch der logisch reduzierte Gebrauch von ‚Objektivität‘ für die Geltung von Urteilsverbindungen setzt aber – wie schon der Kantische als ‚Auffassung von Mannigfaltigem in der Weise, daß es für mich zum Gegenstand wird‘ – ein basales Moment von Objektivität voraus, das besagt, daß einer Vorstellung etwas korrespondiert, das nicht vollständig durch diese Vorstellung selbst hervorgebracht wird: Gegenständliches.12 Wenn der Ausdruck ‚Objektivität‘ in der vorliegenden Arbeit sowohl die notwendige und allgemeine Geltung von Urteilen als auch eine dieser Geltung korrespondierende Sachhaltigkeit von Erfahrung bezeichnet, trägt das gerade der Verschränkung beider Bedeutungen in diesem basalen Verständnis Rechnung. Ist also von Objekten und von Objektivität die Rede, so ist weder eine phänomenologische13 noch eine materialistische Erkenntnistheo10

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Den Zusammenhang von theoretischer und praktischer Selbstbestimmung sowie seine grundlegende Bedeutung erörtert Volker Gerhardt, Selbstbestimmung, a.a.O., Kapitel 3, Nr. 6ff. sowie in: Selbstbestimmung: Zur Aktualität eines Begriffs, in: fiph-Journal 8 (2006). Vgl. David Hume, Ein Traktat über die menschliche Natur, Hamburg 1989, 327. Auch Russells Alternativformulierung ‚series of experience‘ bleibt problematisch, wenn sich nicht benennen läßt, wodurch in der Mannigfaltigkeit von Erfahrungen solche Serien identifiziert werden können (vgl. Bertrand Russell, Die Philosophie des logischen Atomismus, München 1979, 273). Dies zu klären, hält Hans-Peter Falk, Person und Subjekt, in: Neue Hefte für Philosophie 27/28 (1988), 107, für wissenschaftlich irrelevant. Zuvor hatte Hector-Neri Castañeda, The Self and the I-Guises. Empirical and Transcendental, in: Konrad Cramer/Hans Friedrich Fulda/Rolf-Peter Horstmann/ Ulrich Pothast (Hgg.), Theorie der Subjektivität, Frankfurt am Main 1987, das ‚I think‘ zum ‚I think here now‘ erweitern wollen; die diachrone Identität mußte dann aber durch eine Art Transsubstantiationslehre rekonstruiert werden. Vgl. hierzu Kurt Bayertz, Wissenschaft als historischer Prozeß. Die antipositivistische Wende in der Wissenschaftstheorie, München 1980, 184: „Mit der ‚Konstitution‘ eines wissenschaftlichen Gegenstandes schließt die theoretische Aneignung der Realität daher keineswegs ab; diese Konstitution ist vielmehr Moment eines übergreifenden Prozesses der Theoriebildung, der die Konstruktion von theoretischen Modellen ebenso umfaßt, wie die empirische Untersuchung unmittelbar zugänglicher Untersuchungsobjekte. Die herkömmlichen Konzeptionen der Theoriebildung als sukzessive Verallgemeinerung von Beobachtungsdaten (induktiver Empirismus) oder als Konstruktion freischwebender Kalküle (deduktiver Empirismus) sind unangemessen nicht zuletzt deshalb, weil sie die Gerichtetheit der Theoriebildung nicht zu erfassen vermögen: die Theoriebildung ist eine gezielte Tätigkeit zur ideellen Reproduktion eines wissenschaftlichen Gegenstandes.“ Vgl. z. B. Alfred Schütz/Thomas Luckmann, Strukturen der Lebenswelt, Neuwied 1975. Ob sich von alltäglichen, sog. lebensweltlichen Erfahrungen ausgehend überhaupt theoretisch etwas über

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rie14 intendiert, sondern es wird lediglich angezeigt, daß von etwas die Rede ist und daß der Maßstab der Beurteilung einer Rede auch in ihrem wie immer beschaffenen Gegenstand gründet, der zwar erst im logischen Zusammenhang zum Maßstab wird, aber nicht auf diesen zu reduzieren ist. Unter diesem Aspekt ist der schwierige Begriff der Erfahrung bei Kant zu betrachten, die als inhaltliches Wahrheitskriterium zum bloß negativen logischen hinzukommen soll. – Objekte müssen nicht facta bruta sein; um die Einsicht, daß sie es zumeist nicht sind, sondern daß sie ihre bestimmte Objektivität dem Verhältnis verdanken, in dem Menschen sich zu ihnen verhalten, ist es gerade zu tun. Das wirkt wiederum in die Subjektivität zurück, denn diese entfalten die Subjekte, indem sie sich selbst zum Objekt werden, ohne aber ihren Subjektstatus dabei aufzugeben. Diese sogenannte Reflexionstheorie ist umfassend kritisiert worden, weil sie sich nicht widerspruchsfrei fassen läßt; aber so widersprüchlich ist es wohl: Selbstbewußtsein ist so wenig in eine logisch befriedigende Verfahrensanalyse zu bannen wie die erkenntnistheoretische metabasis des Überganges vom Besonderen in den Sinnen zum Allgemeinen im Verstand. Erkannt wird trotzdem. Nicht erst der Fortschritt in den Wissenschaften zeugt davon, sondern schon jede alltägliche gedankliche Operation, die den Bereich unmittelbarer Anschauung verläßt und doch wieder auf Erfahrungsgegenstände bezogen werden kann. – Bekannt ist längst, spätestens seit Thomas von Aquins De Veritate, im Keim seit Aristoteles’ De Anima oder bereits seit Platons Charmides, daß Subjekte sich selbst nur zum

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Erkenntnis sagen läßt, ist zu bezweifeln, weil Erkenntnis sich nicht graduell, sondern eminent von partikularen Auffassungsweisen unterscheidet. Vgl. z. B. Peter Furth, Das ‚Arbeitskonzept‘ in der materialistischen Erkenntnistheorie, in: Dieter Henrich (Hg.), Kant oder Hegel? Über Formen der Begründung in der Philosophie, Stuttgart 1983. Zwar ist ihm darin zuzustimmen, daß „Objektivität weder einer Natur an sich vorbehalten, noch in Intersubjektivität auflösbar“ (356) sei, aber die grundlegende These, der Mensch „erwirbt […] die fundamentale Verstandeskategorie der Identität“ (349) an seinem Verhältnis zu den Arbeitsmitteln, kann nicht die erkenntnistheoretische Funktion des Vernunftbegriffs ‚Identität‘ erklären. Auch hier ist Erkenntnis fundamental von der Erfahrung zu unterscheiden. Erkenntnis ist, weil sie allgemein ist, ihrer Form wie ihrem Gehalt nach immateriell; dennoch kann sie objektiv sein. – Allerdings steht Wissenschaft unter gesellschaftlichen Bedingungen und auch die Gegenstände der Erkenntnis werden unter solchen Bedingungen gegeben, wie Alfred Schmidt (Hg.), Beiträge zur marxistischen Erkenntnistheorie, Frankfurt am Main 1971, in seiner Einleitung ausführt. Deshalb ist aber doch nicht damit zu rechnen, daß eine ‚brauchbare materialistische Erkenntnistheorie‘ möglich sei, denn Theorie der Erkenntnis ist so immateriell wie Erkenntnis selbst. Zudem ist sie als Theorie systematisch angelegt und dürfte aufgrund der darin gelegenen idealistischen Tendenz mit dem kritischen Zweck unverträglich sein. – Zwar ist der von Jürgen Habermas vorgetragenen Diskussion der Unzulänglichkeit des Erkenntnisbegriffs beim frühen Marx weitgehend zu folgen, auch manchen der daran entwickelten gattungsgeschichtlichen Aspekte; die kommunikationstheoretische Konsequenz jedoch, die eine graduelle Überwindung gesellschaftlicher Herrschaft durch methodische Reflexion sprachlicher Interessenvertretung intendiert, könnte nur aufgehen, wenn Interessen überhaupt unabhängig von den Zwängen instrumentalen Handelns gefaßt und diskutiert werden könnten. Wenn aber Menschen primär gesellschaftliche Zwecke bedienen, die nicht umstandslos ihre eigenen sein können, dürfte die intendierte Vermittlung von Erkenntnis und Interesse eine eher brisante Mixtur ergeben. Der ‚herrschaftsfreie Diskurs‘ könnte nur dort erlernt werden, wo keine Herrschaft wäre. Vgl. Erkenntnis und Interesse, Frankfurt am Main 1968 sowie Wissenschaft und Technik als ‚Ideologie‘, Frankfurt am Main 1968.

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Objekt werden können, wenn sie auf Anderes, auf wie auch immer gegebene Objekte, reflektieren. Ebenso ist die Reflexion auf andere Subjekte vorausgesetzt. Diese Reflexionen auf Anderes gelingen aber von einem subjektlosen Sein oder auch Bewußtsein her nicht. Im Verhältnis von Subjekt und Objekt sind beider Begriffe allein zu entwickeln: als Reflexionsbegriffe. Über die reale Genese, das faktische Entstehen der objektiven Realität, der sachlichen Korrelate dieser Begriffe, kann Philosophie nichts sagen, weil kein Philosoph diese Korrelate extern, ohne die eigene Subjektivität anzusetzen, analysieren kann. So bleiben die Begriffe vom Subjekt und vom Objekt negative Begriffe, die philosophisches Denken als Bedingungen des Denkens und des Handelns erschließt. – Die Negativität dieser Begriffe ist eine durch bestimmte Kritik der Problemdarstellung in der Tradition zu gewinnende. Ausdrücklich nicht gemeint ist in der vorliegenden Arbeit aber ein derartiger privativer Begriff von Subjektivität, der diese als „reservatio mentalis“15 , als Rückzug des Individuums aus einer vorgängigen Objektivität aufgrund von Enttäuschung versteht: Erst das partielle Scheitern in der dem handelnden Individuum primär zukommenden Objektivität veranlasse dieses zum Rückzug auf das, was nur durch es selbst gelte. Schon der Gedanke eines ‚bloß Subjektiven‘ bemüht implizit den Hegelischen Begriff individuierter Subjektivität, die nur gegenüber einem wahren Objektiven bestehe. Fällt aber die Voraussetzung eines solchen, hegelischen, Objektiven – der in sich vernünftigen Wirklichkeit – weg, so wird die relativ mangelhafte Subjektivität in der Tat zum bloßen Reservat des Geistes. In der Perspektive der Beurteilung dieser Subjektivität hallt aber der verdrängte Kern von Subjektivität nach: Dasjenige, das Enttäuschungen hinnehmen mußte, war ein Subjekt mit dem Bewußtsein des Anspruchs auf Selbstbestimmung. Dieser Anspruch ist subjekt- oder bewußtlos gar nicht zu denken. Jenes Bewußtsein kann sowohl in die Reserve gehen als auch auf seinen Anspruch selbstbewußt rekurrieren. Das neuzeitliche Subjekt ist zwar dasjenige, dessen Erfahrungen aufgrund seiner beschränkten subjektiven Perspektive allesamt zweifelhaft werden, aber gerade durch das Bewußtsein dieses Zweifels, das Selbstbewußtsein ist, wird das Subjekt – auch praktisch – zum möglichen Grund von Objektivität. – Gegen die Einschränkung von Subjektivität auf den pejorativen Alltagsbegriff, vor dem dann die Individualität als Prinzip des Handelns auftreten soll, wird in der vorliegenden Arbeit an Subjektivität als Prinzip von Denken und Handeln festgehalten, denn ‚Subjekt‘ drückt die formale Eigenschaft der Individuen, ihren Akten selbst zugrundezuliegen, aus. ‚Individuum‘ dagegen drückt allein die Form der Einzelnheit aus. Gehen diese Einzelnen enttäuscht in sich zurück, bleibt ihnen nur wieder Einzelnheit. Subjekten aber kann Enttäuschung zum Indiz der Unangemessenheit der objektiven Bedingungen der Entfaltung ihrer Subjektivität faßbar werden, als Behinderung von Subjektivität in der Welt, in der sie leben, und die allzuoft eine solche ist, in der zu leben sie gezwungen sind. Daß die elende Situation so vieler Menschen unveränderliche anthropologische Gründe habe, läßt die vorliegende Arbeit wenigstens solange nicht gelten, wie veränderliche Gründe des Elends benannt werden können.

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Volker Gerhardt, Selbstbestimmung, a.a.O., 273ff., Zitat 273; 278. Vgl. auch: Ders., Individualität, a.a.O., 139ff.

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Gerade die philosophische Reflexion von Subjektivität war es, wodurch die Philosophie von Descartes bis zu den klassischen Systemen Kants und des deutschen Idealismus an ihre Grenze geführt wurde. Während diese Systeme die allgemeine und darum singuläre Form von Subjektivität – das Prinzip der neuzeitlichen Welt – in ihrem eigenen Medium voll zur Darstellung brachten, wurden die realen Subjekte der geschichtlichen Einträge in die Bestimmtheit ihrer Subjektivität gewahr, und umgekehrt: Während Philosophie versucht, Subjektivität als solche und als Prinzip zu entwickeln, machen die Subjekte Revolution um der politischen Durchsetzung subjektiver Prinzipien willen.16 Allerdings ist Subjektivität und mit ihr die Neuzeit weder vom Himmel gefallen, noch – mit dem modischen Wort – emergiert. Vielmehr ist ihre Entwicklung auch eine Antwort auf innere Kontroversen der mittelalterlichen Philosophie und Theologie in deren Auseinandersetzung auch mit politischen und sozialen Veränderungen: „In der Auseinandersetzung um das Problem der Universalien vollzog sich ein epochaler Schritt in der Selbstreflexion des Bewußtseins, der alle Sphären des Geistes neu prägte und die gesamte europäische Zivilisation auf den Weg zur Moderne brachte. Denn es hing nicht allein der Status logischer und metaphysischer Begriffe von der Lösung des Universalienproblems ab, sondern es wurde auch die Stellung des einzelnen Menschen zu dem gesellschaftlichen System, in dem er lebt, in neuer Weise bewußt […]. Die Menschen beginnen sich als Subjekte zu begreifen, die planmäßig Bedingungen ihres Lebens verändern und sogar neu hervorbringen können, die vorher als Bestandteile der ewigen göttlichen Ordnung galten. Die Freiheit des Einzelnen beginnt, eine ideelle und auch eine materielle Gestalt anzunehmen.“17 Ebenso hatte das mittelalterliche Denken an antike Überlegungen angeknüpft, die unter veränderten Bedingungen neu zu reflektieren und zu legitimieren waren.18 Wie nun Geistesgeschichte überhaupt durch diese Wechselwirkung eines immanenten, problembestimmten Zuges mit äußerlichen Bedin16

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Selbstverständlich sind für die bürgerlichen Revolutionen eine ganze Reihe verschiedener, ganz pragmatischer, Motive bestimmend gewesen; aber auch in deren Ausführung wirken subjektive Prinzipien. Zwar sollen die Revolutionen keine Verwirklichung von Philosophie sein, aber die Handelnden verstehen sich doch als Gestalter einer veränderbaren Ordnung. Günther Mensching, Das Allgemeine und das Besondere. Der Ursprung des modernen Denkens im Mittelalter, Stuttgart 1992, 9f. Vgl. auch dens., Der Primat des Willens über den Intellekt: Zur Genese des modernen Subjekts im späten Mittelalter, in: Reto L. Fetz/Roland Hagenbüchle/Peter Schulz (Hgg.), Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität, Bd. 1, Berlin 1998. Deshalb beginnt Menschings Darstellung des mittelalterlichen Denkens, obgleich auf die Moderne hin angelegt, mit Plotin. Vgl. Das Allgemeine und das Besondere, a.a.O., 18ff. – Vgl. außerdem Klaus Oehler, Subjektivität und Selbstbewußtsein in der Antike, in: Reto L. Fetz/Roland Hagenbüchle/Peter Schulz (Hgg.), Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität, Bd. 1, a.a.O., sowie, mit Schwerpunkt auf der ästhetischen Reflexion von Subjektivität, Arbogast Schmidt, Freiheit und Subjektivität in der griechischen Tragödie?, in: Reto L. Fetz/Roland Hagenbüchle/Peter Schulz (Hgg.), Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität, a.a.O. Zum Beitrag der römischen Antike schließlich: Okko Behrends, Der römische Weg zur Subjektivität: Vom Siedlungsgenossen zu Person und Persönlichkeit, in: Reto L. Fetz/Roland Hagenbüchle/ Peter Schulz (Hgg.), Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität, Bd. 1, a.a.O. – Zur neuzeitlichen Entwicklung vgl. Günther Mensching, Die Enzyklopädie und das Subjekt der Geschichte, in: Jean Le Rond d’Alembert, Einleitung zur ‚Enzyklopädie‘, Frankfurt am Main 1989. – Zum ganzen Zusammenhang vgl. die umfassende Einleitung in: Reto L. Fetz/Roland Hagenbüch-

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gungen bewegt wird, so auch im Besonderen die Prozesse, in denen Subjekte sich ihrer Subjektivität vergewissern, die leitmotivisch jene Geschichte durchziehen und in der spätmittelalterlichen Situation objektiver und subjektiver Individualisierung deutlich an Dominanz gewinnen. Der Begriff des göttlichen Geistes – durch den dissonanten voluntaristischen Kontrapunkt zum Intellekt quasi individualisiert – war schon so sehr als Reflexionsbegriff des menschlichen verstanden worden, daß der Streit über den Primat von Erkennen oder Wollen auch als Ausdruck des Ringens menschlicher Subjektivität um ihre personale Verselbständigung und um die bürgerliche Freisetzung der Subjekte zu verstehen war. – Dies ausdrücklich zu bemerken ist wichtig, weil umgekehrt im Subjektivitätsbegriff stets noch unvermerkte theologische Elemente anwesend sind. Trotz aller Kritik an der Theologie vollzog sich die Wende zur Neuzeit auf der Grundlage der theologischen Begrifflichkeit, die zu einem guten Teil gewissermaßen mit-säkularisiert wurde. Der immer widerkehrende Rückzug auf numinose Quellen von Selbstbewußtsein, die gegenwärtig zu beobachtende Renaissance von Metaphysik überhaupt, sind – bewußt oder unbewußt – Reanimationen der theologischen Bestände im Subjektivitätsbegriff. So wichtig die geschichtliche Reflexion für ein adäquates philosophisches Selbstbewußtsein ist, weil nicht bloß begriffliche, sondern auch sachliche Gründe der Moderne in der Geschichte liegen, so ist doch die affirmative Neuauflage von geschichtlichen Gehalten zugleich Aufhebung von Selbstbewußtsein, weil sie das Bewußtsein des Zeitunterschieds tilgt, durch das geschichtliche Reflexion für das moderne Selbstbewußtsein überhaupt nur konstitutiv sein kann. Im philosophisch-geschichtlichen Klima der Neuzeit entstand das Bewußtsein eines unverlierbaren subjektiven Kerns, in dem moderne Erkenntnisideale ebenso gründen wie Freiheitsansprüche; beide konvergieren im Fortschrittsdenken. Ebenso liegt aber in der geschichtlich-kollektiven Seite von Subjektivität der Grund der Unangemessenheit der Realität an diese Ansprüche und Ideale. Die Menschen finden ihre Freiheit einerseits realisiert unter gesellschaftlichen Bedingungen, die andererseits zugleich die Realisierung von Freiheit hindern. Aus Freiheit legen Menschen anderen Menschen Zwänge auf, für den Fortschritt müssen viele zurückstecken, und – wie die neueren ökonomischen Entwicklungen von Massenentlassungen oder von Kürzungen im sozialen Bereich zeigen – desto mehr, je weiter der Fortschritt schon gedieh. Mehr noch: Die Geschichte der politischen Emanzipation endete – radikal abgekürzt – in der zweifachen Demonstration einer Gleichheit sowohl, als auch Gleichgültigkeit der Individuen, die bis heute unvorstellbar bleibt: in den ‚letzten Tagen der Menschheit‘, wie Karl Kraus bereits den Ersten Weltkrieg nannte, und in den Konzentrationslagern. Damit ist Marx’ zugleich vernichtende und progressive Rede von der ‚Vorgeschichte der Menschheit‘ kraftlos geworden; was nach den ‚letzten Tagen der Menschheit‘, die jener Rede zufolge noch gar nicht wirklich war, kam, war von der Vorgeschichte kaum zu unterscheiden: Angesichts der atomaren Bedrohung schien die Entwicklung endgültig in das von Beckett visierte zeitlose Fin de Partie überzugehen. Robert Menasse hat versucht, dies durch die Umkehrung der Phänomenologie des Geistes – des forcierten philosophischen Symbols für Fortschrittsdenken – zu einer Phäle/Peter Schulz (Hgg.), Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität, a.a.O.: Roland Hagenbüchle, Subjektivität: Eine historisch-systematische Hinführung.

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nomenologie der Entgeisterung19 darstellbar zu machen: Die Emanzipationsbewegungen der Subjekte in der Moderne, durch die diese Zeit überhaupt zur Moderne qualifiziert wird, führen die Menschen nicht nur in die genannten Katastrophen, sondern durch diese zurück zur sinnlichen Gewißheit. Die Vergleichgültigung der Menschen und des Menschlichen überhaupt, die Unmittelbarkeit des Verhaltens, werde zum Merkmal der Zeit nach der Shoah; deren Erfahrung sei nicht überwunden, sondern aufgehoben in die Formen gesellschaftlicher Erfahrung heute. Damit sind tiefe Risse im Selbstverständnis moderner Subjektivität zumindest angedeutet, die gegen eine Rückkehr zur klassischen philosophischen Tagesordnung sprechen, vor denen aber auch die Rede vom ‚Ende des Subjekts‘ als ungenügend erscheint. In den positivistischen Anfängen dieser Rede galt die Unverfügbarkeit von Subjektivität, die sich in ihrem Widerstand gegen formalisierte Darstellung erwies, als unvereinbar mit einer wissenschaftlich aufgeklärten Verfügung über Realität. Damit wurde gerade das Prinzip des aufklärerischen Impulses als Hemmnis von Aufklärung, wie diese nunmehr verstanden wurde, empfunden. Vielleicht kann „heute […] keiner mehr wie Kant Philosophie machen“20 , aber vielleicht hat auch Kant bereits Philosophie gar nicht ‚gemacht‘ wie irgendein pragma. Die pragmatische Verschiebung der Betrachtung des Geistigen auf psychologisch darstellbare ‚mentale Zustände‘ einerseits und deren sprachliche Repräsentationen andererseits hat eine Vielzahl von Überlegungen ausgelöst, die Subjektivität letztlich alle in relationalen Strukturen – Kommunikation, Interaktion, gesellschaftlichem Verkehr, Tausch, Symbolvermittlung und vielen anderen – aufgelöst finden. Die vielleicht konsequenteste Fusion der positivistischen mit der ‚postmodernen‘ Subjektkritik mag Niklas Luhmanns Systemtheorie sein.21 Eines leistet diese sicher, auch wenn sie nichts erklären will: Sie ist eine präzise, terminologisch standardisierte, Beschreibung dessen, was an der Oberfläche der Gesellschaft geschieht. Dies leistet sie deshalb so zuverlässig, weil sie keinen moralischen Anspruch vor sich herträgt, wissend, daß sie eben als Aufhebung von Subjektivität aus sich heraus solche Ansprüche nicht mehr legitimieren kann. Die Systemtheorie kann aber Menschen deshalb als soziale Funktionen behandeln, weil Menschen in ihr konzeptionell nicht vorkommen; sie stehen immer außerhalb der Systeme, sind je ihr eigenes System und darin noch gespalten in ein psychisches, ein physiologisches und – mindestens – ein Sinnsystem. Diese Vereinzelung ohne Einheit hat Systemtheorie mit ihrem Gegenstand, dem System organellenartiger Funktionsmomente von Gesellschaft, unmittelbar gemein. Jürgen Habermas tritt zunächst als Kritiker Luhmanns an. Im Verlauf ihres Disputs überbieten sich aber beide in der Auflösung von Subjektivität in Kommunikation. Jeder findet beim anderen noch provokante Reste und zeigt, wie sie zu tilgen seien. In ihrer Gemeinsamkeit – der Fundierung von Gesellschaftstheorie in Kommunikation – haben auch 19

20 21

Vgl. Robert Menasse, Phänomenologie der Entgeisterung. Geschichte des verschwindenden Wissens, Frankfurt am Main 1995. Ernst Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, a.a.O. 44. Vgl. z. B. Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main 1987, 593ff. – Die o.g. Einordnung Luhmanns folgt Peter V. Zima, Theorie des Subjekts, a.a.O., der gerade das Verhältnis der Theorie zur Subjektivität zum Kriterium moderner und postmoderner Positionen macht.

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beide ihr proton pseudos. Habermas hatte schon 1971 vertreten, daß die gesellschaftlichen Verhältnisse der Menschen aus ihren kommunikativen Beziehungen zu entwickeln seien.22 In Abwandlung einer Polemik von Marx ließe sich sagen, daß die Menschen zuerst einmal leben müssen, bevor sie kommunizieren,23 und daß die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen sie ihr Leben reproduzieren, deshalb formal und materiell grundlegend für alle weiteren gesellschaftlichen Beziehungen seien. Die kommunikationstheoretische Reduktion – Rückführung wie Verengung – auf die sprachlichen Formen des gesellschaftlichen Lebens zerredet wortwörtlich die in jenen Bedingungen manifeste Gewalt geschichtlicher Herrschaftsverhältnisse. Zwar prozedieren diese Verhältnisse durchaus und stets in sprachlichen Formen, aber sie subsistieren nicht in ihnen. Die Substitution von Wahrheit, Objektivität überhaupt,24 die sich aus Subjektivität noch kritisch begründen ließe, durch intersubjektive Verfahren trifft in Wissenschaft und Technik ohnehin nichts, denn deren Urteile haben eindeutige Indikatoren in ihren Gegenständen; in Politik und Gesellschaft trifft sie die Oberfläche menschlicher Verhältnisse, unter der aber die Positivität von Macht bestimmend bleibt, die nicht durch kommunikative Verfahren erst begründet wird. Diese dienen vielmehr immer schon zur Legitimation des historisch gewaltsam Gesetzten. Ihre bewußte Veränderung raffinierte daher nur die Legitimationsstrategien. Mit der sprachpragmatischen Wende in Erkenntnis- und Gesellschaftstheorie hat Habermas nicht nur Subjektivität funktional aufgelöst, sondern nebenbei gleich die kritische Theorie in eine affirmative verwandelt, denn ohne ein emphatisches Verständnis von Subjektivität als Kriterium der Selbstbestimmung läßt keine Kritik an Fremdbestimmung sich mehr begründen. Eine erneute, freilich intersubjektiv vermittelte, Betonung des individuellen Subjekts wird unter dem Titel ‚Anerkennung‘ vorgetragen. Diese soll „zur Ausbildung einer vernünftigen, dezentrierten Form von Subjektivität bei[]tragen“25 . Die Rechtslehre Hegels wird als Stufung von Anerkennungsverhältnissen reformuliert, mittels derer ‚Verhaltensdispositionen‘ erzeugt werden, die – mit ausdrücklicher Beziehung auf Hegels Kritik an Kant – „nicht als das Ergebnis einer rationalen Entscheidung vorgestellt werden sollen“26 . Die daraus resultierenden Sozialcharaktere sind aber jene bloß funktionalen, deren Verhalten zum Zweifel an der Subjektivität geführt hatte.27 22

23 24 25 26 27

Vgl. Jürgen Habermas, Vorlesungen zu einer sprachtheoretischen Grundlegung der Soziologie, in: Ders., Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt am Main 1984. Vgl. Karl Marx, Deutsche Ideologie, MEW 3, Berlin 1990, 28. Vgl. Jürgen Habermas, Nachmetaphysisches Denken, Frankfurt am Main 1988. Axel Honneth, Leiden an Unbestimmtheit, Stuttgart 2001, 101. Ebd., 88. Honneth sieht diese Konsequenz bei Hegel, hält sie aber für reparabel. Immer wieder formuliert er, was gewesen wäre, wenn Hegel seine Rechtslehre anders konzipiert hätte. Das Unbehagen an Teilen der Rechtslehre speigelt den Wunsch, am Anerkennungsbegriff festzuhalten. Aber die Formen von Anerkennung sind selbst nach dem bürgerlichen Rechtsverhältnis gebildet und tragen dessen gewaltsames Moment in sich. Die Vorstellung subjektiver Selbstverwirklichung durch Anerkennung hingegen hat keine objektive Realität und gewinnt sie auch nicht durch Revision der Rechtslehre Hegels. Daß Anerkennung die Form eines gewaltbegründeten Rechtsverhältnis-

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Ein politisches Problem moralischer Subjektivität indes hat unter den Subjektkritikern vor allem Michel Foucault sensibel registriert.28 Dafür war eine Bedingung, daß Foucault nie von der Betrachtung bestimmter Gegenstände abgelassen hat. Diskursanalysen und genealogische oder archäologische Forschungen sollten nicht soziale Sachverhalte in Relationen auflösen, sondern sie aus diesen begreifbar machen. Im Grunde ging es darum, dem „verschwundenen Menschen“29 auf die Spur zu kommen. Wissen und Macht, wie immer verselbständigt und vor-diskursiv sie vorgestellt werden, verweisen doch auf das Subjekt als ihr Komplement, indem die Aufklärung etwa über die Motive gesellschaftlich veranstalteter Hospitalisierung ihrerseits auf die kritische Bestimmung der psychosozialen Konstitution oder wenigstens Disposition der Menschen zielt. Daß diese letztlich als Zentrum einer Konstellation von Gefahren bestimmt wird, in der die Menschen als ethisch-politische Subjekte der Bestimmung der jeweiligen Hauptgefahr wieder hervortreten, reflektiert in der Rückkehr zum Subjekt zugleich dessen prekären Status.30 – Gerade der Versuch, die Bedrohung subjektiver Autonomie pragmatistisch mit Selbstbestimmung zu vermitteln, greift Subjektivität an. Der Kant so häufig vorgeworfene ‚Rigorismus‘ der Moral steht bei diesem für die selbstbestimmte Einheit des selbstbewußten Subjekts. Diese Konstruktion ist als durchaus widerspruchsvoll zu entwickeln, weil diese Selbstbestimmung an inadäquaten Bedingungen zu zerschellen droht; die zeitgenössische Kritik aber versucht durch Vermittlungsbedingungen und Ermäßigungsgründe – von der Fairness über Nützlichkeitserwägungen und Zumutbarkeitskriterien bis zur Folgenabschätzung – autonomes Handeln unter heteronomen Bedingungen zu denken. Das stabilisiert nicht allein praktisch diese Bedingungen, denen das Selbstbewußtsein der Handelnden nun nicht mehr zu opponieren braucht, sondern es hebt zugleich das Selbstbewußtsein als Kriterium der Beurteilung auf. Diejenige ‚Einheit‘ des Bewußtseins, die durch Aufhebung des ‚Rigorismus‘ entsteht, hat keine grundsätz-

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ses – Herrschaft – ist, hatte Hegel selbst im Abschnitt über Herrschaft und Knechtschaft in der Phänomenologie des Geistes ausgeführt. Vgl. auch Alex Demirović, Krise des Subjekts – Perspektiven der Handlungsfähigkeit. Fragen an die kritische Theorie des Subjekts, in: Alex Demirović/ Christina Kaindl/Alfred Krovoza (Hgg.), Das Subjekt – zwischen Krise und Emanzipation, Münster 2010, 159f. Ein anderes Beispiel wäre Judith Butler, die zunächst in Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity, New York/London 1990, aus kritischem Impuls heraus noch die natürliche Sexualität (auch ‚sex‘, nicht bloß ‚gender‘) als sprachliche und strukturelle Konstruktion entlarven wollte, aber nach heftiger Kritik, gerade aus der Frauenbewegung, in Bodies that Matter. On the Discursive Limits of ‚Sex‘, New York/London 1993, sich von linguistischem Idealismus distanzierte. Zu der gesamten Thematik vgl. Alex Demirović, Krise des Subjekts – Perspektiven der Handlungsfähigkeit. Fragen an die kritische Theorie des Subjekts, a.a.O., 162f. und 171. Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt am Main 1974, 412. Vgl. Michel Foucault, Genealogie der Ethik (Interview mit Michel Foucault), in: Hubert L. Dreyfus/Paul Rabinow/Michel Foucault (Hgg.), Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Frankfurt am Main 1987, 268. Vgl. dazu Franz Josef Wetz, Wie das Subjekt sein Ende überlebt: Die Rückkehr des Individuums in Foucaults und Rortys Spätwerk, in: Reto L. Fetz/Roland Hagenbüchle/Peter Schulz (Hgg.), Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität, Bd. 2, a.a.O.

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lichen Einwände mehr: Es hat den Riß zwischen sich und den widrigen Bedingungen in sich hineingezogen. Der Unterschied zwischen notwendig und zufällig widrigen Bedingungen ist dabei von zentraler Bedeutung. Von einem ermäßigten Moralbegriff aus ist er kaum zu sehen. Meist gehen solche Theorien axiomatisch von der Güterknappheit aus, die in Kombination mit der anthropologischen Gier ‚des‘ Menschen für die Konkurrenz unter Menschen verantwortlich gemacht wird. Angesichts des Verhältnisses zwischen materiellem Elend in der Welt – auch in den am weitesten zivilisierten Staaten – und der systematisch wissenschaftlich und technisch erzeugten Produktivitätszuwächse könnten solche Voraussetzungen nur dann überzeugen, wenn die grundsätzliche Konfundierung der menschlichen Vernunft mit anderen Antrieben oder sogar ihre Unterlegenheit unter solche anthropologisch angenommen wird. Diese Annahme jedoch, sofern sie zwischen Vernunft und Nichtvernunft noch unterscheidet, könnte von einer konfundierten Vernunft gar nicht formuliert werden. In der vorliegenden Arbeit sollen deshalb aus der Kritik der Verstellung und Verhinderung von Vernunft durch die Bedingungen, unter denen gedacht und gehandelt wird, die grundsätzlichen Möglichkeiten von Vernunft neu gewonnen werden. Dabei soll zugleich deutlich werden, daß Philosophie, die auf ihre äußeren Bedingungen nicht mehr reflektiert, zum abstrakten Gedankenspiel wird. In der Negativität von Argumentation und Darstellung ist zugleich Bescheidenheit im Ergebnis angelegt: Positive Auskünfte, wie zu handeln oder zu denken sei, sind nicht zu erwarten; wohl aber können durch bestimmte Negation Bedingungen kritisiert werden, die der Realisierung vernünftigen Handelns und Denkens unangemessen sind. Damit erweist sich negative Reflexion selbst als eine Bedingung besserer Praxis, aber keineswegs als Ausdruck widerspruchsfreien Selbstbewußtseins, das nun über dem Kritisierten stünde. Sie richtet sich auf kritische Selbsterkenntnis als Bedingung von Selbstbestimmung. Diese Selbsterkenntnis schließt freilich Erkenntnis der äußeren Bedingungen von Selbstsein ein.31 Hieraus soll schließlich deutlich werden, was unter dem Ausdruck Subjekte der Praxis zu verstehen sei: Subjekte sind nicht bloß Urheber von Praxis, sondern sie gehören

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Gunnar Hindrichs, Das Absolute und das Subjekt, Frankfurt am Main 2008, widmet ein ganzes Kapitel unter dem Titel ‚Machen‘ den äußeren Bedingungen von Subjektivität, die ihm freilich aus der ontologischen Anlage seines Denkens heraus zu Momenten der Subjektivität selbst werden. Das gegen die von ihm selbst gestiftete Ordnung der Dinge exterritoriale und deswegen heimatlose Subjekt vergegenständlicht sich im Machen wie in der Verdinglichung seiner Mitsubjekte und seiner selbst zwangsläufig und liefert so den Nachweis seiner ‚transzendentalen Heimatlosigkeit‘, die es durch eine per Analogie reaktivierte Metaphysik des Absoluten wiederzugewinnen versteht. Daß die aufs Gegenständliche so bedachte Überlegung dem eigenen ontologischen Programm standhält, liegt daran, daß Hindrichs der Arbeit die bereits von Marx kritisierte ‚okkulte Fähigkeit‘ zuschreibt, aus sich heraus weltgestaltend zu sein (vgl. Karl Marx, Das Kapital, Bd. 1, MEW 23, Berlin 1986, 538). Daß dieses Verhältnis der Subjekte zur gegenständlichen Welt jedoch durch Herrschaft von Menschen über Menschen bestimmt ist, wird nicht bedacht. In seinem Nachwort zur Taschenbuchausgabe (Frankfurt am Main 2010) grenzt Hindrichs seinen negativen, kritischen Weg gegen bloße Restauration von Metaphysik und Theologie ab, die in ihm einen Gewährsmann sehen wollen. Aber negatives Denken, dem das materielle Fundament fehlt, birgt mehr Metaphysik in sich, als es sich selbst eingestehen möchte.

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auch dieser Praxis an.32 Subjektivität ist nirgends, wenn nicht in Subjekten, die lebendige Menschen sind. Der dabei verwendete Praxis-Begriff trennt nicht ein selbstgenügsames Handeln von einer Sphäre des poiätischen Handelns ab. Vielmehr umfaßt dieser Begriff jede bewußt auf Gegenstände oder auf andere Menschen bezogene, mithin alle durch Zwecke bestimmte menschliche Aktivität, auch wissenschaftliche Arbeit, insofern sie arbeitsteilig oder am Naturpräparat stattfindet. Gerade die Verbindungsstellen von Theorie und Praxis sind von zentralem Interesse.33 Dieses Praxisverständnis ist aber weder das von der Axt im Hause, noch ist es pragmatisch auf Vermittlung mit der historischen Wirklichkeit angelegt, sondern es versteht radikal praktische Vernunft als Grund von Praxis. Die Verwendung des altmodischen Ausdrucks ‚Praxis‘ soll an dieser Stelle vor allem das Moment bewußter Zwecksetzung gegenüber dem inzwischen anders als noch zu Kants Zeit besetzten Begriff der Handlung und den mit ihm verbundenen Begriffen ‚Motivation‘ oder ‚Intention‘ betonen. Zunehmend sind im Gefolge der Theorien, die sprachliche Äußerungen als Handlungen beschreiben wollten,34 Handlungen selbst auf eine semiotische oder kommunikative Struktur reduziert worden; dies zudem anhand alltagssprachlicher Äußerungen, über die wegen ihrer bloßen Partikularität ohnehin keine wissenschaftlichen Urteile möglich sind. Deshalb läuft diese ‚Konkretisierung‘ konsequent auf formelle Abstraktion hinaus. – Sowenig menschliches Handeln im Besonderen ohne Begriffe allgemeiner Formen zu begreifen wäre,35 sowenig kann doch auch die theoretische Selbstverständigung der Menschen über Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung von den gegenständlichen Bedingungen absehen, unter denen gegenständliche Wesen allein denken und handeln können und ohne die auch kein Gedanke ans Subjekt wäre.36 Das hat die erkenntnistheoretische Diskussion ums Subjekt fast durchgängig ignoriert. Sie ist dennoch nicht zu dem reinen Selbstbewußtsein – oder Selbstsein oder Bekanntsein mit sich – gekommen, das sie intendierte, weil ihre Subjekte sich letztlich 32

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Einen so verstandenen kritischen Begriff von Subjektivität haben im Blick: Alex Demirović/ Christina Kaindl/Alfred Krovoza (Hgg.), Das Subjekt – zwischen Krise und Emanzipation, Münster 2010. Vgl. Peter Euler, Technologie und Urteilskraft. Zur Neufassung des Bildungsbegriffs, Weinheim 1999, 254: „Es liegt in der Zweckbestimmung ein immanenter Übergang zur Praxis vor, der in Kants Terminologie weder im Sinne des moralisch Praktischen, noch ganz im technisch Praktischen aufgeht.“ Vgl. grundlegend für die Sprachpragmatik die Arbeiten von Herbert Paul Grice, ausgehend von Meaning, in: The Philosophical Review 64 (1957), sowie zum Sprechakt John L. Austin, Zur Theorie der Sprechakte, Stuttgart 1972 (engl.: How to do Things [!] with Words) und John R. Searle, Sprechakte, Frankfurt am Main 1983. Vgl. Ernst Cassirer, Versuch über den Menschen, Frankfurt am Main 1990, 111f.: „Alle menschlichen Tätigkeiten gründen in besonderen historischen und gesellschaftlichen Bedingungen. Aber wir könnten diese besonderen Bedingungen nicht verstehen, wenn wir nicht imstande wären, die allgemeinen Strukturprinzipien zu begreifen, die diesen Tätigkeiten zugrunde liegen.“ Vgl. Gerhard Krieger, Ichbewußtsein oder Selbstbewußtsein überhaupt? Zu einer mittelalterlichen Alternative zu Kant, in: Günther Mensching (Hg.), Selbstbewußtsein und Person im Mittelalter, Würzburg 2005, 109: Selbstbewußtsein sei als Verknüpfung von Theorie und Praxis zu verstehen und deren Ziel als die „Möglichkeit des theoretischen Selbstverständnisses wissenschaftlicher Praxis“.

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in ganz materiellem Sinn selbst im Wege standen: Noch jede philosophisch ernste Theorie von Subjektivität muß letztlich eingestehen, daß kein Mensch ein Gott sei und daß den Menschen deshalb die zur Reinheit nötige intellektuelle Anschauung mangelt. Wird dies aber konsequent genommen, so ist keine Theorie vom Subjekt möglich, ohne die geschichtlichen Existenzbedingungen der Subjekte darin zu reflektieren. Eine Kritik an idealistischen Subjektkonzepten wie auch an Konzepten der Auflösung von Subjektivität ist deshalb ohne Reflexion auf die Praxis, in der Subjekte agieren und aus der heraus sie sich allein verstehen müssen – wenngleich dies kaum je widerspruchsfrei gelingt –, ein Unternehmen, das so abstrakt bleibt wie das, wogegen es sich wenden will. – Wenn von moderner Subjektivität die Rede ist, soll ‚Moderne‘ dabei das Stadium der Entwicklung von Reflexivität bezeichnen, in dem diese nicht mehr als bloßes philosophisches Prinzip ausgefaltet wird, sondern in dem sie sich selbst zum Problem wird. Markant modern sind literarische Werke, die ihre eigene Dramaturgie dramaturgisch in Frage stellen. Der Don Quichote, der Tristram Shandy oder der Midsummernight’s Dream sind deshalb so modern wie Hölderlins poetologische Poesie oder der Ulysses. Auch Kants kritische Philosophie stellt sich unentwegt selbst in Frage, freilich mit dem Ziel, umso zwingender die Möglichkeit kulturellen und moralischen Fortschritts durch Aufklärung nachzuweisen.37 Moderne, philosophisch zunächst um Reflexivität, um das bewußte Verhältnis der Menschen zu sich selbst konzentriert,38 weist aber ebenso philosophisch über sich selbst hinaus. Rimbauds Satz ‚il faut être absolument moderne‘39 drückt die Forderung aus, Moderne – einen in sich relationalen Begriff, der ohne polemische Beziehung auf Vormodernes nichts sagt – absolut zu denken, das heißt, ihn nur auf sich selbst zu beziehen: So wendet Moderne sich aber zugleich auch gegen sich selbst: Ihrem eigenen Verständnis nach kann es keinen Grund von Kritik an der Moderne geben, der nicht selbst in der Moderne begründet wäre;40 das einmal seiner selbst bewußt gewordene Subjekt kann nicht mehr auf Maßstäbe regredieren, die ihm selbst systematisch vorausliegen, ohne zugleich affirmativ auf defizitäre Lebens- und Denkbedingungen zurückzugehen. Diese Affirmation vergangenen Leidens – und allzuoft auch eines irgendwo zugleich gegenwärtigen – ist der Preis jeder extrinsischen und dadurch abstrakten Modernitätskritik. Das 37

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Vgl. Norbert Herold, Hoffnung aus der Geschichte? Kants Geschichtsphilosophie zwischen Optimismus und Skepsis, in: Bernd Prien/Oliver R. Scholz/Christian Suhm (Hgg.), Das Spektrum der kritischen Philosophie Kants, Berlin 2006, 190: „Die Ambivalenz der Moderne ist vielmehr mit ihren Anfängen gegeben. Schon im Zeitalter der Aufklärung […] gehören die Hoffnung auf die Vernunft und die Kritik an der Vernunft zusammen.“ Diesen weiten und doch präzisen Moderne-Begriff hat Dieter Henrich nachgezeichnet: Die Grundstruktur der modernen Philosophie, in: Selbstverhältnisse. Gedanken und Auslegungen zu den Grundlagen der klassischen deutschen Philosophie, Stuttgart 1982. Arthur Rimbaud, Abschied, in: Das poetische Werk, Bd. 1, München 1979, 58, allerdings in mißverständlicher Übersetzung: „Man muß absolut auf der Höhe seiner Zeit sein.“ Vgl. Theodor W. Adorno, Kulturkritik und Gesellschaft, in: Gesammelte Schriften, Bd. 10.1, Frankfurt am Main 1977. Dagegen kennen manche Modernisierungskritiker nur die Alternative: mit der Moderne die Tradition kritisieren oder mit der Tradition die Moderne kritisieren, um vormoderne Strukturen gegen die Moderne wieder zu beleben. Vgl. Shalini Randeria/Martin Fuchs/Antje Linkenbach (Hgg.), Konfigurationen der Moderne. Diskurse zu Indien, Baden Baden 2004, 20.

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volle moderne Selbstbewußtsein schließt allerdings die historische Reflexion auf seine eigenen vormodernen Bedingungen und den Prozeß seiner Entwicklung aus diesen ein. Gerade deshalb kann hinter das Reflexionsprinzip nicht oder nur scheinbar zurückgegangen werden. Daß noch die Kritik am Subjektivitätsprinzip Subjektivität voraussetzt muß nicht als metaphysische Letztbegründung aufgefaßt werden; auch dies ist ein negativer Begriff von Subjektivität, hinter den aber freilich, solange Menschen verständlich miteinander reden und miteinander leben wollen, nicht zurückgegangen werden kann. Durch reflexive Kritik der Moderne wird diese aber selbst zum normativen Begriff. In ihr behauptet das moralische Subjekt seine Subjektivität gegen deren deformierte oder defizitäre Realisierung. Gerade weil Moderne ein ambivalenter Begriff ist, ist er aus sich selbst zu kritisieren, absolute Modernität beruht paradox auf ihrer inneren Endlichkeit.41 – Trotz der grundsätzlichen Reflexivität der Moderne ist nun der Ausdruck ‚moderne Subjektivität‘ kein Pleonasmus. Der Begriff von Subjektivität muß im theoretischen Rückblick über deren selbstbewußte Form hinausreichen. Zwar läßt sich annehmen, daß Menschen innerhalb einer teleologischen Weltvorstellung sich selbst nicht als selbstbewußte Subjekte begreifen können, aber im Rückblick muß ihrem Handeln doch ein Moment von Subjektivität beigemessen werden können. Sonst wäre die Selbstgewinnung von Subjektivität in der Neuzeit bloß ein geschichtlich kontingentes Faktum. Dann wäre aber auch kein Begriff von Geschichte möglich, die Menschen der Neuzeit könnten sich nicht in der Tradition von Mittelalter und Antike lokalisieren. Aber Menschen reflektieren auf ihre Vorfahren nicht wie auf Naturobjekte, sondern sie leiten die Regeln ihres Denkens und Handelns aus der Kritik am überlieferten Denken und Handeln ihrer Vorfahren ab. Sobald Menschen sich von der Natur unterscheiden, agieren sie auch als Subjekte. Daß sie davon zunächst kein volles Selbstbewußtsein entwickeln, zeigt sich in den Aporien der theoretischen und der praktischen Selbstbestimmung, in die das Denken

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Der auf Reflexion, auf Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung gegründete Begriff der Moderne ist nicht der positive Modernisierungsbegriff des 20. Jahrhunderts, durch dessen Kritik die Moderne und ihr Begriff selbst in Frage gezogen werden. Vgl. die Darstellung der soziologischen Diskussion bei Wolfgang Knöbl, Die Kontingenz der Moderne. Wege in Europa, Asien und Amerika, Frankfurt am Main 2007, bes. Teil I. Vgl. auch Shmuel N. Eisenstadt, Multiple modernities: Analyserahmen und Problemstellung, in: Thorsten Bonacker/Andreas Reckwitz (Hgg.), Kulturen der Moderne. Soziologische Perspektiven der Gegenwart, Frankfurt am Main 2007. – Die Kritik an Eisenstadt hebt fast allein auf den Ausdruck ‚multiple modernities‘ ab. Eisenstadt selbst schreibt dagegen von ‚der Moderne‘, deren Realisierungsgestalten vielfältig seien, und er hat ein präzises Kriterium für Modernität, nämlich Reflexivität, die sich auf den Gebieten des Rechts (Personalität), der Ökonomie (Kapitalismus), der Bildung (Selbstverständnis) u. a. durchsetze. Die Vielfalt von gesellschaftlichen Erscheinungsformen innerhalb der Moderne sei durch die kulturell verschiedene Adaption moderner Grundtendenzen bedingt. Damit reagiert Eisenstadt auf das Problem des Mißverhältnisses von Anspruch und Realität, der Ambivalenz von Reflexivität in der Moderne: Er versucht das Scheitern von Selbstbestimmung im Moderne-Begriff mitzudenken. Selbst wenn dieser kulturkomparatistische Weg keine grundsätzliche Erklärung bietet, so hat Eisenstadt doch vor den neosystemischen Modernisierungstheorien immerhin das Problembewußtsein voraus. Vgl. z. B. Volker H. Schmidt, Multiple Modernities or Varieties of Modernity?, in: Current Sociology 54 (1) 2006.

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ihrer selbst gerät.42 Die zunehmende Reflexion jener Aporien ist dann das historisch-systematische Medium der Bewußtwerdung von Subjektivität, aus der neue, grundsätzlich veränderte Aporien entstehen, um die es in der vorliegenden Arbeit zu tun ist. Zentral ist dabei die Bedeutung der ‚ungeselligen Geselligkeit‘ für Kants Philosophie insgesamt. Diese praktische Aporie in den Verhältnissen der Subjekte zueinander, die Selbstverständlichkeit und Strenge, mit der sie vorgetragen wird, hat Gründe nicht allein in der Beobachtung des politischen und sittlichen Verhaltens der Menschen; sie hat vor allem Gründe im theoretischen Selbstverständnis, das seinerseits in Schwierigkeiten gründet, die eigene Beziehung zur Natur, zu den Gegenständen von Erfahrung und Erkenntnis adäquat zu fassen. Diesen Zusammenhang auf dem Wege einer Kommentierung der Schriften Kants aufzuhellen, ist ebenso ein Ziel der Arbeit wie dasjenige, am Rand dieses Weges gangbare Abwege zu zeigen, die im Licht der Kritik an Kant den Schein des Abwegigen verlieren und als Umwege zu einem Ziel erkennbar werden, das anders als über Umwege nicht zu erreichen ist: Der direkte Weg in eine menschliche Gesellschaft existiert nicht für Wesen, deren Geschichte im fortgesetzten Versuch der wechselseitigen Vernichtung besteht. Der indirekte Weg ist gleichwohl kein pragmatischer, denn die Einheit des Selbstbewußtseins – trotz allem an der eigenen Vernunft festzuhalten – stellt die unumgängliche Bedingung jeder menschlichen Praxis dar, die diesen Namen auch moralisch verdient. Einheit des Selbstbewußtseins schließt aber den unverkürzten Anspruch auf sittliche Selbstbestimmung ein, auch und gerade dort, wo dieser sich nicht einlösen läßt: „Das Projekt [Aufklärung] ist […] noch nicht beendet, es kann noch gerettet werden, es muß gerettet werden, auch wenn es im Stande der Unfreiheit im Moment noch so sehr stagniert, daß der Ausblick auf die Möglichkeit, daraus auszubrechen, verblendet ist. Aber die Möglichkeit […] muß als regulative Idee gewahrt werden. Es gibt einen Fortschritt in der Menschheitsgeschichte, den man nicht wegdiskutieren kann: die Entwicklung der Produktionsmittel. Sie ermöglicht mehr Wohlstand und von den Zwängen der Arbeit befreite Zeit. Und damit potentiell gesellschaftliche Verhältnisse, in denen das Individuum in der Differenz keine Angst mehr zu haben braucht.“43 – Zur Einheit des Selbstbewußtseins gehört es, politische, gesellschaftliche oder persönliche Schranken vernünftiger Praxis nicht als conditio humana sich zur inneren Schranke zu machen, sondern aus dem Anspruch der Vernunft sie als empirische, äußerliche Schranken auszuweisen. Wohl ist das Selbstverständnis empirischer Wesen immer durch das zu vermitteln, was diese nicht selbst sind; ihre Bestimmung aber durch das, was sie ihrem Selbstverständnis nach nicht sein können, beschädigt sie innerlich. Einheit des Selbstbewußtseins ist deshalb durch intellektuellen Widerstand gegen solche heteronome Bedingungen bestimmt. In diesem 42

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Vgl. Michael Städtler, Die Freiheit der Reflexion. Zum Zusammenhang der praktischen mit der theoretischen Philosophie bei Hegel, Thomas von Aquin und Aristoteles, Berlin 2003. – Vor allem der Gestaltung literarischer Figuren in antiker Dramatik und Epik ist zu entnehmen, daß den Handelnden der Gegensatz ihrer Absicht zu dem, was geschieht, tief bewußt ist. Darin spricht ein subjektives Selbstbewußtsein, für das die Philosophie noch keinen systematischen Ort anzugeben vermochte. Moshe Zuckermann, Zweierlei Israel? Auskünfte eines marxistischen Juden an Thomas Ebermann, Hermann L. Gremliza und Volker Weiß, Hamburg 2003.

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Beharren auf dem unverkürzten Anspruch vernünftiger Praxis ist die Kritik an Kant zugleich auf dessen Seite. – Nun könnte doch noch eingewendet werden, es sei abwegig, Prinzipien moderner Subjektivität aufzusuchen bei einem Autor, der in seiner unmittelbaren Umgebung mit einer weitgehend agrarischen, noch geradezu spätfeudalen Gesellschaft konfrontiert war und Kapital allenfalls als Handels- und Wucherkapital kannte; in der kritischen Kapitalbestimmung bei Marx, durch die Kapital erst als das ökonomische Prinzip der Ambivalenz der Moderne bestimmbar wird, ist aber die kapitalistische Form der Produktion grundlegend, nicht die der Distribution. Gegen diesen Einwand ist zu sagen, daß Kant sich als einer der ersten klassischen Autoren des Bürgertums um eine umfassende Durchdringung der neuen bürgerlichen Prinzipien auf den Ebenen moralischer und politischer Theorie bemühte, jener Prinzipien, die – wie zu zeigen ist – bestimmend werden sollten für die Moderne. Die gesellschaftlichen Veränderungen, die in den auf Kant folgenden fünf Jahrzehnten vorgingen, waren in Ansätzen schon spürbar und der Aufklärung durchaus präsent; Kant, der sich durch die Entwicklungen zur Reflexion der Geschichte genötigt sah, stellt diese in den Kontext seiner subjektorientierten Erkenntnis- und Morallehre. Sowohl die verschiedenen Bereiche, in denen Subjektivität erscheint, werden bei Kant von dieser aus thematisiert, als auch der Versuch, gegen die Verschiedenheit dieser Bereiche eine Einheit im Bewußtsein zu begründen. So ist Subjektivität das zentrale Thema der Philosophie Kants, auch wenn sie von ihm nirgends als eigenständiger Gegenstand durchgeführt, vielmehr schon sprachlich durch eine Vielzahl von Ausdrücken unterteilt wird: vom Ich über die Apperzeption und die Seele zu Subjekt, Person, Persönlichkeit und anderen mehr. Kaum allerdings sind diese Bezeichnungen in analytischem Sinn terminologisch aufgebaut. Sie markieren eher den Übergang aus der schulphilosophischen Vermögenspsychologie zur wissenschaftlichen Erkenntnis- und Sittentheorie. Daher ist hier weniger an dem Nachweis der Sinnlosigkeit mancher Unterscheidungen oder an der Schärfung ihres Sinns durch zusätzliche Unterscheidungen gelegen, als an der Frage, welche Probleme in der Sache sich hinter auffälligen Elementen der Darstellung verbergen. Der Knoten in der Sprache zeigt ein Problem in der Sache an.44 Die vorliegende Untersuchung erhält ihren wesentlichen Impuls aus der Überzeugung, daß das subjektive Bewußtsein seiner selbst und von den Dingen heute mehr noch als zu Kants Zeit Grundlage kritischer Philosophie sein muß, daß dies aber gerade deshalb noch weniger bruchlos möglich ist, als Kant es zu konstruieren unternahm. Für Kant war das Subjekt die Grundlage der Möglichkeit objektiver Erkenntnisse überhaupt. Heute hingegen wird Subjektivität, wie dargestellt wurde, als schwer belastet erfahren. Subjekte finden ihre Subjektivität in den Versuchen ihrer praktischen wie theoretischen Selbstbestimmung verstellt oder deformiert, oder sie vermeinen einen geradezu positivistischen Zugriff in intentione recta auf Selbstbestimmung zu haben, die sie mit Selbstbehauptung verwechseln. Dadurch gerät Subjektivität, im Gegensatz zu Kant, zur Grundlage einer Vorstellung der Unmöglichkeit objektiver Erkenntnisse und Begriffe. Wenn in Philosophie und auch in gesellschaftlicher Praxis die Möglichkeit, etwas sicher, mit Grund, zu wissen, nicht ganz preisgegeben werden soll, müssen die Bedingungen dieser Entwick44

Vgl. Aristoteles, Metaphysik, Hamburg 1989, 995a.

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lung im Selbstverständnis von Subjektivität analysiert werden. Aus dieser Perspektive kann der kritische Blick auf Kants Verständnis von Subjektivität geschichtliche und formale Momente im Subjekt ausweisen und so auch die Voraussetzungen eines kritischen Selbstverständnisses entwickeln. Die geschichtlichen Momente umfassen dabei im weitesten Sinn die geistigen und gegenständlichen Bedingungen, unter denen gedacht und gehandelt wird. Zu zeigen ist, daß zwar Subjektivität die formalen Bedingungen zu ihrem Selbstverständnis selbst bereitstellt, daß dieses aber auch in vermeintlich reiner Reflexion von den Bedingungen, unter denen es jeweils möglich wird, nicht loszulösen ist.

2.

Elemente eines kritischen Subjektbegriffs

Wenn also an Subjektivität festzuhalten ist um der menschlichen Subjekte willen, dann nur unter der Voraussetzung, daß kritisch von ihr zu reden sei. Das provoziert nun die Frage danach, wer denn das Subjekt der Kritik an Subjektivität sei. Wer feststellen wollte, daß Subjektivität in sich auf Widersprüche stoße, womöglich in sich zerrüttet sei, der wäre doch der eigenen Kritik zufolge als Subjekt selbst ohne innere Einheit. Wer Subjektivität als auch geschichtlich geformt verstehen wollte, stünde selbst in derselben Geschichte und hätte zu seinem Gegenstand keine theoretische Distanz.45 – Eine kritische Theorie von Subjektivität kann sicher keinen wie immer positiven Begriff des Subjekts mehr gewinnen. Weder Introspektion noch Sprachanalyse, weder Kommunikationstheorie noch Spracherwerbstheorie gehören zu ihrem Inventar. Aber ebenso wenig ist die sich gegenwärtig abzeichnende Rückwendung der Philosophie zur traditionellen Metaphysik angezeigt:46 Eine Antwort auf die Mängel der Positivität bietet nicht die, durchaus äquivoke, Über-Positivität von Metaphysik, sondern Negativität als Prinzip von Philosophie. Ansetzen läßt sich dafür bei den klassischen Subjektivitätstheorien. An ihnen ist zu zeigen, daß ihr Begriff vom Subjekt immer schon ein negativer war: nicht ein dunkles Selbst, aus dem Individualität emergiert, sondern Bedingung der Möglichkeit von Wissenschaft und von sittlicher Praxis, die beide sich in notwendig allgemeingültigen Urteilen ausdrücken. Die Widersprüche und Aporien der Subjekttheorie sind dann nicht vorderhand und wohlfeil als Fehler im positiven Selbstverständnis von Subjektivität aufzufassen, sondern als Ausdruck objektiver Widersprüche im Verhältnis der lebendigen 45

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Dieser Vorwurf ist kritischen Theorien des Subjekts in verschiedenen Varianten gemacht worden, die alle darauf hinauslaufen, daß Subjektivitätskritik ihren eigenen Maßstab nicht ausweisen könne. Vgl. dazu Jan Weyand, Adornos Kritische Theorie des Subjekts, Lüneburg 2001. Weyand zeigt, daß der kritische Subjektbegriff Adornos nur durch Rekurse auf die Marxsche Theorie Konsistenz gewinnt, die über die Dialektik der Aufklärung insofern hinausgehen, als sie das Verhältnis von Subjekt und Natur um den Faktor Herrschaft (in ihrem ökonomischen Sinn) erweitern. Von da aus ergibt sich aus der Kritik der politischen Ökonomie die Überwindung von Herrschaft (die Weyand mit einem bestimmten Begriff von ‚Versöhnung‘ in Verbindung bringt) als Maßstab der Kritik. Gerade die Normenbegründung greift aus Ungenügen an der bloßen Positivität wieder auf metaphysische Instanzen zurück. Vgl. z. B. Robert Alexy, Menschenrechte ohne Metaphysik?, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 52 (2004), eine späte Antwort gewissermaßen auf Günther Patzig, Ethik ohne Metaphysik, Göttingen 1971.

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Subjekte zur Natur und zu einander. Die Zumutungen klassischer Subjekttheorie sind nicht durch immer neue Rekonstruktionen auszumerzen. Sie sind aber daraufhin zu befragen, was sie über die subjektive Bestimmtheit lebender Menschen verraten. Dasfreilich setzt voraus, daß Subjekttheorie nicht als ein immanent erkenntnistheoretisches Unternehmen aufgefaßt wird, das gegen alles Äußerliche versichert sein muß. Vielmehr ist im Gang der Untersuchung nachzuweisen, daß das erkennende Bewußtsein und Selbstbewußtsein der Menschen in einem engen Wechselzusammenhang mit ihrer praktischen Selbstbestimmung und deren technischen wie sittlichen Objektivierungen steht. Nachzuweisen ist dies in der Kritik klassischer Subjekttheorien und in deren Konfrontation mit ihren verschwiegenen Bedingungen, nie aus dem naiven Blick auf die eigene innere oder äußere Zuständlichkeit. Die Befindlichkeit des Einzelnen, sein Leid oder Glück, so sehr sie der Zweck der Reflexion von Subjektivität sein sollen, geben über nichts Auskunft als über sich selbst. Die Kritik der philosophischen Erklärung, der theoretischen Reflexion individuellen Lebens, verspricht dagegen Auskunft über Gründe. Die Ausgangsfrage ist deshalb: Wie kommen die Menschen zur Selbstbestimmung, deren praktischer Ausdruck, wie defizitär auch immer, ihre Objektivierungen in Sittlichkeit und Naturbearbeitung sind; wie setzen Menschen die Bedingungen ihrer eigenen zwecksetzenden Subjektivität? Bei der Suche nach Antworten ist vom Selbstbewußtsein auszugehen, denn wenn die Menschen nicht je sie selbst wären oder wenn sie davon gar nichts wüßten, so könnten sie keine Zwecke setzen, weil sie nicht wüßten, was ein Zweck im Unterschied zur Naturkausalität überhaupt ist. – Vielleicht ist der heimliche Widerwille gegen die Verpflichtungskraft von Selbstbestimmung der Grund dafür, daß der Zweckbegriff in der Sozialforschung bis in ihre sozialphilosophische Grundlegung hinein heute weitgehend ignoriert wird. Von Zwecken ist dort, wo vom Handeln gesprochen wird, kaum mehr die Rede, allenfalls noch von deren ‚Struktur‘. – Gleichwohl ist vom Selbstbewußtsein nicht auf Selbstbestimmung zu schließen. Das gilt für die theoretische Form von Selbstbewußtsein – bei Kant die transzendentale Einheit der Apperzeption – ebenso wie für die praktische – den kategorischen Imperativ. Für den Übergang vom Selbstbewußtsein zur Selbstbestimmung zusätzliche Bedingungen zu erschließen, ist aussichtslos, weil kein Kriterium dafür bereitliegt. Ließe ein Kriterium sich erschließen, dann auch der Übergang selbst. Also bleibt zu versuchen, von der Realität der mißglückten Selbstbestimmung, von den heteronom bestimmten Menschen und ihren Lebensbedingungen aus auf die Einheit ihres Selbstbewußtseins zurückzugehen und auf diesem Weg auf Bestimmungen zum Zusammenhang von Selbstbestimmung und Selbstbewußtsein zu reflektieren. Wenn von kritischer, zumal geschichtlicher Theorie der Subjektivität, von Kritik am Fortschrittsbegriff der klassischen deutschen Subjektphilosophie, die Rede ist, liegt die andere Vorstellung nahe, die Geschichte des Subjekts gelte nurmehr als Verfallsgeschichte, vor deren Beginn die Subjekte heil gewesen seien. Wohl ist der Prozeß sukzessiver Bewußtwerdung kein geradliniger Fortschrittsprozeß gewesen, weil die theoretische Entfaltung von Subjektivität in ihrer praktischen Objektivation zugleich Selbstbestimmung bindet. Das neuzeitliche Individuum steigt und stürzt zugleich aus der strengen heilsgeschichtlichen Ordnung direkt in die nicht weniger strenge der bürgerlichen Gesellschaft. Ebensowenig ist jener Prozeß aber ein bloßer Verfall, weil umgekehrt die Bedingungen, durch die Selbstbestimmung jetzt gebunden ist, zugleich die subjektiven und objektiven

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Bedingungen der Befreiung bereithalten. Der gesellschaftliche Reichtum, dessen immer erweiterte Reproduktion den Menschen zunehmend Sachzwänge auflegt, bedeutet ihre Emanzipation von natürlichen Zwängen. Bedrückend und erleichternd zugleich ist es, daß die Beschränkungen von Subjektivität immer zunehmend selbsterzeugte wurden, deren Notwendigkeit mit jedem Anstieg ihrer Sachzwangsgewalt abnimmt. Das Subjektprinzip ist das Prinzip der Neuzeit; deren gesellschaftliche Form ist die Verwiesenheit von Einzelnen aufeinander, und zwar aller Einzelnen. Obwohl die Menschen noch nicht Zweck der durch sie selbst bewegten Entwicklungen sind, sind diese nur möglich in einer Gesellschaft wenigstens formell freier Subjekte. Schon deshalb bleibt das Subjektprinzip in Geltung und steht zugleich ebenso in Frage, denn die garantierte Subjektivität ist in Zwecke eingebunden, die ihr als selbstbewußter und selbstbestimmter nicht entspringen könnten. Eine Überwindung des Subjektprinzips ist aber weder gesellschaftlich in Sicht, noch wäre sie Aufgabe von sich kritisch verstehender Philosophie oder Gesellschaftstheorie. Im Gegenteil: Deren Aufgabe bleibt die radikale und konsequente Entfaltung der geltenden Prinzipien, bis deren eigene Stringenz sich gegen die Wirklichkeit wendet; mit Subjektivität ernst zu machen, Autonomie, ist der einzige sichtbare Weg, der aus den subjektwidrigen Bedingungen hinausführt, weil er in den realen Verhältnissen ansetzt und deren progressive Momente gegen ihre Beschränkungen forciert. Was dies im geschichtlichen Verlauf und in dessen Reflexion für den geläufigen Begriff von Subjektivität bedeuten wird, kann niemand antizipieren. Eine entsprechende von innen, vom Prinzip her, aufsprengende Kraft haben auf positive Konsistenz abstellende Theorien aber nicht, zumal wenn sie Erklärungen aus Prinzipien prinzipiell als metaphysische Atavismen zurückweisen. Konsistenz ist sinnvoll allein negativ zu wahren, wenn die Darstellung der Inkonsistenzen der Sache das Bewußtsein der Unmöglichkeit ihrer konsistenten Darstellung mitführt. Diese nachzuweisen, setzt allerdings immer ein Bewußtsein voraus, das jener Inkonsistenz ein Moment von Einheit – und sei dieses nur in deren Einforderung real – entgegenzusetzen hat. Gegenüber ‚reinen‘ Subjektivitätskonzepten ist hervorzuheben, daß Subjektivität, wie jede substantielle Bestimmung, erscheinen muß; sie muß sich objektivieren. In den empirischen, lebendigen Subjekten hat Subjektivität immer ein objektives Moment in deren notwendigen Beziehungen auf ihre objektiven Lebensbedingungen. Empirische Subjekte verhalten sich in ihrer Reflexion auf reine Subjektivität zwangsläufig auch zu jenen Bedingungen, die sie in der theoretischen Selbstbestimmung ausschließen. Der Begriff von Subjektivität ist einerseits durch Abstraktion zu konzipieren, andererseits ist er dadurch schon in ein Verhältnis zur Objektivität gesetzt; vielleicht läßt sich die Betrachtung des Selbstbewußtseins durch ‚semantische Analyse‘ von der Frage nach seiner objektiven Realität in empirischen Wesen abtrennen – aber diese Betrachtung hat dann eben keine Objektivität mehr, worüber immer sie gehen mag.47 Dieser Gegensatz ist nur in der Objektivierung, Instantiierung, von Subjektivität in empirischen Subjekten zu vermitteln, und nur dann, wenn diese sich in ihrer Selbstbestimmung, der Begründung ihres Selbstbewußtseins und ihrer Selbständigkeit, kritisch zur Objektivität verhalten. Sie müssen die objektiven Bedingungen auf deren Verträglichkeit mit dem Subjektivitätsprinzip überprüfen. 47

Vgl. dazu Hans-Peter Falk, Person und Subjekt, a.a.O., 107.

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Schon aus dieser philosophisch grundständigen, noch von Hegel inspirierten, Überlegung heraus, sind Veränderungen im Subjektbegriff angezeigt, die auf dessen praktische Bestimmung weisen. Den Versuch, diese Aufgabe grundsätzlich zu reflektieren, ohne das Verhältnis von Subjekt und Objekt positiv nach einer Seite hin oder auch in einem wie immer materialistisch-dialektischen Relationismus aufzulösen, hat Adorno in seinem Aufsatz Zu Subjekt und Objekt unternommen, dessen erkenntnistheoretische Bedeutung fast regelmäßig ignoriert wurde.48 Die spätere Subjektphilosophie erscheint – von der Konstruktion des wechselweisen und doch asymmetrischen Bedingungsverhältnisses von Subjekt und Objekt aus betrachtet – bisweilen eigenartig unbefangen. Was sie von der kritischen Theorie hätte lernen können, ist die Einsicht, daß das Denken ein Moment menschlicher Praxis ist und diese ein Moment von jenem; in einigen Aufsätzen Henrichs sind solche Überlegungen durchaus präsent. Daß Handeln ohne Denken nicht gelingt, wird zumeist reflexionslos akzeptiert; daß aber Denken ohne Handeln die Subjektivität ebenso verkürzt, ist gegen die dem philosophischen Denken immanente Tendenz zum Idealismus kaum durchzusetzen; der Verweis auf den problematischen subjekttheoretischen Handlungsbegriff Fichtes scheint diese Überlegung als ‚Ansatz‘ zu erledigen. Doch Philosophie, die ihre problematische Stellung zur ganz handfesten Praxis der Bedingungen, unter denen nicht allein gehandelt, sondern auch gedacht wird, nicht reflektiert, produziert ebenso verkürztes Selbstbewußtsein, wie die gewohnheitliche Teilnahme an Praxis, die Denken ausblendet. Philosophie des Subjekts, des Selbstbewußtseins und der Freiheit wird zur ideologischen Bestätigung, die in ihrem abstrakten ‚Selbstverhältnis‘, das nicht zufällig sich nicht mehr Reflexion nennt, die Subjekte von den Bedingungen, unter denen Subjektivität möglich wäre und von denen sie schon äußerlich abgeschnitten sind, auch innerlich abschneidet. Ebensowenig freilich kann Philosophie die Subjekte überzeugend pragmatisch oder theoretisch in Bedingungen eingliedern, die ihrer Subjektivität widrig sind; das hatte auch Kant nicht unternommen, der allerdings die Subjekte nicht gegen die Bedingungen stellte, sondern das Subjekt unabhängig von ihnen zu konstruieren unternahm. Entscheidend ist es zu bemerken, daß Adorno mit dem ‚Vorrang des Objekts‘49 keinen naiven Materialismus oder Empirismus vertritt, in dem sich ein Subjekt und ein Objekt substantiiert gegenüberstünden und womöglich das Bewußtsein seine Bestimmungen vom Sein empfinge.50 Im Gegenteil geht es Adorno darum zu zeigen, daß beide 48

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Theodor W. Adorno, Zu Subjekt und Objekt, in: Gesammelte Schriften 10.2, Frankfurt am Main 1977. Die wichtigste Ausnahme von der Regel ist Karl Heinz Haag, Der Fortschritt in der Philosophie, Frankfurt am Main 1985. Vgl. Theodor W. Adorno, Zu Subjekt und Objekt, a.a.O., 747 sowie: Dens., Negative Dialektik, a.a.O., 184ff. Diesen Vorwurf erhebt explizit Klaus Düsing, Selbstbewußtseinsmodelle, a.a.O., 41-44, hier 44. Auf die Polemik gegen Adornos Subjekt-, bzw. Objektbegriff, die Düsing, – übrigens auch unter Auslassung des Aufsatzes Zu Subjekt und Objekt – vorträgt, kann nicht im einzelnen eingegangen werden, weil an ihr fast kein Satz stimmt, sich vielmehr für alle Behauptungen auch in den zum Beleg beigezogenen Schriften unzählige entgegenstehende Stellen anführen ließen. Daß philosophische Texte Aussagen vereinen, die auf den ersten Blick unvereinbar sind, ist wohl nur aus Sicht der positivistischen Kritik an Hegel noch – oder wieder – ein Einwand. Allein gegen den zentralen Vorwurf des naiven Empirismus ist einzuwenden, daß Adorno die These vom ‚Vorrang des

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– Subjekt wie Objekt – Reflexionsbegriffe sind: Begriffe, die aus der Reflexion auf empirische und intelligible Erkenntnisprozesse nur zu gewinnen sind und die deshalb immer in Beziehung auf diese Prozesse und auf ihr Verhältnis in diesen angewiesen sind.51 Das drückt schon der mit Bedacht auffällige Verzicht auf den grammatischen Artikel aus: Nicht von ‚einem‘ oder gar von ‚dem‘ Subjekt beziehungsweise Objekt ist die Rede, sondern von Subjekt oder Objekt. – Adorno folgt zunächst der Tradition der intentio obliqua: Objekt wie Subjekt sind eben nicht im direkten Zugriff realistisch, materialistisch oder auch naturalistisch – wie heute etwas naturvergessen oft formuliert wird – dingfest zu machen. Allerdings zieht Adorno die intentio obliqua erneut ein durch ein Argument, das er aus der Kritik an Husserl52 gewinnt: Gewiß ist allein das Denken, und wenn dieses Gegenstand von Selbstgewißheit ist, muß es bestimmtes Denken – Denken von etwas – sein, weil Denken von nichts gegenstandslos, leer, selbst undenkbar wäre. Daraus gewinnt Adorno aber nicht eine Ontologie mentaler Zustände, durch die Husserl dem Denken ein von der Unverläßlichkeit der Erfahrungswelt abgeschirmtes Reich aufschließen will,53 sondern die Rückbindung des Denkens an das, was dem radikalen Zweifel am Grunde der intentio obliqua scheinbar erlegen war: Denken subsistiert offenbar nicht aus sich. Deshalb kann den Vorstellungen keine autarke ontologische Qualität zukommen, sondern sie verweisen das Denken zurück an ein von ihm relativ Unabhängiges, von dem es seine Inhalte bezieht. Dieses ist relativ unabhängig, weil es zwar getrennt vom Subjekt nicht bestimmt zu denken ist, aber seinen Existenzgrund doch nicht im Denken hat. Denken selbst dagegen hat seinen Existenzgrund in anderem, bliebe ohne Objektbeziehung reine Form, die ohne Inhalt kein Dasein hätte: „Von Objektivität kann Subjekt potentiell, wenngleich nicht aktuell weggedacht werden; […] Aus Subjekt, gleichgültig, wie es bestimmt werde, läßt ein Seiendes nicht sich eskamotieren. Ist Subjekt nicht etwas – und ‚etwas‘ bezeichnet ein irreduzibel objektives Moment –, so ist es gar nichts“54 . – Dieses Verhältnis von Subjekt und Objekt wiederholt sich in empirischen Subjekten, weil sie zugleich gegenständlich existieren, in vielfältiger Weise. Sie sind auf die Bearbeitung von Natur angewiesen, aus der sie existieren und gegen die sie als Einzelne keine kulturelle Selbständigkeit gewinnen können. Ihre Reflexion auf Subjektivität wie auf Objektivität schließt daher sowohl technische als auch soziale, näher moralische, Praxis ein: „Kritik an der Gesellschaft ist Erkenntniskritik und umgekehrt.“55 Daß Adorno erkenntnistheoretisch auf die Subjekte von Erkenntnis – und nicht

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Objekts‘ nicht allein aus der Reflexion des Subjektbegriffs gewinnt, sondern sich in ihrer Formulierung ausdrücklich gegen empiristische Konsequenzen verwahrt, da er sich der erkenntnistheoretischen Gratwanderung bewußt ist (vgl. z. B. Negative Dialektik. Frankfurt am Main 1966, 185). Darin liegt aber gerade kein hypostatischer Relationalismus, der Subjekt und Objekt durch deren verselbständigte Beziehung ersetzen wollte. Vgl. z. B. Theodor W. Adorno, Zur Metakritik der Erkenntnistheorie. Studien über Husserl und die phänomenologischen Antinomien, Frankfurt am Main 1990, 137ff. Vgl. Edmund Husserl, Die Idee der Phänomenologie. Fünf Vorlesungen, Husserliana II, Den Haag 1958, 35. Theodor W. Adorno, Zu Subjekt und Objekt, a.a.O., 747. Theodor W. Adorno, Zu Subjekt und Objekt, a.a.O., 748. – In diesem erkenntnistheoretischen Grundverständnis liegt schon, was Adorno ‚ästhetische Erkenntnistheorie‘ genannt hat, „die aus der Insistenz vorm einzelnen Objekt mehr zu ziehen hofft als aus den Merkmaleinheiten vieler

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bloß auf deren Subjektivitätsstruktur – reflektiert, kann allein noch nicht den Vorwurf des naiven Realismus begründen. Daß die Behauptung, Erkenntnistheorie sei immer schon auch Gesellschaftskritik, keine nennenswerte Akzeptanz erfuhr, mag plausibel erscheinen; erstaunlich ist es aber, daß die zeitgenössische Ethik überwiegend auf die Reflexion gesellschaftlicher Bedingungen verzichtet oder diese allenfalls in pragmatischen Beispielen beizieht, deren Konstruktionen aber meist wenig mit gesellschaftlichen Erfahrungen und noch weniger mit einem Begriff von Gesellschaft zu tun haben. Dabei war schon für Aristoteles, auf den viele Ethiker sich wieder beziehen, die Ethik eine politische Disziplin, weil nur durch Politik die Bedingungen des Handelns umfassend bereitzustellen sind, und noch für Kant, auf den andere – teils auch dieselben – sich berufen, war das disharmonische Verhältnis von Moral, Politik und Gesellschaft ein Stachel, der immer wieder seine Beachtung erzwang. Was Kant nicht gelang – der widerspruchsfreie Übergang zwischen diesen Bereichen – wird als sein eigentliches Vermächtnis begriffen, daß es durch theoretische Schlichtung zu erfüllen gelte, anstatt den Gründen der Aporien nachzufragen. Indem in der vorliegenden Arbeit Ungereimtheiten bei Kant zugespitzt statt geschlichtet werden, wird aber nicht das Potential der Kantischen Philosophie dreingegeben, sondern es wird als kritisches Potential gerade erschlossen.56 Peter Bulthaup hat den Zusammenhang von Erkenntniskritik und Kritik der Gesellschaft am Verhältnis der mathematischen zu den dynamischen Kategorien aufgewiesen.57 Dabei versteht er Kants Formulierung, nach der die mathematischen Kategorien im Unterschied zu den dynamischen keine Korrelate haben, in dem weiten Sinn, daß ihnen nichts in der Erscheinung korreliere, sondern daß ihre Gegenstände in der transzendentalen Anschauung konstruiert werden könnten.58 Die dynamischen Kategorien dagegen gingen auf Gegenstände der Erfahrung. Die Verbindung beider Kategoriengruppen soll bei Kant durch die Einbildungskraft hergestellt werden, die als transzendentale die allgemeine Form der Reproduzibilität der Gegenstände

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miteinander verglichener“ (Theodor W. Adorno, Philosophie der neuen Musik, in: Gesammelte Schriften, Bd. 12, Frankfurt am Main 1975, 34 Anm.). Methodisch sei zu zeigen, daß „die eigene Konsequenz der Objekte in deren Kritik umschlägt. […] Eine immanente Methode solcher Art setzt freilich allerorten als ihren Gegenpol das dem Gegenstand transzendente philosophische Wissen voraus.“ (34). Das Verfahren ist weder empiristisch zu beschreiben, noch idealistisch zu entwickeln. Daß aus Kants Inkonsistenzen etwas zu lernen sei, hat auch Jonathan Bennett, Kant’s Analytic, Cambridge 1966, VIII, festgehalten. Anders Axel Hutter, Das Interesse der Vernunft. Kants ursprüngliche Einsicht und ihre Entfaltung in den transzendentalphilosophischen Hauptwerken, Hamburg 2003, 17. Vgl. Peter Bulthaup, Erkenntnistheorie II (Vorlesung vom 26. 4. 1982), unveröff. Manuskript, Peter Bulthaup-Archiv, Block 149. Bulthaup, der 2004 starb, hat selbst kaum publiziert; im Peter Bulthaup-Archiv in Hannover liegt der überwiegend handschriftliche Nachlaß mittlerweile weitgehend vor. Obwohl Kant unter diesen ‚Korrelaten‘ vorrangig die Gegenbegriffe im Kategorienschema versteht, liegt der von Bulthaup diskutierten Übergangsproblematik die Differenz in der Korrelation von Kategorie und Erscheinung zugrunde. Damit ist es eine Interpretation des scheinbar formellen Unterschieds zwischen den Kategoriengruppen, von dem Kant vermutet, daß er etwas zu bedeuten habe, ohne doch angeben zu können, was.

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gewährleiste, als empirische aber die empirische Reproduktion in der Einbildung vollziehe. Vorausgesetzt ist dafür die Beschaffenheit der Erfahrungswelt gemäß den Formen der Anschauung: Es darf keine ‚Löcher‘ in der Zeit oder im Raum geben, die Erscheinungen müssen als in einem durchgängigen Zusammenhang stehend vorgestellt werden können. – Nun ist es aber gerade die diesen Zusammenhang erschließende Entwicklung der Neuzeit und der Moderne, die zugleich die allgemeine Reproduzibilität in der transzendentalen Einbildungskraft in Frage stellt, indem mit der Aufklärung der Naturzusammenhänge Zwecksetzungen einhergehen, durch die die Naturerscheinungen in einen widersprüchlichen Zusammenhang zweiter Natur gebracht werden, der von den empirischen Subjekten nicht nach allgemeinen vernünftigen Regeln reproduzierbar ist: Die Zwecke, denen die wissenschaftliche Naturerklärung und die aus ihr abgeleitete technische Anwendung unterliegen, sind mit der vernünftigen Form wissenschaftlicher Allgemeinheit nicht kompatibel. So lassen sich zwar an die Erfahrung allgemeine erkenntnistheoretische Reflexionen anschließen, aber deren Begründungsfunktion für Erfahrung bleibt umgekehrt problematisch. Im Zuge der Säkularisierung ändert sich der Zweck der Wissenschaft:59 Solange Gott die Einheit objektiver Allgemeinheit verbürgt, ist der Zweck von Naturerkenntnis Gotteserkenntnis. Sobald aber Gott als Produkt der Einbildungskraft gilt, zerfällt die objektive Allgemeinheit in subjektive Partikularität, deren mögliche Allgemeinheit nun erst epistemologisch aus der Subjektivität selbst neu gewonnen werden muß. Naturerkenntnis und Erkenntnis der Bedingung wissenschaftlicher Allgemeinheit sind dann zwei gegeneinander selbständige Erkenntniszwecke. Diese Selbständigkeit erscheint in der technischen Reproduzierbarkeit von Naturerkenntnis, die keiner philosophischen Reflexion bedarf, wogegen zuvor jede naturphilosophische Erkenntnis grundsätzlich aus der Reflexion aufs Absolute begründet war. Die neue Reflexion aufs Allgemeine ist nur als Reflexion auf menschlich zu begründende Allgemeinheit möglich. Dem, was für alle Menschen gleichermaßen gilt, scheint aber in der Erfahrung nichts zu korrespondieren: In der historischen Situation, in der die menschliche Gestaltung der Welt selbst zum bewußten Komplement wissenschaftlicher Allgemeinheit wird, in der also empirische Reproduktion in der Einbildung und formale Reproduzibilität in der transzendentalen Einbildungskraft in das Verhältnis möglicher Adäquation treten, werden beide dadurch getrennt, daß die praktische Weltgestaltung nach konkurrierenden partikularen Zwecken erfolgt, die mit dem Zweck wissenschaftlicher Allgemeinheit nicht widerspruchsfrei zu vereinen sind. Die Menschen werden Subjekte ihres Erkennens und Handelns, aber unter grundsätzlich unvereinbaren Zwecken: Die Universalität der Erkenntnis, in der einer das, was er erkannt hat, für alle erkannt hat, findet sich in der Erfahrungswelt, in der die verwertbaren Resultate von Erkenntnis und Naturgestaltung privat, das heißt unter wechselseitigem Ausschluß aller anderen, angeeignet werden, nicht wieder. Die wissenschaftliche Allgemeinheit wird unter diesen Bedingungen zur bloßen Form, deren Verbindung zur Erfahrungswelt angenommen werden muß, aber nicht positiv zu begründen ist. Dieser Gegensatz ist Bulthaup zufolge in Kants Unterscheidung der mathematischen von den dynamischen Kategorien reflektiert, die Kant – anders als Hegel im Maß- und 59

Diesen Gedanken verdanke ich Maxi Berger.

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im Reflexionskapitel der Wissenschaft der Logik – unvermittelt nebeneinander stehen läßt: „Die objektive Zerrüttung der Subjektivität, die Erfahrung der Moderne, ist von der Erkenntnistheorie mit dem Übergang von Form der Anschauung zu reiner Anschauung und retour eliminiert. Kant trägt ihr insofern Rechnung, als er diesen Übergang expressis verbis von dynamischen zu den mathematischen Kategorien macht ohne die Rückkehr zu den dynamischen Kategorien begründen zu können, und das Bewußtsein dieser Diskrepanz zwischen dynamischen und mathematischen Kategorien gibt der Erkenntnistheorie einerseits den Charakter des Scheinhaften, dessen, was von der Realität so gründlich separiert ist, daß es im akademischen Bereich als Glasperlenspiel betrieben werden kann, andererseits gibt dasselbe Bewußtsein derselben Diskrepanz der Erkenntnistheorie den Ausdruck des Bodenlosen, Schwindelerregenden.“60 Ein Resultat dieses grundsätzlichen Eintrags in das moderne Selbstbewußtsein, ist die bei Wissenschaftlern wie bei Laien verbreitete Auffassung von der Neutralität der Wissenschaft, an die kaum jemand noch glauben mag, gegen die sich aber auch kein allgemein begründetes Argument wird führen lassen, das nicht prinzipiell demselben Zweifel an seiner Unparteilichkeit unterläge. – Indem das Allgemeine, die transzendentale Bedingung der Reproduzibilität von Vorstellungen, in keinem notwendigen Verhältnis zur empirischen Reproduktion in der Einbildung steht, so „fehlt die Grundlage der Identität des […] empirischen Subjekts der Reproduktion in der Einbildungskraft. Und wenn diese Grundlage der Identität fehlt, wird die Subjektivität selbst zerrüttet“61 . Diese Zerrüttung wird handgreiflich an dem von Bulthaup zitierten Modell aus den Tagebüchern von Günther Anders,62 dem es nach dem Krieg nicht gelingt, seine Erinnerung an die Stadt Breslau mit der Erfahrung der neu aufgebauten Stadt zur Deckung zu bringen. Die Erinnerung ist historisch zur reinen Anschauung geworden. Potentiell trifft dies aber jede naive Erfahrung, deren Subjekt sie mit dem Satz kommentiert: ‚Ich verstehe die Welt nicht mehr.‘ Die Diskrepanz von objektiver Erfahrung und subjektiver Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung, die darin zum Ausdruck kommt, reflektiert die Kantische Philosophie in jeder Stufe der stets wiederkehrenden Versuche zur Vermittlung von Freiheit und Natur: Es geht darin um die Möglichkeit, aus dem allgemeinen Vermögen menschlicher Subjektivität heraus Objektivität in der Erfahrung vernünftig zu gestalten. Die vorliegende Arbeit hat sowohl zur Aufgabe, an Kants Schriften zu entwickeln, wie die historische Formation oder Deformation von Subjektivität in deren theoretischer Bestimmung reflektiert wird und wie sie in den Subjekten selbst repräsentiert ist, als auch, den Versuchen Kants zur Überwindung dieses Problems nachzugehen. Eine Lösung – als Wiedergewinnung unbeschädigter Subjektivität – ist dabei aber nicht zu erreichen, weil die Veränderung des Verhältnisses der Menschen zur Natur wie auch die dazu gehörigen technischen Veränderung von Natur selbst nicht reversibel sind. Die Differenzierung des 60 61

62

Peter Bulthaup, Erkenntnistheorie II, a.a.O. Peter Bulthaup, Erkenntnistheorie II, mdl. Zusatz nach Tonband-Abschrift, Peter Bulthaup-Archiv, Ordner ORD-07. Analog konstruiert Bulthaup hinsichtlich der Kritik der praktischen Vernunft eine ‚Spaltung des Subjekts‘ aufgrund der für den Moralbegriff notwendigen Diskrepanz von empirischem und noumenalem Subjekt. Vgl. Peter Bulthaup, Kritik der praktischen Vernunft (Vorlesung vom 15. 5. 1995), Peter Bulthaup-Archiv, Block 197 bzw. Ordner ORD-025. Vgl. Günther Anders, Die Schrift an der Wand: Tagebücher 1941-1966, München 1967.

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naiven oder kontemplativen Verhältnisses zur Natur ist nicht einzuziehen; ein solches Bewußtsein wäre immer mit dem Gedanken an das, vor das es zurück will, verknüpft. Allerdings ist ein distanziertes Verhältnis der Menschen zu ihrem distanzierten Verhältnis zur Natur denkbar. Zu erreichen wäre es durch die kritische Reflexion auf die Zwecke von Naturerkenntnis, und diese Zwecke lassen sich nur in der Konstellation von Geschichte, Politik, Recht, Moral, Erkenntnistheorie und Naturphilosophie erfassen. – Die Vermittlung vernünftiger Zwecke als Ziel der kritischen Reflexion verweist schließlich auf einen weiten Bildungsbegriff, der subjektive und objektive Bildung – Bildung von Menschen und Gestaltung der Welt – als wechselseitig reflektierte Momente einbegreift.63 Die Erfahrung indes, die nach Bulthaup so gründlich ruiniert ist, kann solcher Bildung noch aus der ästhetischen Reflexion zukommen, die nicht den Bruch zu kitten, aber ihn als Bruch in Erfahrung zu bringen vermag. Nicht so sehr die Kunstphilosophie als vielmehr die erläuternde Darstellung an ästhetischen Modellen selbst entspricht deshalb der theoretischen Disposition der vorliegenden Arbeit. Aus diesen Überlegungen ergibt sich die Notwendigkeit, in der Subjekttheorie nicht bloß überhaupt auf Natur zu reflektieren, sondern einen subjektiv vermittelten Naturbegriff selbst zu entfalten, der das, was Menschen als Natur auffassen, selbst als Kulturleistung ausweist. Dafür ist von der geschichtlichen Funktion von Subjektivität ausgehend, über deren theoretische Grundlegung in politischer Philosophie, Rechts- und Moralphilosophie sowie Erkenntnistheorie zurückzugehen auf das dem vorgeblich reinen Subjekt korrespondierende Andere: Die Zuspitzung der Subjektivitätslehre in teleologischen Überlegungen, die dem Subjekt einen adäquaten Gegenstand konstruieren sollen, ohne dessen Einheit zu gefährden, verweist aus der praktischen Perspektive dann auf einen Begriff von Zweckmäßigkeit, die als kulturgeschichtlich verfügbare zu begreifen ist. Darin liegt eine praktisch ganz unerschlossene Bedingung moderner Subjektivität.

3.

Ein rücklaufender Kommentar. Zur Form von Argument und Darstellung

Wenn nun von Subjekttheorie bei Kant die Rede sein soll, so wird sie überhaupt in der kritischen Philosophie, vorrangig in der transzendentalen Erkenntnistheorie verortet werden.64 Nun ist diese aber auch die begriffliche Grundlage der praktischen Philoso63

64

Die philosophische Bedeutung von Bildung für die Subjekte der Praxis erschien im Fortschreiten der vorliegenden Arbeit zunehmend wichtiger. Vgl. Heinz-Joachim Heydorn, Über den Widerspruch von Bildung und Herrschaft, Wetzlar 2004, 282ff. sowie Gernot Koneffke, Dennoch: Bildung als Prinzip. Anmerkungen zu einer Diskussion des Bildungsbegriffs, in: Widersprüche 21 (1986). Wenn Josef Simon, Kant. Die fremde Vernunft und die Sprache der Philosophie, Berlin 2003, formuliert, die kritische Philosophie sei „weder eine Subjektivitäts- noch eine Intersubjektivitätstheorie“ (19), so kann das nicht heißen, daß von Subjektivität nicht zentral die Rede wäre. So hält Klaus Düsing, Subjektivität und Freiheit. Untersuchungen zum Idealismus von Kant bis Hegel, Stuttgart 2002, 154, fest, Kant entfalte zwar keine Selbstbewußtseinstheorie, werfe aber die wesentlichen Fragen auf und deute Lösungen an. – Aus dem Verhältnis von zentraler Bedeutung

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phie Kants, wenngleich nicht in dem Sinne, daß aus jener diese logisch ableitbar wäre: Aporien der praktischen Philosophie sind nicht, wie Adorno dies andeutet,65 einfach als Folgefehler einer verfehlten Erkenntnistheorie zu identifizieren. Vielmehr stellt die theoretische Vernunft die formalen Grundlagen vernünftiger Reflexion dar, deren Beziehung auf Gegenstandsbereiche die Erfahrungsgehalte dieser Bereiche dann jedoch erfordert. Dann aber muß auch die auf Erfahrungsgehalte bezogene Theorie sich auf die formalen Bedingungen ihrer Erkenntnis zurückbeziehen lassen. Dabei geht es aber nicht darum, die formale Richtigkeit von Argumentation und Darstellung abzuprüfen, sondern darum, die Bestimmungen von Subjektivität bis in den ‚intelligiblen Kern‘ der auf Gegenständliches bezogenen Subjekte zurückzuverfolgen: Wenn es möglich sein soll, daß die handelnden Subjekte ihre Erfahrung selbst auf die Form ihrer Subjektivität a priori beziehen, so müßte ein Mißverhältnis, das zwischen Selbsterfahrung und Selbstbewußtsein bestünde, auch in der Reflexion der Subjekte auf ihre reine Subjektivität wirksam werden. Ein solches Mißverhältnis müßte dann in der Untersuchung dieser Reflexion gezeigt werden können. Unter dieser Voraussetzung wäre ein Moment von Geschichtlichkeit der Subjekte in dem Begriff, den sie von ihrer Subjektivität haben können, zu berücksichtigen. Es wäre sichtbar zu machen durch die Umkehrung der Betrachtungsweise gegen die werkimmanente Entwicklungsrichtung der kritischen Philosophie Kants, durch den Versuch, das Selbstbewußtsein von Praxis auf die theoretische Form des Selbstbewußtseins zurückzuführen. Die Beschränkung der Untersuchung auf die kritische Phase folgt dabei nicht primär dem Motiv, durch Ausschluß der vorkritischen Schriften einen eben noch handhabbaren Rahmen zu setzen; vielmehr gerät auch für Kant selbst mit der Kritik der reinen Vernunft die selbstbewußte Subjektivität zum zentralen Prinzip der philosophischen Reflexion,66

65 66

und unausgeführter Theorie von Subjektivität und Selbstbewußtsein erklärt Manfred Frank die Tradition der Selbstbewußtseinstheorien bei Kants Nachfolgern. Vgl. Fragmente einer Geschichte der Selbstbewußtseins-Theorie von Kant bis Sartre, in: Ders. (Hg.), Selbstbewußtseinstheorien von Fichte bis Sartre, Frankfurt am Main 1991, 415 und 418. – Vgl. zur Sache vor allem auch Heiner F. Klemme, Kants Philosophie des Subjekts. Systematische und entwicklungsgeschichtliche Untersuchungen zum Verhältnis von Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis, Hamburg 1996. Da in dieser wohl gründlichsten Arbeit zum Thema Subjektivität bei Kant diese als Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis untersucht wird, beschränkt sie sich eben auch auf die Erkenntnistheorie. Selbstbestimmung wird daher zunächst auch als theoretische verstanden. Auf die praktische Seite wird allerdings zum Schluß mehrfach hingewiesen (vgl. 396ff. und 407). Die Brücke schlägt Klemme von den Paralogismen aus. In der vorliegenden Arbeit soll dafür argumentiert werden, daß die Probleme praktischer Subjektivität mit der theoretischen vor allem über die systematische Stellung von Antinomien und Teleologie verbunden sind. Vgl. Theodor W. Adorno, Zu Subjekt und Objekt, a.a.O., 753. Vgl. Reinhard Brandt, Historisches zum Selbstbewußtsein, in: Burkhard Tuschling (Hg.), Probleme der ‚Kritik der reinen Vernunft‘, Berlin 1984, 2. Zwar stellt Dieter Henrich schon für das Jahr 1765 eine vorgängige kopernikanische Wende bei Kant fest, wo dieser die praktische Vernunft bereits als Ursprung ihrer eigenen Gegenstände erfasse, doch soll hier die Entwicklung im Anschluß an die systematische Grundlegung des Subjektivitätsprinzips thematisiert werden. Vgl. Dieter Henrich, Ethik der Autonomie, in: Selbstverhältnisse, a.a.O., 19. Gerade die Untersuchung des Verhältnisses der Grundlegung von Philosophie mit der Form sittlichen Bewußtseins hat Henrich dort (41) als Desiderat ausgewiesen.

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gegen das manche aus der vorkritischen Phase übernommene Motive als Relikte der Vermögenspsychologie erscheinen.67 Allerdings hat Kants Philosophie fortan durchaus mit dem unhintergehbaren Anspruch zu kämpfen, der aus der einmal zum Prinzip erhobenen Subjektivität sich unentwegt selbst reklamiert. Die Schwierigkeiten, in die philosophisches Denken gerät, je weiter es dieses Prinzip in die reale Praxis treiben will, sollen nun als Interpretationskriterien auf die theoretische Entwicklung des Prinzips zurückgewendet werden, um – wo und soweit dies möglich ist – Subjektivität grundsätzlich in ihrem praktischen Zusammenhang faßlich zu machen. Auch das Konzept des erkenntnistheoretischen Subjekts steht, so ist zu zeigen, in Beziehung auf solche Zusammenhänge. Weil nun der Weg von den geschichtlich eingebundenen Subjekten zu deren theoretischem Selbstverständnis zurückführt, fällt auch das Opus Postumum nicht explizit in den Rahmen der Untersuchung, zumal Kant hier Konsequenzen gezogen hat, die die kritische Transzendentalphilosophie über sich selbst hinaustreiben, mit Richtung auf die nachkantische idealistische Entwicklung;68 in der vorliegenden Arbeit soll es dabei bleiben, die Tendenz zu solchen Konsequenzen innerhalb der kritischen Philosophie selbst zu entwickeln. Wenn Kant zufolge die praktische Vernunft von Anfang an der terminus ad quem der kritischen Philosophie gewesen sei, erscheint das Verfahren zulässig, zuerst Probleme praktischer Subjektivität zu erörtern, um an den Zwischenergebnissen zu messen, ob die reine Vernunft die Grundlegung auch praktischer Subjektivität leisten kann. Da weiter praktische Vernunft selbst bei Kant auf objektive Realität angelegt ist und da Kant mehrfach – in den Postulaten der praktischen Vernunft, in der Rechtslehre, in der Tugendlehre, in der Lehre vom ethischen Gemeinwesen und in den Aufsätzen zu Politik und Geschichte – die Möglichkeit dieser objektiven Realität nachzuweisen versucht, erscheint es ebenso als gerechtfertigt, den Begriff praktischer Vernunft von der geschichtlichen Praxis her zu rekonstruieren: von der zu begründenden Praxis her zu fragen, ob die praktische Vernunft diese Begründung leistet. Daraus schließlich, daß dieses Verfahren Brüche im Begriff des Selbstbewußtseins auf Brüche im Verhältnis von Theorie und Praxis sowie von Subjektivität und Objektivität zurückführt, erklärt sich die vermittelnde Stellung der Urteilskraft am Ende der Arbeit. Unter Voraussetzung der genannten Brüche wird auch die ihr von Kant zugedachte Vermittlungsfunktion einer Prüfung unterzogen, die tiefer reicht und weiter blicken läßt, als es werkgeschtlich im Aufbau des Kantischen Werks selbst angelegt ist. – Damit ist die vorliegende Arbeit selbstverständlich keine Kantinterpretation in intione recta, die dezidiert Kants Subjektbegriff rekonstruieren wollte; vielmehr geht sie zugleich – soweit möglich – mit Kant und – wo nötig – gegen ihn auf das Problem moderner Subjektivität aus, auch wenn sie dabei weitgehend in der Sprache und im Material der Philosophie Kants verbleibt: Offene Probleme in Kants Subjektivitätsverständnis sollen als negative Ausdrücke moderner Subjektivität entwickelt werden. Damit sind also Brüche oder Aporien in Kants Denken keineswegs als dessen subjekti67

68

Vgl. hierzu exemplarisch, wenngleich mit anderer Beurteilung, Karl Hepfer, Die Form der Erkenntnis. Immanuel Kants theoretische Einbildungskraft, Freiburg 2006, 117. Vgl. Burkhard Tuschling, Widersprüche im transzendentalen Idealismus, in: Ders. (Hg.), Probleme der ‚Kritik der reinen Vernunft‘, a.a.O.; dens., Metaphysische und transzendentale Dynamik in Kants opus postumum, Berlin 1971.

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ve Fehler zu disqualifizieren, sondern im Gegenteil als Ausdrücke einer selbst brüchigen objektiven Realität zu qualifizieren.69 Die Darstellung folgt der Form eines kritischen Kommentars, der so nah am Original wie möglich dessen innere Schwierigkeiten zuspitzt. Gleichzeitig bewahrt sie sich soviel Distanz zum Original, daß weder die theorie- und werkgeschichtliche Einbindung Kants noch die Folgerungen zu Bestimmungen moderner Subjektivität eigener Kapitel bedürfen, sondern im Zusammenhang der kritischen Kommentierung erörtert werden können. Zu beginnen ist also im Ersten Teil, der die subjektiven Bestimmungen von Praxis erörtert, mit jener Abteilung der Philosophie, in der die Subjekte in ihrer Einbindung in praktische Zusammenhänge thematisch sind, mit der am weitesten in die Empirie hineinreichenden Abteilung: der Geschichtsphilosophie. Kant ist es hier darum zu tun, Moral in möglichst reiner Form empirisch wirklich werden zu lassen. Dafür entwirft er in der Schrift über die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft den Begriff eines ‚ethischen Gemeinwesens‘ im Unterschied zu ‚juridischen Gemeinwesen‘. Die Ausführung, die ihrer Form nach die Entwicklungsgeschichte einer Kirche darstellt, verweist jedoch die autonom sich verbindenden Subjekte auf ihnen transzendente Fortschrittsgründe. Nicht nur müssen sie ihre subjektive moralische Einsicht der Instanz eines absoluten Gesetzgebers zumindest regulativ unterwerfen, sondern ihre reale Entwicklung zur Freiheit bedarf eines naturgeschichtlichen movens. Eine Geschichte der Freiheit aufgeklärter Subjekte erscheint nur mit Einschränkung möglich, zumal die moralische Handlungsberechtigung keineswegs absolut ist, sondern ausdrücklich an der Kompatibilität mit den gegebenen politischen Bedingungen eine Grenze hat. Zumindest der Möglichkeit nach stehen politische Geschichte und moralische Geschichte in einem Gegensatz. – In dem Aufsatz Zum ewigen Frieden wird deutlich, daß Kant ein Bewußtsein davon hat, daß die politische Geschichte selbst keineswegs zwangsläufig moralisch ist, sondern auch die Möglichkeit der Selbstzerstörung der Menschheit einbegreift. Nun versucht Kant, Moralvorstellungen normativ in die Politik einzuwirken, ohne sie aber mit der Kompromißlosigkeit der Morallehre der Politik vorzuschreiben. Vielmehr entsteht eine moralisch-politische Pragmatik darüber, wie unter gegebenen Bedingungen der größtmögliche Fortschritt zu erzielen sei. – Dem liegt implizit die Vorstellung eines geschichtlich notwendigen Antagonismus der Menschen zugrunde: Nicht bestimmte politische Verhältnisse behinderten die Moralität der Subjekte, sondern ihr eigenes antagonistisches Wesen stehe ihnen im Weg. Deshalb erscheinen auch mangelhafte politische Bedingungen im Gegenteil als Fortschrittsbedingungen, da sie den Antagonismus kanalisierten; dieser Weg von Geschichte erscheint geradezu als natürlicher Verlauf, dem Wesen der Menschen adäquat, wie in dem Aufsatz Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht erörtert wird, in dem Kant die Vorstellung des Antagonismus auf die bekannte Formel der ‚ungeselligen Geselligkeit‘ bringt und ausgehend von ihr eine Vorstellungsart von Geschichte als gesellschaftlicher Naturgeschichte entwirft. Hierbei handelt es sich auch um die Reaktion auf ein erkenntnistheoretisch-kosmolo69

Vgl. Theodor W. Adorno, Aspekte, in: Drei Studien zu Hegel, Frankfurt am Main 1991, 17 und dens., Erfahrungsgehalt, in: Drei Studien zu Hegel, a.a.O., 81. Adorno, der an Hegel vor allem die stärker geschichtliche Vermittlung der Begriffe hervorhebt, sieht gerade in der geringeren Ausprägung dieser Vermittlung bei Kant ein Festhalten an der Selbständigkeit der Objekte.

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gisches Problem: Die als diffus, willkürlich und zufällig erscheinenden Handlungen müßten als solche aus dem Kausalzusammenhang herausfallen. Dann aber wäre kein konsistenter Begriff von Erfahrung möglich. Zwar würden die Handlungen im Vollzug der Naturkausalität unterliegen, aber wenn sie ihrem Ursprung nach unter keiner intelligibel rekonstruierbaren Gesetzmäßigkeit stünden, fiele der ganze Bereich bewußten Handelns aus dem Zusammenhang der bewußtseinslosen Erfahrungsobjekte heraus. Damit sind die Subjekte der Praxis um der Möglichkeit eines systematisch begründeten Bewußtseins von Freiheit willen zwiespältig bestimmt: Sie sind spontane Urheber ihrer Handlungen und damit Moralsubjekte, zugleich aber sind sie einer antagonistischen Natur unterworfen, die sie als Moralsubjekte zu Objekten der Vorstellung eines teleologischen Naturgeschehens macht, in dem sich schon Hegels Vorstellung vom Weltgeist ankündigt. Zwar ist Kant aufgrund der Vielzahl von Vorbehalten, die er äußert, keineswegs dem Idealismus zuzuschlagen; gleichwohl steht auch seine Philosophie in dem Zug immanenter philosophisch-begrifflicher Anforderungen und auch im Verhältnis zu Tendenzen der Zeit, die seine Reflexion immer wieder auf das Ziel eines Abschlusses festlegen, den es nach Kants kritischem Verständnis in der reinen Theorie nicht geben kann. Diese Tendenz ist in der Konfrontation mit entwickelten idealistischen Philosophemen aufzuzeigen, zumeist bei Hegel, dessen Verhältnis zu Kant gewissermaßen schon durch Jacobi, Reinhold, Fichte, Schelling und andere hindurch purifiziert ist. Bei Hegel ist das widerspenstige Konzept der Erfahrungserkenntnis endgültig aufgegeben. – Jener Antagonismus in den Subjekten und zwischen ihnen setzt sich durch die Rechtslehre fort, die systematisch eine Reflexionsform der Geschichtsphilosophie darstellt, insofern die allgemeinen rechtlich-politischen Voraussetzungen geschichtlichen Handelns erörtert werden, und zwar ausgehend vom Allgemeinen Rechtsprinzip, der konfliktfreien Kompatibilität unterschiedlicher Willkürsphären. Auch hier erfolgt die Untersuchung ausgehend von der ganz äußerlichen Rechtssphäre, dem Völker- und Weltbürgerrecht. Dieses Recht ist bei Kant überwiegend Kriegsrecht, obwohl die kriegerische Handlung kaum unter einen moralischen Rechtsbegriff passen kann.70 Kant entwickelt hier die rechtlichen Formen der Durchsetzung politischer Bedingungen, unter denen eine Moralisierungsgeschichte allererst einsetzen könnte; dabei geraten jene Formen aber in ein Verhältnis zum Rechtsprinzip, durch das die ihnen zugedachte präskriptiv-normative Aufgabe problematisch wird. Unter der Voraussetzung der 70

„Offensichtlich denkt Kant den Krieg noch nicht als einen Handlungszusammenhang, der als solcher, zumindest aber in der Form eines jeden Angriffskrieges, die Würde und Rechte der von ihm betroffenen Menschen prinzipiell verletzt und daher unbedingt verboten ist.“ (Matthias Lutz-Bachmann, Kants Friedensidee und das rechtsphilosophische Konzept einer Weltrepublik, in: Ders./ James Bohman, Frieden durch Recht. Kants Friedensidee und das Problem einer neuen Rechtsordnung, Frankfurt am Main 1996, 35). Zumindest die Feststellung, daß Kant dies hätte wissen können, ist kein „unverdiente[s] Besserwissen der Nachgeborenen“ (Jürgen Habermas, Kants Idee des ewigen Friedens – aus dem historischen Abstand von zweihundert Jahren, in: Matthias LutzBachmann/James Bohman (Hgg.), Frieden durch Recht, a.a.O., 7). Eine formale Erklärung bieten Oliver Eberl/Peter Niesen, Immanuel Kant. Zum Ewigen Frieden. Kommentar, Berlin 2011, 138: Kant löse sich von der Lehre vom gerechten Krieg und behandele dieses Thema als rein rechtliches, als Frage nach dem rechtmäßigen Krieg. Der Studienkommentar zur Friedensschrift hat das Verdienst, die entsprechenden Paragraphen der Rechtslehre mit zu behandeln.

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heteronomen Bedingungen wird das moralische Selbstbewußtsein als rechtliches zur Selbstbehauptung, die sich den Formen dessen, gegen das es sich behaupten muß, anbildet. Diese zwangsläufig deformierte Subjektivität läßt sich überhaupt nur mehr theoretisch aufrechterhalten, wenn ihr der Antagonismus als Naturbestimmung der Menschen unterlegt wird. Für die Vorstellung einer an sich, der Möglichkeit und dem Anspruch nach, integeren menschlichen Subjektivität wäre die Notwendigkeit von Kriegen ausnahmslos ein Skandal; Kant macht aber erhebliche Ausnahmen. Die Notwendigkeit der Kriege selbst resultierte aus dem bürgerlichen Prinzip: Die Staaten, die schon eine stabile liberale Verfassung haben, sollen ein natürliches Verteidigungsrecht haben, analog dem privatrechtlichen Okkupationsrecht im Naturzustand. Dies führt aber dazu, daß eine völkerrechtliche Auflösung des Antagonismus bei Kant nicht gelingt: Der Weltstaat höbe das Konkurrenzprinzip auf, mit ihm aber die Bedingung allen Fortschritts. Eine Föderation aber wäre mangels zentraler Exekutionsgewalt handlungsunfähig; das instabile Verhältnis partikularer Großmächte schließlich berechtigte stets die kleinere zum Präventivschlag. Diese Problematik des Völkerrechts kann in Kants Konstruktion des Staatsrechts zurückverfolgt werden. Kants Verständnis der bürgerlichen Gemeinschaft ist als konstitutionelle Absicherung der durch Kontrakte vergesellschafteten Privatrechtssubjekte konzipiert; damit ist jene zunächst ausdrücklich eine Funktion des Privatrechts, soll sodann aber transzendental begründet werden. Sowohl die grundsätzliche vertragstheoretische Anlage als auch die Ausführung von Volkssouveränität und Einzelgewalten koppeln jedoch das politische Geschehen von moralischen Maßstäben ab, anstatt es aus ihnen zu entwickeln. Auf der Suche nach einer praktikablen Form von Allgemeinheit vermittelt Kant Normen durch Verfahren und öffnet das Staatsrecht damit grundsätzlich dem Gesetzespositivismus, demzufolge eine Norm gilt, wenn sie rechtmäßig erzeugt wurde. Bemerkenswert ist, daß – und wie – dies mit transzendentalphilosophischen Begründungsmethoden unternommen wird. Damit läßt sich das Subjekt des Staatsrechts bei Kant als ein uneinheitliches erweisen, dessen kollektiver Ausdruck die Forderung nach dem Ausschluß aller Nichtselbständigen darstellt, die nicht bloß ein Atavismus ist, der durch Revision zu streichen wäre; sie ist symptomatisch für eine Staatsverfassung, durch die nicht ein selbst allgemeines Interesse – das etwas romantisierend ein bonum commune heißen könnte –, sondern die bestenfalls komparativ allgemeine Koordination von strikt entgegengesetzten und entgegengesetzt bleibenden partikularen Interessen angestrebt wird. Diese Koordination ist nur formell möglich. Hierin macht sich erneut die Voraussetzung des ‚Antagonismus‘ geltend, dessen Grund im Privatrecht, genauer im Sachenrecht aufzufinden ist. Kant zufolge schafft die dem Recht vorgängige einseitige Aneignung – gewaltsame Okkupation, er macht keinen Hehl daraus – von Grund und Boden die materielle Grundlage des Rechts und ist deshalb selbst schon eine Art antizipatorischer Reflexionsform von Recht. Daß diese Okkupation eine zutiefst gespaltene Gesellschaft hervorbringt, merkt Kant im Aufsatz über den Gemeinspruch selbst an. Dennoch kann sie bei ihm zur Rechtsgrundlage werden, weil er von der substantiell in den Menschen verankerten Neigung, sich wechselseitig zu übervorteilen, ausgeht. Das Recht, das seinem allgemei-

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nen Begriff nach polemisch gegen die vor-rechtliche Privilegienordnung ist,71 wird selbst zur Organisationsform einer sozialen Differenz, die auf der ersten Besitznahme an Grund und Boden fußt und gesellschaftliche Subjektivität unter neuen Bedingungen definiert. Kants Eigentumsbegriff ist daher grundlegend für sein Rechtsverständnis insgesamt, für die Konzeption von Subjektivität im Recht und damit auch für die Interpretation der Voraussetzung des Antagonismus. Die innerrechtliche Betätigung von Subjektivität fällt in die Verkehrsformen des rechtlich bestätigten Eigentums, die Verträge. Wenngleich Kant Schwierigkeiten mit der systematischen Unterbringung des Lohnarbeitsvertrags hat, finden doch schon fast alle gesellschaftlichen und familiären Beziehungen in Vertragsform statt. Das Subjekt ist hier zur Person formalisiert. Nun ist das ‚allgemeine Rechtsprinzip‘ nicht mit dem ‚kategorischen Imperativ‘ der praktischen Vernunft identisch.72 Vielmehr bezieht sich jenes auf schon konkurrierende äußerliche Willkürsphären, dieser dagegen auf die intelligible Willensbestimmung als solche. Mithin sind auch die Freiheitsbegriffe von Rechts- und Morallehre nicht umstandslos identisch. Gleichwohl stellt die Rechtslehre einen Versuch dar, die Gegenstandslosigkeit der reinen Morallehre objektiv aufzubrechen. – Allerdings vermag es der oft gerügte Formalismus des kategorischen Imperativs durchaus, einen widerstandsfähigen Begriff von Autonomie zu begründen. Dieser aber, den Kant als Freiheit im positiven Verstande nur dialektisch mit der Freiheit im negativen Verstande koppelt, ist als ein durchgängig negativer Begriff zu entdecken. Die formalistische Abstraktion der Handlungsbedingungen nämlich, die die Positivität der Freiheit ermöglichen soll, ignoriert eminente Unterschiede in den Handlungsbedingungen, die nicht so sehr Behinderung des Intelligiblen durch erste Natur sind, als durch zweite Natur. So stellt sich aber die Frage, ob Autonomie überhaupt anders als im Widerstand der Vernunft gegen unvernünftige Bedingungen ihrer Realisation zu denken ist. Dann aber wäre sie negativ zu fassen. Deshalb schließen umgekehrt viele Beispiele Kants, in denen die Subjekte positiv autonom vorgestellt werden sollen, die Negation der Existenz dieser Subjekte ein. Versuche, der reinen praktischen Vernunft einen positiven Gegenstand zu verschaffen, scheitern unter unvernünftigen Voraussetzungen. Die Einschränkung moralischen Handelns durch menschliches Handeln selbst – eine zutiefst unvernünftige Erscheinung – führt Kant auf die anthropologische Konstitution der Menschen – das ‚krumme Holz‘ – zurück, und seine Interpreten folgen ihm zumeist darin bis heute. Das setzt ein Doppelwesen von Vernunft und Sinnlichkeit voraus, das einerseits Bedingung der Möglichkeit von Moral und Freiheit überhaupt ist – ein heiliges Wesen ist sowenig Adressat von Moral wie ein bloßes Sinnenwesen –, das aber andererseits, wenn es als unvermittelbarer Gegensatz unterstellt wird, zum absoluten theoretischen Hindernis der Realisierung von Moral gerät. Kant hat die Konsequenz, die Objektivierung von Moral – vernünftige Selbstbestimmung der Einzelnen für sich 71

72

Vgl. Manfred Riedel, Herrschaft und Gesellschaft. Zum Legitimationsproblem des Politischen in der Philosophie, in: Ders. (Hg.), Rehabilitierung der praktischen Philosophie, Bd. 2, Freiburg 1974, 249. Überhaupt wird der kategorische Imperativ in der Rechtslehre nur einmal erwähnt, und zwar im § 49. Dort begründet er die Pflicht, die Staatsverfassung nach Rechtsprinzipien einzurichten, steht also systematisch oberhalb beider.

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und im Verhältnis zueinander – ausdrücklich und systematisch mit ‚Selbstverleugnung‘, Herabdrücken von Neigung und Bedürfnis ‚unter Null‘, das heißt mit der Inkaufnahme auch der psychischen oder physischen Vernichtung der Subjekte realisierter Moral verknüpft. Diese Verknüpfung löscht aber im Ideal realisierter Moral deren Subjekt aus. – Der Naturgesetzschematismus in der Typik der reinen praktischen Vernunft läßt sich dagegen als Antizipation einer vernünftigen zweiten Natur interpretieren. Vor diesem Hintergrund sind auch die Konzepte eines Reichs der Zwecke bzw. des höchsten Gutes zu lesen. Kant vermag die Negativität seiner Einsicht nur positiv zu wenden, indem er eine Postulatenlehre hinzufügt, die eine Teleologie begründet, deren telos eine Erfahrung ist, die ihrerseits den Unterschied von erster und zweiter Natur einzieht: die transzendente Erfahrung der Unsterblichkeit. Diese aporetische Gestalt des Verhältnisses von Moral und gegenständlicher Praxis läßt sich durch Rückgriffe auf tugendethische Motive nicht mehr vermitteln. So zeigt sich in den systematischen Teilen der Tugendlehre – der Einleitung und der Methodenlehre –, daß Kant in der Pragmatisierung seiner Morallehre genötigt ist, die begrifflichen Grundlagen des Moralischen zu ermäßigen oder sich zu ihnen in Widerspruch zu bringen, anstatt daß er ihnen praktische Realität verschaffte. – Der Zweite Teil ist der Erörterung der theoretischen Grundlegung von Subjektivität, aus der Perspektive der erörterten Probleme von Praxis, gewidmet. Das teleologische Konzept – wie verhalten auch immer es sein mag –, das in der Morallehre vernünftige Praxis ermöglich soll, bringt die Subjekte dieser Praxis in einen inneren Konflikt, weil sie, um die eigene Autonomie zu denken, auf eine Vorstellung angewiesen sind, in der diese Autonomie aufgehoben ist. Diese Aporie liegt Kants Hauptanliegen, der Koordination von Natur und Freiheit, schon zugrunde. Beim Vergleich der Bestimmung von Freiheit zu Beginn der Kritik der praktischen Vernunft mit jener in der ‚Dritten Antinomie‘ der Kritik der reinen Vernunft fällt auf, daß die subtilen Ergebnisse der Auflösung der Antinomie in der Kritik der praktischen Vernunft nicht weiterführend eingesetzt werden; dort wird faktisch von der Freiheit ausgegangen. Tatsächlich, so kann nun sichtbar gemacht werden, löst jene Auflösung die Antinomie nicht auf, sondern wiederholt sie ganz im Innern der Subjekte, deren dualistische Auffassung Natur und Freiheit nicht vermittelt, sondern ein Modell entwirft, das es ermöglicht, die Antinomie beizubehalten, ohne die Einheit des Systems zu gefährden. Kant demonstriert explizit weder Wirklichkeit noch Möglichkeit von Freiheit, sondern bloß, daß ihre Vorstellung logisch nicht ausgeschlossen sei. Wer aber ist das Subjekt dieser Freiheit? Zwar bemüht Kant in der Auflösung und ansatzweise schon in der Darlegung der Antinomie das Handeln – und offenbar menschliches Handeln – als Modell. Dem kosmologischen Begriff der Freiheit scheint aber ein anderes Subjekt zu korrespondieren: Der intelligible, unbedingte Grund der Totalität der Kausalverknüpfungen, der von dieser Totalität selbst nicht unterschieden zu sein scheint und der es ermöglicht, die partikularen Kausalverhältnisse in sinnvoller Einheit als Bedingung der Einheit der Erfahrung endlicher Subjekte vorzustellen, erscheint als Analogon zum Gottesbegriff. Somit wiese die Dritte Antinomie bereits auf das Transzendentale Ideal der personifizierten durchgängigen kategorialen Bestimmung der Totalität in allen ihren Elementen. Damit erscheint die kollektive Einheit des Erfahrungsganzen, die Kant explizit ablehnt, als implizite Voraussetzung seiner Philosophie. Entsprechend muß Kant hier, und schon an früheren Stellen, teils in der Form des

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ontologischen, teils in der des kosmologischen Gottesbeweises argumentieren, obwohl er deren Möglichkeit explizit ausschließt. Wird aber insgeheim ein absolutes Subjekt zum Subjekt der vernünftigen Ordnung des Erfahrungszusammenhangs, so setzt sich die praktische Aporie in das Subjekt der Theorie, mithin ins wissenschaftliche Selbstbewußtsein, fort. Eine Selbstkritik des wissenschaftlichen Selbstbewußtseins erfolgt in der Kritik der Paralogismen, die sich vorderhand gegen die rationalistische Seelenmetaphysik richtet. Vieles spricht dafür, der Subjektivität keine materielle Existenzweise zuzusprechen, und Kant nimmt hier vieles vorweg, was gegen heutige materialistische Bewußtseinstheorien – aber ebenso gegen ihre metaphysizierenden Gegner – einzuwenden wäre. Die Frage aber, wer das Subjekt dieser Selbstkritik ist, drängt sich zunehmend auf. Besonders in der Kritik des Dritten Paralogismus entwirft Kant Modelle der Transsubstantiation von Bewußtsein und Selbstbewußtsein, die beinahe an Erzählungen Stanisław Lems erinnern. Es wäre so kaum möglich, das Verhältnis empirischer Subjekte zu ihrer transzendentalen Subjektivität überhaupt zu bestimmen. Die Subjekte werden zunehmend amorph, ihre Subjektivität ist allein die logische Identität. Dieser theoretischen Reduktion der Subjekte korrespondieren äußere Bedingungen, zumal Kant – in steiler Interpretation von Descartes – die Sätze ‚Ich denke‘ und ‚Ich existiere‘ umstandslos identifiziert. Schon die intelligiblen Charaktere der Handelnden waren für Kant nicht mehr greifbar: Niemand, auch nicht der Handelnde selbst, kennt die wahren Motive einer Handlung. Der intelligible Charakter wird so zum pragmatischen – Kant sagt ‚praktischen‘ – Grund der Zurechnung eingekürzt, die auch unter undurchsichtigen Bedingungen möglich sein muß. Die Spuren des Zusammenhangs von Handlungsbedingungen, Lebensbedingungen und Subjektivität sind bis in die transzendentale Einheit der Apperzeption hinein zu verfolgen. Der Weg von den Antinomien und Paralogismen zurück in die Analytik und von dort zum Ideal setzt freilich eine innere Einheit und Zusammengehörigkeit der Teile der Kritik der reinen Vernunft voraus, die in der Durchführung noch zu begründen ist. In den Deduktionen der Kategorien sowie im Abschnitt über die Grundsätze ist das Verhältnis von Subjektivität und Objektivität von besonderer Bedeutung: Welche dem Subjekt Bestimmung gebende Funktion kann aber der Gegenständlichkeit der Gegenstände zukommen, wenn deren Objektivität durch Bedingungen a priori im Subjekt konstituiert wird? Zwar hält Kant hartnäckig daran fest, daß etwas dem Subjekt Vorgängiges ihm gegeben sei, aber er muß ebenso darauf beharren, daß alles, was davon dem Subjekt zu Bewußtsein kommt, immer schon unter den Formen dieses Bewußtseins steht, durch es konstituiert wird. Schon die ‚Affinität‘ in der Deduktion A kann nicht mehr als eine subjektive Hilfskonstruktion sein. Es ist zu zeigen, daß die Rekognition im Begriff schon der Möglichkeit der Apprehension in der Anschauung als Bedingung logisch vorhergeht. Transzendentales Subjekt und transzendentales Objekt sind im Resultat der formalen Analyse nicht mehr unterscheidbar, beide = X. Darin ist wohl schon eine Gestalt des absoluten Geistes antizipiert, der zwar eine metaphysische Rückversicherung der Objektivität von Erkenntnis bietet, in dem sich aber nichts Geistiges mehr regt. Wenn Subjektivität, wie eingangs behauptet, nur im kritischen Verhältnis zu ihren Gegenständen, ihrem Anderen, zu Selbstbewußtsein kommen kann, dann ist die erkenntnistheoretische Einziehung der Differenz von Subjektivität und Objektivität im transzendentalen Selbstbewußtsein die Aufhebung von empirischem Selbstbewußt-

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S  O. Z E

sein in seiner Möglichkeit. Dem korrespondiert die schwindende Distanz der Subjekte zu ihren Existenz- und Erfahrungsbedingungen: Kritik erfordert die eminente Selbstunterscheidung der Subjekte von den Gegenständen der Kritik; zugleich negierte solche Unterscheidung die Möglichkeit der Erkenntnis, praktisch womöglich die Verfügung über die Bedingungen der Existenz selbst. Subjekte, die sich nicht als absolute wähnen und verhalten, drohen in ein zwiespältiges Selbstbewußtsein abzugleiten. Dem versucht Kant auszuweichen, indem er an der idealen Identität des Subjekts transzendental festhält und, Schwierigkeiten ahnend, alles Weitere der empirischen Psychologie zuordnet. Diese Dichotomie, die in Kants Überlegungen zu Anthropologie und zur Pädagogik ihren Ort hat, bereinigt allerdings lediglich die erkenntnistheoretische Konstruktion, beläßt die Subjekte aber im Zwiespalt. Um eines Subjekts der Erfahrung willen, in dem reine Verstandesbegriffe auf Gegenstände der Erfahrung anzuwenden wären, muß Kant nun das transzendentale Subjekt ins Verhältnis zu den Gegenständen der Erfahrung setzen. Hier wäre nun aber der Ort empirischer Subjekte. Allerdings bemüht Kant die Vorstellung einer Selbstkonstitution der Subjekte aus der transzendentalen Einheit der Apperzeption heraus, mittels einer reinen Einbildungskraft, in der sich die Aporetik wiederholt. Sodann sollen Schematismus und Grundsätze die Vermittlung des Äußeren mit dem Inneren leisten. Diese sind nun alle Zeitfunktionen, also Funktionen des inneren Sinns. So kommt das transzendentale Subjekt trotz seiner widersprüchlichen, synthetischen Verfassung a priori nicht mehr aus sich heraus. Im Unterschied zu Hegels Theorie, die aus solchem Widerspruch zu deduzieren weiß, ist Kants Verfahren insofern redlicher, als es die in ihrem Verhältnis zu ihren heterogenen und heteronomen Bedingungen aporetische Subjektivität in dieser Aporie beläßt. Allerdings entsteht daraus ein Begriff des Subjektes, in dem dessen Geschichte – im begriffsgeschichtlichen und im wörtlichen Sinn – zu einer positiven Vorstellung eines Zwiespältigen verdichtet wird. Damit erweisen sich die Grundsätze gewissermaßen als Schlüsselkapitel der vorliegenden Interpretation. Hinter ihrer formellen Erscheinung richten sie das Subjekt-Objekt-Verhältnis auf die Teleologieproblematik aus und verursachen so erhebliche Folgen für die praktische Subjektivität. Kants theologische und teleologische Reflexionen bilden schließlich den obersten systematischen Vermittlungspunkt aller theoretischen und praktischen Bemühungen; ohne sie wäre die Philosophie nicht als System begründbar; ebenso wenig könnten ohne sie Subjekte ihr Verhältnis zur Objektivität prinzipiell bestimmen. Im Transzendentalen Ideal ist dies grundsätzlich durchgeführt. In dessen gewissermaßen radikaler Selbstreflexion, in der das Subjekt sich grundsätzlich zum Objekt wird, laufen die vorangegangenen Schwierigkeiten zusammen. Ein an der Subjektivitätsproblematik spezifizierter Einblick in Kants Theorie regulativer Prinzipien vermag Aufschluß über diese prinzipielle Konstitution von Subjektivität zu geben. Dieser Subjektbegriff weist eine Reihe von Problemen der Objektivität von Subjektivität als seine eigenen Bestimmungen aus. – Im Dritten Teil sollen anhand der Kritik der Urteilskraft die Möglichkeiten geschichtlich reflektierter Subjektivität erörtert werden. Die Frage nach der Möglichkeit einer bestimmten Subjekt-Objekt-Beziehung innerhalb eines teleologischen Rahmens verweist auf die Kritik der teleologischen Urteilskraft, in der die regulative Vorstellung einer allgemeinen Teleologie entfaltet wird. Diese verweist zwar auf den Prozeß der Kultur-

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geschichte, ohne daß Kant jedoch diesen selbst für die Bestimmung der Erfahrungswelt heranzuziehen vermöchte. Gleichwohl drängt sich ebenso in der Kritik der ästhetischen Urteilskraft, in der eine Grundlegung der Teleologie im Subjekt versucht wird, die Geschichtlichkeit der Subjekte und ihrer Gegenstände auf. Anhand von Kants Modellen, dem Verhältnis von Kunst und Natur, vor allem aber der Stellung des Erhabenen zur Ästhetik sind Momente zu entwickeln, die die Subjekte in ihrer Potenz zur menschlichen Gattung, zur praktischen Allgemeinheit erkennbar werden lassen. So läßt sich der scheinbar unmittelbare Naturzusammenhang, dessen Erkennbarkeit Kant zu der Vorstellung einer kunstanalogen Zweckmäßigkeit veranlaßt, selbst als Resultat der Kultur- und Zivilisationsgeschichte interpretieren. Kein Gegenstand einer Naturwissenschaft liegt von selbst in der isolierten Gestalt vor, in der er Gegenstand von Wissenschaft werden kann. Aber schon die Möglichkeit der Präparation setzt den geschichtlichen Prozeß der Ablösung der Menschen vom bloßen Naturzusammenhang voraus, der nur durch kollektive Tätigkeit möglich war, wenngleich deren kollektiver Charakter nicht selbstbewußt organisiert war. Im Bewußtsein dessen aber ließe sich der Kunstanalogie in Kants Naturbegriff das Potential weitergehender Vermittlung von Subjekt und Objekt abgewinnen, die nicht durch blinden geschichtlichen Prozeß geschähe. In der Reflexion auf die je eigenen Formbestimmungen von Subjekt und Objekt, von Mensch und Natur, liegt deshalb die Möglichkeit weniger zerstörender Naturgestaltung, – gerade weil die Zweckmäßigkeit von Natur so nicht als eine unverfügbar gegebene, sondern als gestaltete und daher umzugestaltende oder bewußt anders zu gestaltende gedacht werden könnte. Nicht die Vorstellung einer Unverfügbarkeit von Natur, die in Wahrheit doch selbst von Menschen verfügt ist und darum auch eingeschränkt oder umgangen werden kann, sondern erst das volle Bewußtsein der Menschen, Subjekte ihres Handelns und Denkens zu sein, kann sie auch zu Subjekten von Verantwortung gegenüber ihresgleichen und gegenüber ihren Lebensbedingungen bestimmen. Das volle Bewußtsein wäre aber das, dem in der Erfahrung etwas korrespondierte; es läßt sich durch Denken allein sowenig herstellen wie ohne konsequentes Denken. – Indem ein solches Selbstverständnis der Subjekte grundsätzlich die Kritik an den realen, durch Sachzwänge dirigierten, Naturbeziehungen der Menschen beinhaltet, ergibt sich auch daraus aber ein wesentlich potentieller, in sich gebrochener Subjektbegriff. Bei Kant ist er zu ahnen in der Bestimmung der ästhetischen Erfahrung, die zwar grundsätzlich Naturerfahrung sei, die aber in der Erfahrung des Erhabenen auf kollektiv akkumulierten Leistungen der Gattung beruht, ohne die das ‚Erhabene‘ die Subjekte seiner Erfahrung vernichtete. Von da aus ist auch der Begriff der ästhetischen Erfahrung insgesamt kritisch zu reflektieren. – Das Problem eines an der Freiheit reflektierten Naturbegriffs, das für Kant Ausgangspunkt der kritischen Philosophie war, erweist sich so als Leitmotiv der Darstellung praktischer Subjektivität, ausgehend von deren Geschichte über ihre Funktionen in Recht, Moral und Erkenntnis zurück in das Selbstbewußtsein ihres Verhältnisses zur Welt. Schließlich ist auch unter objektiv widrigen Bedingungen am unverkürzten Anspruch auf Autonomie festzuhalten, ohne diesen gegen die lebendigen Subjekte zu kehren. Was sich erkenntnistheoretisch widersprüchlich am reinen Subjekt exponieren ließ, erlangt mit der ästhetischen Erfahrung eine objektive Selbständigkeit, die die Subjekte als Ge-

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S  O. Z E

stalter ihrer Lebens- und Bildungsbedingungen – ihrer Welt – ausweist, die weder moraltheoretisch noch erkenntnistheoretisch allein darstellbar wäre. Das Mißverhältnis von subjektivem Selbstbewußtsein und objektiven Bedingungen der Subjektivität von Selbstbewußtsein ist ein alter topos der Kunst- und Literaturgeschichte. In der Moderne wird er zunehmend zum Prinzip der Darstellung, deren brüchige Reflexivität zum adäquaten Darstellungsmedium moderner Subjektivität entwickelt wird. Dies kann, wegen jenes Mißverhältnisses, hier nur in Form einer Mauerschau noch angedeutet werden. Die Aporien im praktischen und im theoretischen Selbstbewußtsein werden dadurch nicht behoben. Im Bewußtsein ihrer können die Menschen aber eine Selbstbestimmung realisieren, die sich von der abstrakten, durch bloße Beherrschung von Natur und von Menschen realisierten Selbstbehauptung unterscheidet. Auch hier gilt: Positiv Handlungsmaximen zu formulieren, hieße vorwegzunehmen, was vor und außerhalb der Selbstvergewisserung der Subjekte selbst weniger wäre als ein Traum. So respektabel das Verlangen nach immerhin schrittweisen Verbesserungen ist, so erzielt doch die Praxis, die sich nicht radikal selbstbewußt von der bloßen Selbstbehauptung abhebt, Verbesserungen immer nur als Akkomodationen; geschieht dies aber im Bewußtsein des Widerspruchs mit dem eigenen Anspruch auf Selbstbestimmung, so bleibt sie immerhin für eine mögliche Geschichte offen.

I. Teil: Praxis

I

Zur Subjektivität in der Geschichte

1.

Sittlicher Fortschritt unter unsittlichen Bedingungen

Im geschichtlichen Handeln erscheint in besonderer Weise die Subjektivität der Menschen, ihre Fähigkeit, ihren intelligiblen und praktischen Akten selbst zugrundezuliegen, denn hier agieren sie unter äußeren Bedingungen, von denen sie sich unterscheiden, gerade indem sie handeln. Der historische Standort der Menschen ist nicht zuletzt dadurch definiert, wie weit sie diese Unterscheidung bewußt reflektieren und zum Grund ihrer Handlungen machen, mit anderen Worten: wie weit sie Subjekte ihrer historischen Praxis sind. Wenn an Kant zunächst die Frage gerichtet wird, wer in seiner Philosophie das Subjekt von Geschichte ist, so erfolgt das aus der Absicht heraus, die Form von Subjektivität zuerst in einem radikal praktischen Bereich zu bestimmen. Warum dies nicht das Recht oder die Moral sind, soll sich aus dieser Perspektive im Gang der Darstellung erschließen: Beide Bereiche abstrahieren aus methodischen Gründen in unterschiedlichem Grad von den realen Bedingungen. Aus der Perspektive dieser Bedingungen, um deren theoretische Einordnung es Kant in der Geschichtsphilosophie zu tun ist, ergibt sich ein aporetischer Begriff praktischer Subjektivität, von dem aus die theoretische Grundlegung von Subjektivität im zweiten Teil selbst einer praktisch interessierten Interpretation geöffnet werden kann. Wie Theorie und Praxis des Subjekts im einzelnen zusammenhängen, wird indes erst vom Abschnitt über die Grundsätze an sukzessive deutlicher werden. Die Frage nach der Anwendung formaler Erkenntnisbedingungen auf wirkliche Erfahrungsgegenstände führt auf die Teleologie und Theologieproblematik, anhand derer die mögliche Subjektivität von Praxis erneut und grundsätzlich zu prüfen ist. Kants eigener Lösungsversuch in der Kritik der Urteilskraft führt zur Reflexion von Geschichte zurück, an dem zu zeigen sein wird, wie sehr Geschichte ein Bestimmungsmoment auch der theoretischen Subjektivität ist. Dieses geschichtlich reflektierte Selbstbewußtsein eröffnet andere Möglichkeiten der Praxis, als diejenigen es sind, von denen Kants Geschichtsphilosophie ihren Ausgang nimmt. Geschichte ist als philosophischer Gegenstand nur dann zu denken, wenn die in der Zeit aufeinander folgenden oder im Raum einander beigeordneten Ereignisse in einer

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durch Begriffe bestimmbaren Ordnung stehen, und nur so weit, wie diese Bestimmung gelingt, reicht der philosophische Geschichtsbegriff. Außerhalb dieser Bedingung bliebe Geschichte Gegenstand von dramaturgisch ungestalten Erzählungen oder von bloß chronologischer Dokumentation.1 Für Kant ist das zeitliche Dasein der menschlichen Gattung das Medium ihrer Entwicklung; Menschen haben sich zivilisatorisch, kulturell und sittlich-politisch zunehmend aus dem bloßen Naturzusammenhang emanzipiert und diese Emanzipation über Generationengrenzen hinweg erhalten und ausgebaut. Der allgemeine Begriff einer solchen Emanzipation wäre der des Fortschritts, der als Begriff eines Prozesses die vermittelnde Einheit eines Ausgangs- und eines Endzustandes vorstellt.2 Insofern Geschichte nur als Prozeß vernünftig zu denken ist und als solcher die Einheit von Unterschiedenem darstellt, ist ihr Begriff von vornherein ein Widerspruch: Jedes Ereignis ist – als Moment eines Prozesses – zugleich durch etwas bestimmt, was es nicht mehr ist, und durch etwas, was es noch nicht ist. Dieser Widerspruch soll durch eine Richtung, eine Ordnung, entschärft werden, indem die zusätzliche Vorstellung einer rationalen Entwicklungsrichtung die Ereignisse von ihrem Ursprung negativ abgrenzt, sie aber auf ihr Ziel positiv hinordnet. Damit ergibt sich schon allein aus der Absicht, Geschichte auf ihren positiven Begriff zu bringen, ein teleologischer Geschichtsbegriff. Das letzte Ziel der Geschichte der Menschen ist nun Kant zufolge die sichere Moralisierung von deren Handlungen, in einem ethischen Gemeinwesen, dessen Mitglieder nicht, wie in einem juridischen Gemeinwesen „unter öffentlichen Rechtsgesetzen (die insgesamt Zwangsgesetze sind) stehen [sondern] […] unter dergleichen zwangsfreien, d. i. bloßen Tugendgesetzen vereinigt sind“3 . Kultur und Zivilisation erscheinen als subalterne Ziele, deren Realisierung, wenngleich mit Bedauern, durchaus ohne Moralisierung möglich sei: „Wir sind im hohen Grade durch Kunst und Wissenschaft cultivirt. Wir sind civilisirt, bis zum Überlästigen, zu allerlei gesellschaftlicher Arbeit und Anständigkeit. Aber uns für schon moralisirt zu halten, daran fehlt noch sehr viel. Denn die Idee der Moralität gehört noch zur Cultur; der Gebrauch dieser Idee aber, welcher nur auf das Sittenähnliche in der Ehrliebe und der äußeren Anständigkeit hinausläuft, macht blos die Civilisirung aus. […] Alles Gute aber, das nicht auf moralisch-gute Gesinnung gepfropft ist, ist nichts als lauter Schein“4 . Der Mangel der Kultur besteht darin, daß Moralität bloß abstrakt gedacht wird, der Mangel der Zivilisation darin, daß ihr bloß formell, pflichtgemäß, genügt wird. Beide Zustände sind durch ein negatives Verhältnis zur Moral bestimmt, so daß deren Begriff ihnen logisch vorgeordnet ist, obwohl er ihnen doch historisch erst folgt. Diese Bestimmung von Kultur und Zivilisation kann nur in ein Bewußtsein fallen, das schon in gewissem Maße kultiviert und zivilisiert ist, und 1

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So unterscheidet Kant die bloße Naturbeschreibung des empirisch Reisenden von der durch ein Prinzip geordneten Naturgeschichte. Vgl. Gebrauch teleologischer Prinzipien, VIII 161. Birgit Recki bezeichnet: „Fortschritt als ein[] Postulat umwillen einer haltbaren Arbeitshypothese in historischer Perspektive“ (Die Vernunft, ihre Natur, ihr Gefühl und der Fortschritt, Paderborn 2006, 8). Religion, B 131. Idee, VIII 26.

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das erst aufgrund dessen einen Moralbegriff entwickelt hat. Dessen Mangel fällt nicht in die Kultivierung und Zivilisierung selbst, sondern in das kultivierte und zivilisierte Bewußtsein, das diese Zustände nicht widerspruchsfrei unter Vernunftbegriffe zu bringen vermag, mithin in ein Bewußtsein, das über historische Erfahrungen verfügt und diese Erfahrungen systematisch zu ordnen beabsichtigt.5 Führen Kultur und Zivilisation, die für die Überwindung des Naturzustandes stehen, zugleich die Gefahr des Rückfalls in den Naturzustand mit sich, so kann der geschichtliche Prozeß nicht als abgeschlossen betrachtet werden. Dies erforderte im Gegenteil die aus sich selbst heraus notwendige Allgemeinheit, in der die sie bedrohenden Antagonismen nicht bloß äußerlich gehemmt wären. Diese Allgemeinheit wäre erst die universelle moralische Verfassung der Menschen.6 Aus Kultur und Zivilisation folgt nun die Moralisierung nicht von selbst. Weil die durch sie bewirkte Distanz zum Naturzustand aber Bedingung für selbständiges – nicht bloß zweckrational reagierendes – Handeln überhaupt ist, gilt es, diese moralisch defizitären Zustände dennoch zu bewahren. Weil sie defizitär sind, bedarf ihre Erhaltung äußerlicher Vorkehrungen. Deshalb ist auch die politische Organisation der Menschen, die dies leisten soll, unabhängig von der Moralisierung notwendig und möglich, indem „der Mensch, wenn gleich nicht ein moralisch-guter Mensch, dennoch ein guter Bürger zu sein gezwungen wird. […] Denn es ist nicht die moralische Besserung der Menschen, sondern nur der Mechanism der Natur, von dem die Aufgabe zu wissen verlangt, wie man ihn an Menschen benutzen könne, um den Widerstreit ihrer unfriedlichen Gesinnungen in einem Volk so zu richten, daß sie sich unter Zwangsgesetze zu begeben einander selbst nöthigen, und so den Friedenszustand, in welchem Gesetze Kraft haben, herbeiführen müssen.“7 Der politische Zustand dient der Überwindung der erbarmungslosen Konkurrenz der Menschen um ihre Lebensbedingungen im Naturzustand. Indem Kant diese Konkurrenz, die die Menschen sowohl aufeinander anweist als auch sie gegeneinander aufbringt, als Naturmechanismus interpretiert, gelingt es ihm wohl, ihn für den geschichtlichen Fortschrittsgedanken selbst zu instrumentalisieren: Die Konkurrenz bedingt so um ihrer selbst willen ihre eigene Beschränkung. Allerdings wird sie, das Prinzip des Naturzustandes, auf diese Weise im politischen Zustand nicht behoben, sondern sie wird selbst auch zu dessen Prinzip.8 5

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Insofern erlaubt es der Geschichtsbegriff, anders als die Moralphilosophie, Moral und Erfahrungswelt zusammenzudenken. Er ist dann „praktisches Selbstverständnis handelnder Menschen“ (vgl. Rüdiger Bubner, Geschichtsprozesse und Handlungsnormen. Untersuchungen zur praktischen Philosophie, Frankfurt am Main 1984, 86ff.; 90). Es handelt sich also um einen grundsätzlichen Konflikt von Zivilisation und Moral, nicht um eine ressentimentgeschwängerte Abwertung von Zivilisation, die Kant als Vertreter der mittelständischen Intelligenzschicht gegen die höfische Oberschicht wendet. Vgl. Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Bd. 1, Frankfurt am Main 1976. EF, VIII 366. Konkurrenz auf sich selbst gestellter Subjekte ist das Prinzip neuzeitlicher Politik; mag sie dies zuvor auch schon gewesen sein, so wird sie nun zum selbstbewußten Prinzip. Dornröschenhaft mutet es an, wenn Jürgen Habermas im Jahr 2005 bemerkt, die gesellschaftliche Integrität habe sich „zugunsten wirtschaftlicher Imperative verschoben, die einen am je eigenen Erfolg orien-

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Dadurch tritt nun die Moralität in ein problematisches Verhältnis zur Politik. Das moralische Bewußtsein setzte Kultur und Zivilisation voraus und war selbst der öffentlichen Moralisierung vorausgesetzt. Deren Realisierung verlangte die Stabilität der Zivilisation und Kultur durch politische Verfassung. In einer solchen politischen Verfassung steht das moralische Bewußtsein inmitten einer nicht moralischen Öffentlichkeit. Soll es aber nicht bloß abstrakt bleiben, dann muß es sich selbst öffentlich formieren können. Daraus resultiert Kants Vorstellung des ethischen Gemeinwesens, das außerhalb stabiler politischer Verhältnisse „gar nicht zu Stande gebracht werden könnte“, aber durch „ein besonderes und ihm eigentümliches Vereinigungsprinzip (die Tugend)“9 substantiell von der juridischen Verfassung des politischen Gemeinwesens unterschieden ist. Die Realisierung des letzten Ziels der Geschichte vollzieht sich danach notwendig in einem Medium, dessen sittliche Form ihm nicht entspricht. Wenn beider Verfassungen ‚wesentlich‘ unterschieden sind, kann der geschichtliche Fortschritt der Menschheit kein evolutionärer Übergang vom juridischen zum ethischen Gemeinwesen sein. Dieses muß sich also zur Gänze gegen jenes richten und die Berechtigung seines Bestehens bezweifeln; gleichwohl ist das juridische Gemeinwesen dem Bestehen des ethischen vorausgesetzt, so daß dieses, wenn es dessen Bestehen in Zweifel zieht, zugleich sein eigenes zur Disposition stellt. In dieser Aporie steht das Subjekt des Bewußtseins geschichtlichen Fortschritts in der bürgerlichen Gesellschaft.10 Sie liegt allen seinen Aporien, in die es geraten wird, zugrunde. Ihr eigener Grund ist der Antagonismus zwischen dem moralischen Universalitätsanspruch des aufgeklärten Subjekts mit der Partikularität der Bedingungen der Realisierung jenes Anspruchs. Von der Modalität dieser Partikularität – ob sie notwen-

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tierten Umgang der handelnden Subjekte miteinander prämieren“ (Die Grenze zwischen Glauben und Wissen. Zur Wirkungsgeschichte und aktuellen Bedeutung von Kants Religionsphilosophie, in: Zwischen Naturalismus und Religion, Frankfurt am Main 2005, 247). Religion, B 130. Die Bezeichnung ‚bürgerlich‘, die hier und im Folgenden in den Zusammenhängen von Gesellschaft, Recht, Moral, Wissenschaft und anderen verwendet wird, ist nicht für sich pejorativ aufzufassen; sie bezeichnet die Epoche des Bürgertums mit ihrem spezifischen Verständnis von Freiheit, Gleichheit, Fortschritt etc. und der Entwicklung der sozialen und ökonomischen Selbständigkeit der Subjekte, die aus der Privatisierung des Grundeigentums und dem Aufstieg der Städte und der Warenmärkte hervorgeht. Die Bedeutung dieser Entwicklungen und ihrer theoretischen Reflexion für das individuelle und das kollektive Selbstverständnis von Subjekten sind ein zentrales Motiv der Untersuchung. Daher bezeichnet der nähere Ausdruck ‚bürgerliche Gesellschaft‘ auch nicht, etwa im Unterschied zur ‚Zivilgesellschaft‘, schichtenspezifisch die Zeit der Dominanz einer gehobenen bürgerlichen Bevölkerungsschicht, sondern er bezeichnet konstitutive gesellschaftliche Prinzipien auf der Ebene der Erhaltung der Gesellschaft: Dies sind zunächst das Verhältnis der Menschen zueinander als Rechtssubjekte, die allgemeine und grundlegende Vermittlung der Personen über Rechtsbeziehungen, die dafür vorausgesetzte Bestimmung aller als Eigentümer (oder Nicht-Eigentümer) und schließlich die Existenz der grundlegenden Eigentumsform, des Eigentums an Produktionsmitteln, das die gesellschaftliche Verwiesenheit aller aufeinander notwendig macht. Die besonderen Erscheinungsweisen dieser Prinzipien führen zu gesellschaftlichen Ausdifferenzierungen, nicht aber zu substantiellem Wandel. – Das Personalitätsprinzip als Kern ‚bürgerlicher Subjektivität‘ hat Dieter Henrich hervorgehoben: Die Grundstruktur der modernen Philosophie, a.a.O., 100.

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dig ist oder nicht – wird es abhängen, ob jene Aporien solche der modernen Subjekte oder solche von Subjektivität überhaupt sind. Träfe dies letzte zu, so wäre das moderne Konzept praktischer Subjektivität in der Tat eine Illusion: Selbstbestimmung wäre stets pragmatisch zu vermitteln, ihr Maßstab wäre der kontingente des jeweils politisch Möglichen. Autonomie, ihrem strikten Begriff nach, fiele dahin.11 Nach Kant befinden sich „[i]n einem schon bestehenden politischen gemeinen Wesen […] alle politischen Bürger als solche doch im ethischen Naturzustande“12 . Dieser ethische Naturzustand ist als Negation des moralischen Zustandes gedacht, in ihm sind die Verhältnisse der Menschen nicht nach moralischen Gesetzen geordnet. Da er mit dem Rechtszustand des politischen Gemeinwesens koinzidieren kann, läßt dieser offenbar unsittliche Handlungen zu, deren Gehalt keineswegs auf die Verletzung puritanischer Vorstellungen von Sittlichkeit beschränkt wäre, sondern durch die Freiheit der Anderen „beständig angefochten wird“13 . Dies sind Handlungen, durch die der Handelnde sich gegenüber seinen Mitmenschen auf moralisch nicht vertretbare Weise Vorteile verschaffen will; gleichwohl sind diese Handlungen rechtlich zulässig. Die bürgerliche Konkurrenz – in ihrer Konsequenz die in der realistischen Romanliteratur des 19. Jahrhunderts allgegenwärtigen Maxime, durch die Ruinierung anderer den eigenen Gewinn zu vergrößern – gilt Kant als Triebfeder der Privatrechtsgemeinschaft: „Allein in einem solchen Gehege, als bürgerliche Vereinigung ist, thun eben dieselben Neigungen [der Not, die Menschen sich wechselseitig zufügen; M.St.] hernach die beste Wirkung […] Alle Cultur und Kunst, welche die Menschheit ziert, die schönste gesellschaftliche Ordnung, sind Früchte der Ungeselligkeit“14 . Die zerstörerische Wirkung dieser Neigungen wird nun bereits durchs Recht beschränkt; das Ziel der Geschichte, Moralität, erfordert darüber hinaus die moralische Beschränkung des rechtlich Zulässigen. Der Liberalismus, der mit der Entwicklung bürgerlicher Rechtsverhältnisse einhergeht und insofern eine zivilisatorische Funktion zu erfüllen scheint, hat tatsächlich den Kampf aller gegen alle nicht behoben, sondern in Rechtsformen gebannt, denen gemäß

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Diese Aussicht bestimmt vielfach die Neigung bürgerlicher Geschichtstheorie zur Teleologie. Vgl. z. B. Ernst Cassirer, Versuch über den Menschen, a.a.O., 114: „Wenn der Begriff ‚Menschheit‘ überhaupt etwas bedeutet, dann dies: daß trotz aller Unterschiede und Gegensätze zwischen den verschiedenen Formen von ‚Menschsein‘ alle diese Formen auf ein gemeinsames Ziel hinarbeiten. Auf lange Sicht muß ein herausragendes Merkmal, ein universeller Charakter zu finden sein, in dem sie alle übereinstimmen und harmonieren.“ Religion, B 132. Religion, B 127. Idee, VIII, 22. Ein differenziertes Verhältnis von Kultur, Moral und Ungeselligkeit beschreibt Kant in der Anthropologie, VII 327f.: „Der eigene Wille ist immer in Bereitschaft, in Widerwillen gegen seinen Nebenmenschen auszubrechen, und strebt jederzeit, seinen Anspruch auf unbedingte Freiheit, nicht blos unabhängig, sondern selbst über andere ihm von Natur gleiche Wesen Gebieter zu sein; welches man auch an dem kleinsten Kinde schon gewahr wird: weil die Natur in ihm von der Cultur zur Moralität, nicht (wie es doch die Vernunft vorschreibt) von der Moralität und ihrem Gesetze anhebend, zu einer darauf angelegten zweckmäßigen Cultur hinzuleiten strebt; welches unvermeidlich eine verkehrte, zweckwidrige Tendenz abgiebt: z. B. wenn Religionsunterricht, der nothwendig eine moralische Cultur sein sollte, mit der historischen, die blos Gedächtnißcultur ist, anhebt und daraus Moralität zu folgern vergeblich sucht.“

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die Menschen durchaus einander Schaden zufügen können sollen.15 Daß sie dies tun, sei nicht ihrer „eigenen rohen Natur“ zuzuschreiben, wohl aber der menschlichen Gesellschaft als solcher: „Er [der Mensch] ist nur arm (oder hält sich dafür), sofern er besorgt, daß ihn andere Menschen dafür halten und darüber verachten möchten. Der Neid, die Herrschsucht, die Habsucht und die damit verbundenen feindseligen Neigungen bestürmen alsbald seine an sich genügsame Natur, wenn er unter Menschen ist, und es ist nicht einmal nötig, daß diese schon als im Bösen versunken, und als verleitende Beispiele vorausgesetzt werden; es ist genug, daß sie da sind, daß sie ihn umgeben und daß sie Menschen sind, um einander wechselseitig in ihrer moralischen Anlage zu verderben, und sich einander böse zu machen.“16 Dabei liegt die Anlage zum Bösen, das böse Prinzip, ebenso in den Einzelnen wie die Anlage zum Guten: Beide gehen auf die vor aller Erfahrung gegebene Fähigkeit zurück, moralische oder nicht-moralische Maximen zu wählen, den „subjektive[n] erste[n] Grund der Annehmung dieser oder jener Maxime, in Ansehung des moralischen Gesetzes“17 . Der Grund des Guten ist danach die Bestimmung der eigenen Willkür durch eine Maxime gemäß dem moralischen Gesetz, der Grund des Bösen dagegen die Entscheidung für eine Maxime, die dem Gesetz nicht untersteht. Das Vermögen der Bestimmung des Willens wird so zum einen Grund des Guten und des Bösen, auf das es je festgelegt wird durch Rangfolge der wirkenden Triebfedern – der Moral oder etwas anderem.18 15

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Allgemein gilt, daß die Befriedung eines Kampfes oder Krieges nur dann erfolgreich ist, wenn die Gründe der feindlichen Handlungen beseitigt werden können. Diese Gründe liegen in der gesellschaftlichen Funktion von Gewalt. Sind es offene oder sublimierte Gewalthandlungen, durch die die Gesellschaft als Zusammenhang konstituiert wird, bleibt die Befriedung wirkungslos oder führt zum Zerfall der Ordnung. Da die bürgerliche Gesellschaft auf der Konkurrenz von Interessen beruht, kann ihr Recht nicht diese Konkurrenz aufheben, sondern bloß vermitteln. Interessenkonkurrenz fällt insofern unter den Gewaltbegriff, als ihr Ziel die Vernichtung des Konkurrenten, zumindest als ökonomische Größe, ist. Religion, B 128. Vgl. Anthropologie, VII 270: „Leidenschaften gehen eigentlich nur auf Menschen“. Religion, B 8. Vgl. Religion, B 34f. Kants Reflexion aufs Böse, das eben auch nicht mehr als ein Reflexionsbegriff – noch nicht einmal privatio boni debiti – ist, reagiert auf das Problem, über die Morallehre hinaus auch unmoralisches Handeln als frei verstehen zu können, was nur gelingt, wenn die praktische Vernunft nicht das letzte oder einzige Vermögen der Freiheit ist. Deshalb versteht Samuel Klar Kants Freiheitsbegriff als dezisionistisch (vgl. Moral und Politik bei Kant. Eine Untersuchung zu Kants praktischer Philosophie im Ausgang der ‚Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft‘, Würzburg 2007). Durch den Gedanken an ein ‚hinzutretendes‘ unableitbares Moment der Entscheidung wird die Möglichkeit reiner praktischer Vernunft aber paradoxer Weise gerade bewahrt. Sonst wäre nämlich jede unmoralische Handlung pathologisch und damit nicht zurechenbar. – In der Religionsschrift betreibt Kant gerade keine „Selbstentmachtung der Vernunft“ (Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt am Main 1979, 416). Zwar ist Blumenbergs Polemik gegen solche Selbstentmachtung beizustimmen, wie auch dem Hinweis, daß Kants Geschichtsbegriff in Aporien gerät, die „jeder selbstmächtigen Erhebung des Menschen in den Zustand vollen Vernunftgebrauchs das Recht und den Atem“ benehmen (415), aber das Theorem des radikalen Bösen ist dazu nicht ohne weiteres geeignet, und es ist auch nicht als philosophische aufgerüstete Erbsündenlehre zu lesen. – Auf die Bedeutung für Kants Freiheitsbegriff hat Thomas Leinkauf hingewiesen: Schelling als Interpret der philosophischen Tradition. Zur Rezeption und Transfor-

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Einen Hang zum Bösen, die Moral anderen Antrieben nachzuordnen, haben die Menschen immer schon, insofern die Glückseligkeit ihr notwendiges Ziel ist;19 zugleich liegt die Fähigkeit zum Guten in dem Vermögen reiner Vernunft, für sich selbst praktisch zu werden und alle anderen Triebfedern sich unterzuordnen.20 Kant betont, daß wohl dieses Prinzip im Wesen der Menschen liege und in diesem Sinn angeboren sei, daß aber „nicht die Natur die Schuld derselben [Charaktere] (wenn er böse ist) oder das Verdienst (wenn er gut ist) trage, sondern daß der Mensch selbst Urheber desselben sei“ und daß „der erste Grund der Annehmung unserer Maximen, der selbst immer wiederum in der freien Willkür liegen muß, kein Faktum sein kann, das in der Erfahrung gegeben werden könnte“21 . Ebenso heißt es von dem im Zustand allseitiger Anfeindung befindlichen Menschen, daß er „[i]n diesem gefahrvollen Zustande […] gleichwohl durch seine eigene Schuld“22 sei. Damit unvereinbar erscheint Kants weitere Behauptung, daß die Gesellschaft anderer Menschen ihn erst ‚böse macht‘. Die Schwierigkeit liegt darin, daß Kant nicht erklären könnte, warum Menschen in Gesellschaft sich wechselseitig böse machten, wenn ihnen nicht selbst das böse Prinzip innewohnte. Wäre nämlich das Böse nur Resultat gesellschaftlicher Beziehungen, könnte es niemandem zugerechnet werden und wäre so kein Böses. Da es aber auch Resultat solcher Beziehungen ist, kann es nicht ohne weiteres dem Einzelnen empirisch zugerechnet werden, der außerhalb solcher Beziehungen als bescheiden, maßvoll und ruhig erscheint. Indem allerdings derartige relative Bestimmungen zur Differenz von Gut und Böse beigezogen werden, wird deutlich, wie wichtig Kant das gesellschaftliche Moment ist, denn für die moralische Beurteilung allein wäre das gesellschaftliche Verhältnis streng genommen irrelevant: Die Fähigkeit der Maxime zur Allgemeinheit gemäß dem kategorischen Imperativ bezieht sich nicht auf die Allheit der Menschen, sondern die der möglichen vernünftigen Wesen,23 so daß selbst im abstrakten Begriff des ‚einzigen Menschen‘ Moralität einen Ort hätte. Das Böse, der Mangel an Moralität in den menschlichen Verhältnissen, wird demnach sowohl den Einzelnen als auch ihrer gesellschaftlichen Vereinigung zugerechnet: Kant benutzt den Singular ‚der Mensch‘ äquivok: „Wenn wir also sagen: der Mensch ist von Natur gut, oder, er ist von Natur böse: so bedeutet dieses nun so viel, als: er enthält einen (uns unerforschlichen) ersten Grund der Annehmung guter, oder der Annehmung böser (gesetzwidriger) Maximen; und zwar allgemein als Mensch, mithin so, daß er durch dieselbe zugleich den Charakter seiner Gattung ausdrückt.“24 Gehören nun die gesellschaftlichen Beziehungen zur Natur der Menschen, so kommen ihnen deren Wirkungen ebenso wesentlich zu. Die ‚an sich genügsame‘ Natur der Einzelnen entpuppt sich dann aber als Robinsonade, bestenfalls als Negation von Gesellschaftlichkeit. Das Böse qua

19 20 21 22 23 24

mation von Platon, Plotin, Aristoteles und Kant, Münster 1998, 160. Der Blick von Schelling aus zeigt das spekulative Potential von Kants Überlegung auf. Vgl. Religion, B 23, B 35, sowie KpV, V 34ff. Vgl. Religion, B 18f. Religion, B 8. Religion, B 127. Vgl. KpV, V 19. Religion, B 7f. Zur Verschränkung von Gattung und Individualität in der ‚intelligiblen Tat‘, die den Charakter begründen soll, vgl. Thomas Leinkauf, Schelling als Interpret der philosophischen Tradition, a.a.O., 162f.

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Gesellschaft, um dessen geschichtliche Überwindung es Kant hier geht, bleibt so aber an die Rechtfertigung der Einzelnen geknüpft, die jedem ganz obliegt, ohne von ihm bewirkt werden zu können.25 Da das Böse, die Unterordnung des moralischen Gesetzes, stets als radikal und vollständig zu denken ist, kann der selbständige Ausgang aus dem Bösen nicht vorgestellt werden. Ebensowenig kann seine Bewirkung durch übermächtige Hilfe gedacht werden, weil dies dem natürlichen Gerechtigkeitsempfinden widerspräche. Die Überwindung des Bösen erscheint danach als die Pflicht zu einem infiniten Streben zum Guten, dessen Erfüllung kein Gegenstand möglicher Erfahrung sondern allein Gegenstand andauernder Hoffnung sein kann. Durch die Verschränkung von Individuum und Gesellschaft im Grund des gesellschaftlich Bösen wird die Geschichte des ethischen Gemeinwesens zu einem solchen infiniten Streben des gesellschaftlichen Menschen gegen sich selbst. Die Transzendenz, die diese Aporie überwinden soll, resultiert damit aus Kants Indifferenz gegen die Funktion geschichtlich bestimmter gesellschaftlicher Bedingungen in der Moralisierungsgeschichte.26 Kant unterscheidet grob Naturzustand, Kultur, Zivilisation und Recht; die Besonderheit des bürgerlichen Rechtszustands, die Gewalt des Naturzustandes rechtlich zu kanalisieren, erwägt Kant nicht als Ursache moralwidriger Konkurrenzausübung. Deren Möglichkeit in der menschlichen Natur wird aber notwendig aktualisiert, wenn Menschen in der Konkurrenz sich ständig mit der Vernichtung ihrer ökonomischen Existenz bedroht sehen. Diese Bedrohung nun interpretiert Kant als das geschichtliche Entwicklungsprinzip, ohne das es gar keine Gesellschaft gäbe. So wird schon die geschichtlich zufällig konservierte Gewalt zu einem Wesensmerkmal aller menschlichen Gesellschaft, aus deren Übel es politisch keinen prinzipiellen Ausweg zu geben scheint. Zudem aber wird die Möglichkeit des menschlichen Willens, der Verleitung durch die gesellschaftlichen Verhältnisse nachzugeben, in einem ursprünglichen Hang zum Bösen begründet, der nicht nur gleichursprünglich ist wie die Anlage zum Guten, sondern mit ihr im Prinzip geradezu identisch. Weil so die endgültige Überwindung des Bösen nicht möglich erscheint, gilt es, gesellschaftliche Bedingungen zu schaffen, unter denen der Hang zum Bösen nicht zwangsläufig immer wieder provoziert wird. Ein solcher Zustand ist mit dem bürgerlichen Recht explizit noch nicht gegeben. Die Maxime der konsequenten Konkurrenz mit dem Ziel des eigenen Vorteils zum Nachteil anderer ist unter dem kategorischen Imperativ nicht zu denken. Allein schon ist der geschäftliche Erfolg eine durchaus empirische Triebfeder. Die Pflicht, einen ethischen Zustand zu installieren, folgt nach Kant aber nicht daraus, daß der rechtliche Zustand unsittlich sei, sondern daraus, daß die Menschen ihren zwei25 26

Vgl. Religion, B 94ff. Vgl. dazu Christian Iber, Religion als Ideal einer wirkmächtigen Moral bei Kant, in: Michael Städtler (Hg.), Kants ‚Ethisches Gemeinwesen‘. Die Religionsschrift zwischen Vernunftkritik und praktischer Philosophie, Berlin 2005, 108: „Folgerichtig gerät Kant die geschichtsphilosophische Vermittlung von Moral und Geschichte sehr ungeschichtlich. Denn die Autonomiemoral fordert nicht etwa, daß die Bedingungen ihrer Verwirklichung hergestellt werden, sondern sie verlangt von den Menschen, so zu tun, als wäre das Ideal bereits wirklich.“ – Vgl. auch Kosmas Psychopedis, Untersuchungen zur politischen Theorie von Immanuel Kant, Göttingen 1980, 26: Kants Kulturtheorie „stellt den in der bürgerlichen Gesellschaft herrschenden Formalismus nicht in Frage, sondern fordert von den in dieser Gesellschaft lebenden Menschen, daß sie durch unbedingte moralische Akte den gesellschaftlichen Formalismus moralisieren sollen“.

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seitigen Willen, mithin die ständige Anfeindung durch das Böse selbst zu verantworten hätten. Der Widerspruch, den Kant in der Rechtfertigung ausmacht, daß dem Subjekt etwas zugerechnet werden soll, das es nicht bewirken kann, hat einen Grund in der Sache: Das an der Gesellschaft handelnd teilnehmende Willenssubjekt soll für deren moralisches Defizit verantwortlich sein, ohne diese Verhältnisse doch selbst bewirkt zu haben; im Gegenteil muß es an der schon ausgebildeten Gesellschaft deren Regeln gemäß teilnehmen, bei Strafe des eigenen Untergangs. Weil Kant die historischen Bedingungen seines Gegenstandes nicht als solche zur Kenntnis nimmt, transponiert er den sachlichen Widerspruch ins Bewußtsein der handelnden Subjekte als deren moralische Aufgabe. Weil diese die Verhältnisse der Menschen zueinander betrifft, erscheint die Überwindung des Widerspruchs als moralgeschichtlicher Prozeß; wenn jener Widerspruch die Natur der Menschen aber selbst bestimmt, so entgleitet ihnen notwendig dieser Prozeß; sein Ort, das ethische Gemeinwesen, erhält eine eigentümlich statische Form. Um dem bösen Prinzip auch in seinem gesellschaftlichen Moment adäquat zu begegnen, sei nun die unbedingte Geltung des Sittengesetzes zu ergänzen „durch Errichtung und Ausbreitung einer Gesellschaft nach Tugendgesetzen und zum Behuf derselben“27 . Diese ‚Gesellschaft‘ soll als ethisch verfaßtes Gemeinwesen erstens den moralischen Mangel der Rechtsordnung, deren Gesetze „insgesamt Zwangsgesetze“28 sind, aufheben und zweitens den Mangel der Moral in Hinblick auf reale Sittlichkeit überwinden. Das Verfassungsprinzip des ethischen Gemeinwesens muß daher das Sittengesetz sein,29 kann aber nicht darauf beschränkt bleiben, denn „das höchste sittliche Gut [kann] durch die Bestrebung der einzelnen Person zu ihrer eigenen moralischen Vollkommenheit allein nicht bewirkt“30 werden. Die vereinzelten moralischen Subjekte stehen nicht in einem moralisch bestimmten Verhältnis zueinander, und dadurch ist auch ihre individuelle Moralität ständig bedroht. Zwar gründet die Bestimmung der Moralität notwendig in der zur Selbstbestimmung aus praktischer Vernunft fähigen Subjektivität, aber ihre geforderte gesellschaftliche Realisierung ist mehr als die Summe aller partikularen Realisierungen durch Individuen; schon deswegen, weil niemand einen anderen zur Selbstbestimmung verbinden kann. Weil zudem der Begriff moralischer Zusammenstimmung der Menschen diese als Gattungswesen betrifft, ist „der Begriff eines ethischen gemeinen Wesens immer auf das Ideal eines Ganzen aller Menschen bezogen“31 und jedes partikulare ethische Kollektiv32 bleibt deshalb ebenso im ethischen Naturzustand 27 28 29

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Religion, B 129. Religion, B 131. „Wenn nach den Weisen, Gemeinschaft zu verstehen, gefragt wird, zielt diese Frage also auf das Prinzip, durch das wir Gemeinschaft konstituieren. [...] Aber nicht nur die Subjekte der moralischen Welt sind anders, nämlich als potentiell moralische Subjekte zu verstehen, die gemeinsame Welt selbst, wie sie im Begriff des ethisch gemeinen Wesens gesucht wird, kommt ohne eine Rückbindung an die praktische Vernunft nicht aus, wenn sie mehr als ein Gedankenkonstrukt sein soll.“ Bettina Stangneth, Kultur der Aufrichtigkeit. Zum systematischen Ort von Kants ‚Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft‘, Würzburg 2000, 165. Religion, B 136. Religion, B 133. Der Ausdruck ‚Kollektiv‘ soll jenseits von Gesellschaft und Gemeinschaft die gemeinsame Organisation und Durchführung des Zusammenlebens von Menschen bezeichnen. Es sind damit keine

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wie diejenigen, die keinem solchen Gemeinwesen beitreten, denn die Realisierung der Sittlichkeit innerhalb eines partikularen Kollektivs bleibt ständig bedroht, solange es in irgendeiner Weise auf gesellschaftliche Kontakte zu anderen Gemeinwesen – zum Beispiel auf Handelsbeziehungen – angewiesen ist. Da diese Kontakte selbst nicht moralisch bestimmt sind, bedrohen partikulare ethische Kollektive auch wechselseitig ihre Sittlichkeit. Gegen diese partikularisierende Wirkung des bösen Prinzips bedarf es daher neben dem Sittengesetz eines die Menschen „vereinigenden Prinzips“33 , das eine „von allen moralischen Gesetzen (die das betreffen, wovon wir wissen, daß es in unserer Gewalt stehe) ganz unterschiedene Idee ist, nämlich auf ein Ganzes hinzuwirken, wovon wir nicht wissen können, ob es als ein solches auch in unserer Gewalt stehe“34 . Dieses Prinzip muß die praktische Vernunft denken können, um die Objektivität von Freiheit zu denken. Weil moralische Freiheit für Kant ein Faktum der Vernunft35 ist, hat die Idee ethischer Kollektivität „in der menschlichen Vernunft ihre ganz wohlgegründete objektive Realität“36 und bezeichnet eine „Pflicht […] des menschlichen Geschlechts gegen sich selbst“37 . Weil das Sittengesetz den Einzelnen aber nur hinsichtlich seiner selbst unbedingt verbinden kann, wird man „schon zum voraus vermuten, daß diese Pflicht der Voraussetzung einer anderen Idee, nämlich der eines höheren moralischen Wesens bedürfen werde, durch dessen allgemeine Veranstaltung die für sich unzulänglichen Kräfte der Einzelnen zu einer gemeinsamen Wirkung vereinigt werden“38 . Ein ethisches Gemeinwesen ist nur mittels einer zusätzlichen Vernunftidee zu denken, die der Selbstbestimmung der Einzelnen den Begriff koordinierter Kollektivität hinzufügt. Diese Idee geht aus der Vernunft hervor, aber ihre Geltung kann nicht innerhalb der je einzelnen moralischen Subjekte begründet werden, weil sie alle in ihrem Verhältnis zueinander moralisch verbindet. Da der logische Ort dieser Idee die praktische Vernunft ist, konstruiert Kant den Begriff einer hypostasierten Vernunft als Geltungsgrund: Das ist die Idee jenes ‚höheren moralischen Wesens‘, deren Inhalt die Vereinigung der unzulänglichen Kräfte der Einzelnen zu einer gemeinsamen Wirkung durch allgemeine Veranstaltung ist. So ist sie der Begriff rationaler Kooperation zur Verwirklichung des moralischen

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Anleihen an die Verwendung dieses Ausdrucks in der politischen Nomenklatur des sogenannten real existierenden Sozialismus verbunden. Im Gegenteil birgt die Herausbildung des Begriffs eines kollektiven Subjekts etwa bei Georg Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein, Darmstadt 1968 eine Tendenz zum Begriff der ‚Masse‘, wie ihn, gegen die eigene Intention, später z. B. Herbert Marcuse verwendet: Vgl. Versuch über die Befreiung, Frankfurt am Main o.J. ‚Kollektiv‘ meint aber der Sache nach die Vereinigung von Einzelnen unter gemeinsamen Zwecken. Religion, B 134. Religion, B 136. Vgl. KpV, V 31; 42. Die Rede von der Freiheit als Faktum ist voraussetzungsvoll. In der Logik erläutert Kant, die objektive Realität von Freiheit sei ein Axiom (vgl. IX § 3); Axiome sind in der Anschauung darstellbare intuitive Grundsätze (vgl. IX § 35). Religion, B 130. Religion, B 135. Hierin erkennt Matthias Lutz-Bachmann „[e]in neues Argument für die Weltrepublik“ (Das ‚ethische gemeine Wesen‘ und die Idee der Weltrepublik. Der Beitrag der Religionsschrift Kants zur politischen Philosophie internationaler Beziehungen, in: Michael Städtler (Hg.), Kants ‚Ethisches Gemeinwesen‘, a.a.O., 215). Religion, B 136.

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menschlichen Gattungsvermögens39 , dessen Modell kooperativ arbeitsteilige Reproduktionsprozesse sind, in denen ‚die für sich unzulänglichen Kräfte der Einzelnen zu einer gemeinsamen Wirkung vereinigt werden‘: „[E]igentlich entspringt der Begriff von der Gottheit nur aus dem Bewußtsein dieser Gesetze und dem Vernunftbedürfnisse, eine Macht anzunehmen, welche diesen den ganzen, in einer Welt möglichen, zum sittlichen Endzweck zusammenstimmenden Effekt verschaffen kann“40 . Damit bezeichnet der Glaube an Gott einerseits „lediglich das moralische Verhalten Gottes zum menschlichen Geschlechte“41 , also nicht einmal ein Verhalten der Menschen zu Gott. Obwohl es Kant offenbar auf den rationalen Kern des religiösen Verhältnisses, die Funktion der religiösen Idee, die aus der Reflexion aufs Gesetz sich ergibt, für die Menschen, die unter diesem Gesetz stehen, ankommt, setzt sich das moralisch reflektierende Bewußtsein damit unter eine ideale Voraussetzung, über die es per definitionem nicht mehr verfügt; die durch doppelte Negation gewonnene Idee Gottes wird durch eine weitere Negation – dessen Absolutsetzung – von ihrer Genese abgetrennt.42 Das religiöse Verhältnis bezeichnet auch das Problem, daß die subjektive Anerkennung der objektiven Geltung einer Rechtsverfassung deren eigenem Begriff nach äußerlich erzwungen wird und daß eine derartige Geltungsgarantie der ethischen Verfassung aber unmöglich ist, denn kein Mensch vermag die Moralität eines anderen auch nur zu kontrollieren. Da ein Gesetzgeber aber die Einhaltung seiner Gesetze garantieren können muß, „kann nur ein solcher als oberster Gesetzgeber eines ethischen gemeinen Wesens gedacht werden, in Ansehung dessen alle wahren Pflichten, mithin auch die ethischen zugleich als seine Gebote vorgestellt werden müssen; welcher daher auch ein Herzenskündiger sein muß, um auch das Innerste der Gesinnungen eines jeden zu durchschauen und, wie es in jedem gemeinen Wesen sein muß, jedem, was seine Taten wert sind, zukommen zu lassen. Dieses ist aber der Begriff von Gott als einem moralischen Weltherrscher.“43 Der Begriff Gottes, die Vorstellung von Geboten, der Gedanke von einem Gesetzgeber begründen die Konsistenz des Begriffs der ethischen Verfassung. Das sittliche Subjekt ist in sich differenziert, es reflektiert als Gesetze bestimmendes Subjekt auf sich als durch Gesetze bestimmbares. So begründet die denkende Vernunft selbst aus sich die praktische Objektivität der Ideenkonstellation von Sittengesetz und Einheit aller Menschen. Der Begriff, der ‚Gott‘ genannt wird, ist aber keine willkürliche Erfin39

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Zur Entwicklung des Gattungsvermögens als spezifischer Wirkung von Kooperation vgl. Karl Marx, Das Kapital, Bd. 1, a.a.O., 11. Kapitel, bes. 348f. Ein Vorgänger dieses Ausdrucks bei Marx ist Kants Ideal der Menschheit: „nämlich zu einer Gattung zu gehören, die der Bestimmung des Menschen, so wie die Vernunft sie ihm im Ideal vorstellt, angemessen ist“ (Anthropologie, VII 329f.). Die Behauptung, der Gattungsbegriff in der politischen Theorie berge totalitäre Gefahren, sei letztlich eine Wurzel des Stalinismus, verfehlt die Sache: Ohne spezifisch menschliches kollektives Vermögen gäbe es keinen sachlichen Grund für rationale Argumente in der Politik. Vgl. dagegen Michael Quante, Die Beisetzung des Politischen in der Metaphysik von Karl Marx, in: Philosophieunterricht in Nordrhein-Westfalen. Beiträge und Informationen, Nr. 46, www.fvphilosophie-nrw.de/Mitteilungen_2010_NRW_HP_10_08_30.pdf. Religion, B 147. Religion, B 211. Vgl. zur Sache: Michael Städtler, Die dritte Negation, in: Hegel-Jahrbuch 2003. Religion, B 138f.

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dung zur Rettung eines inkonsistenten Gedankenspiels, sondern eine von der Vernunft erforderte Idee, unter der allein die faktisch unstrittige Objektivität von Freiheit gedacht werden kann. Wäre Sittlichkeit äußerlich verfaßt, so wäre sie nicht das Dasein von Autonomie. Das Faktum der Vernunft kann nur durch Begriffe reiner praktischer Vernunft adäquat begriffen werden. Ohne solches Begreifen wäre die umfassende Realisierung von Autonomie nicht mit Grund zu fordern.44 Um der Möglichkeit von Autonomie willen muß die Vernunft sich selbst einschränken. Mit Blick auf die nicht zwangsläufig moralisch bestimmten Willen vernunftbegabter Sinnenwesen schreibt Kant nun: „Ein moralisches Volk Gottes zu stiften, ist also ein Werk, dessen Ausführung nicht von Menschen, sondern nur von Gott selbst erwartet werden kann.“45 Die Realisierung des ‚ethischen Internationalismus‘, also die Einsicht aller Menschen in die Vernunftideen der Sittlichkeit, kann deshalb weder von einem einzelnen Menschen noch von einem partikularen Kollektiv zuverlässig bewirkt werden, weil der Erfolg fortschreitender Vervollständigung zu einem alle Menschen umfassenden ethischen Kollektiv durch Aufklärung nicht garantiert ist. Nun muß die Erfüllbarkeit jeder Pflicht aber im Vermögen des verpflichteten Subjekts liegen. Diese Schranke stellt Aufklärung aber nicht dem bloßen Zufall anheim, sondern sie entspricht dem Moment von Geschichte, das in der Realisierung von Vernunft liegt, weil sie nur in der Zeit geschehen kann. Dieses historische Moment bestimmt aber weder hinreichend die Realisierung von Vernunft, noch wäre es selbst durch die Vernunft hinreichend zu bestimmen. Der Pflicht, ein universelles ethisches Kollektiv zu gründen, kann ein Mensch daher nur genügen, wenn er so verfährt, „als ob alles auf ihn ankomme, und nur unter die44

45

Wenngleich Kant keinen Zweifel daran läßt, daß es um die begriffliche Bestimmung von Moralität zu tun ist, ist der Darstellung über die Wahl des religiösen Kontextes hinaus bis in die Formulierungen anzusehen, daß der Begriff der Vernunftreligion Resultat einer Entwicklung ist, an deren Beginn Kant eine Religions- und auch Moralauffassung vertrat, die in größerer Analogie zum Zwangssystem der Rechtsgemeinschaft gedacht war. Vgl. Maximilian Forschner, Das Ideal des Moralischen Glaubens. Religionsphilosophie in Kants Reflexionen, in: Friedo Ricken/François Marty (Hgg.), Kant über Religion, Stuttgart 1992. Daher scheint es manchen Interpreten, als sei noch in der Religionsschrift die Aufklärung religiös borniert. Zudem wird die Religionsschrift häufig als klassische Religionsphilosophie gelesen, in deren Kontext die Realisierung praktischer Philosophie verhandelt werde. Vgl. z. B. Dieter Witschen, Kant und die Idee einer christlichen Ethik. Ein Beitrag zur Diskussion über das Proprium einer christlichen Moral, Düsseldorf 1984 oder Stephen R. Palmquist, Kant‘s Critical Religion. Vol. II of Kant’s System of Perspectives, Aldershot 2000. Kants Bestimmung Gottes als praktische Idee, als „inneres moralisches Verhältnis“ (XXI, 414) wird dabei ausgeblendet. An ihr zeigt sich aber der moralische und politische Gehalt der Religionsschrift, dem Religion als Modell dient. Keinesfalls dient das Christentum Kant als „Inspirationsquelle“ (Jürgen Habermas, Die Grenze zwischen Glauben und Wissen, a.a.O., 234), deren „reflexive Aneignung“ dann „im Streit mit dem religionskritischen Ziel“ (236) liege. – Zur Auswahl und Funktionsweise dieses Modells vgl. dagegen Maxi Berger, Zwischen Religionskritik und aufgeklärter Gesellschaft. Zur Konstruktion bürgerlicher Gegenwart, in: Michael Städtler (Hg.), Kants ‚Ethisches Gemeinwesen‘, a.a.O. Wenige Autoren kommen zu dem Ergebnis, daß die Religionsschrift „kein religionsphilosophisches Werk im heute üblichen Sinn“ sei. Giovanni B. Sala, Die Lehre von Jesus Christus in Kants Religionsschrift, in: Friedo Ricken/François Marty (Hgg.), Kant über Religion, a.a.O., 144. Eine explizit politische Interpretation unternimmt Samuel Klar, Moral und Politik bei Kant, a.a.O. Religion, B 141.

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ser Bedingung darf er hoffen, daß höhere Weisheit seiner wohlgemeinten Bemühung die Vollendung werde angedeihen lassen“46 . Beruhte aber dergestalt die Verbindung des Handelns zum Ziel auf der Gnade Gottes oder auf Zufall, könnte jede Handlung genauso gut unterlassen wie ausgeführt werden. Würde die Ungewißheit des Ausgangs dagegen nicht als abstrakte Ungewißheit des Zufalls oder Willkür einer höheren Macht, sondern geschichtlich verstanden, könnte die Moralisierung der Menschen als Pflicht begriffen werden. Nur unter der Voraussetzung dieser Pflicht wäre die Frage nach dem Erfolg überhaupt sinnvoll. Würde die Pflicht vom Erfolg abhängen, wäre sie unmöglich, denn der geschichtliche Verlauf ist nicht durch bloße Vernunft zu erzwingen. Die ‚höhere Weisheit‘ am Ziel der Geschichte müßte so nicht als höhere Macht, sondern könnte als jene Vernunfteinsicht verstanden werden, die nicht von den einzelnen Menschen zu kontrollieren ist, die aber, weil sie Weisheit, also vernünftig ist, der Vernunft der Menschen auch nicht äußerlich ist. Es wäre die geschichtlich reale moralische Einsicht aller Menschen, das ethische Ganze. Dieses ethische Ganze ist aber zur Gänze irreal; es hat in der bürgerlichen Gesellschaft, um deren Moralisierung es Kant zu tun ist, kein Modell, außer in der innerhalb dieser Gesellschaft konstituierten Kirche. Anhand dieser entfaltet Kant den sonst leeren Begriff vernünftiger, wenigstens nicht äußerlicher, Kollektivität, in dem als Resultat alle irrationalen Beschränkungen des Modells aufgehoben wären.47 Daß Kant die Kirche, nicht den bürgerlichen Staat, als Modell des ethischen Gemeinwesens verwendet, ist das stärkste Moment seiner moralischen Geschichtsphilosophie und zugleich ihr schwächstes: Es erlaubt, rigoros am moralischen Prinzip festzuhalten, aber reproduziert Heteronomie innerlich. Soviel trifft die moderne Rede von den politischen Religionen oder der politischen Theologie:48 Politisches Bewußtsein, dem es ums Ganze geht, das eine als falsch erkannte Politik um keinen Preis akzeptieren will, hat ein Moment von Rigorosität, das sich sonst nur Religion leistete. Diese Rigorosität politischer Überzeugung aber mit pseudo-aufklärerischem Gestus als ‚Ersatzreligion‘ zu diffamieren, erweitert das Moment, das sie mit Religion teilt, zu einer unbegründeten Analogie: Die Behauptung eines vernünftigen Begriffs menschlichen Zusammenlebens wird aufgrund bloßer Strukturisomorphie mit dem transzendenten und daher politisch unverfügbaren – insofern heteronomen – Element göttlicher Herrschaft verglichen. Pseudo-aufklärerisch ist 46 47

48

Religion, B 141. Daß die Vernunftreligion sowohl als transzendentales Kriterium der sichtbaren Kirche als auch als geschichtliche Überwindung derselben verstanden wird, ist kein „Kategorienfehler“, wie Hans Michael Baumgartner meint: Vgl. Das „Ethische gemeine Wesen“ und die Kirche in Kants ‚Religionsschrift‘, in: Friedo Ricken/François Marty (Hgg.), Kant über Religion, a.a.O., 162. Die Kirche ist ein historisches Modell, das, als Modell verstanden, über seine historische Beschränkung, damit aber auch über sich selbst hinausweist. Nach Baumgartner ist „die Idee eines reinen Religionsglaubens transzendentales Konstitutionsmoment einer sichtbaren und (ihrer Öffentlichkeit wegen) institutionell verfaßten Kirche [...] – und nicht ihr Telos“ (165). Tatsächlich ist jene Idee der Begriff reiner praktischer Vernunft, der ein defizitäres historisches Modell an der sichtbaren Kirche hat und dadurch deren transzendente Teleologie begrifflich wie praktisch gegen sie selbst kehrt. Vgl. z. B. Eric Voegelin, Die politischen Religionen, München 1993 oder Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, München 1922.

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diese Diffamierung, weil ihre Zurückweisung der für religiös gehaltenen Heteronomie der Aufrechterhaltung der gesellschaftlich realen dient: Dieser etwas entgegenzusetzen, sei eine unzulässige Illusion.49 Allerdings bringt Kant mit seinem Modell für die vollständige Entfaltung praktischer Vernunft diese in ein widersprüchliches Verhältnis zu sich selbst: Um ihren eigenen Gehalt konsistent denken zu können, muß sie ihre Selbständigkeit in einem Ideal aufheben, ihre Konsistenz ist durch innere Inkonsistenz erkauft. Dies ist kennzeichnend für Kants praktischen Subjektbegriff, der als Autonomie in der Heteronomie bestimmt ist; gerade durch diese Inkonsistenz korrespondiert er aber der gesellschaftlichen Realität von Subjektivität. Selbständigkeit wird als abhängig von äußeren Bedingungen erkannt. Da diese äußeren Bedingungen aber nicht auf ihre historisch bestimmten Gehalte befragt werden, sondern als von Natur aus heteronome gelten, gerät Subjektivität zum Arrangement der Selbstbestimmung mit der Fremdbestimmung. Geschichte ist dann nicht die Durchsetzung der Selbstbestimmung gegen die Fremdbestimmung, sondern die Vermittlung beider unter einem Ideal von Autonomie, das keiner Erfahrung mehr zugänglich ist. Konsequent tritt dieses Ideal von Autonomie selbst in heteronomer Gestalt auf. Kants spezifisch bürgerliches Argument, das von einer geradlinigen, ungebrochenen Fortschrittsgeschichte überzeugt ist, deren erreichter Stand möglicherweise mangelhaft, sicher aber erhaltenswert und selbst Bedingung weiterer Fortschritte ist, dürfte auch ein Hintergrund seiner Kritik am Judentum sein.50 Dieses ist ja keineswegs eine ungeschichtliche Bewegung, aber eine, die sich vom Konzept der Heilsgeschichte wesentlich durch Diesseitsorientierung unterscheidet. Während aus heilsgeschichtlicher Sicht noch die geistwidrigen weltlichen Bedingungen den Subjekten als deren eigene Schuld zugerechnet werden und, besonders in der protestantischen Form, Geschichte als Herausarbeitung des Geistlichen aus dem Weltlichen unter einem Ideal absoluten Geistes interpretiert wird, erscheint vom jüdischen Geschichtsverständnis aus das Judentum selbst über die Generationen hinweg als Identität in den weltgeschichtlichen Prozessen. Unter dieser Voraussetzung wird sowohl das messianische Moment des unkalkulablen Umbruchs gestärkt, als auch das des Innerweltlichen: Geschichte wird gedacht als instantane und vollständige Befreiung von den Bedingungen, die der Sittlichkeit im Wege stehen. Bis dahin ruht Geschichte in der inneren Identität ihres Subjekts. Auch in der Erwartung der diesseitigen Erlösung, insofern sie verheißen ist, liegt ein Moment von Heteronomie, das Kant als „Inbegriff bloß statutarischer Gesetze“51 rügt. Ebenso wie seine Kritik am Mangel des Jenseitsglaubens im Judentum geht die am Charakter der Gesetze desselben auf die Unmöglichkeit, das Judentum als Subjekt der moralischen Erweiterung bürgerlicher Fortschrittsgeschichte einzusetzen. 49

50 51

Vgl. Heinrich Meier, Was ist politische Theologie? Einführende Bemerkungen zu einem umstrittenen Begriff, in: Politische Theologie zwischen Ägypten und Israel, hg. v. Jan Assmann, München 1992; Jürgen Gebhardt, ‚Politik‘ und ‚Religion‘: Eine historisch-theoretische Problemskizze, in: Manfred Walther (Hg.), Religion und Politik. Zur Theorie und Praxis des theologisch-politischen Komplexes, Baden-Baden 2004; Henning Ottmann, Politische Theologie als Herrschaftskritik und Herrschaftsrelativierung, in: Manfred Walther (Hg.), Religion und Politik, a.a.O. Vgl. z. B. Religion, B 186f. Religion, B 186.

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Weil Kant Religion als Modell der Geschichtsmächtigkeit innerlicher Moralität mit dieser identifiziert, ‚Religion‘ stets ausschließlich als Korrelat subjektiver Überzeugung zur objektiven Moral gemeint ist, diagnostiziert er dem Judentum, daß es „eigentlich gar keine Religion“52 sei. Indem er das geschichtliche Moment von diesseitiger Selbsterhaltung im Widerstand, das im Judentum auch liegt, heils- beziehungsweise rechtfertigungsgeschichtlich ausblendet, vernachlässigt er zugleich den heteronomen Charakter des heilsgeschichtlichen Erlösungsideals. Sowohl Judentum als auch frühes Christentum sind aufgrund ihrer Geschichte durch kultisch organisierten Widerstand gegen Heteronomie bestimmt; das Judentum hat diesen Widerstand in kollektiven Gedächtniszeremonien ritualisiert,53 das Christentum hat ihn mit seiner zunehmenden politischen Einbindung zur Innerlichkeit sublimiert. Die sakramentalen Rituale, deren Entwicklungsmotiv vielfach auch in der inneren Sozialdisziplinierung der frühen Gemeinden zu sehen ist, haben zunehmend vergeistigten Charakter angenommen. Die kollektive Identität liegt dann in der Realisierung des corpus mysticum, nach dem Jüngsten Gericht. Gegen die dadurch erreichte Dynamisierung der Geschichtsvorstellung erscheint die jahrtausendelang durchgehaltene Beschwörung des kollektiven Gedächtnisses im Judentum als äußerlich und stagnierend. Deshalb könne geschichtliche Identität, so Kant, nur „als eine völlige Verlassung des Judentums“54 begründet und durchgeführt werden, die Einheit der Moralgeschichte könne nur an der christlichen Kirche entwickelt werden.55 Das Judentum wird damit durch sein Diesseitigkeits- und Selbstbehauptungsprinzip gar zum ungeliebten alter ego des systematischen moralischen Bewußtseins. Der Schritt dieses Bewußtseins, das Leid der eigenen Zerrissenheit dann jenem Prinzip anzulasten, es um des Heils der christlichen Welt willen zum auszutilgenden Moment zu degradieren, liegt – ob bewußt oder unbewußt – darin. Allerdings reflektiert Kant die Problematik der inneren Heteronomie als mystisches Moment, das der geschichtlichen Vermittlung von Moral notwendig einwohne: „In allen Glaubensarten, die sich auf Religion beziehen, stößt das Nachforschen hinter ihrer inneren Beschaffenheit unvermeidlich auf ein Geheimnis, d. i. auf etwas Heiliges“56 . Zwar könne es ein Geheimnis nur hinsichtlich Gottes geben, dies sei aber nicht ohne ‚größte Not‘ als ein mysterium infusum zu verstehen, vielmehr könne es im Verhältnis der moralischen Anlage der Vernunft zu ihrem Objekt, dem Göttlichen, selbst begründet sein. Es handele sich dabei um Inhalte, die „zwar von jedem einzelnen gekannt, aber doch nicht öffentlich bekannt, d. i. allgemein mitgeteilt werden“57 können. Damit entspricht Kant zunächst der Vorstellung, nur durch das historische Moment eines Kirchenglaubens, durch eine Offenbarung, könnten die Menschen zum moralischen Religionsglauben gelangen. In ihrem Glauben an die Offenbarung sind sie nämlich partikular, je auf sich 52 53

54 55 56 57

Religion, B 186. Vgl. Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1999, z. B. 90. Religion, B 189. Vgl. Religion, B 185. Religion, B 207f. Religion, B 208.

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Z S   G

verwiesene Subjekte. Ihr Glaube ist aber zugleich insofern universal, als alle dasselbe glauben, weil die Offenbarung auf das Moment der Vernunftreligion hingeordnet, mit ihm verknüpft ist; doch die Form, in der sie es glauben, ist nicht universalisierbar.58 Schon die Vorstellung des höchsten Gutes überfordere die Vernunft, denn dessen Moment der Glückseligkeit sowie die ihm vorausgesetzte Einheit aller Menschen seien vom moralischen Individuum nicht zu bewirken, obgleich es dazu verpflichtet sei. Ohne die Annahme einer Mitwirkung Gottes sei dies nicht denkbar, gleichwohl habe die praktische Nötigung durch die Vernunft Vorrang. Deshalb sei die Idee Gottes als „Idee eines moralischen Weltherrschers“59 doch „eigentlich kein Geheimnis; weil er lediglich das moralische Verhalten Gottes zum menschlichen Geschlechte ausdrückt“60 . Es handelt sich demnach um eine Konstruktion aus reiner Vernunft von praktischer Bedeutung, deren Gehalt eine recht zivilisierte Trinitätsanalogie darstellt: „Gott 1) als den allmächtigen Schöpfer des Himmels und der Erden, d. i. moralisch als heiligen Gesetzgeber, 2) […] [als] den Erhalter des menschlichen Geschlechts, als gütigen Regierer und moralischen Versorger desselben, 3) […] [als] Verwalter seiner eigenen heiligen Gesetze, d. i. als gerechten Richter“61 . In Gott als Oberhaupt des ethischen Gemeinwesens entfiele jede Gewaltenteilung, da die Gesetzgebung vollkommen gerecht wäre und keiner Kontrollmechanismen bedürfte. – Warum Kant hierzu wenigstens per analogiam der Trinitätsspekulation bedarf, ist eigentlich geheimnisvoll, denn die Aufhebung der Gewaltenteilung in einer Person oder Instanz ist bloße Kompetenzbündelung, die nicht der „dreifachen spezifisch verschiedenen moralischen Qualität […] der verschiedenen (nicht physischen, sondern moralischen) Persönlichkeit eines und desselben Wesens“62 bedarf. Die Trinitätsspekulation, die solche dialektische Verschiedenheit entwickelt, weist Kant sogar als „alle menschlichen Begriffe übersteigendes, mithin einer Offenbarung für die menschliche Fassungskraft unfähiges Geheimnis“63 zurück. Kant bedient sich aber deren abstrakter Form, weil er den politischen Gehalt des ethischen Gemeinwesens gerade nicht politisch faßt. 58

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Vgl. Sich im Denken orientieren, VIII 140f.: „Ein jeder Glaube, selbst der historische, muß zwar vernünftig sein (denn der letzte Probirstein der Wahrheit ist immer die Vernunft); allein ein Vernunftglaube ist der, welcher sich auf keine andere Data gründet, als die, so in der reinen Vernunft enthalten sind.“ Im Unterschied hierzu könnten in Bezug auf den historischen Glauben immer noch Gegenbeweise aufgefunden werden. Umgekehrt schließt Kant, daß der Vernunftglaube jedem historischen Glauben zu Grunde liege, weil der Begriff von Gott ein ursprünglicher Vernunftbegriff sei, der dann in historischen Gestalten hervortrete. Womöglich waren für die Religionsgenese doch historische Herrschafts- und Naturerfahrungen einerseits und die Hilflosigkeit früher menschlicher Kultur andererseits stärker prägend – nicht zufällig stellen die Menschen sich den Gottesdienst nach Art des Frondienstes vor (vgl. Religion, B 145); Vernunftreligion wäre die sublimierte Gestalt dieses ganz irdischen Konglomerats. – Ähnlich wie Kant faßt Hegel die Religion später systematisch als Gestalt absoluter Wahrheit und deshalb als Moment von Sittlichkeit. Vgl. G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, Hamburg 1995, § 270 Anm. Religion, B 211. Religion, B 211. Religion, B 211. Religion, B 214. Religion, B 214f.

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Die gerechte Einrichtung der menschlichen Verhältnisse wird in ein übermenschliches Prinzip gelegt, aus dessen Verhältnis zu den menschlichen Handlungen dann in der Tat Mysterien im strikten Sinne insofern folgen, als es sich um Widersprüche handelt, deren vernünftige Mitteilbarkeit kategorisch ausgeschlossen ist. Wenn nämlich erstens das ethische Gemeinwesen nur unter der Vorstellung einer göttlichen Gesetzgebung verbindlich zu denken ist, dann ist diese Verbindlichkeit göttlicher Anordnung ihrerseits nur zu denken, wenn die Menschen Gottes Geschöpfe sind. Diese geschöpfliche Abhängigkeit vom teleologischen Willen Gottes widerspricht aber der menschlichen Freiheit; dieser Widerspruch kann durch concursus- und andere zur Vermittlung gedachte Theorien nur entfaltet, nicht gelöst werden.64 Wenn zweitens die Menschen mit dem Prinzip des Bösen versehen und sozusagen zuinnerst und allzumal verderbt sind, können sie nur dann auch als Geschöpfe der Güte Gottes angesehen werden, wenn dieser über Mittel verfügt, die Menschen, die aus eigener Kraft nicht dazu fähig sind, zu rechtfertigen. Auch dies widerspricht der Freiheit der Subjekte. Wenn nun schließlich drittens die Menschen sich ihre Gnadenwürdigkeit nur durch vorausgehende gute Werke denken können, gleichwohl aber wissen müssen, daß Gottes Gnade nicht erwirkt werden kann, sondern auf unbedingtem Ratschluß beruhe, so sei dieser Ratschluß nach menschlichen Begriffen nicht widerspruchsfrei zu denken. Daraus ergeben sich die praktisch notwendigen theoretischen Geheimnisse der Berufung, der Genugtuung und der Erwählung.65 Mit der Forderung, daß man sich doch irgendeine Vorstellung bei diesen Geheimnissen machen könne, „daß man verstehe, was unter demselben gemeint sei“66 , will Kant das Resultat mildern, demzufolge Gott über diese Geheimnisse noch nicht einmal etwas offenbaren könne, „weil wir es doch nicht verstehen würden“67 . Es bleibt prinzipiell unverständlich, weil es sich um lauter Widersprüche handelt, die nicht mitteilbar sind, wohl aber in der Vorstellung, „in dem Inneren, dem Subjektiven unserer moralischen Anlage“68 ein Korrelat haben, nämlich die Vorstellung, daß Autonomie nur durch Heteronomie erlangt werden kann. Kants Annahme der praktischen Notwendigkeit einer regelnden Gewalt zur Ermöglichung der Realisierung menschlicher Freiheit beruht auf dem ambivalenten Freiheitsbegriff der Neuzeit, demzufolge die Menschen ihre Freiheit allein durch ‚ungesellige Geselligkeit‘ voranbringen können, durch Konkurrenz, die nicht bloß Freiheit der Willkür erfordert, sondern die selbst als natürliches Bedürfnis dieser Freiheit vorgestellt wird. Eben diese bürgerliche Vereinzelung, als Substanz der Menschen vorgestellt, wird zur Form des Geheimnisses: Die moralische Persönlichkeit 64

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Kant bemüht solche Modelle im Zweiten Stück zur geschichtstheoretischen Präparation des Rechtfertigungsproblems. Zur Theorie des concursus divinus vgl. Gerhard Gloege, Artikel ‚Schöpfung‘ (Teil IV B 4 c), in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. V, Tübingen 1961: „Der Begriff hat die Funktion, jeden Vorgang in der Welt, bes. jede Wirkung menschlichen Willens als göttliche Wirkung zu verstehen […]. […] Dabei wäre die menschliche ‚cooperatio‘ als Grenzbegriff zu charakterisieren: Das Geschöpf ist nicht Mit-Schöpfer (concreator), sondern nur MitWirker (cooperator: Luther).“ Vgl. Religion, B 215ff. Religion, B 218 Anm. Kant weist auch darauf hin, daß ein Verstehen der einzelnen Wörter nicht genüge, sondern ihr Zusammenhang als sinnvoll aufgefaßt werden müsse. Religion, B 217f. Religion, B 209.

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selbst wird zu dem, was jedem bekannt, aber nicht allgemein mitteilbar ist, weil sie nicht auf praktischer Vernunft allein gründet, sondern auf pragmatischer Gewalt, deren begriffliche Rekonstruktion dadurch erst erfordert wird, daß noch die unmenschlichsten Verkehrsformen der bürgerlichen Gesellschaft zu unmittelbaren Wesensäußerungen der Menschen erhoben werden.69 Das moralische Bewußtsein, das für alles frei verantwortlich sein, zugleich aber sich binden soll an eine ihm unerfaßbare Herrschaft, ist in sich zerrüttet, nicht sowohl, weil es als freies in die Notwendigkeit von Heteronomie einwilligen soll, als vielmehr weil es diese Heteronomie sich selbst zuweist, und damit eben jene internalisiert, der es real unterworfen ist. Sind die Menschen einmal davon überzeugt, daß ihre unmoralischen Verhältnisse notwendig ihrem eigenen Wesen entspringen, können sie sich ein geordnetes Miteinander ohne übergeordnete Gewalt nicht denken; das Mißtrauen in die eigene Vernunft wird zur zweiten Natur. Nach überwiegender Erfahrung ist nun der geschichtlichen Kraft praktischer Vernunft durchaus zu mißtrauen. Geschichte wird bewegt durch Leidenschaften. Nun werden Leidenschaften ihrerseits bewegt durch äußere Objekte oder deren Vorstellungen und sind solange notwendig mit der Vernunft unvereinbar, wie es die äußeren Verhältnisse, in denen diese Objekte stehen, sind. Die Vorstellung der Möglichkeit, diese Verhältnisse aus Prinzipien der praktischen Vernunft einzurichten, bricht immerhin die Notwendigkeit des Konflikts von Gut und Böse auf, wenn schon seine Möglichkeit nicht behoben wird. Notwendig aber bleibt er, wenn die Vernunft sich selbst einer heteronomen Gewalt unterstellt, in der sich die zu befriedenden Konflikte reproduzieren: „Unter Verdienst aber wird hier nicht ein Vorzug der Moralität in Beziehung aufs Gesetz (in Ansehung dessen uns kein Überschuß der Pflichtbeobachtung über unsere Schuldigkeit zukommen kann), sondern in Vergleichung mit anderen Menschen, was ihre moralische Gesinnung betrifft, verstanden.“70 Die Konkurrenz, deren prinzipiellen Status Kant als ethischen Naturzustand beschreibt, bestimmt somit ihrer Form nach auch das Verhältnis zum heteronomen Garanten der Moral. Die praktische Vernunft setzt keineswegs das Gute mit Notwendigkeit aus sich allein; aber sie ist die einzige sichere Quelle des Guten, die den Menschen zum Gebrauch steht: Dennoch „treiben zugleich Vernunft, Herz und Gewissen“71 dazu an, das eigene moralische Verhalten an der Vorstellung göttlicher Rechtfertigung zu messen. Moralität an überrationale Verwirklichungsbedingungen zu knüpfen, setzt sie unüberwindlichen Schwierigkeiten aus, weil die Bildung freier Subjektivität dadurch unmöglich wird; die liberalistischen Subjekte erhalten als solche einen transzendenten Beistand. Wird die Autonomie der Subjekte begründet durch deren eigene, autonome, Unterstellung unter Heteronomie, mag diese zwar dem Gehalt nach mit der praktischen Vernunft identisch sein, ihrer Wirkungsweise nach aber wird sie als despotisch vorgestellt. Diese Vorstellung wird erforderlich, weil Kants Geschichtsbegriff Moral und Politik voneinan69

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Vgl. dazu auch Hajo Holborn, Der deutsche Idealismus in sozialgeschichtlicher Bedeutung, in: Historische Zeitschrift 174 (1952), 365: „Die gesamte geistige Bewegung des deutschen 18. Jahrhunderts hat beinahe ausschließlich die Erziehung des individuellen Menschen zum Ziele gehabt und ihr alle politischen Forderungen untergeordnet.“ Religion, B 221 Anm. Religion, B 219.

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der trennt. Das moralische Vereinigungsprinzip kann nicht in dem politischen Ideal von freier Kooperation und Arbeitsteilung bestehen,72 weil diese Bedingungen als äußerliche nicht unter den strikten Moralbegriff subsumierbar sind; Moral hätte sonst pathologische Triebfedern. Dabei ginge es gar nicht darum, Moral an gesellschaftliche Bedingungen zu binden, sondern, im Gegenteil darum, die Politik im strikten Sinn der Moral zu unterwerfen, die technisch-praktische Organisation der menschlichen Gesellschaft moralisch zu bestimmen. Der Antagonismus der bürgerlichen Gesellschaft kann durch Moral nicht überwunden werden, wenn diese sich auf ihn nicht beziehen soll. Eine politische Einrichtung moralischer Gesellschaft gilt Kant aber als äußerlich.73 Schlimmer noch sieht es aus, wenn der Antagonismus der Gesellschaft als Antagonismus der menschlichen Natur gilt, weil dann dasselbe Subjekt als bürgerliches diesen Antagonismus pflegen und als moralisches ihn bekämpfen müßte. Der Zwang der Bedingungen zweiter Natur prägt sich den Subjekten in der Tat ebenso ein, wie Kant ihn ihnen als Eigenschaft erster Natur zuordnen wollte.74 Die Kantische Fassung des Problems erschüttert das Subjekt aber im Kern seiner Subjektivität selbst: Es weiß sich nicht bloß ausgeliefert, sondern es sieht sich sich selbst ausgeliefert, und zwar aus eigenen Stücken. Insofern die Gesellschaft aber diesen Zwangszusammenhang darstellt, ist das einzelne moralische Subjekt tatsächlich nicht mächtig, Moralität zu bewirken. Eine politische Moralisierung der Verhältnisse geschähe durch Zwang und wäre damit ihrem Zweck zuwider.75 Der Konflikt im Subjekt, auf den Kants Theorie hinausgeht, ist nur zu einem Teil rein theoretisch angelegt, zum anderen ist er gesellschaftlich erzwungen. Eine auf systematische Geschlossenheit bedachte philosophische Geschichtstheorie76 vermag diese äußerliche Stringenz der Beschädigung des Selbstbewußtseins nur als dessen eigene theoretische Gestalt wiederzugeben.

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Das Phänomen fabrikmäßiger arbeitsteiliger Produktion selbst ist Kant nicht unbekannt: Vgl. Anthropologie, VII 148. Unter freier Kooperation und Arbeitsteilung ist die technisch-praktisch wohl geregelte, moralisch-praktisch aber nicht herrschaftlich organisierte Reproduktion der Gesellschaft zu verstehen. Vgl. Gerhard Krieger, Freiheit und Gleichheit – Die Idee sittlicher Selbstbestimmung in Spätmittelalter und Neuzeit, in: Markus Kremer/Hans-Richard Reuter (Hgg.), Macht und Moral – Politisches Denken im 17. und 18. Jahrhundert, Stuttgart 2007, 90: „Im Ergebnis ist Herrschaft damit Dienstleistung unter aus Freiheit Gleichen.“ Dies wäre, streng genommen, keine Bestimmung von Herrschaft, sondern nur mehr von Organisation. Unfreie Kooperation und Arbeitsteilung verfolgt dagegen Zwecke, die nicht vernünftigerweise die Zwecke aller Einzelnen sein können, etwa die einseitig-partikulare Aneignung des allgemeinen Mehrprodukts. Freie Kooperation und Arbeitsteilung ist, wie gesagt, ein politisches Ideal. Ohne es jedoch wäre politische Urteilskraft leer oder chaotisch, weil sie keine reflektierte Distanz zu ihrem Gegenstand hätte. Vgl. Religion, B 139f. Vgl. hierzu auch Hans Heinz Holz, Gedanken zu Krieg und Frieden, in: Volker Bialas/Hans-Jürgen Häßler (Hgg.), 200 Jahre Kants Entwurf „Zum ewigen Frieden“. Idee einer globalen Friedensordnung, Würzburg 1996, 46. Vgl. Religion, B 180: „[D]enn was Revolutionen betrifft, die diesen Fortschritt abkürzen können, so bleiben sie der Vorsehung überlassen, und lassen sich nicht planmäßig, der Freiheit unbeschadet, einleiten.“ Vgl. Religion, B 189: „allgemeine Kirchengeschichte, sofern sie ein System ausmachen soll“ und B 185: „es muß Einheit des Prinzips sein“.

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So sei das oberste Ziel, von dem die Menschen einen klaren Begriff haben, durch menschliches Bemühen nicht erreichbar, weil sie es durch ihre Vernunft zwar vorstellen, aufgrund ihrer Sinnlichkeit aber nur eingeschränkt ausführen könnten: Erhabene Ideen ‚verkleinern‘ sich unter den Händen der Menschen.77 Deshalb könne auch auf den reinen Vernunftglauben, das moralische Moment der Religion, auf das allein ein ethisches Gemeinwesen zu gründen sein könnte, dieses eben gerade nicht gegründet werden. Die Menschen neigten nämlich aufgrund „eine[r] besonderen Schwäche der menschlichen Natur“78 dazu, nicht schon ihre moralische Einsicht, sondern erst technische Observanzen für Religionsdienst zu halten, weil sie sich den Dienst an Gott notwendig nach Analogie einer despotischen Herrschaft vorstellten, der man ein tätiges Opfer bringen müsse, um ihr zu gefallen. Deshalb bedürfe es des Kirchenglaubens als Veranschaulichung von Religion: Die Menschen würden „niemals“79 ohne äußerliche Frömmigkeit moralisch, so daß statutarische Regeln, historische Glaubenskonventionen schlechthin notwendig seien.80 Was Kant hier der menschlichen Natur zuordnet, ist erst Ausdruck des autoritär geformten Charakters, der jedoch durch die Verweisung auf gottesdienstliche Rituale nicht, auch nicht allmählich, überwunden, sondern bedient und gefestigt wird. Diesen autoritären Charakter beschreibt Kant trefflich: „Ein heiliges Buch erwirbt sich selbst bei denen (und gerade bei diesen am meisten), die es nicht lesen, wenigstens sich daraus keinen zusammenhängenden Religionsbegriff machen können, die größte Achtung, und alles Vernünfteln verschlägt nichts wider den alle Einwürfe niederschlagenden Machtspruch: da steht’s geschrieben. Daher heißen auch die Stellen desselben, die einen Glaubenspunkt darlegen sollen, schlechthin Sprüche. Die bestellten Ausleger einer solchen Schrift sind eben durch dieses ihr Geschäft selbst gleichsam geweihte Personen, und die Geschichte beweist, daß kein auf Schrift gegründeter Glaube selbst durch die verwüstendsten Staatsrevolutionen hat vertilgt werden können“81 . Diese Deformation des menschlichen Selbstbewußtseins, Freiheit in Unterwürfigkeit zu suchen, sitzt so tief, daß nicht einmal die durch jene Revolution erwiesene Kontingenz von Herrschaft und Knechtschaft die Vorstellung der heiligen Notwendigkeit von Herrschaft aufzuheben vermag. Der autoritäre Charakter ist keine Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft. Menschen haben kaum jemals ohne Herrschaft gelebt. Ihr geschichtliches Bewußtsein ist zutiefst dadurch bestimmt. Damit ist das Ausmaß der Schwierigkeit bezeichnet, die mit einer ‚Revolution der Denkungsart‘, mit Aufklärung und Bildung überhaupt, verbunden ist; ebenso wird verständlich, warum emanzipatorische Bewegungen immer wieder in herrschaftliche Muster zurückfielen. Weil aber diese Schwierigkeit durch geschicht-

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81

Vgl. Religion, B 140f. Religion, B 145. Religion, B 151. Vgl. Religion, B 148f. und B 158. Vgl. ebenso Anthropologie, VII 332f.: „Zum Charakter unserer Gattung gehört auch: daß sie, zur bürgerlichen Verfassung strebend, auch einer Disciplin durch Religion bedarf, damit, was durch äußeren Zwang nicht erreicht werden kann, durch innern (des Gewissens) bewirkt werde“. Religion, B 152f.

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liche Erfahrung begreündet ist, bedeutet das nicht die anthropologische Unmöglichkeit, sie durch Denken aufzubrechen. – Kant addiert hingegen diese Deformation nicht allein zum Naturbestand menschlicher Freiheit, sondern instrumentalisiert sie noch als Werkzeug der Geschichte: Weil der durch den autoritären Charakter ermöglichte profunde Einfluß von Schriftreligion auf „die Erleuchtung des Menschengeschlechts“ nach Naturgesetzen nicht erklärbar sei, könne die Schrift, wenn sie denn mit Moral harmoniere, mit Recht „das Ansehen, gleich einer Offenbarung, behaupten“82 . Freilich räumt Kant ein, daß die Interpretation dieses Buches, die der personifizierte reine Religionsglaube: der Moralphilosoph mit der Offenbarung anstellt, um sie ihrem Zweck zuzuführen, „oft gezwungen scheinen, oft es auch wirklich“83 sind; dennoch seien sie die einzigen zulässigen, denn der moralische Gehalt, der aus der praktischen Vernunft erkannt wird, gilt als Ziel der Offenbarung selbst, die überhaupt der moralischen Anlage der Menschen unbewußt entsprungen sei.84 Deshalb sei die rationale Auslegung a priori möglich. Hinter dieser Möglichkeit a priori, die das, was zurechtgezwungen wird, als notwendig deklariert, verbirgt sich wohl eher der selbst moralische Anspruch als eine theoretische Absicherung der Interpretation. Theoretisch sicher aber ist allein der Maßstab der Auslegung, die Moral selbst. Die Auslegung – soll sie ihren protreptischen Sinn erfüllen – kann nur dann den Nimbus des heiligen Buches nutzen, wenn dessen Heiligkeit überzeugend festzustellen ist. Deshalb bedarf es zudem der philologischen Schriftgelehrtheit, die den kontingenten Glaubensinhalt in ein „sich beständig erhaltendes System“85 verwandelt. Der didaktisch einzusetzende Kirchenglaube soll nun allmählich zur Religion, zur reinen Morallehre überführt werden.86 Um die Möglichkeit dieser metabasis denken zu können, unterstellt Kant, der partikulare kontingente Kirchenglaube enthalte selbst das Bewußtsein seiner Zufälligkeit: Seine Sätze seien nämlich nicht kategorisch, sondern bloß apodiktisch;87 deshalb korrumpiere dieses Mittel nicht seinen Zweck. Die Kirche als ecclesia militans habe in ihrer Hinordnung auf die ecclesia triumphans das moralische Moment der Religion an sich und vermöge dessen sei sie seligmachend. Ihr historisches Moment sei gleichgültig dagegen.88 Der motor der Moralgeschichte ist eine eigene, sozusagen geschichtlich-praktische, Antinomie der praktischen Vernunft:89 82 83 84 85 86

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Religion, B 153f. Religion, B 158. Vgl. Religion, B 160f. Religion, B 166. Vgl. SF, VII 296. Dies erinnert an die Organisationsreflexionen anläßlich der sozialistischen Revolutionen, die auch unter der Voraussetzung unfreier Verhältnisse politische Befreiung intendierten. In Lenins Ausdruck von der ‚richtigen Taktik‘ (Vgl. Wladimir Iljitsch Lenin, Der „linke Radikalismus“, die Kinderkrankheit des Kommunismus, in: Ausgewählte Werke, Berlin 1952, Bd. 2, 673) kommt sowohl das Moment des Festhaltens an dem als wahr Erkannten als auch das der taktischen Anpassung an die Strategie der als falsch erkannten gegnerischen Position zur Geltung. Georg Lukács, Methodisches zur Organisationsfrage, in: Geschichte und Klassenbewußtsein, a.a.O., hat diesen Widerspruch durch theoretische Methodologisierung noch verschärft. Vgl. Religion, B 167. Vgl. Religion, B 168. Vgl. Religion, B 169ff.

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Da die Befreiung von der Schuld vergangener Sünden und der zukünftige sittliche Lebenswandel notwendige Momente des seligmachenden Glaubens, der Erwerbung der Glückswürdigkeit, sind, müsse ihr Zusammenhang sich kausal in der Zeit darstellen lassen. Nun kann aber niemand im Bewußtsein seiner Schuld annehmen, daß allein durch den Glauben an Vergebung ihm auch vergeben sei, so daß er nun frei einen guten Lebenswandel zu führen vermöchte, sondern er müsse wohl annehmen, daß er zunächst durch gute Werke in die Lage komme, daß ihm vergeben werden könne. Umgekehrt aber könne der von Natur böse Mensch, dessen böses Prinzip immer in ihm bleibe, aus sich selbst, ohne Hilfe, nicht zu einem guten Lebenswandel gelangen, so daß er auf göttliche Vergebung vertrauen müsse, durch die er zu guten Werken erst befähigt werde. Diese Antinomie ist theoretisch nicht aufzulösen, weil die Vernunft hinter den Dualismus von guter Anlage und bösem Prinzip im Willen nicht zurückgehen kann; die Ursache der doppelseitigen Freiheit bleibt unbekannt, daher auch die mögliche Ursache einer etwaigen Überwindung des Bösen. Es gilt nun, „den Knoten (durch eine praktische Maxime) [zu] zerhauen, anstatt ihn (theoretisch) aufzulösen, welches auch allerdings in Religionsfragen erlaubt ist“90 . Da einerseits der Kirchenglaube bloß theoretisch erfordert sei, weil Rechtfertigung ohne Gnade nicht gedacht werden könne, andererseits der moralische Religionsglaube praktisch notwendig sei, weil ohne gute Werke auf Rechtfertigung nicht einmal zu hoffen sei – ob sie nun gedacht werde oder nicht – geht der ‚Eigenanteil‘ an der Rechtfertigung praktisch vor; der Kirchenglaube dient als Vehikel des Entschlusses, moralisch zu handeln. Damit wird die Moralisierungsgeschichte in Gang gesetzt, die in den Gleisen einer Religionsgeschichte verläuft, denn es ist selbst moralische Pflicht, die Religion von allen Äußerlichkeiten des Kirchenglaubens zu befreien. Durch die moralische Aufklärung der Menschen werden die Glaubens-Statuten „nach und nach entbehrlich, ja endlich zur Fessel“91 , sie werden abgeworfen, die Kirchenhierarchie erlischt in der allgemeinen Gleichheit der Freien, die wissen, daß sie selbst Urheber des Gesetzes sind. Gleichwohl sei das, was der Beschreibung nach wie „Freiheit und Gesetz ohne Gewalt: Anarchie“92 erscheint, eben keine solche, denn das Gesetz, das jeder sich selbst gibt, werde ja noch immer zugleich als göttliches Gebot angesehen, und die Vorstellung von Gottes Regentschaft und Richterschaft setze die Gewalt. Darin liegt zunächst, daß die „erniedrigenden Zwangsmittel[]“93 des Kirchenglaubens keineswegs nach und nach zu Fesseln werden, sondern – im günstigsten Fall gelungener Aufklärung – als die Fesseln wahrgenommen und begriffen werden, die sie immer schon waren; dies aber gelingt nicht durch den Kirchenglauben, sondern allenfalls gegen ihn. Zudem liegt in der Funktion Gottes, daß das zwanghafte Moment der Äußerlichkeit des Kirchenglaubens in der Religion eben nicht abgeworfen, sondern, ganz im Gegenteil, verinnerlicht werden soll. Diesen internalisierten Zwang fügt das auf diese Weise moralisierte Bewußtsein sich selbst zu, indem es seiner eigenen Vernunft mißtraut und den Geltungsgrund von deren praktischer Einsicht in einer Vorstellung äußerer Gewalt setzt, die als vorgestellte Gewalt ihre Gewaltsamkeit keineswegs einbüßt, wie Kant, wenn90 91 92 93

Religion, B 119. Religion, B 179. Anthropologie, VII 330 Religion, B 182 Anm.

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gleich hinsichtlich des Kirchenglaubens, selbst bemerkt: Anders als die weltliche Macht vermöchte die geistliche nicht allein das Denken zu verbieten, sondern durch Erzeugung religiöser Angst „wirklich auch zu hindern“94 . Aufklärung scheint dann unmöglich zu sein: „Es ist wahr, daß, um von diesem Zwange los zu werden, man nur wollen darf […]; aber dies Wollen ist eben dasjenige, dem innerlich ein Riegel vorgeschoben wird.“95 Diese Unmöglichkeit, die Kant hier indirekt seiner eigenen Geschichtstheorie attestiert, müsse „allmählich von selbst schwinden“96 , eine andere Möglichkeit bleibt nicht zu erwarten. Wie das, was selbst nichts ist, als Verfestigung dessen, was Menschen in Menschen angerichtet haben, von selbst, ohne menschliches Zutun schwinden soll, bleibt unklar. Kants Ideologiebegriff ist hier rigoroser als irgendein anderer. Als geschichtliche Möglichkeit verbleibt nur die politische Gewährung von Religionsfreiheit, so daß die moralische Aufklärung die Kontingenz der Konfession zu demonstrieren vermöchte.97 Die Öffentlichkeit der Religionsidee sei der Keim des Reichs Gottes, der sich unwiderstehlich ausbreite. Die Einrichtung einer Staatsreligion sei dagegen ein Eingriff in die göttliche Vorsehung, deren Ziel die Moralisierung der Menschen sei. Allerdings vermöchten politische Schranken den Fortschritt doch auch nicht aufzuhalten, sondern beförderten ihn geradezu: „Der Bürger des politischen gemeinen Wesens bleibt also, was die gesetzgebende Befugnis des letztern betrifft, völlig frei: ob er mit andern Mitbürgern überdem auch in eine ethische Vereinigung treten, oder lieber im Naturzustande dieser Art bleiben wolle. Nur sofern ein ethisches gemeines Wesen doch auf öffentlichen Gesetzen beruhen, und eine darauf sich gründende Verfassung enthalten muß, werden diejenigen, die sich freiwillig verbinden, in diesen Zustand zu treten, sich von der politischen Macht nicht, wie sie solche innerlich einrichten, oder nicht einrichten sollen, befehlen, aber wohl Einschränkungen gefallen lassen müssen, nämlich auf die Bedingung, daß darin nichts sei, was der Pflicht ihrer Glieder als Staatsbürger widerstreite; wiewohl, wenn die erstere Verbindung echter Art ist, das letztere ohnedem nicht zu besorgen ist.“98 Es komme nicht zur Kollision beider Gemeinschaftsformen, weil ihre Prinzipien miteinander wenigstens konkordant seien. Wäre dem so, dann wäre der bürgerliche Rechtszustand kein ethischer Naturzustand. Zudem ist die Reihenfolge der Identifizierung der Prinzipien bedenklich: Wenn die Moralprinzipien ‚echt‘ sind, widerstreiten sie den staatlichen nicht, das heißt, diese werden zum Prüfstein jener. Nicht die Politik folgt dann der Moral, sondern umgekehrt, und dies aus ganz pragmatischen Gründen: Das politische Gemeinwesen soll dem ethischen vorhergehen, es kann deshalb 94

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Religion, B 200. Anm. Vgl. auch Sich im Denken orientieren, VIII 144. Die Polemik gegen äußerliche Religionsobservanz übersieht, daß die Gesinnungsreligion das Zwanghafte nicht aufhebt, sondern verinnerlicht. Auf den Vernunftglauben meint Kant aber nicht verzichten zu können, weil eine Vernunft, die sich vom Nichtsein Gottes überzeugt, zu Gemütsschwäche und moralischer Verwilderung führe (vgl. 146). Religion, B 201 Anm. Religion, B 201 Anm. Vgl. Religion, B 200. Wie sehr die Gewährung von Religionsfreiheit selbst blockiertem Denken und Wollen unterliegen kann, hat Kant im Zusammenhang der Publikation der Religionsschrift ausführlich erfahren müssen. Vgl. Bettina Stangneth, „Kants schädliche Schriften“. Eine Einleitung, in: Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Hamburg 2003. Religion, B 133.

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noch nicht dessen Regeln unterliegen. Dieses könnte „ohne daß das letztere zum Grunde liegt, von Menschen gar nicht zu Stande gebracht werden“99 . Das Konzept sittlichen Fortschritts unter unsittlichen Bedingungen führt auf Widersprüche im Selbstbewußtsein der geschichtlichen Subjekte von Fortschritt. Diese Widersprüche sollten nun in der politischen Bestimmung des Fortschritts vermittelbar sein.

2.

Die politische Möglichkeit sittlichen Fortschritts

Den Aporien im Begriff der Fortschrittsgeschichte trägt Kant dadurch Rechnung, daß er ihn in der Schrift über den Streit der Fakultäten als Begriff strikt auf die politische Geschichte beschränkt: Den Ertrag, den der Fortschritt der Menschheit einbringen wird, bestimmt Kant nicht als Zuwachs an moralischer Gesinnung, sondern als „Vermehrung der Producte ihrer Legalität in pflichtmäßigen Handlungen, durch welche Triebfeder sie auch veranlaßt sein mögen, d. i. in den guten Thaten der Menschen“100 . Diese Betonung der empirischen Verhältnisse der Menschen untereinander soll gewährleisten, daß überhaupt etwas über die künftige Geschichte bestimmt werden könne. Dies aber führt auf andere ernsthafte Schwierigkeiten, denn die Titelfrage „[o]b das menschliche Geschlecht im beständigen Fortschreiten zum Besseren sei“, verlangt zu ihrer Antworte „ein Stück von der Menschengeschichte, und zwar nicht das von der vergangenen, sondern der künftigen Zeit, mithin eine vorhersagende“101 . Weil es hierbei nicht um die Naturgeschichte, sondern um die Sittengeschichte zu tun sei, könnten keine Berechnungen nach Naturgesetzen die Vorhersage begründen. Kant intendiert aber eine Vorhersage, die dennoch auf natürliche Quellen beschränkt bleibe und die er so als ‚Wahrsagung‘ von der esoterischen ‚Weissagung‘ unterschieden wissen will. Damit wird deutlich, daß es weder um einen negativen, noch um einen transzendentalen Geschichtsbegriff geht, der als Kritik an der ‚terroristischen Vorstellungsart‘102 der Geschichte, nämlich als Interpretation des Fortschritts als Entfernung von den „wie Berge sich aufthürmenden Greuelthaten“103 zu konzipieren wäre. Im Gegenteil soll die wahr99 100 101 102 103

Religion, B 130. SF, VII 91. SF, VII 79. Vgl. SF, VII 81. SF, VII 81. Dieses Motiv bestimmt Theodor W. Adornos Begriff geschichtlichen Fortschritts: „Denn Fortschreiten heute heißt ja wirklich nichts anderes, als die totale Katastrophe vermeiden und verhindern; und ich würde sagen, wenn sie nur verhindert und vermieden wird, dann ist das eigentlich bereits der Fortschritt um das Ganze.“ (Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit, Frankfurt am Main 2006, 202). Diese Konzeption eines inversen Fortschrittsbegriffs, der Entwicklung nicht ausschließt, aber negativ begreift, geht auf Walter Benjamin zurück; es lohnt sich, dies ausführlich zu zitieren, nicht allein weil hier die Kantische Diktion – das Auftürmen von Greueln – mit der Adornos – der Rede von der Katastrophe – ihre Vermittlung haben, sondern vor allem, weil Benjamin hier ohne alles Messianische einen Geschichtsbegriff offeriert, der dem, was aus den Menschen bis heute wurde, vielleicht noch standzuhalten vermag: „Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er [der Engel der Geschichte; M.St.] eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein

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sagende Geschichte positive Auskunft über das Künftige geben, weshalb Kant sie auf der anderen Seite von der ‚wahrsagernden‘ Geschichte unterscheidet, die „ohne Kenntnis oder Ehrlichkeit“104 formuliert werde. Demnach bezieht sich die Wahrsagung auf gewisse Kenntnisse. Erkenntnistheoretisch ist nun die künftige Geschichte ein Nichtseiendes, über das sich weder aufgrund der vergangenen Geschichte, noch aufgrund der Gegenwart etwas ausmachen ließe. Jeder bestimmte Begriff des Zukünftigen postulierte deshalb das Sein eines Nichtseienden und wäre ein nihil negativum, ein leerer Gegenstand ohne Begriff. Allerdings könnten zukünftige Zustände der Menschheit als Ideen zu denken sein, indem die erfahrbaren Verhältnisse unter Vernunftbestimmungen allgemein gedacht würden; deren Antizipation wäre ein ens rationis, ein leerer Begriff ohne Gegenstand, der aber, sofern widerspruchsfrei, in der Vernunft seinen Ort haben könnte und, wenn reine Vernunft aus sich selbst praktisch würde, einer Realisierung, Vergegenständlichung, fähig wäre. Aber selbst solche Antizipationen erfordern es, das Zukünftige zu denken, und bedürfen daher des Bewußtseins eines selbst geschichtlichen Subjektes, das dazu in der Lage ist. Die formale Bedingung eines solchen Bewußtseins ist nach Kant die Unterscheidung von synthesis in antecendentia und synthesis in consequentia.105 Zwar lassen sich von einem gegebenen Bedingten dessen Bedingungen angeben, aber es lassen sich nicht mit gleicher Notwendigkeit seine Folgen aus ihm ableiten; dies bedürfte eines allgemeinen Naturgesetzes, aus dem künftige Naturerscheinungen zu ermitteln wären. Dann aber wären diese nicht aus dem gegebenen Bedingten selbst erschlossen. Dieser Schnitt in der Zeitreihe ermöglicht die Vorstellung von Geschichte, indem er es erlaubt, Bedingungen und Folgen zu unterscheiden. Nur durch einen in sich inkonsistenten Begriff von Totalität ist es somit möglich, Gegenwart als durch Bedingungen bestimmt zu denken, ohne sie zugleich auch als durch deren Folgen determiniert fassen zu müssen. Die vergangenen Bedingungen sind im Gegenwärtigen materiell gegenwärtig, umgewandelt in die Gestalt von Folgen jener Be-

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Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“ (Über den Begriff der Geschichte, in: Illuminationen, Frankfurt am Main 1977, 255). Zur Interpretation Benjamins vgl. Peter Bulthaup (Hg.), Materialien zu Benjamins Thesen ‚Über den Begriff der Geschichte‘. Beiträge und Interpretationen, Frankfurt am Main 1975 sowie Michael Städtler, Subjekte des Stillstands. Über Robert Menasses ästhetische Reflexion der Stillstellung von Geschichte. Kontrapunkt und Variationen, in: Eva Schörkhuber (Hg.), „Was einmal wirklich war …“. Zum Werk von Robert Menasse, Wien 2007. – Zur Nähe vieler Motive des Benjaminischen Geschichtsdenkens zu Kant vgl. Rudolf Langthaler, Benjamin und Kant oder: Über den Versuch, Geschichte philosophisch zu denken, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 50 (2002). Durch detaillierten Vergleich gelangt Langthaler zu dem Resultat, daß Benjamins kritisch gewendeter Geschichtsbegriff „ein bei Kant zwar tatsächlich noch unentfaltetes (das heißt explikationsbedürftiges) Problem“ (225) darstelle, daß sich bei ihm aber „fragmentarische[] und verstreute[] Motive“ hierzu finden. An diese überaus wichtige Aufarbeitung wären nun weitere Überlegungen darüber anzuschließen, warum Kant die theoretische Verbindung der verstreuten Motive nicht gelingt. SF, VII 79 Anm. Vgl. auch Anthropologie, VII 185ff. Vgl. KrV, B 438.

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dingungen, die sie waren. Die möglichen Folgen des Gegenwärtigen dagegen sind nicht auf solche Weise in diesem gegenwärtig. Sonst wäre nicht nur eine von den Bedingungen auf die Gegenwart gerichtete Kausalität gesetzt, sondern zugleich eine von den Folgen zurückwirkende. Unter der Voraussetzung, daß die Totalität der Gegenstände möglicher Erfahrung durchgängig kategorial bestimmt ist, wären dann alle Erscheinungen gleichermaßen durch die Totalität der vergangenen und zukünftigen Bedingungen bestimmt, kein Zeitinhalt wäre vom anderen unterscheidbar. Ohne unterschiedene Zeitinhalte wären die Zeitordnung und die Zeitreihe zerstört und mit ihnen die Einheit der Erfahrung. Damit wäre auch die Möglichkeit von Freiheit aufgehoben, denn enthielte jede Erscheinung alle Bedingungen und Folgen über Kausalverknüpfungen in sich, so könnte keine Reihe von Erscheinungen jenseits dieser totalen Kausalität begründet werden. Durch die eminente Unterscheidung von Vergangenheit und Zukunft erweist sich menschliche Subjektivität im Gegensatz zum Weltgeist als der logische Ort von Gegenwart und als der eines dynamischen Geschichtsbegriffs gleichermaßen. Dieser Umstand, mit dem es eng zusammenhängt, daß „der Wahrsager die Begebenheiten selber macht und veranstaltet, die er zum Voraus verkündigt“106 , bietet die einzige Möglichkeit, überhaupt etwas über die Zukunft zu sagen; gleichwohl steht er dabei sich selbst im Weg, denn indem die Menschen ihre Geschichte selbst machen, hat es die Geschichtswahrsagung „mit freihandelnden Wesen zu thun, denen sich zwar vorher dictiren läßt, was sie thun sollen, aber nicht, vorhersagen läßt, was sie thun werden“107 . Die im Vermögen der Freiheit verschränkten guten und bösen Anlagen, so Kant, führen nicht allein zu abwechselnden Fortschritten und Rückschlägen, sondern das zukünftige Verhalten, die Tendenz des eigenen Willens kann noch nicht einmal von jedem Subjekt für sich selbst sicher vorhergesagt werden. Kant hält diese Ungewißheit der Handlungserfolge für eine transzendentale Bestimmung. Den politischen Empiristen, die sagen, man müsse „die Menschen nehmen, wie sie sind, nicht wie der Welt unkundige Pedanten oder gutmütige Phantasten träumen, das sie sein sollten“, hält er entgegen: „Das wie sie sind aber sollte heißen: wozu wir [d. h. die Politiker; M.St.] sie durch ungerechten Zwang, durch verrätherische, der Regierung an die Hand gegebene, Anschläge gemacht haben“108 . Dieses Argument Kants setzt die Rede vom ‚krummen Holz, aus dem nichts ganz Gerades werden kann‘109 , prinzipiell aus. Wenn eingeräumt wird, daß politische Bedingungen eine Deformation des Charakters überhaupt bewirken können, dann läßt sich aus dem empirischen Zustand der Charaktere, aus ihrer gesamten Geschichte, kein Kriterium für eine allgemeine Charakterlehre mehr gewinnen. Mit der Möglichkeit der Deformation ist im Gegenteil die Möglichkeit auch intelligibler Formung anzunehmen, die freilich keine Garantie bietet, aber doch die Pflicht anzeigt, die Bedingungen der Charakterbildung am Intelligiblen zu orientieren und nicht an der Geschichte der Deformation. – Zu einem guten Teil ist jener Empirismus in Kants transzendentale Bestimmung vom Gut und Böse des menschlichen Willens eingewandert: Die Unsicherheit der Entschei106 107 108 109

SF, VII 79. SF, VII 83. SF, VII 80. Vgl. Idee, VIII 23.

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dung noch des moralisch gesinnten Charakters wurzelt ebenso in den seine Existenz bedrängenden Handlungsbedingungen, die selbst gesellschaftlich produziert sind. Im Resultat aber ist Kant zuzustimmen: Auf der Grundlage dieser Erfahrungsbedingungen ist eine sichere Vorhersage über die menschliche Geschichte nicht möglich. Soll sie nicht Spinnerei sein, dann bedarf sie aber einer Erfahrungsgrundlage. Möglich wäre die Vorhersage also, wenn eine „Erfahrung im Menschengeschlechte […] [auf ein] Vermögen desselben hinweiset, Ursache von dem Fortrücken desselben zum Besseren“110 zu sein. Aus dieser aufgewiesenen Ursache ließe sich auf ihre Wirkung, den tatsächlichen Fortschritt, schließen, freilich unter der Einschränkung, daß alle weiteren Realisierungsbedingungen dieser Ursache ebenfalls gegeben wären. So ergäbe sich die Gewißheit des Fortschritts, aber ohne zeitliche Bestimmung. Dies nennt Kant ein „Geschichtszeichen“111 , ein Indiz für die Geschichtsmächtigkeit des Menschengeschlechts, das aller widrigen Erfahrung zum Trotz dann „für die strengste Theorie haltbar[]“112 wäre, weil ein solches Zeichen eine tief beeindruckende und unvergeßliche geschichtliche Erfahrung wäre, deren unmittelbare Wirkung gering sein könnte, die aber aus dem kollektiven Gedächtnis heraus immer wieder geschichtswirksam werden kann. Ausdrücklich geht es Kant nicht um das moralische Vermögen der Individuen, das moraltheoretisch nachzuweisen ist, aber unter der Form der Pflicht keine Erfolgssicherheit und auch keine kollektive Erfüllung gewährleistet, weil die Menschen sich in ihrer Zwecksetzung wechselseitig nicht beeinflussen können. Es geht vielmehr um ein spezifisch kollektives Vermögen, das der „Pflicht […] des menschlichen Geschlechts gegen sich selbst“113 korrespondiert, wenngleich Kant die Erfüllung dieser Pflicht von göttlichem Beistand abhängig machte, die Realisierung des Vermögens dagegen von nicht näher bestimmten Zusatzbedingungen. Das Zeichen der Geschichtsmächtigkeit der Menschen kann nun näher nicht in Handlungen bestehen, deren sittliche Fortschrittstauglichkeit stets zufällig ist, weil ihre Legalität keinen Schluß auf mögliche Moralität zuläßt. Die öffentliche Anteilnahme an politischen Umwälzungen dagegen sei, weil sie keine persönlichen Vorteile, wohl aber die Gefahr von Nachteilen, mit sich bringe, nicht bloß pflichtgemäß sondern aus Pflicht begründet und beweise „einen moralischen Charakter, wenigstens in der Anlage“114 . Kant spielt auf die öffentliche Anteilnahme an der Französischen Revolution an, auf die Entstehung dessen, was man überhaupt moderne Öffentlichkeit nennen kann, vor diesem historischen Hintergrund. Das Geschichtszeichen sei der Enthusiasmus dieser Anteilnahme selbst, was Kant allerdings zu einer anthropologischen Korrektur seiner moraltheoretischen Ausgrenzung aller pathologischen Affektation veranlaßt: Zwar sei der Enthusiasmus ein Affekt und verdiene deshalb Tadel, jedoch gehe „wahrer Enthusiasm nur immer aufs Idealische und zwar rein Moralische […], dergleichen der Rechtsbegriff ist, und [kann] nicht auf den Eigennutz gepfropft werden“115 . Im Medium dieses 110 111 112 113 114 115

SF, VII 84. SF, VII 84. SF, VII 88. Religion, B 135. SF, VII 85. SF, VII 86.

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Enthusiasmus’ entsteht ein Subjekt, das als geschichtliches zwischen der synthesis in antecedentia und der in consequentia steht. Der Enthusiasmus ist nämlich ein empirisches Faktum, aber ein solches, das auf Spontaneität schließen läßt, denn es hätte ihn „kein Politiker aus dem bisherigen Laufe der Dinge herausgeklügelt“116 . Allerdings fällt die nähere Bestimmung dieses ‚wahren Enthusiasmus‘ schwer; kaum kann er mit der selbst auch aporetischen Konstruktion des vernunftgewirkten Gefühls der Achtung vorm Gesetz117 in Verbindung gebracht werden, dessen konsequenteste Form noch die Selbstachtung wäre. Er ist eine ganz und gar nicht vernunftgewirkte Leidenschaft, deren Objekt eher zufällig die republikanische Verfassung wurde. Wäre nun aller andere historische Enthusiasmus ‚unwahr‘, so würde die Bestimmung des ‚wahren‘ zur Tautologie. Empirisch dürfte es aber vor allem zweifelhaft sein, ob wirklich das moralische Ideal des Rechtsbegriffs der Gegenstand jenes Enthusiasmus war oder nicht doch die mit der republikanischen Verfassung und ihrem Liberalitätsprinzip zahlreich verbundenen persönlichen, zunächst privatrechtlichen Vorteile. In der Tat muß Kant einräumen, daß die Vorhersage sich nur auf empirische Daten, nämlich die zu beobachtenden Handlungen stützen könne, nicht aber auf Kenntnisse einer tatsächlichen moralischen Gesinnung der Menschen.118 Jedoch sei der Zuwachs an Legalität, die Abnahme von Gewalt und vor allem Krieg in der bürgerlich-republikanischen Verfassung schon ein Schritt, durch den „der Fortschritt zum Besseren negativ gesichert wird, im Fortschreiten wenigstens nicht gestört zu werden“119 . Dieses Geschichtsverständnis setzt allerdings voraus, daß die Revolution im Gegensatz zu ihrer Erscheinung als eine Evolution des Naturrechts aufgefaßt wird, deren gewaltsame Verlaufsform aber ihrem Begriff widerspricht.120 Dieser Widerspruch ist der eigentliche Grund dafür, daß nicht die Französische Revolution selbst als geschichtlicher Fortschritt gewertet wird, sondern daß allein die enthusiastische Teilnahme an ihr ein Zeichen der Fortschrittsfähigkeit sei, weil sie trotz aller Gewalttätigkeit den Wunsch nach Gewaltlosigkeit ausdrücke. So ist sie kein Vorbild für die Konstitution eines möglichen geschichtlichen Subjekts, sondern im Gegenteil weist sie die Möglichkeit aus, die Menschen zum Fortschritt zu lenken. Dessen Bewegungsrichtung sei nicht bestimmt „durch den Gang der Dinge von unten hinauf , sondern den von oben herab“121 . Die Umwandlung der Staatsform oder Regierungsart soll durch die Regierenden selbst geschehen, damit der Widerspruch des Rechtszweckes mit den unrechtlichen Mitteln vermieden werde: „Es ist doch süß, sich Staatsverfassungen auszudenken, die den Forderungen der Vernunft (vornehmlich in rechtlicher Absicht) entsprechen: aber vermessen, sie vorzuschlagen, und strafbar, das Volk zur Abschaffung der jetzt bestehenden aufzuwiegeln.“122 Ausdrücklich wird hier das positive Strafrecht gegen die Realisierung von Naturrecht ins Feld geführt. 116 117 118 119 120

121 122

SF, VII 88. Vgl. KpV, V 74. Vgl. SF, VII 91. SF, VII 86. Vgl. SF, VII 85: „ein wohldenkender Mensch [würde], wenn er sie [die französische Revolution; M.St.], zum zweitenmale unternehmend glücklich auszuführen hoffen könnte, doch das Experiment auf solche Kosten zu machen nie beschließen“. SF, VII 92. SF, VII 92 Anm.

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Kants Begründung, das republikanische Prinzip berechtige nicht als ein gleichsam höheres die tatkräftige Überwindung des monarchischen, weil des betreffenden Volkes „vielleicht sehr verbreitete Lage in Europa […] ihm jene Verfassung [der Monarchie] als die einzige anempfehlen [kann], bei der es sich zwischen mächtigen Nachbaren erhalten kann“123 , mag wohl an seinen König adressiert sein; denn der Anschluß Preußens an die Französische Republik hätte womöglich gegen die Nachbarn mehr Eindruck gemacht als das Prinzip des politischen Entscheidungsmonismus’. Kants zwiespältige Haltung hat einen anderen Grund. Die Menschen sind als in sich antagonistische Subjekte des guten wie des bösen Prinzips zwar der Moralisierung fähig, deren Bedingung aber bleibt das Recht, weil dieses allein äußerlich einzurichten und zu kontrollieren ist. Das Mißtrauen gegen die empirischen Subjekte verhält deren Spontaneität jedoch zur Reaktion; das Recht, das sie legitim und mit Enthusiasmus verlangen, müssen sie sich geben lassen, – ohne Garantie, daß es ihnen auch gegeben wird. Die Öffentlichkeit, auf die Kant vertraut, ist gänzlich abhängig von dem Fürsten, der sie gewährt. Gewährt er sie nicht, bleibt es beim Geschichtszeichen „unbestimmt in Ansehung der Zeit“124 . Der Widerspruch zwischen Form und Zweck der Revolution, den Kant vermeiden wollte, reproduziert sich so in den Subjekten: Ihr zeitloses Geschichtsvermögen ist der reine Ausdruck des Widerspruchs ihres natürlichen Anspruches mit dessen heteronomer positiver Verwaltung. Insofern die Moralisierungsgeschichte auf der Rechtsgeschichte aufbaut, hat sich als höchster von der politischen Geschichte anzustrebende Zustand ein unwiderruflicher weltumspannender Friede ergeben, weil der Krieg der „Zerstörer alles Guten“125 und „das größte Hinderniß des Moralischen“126 sei; politische Geschichte erscheint so auch umgekehrt als negatives Korrelat der Moralgeschichte, als der Prozeß der Beseitigung von deren Hindernissen.127 Kant findet nun die Gegenwart gewissermaßen auf dem halben Wege der politischen Entwicklung vor: Die Menschen haben sich bereits aus dem unmittelbaren Naturzwang durch Kultur und Zivilisation herausgearbeitet, und sie haben partikulare bürgerliche Verhältnisse begründet, das heißt sie haben ein zunächst innerstaatliches öffentliches Recht entworfen, das ihre Privatrechtsansprüche garantiert. Die Partikularität dieser Ordnung erzwingt zu ihrer Stabilität das Recht, andere, die im Naturzustand verblieben sind, zu nötigen, dem bürgerlichen Zustand beizutreten, ein eigenes bürgerliches Gemeinwesen zu begründen, oder sich den bestehenden fernzuhalten, denn die bloße Existenz eines Gemeinwesens im Naturzustand – das heißt eines solchen ohne bürgerliche Verfassung – stellt bereits eine permanente Bedrohung dar.128 Nun gibt es zudem verschiedene solcher bürgerlichen Gemeinwesen, die ihrerseits sich in einem Naturzustand der Staaten zueinander befinden, solange sie in keinem völkerrechtlichen Verhältnis zueinander stehen. Da Kant auch im Naturzustand Rechte, oder 123 124 125 126 127

128

SF, VII 86 Anm. SF, VII 84. SF, VII 91. SF, VII 93. Vgl. Nathan Rotenstreich, Theory and Practice in Kant and Hegel, in: Dieter Henrich (Hg.), Kant oder Hegel? a.a.O., 128: Moral sei ein „attempt to do justice to continuous transcending of the circumstantial or empirical limitations to which we are exposed while the moral imperative is meant to lead us in the direction of overcoming them“. Vgl. EF, VIII 349 Anm.

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Ansprüche, annimmt, diese aber nicht juristisch geklärt werden können, da es keinen gemeinsamen Richter der Anspruchsgegner gibt, ist Gewalt – das heißt unter Staaten: Krieg – das einzige Rechtsmittel des Naturzustandes.129 Die Konflikte, Anspruchskollisionen, ergäben sich ihrerseits notwendig aus den Affekten Herrschsucht, Ehrsucht und Habsucht, die bloß innerstaatlich durch Privatrecht und Strafrecht gezähmt, aber keineswegs erloschen seien. Die resultierenden Kriege, schon die Kriegsbedrohung allein, ruinieren Kant zufolge die Staaten und ihre Bürger. Der Rückfall in den Naturzustand, in dem die Staaten sich äußerlich noch befinden, droht auch innerlich. Das Eigentum der Bürger, das der Staat schützen soll, ist ständig in Gefahr, durch Kriege vernichtet zu werden. Menschen aber, deren Eigentum nicht gesichert ist, werden gemäß der in der Neuzeit weithin geteilten Überzeugung zu wilden Tieren. Insofern diagnostiziert Kant eine labile Situation, deren Umkippen zum Elend allein durch beherzten Fortschritt in der Verbürgerlichung der internationalen Verhältnisse vermieden werden könne. Kant unterscheidet zwischen gewissermaßen ressortpolitischen Bedingungen politischer Pragmatik, die sich auf den Gegenstand Krieg selbst beziehen, und Bedingungen des öffentlichen Rechts für die staatlichen und zwischenstaatlichen Verfassungsformen. Jene bilden die sogenannten Präliminarartikel, diese die sogenannten Definitivartikel zum ewigen Frieden. In diesen werden positiv die politischen Formen definiert, in denen ein stabiler Friedenszustand verlaufen könnte, jene bilden die Präliminarien dazu, indem sie negativ bestimmen, wie der Kriegszustand überhaupt beendet, gewissermaßen ausgeschlichen werden könne, bevor völkerrechtliche Verhandlungen erfolgreich zu führen wären.130 Diese Präliminarien – allesamt leges prohibitivae, die kriegsfördernde Politik verbieten – unterteilt Kant noch einmal in „(leges strictae), die sofort auf Abschaffung dringen“ und „leges latae“131 ; deren Umsetzung erlaube Aufschub, wenn sofortige Umsetzung dem politischen Erfolg zu schaden drohe. Die strikten Verbote betreffen politische Vorgehensweisen, die unmittelbar das Friedensziel beschädigen, ja unmöglich machen, nämlich zunächst – im Ersten Präliminarartikel – Friedensverträge unter Vorbehalt, die tatsächlich bloße Waffenstillstandsabkommen wären. Ein echter Friedensvertrag muß alle, auch „noch nicht bekannte, Ursachen zum künftigen Kriege […] insgesammt vernichte[n]“132 . Damit wäre der Gedanke staatlicher Souveränität mit dem Aufgeben imperialistischer Staatsziele identisch. Das bedeutet auch – dem Fünften Präliminarartikel zufolge –, daß Staaten nicht wechselseitig in ihre inneren Angelegenheiten eingreifen, selbst ein despotisch verwalteter Staat bietet keinen Rechtsgrund eines solchen Eingriffes, sondern erkönnte, als ein schlechtes Beispiel, anderen noch zur Mahnung dienen. „Es ist hier […] nicht von Philanthropie, sondern 129 130

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Vgl. EF, VIII 346. Zu dem nicht unproblematischen Verhältnis beider Artikelgruppen vgl. Matthias Lutz-Bachmann, Kants Friedensidee und das rechtsphilosophische Konzept einer Weltrepublik, in: Ders./James Bohman, Frieden durch Recht, a.a.O. 31ff. – Eine umfassende historische und systematische Einordnung der Schrift Zum ewigen Frieden bietet Georg Cavallar, Pax Kantiana. Systematischhistorische Untersuchung des Entwurfs „Zum ewigen Frieden“ (1795) von Immanuel Kant, Wien/ Köln/Weimar 1992. EF, VIII 347. EF, VIII 343.

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vom Recht die Rede“133 , und ein Recht zum Eingriff in fremde Staatsangelegenheiten ließe sich allenfalls aus einer vorhergegangenen Läsion des Eingreifenden durch den, in den nun eingegriffen werden soll, ableiten. Eine Ausnahme gilt allein dann, wenn das fremde Gemeinwesen kein bürgerliches ist, sich also im Naturzustand befindet, denn dann ist schon sein bloßes Dasein, sofern in bedrohlicher Nähe, Läsion, und er darf gezwungen werden, in bürgerliche Verhältnisse einzutreten. Dies ist auch bei innerer Zerrüttung durch Bürgerkriege der Fall, aber erst dann, wenn der innere Streit in Anarchie übergegangen ist.134 Schließlich fordert Kant im Sechsten Präliminarartikel das, wofür sich der abscheuliche Ausdruck ‚humane Kriegsführung‘ durchgesetzt hat.135 Ausgeschlossen werden „Anstellung der Meuchelmörder (percussores), Giftmischer (venefici), Brechung der Capitulation, Anstiftung des Verraths (perduellio) in dem bekriegten Staat etc.“136 , weil solches Vorgehen im Krieg alles Vertrauen in die menschliche Zuverlässigkeit des Gegners erschüttert und daher einen Friedenszustand unmöglich macht. Vernichtungskriege, die „den ewigen Frieden nur auf dem großen Kirchhofe der Menschengattung statt finden lassen würden“137 , sind selbstverständlich erst recht ausgeschlossen. Ernsthaft strikt ist indes nur der Erste Präliminarartikel, die anderen sind bei Kant selbst der Kasuistik unterworfen und öffnen ein weites Feld der Interpretation: Welche Kampfmittel und -methoden schädigen das Vertrauen tatsächlich irreversibel? Wer mißt das? – Es wäre der Punkt zu ermitteln, bis zu dem die Steigerung der Brutalität und Hinterhältigkeit dem Krieg noch nützt, ohne dem Frieden schon zu schaden. Dieser Punkt entzieht sich aber im Kontinuum der graduellen Steigerung seiner Fixierung.138 Ebenso ist es, wie die Geschichte noch des 21. Jahrhunderts bereits vorgeführt hat, an dem eingreifenden Staat und seinen Interessen gelegen, welche Gemeinwesen 133 134

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EF, VIII 357. Vgl. EF, VIII 346. Dies ist eng zu interpretieren. Ebbinghaus weist darauf hin, daß mit dem Volk im Naturzustand „nicht etwa ein unter einer Staatsverfassung stehendes Volk gemeint ist, mit dem ich (als einzelner Mensch oder Staat) mich im Verhältnisse des Naturstandes befinde, sondern ein Volk, das sich im Naturstande befindet und also keinen Staat bildet“ (Julius Ebbinghaus, Kants Lehre vom ewigen Frieden und die Kriegsschuldfrage, Freiburg im Breisgau 1929, 13; vgl. 15). Dadurch wird die interventionistische Interpretierbarkeit von Kants Argument schon erheblich eingeschränkt. Vgl. Hans Heinz Holz, Gedanken zu Krieg und Frieden, a.a.O., 44. EF, VIII 346. EF, VIII 347. Als im jugoslawischen Bürgerkrieg die kroatischen Militärführer beschlossen, ihre moslemischen Bundesgenossen aus den eigenen Reihen heraus gefangenzusetzen, weil sich die gebiets- und bevölkerungspolitische Interessenlage gewandelt hatte, entstand das Problem, tausende von Soldaten festzusetzen. Es mußten Lager errichtet werden, in denen diese Menschen konzentriert werden konnten. Der zuständige General befahl den ausführenden Offizieren, sie mögen so vorgehen, daß man sich hinterher nicht zu schämen brauchte; die Befreiung von Auschwitz war eben fünfzig Jahre her. Die Gefangenen wurden alsdann in unterirdischen Benzintanks eingeschlossen, deren Dach ununterbrochen starker Sonneneinstrahlung ausgesetzt war und die nicht zu belüften waren. Daß die Gefangenen nicht ausreichend Lebensmittel und Flüssigkeit erhielten, kam hinzu. Die heimlichen Filmaufnahmen während der Freigänge unterschieden sich von den bekannten Bildern aus Auschwitz allein in der Farbqualität. ‚Humane Kriegsführung‘ ist eine Illusion. – Staaten, die sich

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er für Rechtsordnungen hält, oder wann der Zustand innerer Zerrüttung anarchische Form annimmt; zumindest dies ist erneut eine graduelle Bestimmung; für jenes hat Kant noch das Kriterium der bürgerlichen Privatrechtsordnung, das allerdings insofern variabel ist, als bestimmte Privatrechtsbeschränkungen – etwa die staatliche Regelung von Außenhandelsbeziehungen bezüglich besonderer Güter – dem interessierten Staat als Unrecht erscheinen könnten. Als strikt könnte stricte sensu nur das kategorische Verbot der Kriegsabsicht überhaupt gelten. Kant aber zeigt sich als politischer Pragmatiker, mehr noch in den vom ihm selbst als leges latae bezeichneten Präliminarartikeln: über das Verbot der privatrechtlichen Erwerbung fremder Staaten durch Erbe, Schenkung, Kauf oder Heirat (2.), über die Forderung der Aufhebung stehender Heere (3.) und über das Verbot der Kriegsschulden (4.). Viele Staaten sind noch in derartigen Verhältnissen und ihren Folgen befangen. Daher schließen die Präliminarartikel mit ihrer Verabschiedung wohl das zukünftige Zuwiderhandeln aus, aber sie haben keine strikte Rückwirkung. Der vor der Verabschiedung der Regeln, also bezüglich ihrer im Naturzustand, erworbene Besitzstand, kann als „unrechtmäßiger, dennoch ehrlicher Besitz […] nach einem Erlaubnißgesetz des Naturrechts noch fernerhin fortdauern“139 . Die Ausführung der Präliminarartikel dürfe zwar nicht „auf den Nimmertag“140 ausgesetzt werden, aber sie darf nach pragmatischen Gesichtspunkten terminiert werden, um politische Stabilität zu gewährleisten. Diese Pragmatik schränkt nach Kants eigener Auffassung die Moralität der Subjekte ein, denn beispielsweise die Erwerbung fremder Staaten erwerbe nicht ein Gebiet, sondern eine „Gesellschaft von Menschen“141 und hebt deren moralische Persönlichkeit auf. Die Werbung von Soldaten „zum Tödten, oder getödtet zu werden“, stellt „einen Gebrauch von Menschen als bloßen Maschinen und Werkzeugen in der Hand eines Andern (des Staats) […] [dar], der sich nicht wohl mit dem Rechte der Menschheit in unserer eigenen Person vereinigen läßt“142 . Die ambitionierte philosophische Kritik an der Kriegspolitik, die sogar sich selbst Narrenfreiheit attestierte,143 manövriert sich im pragmatischen Um-

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darauf einlassen, Konflikte durch wechselseitiges Töten auch nur von Teilen ihrer Bevölkerungen zu entscheiden, geraten in unkontrollierbare Zugzwänge. EF, VIII 348 Anm. EF, VIII 347. EF, VIII 344. EF, VIII 345. Vgl. EF, VIII 343. Auf die Funktion der von Kant selbst so genannten clausula salvatoria im Proömium der Schrift ist öfters hingewiesen worden. Vgl. Georg Cavallar, Pax Kantiana, a.a.O., 21 (Kant nehme den „Realpolitikern den Wind aus den Segeln“), ausführlicher Volker Gerhardt, Immanuel Kants Entwurf ‚Zum ewigen Frieden‘. Eine Theorie der Politik, Darmstadt 1995, 33-40 und neuerlich Theo Stammen, Immanuel Kants Schrift „Zum Ewigen Frieden – Ein philosophischer Entwurf“ als Satire gelesen, in: Werner J. Patzelt/Martin Sebaldt/Uwe Kranenpohl (Hgg.), Res publica semper reformanda. Wissenschaft und politische Bildung im Dienste des Gemeinwohls, Wiesbaden 2007, 100: Kant verschaffe sich als Nichtjurist durch die juristische Rhetorik „eine ebenso überraschende wie überlegene objektive geistige Autorität in der Formulierung philosophischer Grundsätze des Friedensrechts“.

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gang mit dem Gegenstand in eine Stellung, von der aus sie den kategorischen Imperativ partiell – und das heißt vollständig144 – suspendieren muß. Es mag sich fragen lassen, ob die moralische strikte Forderung nach sofortiger Räumung besetzter Gebiete nicht Unruhen provoziere, ob die sofortige Auflösung der Armee den Staat nicht zu leichter Beute mache, ob die sofortige Erstattung der Kriegsschulden ihn nicht ökonomisch lähme, ob ein allgemeines Nichteinmischungsgebot nicht den Staat eventuell in Bedrängnis brächte und ob schließlich das Verbot ‚inhumaner Kriegstechniken‘ den Pleonasmus dieses Ausdrucks nicht noch frappanter machte als es der Widerspruch seines Gegenteils ist. Aber alle diese Fragen führen auf die eine: ob Moralphilosophie als Beratungsinstrument einer mangelhaften Politik nicht zwangsläufig entweder diese Politik auf ihre bedingungslose Unzulässigkeit hinweisen oder sich selbst als deren Legitimierungshelfer korrumpieren müßte. Läßt sie sich hinreißen, statt negativer Kriterien, positive Regeln zu formulieren, regelt sie die Gewalt. Damit verläßt sie aber das Gebiet der praktischen Vernunft, auf dem Gewalt nicht gelten kann. Der widerspruchsfreie Zusammenhang von Recht und Moral, den Kant zu unterstellen scheint, wenn er sagt, es gehe nicht um Philanthropie, sondern um Recht, erscheint aus dieser Perspektive eher fraglich. Noch gilt im empirischen Gang der Dinge das Recht als oberste Bedingung des Friedens, von der Funktion der Moral ist nicht die Rede: „Alle Menschen, die auf einander wechselseitig einfließen können, müssen zu irgend einer bürgerlichen Verfassung gehören“145 . Darüber hinaus vertritt Kant aber, daß die Verhältnisse aller Menschen und aller Staaten gemäß Staatsbürgerrecht, Völkerrecht und Weltbürgerrecht geordnet sein müssen. Solange nur eine Ausnahme vom allgemeinen kosmopolitischen ‚Menschenstaat‘ bestehe, sei alles Recht und mit ihm der Frieden unsicher. Die politischen Bedingungen des geschichtlichen Fortschritts zum Frieden, die nun in den Definitivartikeln verhandelt werden, sind aber nun keine pragmatischen Regeln der verfehlten Politik, sondern sie sind Grundregeln richtiger Politik, der Errichtung eines politischen Allgemeinen, in dem die Einzelnen gesichert sind. Ihre unbedingte Allgemeinheit zeichnet sie, ihrem Anspruch nach, als vernünftige Bestimmungen vor den bestenfalls komparativ allgemeinen Verstandesregeln der Präliminarartikel aus. Die staatsrechtliche Forderung ist die nach der republikanischen Verfassung, in der alle Bürger frei seien, das heißt, „keinen äußeren Gesetzen zu gehorchen, als zu denen ich meine Beistimmung habe geben können“146 , und in der alle gleichermaßen der Verfassung unterstellt sind. Dies ist die einzige Verfassung, die aus Kants Rechtsbegriff selbst folgt. Dieser Rechtsbegriff besteht in der Vorstellung eines ursprünglichen Vertrages, „auf der alle rechtliche Gesetzgebung eines Volks gegründet sein muß“147 . Die staatsrechtstheoretische Legitimation von Recht überhaupt erfolgt damit nicht unmittel144

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Vgl. Lüge, VIII 430: „Alle rechtlich-praktische Grundsätze müssen strenge Wahrheit enthalten, und die hier sogenannten mittleren können nur die nähere Bestimmung ihrer Anwendung auf vorkommende Fälle (nach Regeln der Politik), aber niemals Ausnahmen von jenen enthalten: weil diese die Allgemeinheit vernichten, derentwegen allein sie den Namen der Grundsätze führen.“ EF, VIII 349 Anm. EF, VIII 350 Anm. EF, VIII 350.

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bar aus dem Moralgesetz, sondern vermittelt über ein positives, formal am Privatrecht orientiertes, Verfahren: einen Vertragsabschluß, der als solcher – seinem Begriff nach die freie Übereinstimmung mehrerer freier Willen – immer partikular ist. Nun sei dieser Vertrag aber nicht als empirisch uranfänglicher, sondern bloß als ideeller ursprünglich vorzustellen, der so konstruiert sein müßte, daß alle vernünftigen Wesen ihm zustimmen können müßten, daher empirisch nicht erst zustimmen müßten.148 Die praktische Regel für dasjenige, dem alle vernünftigen Wesen zustimmen können müssen, ist aber der kategorische Imperativ, über den vertraglich sich zu einigen unmöglich ist.149 Kants Vorgehen über die Vertragstheorie zeigt an, daß ihm an einem Legitimationsmythos des Privatrechts ebenso gelegen ist wie an einer Moralisierung des Öffentlichen Rechts, denn der Rechtsbegründungsvertrag ist sowohl die transzendentalisierte Gestalt des Privatvertrages und dadurch Bedingung von dessen Möglichkeit, als auch Rechtsgrundlegung aus subjektiver Freiheit; mythisch bleibt indes die empirische Ungreifbarkeit des Verfahrens. Sein öffentlichrechtliches Resultat – Freiheit, Gleichheit und Recht – wäre aber gleichwohl auch aus Kants moralischem Autonomiebegriff zu entwickeln als unbedingte Forderung an die Politik. Deren Beitrag zum ewigen Frieden erscheint nicht als Motiv der Begründung, sondern als notwendig mitfolgend.150 Er besteht darin, daß die Menschen, würden sie über sich selbst bestimmen, keinen Krieg über sich beschließen würden. Selbst hierein legt aber Kant ein Moment von Pragmatik: Am stabilsten werde eine Republik von einem konstitutionell gebundenen Monarchen verwaltet, der herrsche und regiere, während das Volk Gesetzgeber sei.151 Die Kompetenzenverteilung im einzelnen bleibt hier fließend variabel. Analog dem im bürgerlichen Staat aufgehobenen Naturzustand der Menschen sei nun gemäß dem Zweiten Definitivartikel der Zustand der Staaten als Naturzustand vorzustel-

148

149

150 151

Es hat nicht an Versuchen gefehlt, diese ideelle Konstruktion Kants, die bewußt so vage bleibt, unter empirischen Vorstellungen beispielsweise zu einer ‚Theorie der Gerechtigkeit‘ auszubauen. Vgl. John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main 1979, das Kapitel 24: Der Schleier des Nichtwissens. Daß das Bundesverfassungsgericht diese Vorstellung von Gerechtigkeit ernsthaft in der Begründung vom 11. 11. 1999 zur Normenkontrolle des Maßstäbegesetzes zum Länderfinanzausgleich bemühte, beweist allerdings eine gewisse praktische Relevanz von Philosophie. Sie diente als Metapher für die Forderung, daß Gesetze zum Finanzausgleich mit soviel zeitlichem Vorlauf zu beschließen seien, daß die Beschließenden nicht wissen könnten, ob sie zum Zeitpunkt des Inkrafttretens Geber- oder Nehmervertreter sein würden. Philosophisch gesehen werden hier Interessenkonflikte, vor allem aber deren Gründe, abstrakt ausgeblendet, nicht vermittelt. Zur Sache vgl. auch: Josef Franz Lindner, Das BVerfG, der Länderfinanzausgleich und der „Schleier des Nichtwissens“. Anmerkungen zu einem staatsfundamentalphilosophischen Rückgriff des BVerfG, in: Neue Juristische Wochenschrift 53 (2000). Lindner weist mit Recht darauf hin, daß dieser ‚Rückgriff‘ ein ‚Mißgriff‘ gewesen sei, denn zunächst sei das Rawlsische Konzept eine theoretische Konstruktion, deren Anwendung auf bestimmte Rechtsprobleme nicht unmittelbar möglich sei, sodann sei diese Konstruktion als theoretische selbst zweifelhaft, weil sie historisch und kulturell bestimmte Gerechtigkeitsvorstellungen unreflektiert universalisiere. Vgl. die Kritik am Vertragsgedanken bei G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, a.a.O., §§ 75 und 100. Vgl. EF, VIII 351. Vgl. EF, VIII 352.

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len.152 Hier aber endet die Analogie bereits, was ihren Erklärungsgehalt in Frage stellt, denn die völkerrechtliche Forderung ist nicht die nach einem globalen Völkerstaat, sondern die nach einem föderalen Bündnis. Ein gemeinsamer Staat höbe die Vielheit der Völker auf, was jedoch, selbst wenn dem so wäre, noch keinen zwingenden Einwand darstellte. Dieser soll nun in der Ergänzung bestehen, daß „ein jeder Staat das Verhältniß eines Oberen (Gesetzgebenden) zu einem Unteren (Gehorchenden, nämlich dem Volk)“153 enthalten müsse. Nach der Vorstellung der Volkssouveränität wäre dies jedoch kein Hindernis, weil ihr zufolge das Obere und das Untere nicht weniger identisch sind als die Völker im Weltstaat es sein könnten. Kant betont, daß in der Tat der globale Völkerstaat, die einzige dauerhafte Lösung des Kriegsproblems darstellte, was aber die „Völker der Erde […] nach ihrer Idee vom Völkerrecht durchaus nicht wollen“154 . Es bleibe statt der „positiven Idee einer Weltrepublik (wenn nicht alles verloren werden soll) nur das negative Surrogat eines den Krieg abwehrenden, bestehenden, und sich immer ausbreitenden Bundes“155 . Das Beharren der Staaten auf ihrer isolierten Souveränität wird von Kant geradezu als barbarisch gekennzeichnet, jedoch gebe es keine rechtlich begründbare Handhabe, sie in eine Gemeinschaft zu zwingen, denn als innerlich schon bürgerlich verfaßte Staaten genügten sie dem, was gemäß dem Naturrecht allenfalls zu fordern sei.156 Ihr Rechtsmittel untereinander bleibt der Krieg. Dieser kann aber erstens kein Recht schaffen, und zweitens, wie Kant so deutlich wie selten betont, hat „die Vernunft vom Throne der höchsten moralisch gesetzgebenden Gewalt herab den Krieg als

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Vgl. EF, VIII 354. Vgl. hierzu auch G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, a.a.O., § 333: „Weil aber deren Verhältnis ihre Souveränität zum Prinzip hat, so sind sie insofern im Naturzustande gegeneinander, und ihre Rechte haben nicht in einem allgemeinen zur Macht über sie konstituierten, sondern in ihrem besonderen Willen ihre Wirklichkeit.“ EF, VIII 354. EF, VIII 357. EF, VIII 357. Vgl. Jürgen Habermas, Kants Idee des ewigen Friedens – aus dem historischen Abstand von zweihundert Jahren, in: Matthias Lutz-Bachmann/James Bohman (Hgg.), Frieden durch Recht, a.a.O. Habermas weist darauf hin, daß die ‚widersprüchliche Konstruktion‘ (vgl. 10) der Beibehaltung der Souveränität im Völkerbund eine ‚realistische‘ Ermäßigung seiner früheren Position sei: Im Gemeinspruch (vgl. VIII 312f.) vertrete Kant noch den Völkerstaat. – Volker Gerhardt plädiert dafür, staatliche Souveränität unter den internationalen Vorbehalt ihrer rechtmäßigen Ausübung zu stellen. (Vgl. Das Recht in weltbürgerlicher Absicht. Kants Zweifel am föderalen Weg zum Frieden, in: Ders. (Hg.), Kant im Streit der Fakultäten, Berlin 2005. Das dürfte innerhalb des bürgerlichen Völkerrechts nicht widerspruchsfrei möglich sein, weil die Staaten damit ihre juristische Persönlichkeit zumindest partiell einbüßen. Vgl. hierzu auch Sabine Jaberg, Kants Friedensschrift und die Idee kollektiver Sicherheit. Eine Rechtfertigungsgrundlage für den Kosovo-Krieg der NATO?, Hamburg 2002, 56: „[E]ine Aufhebung des Völkerrechts wäre erst mit der Überwindung der völkerrechtlichen Subjektivität der Staaten in einer vollständig durchgesetzten Weltrepublik möglich.“ Vgl. EF, VIII 355f. Oliver Eberl und Peter Niesen (Immanuel Kant. Zum Ewigen Frieden. Kommentar, a.a.O., 241f.) verstehen diese Stelle so, daß die Staaten den Völkerstaat rechtlich nicht wollen können, weil er ihrer Souveränität widerspräche. Dieser Zusammenschluß gehöre daher nicht zum Völkerrecht. Das ist richtig, aber eine petio principii. Wenn die staaten als Subjekte bürgerlichen Völkerrechts weiter existieren wollen, können sie nicht in einen Völkerstaat übergehen. Dieser Übergang gehört nicht zum Völkerrecht, sondern wäre eine politische Forderung.

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Rechtsgang schlechterdings verdammt, den Friedenszustand dagegen zur unmittelbaren Pflicht [ge]macht“157 . Der globale Friedensbund ergibt sich daraus als moralisch notwendig. Seine Ausführbarkeit, wie Kant sie darlegt, ist dagegen nicht bloß pragmatisch, sondern explizit zufällig bestimmt: „[W]enn das Glück es so fügt: daß ein mächtiges und aufgeklärtes Volk sich zu einer Republik (die ihrer Natur nach zum ewigen Frieden geneigt sein muß) bilden kann, so gibt diese einen Mittelpunkt der föderativen Vereinigung für andere Staaten ab, um sich an sie anzuschließen und so den Freiheitszustand der Staaten gemäß der Idee des Völkerrechts zu sichern und sich durch mehrere Verbindungen dieser Art nach und nach immer weiter auszubreiten.“158 Die realen Hindernisse moralischer Politik zugestanden, hat es doch für die moralische und politische Philosophie fatale Auswirkungen, diese zu erwartenden Hindernisse in dem, was vernünftig zu fordern wäre, gleich mit zu reflektieren und so die Forderung als an sich selbst pragmatisch ermäßigte vorzustellen. Dadurch wird die objektive Realität einer praktischen Idee, deren Möglichkeit Kant mit dem transzendentalen Idealismus begründet hatte, hier, im Politischen, verschiedenen Zufallsmomenten nachgeordnet. Sicher, ohne jede historische Erfahrung wäre die Idee des Weltfriedens weniger als ein Traum; ihre vernünftige Begründung ist aber auch dann negativ, an der Kritik mangelhafter Erfahrung zu orientieren, und nicht an einem vermeintlich positiven Vorbild, das als affirmativ aufgenommenes die Zufälligkeit von Erfahrung in die Idee verlängert. So erklärt Kant die objektive Realität der praktischen Idee der Weltrepublik, die ein Vernunftbegriff ist, allein deshalb für obsolet, weil die Vertreter der existierenden Staaten andere Vorstellungen vom Völkerrecht hätten;159 zu retten sei allein die Ermäßigung der Idee zu einem Friedensbündnis – die wohl nur mehr ein Verstandesbegriff sein dürfte – und dies nur deshalb, weil soeben die Franzosen eine Republik gründeten. 157 158

159

EF, VIII 356. EF, VIII 356. Schon weil Kant das moralische Friedensgebot durchgängig an der politischen Wirklichkeit reflektiert, handelt es sich keineswegs „um reinsten Idealismus“, wie Sabine Jaberg meint. Vgl. Sabine Jaberg, Kants Friedensschrift und die Idee kollektiver Sicherheit, a.a.O., 36. Darüber hinaus ist „idealistische[] Rechtsmetaphysik“ auch nicht darin zu finden, daß Kant „die Beachtung des Rechts zur moralischen Pflicht erhebt“ (ebda.). Kants Moralbegriff ist aufgrund der Differenz von Sein und Sollen gerade nicht idealistisch; sein Fehler besteht im Gegenteil in dieser Trennung von Moral und Recht, die nicht durch eine nachträgliche oder zusätzliche Moralisierung von Recht geheilt werden kann. – Die Schwierigkeiten der Rezeption der Friedensschrift und ihrer Beurteilung, die immer politisch interessiert ist, erörtert Oliver Eberl, Demokratie und Frieden. Kants Friedensschrift in den Kontroversen der Gegenwart, Baden-Baden 2008. Seine hermeneutische Lösung dieses Problems ist jedoch problematisch: Sie bezieht die Bedingtheit der Standpunkte auch auf sich selbst, verzichtet auf die Möglichkeit objektiver Erkenntnis (26) und erhofft zugleich von der so „gesteigerten Reflexivität eine erhöhte Plausibilität der Interpretation“ (32). Vgl. dagegen EF, VIII 357 Anm., wo Kant es ausdrücklich als „Versündigung“ bezeichnet, nicht zur Weltrepublik bereit zu sein. Hier kann er nicht das bloße Bündnis meinen, da von einer ‚gesetzlichen Verfassung‘ der Völker die Rede ist. Insofern ist Alberto Burgios Einschätzung zu relativieren, im Widerstand kants gegen die Idee eines Völkerstaats zeige sich dessen Modernität (vgl. Die Zeit für den Krieg, die Zeit für den Frieden. Zur Geschichtsphilosophie von Kants ‚Zum ewigen Frieden‘, in: Volker Bialas/Hans-Jürgen Häßler, 200 Jahre Kants Entwurf ‚Zum ewigen Frieden‘, a.a.O., 61).

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Einen Kern von Moralität will Kant jedoch im empirischen Völkerrecht noch finden, einen Anknüpfungspunkt gewissermaßen für Besserungsvorschläge, nämlich darin, daß die Diplomaten und die Rechtstheoretiker stets versucht haben, den gerechten Krieg zu definieren oder empirische Kriege zu rechtfertigen, obgleich doch Krieg mit Recht gar nichts gemein habe.160 Kant irrt. Die Rechtfertigung von Kriegen, die als theoretische wie als diplomatische immer argumentiert, das heißt Mittel der Vernunft gebraucht, offenbart nicht im Mindesten den Wunsch, noch den Krieg an die Rechtsidee zu binden, sondern im Gegenteil die äußerste Perfidie, vor einer Vergewaltigung der Vernunft nicht haltzumachen, um dem Krieg, der Vernichtung des Menschlichen, noch den Anschein von Menschlichkeit zu verleihen.161 Das im Dritten Definitivartikel formulierte Weltbürgerrecht sieht demnach auch lediglich eine Hospitalitätsregelung als Bedingung wechselseitiger Annäherung der Völker vor. Es sichert allein das Recht aller, an keinem Platz der Welt feindlich behandelt zu werden, wenn man nicht selbst Anlaß dazu bietet. Es ist allein ein Durchreiserecht, das mit keinerlei Aufenthaltsrechten oder -pflichten verbunden ist. Dadurch sollen die Bedingungen geschaffen werden, daß Völker aller Erdteile „mit einander friedlich in Verhältnisse kommen, die zuletzt öffentlich gesetzlich werden und so das menschliche Geschlecht endlich einer weltbürgerlichen Verfassung immer näher bringen können“162 . Offensichtlich sind hierunter Handelsbeziehungen zu verstehen, die früher oder später einer öffentlich-rechtlichen Absicherung bedürfen.163 Auch das Weltbürgerrecht, zunächst als moralischer Anspruch an das Völkerrecht formuliert, wird auf dem pragmatischen Umweg über das Privatrecht realisiert. Immerhin sei die Annäherung nicht selbst durch Krieg vermittelt. Doch auch die objektive Realität des Weltbürgerrechts hat eine empirische Bedingung, nämlich die fortgeschrittene Völkergemeinschaft mit entwickelter Publizität. Wenn Kant die Möglichkeit des Weltbürgerrechts darin begründet sieht, daß „die Rechtsverletzung an einem Platz der Erde an allen gefühlt wird“164 , so ist damit nicht gemeint, daß die Verwüstungen und Verwerfungen durch Kriege ein Ausmaß angenommen hätten, durch das jeder Krieg internationale Konsequenzen habe, sondern daß die internationalen Beziehungen soweit gediehen sind, daß jeder Krieg allen zivilisierten Völkern öffentlich bekannt wird. Durch diese Öffentlichkeit, so hofft Kant, werde der internationale Frieden zum allgemeinen Interesse. Dies aber ist die Vorstellung einer bloß komparativen Allgemeinheit, die mit der notwendigen Allgemeinheit der moralischen Idee nur zufällig zusammenstimmt. 160 161

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Vgl. EF, VIII 355 und 376. Kant selbst geißelt diese Haltung als ‚politischen Moralismus‘, „der sich eine Moral so schmiedet, wie es der Vortheil des Staatsmanns sich zuträglich findet“ (EF, VIII 372). EF, VIII 358. Die gegenwärtig sich hierauf beziehenden an die Europäische Union geknüpften Hoffnungen mögen hinsichtlich des Friedens und der Ausbreitung des Völkerrechts erfüllt werden; sie übersehen indes die maßgeblichen ökonomischen Triebfedern, die hinter diesen Prozessen stehen und für die Menschen nicht zwangsläufig eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen bewirken. Die positive Rechtsform garantiert nicht, daß ihre Ausgestaltung unter der Einheit praktischer Vernunft steht. Hans Heinz Holz, Gedanken zu Krieg und Frieden, a.a.O., 48, konstatiert, diese Argumentation halte sich „im Rahmen der ideologischen Selbsttäuschung der frühbürgerlichen Gesellschaft“. EF; VIII 360.

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Die Verwaltungsjuristen, Staatsbeamte, die diese zufällige Allgemeinheit verwalten, werden nun von Kant scharf kritisiert, „wenn sie darauf groß thun, Menschen zu kennen (welches freilich zu erwarten ist, weil sie mit vielen zu thun haben), ohne doch den Menschen, und was aus ihm gemacht werden kann, zu kennen“165 . Eine Staatsverfassung lasse sich nicht aus bloßen pragmatischen Zwangsmechanismen konstruieren, sondern allein nach moralischen Freiheitsgesetzen, mithin „unbedingt gebietenden Gesetzen, nach denen wir handeln sollen, und es ist offenbare Ungereimtheit, nachdem man diesem Pflichtbegriff seine Autorität zugestanden hat, noch sagen zu wollen, daß man es doch nicht könne“166 . Ein Konflikt von Moral und Politik sei nicht begrifflich, sondern allein aus pragmatischen Erwägungen möglich. Zwar widerspreche die Praxis „leider!“167 oft der Moral, aber „[s]o sehr […] auch der Verstoß der Praxis gegen die Theorie wohl gar zur Maxime allgemein angenommen werden mag so darf doch wenigstens diese selbst als die Idee welche dem Menschen seine Pflicht vorhält nicht verfalscht oder gar als leer verlassen werden“168 . Die Maximen der Politik sollen a priori aus praktischer Vernunft hervorgehen und nicht aus pragmatischen Erwägungen, die keinerlei echte Verbindlichkeit begründen können.169 Die politischen Moralisten, die mit den Mitteln der Vernunft ihre unvernünftigen Zwecke rechtfertigen, berufen sich nun auf die Natur der Menschen, dergemäß diese, was sie sollen, nicht wollen. Kant sieht darin vor allem ein Organisationsproblem, ein Problem der Konstituierung eines allgemeinen Willens. Es wollen zwar alle frei sein, aber diese Allheit ist bloß kollektive Einheit des Willens (analog der volonté de tous), nicht schon aus dem Begriff gesetzte Einheit (volonté générale), weil sie nicht „Alle zusammen diesen Zustand wollen“170 , mithin nicht ein organisiertes Kollektiv darstellen. Die mögliche Ursache der Einheit kann aus keinem einzelnen dieser Willen, die alle wesentlich partikular sind, stammen. Daher scheint der Anfang des Rechtszustandes nur durch Zwang möglich, also durch partikulare Gewalt im Dienst der Allgemeinheit. Der Rechtszustand aber, der auf solche Weise bewirkt wird, trägt die Spuren seiner Entstehung. Er wird von der Rechtsidee abweichen, indem die despotische Gewalt, die die Freiheit aufgrund der Natur der Menschen – und deshalb gegen diese – einsetzen sollte, sich gegen ihren Zweck verselbständigt. Gewaltsam durchgesetzte ‚Freiheit‘ schlägt immer wieder in Gewalt zurück. Dies ist nun der Haupteinwand der politischen Pragmatik gegen eine rigoros moralische Politik. Kant will dagegen an der grundlegenden Bedeutung der Moral für die Politik festhalten und die Vereinbarkeit beider belegen. Sein einziges Argument ist dabei das transzendentale, daß „empirische Sätze […] wie es in der Welt zugeht und auch wohl immer zugegangen sein mag […] keine moralische Prinzipien welche Notwendigkeit bei sich führen begründen“171 . Pragmatische Politik läßt sich nicht widerspruchsfrei denken, und 165 166 167 168

169 170 171

EF, VIII 374. EF, VIII 370. EF, VIII 370. EF, zitiert nach den Reinschriftfragmenten (H1 ), in: Immanuel Kant, Werkausgabe, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. XI, Frankfurt am Main 1991, 230 Anm. Vgl. EF, VIII 379. EF, VIII 371. EF, nach den Reinschriftfragmenten (H1 ), in: Immanuel Kant, Werkausgabe, hg.v. Wilhelm Weischedel, a.a.O., 232 Anm.

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aus dem Begriff der Vereinbarkeit von Moral und Politik ergibt sich unmittelbar der Vorrang der Moral, denn im Gegensatz zu einem moralischen Politiker sei ein politischer Moralist eben nicht ohne Widerspruch vorstellbar. Die moralische Politik aber kann sich an der Form des Sittengesetzes messen, ohne Berücksichtigung bestimmter Zwecke und Mittel, die Politik wird eine „sittliche Aufgabe“172 . Diese besteht darin, die Fehler bestehender Verfassungen zu beseitigen, denn diese sind „mehrentheils […] rechtswidrige Staatsverfassungen“173 , also solche, die der Rechtsidee der praktischen Vernunft nicht entsprechen, und dieses Mißverhältnis sei keineswegs der Natur der Menschen, sondern einer verfehlten Politik anzulasten.174 Den Einfluß der Vernunft auf die Politik konstruiert Kant jedoch durch strikte Trennung der Funktionen. Der Jurist sei gemäß seiner Beamtenpflicht an die Ausführung des jeweils geltenden Rechts positiv gebunden und habe nicht über dessen Legitimation zu urteilen, sondern die Durchsetzung notfalls mit Gewalt zu bewehren.175 Das Urteil steht dem Philosophen an, diesem aber freilich nur innerhalb der Grenzen seiner Fakultät. Diese Grenze will Kant nun dadurch permeabel machen, daß dem Öffentlichen Recht ein Geheimartikel beigefügt werde, der eine politische Beratung des Gewalthabers durch Philosophen vorsieht, aber so, daß dies nicht bekannt wird. Dadurch soll das Ansehen der obersten Gewalt ungeschmälert bewahrt werden. Notwendig sei diese Beratung, weil die Herrscher selbst durch den Besitz der Macht in ihrem Urteilsvermögen notwendig korrumpiert seien, mit anderen Worten: keinen vernünftigen Gedanken mehr fassen könnten; die Philosophen seien hingegen parteipolitisch nicht instrumentalisierbar, „weil diese Klasse ihrer Natur nach der Rottirung und Clubbenverbündung unfähig ist“176 . Einmal dahingestellt, ob jene Korruption und diese Unfähigkeit nicht in kontingenten politischen Antagonismen ihren Grund haben, bleibt die Verbindung von Moral und Politik solange prekär, wie eine notwendige Funktionstrennung beider behauptet wird, anstatt auf der Allgemeinheit praktischer Vernunft zu bestehen. Die Geheimhaltung erlaubt es zudem, „daß der Staat den Grundsätzen des Philosophen vor den Aussprüchen des Juristen (des Stellvertreters der Staatsmacht) [nicht] den Vorzug einräumen müsse, sondern nur, daß man ihn höre“177 . Dringt davon nichts an die Öffentlichkeit, kann die Mißachtung des Rates, die jeder Bürger qua Vernunft als Mißachtung der Moralität erkennen könnte, nicht zum Protest ausschlagen. Die Verbesserung der Politik selbst geschieht dann Kant zufolge durchaus nach pragmatischen Gesichtspunkten, nämlich allmählich und annäherungsweise; die Stabilität der bestehenden, zu ändernden, Ordnung soll pragmatisch unbedingten Vorrang genießen, denn ein schlechter Staat sei noch immer besser als keiner, als Anarchie. Gemäß moralischer Politik sei es die Aufgabe des despotischen Herrschers, in republikanischer Absicht zu regieren, um das Volk durch

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EF, VIII 377. EF, VIII 374. Vgl. EF, VIII 374. Vgl. EF, VIII 369 und SF, VII 25. EF, VIII 369. EF, VIII 369.

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behutsame Reformen an diese Form soweit zu gewöhnen, bis es selbst Gesetzgeber zu sein vermag.178 Diese Anleitung zur pragmatischen Umsetzung der Moral in Politik setzt sich selbst genau dem Einwand aus, gegen den Kant sie konstruiert hatte, denn diese Bewirkung der kollektiven Einheit gelingt nicht durch die praktische Vernunft, sondern durch politischen Zwang, sei es auch der Zwang zum eigenen Glück, denn das vom Despoten angeordnete Reformprogramm beeinflußt das Volk „gleich als ob es physische Gewalt besäße“179 . Daß die Kollektivität eines moralischen Rechts schon durch den „a priori gegebene[n] allgemeine[n] Wille[n] (in einem Volk oder im Verhältniß verschiedener Völker unter einander)“180 bewirkt werde, soll dieses Gewaltmoment zähmen; in diesem allgemeinen Willen hinkt jedoch deutlich der allgemeine Wille Hegels voraus, der als Volksgeist oder Weltgeist sich gegen die Individuen durchsetzt, deren Schein von Freiheit bloß seine List ist. Die Öffentlichkeit, die Kant als Bedingung politischen Fortschritts in Anspruch nimmt,181 befördert, genau besehen, lediglich die ungehinderte Entfaltung der menschlichen Natur. Der positive Begriff menschlicher Natur, zur Freiheit fähig zu sein, unterscheidet sich, als Naturbegriff, nicht von dem der politischen Moralisten, den Kant so sehr tadelt: Beide koinzidieren im Begriff der Vorsehung, der Geschichte höheren Orts legitimiert und ihr Moment von Freiheit umschränkt: „Die Vorsehung im Laufe der Welt ist hiebei gerechtfertigt; denn das moralische Princip im Menschen erlöscht nie“182 . Zwar will Kant das Problem der Theodizee umgehen, indem er die Natur als positiv charakterisiert und alle Schuld den im Naturlauf handelnden Menschen anlastet; aber das Setzen der Voraussetzung, durch die eine Theodizee bewußt vermieden werden soll, ist im Grunde selbst schon eine solche.183 Kant widerspricht der eigenen Begründung des Reformprogramms der evolutionären Republikanisierung: Die Pragmatisten nämlich – die „über den Naturmechanismus einer in Gesellschaft tretenden Menschenmenge, welcher jene Grundsätze entkräftete, und ihre Absicht vereiteln werde, vernünfteln“ – bewirken das von ihnen reklamierte und zum Grund des Pragmatismus stilisierte Übel selbst, indem „der Mensch mit den übrigen lebenden Maschinen in eine Classe geworfen wird, denen nur noch das Bewußtsein, daß sie nicht freie Wesen sind, beiwohnen dürfte, um sie in ihrem eigenen Urtheil zu den 178

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182 183

Georg G. Iggers, Deutsche Geschichtswissenschaft. Eine Kritik der traditionellen Geschichtsauffassung von Herder bis zur Gegenwart, München 1971, 31ff., hat herausgearbeitet, daß dieser Reformgedanke, der typisch für den deutschen Geist des 18. Jahrhunderts gewesen ist und in Frankreich oder Großbritannien nicht herrschte, durchaus im Gegensatz zu spezifisch politischem Denken steht. EF, VIII 372. EF, VIII 378. Vgl. EF, VIII 381ff. Vgl. Axel Hutter, Zum Begriff der Öffentlichkeit bei Kant, in: Michael Städtler, Kants ‚Ethisches Gemeinwesen‘, a.a.O. In Sich im Denken orientieren, VIII 144, verknüpft Kant die Freiheit zu denken unmittelbar mit der Freiheit, sich öffentlich mitzuteilen. EF, VIII 380. Vgl. Reinhard Brandt, Immanuel Kant – Was bleibt?, Hamburg 2010, 167: „Das Programm der reflektierenden Urteilskraft ist jetzt, jede Privation, jedes Übel und alles Böse als Mittel für den moralischen Fortschritt der Menschheit zu erkennen […] und somit zu rechtfertigen. Die Tätigkeit des Geschichtsphilosophen ist eine wahre Theodizee.“

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elendesten unter allen Weltwesen zu machen“184 . Unterhalb dieser elendesten Weltwesen finden sich dann nur noch die Teufel; womöglich jene, die als verständige Wesen einen Rechtsstaat zu begründen vermöchten. Daß man, nach Kants Überzeugung, denselben Naturmechanism, mittels dessen Teufel listig zu Rechtssubjekten gemacht werden könnten, auch „an Menschen benutzen könne, um den Widerstreit ihrer unfriedlichen Gesinnungen“ zu einer Rechtsordnung aufzuheben, kollidiert offenbar nicht mit ‚jenen Grundsätzen‘. Der Mechanismus, den die Pragmatisten bemühen, unterscheidet sich von dem, den Kant bemüht, dadurch, daß dieser positiv aufs Recht wirkt, jener negativ gegen die Moral. Dem Gehalt und dem Ursprung nach sind beide Mechanismen aber identisch: Sie betreffen nämlich die Leidenschaften der Menschen; die Vorstellung, mittels dieser die Menschen für eine bürgerliche Fortschrittsgeschichte zu instrumentalisieren, degradiert die Subjekte eher radikaler noch zu bloßen Mitteln als schon die Behauptung, sie seien unfähig zur Sittlichkeit. Indem Kant gegen die Pragmatisten die Freiheit der Menschen verteidigt, bleibt von dieser – dem Vermögen, sich vernünftige Zwecke zu setzen – allein die Schuldzurechnungsfähigkeit übrig, die Funktion, für alles sittliche Scheitern selbst verantwortlich zu sein.185 Beide erwägen nicht die historischen oder sozialen Gründe, die das Scheitern der Sittlichkeit perpetuieren. Die Pragmatisten setzen allen Grund des Scheiterns, unangesehen der äußerlichen Momente, in das Wesen der Subjekte und schließen Moralität damit aus. Kant behält diese Subjektivierung des Scheiterns bei, hält aber ebenso an der moralischen Freiheit fest und entwirft dadurch ein Geschichtssubjekt, das nicht handlungsfähig, wohl aber zurechnungsfähig ist: An ihm werden Mechanismen angewandt, deren Unzulänglichkeit es dann noch vor sich selbst verantworten können soll. Die durch andauernde Heteronomie verursachten Schäden bilden dadurch ein inneres Moment des Bewußtseins von Autonomie selbst. Das moralische Subjekt droht zum sozial-geschichtlichen Zwangscharakter zu mißraten. Läßt sich Moraltheorie überhaupt aufs politische Tagesgeschäft ein, ist an der unbedingten Fähigkeit der Menschen zur Moral und dem menschlichen Anspruch auf diese nur noch bedingt festzuhalten. Daß Philosophie einerseits in der wissenschaftlichen Reflexion so wenigstens keine positive Rezeption des politischen Geschehens zuzulassen scheint, daß andererseits das empirische philosophische Subjekt sich aber mit diesem Geschehen konfrontiert sieht, ist nicht mehr und nicht weniger als die theoretische Figur der realen Beschädigung der Handlungsfähigkeit, der die Menschen im alltäglichen Leben überall ausgesetzt sind. Die Versuchung, eine theoretische Reflexion zu entwickeln, die den unbedingten Anspruch mit dem bedingten – und vor allem: bedingenden – Geschehen, das ihm widerspricht, einen soll, opfert die strikte Idee von Philosophie dem durchaus plausiblen politischen Gestaltungsbedürfnis philosophisch gebildeter Subjekte. – Dagegen hätte das strikte Festhalten an der Idee von Philosophie insofern ein Moment

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EF, VIII 378. Damit gerät ein strafrechtlicher Begriff in die Moralbegründung. Für Tugendhat ist Zurechnungsfähigkeit ein Grundphänomen, das in verschiedenen Bereichen, Recht und Moral, Anwendung finde. Vgl. Der Begriff der Willensfreiheit, in: Konrad Cramer/Hans Friedrich Fulda/Rolf-Peter Horstmann/Ulrich Pothast (Hgg.), Theorie der Subjektivität, a.a.O.

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der von Kant geforderten ‚Selbstverleugnung‘186 des Subjekts, als dadurch die heteronome Seite von Subjektivität verleugnet würde. Aber mit ihr würden tendentiell auch die Bedingungen der materiellen Selbsterhaltung verleugnet, soweit sie heteronom organisiert sind.187 Jene Harmonisierung allerdings bestätigt die objektive Verleugnung subjektiver Freiheit, indem sie etwa fordert, äußerstes staatliches Unrecht, Despotie, „noch so lange beharren zu lassen, bis zur völligen Umwälzung alles entweder von selbst gereift, oder durch friedliche Mittel der Reife nahe gebracht worden“; die republikanische Revolution, in der sich der moralische Anspruch auf Selbstbestimmung, wie immer äußerlich deformiert, unmittelbar vortrüge, ist dann kein Ausdruck von Freiheit, sondern sie wäre von der „Natur von selbst“188 herbeigeführt. Eingedenk des widerspruchsvollen Verhältnisses von Gewalt und Freiheit in der Revolution ist die Affirmation der Despotie, die ihre eigene Aufhebung bewirken solle, die Verschiebung dieses Widerspruchs ins subjektive Bewußtsein. Diese Problematik bestimmt auch den prekären Ort von Völker- und Weltbürgerrecht, so wie Kant sie entwirft: Aufgrund ihrer bloß komparativen Allgemeinheit haben sie nicht die Form von Moralgeboten, sie sind aber auch keine Rechte, denn das entscheidende Merkmal der Umwandlung eines Anspruches in Recht, die Befugnis, seine Durchsetzung zu erzwingen, mangelt beiden Rechtssphären. Eine internationale Armee, deren Helme dann nicht blau wären, könnte allein das internationale Recht garantieren; so wäre auch seine pragmatische Ermäßigung unnötig: Das, was vernünftig zu fordern ist, wäre unmittelbar durchsetzbares Recht. Aber diese Vorstellung – die der gewaltsamen Herstellung von Frieden – ist in sich widersinnig und sie widerspricht der praktischen Vernunft. Kant kommt nicht umhin, als Bedingung der Vereinbarkeit von Moral und Politik den Begriff einer zweckmäßig geordneten Natur, sogar den einer unter moralischen Zwecken geordneten Natur anzunehmen, da die aus dem politischen Tagesgeschäft erzwungene Moralpragmatik sonst keine begründete Erfolgsaussicht und damit, nach Kants politischem Verständnis, keine objektive Realität hätte. Darin, daß die Naturordnung für diese objektive Realität eintritt, liegt die Negativität ihres Begriffs, kraft derer er als index falsi die reale Unordnung anzeigt. Zugleich aber erzwingt die Möglichkeit des Friedens, die aus den Erfahrungen nicht begründet werden kann, die Unterstellung der Positivität jenes Begriffs. Dieses Problem ist in Kants Konzept der regulativen Ideen weniger gelöst als pointiert formuliert. Die gesamte Konstruktion der Annäherung an den Friedenszustand durch die impliziten und expliziten Einschränkungen in den Präliminar- wie den Definitivartikeln erhält 186

187

188

Zu diesem Ausdruck vgl. GMS, IV 407. Vgl. Reinhard Brandt, Immanuel Kant – Was bleibt?, a.a.O., 172: „Der Imperativ kann bedingungslos sein, da die Existenz selbst kein absolutes Gut und selbst der gewaltsame Tod nicht das ‚summum malum‘ ist.“ Selbsterhaltungstheorien, die sich auf den Aspekt der Selbsterhaltung des Bewußtseins konzentrieren, werden der Bedeutung materieller Selbsterhaltung, auch wenn sie sie erwähnen, nicht gerecht, weil sie die Existenzbedingungen als Mittel, nicht als konstitutionelle Momente von Selbstbewußtsein einordnen. Vgl. z. B. Dieter Henrich, Über Selbstbewußtsein und Selbsterhaltung, in: Selbstverhältnisse, a.a.O. Zu dem Problem insgesamt und kontrovers vgl. die Dokumentation der Diskussion um Selbsterhaltung in Hans Ebeling (Hg.), Subjektivität und Selbsterhaltung. Beiträge zur Diagnose der Moderne, Frankfurt am Main 1976. EF, VIII 373 Anm.

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nur dann einige Stabilität, wenn eine „Garantie des ewigen Friedens“189 anderswoher geleistet werden kann, nämlich durch „nichts Geringeres, als die große Künstlerin Natur (natura daedala rerum), aus deren mechanischem Laufe sichtbarlich Zweckmäßigkeit hervorleuchtet, durch die Zwietracht der Menschen Eintracht selbst wider ihren Willen emporkommen zu lassen“190 . Diese zweckvolle Naturordnung ist, gemäß der Kritik der teleologischen Urteilskraft, weder zu erkennen noch zu erschließen, muß aber gedacht werden können nach Analogie des Handwerksprozesses, um überhaupt einen Naturzusammenhang denken zu können.191 Wenngleich theoretisch diese Vorstellung nicht einzuholen ist, so sei sie in praktischer Absicht doch zulässig, um die Erfüllbarkeit – und das heißt Möglichkeit – der Pflicht zum ewigen Frieden vorstellbar zu machen. Diese Idee als Bedingung der Möglichkeit der praktischen Vernunft zerstört aber zugleich deren Möglichkeit, denn im „Schicksal“192 entfällt per definitionem alle Handlungsfreiheit. Um dies zu vermeiden, will Kant den Schicksalsbegriff so vage fassen, daß er zu ungenau ist, um mit Sicherheit auf die Wirksamkeit von Schicksal zu vertrauen, aber doch genau genug, um die eigene Pflicht, diesen äußerlichen Zweck zu befördern, zu erkennen. Das aber leistet ein Schicksalsbegriff unter keinen Umständen und Bedingungen. Im Gegenteil unterwirft er die Subjekte der praktischen Philosophie einem Widerspruch, an dem sie irre werden müssen.193 Darin setzt Kant die Antinomien der christlichen Handlungslehre fort, deren Vermittlungsversuch, die concursus-Lehre, er noch verwirft, weil sie „das Ungleichartige paaren“194 wolle und so das Absolute verendliche. Doch der Widerspruch absoluter Teleologie und moralischer Freiheit bleibt als ungeschlichteter in den Subjekten, die ihn nach Hinsichten trennen sollen und darin eine intellektuelle Unzulänglichkeit beweisen, die ihnen durch diese Vorstellung erst beigelegt wird. Weil ihr Wollen immer endlich bleibe, sei ihre moralische Existenz nur als unzureichendes Streben denkbar, zu dessen Erfüllung nunmehr „der Begriff des göttlichen concursus ganz schicklich und sogar nothwendig“195 sei. Die Vorstellung des Übernatürlichen, der Vorsehung insbesondere, die in der an den Religionsbegriff geknüpften Moralgeschichte wurzelt, wird in den Dienst der bürgerlichen Fortschrittsgeschichte gestellt, deren widersprechende und widerstreitende Erfahrungen anders nicht unter einen Geschichtsbegriff gebracht werden könnten.196 189 190 191 192

193

194 195 196

EF, VIII 360. EF, VIII 360. Vgl. KdU, V § 61. EF, VIII 361. Vgl. Anthropologie, VII 189: Hier bringt Kant das Problem auf den absurden Begriff „Freiheitsmechanismus“. Vgl. dagegen Michael Pauen, Zur Rolle des Individuums in Kants Geschichtsphilosophie, in: Volker Gerhardt/Rolf-Peter Horstmann/Ralph Schumacher, Kant und die Berliner Aufklärung, a.a.O., Bd. IV, 40, der Kants Prognose als bloß kontrafaktische Annahme interpretiert, innerhalb deren Bestimmtheit dem ‚historischen Subjekt […] ein erheblicher Spielraum der konkreten Ausgestaltung seines Handelns“ bleibe. EF, VIII 361 Anm. EF, VIII 362 Anm. Reinhard Brandt stellt drei Komponenten der Realisierung des höchsten Guts heraus: 1. den einzelnen Menschen, der dem Sittengesetz bedingungslos unterworfen ist, 2. die Staaten, die Recht

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Die sozialen und psychischen Auswirkungen sind im Prinzip verheerend: Abgesehen von den unmittelbar mit der Kriegsgeschichte verbundenen Verheerungen, die Kant selbst scharf kritisiert,197 erscheinen sie als die ganz alltägliche Selbstüberantwortung der Subjekte an das menschenunwürdige Leben, das ihnen zugemutet wird, und dem sie einen ihnen verborgenen Sinn beizulegen gelernt haben. Der Naturbegriff, den Kant zur Garantie der pragmatisch limitierten Friedenshoffnung verwendet, ist schließlich aus dem geschichtsphilosophischen Grundlagenproblem hervorgegangen, historische Erfahrung unter wissenschaftlichen Begriffen zu ordnen. Dieses Problem erfordert die erkenntnistheoretische Reflexion von Geschichte und mit ihr die theoretische Zusammenführung der historischen Phänomene von Freiheit mit Naturbegriffen.

3.

Fortschritt in der Sittlichkeit oder Weltgeist als Naturgeschichte?

Solange Staatsrecht und Völkerrecht nicht im Weltbürgerrecht aufgehoben sind, findet der Betrachter der menschlichen Geschichte nichts als eine Menge von Daten über menschliche Handlungen vor, die durch ihre Akteure selbst in keinen vernünftigen Zusammenhang gesetzt werden. Die Handlungen widersprechen sich nicht nur untereinander, indem sie kein erkennbar gemeinsames Ziel anstreben, ja indem im Gegenteil einzelne Akteure andere daran zu hindern trachten, ihre Ziele zu erreichen; die Handlungen widersprechen damit auch der Moral, der praktischen Vernunft selbst. Die Verhältnisse der Menschen sind unvernünftig, sowohl synchron als diachron betrachtet: dieses insofern die Geschichte keine geradlinige Entwicklung abgibt, sondern von mehr Rückschlägen und Unregelmäßigkeiten durchsetzt ist, als daß sie Fortschritte aufweist, jenes insofern die Verhältnisse durch Gewalt und Streit bestimmt sind und so nicht auf eine Bestimmung gebracht werden, die vernunftgemäß wäre: Allgemeinheit oder Einheit.198 Auf Kant wirken die ihm gegenwärtigen Zustände derart barbarisch, daß er mit Rousseau den „Zustand der Wilden“199 vorziehen möchte. So finde man weltpolitisch „bei hin und wieder anscheinender Weisheit im Einzelnen doch alles endlich im Großen aus Thorheit, kindischer Eitelkeit, oft auch aus kindischer Bosheit und Zerstörungssucht zusammengewebt“200 . Nun kann die Geschichte dieser Menschen, wenn sie

197 198

199 200

und Moral nach der Staatsräson beugen dürfen, um überhaupt Recht realisieren zu können, und 3. die Vorsehung, die „völlig ohne Rücksicht auf Moral [verfährt], um das moralische höchste Gut, den Frieden, durchzusetzen. Sie benutzt die Individuen und die Staaten ausschließlich als Mittel“ (Immanuel Kant – Was bleibt?, a.a.O., 173). Vgl. Religion, B 195ff. Die Rede vom Ende der Geschichte, in deren Kontext die Beobachtung von Rückschlägen nicht mehr möglich ist, weil der Begriff der Entwicklung aufgegeben wurde, begibt sich nicht beliebiger kontingenter Maßstäbe, deren einer dem Geschehen so arbiträr wäre wie der andere, sondern sie begibt sich der Vernunft und damit der Unterscheidung der Menschen vom Naturgeschehen überhaupt. Mit jedem bloß auf Konsistenz bedachten Gedanken, der also schon einen minimalen Kern von Reflexivität beherbergt, ist aber der Anspruch auf Objektivität der Vernunft unauflöslich verbunden. Der konsequenzlose Gedanke ist abstrakt, weil er das Subjekt, das ihn denkt, durchstreicht. Zum Problem des Stillstands von Geschichte vgl. Michael Städtler, Subjekte des Stillstands, a.a.O. Idee, VIII 26. Idee, VIII 17f.

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überhaupt Bosheit oder Weisheit enthält, keine bloße Naturgeschichte sein; da die Akteure ihre Geschichte aber nicht kooperativ gestalten, „nicht wie vernünftige Weltbürger nach einem verabredeten Plane“201 , läßt sich ihr Handeln ebensowenig nach vernünftigen Begriffen rekonstruieren. Sind die Handlungen aber vernunftwidrig, so würde ihre Rekonstruktion nach Begriffen sie bloß unter einen Schein von Vernünftigkeit bringen. Daraus folgen begriffliche Schwierigkeiten, die sich über den geschichtlichen Zusammenhang hinaus geltend machen, denn „was hilfts, die Herrlichkeit und Weisheit der Schöpfung im vernunftlosen Naturreiche zu preisen und der Betrachtung zu empfehlen, wenn der Theil des großen Schauplatzes der obersten Weisheit, der von allem diesem den Zweck enthält, – die Geschichte des menschlichen Geschlechts – ein unaufhörlicher Einwurf dagegen bleiben soll“202 . Der scheinbar ausschließlich moralische Skandal der Irrationalität von Geschichte erweist sich damit ebenso als erkenntnistheoretisches Problem, denn die Menschen sind mit ihren Handlungen, sofern diese unter empirischen Bedingungen erfolgen, immer auch Naturwesen und als solche Bestandteile des Naturzusammenhangs.203 Würden nun die Handlungen in gar keinem gesetzmäßigen Zusammenhang miteinander stehen, so wäre die erkenntnistheoretische Vorstellung des kontinuierlichen Zusammenhangs der Erscheinungen in einem Naturganzen, auf der subjektiv die Einheit der Erfahrung beruht, gestört. Alle Wahrnehmungen müssen unter Regel „in mundo non datur hiatus, non datur saltus, non datur casus, non datur fatum“204 stehen. Zwar weist Kant in der Auflösung der Dritten Antinomie darauf hin, daß die Handlungen nur nach ihrer körperlichen, empirischen Seite unter Naturgesetze fallen, und insofern ist jede einzelne von ihnen sinnloser Naturbestandteil, der von seiner intelligiblen Herkunft nicht berührt wird. Aber so wäre nur die naturkausal verlaufende Reihe der Erscheinungen, an deren Spitze die empirische Handlung steht, in den gesetzmäßigen Zusammenhang der Erscheinungen integrierbar. Die Spontaneität, das Vermögen, eine Reihe von Erscheinungen neu zu begründen, begründete eben damit immer wieder Sprünge im Zusammenhang, denn das Eintreten der spontan begonnenen Handlung in den Naturzusammenhang läßt sich aus den in ihm gegebenen Antezedentien nicht begründen, auch wenn die Handlung in ihrem empirischen Verlauf vollständig naturkausal verstanden werden kann. Daß ein Organismus diesen oder jenen Muskel in Bewegung setzt, kann allenfalls durch Instinkte oder Reflexe erklärt werden; diese Erklärung fällt aber bei Menschen aus, weil ihre Handlungen nicht die dafür vorausgesetzte Regelmäßigkeit aufweisen.205 201 202

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205

Idee, VIII 17. Idee, VIII 30. Kant gibt für den moralischen Skandal in der Geschichte ein Modell mit der Anekdote über den Abgeordneten Robert Walpole, der die Käuflichkeit jedes Menschen für ein Faktum hält. Vgl. Religion, B 38f. Vgl. Idee, VIII 17. Vgl. hierzu Pauline Kleingeld, Fortschritt und Vernunft. Zur Geschichtsphilosophie Kants, Würzburg 1995, 16ff. KrV, B 282. Die zentrale Bedeutung dieser Stelle für Kants Philosophie hebt auch Karl Heinz Haag hervor: Der Fortschritt in der Philosophie, a.a.O., 80. Diese erkenntnistheoretische Implikation von Geschichtsphilosophie bemerkt Theodor W. Adorno, Probleme der Moralphilosophie, Frankfurt am Main 1996, 150: „Können die empirischen Subjekte wirklich aus Freiheit handeln, so ist, weil sie selber der Natur angehören, die Kantische –

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Kant hebt schon in der Vierten Antinomie die Notwendigkeit der Annahme des Totalitätszusammenhanges hervor, dessen transzendentale Form er im Transzendentalen Ideal dann entwickelt. Die Vorstellung der Totalität als in den Erscheinungen präsenten Zusammenhangs ist die erkenntnistheoretische Bedingung dafür, daß verschiedene Erkenntnisse überhaupt in einen systematischen Zusammenhang gebracht werden können. Die Erscheinungen des geschichtlichen Handelns scheinen nun wegen ihrer Widersprüchlichkeit und wegen ihrer Spontaneität die systematische Ordnung aller Erscheinungen zu durchbrechen. In praktischer Hinsicht führt diese Widersprüchlichkeit des Handelns nicht zwingend auf ein Natursystem oder auf Teleologie; vielmehr geht es um die Bestimmung des liberum arbitrium als das dynamische Vermögen, Verschiedenes hervorzubringen. Allein für die Erkenntnistheorie ergibt sich ein Problem, das nur teleologisch zu lösen ist, weil der durch sie vorausgesetzte Begriff der durchgängig kategorial bestimmten Totalität durch jene Widersprüchlichkeit zerstört würde: „[W]enn wir von jenem Grundsatze [der Teleologie] abgehen, so haben wir nicht mehr eine gesetzmäßige, sondern eine zwecklos spielende Natur“206 . Die erkenntnistheoretische Verlegenheit des Philosophen, der „bei Menschen und ihrem Spiele im großen gar keine vernünftige eigene Absicht voraussetzen kann“, führt deshalb zu der Überlegung, „ob er nicht eine Naturabsicht in diesem widersinnigen Gange menschlicher Dinge entdecken könne“207 . Ließe sich nämlich annehmen, „daß die Natur selbst im Spiele der menschlichen Freiheit nicht ohne Plan und Endabsicht verfahre, […] so dürfte diese Idee uns doch zum Leitfaden dienen, ein sonst planloses Aggregat menschlicher Handlungen wenigstens im Großen als ein System darzustellen“208 , selbst wenn der Plan als solcher den Menschen verborgen bliebe. Wäre aber diese Naturabsicht auch bloß eine regulative Idee der Vernunft, um Geschichte denkbar zu machen, so wäre doch der Gedanke von Geschichte mit dem der Naturabsicht systematisch an die Selbstaufhebung des Subjekts, das ihn denkt, geknüpft; ist die ‚wollende Natur‘ auch nicht als reales Subjekt intendiert, so erhält ihre Vorstellung gleichwohl reale Gewalt über die Menschen, wenn sie ihr geschichtliches Handeln durch sie beurteilen.209

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durch Kategorien gestiftete – Einheit der Natur durchbrochen. Die Natur hat dann gewissermaßen eine Lücke“. Vgl. auch Heinz Eidam, Kausalität aus Freiheit, Würzburg 2007. – Mechanistische Affektenlehren sind, weil sie Theorie sind, selbst der beste Beweis gegen das, was sie beweisen wollen. Idee, VIII 18. Idee, VIII 18. Idee, VIII 29. Der Gedanke der regulativen Idee, des ‚so denken, als Ob‘, ist vielfach bemüht worden, um Aporien bei Kant zu schlichten. Vgl. Volker Gerhardt, Immanuel Kant. Vernunft und Leben, Stuttgart 2002, 251. Hervorgehoben hat diesen Aspekt zuerst und grundsätzlich Hans Vaihinger, Die Philosophie des Als Ob. System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit auf Grund eines idealistischen Positivismus. Mit einem Anhang über Kant und Nietzsche, Berlin 1911. Der Versuch einer Methodologisierung der Kantischen Dialektik übersieht deren tiefere Problematik. Die Prinzipien, die regulativ die Vorstellungen von Welt und Geschichte bestimmen sollen, sind in den resultierenden Vorstellungen, die teils normativ sind, enthalten; sie können nicht, nachdem der Denkende so getan hat, als bediene er sich ihrer, wieder beiseite gelegt werden. Das Bewußtsein ist durch die Ideen, die es verwendet, bestimmt und muß diese auf ihre mögliche

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Kants praktischer Freiheitsbegriff, die vernünftige Bestimmung des Willens, die in der Moralphilosophie als Bestimmung praktischer Subjektivität überhaupt entwickelt wird, setzt den Begriff des Subjekts als eines vereinzelten voraus, in dessen Vereinzelung alle Subjekte übereinstimmten. So ist er nicht analog auf das geschichtliche Handeln übertragbar. Dieses ist nämlich stets kollektives Handeln, jede Handlung steht im Zusammenhang mit tendentiell allen anderen. Sollten diese Handlungen vernünftig aufeinander abgestimmt werden, wäre die Vorstellung eines kollektiven Subjekts erforderlich, die sich aber unter Voraussetzung der substantiellen Vereinzelung von Subjekten nur widersprüchlich darstellen kann.210 Gerade diese problematische Vorstellung der Vermittlung subjektiven Handelns zum kollektiven ist aber Bedingung der Möglichkeit bürgerlichen Selbstbewußtseins, das technisch die kollektive Distanzierung vom Naturzusammenhang voraussetzt, die in den moralisch zu begründenden allgemeinen Rechtszustand münden soll. Daß die antagonistische Wirklichkeit der Gesellschaft mit der Einheit des vernünftigen Selbstbewußtseins nicht übereinstimmt, bemüht umgekehrt wieder Geschichte: Das Verhältnis von Einheit und Antagonismus soll in einer Fortschrittsgeschichte zu vermitteln sein. Da deren Prinzip aber nicht den wesentlich antagonistischen Subjekten zugeordnet werden kann, kann das Subjekt dieser Geschichte nur ein über den Subjekten agierendes Prinzip der Einheit sein: die wie immer zu begründende Naturordnung.211

210

211

Objektivität befragen. Die Idee der Menschheit mag solche Objektivität haben können, die der wollenden Natur keinesfalls. Es wird im Laufe dieser Untersuchung wiederholt auf die Stellung der Idee zur Objektivität einzugehen sein. – Den Versuch einer methodologischen Verteidigung des Kantischen Geschichtsbegriffs unternimmt Werner Flach, Zu Kants Kultur- und Geschichtsphilosophie, in: Reinhard Hiltscher/André Georgi (Hgg.), Perspektiven der Transzendentalphilosophie im Anschluß an die Philosophie Kants, Freiburg 2002. Allerdings ist weniger die Frage, ob sich in die Geschichte ein Sinn projizieren lasse, sondern eher, um welchen Preis. Diesen Preis benennt Klaus-Michael Kodalle, Die aktuelle Barbarei im Spiegel der Kantischen Erwägungen, in: Ders. (Hg.), Der Vernunftfrieden. Kants Entwurf im Widerstreit, Würzburg 1996, 135: „Die Geschichte ist das Feld, bezüglich dessen sich Kant zu einer Betrachtungsweise durchringt, die Neutralisierung des – auch: moralischen – Subjekts nennen möchte.“ Wenn auch Alberto Burgio darauf besteht, „für Kant leite[] kein Subjekt den guten Verlauf“, sondern es sei der „,Mechanismus der menschlichen Neigungen‘ selbst“, so sind eben auch nicht die Menschen Subjekte des Geschichtsprozesses (Die Zeit für den Krieg, die Zeit für den Frieden. Zur Geschichtsphilosophie von Kants ‚Zum ewigen Frieden‘, in: Volker Bialas/Hans-Jürgen Häßler, 200 Jahre Kants Entwurf ‚Zum ewigen Frieden‘, a.a.O., 58). Vgl. SF, VII 84. Kant ahnt hier die Notwendigkeit der Annahme eines kollektiven Subjekts, ohne sie aber begründen zu können: Das ‚Geschichtszeichen‘, der Hinweis auf die Fähigkeit der Menschen zum geschichtlichen Fortschritt, müßte „die Tendenz des menschlichen Geschlechts im Ganzen, d. i. nicht nach den Individuen betrachtet (denn das würde eine nicht zu beendigende Aufzählung und Berechnung abgeben), sondern wie es in Völkerschaften und Staaten getheilt auf Erden angetroffen wird, beweisen könnte“. Nicht das Verfahren der Berechnung ist tatsächlich das Problem, sondern die Notwendigkeit der Koordination der Einzelwillen unter einem vernünftigen Gesamtwillen. Volker Gerhardt faßt es so: „[D]er Begriff der Geschichte setzt nicht nur eine Lebenseinheit zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft voraus, sondern unterstellt notwendigerweise auch eine Kontinuität zwischen Naturgeschehen und menschlichen Handlungen. Also haben wir die epistemologische Lizenz, von möglichen Übergängen zwischen Natur, Geschichte und der von uns gewollten Zukunft auszugehen.“ (Immanuel Kants Entwurf ‚Zum ewigen Frieden‘, a.a.O. 115)

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Die erste Natur tritt hier für die Konsistenz der zweiten ein, weil diese begrifflich noch nicht bestimmt von jener geschieden ist; ‚gesellschaftliche Naturgesetze‘212 sind in ihrem spezifischen Unterschied zu Naturgesetzen noch nicht erkennbar, solange die Allgemeinheit gesellschaftlichen Handelns nur erst als negative Spekulation, in der Reflexion auf seine reale Partikularität, existiert. Gesellschaftliche Allgemeinheit stellt sich objektiv erst durch die Industrialisierung und die dieser mitfolgende Totalität des Marktprinzips her. Ließe aber ein System der menschlichen Handlungen sich gar nicht bestimmen, so müßte die menschliche Geschichte als ein „kindische[s] Spiel[]“213 der Natur erscheinen. Um die Plausibilität des positiven Anthropomorphismus – der systematischen Absicht der Natur in der Geschichte – zu stützen, stellt Kant dessen Negation ebenso anthropomorph dar, aber pejorativ, als ‚kindisches Spiel‘. Die ganz entgegengesetzte Auffassung der Natur als sinnfrei wäre nicht geeignet, die Widersprüche in der menschlichen Geschichte aufzuheben und zerstörte die Möglichkeit aller Geschichtsmetaphysik. Die Einsetzung eines solchen Übersubjekts ist Bedingung jedes positiven Begriffs von Fortschrittsgeschichte, der deshalb mit der Vermittlung menschlicher Handlungen zugleich deren Menschliches aufhebt, indem die Subjekte der eigenen Interpretation ihres Handelns gemäß gar nicht dessen Subjekte sein können.214 Kants Ausdruck ‚System‘ ist gar nicht zu überschätzen, denn an dieser Stelle wird deutlich, wie nahe Kants Vorstellung vom transzendentalen Ideal bereits an der absoluten Idee liegt. Die menschlichen Handlungen geraten, wie gezeigt, nicht aus moralischer, sondern aus erkenntnistheoretischer Absicht unter den Systematisierungszwang: Gelänge es nicht, die menschlichen Handlungen sinnvoll als eine Zweckordnung zu identifizieren, so wäre auch die Naturteleologie nicht zu halten. Dies ist problematisch, weil die Handlungen das eine Mal als Naturbestandteile angesehen werden und das andere Mal als diffuse Zweckgebilde, also spezifisch menschliche Handlungen, Willensprodukte. Darin spiegelt sich die Problematik der Teleologie, die um eines begrifflichen Zusammenhangs der Natur willen ihr Zwecke imputiert, sie anthropomorphisiert. Dieser Anthropomorphismus ist, wie Kant selbst bemerkt,215 so mißlich wie notwendig

212 213 214

215

Wenn ein Begriff solche Voraussetzungen und Unterstellungen ernötigt, folgt daraus zunächst nicht eine Lizenz, sondern, daß es sich um einen äußerst problematischen Begriff handelt, über dessen Funktion Rechenschaft zu geben wäre. Jene Kontinuität von Handeln und Natur wird unterstellt wegen der offenbaren Diskontinuität innerhalb des Handelns selbst. Die irrationale Assoziation der Handlungen wird substituiert durch einen rationalen Naturzusammenhang, um gegen die Zwecke der Menschen an einem Zweck von Geschichte festhalten zu können; die Kritik jener Zwecke gerät dabei außer Sicht. – Die Stellung der Menschen in der teleologischen Natur ist daher nicht so stark wie Gerhardt sie sieht: „Die innere Zweckmäßigkeit der nach unserer Zwecktätigkeit gedachten Natur macht es unmöglich, daß die Natur in einen Gegensatz zu ihr gerät – vorausgesetzt (das sei hier ausdrücklich wiederholt), der Mensch bleibt ein aus eigener Einsicht tätiges und damit: vernünftiges Wesen.“ Ebda. 119. Ein solches Wesen kann er unter teleologischen Bedingungen gar nicht sein. Vgl. z. B. Karl Marx, Das Kapital, Bd. 1, MEW 23, a.a.O. 89. Idee, VIII 19. So beurteilt dies auch Axel Honneth, Universalismus als moralische Falle? Bedingungen und Grenzen einer Politik der Menschenrechte, in: Matthias Lutz-Bachmann/James Bohman (Hgg.), Frieden durch Recht, a.a.O., 297f. Vgl. KdU, V § 61.

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für die Möglichkeit philosophischer Naturerkenntnis. Der philosophische Systemgedanke erzwingt nicht allein die Annahme eines Anthropomorphismus der Natur, sondern, mit diesem rückwirkend, auch einen Naturalismus des menschlichen Handelns.216 Ein System, das nicht auch Freiheit systematisch integriert, ist erkenntnistheoretisch nicht zu haben. Das schlägt sich in Kants Geschichtsphilosophie nieder und bestimmt sie zur Geschichtsmetaphysik, in der die Möglichkeit der Irrationalität des Handelns nur als in einer höheren Rationalität begründet gedacht werden kann. Was gegenüber der Befürchtung, die Menschen würden in Barbarei versinken müssen, einen gewissen Trost zu bieten scheint, gerät zur Katastrophe des Bewußtseins der Subjekte in der Geschichte. Das Chaos wird im Großen aufgehoben, aber nur, um in den Individuen ganze Zerstörungsarbeit zu leisten. Die Aufgabe von Geschichtsphilosophie ist es nach Kant also, eine mögliche Verbindung der arbiträren, ja chaotischen Details zu einem zweckvollen Gesamttableau zu ermitteln. Den Ansatzpunkt hierfür bietet der in dem Begriff der Geschichte selbst gelegene Zusammenhang von individuellen Handlungen mit politischen Entwicklungen, die alle Menschen betreffen, so daß dasjenige, „was an einzelnen Subjekten verwickelt und regellos in die Augen fällt, an der ganzen Gattung doch als eine stetig fortgehende, obgleich langsame Entwickelung der ursprünglichen Anlagen derselben werde erkannt werden können“217 . Die Handlungen, die im Einzelnen gegen die Natur der Handelnden – die Vernunft – gerichtet zu sein scheinen, könnten naturkonform vorgestellt werden, wenn aus ihrem Zusammenhang ein zum teleologischen Naturzusammenhang passendes Resultat hervorginge; widersprechen die einzelnen Handlungen auch mittelbar der praktischen Vernunft, so wären sie doch vernunftkompatibel, wenn sie auf lange Sicht die Entfaltung praktischer Vernunft beförderten.218 Dieser Vorgang kann aber nicht selbst als vernunftbestimmt vorgestellt werden, da die praktische Vernunft, sollte sie sich hervorbringen, dies unmittelbar täte. Das Subjekt des teleologischen Zusammenhangs menschlicher Handlungen können demzufolge nicht die empirischen Subjekte dieser Handlungen unmittelbar selbst sein. Kant mißtraut den Subjekten sogar soweit, daß er unterstellt, daß ihnen, selbst wenn sie den Zusammenhang kennten, doch an seiner Realisierung „wenig gelegen“219 wäre. Ein transzendentes Gattungssubjekt nimmt Kant ebensowenig an wie eine unmittelbare Determination durch Gott. Es bleibt nur der rationale teleologische Zusammenhang selbst, der sich, weil er notwendig ist, als über das Arbiträre oder Chaotische mächtig erweisen muß. Dieser Zusammenhang erscheine 216

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219

Georg Cavallar, Pax Kantiana, a.a.O., 377ff., versucht, den Gegensatz von Natur und Freiheit in der Kantischen Geschichtsphilosophie mit Hilfe der Auflösung der Dritten Antinomie der reinen Vernunft zu vermitteln. Das kann nicht gelingen, weil die ‚Naturabsicht‘ nicht Natur als kausalen Zusammenhang der Erscheinungen bezeichnet, den Kant in der Dritten Antinomie behandelt, sondern Natur als teleologischen Zusammenhang. Menschliche Willensfreiheit kann mit natürlicher Kausalität zusammen bestehen, aber nicht mit einer übergeordneten Absichtsinstanz, gegen deren Anordnung die Willensakte bloß scheinbar solche sind. Idee, VIII 17. Vgl. Herbert Schnädelbach, Vernunft, Stuttgart 2007, 125f., der feststellt, daß Kant „die Geschichte der Vernunft ebenso wie die allgemeine Geschichte teleologisch auffasst, das heißt als Prozess der Entwicklung ursprünglicher Anlagen, mit dessen endgültigem Abschluss man rechnen kann“. Idee, VIII 17.

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als ‚Plan der Natur‘, als ‚Naturabsicht‘, die den Menschen unbekannt bleibe, der sie aber dennoch unbemerkt folgten, weil die Naturabsicht in ihnen als ihre menschliche Natur verankert sei. Wenn nun Geschichte bloß teleologisch erklärbar ist, sich Teleologie als Vernunftprinzip allen Handelns in der Geschichte erweist, so müssen die Subjekte der Handlungen selbst von dieser Teleologie durchdrungen sein. Sie wird geradezu zur Bedingung der Möglichkeit der Vernunft- und Sinnennatur der Menschen, denn deren erkenntnistheoretische Einheit ist ohne die teleologische Veranlagung gar nicht mehr vorstellbar.220 Darin folgt Kant insgesamt noch Aristoteles, und das Problem setzt sich fort in die spätere Unterscheidung normativer und deskriptiver Ethik. Die Aristotelische Ethik vermag entgegen der herrschenden Auffassung nicht moralisch normativ zu sein, weil sie alle Handlungen für Einzelfälle hält. Sie kann keine allgemeinen Begriffe von Handlungen und Zwecken fassen, weil sowohl der Begriff der Menschheit als auch der der positiven Willensfreiheit noch fehlen. Ethik gelingt unter dieser Voraussetzung nur als Teleologie; da dieses Konzept den Zweck der Ethik selbst, die politisch-rechtliche Zurechnungsfähigkeit der polis-Genossen zu begründen, sabotiert, weicht Aristoteles auf besondere Erkenntnisweisen des Praktischen aus.221 Diese begründen aber ihrerseits keinen wissenschaftlichen Zusammenhang in dem Erkannten. Verbindlichkeit bleibt äußerlich, durch Erziehung und Gesetz begründet, deren Möglichkeit in einem übergeordneten teleologischen Zusammenhang wurzelt. Dieser ist aber schon aus der philosophischen Kontemplation nicht mehr in die politische Praxis übersetzbar, denn jene könne des Zusammenhangs nur in zweckfreier Schau inne werden. Noch bei Kant wird die empirische Diffusion der Handlungszwecke in einen teleologischen Zusammenhang eingebettet, nur daß Kant den avancierten Subjektbegriff, über den er im Unterschied zu Aristoteles nunmehr verfügt, damit auch in die Teleologie einpassen und dadurch ihn beschädigen muß. Kalkulabel, im Sinne des Systems, wird das Subjekt erst als durch die Kalkulation schon beschädigtes. Die Aufnahme der Teleologie in die Philosophie des bürgerlichen Zeitalters ist im Grunde paradox: Sie vertritt die statische Weltvorstellung der Antike und gerät daher mit jedem Begriff von Geschichte, schon dem der Heilsgeschichte, in Kollision. Offenbar fürchtet die aufs Selbstbewußtsein gegründete bürgerliche Philosophie die Diskrepanz von Vernunft und Wirklichkeit so sehr, daß sie den paradoxen Gedanken der 220

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Vgl. Aufklärung, VIII 39: Die „ursprüngliche Bestimmung“ der menschlichen Natur besteht „gerade in diesem Fortschreiten“. Rüdiger Bubner, Geschichtsprozesse und Handlungsnormen, a.a.O., 89, interpretiert Kants Argumentation mit ‚Naturabsicht‘ und ‚Vorsehung‘ als bloße Perspektive auf die ungesellige Geselligkeit, mittels derer die Einzelhandlungen „zum Vehikel der Gesamtentwicklung zu erheben“ seien. Das vermag kein Bewußtsein widerspruchsfrei vorzustellen. Konsequent stellt Bubner fest, das Subjekt könne seine Einheit nur postulieren (vgl. 87). – Vgl. Birgit Recki, Kant als Humanist oder die Antinomie der Individualität, in: Die Vernunft, ihre Natur, ihr Gefühl und der Fortschritt, a.a.O., 87f. Insofern ist die Aristotelische Politik nicht vollständig „von Metaphysik abgekoppelt gewesen“ (Dieter Henrich, Was ist Metaphysik – was Moderne? Zwölf Thesen gegen Jürgen Habermas, in: Konzepte. Essays zur Philosophie in der Zeit, Frankfurt am Main 1987, 40); aber die Verbindung von theoretischer und praktischer Philosophie unter dem Dach der Teleologie überwindet nicht die Differenz der Gegenstandsbereiche in der ihnen je zugeordneten Allgemeinheit. Diese Differenz ist nicht bloß methodisch.

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Teleologie bemüht, um die Wirklichkeit im Rahmen einer rational garantierten Fortschrittsgeschichte mit der Vernunft vermitteln zu können.222 Träte an die Stelle von Teleologie, die bis heute das Fortschrittsdenken bestimmt, das tatsächlich vernünftige Ziel, dessen Realisierung die Menschen bewußt und aus eigener Bestimmung zu ihrem Zweck setzten, so wäre eine notwendige Bedingung erfüllt, um durch vernünftige Kooperation und Arbeitsteilung das Gattungsvermögen der Menschen geschichtlich zu entfalten. Solange die Arbeitsteilung abstrakt durch Marktgesetze vermittelt wird, solange auch die Teilung der sogenannten Kopfarbeit in den Wissenschaften sowie die zwischen Wissenschaft, Politik und Ökonomie, abstrakt bleibt und nicht durch wechselseitige Vermittlung bestimmt wird, solange kann die geschichtliche Vermittlung der Gegensätze nur teleologisch erhofft werden. – Gesellschaftlicher Fortschritt hat indessen eine andere Dynamik angenommen: die der Akkumulation gesellschaftlich produzierter Werte. Deren Fortschritt bedarf keiner metaphysischen Garantie, er setzt seine Bedingungen selbst, indem die Akkumulationsgesetze sowohl die Reproduktion der technischen Voraussetzungen gewährleisten als auch die Aufrechterhaltung der notwendigen gesellschaftlichen Bedingungen. Diese Fortschrittsgarantie vermittelt aber eben nicht Natur und Freiheit, sondern hängt die Handlungsfreiheit an die zur zweiten Natur gewordenen Produktionsverhältnisse an und ahmt so Teleologie nach.223 Die Negation von Teleologie durch kritische Vernunft setzte deshalb die schwierige Emanzipation der Freiheit gegen die Produktionsverhältnisse voraus, durch die sich die Subjekte zunächst gegen ihre materiellen Lebensbedingungen stellen müssen, wenn sie deren bewußte Kontrolle erlangen wollen. Jeder Streik antizipiert unter dem Zweck der Verbesserungen der Reproduktionsbedingungen der Streikenden gleichwohl deren Trennung von diesen Bedingungen. Das widersprüchliche Bewußtsein der Teleologie wäre ohne neuen Widerspruch nicht zu überwinden. Diese praktische Aporie hat der Versuch philosophischer Erklärung von Natur und Freiheit den Menschen zurückgelassen. Kants Begriff der geschichtswirkenden Natur ist nicht dadurch zu entschärfen, daß er als bloße Metapher aufgefaßt würde: „Wenn ich von der Natur sage: sie will, daß dieses oder jenes geschehe, so heißt das nicht soviel als: sie legt uns eine Pflicht auf, es zu thun 222

223

Insofern hat Norbert Herold recht, wenn er darauf hinweist, daß „hinter der teleologischen Konzeption […] das Bedürfnis des freien und vernünftigen Subjekts steht, sich der Grundlagen seines Handelns zu versichern“. (Hoffnung aus der Geschichte?, a.a.O., 201). Allerdings wird die Aporetik der Kantischen Geschichtsphilosophie durch diese Perspektive nicht gemildert. – Die Funktion solcher Motive in der Entwicklung bürgerlichen Geschichtsbewußtseins hat Andreas Urs Sommer umfangreich zusammengestellt in Sinnstiftung durch Geschichte? Zur Entstehung spekulativuniversalistischer Geschichtsphilosophie zwischen Bayle und Kant, Basel 2006. Jürgen Habermas, Kants Idee des ewigen Friedens, a.a.O., 13ff., meint, die antagonistische Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft sei durch den Sozialstaat des 20. Jahrhunderts aufgehoben in einen fortschreitenden gesellschaftlichen Diskurs, dessen Lernfortschritte nun die Politik bestimmten und der deshalb Kants Prinzip der ‚Naturabsicht‘ ersetzen könne, weil im liberalen Staat nun endlich ‚Moral, Recht und Politik“ (17) vermittelt würden. – In neueren Arbeiten, wie bereits erwähnt, bemerkt Habermas gelegentlich, daß es den Kapitalismus doch noch gibt und greift – Kants geschichtsphilosophischer Sprache nicht ganz unähnlich – auf religiöse Überzeugungsformen zurück, von denen er glaubt, sie seien in säkulare übersetzbar. Vgl. z. B. Jürgen Habermas/ Joseph Ratzinger, Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion, Freiburg 2005, 26ff. und 36.

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(denn das kann nur die zwangsfreie praktische Vernunft), sondern sie thut es selbst, wir mögen wollen oder nicht (fata volentem ducunt, nolentem trahunt).“224 Eine Metapher wofür, für welchen Gegenstand möglicher Erfahrung, für welches Vermögen der Freiheit sollte dieser Naturbegriff auch wohl sein? Im Gegenteil bezeichnet er die Verschränkung eines teleologischen Begriffs des Naturganzen mit den menschlichen Subjekten, in deren Wesen, ihrer Natur, dieses sich insofern manifestiert, als die Einzelnen je ihrer Natur nach dem Zwecksystem des Naturganzen integriert sind. Wie sehr Menschen, auch als Willenssubjekte, für Kant Naturgegenstände sind, ergibt sich schon aus seiner Rassenlehre, in der er den Vorschlag, Menschen auf intelligible und sittliche Eigenschaften zu züchten, zurückweist, ohne doch dies für biologisch oder psychologisch ausgeschlossen zu halten: „Ein Anschlag, der meiner Meinung nach an sich selbst zwar thunlich, aber durch die weisere Natur ganz wohl verhindert ist, weil eben in der Vermengung des Bösen mit dem Guten die großen Triebfedern liegen, welche die schlafenden Kräfte der Menschheit in Spiel setzen, und sie nöthigen, alle ihre Talente zu entwickeln und sich der Vollkommenheit ihrer Bestimmung zu nähern.“225 Der Vergleich sittlicher Entwicklung der Eigenschaften der Menschen durch Konkurrenz mit dem Wuchs von Bäumen ist dagegen eine Metapher, aber eine, die den Naturzusammenhang menschlichen Handelns gerade betont: „Allein in einem solchen Gehege, als bürgerliche Vereinigung ist, thun eben dieselben [die wechselseitig auf Zerstörung dringenden; M.St.] Neigungen hernach die beste Wirkung: so wie Bäume in einem Walde eben dadurch, daß ein jeder dem andern Luft und Sonne zu benehmen sucht, einander nöthigen beides über sich zu suchen und dadurch einen schönen geraden Wuchs bekommen; statt daß die, welche in Freiheit und voneinander abgesondert ihre Äste nach Wohlgefallen treiben, krüppelig, schief und krumm wachsen.“226 Die pejorative Beurteilung des krummen Wuchses ist übrigens selbst streng teleologisch gedacht, denn sie ist bedingt durch die Vorstellung der Hinordnung der Bäume auf das Zimmermannshandwerk, auf menschliche Bedürfnisse.227 Das wirft, am Rande, metaphorisch ein Licht auf das Verhältnis von sittlicher Aufrichtigkeit und Selbstzweck der menschlichen Natur im bürgerlichen Gehege. 224

225 226 227

EF, VIII 365. Oft ist darauf hingewiesen worden, daß Kant keine objektive Teleologie vertrete. Vgl. z. B. Johannes Rohbeck: Kant billige „dieser Art Geschichtsteleologie einen lediglich hypothetischen Status zu“ (Technologische Urteilskraft. Zu einer Ethik technischen Handelns, Frankfurt am Main 1993, 79, Anm. 1). Nicht beachtet wurde die Frage, was es für das Subjekt bedeutet, das zur Begründung seiner Freiheit notwendig solcher Hypothesen bedarf. – Oliver Eberl/Peter Niesen, Immanuel Kant. Zum Ewigen Frieden. Kommentar, a.a.O., 270, deuten diesen Satz, den sie nicht vollständig zitieren, eigenartiger Weise so, daß Kant hier die wörtliche Bedeutung des Ausdrucks ‚die Natur will‘ zurückweise. Sicher geht es, wie die Autoren weiter ausführen, Kant darum, die sinnvolle Möglichkeit geschichtlichen Handelns gegen anthropologischen Pessimismus zu verteidigen; aber diese Verteidigung hebt, indem sie gelingt, ihren Gegenstand zugleich auf. Rassen, II 431. Idee, VIII 22. So wurde die Buchenart der Süntelbuche nicht bloß als ‚Hexenholz‘ verteufelt, sondern geradezu ausgerottet, weil der krumme und mit Reisern übersäte Wuchs das Holz weder für handwerkliche Zwecke noch auch nur als Feuerholz tauglich machte. – Konsequenzen in Richtung einer selbst, unabhängig von den Menschen, evaluativen oder normativen Qualität der Natur sollen hier aber nicht gezogen werden. Vgl. dagegen Angela Kallhoff, Prinzipien der Pflanzenethik. Die Bewertung pflanzlichen Lebens in Biologie und Philosophie, Frankfurt am Main 2000.

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Die Absicht der Natur sei die Entfaltung der natürlichen Anlagen, so auch im Menschen, wo dies vor allem die Vernunft ist. Diese individuell voll zu entfalten, scheitert für Kant schon an der begrenzten Lebenszeit der Einzelnen im Verhältnis zur Unendlichkeit der Vernunftgegenstände, denn Unendlichkeit faßt Kant noch stets als schlechte Unendlichkeit eines Progresses; Hegels qualitativer Begriff der Unendlichkeit eröffnet der Vernunft erst ihr eigentümliches Gebiet und verwandelt dann auch Naturteleologie in Teleologie des Geistes.228 Für Kant weisen die Hilfsmittel der Tradierung und Akkumulation von Wissen, die immer unzureichend vage bleiben,229 auf die Entfaltung der menschlichen Naturanlagen in der Gattungsgeschichte. Dabei bleibt aber das Ziel der Geschichte eine metaphysische Vorstellung abgeschlossener Totalität der Vernunft. Eine kooperative Erweiterung der Wissenschaft über die subjektive Grenze hinaus mit dem Ziel gesellschaftlicher Verfügung über Wissen gerät deshalb nicht in den Blick, weil Vernunftgeschichte als Naturgeschichte aufgefaßt wird. Die Vernunftbegabung selbst gilt als Werk der zweckvoll planenden Natur, woraus Kant schließt, daß diese zur Absicht habe, der Mensch solle sich alles, was über die kausal bestimmte Physiologie, für die er nicht verantwortlich sein kann, hinausgehe, aus eigener Kraft erwerben, denn sonst bedürfte er der Vernunft nicht. Die Bande der Natur schlingen sich enger: Ohne Vernunft wären die Menschen bloße Naturwesen, kausal bestimmt; ihre Vernunftbegabung erhebe sie aber nicht über den Status des Naturwesens, sondern weise an ihnen gerade eine besondere Absicht der Natur aus. Damit ist die Natur zwar an ein Gesetz gebunden – nämlich nichts ohne Grund zu tun – da sie sonst nicht intelligibel wäre; aber sie wird zum gleichsam autonomen Subjekt, das Absichten verwirklicht, die es nicht notwendig hätte verwirklichen müssen. Die Natur erscheint als Übersubjekt, das „den Hang und Beruf zum freien Denken, ausgewickelt“230 und den Menschen dadurch aus „Entschließung“231 Subjektivität verliehen hat. Kants Naturvorstellung führt auf die Hypostase, auf die jedes metaphysische System letztlich sich gründen muß. Die Natur erhält die Form Gottes, der gemäß der potestas absoluta Zwecke frei setzen kann, als potestas ordinata aber an die Rationalität dieser Zweckordnung gebunden bleibt. Hinsichtlich der menschlichen Natur wird der teleologische Naturzusammenhang zudem zum deus absconditus, denn „die Quellen der Ungeselligkeit und des durchgängigen Widerstandes, woraus so viele Übel entspringen, die aber doch auch wieder zur neuen Anspannung der Kräfte, mithin zu mehrerer 228

229

230 231

Vgl. hierzu G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik, Erster Band: Die objektive Logik. Erstes Buch: Die Lehre vom Sein, GW 21, Hamburg 1984, den Abschnitt: Das Dasein, C. Die Unendlichkeit, sowie dens., dass., Zweiter Band: Die subjektive Logik oder die Lehre vom Begriff , GW 12, Hamburg 1981, die Abschnitte: Der Mechanismus; Der Chemismus; Teleologie; Die Idee. Die Aufhebung der Endlichkeit der physischen Natur in deren teleologischem Begriff führt vermittels des reflexiven Zweckbegriffs des Lebens zur Idee. Vgl. Anfang, VIII 117 Anm. Zur Notwendigkeit und Problematik der Wissenstradition und deren Aneignung für den akkumulativen Erkenntnisbegriff vgl. Oliver Robert Scholz, Autonomie angesichts epistemischer Abhängigkeit. Kant über das Zeugnis anderer, in: Volker Gerhardt/Rolf-Peter Horstmann/Ralph Schumacher, Kant und die Berliner Aufklärung. Akten des IX. Internationalen Kant-Kongresses, Berlin 2001, Bd. II. Aufklärung, VIII 41. Anfang, VIII 117 Anm.

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Entwickelung der Naturanlagen antreiben, verrathen also wohl die Anordnung eines weisen Schöpfers“232 : Dieser Schluß ist nun nicht der von einem erkennbar weisen Zusammenhang auf seinen weisen Urheber, sondern der von einem ganz aberwitzigen Aggregat auf die Weisheit des Urhebers als unbegreifliches Prinzip. Vermittelt wird dieser Schluß allein durch die Voraussetzung, daß der menschliche Irrsinn einen höheren, naturteleologischen, Sinn haben müsse; der Naturbegriff ist petitio principii, das erkenntnistheoretische Ausgangsproblem ist umgeschlagen in eine Religion „der Natur – oder besser der Vorsehung“233 ; einzig ist „[d]er Gebrauch des Worts Natur […], wenn es wie hier bloß um Theorie (nicht um Religion) zu thun ist, schicklicher für die Schranken der menschlichen Vernunft“234 , der Sache nach aber ist das Ideal einer kollektiven Einheit des Naturganzen von der religiösen Idee der Vorsehung nicht verschieden.235 Von dieser seien die Menschen nun deshalb stiefmütterlich ausgestattet, damit sie sich alle Kultur und Zivilisation – von der Nahrung über Kleidung, Verteidigung und Annehmlichkeiten bis hin zur Erkenntnis und Moral – selbst erwerben können. Daß der Mensch als ‚Zweck der ganzen Natur‘236 so wenig zweckmäßig ausgerüstet sei, lasse vermuten, die Natur habe ihn als Selbstzweck produziert, der seines Wohllebens allein würdig wäre, wenn er es sich selbst zu verdanken habe. Kant verschränkt hier die Entfaltung der Vernunft, die Ziel der Natur sei, mit der Entfaltung der Bedingungen von Vernunftentfaltung, allerdings ohne daß die Produktion dieser Bedingungen selbst als Ausdruck praktischer Vernunft gedacht würde, denn die entwickele sich erst anschließend, und sie entwickele sich sogar nur dann selbständig, wenn ihr dafür die schlechtest möglichen Bedingungen geboten würden; sonst hätte sie es in den Augen der Vorsehung zu leicht und wäre ihrer selbst am Ende unwürdig. Ja selbst, daß Autonomie allein durch Heteronomie verwirklicht werden könne und daß die Menschen sich nur unter Beschränkungen ihrer Freiheit frei entwickeln können – sonst blieben sie faul wie die Chinesen237 –, sei ein Moment

232 233 234 235

236 237

Idee, VIII 22. Vgl. Anfang, VIII 119. Idee, VIII 30. EF, VIII 362; vgl. 361, wo zudem von ‚Schicksal‘ die Rede ist. Vgl. Andreas Urs Sommer, Sinnstiftung durch Geschichte?, a.a.O., 313: „An Gewicht und Gehalt des Postulats ändert die Selbstbescheidung im Sprachgebrauch wenig.“ Wenn Sommer anschließend die Reduktion der Vorsehung auf „einen Entwurf der Vernunft“ hervorhebt, so bleibt dabei die Verbindung mit dem erkenntnistheoretisch-naturphilosophischen Problem des Naturganzen außer acht. – Wolfgang Kersting spricht von einem „Zwitter aus Vorhersehung und Natur“, einer „geschichtsphilosophischen Konstruktion, die keinerlei theoretische Ansprüche erheben kann“ (Kant und die politische Philosophie der Gegenwart, in: Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie, Frankfurt am Main 1993, 86). – Georg Cavallar, Pax Kantiana, a.a.O., 297ff. verweist auf Interpretationen, die Kant als Protagonisten der Säkularisierung von Philosophie darstellen: Harry van der Linden, Kantian Ethics and Socialism, Indianapolis 1988; Yirmiyahu Yovel, Kant and the Philosophy of History, Princeton 1989; Lewis White Beck, What have we learned from Kant?, in: Allen W. Wood (Hg.), Self and Nature in Kant’s Philosophy, Ithaca 1984. Dagegen möchte Cavallar „den theologischen Kant mit Blick auf die Geschichtsphilosophie […] rehabilitieren“ (298). Genauer wäre wohl zu sagen, es ist auf die Funktion der Theologie für Kants Geschichtsbegriff aufmerksam zu machen, um diesen angemessen zu kritisieren. Vgl. Anfang, VIII 114. Vgl. Anfang, VIII 121.

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der Naturgabe der Würde.238 Diejenigen, die in den Genuß der Würde als auch des Wohllebens und der entfalteten Vernunft geraten, werden nun unmöglich jene sein, die durch von Generation zu Generation vererbtes Leid und Mühsal der menschlichen Gattung diesen Schatz akkumuliert haben. Daraus ergibt sich ein gattungsgeschichtliches Problem. Selbst unter dem metaphysischen Gesichtspunkt, daß die Gattung als solche die Totalität der Vernunft und deren Bedingungen akkumuliere, wäre nicht die Gattung Nutznießer des Resultats, sondern allein Individuen; die vergangenen Individuen sind unwiederbringlich vergangen und die nachfolgenden sind nicht die Gattung. Kant nennt diese problematische Spaltung des Gattungsbegriffs immerhin ‚befremdend‘239 , doch sei sie notwendig, wenn eine Gattung überhaupt Vernunft entfalten solle, denn dies gelinge nur in der Zeit. Schon Dante hatte ein derartiges Akkumulationsmodell der Gattungsgeschichte vertreten, indem er die Vollständigkeit der menschlichen Entfaltung in der kontinuierlichen Akkumulation von Wissen durch die Gattung verstand.240 Allerdings sieht Dante in diesem Prozeß ein radikales Ziel in der Zeit, nämlich die politische Einrichtung des Weltreiches, an dessen Spitze der monarcha steht. Dessen Position ist legitimiert durch seine Interessenlosigkeit, die daher rührt, daß er formell alles besitzt und deswegen nicht aus Begierden heraus gemeinschädliche Entscheidungen treffen kann. Darin liegt im Kern die Vorstellung, daß über den gesellschaftlichen Reichtum auch gesellschaftlich zu verfügen sei, die es erst ermöglicht, diesen zum allgemeinen Nutzen zu verwalten und durch eine einzig im Gemeininteresse liegende Kooperation und Arbeitsteilung zu reproduzieren. Die Überwindung der Begierden gelingt damit bei Dante durch die vernünftige Organisation ihrer verfügbaren Gegenstände. Diese wird durch geschichtliche Wissensakkumulation verbessert. Dadurch kann nicht das problematische Verhältnis der Generationen zueinander aufgehoben werden, aber es wird auch nicht einfach affirmiert, sondern in einem geschichtlichen Prozeß bestimmt, der nicht die Perpetuierung des antagonistischen Zustandes darstellt, sondern seine Behebung. Wenn Kant dagegen schreibt, das Generationenverhältnis bleibe immer befremdend, dann nicht allein deshalb, weil keine Teleologie dem einen tieferen Sinn verleiht, sondern vor allem, weil Kant die historische Verknüpfung von Aufopferung der Früheren und Genuß durch die Späteren für eine logische Konstante der Geschichte hält.241 Sollte Geschichte ein rationales Ziel haben, wäre es das, diese Konstanz zu brechen durch gemeinschaftliche Reproduktion und gesellschaftliche Naturbeherrschung. Das Gesamtsubjekt des Fortschritts wäre dann insofern auch Subjekt des Genusses, als die späteren Fortschritte, wie groß sie auch seien, gegen die Lebensweise der Früheren eine graduelle Differenz bedeuteten, nicht aber die substantielle von Aufopferung und Genuß überhaupt, mit der Kant kalkuliert, weil er den Irrsinn der Geschichte metaphysisch als Ausdruck einer Naturabsicht interpretiert und nicht als Aggregat 238 239 240 241

Vgl. Aufklärung, VIII 41. Vgl. Idee, VIII 20. Vgl. Dante Alighieri, Monarchia, Stuttgart 1989, 61. Die so gedachte Auffassung des Generationenverhältnisses ist nicht dadurch zu schlichten, daß „hier nicht von einer bewussten Instrumentalisierung einer Generation durch eine andere gesprochen werden kann“ (Michael Pauen, Zur Rolle des Individuums in Kants Geschichtsphilosophie, a.a.O., 41); es findet eben auch keine bewußte Aufhebung der faktischen Instrumentalisierung statt.

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menschlicher Werke, die in kein System gehören, aber dafür korrigierbar und, soweit fehlerhaft, fürderhin vermeidbar sind. Der Antagonismus, als Einheitsprinzip der Gattungsgeschichte zugleich Ausdruck des bedrängten Subjekts, wird schließlich zum teleologischen Wesen, „dessen sich die Natur bedient, die Entwickelung aller ihrer Anlagen zu Stande zu bringen“242 . Der Antagonismus eines Vergesellschaftungstriebes und eines Gesellschaftszerstörungstriebes in den einzelnen Menschen bewirke auf lange Sicht die gesetzmäßige Ordnung der Gesellschaft. Vor solchen Ordnungen ist immer Vorsicht geboten, besonders dann, wenn Philosophen die Unordnung, Zerstörung von Ordnung, selbst zum Ordnungsprinzip erheben. Über diesen Weg wird die Unordnung auf eine begriffliche Einheit gebracht, die sie als rationale Ordnung erscheinen läßt. Darin entspricht diese Vorstellung der Erklärung der modernen Gesellschaft, in der sich die Anarchie des Marktes als blindwirkendes Durchschnittsgesetz durch die Konkurrenz der einzelnen Gesellschaftssubjekte entwickele.243 Der resultierende Gesellschaftszustand ist aber nicht die Aufhebung der zerstörerischen Kräfte, sondern deren Kanalisierung und Fixierung. Das Gesetzlose wird zum Gesetz. Kant bezeichnet diesen Widerspruch als Paradoxie: „So zeigt sich hier ein befremdlicher, nicht erwarteter Gang menschlicher Dinge; so wie auch sonst, wenn man ihn im Großen betrachtet, darin fast alles paradox ist. Ein größerer Grad bürgerlicher Freiheit scheint der Freiheit des Geistes des Volkes vortheilhaft und setzt ihr doch unübersteigliche Schranken; ein Grad weniger von jener verschafft hingegen diesem Raum, sich nach allen seinen Vermögen auszubreiten.“244 Für den Antagonismus ist diese Stelle deshalb einschlägig, weil Kant hier vertritt, zur Autonomie sei allein durch – nicht etwa gegen – Heteronomie zu gelangen, zur Entwicklung der sittlichen menschlichen Natur nur durch die ihr entgegenwirkenden Kräfte. In der Formulierung ‚im Gang menschlicher Dinge ist fast alles paradox‘ fungiert das ‚ist‘ nicht als logische copula, sondern als Seinsprädikat. Der Geschichte wird eine eigene ontologische Natur zugesprochen, die ihr Korrelat in den Subjekten habe, die sie exekutieren: „Hiezu [zum Antagonismus] liegt die Anlage offenbar in der menschlichen Natur.“245 ‚Offenbar‘ ist dies allein unter Voraussetzung der erkenntnistheoretisch erschlichenen Totalität. Es gibt keine Begründung dafür außer empirischen Beobachtungen der politischen Geschichte, die Kant andernorts zutreffend als des Philosophen ‚unwürdig‘ bezeichnet hatte.246 Schon bei Hobbes fällt auf, daß seine Vorstellung vom menschlichen Wesen, vergleicht man sie mit den Vorstellungen, die sich das Mittelalter und die Antike davon gemacht hatten, durch die Erfahrung neuzeitlicher ökonomischer Charaktere nicht bloß gezeichnet ist, sondern daß es diese Erfahrung in der Gestalt theoretischer – das heißt notwendiger und allgemeiner – Sätze weitgehend reproduziert. Die klassische Metaphysik, die von Ideologemen keineswegs frei war, hatte dagegen die menschliche Substanz in den intellektuellen Fähigkeiten der Menschen gesehen, die, wenn sie 242 243 244 245 246

Idee, VIII 20. Vgl. Karl Marx, Kapital I, MEW 23, a.a.O., 117. Aufklärung, VIII 41. Idee, VIII 20. Vgl. KrV, B 373.

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zur Entfaltung kämen, die Menschen über ihre empirischen Schranken zu erheben vermöchten.247 Die Intelligenz wird nun bei Hobbes gerade zu der Eigenschaft, die es sogar den Schwächeren erlaubte, die Stärkeren zu töten.248 Die durch den Intellekt bewirkte Chancengleichheit steht bei Hobbes im Dienst jener Gemütsbewegungen, die sich alle auf „das Verlangen nach Macht, reduzieren“249 ließen; diese Mischung als Katalysator wandelt Gleichheit dann zwingend in Konkurrenz und Feindschaft um.250 Vorausgesetzt ist zudem die Inkosequenz, daß Hobbes zunächst erkenntnistheoretisch die Gültigkeit allgemeiner Begriffe rundweg leugnet,251 mit Selbstverständlichkeit aber allgemeine Urteile formuliert. So trägt er empirische Beobachtungen in zwingender Form vor, ohne sich zur Kritik durch vorausgesetzte Begriffe verpflichtet zu fühlen. Kant gelangt zu einem anderen Begriff vom Menschen, indem er die Hobbesische Vorstellung, die er durchaus affirmativ rezipiert, mit der in vielen Momenten diametral entgegengesetzten Rousseaus verbindet, wonach die Menschen von Natur aus weder gut noch böse seien, durch gesellschaftliche Veranstaltung aber sicher deformiert würden.252 Für Kant nun verbindet sich beides so, daß gerade die ‚böse‘ ordnungsfeindliche Eigenschaft der Menschen auf lange Sicht das ‚Gute‘, die Ordnung, hervorbringe. Die Paradoxie der Geschichte, in der das Chaos selbst zum Ordnungsprinzip geworden ist, wird so den Subjekten selbst als ihre eigene Natur imputiert. Dieser Schritt ist in der nominalistischen Wende zur Neuzeit schon angelegt. Indem Gott, nun Willkürsubjekt, die Verantwortung für eine rational identische Weltordnung entzogen wird, beginnt die Subjektivität der menschlichen Subjekte, seine Stelle einzunehmen. Der Griff des ordo naturae, der auch alle menschlichen Handlungen umfaßte, 247

248 249 250 251 252

Eine Ausnahme mögen die Sophisten bilden, die eine durchaus ambivalente – und zwischen den Autoren uneinheitliche – Vorstellung vom Menschen vertraten. – Mit Blick auf die Entwicklung der frühneuzeitlichen Vorstellung vom Menschen bei Hobbes, Spinoza und Locke schreibt Ludwig Siep, Machtzerfall, Delegitimierung und Widerstandsrecht in der politischen Philosophie der frühen Neuzeit, unveröff. Ms. 2008: „Machiavelli war der erste, der unter den Erfahrungen der Zusammenbrüche traditioneller Herrschaftsgebilde und der Eroberung oft nur kurzlebiger neuer die klassische politische Philosophie des weltfremden Idealismus bezichtigte.“ Die daraus bezogene politische Anthropologie ist aber auch eine ökonomische, denn die Veränderung der Herrschaftsformen steht im Zusammenhang der Auflösung lehensrechtlicher Beziehungen, die zentral das Grundeigentum betreffen, und die Individualisierung und Personalisierung der Menschen steht im Zusammenhang ihrer Funktion als Vertragspartner. – Vgl. auch Ludwig Siep, Der Streit um die wahren politischen Tugenden in der italienischen Renaissance, in: Barbara Stollberg-Rilinger/ Thomas Weller (Hgg.), Wertekonflikte – Deutungskonflikte, Münster 2007, 150f. Vgl. Thomas Hobbes, Leviathan, Darmstadt o.J., Kapitel XIII. Thomas Hobbes, Leviathan, a.a.O., 60. Vgl. Thomas Hobbes, Leviathan, a.a.O., Kapitel XIII. Vgl. Thomas Hobbes, Leviathan, a.a.O., z. B. Kapitel III. Vgl. z. B. Jean-Jacques Rousseau, Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, in: Kulturkritische und politische Schriften, Bd. 1, Berlin 1989, Erster Teil; und: Dens., Emil oder Über die Erziehung, Paderborn 1971, 1. Buch. – Günther Buck hat angemerkt, daß Hobbes und Rousseau sich in einer Hinsicht einig sind: Die Selbstbestimmung der Menschen führe auf den Widerspruch, daß „Selbstbeziehung und Heteronomie eines sind“ (Selbsterhaltung und Historizität, in: Hans Ebeling (Hg.), Subjektivität und Selbsterhaltung, a.a.O., 256f.). Den Subjekten entgleite auf dem Höhepunkt ihres Bewußtseins von Geschichtsmächtigkeit eben diese.

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lockert sich, die Menschen treten als Subjekte in ihre Geschichte ein. Die neuzeitliche politische Theorie hat aber neben der Negation der göttlichen Garantie des Weltlaufs nicht auch die Negation der damit verbundenen Hierarchievorstellungen geleistet. Die Ordnung der Welt, wie sie erschien, war nicht mehr Ausdruck göttlichen Intellekts und göttlicher Macht; das konnte sie schon wegen der Individualisierung und des Verfalls der politischen Macht des Papsttums und anderer politischer Institutionen gegenüber dem erstarkenden Handelskapital und seiner nationalen und regionalen Interessenvertreter, nicht mehr sein. Aber die Vorstellung der vernünftigen Ordnung blieb, der Gedanke des zweckvollen Handelns der Einzelnen setzte weiterhin einen Zusammenhang voraus. Der Grund der Ordnung aber wurde nun in der Natur der einzelnen menschlichen Subjekte selbst gesucht. Die Hobbesische Rechtsontologie ist ein markanter Ausdruck dieser Entwicklung, die aber in der frühen Rechtsphilosophie verbreitet ist. Nie geriet die Ordnung – abgesehen von utopischen Entwürfen – selbst in eine Kritik vergleichbarer Schärfe, wie sie zur Beseitigung des Vernunftprinzips ‚Gott‘ nötig gewesen war; im Gegenteil: „Die Natur selbst kann nicht irren“253 . Dieser Satz, der deswegen banal erscheint, weil eine Kritik an der Natur in der Tat absurd wäre, zeigt aber darüber hinaus ein affirmatives Verständnis einer natürlichen Ordnung des menschlichen Wesens und der Menschen untereinander an. Die spätere Naturrechtslehre hat die Menschen in Schutz nehmen wollen gegen die zerstörerischen Kräfte, die von der bürgerlichen Gesellschaft freigesetzt werden, aber doch vorwiegend, um die Menschen als Rechtssubjekte genau dieser Ordnung zu erhalten. In dieser Tradition steht Kants Formulierung, daß der Mensch „in sich zugleich die ungesellige Eigenschaft antrifft, alles bloß nach seinem Sinne richten zu wollen, und daher allerwärts Widerstand erwartet, so wie er von sich selbst weiß, daß er seinerseits zum Widerstande gegen andere geneigt ist“254 . Diese Formulierung ist ein echter Wolf im Schafspelz, denn die Erwartung von allseitigem Widerstand und die eigene Neigung zu solchem sind Kennzeichen wilder Tiere, deren Verhältnis als bellum omnes contra omnium zu bezeichnen bereits eine anthropomorphistische Verharmlosung wäre. Die Widerstandsgelüste nun seien es, durch die der Mensch die Faulheit überwinde. Die Leidenschaften Ehrsucht, Herrschsucht und Habsucht trieben die Konkurrenz an, die zunächst zum gesellschaftlichen Grund des Wohlergehens der Einzelnen werde, die einander nicht leiden, aber voneinander auch nicht lassen könnten, weil sie sich im Beisammensein mit ihren unleidlichen Widersachern doch „mehr als Mensch“255 fühlten. Tatsächlich können sie voneinander nicht lassen, weil sie allein sich nicht erweitert reproduzieren könnten und hinter den Stand ihrer menschlichen Entfaltung zurückfielen; daß sie sich nicht leiden können, soweit dies gesellschaftliche und nicht persönliche Gründe hat, liegt nicht in der notwendig antagonistischen Beschaffenheit der Menschen, auch nicht an der gesellschaftlichen Form der Reproduktion als solcher, sondern es liegt an der spezifischen Organisationsform der gesellschaftlichen Reproduktion, die von Menschen antagonistisch gestaltet wurde und gerade deshalb keineswegs notwendig ist.

253 254 255

Thomas Hobbes, Leviathan, a.a.O., 28. Idee, VIII 21. Idee, VIII 20.

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Kultur und Zivilisation seien nun Resultate der ‚ungeselligen Geselligkeit‘, ja „[a]lle Cultur und Kunst, welche die Menschheit ziert, die schönste gesellschaftliche Ordnung sind Früchte der Ungeselligkeit, die durch sich selbst genöthigt wird, sich zu discipliniren und so durch abgedrungene Kunst die Keime der Natur vollständig zu entwickeln“256 . Jeder, der unter Konkurrenzbedingungen wissenschaftlich oder künstlerisch gearbeitet hat, kann wissen, daß unter diesen Bedingungen nur das entsteht, was trotz ihnen möglich ist; durch sie wird ausschließlich Potential vernichtet. Auch ökonomisch ist Konkurrenz das ineffizientere Prinzip gegenüber der Kooperation, denn der Konkurrierende jagt dem Konkurrenten einen Teil von dessen Anteil am Geschäft ab. Ruiniert er ihn, bleibt ein Restanteil unverwirklicht. Die Kooperierenden verwirklichen nicht allein beide Anteile, sondern ein surplus, das aus der vereinigten Kraftanwendung resultiert. Daß die Konkurrenz das Geschäft belebe, kann nicht viel mehr heißen, als daß die Menschen sich der Arbeitsmühe nicht aussetzten, wo sie nicht mit der Vernichtung ihrer Existenz bedroht seien. Diese gesellschaftlich erzeugte Existenzangst, die den Intellekt erstickt, mag zur Bewegung der Körperkräfte anstacheln; notwendig ist dies aber nur unter Bedingungen, die es den Menschen unmöglich machen, die Zwecke ihrer Arbeit als ihre eigenen anzusehen, weil diese Zwecke unter ihnen unverfügbaren Bedingungen stehen. Die Gültigkeit dieser Bedingungen ist eine sublimierte Form von Heteronomie, wenn Heteronomie im Prinzip das bezeichnet, was das Handeln unter Zwecke bringt, die dem Handelnden nicht verfügbar sind.257 Die Behauptung der Notwendigkeit der Konkurrenz zur Entfaltung gesellschaftlicher Kräfte läuft auf jene hinaus, daß in einer gewaltsamen Ordnung Gewalt erforderlich sei. Solange nun die Ordnung nicht adäquat begrifflich durchdrungen werden kann, führt ihre begriffliche Analyse zwangsläufig auf ihre affirmative Reproduktion im Begriff. Die bürgerliche Ordnung, die Kant vorfand, war eine noch agrarisch fundierte, im wesentlichen über Wucher- und Handelskapital vergesellschaftete Ordnung. Ihr allgemeines Wesen offenbarte sie erst mit der Durchsetzung des industriellen Kapitals, die Kant nicht mehr erlebte. Vorher konnte die Kritik an David Ricardo, Adam Smith und anderen nicht systematisch geleistet werden. – Darin, daß die Analyse des gesellschaftlichen Reichtums nur in der Kritik von dessen frühbürgerlichen Erklärungsversuchen darzustellen war, nimmt das Denken zugleich eine andere Stellung zur Objektivität an: Die gleichwohl auf systematische Vollständigkeit des Arguments angelegte Marxische Kritik der politischen Ökonomie kann nicht mehr als systemhafte Konstruktion von Gesellschaft und Geschichte auftreten. Sie wird ihres Gegenstandes qua Vernunft nur inne, indem sie durch Darlegung des Unvernünftigen an ihnen sich zugleich von ihm distanziert und die Möglichkeit von Vermittlung allein in gesellschaftlicher Praxis sieht.258 Aber erst auf der Grundlage entwickelter Vergesellschaftung werden deren fortschrittshemmende Wir256 257

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Idee, VIII 22. Daraus, daß geschichtliche Ambitionen erfahrungsgemäß scheitern können, hat Dieter Henrich die Konsequenz gezogen, Geschichte sei „unverfügbar es [das Geschehen; M.St.] selbst“ (Selbsterhaltung und Geschichtlichkeit, in: Hans Ebeling (Hg.), Subjektivität und Selbsterhaltung, a.a.O., 313), obwohl er zuvor den modernen Geschichtsbegriff von der Heilsgeschichte und vom Schicksal abgrenzt. Der geläufige ‚Historismus‘-Vorwurf, der seit Karl R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. 2, Tübingen 1992, nicht auszuräumen scheint, trifft die Marxische Konzeption nicht,

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kungen theoretisch beschreibbar. – Kant ging es darum, divergente Beobachtungen – den Fortschritt in Wissenschaft und Technik einerseits, die Feindseligkeit der Menschen andererseits – in einer Erklärung miteinander zu verbinden. Menschliche Zivilisation und Kultur, und zwar ausnahmslos, gelten so als Produkte pathogener Naturgeschichte, und diese Vorstellung, wegen ihrer Ausnahmslosigkeit, sei nicht allein eine Spekulation über die Möglichkeit des Übergangs vom Tier zum Menschen, womit Kant den Aufsatz über den Mutmaßlichen Anfang der Menschengeschichte beginnt, sondern sie gibt sich als Bestimmung aller gesellschaftlichen Geschichte, bis auf den heutigen Tag.259 Schließlich soll jene pathogene Naturgeschichte – die als solche nicht-moralisch, als Geschichte von Menschen aber durchaus unmoralisch ist – auch die Moralität selbst hervorbringen, ja ohne das antagonistische Naturwesen der Menschen „würden alle vortreffliche Naturanlagen in der Menschheit ewig unentwickelt schlummern“260 . Das aber hieße, die Menschen „würden das Leere der Schöpfung in Ansehung ihres Zwecks, als vernünftige Natur, nicht ausfüllen“261 . Ein Kreis schließt sich. Aus der erkenntnistheoretischen Notwendigkeit des teleologischen Naturganzen wurde auf den Sinn der menschlichen Unvernunft in einer höheren Vorsehung geschlossen. Die so begründete Unvernunft wird nun ihrerseits als Grund der Vernunftentwicklung selbst aufgefaßt. In dieser Vernunft beweise sich das Ordnungspotential der antagonistischen Natur vom Resultat aus. Der Begründungsgang dreht sich um den Begriff der intelligiblen Naturordnung. Die Ordnung des Handelns, die an sich in der teleologischen Natur der Menschen lag, soll für sich menschliche Ordnung werden und so die Lücke der Naturordnung zuverlässig schließen. Die Begründung der menschlichen Ordnung für sich, die erst mit der Moralisierung abgeschlossen wäre, beginne mit der „Erreichung einer allgemein das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft“262 . Nur in dieser sei die vollständige Entwicklung der menschlichen Anlagen gewährleistet, weil das bürgerliche Recht das Zerstörungspotential der antagonistischen Natur kanalisiere, indem es „die größte Freiheit, mithin einen durchgängigen Antagonismus ihrer Glieder und doch die genauste

259

260 261 262

sondern allein die des sogenannten Marxismus. Die problematische Stelle bei Karl Marx, Das Kapital, Bd. 1, MEW 23, a.a.O., Kapitel 24.7, in der von einer geschichtlichen Naturnotwendigkeit der Negation der Negation die Rede ist, steht quer zu der historischen Argumentation von Marx selbst im Rest dieses Kapitels. Vgl. auch EF, VIII 363ff. Hierin ist die Notwendigkeit eines kritischen, an Technik und Gesellschaft reflektierten, aber nicht gegen sie abgegrenzten, Naturbegriffs angesprochen, der im Zusammenhang der Kritik der Urteilskraft zu erörtern sein wird. Vgl. zu diesem Problem Peter Euler, Technologie und Urteilskraft, a.a.O., 13: „Insgesamt aber ist der Umstand des wachsenden Leidens der Menschen bei gleichzeitiger Vermehrung der technologischen Möglichkeiten, dieses Leiden längst zu minimieren, wenn nicht überflüssig zu machen, fundamentaler Anlaß und Grund meiner Fortschreibung von Kritik“. Der dargestellte Gegensatz tritt bereits bei Kant, zwar nicht als technologischer, aber in der Form hervor, zivilisatorischen Fortschritt und moralische Stagnation zu vermitteln. Euler faßt diesen Zusammenhang in der Tradition der Darmstädter kritischen Pädagogik und darüber hinaus unter einem erweiterten Bildungsbegriff, der die Entfaltung des Bewußtseins und die Gestaltung der Welt als seine Momente umfaßt. Idee, VIII 21. Idee, VIII 21. Idee, VIII 22.

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Bestimmung und Sicherung der Grenzen dieser Freiheit hat“263 . Der Begriff der Freiheit hat hier vor allem das Merkmal, den Antagonismus, das Widerstandsstreben der Einzelnen gewähren zu lassen; keineswegs ist diese Freiheit vernünftige Allgemeinheit, rationale Kooperation der Subjekte, denn diese wird ausdrücklich erst durch den Zwang des Rechts zuverlässig bewirkt. Insofern das Widerstandsstreben ein Naturbedürfnis darstelle, ist dieser Freiheitsbegriff ganz pathologisch bestimmt. Die Brechung dieses Widerstands, der Naturgewalt, seine Ermäßigung auf ein sozialverträgliches Maß durch selbst „unwiderstehliche[] Gewalt“264 , ein Verhältnis von explizit pathogenen Gewalten mithin,265 soll, als triftige Konsequenz einer naturgeschichtlich angelegten Rechts- und Moralgeschichte, die „vollkommen gerechte bürgerliche Verfassung, die höchste Aufgabe der Natur für die Menschengattung“266 darstellen. Insofern diese Ordnung eine Gewaltordnung ist, ist sie Herrschaft. Insofern die Menschen Natur sind, deren Gewalt gebrochen werden müsse, sei Herrschaft notwendig, denn „der Mensch ist ein Thier [und] […] mißbraucht gewiß seine Freiheit in Ansehung anderer Seinesgleichen“267 . Auch dieses sei nicht mit dem Übergang vom Tierreich zur menschlichen Gesellschaft aufgehoben. Selbst derjenige, der die Notwendigkeit rechtlicher Ordnung von Freiheit einsehe, wolle ebenso notwendig, und zwar „immer“268 , sich selbst davon ausnehmen. Er wäre einzig dadurch dem Allgemeinen unterworfen, daß ein Herr seinen Willen bräche. Die Figur der Autonomie durch Heteronomie, die sich auch hier wiederholt, reflektiert das Problem der chaotischen Erfahrung von Geschichte, das unter moraltheoretischem Aspekt, unter dem avancierten Begriff von Freiheit, als nicht faßbar erscheint. Kant zieht diesen moralischen Begriff nicht heran, da die Erfahrung ihm offenbar widerstreitet. Als negatives Kriterium, als Maßstab der Kritik am gesellschaftlichen Handeln und an dessen Bedingungen, wird Freiheit nicht erwogen, weil dadurch erstens das Eingeständnis der Selbständigkeit menschlichen Handelns gegen den teleologischen Naturzusammenhang vorausgesetzt, und damit zweitens eingeräumt würde, daß dieser Zusammenhang selbst allein durch die gewaltsame Brechung der Gewalt, durch wenigstens ein Moment an despotischer Herrschaft, aufrechtzuerhalten ist. Diese Herrschaft ist indes ihrerseits problematisch, denn auch der Herrscher ist ein Mensch, der seine Macht zu mißbrauchen strebt. Darin liegt doch auch eine Ahnung davon, daß Herrschaft von Menschen über Menschen der Sache nach niedrig ist und deshalb die niedrigsten Instinkte affiziert. Eine auf Vernunft gegründete Gesellschaftsordnung bleibt jedoch für Kant rundweg unmöglich; allein eine Annäherung sei denkbar, unter den drei Bedingungen einer gelungenen Verfassungstheorie, umfangreicher politischer Erfahrungen und eines guten Willens. Worin der gute Wille sich von der Einsicht in die Allgemeingültigkeit der vernünftigen Verfassung unterscheiden könnte, ist nach Kants Moraltheorie fraglich: Der Wille wird gut durch die Einrichtung seiner Maxime nach der Form widerspruchsfrei263 264 265 266 267 268

Idee, Idee, Kant Idee, Idee, Idee,

VIII 22. VIII 22. verweist explizit auf Not, Bedürfnis und Neigung. VIII 22. VIII 23. VIII 23.

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Z S   G

er Allgemeinheit und diese wird durch die praktische Vernunft bestimmt. Ist aber die Entschließung des Willens zur Annahme des Vernünftigen nicht durch Vernunft selbst zu leisten, so könnte sie wiederum bloß pathologisch erzwungen werden, was jedoch dem Begriff des guten Willens widerspräche. Die Beobachtung der Unvernünftigkeit der Menschen droht hier, die Vernunft – ihren Anspruch auf unbedingte Geltung und Autonomie – selbst zu suspendieren, indem für die politisch-geschichtliche Praxis der Entschluß des Willens von der Vernunft abgesondert wird. Das entspricht der Erfahrung, daß die Menschen das, was gleichwohl allgemein einzusehen ist, doch ohne Gewalt nicht politisch durchsetzen können. Dabei ist zu bedenken, daß die Einrichtung einer freien Gesellschaft selbst noch unter den Bedingungen der unfreien Gesellschaft erfolgen müßte und schon daher pragmatischen Abwägungen ausgesetzt wäre. Kant entzieht die Vorgeschichte der Freiheit aber dieser Betrachtungsweise und entwirft eine Genealogie der Freiheit, in der diese selbst nur in ihrem einheimischen Reich einen Ort hat, der aber bereitet werden soll durch die Abfolge unterschiedlich korrumpierter Freiheitsformen. Die „große durch viel Weltläufe geübte Erfahrenheit“269 , die als Bedingung der gerechten Verfassung angeführt wird, bedeutet daher auch nicht vorrangig die politische Erfahrung des individuellen Staatsmannes, sondern den akkumulierten Erfahrungsschatz der Verfassungsgeschichte der Menschheit, nicht weniger als das, was Hegel treffend eine ungeheure „Schlachtbank“270 genannt hat, über deren Existenz es nichts zu lamentieren gebe, der Weltgeist habe genug Material und zudem das absolute Recht, über dieses zu disponieren und es zu dispensieren, damit er nur an sein Ziel gelange.271 Die ganze Ausmessung dieser ‚Schlachtbank Weltgeschichte‘ eröffnet sich in der Reproduktion des Antagonismus im multilateralen Staatenverhältnis: Sollte es auch gelingen, durch bürgerliche Verfassung ein Gemeinwesen von einzelnen Menschen einzurichten, so stünden verschiedene solcher Gemeinwesen doch ebenso naturhaft im Verhältnis der Konkurrenz und des wechselseitigen Mißtrauens, dessen Existenzweise die dauernde Kriegsdrohung und der Krieg selbst seien. Nun sind es ja nicht die Staaten, die sich bekämpfen, sondern die Menschen, die diese Staaten bilden, regieren und verwalten, – die gleichen Menschen, deren antagonistische Natur nach Kants

269 270

271

Idee, VIII 23. G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, in: Werke, Bd. 12, hg. v. E. Moldenhauer/K.M. Michel, Frankfurt am Main 1986, 35. Kant konzipiert ganz analog in SF, VII 88f. Einen strikten Gegensatz zwischen Kant und Hegel diagnostiziert Susanne Weiper, Rechtsidee und ewiger Friede. Die Kantische Konzeption im Spannungsfeld zwischen Gesinnungspazifismus und Instrumentalmilitarismus, in: Volker Bialas/Hans-Jürgen Häßler (Hgg.), 200 Jahre Kants Entwurf „Zum ewigen Frieden“, a.a.O., 66. Vgl. hierzu auch Hans-Christian Lucas, „Es giebt keinen Prätor zwischen Staaten“. Zu Hegels Kritik an Kants Konzeption, in: Klaus-Michael Kodalle (Hg.), Der Vernunftfrieden, a.a.O., 57ff. Lucas stellt einen krassen Gegensatz zwischen Kants und Hegels Beurteilung des Krieges fest, weist aber darauf hin, daß darüber die Ähnlichkeiten beider meist übersehen würden. Volker Gerhardt, Immanuel Kants Entwurf ‚Zum Ewigen Frieden‘, a.a.O., 14ff. will Kants teils rationalisierende teils kritische Bemerkungen zum Krieg werkgeschichtlich auflösen. Lucas weist Belege auf, die diese These „zumindest fragwürdig erscheinen“ lassen („Es giebt keinen Prätor zwischen Staaten“, a.a.O., 58).

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früherer Annahme durch die bürgerliche Verfassung kanalisiert worden sei.272 Den nächstliegenden Gedanken, daß die kriegerische Konkurrenz der Staaten eine Folge der Unzulänglichkeit der bürgerlichen Verfassung hinsichtlich der Aufhebung des Zerstörungspotentials der Bürger sei, vermeidet Kant, indem er umgekehrt die Staaten anthropomorphisiert, ihnen als Staatssubstanzen dieselben Naturbestimmungen wie zuvor den Menschen zuweist, insbesondere den „unvermeidlichen Antagonism“273 . Wieder ist der Zerstörungstrieb eine List der Natur274 : „[S]ie treibt durch die Kriege, durch die überspannte und niemals nachlassende Zurüstung zu denselben, durch die Noth, die dadurch endlich ein jeder Staat selbst mitten im Frieden innerlich fühlen muß, zu anfänglich unvollkommenen Versuchen, endlich aber nach vielen Verwüstungen, Umkippungen und selbst durchgängiger innerer Erschöpfung ihrer Kräfte zu dem, was ihnen die Vernunft auch ohne so viel traurige Erfahrung hätte sagen können, nämlich: aus dem gesetzlosen Zustande der Wilden hinaus zu gehen und in einen Völkerbund zu treten“275 . Daß „der wilde Mensch eben so ungern gezwungen ward, nämlich: seine brutale Freiheit aufzugeben“276 , mag man ihm kaum verübeln, wenn das für ihn doch ‚Verwüstung, Umkippung, Erschöpfung aller Kräfte und Not, selbst mitten im Frieden‘ bedeutet, eine Geißel, die den unzivilisierten Völkern fremd sein möchte. Als Werbung für die praktische Vernunft wäre Kants Geschichtsbegriff ähnlich überzeugend wie die Werbung fürs Christentum durch Proselytenmacherei mittels Feuer und Schwert. – Der Irrealis, demzufolge Vernunft die Konfliktlösung ‚auch ohne soviel traurige Erfahrung hätte bieten können‘, ist streng zu nehmen: Sie konnte es nicht, denn dies lag nicht in der Absicht der Natur. Hätte sie es gekonnt – so ist Kant zu verstehen – so wäre die Geschichte, wie sie dann verlief, völlig unbegreiflich. Dieses Unvermögen kann dann nur in einem substantiellen, natürlichen Defekt der Vernunft selbst begründet sein, nicht 272

273 274

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276

Vgl. hierzu Hansgeorg Frohn, Staat und Krieg. Vorüberlegungen zum BVersuch einer Antwort auf die Frage, warum die bisherigen Friedenssicherungsmodelle der Neuzeit die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllt haben, in: Volker Bialas/Hans-Jürgen Häßler (Hgg.), 200 Jahre Kants Entwurf „Zum ewigen Frieden“, a.a.O., 82: „Staaten sind nicht gewalttätig, weil sie über bewaffnete Polizei- und Streitkräfte verfügen, vielmehr verfügen sie über solche Kräfte, weil sie ihrer Struktur nach gewalttätig sind.“ Frohn führt dies über den Personenverbandscharakter auf das begrenzte Staatsgebiet zurück. Er vergißt lediglich die Bedeutung des Staatszweckes für die spezifische Gestalt des modernen Territorial- und Nationalstaates. Idee, VIII 24. Vgl. EF, VIII 364f. Der Ausdruck ‚List‘ wird bei Kant selbst noch pejorativ verwendet für die sich überlistenden Menschen und ihre Einrichtungen; die Natur gilt durchgängig als ‚weise‘. Vgl. EF, VIII 368. – Daß nicht erst Hegel als Erfinder dieses Motivs teleologischer Geschichte gelten darf, bemerkt Georg Cavallar, Pax Kantiana, a.a.O., 278; vgl. auch Georg G. Iggers, Deutsche Geschichtswissenschaft, a.a.O., 56. – Für den Motivkomplex der ‚List der Vernunft‘ oder der ‚Naturabsicht‘ wird zumeist auf Adam Smiths Metapher der ‚invisible hand‘ verwiesen (vgl. Der Wohlstand der Nationen, München 1974, 371). Das ist zwar motivgeschichtlich einschlägig, aber die spätere Marxische Figur des gesellschaftlichen Geschehens ‚hinter dem Rücken der Produzenten‘ (Das Kapital, Bd. 1, MEW 23, a.a.O., pass.) erklärt schon etwas mehr: nämlich die Koinzidenz von gesellschaftlicher Gesetzmäßigkeit und subjektiver Täuschung über Gesetzmäßigkeit überhaupt. Idee, VIII 24. Kant vertritt hier den Standpunkt des politischen Moralisten, den er sich gemäß EF, VIII 230ff. nicht einmal denken können will. Idee, VIII 24.

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etwa in den der Vernunft nicht angemessenen Lebensbedingungen der vernunftbegabten Wesen. Daher sei der Vernunft schließlich noch im entfalteten Zustand Mißtrauen gegen sich selbst geboten. Der weltbürgerliche Zustand, muß, so Kant, „wie ein Automat sich selbst erhalten“277 . Wenngleich Kants in Aufklärung befindliche Gegenwart durch Vernunft den Gang der Geschichte beschleunigen könne,278 komme die Errichtung eines politisch stabilen Zustands durch die vernunftgemäße Organisation der Beziehungen vernünftiger Wesen nicht im Betracht. Es scheint ein Verwaltungssystem erforderlich, das mechanisch oder organisch alle Lebensbereiche so anschließt, daß die Handlungen der Einzelnen gegeneinander abgesichert und dennoch verbindungsfähig sind, ohne daß die praktische Vernunft hier tätig werden müßte.279 Allerdings gilt Kant der Krieg durchaus als die Quelle der „größten Übel“280 , da er fast die gesamte Ökonomie des kriegführenden Gemeinwesens okkupiere und so die Entwicklung der menschlichen Naturanlagen hemme.281 Doch allein diese Not könne zur Einrichtung eines Staatenbundes führen, der auch schon deswegen kein Weltstaat sein dürfe, weil die wechselseitige Bedrohung der Staaten „an sich heilsam“282 sei, ihr Verhältnis solle „nicht ohne alle Gefahr sei[n], damit die Kräfte der Menschheit nicht einschlafen, aber doch auch nicht ohne ein Princip der Gleichheit ihrer wechselseitigen Wirkung und Gegenwirkung, damit sie einander nicht zerstören“283 . Die Nähe dieses Gedankens zu dem – von Kant explizit wohl zurückgewiesenen284 – der balance of power scheint Kants Überlegung nachträglich politisch zu bestätigen. Tatsächlich ist es seither weniger durch die wechselseitige Bedrohung der Staaten zum Krieg gekommen, als dadurch, daß ihr Verhältnis durch unübersehbare Bündnisverhältnisse, einseitige Rüstungs- oder Territorialpolitik aus dem Gleichgewicht geraten war. 277 278 279

280 281 282 283

284

Idee, VIII 25. Vgl. Idee, VIII 27. Diesen Gedanken entwickelt in aller Ausführlichkeit Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1993. Wie oft bei Luhmann finden sich präzise Beschreibungen, die allerdings nicht auf Gründe, sondern auf Systemstrukturen zurückgeführt werden. Die Haltung, Theorie könne nur auf der Stufe beobachtender Beschreibung operieren, macht wohl die suggestive Kraft dieser Gestalt von Gesellschaftstheorie aus. Vgl. z. B. 16f. in anderer Weise hat hier Hans Ebeling angeknüpft: Kants Volk von Teufeln, der Mechanismus der Natur und die Zukunft des Unfriedens. Über den Mythos der kommunikativen Vernunft, in: Klaus-Michael Kodalle (Hg.), Der Vernunftfrieden, a.a.O. Ebeling geht davon aus, daß die praktische Philosophie das Böse unterschlagen habe, Wesen, denen noch ihre Selbsterhaltung gleichgültig ist. Deswegen sei Friede „nur noch unter dem Diktat einer einzigen Führungsmacht [möglich; M.St.]. Deren Über-Macht und deren eigene Gefahr der Korruption muß im Interesse des Überlebens der Gattung auf unübersehbare Zeit hingenommen werden.“ (94) Es bleibt dunkel, ob dabei einfach an die USA oder an das internationale Kapital gedacht ist. Für Frieden dürften indes beide nicht einstehen. Anfang, VIII 121. Vgl. Idee, VIII 26. Idee, VIII 26. Idee, VIII 26. Auch dies sieht Kant im Detail anders in EF, VIII 358. Daß er hier die Ausdrücke ‚Wirkung und Gegenwirkung‘, die den Newtonischen Prinzipien actio und reactio nachgebildet sein dürften, gesperrt setzen läßt, zeigt an, wie ernst ihm die naturalistische Deutung der Geschichte ist. Vgl. Gemeinspruch, VIII 312.

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Die Fortschritte, die in Kants weltbürgerlichem Zustand durch die anhaltende ‚Gefahr‘ noch bewirkt würden, könnten wohl nicht in einer weiteren Stabilisierung der Verhältnisse bestehen, denn deren Stabilität sei bereits automatisiert. Die Fortschritte scheinen daher wohl die Akkumulationsbewegung der liberalen Ökonomie zu betreffen. Zwar treten neben dem Fortschrittsmotor ‚Habsucht‘ noch gleichberechtigt ‚Ehrsucht und Herrschsucht‘ auf, doch die ökonomische Funktion bürgerlicher Freiheit ist durchaus präsent: Einschränkungen derselben schaden Handel und Gewerbe und dadurch auch Staat und Gesellschaft.285 Daraus entwickele sich nun letztlich sogar Moralität, und zwar weil die nationalökonomischen Interessen zur Aufhebung konfessioneller Beschränkungen und darüber zur Aufklärung sowie zur Änderung der Regierungspolitik führten.286 Hieraus folge schließlich der weltbürgerliche Zustand, in dem „alle ursprüngliche Anlagen der Menschengattung entwickelt werden“287 . Erst hier werde Moralität denkbar, bis dahin bleibe „alles Gute […] nichts als lauter Schein und schimmerndes Elend“288 . Solange nämlich die Entwicklung der Menschheit notwendig durch Kriege bestimmt wird, kann von Moral nicht die Rede sein, allenfalls von Strategie. Darin trägt Kant der Aporie Rechnung, daß ein strikter Moralbegriff unter herrschenden Bedingungen der Unfreiheit keine Handlungen aus Freiheit gestattet, weil die Maximen des Handelnden, will dieser unter jenen Bedingungen bestehen, immer durch sie korrumpiert sind. Moralisierung selbst würde dann widersprüchlich, weil sie nur durch unmoralische Handlungen hervorzubringen wäre.289 Den Ausweg aus diesem Problem will Kant öffnen durch die Vorstellung der Vorgeschichte der Moral als Naturgeschichte. Damit aber wird die gesamte politische Geschichte bis hin zur Erreichung des weltbürgerlichen Zustandes einer strengen moralischen Beurteilung entzogen, Moral und politische Geschichte gelten als allo genos, jene beginne erst nach deren Ende. Die teuflischen Lebensbedingungen, die es den Menschen unmöglich machen, moralisch zu handeln, 285

286 287 288

289

Vgl. Idee, VIII 27f.: „[B]ürgerliche Freiheit kann jetzt auch nicht sehr wohl angetastet werden, ohne den Nachtheil davon in allen Gewerben, vornehmlich dem Handel, dadurch aber auch die Abnahme der Kräfte des Staats im äußeren Verhältnisse, zu fühlen. Diese Freiheit geht aber allmählig weiter. Wenn man den Bürger hindert, seine Wohlfahrt auf alle ihm selbst beliebige Art, die nur mit der Freiheit anderer zusammen bestehen kann, zu suchen: so hemmet man die Lebhaftigkeit des durchgängigen Betriebes und hiemit wiederum die Kräfte des Ganzen.“ Vgl. auch EF, VIII 367. Vgl. Idee, VIII 28. Idee, VIII 28. Idee, VIII 26. Angesichts der Regression im Weltlauf ist Aufklärung heute fast weiter von diesem Ziel entfernt als zu Kants Zeit; religiöse Toleranz, Bekämpfung des Aberglaubens und allgemeine Freizügigkeit werden, mehr durch die Rezeption von fanatischem Terrorismus als durch diesen selbst, erneut zu Kampfplätzen aufklärerischer Kritik. Vgl. zur Gegenstandsbestimmung aktueller Aufklärung Heiner F. Klemme (Hg.), Kant und die Zukunft der europäischen Aufklärung, Berlin 2009, darin bes. den Beitrag von Günter Zöller, Aufklärung über Aufklärung. Kants Konzeption des selbständigen, öffentlichen und gemeinschaftlichen Gebrauchs der Vernunft. Vgl. MdS RL, VI §62 und EF, VIII 376 Anm., wo Kant von einem „Schritt zur Moralität“ spricht, der selbst „noch nicht moralischer Schritt“ sei. – Diese Aporie muß man in Kauf nehmen, wenn man „den begrenzten Anteil […] [bestimmt; M.St.] , den der Krieg an der historischen Genese einer solchen Ordnung hat“ (Gerhardt, Volker: Immanuel Kants Entwurf ‚Zum ewigen Frieden‘, a.a.O. 120). Allerdings unternimmt Kant weit über die Bestimmung negativer historischer Bedingungen des Fortschritts hinaus deren Rationalisierung.

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verfallen nicht der Kritik, eigentlich sind sie die abstrakte Negation von Moral, nicht privatio boni debiti. Die objektive, politisch induzierte, Zerrüttung der möglichen Subjekte von Moral wird dadurch zu deren anthropologischer Bestimmung, die sie zu den Objekten der Knechtung machen, durch die sie allein zur Moral gebracht werden könnten.290 Die Moral vermöchte am Ende nur daher noch als solche zu erscheinen, weil ihr Begriff gegen ihren geschichtlichen Gehalt abgedichtet sein muß.291 Wohl bleibt die Natur, trotz allen Personalisierungswendungen, bei Kant im Status einer Idee: „Wenn man indessen annehmen darf: daß die Natur selbst im Spiele der menschlichen Freiheit nicht ohne Plan und Endabsicht verfahre, so könnte diese Idee doch wohl brauchbar werden“292 . Der zentrale Punkt der Vorstellung von Geschichte ist durchaus das Subjekt, aber als ein sich selbst dem Plan anheimstellendes. Diese Schizophrenie erscheint darin ausgeglichen, daß der Plan zugleich seinem Gehalt nach mit der vernünftigen Absicht der Subjekte selbst übereinstimme, sogar so gut, daß dasjenige „[w]as man nun hier verabsäumt zu thun, […] sich zuletzt selbst“293 mache. Der Fortschritt ist ihrer und nicht ihrer. Sie können ihre Vernunft nur als ihre begreifen, indem sie sie als heteronome vorstellen, weil die Erfahrung ihrer eigenen Subjektivität diese als irrational ausweist. Die Bedingungen, unter denen sie sich selbst als irrational erscheinen, faßt Kant nicht als Produkte der Freiheit menschlicher Willkür auf, sondern schlägt sie auf die naturkausale Seite der Handlungen. Indem aber die materialisierten Resultate des Handelns der Verfügung der Vernunft der empirischen Subjekte theoretisch entzogen werden, wird ihnen ihre Vernunft überhaupt entzogen; sie erhalten sie nur mehr geborgt zurück: Als Anleihe am Plan der Natur, den sie zu dem ihren machen können, aber nur, indem sie sich seiner Vorstellung unterwerfen. Die Absicht dieser Natur ist eine Antizipation des Hegelischen Weltgeists, nur daß Kant diesen Begriff an die Erfahrungstatsachen, die chaotischen Handlungen bindet und als übergeordneten Zusammenhang faßt, während Hegel ihn stärker intellektualisiert, subjektiviert und die Erfahrung nur als Material, sekundär, faßt. Der Erkenntnisweg ist verschieden, die Funktion gleich.294 Auch bei Hegel soll Freiheit als Vernunft entfaltet werden, und der Weltgeist schafft die Bedingungen dafür. Was Hegel im objektiven Geist auflöst, demgegenüber das empirische Subjekt nur noch Handlanger ist, erscheint bei Kant noch als der geschichtsphilosophische Widerspruch, der es ist. Indem der Wider290 291

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Vgl. EF, VIII 366. Vgl. EF, nach den Reinschriftfragmenten, (H1 ), in: Immanuel Kant, Werkausgabe, hg. v. Wilhelm Weischedel a.a.O., 230 Anm. Idee, VIII 29. EF, VIII 367. Dem korrespondiert das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem in der theoretischen Philosophie der beiden Autoren. Zu betonen ist, daß die Tendenz Kants zum System ebensowenig einfach als Stärke auszulegen ist wie sein Beharren auf dem Gegebensein des Besonderen. Im Gegenteil werden an diesen Punkten grundlegende Schwächen der klassischen deutschen Philosophie sichtbar. Nach Henrich sind dagegen Kant und Hegel in einer Konstellation vereinbar, in der jeder dann seine Funktion beim Weltverstehen habe. Vgl. Kant und Hegel. Versuch der Vereinigung ihrer Grundgedanken, in: Selbstverhältnisse, a.a.O., 206ff. Welt ist unmittelbar durch diese Philosophie nicht zu verstehen; durch ihre Kritik erschließt sich günstigenfalls das Verhältnis der Menschen zu dem, was sie umgibt.

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spruch des empirischen Bewußtseins – theoretisch abgesichert – zur menschlichen Natur wird, wird er zum Widerspruch des Selbstbewußtseins. Der Subjektivität der Subjekte wird unter dem Anschein von Erkenntnistheorie ein Widerspruch eingetragen, den es, anders als den noch zu entwickelnden erkenntnistheoretischen der eigenen Reflexivität, zugleich Bedingung und Bedingtes – zugleich ursprünglich und synthetisch – zu sein, nicht dialektisch vermitteln kann. Dieser Widerspruch geschichtlicher Herkunft verhält das Subjekt zur Geschichtsunfähigkeit. Diese Schizophrenie hat Kant zufolge jedes individuelle Subjekt sich selbst anzuziehen. Die ursprüngliche Entstehung von Sittlichkeit überhaupt faßt Kant als Paradoxon. Die Naturgeschichte des Menschen beginne, als Werk Gottes, mit dem Guten, die Freiheitsgeschichte, da sie sich gegen den Urzustand absetzen müsse, beginne notwendig mit dem Bösen. Dieses Böse, das tatsächlich der Vernunftgebrauch selbst sei, stelle nun allein für das Individuum einen Verlust dar, weil seine Freiheit als Ausgang aus dem unmittelbaren Naturzusammenhang für es mit Mühen verbunden ist und als Strafe erscheint.295 Allein die Natur sehe auf die Gattungsentwicklung, und in deren Gesamtzusammenhang erweise sich die Befreiung am Ende als Gewinn. Das hieße, die Aufhebung des göttlichen guten Naturzusammenhangs durch das böse Individuum erzeugte einen wiederum guten Naturzusammenhang und wäre daher naturgemäß. Indem die erste Natur selbst schon als moralisches Sein verstanden wird, erscheint der Übergang zur zweiten Natur widersprüchlich. Nicht technisch-praktische Bedingungen des Sittlichen werden geschaffen, sondern Sittlichkeit setzt sich als Negation ursprünglicher Sittlichkeit und ist daher zugleich gut und böse. Dies ist aber nicht die Koinzidenz von gutem und bösem Prinzip in der menschlichen Freiheit, wie Kant dies in der Religionsschrift konzipiert hatte, sondern es ist eine resultierende Einheit von gut und böse im in sich widersprüchlichen Subjekt: Das Individuum trägt an allem Übel Schuld und nur im Gattungszusammenhang kann es als gutes betrachtet werden. Dieser ist aber nicht seine Existenzweise, sondern eine Idee ohne Anschauung. Ob nun das Individuum vom transzendenten Aspekt her Generalabsolution erhält, oder vom immanenten Aspekt her einem infiniten Schuldkomplex unterworfen ist: Es ist als handelndes Subjekt immer Opfer seiner Freiheit, nie positiv freies Subjekt. Diese Vorstellung ist kennzeichnend für das moderne Freiheitsverständnis. Das Versagen politischer Organisationen wird allzumal Einzelnen angelastet,296 ihr Funktionieren nur unter allgemeinem Aspekt gerechtfertigt; ob politische oder ökonomische Führungspersonen als Individuen beschuldigt oder als Vertreter entschuldigt werden, stets ist es die bequeme Weigerung, politische Prinzipien selbst zu begreifen und, wo sie fehlerhaft 295

296

Vgl. Anfang, VIII 116. Die Vernunft diene dem Subjekt nicht, Mühe zu reduzieren, sie sei geradezu von der Natur bestimmt, ihm Mühe zu bereiten, sie selbst stehe als Cherubim vor dem Paradies (vgl. 114). Auf diese Problematik hat Ernst-Wolfgang Böckenförde mit Beziehung auf internationale Politik hingewiesen: „[D]ie globalisierte Welt zerläuft sich in je partikularisierten Regelungs- und Netzwerken, und diejenigen, die hier die Macht haben und ausüben – Macht, insbesondere ökonomische Macht, verschwindet ja nicht – sind nicht faßbar“ (Staat, Nation, Europa. Studien zur Staatslehre, Verfassungstheorie und Rechtsphilosophie, Frankfurt am Main 1999, 118). Allerdings sind sie es schon auf nationaler Ebene nicht, denn die ökonomisch vermittelte Herrschaft kapitalistischer Gesellschaft ist unpersönlicher Natur.

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sind, zu ändern. Kants „Lustreise“297 in die Anfänge der Subjektivität wird zur Geisterbahnfahrt. Das von den Malen seiner allenthalbenen Schuld überzogene Individuum und das triumphierende Allgemeine werden gleichermaßen zu Schreckgespenstern freier Individualität.298 Indem der Lädierung der Individuen die übergeordnete Allgemeinheit einer vernünftigen Anordnung des Naturganzen korrespondiert, ist die Idee vernünftiger Allgemeinheit – rational organisierter Kooperation der Subjekte – geschichtsmetaphysisch konfundiert mit dem schlecht unendlichen Allgemeinen einer allseitigen Konkurrenz der Einzelnen. Insofern Kant darüber hinaus diese Konfusion selbst als Ausdruck vernünftiger Allgemeinheit faßt, von dem her diese erst erschließbar werde, hat sein Vernunftbegriff einen sehr dominanten historischen Kern.299 Zwar steht dieses Historische durchaus im Gegensatz zu Kants Vernunftkonzept, aber es wirkt implizit – auch durch die explizite Negation historischer Bedingtheit hindurch – in den transzendentalen Bestimmungen praktischer und theoretischer Vernunft. Die Wirkung wird sichtbar, wo immer die Frage nach dem Subjekt der Vernunft an deren transzendentale Konzeption gestellt wird.300 Der Übergang von der geschichtlichen Bestimmung vernünftiger Subjektivität zur transzendentalen stellt nun die Rechtslehre dar, 297 298

299 300

Anfang, VIII 109. Diese ‚freie Individualität‘ ist aber kein positiver Begriff, aus dem sich politische Bestimmungen entwickeln ließen. Individualität ist ein formeller Begriff subjektiver Vereinzelung und gerät daher mit sich in Widerspruch (vgl. G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, GW 9, Hamburg 1980, 193ff.), und zwar theoretisch wie praktisch. ‚Element der Welt‘ (vgl. Volker Gerhardt, Individualität, a.a.O.) kann das Individuum nur kraft seiner Subjektivität, also kraft des in ihm individuierten Allgemeinen sein, das Gerhardt als Selbstbestimmung, a.a.O., erkennt. Den Widerspruch oder das Paradox, wie Gerhardt passim formuliert, gilt es auszutragen, nicht nach einer der Seiten aufzulösen. Formulierungen wie: „die Chance zu einer geschichtlichen Entfaltung der menschlichen Kräfte [die Kultur der Gattung; M.St.] hängt allein an der Möglichkeit, daß sich die Individuen vernünftig verhalten“ (Volker Gerhardt, Selbstbestimmung, a.a.O., 141), vernachlässigen die Bedingungen, die diese Möglichkeit wiederum in der Geschichte der Gattung haben. – Ein Konzept der Individualität, von dem aus Selbstbewußtsein polemisch als ‚Flucht aus der Welt‘ erscheint, hat Hannah Arendt vertreten: Vita activa oder vom tätigen Leben, München 2007. – Dieter Henrich hat darauf hingewiesen, daß der Begriff des Individuums, ohne den des Selbstbewußtseins, indifferent gegen den Unterschied Organismus oder Person ist: Kant und Hegel, a.a.O., 202 (vgl. auch Thomas Leinkauf, Substanz, Individuum und Person. Anthropologie und ihre metaphysischen und geisttheoretischen Voraussetzungen im Werk von Leibniz, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie 1 (1999), 37). Arendts Konzeption transportiert daher nicht zufällig organizistische Politikvorstellungen. Wie daraus eine Kritik politischer Zwecke von Handeln, Herstellen oder Arbeit hervorgehen soll, ist nicht zu sehen. – Einen auch grundlegenden aber in sich problematisierten Begriff des Individuums skizziert Max Horkheimer, Vernunft und Selbsterhaltung, in: Hans Ebeling (Hg.), Subjektivität und Selbsterhaltung, a.a.O. Zur sozialen Situation der Individualität vgl. auch Hans-Ernst Schiller, Das Individuum im Widerspruch. Zur Theoriegeschichte des modernen Individualismus, Berlin 2006 und Christian Thies, Die Krise des Individuums. Zur Kritik der Moderne bei Adorno und Gehlen, Hamburg 1997. Vgl. auch Klaus-Michael Kodalle, Die aktuelle Barbarei, a.a.O., 138. Ein historisches Moment hat ebenfalls festgestellt: Steffen Dietzsch, Zu einigen Aspekten der geschichtlich-philosophischen Dimension der transzendentalphilosophischen Denkungsart. Motive ihres Wandels von Kant zu Hegel, in: Dieter Henrich, Kant oder Hegel? a.a.O. Allerdings sieht er es vor allem als ‚virtuell‘ (135) in Beziehung auf die Auslegung durch Fichte, Schelling und Hegel, die es erst explizit machen. – Rüdiger Bubner betont dagegen, daß es ein solches Moment

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insofern sie das ausgeführte Modell der schon allgemein begriffenen Beziehung von Subjekten auf Objekte in der geschichtlichen Wirklichkeit ist.301

301

wohl gebe, dies aber für Kant kein Problem sei. Bubner kommt zu diesem Ergebnis, weil er aus seinem Begriff von Transzendentalphilosophie die geschichtlichen und anthropologischen Arbeiten Kants ausschließt, mit dem schon bei Kant selbst problematischen Argument, es seien nicht im engen Sinn wissenschaftliche Arbeiten. Vgl. Ist eine transzendentale Begründung der Gesellschaft möglich, in: Dieter Henrich, Kant oder Hegel?, a.a.O., 494. – Henrich hat eingeräumt, daß die Spontaneität des Subjekts von außen angestoßen werden könne: „Darauf ist dann aber auch die soziale Genese des Selbstwissens beschränkt.“ (Subjektivität als Prinzip, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 46 (1998), 33). Dagegen ist zu zeigen, daß nicht bloß der weitere Gehalt, sondern das formale Prinzip der Subjektivität selbst nicht als reine ahistorische Identität gegen alle Erfahrung abgeschottet existiert. Vgl. Klaus-Michael Kodalle, Die aktuelle Barbarei, a.a.O., 135: „Freiheit, sofern sie im Recht geschichtliche Gestalt und Objektivität gewinnt, ist deshalb der Leitfaden der kantischen Konstruktion von Geschichte.“

II Rechtssubjekte – Subjekte des Rechts

1.

Das Völkerrecht als sittliche Form politischer Geschichte

Das ‚höchste politische Gut‘1 ist Kant zufolge ein Friede, der nicht mehr in einen Kriegszustand zurückfallen kann, der ewige Friede. Denkbar sei er als internationaler Rechtszustand, in dem partikulare Privilegien und Willkürmaßnahmen durch allgemein erklärten Verzicht ausgeschlossen würden. Diesem Ziel seien souveräne Staaten2 vorausgesetzt, deren Vertreter eine solche Einigung verabreden könnten. Diese Staaten bedürften ihrerseits einer inneren Rechtsverfassung, die ebenso Privilegien und einseitige Privatwillkür verbindlich ausschließen müsse; nur Staaten, in denen das Mein und Dein der Bürger rechtlich garantiert sei, könnten als hinreichend stabil gelten. Damit ist dem Frieden eine rechtsgeschichtliche Entwicklung vorausgesetzt, deren terminus ad quem das internationale Öffentliche Recht ist; dessen terminus ab quo aber ist das Privatrecht, insofern es grundsätzlich bürgerliche Staaten sind, deren Verhältnis als internationales Rechtsverhältnis zu denken sei.3 Die angenommene innere Notwendigkeit der bürgerlichen 1 2

3

Vgl. MdS RL, VI 355. Der Ausdruck ‚Staat‘ wird hier stets in dem prinzipiellen Sinn der Definition Kants verwendet und meint das Ganze einer Menge von Menschen im rechtlichen Zustand eines sie vereinigenden Willens, in bezug auf die Einzelnen (vgl. MdS RL, VI § 43). Daraus ergibt sich der provisorische Charakter des gegenwärtig geltenden Rechts: Erst wenn alle Ebenen des Rechts, privat, öffentlich und völkerrechtlich, nach dem Rechtsprinzip geordnet sind, herrscht peremtorisches Recht: „Bis dahin, so das ernüchternde – um nicht zu sagen: deprimierende – Ergebnis aller Deduktionen des Rechts aus dem Begriff, ist nicht allein alles äußere inernationale oder Völkerrecht, sondern alles innere Recht, sei es Privatrecht, sei es öffentliches Recht bloß provisorisch“ (Burkhard Tuschling, ‚Bloße‘ Idee und ‚unbezweifelte praktische Realität‘: Recht, Staat, Gerechtigkeit, Ewiger Friede bei Kant, unveröff. Manuskript, erscheint in: Bernd Dörflinger/Günter Kruck (Hgg.), Worauf Vernunft hinaussieht. Kants regulative Ideen im Kontext von Teleologie und praktischer Philosophie, i.V.). Würde schließlich das Völkerrecht der Rechtsidee unterworfen, so würde seine vertragsrechtliche Gestalt durch die Form einer globalen Verfassung ersetzt: Weltbürgerrecht. Vgl. EF, VIII 349 und Idee, VIII 17f.

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Verfassung, die in der Notwendigkeit des Privatrechtsverkehrs gründet, ist es auch, die eine internationale Stabilität erzwingt, damit Rückfälle in vorbürgerliche Verhältnisse vermieden werden. Zwar steht dem Rückfall in den Naturzustand grundsätzlich die Bewahrung des Rechtszustandes als solchen gegenüber, aber in Kants Argumentation sind Rechtszustand überhaupt und bürgerlicher Rechtszustand nicht bestimmt unterschieden. Darin liegt eine problematische Voraussetzung der Rechtslehre, denn das bürgerliche Recht ist zwar die im Rahmen von Kants geschichtlicher Erfahrung am weitesten fortgeschrittene Erscheinungsform der Rechtsidee, muß aber deshalb nicht in allen Elementen mit dieser kongruent sein. Das ‚Allgemeine Prinzip des Rechtszustandes‘, unter das sowohl das private wie das öffentliche Recht fallen, ist in der Formulierung, nach der eine Handlung recht sei, „die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann“4 , an den kategorischen Imperativ angelehnt. Kraft dieser Anlehnung scheint sich der geschichtliche Fortschritt der Menschen, den Kant geschichtsphilosophisch nicht widerspruchsfrei von der Naturgeschichte ablösen kann, doch auf moralische Freiheit zurückführen zu lassen. Im ‚Beschluß‘ des Weltbürgerrechts, das seinerseits den terminus ad quem der Rechtslehre darstellt, weist Kant rigoros jede Relativierung des Moralgesetzes zugunsten der Naturgeschichte zurück: „[D]as moralische Gesetz aber in uns selbst für betrüglich anzunehmen, würde den Abscheu erregenden Wunsch hervorbringen, lieber aller Vernunft zu entbehren und sich seinen Grundsätzen nach mit den übrigen Thierclassen in einen gleichen Mechanism der Natur geworfen anzusehen.“5 So kommentiert Kant seine zuvor geäußerte Befürchtung, daß die Realisierung des ewigen Friedens, aufgrund empirischer Hindernisse, womöglich „immer ein frommer Wunsch bliebe“6 . Deutlicher noch formuliert Kant im Völkerrecht, dessen gesamter Inhalt auf den Krieg bezogen ist: Entweder ist es Recht zum Krieg oder Recht im Krieg oder Nachkriegsrecht: „[S]o ist der ewige Friede (das letzte Ziel des ganzen Völkerrechts) freilich eine unausführbare Idee“7 . Diese Unausführbarkeit, die sich in der bloß negativen Darstellbarkeit der Idee spiegelt, folgt daraus, daß ein Staatenbund notwendige Bedingung des Friedens ist, aber der Friede in einer bloßen, jederzeit auflöslichen, Föderation nur provisorisch wäre. Zudem hätte die Föderation, wie Kant sie konzipiert, keine Durchsetzungsgewalt, um die Realisierung der vor einem internationalen Gerichtshof erzielten Lösungen zwischenstaatlicher Interessenkonflikte zu garantieren. Da das Recht seinem Begriff nach mit der Befugnis zu zwingen verbunden ist,8 wäre der rein föderale Zustand selbst nicht einmal ein Rechtszustand, sondern Naturzustand. Für den Rechtszustand wäre ein Bündnis nötig, das einen „Staatenverein“, einen „Völkerstaat[]“9 darstellte. Wäre dieser aber poli4 5 6 7

8 9

MdS RL, VI § C. MdS RL, VI 355. MdS RL, VI 354f. MdS RL, VI § 61. Für eine detaillierte Darstellung vgl. Ludwig Siep/Attila Karakuş, Krieg und Völkerrecht bei Kant und Hegel, in: Bernd Prien/Oliver R. Scholz/Christian Suhm (Hgg.), Das Spektrum der kritischen Philosophie Kants, a.a.O. Vgl. MdS RL, VI § D. MdS RL, VI § 61.

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tisch seines Zweckes, der Sicherung des staatlich garantierten Mein und Dein, mächtig, so wäre er aufgrund seiner bedrohlichen Größe für seine Nachbarn schon ein Grund für einen Präventivkrieg.10 Gäbe es, um dies zu vermeiden, mehrere unabhängige Völkerstaaten, so blieben diese untereinander im Verhältnis des Naturzustandes. Auch der universale Staat löste das Problem nicht, denn große Staatsgebilde drohten grundsätzlich innerlich zu Despotien zu mißraten.11 Kant entscheidet sich, wider besseres Wissen, pragmatisch für die Föderation,12 mit Berufung auf politische Erfahrungen, die er früher selbst als unwürdig, pöbelhaft und politisch schädlich kritisiert hatte.13 Gegen Kants politischen Pragmatismus ist, mit Kant, einzuwenden, daß es nicht die Aufgabe der Philosophie – auch und besonders nicht der politischen – sein kann, die Entwicklung vernünftiger Maßstäbe am Gemessenen zu orientieren. Ein Maßstab, der mit dem zu Messenden sich verändert, mißt nichts. Pragmatistische und rein konstruktivistische Theorien haben dann noch nicht einmal einen deskriptiven Gehalt. Vernünftige politische Maßstäbe müssen, so unpraktikabel sie scheinen mögen, kompromißlos vor der praktischen Vernunft standhalten können, wenn diese nicht tendentiell zum Legitimierungsinstrument von Tagespolitik werden will.14 – Diese strikte Auffassung praktischer Vernunft wird heute öfters als ‚Terrorismus der Vernunft‘ diffamiert. Die Wahrheit dieses Ausdrucks liegt darin, daß die Autonomie der Vernunft unter allgemeinen Bedingungen der Heteronomie etwas Beängstigendes ausstrahlt: Sie erinnert an das, was jedem als Vermögen und Pflicht zuinnerst gegeben ist. Das Bewußtsein der Pflicht, dem Unvernünftigen entgegenzutreten, erscheint als ‚Terrorismus der Vernunft‘, wenn die objektive Bedrohung vernünftiger Subjektivität durch institutionalisierte Unvernunft als condition humaine akzeptiert wird, weil die Vernunft dann gegen Windmühlen zu kämpfen scheint, anstatt sich im ‚natürlich‘ Gegebenen mehr oder weniger behaglich einzurichten. Tatsächlich wird Vernunft von den Betreibern der Windmühlenindustrie selbst als Windmühle aufgebaut. – Die objektiv in den nationalen und internationalen Entwicklungen begründete Angst, die in vielerlei Gestalten das Leben der Menschen heute bestimmt, hat ebenso ihren subjektiven Grund im verschütteten Vernunftvermögen. Autonomie, Selbstbestimmung aus Vernunft, müßte im Selbstbewußtsein beginnen, in dem die Subjekte widerspruchsfrei mit sich selbst übereinstimmen könnten; das aber könnten 10 11

12

13 14

Vgl. MdS RL, VI § 56. Vgl. Gemeinspruch, VIII 311ff.: Den Gedanken einer balance of power weist Kant ebenso strikt zurück. Im Gemeinspruch, VIII 312., hebt Kant gegen den Nationalismus zwar „ein auf öffentliche mit Macht begleitete Gesetze […] gegründetes Völkerrecht“ als einziges mögliches Mittel hervor, schränkt aber auch hier, eine Seite zuvor, auf das pragmatisch Machbare ein. Dieses Moment überwiegt in der MdS ganz. Auf dieses Defizit weist auch Wolfgang Kersting hin: Kant und die politische Philosophie der Gegenwart, in: Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie, a.a.O., 74. Vgl. KrV, B 373. Vgl. Christine M. Korsgaard, Creating the Kingdom of Ends, New York 1996, 358: „In ethics, we cannot always trim our concepts sothat they will fir neatly onto the world. Sometimes what we must do instead is try to reshape the world so that it will be more adequate to our concepts.“ Allerdings ist zu zeigen, daß diese praktische Vermittlung der Diskrepanz von Moral und Handlungsbedingungen konzeptionell bei Kant nicht widerspruchsfrei vorgesehen ist.

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sie nur, wenn die Welt, die sie als empirische Subjekte gestalten, derjenigen, die sie als intelligible Subjekte denkend vertreten können, nicht grundsätzlich widerspricht. Der Maßstab dieser Widerspruchsfreiheit kann nur Vernunft sein, deren Einheit unbedingt gilt. Deshalb endet Autonomie vor dem Taktieren in der Heteronomie, bei dem die Subjekte, wenigstens vor sich selbst, Verlierer bleiben müssen. Die völkerrechtliche Frage an die Vernunft wäre nun, ob die bloße Föderalität ökonomisch und politisch souveräner Nationen mit der allgemeinen moralischen Idee des Rechts kompatibel sein kann. Diese Frage ist zu verneinen, schon weil das Nationalitätsprinzip der moralischen Universalität der Menschheit widerstreitet, indem es die moralische Handlungsfreiheit der Rechtssubjekte durch partikulare und zufällige Bestimmungen prinzipiell einschränkt.15 Indem bei Kant nun gerade die Realisierung der politischen Bedingungen der Möglichkeit des Friedens zu dessen unmittelbarer Negation zu mißraten droht, scheint der ewige Friede tatsächlich ‚unausführbar‘. Pflicht hingegen – und daher ausführbar – sei die politische Annäherung an den Frieden.16 Wenn die Begründung von dessen Unausführbarkeit indes stichhaltig ist, so wäre auch jeder Versuch der Annäherung in sich unsinnig: Eine Annäherung, die nicht ans Ziel kommen kann, ist als zielgerichtete Bewegung in sich widersprüchlich und kann daher nicht zur moralischen Bestimmung von Maximen dienen. So soll der Zweck Kant zufolge Pflicht sein, aber alle Mittel, die ihm dienen, widersprechen ihm. Der ewige Friede könnte so nur als transzendentale Willensbestimmung bestehen. Es ließen sich aus ihm keine ihm adäquaten empirisch-politischen Maßnahmen ableiten, weil in der empirischen politischen Welt die Universalität des transzendentalen Vernunftzwecks nicht zu unterstellen ist; ihre Abwesenheit ist es gerade, aus der die moralisch unauflösliche politische Aufgabe folgt. Die tatsächlichen Interessenkonflikte schlössen nur dann die Realisierung des universellen Zwecks nicht aus, wenn die Partikularinteressen als solche aufgehoben würden. Daß Bevölkerungen verschiedener Staaten aufgrund ihrer geographischen Lage und anderer Umstände unterschiedliche Bedürfnisse haben, ist nicht zu bestreiten; daß sie deren Befriedigung notwendig gegeneinander realisieren, ist eine Unterstellung, durch deren Voraussetzung jede politische Philosophie als Philosophie sich durchstreicht, weil Nationalismen aufgrund ihrer Irrationalität durch keine begründete Regel kontrollierbar sind; Philosophie, die das pragmatisch versucht, wird selbst zum Moment des irrationalen Geflechts, das sie zu entwirren vorgibt. Das philosophische Zugeständnis nationaler 15

16

Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, Frankfurt am Main 1992, lehnt es ab „die Moral dem Recht im Sinne einer Normenhierarchie überzuordnen“, beide stünden vielmehr in einem „Ergänzungsverhältnis“. Die Entscheidung über die Koordination dieser Ergänzung sei nun schon „soziologisch“ erfolgt, Moral sei zu einer unverbindlichen „Form kulturellen Wissens“ ausdifferenziert worden (137). Wirksam werden könne sie deshalb ohnehin nur durch Positivierung im Rechtsgesetz (145f.). Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, Frankfurt am Main 1985, merkt an, daß solche Positivierung von Moral „ein Bündel dogmatischer Fragen“ (309) mit sich führt, die nicht dogmatisch, sondern durch Rechtsabwägungen zu lösen sind. Da moralische Sätze nicht abwägbar sind, führt die nach Habermas einzige Möglichkeit, der Moral Wirkung zu verschaffen, zur Vernichtung von Moral. Dann soll eine Rechtsethik das Schlimmste verhindern. Entsprechend hatte Habermas an früherer Stelle (Faktizität und Geltung, a.a.O., 66), moralische Ansprüche an Recht und Geschichte grundsätzlich als Geschichtsmetaphysik abgetan. Vgl. MdS RL, VI § 61.

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Partikularinteressen prolongiert nicht allein den Naturzustand in das Völkerrecht, sondern stellt die Subjekte vor die Aufgabe der moralischen Bestimmung von Politik im Bewußtsein der Unmöglichkeit, dieses Vorhaben einzulösen, ja im Bewußtsein der Kontraproduktivität schon des Versuchs: „Die menschliche Natur erscheint nirgend weniger liebenswürdig, als im Verhältnisse ganzer Völker gegen einander. Kein Staat ist gegen den andern wegen seiner Selbstständigkeit oder seines Eigenthums einen Augenblick gesichert. Der Wille einander zu unterjochen oder an dem Seinen zu schmälern ist jederzeit da“17 . Dies ist keine bloße Bestandsaufnahme empirischer Staatenverhältnisse, sondern Bestimmung einer natürlichen Regel, der nur durch geschickte Manipulation der menschlichen Natur zu steuern sei. Diese Überzeugung zeichnet Kants Völkerrecht. Es sieht eine Reihe von Regeln vor, deren sich die praktische Vernunft bedienen solle, um der Hoffnung willen, daß in dem politisch instabilen Föderalbund das Recht hinreichend beruhigte Zustände produziere, um eine moralische Entwicklung der Bevölkerungen zu gewähren. Der Gegenstand des Völkerrechts ist daher das Verhältnis verschiedener politischer Gemeinschaften, die im Innern schon Rechtsverhältnisse realisiert haben mögen, aber zueinander noch im Verhältnis des Naturzustandes stehen, insofern sie selbst als Subjekte, juristische Personen, zu betrachten sind, als Einheiten, die Interessen haben und Ansprüche behaupten, ohne in einem ihnen übergeordneten, sie vereinigenden Rechtsverhältnis zu stehen. Hier herrscht die Willkür des Stärkeren, mithin – potentialiter oder actualiter – dauernder Kriegszustand. So wie die Idee des Rechts überhaupt polemisch ist gegen sein ihm vorgängiges Negatives,18 Willkür und Privileg, ist die des Völkerrechts polemisch gegen diesen Kriegszustand. Im Unterschied zur Überwindung des Naturzustandes der empirischen Subjekte durch die Herstellung einer allen gemeinsamen allgemein gewalthabenden Ordnung, in der die partikulare Gewalt entmachtet sein soll, bleibt Kants Völkerrecht aber ausdrücklich auf eine föderale Genossenschaft beschränkt, deren Mitglieder ihre Souveränität behalten. Das Recht, einander wechselseitig zum Eintritt in eine bürgerliche Gemeinschaft zu zwingen, kann hier nicht unmittelbar eingesetzt werden, weil es sich nur auf die aus der Rechtsidee folgende Pflicht, unrechtliche Zustände zu überwinden, stützen kann. Die zu vereinenden Staaten sind aber, je für sich, bereits bürgerliche Rechtsgemeinschaften und können durch ihre Repräsentanten nur freiwillig, durch Vertrag, in Gemeinschaften eingehen.19 Aus dem Status der bürgerlichen Rechtsgemeinschaft folgt nun keineswegs unmittelbar die gänzliche Aufhebung von Gewalt, sondern zunächst deren Verstaatlichung. Die Staaten als Gewalthaber können somit ihre antagonistischen Interessen untereinander solange durch Kriege verfolgen, als kein internationaler Gerichtszwang besteht. Das bürgerliche Prinzip ist auf internationaler Ebene beständig mit der Selbstzerstörung bedroht. Diesem Mangel sucht Kant zu begegnen, indem er feststellt, daß durch den Kriegszu17 18

19

Gemeinspruch, VIII 312. So sieht es bereits ausdrücklich Hugo Grotius, De jure belli ac pacis. Drei Bücher vom Recht des Krieges und des Friedens, Tübingen 1950, 47: „Mit „Recht“ wird hier nur das Gerechte bezeichnet, und zwar mehr im verneinenden als im bejahenden Sinne; so daß Recht ist, was nicht Unrecht ist. Unrecht ist aber das, was dem Begriff einer Gemeinschaft vernünftiger Wesen widerspricht.“ Vgl. Hans-Georg Deggau, Die Aporien der Rechtslehre Kants, Stuttgart 1983, 287.

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stand zwar „keinem von dem Anderen unrecht geschieht“, daß aber dieser Zustand „an sich selbst im höchsten Grade unrecht ist“20 . Der Ausdruck ‚unrecht an sich‘ muß als Negation eines ‚Rechts an sich‘ verstanden werden, dessen minimale Interpretation die Idee des Rechts wäre. Kant versteht mehr darunter: Die Idee des Rechts wird geradezu zur ontologischen Legitimation der rechtsetzenden Gewalt im Naturzustand. In der Tradition des Naturrechts spricht Kant von einem ‚Recht zum Kriege‘ im Naturzustand21 , also dort, wo es, wie Kant an anderen Stellen durchaus anmerkt, gar kein Recht gibt.22 Die Annahme solcher allem Recht vorausliegenden Rechtsansprüche in einem fiktiven, das Recht negierenden, Zustand dient, wie schon bei Hobbes23 , so auch bei Kant der Antizipation des bürgerlichen Rechts. Zuvor sind diese Ansprüche zwar nicht wie in der Thomasischen lex naturalis durch göttlichen Willen in der Natur ontologisch manifestiert, aber sie entspringen doch einem angenommenen natürlichen Verhältnis von Willenssubjekten, deren Natur diese Ansprüche quasi ontologisch legitimiert: Das Recht zum Krieg sei die im Naturzustand erlaubte Methode, eine gewaltsame Beschädigung gewaltsam abzuwehren (nach dem Grundsatz vis contra vim) bzw. ihren Ausgleich zu erzwingen, wobei schon fraglich ist, wie die Vernichtung von Menschenleben dann auszugleichen sei.24 Tatsächlich ist die Idee des Rechts ein spekulativer Begriff, der keineswegs aus einem ‚natürlichen‘ Verhältnis von Subjekten ungezügelter Willkür hervorgehen kann, sondern gerade gegen dieses Verhältnis polemisch ist. Darin ist – eingedenk aller Probleme des Vernunftprimats – die Thomasische Naturrechtslehre der neuzeitlichen überlegen: daß sie das Naturrecht als streng allgemeines explizit auf das vernünftige Willenssubjekt Gott zurückführt und es nicht aus einem für natürlich erachteten partikularen Verhältnis empirischer Willkürsubjekte begründet, aus dem überhaupt kein allgemeiner Anspruch folgen könnte. Dementsprechend führt das Recht zum Krieg dem Begriff nach auch in Kants eigener Auffassung auf Absurdes, nämlich zunächst die Vorstellung, eine Kriegserklärung könne nur dann gültig sein, wenn sie auch angenommen würde, d. h. die Kontrahenten müßten sich vertraglich auf das vorvertragliche 20

21 22

23 24

MdS RL, VI § 54. Schon hat der jeweilige Regent eines bürgerlichen Staates kein Recht, seine Bürger zum Krieg einzuziehen, weil dies dem Staatsbürgertum widerspräche, demgemäß über sie nichts beschlossen werden kann, wenn sie an dem Beschluß nicht politisch beteiligt sind. Nun ist es gerade dieses Moment des bürgerlichen Staates – die in der praktischen Vernunft jedes Bürgers präsente Volkssouveränität –, die Kant als sicheres Mittel gegen den Krieg vorschwebt. Offenbar aber hat die innere bürgerliche Konstitution auf das äußerliche Verhältnis der Konstituierten keinen sicheren Einfluß, denn obgleich die Bürger keinen Krieg wollen können, soll er, unter bestimmten Umständen, doch geführt werden. Geradezu – wie immer auch verhaltene – pathetische Begeisterung für den Kriegsbefehl entfaltet Kant in KpV, V 158: „Entscheidender ist die großmüthige Aufopferung seines Lebens zur Erhaltung des Vaterlandes, und doch, ob es auch so vollkommen Pflicht sei, sich von selbst und unbefohlen dieser Absicht zu weihen, darüber bleibt einiger Scrupel übrig, und die Handlung hat nicht die ganze Kraft eines Musters und Antriebes zur Nachahmung in sich.“ Durch Befolgung des Befehls gegen den eigenen Willen erhält der Krieg moralische Form. Vgl. MdS RL, VI § 56. Das sieht auch Hobbes. Vgl. Thomas Hobbes, Leviathan, a.a.O., Kap. XIII: „Die Begriffe von Recht und Unrecht haben hier keinen Platz.“ Vgl. Thomas Hobbes, Leviathan, a.a.O., Kap. XIII ff. Kants Ausschluß von ‚Strafkriegen‘ weist darauf hin, daß das Öffentliche Recht, hier der Staaten, nach dem Modell des Privatrechts konstruiert ist. Vgl. MdS RL, VI § 57.

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Mittel der Gewalt einigen, zudem in einem Zustand, in dem es keine Vertragsgarantie gibt. Dies allgemeine Kriegsrecht weist Kant zurück, um aber nun ein detailreiches pragmatisches Kriegsrecht zu entfalten, das die empirischen Bedingungen festlegt, nach denen ein Krieg als gerechtfertigt, als angemessen ausgeführt und als im Resultat angemessen verwaltet gelten könne.25 Hinter diesem Pragmatismus steht der Widerspruch der rigorosen Ablehnung des Krieges zu einem bedingten Dafürhalten. Menschen, als intelligible Moralsubjekte, können nicht kriegführen wollen, als empirische Rechtssubjekte müssen sie es aber wollen können, weil ihre Rechtssubjektivität im Naturzustand der Staaten permanent bedroht ist. So ergebe sich aus dem Naturzustand, gerade aus dem der schon bürgerlichen Staaten untereinander, ein ursprüngliches Kriegsrecht, das der Erhaltung des in verschiedenen Staaten empirisch organisierten bürgerlichen Rechts gilt. Da allein diese Staaten das Recht garantieren können, ist ihre Erhaltung eine notwendige Bedingung der Erhaltung des Rechts. Jeder Staat darf dann, legitimiert durch die Notwendigkeit des bürgerlichen Rechts, gegen jeden anderen Staat Gewalt anwenden, wenn einer der politisch Verantwortlichen eine Bedrohungssituation diagnostiziert. Diese Gewalt im Naturzustand fungiert bei Kant als Antizipation des internationalen Rechtszustands, in dem das Völkerrecht mit der Befugnis zu zwingen verbunden sein würde. Ohne die Antizipation dieser Zwangsbefugnis26 gäbe es keinen gerechten Kriegsgrund, und der begrifflichen Notwendigkeit der bürgerlichen Gesellschaft korrespondierte völkerrechtlich nichts. Allerdings bleibt nach Kant die antizipierte Zwangsbefugnis, abgesehen von ihrer legitimierenden Funktion, problematisch: Dem Staatenbund soll nicht notwendig eine Zentralgewalt zukommen, die einen Gerichtszwang oder gar die Entscheidungen eines internationalen Gerichtshofes durchzusetzen befugt und kräftig wäre, denn eine solche Zentralgewalt vertrüge sich nicht mit der erwünschten Beibehaltung souverän konkurrierender Staaten. – Die Machtlosigkeit des Internationalen Gerichtshofes in der Verfolgung beispielsweise US-Amerikanischer Völkerrechtsverstöße belegt dies ebenso wie die Nichtdurchsetztbarkeit von UNO-Resolutionen gegen die politischen Interessen der Großmächte;27 so fragwürdig jene Tribunale oder diese Resolutionsentwürfe im Einzelnen auch sein mögen, die willkürliche Durchsetzung nationaler Interessen gemäß dem 25 26

27

Vgl. MdS RL, VI §§ 56-58. Wolfgang Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, a.a.O., 349f., zitiert aus den Vorarbeiten zum ewigen Frieden, daß der Anfang des rechtlichen Zustandes, die Vereinigung der Willen, möglich sei nur „durch Gewalt auf deren Zwang nachher das öffentliche Recht gegründet wird“ (XXIII, 185). Kersting schließt hieraus: „Dieser Gewalt sich zu unterwerfen, um die Gründung des öffentlichen Rechts nicht zu hindern, ist Pflicht. […] Daher wird die staatliche Gerechtigkeit immer zwangsbewehrt auftreten und am geschichtlichen Anfang der gesellschaftlichen Vereinigung immer die gewaltsame Unterwerfung stehen.“ Bei Kant selbst hingegen steht die zitierte Stelle, die sich übrigens in der Druckfassung ebenso gut hätte finden lassen (EF, VIII 371), im Zusammenhang der Kritik am „politischen Moralisten […], der sich eine Moral so schmiedet, wie es der Vorteil des Staatsmanns sich zuträglich findet“ (EF, VIII 372); Kant läßt keinen Zweifel daran, daß die historische Gewalt keinerlei Schlüsse auf notwendige und allgemeine Urteile, wie Kersting sie formuliert (‚es wird immer‘), zuläßt. Solche Schlüsse seien „niedrig“ (EF, VIII 371). Vgl. hierzu Matthias Lutz-Bachmann/James Bohman (Hgg.), Frieden durch Recht, a.a.O., bes. die folgenden Beiträge: Heinhard Steiger, Frieden durch Institution. Frieden und Völkerbund bei Kant und danach; Richard Falk, Die Weltordnung innerhalb der Grenzen von zwischenstaatlichem Recht

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‚Recht‘ des – militärisch – Stärkeren bestätigt immerhin Kants Rede vom internationalen Naturzustand.28 Die ohnehin widersinnige Antizipation einer Zwangsbefugnis, die womöglich nie wirklich werden soll, setzt überhaupt die Antizipation des Rechtszustandes im Naturzustand voraus, um zu bestimmen, welche Staaten welche anderen Staaten rechtmäßig zwingen dürfen. Grundsätzlich soll kein Sieger den Unterlegenen für ungerecht ausgeben, um etwa Reparationsforderungen zu begründen, da dann der Krieg kein Privatrechtszwang mehr wäre, sondern Strafzwang, und dies könnte schon als erneute Beleidigung, als Grund eines Folgekrieges, erscheinen. Gäbe es aber keinen ungerechten Feind, so wäre das Kriegsrecht reine Willkür. Strenggenommen wäre im Naturzustand jeder Feind ungerecht,29 damit aber jeder Krieg gleich gut. Kant unterscheidet nun, daß zwar keiner den anderen als ungerecht bezeichnen dürfe, daß aber einer von beiden durchaus ein „ungerechter Feind“30 sein könne, dann nämlich, wenn er nach einer Maxime verfahre, die als allgemeine Regel die Verewigung des Naturzustands bewirken müßte. Werden hierin schon sowohl die Universalität und moralische Legitimation des Rechtszustandes, den es noch nicht gibt, zum Kriterium gemacht, um den ‚ungerechten Feind‘ als rechtswidrig der Bekämpfung auszusetzen, so spricht Kants Beispiel noch deutlicher: „Dergleichen [rechtswidrige Maxime] ist die Verletzung öffentlicher Verträge, von welcher man voraussetzen kann, daß sie die Sache aller Völker betrifft, deren Freiheit dadurch bedroht wird, und die dadurch aufgefordert werden, sich gegen einen solchen Unfug zu vereinigen und ihm die Macht dazu zu nehmen“31 . Indem Kant annimmt, staatliches Handeln im Naturzustand könne unter Umständen als Verletzung völkerrechtlich relevanter Verträge interpretiert werden, verlängert er das Völkerrecht in die vor-völkerrechtliche Zeit hinein. An sich gilt es schon in staatlichen Handlungen vor deren realer Rechtsbindung. Kant drückt sein Unbehagen gegenüber der Interpretation des Krieges als Übergang von einem Recht an sich zum Recht an-und-für-sich in einem Kommentar zur gewaltsamen Kolonialisierung aus, die trotz allen möglichen guten Absichten ungerecht sei: Auch wenn ohne Gewalt kein Recht in die Welt zu bringen wäre, widerspräche Gewalt dem Recht. Dies gelte ebenso für Revolutionen, die mit einem begrenzten Gewaltakt ei-

28

29 30 31

und dem Recht der Menschheit. Die Rolle der zivilgesellschaftlichen Institutionen; Michael Bothe, Friedensbegriff im Verfassungs- und Völkerrecht. Zu Recht weist Jürgen Habermas, Kants Idee des ewigen Friedens, a.a.O., 18, darauf hin, daß mittlerweile einerseits ‚Verbrechen gegen die Menschlichkeit‘ und andererseits der Krieg selbst als Verbrechen verfolgt werden können: „Mit diesen beiden Neuerungen haben die staatlichen Subjekte des Völkerrechts zum ersten Mal die generelle Unschuldsvermutung eines supponierten Naturzustandes verloren.“ – Die Praxis zeigt jedoch, daß von diesen Möglichkeiten unterschiedlich Gebrauch gemacht wird, so daß manche Staaten mehr und andere weniger Gefahr laufen, verfolgt zu werden. Auch solche staatliche Subjekte, deren Kriegsgründe sich später als hemmungslos zusammengelogene erweisen, bleiben unangetastet, wenn sie mächtig genug sind, während Vertreter zu Unrecht überfallener Staaten noch mit ihrer internationalen Aburteilung als Kriegsverbrecher rechnen müssen. Vgl. MdS RL, VI § 60. MdS RL, VI § 60. MdS RL, VI § 60.

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nen Unrechtszustand beseitigen wollten, „um nachher die Gerechtigkeit desto sicherer zu gründen“32 . Wenn dem Recht die partikulare Gewalt nicht wohl ansteht, bleibt es aber problematisch, welche Bedeutung der Wendung, der Sieger müsse den überwundenen ungerechten Feind „eine neue Verfassung annehmen […] lassen, die […] der Neigung zum Kriege ungünstig ist“33 , dann zukommen soll. Postuliert werden muß dieses Recht, die Annahme der bürgerlichen Verfassung zu erzwingen, um des systematischen Zusammenhangs von Staats-, Völker- und Weltbürgerrecht willen.34 Soll aus dem Begriff des Staatsrechts der des Völkerrechts folgen und aus diesen beiden der des Weltbürgerrechts, so wird die bürgerliche Staatsverfassung zum Prinzip des Öffentlichen Rechts überhaupt. Ließe dieses Prinzip sich im internationalen Öffentlichen Recht nicht realisieren, dann bliebe dieses ein ens rationis. Damit bliebe aber auch das nationale Recht prekär.35 Die Forderung nach durchgängiger Wirkung der Rechtsidee führt so aporetisch entweder auf die revolutionäre – mit der Rechtsidee unvereinbare – Überwindung ihrer Hindernisse, oder auf ihre Bewirkung mit Mitteln, die der unbedingten Geltung der Idee schon abgeschworen haben. Der objektive geschichtliche Zug, den Kant dem Verhältnis von Rechtsidee und Völkerrecht zuschreibt, hat sein movens im Subjekt: in dem antagonistischen Subjekt, das als Staatsrechtssubjekt in der politischen Geschichte fungiert.

2.

Das Staatsrecht: Allgemeinheit der Privatsubjekte

Die Zumutung an die Subjekte, den Krieg moralisch für unzulässig, um des Rechts willen ihn aber für notwendig ansehen zu müssen, setzt ihre Differenzierung in Moralsubjekte einerseits und Rechtssubjekte andererseits voraus. Die Differenz der Rechtssubjektivität zur Moral selbst folgt aus dem unterstellten Antagonismus der Subjekte, der in ihrer Rechtssubjektivität objektiv erscheint. Wenn Kant schreibt, die Autokratie sei die einfachste Staatsform, die Republik aber die dauerhafteste, weil dort „das Gesetz selbstherrschend ist, und an keiner besonderen Person hängt“36 , ist jener Antagonismus stillschweigend auch hier vorausgesetzt: Als republikanische Bürger seien alle an der staatlichen Organisation ihrer – als naturaliter divergierend gedachten – Interessen beteiligt, weshalb prinzipiell keinem unrecht geschehen könne. Kants Staatsformenlehre37 folgt, wenngleich verkürzt, formal der platonisch-aristotelischen Tradition,38 nach der Herrschaft quantitativ zu differenzieren sei in Monarchie, Aris32 33 34

35 36 37 38

MdS RL, VI § 62. MdS RL, VI § 60. Kants negative Formulierung sehen Oliver Eberl und Peter Niesen (Immanuel Kant. Zum ewigen Frieden. Kommentar, a.a.O., 170) nicht auf die bürgerliche Verfassung festgelegt. Aber für Kant sind alle nicht-bürgerlichen Staaten eine potentielle Bedrohung der bürgerlichen. Vgl. EF, VIII 349. Vgl. MdS RL, VI § 43. MdS RL, VI § 52. Vgl. MdS RL, VI § 51. Vgl. z. B. Platon, Politikos, in: Werke, Bd. 6, Darmstadt 1970, 300 d ff. und Aristoteles, Politik, Hamburg 1994, pass., bes. III u. IV.

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tokratie und Demokratie.39 Die Bevorzugung der republikanischen Form steht formal zwar in einer nominalistischen Tradition,40 wird jedoch vollständig säkular verstanden, indem als Grund – neben der Gefahr des Verfalls, insbesondere von Monarchie, in Despotie, worin sich die staatstheoretische Tradition seit Solon fast durchgängig einig ist – die rechtsformelle Koordination an sich divergierender und kollidierender Interessen angeführt wird. Ockham war es in seiner prä-konziliaristischen Auffassung um die Kritik des autokratischen Anspruchs der Papstkirche auf die Verwaltung des Seelenheils gegangen: Was jeden Christen im innersten seines Wesens betreffe, das müsse auch in die Kompetenz aller gestellt sein. Eine derartige substantiell-allgemein verankerte Begründung der Republik nimmt Kant hier zunächst nicht an. Seiner Position liegt durchaus die Forderung nach subjektiver Freiheit, Autonomie, zugrunde, die ihren staatsrechtlichen Ausdruck in der Volkssouveränität41 finde, verbunden mit der pragmatischen Vorstellung, daß die rechtliche Koordination von Privatinteressen durch deren wechselseitige Beschränkung sinnvoll von allen für alle zu verantworten sei, weil sonst autokratische Privatinteressen überwiegen und als Privilegien manifestiert werden könnten. Unterstellt ist überhaupt die Existenz von Interessenkonflikten, die allein durch wechselseitige Beschränkung der Freiheit der Willkür koordiniert, aber keinesfalls durch vernünftige Gestaltung der Bedingungen der Freiheitsentfaltung aufgehoben werden könnten. Die Koordination der Antagonismen sei aber derart zwingend, daß sie sogar einem Volk von verstandesbegabten Teufeln möglich sein müsse. Die Aufgabe laute lediglich: „Eine Menge von vernünftigen Wesen, die insgesammt allgemeine Gesetze für ihre Erhaltung verlangen, deren jedes aber ingeheim sich davon auszunehmen geneigt ist, so zu ordnen und ihre Verfassung einzurichten, daß, obgleich sie in ihren Privatgesinnungen einander entgegen streben, diese einander doch so aufhalten, daß in ihrem öffentlichen Verhalten der Erfolg eben derselbe ist, als ob sie keine solche böse Gesinnungen hätten.“42 Weil sie der allgemeinen Gesetze, die sie als Vernunftwesen verlangen, als Sinnenwesen nicht fähig sind, begründet der Verstand ein negatives Surrogat, das die Sinnenwesen verhindert, sich – wie es ihrer Natur entspräche – gegenseitig zugrunde zu richten. „Denn es ist nicht die moralische Besserung der Menschen, sondern nur der Mechanism der Natur, von dem die Aufgabe zu wissen verlangt, wie man ihn an Menschen benutzen könne“43 . Dieser Entmündigung um der Mündigkeit willen entspricht im Staatsrecht die allmähliche Differenzierung von Verfassung und Regierungsart.44 Um den Übergang der 39

40

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Die Lehre von den formalen Vorzügen der Monarchie geht mindestens auf Thomas von Aquin zurück. Vgl. Über die Herrschaft der Fürsten, Stuttgart 1994, I 1-3. Ohne Motivgeschichte im Detail betreiben zu wollen, kann die Thomasische Argumentation als Verknüpfung Aristotelischer und Pseudo-Dionysischer Momente charakterisiert werden. Vgl. z. B. Wilhelm von Ockham, Epistola von 1334, in: Dialogus. Auszüge zur politischen Theorie, hg. v. Jürgen Miethke. Darmstadt 1992, 3ff. Vgl. MdS RL, VI § 46. EF, VIII 366. EF, VIII 366. Historisch geht diese Unterscheidung auf Bodin zurück, der sie sich jedenfalls selbst zuschreibt: „Hierauf ist noch keiner gekommen.“ (Jean Bodin, Sechs Bücher über den Staat, München 1981, 337). Systematisch ergibt sie sich aus der vernunftrechtlichen Begründung des Rechtsstaatsbe-

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vorrepublikanischen Verfassung zur republikanischen ohne Aufhebung des Rechtszustandes zu gewährleisten, sei er als Reform zu gestalten, indem innerhalb der vorrepublikanischen Verfassung deren Herrscher bereits republikanisch regierten. Das Problem liegt darin, daß dem theoretisch strikten Gegensatz von Naturzustand und Rechtszustand in der Erfahrung nichts exakt korrespondiert. Der vorrepublikanische, selbst der vorbürgerliche Zustand, sind nicht mit der Vorstellung des Naturzustandes identisch. Jener Gegensatz ist hier vielmehr durch Übergangsformen vermittelt. Gerade weil nun in solchen Übergangsformen alles Recht bloß provisorisch ist, könne es nur durch die unwiderstehliche Macht des Staatsoberhauptes gesichert werden. Die Entwicklung des Rechtszustandes fällt danach in den Naturzustand als die Aufgabe des Herrschers, durch Privileg sein Privileg abzuschaffen.45 Dann aber wäre der Fortschritt in der Verfassung – als in herrscherlicher Willkür begründeter – nicht allein bloß zufällig, sondern sogar unwahrscheinlich, da er dem unmittelbaren Interesse der Herrschaft zuwiderliefe. Nach Kant unterläge der Fortschritt hingegen gerade dann dem „blinden Zufall“, wenn er durch eine sich aufschwingende „subalterne Gewalt“46 im Volk bewirkt werden sollte. Tatsächlich stehe Beherrschten überhaupt nie ein Recht gegen Herrschaft zu, da diese allein Recht zu setzen fähig sei: „Unbedingte Unterwerfung des Volkswillens (der an sich unvereinigt, mithin gesetzlos ist), unter einem souveränen (alle durch Ein Gesetz vereinigenden) Willen, ist That, die nur durch Bemächtigung der obersten Gewalt anheben kann, und so zuerst ein öffentliches Recht begründet.“47 Dies ist keine historische Beobachtung, sondern eine Feststellung mit theoretischem Anspruch, nach der die Realität von Recht überhaupt nur durch einseitige Willkür, durch Bemächtigung – d. h. hier Unterwerfung des kollektiven Subjekts des Volkswillens – gesetzt werden kann. Historische Gewalt gilt als systematisches Konstituens des Rechts. Wenn unter dieser Voraussetzung selbst eine Verfassung aus bloß positiven Gesetzen durch eine naturrechtliche Legitimation des Gesetzgebers abgesichert sein können soll,48 so ist dem implizit die Vorstellung eines Weltgeists vorausgesetzt, der sich als listige Vernunft vernunftwidriger Mittel bedient, um Vernunft zu realisieren. Ganz in diesem Sinne schreibt Kant, die „Idee einer Staatsverfassung überhaupt […] ist heilig“; empirisch sei „eine rechtliche Verfassung, im allgemeinen Sinn des Worts“ da, sobald ein Volk durch einen Herrscher unter Gesetze gebracht werde, und sie sei unwiderstehlich, „obgleich sie mit großen Mängeln und groben Fehlern behaftet sein […] mag“49 . Offensichtlich umfaßt diese Fehlertoleranz auch Bestimmungen der Verfassung,

45 46 47 48 49

griffs, der das erste allgemeine Staatsprinzip, eine Staatsgattung, darstellt und die „überkommenen Staatsformen zu Regierungsformen relativiert“ (Ernst-Wolfgang Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt am Main 1991, 148). Vgl. MdS RL, VI § 52. MdS RL, VI 372. MdS RL, VI 372. Auch hier steht Kant in der Tradition Bodins. Vgl. MdS RL, VI 224. MdS RL, VI 372. Robert Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, München o.J., erwägt, daß Kant mit diesem Gedeanken des Schutzes ‚gesetzlichen Unrechts‘ durch das Recht womöglich „zeitbedingten obrigkeitsstaatlichen Vorstellungen unterlegen ist“ (194). Es ist aber zu zeigen, daß sich dies aus der antagonistischen Rechtskonstruktion Kants selbst ergibt.

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die gegen das Rechtsprinzip selbst verstoßen, wie die Bemächtigung der Freiheit der Willkür der Bevölkerung durch einseitigen Willkürakt. Die grundsätzliche Aporie bürgerlicher Rechtslehre, geschichtliche Gewalt als Bedingung von Recht fassen zu müssen, sie aber nicht als dessen Bestandteil fassen zu können, bringt Kant hier in unmittelbare Nähe zum Verfassungsbegriff Hegels: „Der schlechteste Staat, dessen Realität dem Begriffe am wenigsten entspricht, insofern er noch existiert, ist er noch Idee; die Individuen gehorchen noch einem machthabenden Begriffe.“50 Es wird, gegen die Erscheinung der empirischen Verfassungen, das Dasein einer Verfassungsidee oder Verfassung an sich vorgestellt, die aus den empirischen Verfassungen durch Reformen herausevolviert werden könne; dies wäre unmöglich, wenn bestehende Verfassungen, die den Begriff nicht erfüllen, auch schlicht falsch sein könnten.51 Dann wären sie nicht zu reformieren, sondern zu ersetzen. Der Fortschritt in der politischen Freiheit durch Differenzierung von Staatsform und Regierungsart innerhalb der bestehenden Staatsform ist ein von Kant häufig bemühter topos. Er dient demselben Zweck wie die Unterscheidung von privatem und öffentlichem Vernunftgebrauch,52 wonach der Vernunftgebrauch des Gelehrten vor der Weltöffentlichkeit in seiner Entfaltung nur der Vernunft selbst unterworfen sei. Jener Gebrauch aber, den ein gleichwohl Gelehrter, womöglich auch vor einem Publikum, aber in Ausübung eines Amtes von seiner Vernunft macht, dürfe „sehr enge eingeschränkt sein“53 . Daß nun ausgerechnet der im öffentlichen Auftrage und in öffentlicher Erfüllung eines öffentlichen Amtes erfolgende Vernunftgebrauch der ‚private‘ genannt wird, geht darauf zurück, daß diese Beamteten zur Ausführung administrativer, juristischer, religiöser oder medizinischer Handlungen eingesetzt sind; die Aktualisierung ihres autonomen Denkvermögens gehört nicht zu ihrer dienstrechtlichen Bestimmung. Kant verteidigt die Reservierung des Staatsdienstes gegen die sonst von ihm protegierte Öffentlichkeit54 , 50

51

52 53

54

G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik, Zweiter Band, a.a.O., 175f. Zu dem Problem von Geschichte und Systematik im Verhältnis von Recht und Gewalt vgl. Michael Städtler, Ein komisches Schauspiel. Zur Bedeutung politischen Widerstands für Hegels Rechtsbegriff , in: Hegel-Jahrbuch 2009. Josef Simon, Kant, a.a.O., 389f., stellt fest, daß Kants Begriff des Rechts die Vorstellungen seiner Reformbedürftigkeit und seiner Reformierbarkeit enthalte und daher gegen Revolten immunisiert sei. Auch Horst Dreier macht den Reformbegriff Kants sehr stark. Vgl. Kants Republik, in Volker Gerhardt (Hg.), Kant im Streit der Fakultäten, a.a.O. Vgl. Aufklärung, VIII 37f. Aufklärung, VIII 37. Diese problematische Differenz ist oft verteidigt worden. So sieht Josef Simon, Kant, a.a.O., 391, in ihr einen Schutz vor Amtsmißbrauch. Wolfgang Bartuschat, Philosophie und Aufklärung, in: Heiner F. Klemme (Hg.), Kant und die Zukunft der europäischen Aufklärung, a.a.O., schlägt vor, der Soldat, der im Dienst unbedingt gehorchen müsse, könne außer Dienst schriftstellerisch gegen militärische Mängel protestieren. Auch ohne auf Gefahr im Verzug oder auf die schriftstellerischen Möglichkeiten von Soldaten und Verwaltungsbeamten weiter einzugehen, sind diese Verteidigungen nicht ganz befriedigend. Vgl. dazu Kant selbst, Anthropologie, VII 200: „Subalterne müssen nicht vernünfteln (räsonniren), weil ihnen das Princip, wornach gehandelt werden soll, oft verhehlt werden muß, wenigstens unbekannt bleiben darf; der Befehlshaber (General) aber muß Vernunft haben, weil ihm nicht für jeden vorkommenden Fall Instruction gegeben werden kann.“ Vgl. Axel Hutter, Zum Begriff der Öffentlichkeit bei Kant, a.a.O.

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damit der funktionale Ablauf des Staates nicht gefährdet werde. Schon darin, daß solche Gefährdung von der Aktualisierung des Denkvermögens der Beamten zu befürchten wäre, zeigt sich, daß Staatszweck und Vernunftzweck nicht notwendig übereinstimmen, daß der Staat nicht notwendig vernünftig ist. Korrekturen dieses Mißverhältnisses seien aber nur in einer Sphäre zu gewährleisten, die in den unmittelbaren Ablauf der partikularen Staatsgeschäfte nicht involviert ist, in der Wissenschaft, die Kant mit Schiller55 als universell-internationalistisch auffaßt und die gleichwohl ihre Überzeugungskraft in den nationalen Regenten entfalten könne, ohne dem Staatsbetrieb zu schaden. Von den Wissenschaftlern verlangt dies unter Umständen gleichwohl, ihre Äußerungen den Regenten mundgerecht zu machen, wenn nämlich diese darüber befinden lassen, welche Äußerung als privat und welche als öffentlich zu gelten habe. Die übrigen Beamten werden darüber hinaus direkt verhalten, im Konfliktfall fortgesetzt gegen ihr Wissen und Gewissen zu handeln oder aber ihr Amt niederzulegen, mithin ihre bürgerliche Existenz aufzugeben. Die Bevölkerung schließlich darf kannegießern, aber nicht meinen, damit am öffentlichen Entscheidungsprozeß teilzunehmen.56 Die Vernunft gerät in den Zwiespalt, um der öffentlichen Ruhe willen ihre eigenen Ansprüche zurückzusetzen oder sogar pragmatisch nicht-vernünftigen Zwecken zu dienen. Kompromißlos aufgeklärte Vernunft müßte bezwecken, den Staatsablauf, wo er der Vernunft nicht entspricht, zu korrigieren; das Funktionieren des Staates ist aber schon technisch-praktisch die notwendige Bedingung der erweiterten Reproduktion der empirischen Subjekte der Vernunft, so daß der massenhafte Vernunftgebrauch durch die Bürger, abseits von den internationalistischen Enklaven der Katheder, gegen seine Absicht, die vernünftigen Subjekte von restriktiven Lebensbedingungen zu befreien, ihre Lebensbedingungen überhaupt bedrohte. Den Umsturz bezeichnet Kant als einen Zustand der Anarchie, voll von „Greueln […], die wenigstens dadurch möglich sind“57 , einen Zustand des Unrechts. Diese Vorstellung von Anarchie ist aber nicht mit ihrem Begriff, der Einheit von Freiheit und Gesetz ohne Gewalt,58 vereinbar, denn unter diesen Begriff fällt auch die moralische Kollektivität der Menschen: die Geltung des Gesetzes allein aus Freiheit. Unter jene Vorstellung von Anarchie fällt aber nur brutales Chaos. Kants Schrecken vor der Anarchie reflektiert wohl auch die Gewalt der im Feudalstaat schon ökonomisch organisierten bürgerlichen Subjekte, der sozial vereinzelten Kontrahenten und Konkurrenten, die im Falle eines Machtvakuums übereinander herfielen, um sich rückhaltlos wechselseitig um den Besitz zu bringen. Jener Gewalt, die im bürgerlichen Recht kanalisiert ist, – gleichviel ob condition humaine oder fait social – liegt historisch diejenige der Konstitution bürgerlichen Eigentums zugrunde; dieses entstand durch Aneignung mittels einseitiger Erwerbung, Okkupation unter Bedingungen, die selbst noch keine bürgerlich-rechtlichen waren; sie 55

56

57 58

Vgl. Friedrich Schiller, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?, in: Universalhistorische Schriften, Frankfurt am Main 1999, 16. Vgl. z. B. SF, VII 34. In anderem Zusammenhang stellt Kant fest „Der Freiheit zu denken ist […] der bürgerliche Zwang entgegengesetzt.“ (Sich im Denken orientieren, VIII 144). Ein Verbot, öffentlich zu diskutieren, wirke schädlich ins Denken zurück. Kant warnt hier allerdings vor der Freigeisterei, der Verweigerung des Vernunftglaubens, die öffentlich mit Recht bekämpft werde. Diese anarchische Freiheit zerstöre dann Freiheit überhaupt. Gemeinspruch, VIII 302 Anm. Zur Formenlehre von Despotie, Republik und Anarchie vgl. Anthropologie, VII 330f.

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konnten es nicht sein, denn das bürgerliche Recht schafft kein Eigentum, sondern sichert bloß dasjenige, was vor dem Rechtszustand schon erworben wurde.59 – Schließlich ist die Durchsetzung ökonomischer Vorteile durchaus ein treibendes Motiv der Französischen Revolution gewesen, deren Verlauf dadurch nicht unberührt geblieben ist. Das Auseinanderfallen des Anarchiebegriffs bei Kant indiziert so eine politische Konsequenz des Dualismus von intelligibler und empirischer Seite im Subjekt: Das intelligible Subjekt kann sich wohl vernünftige politische Zwecke ohne pathologische Affektation denken, das empirische kann diese aber nicht ohne Beschränkungen ausführen, ja nicht einmal wollen, denn die technisch-praktische Handlungsbestimmung, die der Realisierung der moralischen Willensbestimmung zum Mittel dienen soll, soll diese bloß beschränkt aufnehmen, so daß der Wille des Subjekts selbst nicht konsistent zu bestimmen ist. Seine Konsistenz fiele allein ins intelligible Subjekt, mit dem sich zu identifizieren für das empirische unter widrigen Bedingungen der Selbstverleugnung gleichkäme.60 Für diese Inkonsistenz steht auch Kants Haltung zum Widerstandsrecht. Daß es vor der Gründung von Rechtsverhältnissen kein Widerstandsrecht geben kann, ergibt sich unmittelbar daraus, daß es eben gar kein Recht gibt.61 Innerhalb bestehender Rechtsordnungen ist ein Widerstandsrecht dann zunächst logisch unmöglich, denn mit dem Anspruch auf ein solches behauptete sich das Volk gegen das Recht des Staatsoberhauptes, über das es jedoch keine Jurisdiktionsgewalt gibt. Zudem wäre das Widerstandsrecht – im Gegensatz zu dem Recht des Staatsoberhauptes – nicht mit Strafgewalt verbunden und somit unwirksam. Seine Wahrnehmung könnte nicht öffentlich geschützt werden.62 Daß „die oberste Gesetzgebung […] eine Bestimmung in sich [enthielte], nicht die oberste zu sein“63 , schließt Kant als widersprüchlich aus. Gleichwohl kennt er eine Form des Rechts über dem geltenden Recht: Das allgemeine Prinzip des Rechts, die rechtliche Forderung reiner praktischer Vernunft, muß erfüllt sein, um einen Zustand als Rechtszustand zu qualifizieren. Der Widerspruch, „das Volk 59

60

61 62 63

Über Kants wiederholt erfolglose Versuche, diesen Übergang systematisch, das heißt gewaltlos, zu vermitteln, wird im Abschnitt übers Privatrecht zu sprechen sein. Vielleicht bemühen sich auch deswegen zunächst Schiller, später Hegel so vehement um die Überwindung des Dualismus in Kants Moralbegriff. Hierzu vgl. Dieter Henrich, Der Begriff der Schönheit in Schillers Ästhetik, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 11 (1957), bes. 528; neuerlich: Edith Düsing/Klaus Düsing, Gesetz und Liebe. Untersuchungen zur Kantkritik und zum Ethik-Entwurf in Hegels Frankfurter Jugendschriften, in: Barbara Merker/Georg Mohr/Michael Quante, Subjektivität und Anerkennung, Paderborn 2004, 1ff. Gerade die Restitution des Tugendbegriffs bei Hegel – und heute – provoziert die Frage, ob nicht Kants schroffer Pflichtbegriff, eben weil er die Einheit des praktischen Subjekts in Frage stellt, dessen Situation in der Welt eher gerecht wird. So schreibt Jussi Kotkavirta, Liebe und Vereinigung, in: Barbara Merker/Georg Mohr/Michael Quante, Subjektivität und Anerkennung, a.a.O., 21: Die „Erfahrung, daß in der Lebenswirklichkeit des modernen Menschen eine tiefe Entzweiung oder Differenzierung stattfindet, sowie das Motiv der Vereinigung waren […] eine Art Grundproblem der ganzen nachkantischen Generation“. Damit reagieren die Autoren dieser Generation auf ein Problem, das, aus dieser Perspektive, sich auch bei Kant ausweisen läßt: die massive Schwierigkeit, angesichts der historischen Objektivität einen konsistenten Begriff des Subjekts von sich selbst zu gewinnen. Vgl. Gemeinspruch, VIII 302. Vgl. Gemeinspruch, VIII 302 und MdS RL, VI 319. MdS RL, VI 320.

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als Unterthan in ein und demselben Urtheile zum Souverän über den zu machen, dem es unterthänig ist“64 , ließe sich in der aus dem Rechtsprinzip folgenden Volkssouveränität auflösen, denn unter deren Voraussetzung appellierte die rhetorische Frage, „wer denn in diesem Streit zwischen Volk und Souverän Richter sein sollte“65 , eben nicht an die leere Stelle einer noch übergeordneten Macht: Die Uneinigkeit innerhalb des souveränen Volkes, gerade wenn es „rechtlich betrachtet doch immer zwei verschiedene moralische Personen“66 – Volk als Souverän und Volk als Untertan – vorstellt, kann und muß allein durch praktische Vernunft behoben werden, denn allenfalls in der Reflexion der Vernunft könnte die Einheit der Person durch ihre verschiedenen – auch die rechtlichen – Funktionen hindurch stabil gründen. Solch eine vernünftige Einheit aber wäre auch in den Einzelnen nur dann zu hoffen, wenn es zuvor gelänge, die Gesamtheit der Subjekte des allgemein vereinigten Willens tatsächlich als kollektives Subjekt wenigstens zu antizipieren. Die bloße Erfahrung des Antagonismus verhält die Einzelnen zur Reflexion der Gegnerschaft als Konstituens ihrer Subjektivität. Um den Anspruch auf vernünftige subjektive Identität dagegen stellen zu können, bedürfen sie einer Vorstellung – einer Idee – der kollektiven Identität. Ohne eine solche Vorstellung ist niemandem auch nur die bewußte Erfahrung realer Uneinigkeit als eines Negativen möglich. Wird personale Identität durch praktische Vernunft, das Vermögen Zwecke zu setzen, und zwar mit Blick auf die kollektive Identität der vernunftbegabten Sinnenwesen, bestimmt, so muß die Frage nach dem Zweck des Staates gestellt werden. Dieser Zweck, „das Heil des Staats“, besteht im „Zustand der größten Übereinstimmung der Verfassung mit Rechtsprincipien […], als nach welchem zu streben uns die Vernunft durch einen kategorischen Imperativ verbindlich macht“67 . Dem entspricht, so Kant, die Staatsverfassung als bürgerlich-rechtliches Verhältnis von Willkürsubjekten dann, wenn deren Privatwillkür unter einem allgemeinen Willen, dessen Ausdruck eben die Verfassung ist, vereinigt ist. Dieser allgemeine Wille objektiviere sich in Rechtsgesetzen, die keine bloß statutarischen, positiven, Gesetze seien, sondern „aus Begriffen des äußeren Rechts überhaupt“ und „nach reinen Rechtsprincipien“68 folgten und daher a priori notwendig seien. Diesem Rechtsbegriff folge der systematische Staatsbegriff der Rechtslehre als Begriff des Idealstaates, der allen empirischen Staaten als Maßstab vorhergehe. Einwände gegen den idealen Staatsbegriff hatte Kant schon früher zurückgewiesen: „Eine Verfassung von der größten menschlichen Freiheit nach Gesetzen, welche machen, daß jedes Freiheit mit der anderen ihrer zusammen bestehen kann, (nicht von der größten Glückseligkeit, denn diese wird schon von selbst folgen;) ist doch wenigstens eine notwendige Idee, die man nicht bloß im ersten Entwurfe einer Staatsverfassung, sondern auch bei allen Gesetzen zum Grunde legen muß, und wobei man anfänglich von den gegenwärtigen Hindernissen abstrahieren muß, die vielleicht nicht sowohl aus der menschlichen Natur unvermeidlich entspringen mögen, als vielmehr aus der Vernachlässigung der echten

64 65 66 67 68

MdS MdS MdS MdS MdS

RL, RL, RL, RL, RL,

VI VI VI VI VI

320. 320. 320. § 49. § 45.

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Ideen bei der Gesetzgebung.“69 Hinsichtlich der hier ambivalent fungierenden Glückseligkeit, die nicht primäres Staatsziel sein dürfe, aber sekundäres sei, äußert Kant sich in der Rechtslehre ernüchternd: Unter dem Staatszweck dürfe nicht „das Wohl der Staatsbürger und ihre Glückseligkeit“ verstanden werden, „denn die kann vielleicht […] im Naturzustande oder auch unter einer despotischen Regierung, viel behaglicher und erwünschter ausfallen“70 . Indem Kant das unbedingte Rechtsprinzip gegen das bedingte Wohl absetzt, bringt er beide, die historisch auseinanderfallen mögen, in einen strengen theoretischen Gegensatz. Der Staat erscheint dann zumindest als indifferent gegen das Wohlergehen der Menschen, die ihn bilden, worin sich abzeichnet, daß die bürgerliche Verfassung, auch ihrem Ideal nach, mit der autonomen Rechtspersönlichkeit nicht die Aufhebung der Heteronomie, der Fremdbestimmung durch Natur und andere Menschen, verknüpfen kann. Dazu taugt sie schon ihrer Begründung nach nicht, denn die Notwendigkeit des Staates begründet Kant zwar nicht aus der Erfahrung der Boshaftigkeit der Menschen, die es zu bändigen gelte,71 aber auch nicht aus der Vernunftidee der Autonomie, sondern aus einer „Vernunftidee eines […] (nicht-rechtlichen) Zustandes“72 , der Idee des Naturzustands also, in der es liege, daß dort niemand vor anderen sicher sein könne, weil jeder sein eigenes Willkürrecht setze und anwende. Nun entgegnet Kant selbst noch, daß es sich im Naturzustand keineswegs um Rechte oder davon abgeleitete Ungerechtigkeit, sondern einfach um Rechtlosigkeit handle; gleichwohl verfahre in der Rechtlosigkeit jeder nach „seinen Rechtsbegriffen“73 . Unter einem ‚Rechtsbegriff‘ könnte nun – streng genommen – allenfalls die Rechtsidee verstanden werden, mittels derer die Subjekte sich intellektuell gegen die allgemeine Willkürherrschaft zur Wehr zu setzen vermöchten und die ihrerseits durch Negation des Willkürprinzips die Transformation von dessen formeller Allgemeinheit in die vernünftige Allgemeinheit des moralischen Willens antizipierte. Was Kant dagegen unter jenen ‚Rechtsbegriffen‘ versteht – nämlich insbesondere Ansprüche und Methoden der Besitznahme, die im Naturzustand der gleichen gesetzlichen Form unterlägen wie im Rechtszustand, bloß ohne Sicherheit –, das folgt aus dem Rechtsprinzip keinesfalls. Im Naturzustand gibt es weder Recht noch Eigentum, und dieses kann daher auch nicht der Form von jenem unterliegen. Kant aber projiziert den Rechtszustand auf den Naturzustand. Dadurch entsteht jedoch keine ‚Vernunftidee‘ des Naturzustandes, sondern eine privative Negation des empirischen Rechtszustandes.74 Eine Idee ist auf die intelligi69 70 71 72 73 74

KrV, B 373. MdS RL, VI § 49. Vgl. MdS RL, VI § 44. MdS RL, VI § 44. MdS RL, VI § 44. Das weisen auch Kants Formulierungen in MdS RL, VI § 44 aus: „(nicht-rechtliche[r]) Zustand[]“, „Rechtlosigkeit“, „vereinzelte Menschen“. Wolfgang Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, a.a.O., weist die Interpreten, „die in der Nachfolge Marx’ im Naturzustand eine Darstellung der bürgerlichen Gesellschaft erblicken“ (331), zurück, weil Kant in dieser Formulierung des Naturzustandes ausdrücklich beanspruche, die Konflikte der Menschen seien in jedem Zustand des Verhältnisses von Menschen zueinander notwendig; damit sei Kant der Argumentation Hobbes’ überlegen: „[I]st die Notwendigkeit einer staatlichen Organisation menschlichen Zusammenlebens nicht erst aus einem bestimmten Menschenbild, sondern schon aus dem unverrückbaren Rahmen

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R – S  R

ble Begründung der Vollständigkeit in Ansehung der Gegenstände möglicher Erfahrung gerichtet, mithin auf die Vorstellung einer systematischen Verknüpfung der in der Erfahrung gegebenen Einzelnen; hiervon kann im Naturzustand keine Rede sein, denn die einzige Idee der vollständigen Einheit der rechtlosen, vereinzelten Menschen könnte wohl die Rechtsidee sein. Indem Kant die Negation des empirischen bürgerlichen Zustands als Begriff des Naturzustands a priori ausgibt, bezweckt er eine Ableitung a priori des bürgerlichen Zustands aus einem an sich rechtlichen Naturzustand, nicht aber die rationale Begründung der Rechtsidee aus Moralbegriffen. Zwar ist der weltbürgerliche Zustand des vernünftigen Verhältnisses aller Menschen der terminus ad quem der Rechtslehre, es werden aber die Rechtsbestimmungen nicht aus der Idee des verwirklichten Rechts abgeleitet, sondern aus dem ‚Allgemeinen Rechtsprinzip‘ in Verbindung mit dem Antagonismus der Menschen. Nicht die moralisch begründete Rechtsidee wird als Grund der Notwendigkeit angeführt, den Naturzustand zu verlassen, sondern dessen vorgestellte empirische Beschaffenheit, genauer die Unmöglichkeit erweiterter Reproduktion auf der begrenzten Erdoberfläche, wenn diese nicht privat intelligibel angeeignet werden kann, da die fortschreitende Parzellierung in Abschnitte, die einem empirischen Besitz zugänglich wären, den ökonomischen Naturzustand festlegte: Es bliebe bei Subsistenzwirtschaft.75 Daher ist der Naturzustand empirisch – in Ansehung der Priorität in der Zeit – zu überwinden durch Okkupation, die zugleich aber die Mehrzahl der Menschen um den Besitz ihrer Existenzgrundlagen bringt.76 Die hierzu eingesetzte Gewalt ist kontingent, nicht schon rechtlich begründeter Zwang. Als notwendig erscheint der Ausgang aus dem Naturzustand nur in Kants Projektion der Notwendigkeit des Rechtszustandes

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jedes nur denkbaren Menschenbildes begründbar, dann wird Herrschaft unvermeidlich.“ (ebda.) Zunächst ist jenes Argument der ‚Nachfolger von Marx‘ am deutlichsten wohl von Rousseau ausgesprochen worden (vgl. Jean-Jaques Rousseau, Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, a.a.O., 206: „Sie sprachen vom Wilden und zeichneten den Zivilisierten.“); indem Kant den Naturzustand zur Idee erklärt, reagiert er bereits auf die von Rousseau reklamierte Aporie des Begriffs. Sodann ist Kersting in seiner Herrschaftsableitung formal zuzustimmen; nur steht deren formale Richtigkeit unter der Bedingung der Begründbarkeit von Kants bloßer Behauptung der Geschichtslosigkeit des Antagonismus. Hätte Kant ein ‚Menschenbild‘ – statt eines Begriffs vom Menschen –, so wäre ihm vorzuwerfen, daß er es bloß nach seinem Bilde hätte schaffen können. Tatsächlich will Kant sich diesem Vorwurf entziehen, indem er den Naturzustand als Idee deklariert. Aus den angeführten Gründen kann es eine solche Idee nicht geben; der Einwand gegen Kant lautet nicht, die bürgerliche Gesellschaft sei im Naturzustand abgebildet, sondern, dieser sei allein durch Negation von ihren spezifischen Eigenschaften zu gewinnen und könne dann nicht als Legitimationsinstrument wieder in sie hinein verlängert werden. Manfred Brocker, Kants Besitzlehre. Zur Problematik einer transzendentalphilosophischen Eigentumslehre, Würzburg 1987, 107ff., interpretiert Kants Rekurs auf die Kugelgestalt der Erde nicht als empirisches Zitat der begrenzten Oberfläche, sondern als Symbol der praktischen Vernunftidee des ursprünglichen Gemeinbesitzes. Brockers Interpretation, die gewisser Weise transzendentaler ist als die Vorlage, kann den Zweck bürgerlichen Eigentums, der bei Kant noch in den Brüchen wirksam ist, nicht mehr repräsentieren. Vgl. MdS RL, VI § 12.

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auf die Bestimmung des Naturzustandes, von dem es im Naturzustand selbst keinen Begriff geben kann, weil dieser als privative Negation des Rechtszustandes formal und material logisch von diesem abhängt. Diese Begründung des Rechtszustandes aus dem Naturzustand macht die Aporien und den Antagonismus des Naturzustandes nun umgekehrt nicht bloß zu historischen Bedingungen, sondern zu konstitutiven Bestimmungsmomenten des Rechtszustandes, in dem sie deshalb fortbestehen. Der Staat ist seinem Grundsatz nach so antagonistisch wie die bürgerliche Gesellschaft: Der Mensch müsse den Naturzustand verlassen, „und sich mit allen anderen (mit denen in Wechselwirkung zu gerathen er nicht vermeiden kann) dahin vereinigen, sich einem öffentlich gesetzlichen äußeren Zwange zu unterwerfen“77 . Die Menschen, denen man offenbar ohne Zwangsinstrument besser nicht begegnete, sind hier nicht als Gattungswesen, sondern als Konkurrenten um die Aneignung von Privatbesitz aufeinander bezogen. Demzufolge ist es der Zweck des Staates, den Erwerb und die Bewahrung von Eigentum gesetzlich zu bestimmen und zu schützen mittels einer Privatrechtsordnung und der Institution des Gerichtszwanges. Der Staatszweck folgt unmittelbar dem Sachenrecht78 und setzt seine dialektische Beziehung zum Naturzustand auch deswegen voraus, weil das Eigentum nur in einem Naturzustand, der an sich schon Rechtszustand ist, ursprünglich erworben werden kann. Aus dem Staatszweck und seiner notwendig formellen Begründung ergeben sich die Eigenschaften des Staatsbürgers: Freiheit, Gleichheit und Selbständigkeit. Der Begriff bürgerlicher Freiheit geht aus von dem individuellen Streben nach Glückseligkeit, soweit durch des Einen Streben kein Anderer in dem seinen gestört würde; aus der Negation aller staatlichen Zweckbestimmungen dieses Strebens folgt schon der Formalismus bürgerlicher Freiheit,79 der in der Definition, „keinem anderen Gesetz zu gehorchen, als zu welchem er seine Beistimmung gegeben hat“80 , ausgedrückt ist. Dies könnte nun aber jedes beliebige Gesetz sein, selbst ein dem Sittengesetz widerstreitendes, wenn die Form der Einstimmigkeit seiner Verabschiedung es zum Recht qualifiziert, das als Ausdruck des gesetzgebenden Willens dann unwiderstehlich ist.81

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MdS RL, VI § 44. Vgl. MdS RL, VI §§ 1-17 und Hans-Georg Deggau, Die Aporien der Rechtslehre Kants, a.a.O., 248ff. Vgl. auch Ernst-Wolfgang Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit, a.a.O., 147f.: „Indem die staatlich zu schaffenden Voraussetzungen dieser Selbsterfüllung [bürgerlicher Subjektivität; M.St.] in der Gewährleistung von Freiheit und Eigentum (nicht etwa in der sozialen Gleichheit) gesehen werden, wird der bürgerliche (erwerbs- und besitzbezogene) Charakter der rechtsstaatlichen Ordnung konstituiert.“ Später heißt es noch schärfer: „Das Prinzip der rechtlich freien, gleichen, kapitalbildenden Persönlichkeit war zum Prinzip des gesamten bürgerlichen Rechts erklärt.“ (ebda. 158). Ähnlich hatte Karl Marx, Das Kapital, Bd. 1, MEW 23, a.a.O., 189, formuliert: „Freiheit, Gleichheit, Eigentum und Bentham.“ Vgl. Gemeinspruch, VIII 290f. MdS RL, VI § 46. Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, a.a.O., interpretiert diesen Formalismus als Reflexivität des Rechtssystems: „Der bekannteste Fall ist die Normierung der Verfahrensregeln, die, wenn beachtet, dazu führt, daß die erzeugte Entscheidung selbst normierende Kraft hat. […] Was immer der dazu eingesetzte Entscheider entscheidet, wird dadurch Recht.“ (146).

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Das Sittengesetz, die allgemeine Kompatibilität aller Willen, ist, unabhängig von der Moralität der Maximen, einer Verfahrensform subsumiert: Rechtmäßig ergeht ein Gesetz, „wenn es sich nur nicht widerspricht, daß ein ganzes Volk zu einem solchen Gesetz zusammen stimme, es mag ihm auch so sauer ankommen, wie es wolle“82 . Indem Kant, gerade um der Moralität der Gesetze willen, jede Beziehung auf Glückseligkeit aus ihrem Begriff eliminiert, entsteht ein gesetzespositivistischer Rechtsbegriff, der nicht seiner Intention nach, wohl aber seiner Konsequenz nach den Inhalt gegen die Verfahrensform vergleichgültigt. Kant verbindet die rechtliche Form des allgemein vereinigten Willens mit dem als notwendig vorausgesetzten Antagonismus der einzelnen Willenssubjekte. Indem so die Form der Einheit an einen Gegenstand verwandt wird, dessen Inhalt der Gegensatz sei und bleibe, wird eine zutiefst widersprüchliche Gemeinschaft konstituiert,83 deren Erscheinungsform die allgemeine Konkurrenz eines Jeden gegen Jeden ist, ein ‚bürgerlicher Naturzustand‘84 . Der Antagonismus wird selbst zur negativen Einheit der Subjekte, deren positives Moment darin besteht, alle Anderen zum Mittel der eigenen Interessen zu machen, soweit Jeder dies vermag. Indem Kant diesen Subjekten das ‚werktätige Vernünfteln‘ untersagt, geht es ihm durchaus um die Wahrung der Einheit des Bewußtseins, denn der unter unvernünftigen Bedingungen gefaßte vernünftige Gedanke führte auf ein schizophrenes Bewußtsein.85 82

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Gemeinspruch, VIII 299. Vgl. Ludwig Siep, Konkrete Ethik, Frankfurt am Main 2004, 181: „Vertragstheorien setzen ebenfalls Bewertungskriterien voraus, nach denen zum einen die Vertragssituation einzurichten ist, andererseits die möglichen Interessen von dem Vertragstheoretiker beurteilt werden. Rein dem ‚empirischen‘ Verlauf einer Verhandlung kann keinerlei Normbegründung überlassen bleiben.“ Vgl. Matthias Lutz-Bachmann, Geschichte und Subjekt. Studie zu Bedeutung und Problematik der Geschichtsphilosophie im Werk von Immanuel Kant und Karl Marx, Diss. Frankfurt am Main 1981, 125: „Diese Gesellschaft bildet keine tatsächliche Allgemeinheit aus, in ihr werden die Partikularinteressen nicht in einem gemeinsamen Interesse aufgehoben, sondern nur in eine Balance zueinander gebracht. Die Allgemeinheit einer Gesellschaft, deren Rechtsordnung die Aufgabe besitzt, die private Eigentumsverteilung durch öffentliche Gesetze ‚das Mein und Dein‘ zu sichern, und darin die ökonomisch ‚Unselbständigen‘ vom Bürgerrecht ausschließt, ist nur der Legitimität vortäuschende Schein einer Allgemeinheit.“ Vgl. auch 132f. Vgl. Peter Bulthaup, Rechtsphilosophie II (Vorlesung vom 25. 1. 1993), Peter Bulthaup-Archiv Hannover, Block 186 bzw. Ordner ORD 020. Vgl. ebenso eine ganz andere Quelle: Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, a.a.O., 21: „Das Recht ist, nach Hume, Rousseau, Linguet, Kant und anderen die historische Zivilisierung der Gewalt.“ Vgl. auch Jürgen Dennert, Ursprung und Begriff der Souveränität, Stuttgart 1964, 83. In Beziehung auf Hobbes heißt es: „[D]er Naturzustand, in dem jeder jeden erschlagen kann, bleibt auch im Gemeinwesen bestehen; er wird nur unterdrückt, d. h., es wird verhindert, daß jeder tatsächlich jeden totschlägt.“ Vgl. weiterhin ErnstWolfgang Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit, a.a.O., 158f.: „Die […] geschichtliche Bewegung führte notwendigerweise nicht nur die besitzbestimmte soziale Ungleichheit, sondern, in deren Stabilisierung und Verschärfung, auch den klassenmäßigen Antagonismus der Gesellschaft und damit die neue, soziale Unfreiheit auf dem Boden der Rechtsgleichheit herauf.“ Vgl. Theodor W. Adorno, Philosophische Terminologie I, Frankfurt am Main 1974, 191f.: „Du treibst uns, und ich zitiere damit etwas, was mir wörtlich gesagt worden ist, in etwas wie in eine Art von intellektueller Schizophrenie. Auf der einen Seite sollen wir ein Bewußtsein haben, nach dem wir als Berufsmenschen verfahren, und auf der anderen ein philosophisches, obgleich beides

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Ebenso ist die bürgerliche Gleichheit, die Befugnis, jeden anderen rechtlich so zu verbinden wie man selbst von ihm verbunden werden kann, eine formelle Bestimmung, die „ganz wohl mit der größten Ungleichheit, der Menge, und den Graden ihres Besitzthums“86 bestehen kann. Sie ist hierauf sachlich nur bezogen, insofern kein Gesetz Standesunterschiede festschreiben könne. Die Glückseligkeit, und mit ihr die Gleichheit, wird so zwar zum bloßen ‚Flor‘87 des Staates, aber immerhin zur Glückssache erklärt. Wie die Gleichheit ist auch die Bestimmung der bürgerlichen Selbständigkeit im historischen Zusammenhang der Bauernbefreiung zu sehen, die zu Lebzeiten Kants noch nicht zum Abschluß kam.88 Davon zeugen Formulierungen der Art, daß „jeder sich selbst besitzt“89 , die Aporien im Hausherrenrecht90 aber auch die selbstverständliche Affirmation der Schuld- und Strafsklaverei unter bürgerlicher Verfassung.91 Das heißt nun nicht, daß Kants Überlegungen vom Zeitkolorit tingiert, gar historisch determiniert seien; wohl aber läßt sich sagen, daß Kants Rechtslehre hier nicht dem moralischen Begriff der Selbständigkeit – Autonomie – folgt, der kompromißlos wäre. Als selbständig gelten staatsrechtlich nur diejenigen, die ihre ökonomische und rechtliche Existenz vollständig selbst vertreten. Rechtlich nicht von anderen vertreten werden zu müssen, begründet die Persönlichkeit. Diese, die „Freiheit eines vernünftigen Wesens unter moralischen Gesetzen“, ist das, was eine Person zur Person macht, zu einem „Subject, dessen Handlungen einer Zurechnung fähig sind“92 .

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sich geradezu widerspricht. Dazu habe ich Ihnen nichts anderes zu sagen als: Ja, so ist es, genau so ist es [...]“. Gemeinspruch, VIII 291. Vgl. Gemeinspruch, VIII 298. Auf den preußischen Staatsdomänen wurde sie zwar seit 1718 durch Friedrich Wilhelm I. initiiert, aber flächendeckend für alle preußischen Bauern erst durch die Reform von 1807 durchgesetzt. Im benachbarten Rußland kam es erst 1861 zu einer halbherzigen Aufhebung der Leibeigenschaft. Karl Marx verweist noch 1865 in Lohn, Preis und Profit, MEW 16, Berlin 1968, 135 auf „den Fronbauern, wie er noch gestern, möchte ich sagen, im ganzen Osten Europas existierte“. MdS RL, VI § 49, meine Hervorhebung. Dagegen vgl. § 17: „daher ein Mensch sein eigener Herr […], aber nicht Eigenthümer von sich selbst […] sein kann“. Vgl. MdS RL, VI § 30 sowie 358 ff. Vgl. MdS RL, VI Allg. Anm. E, 358 und pass. Manfred Riedel, Herrschaft und Gesellschaft, a.a.O., 250, spricht hier von „auffällige[m] Versagen der Kantischen Theorie“. Weil Kant den Eigentums- und Warenverkehr nicht begrifflich durchdringe, sehe er nicht, daß die bürgerliche Gesellschaft „unversehens eine neue Gestalt annimmt – daß jener Rechtsbegriff, der lediglich wechselseitige Freiheit und Gleichheit zu beinhalten scheint, einseitige Abhängigkeit und eine erneute Ungleichheit zur Folge hat“ (256). MdS RL, VI 223. MarcusWillaschek, Praktische Vernunft. Handlungstheorie und Moralbegründung bei Kant, Stuttgart 1992, faßt das Verhältnis von Person und Persönlichkeit weiter und dynamischer: Persönlichkeit sei die Anlage, eine Person zu werden; realisiert werde sie durch moralische Entscheidungen (280f.). Jede dieser Entscheidungen sei zugleich eine Entscheidung darüber, „was für ein Mensch man sein und welches Leben man führen will“ (277). Person zu sein, sei daher eine „Existenz auf Kredit“ (283), die auch wieder verloren gehen könne. Ähnlich formuliert auch Andrea Marlen Esser, Eine Ethik für Endliche. Kants Tugendlehre in der Gegenwart, Stuttgart 2004, 398. – Grundsätzlich zur Entwicklungsgeschichte des Personbegriffs vgl. Theo Kobusch, Die Entdeckung der Person. Metaphysik der Freiheit und modernes Menschenbild, Darmstadt 1997 und, mit Schwerpunkt auf der Subjektivität, dens., Person und Subjektivität: Die

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Die Person gehört als handelndes Subjekt zur Sinnenwelt, die Persönlichkeit steht für ihr intelligibles Wesen, so daß „die Person also, als zur Sinnenwelt gehörig, ihrer eigenen Persönlichkeit unterworfen ist, so fern sie zugleich zur intelligibelen Welt gehört“93 . In dieser Hinsicht ist sie „eigenthümlichen, nämlich von seiner eigenen Vernunft gegebenen, reinen praktischen Gesetzen“94 unterworfen. Jeder Mensch, da er empirisches und intelligibles Subjekt vereinigt, wäre demnach auch Subjekt bürgerlicher Selbständigkeit. Allerdings entspricht es Kants Vorstellung formeller Gleichheit durch Verfahren, daß die Selbständigkeit nunmehr an die Stimmgebungskompetenz geknüpft sei. Diese gründet deshalb ihrerseits in der ökonomischen und rechtlichen Unabhängigkeit von Anderen, da sonst die Wahrnehmung des Stimmrechts heteronomen Einflüssen ausgesetzt wäre. Anstatt die Kollision von Rechtsidee und Heteronomie zu kritisieren, modelliert Kant jene nach dieser. Dies kann aber allenfalls formell gelingen. Zudem müßte die heteronome Beeinflussung der Besitzenden durch ihre Geschäftsinteressen wohl ebenso schwer gewichtet werden. Als Bürger also soll nur gelten, wer aus eigenem Willen, nicht aus Not, Mitglied des Gemeinwesens ist. Wenn es dessen Aufgabe ist, den Besitz zu schützen, werden nur die Besitzenden aus eigenem Interesse eine solche Gemeinschaft anstreben, und nur solche, die über Eigentum an Produktionsmitteln, und zwar – so genau ist Kant hier – sowohl an Arbeitsmitteln wie an Arbeitsgegenständen, verfügen, die mithin Warenproduzenten sind. Die Wanderhandwerker, die nur ihre Arbeitsmittel mitbringen, ihre Dienste aber verdingen, weil die Arbeitsgegenstände dem Auftraggeber gehören, wie „der Schmied in Indien, der mit seinem Hammer, Ambos und Blasbalg in die Häuser geht, um da in Eisen zu arbeiten“95 und „selbst der Friseur sind bloß operarii, nicht artifices“96 , zählen mithin zum Proletariat. Sie sind keine aktiven Bürger, sondern Schutzgenossen, ihre „Existenz ist gleichsam nur Inhärenz“97 . Dieser Ausdruck für die Unselbständigkeit der Proletarier bemüht nichts Geringeres als das kategoriale Komplement der selbst inkonsistenten Substanzkategorie, die zumindest ihrer Gewißheit nach das Erbe der vormaligen Ontologie antritt. Dennoch sei der Widerspruch, den Kant dem Ausdruck ‚passiver Staatsbürger‘ wohl anmerkt, bloßer Schein: „Diese Abhängigkeit von dem Willen anderer und Ungleichheit ist gleichwohl keinesweges der Freiheit und Gleichheit derselben als Menschen, die zusammen ein Volk ausmachen, entgegen“98 . Schon nach Aristoteles konnte ein eleutheros mit seinem doulos, sofern dieser Sklave war, nicht befreundet sein, wohl aber, sofern er ein Mensch war.99 Dieser gesellschaft-

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Metaphysik der Freiheit und der Moderne Subjektivitätsgedanke, in: Reto L. Fetz/Roland Hagenbüchle/Peter Schulz (Hgg.), Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität, Bd. 2, a.a.O. KpV, V 87. KpV, V 87. Vgl. MdS RL, VI 223. MdS RL, VI § 46 Anm. Gemeinspruch, VIII 295 Anm. MdS RL, VI § 46 Anm. MdS RL, VI § 46. Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, Berlin 1983, 1161 b. Überhaupt bedient sich Kant zur Definition des Staatsbürgers antiker metaphysischer Vorstellungen. Die Selbständigkeit, die Fähigkeit, sich selbst zu reproduzieren, ist die objektive Aristotelische Substanzbestimmung par excellence (die Eigenschaft, Subjekt der Aussage zu sein, ihr subjektives Komplement). Freiheit ist Negation

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liche Riß durch die menschliche Substanz in einem Subjekt macht nicht sowohl das Subjekt zur Klammer der Gesellschaft als vielmehr die Gesellschaft zum Spaltkeil der Subjektivität der Subjekte. Auch Kants Versuch, das zerrissene Subjekt zum Kitt seines eigenen Risses zu machen, bleibt erfolglos, denn die staatsrechtliche Vorstellung von Freiheit steht unvereinbar quer zu deren moralischem Begriff, den sie, sobald er einmal gefaßt ist, nicht aus der Welt des Bewußtseins vertilgen kann, und ebenso steht sie zu der daraus folgenden Freiheit des Rechts, nach deren Begriff das Subjekt keinem Gesetz folge, an dessen Einsetzung es nicht selbst beteiligt gewesen wäre. Die Unselbständigen aber seien von der Gesetzgebung mit Recht ausgeschlossen. Ihre Freiheit beschränke sich darauf, Imputationssubjekte zu sein, keine Rechte (außer den allgemeinen Menschenrechten), aber lauter Pflichten zu haben; sie ist die Freiheit zum Gehorchen, die nötig ist, um sich die Zwecke anderer zu eigen zu machen, in ihrem Auftrag arbeiten zu können. Es zeigt sich hier, daß Kants bürgerliches Recht keineswegs bloß provisorische Rechtsvorstellungen des Naturzustandes legitimiert; es schafft darüber hinaus die Bestimmung und rechtliche Form des doppelt freien Lohnarbeiters, dessen Existenz im Naturzustand ganz undenkbar wäre. Kant will indes auch dies im Naturzustand verwurzeln: Als aktive Staatsbürger „qualificiren sich nicht alle mit gleichem Recht“100 . Offenbar wird schon vor dem Rechtszustand ein (Rechts-)anspruch auf das staatsbürgerliche Recht erworben, die Ordnung aktiv zu bestimmen, anstatt bloß der von den Besitzenden bestimmten folgen zu dürfen. Die Frage, wodurch ein solcher Anspruch erworben werden konnte, „wie es doch mit Recht zugegangen sein mag, daß jemand mehr Land zu eigen bekommen hat, als er mit seinen Händen selbst benutzen konnte […]; und wie es zuging, daß viele Menschen, die sonst insgesammt einen beständigen Besitzstand hätten erwerben können, dadurch dahin gebracht sind, jenem bloß zu dienen, um leben zu können“101 , verbietet Kant sich geflis-

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der Abhängigkeit von fremder Willkür, gründet aber in der ökonomischen Unabhängigkeit, im Besitz von Grund und Boden, mithin von Produktionsmitteln. Selbst Tugendhaftigkeit hängt von dieser Freiheit ab. Daher gebraucht Aristoteles in der Politik (a.a.O.) die Staatsbürgerbestimmungen Freiheit, Reichtum und Tugendhaftigkeit nahezu konvertibel. MdS RL, VI § 46. Gemeinspruch, VIII 296. Vgl. Pädagogik, IX 491: „Denn die Ungleichheit des Wohlstandes der Menschen kommt doch nur von gelegentlichen Umständen her.“ Die relativ große Bedeutung solcher Fragen für das Rechtsverständnis des jungen Kant hat Franco Zotta herausgearbeitet: Immanuel Kant. Legitimität und Recht. Eine Kritik seiner Eigentumslehre, Staatslehre und seiner Geschichtsphilosophie, Freiburg 2000, 20ff. Ob allerdings Auskünfte der Art „Ein reicher, der sonst nicht ungerecht ist, ist dennoch ein Dieb.“ (XXVII.1, 80, zitiert nach Zotta, 29) den frühen Kant als „Kritiker der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft“ (27) ausweisen oder ihn doch vor allem in die christliche Tradition einreihen („Es ist leichter, daß ein Kamel [urspr. wohl: ‚kamilon‘ statt ‚kamälon‘, d. h. Schiffstau; M.St.] durch ein Nadelöhr gehe, denn daß ein Reicher ins Reich Gottes komme.“ Mk 10,25), muß fraglich bleiben. Weder Kants Begriffsinventar noch der Entwicklungsstand der Gesellschaft selbst dürften eine Kritik am Kapitalismus zulassen, sondern allenfalls Ausdrücke des Unbehagens; diese aber durchaus. – Das Problem der Eigentumsverteilung ist für Kant – modern gesprochen – ein sozialethisches, nicht ein gesellschaftstheoretisches; deshalb kann er es im Gemeinspruch, VIII 295, zugunsten demokratietheoretischer Ausgleichserwägungen vernachlässigen. – Zu dem Thema vgl. auch Reinhard Brandt, Eigentumstheorien von

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sentlich. Aber gleichviel, ob nun die „Historie vom ökonomischen Sündenfall“, nach der es „auf der einen Seite eine fleißige, intelligente und vor allem sparsame Elite und auf der anderen faulenzende, ihr alles und mehr verjubelnde Lumpen“102 gegeben habe, jene Frage beantwortet, oder im Gegenteil die „Expropriation der unmittelbaren Produzenten […] mit schonungslosestem Vandalismus und unter dem Trieb der infamsten, schmutzigsten, kleinlichst gehässigsten Leidenschaften“103 – die servile Lage der Menschen, die Kant in ihrer Erbärmlichkeit präzise schildert, ist als peremtorisches Verhältnis Resultat ihrer Akklamation durch die bürgerliche Privatrechtsordnung. Der Versuch, deren Geltung systematisch zu bestimmen, steht in einem unlösbaren Konflikt zu ihren historischen Voraussetzungen: Er muß sie als systematische schon unter Rechtsbestimmungen fassen, als einseitige Willkürakte sie aber aus der Systematik des Rechts ausschließen. Kant versucht, den Konflikt zu umgehen, indem er moralische und gegenständliche Bestimmungen zu Rechtsformen formalisiert.104 Die formalisierte Freiheit erscheint in der Gestalt der Volkssouveränität: „Die gesetzgebende Gewalt kann nur dem vereinigten Willen des Volkes zukommen.“105 Das entspricht insofern der Rechtsidee, als in dieser Einheit alle Privatwillkür aufgehoben sein muß, um zu verhindern, daß durch Gesetzgebung jemandem unrecht geschehe. Aber die Aufhebung der Privatwillkür geschieht nicht mittels deren sachlicher Bindung durch die praktische Vernunft, sondern durch die Form des Verfahrens der Gesetzgebung aus dem kollektiven Willen: Wenn niemand sich selbst unrecht tun kann, sollte bei allgemeinen Beschlüssen, durch die jeder wie über alle anderen auch über sich selbst befindet, das Unrecht systematisch ausgeschlossen sein. Das bedeutet aber umgekehrt, daß unter Voraussetzung dieser positiven Willenseinheit jedes beliebige Gesetz rechtmäßig zu beschließen ist.106

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Grotius bis Kant, Stuttgart 1974, 199ff. Brandt notiert neuerlich auch Kants Unbehagen an der bürgerlichen Ökonomie (vgl. Immanuel Kant – Was bleibt?, a.a.O., 236f.). Karl Marx, Das Kapital, Bd. 1, MEW 23, a.a.O., 741. Karl Marx, Das Kapital, Bd. 1, MEW 23, a.a.O., 790. Vgl. Franz Hespe, „Wohl dem, der im Besitze ist“. Zur Eigentumsbegründung in Kants Rechtslehre, in: Dieter Hüning u. a. (Hgg.), Societas rationis, Berlin 2002, 148: „Diese durchgehende rechtliche Gleichheit ist aber ohne weiteres mit der größten materiellen Ungleichheit vereinbar“. MdS RL, VI § 46. Dieser Konsequenz versucht Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, a.a.O., 138, dadurch zu entgehen, daß er die Argumentationsrichtung der Legitimation durch Verfahren umkehrt: „Gültig sind genau die Handlungsnormen, denen alle möglicherweise Betroffenen als Teilnehmer an rationalen Diskursen zustimmen könnten.“ Einem „demokratischen Verfahren []“, das dies leistete, müßte schon die mystische Eigenschaft zukommen, die Habermas in Kants Gesellschaftsvertrag ausmacht: Er drücke „per se den übereinstimmenden Willen oder den vernünftigen Konsens aller Beteiligten aus“ (123). – Böckenförde sieht die Möglichkeit für die Menschen, „in einem institutionellen Rahmen und durch Verfahrensregeln irgendwie geborgen zu sein“ (Recht, Staat, Freiheit, a.a.O., 63), fügt aber sogleich an, daß „den inhaltlichen Verbürgungen auf der anderen Seite eine ebenso ausgeprägte Verfügbarkeit des Rechts gegenüber“ stehe (ebda.; vgl. auch 149). Wie wenig erfolgreich die Einschränkung der Verfügbarkeit der Grundrechte im Grundgesetz selbst ist, hat Jürgen Seifert wiederholt nachgewiesen. Vgl. z. B. Das Grundgesetz und seine Veränderung. Verfassungstext von 1949 sowie sämtliche Änderungsgesetze im Wortlaut, Neuwied 1983. Der Ausdruck ‚Veränderung‘ ist hier streng zu nehmen.

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Nun kann zwar juristisch, insbesondere privatrechtlich, niemand sich selbst lädieren, weil er sein eigenes Eigentum nicht gegen seinen Willen gebrauchen kann; durchaus aber kann jedermann der Menschheit in der eigenen Person die schwersten Läsionen zufügen, schon dann, wenn er seine Identität als moralischer Selbstzweck einer formellen Willensgemeinschaft zu äußerlichen Zwecken unterordnete. Die Konstitutionsform des vereinigten Volkswillens durch ursprünglichen Vertrag soll dies verhindern: Der Form nach sei er als gewöhnlicher Vertrag zu denken, nämlich als Einigung mehrerer über einen gemeinsamen Zweck. Das Besondere nun sei, daß die Einigung im Verfassungsvertrag „an sich selbst Zweck […] unbedingte und erste Pflicht“107 ist. Das sei nur möglich „in einer Gesellschaft, sofern sie sich im bürgerlichen Zustande befindet“108 , denn sonst wäre ein solcher Vertrag ohne Rechtskraft. Zunächst ist hier die Staats- und Gesellschaftsverfassung, die durch den Vertrag gestiftet werden soll, der Möglichkeit ihrer Stiftung schon vorausgesetzt. Sodann aber widerspricht dieser Vertrag durchaus dem, was ein Vertrag leistet: Über das, was unbedingt ist, kann kein Vertrag geschlossen werden, denn sonst gölte es ja nur bedingt durch den Vertrag.109 Die grundsätzlichen Widersprüche jeder Vertragstheorie hat Kant hier auf engstem Raum zusammengetragen, allerdings – wie seine Vorgänger und Nachfolger bis heute – ohne sich im geringsten beirren zu lassen.110 Der Vertrag müsse und könne nun allerdings kein faktischer sein.111 Der Akt der Vertragsschließung kann schon deswegen kein positiver sein, weil dann die nachfolgenden Generationen, die in den Staat hineingeboren werden, zwangsweise die Rechtsnachfolge ihrer Eltern antreten müßten; schlügen sie dieses Erbe aus, so verlören sie ihre Bürgerrechte. Spätestens hier hat die jedem Vertrag vorauszusetzende Freiwilligkeit eine Grenze. Aber auch dem Gehalt nach kann jener Akt nicht widerspruchsfrei empirisch vorgestellt werden, denn er besteht darin, daß „alle (omnes et singuli) im Volk ihre äußere Freiheit aufgeben, um sie als Glieder eines gemeinen Wesens, d. i. des Volks als Staat betrachtet (universi), sofort wieder aufzunehmen“112 . Die zeitliche Invarianz von Aufgeben und Wiederaufnehmen der Freiheit kann in keinem empirischen Akt erfüllt sein. Indem in diesem Akt die ‚wilde, gesetzlose Freiheit‘ negiert und die ‚gesetzliche Freiheit‘, die Kant ‚Abhängigkeit‘ nennt, affirmiert wird, handelt es sich offenbar um einen bloßen Zweckwechsel im Willen, nunmehr alle Maximen in Kompatibilität mit dem Kollektiv zu setzen. Allein, die Vertragsmetapher bleibt widersprüchlich. Aus der moralischen Willensbestimmung nach dem kategorischen Imperativ ist dieser Zweckwechsel nicht zu begründen, weil das Kollektiv nicht als kooperative Allgemeinheit, 107 108 109

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Gemeinspruch, VIII 289. Gemeinspruch, VIII 289. So argumentiert auch Hegel. Vgl. G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, a.a.O., § 75. Kersting will dies umgehen, indem er Kants Pflicht, den Naturzustand zu verlassen, als „ursprüngliche Rechtspflicht“ auffaßt (Wolfgang Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, a.a.O., 349). Josef Simon, Kant, a.a.O., 395, bezeichnet den ursprünglichen Vertrag als ‚paradox‘, zieht aber keine weitere Konsequenz. Vgl. z. B. Gemeinspruch, VIII 302. Auf diese Differenz von Faktum und Norm im kantischen Gesellschaftsvertragsbegriff hat Manfred Riedel hingewiesen: Herrschaft und Gesellschaft. Zum Legitimationsproblem des Politischen in der Philosophie, a.a.O., 248ff. MdS RL, VI § 47.

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sondern als Konkurrenzgemeinschaft verstanden wird; die Freiheit ist zutreffend als ‚Abhängigkeit‘ charakterisiert. Die Allgemeinheit, an der die Maximen gemessen werden, ist keine moralisch-praktische Allgemeinheit, sondern eine technisch-praktische, bloß komparative Allgemeinheit, die Hegel als „Not- und Verstandesstaat“113 bezeichnet. Ihr technischer Zweck ist der ungehinderte Privatrechtsverkehr und ihre Begründung erfolgt positiv, formalisiert, analog dem Privatrecht,114 durch Vertrag. Dieser Vertrag erfordert der Sache nach, damit niemandem unrecht getan werde, Einstimmigkeit.115 Andernfalls wären Rechtskollisionen schon mit der Rechtsbegründung als deren notwendige Folgen gesetzt, was den Rechtsbegriff ad absurdum führte. Die Einstimmigkeit hält Kant nun für untunlich, wodurch der Vertrag zunächst, auch als Idee, nicht zustande komme. Man könne aber davon ausgehen, daß die einstimmige Zustimmung zu einem repräsentativen Abstimmungsverfahren mit Mehrheitsentscheid von der Idee des allgemeinen Vertrags gedeckt sei. Gleichgültig zunächst, ob politische Abstimmungsverfahren nun in der historischen Praxis mehr Vorteile oder mehr Nachteile aufweisen, jedenfalls muß Kant in der theoretischen Begründung die Einstimmigkeit der Zustimmung zum Verfassungsvertrag durch etwas ganz Anderes ersetzen, nämlich durch die bloße Antizipation einer einstimmigen Zustimmung zu einer Mehrheitswahlordnung. Die Kollektivität der bürgerlichen Gesellschaft hat so in ihrer Begründung die Form der Vorstellung einer gemeinschaftlich affirmierten Preisgabe der Kollektivität. Dementsprechend hat Kant selbst das Mehrheitsprinzip der Demokratie als Despotismus bezeichnet.116 Letztlich genüge deshalb die Annahme der Widerspruchsfreiheit in der Idee des Volkswillens, um legitimatorische Wirkung zu entfalten, selbst wenn der Volkswille geschlossen dagegen stehe. Darin flackert, dem Anschein zum Trotz, noch einmal die sachliche Grundlage des Verfassungsvertrags auf, daß nämlich die ideelle Widerspruchsfreiheit des Volkswillens gegen die faktische nur moralisch, durch Widerspruchsfreiheit in der Maxime, begründet ausgespielt werden könnte. Kant, der ein drastisches Beispiel geben will, entlarvt diese Grundlage – durch ihre Reduktion auf die Verfahrensform entsachlicht – aber als längst nur mehr problematische. „Wenn z. B. eine für alle Unthertanen proportionirte Kriegssteuer ausgeschrieben würde, so können diese darum, weil sie drückend ist, nicht sagen, daß sie ungerecht sei, weil etwa der Krieg ihrer Meinung nach unnöthig wäre: denn das sind sie nicht berechtigt zu beurtheilen; sondern, weil es doch immer möglich bleibt, daß er unvermeidlich und die Steuer unentbehrlich sei, so muß sie in dem Urtheile des Unthertans für rechtmäßig gelten.“117 Krieg ist von keinem Willen, weder singulär noch kollektiv, widerspruchsfrei zu affirmieren. Auch Gewalt zur Verteidigung bleibt als Gewalt sinnlose Naturkraft und wird gerade durch den auslösenden Zwang des Angriffs nicht mit einer rationalen Legitimationsbasis versehen. Wenn dies hier durch die Idee des kollektiven Volkswillens dennoch geschieht, zeigt das an, daß diese Idee positiviert, nur mehr ein Formalismus, ist. Indem 113 114

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G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, a.a.O., § 100. So auch Kersting: „Der Staatsvertrag kann seine Herkunft aus dem privatrechtlichen Vorstellungsbereich nicht verleugnen“ (Wolfgang Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, a.a.O., 348). Vgl. Gemeinspruch, VIII 296. Vgl. EF, VIII 352. Gemeinspruch, VIII 297f. Anm.

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Kant schon die politische Grundlegung des Rechts in formaler Analogie zum Privatrecht, durch Vertrag, faßt, wird Willensfreiheit selbst zum Vertragsgegenstand und damit tendentiell ihres rationalen Gehaltes beraubt. Die Differenz im Verfassungsbegriff zwischen allgemein vereinigtem und zu vereinigendem Willen beruht auf der Zwieschlächtigkeit der Rechtsordnung, sowohl ideell als auch historisch bestimmt zu sein. Als allgemein vereinigter Wille118 ist sie kongruent mit der Rechtsidee, dem der zu vereinigende Wille als ihr Gegenstand zu unterwerfen ist. Um diese Unterwerfung der Form der Autonomie gemäß zu denken, gilt die Verfassung zugleich als vereinigendes Prinzip,119 so daß causa formalis, causa materialis und causa efficiens der Vereinigung im Begriff der Verfassung zusammenfallen. Die empirische Repräsentation dieser Konstruktion in einem empirischen Volk erfordert aber eine funktionale Differenzierung der zur Einheit verfaßten Staatsgewalt, die bei Kant eine personale mit sich bringt. So stellt sich der allgemein vereinigte Wille, die Staatsgewalt, in drei Gewalten dar, nämlich der gesetzgebenden des Souveräns (auch Herrscher oder Legislative), der ausführenden des Regenten (auch Direktorium oder Exekutive) und der rechtsprechenden des Richters (Judikative). Das Problem besteht nun darin, wie das vereinigte Volk alles dies zugleich sein kann; wäre das undenkbar, könnte es nicht zugleich als vereinigt und als vereinigend gedacht werden. Die darin liegende Vorstellung, daß das Volk durch eine Gewaltenteilung sowohl Herrscher als auch Beherrschter sei, löst Kant auf in „das Verhältniß eines allgemeinen Oberhaupts (der, nach Freiheitsgesetzen betrachtet, kein anderer als das vereinigte Volk selbst sein kann) zu der vereinzelten Menge ebendesselben als Unterthans, d. i. des Gebietenden (imperans) gegen den Gehorsamenden (subditus).“120 Indem nun aber die Gewalten zu Staatswürden hypostasiert121 werden und so den vereinzelten empirischen Subjekten die ideale Vereinigung ihres Willens in persönlicher Gestalt entgegentritt, erhält die Selbst-Beherrschung die Potenz echter Herrschaft. Entsprechend wechselt Kant immer wieder unvermittelt den Gegenstand, wenn er vom Souverän einmal als dem allgemein vereinigten Volkswillen, ein anderes Mal als dem persönlichen Willen eines empirischen Herrschers redet. Selbst Herrschaft und Regentschaft werden wohl funktional, nicht aber immer auch personal unterschieden. Das Verhältnis der Gewalten nun sei die Einheit von Beiordnung – wechselseitiger Ergänzung zur Staatsgewalt – und Unterordnung. Diese Unterordnung sei darin begründet, daß jede eine Gewalt repräsentierende moralische Person ihr eigenes Prinzip habe, aber unter der Bedingung des Willens einer anderen stehe. Beides ist mit dem Rechtsprinzip nicht vereinbar, denn danach kann das alleinige Prinzip aller Staatsgewalten nur der allgemeine Wille sein, und eine Person, moralisch oder empirisch, kann als solche, wie gezeigt, nicht unter der Bedingung eines fremden Willens stehen. Im einzelnen tritt der Souverän als allgemeiner Herrscher auf, dem auch der Regent als bloßer Verwaltungs-

118 119 120 121

Vgl. MdS RL, VI § 45. Vgl. MdS RL, VI § 43. MdS RL, VI § 47. Vgl. MdS RL, VI § 47 (Gewalten als Würden), § 48 (Gewalten als moralische Personen), § 49 (Gewalten als empirische Personen).

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beamter unterstellt ist.122 Der Regent ist daher seinem Begriff nach eine Institution, das Direktorium. Dies erläßt Verordnungen nach Gesetzen, aber nicht selbst Gesetze; sonst wäre seine Regierungsart despotisch, also durch ‚Gesetz und Gewalt ohne Freiheit‘ gekennzeichnet. Nun sind Gesetze dann mit der Freiheit nicht kompatibel, wenn sie dem Gehalt nach heteronom, also mit der Vernunft nicht kompatibel sind. Daß die bürgerlichen Gesetze Regeln für autonome Subjekte innerhalb der Heteronomie sind, also nur formelle Allgemeinheit beanspruchen können, die durch die förmliche Trennung der Gewalten gewährleistet ist, drückt sich in Kants lapsus aus, der Staat „behandele“123 seine Untertanen als Bürger. Gefordert ist von den Subjekten, sich selbst als autonome Urheber dieser Heteronomie zu identifizieren. Dieser theoretisch absurden Vorstellung korrespondiert indes empirisch vieles, vom überzeugten Parlamentarier, der als Repräsentant ‚die Freiheit wählt‘, über die Wirtschaftsführer, die sich als Propheten der Freiheit derer begreifen, deren profitable Funktion sie – nicht jene selbst – organisieren, bis zu den Funktionierenden selbst, die die Vorstellung der Selbstbehauptung in der Heteronomie schon durch scheinbar bloße Reflexe bedienen wie den Nationalismus, der seine Konjunktur nicht nur während internationaler Massenspektakel (die solche sind, weil die Menschen organisiert sich zu Massen denaturieren)124 feiert, sondern sich der grundständigen Zerrüttung des bürgerlichen Bewußtseins verdankt, die Kant in seiner Lehre vom ubiquitären Antagonismus adäquat beschreibt. Die Menschen, die als gesellschaftliche und rechtliche Subjekte verantwortlich gemacht werden für einen Zustand, für den kein Einzelner und nicht alle zusammen als moralisches Subjekt Verantwortung übernehmen könnten, erfüllen die formelle Hülle ihrer ausgehöhlten Subjektivität durch Identifizierungswahn. Dieser Wahn, der zugleich in allem Fremden die Ursachen für die unverantwortlichen Lebensbedingungen erblickt, hat in deren historischen Bedingungen, wie am Privatrecht zu zeigen sein wird, einen materiellen Grund in der Sache. Er ist kein notwendiges Merkmal des Menschen, wer immer das sein mag. Die Aporie im kollektiven Subjekt erscheint noch einmal zugespitzt in der richterlichen Gewalt, die weder vom Herrscher, noch vom Regenten auszufüllen sei.125 Dem 122

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Damit vertritt Kant nicht die konstitutionelle Monarchie, deren Beispiel in England er für unsinnig erklärt, weil das oberste Rechtssubjekt nicht zugleich rechtlich gebunden sein könne. Vgl. Gemeinspruch, VIII 303. MdS RL, VI § 49. Vgl. Sigmund Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse, in: Studienausgabe, Bd. IX, Frankfurt am Main 1974, 108: „Eine solche primäre Masse ist eine Anzahl von Individuen, die ein und dasselbe Objekt an die Stelle ihres Ichideals gesetzt und sich infolgedessen in ihrem Ich miteinander identifiziert haben.“ Diese Definition stellt zwar vordergründig das heteronome Moment von Massenkonstitution zurück, erweist aber gerade durch die Betonung des subjektiven Aktes den inneren Widerspruch solcher Subjekte, die sich selbst durch ein wie auch immer vorgegebenes Objekt bestimmen und sich damit zugleich einem durch dieses Objekt transportierten Kollektiv unterordnen. Problematisch ist deshalb die Begründung der Masse als narzißtische Identifikation, wie sie Adorno vertrat und wie sie bis heute vertreten wird. Vgl. Meinung Wahn Gesellschaft, in: Gesammelte Schriften, Bd. 10.2, Frankfurt am Main 1977, z. B. 580, sowie Peter V. Zima, Theorie des Subjekts, a.a.O., 163. Das geschichtliche Moment gesellschaftlichen Zwangs geht darin unter. Vgl. MdS RL, VI Allg. Anm. E. Eine Ausnahme ist die negativ judikative Funktion der Begnadigung, die dem Herrscher als einziges genuines Herrschaftsrecht zukommt.

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Freiheitsprinzip zufolge könne nur das Volk über sich selbst richten, da nicht bloß die Gesetzgebung, sondern auch die verbindliche empirische Zuteilung von Recht nach dem Gesetz Unrecht setzen kann. Das setzt aber die Lösung der Staatsgewalt vom Volk und ihre Verteilung an empirische Personen oder Einrichtungen voraus. Sonst wäre es nicht bloß „unter der Würde des Staatsoberhaupts, den Richter zu spielen“126 , sondern es wäre logisch unmöglich, da dann nicht allein das vereinigte Volk auf dem Richterstuhl platznehmen, sondern zudem über die Fähigkeit der Bilokation verfügen müßte, um zugleich in der Person des Angeklagten auch auf der Anklagebank zu sitzen.– Im Ernst ist hier anzumerken, daß Kant die gerechte Zuteilung des Rechts nicht an sachhaltigen Rechtsprinzipien mißt, sondern an der Form des Verfahrens. Jeder beliebige formgerecht ergangene Rechtsspruch ist rechtens. Kant nimmt dies in Kauf, weil er sich der Heteronomie wohl bewußt ist. Die pragmatische Begründung der Gewaltenteilung und des Formalismus des Rechtsverfahrens überzeugt genau so lange, wie eine aus vernünftigen Rechtsprinzipien begründete Rechtsprechung praktisch nicht möglich ist, weil die Kollisionen durch die heteronomen Handlungsbedingungen erzwungen sind. Wäre sie möglich, hätte die Rechtsprechung eine andere Funktion. Ihre Gegenstände, Interessenkollisionen, wären zufällig, nicht notwendig: „Je übereinstimmender die Gesetzgebung und Regierung mit dieser Idee [der Staatsverfassung] eingerichtet wären, desto seltener würden allerdings die Strafen werden, und da ist es denn ganz vernünftig, (wie Plato behauptet), daß bei einer vollkommenen Anordnung derselben gar keine dergleichen nötig sein würden.“127 Diese Überlegung beschwört nicht die Utopie, die auch darin liegen mag, sondern fordert, die Rechtspraxis nach vernünftigen Begriffen zu bestimmen. Ob die durch die menschliche Geschichte kultivierten Manien „Ehrsucht, Herrschsucht oder Habsucht“128 aus dem Inventar der menschlichen Psyche zu verschwinden vermöchten, läßt sich spekulativ nicht sagen; sehr wohl läßt sich aber sagen, daß Vernunft ihnen prinzipiell opponiert, und daß pragmatische Politik die Menschen als Vernunftwesen, als Subjekte von Würde, deren strengem Begriff nach mißachtet. Allerdings 126 127

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MdS RL, VI § 49. KrV, B 373. Vgl. auch MdS RL, VI 217 und Pädagogik, IX 445. Wie Kant faßt es auch Herbert Schnädelbach, Vernunft, a.a.O., 45f.: „Richtiges Leben bedeutete für Platon die Orientierung am Guten und Gerechten, die freilich der spekulativen Vernunft bedarf, wenn es nicht bei bloßen Meinungen und damit bei einer Sache der jeweiligen Machtverhältnisse bleiben soll.“ Gleichwohl beurteilt er diesen Begriff von Politik als „Theoriediktatur“ (48). Die monierte ‚Verwechslung‘ von Handeln und Herstellen erweist sich aber als treffende Vermittlung beider, wenn der Begriff des Handelns nicht unabhängig von den Bedingungen des Handelns, die technisch hergestellt werden müssen, gefaßt wird. Spekulative Vernunft wäre dann freilich nicht die alleinige Quelle politischer Begriffe, aber doch der Maßstab der Erfahrung, die als „Interaktion und Kommunikation freier, handlungsfähiger Individuen […] [ohne] Rechtfertigung durch spekulative Vernunft“ (52) blind bliebe. – Diese kompromißlosen Stellungnahmen Kants werden übersehen, wenn Kant z. B. mit Aristoteles, Walter Bagehot und Otto von Bismarck als Gewährsmann der Auffassung zitiert wird, daß in der Politik Vernunft und Wissen nachrangig seien. Vgl. Uwe Thaysen, Eherne Dichotomien und Diskrepanzen der Demokratie: Ein Beitrag zur Parlamentarismustheorie, in: Werner J. Patzelt/ Martin Sebaldt/Uwe Kranenpohl (Hgg.), Res publica semper reformanda, a.a.O., 210, 214. Idee, VIII 21.

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stellt oppositionelle Praxis aus Vernunft den Einzelnen unter den herrschenden Bedingungen vor die „verzweifelte Wahl“, „den ihm konträren Weltlauf harmonistisch [zu] stilisieren und ihm, gegen die bessere Einsicht, heteronom [zu] gehorchen; oder […] sich, in verbissener Treue zur eigenen Bestimmung, [zu] verhalten, als wäre kein Weltlauf, und an ihm zugrunde [zu] gehen“129 . Sieht die rechtsphilosophische Staatsbegründung sich moralischen Aporien ausgesetzt, so muß sie das Einspruchsrecht der Moral selbst rechtlich regulieren. Deshalb verfolgt Kant das Problem des Widerstandsrechts weit über dessen, schon dargestellte, formale Aporien hinaus.130 Rechtmäßig gesetztes Recht ist mit der Befugnis zu zwingen verbunden, da es sich nicht auf die Gesinnung, sondern auf den äußeren Handlungserfolg bezieht. Die Staatsmacht, der um der Rechtsgarantie willen dieser Zwang obliegt, ist „unwiderstehlich“131 , denn sie vertritt das Gesetz, dem Jeder als Element des vereinigten Volkswillens unterworfen ist. Die Auflehnung der empirischen Bevölkerung gegen das unter der Vernunftidee stehende Gesetz wäre die Durchsetzung bloßer Partikularinteressen; solche Interessendurchsetzung aber, als allgemeine Maxime vorgestellt, wäre die Entfesselung der Willkür, ein Angriff aufs Recht als solches. Durch die Aufhebung der Rechtsordnung verginge sich das Volk nicht bloß am Oberhaupt, sondern an sich selbst, weil Empörung „alle rechtliche Verfassung unsicher macht und den Zustand einer völligen Gesetzlosigkeit (status naturalis), wo alles Recht aufhört, wenigstens Effect zu haben, einführt“132 . Um diesen Rückfall in den Naturzustand, auch als greuelhafte 129 130

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Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, a.a.O., 155. In den handschriftlichen Reflexionen zur Rechtsphilosophie läßt sich verfolgen, wie Kant über Jahrzehnte hinweg versucht, dieses Themas Herr zu werden, obgleich er die grundsätzlichen logischen Einwände schon früh erkennt; am Ende steht die trübe Einsicht, daß sich kein Widerstandsrecht oder auch Recht zur Revolution begründen oder ableiten läßt, im Licht der Hoffnung, daß die Menschen sich dennoch durch Revolution in den Stand der Weltrepublik bringen werden. Vgl. Reflexion 8077, XIX 607ff. Dieses Thema, auch in seinem Zusammenhang mit der Entwicklung der Französischen Revolution, kann hier nicht eingehend betrachtet werden. Vgl. dazu Dieter Henrich, Kant über die Revolution, in: Zwi Batscha (Hg.), Materialien zu Kants Rechtsphilosophie, Frankfurt am Main 1976 und Domenico Losurdo, Immanuel Kant. Freiheit, Recht und Revolution, Köln 1987, sowie neuestens Ludwig Siep, Kant, Fichte und Hegel über Revolution, unveröff. Ms. Gemeinspruch, VIII 299; MdS RL, VI § 48. Gemeinspruch, VIII 301. Die universell entfesselte Willkürfreiheit ist das erste unmittelbare Resultat von Aufklärung. Das in radikaler Metaphysikkritik gelegene subjektive Potential vernünftiger Weltgestaltung wäre auch im Prozeß der nötigen Aufklärung der Aufklärung durchaus festzuhalten. Peter Bulthaup hat die Schriften des Marquis de Sade als literarische Modelle dieses Problems gelesen: „Der ständige Hinweis auf die Natur, Sade unterscheidet kaum die erste von der zweiten, hat nicht die Theorie ihrer systematischen Einheit zum Ziel, sondern dient dazu, durch die hard facts mit dem teleologischen Gottesbeweis, der allenfalls für einen bösen Dämon gelten soll […] auch den des guten und vernünftigen Zusammenhangs der Welt zu zerstören, um so den Raum freizuschlagen für die Konstruktion des heillosen Glücks entfesselter Wollust. Ist einmal in der Aufklärung die ordnungsheischende Autorität, sei’s die des gesetzgebenden Worts Gottes oder die seiner Säkularisierung in der Einsicht in die Notwendigkeit des Weltlaufs, zergangen, ist der subjektive Geist der Verstrickung in die eigene Genesis privat entschlüpft und vagabundiert nun wildernd, nur seinem partikularen Interesse verpflichtet, durchs Trümmerfeld des von ihm einst projektierten Reiches, so werden die faulen Wechsel, mit denen Ewigkeit und Zukunft gleichermaßen die Versagung erkauften, storniert, dem allgemeinen Wohl, das das des Einzelnen immer

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Anarchie beschrieben, der wenigstens im Übergang, bis zur Errichtung einer neuen Verfassung, gegeben wäre, auszuschließen, bestehe mit dem Rechtsverhältnis unmittelbar eine unbedingte Gehorsamspflicht der Bürger gegenüber der Staatsgewalt. Die Bevölkerung dürfe nicht einmal über den historischen Ursprung der Staatsgewalt – ob sie aus Selbstunterwerfung durch Vertrag oder aus Usurpation hervorgegangen sei – nachdenken, denn dieser Ursprung sei für die Gültigkeit der bestehenden Ordnung unerheblich, das Nachforschen aber gefährlich, weil es einer interessengeleiteten Empörung zu einer Scheinlegitimation verhelfen könne; Kant war sich der historischen Herkunft der bürgerlichen Gesellschaftsordnung durchaus bewußt. Schon die Beurteilung der Staatsgewalt selbst durch das Volk hält er nun in jeder Hinsicht für unzulässig: „Denn da das Volk, um rechtskräftig über die oberste Staatsgewalt (summum imperium) zu urtheilen, schon als unter einem allgemein gesetzgebenden Willen vereint angesehen werden muß, so kann und darf es nicht anders urtheilen, als das gegenwärtige Staatsoberhaupt (summus imperans) es will.“133 Kant verwendet hier gleich zwei Äquivokationen. Erstens zerfällt der allgemein gesetzgebende Wille in summum imperium und summus imperans; der Gebrauch dieser Äquivokation, ja ihre bloße logische Möglichkeit, zeigt an, daß die gesetzgebende Gewalt immer schon vollständig vom Volk auf die empirische Herrschaft übergegangen ist, welchen politischen Ursprungs diese auch sein mag. Als Kriterium der Gültigkeit von Herrschaft führt Kant hier ausschließlich ihre ‚Gegenwärtigkeit‘ an, die Faktizität der Macht. Zweitens begründet Kant durch diese Kritik des ‚rechtskräftigen Urteils‘ des Volks über den Herrscher, daß das Volk kein Recht habe, über die Legitimation der Macht zu ‚vernünfteln‘: Durch die Äquivokation des Ausdrucks ‚Urteil‘ in ‚Rechtsurteil‘ und ‚vernünftige Beurteilung‘ wird die Möglichkeit, daß Vernunftgebrauch zu Kollisionen im Öffentlichen Recht führe, zum Argument gegen die Vernunft gewendet, nicht etwa gegen die geltende Gestalt des Rechts. Dessen Geltung erweist sich auch dadurch als von der praktischen Vernunft positivistisch abgekoppelt. Die rechtliche Wohlordnung der Freiheit impliziert, um die in ihr wirksam erhaltenen Antagonismen zu regulieren, eine generelle Teilentmündigung der Subjekte dieser Ordnung. Der Schutz der Rechtsordnung wird zum absoluten, wenn es gilt „selbst den für unerträglich ausgegebenen Mißbrauch der obersten Gewalt dennoch zu ertragen“134 , weil auch der Angriff auf die zur Despotie pervertierte Staatsgewalt das Recht als solches in Frage stelle. Dahinter steht das Paulinische Argument, daß alle Obrigkeit göttlichen Ursprunges sei.135 Zwar hatte schon Thomas von Aquin darauf hingewiesen, daß es die Form der Hierarchie (‚heilige Herrschaft‘) sei, die sie unangesehen ihres empirischen Gehaltes als göttlich qualifiziere,136 doch blieb ihre Geltung an Gottes Macht gebunden.

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nur anzeigte, nie aber es auszuführen imstande war, die Folgsamkeit gekündigt, und nicht nur die Untergegangenen, denen das ohnmächtig-sentimentale Eingedenken gilt, sondern auch die, denen die gewaltsame Durchsetzung ihrer Interessen wenigstens teilweise gelang, exkulpiert.“ (Peter Bulthaup, Artistik des Lustmords. Zu neueren deutschen Ausgaben der Schriften des Marquis de Sade, in: Diskus 12 (1962)). MdS RL, VI Allg. Anm. A. MdS RL, VI Allg. Anm. A. Vgl. Röm 13,1. Vgl. Thomas von Aquin, Kommentar zu den Sentenzen des Petrus Lombardus, in: Opera Omnia, Paris 1873, Bd. 8, 2 Buch, Erörterung 44, qu. 2, a. 2. Der Gedanke der Legitimierungskraft

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Der Protestantismus quittierte die nominalistische Auflösung absoluter Herrschaftslegitimation durch Hervorhebung des ebenfalls Paulinischen Gedankens, daß Subordination einerseits vor dem Recht, andererseits vor dem Gewissen gefordert sei, denn unter widrigen Umständen müßten weltliches und geistliches Regiment einander ergänzen.137 Die Instanz der Unterwerfung wird dadurch tendentiell der Einzelne, der nicht das geistliche Regiment gegen das weltliche aufbieten, sondern sich im Namen des ersten dem zweiten unterwerfen soll. Kant verortet nun diese Instanz nicht im frommen Gewissen, sondern in der praktischen Vernunft, um die Einheit des Rechts von der Luther wohl gewärtigen Zufälligkeit des empirisch Religiösen zu befreien und sie einer wissenschaftlichen Begründung zu unterziehen, die dem Recht seine bloße Äußerlichkeit nehmen soll. Dadurch aber wird die Einheit der praktischen Vernunft gesprengt, weil die empirischen Subjekte dieser Vernunft in der Konsequenz bedingungsloser Subordination sich selbst aus Vernunft der Vernichtung anheimstellen müssen: Ob nämlich die ‚Unerträglichkeit‘ des Machtmißbrauchs ‚vorgegeben‘ oder doch real war, erweist sich erst post mortem, da Veränderungen physischer und psychischer Belastungen graduell erfahren werden.138 Daß UnErträgliches kein Gegenstand möglicher Erfahrung ist, wird im politischen Argument zur Binsenweisheit, gleich der Behauptung, noch die schlimmste Folter könne die Seele nicht beschädigen, wovon die, in deren Auftrag die Folter zugefügt wurde, stets leichter zu überzeugen waren als jene, die sie erlitten. Der Widerspruch im Subjekt, die Preisgabe der empirischen Existenz der Subjektivität reiner Vernunft als eine Forderung dieser Vernunft selbst begreifen zu sollen, suspendiert das Subjekt als Vernunftsubjekt, und zwar mittels seiner eigenen Vernunft. Vernunft verbiete unbedingt den Widerstand gegen die an sich vernünftige Herrschaft, auch dann, wenn deren Vertreter empirisch aller vernünftigen Legitimation entblößt ist, den ursprünglichen Vertrag gebrochen und eine Tyrannei eingesetzt hat.139 Auch Kants Argument, im Konflikt von Volk und Machthaber gebe es keinen Richter, hält Kant selbst nicht stand, denn „es giebt eine Theorie des Staatsrechts, ohne Einstimmung mit welcher keine Praxis gültig ist“140 . Die praktische Vernunft allein, durch die alle vernunftbegabten Wesen Subjekte dieser Theorie sind, bestimmt, was Recht ist. Und im Falle der Auflehnung gegen die Perversion der Staatsmacht handelt es sich nicht um einen Rechtsstreit, der durch einen eingesetzten Richter entschieden werden könnte, sondern um einen Streit ums Recht als solches im Gegensatz zur Rechtlosigkeit, da

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der hierarchischen Form geht auf Pseudo-Dionysios Areopagita, De coelesti hierarchia und De ecclesiastica hierarchia zurück. Vgl. Des Heiligen Dionysius Areopagita angebliche Schriften über die beiden Hierarchien, Kempten 1911. Vgl. Röm 13,5 und Martin Luther, Von weltlicher Obrigkeit, wieweit man ihr Gehorsam schuldig sei, in: Werke, Frankfurt am Main 1982, Bd. IV. Die Paulusbriefe verdanken ihre Wirkung durchs gesamte Mittelalter bis zu Luther vor allem ihrer zentralen Stellung bei Augustinus, der für alle widerstreitenden Richtungen in der einen oder anderen Weise Autorität blieb. Vgl. KrV, B 182: „Nun hat jede Empfindung einen Grad oder Größe, wodurch sie dieselbe Zeit, d. i. den inneren Sinn in Ansehung derselben Vorstellung eines Gegenstandes, mehr oder weniger erfüllen kann, bis sie in Nichts (= 0 = negatio) aufhört.“ Vgl. Gemeinspruch, VIII 299. Gemeinspruch, VIII 306.

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die Staatsmacht, wenn sie unter Verletzung des Rechtsprinzips Gesetze erläßt, selbst das Recht als Ganzes angreift. Der Naturzustand wird nicht erst durch den Widerstand restauriert, sondern schon durch den Mißbrauch der Staatsgewalt, denn die Rechtsordnung, die an die Wirksamkeit des Rechtsprinzips gebunden ist, besteht dann nicht mehr. Der materiale Grund, auch einen auf Wahrung des Rechts gerichteten Widerstand auszuschließen, liegt in der Befürchtung, daß die allgemeine Entfesselung der Willkür dazu führe, daß alle Einzelnen ihre Privatinteressen im rechtsfreien Raum durchsetzen wollten. Dies immerhin wird durch eine despotische Regierung effektvoll verhindert. Aber diese pragmatischen Überlegungen, bis hin zur politischen Entmündigung, stehen in keinem systematischen Zusammenhang mit dem Rechtsbegriff. Immerhin räumt Kant anmerkungsweise eine Analogie des Widerstands zum Notrecht ein.141 Der Ausschluß des Notrechts beruht darauf, daß die Erlaubnis, um der Sicherung der eigenen Lebensbedingungen willen das Recht zu brechen, jeden Rechtsbegriff aufhöbe; aber die rechtswidrige Handlung in unmittelbarer Gefahr kann auch nicht bestraft werden.142 Kant ist darin zuzustimmen, daß es kein in einer Verfassung positiviertes oder auch überpositiv legitimiertes Widerstandsrecht sinnvoller Weise geben kann.143 Der Versuch aber, diesen Ausschluß zu begründen, nötigt zu Bestimmungen des Verhältnisses von Staat und Bürger, in denen sichtbar wird, daß die Rechtsordnung, wie sie ist, keineswegs mit der moralischen oder rechtlichen Subjektivität der Bürger harmoniert. Wenn es der Rechtsbegriff erzwingt, daß noch seine tatkräftige Pervertierung hinzunehmen ist, steht zu befürchten, daß diese Pervertierung im Begriff des bürgerlichen Rechts selbst angelegt ist. Selbst wenn das Volk „gleichfalls seine unverlierbaren Rechte gegen das Staatsoberhaupt habe, obgleich diese keine Zwangsrechte sein können“144 , 141 142 143

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Vgl. Gemeinspruch, VIII 300 Anm. Vgl. MdS RL, VI 235f. Veronique Zanetti, Widerstandsrecht und Interventionsrecht, in: Klaus-Michael Kodalle, Der Vernunftfrieden, a.a.O., 119f. bemüht sich um eine pragmatische Lösung. Für Kant ist indes die Einheit des Rechtsbegriffs ausschlaggebend. – Vgl. zur Sache Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art. 20.4; der einzige Kommentar, der die rechtslogische Unsinnigkeit dieses Artikels, bei aller Polemik, treffend darstellt, ist der Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (Reihe Alternativkommentare), Neuwied 1989 (Art. 20.4: Helmut Ridder). – Der Kommentar zum Grundgesetz, hg.v. Theodor Maunz/Günther Dürig, München 1991 (Art. 20.4: Roman Herzog) betreibt dagegen trotz der Feststellung, der Artikel habe vor allem „psychologische Wirkung“, eine umfängliche Anwendungskasuistik eines Gesetzes, das seine Anwendung, wie Ridder eben zeigt, selbst kategorisch ausschließt. Der Kommentar Herzogs von 1980 ist übrigens in neueren Auflagen beibehalten worden, obwohl seine Interpretation gelegentlich die sogenannte ‚deutsch-deutsche‘ Situation vorauszusetzen scheint. – Das inkonsistente Verhältnis von Widerstandsrecht und Staatsrecht bestimmt Kurt Wolzendorff, Staatsrecht und Naturrecht in der Lehre vom Widerstandsrecht des Volkes gegen rechtswidrige Ausübung der Staatsgewalt. Zugleich ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte des modernen Staatsgedankens, Breslau 1916, 3: „[A]uch nachdem die Wissenschaft durch Kant dem Naturrecht die Bedeutung einer über und neben der staatlichen bestehenden Rechtsordnung aberkannt hatte, hat die Widerstandslehre noch ein halbes Jahrhundert in der deutschen Staatsrechtswissenschaft ihre Rolle weitergespielt“. Von der Renaissance des Widerstandsrechts, das 1968 wieder ins Grundgesetz geschrieben wurde, konnte Wolzendorff nichts wissen. Gemeinspruch, VIII 303.

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bedeutet dies nur, daß Willkürherrschaft dem Begriff nach aus dem Recht ausgeschlossen sei, der Rechtswirklichkeit nach aber nicht ausgeschlossen werden könne. Dieser Verbindung des Rechts mit Willkür, die schon Hobbes – um sichere Ordnung bemüht – affirmiert hatte,145 steht nach Kant ein öffentliches Beschwerderecht entgegen.146 Daß der Machthaber, indem er Zensur übt, an seiner eigenen Macht zweifle, weil diese nur „den allgemeinen Volkswillen repräsentirt“147 , dürfte den pervertierten Machthaber, der den Volkswillen eben nicht repräsentiert, kaum mehr interessieren. Ebenso ist die Konstruktion, daß den unter einer Verfassung stehenden Bürgern kein Widerstand gegen ihren ‚Gebieter‘148 erlaubt sein könne, weil sie sich ja selbst geböten, ein schwacher Trost für jene empirischen Subjekte des idealen Gebieters, die von dessen realen bloßen Verwaltungsbeamten mißhandelt werden; sie hat aber immerhin den massenhaft hingerichteten Souveränen der 1. Französischen Republik eine egalitäre Hinrichtungsmethode beschert. – Die Maxime, den Rückfall in den Naturzustand unbedingt auszuschließen, führt gegen ihre Intention dazu, daß die Menschen verhalten werden, nicht nur Unterdrückung und widerrechtliche Regierung zu ertragen, sondern sie auch als unter ihrem kollektiven Willen enthalten zu denken. Der Anspruch, daß das Recht vernünftig sei, wird so ermäßigt zu der Forderung, den unbedingten Gehorsam gegen den universellen wechselseitigen Zwang des bürgerlichen Rechts mit dem ‚Geist der Freiheit‘149 zu harmonisieren. Dies erlegt dem Subjekt ausdrücklich die unerfüllbare Forderung auf, den Zwang als etwas Vernünftiges einzusehen, weil dieser Zwang die einzige öffentlich zu garantierende Realisierung ihrer Freiheit, das bürgerliche Recht, notwendig begleite. Daß der Geist der Freiheit in der Affirmation der Gewalt durch Vernunft bestehen soll, zwingt die Vernunft selbst, entgegen ihrem eigenen Prinzip, der moralischen Autonomie. Im aporetischen Anspruch moralischer Begründung politischen Widerstands manifestiert sich die wesentliche Einheit des kollektiven Subjekts, die transzendentale Einheit praktischer Vernunft, die kein Dasein hat, gegen die Bedingungen, die ihr ein Dasein verwehren. Das empirische Kollektiv erscheint dadurch so zerrissen, wie es seinem allgemeinen Wesen nach in jedem einzelnen Subjekt ist. Dieser Riß im Subjekt erscheint im einfachsten, grundlegenden Verhalten der Einzelnen zur Gesellschaft. Soziologen gehen davon aus, daß in naher Zukunft grundsätzlich alle, die „ihrer Selbstverwirklichung zuviel Raum gegeben haben“ und „Chancen nicht

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Das kennzeichnet die Souveränitätstheorien der frühen Neuzeit generell. Sie gehen alle – mehr oder weniger – von der Vorstellung des tugendhaften Fürsten aus, der seine Willkür und Gewalt in den Dienst des bonum commune stellt und sie gerade deswegen unverkürzt innehaben muß. Im Unterschied aber zu Hobbes legt Bodin einen allgemeinen rationalen Rechtsbegriff zugrunde, der freilich mit dem Souvernitätskonzept auch kollidiert. Das gilt auch im Verhältnis zu Machiavelli, weshalb Bodin ihm vorwirft, von Recht und Politik keine Ahnung gehabt zu haben (vgl. Über den Staat, a.a.O., 94). Vgl. MdS RL, VI Allg. Anm. A und Gemeinspruch, VIII 303. Gemeinspruch, VIII 304. Vgl. Gemeinspruch, VIII 302. Vgl. Gemeinspruch, VIII 305.

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sofort ergriffen haben“150 , zu den Verlierern der Gesellschaft zählen werden, weil sie eine zweite Chance nicht erhalten werden. Das bedeutet, daß jeder, der sich nicht früh genug und nicht rückhaltlos genug zum Mittel heteronomer Zwecke macht, jeder, der nicht darauf verzichtet, Zweck an sich selbst zu sein, von den in der Selbsterniedrigung konkurrierenden Zeitgenossen zermalmt werden wird. Was lapidar mit dem verbrauchten Ausdruck ‚Selbstverwirklichung‘ bezeichnet wird, ist der Anspruch auf Bildung einer selbstbewußten Persönlichkeit, dessen Erfüllung in der modernen Gesellschaft, auf dem erreichten Stand der Produktivität, ohne jede Not verweigert wird. Seine geläufige Denunziation als asozialer Egoismus führt vor, wie sehr diese vernunftwidrige Verweigerung von den Subjekten als Angst vor der Freiheit angenommen wurde. Die aufgespielte Einsicht in den Verzicht stilisiert angestrengt diese Angst. Die Maxime, den Naturzustand unbedingt zu vermeiden, gerät unter heteronomen Bedingungen mit sich selbst in Widerspruch. So lassen sich für Kant die Staatsveränderung durch Reform und die durch Revolution durchaus widerspruchsfrei vereinen. Zwar bleibt durch die Reform der Rechtszustand intakt, aber der Fortschritt unterliegt allein der zufälligen Willkür des Herrschers151 , mit dessen Interesse sie als Selbstentmachtung nicht koinzidiert. Im Falle der Revolution wird der Rechtszustand unterbrochen, aber nur wenn nicht die revolutionär gesetzte Ordnung unmittelbar Rechtskraft hat. Deshalb „kann die Unrechtmäßigkeit des Beginnens und der Vollführung derselben [geglückten Revolution] die Untertanen von der Verbindlichkeit, der neuen Ordnung der Dinge sich, als gute Staatsbürger, zu fügen, nicht befreien“152 . Das Prinzip des Rechts, seinem Anspruch nach im Moralgesetz a priori begründet, hat in beiden Fällen der Einrichtung der bürgerlichen Gesellschaft schon unterwegs einer Tendenz zum Gesetzespositivismus nachgegeben. Der Revolutionär gegen feudale Willkürherrschaft und Unterdrückung sieht sich, nach Kants Konstruktion, im Resultat seines Tuns demselben Spuk ausgesetzt, gegen den er anging: Er muß sich bedingungslos einer Obrigkeit unterwerfen. Unterläge nämlich diese auch dem wechselseitigen allgemeinen Rechtszwang, so ergäbe sich, nach Kant, ein unendlicher Progreß der Hierarchien.153 Daß unter der Voraussetzung der bedingungslosen Geltung des Rechtsprinzips es gar keine gegen das Volk selbständige Obrigkeit geben könnte, erwägt Kant nicht, so sehr ist die Theorie der Vereinbarung von Theorie und Praxis an der gegebenen Praxis orientiert. In der Folge ist es nicht der Zweck des Staatsrechts, die technisch-praktische Organisation der Existenzbedingungen der Subjekte im Einklang mit moralisch-praktischen Gesetzen zu realisieren, sondern es hat „für Menschen, die im Antagonism ihrer Freiheit gegen einander stehen, verbindende Kraft, mithin objective (praktische) Realität, ohne daß auf das Wohl- oder Übelbefinden, das ihnen daraus entspringen mag, noch hingesehen werden darf“154 . Die Menschen gelten hier nicht als intelligible Subjekte, 150

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So formuliert Heinz Bude im IV. Teil der Sendereihe Der deutsche Sozialstaat im Jahr 2025, am 5. 1. 2007 auf NDR Info. Das hat Kant gesehen, wenn er darauf hinweist, daß der Herrscher zum Kriegführen neige, weil der Krieg nicht ihm, sondern dem Volk etwas kostet. Vgl. Gemeinspruch, VIII 311. MdS RL, VI Allg. Anm. A. Vgl. Gemeinspruch, VIII 291f. Gemeinspruch, VIII 306.

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sondern als empirische Willkürsubjekte, denn als solche können sie in Konflikt geraten, indem mehrere ihre Willkür durch dasselbe Objekt bestimmen. Kant schließt nun diese Objekte aus dem Rechtsbegriff aus, zugunsten eines formalen Maßstabs der Willkürkoordination. Die Vorstellung der vernünftigen Einrichtung der zweiten Natur, dergemäß die partikulare Willkür jedes Subjekts prinzipiell mit der jedes anderen kompatibel wäre, wie es in Anlehnung an die Typik der praktischen Vernunft zu konstruieren wäre, ist für diesen Rechtsbegriff nicht maßgebend. Er ist Verwaltung des Mangels und setzt voraus, daß die Menschen von Natur aus Widersacher seien.155 Zwar wendet Kant noch gegen Hobbes ein, daß die Behauptung, die Menschen könnten die Rechtsidee zwar denken, aber nicht praktisch umsetzen und müßten daher in Zucht gehalten werden, der salto mortale der Rechtsphilosophie sei; diese Bändigung der Willkür sei ja selbst reiner Willkür überlassen.156 Die von Kant als Grundlage aller Rechtsverhältnisse dagegen gehaltene Achtung vor der moralischen Subjektivität der Menschen kommt aber in der ‚Zwangsordnung‘ des bürgerlichen Rechts157 nicht zum Tragen, sondern wird mit der Forderung bedingungslosen Gehorsams, nicht gegenüber der Vernunft, sondern gegenüber der Macht, korrumpiert. Die moralische Subjektivität kann nicht mit dem Antagonismus harmonieren. Diesen aber sucht das Recht nicht durch rationale Organisation, d. h. durch Aufhebung der antagonistischen Bedingungen des Handelns zu schlichten, sondern es stellt allein dessen Austragung unter Regeln. Damit erweist sich das Staatsrecht als Mittel der Organisation bürgerlicher Konkurrenz. Deren Bewahrung hatte Kant in seiner Geschichtsphilosophie als Bedingung kulturellen Fortschritts behauptet. In dessen Dienst will er nun das Staatsrecht stellen, indem er es als Funktion des Privatrechts konstruiert: „Dieses [Öffentliche Recht] enthält nicht mehr, oder andere Pflichten der Menschen unter sich, als in jenem [Privatrecht] gedacht werden können; die Materie des Privatrechts ist eben dieselbe in beiden. Die Gesetze des letzteren betreffen also nur die rechtliche Form ihres Beisammenseins (Verfassung), in Ansehung deren diese Gesetze nothwendig als öffentliche gedacht werden müssen.“158 Es sei die Aufgabe des Öffentlichen Rechts, die Menschen rechtlich zu so verfassen, daß sie, trotz ihrem Antagonismus, „dessen, was Rechtens ist, theilhaftig […] werden“159 . 155

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Das beliebte Argument, aufgrund der menschlichen Ehrsucht und Habsucht blieben auch im Überfluß tendentiell alle Produkte, da sie als Statussymbole fungieren könnten, Mangelware, setzt seinerseits die Identifikation von Gebrauch und Besitz im bürgerlichen Recht voraus sowie die verheerende Wirkung, die dies im bürgerlichen Selbstbewußtsein gehabt hat. Der weitere Einwand, es gebe von Natur knappe Güter, wie die Liebe eines bestimmten Menschen, unterwirft, mit Kant, das Liebesverhältnis privatrechtlichen Bestimmungen, einer Verdinglichung des Persönlichen, die ebenso verheerend gewirkt hat und wirkt. Dazu folgt Genaueres im Abschnitt über das dinglich-persönliche Recht. Vgl. Gemeinspruch, VIII 306. Vgl. Religion, B 131. Kelsen zog die positivistische Konsequenz, Recht sei seinem Begriff nach, immer, eine Zwangsordnung. Vgl. Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 1. Aufl., Aalen 1985, 117. MdS RL, VI § 41. MdS RL, VI § 43. Vgl. Idee, VIII 27f. mit der Hervorhebung des Zusammenhangs von bürgerlicher Freiheit und Gewerbe; Gemeinspruch VIII 289 mit Betonung der Sicherung des Seinen im äußeren Verhältnis; ebenso EF, VIII 383; nach MdS RL, VI §§ 48f. ist die Staatsgewalt in Gesetzgebung und Regierung auf Erwerbung und Bewahrung ‚in Ansehung dessen, was das äußere

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Den Antagonismus kanalisiert das Staatsrecht dadurch, daß es die stabile politische Grundlage der bürgerlichen Privatrechtsordnung herstellt. Wird die von der Vernunft geforderte Stabilität der Lebensbedingungen der Menschen aber unter heteronomen Bedingungen des gegenseitig ausschließenden Privatbesitzes entfaltet, so droht das Öffentliche Recht zur abhängigen Pragmatistik zu geraten. Es hat dann selbst keinen Gegenstand als die Stabilität der Ordnung. Das gilt allgemein schon für Solon, der sich der interessengeleiteten Kompromißhaftigkeit seiner Reform wohl bewußt war und für Aristoteles, der jede Verfassung schließlich daran mißt, ob sie stasis und metabolä verhindern könne. Bei Kant, der das Recht aus Vernunftbegriffen entfalten will, werden durch den abstrakten Vorrang des Interesses an Stabilität die Antagonismen der Praxis in die praktische Vernunft selbst reflektiert. Gesteht die Philosophie – aus welchem Motiv auch immer – derart einen natürlichen Antagonismus der Menschen zu, begibt sie sich ihres Einspruchsvermögens und zementiert die Zwangslage der empirischen zerrissenen Subjekte als deren transzendentale Form.

3.

Recht an Sachen: Subjekte zwischen Rechtsansprüchen und sittlicher Pflicht

a.

Bedingungen praktischer Subjektivität im Recht

Der formale wie der sachliche Gehalt des Staatsrechts, Vertrag und Eigentum, erhalten ihre Grundlegung im Privatrecht. Deshalb liegen hier auch die Grundlagen seiner Aporien. Der Antagonismus der Menschen, der Kant zufolge die Geschichte und deren juridischen Ort, das Öffentliche Recht, bestimmt, wird noch dem rechtssystematischen Grund allen Rechts160 als notwendige menschliche Eigenschaft scheinbar bloß voraus-

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Mein und Dein betrifft‘ bezogen. Vgl. auch Oliver Eberl/Peter Niesen, Immanuel Kant. Zum Ewigen Frieden. Kommentar, Berlin 2011, 130: „Die Begründung von Besitzrechten dient ihm [Kant; M.St.] vor allem dazu, die Stiftung eines ustands des öffentlichen Rechts (eines Staates) zwischen den Individuen zu motivieren.“ – Reinhardt Brandt verweist auf eine „breite Rezeptionsphalanx […], die die Rückbindung des Öffentlichen Rechts an das Privatrecht bei Kant leugnet“ (Enthält Kants Vertragsrecht den Sachbesitz der Willkür einer anderen Person?, in: Volker Gerhardt/ Rolf-Peter Horstmann/Ralph Schumacher, Kant und die Berliner Aufklärung, a.a.O., Bd. IV, 80). Brandt nennt paradigmatisch Julius Ebbinghaus, Das kantische System der Rechte des Menschen und Bürgers in seiner geschichtlichen und aktuellen Bedeutung, in: Gesammelte Aufsätze, Vorträge und Reden, Darmstadt 1968, sowie Ingeborg Maus, Zur Aufklärung der Demokratietheorie. Rechts- und demokratietheoretische Überlegungen im Anschluß an Kant, Frankfurt am Main 1992. Kant versteht die Rechtslehre als ‚metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre‘. Ihre Bestimmungen müssen a priori aus dem Rechtsprinzip der allgemeinen Gleichheit der Willkürfreiheit folgen. Läsionen dieser Gleichheit können so nur bestimmt werden, insofern ihr Ausgleich herstellbar ist. Daher ergibt sich, wie noch zu zeigen ist, daß dem Strafrecht kein systematischer Ort in der philosophischen Rechtslehre zuzuweisen ist. – Zu der grundlegenden Bedeutung, die Kants Rechtslehre für die Entwicklung des modernen Rechts gehabt hat, vgl. Roderich von Stintzing/ Ernst Landsberg, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft, Abt. III.2 (von Ernst Landsberg), München/Leipzig 1910, 185ff.; vgl. ebenfalls Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, Göttingen 1967.

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gesetzt, und zwar in Gestalt einer „Neigung der Menschen überhaupt über andere den Meister zu spielen“161 . Die Grundbestimmung des Privatrechts ist das ausschließliche, d. h. alle Nicht-Eigentümer vom Gebrauch der Sache ausschließende, Eigentum an Sachen, und zwar grundlegend am allgemeinen oder ursprünglichen Produktionsmittel, der Erde,162 worauf die Bestimmungen des bürgerlichen und des häuslichen Verhältnisses der Personen durch Vertrag erst folgen. Das sachenrechtliche Eigentum nun ergibt sich aus jenem Antagonismus, weil der Wille, den Boden zu gebrauchen, „wegen der natürlich unvermeidlichen Entgegensetzung der Willkür des Einen gegen die des Anderen allen Gebrauch desselben aufheben würde, wenn nicht jener [Wille] zugleich das Gesetz für diese [Willkür] enthielte, nach welchem einem jeden ein besonderer Besitz […] bestimmt werden kann“163 . Der Erdboden müsse mit Ausschließlichkeit aufgeteilt werden, damit die Menschen sich überhaupt reproduzieren könnten, weil sie sonst durch ihre natürliche Konkurrenz sich in der Bearbeitung des Bodens behindern und somit ruinieren müßten. Diese Annahme bestimmt implizit bereits das ‚Allgemeine Rechtsprinzip‘: „Eine jede Handlung ist recht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann.“164 Dieses Prinzip kongruiert nicht mit dem kategorischen Imperativ: „[H]andle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.“165 Während hier die Bestimmung der Maxime der Willkür durch den Willen thematisch ist, ist es im Rechtsprinzip die Bestimmung der Handlung durch die Willkür.166 Im kategorischen Imperativ wird Allgemeinheit erzeugt durch die Bestimmung der Maxime aus reiner Vernunft, 161 162

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166

MdS RL, VI § 42. Vgl. Karl Marx, Das Kapital, Bd. 1, MEW 23, a.a.O., 195: „Das allgemeine Arbeitsmittel […] ist […] die Erde selbst, denn sie gibt dem Arbeiter den locus standi und seinem Prozeß den Wirkungsraum“, und 193: „Die Erde (worunter ökonomisch auch das Wasser einbegriffen), wie sie den Menschen ursprünglich mit Proviant, fertigen Lebensmitteln ausrüstet, findet sich ohne sein Zutun als der allgemeine Gegenstand der menschlichen Arbeit vor.“ MdS RL, VI § 16. Über die Bedingungen der Parzellierung folgen unten die Einzelheiten. MdS RL, VI § C. Grundlegung, IV 421. Anders Ralf Dreier, Recht, Moral, Ideologie, Frankfurt am Main 1981, 290ff., der einen engen Zusammenhang von Moral und Recht sieht, im Unterschied zu Horst Dreier, Kants Republik, a.a.O. – Otfried Höffe, Ist Kants Rechtsphilosophie noch aktuell?, in: Ders. (Hg.), Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, Berlin 1999, extrapoliert ein ‚moralisch gültiges Recht‘. Vgl. Matthias Lutz-Bachmann, Geschichte und Subjekt, a.a.O., 79. – Für eine andere Interpretationstradition steht Manfred Brocker, Kants Besitzlehre, a.a.O., 50f.: „Die Struktur des allgemeinen Prinzips des Rechts ist mit der des kategorischen Imperativs identisch. Es hebt lediglich den diesem immanenten Standpunkt der ‚Dijudikation‘ hervor.“ Eine mögliche Strukturgleichheit wird aber im Gehalt der Sätze nicht abgestützt. – Der vor allem von Julius Ebbinghaus (z. B. in Kant und das 20. Jahrhundert, Darmstadt 1968) vertretenen Interpretation, daß Morallehre und Rechtslehre unvereinbar nebeneinanderstünden, sind sowohl Wolfgang Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, a.a.O:, als auch Hans-Georg Deggau, Die Aporien der Rechtslehre Kants, a.a.O., entgegengetreten. Während Kersting mittels Rekonstruktionen die These verfolgt, daß Kant durchgängig konsistent für die einheitliche Herkunft von Moral und Recht aus der praktischen Vernunft argumentiere, gesteht Deggau Kant dies als Argumentationsziel zu, das aber in bestimmten materialen Rechtsfragen verfehlt werde.

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d. h. die Maxime muß so gewählt sein, daß ‚durch‘ sie zugleich gewollt werden kann, daß sie ein allgemeines Gesetz werde, mithin so, daß mit der Maxime, welchen Inhalts sie auch sei, unmittelbar zugleich ihre widerspruchsfreie Fähigkeit, allgemein zu gelten, gesetzt sei.167 Eine solche Maxime ist nur in einem wollenden Bewußtsein denkbar, das unter der transzendentalen Einheit der Apperzeption steht. Mehr ist, aufgrund der Formalität der Maximen, a priori nicht zu sagen. Das Rechtsprinzip geht gleich von einer Mehrzahl von Willkürsubjekten aus sowie davon, daß diese – nur für empirische Subjekte vorstellbare Pluralität – in der Bestimmung ihrer Willkür kollidieren. Im Unterschied zum Moralgesetz, das auf die notwendige Allgemeinheit der positiven vernünftigen Bestimmung des Willens bezogen ist, unter deren Voraussetzung die Handlung mit denen aller anderen Subjekte kompatibel wäre, wird im Rechtsprinzip die Allgemeinheit bloß durch wechselseitige Einschränkung der Willkürfreiheit auf ein gemeinverträgliches Maß hergestellt. Insofern es sich um eine Mehrzahl kollidierender Willkürsubjekte, Rechtspersonen, handelt, kann die Freiheit des Rechts bloß äußere Freiheit sein.168 Wohl beruht der kategorische Imperativ durchaus darauf, daß die menschliche Willkür kein heiliger Wille ist: „Die menschliche Willkür ist dagegen eine solche, welche durch Antriebe zwar afficirt, aber nicht bestimmt wird, und ist also für sich (ohne erworbene Fertigkeit der Vernunft) nicht rein, kann aber doch zu Handlungen aus reinem Willen bestimmt werden.“169 Bei einem „heiligen Wesen“ dagegen „findet kein Imperativ statt“170 . Die Doppelseitigkeit der Freiheit der Willkür ist aber nicht unmittelbar identisch mit einem notwendigen Antagonismus der Willkürsubjekte untereinander, dem moralisch überhaupt nicht beizukommen wäre. Aus der pathischen Seite der Willkür ergibt sich wohl die Möglichkeit, daß verschiedene Subjekte ihre Willkür auf dasselbe Objekt richten, in Kollision geraten und so eine Partikularität objektivieren, die nur durch eine zusätzliche Regel unter eine allgemeine Form gebracht werden kann. Aus dieser physischen Bedingtheit der Willkür folgt aber nur dann ein Antagonismus, wenn die äußeren Voraussetzungen der Reproduktion so verfaßt sind, daß die Menschen ihre physische Bedürftigkeit nicht anders als gegeneinander, durch wechselseitige Bekämpfung, befriedigen können. Der Mangel aber am Lebensnotwendigen ist zivilisatorisch und kulturell zufällig, seine geflissentliche Erhaltung, die sowohl gesellschaftliche Gewalt als auch die ideologische Rechtfertigung des Mangels als Naturbestand menschlichen Daseins voraussetzt, ist sogar moralwidrig. Kant setzt daher in der Rechtslehre, im Unterschied zur Moralphilosophie, einen äußerlichen, inhaltlich beschränkten Freiheitsbegriff voraus. Während in der Moralphilosophie Freiheit von der Bestimmung des Willens durch 167

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Es geht nicht um ‚Verallgemeinerbarkeit‘ von Maximen, sondern um deren Fähigkeit, allgemeine Gesetze zu sein. Die erste Vorstellung ist empirisch, die zweite nicht. Darauf hat jüngst Reinhard Brandt wieder hingewiesen (vgl. Immanuel Kant – Was bleibt, a.a.O.). Vgl. Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, a.a.O., 323f. MdS RL, VI 213. MdS RL, VI 222. Diese ‚Unheiligkeit‘ beruht auf dem Dualismus von Natur und Freiheit, den Bubner als Bedingung von Moral überhaupt bezeichnet. Vgl. Rüdiger Bubner, Geschichtsprozesse und Handlungsnormen, a.a.O., 88. – Das Verhältnis von Intelligibilität und Körperlichkeit bestimmt Hans Georg Deggau, Die Aporien der Rechtslehre Kants, a.a.O., als Grund der von ihm analysierten Aporetik (vgl. 35ff.).

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praktische Vernunft nicht unterschieden wird, differenziert Kant hier beide mit einem vom Recht inspirierten Seitenblick auf die Sittlichkeit: Die sittlichen Gesetze geböten jedermann „bloß weil und sofern er frei ist und praktische Vernunft hat“171 . Dieser Freiheitsbegriff der Rechtslehre überwiegt auf der Seite des negativen Verständnisses moralischer Freiheit als Willkürfreiheit. Das Verhältnis von Wille und Willkür bestimmt Kant in der Rechtslehre folgendermaßen: „Von dem Willen gehen die Gesetze aus; von der Willkür die Maximen. Die letztere ist im Menschen eine freie Willkür; der Wille, der auf nichts Anderes, als bloß auf Gesetz geht, kann weder frei noch unfrei genannt werden, weil er nicht auf Handlungen sondern unmittelbar auf die Gesetzgebung für die Maxime der Handlungen (also die praktische Vernunft selbst) geht, daher auch schlechterdings nothwendig und selbst keiner Nöthigung fähig ist. Nur die Willkür also kann frei genannt werden.“172 Dagegen heißt es in der Moralphilosophie, ein Wille, der bloß durch die „allgemeine gesetzgebende Form“ bestimmt werde, also ‚bloß auf Gesetz geht‘, müsse „als gänzlich unabhängig von dem Naturgesetz der Erscheinungen […] gedacht werden. Eine solche Unabhängigkeit aber heißt Freiheit im strengsten, d. i. transcendentalen Verstande. Also ist ein Wille, dem die bloße gesetzgebende Form der Maxime allein zum Gesetze dienen kann, ein freier Wille.“173 Kants rechtsphilosophisches Interesse an der Willkür gründet darin, daß vom freien Willen aus keine direkte Gegenstandsbeziehung herzustellen ist; das Recht soll aber gerade die Sittlichkeitsprinzipien auf Gegenstände anwenden. Die Gegenständlichkeit der Freiheit, die im ‚Rechtlichen Postulat der praktischen Vernunft‘174 konstruiert wird, um die reine praktische Vernunft zu erweitern, ist im Wechsel vom Willen zur Willkür schon vollzogen. Der gesetzgebende Wille, der mit der reinen praktischen Vernunft zusammenfällt, wäre, wie Kant bemerkt, aufgrund dieser Identität ‚schlechterdings notwendig‘. Nach dem Kategorischen Imperativ müßte tatsächlich in der realen Freiheit des Willens, der gelungenen gesetzmäßigen Bestimmung der Maximen die Freiheit der Willkür erloschen sein: In einer dem ‚Typus der reinen praktischen Vernunft‘175 zufolge vernunftgemäß eingerichteten Naturordnung, in der jedes vernünftige Subjekt zu sein wünschen könnte, wären keine Willkürkonflikte vorstellbar. Nur Subjekte, die ihr Leiden zu affirmieren gelernt haben, also keine vernünftigen Subjekte sind, würden ihre selbstentworfene Ordnung konfliktvoll gestalten.176 Mit jenem Idealtypus der reinen praktischen Vernunft kann Kant in der Rechtslehre aber buchstäblich nichts anfangen. In dem Wahlvermögen der Willkür, „für oder wider das Gesetz zu handeln“177 , das auf der Sinnlichkeit der Vernunftwesen beruht, liegen Notwendigkeit und Möglichkeit einer Rechtsordnung überhaupt begründet. Dieses Vermögen sei aber nicht im Ganzen die Freiheit der Willkür, sondern nur als Vermögen, 171 172 173 174 175 176

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MdS RL, VI 216; meine Hervorhebung. MdS RL, VI 226. KpV, V § 5. Vgl. MdS RL, VI § 2. Vgl. KpV, V 69. Vgl. Max Horkheimer, Erich Fromm, Herbert Marcuse, Studien über Autorität und Familie, Lüneburg 1987, 121f. MdS RL, VI 226.

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dem Gesetz zu folgen; das Vermögen, gegen das Gesetz zu verstoßen, sei in Wahrheit ein ‚Unvermögen‘. Tatsächlich kann das Vermögen der Willkür nur im Zusammenhang beider Seiten bestehen, denn das Vermögen, dem Gesetz zu folgen, wäre für sich, ohne das Vermögen, von ihm abzugehen, gar kein Vermögen, sondern Notwendigkeit. Kant versucht, das Willensvermögen, das nur durch Abstraktion aller gegenständlichen Bestimmungen als sittliches zu gewinnen war, nun dem entgegen ebenso als sittliches auf die Rechtsgegenstände zu beziehen. Im Resultat bleibt der Wille als praktische Vernunft im Bereich der Gesetzgebung isoliert tätig, und die Willkür zerfällt in ein positives und ein negatives Vermögen, die logisch zusammengehören, aber praktisch nicht zusammen gedacht werden dürfen: „Es ist eine Definition, die über den praktischen Begriff noch die Ausübung desselben, wie sie die Erfahrung lehrt, hinzutut, eine Bastarderklärung (definitio hybrida), welche den Begriff im falschen Lichte darstellt.“178 Allerdings ist der praktische Begriff, der negative Freiheitsbegriff, nach dem die Willkür nicht unter der Naturkausalität steht, an sich selbst schon – negativ – auf Ausübung in der Erfahrung bezogen, und eine Definition, die das nicht berücksichtigt, spaltet das Willenssubjekt in ein Subjekt, das den Gesetzen folgt, und eines, das ihnen nicht folgt; keines der beiden wäre frei zu nennen. Das eine ist das der idealen Moralität, das andere das des in der sinnlichen Natur gründenden Antagonismus. Beide unterliegen voneinander unabhängigen Notwendigkeiten, die nicht vereinbar sind. Die Rechtsgesetze orientieren sich nun nicht ebensowohl an der Idealität der Moral als vielmehr an der Realität der um ihre Existenzbedingungen konkurrierenden Subjekte. Die Regulierung dieser Konkurrenz soll nun wohl mit der Moral übereinstimmen, ohne doch mit ihr zusammenzufallen. Die rechtsbegründende Funktion des Antagonismus widerspricht, insofern dieser eine Natureigenschaft der Menschen ist, Kants eigener Forderung: „[E]ine Metaphysik der Sitten kann nicht auf Anthropologie gegründet, aber doch auf sie angewandt werden.“179 Kant vermeidet den Widerspruch allein dadurch, daß er den Antagonismus als Eigenschaft a priori auffaßt, die weniger in der Natur der Menschen als in einer transzendenten Absicht der Natur selbst angesiedelt sei. Die Unterscheidung der Legalität von der Moralität scheint zunächst nur darauf gerichtet zu sein, ob Urteile auf die Handlung oder auf die Maxime bezogen sind: Die Übereinstimmung der Maxime mit dem Recht begründet Moralität, die der Handlung mit demselben Legalität. Legal ist danach eine Handlung, die die Freiheit eines anderen nicht lädiert, „obgleich seine Freiheit mir gänzlich indifferent wäre, oder ich im Herzen derselben gerne Abbruch thun möchte, wenn ich nur durch meine äußere Handlung ihr nicht Eintrag thue“180 . Der damit verbundenen vollständigen Disjunktion von äußerer Handlung und innerer Willensbestimmung, der völligen Verselbständigung des Rechts gegenüber der Moral, sucht Kant dadurch zu begegnen, daß er deren Unterschied genauer auf das Verhältnis von Maxime und Handlung gründet, wodurch es möglich wird, die Moralität als Übereinstimmung von Gesetz, Maxime und Handlung zu fas-

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MdS RL, VI 227. MdS RL, VI 217. MdS RL, VI § C.

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sen, während die Legalität nur die von Gesetz und Handlung fordert.181 Dadurch soll es möglich werden, das Recht analytisch aus der Moral zu gewinnen: „Die Gesetze der Freiheit heißen, zum Unterschiede von Naturgesetzen, moralisch. So fern sie nur auf bloße äußere Handlungen und deren Gesetzmäßigkeit gehen, heißen sie juridisch; fordern sie aber auch, daß sie (die Gesetze) selbst die Bestimmungsgründe der Handlungen sein sollen, so sind sie ethisch“182 . Danach wären Rechtspflichten moralisch-juridische, Tugendpflichten aber moralisch-ethische Pflichten. Die Begründung durch den Unterschied aller gesetzmäßigen Handlungen zur Naturkausalität ist nun mindestens problematisch, denn Handlungen sind insgesamt empirisch und unterliegen in der Ausführung der Naturkausalität. Wenn ihre Legalität gegen die Willensbestimmung gleichgültig ist, können sie vollständig pathologisch begründet sein, nämlich durch direkte Zwangsgewalt oder durch indirekte, die Angst vor Strafe. Eine solche Handlung unterschiede sich in Kants üblicher Auffassung nicht im Geringsten von Reflexhandlungen und hätte nichts Moralisches. Dem trägt Kant durchaus mit der Unterscheidung der Triebfedern Rechnung: Sei die Pflicht selbst Triebfeder, so handele es sich um eine ethische Handlung, seien andere Triebfedern zulässig, allenfalls um eine legale. Kant läßt keinen Zweifel offen, welche ‚anderen‘ Triebfedern hier allein in Frage kommen: Sie müssen „von den pathologischen Bestimmungsgründen der Willkür“, genauer von den Abneigungen hergenommen werden, weil die Gesetzgebung „nöthigend, nicht eine Anlockung, die einladend ist, sein soll“183 . Die Moralität der Rechtsgesetze könnte danach allenfalls in ihrer Legitimation bestehen, wenn diese sich auf reine praktische Vernunft zurückführen ließe; in ihrer positiven Durchführung dagegen haben Rechtsgesetze im Idealfall die Wirkung von Naturzwängen und wären höchstens im Sinne einer Erziehungsdiktatur mit Moral in Verbindung zu bringen. Tatsächlich ist für Kant der Rechtszustand historische Bedingung der Möglichkeit von Moralisierung. Allerdings steht das Mittel dann in diametralem Gegensatz zu seinem Zweck, der Moral, die sich Kant zufolge nicht erzwingen lassen kann, weil sie auf freier Einsicht der praktischen Vernunft beruht. In der Rechtslehre kann es dann allenfalls darum zu tun sein, die juridische Gesetzgebung als mit der Moral kompatibel zu fassen; sie an deren Prinzip zu messen, schon gar sie daraus abzuleiten, dürfte nicht gelingen. Die Erweiterung der Moral, deren Begriff Kant zufolge allein durch vollständige Abstraktion äußerer Bedingungen zu gewinnen ist, auf Handlungen, die unter solchen äußeren Bedingungen stehen, erscheint dann zunächst wenigstens ebenso aussichtslos.184 Wenn Kant die ‚direktethischen‘ Pflichten ergänzt um die Rechtspflichten, die aufgrund ihrer Beziehung auf innere Gesetzgebung ‚indirekt-ethische‘ Pflichten seien,185 konstruiert er eine seinem 181

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185

Vgl. MdS RL, VI 219: „Die ethische Gesetzgebung dagegen macht zwar auch innere Handlungen zu Pflichten, aber nicht etwa mit Ausschließung der äußeren, sondern geht auf alles, was Pflicht ist, überhaupt.“ Vgl. auch 214. MdS RL, VI 214. MdS RL, VI 219. Auf die Möglichkeit der Kollision von Rechtspflichten und Moralpflichten weist Josef Simon, Kant, a.a.O., 456ff. und 478 hin: Hier müsse das Subjekt sich entscheiden, ob es sich als moralische oder als juridische Person begreifen möchte. Vgl. MdS RL, VI 221.

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eigenen Verständnis nach moralwidrige abhängige Ethik, die das an sich Moralische in Rücksicht auf seine empirischen Erfüllungsbedingungen setzt. Den moralischen Legitimationsgrund des Rechts versucht Kant trotz dessen Äußerlichkeit im Recht selbst zu erhalten, indem er die Naturrechtstradition wenigstens formal beleiht: Äußere Gesetze, deren Verbindlichkeit a priori erkennbar sei, nennt er „natürliche Gesetze“, im Unterschied zu „positive[n] Gesetze[n]“186 , die ohne politische Gesetzgebung keinerlei Verbindlichkeitsgrund aufweisen. Die Disjunktion dieser Bereiche darf, wenn Recht als äußerliches unter Moral subsumierbar sein soll, nicht vollständig sein: Es muß möglich sein, positive Gesetze an Naturrecht zurückzubinden. Dies will Kant dadurch erreichen, daß die Gesetzgebungskompetenz auch eines Gesetzgebers, der allein aus seiner Willkür Gesetze erläßt, einem naturrechtlichen Begründungsanspruch unterliegen müsse. Wenden ließe sich dies zum Argument gegen Willkürherrschaft: Wie sollte eine reine Willkürordnung naturrechtlich abzusichern sein?187 Was Kant wohl noch für unerfüllbar gehalten hätte, wurde jedoch im 20. Jahrhundert beispielhaft vorgeführt. Der Wille eines ‚Führers‘ wurde unmittelbar Gesetz und gab sich als natürlich legitimierter, von der ‚Vorsehung‘ eingesetzter. Diese Perversion des Rechtsbegriffs, die Mystifikation der Rechtsordnung zur Schicksalsgemeinschaft, von der neuerdings wieder die Rede ist,188 ist in der Äußerlichkeit – der Kontingenz des bürgerlichen Rechts im Verhältnis zu seiner moralischen Grundlage – selbst angelegt. Deshalb waren nicht nur Rechtsmystifikationen verschiedener couleurs möglich, sondern auch eine Rechtstheorie, die sowohl in der Weimarer Republik als auch im Nationalso186 187

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MdS RL, VI 224. Dies Problem sieht Robert Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, a.a.O. Aus der naturrechtlichen Rückbindung des positiven Rechts folge eine absurde „moralische[] Pflicht zum Rechtsgehorsam“ (187). „Das führt zu einem vernunftrechtlich begründeten strikten Vorrang des positiven Rechts vor dem Vernunftrecht.“ (190). Damit wäre Kant „positivistischer als […] Kelsen[]“ (194). Alexys Versuch zur Lösung dieses Widerspruchs durch die Radbruchsche Formel gelingt jedoch ebensowenig. – Wolfgang Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, a.a.O., hatte dafür argumentiert, daß „jedes Pflichtgesetz der Vernunft […] auf ethische Weise gegeben werden“ könne (176). Das ist richtig, wenn Recht aus moralischen Prinzipien entwickelt werden kann. Kersting fährt fort: Jedes Pflichtgesetz der Vernunft „ist auf ethische Weise gegeben, auch das Rechtsgesetz“ (ebd.). Und hier greift Alexys Positivismusverdacht insofern, als historisch gegebene Rechtsgesetze nicht unbedingt moralisch begründet sind. Kerstings umfangreiche Vereinbarung von Moral und Recht unter der praktischen Vernunft reduziert beider Unterschied auf den Befolgungsmodus, der beim Rechtsgesetz auch zwangshaft sein könne. Daß dies auch moralisch möglich sei, erfährt aber die eigentlich pragmatische Begründung, daß äußere deviante Handlungen der äußeren Regulierung bedürftig sind, wenn sie nicht die allgemeine Verträglichkeit der Zwecke behindern sollen. Von der von Kersting so genannten ‚moralteleologischen Auffassung‘ (vgl. 142ff.) unterscheidet sich das im Grunde nur dadurch, daß das Recht an keine weiteren Zwecke geknüpft wird, sondern seine Zwangsbefugnis aus sich selbst und um seiner selbst willen gewinnt. Erzwungen werden darf dann die äußere Handlung bloß deshalb, weil es möglich ist. Der Nachweis, daß die Vereinbarkeit rechtlichen Zwanges mit moralischer Freiheit aus moralischen Prinzipien zu begründen wäre, gelingt jedenfalls nicht. So formulierte Angela Merkel am 16. 6. 2005 in ihrer Festrede zum sechzigjährigen Bestehen der CDU. Vgl. auch Peter Zudeick, Schicksalsgemeinschaft freier Bürger? Die CDU und die Leitkultur, Politisches Feuilleton, Deutschland Radio Kultur am 7. 3. 2007, www.dradio.de.

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zialismus und in der Bundesrepublik Deutschland Konjunktur haben konnte. Wenn Carl Schmitt189 in Kritik an dem bloß positiven Begriff von Rechtsgeltung in Kelsens Reiner Rechslehre diese Positivität an das natürliche Vermögen, den Ausnahmezustand zu beherrschen, zurückbindet, vertritt er die Aporie bürgerlichen Rechts, einerseits historisch zufällig zu sein, andererseits aber als notwendige Bedingung des Fortschritts zu erscheinen. Diese Notwendigkeit der Rechtsordnung ist von der Macht ihrer gewaltsamen Setzung nicht zu trennen; sie wirkt fortgesetzt in der Funktion des Rechts, den Antagonismus der Subjekte nicht zu vermitteln, sondern durch gewaltbewehrte Regeln bloß einzudämmen. Das bestimmt auch die sogenannte Radbruchsche Formel, nach der ein Rechtssatz, der offenkundig unerträgliches Unrecht darstelle, unrichtiges Recht und deshalb niemals Recht gewesen sei. Selbst diese grundsätzlich positiv ausgerichtete Auffassung, die nur im Extremfall das geltende Recht einem überpositiven Prinzip, der Gerechtigkeit, unterwirft, ist auf die Durchsetzbarkeit dieses Prinzips, auf die Positivität politischer Macht, angewiesen. Was daran als juristisches Prinzip über Moralbegriffe hinausgehen könnte, wird deshalb auf der einen Seite als Überwindung von Unrecht, auf der anderen als Siegerjustiz wahrgenommen, wenn das historisch unterlegene Rechtssystem als Unrechtsstaat, etwa auch rückwirkend, aufgehoben wird. Überpositivität als solche, nicht an bestimmte moralische Gehalte gebundene Formel, war auch der nationalsozialistischen Rechtsvorstellung nicht fremd, die es nicht einmal für nötig erachtete, die Weimarer Verfassung außer Kraft zu setzen, weil sie sich im Gefühl ihres natürlich überlegenen Rechtsanspruchs ohnehin den mit ihr unvereinbaren Artikeln jener Verfassung überhoben wähnte.190 Hat das Recht, dem Selbstverständnis seiner Geltung nach, einmal Moralität materialiter hinter sich gelassen, ist sie ihm formaliter nicht mehr beizufügen.191 189 190

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Vgl. z. B. Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, Berlin 1996. Radbruch war sich der Gefahr der rechtsförmlichen Beschränkung der Rechtsgeltung durchaus bewußt und bestimmt den Ort der Rechtsgeltung daher in dem Widerspruch zwischen positiver und überpositiver Begründung. Jene gelte auch im Unrechtsfall, solange das Unrecht nicht unerträglich sei. Dies ist eine Bestimmung, die objektiv keinen, subjektiv aber unendlich viele Anwendungsfälle hat: Objektiv ist Unerträglichkeit festzustellen, wenn ein Subjekt physisch oder psychisch irreparabel zusammengebrochen ist; subjektiv kann das Gefühl, etwas nicht mehr ertragen zu können, dagegen sehr früh eintreten. Vgl. Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, Heidelberg 1990, Bd. III, 100 oder Dens. Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, in: Süddeutsche Juristenzeitung, Jg. 1, Nr. 5, 1946. Die Diskussion um die Positivierung weiterer Grundrechte, nun auch für Pflanzen und Tiere und ethnische Gebräuche (vgl. Arno Baruzzi, Rechtsphilosophie der Gegenwart, Darmstadt 2006, pass.), abgesehen davon, daß all dies keine Rechtssubjekte sein können, ist ein positivistisches Scheingefecht. Wenn schon der Schutz der Menschenwürde als mit der Privatautonomie abwägbar angesehen wird (vgl. Theodor Maunz/Günther Dürig (Hgg.), Grundgesetz, München 1991, Art. 1 (Günther Dürig), Abs. 3, Rn 129f. oder neuerdings dass., München 2005, Art. 1 (Matthias Herdegen), Abs. 1, Rn. 17, 21; auch Horst Dreier (Hg.), Grundgesetz, Tübingen 1996, Art. 2 (Horst Dreier), Rn 47 und Art. 3 (Horst Dreier), Rn 508; insges. vgl. Ulrich Haltern, Was bedeutet Souveränität, Tübingen 2007, 72f.), werden den Tier- und Pflanzenschutz noch nicht einmal, was vernünftig wäre, als Schutz der natürlichen Ressourcen menschlichen Lebens, wirksam garantieren können. Ob ein rechtlicher Schutz der nun ‚Ethnizität‘ genannten Nationalismen die Lage der Welt zu verbessern vermöchte, sei dahingestellt; im Bürgerkrieg der Jugoslawen war die Koinzi-

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Wenn jedoch bei Kant von Naturrecht die Rede ist, meint dies kein göttlich oder kosmologisch begründetes, auch kein in der natürlichen Beschaffenheit der Menschen liegendes Recht. Die Natur ist als Inbegriff192 der Einheit der Gegenstände möglicher Erfahrung kein Maßstab fürs Recht, das als regulatives Prinzip aller Handlungen vor aller Erfahrung in reiner Vernunft begründet sein muß: „[E]ine Metaphysik der Sitten kann nicht auf Anthropologie gegründet, aber doch auf sie angewandt werden.“193 ‚Naturrecht‘ kann daher nur heißen, daß dieses Recht allgemein gültig ist, insofern alle Menschen ihrer Natur nach über die Freiheit der Willkür und über praktische Vernunft verfügen und daß das Recht eben durch diese Vernunft begründet ist. Daher ist es Gegenstand der „Rechtswissenschaft“ als „der systematischen Kenntniß der natürlichen Rechtslehre (Ius naturae) […], [die] zu aller positiven Gesetzgebung die unwandelbaren Principien hergeben muß“194 . Daraus folgt der Anspruch der Rechtslehre, das Recht vollständig und widerspruchsfrei nach Begriffen darzustellen. Wenn es nun „nur das äußere und zwar praktische Verhältniß einer Person gegen eine andere“ betrifft, muß diese Äußerlichkeit, der Charakter a posteriori des Rechts, selbst systematisch, a priori, begründbar sein. Das soll dadurch gelingen, daß das äußerliche Verhältnis auf das „der Willkür […] auf die Willkür des anderen“, und zwar „nur nach der Form im Verhältniß der beiderseitigen Willkür“195 , beschränkt werde. In diesem Begriff des Rechts, der in dem ‚Allgemeinen Rechtsprinzip‘ komprimiert ist, liegt nun die Trennung der Legalität von der Moralität, denn die Bedingung der allseitigen Beschränkung der Willkür auf allgemeine Kompatibilität bedeutet nicht, „daß ich ganz um dieser Verbindlichkeit willen meine Freiheit auf jene Bedingungen selbst einschränken solle, sondern die Vernunft sagt nur, daß sie in ihrer Idee darauf eingeschränkt sei und von andern auch thätlich eingeschränkt werden dürfe“196 . Diesen bruchlosen Übergang von der Vernunftidee der Einschränkung zu deren gewaltsamer Exekution begründet Kant folgendermaßen: „Der Widerstand, der dem Hindernisse einer Wirkung entgegengesetzt wird, ist eine Beförderung dieser Wirkung und stimmt mit ihr zusammen. Nun ist alles, was unrecht ist, ein Hinderniß der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen: der Zwang aber ist ein Hinderniß oder Widerstand, der der Freiheit geschieht. Folglich: wenn ein gewisser Gebrauch der Freiheit selbst ein Hinderniß der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen (d. i. unrecht) ist, so ist der Zwang, der diesem entgegengesetzt

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denz des Ethnischen mit brutalsten Nationalismen auf allen Seiten noch gegenwärtig. Nachdem die Weltgemeinschaft im Abkommen von Dayton die von den Beteiligten gewünschte völkische Selektion dann bestätigt hatte und ‚ethnische Säuberung‘ in Deutschland einmal ‚Unwort des Jahres‘ gewesen war, verlor sich die Scheu vor dem Gegenstand wie vor dem Ausdruck. Zur Bedeutung des Ausdrucks ‚Inbegriff‘ als Begriff, in dem die synthetische Verbindung dessen, was er bedeutet, vorgestellt wird, in dem insofern Urteilssubjekt und Objekt zusammenfallen, vgl. die Reflexion 6350, XVIII 676. MdS RL, VI 217. MdS RL, VI § A. MdS RL, VI § B. Zur Äußerlichkeit des Rechtsverhältnisses vgl. auch Kants Briefentwurf an JungStilling, XI, 10 und aus den Vorarbeiten zur Rechtslehre, XXIII, 274. MdS RL, VI § C.

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wird, als Verhinderung eines Hindernisses der Freiheit mit der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusammen stimmend“197 . Zwangsgewalt, als Negation der Negation von Freiheit gefaßt, wäre logisch sogar mehr als nur widerspruchsfrei mit Freiheit vereinbar: Sie wäre selbst eine Gestalt von Freiheit. – Indem Kant das Recht formal unter dem Titel ‚Moral‘ laufen läßt, es inhaltlich aber aller Moralbestimmung entkleidet,198 werden die dafür eintretenden Rechtsbestimmungen ihrerseits mit der Moral konfundiert: Freiheit und Zwang, die weder moralisch noch logisch in eine widerspruchsfreie Beziehung gesetzt werden könnten, treten rechtstheoretisch füreinander ein: „Recht und Befugniß zu zwingen bedeuten also einerlei.“199 Was dem Rechtssubjekt an Freiheit verbleibt, ist allein das „Bewußtsein der Verbindlichkeit eines jeden nach dem Gesetze“200 . Dieses Bewußtsein ist aber für die Bestimmung des Handelns gänzlich irrelevant. Es bleibt allenfalls als Bewußtsein des Rechtsinhalts vorausgesetzt, denn jeder muß wissen können, was er nicht tun soll. Dieses Bewußtsein ist in sich aber gegenläufig. Es muß den Rechtsinhalt wissen und weiß doch zugleich, daß nicht dies Wissen für es bestimmend sei, sondern die pathologische Angst vor der Strafe. Wo Kant die Angst als bloßes Motiv des Willens intendiert, wird das intelligible Subjekt tatsächlich zum Erfüllungsgehilfen der pathologischen Natur seines empirischen Charakters. Wenn das „Princip der Möglichkeit eines äußeren Zwanges […] mit der Freiheit von jedermann nach allgemeinen Gesetzen zusammen bestehen kann“201 , dann nur unter der Voraussetzung, daß diese Freiheit nicht mehr bedeutet als das technisch-praktische Vermögen des Subjektes, seinen Willkürbereich zu beherrschen. Dieser kann seinerseits technisch beschränkt werden, wenn er die 197 198

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MdS RL, VI § D. Vgl. MdS RL, VI § E: Das strikte Recht ist das, „dem nichts Ethisches beigemischt ist“. Ulli F. H. Rühl, Kants Deduktion des Rechts als intelligibler Besitz, Paderborn 2010, 40 ff., betrachtet dieses strikte Recht als eine Zuspitzung, ein bloßes Gedankenexperiment, weil nie eine rechtmäßige Handlung nur aus Zwang erfolge. Das aber behauptet Kant auch gar nicht; es sagt nur, daß die rechtmäßige Handlung keiner weiteren Triebfeder bedürfe. Insofern aber ist der moralfreie Rechtsbegriff ernst gemeint. MdS RL, VI § E. Schärfer als Matthias Lutz-Bachmann es tut (vgl. Geschichte und Subjekt, a.a.O., 126) wäre zu sagen, daß Kant nicht allein durch die Anwendung der transzendental stimmig begründeten Rechtsbegriffe auf gesellschaftliche Wirklichkeit in Widersprüche gerät, sondern daß die Begründung selbst schon die gesellschaftlichen Widersprüche verinnerlicht hat. – Unter Verweis auf Kants Naturrechtsvorlesung von 1784 (Feyerabend) (XIX, 1335) bemerkt Willaschek, die Zwangsbefugnis sei nicht die Definition des Rechts, sondern eine Folge aus dem Rechtsbegriff. Vgl. Marcus Willaschek, „Verhinderung eines Hindernisses der Freiheit“ und „Zweiter Zwang“. Bemerkungen zur Begründung des Zwangsrechts bei Kant und Hegel, in: Barbara Merker/Georg Mohr/Michael Quante, Subjektivität und Anerkennung, a.a.O., 271ff. Aber die Zwangsbefugnis folgt deshalb dem Rechtsbegriff, weil dieser durch Trennung von der Moral definiert ist: Erst als äußerliches ist Recht physisch legitimerweise und überhaupt erzwingbar, und nur äußerlich ist seine Einhaltung überhaupt kontrollierbar. Ulli F. H. Rühl, Kants Deduktion des Rechts, a.a.O., 38 f., bestreitet die Identifizierung von Recht und Zwangsbefugnis, da die Billigkeit bei Kant selbst ein nicht erzwingbares Recht darstelle. Zwar nennt Kant es ein Recht im weiteren Sinne, reagiert damit aber darauf, daß es sich um einen traditionellen topos der Rechtslehre handelt, um dann zu zeigen, daß es im systematischen Sinn kein Recht ist. Daher wird es in der Einleitung abgehandelt. MdS RL, VI § E. MdS RL, VI § E.

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Willkürbereiche Anderer lädiert.202 Das allgemeine Gesetz, nach dem das geschieht, ist kein moralisches, denn moralische Freiheit ist mit dem Zwang, den dieses äußerliche Verfahren erfordert, unter keinen Bedingungen vereinbar.203 Die äußerliche Freiheit der Willkür, aus der das Rechtssystem begründet wird, ist konsequent die gegenständliche des äußeren Mein und Dein. Die Freiheit, die zum inneren Mein gehört, kann Kant zufolge nicht als Rechtsprinzip gelten, wenngleich sie als Bestimmung der Rechtssubjektivität allem Recht vorausgesetzt ist. „Das angeborene Recht ist nur ein einziges. Freiheit (Unabhängigkeit von eines anderen nöthigender Willkür), sofern sie mit jedes Anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann, ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende Recht.“204 Diese Freiheit als Grundbestimmung der Persönlichkeit „eines vernünftigen Wesens unter moralischen Gesetzen“ ist Bedingung dafür, daß die Person, das Rechtssubjekt, „einer Zurechnung fähig“205 ist. Die Verletzung dieser Freiheit kann aber nach Kants Rechtsbegriff nicht justitiabel sein, weil dieser sich auf äußere Handlungen im Verhältnis zu gleichfalls äußeren Willkürsphären der Rechtssubjekte bezieht. Das Recht kann Läsionen dieser Willkürsphären heilen, indem es den Lädierenden auf Leistung oder auf Schadensausgleich für den Lädierten verpflichtet. Grundsätzlich Anderes, Rechte des intelligiblen Subjekts etwa, sind aus dem ‚allgemeinen Rechtsprinzip‘nicht abzuleiten. Die innere Freiheit als solche kann nun durchaus verletzt werden durch psychische Folgen von tätlichen Angriffen, Erpressung, Nötigung, Folter und anderem mehr, aber sie erscheint nicht selbst in der Sphäre des Kantischen Rechts, das seinem Kern nach Privatrecht ist.206 Ihre Erscheinungen sind empirische Handlungen, die durch andere 202

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Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit, a.a.O., 59: „Ferner erscheint im heutigen Recht für den Menschen der Mitmensch nicht als Bedingung des eigenen Menschseins, sondern als Grenze und Begrenzung der eigenen rechtlichen Freiheit“. Dies ist womöglich ein sittliches, aber kein moralisches Verhältnis. Vgl. auch Hermann Cohen, Kants Begründung der Ethik nebst ihren Anwendungen auf Recht, Religion und Geschichte, Berlin 1910 oder Waldemar Schreckenberger, Legalität und Moralität, Heidelberg 1958. – Ein engagierter Versuch, den Zwang des Rechts mit der moralischen Freiheit unter der Gesetzgebung der Vernunft zu vereinbaren, findet sich bei Wolfgang Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, a.a.O., 112-133. MdS RL, VI 237. MdS RL, VI 223. Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit, a.a.O., 60: „Die in den Menschen- und Bürgerrechten ausgesagte Bestimmung vom Menschen ist die Freiheit, aber die Freiheit nicht als metaphysische Freiheit, auch nicht als transzendentale Freiheit, sondern als subjektive Freiheit der Einzelnen im Sinne von Wahlfreiheit“. Wenn Böckenförde anfügt „und freier Selbstbestimmung“, ist darunter sicher nicht Kantische Autonomie gemeint, die ein metaphysischer beziehungsweise transzendentaler Begriff ist. – Zum Ausschluß des inneren Mein aus dem Privatrecht vgl. Reinhardt Brandt, Enthält Kants Vertragsrecht den Sachbesitz der Willkür einer anderen Person?, a.a.O., 72 und Heiner F. Klemme, „Das angeborene Recht der Freiheit“. Zum inneren Mein und Dein in Kants Rechtslehre, in: Volker Gerhardt/Rolf-Peter Horstmann/Ralph Schumacher, Kant und die Berliner Aufklärung, a.a.O., Bd. IV, 186. Klemme zeigt zudem, daß Kant aus dem inneren Mein weder öffentlich-rechtliche, noch zivil- oder strafrechtliche Konsequenzen zieht: „Es gehört zu den Eigentümlichkeiten der kantischen Rechtslehre, daß sie uns über den besonderen Status unseres

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empirische Handlungen lädiert werden können. Solche Läsionen des inneren Mein verortete die frühbürgerliche Rechtslehre in veräußerlichten Erscheinungen dieser Freiheit. So versteht Grotius unter Recht „das Seinige“ eines jeden als „moralische Eigenschaft, kraft der eine Person etwas mit Recht haben oder tun kann“207 . Im einzelnen heißt das: „Sie umfaßt die Macht sowohl über sich selbst, welche Freiheit heißt, als auch über andere, wie die väterliche Gewalt oder die Gewalt des Herrn über seinen Sklaven. Ferner wird darunter das Eigentum verstanden […]. Endlich gehört hierher das Recht des Gläubigers“208 . Das aus der vernünftigen Sorge um den dauerhaften Nutzen der menschlichen Gemeinschaft entspringende Naturrecht vereint privat- und strafrechtliche Bestimmungen unter dem Leitbegriff des gerechten Ausgleichs. Daher ist die rechtlich relevante Freiheit eine veräußerlichte, deren Objektivierungen dann durch Kriege verteidigt oder durchgesetzt werden können.209 Nach Hobbes dient Freiheit der Erhaltung des Lebens und ist so explizit äußere Handlungsfreiheit, Freizügigkeit: „Unter Freiheit versteht man im eigentlichen Sinne die Abwesenheit äußerer Hindernisse.“210 Deutlich schreibt er: „[W]enn man die Wörter frei und Freiheit auf irgendetwas anderes als Körper anwendet, mißbraucht man sie“211 . Locke schließlich leitet aus der Freiheit als Recht auf die eigene Person die Eigentumsbegründung durch Arbeit ab.212 Einen verinnerlichten Begriff von Freiheit verwendet Pufendorf. Aus der natürlichen und intelligiblen Beschaffenheit der

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Körpers im Unklaren läßt, also nicht klärt, wie es möglich ist, dass unser inneres Mein und Dein dadurch lädiert wird, dass man dem menschlichen Körper Schaden zufügt.“ (185). Hugo Grotius, De jure belli ac pacis, a.a.O., Buch 1, Kap. 1, Abs. 4. Hugo Grotius, De jure belli ac pacis, a.a.O., Buch 1, Kap. 1, Abs. 5. Vgl. Hugo Grotius, De jure belli ac pacis, a.a.O., Buch 2, Kap. 1. Thomas Hobbes, Leviathan, a.a.O., Kap XIV. Thomas Hobbes, Leviathan, a.a.O., Kap. XXI. John Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung, Frankfurt am Main 1977, Zweite Abhandlung, § 27. Nachdem die zentrale Position des Begriffs ‚property‘ bei Locke dazu geführt hatte, diesen leichthin als bürgerlichen Ideologen abzustempeln, ist wiederholt darauf hingewiesen worden, daß ‚property‘ nicht auf Sacheigentum beschränkt sei, sondern an den Begriff des ‚meum‘ in der weiten Bedeutung anschließt – was in Lockes Schrift klar am Tage liegt. Vgl. Peter Laslett, Introduction, in: John Locke, Two Treatises of Government, Cambridge 1999, 101ff. und Ludwig Siep, Kommentar, in: John Locke, Zweite Abhandlung über die Regierung, Frankfurt am Main 2007, 330. Allerdings besteht die Tendenz, Lockes Eigentumslehre geradezu als Kritik am kapitalistischen Eigentum aufzufassen (vgl. Peter Laslett, Introduction, a.a.O., 106). Dazu ist zu sagen, daß Lockes ‚property‘ zwar bei der Selbstverfügung über die eigene Person ansetzt, aber nur, um daraus die Möglichkeit von Sacheigentum zu begründen. – Tatsächlich paßt die Sacheigentumsbegründung durch Arbeit zunächst nicht in die bürgerliche Tradition: Schon Kant weist sie explizit zurück, weil das Verhältnis der Arbeitskraft zum Arbeitsgegenstand kein rechtsförmiges Verhältnis zwischen Personen begründet. Reinhard Brandt hat darauf hingewiesen, daß dahinter die metaphysische oikeiosis-Lehre der Stoa steht. (Vgl. Immanuel Kant – Was bleibt?, a.a.O.) – Nur als Rechtsverhältnis von Personen aber wäre Sacheigentum überhaupt zu begründen. Indem Locke Aneignung durch Arbeit begründet, verdeckt er die von Kant hervorgehobene Okkupation und hat insofern weniger Schwierigkeiten mit dem bürgerlichen Eigentum als Kant. In dem Zusammenhang von einer ‚Arbeitswertlehre‘ zu reden, wie es öfters geschieht (so auch bei Franco Zotta, Immanuel Kant. Legitimität und Recht, a.a.O., 28, der sogar „Arbeitswerttheorie“ schreibt), geht doch etwas zu weit. Die unbefriedigende Konstellation von Freiheit, Eigentum, Erwerb und Arbeit, deren Vermittlung auch Hegel nicht gelingt, wird bei Marx zum Motor der ‚kapitalistischen

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Menschen ergebe sich die allgemeine Pflicht, das Gemeinwohl zu fördern, woraus Naturrechtsgrundsätze abgeleitet werden, die „Leben, Körper, Gesundheit, Freiheit sowie Ehre und Sittlichkeit“213 ebenso schützen wie den Besitz erworbener Güter. Die Forderung der Wiedergutmachung verursachter Schäden an Körper, Gesundheit, Freiheit und Ehre erweist sich aber als unerfüllbar, die Läsionen durch Mord, Körperverletzung oder Erpressung selbst als systematisch nicht justitiabel. Sie werden Gegenstände einer pragmatisch konstruierten Abteilung des Zivilrechts, soweit Schmerzensgeld oder Entschädigung betroffen sind, oder, hinsichtlich des Spezifischen dieser Läsionen, Gegenstand des Strafrechts.214 Das Strafrecht aber ist aus Kants rechtlichem Freiheitsbegriff, den er von dem avancierten moralischen Freiheitsbegriff ablösen mußte, nicht systematisch zu begründen und macht daher auch keinen dogmatischen215 Teil der Rechtslehre aus.216 Kants Bemühung, contre cœur, in einer Anmerkung zum Staatsrecht gemäß dem sachenrechtlich orientierten Rechtsprinzip doch noch ein Strafrecht zu begründen, gibt sich unkompliziert, ist aber zutiefst widersprüchlich. Kant begründet die Strafe nicht als Spezial- oder Generalprävention; Hegel schließt dies später explizit mit einem Kantischen Argument aus: Der Bestrafte würde so zum bloßen Mittel eines ihm fremden Zweckes gemacht.217 Allerdings kann die Strafe als mit dem Selbstzweck des Bestraften vereinbar nur durch dessen vollständigen Verlust seiner Persönlichkeit begründet werden. Strafe als Sühne oder Vergeltung setzt eine tätige Verletzung der Integrität der Rechtsordnung voraus, die durch das Erleiden der Strafe zu heilen wäre.218 Einerseits wird damit die Rechtsordnung selbst, gleich Dikä, zu einer Rechtsperson hypostasiert, die Läsionen erleiden kann, andererseits wird die Person des Verbrechers als durch das Verbrechen dem Strafzwang ausgeliefert betrachtet: Die Nichtigkeit seiner Person, die durch die Strafe zu exekutieren ist, gleicht dann die Läsion der Integrität der Rechtsordnung aus. Zugleich beinhaltet der Begriff der Vergeltungs- oder Sühnestrafe, wie Hegel besonders herausgestellt hat, die Heilung der Läsion der Persönlichkeit des Täters, die Aufhebung der Schuld. Diese

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Akkumulation‘. – Im vorliegenden Zusammenhang ist indes nur von Bedeutung, daß der Begriff des Eigentums bei Locke zu besonderer Bedeutung erhoben wird. Samuel von Pufendorf, Über die Pflichten des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur, Frankfurt am Main 1977, Kap. 6, § 3. Der Pragmatismus erscheint darin, daß die Höhe der Entschädigung unter anderem von der Stellung der sie erzwingenden staatlichen Gewalt zu ihrem Grund abhängt. Das erweist sich am Vergleich der Höhe von Entschädigungen für psychische Läsionen die Bürger einander, etwa durch Geiselnahme, zufügen, mit der Höhe von Entschädigungen für gleichartige im Staatsauftrag zugefügte Läsionen, wie durch irrtümliche Gefängnishaft. Der Ausdruck ‚Dogmatik‘ bedeutet im Zusammenhang des Rechts nicht eine unbegründete Lehrmeinung, sondern gerade das juristische Verfahren der begrifflich-systematischen Ableitung von Rechtssätzen aus Rechtsgrundsätzen. Vgl. Marcus Willaschek, „Verhinderung eines Hindernisses der Freiheit“ und „Zweiter Zwang“, a.a.O., 281. Vgl. G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, a.a.O., § 99 Anm. Hegel argumentiert hier explizit gegen die von Paul J. A. Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland geltenden peinlichen Rechts, Frankfurt am Main 1985, vorgebrachte Präventionsstraftheorie. Etwas anders versuchte Kant noch in der KpV, das Strafrecht aus dem Sittengesetz zu begründen. Vgl. KpV, V 37.

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Heilung der Persönlichkeit fällt aber mit der Aufhebung der Persönlichkeit ineins, weil dem Subjekt der Bestrafung die Freiheit seiner Willkür entzogen ist; es kann zum Objekt werden, weil es „durch Verbrechen seine Persönlichkeit eingebüßt hat“219 . Als sinnvolle Strafen nennt Kant zuvörderst die Todesstrafe, Zwangsarbeit, Schuld- und Strafsklaverei sowie Kastration.220 Die Begründung minderer Strafen, für Beleidigung beispielsweise, geht vom antiken Begriff der proportionalen Gleichheit aus: Was den Einen beleidigt, mag den Anderen, aufgrund seiner sozialen Stellung, wenig anfechten. Dies ist fallweise und phantasievoll zu lösen, so daß „dieser nicht allein öffentlich abzubitten, sondern jenem, ob er zwar niedriger ist, etwa zugleich die Hand zu küssen, durch Urtheil und Recht genöthigt würde“221 . Das Strafrecht ist für Kant durchaus kein bloßes Instrument politischer Zwecke, sondern weil die politische Gemeinschaft selbst notwendiger Zweck ist, sei es in der Natur der Menschen verankert. Dies zeigt das Beispiel des Inselvolkes, das sich in alle Welt dissoziiert, aber zuvor noch alle verurteilten Mörder hinzurichten hat, damit „die Blutschuld nicht auf dem Volke hafte […]; weil es als Theilnehmer an dieser öffentlichen Verletzung der Gerechtigkeit betrachtet werden kann“222 . Indem Kant das Strafrecht nach dem Tallionsprinzip – Vergeltung, Gleichheit, Ausgleich des Schadens am Recht – faßt, muß er in den Subjekten solche Vergleichbarkeit voraussetzen und so deren Würde auf ein Äquivalent, einen Preis, reduzieren. Vielleicht erscheint hier der prekäre Charakter der äußerlichen Rechtssubjektivität am klarsten: Das Subjekt, dem zugerechnet wird, hat die Persönlichkeit, aufgrund derer ihm zugerechnet wird, längst verloren.223 Das moderne Strafrecht setzt hingegen die Zurechnungsfähigkeit als entscheidendes persönliches Merkmal voraus.224 Die Angaben zu den persönlichen Verhältnissen folgen im Kern den Bestimmungen des BGB zur Person, die lediglich Geburt, Wohnort 219

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MdS RL, VI 358. Vgl. G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, a.a.O., § 100 Anm., wo er sich gegen Einwände gegen die Todesstrafe ausspricht, wie sie Cesare Beccaria, Über Verbrechen und Strafen, Frankfurt am Main 1998, vorbrachte. Nach Hegel ist die Straftat unmittelbarer Ausdruck des Willens des Täters, bestraft zu werden, denn als Willenssubjekt habe er die Tat begangen und als Willenssubjekt könne er nur existieren, wenn er bestraft werde, weil die ungesühnte Läsion der Rechtsordnung die sittliche Möglichkeit freier Subjektivität aufhebe. So erwerbe der Täter durch die Tat einen Anspruch auf Bestrafung. Nur so sei seine Persönlichkeit reparabel, da er mit der Läsion der Rechtsordnung zugleich die sittliche Grundlage seiner eigenen Persönlichkeit in Frage gestellt habe. Der Widerspruch im Verbrechen, das zweckgemäß nur in einer sonst gültigen Rechtsordnung verübt werden kann, reproduziere sich in der widersinnigen Einsicht, daß die eigene Subjektivität nur mehr durch deren Preisgabe zu restituieren sei, die bei Hegel das Verbrechen zum Übergang des abstrakten Rechts in die Moralität werden läßt. Vgl. MdS RL, VI Anm. E sowie Anhang Nr. 5. MdS RL, VI Allg. Anm. E. MdS RL, VI Allg. Anm. E. Ähnlich wie der Status des Widerstandsrechts gibt der des Strafrechts indirekt Auskunft über den je gültigen Status des praktischen Subjekts im Recht. Vgl. dazu auch Georg Mohr, Recht als Anerkennung und Strafe als „Abbüßung“. Trifft Hegels Kritik der Präventionslehre Fichtes Begründung der „peinlichen Gesetzgebung“?, in: Barbara Merker/Georg Mohr/Michael Quante, Subjektivität und Anerkennung, a.a.O., 243ff. – Die Strafrechtsgeschichte behandelt Kant dagegen zumeist nur noch als Beispiel für Rückständigkeit in der Entstehungszeit des modernen Strafrechts. Vgl. StGB §§ 20f.

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und Name umfassen, also das, was unbedingt erforderlich ist, um ein Rechtssubjekt als solches dingfest zu machen.225 Schon das Allgemeine Preußische Landrecht von 1794 hatte die Person auf ihre Relationalität in der Rechtssphäre reduziert: „§ 1. Der Mensch wird, in so fern er gewisse Rechte in der bürgerlichen Gesellschaft genießt, eine Person genannt.“226 Insofern die Rechte das sind, wodurch eine Person auf andere Personen bezogen ist, gilt die Person selbst als Platzhalter der Summe aller möglichen Relationen. Das schwingt mit in der Vorbemerkung Hans-Jürgen Krahls zu seinen Angaben zur Person: „Angaben zur Person zu machen, kann nicht heißen, auch nicht im Hinblick auf ein Gericht wie dieses, zu definieren, was man heute noch hämisch genug ‚Persönlichkeit‘ nennt.“227 Wenn Krahl dann dem Gericht eine später zehn Buchseiten fassende Entwicklungsgeschichte seiner Person zumutete, so wollte er das Mißverhältnis von empirischem und intelligiblem Charakter blamieren und aufzeigen, daß die Bestimmung der Persönlichkeit als Zurechnungsgrund der Person im bürgerlichen Recht, auch im bürgerlichen Strafrecht, ihrem moralischen Gehalt nach ausgefallen ist. Die negative Bestimmung der Zurechnungsfähigkeit nach StGB §§ 20 und 21 hat indes psychische Krankheit zu ihrer materiellen Basis; nur weil und soweit diese sich gutachterlich feststellen läßt, kann die Kantische Konsequenz vermieden werden, daß die Willkür des Verbrechers in keinem aktuellen rechtlichen Verhältnis mehr zur Allgemeinheit stehe. Im modernen Recht bleiben der Verbrecher und auch der psychisch kranke Straftäter, soweit er nicht unter Pflegschaft steht, formell Bestandteil der Rechtsgemeinschaft. Kants Begriff des Rechtssubjekts ist aber noch nicht rein formell gefaßt. Im Zusammenhang des Strafens wird der rechtliche Status metaphysisch aufgeladen. Das liegt 225

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Vgl. Otto Palandt u. a. (Hgg.), BGB, 55. Aufl., München 1996, Erster Abschnitt. Personen, Erster Titel. Natürliche Personen, §§ 1, 7, 12. Dem entspricht in der StPO (Heinrich Schönfelder (Hg.), Deutsche Gesetze, 98. Aufl., München 2000, EL 99, § 68, Abs. 1 „Vornamen und Zunamen, Alter, Stand oder Gewerbe und Wohnort“ Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten, 1794, zitiert nach Hans Hattenhauer, „Person“ – Zur Geschichte eines Begriffs, in: Juristische Schulung 22. Jg., Heft 6, München 1982. – Vgl. hierzu den systematischen Überblick bei Stephan Kirste, Dezentrierung, Überforderung und dialektische Konstruktion der Rechtsperson, in: Joachim Bohnert u. a. (Hgg.), Verfassung – Philosophie – Kirche. Festschrift für Alexander Hollerbach, Berlin 2001. Der postmoderne Personbegriff bei Karl-Heinz Ladeur, Gunther Teubner oder auch Niklas Luhmann, demzufolge die Person nicht mehr als Autor von Handlungen, sondern als Katalysator sozialer Prozesse (vgl. ebda. 323) und der Grundrechteberechtigte als Funktion des Rechts (vgl. ebda. 324) oder Zurechnungspunkt (vgl. ebda. 326) erscheine, wird als ein Resultat der Positivierung entwickelt: „Im Lauf des 19. Jahrhunderts verblaßte das Bewußtsein vom Zusammenhang von sittlicher Person, Rechtsperson und Menschenrechten immer weiter zugunsten einer Konzentration auf die Person als ‚Gegenstand‘ des positiven Rechts. Damit ging ein Bedeutungsverlust der Person einher, die nun eher in ihren rechtlich relevanten Funktionen der Rechtsfähigkeit erfaßt und diskutiert wurde“ (ebda., 335). Dieses Verständnis formuliert Kelsen: „Die physische oder juristische Person, die Rechtspflichten und subjektive Rechte – als deren Träger – ‚hat‘, ist diese Rechtspflichten und subjektiven Rechte, ist ein Komplex von Rechtspflichten und subjektiven Rechten, deren Einheit im Begriff der Person figürlich zum Ausdruck kommt“ (Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., Wien 1960, 177). Allerdings ist dies auch in der Naturrechtstradition schon angelegt, soweit dort juristisch von Person die Rede ist. Hans-Jürgen Krahl, Angaben zur Person, in: Konstitution und Klassenkampf , Frankfurt am Main 1977, 19.

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daran, daß Strafen nicht formal aus dem Rechtsbegriff zu begründen sind, konsequent fällt das Strafrecht aus der weiteren Dogmatik des Rechts heraus. Weil die Dogmatik die Rechtsgehalte aus dem Verhältnis freier Willküren begründen soll, ist sie auf Rechtssubjekte beschränkt, deren Persönlichkeit nicht lädiert oder aufgehoben ist. Die Rechtslehre behandelt deshalb das Verhältnis von innerem Mein und Eigentum in der Einleitung, um sich dann auf das äußere Verhältnis der Subjekte als Eigentümer zu beschränken.228 Das auf Verletzungen des inneren Mein bezogene Strafrecht wird nur noch anmerkungsweise erwähnt. Der mit dem Privatrecht verbundene Zwang, die Befugnis des Rechts zu zwingen, ist hingegen kein strafrechtlicher Zwang, sondern die Möglichkeit, Ansprüche durchzusetzen. Der mit dem Privatrecht verbundene Zwang ist kein Strafzwang.229

b.

Subjekte von Verträgen und Subjekte von Eigentum

Kants Begriff des Rechts betrifft die Form der äußeren Freiheit als ein kausales Verhältnis der Willküren der Rechtssubjekte. Diese Form ist das persönliche Recht des Vertrages, den Personen, die bereits als Eigentümer eines Rechtsgegenstandes angesehen werden, miteinander schließen. Das persönliche Recht richtet sich auf den „Besitz der Willkür eines Anderen, als Vermögen sie durch die meine nach Freiheitsgesetzen zu einer gewissen That zu bestimmen“230 . Das aus dem Vertrag resultierende Recht 228

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Vgl. MdS RL, VI 238: „Da es nun in Ansehung des angebornen, mithin inneren Mein und Dein keine Rechte, sondern nur Ein Recht giebt, so wird diese Obereintheilung als aus zwei dem Inhalte nach äußerst ungleichen Gliedern bestehend in die Prolegomenen geworfen, und die Eintheilung der Rechtslehre bloß auf das äußere Mein und Dein bezogen werden können.“ Vgl. auch Anthropologie, VII 270: „der Rechtsbegriff“ geht „unmittelbar aus dem Begriff der äußern Freiheit hervor[]“. Dies ist der Grund dafür, „warum […] Kant bis zum § 42 [wartet], um den status civilis vernunftrechtlich zu begründen“ (Heiner F. Klemme, „Das angeborene Recht der Freiheit“, a.a.O., 184): Dieser status folgt nicht aus der inneren Freiheit, sondern als Bedingung der Möglichkeit äußerer Freiheit, d. h. als Garantie des Privatrechtsverkehrs. – Hierzu schreibt Reinhard Brandt, Eigentumstheorien von Grotius bis Kant, a.a.O., 180: „Kant kennt kein Recht auf Selbsterhaltung. […] Das Recht an irgendwelchen Dingen (die zur Lebenserhaltung dienen mögen) wird so begründet, daß ein Rekurs auf die Bedürfnishaftigkeit des Lebens selbst weder möglich noch notwendig ist. […] Kant denkt hier [d. i. VI, 307] nicht an Lebensbedrohung, sondern an die Bedrohung der äußeren Habe.“ – Ulli F. H. Rühl, Kants Deduktion des Rechts, a.a.O., plädiert dafür, daß die Behandlung des inneren Mein in der Einleitung sich dem pragmatischen Grund verdanke, daß sie für einen Hauptteil zu kurz sei (47), bzw. daß Kant hier keinen Begründungsbedarf gesehen hätte (67). Kant hingegen reklamiert einen ‚äußersten inhaltlichen Unterschied‘ zwischen innerem und äußerem Mein, der sich systematisch auswirkt: Aus dem inneren folgen – abgesehen von seiner Unverletzlichkeit – keine bestimmten Rechtsbegriffe, aus dem äußeren jede Menge. Dies wird häufig übersehen, so zuletzt bei Gerold Prauss, Moral und Recht im Staat nach Kant und Hegel, Freiburg 2008, 39, 41, 43, 92, 99, 102, 108; aber auch bei Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, a.a.O., 133, scheint dies in der Formulierung durch: „Der Zwang kann nur indirekt nötigen. Letztlich ist es die Selbstliebe, die zu gesetzeskonformem Verhalten nötigt.“ Zwar gibt Kant in der Einleitung in die Metaphysik der Sitten den Zwang als eine mögliche Triebfeder des Rechts an, aber die Zwangsbefugnis in der Einleitung in die Rechtslehre spricht vom Zwang nicht als Triebfeder, sondern als direktem Handlungskorrektiv. MdS RL, VI § 18.

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ist zunächst „nicht ein Sachenrecht“231 . Die Freiheit als äußere führt aber auf einen Rechtsbegriff, der einen Gegenstand erfordert, der nicht aus ihm selbst abzuleiten ist. Es erfordert ihn deshalb, weil ein Vertrag über nichts die Bestimmung der Willkür zu einer Leistung von nichts wäre. Diese Willkür bliebe damit unbestimmt, was dem Vertragsbegriff widerspräche. Zwar geht das Recht bloß auf die „Form im Verhältnis der beiderseitigen Willkür“, aber dieser Form, soll sie nicht leere Form, ens rationis, bleiben, muß ein Inhalt unterstellt werden, eine „Waare“232 , so genau ist Kant hier bereits. Die praktische Vernunft war von aller Gegenstandsbeziehung abstrahiert worden. Wenn sie gleichwohl Vernunft empirischer Subjekte sein soll, muß die Versorgung dieser Subjekte mit ihren Existenzgrundlagen gewährleistet sein. Nun ist die praktische Vernunft in ihrem allgemeinen Ausdruck, dem kategorischen Imperativ, Bedingung der Möglichkeit der allgemeinen Koordination von Handlungen, und damit auch Bedingung der Möglichkeit kollektiven Handelns. Der basale Gegenstand kollektiven Handelns ist aber die gemeinsame Reproduktion des Kollektivs, so daß praktische Vernunft und materielle Reproduktion durchaus konkordant sein können müssen, auch wenn diese nicht zur Legitimationsbedingung von jener werden kann. Die praktische Vernunft ist Kant zufolge gerade gleichgültig gegen die materiellen Bedingungen der Reproduktion ihrer Subjekte. Dennoch geraten technisch-praktisches und moralisch-praktisches kollektives Handeln nicht notwendig in Widerspruch, wohl aber der Möglichkeit nach, wie jeder gelungen inszenierte Krieg als logistische Großleistung von Kooperation anschaulich macht. Läßt sich kollektives Handeln technisch-praktisch auch ohne Moral, d. h. unter Mißachtung der Menschen, unter heteronomen Zwecken also, organisieren, so wird es zur politischen Aufgabe, die Bedingungen des Handelns moralkonform einzurichten. Dies ist nach Kant eine Aufgabe des bürgerlichen Rechts, das daher eine notwendige Erweiterung der praktischen Vernunft a priori darstelle, insofern es dieser die Beziehung auf die gegenständlichen Bedingungen des Handelns hinzufüge. Insofern aber das Recht zugunsten seines anderen Spezifikums – der Zwangsbefugnis zum Zweck der Sicherheit und Garantie technisch-praktischen Handelns – alle Moralbestimmung aus sich ausgeschlossen hat, bleibt die Übereinstimmung der technischen Organisation der gegenständlichen Bedingungen des Handelns mit der Moral problematisch.233 Damit bleibt auch die allgemeine Glückseligkeit problematisch, die nur durch moralische Regelung der technischen Kooperation zu erreichen wäre. Das erscheint in der Partikularität, der Vereinzelung der bürgerlichen Subjekte,234 sowie in der diese affirmierenden These, daß durch den Antagonismus allein Allgemeinheit zu erzeugen sei. 231 232 233

234

MdS RL, VI § 20. MdS RL, VI § B. Die Imperative zur Verfolgung der Glückseligkeit, die wegen ihrer Bedingtheit in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten ‚problematische Imperative‘ heißen, nennt Kant später, in der Ersten Einleitung in die Kritik der Urteilskraft, ‚technische Imperative‘ (Erste Einleitung KdU, 8 Anm.). Die beabsichtige Beseitigung der contradictio in adjecto gelingt aber nur kosmetisch, denn der Sache nach ist auch der technische Imperativ eine zwingende Anordnung unter Bedingung eines nicht zwingenden Zwecks. Was aber durch die Wahl eines inhaltlich statt formal differenzierenden Attributs deutlicher wird, ist die äußerliche Stellung der Technik zur Praxis. Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit, a.a.O., 58: „In der heutigen Rechtsordnung wird der Mensch grundsätzlich als einzelnes Individuum vorausgesetzt“.

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Die Notwendigkeit des Antagonismus ist bei Kant nur scheinbar bloße Voraussetzung; sie ist ebenso notwendiges Resultat der Differenz von Moral und Recht. Dieser Befund wird zusätzlich dadurch bestätigt, daß der Antagonismus selbst den theoretischen Übergang von der Moral zum Recht bestimmt. Weil Moral den Antagonismus nicht zügelt, bedarf es des Rechts. Werden aber Moral und Recht systematisch differenziert, so erscheint der Antagonismus, um dessentwillen dies geschieht, als notwendige condition humaine. Zunächst ist es bloß die Unmöglichkeit der subjektiven praktischen Vernunft, ihre Gegenstände aus reiner Vernunft selbst hervorzubringen, die das rechtliche Postulat der praktischen Vernunft begründet, wenn es denn vernünftige Subjekte als gegenständliche Wesen soll geben können. Die Möglichkeit der res nullius, des herrenlosen Gegenstands, soll a priori ausgeschlossen sein, weil dem Gebrauch eines Gegenstandes zunächst der empirische Besitz, die physische Innehabung, vorausgesetzt sei.235 Der empirischen Verfügung ist weiter das Vermögen, über den Gegenstand zu verfügen, vorausgesetzt: Es muß in der Macht des Subjekts stehen, den Gegenstand in Besitz zu nehmen. Sollte ein Gegenstand nun davon rechtlich ausgeschlossen werden, so würde er „außer aller Möglichkeit des Gebrauchs“236 gesetzt, obgleich er doch brauchbar wäre. Das Argument ist schon der Form nach, in der Kant es vorträgt, nicht sehr kräftig, denn es läßt sich folgendermaßen zusammenfassen: Wenn der Gebrauch einer Sache „mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetz nicht zusammen bestehen können“ sollte, „obgleich die Willkür, formaliter, im Gebrauch der Sache mit jedermanns äußerer Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusammenstimmete“237 , ergebe sich ein Widerspruch. Das ist zweifellos richtig, sagt aber nichts über den Wahrheitsgehalt der Voraussetzungen selbst aus.238 Erstens erscheint es angesichts der Bedrohung der Menschen durch enorme Waffenarsenale oder der Bedrohung der natürlichen Ressourcen allein durch bestimmte Methoden extraktiver Industrie zweifelhaft, daß es keine Gegenstände gebe, deren Gebrauch mit der allgemeinen Freiheit der Willkür nicht übereinstimmte. Zweitens ist es nicht ersicht235 236

237 238

Vgl. MdS RL, VI § 2. MdS RL, VI § 2. Diese Argumentation folgt derjenigen John Lockes: Zwei Abhandlungen über die Regierung, a.a.O., II § 26. Allerdings steht dies bei Locke im Kontext der Vorstellung von Erwerb durch Arbeit, die Kant ebenso abweist wie, mit Locke, die frühbürgerliche, daß alles Eigentum durch Vertrag (Konsens) erworben werde, wie sie sich bei Pufendorf und Grotius findet. Da Kant weiß, daß beide Modelle falsch sind, beansprucht das Postulat bei ihm eine ungleich stärkere Funktion: Fällt die Aneignung nicht wie bei Locke mit dem Gebrauch zusammen, so muß ihre Legitimation sowohl unabhängig von diesem als auch auf ihn bezogen gedacht werden. Damit ist der Gebrauch Bedingung der Möglichkeit der Aneignung, diese aber Bedingung der Möglichkeit des Gebrauchs. Die Zerschlagung dieses Knotens bedarf der Gewalt der prima occupatio. MdS RL, VI § 2. Zum Formalismus dieses Widerspruches vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes, a.a.O., 233ff., bes. 236. Entsprechend bemerkt Hans-Georg Deggau, Die Aporien der Rechtslehre Kants, a.a.O., 84: „Die in der Negativität der res nullius liegende Negation der Möglichkeit des Rechts als Begründung des rechtlich Meinen stellt jedoch nicht gleichzeitig den Nachweis seiner Notwendigkeit, sondern nur den seiner Möglichkeit dar. Die Negation der Negation der Möglichkeit, d. h. der Aufweis, daß die res nullius negiert werden muß, führt also nur zur Möglichkeit des Eigentums. Was unmöglich ist, kann nicht notwendig sein; was aber möglich ist, muß nicht notwendig sein.“

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lich, wieso der Ausschluß einer Sache vom ausschließlichen Privatbesitz sie außer aller Möglichkeit des Gebrauchs setzen müsse. Zwar müssen Gegenstände in Besitz genommen werden können, um benutzt werden zu können, der Ackerboden etwa muß eingeteilt werden, um auszuschließen, daß mehrere Personen auf derselben Parzelle verschiedene, miteinander unverträgliche Zwecke zu realisieren versuchen;239 aber die Notwendigkeit des ausschließlichen Privatbesitzes folgt aus solchem Privatgebrauch nicht. Leicht ließe sich eine gemeinschaftliche Organisation der Reproduktion denken, in der über die zur Verfügung stehenden Reproduktionsmittel und Arbeitskraftkontingente rational, das heißt in Übereinstimmung mit der vernünftig bestimmten Freiheit aller, entschieden wird. Selbst in der bürgerlichen Gesellschaft gibt es Gegenstände, die privat gebraucht, aber öffentlich besessen und verwaltet werden: alle öffentlichen Einrichtungen, von den Straßen bis zur Universität. Die Organisation ihres privaten Gebrauchs folgt dabei je spezifischen öffentlichen und allgemeinnützigen Regeln, die eine ausschließliche private Aneignung etwa eines Vorlesungssaales oder einer Kreuzung gerade ausschließen müssen.240 Kant wendet dagegen ein, daß die öffentliche Erklärung des Ausschlusses bestimmter Gegenstände von der privaten Aneignung einem öffentlichen Vertrag vergleichbar sei und daher die betroffenen Gegenstände zuvor schon angeeignet worden sein müßten.241 An der Einschlägigkeit dieses späteren Einwandes schon im Postulat wird sichtbar, daß Kant hier bereits das Recht auf die erste Besitznahme ausrichtet. Richtig ist daran, daß aus der historischen Perspektive einer einmal bestehenden allgemeinen Privatbesitzordnung, der bürgerlichen Gesellschaft, jedes Gemeineigentum nur als Negation des Privateigentums zu denken ist, das dann selbst als notwendige Bedingung erscheint. Das liegt noch der Marxischen Vorstellung zugrunde, derzufolge das kapitalistische Privateigentum ein notwendiges Durchgangsstadium zu dem Zustand sei, den Marx als Einheit von individuellem Eigentum und Gemeinbesitz bezeichnet.242 An dieser Stelle ist für Marx der Geschichtsverlauf durch notwendige dialektische Verhältnisse von Eigentumsformen bestimmt. Die Irritation, die dies verquere Moment affirmativer Geschichtsmetaphysik jedem Leser aufdrängt, wirft Licht auf den geschichtlichen Hintergrund auch der Kantischen Eigentumslehre. Auch dieser zufolge ist der privaten Aneignung zumindest der Vorstellung nach ein Gemeinbesitz vorausgesetzt, dessen historische Privatisierung nicht rational notwendig, sondern durch partikulare Gewalt erfolgte, die aber im Resultatgleichwohl notwendig sein soll. Selbst wenn die derart gewaltsam begründeten bürgerlichen Verhältnisse die unabdingbare Voraussetzung für einen konsistenten Rechtsbegriff sein sollten, so ist dieser dadurch doch mit einem Moment a posteriori belastet; selbst wenn Kants Absicht gelingt, zu zeigen, daß es eine

239 240

241 242

Vgl. Vorarbeiten zur Rechtslehre, XXIII, 281. Es wäre falsch, nun umgekehrt daraus zu schließen, daß nicht die ausschließliche Verfügung über bestimmte Gegenstände, Zahnbürsten beispielshalber, sinnvoll wäre; nur die allgemeine Notwendigkeit ausschließlichen Privatbesitzes, die zuerst sogar die Privatisierung des sensiblen Bereichs der ökonomischen Lebensbedingungen der Menschen betrifft, folgt hier ebensowenig. Vgl. MdS RL, VI §§ 6 u. 15. Vgl. Karl Marx, Das Kapital, Bd. 1, MEW 23, a.a.O., 791.

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rechtliche Form des außerrechtlich Erworbenen geben kann, wäre die Erweiterung der reinen praktischen Vernunft „durch dieses ihr Postulat“243 nicht a priori. A priori ließe sich aus der Moralphilosophie entwickeln, daß vernunftbegabte Sinnenwesen ein ihrer Vernunft gemäßes Reich der Zwecke als Sinnenwesen sich nur vermittels des typus einer von ihnen zu schaffenden zweiten Natur denken könnten, in der technisch-praktische und moralisch-praktische Belange nicht kollidierten, weil sie gemäß der Autonomie der Subjekte eingerichtet wäre.244 Kants Rechtslehre dagegen soll Autonomie unter Bedingungen der Heteronomie, unter Beibehaltung dieser für anthropologisch konstant erklärten Bedingungen behaupten. Dieser Antagonismus von Autonomie und Heteronomie soll die Rechtssubjekte nun in ein verbindliches Verhältnis setzen, „nämlich allen anderen eine Verbindlichkeit aufzuerlegen, die sie sonst nicht hätten, sich des Gebrauchs gewisser Gegenstände unserer Willkür zu enthalten, weil wir zuerst sie in unseren Besitz genommen haben“245 . Kant nennt dies ein Erlaubnisgesetz der praktischen Vernunft, das zu postulieren, aber nicht aus dem Recht zu gewinnen sei. Es ist die Erlaubnis zur ersten Besitznahme im nicht-rechtlichen Zustand, weil das Recht nur schon bestehende Eigentumsverhältnisse zu regeln vermag. Ein Erlaubnisgesetz stünde, Kant zufolge, in einem indifferenten Verhältnis zur Handlung.246 Das bedeutet, es wäre der praktischen Vernunft gleichgültig, daß die Menschen sich wechselseitig um die gegenständlichen Bedingungen ihrer Reproduktion bringen. Der resultierende Eigentumsbegriff erfüllt insofern das Postulat der notwendigen Verfügbarkeit der Gegenstände, als er pointiert zeigt, daß die praktische Vernunft ihre Gegenstände nicht aus sich selbst erzeugt, denn der Ausschluß aller Nichtbesitzer vom Gebrauch der Sache durch den Besitzer ist ein durchgängiges negatives Verhältnis von Personen – wenngleich bezüglich einer Sache – das sinnlos wäre, wenn diese Sache nicht quantitativ beschränkt wäre. Der erste Satz der Einleitung, demzufolge das Begehrungsvermögen „das Vermögen durch seine Vorstellungen Ursache der Gegenstände dieser Vorstellungen zu sein“247 , sei, war schon dem ‚scharfprüfenden Rezensenten‘ der ersten Auflage, den Kant in den späteren Anmerkungen zitiert, als Idealismus aufgestoßen. Kant erwidert: „Eine Begierde als Bestreben (nisus), vermittelst seiner Vorstellungen Ursache zu sein, ist, wenn das Subjekt gleich die Unzulänglichkeit der letzteren zur beabsichtigten Wirkung einsieht, doch immer Kausalität, wenigstens im Innern desselben.“ Solche gegenstandslose Begierde, Sehnsucht, sei keineswegs folgenlos für das Subjekt, da sie „im Innern des Subjekts mächtig wirkt (krank macht)“248 . Kants treffende Pathologie der Ohnmacht des Begehrungsvermögens gilt auch für die Gesellschaft antagonistischer Privateigentümer; dort wäre sie allenfalls dadurch zu ergänzen, daß die Schwere der Beschädigung der Sozialcharaktere nicht zuletzt daher rührt, daß die Menschen die Bedingungen der Beschränkungen ihrer Bedürfnisbefriedigung zugleich als Bedingungen der Erfüllung von Bedürfnissen überhaupt erfahren und sie darum, bis in ihre theoretischen Entwürfe 243 244 245 246 247 248

MdS RL, VI § 2. Vgl. Kosmas Psychopedis, Geschichte und Methode, Frankfurt am Main 1984, 49. MdS RL, VI § 2. Vgl. MdS RL, VI 223 und EF, VIII 347f. Anm. MdS RL, VI 211. MdS RL, VI 356.

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hinein, mit Freiheit zu verwechseln neigen. Die psychopathologischen Folgen des abgewiesenen und darum leeren Begehrens als dessen spezifischen Gehalt zu wenden, erscheint heute, eben weil es zutrifft, zynisch. Kants Postulat verwendet bereits einen Begriff des Eigentums, der erst noch zu entwickeln ist. Es handelt sich nicht um die empirische Verfügung über einen Gegenstand, sondern um dessen ausschließliche private Aneignung, die ihn nicht bloß empirisch an eine Person bindet. Dem liegt der Gedanke zugrunde, daß ohne rechtliche Sicherheit allein partikulare physische Gewalt über die empirische Verfügung über Gegenstände entschiede; das eigenmächtige Entreißen der Existenzgrundlagen aus der empirischen Verfügung eines Schwächeren, das nicht bloß sein ‚inneres Mein affiziert und schmälert‘249 , sondern das dessen Existenz gefährdet, soll vermieden werden: „Das äußere Meine ist dasjenige außer mir, an dessen mir beliebigen Gebrauch mich zu hindern Läsion (Abbruch an meiner Freiheit, die mit der Freiheit von Jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann) sein würde.“250 Kant behauptet nun, denselben Sachgehalt auch folgendermaßen fassen zu können: „Das äußere Meine ist dasjenige, in dessen Gebrauch mich zu stören Läsion sein würde, ob ich gleich nicht im Besitz desselben (nicht Inhaber des Gegenstandes) bin.“251 Der Grund der behaupteten Äquivalenz beider Formulierungen ist die Beliebigkeit des Gebrauchs. Wenn es in das Belieben des Subjekts gesetzt ist, einen Gegenstand zu irgendeinem Zeitpunkt einmal in Gebrauch zu nehmen, muß er ihm – unangesehen der empirischen Verfügung – doch stets verfügbar sein. Es ist dann der allgemeine Ausschluß aller anderen vom Gebrauch dieser Sache gar nicht mehr an ein empirisches Besitzverhältnis geknüpft, sondern es ist ein gesellschaftliches Verhältnis von Personen, ein Willensverhältnis, das nicht empirisch, sondern intelligibel begründet sein müßte. Dieses Besitzverhältnis, ohne das in derartigen Fällen keine Läsion vorstellbar sei, heißt „intelligibler Besitz (possessio noumenon)“252 . Indem Kant schreibt, diese Annahme sei notwendig, wenn es ein äußeres Mein und Dein geben soll, unterschlägt er mit der Bedingung der Beliebigkeit des Gebrauchs, daß es sich um solches Mein und Dein handelt, dessen empirischer physischer Besitz gar nicht dauerhaft oder sogar überhaupt nicht möglich ist. Zu denken ist hier nicht an Handtaschenraub oder Einbruchdiebstahl, sondern, wie zu zeigen ist, systematisch zuerst an die rechtliche Möglichkeit von Grundbesitz.253 Dabei geht es um Ländereien, deren Größe die Bewirtschaftung, also den Gebrauch, durch den Besitzer empirisch ausschließt, schon deswegen, weil der ihm empirisch allenfalls mögliche Gebrauch nicht der ihm beliebige Gebrauch ist: Die profitable Bewirtschaftung ist dem einzelnen empirischen Besitzer selbst unmöglich. Um ihm diese zu ermöglichen, muß er in einem Besitz am Boden sein, der andere, die ihn als Grundlage ihrer Existenz gebrauchen könnten, vom Gebrauch dieses Bodens ausschließt und dadurch zum Verkauf ihrer Arbeitskraft, des einzigen ihnen verbliebenen aber für sich unvollständigen Moments ihrer 249 250 251 252 253

Vgl. MdS RL, VI § 6. MdS RL, VI § 5. MdS RL, VI § 5. MdS RL, VI § 5. Vgl. MdS RL, VI §§ 6 u. 7.

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Existenzgrundlage, an den Grundbesitzer nötigt, der sich durch Aneignung des Bodens in den Besitz des gegenständlichen Moments der Existenzgrundlage der Anderen brachte. Selbstverständlich ist auch nur unter der Voraussetzung der Privatisierung des Bodens überhaupt Warenproduktion möglich, weil diejenigen, die nicht über Boden verfügen, Agrarprodukte über den Markt erwerben müssen.254 Ohne ein intelligibles ausschließendes Verhältnis aller Subjekte hinsichtlich des Bodens wäre er nun aber gerade als Privateigentum außer aller Möglichkeit des Gebrauchs gesetzt, denn die ihn empirisch brauchen könnten, dürften ihn nicht gebrauchen, die ihn aber gebrauchen dürften, könnten es empirisch nicht.255 Erst die Lösung des Eigentumsgegenstandes von der empirischen Verfügung genügt Kants rechtlichem Postulat. Den intelligiblen Besitz bestimmt Kant nun nicht als intelligibles, beispielsweise gesellschaftliches, Ausschlußverhältnis bezüglich des Gebrauchs einer empirischen Sache, sondern er bestimmt das Verhältnis des Besitzers zur Sache als eine possessio noumenon durch „Absonderung aller Bedingungen des empirischen Besitzes im Raum und Zeit“256 . Streng genommen konstruiert dies gar nicht einen Besitz „auch ohne Inhabung“257 , sondern einen Besitz, dessen Gegenstand seinem Begriff zufolge gar nicht innegehabt werden kann. Was sollte der Gegenstand einer possessio noumenon sein? Sie selbst sei ein „Vernunftbegriff […], dem keine Anschauung correspondirend gegeben werden kann“258 , ausdrücklich nicht einmal eine Anschauung a priori, also ein Schema. Demnach wäre der intelligible Besitz eine Idee. Ideen aber liegen keine empirischen Begriffe zugrunde, die dadurch erweitert worden wären, daß man alle empirischen Bedingungen „weggeschafft“259 hätte; im Gegenteil sind Ideen spekulative Begriffe systematischer Vollständigkeit und haben deshalb kein correspondant in der Anschauung, weil Vollständigkeit kein Gegenstand möglicher Erfahrung ist, nicht etwa weil die Anschaulichkeit vom Gegenstand abstrahiert worden wäre. Dadurch entstünde im Gegenteil ein abstrakter Verstandesbegriff ohne Inhalt, der weder konstitutiv noch regulativ sein könnte. Aus dem Begriff des intelligiblen Besitzes lassen sich, gemäß der transzendentalen Logik, keine empirischen Eigentumsverhältnisse260 begründen, denn die empirische Sache kann nach Absonderung aller empirischen Bedingungen nicht Gegenstand dieses 254

255

256 257 258 259 260

Die „Möglichkeit, einen Gegenstand zum [...] Gebrauch disponibel zu halten“ (Franz Hespe, „Wohl dem, der im Besitze ist“, a.a.O., 132; vgl. auch Vorarbeiten zur Rechtslehre, XXIII, 230 f.), also die Beliebigkeit, ihn zu gebrauchen oder nicht, ist nur ein Moment des ‚beliebigen Gebrauchs‘, dessen zentrale rechtliche Bedeutung nur durch das andere Moment des gesellschaftlichen Zwecks des Gebrauchs erkennbar wird. Vgl. Peter Bulthaup, Rechtsphilosophie II, 16. 11. 1992, Peter Bulthaup-Archiv, Block 185 bzw. ORD 020. MdS RL, VI § 6. MdS RL, VI § 6, meine Hervorhebung. MdS RL, VI § 6 Anm. MdS RL, VI § 6 Anm. Ulli F. H. Rühl, Kants Deduktion des Rechts, a.a.O., hat die zentrale These, ‚intelligibler Beseitz‘ sei nicht ‚Eigentum‘. Dagegen erfüllt Kants Begriff alle funktionellen Bestimmungen, die dem Eigentum zukommen. Richtig ist, daß Kant ihn nicht aufs Sachenrecht beschränkt, sondern auch Schuldrecht, Familienrecht, Staatsrecht und Völkerrecht daraus entwickeln will, genauer: aus der Kombination von Rechtsprinzip und Postulat; daraus ergeben sich viele Schwierigkeiten.

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Eigentums sein, der intelligible Gegenstand wäre als Bedingung der Einheit der Erfahrung eine subjektive Funktion, die bei allen möglichen Erfahrungsobjekten dieselbe = × wäre.261 Dies produzierte eine universelle Kollision des intelligiblen Besitzes. Es bliebe das Ding an sich, das aber über seine erkenntnistheoretische Funktion hinaus als metaphysisches Wesen restauriert werden müßte, zu dem der Eigentümer in einer noumenalen Beziehung stehen müßte, um den Besitz an der Erscheinung zu sichern. Auch und gerade dann wäre aber die Kritik der reinen Vernunft in weiten, grundlegenden, Teilen hinfällig. Auch der zweite Versuch, in dem Kant einen „reinen Verstandesbegriff eines Besitzes überhaupt“262 ins Spiel bringt, gelingt nicht. Ein solcher Begriff sei nötig, weil der Rechtsbegriff, als Vernunftbegriff, gar nicht unmittelbar auf Erfahrungsobjekte anwendbar wäre. Jener reine ‚Verstandesbegriff‘ müßte eine ‚Kategorie Besitz‘ sein, die es nicht geben kann, weil Besitz keine Urteilsfunktion ist. Zudem soll der Verstandesbegriff unter Rechtsbegriffe subsumiert werden, mithin soll ein Eigentumsverhältnis an einer Kategorie begründet werden, was absurd ist. Die Abstraktion, die Kant anführt, ist „der von allen Raumes- und Zeitbedingungen abstrahierende Begriff des Habens“, verbunden damit, daß „der Ausdruck des Äußeren nicht das Dasein in einem anderen Orte, als wo ich bin, oder meiner Willensentschließung und Annahme als in einer anderen Zeit wie der des Angebots, sondern nur einen von mir unterschiedenen Gegenstand bedeutet“, als „intellectuelle[s] Verhältniß zum Gegenstand“263 . Dies wäre das einschließende Verhältnis eines Subjekts überhaupt zu einem Objekt überhaupt, das selbst indifferent dagegen ist, ob es sich tatsächlich um ein Eigentumsverhältnis handelte, durch das andere Subjekte ausgeschlossen wären, oder bloß um ein nicht-ausschließendes Erkenntnisverhältnis. Tatsächlich ist das Rechtsverhältnis kein derart rein logisches, sondern es beruht auf historischen Bedingungen der Aneignung.264 Das Resultat dieser historischen Begründung von Eigentum durch gewaltsame Okkupation, die nicht unter Rechtsbestimmungen erfolgt, soll selbst unter Rechtsbestimmungen stehen. Die Absicht, ein vernünftiges System des Rechts zu begründen, erfordert dann die Abstraktion von dessen unvernünftigen Bedingungen. Demgemäß bezeichnet Kant den Verlauf der sogenannten ursprünglichen Erwerbung durch Apprehension, Bezeichnung und Zueignung als einen Intelligibilisierungsprozeß.265 Der bestehe in der Einsicht, daß die Ähnlichkeit der Aneignungsakte im Naturzustand 261

262 263 264

265

Vgl. KrV, A 109. Auf das Mißverhältnis von MdS und KrV weist besonders hin Peter Bulthaup, Rechtsphilosophie II, 30. 11. 1992, Peter Bulthaup-Archiv, Block 185 bzw. ORD 020. MdS RL, VI § 7. MdS RL, VI § 7. Dieselbe Reduktion auf Subjekt und Objekt überhaupt verwendet Kant in § 17. Vgl. MdS RL, VI § 9: „[B]ürgerliche Verfassung ist allein der rechtliche Zustand, durch welchen jedem das Seine nur gesichert, eigentlich aber nicht ausgemacht und bestimmt wird. – Alle Garantie setzt also das Seine von jemanden (dem es gesichert wird) schon voraus.“ Vgl. MdS RL, VI § 10. Manfred Brocker konstruiert eine Vermittlung von empirischer Besitznahme und intelligiblem Besitzverhältnis durch Rückgriff auf die Lehre vom ‚Schematismus des Rechts‘, die Kant allerdings nicht aus den Vorarbeiten zur Rechtslehre (vgl. XXIII, 226; 262; 275 u.ö.) in die Metaphysik der Sitten übernahm. An Gewicht gewinnen sollen solche Rückgriffe durch den Verweis auf die angeblich unordentliche Textgestalt der Rechtslehre. Jedoch sind die Begriffe von der Besitznahme und auch vom intelligiblen Besitz in sich selbst bereits so vielfältig widersprüch-

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mit rechtlichen Akten dazu berechtige, von den empirischen Bedingungen jener Aneignungsakte zu abstrahieren und diese somit für Recht zu befinden. Die empirischen Bedingungen müssen deshalb abstrahiert werden, weil sie die Akte keineswegs zu rechtsähnlichen qualifizieren, sondern zu solchen, die allein aus dem antagonistischen Verhältnis der Subjekte resultieren. Um der Vereinbarkeit dieser gewaltsamen Okkupationsakte mit den Akten rechtmäßiger Aneignung willen setzt Kant zur „Deduction des Begriffs der ursprünglichen Erwerbung“266 ebenfalls den ‚reinen Verstandesbegriff des Gewalthabens‘ als eines reinen Subjekt-Objekt-Verhältnisses voraus. Die gewaltsame empirische Aufteilung der Besitzgegenstände, die dem bürgerlichen Recht notwendig historisch vorausgesetzt ist, darf für dessen vernünftigen Begriff gleichwohl nicht vorausgesetzt sein. Daher eliminiert Kant die Gegenständlichkeit aus dem Begriff des Besitzes, „obgleich der Gegenstand (die Sache, die ich besitze) ein Sinnenobject ist“267 . Der Begriff des intelligiblen Besitzes begründet danach die Regelung des Gebrauchs empirischer Gegenstände, deren Bestimmtheit ausdrücklich in jeder Hinsicht aus ihm ausgeschlossen wurde. Das reine „Verhältniß einer Person zu Personen“268 bleibt insofern auf Gegenstände bezogen, als der allseitige Ausschluß vom Gebrauch der Sache, den der Eigentümer den Nichteigentümern auflegt, die Gewalt, die diesen Ausschluß empirisch begründete, in veränderter Gestalt ebenso in Anspruch nimmt. Die durch partikulare Gewalt begründete Ungleichverteilung des Eigentums wird durch gesellschaftlich universalisierte Gewalt aufrechterhalten. Der intelligible Besitz ist durchaus ein negatives Verhältnis von Personen, aber insoweit kein intelligibles, in reiner Vernunft begründetes, als er faktisch die Sicherung historisch durch Okkupation geschaffener Besitzverhältnisse durch gesellschaftliche Macht bedeutet. Als intelligibles Verhältnis müßte er von allen vernunftbegabten Subjekten mit all seinen Bedingungen und Konsequenzen einschließlich der gewaltsamen Trennung dieser Subjekte von ihren Existenzgrundlagen, eingesehen werden können. Diese Gewalt aber ist, wie jede, der Vernunft entgegengesetzt. Die Vorstellung eines Verhältnisses von ‚Subjekt überhaupt‘ zu ‚Objekt überhaupt‘ als Bedingung der Möglichkeit der Allgemeinheit empirischer Verhältnisse von Subjekten zu Objekten hat schwerwiegende Konsequenzen für die Konstitution der Rechtssubjekte. Wenn die Möglichkeit der kollektiven Einheit der Rechtssubjekte hinsichtlich ihrer Rechtsverhältnisse im Begriff eines intelligiblen Besitzverhältnisses gründet, so liegt dem distributiven Erfahrungsgebrauch im empirischen Recht eine kollektive Einheit des Erfahrungsganzen in dessen noumenaler Voraussetzung zugrunde, die nicht etwa als subjektive Erkenntnisfunktion, sondern als objektive noumenale Repräsentation der empirischen Verhältnisse verstanden werden muß, wenn Recht überhaupt spezifische Inhalte haben soll. Der systematische Rechtsbegriff Kants gründet so in einem kosmologisch verstandenen transzendentalen Ideal. Dann aber wird die kollektive Einheit der Rechtssubjekte nicht durch deren praktische Kooperation unter der Idee menschlicher

266 267 268

lich, daß auch die schematische Vermittlung das Problem der Verrechtlichung des Angeeigneten nicht zu lösen vermag. Vgl. Manfred Brocker, Kants Besitzlehre, a.a.O., 128ff. MdS RL, VI § 17. MdS RL, VI § 17. MdS RL, VI § 17.

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Gemeinschaft begründet, sondern durch die vorgängige transzendente Einheit des Erfahrungsganzen. Dieser Grund der kollektiven Einheit der Menschen ist ihnen heterogen und heteronom, denn er stammt weder aus dem Selbstbewußtsein noch aus der Erfahrung des Subjekts, sondern aus einer ontologischen Einheit der Erfahrungsgegenstände, die zudem im Kollektiv der Subjekte nur als negative Einheit, durch wechselseitigen Ausschluß vom Gebrauch der okkupierten Gegenstände, reproduziert wird. Kant trifft damit das die bürgerliche Rechtsgemeinschaft assoziierende Gesetz, das eines der durchgängigen Dissoziation ist.269 Die dadurch gesetzten Bedingungen des kollektiven Handelns, der gesellschaftlichen Reproduktion, sabotieren daher permanent dieses kollektive Handeln, wie sich an Marktphänomenen wie der Produktvernichtung zum Zweck der Preisgestaltung oder an der Vernichtung bürgerlicher Existenzen in der Konkurrenz ablesen läßt. Die Assoziation menschlicher Subjekte, wenn sie nur durch deren durchgängige Dissoziation bewirkt wird, könnte eben noch als Vorgeschichte der Menschheit bezeichnet werden. Daß Kant in seinen geschichtsphilosophischen Arbeiten die mögliche Einheit eines solchen Zustandes in einer übergeordneten Naturabsicht verortet, hat ein Moment von Wahrheit darin, daß diese Form kollektiver Einheit nicht mit der Vernunft der von ihr erfaßten Subjekte kompatibel ist.270 Der intelligible Besitz ist logisch gar nicht darstellbar, wenn er nicht implizit auf den empirischen bezogen bleibt.271 So gründet schon die „Deduction des Begriffs des bloß rechtlichen Besitzes eines äußeren Gegenstandes“272 in einem Beispiel, das die Aneignung des Bodens betrifft. Kant räumt ein, daß der Begriff des intelligiblen Besitzes 269

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Die zwei Seiten des gesellschaftlich Allgemeinen hat Max Horkheimer, Vernunft und Selbsterhaltung, a.a.O., 47, aufgezeigt: Solange das Allgemeine gegen die individuellen Interessen durchgesetzt wird, hat es immer ein apologetisches Moment. Als Allgemeines transzendiert es aber formal zugleich das real Gegebene und antizipiert dessen Überwindung: „Der wahre Pluralismus gehört dem Begriff einer zukünftigen Gesellschaft an.“ Zu beachten ist, daß Horkheimer hier nicht utopisch auf eine zukünftige Gesellschaft verweist, sondern auf deren Begriff . Vgl. Barbara Zehnpfennig, Liberale Aporien, in: Werner J. Patzelt/Martin Sebaldt/Uwe Kranenpohl (Hgg.), Res publica semper reformanda, a.a.O., 90: „Doch wenn die Philosophie ihrerseits solch widersprüchliche Botschaften aussendet wie die, dass es einerseits der von den Menschen in seiner Bedeutung nicht durchschaute äußere Mechanismus des Konkurrenzkampfes sei, der sie zur bürgerlichen Gesellschaft vereint, und dass andererseits doch alles auf die richtige innere Gesinnung ankomme, die gerade in der Überwindung der egoistischen Selbstbehauptung liegt, muss die Rolle der Philosophie zweifelhaft bleiben. Selbst einem so bedeutenden Denker wie Kant gelingt es offenbar nicht, den Grundwiderspruch des Liberalismus aufzulösen“. Das reflektiert Kant in den Vorarbeiten zur Rechtslehre: „Der intellectuelle Besitz kann zwar als zum Mein und Dein erforderlich ohne irgend einen physischen desselben Objects nicht gegeben werden, d. i. man kann nicht wissen ob eine solche Bestimmung der Willkühr dem Subjekt zukomme ohne eine gewisse Erscheinung der Besitznehmung als Gegenstand der Erfahrung: aber er bedarf wenn jenes vorausgesetzt wird zur Beurtheilung des Mein und Dein keines fortdaurenden empirischen Besitzes. – Denn alles Rechtsverhältnis ist ein blos intelligibles Verhältnis vernünftiger Wesen zu einander und dadurch zu Objecten der Willkühr“ (XXIII 213). Trotz dieser Verschränkung müßte der Begriff des intelligiblen Besitzes zunächst in sich stimmig begründbar sein. Das intelligible Verhältnis der Personen kann aber nur systematische Bedingung des Verhältnisses zu Objekten sein, wenn diese Objekte zuvor angeeignet worden sind und so der Bestimmung des intelligiblen Verhältnisses schon zugrunde liegen. MdS RL, VI § 6.

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weder bewiesen noch eingesehen werden könne, aber doch unmittelbar aus dem Postulat folge. Wenn dieses notwendig sei, müsse seine Erfüllungsbedingung, der intelligible Besitz, möglich sein. Gilt dieses Postulat aber nur unter schon bürgerlichen Bedingungen zwingend, so wirkt dieser Umstand zurück auf die Deduktion des intelligiblen Besitzes. Dahinter steht, daß unter den Bedingungen des empirischen Besitzes nur unmittelbarer Warentausch möglich wäre, der Tausch jeweils solcher Waren, die der Tauschende mit sich auf den Markt führen könnte. Die zentrale Bedingung der neuzeitlichen Entwicklung der Wirtschaft war aber der Handel mit Waren, die niemand mit sich führen kann, nämlich mit Grund und Boden. Ohne die Überführung des Lehnrechtes in Privatrecht, die Möglichkeit Lehen zu vererben, zu belasten und schließlich zu veräußern, wäre die städtische Ökonomie, die zunächst einmal flüssiges Kapital voraussetzt, nicht möglich gewesen.273 Der Handel mit Grundstücken setzt nun seinerseits die Trennung des Eigentumstitels vom Eigentumsgegenstand voraus. Das primäre Rechtsobjekt wird der Titel, der das Eigentum an der Sache bezeichnet. Bloßes Titulareigentum ist ökonomisch und rechtlich ebenso unsinnig wie bloßes Sacheigentum unproduktiv. Die Trennung des Titels vom Gegenstand täuscht ein intelligibles Besitzverhältnis an einem Gegenstand an sich vor, tatsächlich bleibt der Titel immer auf empirische Gegenstände bezogen. Sobald diese Beziehung ausfällt, weil Optionen geplatzt sind oder erfundene Titel gehandelt werden, ist die Folge kein rein intelligibler Besitz sondern ein seinerseits ganz handfester Kredit- oder Börsenskandal. Allerdings müssen Eigentumsgegenstände begrifflich in solche Titel auflösbar sein, wenn etwa Börsengeschäfte oder nur der einfache Immobilienhandel möglich sein sollen; der Immobilienbesitz ist schon für Kant der substantielle Besitz, ohne dessen Voraussetzung überhaupt kein anderer zu denken wäre. Deshalb ist allem empirischen Besitz die Vorstellung des intelligiblen Besitzes vorgeordnet. So verweist Kant auf den Erwerb eines Bodens durch erste Aneignung, mithin auf die historische Bedingtheit der Unterscheidung von empirischem und intelligiblem Besitz. Dieser nämlich ersetze die gewaltsame Verteidigung des Besitzes durch eine rechtlich begründete, „obzwar als im natürlichen Zustande nicht von rechtswegen (de iure), weil in demselben noch kein öffentliches Gesetz existirt“274 . Der Naturzustand bezeichnet eine historische Voraussetzung, die doch zugleich nur als systematische Unterscheidung vom bürgerlichen Zustand zulässig sei. Der bürgerliche Zustand ist jener, in dem das Eigentum rechtlich gesichert ist, in dem eine zentrale Zwangsgewalt besteht, die den Ausschluß aller Nichteigentümer vom Gebrauch fremden Eigentums ohne Einwilligung der Eigentümer gegen Verstöße durchsetzt. Ein wichtiges Merkmal dieses Zustandes ist die „Reciprocität der Verbindlich-

273

274

Vgl. Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, a.a.O., 99-103 und 110 sowie Gerhard Köbler, Deutsche Rechtsgeschichte. Ein systematischer Grundriß, München 1996, 90f. und 123128, ebenfalls Jacques LeGoff, Das Hochmittelalter (Fischer Weltgeschichte 11), Frankfurt am Main 1968, 66f. und 70ff. MdS RL, VI § 6. – Vgl. auch Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, a.a.O., der von der frühneuzeitlichen Rechtsgeschichte als von einer Zeit spricht, in der „es um ein Einpendeln des Rechts auf Bedingungen des kapitalistischen Wirtschaftens ging“ (94).

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keit aus einer allgemeinen Regel“275 . Jeder ist ebenso verbunden, sich des unerlaubten Gebrauchs des Eigentums aller anderen zu enthalten, wie er alle anderen seinerseits verbinden kann, sich des Gebrauchs seines Eigentums zu enthalten. Die ‚allgemeine Regel‘, nach der dies gilt, ist das Privatrecht, das aus dem Rechtsprinzip in Verbindung mit dem rechtlichen Postulat hervorgeht. Gemäß der geforderten Reziprozität sind zunächst nur solche Menschen Subjekte des bürgerlichen Rechts, die über Eigentum verfügen.276 Alle anderen, Proletarier in der klassischen Bedeutung dieses Wortes, stehen indifferent dazu: Sie könnten allenfalls als potentielle Eigentümer mitverbunden sein; dementsprechend darf die Rechtsordnung niemanden vom ökonomischen oder sozialen Aufstieg ausschließen.277 Die der bürgerlichen Gesellschaft vorhergehende Aufteilung des Eigentums an den Produktionsmitteln, die Existenzbedingungen immer auch anderer Menschen sind, schließt die rechtliche Möglichkeit des sozialen Aufstiegs aller aber kategorisch aus. Eine bürgerliche Gesellschaft aus lauter Eigentümern an Produktionsmitteln – das heißt am beliebig klein parzellierten Boden, ohne dessen Besitz kein anderer möglich ist – bräche als bürgerliche ökonomisch unmittelbar zusammen, da nicht eine einzige Minute Mehrarbeit angeeignet werden könnte. Überhaupt fiele die Gesellschaft auf diese Weise in den ökonomischen Naturzustand einfacher Reproduktion zurück.278 Die von Kant vorausgesetzte Aufteilung des Grundeigentums in Privatbesitz schließt die geforderte universelle Reziprozität zunächst aus, denn es gibt eine Vielzahl von Nicht-Besitzern, die bloß einseitig das Eigentum der Anderen anerkennen. Ihre Rechtssubjektivität ergibt sich erst aus ihrer Funktion als Vertragspartner rein persönlichen Rechts, das Verträge kennt, deren Gegenstand ausschließlich die Freiheit der Willkür ist. Selbst diese vom Privatrechtssubjekt bloß abgeleitete Rechtssubjektivität verhält sie aber Kant zufolge als Staatsbürger noch in bloßer Passivität. Die Schwierigkeit der Begründung des rechtlichen Zustands besteht darin, daß seine reziproke Eigentumsgarantie das Eigentum schon voraussetzt als Resultat einer Aneignung, die unmöglich selbst reziprok gedacht werden kann. Sie kann nicht durch Vertrag erfolgt sein, weil jeder Vertrag über Eigentum dieses schon voraussetzt. Die Aneignung muß einseitig, durch Bemächtigung, erfolgt sein und so durch bloße physische Überlegenheit allen anderen die Verbindlichkeit, des Gebrauchs dieses Gegenstandes sich zu enthalten, auferlegt haben. Dieser Form nach kann die Aneignung nicht innerhalb rechtlicher Verhältnisse erfolgt sein, sondern nur in nicht-rechtlichen, die Kant als Naturzustand bezeichnet. Wenn Kant daher gelegentlich vom Privatrecht als der Rechtsform des Naturzustandes spricht, liegt einerseits eine Äquivokation des Rechtsbegriffs vor: ‚Privatrecht‘ meint hier ‚Privileg‘, das Recht, das ein jeder sich selbst, privat, einräumen will. Als quasi ein Recht ist dies aber nur rückblickend vom Rechtszustand durch formale Analogie zu bezeichnen. Andererseits markiert dieser Ausdruck die Aporie der empirischen Aneignung im Naturzustand, die noch nicht Recht ist, deren Resultat aber Recht werden soll, und die daher antizipierend als Recht bezeichnet wird; diese Be275 276 277 278

MdS RL, VI § 8. Vgl. Hans-Georg Deggau, Die Aporien der Rechtslehre Kants, a.a.O. 254. Vgl. MdS RL, VI § 46. Vgl. Peter Bulthaup, Rechtsphilosophie II, 4. 1. 1993, Peter Bulthaup-Archiv, Block 186 bzw. ORD 020.

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zeichnung bemüht aber einen Rechtsbegriff, der in sich widersprüchlich ist, weil er auf Einseitigkeit, nicht auf Allseitigkeit beruht, was doch das Merkmal jedes gültigen und garantierten Rechts wäre.279 Jene einseitige Bemächtigung nun soll widerspruchsfrei in ein allgemeines wechselseitiges Verhältnis überführt werden. Das stellt Kant vor außerordentliche Schwierigkeiten, die sich nach jedem Lösungsversuch erneut anmelden und so durch die gesamte Lehre vom Sachenrecht hindurch nicht überwunden werden.280 So heißt es zunächst in der ‚Exposition des Rechtszustandes‘: „Nun kann der einseitige Wille in Ansehung eines äußeren, mithin zufälligen Besitzes nicht zum Zwangsgesetz für jedermann dienen, weil das der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen Abbruch thun würde.“281 Nachdem Kant den provisorischen Besitz im Naturzustand als Bedingung der Möglichkeit des rechtlichen peremtorischen Besitzes bestimmt hat, schreibt er über das allgemeine Prinzip der äußeren Erwerbung: „Wie ein solcher Act der Willkür, als jener [der Bemächtigung] ist, das Seine für jemanden begründen könne, ist nicht leicht einzusehen.“282 In der anschließenden Definition des Sachenrechts heißt es: „Durch einseitige Willkür kann ich keinen Andern verbinden, sich des Gebrauchs einer Sache zu enthalten, wozu er sonst keine Verbindlichkeit haben würde“283 . In einer erneuten Bestimmung der occupatio wird festgestellt: „Die Möglichkeit auf solche Weise zu erwerben, läßt sich auf keine Weise einsehen, noch durch Gründe darthun“284 . Zwar entwickelt Kant in diesem Zusammenhang den Gedanken eines a priori vereinigten Gesamtwillens, der dem Rechtszustand als Bestimmung a priori vorausgesetzt sein müsse und den Bemächtigungsakt, der mit ihm übereinstimme auch in Kompatibilität mit dem intelligiblen Besitz im Rechtszustand bringe; doch heißt es abschließend erneut: „[D]urch einseitigen Willen kann Anderen eine Verbindlichkeit, die sie für sich sonst nicht haben würden, nicht auferlegt werden. – Der Zustand aber eines zur Gesetzgebung allgemein wirklich vereinigten Willens ist der bürgerliche Zustand.“285 Daß Kant sich diesen Einwand immer wieder selbst macht, sei ebenso zugestanden wie seine Relativierung durch die Differenz von provisorischem und peremtorischem Besitz oder durch die Annahme des ursprünglichen Gesamtbesitzes an der Erdoberfläche; dennoch bleibt es auffallend, daß Kant sich diesen Einwand in unterschiedlichen Konstruktionszusammenhängen, die zu seiner Lö279

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Keine Probleme sieht hier Wolfgang Kersting, der das ‚natürliche Privatrecht‘ gleich zu seinem eigenen Subjekt erhebt: „Das noch nicht peremtorisch gemachte natürliche Privatrecht ist ein Recht, das auf den Staat und damit auf Positivierung hindrängt“ (Wohlgeordnete Freiheit, a.a.O., 337). Zweifellos gibt es vorstaatliche Formen des Eigentumsverkehrs; ob diese aber mit Grund ‚natürliche‘ heißen und ob ihre legitimatorische Verwendung durch Kant der Geschichte oder der Sache angemessen ist, muß gefragt werden. Das liegt daran, daß der vernünftige Rechtsbegriff, als Negation von Privileg und Willkür, zwar, wie Lorenz von Stein (vgl. Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage, Bd. 3, Darmstadt 1961, 193ff.) feststellt, eine formale Realisation von Freiheit, aber noch nicht die Erfüllung ihres Begriffs ist. Die Aufgabe der Erfüllung wäre aber grundsätzlich nicht die einer Verwaltungsreform, sondern eine politische. MdS RL, VI § 8. MdS RL, VI § 10. MdS RL, VI § 11. MdS RL, VI § 14. MdS RL, VI § 15.

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sung herangetragen werden, stets erneut vorlegt, gleich als ob er mit seinen Lösungen immer wieder unzufrieden wäre. Die Aufgabe besteht immerhin in einer Art Quadratur des Kreises: Die Bemächtigung soll „ein Act der Privatwillkür [sein], ohne doch eigenmächtig zu sein“286 . Um der Gegenständlichkeit, der Objektivität des systematischen rechtlichen Freiheitsbegriffs willen muß ein mit der Freiheit widerspruchsfrei bestehender Übergang von Gewaltverhältnissen zum Rechtsverhältnis konstruiert werden, denn nur unter den Gewaltverhältnissen konnte eine vom Recht objektiv unterschiedene Gegenständlichkeit begründet werden. Mit dieser Gegenständlichkeit des Rechts gelangt aber in jenem Übergang nicht bloß der Gegenstand unter neue, nunmehr rechtliche, Bestimmungen, sondern die gewaltsame Konstitution seiner spezifischen Gegenständlichkeit als ausschließlicher Besitz wird als solche Material des Rechts. Das antagonistische Verhältnis der Subjekte wird nicht insofern Gegenstand des Rechts, als es durch dieses aufgelöst, in rationale Verkehrsformen überführt würde; es wird vielmehr als Antagonismus unter eine Rechtsform gebracht, deren Aporetik durch den Ausdruck ‚bürgerlicher Naturzustand‘ bezeichnet werden kann.287 Das bürgerliche Recht hält die Subjekte in ihrer Konkurrenz zueinander und in ihrer Abhängigkeit voneinander. Es fördert die Verfolgung einander entgegengesetzter Partikularinteressen dadurch, daß die materiellen Bedingungen dieser Interessen vor den zerstörerischen Wirkungen regelloser Konkurrenz geschützt werden. Zwar unterliegt die ökonomische Existenz auch in der geregelten Konkurrenz keinem Rechtsschutz, sondern ihre willkürliche Zerstörbarkeit ist Bedingung der Möglichkeit profitabler Geschäfte, denn Vorteile werden durch die Verdrängung der Konkurrenten vom Markt realisiert; aber die Erhaltung des Eigentums als solchen – gleich in wessen Hand es übergeht – ist rechtlich nach Regeln gesichert und mit ihr die auf Partikularinteressen aufbauende Gesellschaftsordnung. Deren Gesamtzweck kann nicht als Zweck eines allgemein vereinigten Willens nach Freiheitsgesetzen gedacht werden, weil er ein Konglomerat aus lauter pathologischen Partikularinteressen ist, deren allgemeine logische Form die Identität von Identität und Nichtidentität ist. Dies mag funktional sein, ist aber keineswegs die widerspruchsfreie Übereinstimmung des kollektiven Bewußtseins mit sich selbst, sondern eher die Form universeller Bewußtseinsspaltung. Diese zu affirmieren, weil sie funktional ist, ist ein konsequenter Ausdruck allein ihrer selbst. Die Affirmation der Störung, um deren reibungslosen Ablaufs willen, hat ihren sachlichen Grund darin, daß alle ökonomischen Grundlagen menschlichen Lebens unter widersprechenden Bedingungen organisiert sind, und daß die Aufhebung dieser Bedingungen die freie gesellschaftliche Verfügung über jene Grundlagen nicht unmittelbar und bruchlos herzustellen vermöchte. Dies begründet die Angst vor Veränderungen, die als Konservativismus – stricte sensu – sich ausdrückt.288 286 287 288

MdS RL, VI § 6. Vgl. auch Max Horkheimer, Vernunft und Selbsterhaltung, a.a.O., 52. Vgl. dazu ein modernes Beispiel bei Max Horkheimer, Erich Fromm, Herbert Marcuse, Studien über Autorität und Familie, a.a.O., 68: „In doppelter Weise stärkt die familiale Rolle der Frau die Autorität des Bestehenden. Als abhängig von der Stellung und dem Verdienst des Mannes ist sie darauf angewiesen, daß der Hausvater sich den Verhältnissen fügt, unter keinen Umständen

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Die allgemeine Verbindlichkeit, das Eigentum zu respektieren, kann nun aber Kant zufolge nur ein kollektiv-allgemeiner Wille begründen. „Der Zustand aber eines zur Gesetzgebung allgemein vereinigten Willens ist der bürgerliche Zustand.“289 Daraus ergibt sich, vor jedem moralischen Problem, ein rein technisches. Wenn erst im bürgerlichen Zustand das Eigentum durch Rechtsgewalt gesichert wird, kann es vorher vielleicht erworben, aber nicht erhalten werden. Um den Begriff der bürgerlichen Gesellschaft dennoch aus diesen Voraussetzungen zu gewinnen, konstruiert Kant die Vorstellung eines provisorischen Besitzes im Naturzustand, der genauer sogar ein „provisorischrechtlicher Besitz“290 sei. Er habe einen provisorischen Rechtsgrund darin, daß er zwar Resultat einseitiger empirischer Erwerbung, Bemächtigung, sei, die aber als solche doch mit dem rechtlichen Postulat kompatibel sei. Die Weigerung hingegen, Grund und Boden in ausschließlichen Privatbesitz zu überführen, hätte nach Kant keinen solchen Rechtsgrund, da sie den Boden von allem Gebrauch ausschlösse. Weil aber die Aneignung mit dem Rechtsbegriff übereinstimme, wurde die Gewalt, die der Besitzer im Naturzustand aufwende, um andere Menschen daran zu hindern, sich auf diesem Boden zu reproduzieren, zwar nicht „von rechtswegen (de iure)“ aber doch schon „mit Recht (iure)“291 ausgeübt. Wo der Naturzustand auf den bürgerlichen schon ausgerichtet sei, setze er Recht vorweg: Der bloß physische Besitz im Naturzustand präsumiere den rechtlichen im bürgerlichen Zustand und gelte „in der Erwartung comparativ für einen rechtlichen.“292 Nun kann es nicht darum gehen, den Subjekten im Naturzustand zu unterstellen, sie antizipierten den Rechtszustand, denn von diesem können sie nichts vorherwissen; sie können wohl sich den Zweck einer allgemeinen Eigentumsordnung vorsetzen, aber dafür müssen sie schon Besitz okkupiert haben; sonst wäre der Begriff einer Rechtsordnung ein Begriff ohne Gegenstand. Ginge aber im Bewußtsein der Okkupanten die Absicht auf eine bürgerliche Ordnung systematisch vor der Okkupation vorher, wäre dieser Zweck zutiefst widersprüchlich, weil er zugleich die gewaltsame Aneignung im Naturzustand affirmierte, um den Gegenstand des Rechts zu produzieren. Im Unterschied zur nachfolgenden Befestigung eines geschichtlichen status quo wäre ein derartiger Ursprung des Rechts nicht bloß die gesellschaftliche Transformation empirischer Gewalt, sondern geradezu brutale Hinterlist. Es kann ebensowenig gesagt werden, Kant imputiere dem Naturzustand eine ideelle Antizipation des Rechtszustands, denn das reichte zur Begründung der Affirmation von Gewalt nicht aus. Die mit der Besitznahme im Naturzustand verbundene Vorstellung der ‚Präsumtion‘ des Rechts soll faktisch Recht zum voraus setzen; mit hegelianischer Dialektik293 ließe sich sagen, dieses Recht, das der Besitzer im Naturzustand beansprucht, sei bloß gesetzt. Von der vermittelten Rechtsbestimmung im

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sich gegen die herrschende Gewalt auflehnt […]. […] Vor allem ist es Ihr jedoch um die eigne ökonomische Sicherheit und die ihrer Kinder zu tun. Die Einführung des Wahlrechts der Frau hat auch in den Staaten, wo eine Stärkung der Arbeitergruppen erwartet wurde, den konservativen Mächten Gewinn gebracht.“ MdS RL, VI § 15. Vgl. auch § 8. MdS RL, VI § 9. MdS RL, VI § 6. MdS RL, VI § 9. Wohlgemerkt: hegelianisch; Hegel selbst, der keine Naturzustandslehre vertritt, argumentiert so selbstverständlich nicht.

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bürgerlichen Zustand aus ließe sich dann erweisen, daß dieser bloß gesetzte, behauptete, Anspruch an sich schon das Recht selbst gewesen sei. Wenn Kant schreibt, „[d]er bloße physische Besitz (die Inhabung) ist schon ein Recht in einer Sache“294 , dann kann dieses Recht, das nicht ein Willensverhältnis darstellt, nur als wirkliches Recht in der Sache – ontologisch begründet – vorgestellt werden. Daraus ergäbe sich dann erst das persönliche Verhältnis, den „ersten Inhaber eines Bodens in seinem Gebrauche desselben zu stören“295 . Ohne diese begriffsmetaphysische Erweiterung des Geltungsbereichs der Rechtsbegriffe über den Rechtszustand hinaus ließe sich das, was außerhalb institutionalisierter Rechtsverhältnisse geschieht, nicht selbst rechtlich interpretieren, sondern nur im Rückblick als Naturzustand durch Negation vom Rechtszustand unterscheiden. Tatsächlich handelt es sich bei Kant um eine solche retrospektive Differenz, der aber selbständige systematische Geltung verliehen wird; das Geschichtliche der Voraussetzungen des Rechts wird dadurch enthistorisiert. Besonders intrikat ist das deswegen, weil der außerrechtliche Akt der Okkupation, der rechtlich interpretiert werden soll, seiner Form nach ein rechtswidriger Akt ist, indem er durch einseitige Willkür allseitige Verbindlichkeit postuliert. Er hat damit die Form despotischer Gesetzgebung, die mit Gewalt, aber ohne Freiheit, erfolgt und somit dem allgemeinen Rechtsprinzip, das seiner Form nach republikanisch ist, widerspricht. Der Rechtsgrund des Rechts im nichtrechtlichen Zustand kann daher nicht, wie Kant annimmt, „in der Conformität mit der Idee eines bürgerlichen Zustandes“296 gefunden werden. Als Bedingung der Möglichkeit der Bemächtigung gibt Kant deshalb noch einen weiteren Grund an: „Das Recht in einer Sache ist ein Recht des Privatgebrauchs einer Sache, in deren (ursprünglichen, oder gestifteten) Gesamtbesitze ich mit allen andern bin. Denn das letztere ist die einzige Bedingung, unter der es allein möglich ist, daß ich jeden anderen Besitzer [!] vom Privatgebrauch der Sache ausschließe […], weil, ohne einen solchen Gesammtbesitz vorauszusetzen, sich gar nicht denken läßt, wie ich, der ich doch nicht im Besitz der Sache bin, von Andern, die es sind, und die sie brauchen, lädirt werden könne.“297 Damit wird eine weitere ontologische Voraussetzung eingeführt, nämlich daß alle Menschen, wie sie auf die Erde kommen, zu dieser in einem Besitzverhältnis a priori stehen. Dieser ursprüngliche Gesamtbesitz, wenn er denn alle Menschen umfaßt, muß an jede empirische Person geknüpft sein und kann dies doch nicht sein, weil es sich um eine Voraussetzung a priori handeln soll. Der Gesamtbesitz dient zur systematischen Legitimation des historischen Aktes, in dem einige Besitzer die ‚anderen Besitzer‘ von diesem Gesamtbesitz ausschließen. Durchaus müssen alle Menschen, wie sie nun einmal, wie Kant einräumt, ungefragt da sind,298 sich auf der Erde, durch deren Bearbeitung, reproduzieren. Wie Kant ebenfalls feststellt, kommt dem Boden, als ursprünglichem Produktionsmittel, hierbei eine ausgezeichnete Stelle zu. Der Besitz am Boden ist allem anderen Besitz systematisch vorausgesetzt, weil jeder bewegliche Besitz irgendwo situiert sein muß. Kant interpre294 295 296 297 298

MdS RL, VI § 6. MdS RL, VI § 6. MdS RL, VI § 15. MdS RL, VI § 11. Vgl. MdS RL, VI § 28.

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tiert dies als kategoriale Differenz, das Grundeigentum sei nach der Kategorie Substanz, das an beweglichen Dingen nach der Kategorie Inhärenz aufzufassen. Dem Grundeigentum und damit der Okkupation des Bodens kommt somit die grundlegende Bedeutung in der Genese des Rechtszustandes zu. Die Menschen können sich nun nur auf einem Boden reproduzieren, wenn sie diesen, mehr oder minder dauerhaft, in empirischen Besitz nehmen. Dies wiederum gelingt nur mit begrenzten Stücken, mit Parzellen. Insofern stellt die Besitzung eine Privatisierung dar. Die Notwendigkeit eines ausschließlichen Privatbesitzes folgt aber erst unter der weiteren Bedingung, daß die „natürlich unvermeidliche[] Entgegensetzung der Willkür des Einen gegen die des Anderen allen Gebrauch desselben aufheben würde“299 . Ausgerechnet dieser Privatwillkür begegnet Kant, indem er die Bemächtigung nach der Regel der Priorität in Ansehung der Zeit formal zum Rechtsakt erklärt. Kant weiß, daß der Vorrang in der Zeit eine Bestimmung der Naturgewalt ist und daher, insofern sich der Ablauf der Naturgeschichte im Ganzen nicht empirisch vorhersehen läßt, reine Glückssache; die frühen Vögel heißen richtig „beati possidentes“300 . Die Bemächtigung ist daher nur der empirische Rechtsgrund, der „Vernunfttitel der Erwerbung aber kann nur in der Idee eines a priori vereinigten (nothwendig zu vereinigenden) Willens Aller liegen, welche hier als unumgängliche Bedingung […] stillschweigend vorausgesetzt wird“301 . Mit jener Idee, die mit der Rechtsidee kongruent ist, wird ein Prinzip a priori als Grund der Notwendigkeit des Rechtszustandes angegeben. Gleichzeitig steht dieselbe Notwendigkeit unter zwei empirischen Bedingungen, nämlich erstens der vorgefundenen Begrenztheit der Erdoberfläche und zweitens der Priorität in Ansehung der Zeit: Daß überhaupt die private Aneignung unter Rechtsbestimmungen notwendig ist, gründet darin, daß die Menschen sich räumlich nicht zerstreuen können und daß die zeitliche Abfolge ihres Handelns die später Handelnden in Nachteil gegenüber den früheren setzt. Deshalb ist die Rechtsbegründung a priori, die Absicht, ein Rechtssystems zu begründen, in Ansehung von dessen unvermeidlichem historischem Gegenstand überhaupt zweifelhaft. Dieses System muß historische Bestimmungen als systematisch begründete ausgeben. Wenngleich der allgemein vereinigte Wille faktisch erst im Rechtszustand eingerichtet ist, geht er doch im Naturzustand als notwendig zu vereinigender Wille voraus. Als reale Basis des allgemeinen Willensverhältnisses wird der ursprüngliche Gesamtbesitz angenommen. Über die begrenzte Erdoberfläche sind alle Menschen aufeinander verwiesen. Weil die Erde die materielle Bedingung ihrer Reproduktion ist und sie zu ihr in einem Besitzverhältnis stehen müssen, sind die Menschen alle als Willenssubjekte aufeinander bezogen. Der a priori vereinigte Wille ist die „Vereinigung der Willkür Aller, die in ein praktisches Verhältniß gegeneinander kommen können“302 . Indem dies eine Bestimmung a priori sei, konstituiere sie einen absolut gebietenden Willen, durch den es zu denken sei, daß die empirischen Willkürsubjekte sich in der materiellen Reproduktion auf dem Boden nicht behindern. Kant setzt dem mit dem rechtlichen Postulat gesetzten 299 300 301 302

MdS MdS MdS MdS

RL, RL, RL, RL,

VI VI VI VI

§ § § §

16. 6. 15. 14, meine Hervorhebung.

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Aneignungsrecht eine transzendentale Besitzgemeinschaft voraus, um den Widerspruch von Einseitigkeit der Okkupation und Allseitigkeit des Rechtsverhältnisses aufzuheben: Das allgemeine, allseitige Willensverhältnis ist sich selbst an sich schon vorausgesetzt. Nun fordert das rechtliche Postulat die Möglichkeit der Aneignung um der Möglichkeit der Reproduktion der Menschen willen: Sie sollen die notwendigen Gegenstände ihrer Willkür gebrauchen können. Die wechselseitige Anerkennung als Besitzer, wenn sie nicht bloß ein positiver Akt, sondern a priori begründet sein soll, gründet im Begriff der Menschheit, demgemäß jeder jeden anderen als seinesgleichen achtet und ihm, selbstverständlich, die Mittel seiner Reproduktion gewährt, soviel an ihm ist. Diese Menschheit ist aber historisch nicht real.303 Auch Kant verortet ihre Konstitution erst in der republikanisch-bürgerlichen Allgemeinheit. Solange bleibt sie Idee, spekulativer Begriff, dem die geschichtlichen Taten der Menschen entsprechen oder widersprechen können. Die Zwecke der bürgerlichen Gesellschaft, die unter dem Prinzip der Einheit durch wechselseitigen Ausschluß von den Mitteln der Reproduktion stehen, sind mit der Idee der Menschheit so wenig zu vereinbaren, wie mit der Menschheit in den einzelnen Personen, der moralischen Subjektivität der Menschen. Richtig bleibt aber, daß erst ein gesellschaftlicher Zustand, in dem erstens jeder jedem anderen die Mittel seiner Reproduktion gewährt, und in dem zweitens diese Mittel durch gemeinschaftliche Anstrengung technischer und intellektueller Art gezielt und ausreichend bereitgestellt werden, die Idee des Rechts einlöste. So könnte die Idee der Menschheit, obgleich ihr Gegenstand nicht wirklich ist, bestimmend für die auf die Zukunft gerichteten Zwecke der Menschen sein; ohne diese Möglichkeit wäre das, was Menschheitsgeschichte genannt wird, nicht einmal ‚Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft‘.304 In der retrospektiven Interpretation von Geschichte kann aus jener Idee aber keinesfalls ein nachträglicher Rechtsgrund für – der Form wie dem Gehalt nach – rechtswidrige Handlungen konstruiert werden. So würde die Idee der Menschheit zugleich die Vorstellung menschenwürdiger Lebensverhältnisse einerseits und die Realität unwürdiger Verhältnisse der Vergangenheit andererseits bestimmen; die Gegenwart wäre dann der Übergang, in dem beide unvereinbaren Seiten zusammenfallen sollten. Dieser Gegenwartsbegriff ist so widersprüchlich wie das Fortschrittskonzept, dem er dient. Dagegen ist an einem Begriff von Gegenwart festzuhalten, „die nicht Übergang ist sondern in der Zeit einsteht und zum Stillstand gekommen ist“305 . Dies könnte gelingen durch kritische Distanz zur Vergangenheit, die diese nicht als Begründungsmoment einer logisch sich vollziehenden Geschichte begreift, das über die Gegenwart hinaus auch auf die Zukunft ausgespannt ist, wie es der klassische neuzeitliche Begriff von Menschheit vorsieht: Ihm zufolge befindet sich die Menschheit in einem entwicklungs- und 303

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Deswegen ist es problematisch, den Anerkennungsbegriff als anthropologische Grundbestimmung zu erweitern, von der ihr rechtlicher Gebrauch erst abgeleitet sei. Vgl. z. B. Axel Honneth, Gerechtigkeit und kommunikative Freiheit. Überlegungen im Anschluß an Hegel, in: Barbara Merker/ Georg Mohr/Michael Quante, Subjektivität und Anerkennung, a.a.O., 213ff. Marxens polemische Anmerkung zur Menschheitsgeschichte erscheint heute geradezu als romantischer Geschichtsoptimismus. Vgl. Karl Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie. Vorwort, MEW 13, Berlin 1981, 9. Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, a.a.O., 259.

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bildungsgeschichtlichen Fortschritt, der Selbstvervollkommnung. In der Konzeption der begrifflich ‚einstehenden‘ Gegenwart dagegen könnte der Fortschritt in der Menschheit nur mehr als Entfernung von der Katastrophe vorgestellt werden und dies nur dann, wenn die Idee der Menschheit zur entschiedenen praktischen Distanzierung der lebenden Menschen von ihrer unmenschlichen Geschichte diente; „das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen“306 , hieße, die unmenschlichen Bedingungen in der Geschichte der Menschen zu identifizieren, um ihre Kontinuität in die Zukunft zu unterbinden. Indem nun Kant die Frage, „wie es doch mit Recht zugegangen sein mag, daß jemand mehr Land zu eigen bekommen hat, als er mit seinen Händen selbst benutzen konnte […]; und wie es zuging, daß viele Menschen, die sonst insgesammt einen beständigen Besitzstand hätten erwerben können, dadurch dahin gebracht sind, jenem bloß zu dienen, um leben zu können“307 , nicht ‚in Anschlag‘ bringt, entgeht ihm die Möglichkeit, zu erfassen, daß die in der Konstruktion des ursprünglichen Gemeinbesitzes am Boden vorgestellte Willensgemeinschaft der Menschheit sich zu einer Überführung des Erdbodens in ausschließlichen Privatbesitz nie würde verstanden haben können. Die Menschen, die durch diese sogenannte ursprüngliche Akkumulation um die Mittel ihrer Existenz gebracht und zum Proletariat gemacht wurden und die durch die Verrechtlichung der so geschaffenen Tatsachen dauerhaft in ihrer Lage erhalten werden, haben zwar in bestehenden bürgerlichen Verhältnissen, von denen Kant ausgeht, unmittelbare Interessen an deren Funktionalität, weil diese Verhältnisse ihre abhängige Existenz rechtlich sichern. Aber sie können an den Verhältnissen selbst, die sie zu Mitteln heteronomer Zwecke machen, kein Interesse haben. Fatal ist, daß die bürgerliche Privatisierung des Erdbodens, wenn sie denn geschehen soll, nur als Ungleichverteilung vorstellbar ist; eine gleichmäßige Parzellierung des Bodens zur isolierten Selbsterhaltung jedes Einzelnen würde die Erhaltung des Naturzustandes – die einfache Reproduktion – zum Zweck des Rechtszustandes machen. Ausschließender Privatbesitz an Produktionsmitteln ist ökonomisch nur dann sinnvoll, wenn wenige sie besitzen, um die Arbeitskraft vieler mit ihnen zu realisieren. Dann begründet der bürgerliche Rechtszustand aber notwendig räumliche Verhältnisse, die immer, prinzipiell, als zu eng empfunden werden müssen. Hierin liegt ein Sachgrund der Entstehung nationalistischer Ideologien, von der Staatsideologie über Massenprojektionen im Sport bis zur elementaren Fremdenfeindlichkeit. Die Subjekte erfahren sich existentiell als Konkurrenten und rechnen sich persönlich die Abhängigkeit zu, die doch in der Form ihres Verhältnisses zueinander liegt. Aus diesem Verhältnis geht nun umgekehrt erst ihre Rechtssubjektivität hervor, denn sie müssen miteinander in rechtlichen Verkehr treten, um existieren zu können.

306 307

Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, a.a.O., 260. Gemeinspruch, VIII 295. Daß Kant, wie später Hegel, die grundsätzlichen Mängel der bürgerlichen Gesellschaft wohl gesehen hat, zeigt auch seine Bestimmung der Freiheit zu denken als „das einzige Kleinod, das uns bei allen bürgerlichen Lasten noch übrig bleibt, und wodurch allein wider alle Übel dieses Zustandes noch Rath geschaffen werden kann“ (Sich im Denken orientieren, VIII 144). Dann aber müßte man die aufstoßenden Fragen auch ‚in Anschlag bringen‘.

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c.

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Rechte an Personen: Von Personalisierung, Verdingung und Verdinglichung der Subjekte

Das allseitige und negative Verhältnis von Personen, wie es durch die Okkupation begründet und im intelligiblen Besitz befestigt wird, verläuft innerhalb des bürgerlichen oder rechtlichen Zustandes in der Form eines positiven Verhältnisses einzelner Personen zueinander, die sich über die jeweiligen Verfügungsbedingungen bezüglich ihres Eigentums einigen. Die geschichtlichen, antagonistischen, Grundlagen dieses Rechtszustandes sind aber Kant zufolge in ihm nicht erloschen. Das Recht gebe dem Antagonismus nur eine neue Form, binde ihn in Grenzen ein. Die rechtliche Form, innerhalb der bürgerlichen Ordnung Interessen zu verfolgen, ist die freie Übereinkunft freier Willkürsubjekte, der Vertrag. Gegenstand des Vertrages kann nur mittelbar eine äußere Sache sein, unmittelbar wird „das Versprechen eines Anderen“308 erworben. Die Erwerbung des Versprechens begründet den „Besitz der Willkür eines Anderen, als Vermögen sie durch die meine nach Freiheitsgesetzen zu einer gewissen That zu bestimmen“309 . Damit begründet das Vertragsrecht nicht ein dingliches Recht an einer Sache, wie es durch negative, ausschließende, Beziehung des Rechtsinhabers auf alle anderen Personen bestünde, sondern es begründet ein persönliches Recht, das in einem positiven Anspruch gegen eine Person besteht. Weil die Freiheit der Willkür hier unmittelbar Gegenstand des Rechts ist, kann dieser Rechtstitel nicht ursprünglich erworben werden, denn das gelänge allenfalls durch Zwang – Folter oder Erpressung –, was aber dem Vertragsbegriff widerspräche, der die Gemeinschaftlichkeit und die Freiheit der beteiligten Willen voraussetzt. Beim Vertrag handelt es sich um eine Rechtsübertragung, bei deren näherer Bestimmung Kant allerdings einmal betont, es werde nur „die Causalität der Willkür des anderen in Ansehung einer mir versprochenen Leistung“310 erworben, ein anderes Mal jedoch heißt es, daß ein Gegenstand, „das Seine des Einen auf den Anderen übergeht“311 . Der Vertrag kann nur unter Personen, Willkürsubjekten, geschlossen werden, die Gegenstände selbst sind nicht rechtsfähig.312

308 309 310 311 312

MdS RL, VI § 20. MdS RL, VI § 18. MdS RL, VI § 20. MdS RL, VI § 18. Diese Selbstverständlichkeit muß, mit Kant, gegenüber Tier- und Sachenrechtlern (vgl. Arno Baruzzi, Rechtsphilosophie der Gegenwart, a.a.O.) hervorgehoben werden: Rechte von Tieren und Sachen sind stets auf ihre Inhalte projizierte Rechte von Personen. Dies zu betonen heißt nicht, daß Tiere und natürliche Ressourcen nicht schützenswert wären, sondern nur, daß das bürgerliche Rechtsinstitut des subjektiven Abwehrrechts solchen Schutz nicht leisten kann, weil es Rechtssubjektivität voraussetzt. Sowenig Sachen Verträge schließen können, sowenig können sie ihr Schutzinteresse subjektiv vertreten. Vgl. hierzu auch Martin Seel, Ethisch-ästhetische Studien, Frankfurt am Main 1996, 201: „Nur eine anthropozentrisch ansetzende Ethik ist in der Lage, der moralischen Dimension unseres Naturverhältnisses einen angemessenen Ausdruck zu verleihen.“ Ein ‚Eigenwert‘ komme der Natur nur zu innerhalb der menschlichen (ästhetischen) Praxis und deren ‚Eigenwert‘ (224).

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Unter Personen, die sich als Eigentümer und Nichteigentümer hinsichtlich einer Sache wechselseitig ausschließen, erscheinen die Gegenstände aber nur als Gegenstände der Willkür. Ihre Einigung besteht darin, hinsichtlich dieser Gegenstände ihre Willkür zu koordinieren, d. h. sie einzuschränken, sie partiell aufzugeben. Die über den Gegenstand zunächst verfügende Willkür schränkt sich selbst ein, indem sie das Aufgeben ihres Verfügungsrechts bezüglich dieses Gegenstandes verspricht. Nur dieser Akt ist vertraglich zuzusichern und er ist die Bedingung der Möglichkeit der materiellen Eigentumsübertragung. Diese aber ist umgekehrt Bedingung der Möglichkeit des Vertrags. Dazu bedarf es „zwei vorbereitende und zwei constituirende rechtliche Acte der Willkür“313 . Zunächst muß ein Angebot ergehen und gebilligt werden. Diese Verhandlung ist Vertragsbestandteil, weil ohne sie der Gegenstand des Vertrags nicht verbindlich bezeichnet ist. Sodann muß die Leistung hinsichtlich des Gegenstandes versprochen und dies Versprechen muß akzeptiert werden. Das partielle Aufgeben der Freiheit der Willkür des Versprechenden ist nicht bloß deshalb partiell, weil es auf einen bestimmten Gegenstand bezogen ist, sondern auch weil es nur im Verhältnis zum Vertragspartner gilt; alle anderen Personen bleiben vom Gebrauch der zu übertragenden Sache weiterhin wirksam ausgeschlossen. Dafür muß der Empfänger der Sache durch das persönliche Recht unmittelbar in das dingliche Recht eintreten, wenn der Versprechende es aufgibt. Die Wahrung der Kontinuität des Eigentums ist für Kants Rechtslehre unumgänglich, weil von ihr die Beständigkeit des Rechtszustandes überhaupt abhängt. Würde nämlich die Sache zwischen dem Aufgeben des Eigentums und dessen neuer Aneignung auch nur momentan zur res nullius, so würde der Naturzustand – in dem allein es eine res nullius gibt – zu einem konstitutiven Moment der Form des Rechtszustandes. Nicht allein, weil die Eigentumsübertragung erst mit der Übergabe ein neues dingliches Recht begründet,314 muß das persönliche Recht die Lücke der Eigentumsübertragung wirksam schließen. Wenngleich rechtspragmatisch die Zeit zwischen Aufgeben und Neuaufnahme des Eigentums zu kurz scheint, um eine tatsächliche Störung der Rechtskontinuität zu bewirken, wäre solcher Pragmatismus im Rechtssystem Ausdruck eines Begründungsmangels; Recht wäre dann nicht, was vernünftig in Einklang mit den Rechtsprinzipien begründet wäre, sondern schon das, was praktikabel ist, unangesehen seiner Begründbarkeit. Da dies auf Äquivokationen des Rechts und damit auf Willkür hinausliefe, muß es Kant darum gehen, die Notwendigkeit des Rechtszustandes durch dessen begriffliche Konsistenz nachzuweisen. Dies könnte nur durch die tatsächliche Gemeinschaft, Einheit des Willens, geschehen, die sich empirisch nicht darstellen läßt, da die Willensäußerungen, selbst wenn sie vollständig kongruent sind, in der Zeit, nacheinander, erfolgen. Symbolische Akte wie die stipulatio, bis heute auf Viehmärkten als Handschlag gültig, begründen keine Einheit, die dem modernen Begriff der Willenseinigung gerecht würde; sie beschwören empirische Reste des Formalkontrakts, die den begrifflichen Anforderungen des Konsensualkontraktes nicht entsprechen. Dieser empirische Mangel in der Form des Privatrechts muß nun begrifflich aufgelöst werden. 313 314

MdS RL, VI § 19. Vgl. MdS RL, VI § 21. Dahinter stehen haftungs- und versicherungsrechtliche Fragen bezüglich Schäden, die zwischen Versprechen und Übergabe entweder durch die Sache oder an der Sache entstehen.

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Kant sieht diese Auflösung in der Intelligibilität des Eigentums angelegt, denn wenn das Eigentum selbst ein intelligibles Verhältnis von Personen ist, dann könnte seine Übertragung ebenso als intelligibler Akt vorgestellt werden. Bei diesem Akt müßte dann, wie zuvor bei der possessio noumenon selbst, von allen empirischen Bedingungen abstrahiert werden. Das Problem, daß die possessio noumenon ohne empirischen Gegenstand gedacht werden muß, aber ohne solchen nicht gedacht werden kann, erscheint hier darin, daß die Vorstellung einer intelligiblen Rechtsübertragung ohne Beziehung auf einen empirischen Gegenstand, der empirisch übertragen wird, sinnlos ist.315 Eine empirische Übergabe ist aber nur als Akt in der Zeit vorstellbar. Wäre sie bestimmt durch den Moment, in dem die Sache der Person A nicht mehr und der Person B noch nicht gehört, entstünde eben eine Unterbrechung der Rechtskontinuität; insofern dadurch die Okkupation zu einem Moment des Vertrages würde, bestimmte wieder ein Moment des Naturzustandes die Kontinuität des Rechtszustandes. Kant bestimmt die Übergabe daher durch den Moment, in dem die Sache der Person A noch und zugleich der Person B schon gehöre. In diesem Fall aber wären beide zugleich Eigentümer, was der Voraussetzung der Ausschließlichkeit des Privatbesitzes widerspricht, so daß diese Bedingung der Kontinuität des Eigentums dasselbe zugleich aufhöbe. Kant zieht sich auf ein mathematisches Modell zurück: In dem oberen Extrem einer parabolischen Flugbahn sei das Objekt zugleich im Steigen und im Fallen begriffen. Der Kern dieses Modells ist die Analogie des Moments der Eigentumsübertragung zu einem mathematischen Punkt, in dem Anschaulichkeit und Intelligibilität verknüpft sind. Insofern der Punkt das ist, was keine Teile, keine Ausdehnung hat, kann er nur spekulativ gedacht werden, dies aber nur, indem er negativ auf Anschauung bezogen ist. Der unausgedehnte Punkt ist dem Zeitverlauf nicht unterworfen und kann daher ein in der Zeit verlaufendes Kontinuum in zwei Teile teilen; und ebendadurch verbindet er diese. Für die Vereinbarung der Aufhebung der empirischen Bedingungen des Vertrags mit dessen Gegenständlichkeit bemüht Kant somit einen axiomatisierten Widerspruch der Mathematik, überträgt dessen systematische Funktion für die reine Anschauung auf Rechtsgegenstände, die Gegenstände wirklicher Erfahrung schon deshalb sein müssen, weil sie nur als empirisch okkupierte Sachen Rechtsgegenstände werden konnten. In der reinen Anschauung hingegen wird nicht gehandelt. Die peinliche Sorge, die Gewalt des Naturzustandes aus dem Begriff des Rechtsgeschehens herauszuhalten, spiegelt wieder, daß dessen reale Kontinuität sich wohl eher der gesellschaftlichen Gewalt des Rechtszwanges verdankt, der die possessio noumenon durchsetzt und garantiert, als der rechtstheoretischen Spekulation auf Kontinuität. In der Erfahrung entstehen zwischen allen Vertragsmomenten zeitliche Differenzen. Diese müssen durch zusätzliche Verträge abgedeckt werden. So kann für die Zeit zwischen der Annahme des Leistungsversprechens und der tatsächlichen Leistung ein Aufbewahrungsvertrag geschlossen werden. Indem Kant den empirischen Bedingungen 315

Neueste scheinbar reine Finanzgeschäfte, vom Optionenhandel bis zum day-trader, sind insofern keine Gegenbeispiele, als sich zeigen läßt, daß sie auf gegenständliche Korrelate bezogen bleiben. Der Handel mit bloßen Illusionen bleibt eine Illusion, zumindest für denjenigen der Beteiligten, der dabei leer ausgeht.

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Rechnung trägt, die Notwendigkeit des zusätzlichen Übergabeaktes hervorhebt, partikularisiert er zugleich seinen Eigentumsbegriff: Das Beispiel für jene Notwendigkeit ist ein Pferd, also wohl ein Produktionsmittel, aber nicht das die Substanz des Eigentums bestimmende ursprüngliche, der Boden. An diesem nämlich ließe sich kein empirischer Übergabeakt inszenieren. Kant muß die Darstellung auf bewegliche Sachen beschränken, weil er im Vertragsbegriff selbst nicht differenziert zwischen sachenrechtlichem Vertrag, Werkvertrag (mit einem Handwerker) und Arbeitsvertrag (mit einem Tagelöhner).316 Alle diese Verhältnisse fallen unter persönliches Recht. Für den Handwerker gilt dies, weil die Handwerksleistung, die städtisch noch vorherrschende Form der Produktion, als Arbeitsleistung immer mit der Sachleistung des fertigen Produktes oder Werkes verbunden ist. Als Handwerker gilt deshalb nur derjenige, der über seine Produktionsmittel und über die Arbeitsgegenstände selbst verfügt, im Grunde also selbständiger Warenproduzent ist.317 Aber auch das Arbeitsverhältnis des Tagelöhners ist kein dinglich-persönliches Recht.318 Es wird deshalb unters persönliche Recht geordnet, weil die Tagelöhnerarbeit auf sachlich bestimmte Arbeitsleistungen beschränkt sei. Das Gesinde dagegen binde sich an Haus oder Hof, gehöre dann wie eine Sache zur beweglichen Habe; daß es nicht als Sache gebraucht, und das heißt verbraucht oder auch verkauft werden darf, hat seinen Grund darin, daß es als Person sich selbst verdingt habe und die Kontinuität seiner Persönlichkeit paradoxe Bedingung der Kontinuität seiner Verdingung sei.319 Auf diese Funktion beschränkt sich dann aber seine Persönlichkeit auch. Noch diese personale Grundfunktion der Vertragsfähigkeit kann Kant zufolge aufgehoben werden infolge eines Verbrechens, wodurch das Subjekt seine Persönlichkeit verliere. Es wird bloßes Werkzeug, ja sogar handelbares Eigentum.320 Einen Grund für das fortbestehende Verbot der Tötung, körperlichen Beschädigung und sogar Verwendung für ‚schandbare Zwecke‘ führt Kant nicht an; es liegt in dem jeder Apologie der Sklaverei insgeheim immanente Wissen, daß die mit ihr verbundene willkürliche Aufhebung der menschlichen Substanz in Wahrheit unmöglich ist: Wäre das instrumentum vocale nur ein Werkzeug, dann nähme es seinem Anwender keine Arbeit – zweckgerichtete Tätigkeit – ab, weil Werkzeuge sich nicht zweckgerichtet selbst anwenden; –

316

317 318 319

320

In der Differenzierung der Vertragsarten kommt die Formalität der Unterscheidung von Werk und Arbeit historisch zu sich selbst. Die ontologisch begründete ständische Differenz, die noch in Kants Vorstellung von der bürgerlichen Selbständigkeit fortwest, diente immer schon der Legitimation gesellschaftlicher Machtverteilung. Wenn Hannah Arendt dieses Motiv a fortiori in der entwickelten bürgerlichen Gesellschaft wieder aufgreift, trifft sie in der ökonomischen Realität nichts mehr. Arbeiten und Herstellen sind beides gesellschaftliche Teilprozesse, die gleichermaßen aufeinander angewiesen sind, und die produktiv sind nur unter der Bedingung der ökonomischen Verwertbarkeit der Produkte. Vgl. Hannah Arendt, Vita activa, a.a.O., Kapitel 3 und 4. Vgl. MdS RL, VI § 46 Anm. und Gemeinspruch VIII 295 Anm. Vgl. MdS RL, VI 360f. Vgl. MdS RL, VI Allg. Anm. D: „Durch einen Vertrag kann sich niemand zu einer solchen Abhängigkeit verbinden, dadurch er aufhört, eine Person zu sein; denn nur als Person kann er einen Vertrag machen.“ Vgl. MdS RL, VI Allg. Anm. D.

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wenngleich der Umstand, daß die Herren dies wissen, keinen Versklavten befreit. Diese Form des Schutzes von Leib und Leben liefert sie gerade aus. Allerdings gelingt Kant die Differenzierung von persönlichem Arbeitsvertrag und dinglich-persönlichem Dienstvertrag nicht widerspruchsfrei.321 Die Vorstellung, daß „das Gesinde sich zu allem Erlaubten versteht“, daß ihm keine „specifisch bestimmte Arbeit aufgetragen wird“322 , ohne daß es dadurch persönlich abhängig, leibeigen, würde, ist Kant selbst zufolge „ein falscher Schein. Denn, wenn sein Herr befugt ist, die Kräfte seines Unterthans nach Belieben zu benutzen, so kann er sie auch […] erschöpfen, bis zum Tode oder der Verzweiflung“323 . Zwar sei dies für das Gesinde ausgeschlossen, aber dieser Ausschluß ist sowenig eine rechtsdogmatische Unterscheidung wie die Differenz zur Lohnarbeit. Kants Versuch, die historisch gebildeten Formen unselbständiger Arbeitsverhältnisse rechtsdogmatisch zu systematisieren, scheitert; in der „Dogmatische[n] Eintheilung aller erwerblichen Rechte aus Verträgen“324 entfällt das dinglich-persönliche Recht unvermittelt; der Lohnvertrag hingegen figuriert neben Geschäftsführung und Verleihung einer Sache unter den Verdingungsverträgen. Dem entspricht auch die Bestimmung des persönlichen Rechts: „Denn alles Versprechen geht auf eine Leistung, und wenn das Versprochene eine Sache ist, kann jene nicht anders entrichtet werden, als durch einen Act, wodurch der Promissar vom Promittenten in den Besitz derselben gesetzt wird“325 . Vertragsgegenstand persönlichen Rechts können demzufolge nicht nur Sachen, sondern kann auch die Willkür selbst und für sich allein sein. Ist nun der Vertrag seiner Form als Übereinstimmung freier Willen nach nicht empirisch durch Vergleichung von Willenserklärungen,326 sondern nur noumenal vorstellbar, entsteht die Frage, was denn das noumenon der Willkürakte sei? Die den empirischen Willenserklärungen zugrundeliegende Substanz könnte nur der intelligible Charakter, die Spontaneität praktischer Vernunft selbst sein. Zunächst nun ist die Bestimmung des intelligiblen Charakters Kant zufolge noch nicht einmal für das Subjekt, dessen Charakter er ist, erkennbar.327 Die formal widerspruchsfreie Annahme eines intelligiblen Charakters könnte dann zunächst nur die widerspruchsfreie Möglichkeit einer noumenalen Vertragseinheit begründen, d. h. gewährleisten, daß mit dem Vertragsbegriff kein Widerspruch verbunden ist. In diesem Vertragsbegriff erscheint dann das Eigentum als Verhältnis von Personen, die ihre Willküren derart beschränken, daß diese hinsichtlich einer bestimmten Sache nicht kollidieren. Die Personen werden hier vorgestellt als nicht bloß im äußerlichen 321 322 323 324 325 326

327

Vgl. Hans-Georg Deggau, Die Aporien der Rechtslehre Kants, a.a.O., 130ff. und 214ff. MdS RL, VI 360. MdS RL, VI Allg. Anm. D. MdS RL, VI § 31. MdS RL, VI § 21, meine Kursivierung. Die Lösung des bürgerlichen Rechts, durch „erklärte Willensübereinstimmung“ oder „zusammenstimmende Willenserklärungen“ die notwendige zeitliche Differenz zwischen diesen Erklärungen in der Sacheinheit aufzuheben, behebt das Begründungsproblem der systematischen Notwendigkeit der Vertragsform nicht. Vgl. Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 67. Aufl., München 2008, Einführung zu § 145, Rn. 1. Vgl. KrV, B 579 Anm.

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Vollzug ihrer Willkür beschränkte, wie es das Recht fordert, sondern als freiwillig in ihrem noumenalen Willen eingeschränkte. Der Vertrag geht insofern über das einfache sachenrechtliche Verhältnis hinaus, als er die frei vereinbarte Kohärenz von Maximen voraussetzt, mithin in der Tat die Beschränkung der praktischen Vernunft selbst hinsichtlich einer, wenngleich bloß komparativen, Allgemeinheit. Allerdings setzt Kants Begriff des intelligiblen Besitzes, der allein durch Vertrag geregelt wird, voraus, daß der Gegenstand, hinsichtlich dessen die Subjekte ihre Freiheit beschränken, selbst bloß als noumenon zu betrachten sei. Beschränkt sich die reine praktische Vernunft selbst hinsichtlich eines bloßen Begriffs, so verliert die Eigentumsübertragung deutlich an Bodenhaftung. Im Arbeitsvertrag ist nun aber der Gegenstand eines Vertrages die Freiheit der Willkür selbst; diese ist nicht bloß ausführend am Vertrag beteiligt. Noumenal betrachtet würde die Spontaneität der praktischen Vernunft sich selbst hinsichtlich ihrer selbst zugunsten der Spontaneität des anderen Vertragspartners beschränken. Die Freiheit des Willens gibt die Verfügung über sich selbst für die im Vertrag bestimmte Zeit auf. Zudem ist „der Erwerb eines Gliedmaßes am Menschen zugleich Erwerbung der ganzen Person“328 , das Arbeitsvermögen kann weder als physisches noch als Willensvermögen losgelöst vom arbeitenden Subjekt erworben werden, sowenig wie im Ehevertrag das Geschlechtsvermögen isoliert erworben wird; Personen sollen aber als solche nicht durch Vertrag erworben werden können. Der Ehevertrag ist Kants Auffassung nach allein deshalb sittlich zulässig, weil er reziprok sei. Noch diese Reziprozität fehlt dem Arbeitsvertrag offensichtlich, denn der Selbstaufhebung der Verfügung über die eigene Willkür durch den Arbeiter korrespondiert lediglich der Vermögenszuwachs des Arbeitsanwenders, der „vermögender […] geworden [ist], durch Erwerbung einer activen Obligation auf die Freiheit und das Vermögen des Anderen“329 . Die weite Fassung des persönlichen Rechts durch Kant erlaubt hier übrigens ein äquivokes Verständnis des Ausdrucks ‚Vermögen‘ als Reichtum und als Fähigkeit. Der Anspruch auf Leistung des Lohns, den der Arbeiter durch den Vertrag erwirbt, könnte nicht einmal bei Unterstellung der unprofitablen Äquivalenz von Wertprodukt und Wert des Lohnes – das heißt bei Auszahlung des gesamten Gewinns als Lohn – als reziproke Leistung verstanden werden, denn die Selbstnegation der Freiheit des ‚Arbeitnehmers‘, für einen wie kurzen Zeitraum auch immer, ist eminent von der Verpflichtung der Willkür des ‚Arbeitgebers‘ auf Zahlung einer Geldsumme unterschieden.330 Nicht erst der Blick auf den faktischen rücksichtslosen Verschleiß von Arbeitskräften durch ihre Anwendung unter Bedingungen, die sie freiwillig nie hätten akzeptieren können, belegt, daß tatsächlich die Freiheit der Willkür durch die Arbeitsverträge aufgehoben wird; schon Kants Versuch, diese Verträge rechtlich zu begründen, zeigt das. Die factory acts, die später die von den staatlichen Industrieinspektoren als volksgesundheitlich

328 329 330

MdS RL, VI § 25. MdS RL, VI § 20. Das bestimmt auch die Problematik von Debatten über den ‚gerechten Lohn‘. Die Festlegung auch von Mindestlöhnen ist ein pragmatisches Problem der Tarif- und Sozialpolitik, kein moralisches.

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bedrohlich erkannten Arbeitsbedingungen zu regulieren beginnen,331 sind pragmatische Hilfskonstruktionen; sie heilen nicht die grundsätzliche Aporie des Arbeitsvertrages, der auch im Falle der Bewahrung der Gesundheit der Arbeiter ein Vertrag ungleicher Vorteilsverteilung bleiben muß, wenn denn die Ökonomie Gewinne erzeugen soll. Wenn nun die Veräußerung der Freiheit der Willkür rechtlich nicht denkbar und für den Veräußernden, jedenfalls in der frühen Zeit, unmittelbar nachteilig erscheint, bleibt die Frage, wieso sie zur zentralen Erscheinungsform des bürgerlichen Rechtsverhältnisses avancierte. Zwar ist der Tagelohn eine alte, schon in der Antike bekannte, Form der Arbeit, gesellschaftlich tragende Form wird sie aber erst dann, wenn durch die Gesellschaftsform selbst das Grundeigentum in den Händen weniger konzentriert wird, so daß die Mehrzahl der Menschen von den Mitteln ihrer Reproduktion ausgeschlossen werden. Dadurch werden sie Lohnarbeiter und dadurch wird zugleich ein gesellschaftlicher Bedarf an Lohnarbeit erzeugt. Da das Privateigentum, zumal das an Produktionsmitteln, ein zentraler Inhalt des Rechts der bürgerlichen Gesellschaft ist, kommt auch der Lohnarbeit eine besondere Bedeutung in dessen System zu. Ist nun die Reproduktion der Gesellschaft noch überwiegend agrarisch organisiert und werden die Ackerknechte und Mägde auf dem Gutsgebiet angesiedelt, so sind in ihnen Lohnarbeit und Gesindedienst der Form nach noch undifferenziert. Allerdings wächst die Bedeutung der freien Lohnarbeit, denn die Aneignung fremder Mehrarbeit auf gesellschaftlicher Ebene gelingt nur, wenn die Arbeitskräfte ihre Arbeitskraft durch Vertrag verdingen: Die Vermittlung des gesellschaftlichen Reichtums über den Markt sowie der schwankende manufakturelle, später industrielle Bedarf an Arbeitskräften – ihre Attraktion, das heißt industrielle Anwendung, in der Blüte und ihre Repulsion, das heißt Entlassung, in der Krise – setzen die Verfügbarkeit großer Mengen von Menschen voraus, die keine Produktionsmittel besitzen und daher sich jenen verdingen müssen, die sich in den Besitz dieser Mittel gebracht haben; gleichwohl müssen die Besitzlosen freie Vertragspartner sein können, sonst wäre erstens die Verfügung über Arbeitskräfte an persönliche Unterwerfung, gewissermaßen Sklavenraubzüge durch die Produktionsmittelbesitzer, gebunden, zweitens könnten diese sich der Arbeitskräfte in der Krise nur durch die Preisgabe von deren Existenz entledigen, wodurch zugleich Mangel an Arbeitskräften für die nächste Blüte erzeugt würde. Diese Bestimmungen hatten für Kant noch kaum gesellschaftliche Realität; aber in der Erfahrung des wachsenden Bedarfs an zeitlich und sachlich begrenzten Arbeitsverhältnissen, etwa für Saisonarbeiten, kündigt sich die Notwendigkeit von deren differenzierter rechtlicher Bestimmung an. Die notwendige Flexibilisierung der gesellschaftlichen Arbeitskraft ist nur über einen rechtlich

331

Vgl. Karl Marx, Das Kapital, Bd. 1, MEW 23, a.a.O., Kap. 8. Da Marx alles aus den Fabrikberichten staatlicher Inspektoren zitiert, dürfte diese Quelle der Beschaffenheit von Lohnarbeitsverhältnissen unverdächtig sein. Die frühen Verhältnisse stellen das Prinzip bürgerlicher Arbeitsverhältnisse nicht etwa unentwickelt, sondern unverhüllt dar: Alle späteren Maßnahmen der Gefahrenbeschränkung usw. sind staatliche Eingriffe in die Privatautonomie, in das Vertragsprinzip par excellence.

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geregelten Arbeitsmarkt, verbunden mit staatlicher Wohlfahrtspflege für Übergangszeiten, möglich.332 Die Veräußerung der Arbeitskraft erscheint als Veräußerung der Bestimmbarkeit der Willkür zu einer Arbeitsleistung, die erstens an fremden Produktionsmitteln und fremden Arbeitsgegenständen erfolgt und an deren Produkt das Subjekt dieser Willkür deswegen zweitens kein Recht erwirbt. Daß Kant diese Veräußerung unter die Verträge des persönlichen Rechts ordnet, ist nicht bloß Verlegenheit, sondern zugleich Ausdruck bürgerlichen Denkens: Durch die allgemeine rechtliche Form des Arbeitsvertrages, seine Kongruenz mit dem Vertrag zweier Eigentümer über den Austausch von im Idealfall gleichwertigen Sachen, wird die Tatsache verdeckt, daß hier nicht zwei gleiche freie Willen miteinander vereinigt werden, sondern daß einer sich im Besitz der Produktionsmittel – der Mittel zur Sicherung nicht allein seiner eigenen Existenz – befindet und darum nicht auf einen bestimmten Vertragspartner festgelegt, sondern allen gegenüber im Vorteil ist, und daß der andere, der nicht einmal über die Mittel zur Sicherung seiner Existenz verfügt, auf den bestimmten Vertragspartner, der ihn akzeptiert, durchaus angewiesen ist. Ein Vertrag wie dieser, der unter Ausnutzung einer Notlage eines der Vertragspartner zustande kommt, dürfte nach bürgerlichen Rechtsprinzipien nicht ohne weiteres rechtskonform sein. – Hieran wird deutlich, daß dieses Recht zunächst nur eine historisch vorgefundene Situation ordnet, nicht aber selbst historisch eine gerechte Ordnung schafft. Wenngleich Kant schon im proletarischen Arbeitsvertrag weder die Not noch die in der Verdingung liegende Verdinglichung der Person weiter verfolgt, gibt es ein Recht, das noch darüber hinaus persönliche Verhältnisse unmittelbar als sachliche zu fassen erlaubt. Staatsbürger, Rechtssubjekte, gehen genetisch aus familiären Gemeinschaften hervor. Mit dem Erreichen der Volljährigkeit werden sie aktive Rechtssubjekte. Die Reproduktion der Familien ist Bedingung der Möglichkeit der Reproduktion wie jeder menschlichen Gemeinschaft so auch der Rechtsgemeinschaft des bürgerlichen Staates.333 Als Element und Bedingung der Rechtsgemeinschaft zugleich kann die Familie nicht außerhalb der Rechtsordnung stehen, deren Geltung ragt vielmehr in den familiären Be332 333

Vgl. MdS RL, VI Allg. Anm. C und 367ff. Vgl. Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 55. Aufl., a.a.O., Einleitung zum Familienrecht, Rn. 2: „Die Besonderheit des Familienrechts ergibt sich daraus, daß die Familie die wichtigste Zelle des sozialen Organismus ist, die gesetzliche Regelung also wie keine andere unmittelbar das Leben des Einzelnen, mittelbar aber auch den Staat berührt.“ Diese sozialontologische Formulierung ist in neueren Auflagen allerdings hinter einer funktionalistischen Interpretation von ‚Familie‘ zurückgetreten. Das besondere staatliche Interesse an der Familie wird nun nicht mehr über seinen gesellschaftlichen Grund, sondern positiv durch seinen legislatorischen ‚Ausdruck‘ definiert. Diese Veränderung ist unter dem Eindruck der europäischen Gesetzgebung und besonders dem der Gleichstellung nichtehelicher Lebensgemeinschaften einerseits und gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften andererseits zu sehen. Diese werden bezeichnenderweise in einem Gesetz zur Beendigung der Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Gemeinschaften gleichgestellt. Den Umstand, daß bürgerliches Recht solche Gleichstellungen nur durch fortschreitende Positivierung und Funktionalisierung leistet, quittiert umgehend das Feuilleton, dessen Autoren die Individuen gerne wieder in ihre genealogischen Verbände reintegrieren möchten und den Begriff der ‚Gemeinschaft‘ damit wieder auf Volksebene erheben. Vgl. z. B. die Publikationen von Frank Schirrmacher.

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reich hinein; gleichwohl können die familiären Verhältnisse nicht ohne weiteres als persönliche Rechtsverhältnisse interpretiert werden, denn sie sind teils nicht auf bestimmte Leistungen zu beschränken, teils ist der Rechtspartner, so im Fall des Neugeborenen, schon psychisch und physisch nicht vertragsfähig. Kants zusätzliche Abteilung des ‚auf dingliche Art persönlichen Rechts‘ hebt gleichwohl auf einen anderen Aspekt ab: die feste Zusammengehörigkeit der Hausgenossen, denen ihr persönlich begründetes Verhältnis als ein sachliches, dem Eigentum analoges, erscheint. Obwohl durch die Brüche mancher Bestimmungen dieses Rechts wohl noch der Odem Aristotelischer Substantialität des Hauswesens334 weht und obwohl die Einteilung in Eherecht, Elternrecht und Hausherrenrecht dem Römischen Recht des pater familias folgt,335 geben Kants Begründungsversuche Einblicke in die Abgründe der Lebensverhältnisse der Subjekte bürgerlichen Rechts, insofern die Abstraktion der bürgerlichen Persönlichkeit, der rechtlichen Subjektivität der Menschen, hierdurch auch die privaten Verhältnisse ergreift.336 Das nach Aristoteles metaphysisch, aus der Natur der beteiligten Menschen, begründete Recht im gleichfalls als natursubstantiell vorgestellten oikos folgt bei Kant aus dem „Recht der Menschheit in unserer eigenen Person“337 . Damit ist es zwar noch immer in der menschlichen Substanz, der Mensch-heit, begründet, aber diese Substanz gilt nicht mehr als ontologisches Faktum, sondern sie besteht in der transzendentalen Einheit des Selbstbewußtsein der Menschen. Aus dieser nun folge das Recht in Bezug auf einen anderen Menschen als „das des Besitzes eines äußeren Gegenstandes als einer Sache und des Gebrauchs desselben als einer Person“338 . Die Menschen, die als Sache besessen und in Gebrauch genommen werden, sollen gleichwohl Personen, freie Wesen sein, die „eine Gesellschaft von Gliedern eines Ganzen“339 bilden. Dieses Ganze ist jedoch nicht ein durch rationale Organisation und Arbeitsteilung organisiertes Kollektiv, sondern eine dem bürgerlichen Recht formal subsumierte Herrschaftsordnung. Dieses Recht ist weder allein ein Recht gegen alle anderen Personen, noch allein eines gegen eine bestimmte Person und kann deshalb weder aus dem rechtlichen Postulat, noch aus der Freiheit der Willkür begründet werden. Es übersteigt in der Wirkung beide Formen, weil es sie vereinigt: Das Recht begründet sowohl einen Anspruch gegenüber der Gesamtheit der anderen Personen, sich des Gebrauchs der von dem Recht verdinglichten Person zu enthalten, als auch einen Anspruch gegenüber dieser Person selbst, sich nicht dem Gebrauch zu entziehen. Dieses Recht sieht Kant in der Menschheit der Person selbst begründet, vielleicht, weil die Grundlagen der kontinuierlichen Existenz der menschlichen Gattung betroffen zu sein scheinen. Wäre dem so, dann knüpfte Kant aber doch 334 335 336

337 338 339

Vgl. Aristoteles, Politik, a.a.O., I, 3 und 12. Vgl. Gerhard Köbler, Lexikon der europäischen Rechtsgeschichte, a.a.O., 429. Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit, a.a.O., 59: „Die Familie ist anerkannt und vorhanden nur als soziale Gemeinschaft. Rechtlich wird sie erfaßt und faßbar in individuellen Rechts- und Pflichtbeziehungen zwischen Mann und Frau, Eltern und Kindern“. Und: „Die Substanz des menschlichen Daseins verlagert sich aus dem Bereich des Öffentlichen und Allgemeinen in den Bereich des Privaten, auf den das Öffentliche funktional bezogen ist.“ (Ebda., 147). MdS RL, VI § 22. MdS RL, VI § 22. MdS RL, VI § 22.

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an eine ontologische Grundlegung des Politischen im Geschlechterverhältnis an: Aristoteles zufolge sollte dieses an sich auf die polis ausgerichtet und deshalb deren Regeln teleologisch unterstellt sein. Entsprechend sei die Rechtlichkeit dieser Sphäre unmittelbar mit dem Dasein von Menschen gesetzt: Das Rechtsverhältnis entsteht hier nicht durch Vertrag und nicht durch Bemächtigung, sondern „durchs Gesetz“340 . Kinder erwerben mit der Geburt Rechte, ohne daß es eines juristischen Aktes bedürfte. Sie verlassen mit der Volljährigkeit als Rechtssubjekte das Haus, soweit sie sich nicht vertraglich weiter daran binden; ihre Emanzipation dagegen bedarf keines Vertrages. Zuvor haben sie aber vor allem passive subjektive Rechte gegen ihre Eltern, bezüglich ihrer Erhaltung und Bildung. In den anderen Abteilungen des dinglich-persönlichen Rechts gilt dies aber nicht analog. Die Ehe muß rechtsförmlich geschlossen werden. Ein unmittelbares Moment mag sie rechtlich darin haben, daß sie außerhalb des Vertragsschlusses selbst von den Ehepartnern vollzogen werden muß und daß dieser Vollzug das Eherecht erst begründet, wogegen eine nicht vollzogene Ehe unmittelbar ungültig ist.341 Umgekehrt aber ist dem Ehevollzug Kant zufolge die gesetzliche Eheschließung notwendig vorausgesetzt. Für das Hausherrenrecht übers Gesinde gilt jene Rechtsunmittelbarkeit nun aber zunächst nicht, denn das Gesinde geht in den Haushalt durch einen Vertrag ein, der nur auf unbestimmte Zeit, nicht auf Lebenszeit, geschlossen werden kann und eine Kündigungsvereinbarung enthalten muß. Diese Bestimmung ist erzwungen, weil sie allein die Übereignung der ganzen Person ausschließt, die in der Verfügung über das Gesinde als über eine Sache – das Moment der Unmittelbarkeit in diesem Verhältnis – zweifellos angelegt ist. Beide Bestimmungen – Vertrag und Sachverfügung –, die kaum vereinbar sein dürften, beläßt Kant recht vage. Deshalb erscheint auch der Schutz des Gesindes während des Aufenthaltes im Haushalt vor Unsittlichkeit und vor dem Verbrauch, der Abarbeitung, zusätzlich als explizit notwendig: Er folgt nicht dogmatisch aus dem widersprüchlichen Rechtsverhältnis. Die Analogie von Ehe-, Eltern-, und Hausherrenrecht besteht darin, daß Personen als Eigentum betrachtet werden können sollen, dies jedoch auf unterschiedliche Weise, je nach ihrer rechtlichen und ökonomischen Funktion. Die Gemeinsamkeit erscheint allein negativ: „Daß aber dieses persönliche Recht es doch zugleich auf dingliche Art sei, gründet sich darauf, weil, wenn eines der Eheleute sich verlaufen, oder sich in eines Anderen Besitz gegeben hat, das andere es jederzeit und unweigerlich gleich als eine Sache, in seine Gewalt zurückzubringen berechtigt ist.“342 Entsprechend gehören die Kinder zum Mein und Dein der Eltern, „weil sie gleich den Sachen im Besitz der Eltern sind und aus jedes Anderen Besitz, selbst wider ihren Willen, in diesen zurückgebracht werden 340 341

342

MdS RL, VI § 22. MdS RL, VI § 27. Vgl. Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 55. Aufl., a.a.O., § 1353 Rn. 7: „Die Ehe ist Geschlechtsgemeinschaft und verpflichtet grundsätzlich zum ehelichen Verkehr“. Als Nichtigkeits- oder Aufhebungsgrund erscheint der Nichtvollzug der Ehe aber nicht mehr. Die Herkunft dieser Bestimmung aus der Sakramentenlehre, nach der das Ehesakrament vom Priester nur vorbereitet, von den Eheleuten selbst aber wechselseitig gespendet wird (abgesehen davon, daß alle Sakramentenspende nur werkzeuglich für Gott wirkt), liegt auf der Hand. MdS RL, VI § 25.

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können“343 , und fürs Gesinde erweist sich das „auf dingliche Art persönliche Recht […], weil man sie zurück holen und als das äußere Seine von jedem Besitzer abfordern kann, ehe noch die Gründe, welche sie dazu vermocht haben mögen, und ihr Recht untersucht werden dürfen“344 . In der Begründung der dinglich-persönlichen Rechte durch Verweis auf das jeweilige Rückholrecht koinzidieren alle drei Abteilungen. Diese Begründung des dinglich-persönlichen Rechts durch das Recht auf seine Durchsetzung begründet aber Recht durch Faktizität von Macht. Wenn die Menschen sich ihrem Gebrauch, wie er nach der Personalität – also aufgrund wechselseitiger Willkürfreiheit – erklärt und bestimmt ist, entziehen, dürfen sie als Sachen – durch einseitige Willkür – zurückgebracht werden. Sie sind dagegen gänzlich rechtlos; selbst wenn die Umstände einen Rechtsanspruch auf Emanzipation begründeten, hätte dieser keine aufschiebende Wirkung. Daß Kant selbst dabei nicht wohl war, läßt sich dem Hyperlativ ansehen, mit dem er dies Recht als das „allerpersönlichste“345 bezeichnet. Unterstellt man, daß auch die antike Sklaverei Tötungs- und Mißhandlungsverbote kannte, schrumpft diese allerpersönlichste Differenz im Kern auf das Veräußerungsverbot von Personen im bürgerlichen Recht, weil sie sonst zu Unpersonen würden und keine Pflicht zur Vertragserfüllung mehr haben könnten.346 Die offene Gewalt, die vormals unmittelbar und dann rechtlich die Einheit des Hauswesens bestimmte, ist im Verkehr der freien Rechtssubjekte sublimiert: Aus Pflicht muß noch der am tiefsten Erniedrigte seiner Erniedrigung gehorchen; gerade die theoretische Unverletzlichkeit der Rechtsperson begründet die Metamorphose von Abhängigkeit in Pflicht. Warum soll nun aber gerade die Vereinigung der formellen Beschränkung der Freiheit der Willkür (durch Vertrag) mit der faktischen Degradierung der Menschen zu Sachen unmittelbar aus der Menschheit in der Person der Menschen, aus dem homo noumenon347 oder der moralischen Subjektivität, selbst folgen? Aus dieser folgt vielmehr unmittelbar das Recht auf unbedingte Achtung, das mit der Erwerbung des Besitzes an Menschen kaum vereinbar sein dürfte.348 Die Formalisierung des Menschen zur Person, zum Rechtssubjekt, das die zur Gallerte geronnene Summe seiner Rechtsrelationen ist, macht ihn an sich zum Objekt.349 Kant verwechselt die relationale Allgemeinheit des 343

344 345 346 347 348

349

MdS RL, VI § 29. Das BGB, § 1632 Abs. 1, kennt den Anspruch auf Herausgabe des Kindes an die Erziehungsberechtigten durch Dritte, die ihnen das Kind widerrechtlich vorenthalten. (vgl. Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 55. Aufl., a.a.O.). Bezüglich der Ehepartner oder des Gesindes existiert derartiges nicht. MdS RL, VI § 30. MdS RL, VI § 23. Vgl. MdS RL, VI § 23. Vgl. MdS RL, VI § 35. Zudem bemüht Kant, wie öfters in aussichtslosen Fällen, den Begriff „Erlaubnißgesetz“ (MdS RL, VI § 22). Erlaubnisgesetze sind in sich widersprechend, weil Erlaubnisse bloß problematisch, Gesetze hingegen notwendig sind (vgl. MdS RL, VI 223 und EF, VIII 347f. Anm.). Diese Konsequenz hat Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, a.a.O., gezogen: Subjekte, erst recht Menschen, haben im Recht keine Funktion; nur ihre Rechte figurieren dort stellvertretend: „Wenn jeder Kläger als ‚Subjekt‘ auftreten muß, […] müssen rechtlich zu vertretende Interessen künstlich individualisiert werden. […] Die Form, deren Innenseite das rechtsfähige, klageberechtigte bzw. verklagbare Subjekt ist, hat mithin eine Außenseite mit all den Sachlagen und Interessen,

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Rechtssubjekts, die abstrakt ist, mit der moralischen Allgemeinheit des Subjekts, die dem Anspruch nach die reale kollektive Verbindung der Menschen antizipiert. Die Formalisierung menschlicher Gemeinschaft zur Rechtsgemeinschaft hat Moralität abstrahiert. Die Subjekte werden nicht mehr als durch freien Entschluß verbunden gedacht, sondern durch Gesetz: Familie als Zelle der Gesellschaft und Gesellschaft als Gesellschaft von Privatrechtssubjekten. Die Privatrechtssubjektivität muß im familiären Zusammenhang grundgelegt werden, wenn sie allgemein gelten soll. Dem Konflikt der Freiheit der Subjekte dinglich-persönlichen Rechts liegt historisch die Frage zugrunde, wie weit der Einzelne der Gesellschaft gehört und wie weit er unmittelbaren sittlichen Zusammenhängen angehört.350 Zu einem Privatrechtsgegenstand, einem sachen- und vertragsrechtlichen Personenverhältnis, wird bei Kant vor allem das Geschlechterverhältnis, das als Liebesverhältnis nur unter Voraussetzung der bürgerlichen Ehe, der wechselseitigen Verbindung zum lebenswierigen ausschließlichen Gebrauch der Geschlechtseigenschaften, moralisch erlaubt sei. Im bloß natürlichen ‚Gebrauch der Geschlechtseigenschaften eines Menschen‘, wie Kant den Liebesakt ausnahmslos tituliert, werde der Gebrauchte zum Gegenstand des Genusses, zur Sache, zum Sexualobjekt. Da er selbst dazu einstimme, erniedrige er

350

die unter dem Regime des Subjekts nicht als solche, sondern nur als Komponenten subjektiver Rechte oder Pflichten im Rechtssystem relevant werden können.“ Die „Focussierung der Selbstbeschreibung des Systems auf das Rechtssubjekt“ wäre aufzuheben, und „DER MENSCH käme nicht mehr als empirisch für sich lebendes Einzelwesen in Betracht, sondern nur noch als der Fluchtpunkt, in dem alle Werte im Unbestimmbaren konvergieren“ (536f.; vgl. Niklas Luhmann, Reflexive Mechanismen, in: Soziologische Aufklärung. Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme, Opladen 1971, sowie grundsätzlich: Soziale Systeme, a.a.O., 92). Die Beobachtung der Irrelevanz der Menschen und ihres empirischen Verhaltens für die Verfahren des Rechts (vgl. auch Reflexive Mechanismen, a.a.O., 208) ist insofern plausibel, als schon der Mosaische (Deut 1,17) Grundsatz, es sei ohne Ansehung der Person zu richten, das Verfahren in seine eigenen Regeln einzuschließen scheint. Indem Luhmann Bedingungen und Konsequenzen des Rechts als bloße Systemkoppelungen ausweist (so löst nicht das Verbrechen das Verfahren aus, sondern das Verfahren sich selbst), führt er seine systemtheoretische Reduktion ad absurdum: Wenn ohne die Koppelung an andere Systeme das Rechtssystem gegenstandslos ist, war die Reduktion theoretisch sinnlos. Vgl. Herbert Schnädelbach, Vernunft, a.a.O., 135: „In dieser Theorie kommen dann keine Menschen mehr vor“. Ob das ein Grund ihrer Exklusion aus der Geschichte der Vernunft (vgl. 139) ist, oder ein Merkmal von deren aktueller Gestalt, ist die Frage. – Ähnlich urteilt Böckenförde über die Subjektivität von Rechtspersonen: „Es werden Ordnungen und Handlungsabläufe aus wenigen zweckrationalen Prämissen heraus entworfen. Sie realisieren sich in Funktionszusammenhängen und –abläufen, in welche die einzelnen an ihrer Stelle nur mit einer bestimmten Funktion eingefügt werden. Sie werden dabei nur partiell, in ihrer Verrichtung, Funktion oder Rolle genommen; die Person als solche bleibt in dieser Rechtsregelung ausgespart, wird vereinzelt, und die Lebensbezüge verdinglichen sich.“ (Recht, Staat, Freiheit, a.a.O., 66). Sophokles entwickelt in der Antigone die Kollision des Rechts der politischen Gemeinschaft, das Kreon vertritt, mit dem der familiären Gemeinschaft, das Antigone gegenüber ihrem getöteten Bruder in Pflicht nimmt (vgl. Sophokles, Antigone, Göttingen 1982). Hegel sieht in seiner Interpretation des Konfliktes als Kollision der gleichberechtigen Ansprüche menschlicher und göttlicher Gesetze nur die Lösung der Vermittlung. Die abstrakten Vertreter beider Seiten müssen untergehen. Ihr Untergang beweise die Notwendigkeit des allgemeinen Rechtszustandes, in dem partikulare und allgemeine Interessen harmonierten (vgl. Phänomenologie des Geistes, a.a.O., Abschnitt VI).

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zugleich sich wie seinen Partner zur Sache, was dem kategorischen Imperativ, in der sogenannten ‚Selbstzweckformulierung‘, widerspreche. Für Kant ist die Leidenschaft des Liebesverhältnisses, die er rückhaltlos einräumt, der Natur nach nicht außer-moralisch, sondern direkt unmoralisch. Richtig wäre dagegen, daß das Liebesverhältnis kein rechtliches sein kann. Aufgrund der Leidenschaft liegt ihm niemals ein Verhältnis freier Willen zugrunde, sondern eines von hochgradig pathologisch affizierten Willen.351 Wo gemäß bürgerlichen Bestimmungen tatsächlich nicht einmal Rechte begründet oder erworben werden könnten, stellt Kant das Sexualverhältnis unter die Bedingung „daß, indem die eine Person von der anderen gleich als Sache erworben wird, diese gegenseitig wiederum jene erwerbe; denn so gewinnt sie wiederum sich selbst und stellt ihre Persönlichkeit wieder her“352 . Wie durch diese wechselseitige eheliche Transsubstantiation die hingegebene Persönlichkeit zurückkehre, ist weder empirisch noch intelligibel sinnvoll vorstellbar. Die Gleichheit des Verhältnisses soll allerdings alle einseitigen oder begrenzten Liebesverhältnisse ausschließen, weil hier die verdinglichten Persönlichkeiten nicht im Gleichgewicht stünden. Der rechtliche Ehezwang des Geschlechterverhältnisses mag immerhin die aus der Kindszeugung folgenden persönlichen und sozialen Belastungen pragmatisch regulieren, er mag auch, besonders in der kanonistischen Form, sozialdisziplinarische Zwecke bedienen; das Bedürfnis, über den in Leidenschaft vollzogenen, beiderseits per se unfreien, Akt hinaus ein Freiheitsverhältnis zu konstituieren, folgt erst der bürgerlichen Verrechtlichung individueller Lebensverhältnisse. Die protestantische Vorstellung der moralischen Persönlichkeiten der Einzelnen wird zum funktionalen Äquivalent der Verrechtlichung. Soll das Recht die durchgängige Freiheitsordnung der Menschen darstellen, können sie nicht in rechtsfreien Räumen sich zum Mittel machen, ohne daß sich dafür eine rechtliche Form finden ließe. Es ist nicht nötig, auf alle Widersprüche des dinglich-persönlichen Rechts im Detail einzugehen; Kants äußerlich abstrus erscheinende Argumente dafür aber beleuchten die Dinge, wie sie wohl öfters wirklich sein mögen: „Ohne diese Bedingung ist der fleischliche Genuß dem Grundsatz (wenn gleich nicht immer der Wirkung nach) cannibalisch. Ob mit 351

352

Wann die Leidenschaft zur „vorübergehenden, die freie Willensbestimmung ausschließenden Störung der Geistestätigkeit“ (Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 55. Aufl., a.a.O., Ehegesetz, § 18, Abs. 1, Rn. 2) wird und dadurch einen Grund der Nichtigkeit der Ehe darstellt, ist eine graduelle und deshalb prinzipiell unmögliche Bestimmung. Jedenfalls ist der Katalog der Gründe zur Aufhebung einer Ehe aufgrund Irrtums über die persönlichen Eigenschaften des anderen Ehegatten, zumal in der Kommentierung, recht umfangreich (vgl. Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 55. Aufl., a.a.O., Ehegesetz, § 32). Ausdrücklich reicht solcher Irrtum auch dann hin, wenn er fahrlässig erfolgte oder umgekehrt billigend in Kauf genommen wurde (Rn. 1). Der Unmöglichkeit der rechtlichen Handhabung dieses Gegenstandes trägt das Scheidungsrecht Rechnung, das den vormaligen Katalog der Scheidungsgründe durch die Generalklausel des ‚Zerrüttungsprinzips‘ ersetzt hat (vgl. Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 67. Aufl., a.a.O., Einführung zu § 1564f.). Durch diese unspezifische Formulierung wird nämlich insbesondere das ‚Schuldprinzip‘ ersetzt; der Nachweis des Scheiterns ist nun in der Regel allein durch Trennungsfristen und Willenserklärungen zu erbringen. Das Recht behandelt die Lebensgemeinschaft als den nackten Formalismus und Utilitarismus, als den die Menschen ihre rechtlich geregelten Liebesverhältnisse zu interpretieren gelernt haben. MdS RL, VI § 25.

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Maul und Zähnen, oder der weibliche Theil durch Schwängerung und daraus vielleicht erfolgende, für ihn tödtliche Niederkunft, der männliche aber durch von öfteren Ansprüchen des Weibes an das Geschlechtsvermögen des Mannes herrührende Erschöpfung aufgezehrt wird, ist bloß in der Manier zu genießen unterschieden, und ein Theil ist in Ansehung des anderen, bei diesem wechselseitigen Gebrauche der Geschlechtsorganen, wirklich eine verbrauchbare Sache“353 . Die eingestandene Aufgabe der bürgerlichen Ehe bestünde danach in der hinreichenden Abstumpfung der Leidenschaft auf ein physiologisch vertretbares Maß.

d.

Anschlußüberlegungen

Wie bei allen moralisch sich gebenden Entrüstungen über das Liebesleben anderer Menschen läßt sich vielleicht auch hier mehr oder minder sublimierter Neid unterstellen; aber Kants dinglich-persönliches Recht berührt durchaus moderne Probleme des Verhältnisses von Selbstbestimmung und Verrechtlichung. Empirisch zeigt sich gerade in diesem Bereich, in dem Recht, Gesellschaft und individuelles Subjekt sich berühren, der Zustand moderner Subjektivität besonders kraß. Daher sollen hier einige Beobachtungen angeführt werden, die gemeinsam mit dem folgenden Exkurs über Schulpädagogik die schwierigen Ausgangsbedingungen von Moralphilosophie skizzieren. Von großer Bedeutung ist zunächst der psychische Schaden, den die Menschen erleiden, die ihre Leidenschaften pseudo-moralisch rechtlicher Regulierung zu unterwerfen lernen müssen, wenn sie nicht als Unholde gelten wollen.354 Die Menschen begreifen sich bis in ihre innersten Regungen hinein als gesellschaftlich erfaßte. Daß sie in den Bereichen der Produktion und der Reproduktion ausgeliefert sind, mag ihnen im Privaten kompensabel erscheinen, indem sie dort selbst ihre ‚Rechte‘ begründen und ausüben; tatsächlich unterziehen sie sich analogen Formalismen, die ihre Individualität, das Bewußtsein ihrer Autonomie von innen auszehren. Keinesfalls kann es hier darum gehen, Lebensgemeinschaften irgendeiner Art philosophisch zu demontieren, wohl aber darum, die Konsequenzen ihrer privatrechtlichen Überformung darzustellen. Das Besitzverhältnis der Ehe, das als physisch begründete Abhängigkeit der Frau vom Mann erscheint, die mit deren juristischer Gleichberechtigung voll verträglich sei,355 hinterläßt, auch eingedenk der Möglichkeit glücklicher Ehen, allzuoft zerrüttete Subjekte: Frauen und Kinder, die aus dem häuslichen Zwangsverband fliehen. Gerade gegen dieses Phänomen richtet sich das dinglich-persönliche Recht. Als Zwangsverband ist die häusliche Gemeinschaftnicht zuletzt dadurch konstruiert, daß das Sachenrecht durch die vertragsrechtliche Form 353 354

355

MdS RL, VI 359f. Daß Sigmund Freud aus der moralistischen Triebunterdrückung bei Kleinkindern (z. B. in den Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, in: Studienausgabe, Frankfurt am Main 1969, Bd. 1, 309ff.) die Neurose hervorgehen läßt, ist, wie Freuds Seelenmodell überhaupt, theoretisch durchaus problematisch; gleichwohl zeigt die psychiatrische Praxis doch an, daß fremde Eingriffe in die intimste Lebensgestaltung psychopathologisch registriert werden. Herausgestellt hat das Theodor W. Adorno, Die revidierte Psychoanalyse, in: Gesammelte Schriften, Bd. 8, Frankfurt am Main 1972. Vgl. MdS RL, VI § 26 Anm.

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in sie hineinragt. Schlimmer daran sind diejenigen, die nicht fliehen können, weil sie finanziell abhängig sind, am schlimmsten aber die, die in ihr Bewußtsein eine dem dinglich-persönlichen Recht korrespondierende ‚lebenswierige‘ Pflicht eingegraben haben, deren Bewußtsein den Anschein erzeugt, sie müßten sich selbst den Ausweg verwehren. Die von Kant vorgesehene Pflicht, die Kinder zu erhalten und zu bilden, verwandelt sich unter den Händen der sozial überforderten Eltern allzuoft in die vorgebliche, sie nach den eigenen Vorstellung zu modellieren, für ein Leben tauglich zu machen, mit dem die Eltern selbst nur schwer zurecht kommen. Indem die Zurichtung für die Härte des Lebens vor dieser schützen soll, wird eben die Härte in Wahrheit schon in der Kindheit vorweggenommen; damit wird die einzige Möglichkeit der Erfahrung unbedrohten Glücks – wie fragil diese objektiv auch sein mag – zunichte gemacht. Die rechtliche Garantie des gesellschaftlichen Schutzes der Hilflosen – der Kinder oder finanziell Abhängiger – schlägt schließlich um in die Verrechtlichung des zutiefst Privaten, weil Rechtsansprüche nicht anders als durch rechtlichen Akt oder durch ein Gesetz erworben werden können. Wenn das Recht äußerlich das ausgleicht, was moralisch nicht zureichend geregelt ist, zeugt fortschreitende Verrechtlichung, wie sie unter anderem im Familienrecht zu beobachten ist, von zunehmender sittlicher Verwahrlosung in der sogenannten Rechtswirklichkeit, die so nicht differenzierend benannt werden müßte, wenn sie die Wirklichkeit des Rechts wäre. Die Verwahrlosung heute folgt aus der wachsenden Erschwernis der Lebensbedingungen; auch wenn die Konsumenten in den Statistiken der Verbraucherforschung zyklisch zuversichtlicher erscheinen, leben die Menschen mit Grund in Angst, weil sie wissen, daß ihre Funktion als Privatrechtssubjekt nicht von ihrer Zuversicht abhängt, sondern von ökonomischen Bedingungen, über die sie nicht verfügen. Daß sie über diese nicht verfügen, wissen sie, auch wenn sie ihre Gesetze nicht verstehen. Die im ‚Wirtschaftswunder‘ der deutschen Nachkriegszeit verdrängte Tatsache, daß die bürgerlichen Subjekte von den Bedingungen ihrer Reproduktion prinzipiell abgeschnitten sind, holt das Bewußtsein wieder ein. Die Privatautonomie, gemäß der unter dem Titel der Standortsicherung schonungsloser als je die Menschen zur Erfüllung ihrer konkurrierenden Interessen aufeinander losgelassen werden, erzeugt als Folgelasten die materielle, psychische und physische Beschädigung der Subjekte, die sich im Privaten schadlos halten. Für solche Entschädigung werden sie immer neue rechtsfreie Räume öffnen, die gesetzlich geschlossen werden müssen. Dies wird augenscheinlich an der Betäubungsmittelgesetzgebung, die stets der kriminellen Phantasie des pathischen Betäubungsbedürfnisses hinterherhinkt, aber auch an der vom Bundesfamilienministerium erwogenen Bespitzelung junger Familien durch Hebammen,356 als ob man nicht wüßte, daß Armut Gewalt erzeugt, weil sie selbst, zu Recht, als gesellschaftliche Gewalt empfunden wird. Die entrüstete Forderung, daß die gesellschaftlich erzeugte Gewalt in der Familie aber doch nicht die Schwächsten treffen dürfe, ja daß sie andernfalls feige sei, zeugt vom affirmativen Verhältnis der Gesellschaft zur Gewalt überhaupt. Kritik an der Verrechtlichung darf nun nicht quantitativ bestimmt sein; sie könnte nur danach fragen, was reguliert wird und zu welchem Zweck es reguliert wird. 356

Vgl. Pressemitteilung des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend vom 3. 11. 2006.

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Sonst verblaßt die Kritik zur Kulturkritik und erfaßt nicht die spezifische Situation des bürgerlichen Rechts; denn schon Aristoteles schreibt: „Daher muß schon die früheste Erziehung und müssen die Beschäftigungen festgelegt werden durch das Gesetz; denn wenn sie einem ganz vertraut werden, empfindet man sie nicht mehr als drückend. Es genügt aber wohl kaum, nur in der Jugend die richtige Erziehung und Betreuung zu erhalten, sondern: da man auch als Mann diese Dinge treiben und mit ihnen vertraut werden muß, brauchen wir Gesetze, die auch dieses regeln und damit überhaupt Gesetze, die das ganze Leben erfassen, denn die Vielen beugen sich eher dem Zwang als dem Wort und eher der Strafe als dem Vorbild edlen Handelns.“357 Diese totalitäre Rechtsvorstellung ist Ausdruck des antiken Mangels an Begriff und Realität moralischer Allgemeinheit. Der Gedanke, daß die Menschen aus vernünftiger Einsicht ihr kollektives Handeln bestimmen könnten, ist Aristoteles, der noch den abstrakten Vorboten dieses Gedankens, die Idee des Guten, ablehnte, ganz fremd. Die scholastische Begründung der katholischen Sozialdisziplinierung ist dem darin verwandt, daß auch für sie ein vernünftiges weltliches Kollektiv nicht vorstellbar war; die Menschheit konstituierte sich als moralisches Ganzes erst mit dem Jüngsten Gericht.358 Heute aber ist Verrechtlichung allein Ausdruck der nur mehr historisch notwendigen Differenz von Moral und Recht, deren systematisches Verhältnis seit Kant bestimmbar und deshalb kritisierbar ist. Kants hilflosem Versuch, durch die Tugendlehre jene Differenz zu schließen, entsprechen die stets erneuerten Forderungen nach einer Werterenaissance.359 Sie ist der begriffslose Versuch, als Folgeprojekt der Demoralisierung der Menschen ihnen äußerlich, durch Autorität der Familie oder einer beschworenen Tradition, ein Moralsurrogat aufzuheften. Von den Betrogenen Ehrlichkeit, den Erwerbslosen Fleiß und den Hungernden Mäßigkeit zu erwarten, ist ebenso absurd, wie von Managern, die Betriebe schließen, Verantwortung einzuklagen, weil sie in Wahrheit höchst verantwortlich mit dem Betriebskapital verfahren. Wo nach herrschender Lehre der Schutz der Privatautonomie vor staatlichen Beschränkungen, der ernsthaft aus der Würde und Freiheit der Menschen abgeleitet wird,360 Vorrang vor einem kompromißlosen Würdeschutz genießt, so daß durch Vertrag jeder sich in unwürdige Verhältnisse begeben darf, wo zudem die Ausnutzung 357 358 359

360

Aristoteles, Nikomachische Ethik, a.a.O., 1179b. Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologica, Salzburg u. a. 1933ff., III, 8, 3. Zur Kritik des sog. Wertbegriffs vgl. auch Ernst-Wolfgang Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit, a.a.O., 112, 142 und 167. Werte seien Surrogate, nicht allgemein begründbar und daher politisch gefährlich. Vgl. Theodor Maunz,/Günther Dürig (Hgg.), Grundgesetz, a.a.O., Art. 1 (Günther Dürig), Abs. 3, Rn 129f. oder Horst Dreier (Hg.), Grundgesetz, a.a.O., Art. 2 (Horst Dreier), Rn 47 und Art. 3 (Horst Dreier), Rn 508. Zu dem Problem der ‚unmittelbaren Drittwirkung‘ der Grundrechte vgl. Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, a.a.O., 491: „Leicht zu widerlegen ist der Einwand, daß jede unmittelbare Drittwirkung zu einer unzulässigen Beseitigung oder Beschränkung der Privatautonomie führe. Die Privatautonomie selbst, nicht nur ihre Begrenzung, ist Gegenstand grundrechtlicher Garantien und damit der Drittwirkung.“ Das Grundgesetz kann danach Freiheit im emphatischen Sinn nicht schützen, weil es einander widersprechende Aufgaben bedient. Die Bedeutung grundgesetzlichen Freiheitsschutzes ist daher explizit „ein Abwägungsproblem“ (ebda.). Nach Böckenförde ist die Privatautonomie Grundelement der Rechtsordnung, alle anderen, auch sie beschränkenden, Bestimmungen sind ihr nachgeordnet. Vgl. Recht, Staat, Freiheit, a.a.O., 60. Um

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des ganzen Rechtsspielraums ökonomische Existenzbedingung ist, kann von keinem untergeordneten Gesetz Abhilfe erwartet werden. Die Phantasie von Unternehmern im Ersinnen von Methoden, ihre Angestellten rechtlos zu stellen, wird im Gegenteil Vorbild der Gesetzgebung, die zunehmend Schutzräume wie den Kündigungsschutz oder Arbeitszeitgesetze stückweise preisgibt. Das Bewußtsein von den Folgelasten dieser Entwicklung drückt sich aus im Appell an Tugenden und Werte. Doch wie jede Regulierung, die nicht aus Freiheit geschieht, wird auch diese umschlagen in die findige Eroberung rechts- und tugendfreier Räume im Privaten,361 die, weil diese Räume enger werden, immer exaltierter und brutaler ausfallen wird. Die rechtliche Entscheidung darüber, daß jemand sich freiwillig zerteilen und verzehren läßt, muß – um dem Wahnsinn auch nur scheinbar gerecht zu werden – entweder etwas Anderes bestrafen als das, was geschehen ist, oder sie erzwingt ein neues Gesetz, das in seiner notwendigen Allgemeinheit neue Lücken öffnen wird.362 Die Aristotelische Vorstellung ist in erschreckender Weise real geworden. Die ‚früheste Erziehung und die Beschäftigungen‘ sind längst festgelegt, wenngleich nicht immer auch durch Rechtsgesetze, so doch durch gesellschaftliche Gesetzmäßigkeit.363 Wenn heute bei der Einschulung ganz unreflektiert erwartet wird, daß die Kinder bereits lesen, schreiben und englisch sprechen können, daß sie Computer bedienen können, stehen

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Freiheit als Privatautonomie nicht zu untergraben, bleibt ihre Bestimmung im Recht rein subjektiv und formal, ohne objektive Gehalte (vgl. ebda., 64). Nur ein Indiz mag die Statistik des Nordrhein-Westfälischen Innenministeriums zur „Häuslichen Gewalt“ sein. Von 2003 bis 2006 stieg die Zahl der Körperverletzungen (§ 223 StGB) in diesem Sektor um ca. 25% von 10518 auf 12309, die der Bedrohungen (§ 241 StGB) um fast 60% von 1701 auf 2795, die der Mißhandlungen Schutzbefohlener (§ 225 StGB) um ca. 50% von 172 auf 256, die der Wohnungsverweisungen und Rückkehrverbote um ca. 20% von 6931 auf 8383 und die der Vermittlungen von Opfern an Beratungsstellen um 45% von 5114 auf 7440. Wie bei allen Statistiken wird die Interpretation vieles berücksichtigen müssen; unter anderem aber auch die wachsende Verarmung und den zunehmenden sozialen Druck. – Die Diskussion um ‚Jugendgewalt‘ oder ‚Jugendkriminalität‘ ignoriert grundsätzlich, daß die Gewalttäter durch ihr Handeln bestimmte, gesellschaftlich durchaus akzeptierte, Zwecke verfolgen, die auf ein im Prinzip gewaltsames Verhältnis zu anderen hinauslaufen. Nur verfügen Jugendliche nicht über die technischen und sozialen Sublimationsmöglichkeiten und -gewohnheiten. Eine Tendenz zeigt auf: Volker Caysa, Grenzen der Subjektivation – Grenzen der Körperinstrumentalisierung. Versuch einer nicht essentialistischen, körperanalytischen Reformulierung des Verdinglichungstheorems, in: Alex Demirović/Christina Kaindl/Alfred Krovoza (Hgg.), Das Subjekt – zwischen Krise und Emanzipation, a.a.O., 66: „Die neuen Formen der Körperproduktion, zirkulation, -distribution und -konsumtion setzen in Wert, was einst als ökonomisch nutzlos, sinnlos und moralisch abnorm galt. Das Individuum verschwindet in dieser Verrohstofflichung, es wird Fleisch.“ Der Psychiater Ronald D. Laing hat die ‚Normalisierung‘ von Erfahrung und deren Folgen für die Subjekte schon in den 1960er Jahren beschrieben, gerät aber als Therapeut in Opposition zu seiner Kritik an den gesellschaftlichen Bedingungen, insofern die Wiederherstellung der empirischen Subjektivität Ziel der Therapie ist. Vgl. Ronald D. Laing, Phänomenologie der Erfahrung, Frankfurt am Main 1969. Bemerkenswert ist, daß die klinische Therapie von Schäden durch normierte Erfahrung die Hospitalisierung, vollständige Isolation von gesellschaftlicher Erfahrung, und das heißt Herstellung absolut normierter Erfahrung voraussetzt. Vgl. Erving Goffman, Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen, Frankfurt am Main 1972, 83.

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diese Kinder unter sozialen Gesetzen, die sich von denen, unter denen ihre Eltern konkurrieren, in Nichts unterscheiden. Weil die Konkurrenz schärfer wird, wird das bewußte Leben schließlich zur Gänze dem Erwerb von Wettbewerbsvorteilen geopfert. Da dieser Wettbewerb dem Wechsel der profitablen Anwendbarkeit des ‚Humankapitals‘ folgend auf ziellose Flexibilität abgestellt ist, verkommt Bildung rapide zur ‚Methodenkompetenz‘ oder zum ‚life long learning‘, beides Chiffren dafür, daß nicht länger Wissen das Verhältnis der Menschen zur Welt ordnet und stabilisiert, sondern daß antrainierte gehaltlose Fähigkeiten sie zur Verfügungsmasse qualifizieren, die aus sich selbst keiner Bestimmungen mehr fähig ist.364 Das Vergnügen, das Kinder beim spielerisch gestalteten Training empfinden, ist heimtückisch; es kaschiert vor ihnen selbst die Heteronomisierung ihres empirischen Charakters, wie es diese vor ihren Erziehern legitimiert. Aus diesen Kindern werden Menschen, die niemals bewußt die Erfahrung gemacht haben, ohne fremde Zwecke zu handeln.365 Weil ihnen dadurch die Erfahrung des Fremden, das Unterscheidungsvermögen verkümmert, vermögen sie die Spontaneität ihres intelligiblen Charakters nicht mehr ohne weiteres von der Funktionalität seiner empirischen Entäußerung zu unterscheiden. Insofern leistet die Regulierung ‚des ganzen Lebens‘ die Verdrängung des widerständischen Moments im Selbstbewußtsein, das ohne un-

364

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Vgl. hierzu Johannes Gruber, Der flexible Sozialcharakter, in: Alex Demirović/Christina Kaindl/ Alfred Krovoza (Hgg.), Das Subjekt – zwischen Krise und Emanzipation, a.a.O. Vgl. Ernst Cassirer, Versuch über den Menschen, a.a.O., 342: „Auch den Fehlern, die ein Kind macht, kommt in dieser Hinsicht große Bedeutung zu. Sie sind keineswegs bloßes Versagen, das aus unzureichender Merk- oder Nachahmungsfähigkeit herrührt; sie sind vielmehr der beste Beweis für eine aktive, spontane Handlung des Kindes.“ ‚Spontan‘ ist hier Kantisch zu nehmen. Vgl. ferner Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, a.a.O., 221: „Ohne Anamnesis an den ungebändigten, vor-ichlichen Impuls, der später in die Zone unfreier Naturhörigkeit verbannt ist, wäre die Idee von Freiheit nicht zu schöpfen“. Auch die Schillersche Verknüpfung von Spiel und Selbstsein ist hier zu erwähnen. Zunehmend wird der Erfahrungsverlust nicht den gegenständlichen Lebensbedingungen, sondern den Medien angelastet. Zuerst hat Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München 1983, darauf hingewiesen. Jean Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod, München 1982, will gleich alle Differenzen und mit ihm das differenzierende Subjekt in der medialen Welt aufgelöst wissen. Dem liegt eine naive Ökonomiekritik zugrunde: Aufgrund der absurden Behauptung, Gebrauchswert und Tauschwert seien nicht mehr unterscheidbar, wird ihm alles zum Tausch und dieser zur medialen Inszenierung, in der Wirklichkeit und Täuschung nicht mehr differieren. Tatsächlich wird kein Tauschwert ohne Gebrauchswert realisiert, werden in der Produktion durch gegenständliche Tätigkeit Gebrauchswerte gebildet, deren Werthaftigkeit sich erst auf dem Markt erweisen muß, werden schließlich Gebrauchswerte, nicht Werte, konsumiert. Die Konkurrenz um die Realisierung von Wert ist an die Menschen als gegenständliche Wesen mit gegenständlichen Bedürfnissen geknüpft und gerade das wendet die moderne Gesellschaft zur Nutzbarmachung der Menschen an. Der Hinweis auf die Vereinnahmung der Subjekte durch Produktionsbedingungen, nicht erst oder gar einzig durch tauschbedingte Faktoren, ist eines der entscheidenden Argumente gegen die postmoderne Subjektliquidation, die selbst elitäre Geste eines überschraubten Intellektualismus ist. Die Menschen sind keine bloßen psychosozialen Geistgebilde, sondern leben unter gegenständlichen Bedingungen, die sie täglich gegenständlich reproduzieren. Weder diese Bedingungen noch die Verfügungsgewalt über sie werden von Fernsehkameras produziert.

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regulierte Selbsterfahrung zu der funktionalen Einheit verkümmert, aus der es ohne schwerwiegenden Anlaß nicht mehr lebendig entspringt.366

4.

Exkurs: Über Schulpädagogik

Kants Überlegungen zur Schulpädagogik scheinen zunächst an den Gedanken der Regulierung des Lebens anzuknüpfen. Vor den positiven Teil der Erziehung, die Unterweisung, tritt der negative, durch den einerseits die Kinder ‚gewartet‘, vom „schädlichen Gebrauch von ihren Kräften“367 abgehalten werden, sodann aber Disziplin und Zucht erfahren: „Disciplin oder Zucht ändert die Thierheit in die Menschheit um. Ein Thier ist schon alles durch seinen Instinct; eine fremde Vernunft hat bereits Alles für dasselbe besorgt. Der Mensch aber braucht eigene Vernunft. Er hat keinen Instinct und muß sich selbst den Plan seines Verhaltens machen. Weil er aber nicht sogleich im Stande ist, dieses zu thun, sondern roh auf die Welt kommt: so müssen es Andere für ihn thun.“368 Dabei geht es ausdrücklich darum, dem Menschen seine ‚Wildheit‘ zu benehmen, die Kant bei den Kulturmenschen, um die es geht, in ihrem ‚Hang zur Freiheit‘ aufbewahrt sieht. Deshalb müssen Kinder möglichst frühzeitig mit dem Zwang menschlicher Gesetze bekannt gemacht, diesen unterworfen werden: „So schickt man z.E. Kinder Anfangs in die Schule, nicht schon in der Absicht, damit sie dort etwas lernen sollen, sondern damit sie sich daran gewöhnen mögen, still zu sitzen und pünktlich das zu beobachten, was ihnen vorgeschrieben wird, damit sie nicht in Zukunft jeden ihrer Einfälle wirklich auch und augenblicklich in Ausübung bringen mögen.“369 Kinder müssen zunächst Bürger werden, weil die bürgerliche Gesellschaft für Kant, allen Widersprüchen zum Trotz, als Bedingung von Freiheit gilt. Allerdings hat Kant seine Vorstellung von der Entfaltung der Humanität bis hin zur allgemeinen Moralität auch in das Erziehungskonzept eingearbeitet. In ausdrücklicher Analogie zur Möglichkeit und Notwendigkeit der Idee eines vollkommenen Staates370 fordert Kant ein Ideal der Erziehung; nach dem der bloße Mechanismus der Erziehung in Wissenschaft zu verwandeln sei: „Ein Princip der Erziehungskunst, das besonders solche Männer, die Pläne zur Erziehung machen, vor Augen haben sollten, ist: Kinder sollen nicht nur dem gegenwärtigen, sondern dem zukünftig möglichen bessern Zustande des menschlichen Geschlechts, das ist: der Idee der Menschheit und deren ganzer Bestimmung angemessen erzogen wer366

367 368 369

370

Helmut Lachenmann zufolge gehört es zum Gehalt avancierter musikalischer Erfahrung, die Erfahrung der „Freiheit des Ungenormten […] als wesentliche Notwendigkeit und Voraussetzung humanen Daseins überhaupt bewußt“ zu machen. Vgl. Zur Frage einer gesellschaftskritischen (-ändernden) Funktion der Musik, in: Musik als existentielle Erfahrung. Schriften 1966-1995, Wiesbaden 1996, 98: Pädagogik, IX 441. Pädagogik, IX 441. Pädagogik, IX 442. Zum Zusammenhang von Disziplin und Moral, mit interessanten Folgerungen zu Rousseau sowie zu Disziplin und Kanon der KrV vgl. Claude Piché, Kants Antwort auf Rousseaus Savoyischen Vikar: Die transzendentale Methodenlehre, in: Volker Gerhardt/Rolf-Peter Horstmann/Ralph Schumacher, Kant und die Berliner Aufklärung, a.a.O., Bd. II. Vgl. Pädagogik, IX 444.

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den. Dieses Princip ist von großer Wichtigkeit. Eltern erziehen gemeiniglich ihre Kinder nur so, daß sie in die gegenwärtige Welt, sei sie auch verderbt, passen. Sie sollten sie aber besser erziehen, damit ein zukünftiger besserer Zustand dadurch hervorgebracht werde. Es finden sich hier aber zwei Hindernisse: 1) Die Eltern nämlich sorgen gemeiniglich nur dafür, daß ihre Kinder gut in der Welt fortkommen, und 2) die Fürsten betrachten ihre Unterthanen nur wie Instrumente zu ihren Absichten. Eltern sorgen für das Haus, Fürsten für den Staat. Beide haben nicht das Weltbeste und die Vollkommenheit, dazu die Menschheit bestimmt ist, und wozu sie auch die Anlage hat, zum Endzwecke. Die Anlage zu einem Erziehungsplane muß aber kosmopolitisch gemacht werden.“371 Gleichwohl bleibt die pragmatische Erfordernis, Menschen nicht bloß „in Ansehung des ganzen menschlichen Geschlechts“, sondern zunächst „als Individuum“ und „zum Bürger“372 zu bilden. Diese unterschiedlichen Bildungsziele, in deren Differenzierung und Konstellation sich die Vorstellung der Erziehung als Verhältnis von Wildheit und Pädagogik spiegelt, führen auf das grundsätzliche Problem, „wie man die Unterwerfung unter den gesetzlichen Zwang mit der Fähigkeit, sich seiner Freiheit zu bedienen, vereinigen könne. Denn Zwang ist nöthig! Wie cultivire ich die Freiheit bei dem Zwange?“373 Kants Antwort auf dieses Dilemma ist ein kurzes aber deutliches Plädoyer für die Experimentalschule: „Erst muß man Experimentalschulen errichten, ehe man Normalschulen errichten kann.“374 Kant versteht darunter die Möglichkeit für einzelne Schulen oder einzelne Lehrer, individuelle Bildungskonzepte in ständiger Rücksprache mit Kollegen und akademischen Fachleuten zu erproben. Zugrunde liegt dabei zweifellos Kants ‚Prinzip der Erziehung‘ – dessen Anwendung, bei allen Vorbehalten gegenüber den offenbar damals schon durch Effizienzerwägungen moralisch verfallenen Akademien375 – eher von akademisch gebildeten Lehrern als von den Verwaltungsjuristen der Ministerien zu erwarten sei. Welche Wege die Experimentalschulen nun auch eröffnen mögen, es werden doch Mittelwege zwischen Ideal und gesellschaftlichen Bedingungen bleiben. So schlägt Kant auch für das Problem der Vereinbarung von Zwang und Freiheit im Bewußtsein der Schüler, abseits vom Ideal, eine pragmatische Lösung vor: „1) daß man das Kind von der ersten Kindheit an in allen Stücken frei sein lasse […], wenn es nur nicht auf die Art geschieht, daß es Anderer Freiheit im Wege ist […]. 2) Muß man ihm zeigen, daß es seine Zwecke nicht anders erreichen könne, als nur dadurch, daß es Andere ihre Zwecke auch erreichen lasse […]. 3) Muß man ihm beweisen, daß man ihm einen Zwang auflegt, der es zum Gebrauche seiner eigenen Freiheit führt, daß man es cultivire, damit es einst frei sein könne, d. h. nicht von der Vorsorge Anderer abhängen dürfe.“376 Der Zwang soll durch Antizipation eines nützlichen Resultats einsichtig gemacht werden, da die Antizipation eines vernünftigen Zieles doch immer zu ihm im Widerspruch 371 372 373 374

375 376

Pädagogik, IX 447f. Pädagogik, IX 455. Pädagogik, IX 453. Pädagogik, IX 451. Kant ist hier inspiriert durch J. B. Basedow. Vgl. Lewis White Beck, Kant on Education, in: Essays on Kant and Hume, New York 1978. Vgl. Pädagogik IX, 449. Pädagogik, IX 454.

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stünde. Dabei gerät Kant auf die Erziehung zur bürgerlichen Disziplin zurück, die das Überleben in der Gesellschaft, wie sie ist, sichert, also zu dem Erziehungsziel der Eltern und der Fürsten, das Kant eben zurückwies. Kants Erziehungskonzept bleibt in dem Widerspruch zwischen Freiheit und Zwang befangen und gerät in Analogie zur grundsätzlichen Dialektik praktischer Vernunft, der Rechtfertigungsaporie: „Denn Einsicht hängt von der Erziehung, und Erziehung hängt wieder von der Einsicht ab.“377 Das individuelle Problem der Menschwerdung ist dem gattungsgeschichtlichen Übergang vom Naturwesen zum Menschen analog: „Es ist schwer, sich eine Entwickelung aus der Roheit zu denken (daher ist auch der Begriff des ersten Menschen so schwer)“378 . Die Ablösung der Menschen vom unmittelbaren Naturzwang – der Prozeß, in dem sie sich von Naturbestandteilen in Wesen umwandeln, die auch gegen die Natur selbständig sind – ist nicht theoretisch zu konstruieren, sondern nur post festum als Einheit von Denken und Handeln zu fassen: Dadurch, daß Menschen Natur zweckmäßig bearbeitet haben, sind sie unmittelbar dem Naturzusammenhang entronnen. Entsprechend können Menschen zu gebildeten Menschen, wie Kant feststellt, durch Einsicht werden, und in dieser Einsicht ist ein praktischer Entschluß enthalten, durch den das Subjekt sich selbst als autonom in Differenz zu seiner Umwelt erkennt. Dies kann nicht anerzogen werden, noch viel weniger kann es erzwungen werden, auch wenn der Zwang, wie Kant hervorhebt, nicht sklavisch sein sollte.379 Erziehung kann den Subjekten allenfalls die Mittel zur Selbsterkenntnis geben, aber weder Moralisierung noch Humanisierung methodisch oder äußerlich ihnen abnötigen, auch nicht durch das, was Kant mit dem Oxymoron ‚moralischer Zwang‘ benennt: „Die erste Epoche bei dem Zöglinge ist die, da er Unterwürfigkeit und einen passiven Gehorsam beweisen muß; die andere, da man ihm schon einen Gebrauch von der Überlegung und seiner Freiheit, doch unter Gesetzen machen läßt. In der ersten ist ein mechanischer, in der andern ein moralischer Zwang.“380 Viel spricht dafür, daß ein so früh und gründlich mechanisiertes Gemüt keinen anderen Gebrauch von seiner Freiheit mehr zu machen weiß als den, der gesellschaftlich von ihm erwartet wird. Das mag nützlich erscheinen, behindert aber durchaus die Bildung freier Humanität. Der Zwang dem Einzelnen gegenüber wird indes für selbstverständlich gehalten, weil das gattungsgeschichtliche Moment des Zwangs unterschlagen wird. Die Distanzierung der Menschen von der bloßen Natur ist von Anfang an vermittelt durch Herrschaft. Die einfache Reproduktion im Naturzusammenhang wird überwunden durch Erzeugung von Mehrprodukt, das nicht der menschlichen Tätigkeit unmittelbar selbst entspringt, sondern der Zwecksetzung einer Herrschaft, die dieses Mehrprodukt anzueignen bezweckt. Die entwickelte Menschheit verfügt aber dadurch zugleich über die rationalen Mittel zur Überwindung der herrschaftlichen Bedingungen der Emanzipation von der Natur, die sich als unverträglich mit der Emanzipation selbst erweisen. Deshalb ist der Zwang in der Bildung ambivalent. 377 378 379

380

Pädagogik, IX 446. Pädagogik, IX 447. Vgl. Pädagogik, IX 471: „Zwangmäßig muß die Erziehung sein, aber sklavisch darf sie deshalb nicht sein.“ Auf dieses Problem weist auch Gernot Koneffke hin: Dennoch: Bildung als Prinzip. Anmerkungen zu einer Diskussion des Bildungsbegriffs, in: Widersprüche 21 (1986). Pädagogik, IX 452.

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Ein Moment von Zwang ist aus der Bildung nicht zu tilgen; man lernt nicht, was man will, sondern was richtig ist. Aber solcher Zwang ist nie moralisch und kann auch nicht als moralischer vorgetäuscht werden. Zwiespältig ist Erziehung endgültig dort, wo der Lehrer tauglich zum gesellschaftlichen Leben machen soll und zugleich selbst erkennt, daß dieses Leben moralisch defizitär ist. Dieser Zwiespalt, der in die Erziehungskonzepte und Methoden eingeht, überträgt sich zwangsläufig auf die beschulten Subjekte, die manches, was ihnen mit Recht widerstrebt, unter dem selben Zwang sich aneignen wie anderes, das mit ihrem humanen Wesen durchaus verträglich ist; später mögen sie dies erkennen, aber als Kinder lernen sie es nur unter Zwang. Die Schule, die darauf nicht reflektiert, bildet dadurch ein Bewußtsein, das beides nicht unterscheiden kann. Dieser Unterschied, der wirklich moralisch wäre, kann nicht selbst unter Zwang gelehrt werden und auch nicht unter Ausnahme vom Zwang, weil sein materieller Gehalt, die Lehrgegenstände, unter Zwang steht. Aus solchen Schulen können bloß zufällig selbstbewußte Subjekte hervorgehen, vorwiegend wohl durch den Kontakt mit einzelnen Lehrerpersönlichkeiten, Außenseitern zumal. Die meisten Schüler halten wie ihre Pädagogen Sittlichkeit und Gewalt für das gleiche, und zwar mit einigem Recht in der Sache. Der ‚Widerstand‘ anderer Subjekte, dem sie, schon in der Schule – als einem Modell von der bürgerlichen Gesellschaft – ausgesetzt sind,381 entfaltet sich konsequent, je weiter das gesellschaftliche Prinzip der Vereinzelung sich gegen ständische und militärische Sitten durchsetzt, zu dem, was ‚Gewalt an Schulen‘ heißt. Die Kinder üben Konkurrenz, Durchsetzungsvermögen, in einem rechtlich geschützten Bereich in Reinkultur. Sie spielen bitterernst den Naturzustand, der eine Projektion des Gesellschaftszustandes ist. Gelingt es der Schule, bestenfalls, dies auf ein Maß zu reduzieren, das mit allen Einzelnen verträglich ist, so erzieht sie eben gute Staatsbürger, aber keine autonomen Persönlichkeiten. Deren Bestimmung, die Bestimmung allein ihrer theoretischen Möglichkeit, ist für Kant nur in der transzendentalphilosophischen Negation aller empirischen Bedingungen durchführbar, unter denen die Personen auch als empirische Moralsubjekte stehen. Die so gewonnene praktische Subjektivität muß sich aber auf ihr Verhältnis zu den Subjekten rechtlicher, politischer und geschichtlicher Praxis befragen lassen, wenn sie nicht bloß als eine systematische Erweiterung der erkenntnistheoretischen transzendentalen Subjektivität gelten soll, sondern eben auch als Bedingung der Möglichkeit empirischer Praxis. Damit steht das Problem der Bildung als geschichtliches Bindeglied zwischen Recht und Moral.

381

Vgl. Pädagogik, IX 454.

III Das autonome Subjekt

1.

Zur Gesetzmäßigkeit praktischer Subjektivität

In den Lehren von Recht, Politik und Geschichte bestimmt Kant das sittliche Handeln der Menschen in der sozial gestalteten Welt. Sollen diese Bestimmungen – so widersprüchlich sie bei Kant hervortreten mögen – auch nur einen Anspruch auf allgemeine Geltung mit sich führen, so ist ihre Möglichkeit durch eine transzendentale Bestimmung praktischer Subjektivität zu begründen. Hier wäre die grundsätzliche Möglichkeit freien Handelns darzulegen. Eben deshalb muß diese Theorie das freie Subjekt aber auch im Verhältnis zur Natur bestimmen, von deren Gesetzmäßigkeit sie es abgrenzt. Eine Theorie menschlichen Handelns nämlich, die nicht Bestandteil der Naturphilosophie wäre, ist nur sinnvoll, wenn die Handlungen nicht mit der Notwendigkeit von Naturprozessen hervorgebracht werden, sondern die Menschen selbst als Subjekte ihrer Handlungen begriffen werden müssen, die es vermögen, sich selbst Zwecke zu setzen. Damit tritt die Besonderheit hinzu, daß diese Subjekte dann Subjekte sind, wenn sie dies selbst von sich wissen. Praktische Subjektivität ist mit Selbstbewußtsein notwendig verbunden.1 Dies geht über das Verfolgen partikularer Zwecke wenigstens dem Vermögen nach hinaus, denn solche können auch ohne explizites Selbstbewußtsein triebhaft verfolgt werden. Es ist vielmehr erforderlich, daß Zwecke nach allgemeinen Regeln gesetzt werden können, so daß Begriffe als Grundlage des Handelns fungieren. Begriffe sind als solche schon keine Naturerscheinungen; praktische Begriffe gehen darüber hinaus auf Nicht-Seiendes, etwas, das erst sein soll. Wenn weder diese Begriffe, noch das Vermögen, aus dem sie stammen, Gegenstände von Erfahrung sein können, so kann es nach Kants Kriterien von ihnen kein begründetes Wissen geben. Kant zweifelt indes nicht am praktischen Vermögen der Vernunft. Wenn es Imperative gibt, muß es den Wesen, für die sie gelten, möglich sein, auch anders zu handeln, als nach jenen Imperativen zu handeln wäre.2 Folgte das Handeln aber ohnehin der Notwendigkeit von 1 2

So auch Klaus Düsing, Subjektivität und Freiheit, a.a.O., 31 und 234. Vgl. KrV, B 575.

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Naturprozessen, dann wären die Imperative inhaltlich eine Tautologie des Naturgesetzes, der Modalität nach aber bloß problematisch. Der logische Ort dieser Regeln ist daher nicht der Verstand, der sich erkennend auf die Natur bezieht, sondern die Vernunft, die ideale Begriffe zu denken vermag, die ein Sollen ausdrücken, an dem das Handeln zu orientieren sei.3 Der Grund dafür, daß der Begriff die von ihm begründete Handlung nicht unmittelbar hervorbringt, liegt darin, daß die Menschen keine reinen intelligiblen Wesen sind, also nicht nur aus Vernunft bestehen, sondern daß sie auch körperliche Wesen sind. Als solche stehen sie durchaus unter dem äußerlichen Einfluß der Natur. Sowenig die Vernunft etwas vorschreiben müßte, dessen Verwirklichung ohnehin naturnotwendig erfolgt, sowenig kann sie etwas vorschreiben, dessen Verwirklichung den Menschen, denen es vorgeschrieben wird, technisch unmöglich ist.4 Ein Vernunftgebot muß unter Naturbedingungen erfüllbar sein. Das bedeutet aber nicht, daß die moralische Gesetzgebung der Vernunft selbst durch Naturbedingungen bestimmt wäre. Dann wäre nämlich nicht erst die Handlung, sondern schon die Willensbestimmung vor der Handlung durch Natur bestimmt. Auf den Willen, das Vermögen sich Zwecke zu setzen, wirken zwar auch äußere Anreize ein, aber sie bestimmen den Willen nicht mit Notwendigkeit. Notwendigkeit wäre nur durch vernünftig begründete Regeln zu erreichen, deren unbedingte Gültigkeit sich in der Vernunftreflexion jedem vernünftigen Wesen erschlösse. Diese Regeln gelten nun zwar auch für reine Vernunftwesen, sind aber als Forderungen tautologische Beschreibungen ihrer Vernunftnatur. Nur für Wesen, die zwar aufgrund ihrer Vernunft vernünftig handeln können, aber aufgrund ihrer Körperlichkeit nicht zwangsläufig auch vernünftig handeln, sind Adressaten solcher Forderungen.5 Ein Wesen, das nicht vernünftig handeln kann, ist nicht frei; eines, das zwangsläufig vernünftig handelt, jedoch ebensowenig. Freiheit birgt die Möglichkeit praktischer Vernunft und mit deren Stringenz auch die Notwendigkeit ihrer Opposition gegen die äußerlichen Zufälligkeiten, die selbst eine Bedingung der Möglichkeit von Freiheit sind: „[Es] gibt die Vernunft nicht demjenigen Grunde, der empirisch gegeben ist, nach, und folgt nicht der Ordnung der Dinge, so wie sie sich in der Erscheinung darstellen, sondern macht sich mit völliger Spontaneität eine eigene Ordnung nach Ideen, in die sie die empirischen Bedingungen hinein paßt, und nach denen sie so gar Handlungen für notwendig erklärt, die doch nicht geschehen sind und vielleicht nicht geschehen werden, von allen aber gleichwohl voraussetzt, daß die Vernunft in Beziehung auf sie Kausalität haben könne“6 . Daß die Vernunft ihre mora3

4 5 6

Vgl. KrV, B 575. Da Tugendhat keinen überindividuellen Vernunftbegriff kennt, ist Moral als Forderung der Vernunft für ihn schlicht „sinnlos“ (Anthropologie statt Metaphysik, München 2007, 49; vgl. 121ff.). Was bleibt, sind empirisch manifeste Sanktionen in den Menschen (Gewissen) oder außer ihnen (Strafe). Ob Intersubjektivität den ‚unaufgebbaren Zusammenhang der Idee vernünftiger Praxis mit der Idee des Selbstbewußtseins‘ begründen kann, bleibt fragwürdig (vgl. schon Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, a.a.O., 48). – Werden Gewissen und Strafe zu den einzigen empirisch zulässigen Repräsentationen von Moral, so droht diese zu der spießbürgerlichen Zwangsanstalt zu werden, für die manche Freigeister sie zu Unrecht immer schon hielten. Vgl. KrV, B 575. Vgl. KpV, V 146f. Vgl. Prolegomena, IV § 53 Anm. KrV, B 575.

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lischen Begriffe widerspruchsfrei über die sinnliche Erfahrung hinaus erweitern kann, hat einen Grund seiner Möglichkeit selbst darin, daß die Subjekte von Moral sinnliche Wesen sind. Die Kausalität der Vernunft auf das Handeln begründet also keine unmittelbare Notwendigkeit, wohl aber Verbindlichkeit durch allgemeine Regeln. Damit kommt dem vernünftigen Handeln zunächst das Merkmal zu, Handeln vernunftbegabter Sinnenwesen, also Handeln von Menschen zu sein; zugleich kommt ihm das Merkmal zu, implizit Handeln mit Bezug auf die Gemeinschaft mit anderen Menschen zu sein, denn die vernünftige Regel begründet unmittelbar die Forderung ihrer Einhaltung durch alle vernunftbegabten Sinnenwesen. Die Geltung der Vernunft um ihrer selbst willen hat Objektivität nur in Beziehung auf die Gattung der vernünftigen Wesen. Die Vorstellung eines substantiell einzelnen vernünftig handelnden Wesens dagegen ist nicht bloß Utopie, sondern sie ist gegenstandslos. Die Vernünftigkeit der Handlung, ihre auch nur potentielle Allgemeinheit, erfüllt sich einzig in der möglichen Beziehung auf andere, letztlich in der Antizipation der gelungenen universalen Beziehung auf andere, der Idee vom genus humanum, das mehr als eine biologische Gattung wäre.7 Dies setzt schon Aristoteles voraus, wenn er annimmt, die Menschen verbinde doch im Unterschied zu den Kühen mehr als das gemeinsame Grasen auf einer Weide.8 Für Aristoteles war es in der praktischen Philosophie darum gegangen, einen emphatischen Begriff von Kollektivität zu gewinnen, ohne doch schon über einen expliziten Subjektbegriff zu verfügen. Die Menschen sollten als Handelnde aufeinander sinnvoll bezogen werden, ohne daß Aristoteles ein adäquates Bewußtsein von der subjektiven Urheberschaft des Handelns gehabt hätte.9 Die Handelnden gehen mit sich über Mittel zu Rate, aber sie wählen nicht frei ihre Zwecke. Diese sind innerhalb eines teleologischen Kosmos bestimmt. So hatte Aristoteles zur Begründung bestimmter Handlungen nicht ‚bloße Begriffe‘ angegeben, die ihren Grund in der Vernunft hatten, sondern zunächst die äußeren Zwecke, auf die diese Handlungen gerichtet waren. Diese teleologische Auffassung des menschlichen Handelns liegt der Ethik prinzipiell noch in den Gestalten zugrunde, an deren Kritik Kant die Moralphilosophie entwickelt. Kant vermag die aristotelische Tradition zu kritisieren, weil er über einen entwickelten Subjektbegriff verfügt, der mit dem Handelnden der metaphysischen Ethik nicht mehr vereinbar ist. Die spekulative Selbständigkeit moderner Subjektivität, die in ihrem Selbstbewußtsein sich darstellende zunächst theoretische Selbstbestimmung verträgt sich nicht mit einem Handlungsbegriff, dessen Grund in Äußerlichem und nicht auch in der Subjektivität selbst liegt.10 Theo7

8 9

10

Noch Robinson beschwört in den sittlichen Handlungen, etwa in der, nicht zu verwahrlosen oder in der, den Feiertag einzuhalten, die menschliche Gemeinschaft, aus der er stammt. Nur in der Erinnerung an seinesgleichen kann er überhaupt menschliches Wesen bleiben. Vgl. Daniel Defoe, Robinson Crusoe, Düsseldorf 2001. Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, a.a.O., 1170b. Vgl. hierzu Andrea Marlen Esser, Eine Ethik für Endliche, a.a.O., 14f. sowie den Teil I, in dem den neueren Ethikentwürfen, die an Aristoteles anknüpfen wollen, die Aporetik dieses Vorgehens nachgewiesen wird, weil die Fragen nach Willensfreiheit oder Verbindlichkeit in diesem Kontext nicht einmal zu stellen seien. Auf dieses Defizit antiker Ethik weist besonders auch Gerold Prauss hin: Kant über Freiheit als Autonomie, Frankfurt am Main 1983, § 3. – Prauss diskutiert außerdem ausführlich die Schwierig-

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retische Selbstbestimmung drängt selbst zur praktischen; dies ist das theorieimmanente Moment des dualistischen Subjektbegriffs, der für Kant aus der Freiheitsproblematik entsteht, denn Selbstbestimmung muß ihrem Begriff nach aufs intelligible Subjekt beschränkt sein, der Handlung nach aber bezieht sie sich aufs empirische. Für Aristoteles also liegt die Bestimmung des Handelns zunächst außerhalb des Handelns in einem zu realisierenden Gut und damit auch außerhalb des handelnden Subjekts. Der Schiffbauer baut nicht ein Schiff, weil er es will, sondern weil er Schiffbauer ist und dies nur sein kann, wenn er Schiffe baut. Daß er sie baut, steht noch unter weiteren äußeren Bedingungen: z. B. daß ein Schiff seinen Zweck im Handel hat, dieser seinen Zweck im Wohlstand usw. Die Vorstellung eines sinnvollen Zweckzusammenhangs in der Welt erlaubt die Beurteilung von Handlungen als gut oder nicht gut, aber er stellt diese Handlungen auch unter Bedingungen, über die das Subjekt nicht verfügt. Die Handlungen haben ihren Wert durch ihre Zweckmäßigkeit für einen mehr oder weniger wertvollen Zweck. Aristoteles hat bemerkt, daß diese Konstruktion eine logische Schwäche aufweist: Eine philosophische Erklärung des Handelns bietet die Zweckordnung nur, wenn sie allgemein gilt; gilt sie aber allgemein, so löst sie sich auf in einen progressus ad infinitum. Deshalb setzt Aristoteles neben den Handlungstyp der poieäsis den der praxis, die selbst Zweck der Handlung sei.11 Sie könne daher die unendliche hierarchische Kette der Güter als oberstes Gut abschließen. Der Begriff des obersten Gutes führt Aristoteles von der Ethik zur Politik. Alle poiätischen Tätigkeiten, die der Mensch ausübt, erhalten ihre Bestimmung von einem Gut, das sie realisieren. Alle diese Güter sind zweckmäßig für das menschliche Leben und deshalb sind sie Güter. Soll in der menschlichen Tätigkeit auch so etwas wie Praxis möglich sein, eine Tätigkeit, die selbst ihr eigener Zweck ist, so setzte dies doch die Sicherung des Überlebens der Menschen voraus. Auf antikem technischem Niveau setzt die Möglichkeit von Praxis zumindest vertikale Arbeitsteilung voraus: Damit überhaupt nur ein Teil der Gesellschaft Praxis üben kann, muß ein anderer Teil die poiätischen Tätigkeiten verrichten. Die Befreiung vom Zwang der Arbeit, die durch die Sklaverei möglich wird, ist die geschichtliche Bedingung aller freien Tätigkeit, vor allem der Wissenschaft.12

11

12

keiten Kants, eine Verbindung von theoretischer und praktischer Selbstbestimmung zu gewinnen (§§ 9-11), so daß „Praktizität und Selbstverhältnis des Menschen einander offenbar äußerlich bleiben“ (125). Zwar weist er die Vorstellung ‚reiner Theorie‘, die mit Praxis nichts zu tun habe, zurück, aber anstatt praktische Bedingungen von Theorie aufzuzeigen, hebt er die Differenz von Erkennen und Handeln in einem weiten Intentionalitätsbegriff auf (§ 15), der zunächst technische Praxis einschließt. Darin meint er die Möglichkeit einer systematischen Ableitung auch moralischer Freiheit begründet zu haben (238). Im Unterschied dazu ist der Ausdruck ‚Praxis‘ bei Kant doch eher auf die mittelbare Handlung bezogen und deshalb näher an dem, was Aristoteles ‚poiäsis‘ nennt. Vgl. Dieter Henrich, Ethik der Autonomie, a.a.O., 11. Vgl. Aristoteles, Metaphysik, a.a.O., 981b: „Als daher schon alles Derartige [Notwendige und Angenehme; M.St.] erworben war, da wurden die Wissenschaften gefunden, die sich weder auf das Angenehme, noch auf die notwendigen Bedürfnisse des Lebens beziehen, und zwar zuerst in den Gegenden, wo man Muße hatte.“

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Die Voraussetzung der kollektiven Einheit menschlichen Handelns für die Möglichkeit von Praxis ist daher von Anfang an auch die Voraussetzung der inneren Spaltung der menschlichen Kollektivität. Daran ist nur unter der antiken Vorstellung der Ungleichheit der Menschen festzuhalten, die zugleich aber eine Diffusion des politischen Zwecks, je nach regionalem und historischem Stand, bewirkt.13 Die Ethik hat damit keinen eindeutigen Maßstab. Aristoteles, der dies bemerkt, begründet es durch eine Besonderheit des Gegenstandsbereichs: Die praktische Philosophie sei aus inhaltlichen Gründen nicht zu derselben Genauigkeit fähig wie die theoretische Philosophie, sondern fasse „die Wahrheit nur grob und umrißhaft“14 . Noch neuere Kommentatoren erklären Ethik aus Prinzip zur ‚Grundrißwissenschaft‘, in der man nicht zu präzisen Resultaten gelangen könne;15 Aristoteles konnte hingegen aus einem objektiven Grund zu solchen Resultaten nicht gelangen: Er verfügte nicht über den Begriff des selbstbewußten und selbstbestimmten Subjekts und die antike Welt wies dieses auch der Sache nach nicht auf.16 So schwanken die Prinzipien von Ethik und Poli13 14 15

16

Vgl. Aristoteles, Politik, a.a.O., 1288a ff., 1279b, 1328a f. Aristoteles, Nikomachische Ethik, a.a.O., 1094 b. So vertritt beispielsweise Otfried Höffe, Praktische Philosophie. Das Modell des Aristoteles, München 1970, es sei eine fortdauernd gültige metaethische Erkenntnis des Aristoteles, daß Ethik eine „Umriß-Rede“ (120) oder „Grundriß-Wissenschaft“ (121) sei. Dies gehe auf die „ethische Fundamentaldifferenz“ (69) zwischen Wissen und Tun zurück. Die Vorstellung vom Grundriß scheint auf das zurückzugehen, was schon bei Hans-Georg Gadamer „Umriß“ heißt. (Wahrheit und Methode, in: Gesammelte Werke, Bd. 1, Tübingen 1986, 318). Die Argumentation findet sich im Kern unverändert bis zu Otfried Höffe, Lebenskunst und Moral, München 2007. Diese Vorstellungen haben ihren Grund in der affirmativen Auffassung der disziplinären Trennung von Metaphysik und Ethik. Dazu vgl. Otfried Höffe, Die Nikomachische Ethik, Berlin 1995, 16; Helmut Flashar, Die Kritik der Platonischen Ideenlehre in der Ethik des Aristoteles, in: Synusia, Pfullingen 1965, 237; Dieter Henrich, Der Begriff der sittlichen Einsicht und Kants Lehre vom Faktum der Vernunft, in: Ders. (Hg.) Die Gegenwart der Griechen im neueren Denken, Tübingen 1960, 82. – Olof Gigon, Probleme antiker philosophischer Ethik, in: Die Antike Philosophie als Maßstab und Realität, Zürich 1977, 90, ist immerhin der Auffassung, daß Aristoteles hinsichtlich der Teleologie „Ethik und Ontologie bzw. Physik aufs engste miteinander verknüpft“, wenngleich ihm Kritik der Teleologie als „verkrampftes Mißtrauen“ gilt. Für eine detaillierte Untersuchung des Verhältnisses von Politik, Ontologie und Teleologie vgl. Manfred Riedel, Metaphysik und Politik bei Aristoteles, in: Philosophisches Jahrbuch 77 (1970). Die Trennung von Metaphysik und Ethik beruht bei Aristoteles darauf, daß ihm die notwendigen Begriffe, vor allem die modernen Freiheits- und Subjektbegriffe nicht zur Verfügung stehen. Vgl. Michael Städtler, Die Freiheit der Reflexion, a.a.O., 220-238 (Ethik ohne Wille). Die Differenz von Ethik und Wissenschaft hat daher einen historischen Grund im Gegenstand, der in der Moderne sachlich hinfällig geworden ist. Jürgen Habermas hingegen diagnostiziert die ‚Auflösung eines Geltungssyndroms‘ allgemeiner philosophischer Urteile gerade durch die moderne „Entstehung von Expertenkulturen für Wissenschaft, Moral und Recht“ (Nachmetaphysisches Denken, a.a.O., 25). „Kants drei ‚Kritiken‘ sind bereits eine Reaktion auf eine Verselbständigung verschiedener Rationalitätskomplexe.“ (ebda.) Tatsächlich geht es Kant um die grundsätzliche Reflexion der Möglichkeit notwendig und allgemein gültiger Urteile auf allen Gebieten menschlicher Erkenntnis, und zwar auf dem wissenschaftlichen Niveau dieser Erkenntnisse selbst. Für Habermas, der diesen Zusammenhang aufgelöst sieht, wird die „Förderung der totalitätsbezogenen Selbstverständigungsprozesse einer Lebenswelt, die zugleich vor der Überfremdung durch die objektivierenden, moralisierenden und ästhetisierenden Durchgriffe der Expertenkulturen bewahrt

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tik bei Aristoteles zwischen bloßer Konvention und Naturnotwendigkeit. Freiheit kommt als Prinzip nicht in Betracht, da Freiheit selbst nicht als prinzipiell menschliche Eigenschaft gedacht wird, sondern als Resultat politischer Herrschaft. Frei vom Naturzwang waren die, die Herrschaft über Sklaven organisieren konnten, und freie Bürger waren die, die sich nicht von anderen hatten unterwerfen lassen. Dadurch ist antike Freiheit immer relational und negativ. Allerdings stellt die Ungenauigkeit in der praktischen Philosophie Aristoteles vor die Wahl, entweder auf eine weitere Theorie der Ethik ganz zu verzichten, oder hinter die für ungenau erachteten Gegenstände zurückzugehen und Bedingungen von Ethik aufzusuchen, die vielleicht abstrakt aber unhintergehbar sind. Vor dieser Alternative erweist sich die Definition des obersten Gutes als Glück unzureichend; die Vorstellung des Glücks unterliegt kulturellen und individuellen Unterschieden. – Das Individuum, das Aristoteles als Exemplar kennt, die Tragödie darüber hinaus als Charakter, ist nicht schon Subjekt. Auch die konfligierenden Handlungsmotive, die an Individuen dargestellt werden, gelten erst als objektiv vorgezeichnete.17 Aristoteles sucht deshalb nach einer Eigenschaft, in der alle Menschen notwendig als Menschen übereinstimmen, und findet sie in der Entelechie des menschlichen Vernunftvermögens. Diese setzt, wie gezeigt, die gesellschaftlich arbeitsteilig organisierte Reproduktion der Menschen voraus, mithin ein kollektives Handeln, das seinerseits ein funktionsfähiges Kollektiv voraussetzt. Wie ist nun aber das dafür notwendige Handeln bestimmbar? Aristoteles versucht, das richtige Handeln, die Tugend, zu messen und als Mitte der Extreme zu bestimmen. Damit haben die ethischen Tugenden ihren Maßstab aber nicht in sich selbst, sondern unausgesprochen in ihrer Funktionalität für das Gemeinschaftsleben. Da die gesamte Argumentation, die zum Mittleren führte, pragmatisch war, kann Aristoteles kein systematisches Argument zu dessen Ermittlung angeben. Es sei lediglich durch konsequente Erziehung eine gewisse Treffsicherheit der Entscheidung zu trainieren. Damit wird das richtige Handeln zusätzlich dem Handelnden entzogen und autoritärer Erziehung anheimgestellt. Da es aber Handlungen gibt, die nicht bloß als Extreme, sondern überhaupt schlecht sind, fehlt zudem ein Maßstab der Unterscheidung solcher Handlungstypen; man muß sie kennen. Auch hier gilt also autoritäre Erziehung als Grundlage sittlicher Kompetenz; das Verhältnis von anerzogenem sittlichem Verhalten und vernünftiger Einsicht in dessen Richtigkeit ist aber zufällig: Wohl kann man einsehen, was man anerzogen bekam, – aber man kann auch gehorchen, ohne zu begreifen, warum man gehorchen soll. Damit erweist sich diese bis in die Neuzeit, und heute eigentümlicherweise wieder, als grundlegend geltende Begründung von Ethik für Kant als philosophisch unzulänglich.

17

werden muß“ (26), zur Aufgabe der Philosophie, die nunmehr die Menschen vor wissenschaftlichen Erkenntnissen geradezu schützen soll. Philosophie wird tendentiell zur Nebelmaschine der Weltanschauung. Vgl. Joachim Ritter, Zur Grundlegung der praktischen Philosophie bei Aristoteles, in: Archiv für Rechts- und Staatsphilosophie 46, Neuwied 1960, 186: „Aber es ist offensichtlich, daß hier alle modernen Auffassungen des Ethischen beiseite bleiben müssen, und daß dies nichts mit „Subjektivität“ und nichts mit Ursprung des Sittlichen aus einem in sich guten Willen […] zu tun hat.“

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Um diese Unzulänglichkeit zu vermeiden, will Kant nun den Begriff des Guten so fassen, daß er nicht das Subjekt auf einen ihm äußerlichen Zweck hinordnet, sondern vielmehr das Subjekt zur Identität mit sich selbst anhält, aus der heraus das Subjekt sich selbst zum Selbstzweck erhebt: „Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille.“18 Den Aristotelischen Vorbehalt, demzufolge alle Güter nur unter der Bedingung des obersten Gutes sinnvoll angestrebt werden können, radikalisiert Kant. Nichts ist überhaupt an sich ein Gut. Jede persönliche Begabung oder Fähigkeit, Bildung oder Mentalität kann ebenso schlecht wie gut sein. Mit Klugheit und Zielstrebigkeit werden die abscheulichsten Verbrechen begangen. Ebenso können materielle Güter, die zunächst die Lebensnot mildern, sodann zu verwerflichen Zwecken eingesetzt werden. Die von Aristoteles schon festgestellte Partikularität der äußeren Güter, die keine exakte Ethik zulasse, wendet Kant gegen diese Güter selbst. Sie werden aus der eigentlich ethischen Betrachtung entfernt. Diese aber wird auf das Subjekt konzentriert, das als moralisches auf seinen Willen als solchen reflektiert, – noch vor jeder Beziehung auf Gegenstände des Willens. So bleibt der gute Wille als einzige Bestimmung des Subjekts, die nicht zu Bösem verwendet werden kann, sondern seiner allgemeinen Form nach das Böse aus sich ausschließt, nicht mit diesem kompatibel ist, ohne die Identität des moralischen Subjekts – das moralische Selbstbewußtsein – aufzuheben. Der Widerspruch der allgemeinen praktischen Reflexion mit den partikularen Bedingungen möglicher Praxis bestimmt das moralische Subjekt und weist ihm seinen Ort an. Dieser Ort ist bloße Möglichkeit, die aber zur Wirklichkeit drängt, und zwar umso dringender, je weniger die vorgefundene Wirklichkeit der Möglichkeit von Moral Raum läßt. In dieser Unruhe erschließt sich die spezifisch praktische Bedeutung von Praxis als Nötigung zur Freiheit. Für Kant selbst hängt der nötigende Charakter des moralischen Gesetzes dagegen eng mit dessen Unmittelbarkeit zusammen: Das Sittengesetz kann nicht Resultat eines rationalen Prozesses im Subjekt sein, denn es soll unmittelbar und unbedingt gelten. Damit wird Freiheit zugleich als Unbedingtheit begründet und als durchs Subjekt Unvermitteltes aufgehoben. Das Subjekt findet sie nicht allein in sich unmittelbar vor, sondern auch sich selbst ihr unmittelbar, ohne daß es Ergebnis einer begründeten Einsicht wäre, unterstellt. Zu fragen, woher es stamme, gilt schon als Blasphemie, in formeller Analogie zum Öffentlichen Recht, wo es als Frevel galt, die Gültigkeit der je positiven Ordnung, welche es auch sei, zu hinterfragen.19 In Kants Vorstellung moralischer Nötigung20 koinzidieren die Notwendigmachung der an sich zufälligen Willkür durch vernünftig selbstbestimmte, freie Zwecksetzung und der Zwang, als der dem Individuum unter unvernünftigen Bedingungen die Normierung seiner Willkür erscheinen muß. Kants Begriff des ‚Selbstzwangs‘ hat die Potenz vernünftiger Einsicht; solange aber deren äußere Bedingungen ihrem Gehalt widersprechen, ist er pathologisch.

18 19 20

GMS, IV 393. Vgl. MdS RL, Allgemeine Anmerkung A zum Staatsrecht. Vgl. KpV, V 32.

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Kants Schluß vom allgemeinen Bewußtsein – das heißt hier: common sense – von Moral auf Freiheit ignoriert zudem, daß vernünftige Willensbestimmung aus Freiheit, zumal in einer gesellschaftlich organisierten Welt, ein hohes Maß an spekulativer Reflexion und wissenschaftlichen Kenntnissen voraussetzt und keineswegs mit dem vulgären Moralbewußtsein identisch ist.21 Wäre aber Freiheit selbst ihrem Begriff nach konfundiert mit Heteronomie, so bliebe sie doch als praktische Vernunft notwendige formale Bedingung nicht-naturkausalen Handelns. Allerdings hätte jene Konfusion in der Freiheit erhebliche Auswirkungen hinsichtlich der von Kant ebenfalls bloß problematisierten Gleichung von Freiheit, Gesetz und Selbstbewußtsein: „Freiheit und unbedingtes praktisches Gesetz weisen also wechselsweise auf einander zurück. Ich frage hier nun nicht: ob sie auch in der That verschieden seien, und nicht vielmehr ein unbedingtes Gesetz blos das Selbstbewußtsein einer reinen praktischen Vernunft, diese aber ganz einerlei mit dem positiven Begriffe der Freiheit sei“22 . Wohl mit Grund geht Kant dem Problem nicht nach, ob diese identisch sind oder als Verschiedene aufeinander verweisen. Wenn Freiheit zwar Bedingung des Gesetzes wäre, dieses Gesetz aber nicht unverkürzter Ausdruck von Freiheit, so wäre das Selbstbewußtsein praktischer Vernunft zerrüttet. Die Faktizität ihres Gesetzes verwiese zwingend auf einen formalen Geltungsgrund in der praktischen Vernunft, ohne den kein Gesetz möglich oder nötig wäre, aber dieser Geltungsgrund befände sich inhaltlich im Widerspruch mit dem faktischen Gesetz, jedenfalls soweit seine Geltung auch heteronome Gründe aufwiese. Kant beschränkt sich auf den formalen Aspekt des Ausgangspunkts praktischer Erkenntnis. Dies kann nicht die Freiheit sein, weil sie, als Negation von Heteronomie, nicht erfahrbar ist. Es kann nur vom moralischen Gesetz aus auf Freiheit geschlossen werden, wenn das Gesetz als gegebenes unmittelbar gewußt wird.23 Dann aber erscheint Freiheit formalisiert als Bedingung der Möglichkeit eines bloß Faktischen. Die Frage nach der Möglichkeit der Willensbestimmung aus reiner Vernunft will Kant deutlich von der nach der Möglichkeit von Erkenntnis aus reiner Vernunft unterscheiden, da diese stets zu einem Teil durch Erfahrung bestimmt sei, jene aber aufgrund ihres unbedingten Geltungsanspruchs an der Erfahrung keine Grenze haben könne.24 Nun kann wohl das moralische Gesetz nicht durch wirkliche Erfahrung begrenzt sein, denn sonst unterschiede sich das, was sein soll, nicht eminent von dem, was ist. Kants Konstruktion der bedingungslosen Geltung von Moral trennt diese aber ihrem Begriff nach noch von der möglichen Erfahrung ab. Die unbeschränkte, umfassende Realität vernünftiger Zwecksetzung, das Reich der Zwecke, läßt sich demnach nur am spekulativen Modell „einer möglichen, gar nicht empirisch erkennbaren Naturordnung […] einer 21

22 23 24

Vgl. KpV, V 10: „Ich besorge in Ansehung dieser Abhandlung nichts von dem Vorwurfe, eine neue Sprache einführen zu wollen, weil die Erkenntnißart sich hier von selbst der Popularität nähert.“ Vgl. auch KpV, V 35. KpV, V 29. Vgl. KpV, V 29f. Johannes Rohbeck, Technologische Urteilskraft, a.a.O., 83, stellt fest, Kant habe „die Ansicht, den kategorischen Imperativ nicht auf menschliche Handlungen zu beziehen, sondern allein auf Bestimmungen des Willens einzuschränken“. Genauer wäre zu sagen, daß Kant durch sein Konzept der Autonomie genötigt wird, so zu verfahren; seine Absicht geht wohl aufs Handeln, läßt sich aber theoretisch nicht widerspruchsfrei durchführen.

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intelligibelen Welt“25 konstruieren, deren Möglichkeit keiner Anschauung bedürfte; mit der Lösung der Willensbestimmung von allen empirischen Bedingungen steht aber auch dahin, ob sie je einer Erfahrung fähig sei: „Nur auf die Willensbestimmung und den Bestimmungsgrund der Maxime desselben, als eines freien Willens, kommt es hier an, nicht auf den Erfolg.“26 Auf die Möglichkeit der Objekte des Willens bezieht sich rein spekulativ die theoretische Vernunft, die praktische hingegen nur auf die praktische Notwendigkeit, den Willen frei, also gerade unter Absehung von Objekten, zu bestimmen. Die formale Gesetzmäßigkeit des Willens ist dann von dem allgemeinen Begriff der Freiheit nicht unterschieden: In der Gesetzmäßigkeit kann reine Vernunft nur auf sich selbst bezogen sein, da sie allein mögliche Urheberin von Gesetzen ist. Das Bewußtsein der Freiheit und das des Gesetzes sind dann identisch.27 Gegen den Vorwurf, beide seien nur daher einerlei, weil sie gleich leere Formen darstellten, will Kant sich durch den Plural ‚der moralischen Gesetze‘ versichern, deren Bewußtsein aus der ‚Wirklichkeit‘, also doch wohl aus der Erfahrung stamme. Das Sittengesetz sei dann als begriffliche Reduktion jener Gesetze zu verstehen, in der diese, der Bedingtheit des Anschaulichen entkleidet, zu sich selbst gebracht würden. Daß Kant in der Identifikation von Freiheit und Moral trotz deren ideeller Konstruktion nicht auf ein Erfahrungsmoment verzichten will, trägt ihm das Problem ein, daß das moralische Gesetz in seiner rationalen Faktizität auch ein Moment von Faktizität der herrschenden Vorstellungen und Bedingungen transportiert; die Behauptung der Selbständigkeit gegen alle Bedingtheit, Heteronomie, bleibt von den Bedingungen, gegen die sie sich wenden muß, nicht unbeeinflußt.28 Zudem sind nicht bloß Freiheit und Gesetz identisch. Kant differenziert ebenso wenig spezifisch zwischen dem Gesetz und dem Bewußtsein des Gesetzes. Beides sei gleichermaßen Faktizität reiner Vernunft: „Man kann das Bewußtsein dieses Grundgesetzes ein Factum der Vernunft nennen, weil man es nicht aus vorhergehenden Datis der Vernunft, z. B. dem Bewußtsein der Freiheit […], herausvernünfteln kann, sondern weil es sich für sich selbst uns aufdringt als synthetischer Satz a priori […]. Doch muß man, um dieses Gesetz ohne Mißdeutung als gegeben anzusehen, wohl bemerken: daß es kein empirisches, sondern das einzige Factum der reinen Vernunft sei, die sich dadurch als ursprünglich gesetzgebend […] ankündigt.“29 Nun bedarf die Bildung des Bewußtseins vom moralischen Gesetz zufälliger Bedingungen, selbst wenn dieses selbst „längst in aller Menschen Vernunft gewesen und ih25 26 27

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KpV, V 45. KpV, V 45. Vgl. KpV, V 46: „Wie nun dieses Bewußtsein der moralischen Gesetze, oder, welches einerlei ist, das der Freiheit, möglich sei, läßt sich nicht weiter erklären“. Daß „Ethik und Praxis getrennt werden“ (Johannes Rohbeck, Technologische Urteilskraft, a.a.O., 83), erscheint dann auch als Reflex dessen, daß sie real getrennt sind. Deshalb steht „Kants Theorie der Willensbildung“ auch nicht einfach im „Horizont selbstgenügsamer Subjektivität“ (ebda., 86), denn ‚Selbstgenügsamkeit‘ meint ein positives Konzept, wogegen Kants Subjektivitätsbegriff negativ ist, Resultat des Versuches, Identität gegen äußerliche Nichtidentität festzuhalten. – Henrich hält fest, daß das sittliche Bewußtsein sich nicht mit dem Moralgesetz identifizieren könne, obwohl es Ausdruck der Vernunft sei: Es bestimme den Willen „in ihm und doch von außen“ (Dieter Henrich, Ethik der Autonomie, a.a.O., 49). KpV, V 31; meine Kursivierungen.

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rem Wesen einverleibt“30 sein sollte, denn das ursprünglich mit der Vernunft gegebene Gesetz kann nur das formale Vermögen der Gesetzmäßigkeit selbst sein, von dem es überhaupt kein faktisches Bewußtsein geben kann, da es inhaltslos ist. Gegeben sein, faktisch sein, kann es nur als durch bestimmte Erscheinungsformen vermitteltes, gegen die das reine Vermögen der Gesetzmäßigkeit dann als deren begriffliche Substanz abgegrenzt werden kann. So ist bei Kant der bestimmten Erkenntnis der absoluten Kausalität zumindest noch der Umweg über die empirische Seite der Menschen immanent.31 Unbedingte Kausalität und Gesetz verweisen wohl aufeinander, aber sie sind schon ihrer logischen Form nach nicht miteinander und nicht mit Freiheit umstandslos identisch, denn die erste ist Freiheit im negativen Sinn, das zweite aber Freiheit im positiven Sinn. Beide Bedeutungen verschränken sich erst in den vernunftbegabten Sinnenwesen, deren Vernunftvermögen durch doppelte Negation – die Abwehr selbst schon negativer Beschränkungen – sich als selbstgesetzgebend erkennt und dadurch erst ein Bewußtsein von Freiheit bildet. Das Bewußtsein moralischer Gesetze, die als faktisch aufgefaßt werden, ist zumindest heterogen; in der Form seiner Unmittelbarkeit enthält es auch ein heteronomes Moment. Daß absolute Gesetzmäßigkeit im formalen Ausdruck mit Selbstbestimmung kongruiert, ist erst das Ergebnis einer anspruchsvollen Reflexion,32 deren Gehalt nicht im mindesten im unmittelbaren Bewußtsein von Gesetzen anwesend ist: Die unbedingte Gültigkeit, die keiner weiteren Nachforschung und Erklärung mehr zugänglich ist, ist eben nicht selbst faktisch gegeben, sondern als Resultat von den Bedingungen abhängig, aus denen sie erschlossen wurde. Zudem bleibt das Resultat der Reflexion deshalb problematisch, weil das Bewußtsein der reinen Kausalität Resultat der Abstraktion von ihr unangemessenen Bedingungen ist. So ist es gegen diese Bedingungen formal polemisch, material jedoch gleichgültig: „Auch ist das moralische Gesetz gleichsam als ein Factum der reinen Vernunft, dessen wir uns a priori bewußt sind und welches apodiktisch gewiß ist, gegeben, gesetzt daß man auch in der Erfahrung kein Beispiel, da es genau befolgt wäre, auftreiben könnte.“33 Richtig bleibt daran, daß in jeder – wie immer auch mißratenden – Praxis von Vernunft die Freiheit eine faktische Erscheinung hat; das Subjekt dieser Faktizität, ihr realer Ort, bleibt indes unbestimmbar, denn es „erhält nun zugleich die befremdliche, obzwar unstreitige, Behauptung der spekulativen Kritik, daß sogar das denkende Subjekt ihm selbst in der inneren Anschauung bloß Erscheinung sei, in der Kritik der praktischen Ver-

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KpV, V 105. Vgl. KpV, V 105. Vgl. KpV, V 155: „[I]n der gemeinen Menschenvernunft ist sie [die Frage nach der reinen Sittlichkeit], zwar nicht durch abgezogene allgemeine Formeln, aber doch durch den gewöhnlichen Gebrauch, gleichsam als der Unterschied zwischen der rechten und linken Hand, längst entschieden“. Die Philosophen allein brächten erst Verwirrung in diese Frage. Dagegen heißt es KpV, V 162f., daß der Gebrauch der praktischen Vernunft „nicht so wie der Gebrauch der Füße sich von selbst vermittelst der öftern Ausübung findet, vornehmlich wenn er Eigenschaften betrifft, die sich nicht so unmittelbar in der gemeinen Erfahrung darstellen lassen“ und KpV, V 163: „Wissenschaft (kritisch gesucht und methodisch eingeleitet) ist die enge Pforte, die zur Weisheitslehre führt“. KpV, V 47.

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nunft auch ihre volle Bestätigung“34 . Die Koordination nämlich von Sittengesetz und Naturkausalität „in einem und demselben Subjecte, dem Menschen […] ist unmöglich, ohne diesen in Beziehung auf das erstere als Wesen an sich selbst, auf das zweite aber als Erscheinung […] vorzustellen.“35 Indem Kant das Subjekt insgesamt, auch sofern es ‚Subjekt des Denkens‘ ist, als Erscheinung auffaßt, spaltet er das Subjekt, statt es zu vermitteln. Wenn auch das denkende Subjekt sich selbst ‚bloß Erscheinung sei‘, kann es unmöglich als Erscheinung sich selbst als Erscheinung erscheinen, denn dem Erscheinenden muß ein Ding an sich zugrunde liegen. Das denkende Subjekt ist somit als Subjekt, dem erscheint, intelligibel, als Subjekt, das erscheint, aber empirisch. Das empirische Subjekt aber, das als körperliches ein Objekt von Naturkausalität ist, ist hier gar nicht mehr vorhanden. Damit wird einerseits der empirische Charakter bis ins denkende Subjekt hinein verlängert, andererseits wird der intelligible Charakter, der Ort des Sittengesetzes, dem bestimmten Selbstbewußtsein des Subjekts völlig entzogen, denn dieses ist immer an die Erfahrung seiner selbst im inneren Sinn gebunden und schon empirisch. Das reine Selbstbewußtsein aber, Quell der Selbstbestimmung, ist leere Spontaneität. Die Notwendigkeit dieser Spaltung des Subjekts als Bedingung seiner Vermittlung reflektiert indes Bedingungen, unter denen die empirischen Handlungen notwendig vom intelligiblen Sittengesetz abweichen. Warum sollte die moralische Allgemeinheit des Sittengesetzes per se nicht in realer Allgemeinheit der Menschheit erscheinen können, so daß die Menschheit in der eigenen Person jedes einzelnen Menschen mit der Menschheit aller anderen praktisch widerspruchsfrei vereinbar wäre? Die empirischen Handlungen wären dann ebensowenig bloße Naturkausalität wie das Sittengesetz absentiertes ‚Wesen an sich selbst‘. Weil dem aber real nicht so ist, trifft Kants Dichotomie zu. Die Subjekte sind zerrissen zwischen absolutem Handlungsvermögen und äußerer Handlungsunfähigkeit.36 Deshalb gereicht den menschlichen Subjekten ihr theoretisches Vermögen, ihr logisches Selbstbewußtsein, auch nicht zum Übergang in Selbstbestimmung. Wie noch zu zeigen ist, gelingt Erkenntnistheorie, die Begründung der Möglichkeit allgemeiner und 34

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KpV, V 6. Vgl. Kosmas Psychopedis, Untersuchungen zur politischen Theorie von Imanuel Kant, a.a.O., 128: Kant „fragt nach den Bedingungen des Lebens und Handelns der Bürger einer formalistischen Kulturgemeinschaft, […] in der die Menschen sich als einzelne gegenübertreten. […] Mag Kant auch dabei als bürgerlicher Denker den Standpunkt der Vereinzelung selbst hypostasiert, die sozialökonomischen Bedingungen einer freien Gemeinschaft nicht untersucht haben, so bleibt jedoch seine Frage auch heute für die Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft verbindlich: Sie besagt, daß sie sich nicht der persönlichen politischen Verantwortung unter Berufung auf die Faktizität des außer ihnen stehenden Zusammenhangs von Gesellschaft und Politik entziehen dürfen.“ Dies besagt sie allerdings in der dem Gegenstand entsprechenden aporetischen Gestalt. KpV, V 6 Anm. Vgl. G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, a.a.O., 215: „Das Bewußtsein hat hiemit allen Gegensatz und alle Bedingung seines Tuns abgeworfen; es geht frisch von sich aus, und nicht auf ein anderes, sondern auf sich selbst. […] Das Tun hat daher das Ansehen der Bewegung eines Kreises, welcher frei im Leeren sich in sich selbst bewegt, ungehindert bald sich erweitert, bald verengert, und vollkommen zufrieden nur in und mit sich selbst spielt. […] Das Tun verändert nichts und geht gegen nichts“. Vgl. auch Johannes Rohbeck, Technologische Urteilskraft, a.a.O., 80: „Das Dilemma liegt indessen noch tiefer, weil nicht einzusehen ist, wie eine praktische Vernunft, die unabhängig vom Handeln konzipiert wird, überhaupt praktisch werden kann.“

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notwendiger Urteile, nur durch den Begriff eines Subjekts, dessen Selbstbewußtsein von allen äußeren Bedingungen abstrahierte. Daß unter den bloßen Erkenntnisbedingungen gleichwohl in der Dritten Antinomie der reinen Vernunft die Annahme subjektiver Freiheit sich aufdrängt, veranlaßt die reine Vernunft zur Selbstbeschränkung. Die praktische ist aber Kant zufolge auch keine Erweiterung der spekulativen, sondern sie erschließt Freiheit, „ohne mit der speculativen Verabredung getroffen zu haben“37 . Darin, daß Freiheit nur gegen die Einheit des vernünftigen Selbstbewußtseins, die Kant durchaus reklamiert,38 zu denken ist, erscheinen ihre heteronomen Bestimmungsmomente. Diese Momente ordnet Kant jedoch der Psychologie zu, in deren Zuständigkeitsbereich das Begehrungsvermögen falle, die Fähigkeit, „durch seine Vorstellungen Ursache von der Wirklichkeit der Gegenstände dieser Vorstellungen zu sein“39 . Offen läßt Kant das Verhältnis zur Lust, der „Vorstellung der Übereinstimmung des Gegenstandes oder der Handlung mit den subjectiven Bedingungen des Lebens, d. i. mit dem Vermögen der Causalität einer Vorstellung in Ansehung der Wirklichkeit ihres Objects (oder der Bestimmung der Kräfte des Subjects zur Handlung es hervorzubringen)“40 ; dies erscheint als irrelevant, weil auch die mangelnde Übereinstimmung von Realisierungskraft und Begehrungsvermögen dessen Objektivität als solcher keinen Eintrag tut, denn auch das unerfüllte, leere Begehren soll, einer Ergänzung zur Rechtslehre zufolge unmittelbar ein Objekt realisieren, nämlich seelische Krankheit.41 Die moralische Objektivität des leeren Begehrens erscheint auch in der lapidaren Parenthese zur Realisierungsfunktion des Willens: „das physische Vermögen mag nun hinreichend sein, oder nicht“42 . Daß das Begehrungsvermögen auf die objektive Realität seines Gegenstands wirke, zeige sich einer 37 38

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KpV, V 6. Vgl. GMS, IV 391: „[T]heils erfordere ich zur Kritik einer reinen praktischen Vernunft, daß, wenn sie vollendet sein soll, ihre Einheit mit der speculativen in einem gemeinschaftlichen Princip zugleich müsse dargestellt werden können, weil es doch am Ende nur eine und dieselbe Vernunft sein kann, die bloß in der Anwendung unterschieden sein muß“; ebenso KpV, V 121: „[S]o ist es doch immer nur eine und dieselbe Vernunft, die, es sei in theoretischer oder praktischer Absicht, nach Principien a priori urtheilt“. Im folgenden ordnet Kant die spekulative Vernunft der praktischen unter, weil alles spekulative Interesse zuletzt auch praktisch sei. Die moralische Gestaltung des Technisch-praktischen faßt er aber dennoch nicht als moralischen Zweck. – So auch Herbert Schnädelbach, Vernunft, a.a.O., 121: Bei Kant seien die Differenzen wichtig, aber „auch hier fallen sie sämtlich in den Bereich der Vernunft im allgemeinen Wortsinn“. Der kausale Anschluß des folgenden erscheint kryptisch: „Die moderne Kontextualisierung der Vernunft führte somit [!] zu ihrer Pluralisierung, der gegenüber die Behauptung, es handele sich dabei um ein und dasselbe, wenn auch in verschiedenem Gebrauch, bloß eine leere Versicherung sein konnte.“ Vorher hieß es, daß die exklusive Rede von der Kontextualisierung der Vernunft deren klassische Einheit als unhaltbar zu erweisen drohte. Aber die Rede produziert ja nicht die Vernunft, sondern setzt sie voraus, und zwar, wenn sie nur etwas bezeichnen soll, als einheitliche. KpV, V 9 Anm. „Damit stehen sich ein empirischer Teil, zu dem Anthropologie und Psychologie gehören, und ein rationaler Teil, der allein Moral heißen darf, unversöhnlich gegenüber.“ (Johannes Rohbeck, Technologische Urteilskraft, a.a.O., 84). KpV, V 9. Vgl. MdS RL, VI 356. Kant nimmt dies nicht bloß in Kauf, sondern bejaht es mit Nachdruck, wo er behauptet, daß Sittlichkeit „sich im Leiden am herrlichsten zeigt“ (KpV, V 156). KpV, V 15.

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weiteren Anmerkung zufolge gerade im Scheitern: „Aber selbst die Wirkung, welche solche leere Begierden und Sehnsuchten, die das Herz ausdehnen und welk machen, aufs Gemüt haben, das Schmachten desselben durch Erschöpfung seiner Kräfte, beweisen gnugsam, daß diese in der Tat wiederholentlich durch Vorstellungen angespannt werden, um ihr Objekt wirklich zu machen, aber ebensooft das Gemüt in das Bewußtsein seines Unvermögens zurücksinken lassen.“43 Die Naturabsicht darin ist weise, „[d]enn gemeiniglich lernen wir unsere Kräfte nur kennen, dadurch daß wir sie versuchen.“44 Was Kant abstrakt oder rein technisch als Fortschrittsmotiv interpretiert, wird in ebenso reiner moralischer Hinsicht den Subjekten zur Katastrophe. Weil Kant, um die Moralität ‚rein zu haben‘, das Verhältnis von Moralität und der Beschädigung der psychischen Konstitution der Handelnden nicht berücksichtigen kann, werden die Subjekte den Kräften ihrer Beschädigung dargeboten.45 Vielen von Kants Beispielen liegt das zugrunde, vom Depositenbesitzer, dessen Rückgabepflicht nur rein erscheint, weil sie den Untergang einer ganzen Familie einschließt, über den durch Mörder Bedrohten, der um des Lügenverbots willen auszuliefern sei, bis zum Geheimnisträger, der auch durch den drohenden Galgen nicht zum Verräter werden soll; der Selbstmordkandidat, der unter unerträglichen Bedingungen weiterleben soll, ist nur das Negativ zu den übrigen Beispielen.46 Keineswegs ist denjenigen, die aus sittlicher Überzeugung ihr Leben zu opfern bereit waren, die Achtung zu versagen; es ist aber eine Moralphilosophie, die solche Opfer als paradigmatische Beispiele enthält, vor allem auch als Ausdruck zutiefst unmenschlicher Lebensbedingungen zu rezipieren. Praktische Philosophie, die diese Bedingungen nicht reflektiert, wandelt sich im Kern zu deren Kontemplation.47 Kants praktischer Freiheitsbegriff bleibt nun von seinen Bedingungen ebenso isoliert wie vom Selbstbewußtsein reiner Vernunft. Die Darstellung praktischer Vernunft folgt der der reinen zwar zunächst in der Anordnung des Materials,48 aber umgekehrt, da „wir es jetzt mit einem Willen zu thun haben und die Vernunft nicht im Verhältniß auf Ge-

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Erste Einleitung KdU, 38 Anm. Erste Einleitung KdU, 39 Anm. Ähnlich formuliert Julius Ebbinghaus, daß „unter den Bedingungen der Erfahrung die Tugend selbst zu einem Hinderungsgrund für die Glückseligkeit der Menschen werden“ kann (Herbert J. Paton – Julius Ebbinghaus, Briefwechsel 1953/54, Ebbinghaus an Paton, 4. Mai 1954, in: Kant und das Recht der Lüge, hg. v. Georg Geismann und Hariolf Oberer, Würzburg 1986, 73). Eine weitere Variante ist der Schuldner, der auf dem Weg zur Tilgung die geschuldete Summe einem Notleidenden nicht überlassen darf (vgl. Pädagogik, IX 490). In dieser Implikation der Unterscheidung von ‚pflichtgemäß‘ und ‚aus Pflicht‘ treten die tugendethischen Wurzeln des Kantischen Moralbegriffs hervor. Vgl. G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, a.a.O., 208: „die wahre Zucht ist allein die Aufopfrung der ganzen Persönlichkeit, als die Bewährung, daß es in der Tat nicht noch an Einzelnheiten festgeblieben ist“. Dieses Zitat stammt aus dem Abschnitt Die Tugend und der Weltlauf . – Hans Blumenberg weist auf Kants spätere Lehre von Christus als Ideal des heiligen Willens hin, freilich mit kritischer Wendung gegen die Ausführbarkeit des Sittengesetzes unter empirischen Bedingungen überhaupt (vgl. Die Genesis der kopernikanischen Welt, Frankfurt 1975, 694). Auch Dieter Henrich beurteilt die Uninteressiertheit der sittlichen Tat als abstrakt. Vgl. Ethik der Autonomie, a.a.O., 27f. Vgl. auch dens. Glück und Not, in: Selbstverhältnisse, a.a.O. Vgl. KpV, V 16.

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genstände, sondern auf diesen Willen und dessen Causalität zu erwägen haben“49 ; die Anwendung der praktischen Begriffe geht „zuletzt auf das Subject und dessen Sinnlichkeit“50 . Die reine spekulative Vernunft vermittelte ihre Kategorien als Funktionen zu urteilen an den Urteilsformen und mit diesen an Objekten. Gelten sie auch a priori für alle Objektivität, so würden sie doch ohne Objekte nicht gewußt und das bestimmt das Bewußtsein von ihnen, wenngleich Kant dieses Moment transzendental aufzuheben sucht. Für das Sittengesetz stellt Kant solche Fragen erst gar nicht. Es ist da, gegenstandslos unbedingt. Davon geht die Analytik der reinen praktischen Vernunft insgesamt aus, sie deduziert es nicht, sondern setzt es voraus und bemüht sich, die Setzung einzuholen. Für Hegel, der den reinen Willen schon aus der bestimmten Unterscheidung zu Sinnlichkeit und Bedürftigkeit entwickelt, ergibt sich Moralität als abgeleitete Bestimmung des schon rechtlich materialisierten Willens, der bereits der Wille einer Ordnung ist. Das moralische Subjekt erweist sich sodann als gesellschaftliches und politisches; wohl muß auch Hegel den reinen Willen als Grundlage systematischer Ableitung konstruieren,51 er sieht ihn aber im Zusammenhang mit dem theoretischen und dem gesellschaftlichen Subjekt. Kant will das praktische Subjekt gegen die Korruption des gesellschaftlichen verwahren und es deshalb auch vom spekulativen strikt unterscheiden, denn diesem – wie Hegel zeigt – konveniert die Verhaltung der Moral im intelligiblen Subjekt nicht. Aus Kants Unterscheidung resultiert ein gespaltenes Subjekt, das, ganz gegen die Intention, einerseits ins Intelligible diffundiert und andererseits in der Natur verfangen ist.52

2.

Gesetzmäßigkeit und Gegenstände

Die Notwendigkeit, allgemeine Prinzipien für menschliches Handeln anzugeben, folgt für Kant nicht unmittelbar aus einer Kritik an der fortwährenden aristotelischen Tradition der Ethik. Sie folgt aus Kants erkenntnistheoretischer Kritik an der traditionellen Metaphysik überhaupt. Mit der metaphysischen Garantie von Objektivität fällt auch die Objektivität der Aristotelischen Zweckordnung, die das menschliche Handeln im Zusammenhang des Kosmos beurteilte, und es fällt die Garantie des Guten, die durch die caritas, die Liebe zu Gott gegeben war, und die nur die Erscheinung der von Gott vorgesehenen Rückkehr der sündhaft gewordenen Menschen zu ihrem göttlichen Ursprung sein sollte. Erlösung, ethische Richtigkeit oder moralische Erfüllung sind keine an sich selbst objektiven Größen mehr. Das hebt aber nicht die im Christentum ebenfalls entwickelte Idee der Freiheit, gut oder böse zu handeln, auf, sondern bringt sie zunächst als ungebundene Willkür auf den Begriff. 49 50 51 52

KpV, V 16. KpV, V 16. Zur systematischen Absicht bei Kant vgl. KpV, V 10; 91. Hans Ebeling sieht die Bedeutung des kategorischen Imperativs, auch wenn aus diesem allein nichts Bestimmtes folgt, in der Reflexion der Selbstbestimmung; ohne diese „entfällt […] die Möglichkeit der Selbststabilisation des Subjekts und also dieses selbst“ (Grundsätze der Selbstbestimmung und Grenzen der Selbsterhaltung, in: Ders. (Hg.), Subjektivität und Selbsterhaltung, a.a.O., 379). Diese Stabilisation bleibt aber bloße Möglichkeit, solange die innere Selbstvergewisserung im Gegensatz zur Erfahrung steht.

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Die Freiheit, die Kant theoretisch erschließen mußte, kann nun keine Willkürfreiheit im Sinne beliebiger Wahl sein, denn als solche wäre sie unmittelbar – das heißt ohne eigene Vermittlung durch Reflexion – bestimmt durch die Gegenstände, zu denen sie neigt oder von denen sie abneigt. So wäre sie aber pathologisch bestimmt und wieder nur Bestandteil der Naturkausalität. Weniger noch als Willkür kann Freiheit für Kant als Zufälligkeit von der Naturkausalität unterschieden werden; dies wäre eine Unterscheidung durch abstrakte Negation, Freiheit als Nicht-Natur. Soll der Begriff der Freiheit aber überhaupt bestimmbar sein, kann er nicht die abstrakte Negation von Gesetzmäßigkeit bedeuten, sondern muß die Möglichkeit gesetzmäßiger Bestimmung einschließen. Das Handeln aus Freiheit ist deshalb unter allgemeinen Bestimmungen, moralischen Gesetzen zu denken. Als Gesetze können diese nicht durch empirische Daten bestimmt werden, sondern müssen reine Vernunftregeln sein: „Alle praktische Principien, die ein Object (Materie) des Begehrungsvermögens, als Bestimmungsgrund des Willens, voraussetzen, sind insgesamt empirisch und können keine praktische Gesetze abgeben.“53 Die Begründung der Prinzipien kann nur a priori, vor aller Erfahrung, bloß aus Vernunftbegriffen erfolgen. Damit sind solche Gesetze aber nur durch reine Philosophie, durch Metaphysik der Freiheit zu begründen. Deren Durchführung, die Kritik der praktischen Vernunft, setzt mit einem unvermittelten Begriff von Freiheit ein: „Freiheit ist aber auch die einzige unter allen Ideen der spekulativen Vernunft, wovon wir die Möglichkeit a priori wissen, ohne sie doch einzusehen, weil sie die Bedingung des moralischen Gesetzes ist, welches wir wissen.“54 53 54

KpV, § 2, V 21. KpV, V 4. Dieser praktische Begriff von Freiheit wird nicht aus dem transzendentalen Freiheitsbegriff der Kritik der reinen Vernunft entwickelt. Vgl. dazu unten Kapitel 4.1. Die Verwechslung von transzendentaler und moralischer Freiheit hat Peter Bieri zu einer Variante des Determinismus veranlaßt: Vgl. Das Handwerk der Freiheit, München 2001. Die Spontaneität der Freiheit wird zurückgewiesen mit dem Hinweis darauf, daß die – freie – Bestimmung der Handlung aus eingesehenen Gründen den Handelnden festlege und die Handlung eben nicht willkürlich frei sei: „Das Nachdenken über Alternativen ist insgesamt ein Geschehen, das mich, zusammen mit meiner Geschichte, am Ende auf einen ganz bestimmten Willen festlegen wird.“ (287f.) Autonomie und Spontaneität sind bei Kant zwei unterschiedene Konzepte, übrigens beide negativ, deren Vermittlung als positiver Begriff von Handlungsfreiheit allerdings scheitern muß. – Für Kant ist weder Autonomie noch Spontaneität ein Gegenstand möglicher Erfahrung, beide sind Reflexionsausdrücke. Deshalb kann aus ihnen auch kein empirisches Handlungsmodell entwickelt werden. Die Frage „Haben wir einen freien Willen?“, der Benjamin Libet in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts experimentell zu Leibe rücken wollte und die auf dem jeweils neuesten Stand der bildgebenden Verfahren der Hirnforschung erneuert wird, kann aus dieser Perspektive nur verneint werden. Aus der Perspektive des ‚ich‘, das diese Frage nach ‚unserem‘ Willen stellt, das demzufolge auch die Experimente zu einem bestimmten Zweck entwirft und interpretiert, ist sie dagegen zu bejahen. Vgl. für viele Benjamin Libet, Haben wir einen freien Willen, in: Christian Geyer (Hg.), Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente, Frankfurt am Main 2004 und Gerhard Roth, Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert, Frankfurt am Main 2006. Klaus Düsing, Subjektivität und Freiheit, a.a.O., merkt kritisch an, daß den modernen Materialisten „die klassischen Poisitionen, gegen die sie sich wenden müßten, nahezu aus ihrem Blickfeld geraten sind“ (8). Für einen Überblick über diese Positionen vgl. ebd., 8-20 und 143-146. Durchgeführt hat diese Kritik vor allem Christine Zunke, Kritik der Hirnforschung. Neurophysiologie und Willensfreiheit, a.a.O. – In der Philosophie setzt sich inzwischen eine Tendenz durch,

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Kant bemüht sich nun um eine innere Systematik der praktischen Philosophie, indem er Freiheit und Moralgesetz zu Wechselbegriffen erklärt, in deren Wechselbereich die praktische Philosophie stattfinde: Freiheit sei „die ratio essendi des moralischen Gesetzes, das moralische Gesetz aber die ratio cognoscendi der Freiheit sei.“55 Gäbe es keine Freiheit, so könnte kein moralisches Gesetz existieren, denn es würde sich an Wesen richten, die es nicht einmal verstünden, weil sie dafür schon der Erfahrung bedürfen, zwischen Entgegengesetztem entscheiden zu können. Um diese Überlegung anstellen zu können, muß aber ein Bewußtsein vom moralischen Gesetz vorhanden sein; die Vorschrift, daß nur eine Seite der entgegengesetzten Handlungsoptionen moralisch zulässig sei, veranlaßt die Reflexion auf die ratio essendi der Vorschrift und so das Bewußtsein von Freiheit. Wenn das so ist, kann weder nach der Herkunft von Freiheit noch nach der von Moral gefragt werden: Freiheit wird zum ‚Faktum der Vernunft‘, das zwar vermittelt durchs Moralbewußtsein bewußt wird, aber dieses ist selbst ein Faktum.56 Damit sind weder Freiheit noch Moral selbst konsistent als geforderte Resultate des Handelns freier Wesen zu denken, die in negativen Reflexionsbegriffen auszudrücken wären, sondern sie erscheinen als Bedingungen, unter denen jene Wesen und ihr Handeln je schon stehen.57

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der es gleichgültig ist, ob Willensfreiheit eine Illusion ist oder nicht, da der gesellschaftliche Verkehr, insbesondere seine juristische Regelung, auch ohne diese Annahme mithilfe pragmatischer Konstruktionen aufrechtzuerhalten sei. Vgl. z. B. Felix Thiele, Schuld und Verantwortung im Licht neuer Ergebnisse der Neurowissenschaften, in: Andreas Hüttemann (Hg.), Zur Deutungsmacht der Biowissenschaften, Paderborn 2008. Die mögliche Kritik an diesen Verkehrsformen hat in solchen Konstruktionen freilich keinen Ort mehr. – Peter Rohs vertritt eine vermittelte Position, derzufolge bis zum Nachweis der empirischen Berechenbarkeit des Handelns „bis auf weiteres an Freiheit und Verantwortung festgehalten werden“ darf (Kausalität aus Freiheit – zu Kants Freiheitstheorie, in: Bernd Prien/Oliver R. Scholz/Christian Suhm (Hgg.), Das Spektrum der kritischen Philosophie Kants, a.a.O., 45). KpV, V 4 Anm. So wird der Sache nach schon in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten argumentiert. Vgl. Dieter Henrich, Das Prinzip der kantischen Ethik, in: Philosophische Rundschau 2 (1954/55), 36 Anm. Womöglich soll der Ausdruck ‚Faktum der Vernunft‘ die Faktizität von Freiheit von der Faktizität von Erfahrung unterscheiden. Aber auch in der Logik faßt Kant Freiheit als Axiom, d. h. als intuitiv der Anschauung zu entnehmenden Grundsatz, der keiner diskursiven Reflexion bedarf (vgl. IX §§ 3 und 35). Deshalb ist die Rede vom ‚Faktum‘ streng zu nehmen. Wolfgang Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, a.a.O., 97, übersetzt in anderem Kontext den „von Kant der traditionellen philosophia practica universalis entnommene[n] Begriff des factum […] mit freier, selbstverursachter Handlung“ und bezieht sich auf MdS RL, VI 227 u. 230. Eine Handlung oder genauer: ein Gemachtes der Vernunft müßte als solches aber auch unmittelbar sein. Für eine vermittelte Interpretation vgl. dagegen Otfried Höffe, Immanuel Kant, München 1983 sowie Klaus Konhardt, Faktum der Vernunft? Zu Kants Frage nach dem ‚eigentlichen Selbst‘ des Menschen, in: Gerold Prauss (Hg.), Handlungstheorie und Transzendentalphilosophie, Frankfurt am Main 1986. – Eine andere Interpretation hat neuerlich Rainer Forst entwickelt. Die Faktizität der Freiheit versteht er als ‚Autonomie der Moral‘, deren Unableitbarkeit aus Nicht-Moralischem. Deshalb sei dann das intersubjektive Verhältnis der Menschen, in deren Diskursen Normativität konstruktivistisch entstehe, selbst ursprünglich moralisch bzw. Moral selbst intersubjektiv (vgl. Die Perspektive der Moral. Grenzen und Möglichkeiten des Kantischen Konstruktivismus in der Ethik, in: Peter Janich (Hg.),

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Seiner Intention nach geht der Freiheitsbegriff aber auf Autonomie: Die Menschen sollen sich selbst ihr Gesetz geben, ohne von anderen und überhaupt von Anderem, Äußerlichem, abhängig zu sein. Darauf zielt der Ausgangsbegriff des ‚guten Willens‘. Dieser allein wäre unbeschränkt und unbeeinflußt gut. Seine Güte hängt nicht einmal von der Möglichkeit der Realisierung seines Inhalts ab, sondern bloß vom Wollen des Guten selbst. Die populäre Vorstellung, die Kant zugrundelegt, belegt das durch eine Ontologisierung der praktischen Vernunft: Alle Zwecke der Glückseligkeit, des umfassenden Wohlergehens, wären durch Instinkte besser zu realisieren. Da die Natur aber nun die Menschen mit Vernunft begabt habe, könne sie nicht eine relative Zweckmäßigkeit des Willens bezweckt haben; wäre er nämlich nur für Zweck-Mittel-Relationen zuständig, so unterschiede er sich nicht von der relativen Zweckmäßigkeit der Instinkte. Deshalb müsse die Natur die absolute Güte des Willens bezweckt haben, denn diese allein sei nur durch Vernunft zu realisieren. Daraus ergebe sich für vernunftbegabte Sinnenwesen der gute Wille als höchstes Gut, dem die Neigungen in der Willensbestimmung bedingungslos unterzuordnen seien. Zwar bestimmt Kant später das höchste Gut als Einheit von Moral und Glückseligkeit, weil das Streben nach Glückseligkeit, nach Befriedigung möglichst aller Bedürfnisse und Neigungen, zur Natur der vernunftbegabten Sinnenwesen ebenso gehöre wie die Entfaltung ihrer Vernunftbegabung. Der Sache nach bleibt aber auch die Einheit von Moral und Glückseligkeit im höchsten Gut „Unterordnung“58 von Glückseligkeit unter Moral. Doch selbst diese prinzipielle Unterordnung bedeutet nur dann notwendig eine Aufopferung von Glückseligkeit um der Moral willen, wenn beide in einem ausschließenden Verhältnis zueinander stehen. Nur wenn Glückseligkeit die „Kultur der Vernunft“, die zur Moral führte, ausschließt, folgt daraus nicht allein „mancherlei Abbruch, der den Zwecken der Neigung geschieht“, sondern sogar, daß die Vernunft die „Glückseligkeit, wenigstens in diesem Leben, auf mancherlei Weise einschränke, ja sie selbst unter nichts herabbringen könne, ohne daß die Natur darin unzweckmäßig verfahre“59 . Nun ist schon die Reduktion von Glückseligkeit auf Nichts – auf ihre Negation – identisch mit dem Tod des Subjekts, der sicheren Folge der Negation aller Neigungen und Bedürfnisse. Kants Hyperbel, Vernunft könne Glückseligkeit sogar noch darunter erniedrigen, ist der krasse Ausdruck der Mißachtung individueller Existenz, die mit der moralischen Wendung zum Subjekt untrennbar verbunden zu sein scheint. Dessen Subjektivität tritt rein hervor einzig durch die Negation seiner Abhängigkeit von allem, was nicht durch seine eigene Vernunft gesetzt zu werden vermag. Diese Negation setzt zunächst die Abhängigkeit endlicher Wesen von einer Materie ihres Begehrungsvermögens voraus: „Glücklich zu

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Naturalismus und Menschenbild, Hamburg 2008). Forsts Ausführungen betonen mit Recht einen grundsätzlich sozialen Gehalt von Moral, lesen sich allerdings manchmal so, als würde schon moralisch gehandelt; zu erkennen, daß dem fast nie so ist, bleibt vielleicht den Subjekten überlassen, die den jeweiligen Rechtfertigungsdiskursen mißtrauen. Vgl. KpV, V 119. GMS, IV 396. Das höchste Gut ist das „zentrale Problem“ der Kantischen Moralphilosophie (John R. Silber, Immanenz und Transzendenz des höchsten Guts bei Kant, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 1964/3, 386.

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sein, ist nothwendig das Verlangen jedes vernünftigen aber endlichen Wesens, und also ein unvermeidlicher Bestimmungsgrund seines Begehrungsvermögens.“60 Kant gesteht durchaus zu, daß Menschen keine reinen Vernunftwesen seien; wenn Kant übrigens den Pleonasmus „unabhängige Selbstgenügsamkeit“61 verwendet, liegt darin eine gewisse Polemik gegen die Vorstellung, die Glückseligkeit, Zufriedenheit mit dem ganzen Dasein, sei mit diesem menschlichen Dasein womöglich positiv verknüpft. Tatsächlich ist sie eine negative Bestimmung: Weil die Menschen endlich sind, haben sie Bedürfnisse. Ihre Existenz ist wesentlich mangelhaft. Aus der substantiellen Universalität des Mangels läßt sich aber keine positive Regel für das Vermögen Zwecke zu setzen ableiten, denn der Mangel ist eine äußerliche Bestimmung, die sich zu aller vernünftigen Gesetzmäßigkeit kontingent verhält. Weil nämlich die Glückseligkeit eine negative, abhängige Vorstellung ist, deren Mittel nur durch das Empfinden des Mangels, also empirisch, erkannt werden, kann sie nicht zum Inhalt eines Gesetzes werden.62 Sie ist kein Vernunftbegriff. Allenfalls ist sie ein abstrakter Begriff, ‚ein allgemeiner Titel‘ für ganz Verschiedenes: Jeder strebt nach Glückseligkeit. Was aber der Einzelne dazu braucht, folgt aus diesem Begriff nicht, denn worin „jeder seine Glückseligkeit zu setzen habe, kommt auf jedes sein besonderes Gefühl der Lust oder Unlust an, und selbst in einem und demselben Subject auf die Verschiedenheit der Bedürfnis, nach den Abänderungen dieses Gefühls, und ein subjectiv nothwendiges Gesetz (Naturgesetz) ist also objectiv ein gar sehr zufälliges praktisches Princip“63 . Das objektiv moralische Gesetz muß a priori notwendig sein, aber es kann „von keiner Vorstellung irgend eines Gegenstandes, welche sie auch sei, a priori erkannt werden, ob sie mit Lust oder Unlust verbunden, oder indifferent sein werde“64 . Das liegt daran, daß eine Vorstellung, die nur überhaupt auf die Empfindung bezogen sein soll, ein Moment von Sinnlichkeit aufweist, das nur a posteriori erfüllbar ist. Wenn die Materie nun aufgrund ihrer Sinnlichkeit nicht zur Gesetzgebung taugt, so könnten nach traditioneller Form-Materie-Dichotomie die Unabhängigkeit, Notwendigkeit und Allgemeinheit allenfalls in der Seite der Form der Gesetze liegen, also in dem, was diese Gesetze zu Gesetzen macht, in ihrer Gesetzmäßigkeit.65 Damit will Kant prinzipiell über die traditionelle Unterscheidung von Streben (appetitus) und Wille (voluntas), von sinnlicher oder intellektueller Neigung (inclinatio), hinaus, indem er jede Maxime, die überhaupt einen materialen Gegenstand hat, dem unteren Begehrungsvermögen zuordnet: „gäbe es gar keine blos formale Gesetze […], die den Willen hinreichend bestimmten, so würde auch kein oberes Begehrungsvermögen eingeräumt werden können“66 . Die Intelligibilität der Freiheit, die schon erkenntnistheoretisch 60 61 62 63 64 65

66

KpV, § 3 Anm. II, V 25. KpV, § 3 Anm. II, V 25. Vgl. KpV, § 3 Anm. II, V 25. KpV, § 3 Anm. II., V 25. KpV, § 2, V 21. Vg. KpV, § 4, V 27: „Wenn ein vernünftiges Wesen sich seine Maximen als praktische allgemeine Gesetze denken soll, so kann es sich dieselbe nur als solche Principien denken, die, nicht der Materie, sondern bloß der Form nach, den Bestimmungsgrund des Willens enthalten.“ Vgl. auch § 7 Anm., V 32. KpV, § 3, V 22.

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gefordert ist, gilt absolut oder gar nicht: Was in den Sinnen liegt, auch nur einem Moment nach, erfolgt ganz und gar nicht aus reiner Vernunft. Wäre es denkbar, daß die Gegenstände der Willkür unter rationalen Bedingungen verfügbar wären, so wäre die pathologische Affektion des Subjekts mit seiner moralischen Bestimmung nicht notwendig im Widerspruch. Beide wären verschieden, insofern jene die reale Gestaltung dieser bloß formalen Allgemeinheit wäre. Diese Koinzidenz wäre wohl zufällig, weshalb sie nicht zum Bestimmungsgrund des Willens taugte; aber sie ist die einzige mögliche Vorstellung realisierter Moral, ohne die diese immer das gegen die Realität verächtliche höhere Streben bliebe, dessen objektive Realität psychische Defekte wären, weil das unerfüllte Begehren, auch das höhere, ‚krank macht‘. So erscheint das Verhältnis von Moral und Handlungsbedingungen bei Kant stets als Hierarchie von oberem und unterem Begehrungsvermögen.67 In beider Unvereinbarkeit erscheint aber reale Unfreiheit. Insofern weist Kants Moral gerade durch die strikte Negation des Sinnlichen über sich hinaus auf ein Ideal, in dem solche Negation gegenstandslos wäre. Verzichtete sie auf dieses Moment, mißriete sie zum puren Gewissenszwang, der nicht aus Vernunft, sondern aus Autorität gespeist wäre, deren Gewalt er verinnerlicht hätte. Um gerade dies zu vermeiden, muß Kant den Begriff des freien Willens von der Naturkausalität ablösen; erst als entmaterialisierter taugt er zum Ideal. Doch hebt er so sich als Wille zugleich selbst auf, denn wenn die Gesetzmäßigkeit, die gesetzgebende Form, also das, was etwas zu einem Gesetz macht, das einzige Prinzip des Gesetzes sein soll, so ist dieses Gesetz ein Gesetz ohne Inhalt. Diese Inhalte, die „besondere Bestimmung der Pflichten“68 seien nur im Rahmen der Anthropologie, nicht im Rahmen einer Kritik der praktischen Vernunft zu geben, da diese auf die Beschaffenheit der Menschen keine Rücksicht nehme. Im Gegensatz zu diesen haben reine Vernunftwesen keine Pflichten.69 Sie sind heilig. Als solche dienen sie als Ideal, als Urbild und Ziel unendlicher Annäherung für die endlichen Vernunftwesen. Die Un-endlichkeit dieser Annäherung ermöglicht und dispensiert zugleich die Moralität vernunftbegabter Sinnenwesen. Zunächst aber würden Gesetze, deren einziges Prinzip die Gesetzmäßigkeit ist, buchstäblich nichts bestimmen können. Kant zufolge ist das praktische Gesetz aber nicht ohne Inhalt, sondern die Form des Gesetzes wird in bestimmter Weise selbst zum Inhalt: „Der Wille wird […] durch die bloße Form des Gesetzes als bestimmt gedacht“70 . Nun müßte ja, wenn die Form ihr eigener Inhalt würde, diese Form gewissermaßen in sich hinein umgestülpt werden oder sie müßte, wenn sie zwei unterschiedliche Funktionen erfüllen soll, von sich selbst unterschieden sein, müßte also zugleich sie selbst und nicht sie selbst sein. Kant verfährt aber anders. Er formuliert ein Gesetz, das nicht eine bestimmte Handlung vorschreibt, sondern das die allgemeine Beachtung der Gesetzmäßigkeit vorschreibt. Dieses Gesetz

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68 69 70

Vgl. auch Kants Unterscheidung von Person und Persönlichkeit, mittels derer der Mensch sich über sich selbst erhebe, indem er sich selbst unterwerfe: KpV, V 86f. KpV, V 8. Vgl. KpV, § 7 Anm. zur Folgerung, V 32. KpV, § 7 Anm., V 31.

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ist der kategorische Imperativ: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Princip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“71 Ohne zunächst zu untersuchen, welche besonderen Maximen diese Forderung erfüllen könnte, ist zu erinnern, daß die Reflexion auf reine praktische Vernunft, an deren Ende das formale Sittengesetz steht, sich als zwingend erwiesen hatte: Die Güte äußerlicher Zwecke war aus diesen selbst nicht begründbar.72 Die analytisch begründete Unterordnung der Bedürfnisse und Neigungen unter reine Vernunft gründet Kant zufolge aber bereits in der anthropologischen Differenz zwischen einem unteren und einem oberen Begehrungsvermögen. Alle Bestimmungsgründe der Glückseligkeit seien dem unteren Begehrungsvermögen zuzuordnen; das obere sei die reine Vernunft selbst, die „ohne Voraussetzung irgend eines Gefühls, mithin ohne Vorstellungen des Angenehmen oder Unangenehmen […] durch die bloße Form der praktischen Regel den Willen“ bestimme und so „für sich selbst praktisch“ sei. Das untere Begehrungsvermögen sei der Vernunft nicht nur untergeordnet, sondern es sei strikt von ihr unterschieden, so daß jedes sinnliche Moment im Wollen die praktische Vernunft zerstöre, „so wie das mindeste Empirische, als Bedingung in einer mathematischen Demonstration, ihre Würde und Nachdruck herabsetzt und vernichtet“73 . Ein drastischeres Modell hätte Kant nicht finden können. Das aporetische Verhältnis von moralischem Subjekt und sinnlicher Neigung wird zum treibenden Motiv der praktischen Philosophie Kants; aus ihm gehen die späteren sogenannten Pragmatien zu den Gegenstandsbereichen Recht, Politik, Geschichte und Religion hervor. Aber schon theoretisch wird die Frage nach dem eigentlichen Gegenstand reiner praktischer Vernunft zum Problem: Worauf bezieht sie sich, wenn sie nicht abstrakte Form moralischen Selbstbewußtseins bleiben soll? Nun handelt der streng moralische Wille nicht nur zufällig gemäß der Pflicht der Moral, sondern er handelt unmittelbar aus der moralischen Pflicht, ohne Rücksicht auf Erfolg oder Mißerfolg: „[E]ine Handlung aus Pflicht hat ihren moralischen Werth nicht in der Absicht, welche dadurch erreicht werden soll, sondern in der Maxime, nach der sie beschlossen wird, hängt also nicht von der Wirklichkeit des Gegenstandes der Handlung 71

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KpV, § 7, V 30. Damit ist moralische Freiheit eben nicht, wie Jürgen Habermas paraphrasiert, von Einsichten bestimmt, die „im gemeinsamen und gleichmäßigen Interesse aller Personen begründet sind“ (Freiheit und Determinismus, in: Zwischen Naturalismus und Religion, a.a.O., 165); Interessen, auch wenn sie gemeinsam vertreten werden, sind partikular und an partikulare Subjekte gebunden. Kant geht es dagegen um eine Gesetzmäßigkeit, die jeder Mensch, insofern er überhaupt Mensch ist, erkennen können muß. Damit will Kant dem Problem steuern, daß Menschen gemeinsam und gleichmäßig die abscheulichsten Interessen verfolgen können. Vgl. GMS, IV, 410: „Es ist aber eine solche völlig isolirte Metaphysik der Sitten, die mit keiner Anthropologie, mit keiner Theologie, mit keiner Physik oder Hyperphysik […] vermischt ist, nicht allein ein unentbehrliches Substrat aller theoretischen, sicher bestimmten Erkenntniß der Pflichten, sondern zugleich ein Desiderat von der höchsten Wichtigkeit zur wirklichen Vollziehung ihrer Vorschriften. […] an dessen Statt eine vermischte Sittenlehre, die aus Triebfedern von Gefühlen und Neigungen und zugleich aus Vernunftbegriffen zusammengesetzt ist, das Gemüth zwischen Bewegursachen, die sich unter kein Princip bringen lassen, die nur sehr zufällig zum Guten, öfters aber auch zum Bösen leiten können, schwankend machen muß.“ KpV, § 3, Anm. I, V 24f.

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ab, sondern blos von dem Princip des Wollens, nach welchem die Handlung unangesehen aller Gegenstände des Begehrungsvermögens, geschehen ist.“74 Dieses Prinzip und jene Maxime sind aber unserer Erfahrung nicht zugänglich: Erfahren können wir nur Handlungen von Sinnenwesen. Als solche stehen sie aber unter der Naturkausalität und müssen durch diese vollständig bestimmbar sein, wenn sie nicht einen Sprung in der Natur verursachen sollen, durch den die Natur als ganze ihren durchgängigen Zusammenhang verlöre. Die freie Spontaneität, die über die Kausalität der Natur hinausgeht, bleibt verborgen.75 Daraus ergibt sich zunächst die paradoxe Vorstellung, daß eine Handlung in empirischer Hinsicht unter der Voraussetzung der Kenntnis aller naturkausalen Bedingungen berechenbar wäre, ohne doch in intelligibler Hinsicht an Freiheit einzubüßen. Es wäre eine Welt freier Subjekte denkbar, in der alle Handlungen vorausberechnet wären.76 Freiheit wird so zu einem ortlosen Vermögen, von dem letztlich nur mehr juridische Imputationsfähigkeit verbleibt.77 Kant geht so weit zu behaupten, die Moralität entziehe sich sogar der Selbstbeobachtung: „Die eigentliche Moralität der Handlungen (Verdienst und Schuld) bleibt uns daher, selbst die unseres eigenen Verhaltens, gänzlich verborgen.“78 Der Einfluß, den ein solches ortloses Vermögen auf die Handlung hätte, ist prinzipiell nicht darstellbar und deshalb auch von anderen Einflüssen, die parallel wirken, nicht distinguierbar. Daß aber eine Handlung aus Pflicht und nicht bloß zufällig und beiläufig pflichtgemäß erfolgt sei, unterstellte, daß bloß die reine Vernunft bestimmend für diese Handlung war. Ist deren Einfluß aber von anderen Einflüssen nicht bestimmt und deutlich zu unterscheiden, so muß die Möglichkeit anderer Einflüsse grundsätzlich ausgeschlossen werden. Vernunft scheint daher nicht bloß über die sinnliche Existenz erhaben zu sein, sondern auch mit ihr in Konflikt zu geraten: Die „ächte Beschaffenheit der Sittlichkeit des Menschen ist [dort], wo die Vernunft der Sinnlichkeit Gewalt anthun muß“79 .

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GMS, IV 400. Vgl. GMS, IV 407. Vgl. KpV, V 99. Diese Konsequenz zieht auch Ernst Tugendhat, dessen Begriff der Moral um den der Sanktion konzentriert ist. Vgl. Der Begriff der Willensfreiheit, a.a.O., 376f. KrV, B 579 Anm. Vgl. GMS, IV 407: „Denn es ist zwar bisweilen der Fall, daß wir bei der schärfsten Selbstprüfung gar nichts antreffen, was aus dem moralischen Grunde der Pflicht mächtig genug hätte sein können, uns zu dieser oder jener guten Handlung und so großer Aufopferung zu bewegen; es kann aber daraus gar nicht mit Sicherheit geschlossen werden, daß wirklich gar kein geheimer Antrieb der Selbstliebe, unter der bloßen Vorspiegelung jener Idee, die eigentliche bestimmende Ursache des Willens gewesen sei“. Vgl. auch Ludwig Siep, Personbegriff und praktische Philosophie bei Locke, Kant und Hegel, in: Praktische Philosophie im Deutschen Idealismus, Frankfurt am Main 1992, 83: „Personalität in diesem Sinne [als substantielle Grundlage moralischer und rechtlicher Personen; M.St.] ist vielmehr eine unbeweisbare Forderung, ein von raumzeitlichen Ereignissen unabhängiges Wesen in sich zu entdecken und handlungswirksam werden zu lassen. Wie sich diese ‚intelligible‘ Persönlichkeit zum empirischen Individuum verhält, wird dann freilich ein Problem.“ – Kein Problem sieht hier Philippa Foot, Natural Goodness, Oxford 2001, die grundsätzlich davon ausgeht, daß selbstloses gutes Handeln ein erkennbares und bekanntes Phänomen sei. KdU, V 269.

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3.

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Subjekte des Sittengesetzes

Die philosophische – nicht an Beispielen oder populären Vorstellungen orientierte – Begründung von Moral muß diese aus dem allgemeinen Begriff vernünftiger Wesen ableiten, die mit dem Willen über ein Vermögen verfügen, nach der Vorstellung von Gesetzen zu handeln. Bei vernunftbegabten Sinnenwesen treten nun objektive und subjektive Notwendigkeit des Handelns auseinander. Objektiv notwendig ist, was durch ein Vernunftgesetz gefordert ist. Sinnenwesen unterliegen aber ebenso Neigungen und Bedürfnissen und müssen daher durch Unterwerfung unters Gesetz erst genötigt, der Notwendigkeit des Gesetzes gemäß gemacht, werden. So tritt das Gesetz als Gebot – als Imperativ – auf. Moralisch, das heißt von uneingeschränkter, unbedingt notwendiger Geltung für die Praxis ist allein der kategorische Imperativ, indem er eine Handlung vorschreibt, die allein für sich selbst schon als notwendig anzusehen ist. Sein Maßstab ist einzig die Möglichkeit des Handelns in Beziehung auf die Allgemeinheit der Menschen überhaupt. So ist er sittlicher Imperativ. Seine Möglichkeit läßt sich aus nichts Anderem ableiten und auch nicht an Beispielen entwickeln, denn jeder kategorische Imperativ in der Erfahrung könnte in Wahrheit auch bloß hypothetisch sein: Vielleicht entzieht sich nur die empirische Bedingung, unter der die scheinbar unbedingte moralische Handlung wirklich steht, zufällig der Wahrnehmung. Die Begründung der Möglichkeit des kategorischen Imperativs kann nur a priori erfolgen. Deshalb ist seine Formulierung aus seinem Begriff vollständig abzuleiten. Diesem zufolge schreibt der kategorische Imperativ apodiktisch etwas vor, er ist ein Gesetz, das die bedingungslose Unterordnung aller partikularen Handlungsmotive fordert: „[D]a der Imperativ außer dem Gesetze nur die Nothwendigkeit der Maxime enthält, diesem Gesetze gemäß zu sein, das Gesetz aber keine Bedingung enthält, auf die es eingeschränkt war, so bleibt nichts, als die Allgemeinheit eines Gesetzes überhaupt übrig, welchem die Maxime der Handlung gemäß sein soll, und welche Gemäßheit allein den Imperativ als nothwendig vorstellt. Der kategorische Imperativ ist also nur ein einziger, und zwar dieser: handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.“80 Die Maxime soll so beschaffen sein, daß sie aus sich selbst heraus auf ihre mögliche Allgemeinheit hin angelegt ist. Die Eigenschaft, die eine Maxime zur Allgemeinheit qualifiziert, ist nun ihre Widerspruchsfreiheit. Die ausschließliche Bestimmung der Maxime durch Widerspruchsfreiheit, ohne Rücksicht auf persönliche Antriebe, läßt sich aber nur post festum an Extremsituationen ablesen, in denen die Handelnden ihrer Vernichtung 80

GMS, IV 421. Die ‚Einzigkeit‘ des kategorischen Imperativs ergibt sich zwingend durch seine Entwicklung aus seinem Begriff; deshalb ist nicht nur „die sittlich-praktische Grundform von Einheit gemeint“ (Annemarie Pieper, Wie ist ein kategorischer Imperativ möglich?, in: Otfried Höffe (Hg.), Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Ein kooperativer Kommentar, Frankfurt am Main 1989, 271). Die ‚kategorischen Imperative‘, von denen Kant im Plural spricht, sind, wie auch Pieper schreibt, Maximen, die der Form des kategorischen Imperativs genügen (275). – Zur Problematik vgl. die präzise Kritik bei Georg Zenkert, Konturen praktischer Rationalität. Die Rekonstruktion praktischer Vernunft bei Kant und Hegels Begriff vernünftiger Praxis, Würzburg 1989, 24ff.

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ausgesetzt waren; nur von solchem Handeln läßt sich sicher annehmen, daß es ohne Rücksicht auf die eigene Existenz erfolgt.81 Und nur unter dieser Voraussetzung sind äußere Antriebe ganz auszuschließen. Das hieße nun aber, daß sich empirisch die Moralität einer Maxime an der Erfahrung der Unmöglichkeit ihrer Ausführung erwiese. – Im kategorischen Imperativ selbst liegt allein die Formalität der Gesetzmäßigkeit der Maxime, eben ihre Notwendigkeit und Allgemeinheit, aus der allein als bloßer Form nichts Bestimmtes folgt.82 Dennoch läßt sich Kant zufolge der Gehalt des Sittengesetzes anhand von drei Formulierung entwickeln.83 Die erste Formulierung, die oben zitierte, gibt nichts weiter an, als die formale Bedingung sittlicher Maximen, prinzipiell gesetzmäßig, das heißt der Notwendigkeit und Allgemeinheit ihrer Geltung fähig, zu sein. Diese Fähigkeit zur Allgemeinheit ist aber kein äußerlich an die Maximen heranzutragender Maßstab, sondern die innere Eigenschaft der Maxime selbst; es heißt nicht, man solle ‚von den‘ Maximen wollen können, daß sie Gesetze würden, sondern man soll es ‚durch sie‘ wollen können, ‚zugleich‘ mit dem, was man inhaltlich durch sie will.84 81

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Anders Andrea Marlen Esser, Eine Ethik für Endliche, a.a.O., 281. Geht man von einer allgemeinen Struktur der Freiheit aus, die mit Strukturen der jeweiligen Handlungssituation abzugleichen ist, kann der moralische Wert einer Person unter anderem auch in Strukturen wie Pünktlichkeit sichtbar werden. Nun ist Pünktlichkeit für alles, was Menschen gemeinsam unternehmen, zweifellos außerordentlich wichtig, und man kann sogar ganz unvernünftige Lebensbedingungen pünktlich strukturieren; aber die Frage, wie unter unvernünftigen Bedingungen vernünftige Selbstbestimmung möglich sei, wie dies in einem Bewußtsein widerspruchsfrei zusammengehen soll, ist dadurch nicht beantwortet. – Dieses Problem liegt aber der oberflächlich als Rigorismus erscheinenden Form der Kantischen Moral (daß sie gegen ihre Rückwendung in die Praxis abgedichtet ist) zugrunde. Sowohl gegen die These, moralische Maximen entstünden aus außernatürlichen Zwecken, als auch gegen die verbreitete Auffassung, sie entstünden durch Prüfung vorausgesetzter Maximen, so daß der kategorische Imperativ als ein handhabbares Instrument zu denken sei, wendet sich Dieter Henrich, Ethik der Autonomie, a.a.O., 23. Moralische Maximen entstehen ihm zufolge dadurch, daß ein gegebener Inhalt unter der Form der Vernunft erfaßt werde; das ist in der Tat eine Nuance ums Ganze zum ‚Prüfkriterium‘. – Eine Variante des ‚Prüfkriteriums‘ vertritt Ludwig Siep, Konkrete Ethik, a.a.O., 174: „In kantischen Verfahren des kategorischen Imperativs ergeben sich erlaubte und gesollte Handlungen aus der vernünftigen Prüfung von Maximen. Aus unbedingt gesollten Handlungen leitet Kant dann Rechts- und Tugendpflichten ab.“ Bei Kant fungiert der kategorische Imperativ aber zuerst nicht als Normsetzungsverfahren, sondern als transzendentale Begründung der Möglichkeit von Normgeltung überhaupt. Aus deren Formalität läßt sich dann kein Verfahren mehr bestimmen, auch wenn es bei Kant Versuche dieser Art gibt, die aber eher Behauptungen bleiben. Daß sich aus dem so entwickelten Gehalt glasklare Ableitungen bestimmter Pflichten ergeben, wie Julius Ebbinghaus unter eher starken teleologischen Voraussetzungen gegen den Vorwurf des Formalismus wettert, ist mit jenen Voraussetzungen zu bezweifeln. Vgl. Die Formeln des kategorischen Imperativs und die Ableitung inhaltlich bestimmter Pflichten, in: Gerold Prauss, Kant. Zur Deutung seiner Theorie von Erkennen und Handeln, Köln 1973. – Die Zählung der Formeln des kategorischen Imperativs variiert übrigens: Manche zählen die Reich-der-Zwecke-Formel nicht mit, andere die Naturgesetzformel. Dies geschieht auch in der vorliegenden Arbeit nicht, weil es durch Kants eigene Zählung, die nur drei Formeln kennt, nahegelegt wird. Offenbar versteht Kant die Naturgesetzformel als direkte Explikation der ersten Formulierung. Vgl. GMS, IV 436f.: „handle nach der Maxime, die sich selbst zugleich zum allgemeinen Gesetze machen kann“. Vgl. zu diesen Formulierungen des Verhältnisses von Gesetz und Maxime die

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Die Fähigkeit der sittlichen Maxime zur Allgemeinheit heißt deshalb Gesetzmäßigkeit, weil sie der Maxime die Form eines Gesetzes verleiht. Die Bestimmung, worin die allgemeine Form von Gesetzen besteht, gehört in die Naturphilosophie. Am Modell des Naturgesetzes, das den regelgerechten Ablauf von Naturprozessen ‚vorschreibt‘, ohne eine Ausnahme zuzulassen, ist die Bedeutung des Gesetzesbegriffes in strengster Form darzustellen, im Unterschied zu menschlichen Gesetzen, die zwar in ihrem Rechtsraum universelle Geltung beanspruchen, aber diese nicht garantieren können. Deshalb sind sie mit Zwangsinstrumenten verbunden. Naturgesetze bedürfen solcher Instrumente nicht, denn der Naturzwang fällt mit der Gesetzmäßigkeit der Naturprozesse zusammen. Weil Kant nun die unbedingte Geltung des kategorischen Imperativs gegenüber seiner möglichen Verletzung hervorheben will, setzt er ihn in Analogie zur Naturgesetzlichkeit: Es „könnte der allgemeine Imperativ der Pflicht auch so lauten: handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetz werden sollte.“85 Die Vorstellung des eigenen Handelns als eines konstitutiven Moments einer naturgesetzlichen Ordnung ist noch keineswegs eine Mechanisierung der Sittlichkeit. Die Naturordnung dient hier als Modell einer strikt nach Gesetzen geordneten Sphäre. Dabei ist Kants Naturbegriff zugrunde zu legen, nach dem Natur materialiter der Inbegriff der Gegenstände möglicher Erfahrung ist,86 formaliter der durch die subjektiven Formen des Denkens konstituierte Zusammenhang unserer Vorstellungen von Erscheinungen.87 Dieser Zusammenhang kann nur als ein durchgängig durch Kausalität bestimmter Zusammenhang gedacht werden: Er muß lückenlos und widerspruchsfrei sein. Zugleich ist diesem Modell für Moral aber immanent, daß die den Menschen obliegende Gestaltung der zweiten Natur eine Einheit von Moralisierung einerseits und politischer wie auch technischer Weltgestaltung andererseits darstellen müßte, so daß der Allgemeinheit des moralischen Gesetzes nicht allein in der individuellen subjektiven Vorstellung objektive Realität zukäme; diesen Zusammenhang entfaltet Kant aber nicht.88 Die moralischen Maximen sollen dem Naturgesetzmodell zufolge nun so vorgestellt werden, als seien sie konstitutive Bedingungen für den Zusammenhang aller möglichen Handlungen untereinander. Sittlichkeit ist demzufolge nur zu denken als notwendiges und widerspruchsfreies System der praktischen Relationen vernunftbegabter Sinnenwesen. Der Widerspruchsfreiheit äußerer Erfahrung der Natur korrespondiert dann die Widerspruchsfreiheit im Innern des Subjekts. Jede Ausnahme von der Moralität zerstört die Widerspruchsfreiheit dieses sittlichen Systems und verhindert damit auch dessen Vereinbarkeit mit der Einheit der Natur unter der transzendentalen Einheit der Apperzeption. Die Vorstellung des kategorischen Imperativs in der Form eines Naturgesetzes antizipiert so die weitere Vorstellung eines systematischen Zusammenhangs, eines Systems

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gründliche Erläuterung von Dieter Henrich, Das Prinzip der Kantischen Ethik, a.a.O., 28. – Rüdiger Bubner, Geschichtsprozesse und Handlungsnormen, a.a.O., 237, bemerkt: „Die Maxime steht in einer unbestimmten Zwischenzone zwischen Subjektivität und Intersubjektivität.“ Das Subjekt formuliert sie, aber praktisch wird sie erst im Verhältnis zu anderen. GMS, IV 421. Vgl. KrV, B 163. Vgl. KrV, B 165, A 125. Vgl. hierzu Peter Eulers Bildungsbegriff: Technologie und Urteilskraft, a.a.O.

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der Sittlichkeit. Diese Antizipation ist aber nur einzulösen, wenn es gelingt, aus dem puren Selbstverhältnis der praktischen Vernunft a priori ihre Objektivierung zu entwickeln. Die Objektivierung des Willens ist nur zu denken durch seine Ausrichtung auf Zwecke. Die Beziehung auf Zwecke ist aber zunächst nicht der geforderten Formalität, der reinen Selbstbestimmung, gemäß, sondern ist material über subjektive Triebfedern bestimmt, die durch ein äußeres Objekt affiziert sind. Alle solche Zweckbeziehungen sind relativ und haben in der Äußerlichkeit von Relationalität ein heteronomes Moment. In der zweiten Formulierung des kategorischen Imperativs will Kant nun Subjektivität und Objektivität moralischer Willensbestimmung verschränken: Der kategorische Imperativ könne nur in einem Wesen gründen, das „einen absoluetn Werth“ habe oder „Zweck an sich selbst“89 sei. Dies treffe auf vernünftige Wesen – und mit diesen auch auf Menschen – zu, die in Beziehung auf sich selbst und auf einander niemals bloße Mittel sein könnten. In der gesetzmäßigen, vernünftigen Bestimmung des eigenen Willens, der Selbstbestimmung der Vernunft, liegt mit der Erhaltung der Widerspruchsfreiheit des Selbstbewußtseins zugleich dessen Erhaltung als Selbstbewußtsein eines vernünftigen Wesens überhaupt, die Erhaltung des Daseins des handelnden Subjekts als Vernunftsubjekts.90 Ist ein Mensch nun deswegen als Zweck an sich selbst zu betrachten, weil er als bloßes Subjekt äußerer Zwecke in seiner Subjektivität selbst abhängig wäre, dann beschädigt derjenige, der nicht in jeder Maxime zugleich die Erhaltung der Identität seines vernünftigen Selbstbewußtseins intendiert, schon seine rationale Substanz; in der Vorstellung eines ausschließlich mittelbaren Wesens ist vollends die Vorstellung des Menschlichen ausgelöscht. Es ist die Vorstellung von einem Werkzeug, bestenfalls von einem instrumentum vocale. Dagegen richtet sich der Imperativ des Selbstzwecks: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“91 Der Ausdruck, die Menschheit in der Person solle niemals bloß als Mittel, sondern immer auch als Zweck an sich selbst gebraucht werden, scheint nun den Weg dafür 89 90

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GMS, IV 428. Vgl. KpV 65: Ziel der praktischen Vernunft ist es, in ausdrücklicher Analogie zur transzendentalen Einheit der Apperzeption, „das Mannigfaltige der Begehrungen der Einheit des Bewußtseins einer im moralischen Gesetze gebietenden praktischen Vernunft […] zu unterwerfen“. – Auch Wolfgang Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, a.a.O., erkennt „das praktische Vernunftprinzip“ als „Inbegriff aller untereinander widerspruchsfreien Handlungen, Zwecke und Maximen“ sowie als Grund der „Einheit der individuellen wie der gemeinschaftlichen Willkür“; nur die Positivität dieses Ausdrucks wäre zu kritisieren: Praktische Identität ist nur kontrafaktisch festzuhalten, Autonomie als ausgeführte existiert nirgends. GMS, IV 429. Ein Problem bezeichnet Johannes Rohbeck, Technologische Urteilskraft, a.a.O., 85: „Offensichtlich scheint auch für diesen Akt der Selbstbegründung der Zweckbegriff unverzichtbar zu sein. […] Die allgemeine Tätigkeit des Zweck-Setzens bleibt die übergreifende Struktur, obgleich sie in der Gestalt des Selbstzwecks ihre ursprüngliche Relationalität verleugnet.“ Kants Begriff des Selbstzwecks reflektiert, daß die Relationalität sittlicher Verhältnisse für uns – empirisch – früher ist, aber zugleich Relata voraussetzt, die selbst nicht ausschließlich relational bestimmt sein können. Er soll Subjektivität gegen heteronome Bedingungsgefüge festhalten. Tiefer noch geht deshalb Adornos Kritik an Kants Verfahren, Freiheit überhaupt durchgängig unter der Kategorie Kausalität zu denken. Vgl. Negative Dialektik, a.a.O., 248.

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zu öffnen, daß Menschen zu Mitteln gemacht werden dürfen, wenn ihre Subjektivität nur nicht vollständig negiert werde; womöglich hat Kant, mit Blick auf die zunehmend bürgerlich-rechtliche Organisation der gesellschaftlichen Reproduktion, diese Interpretation durchaus angelegt: Verträge sind zwar per definitionem die freie Übereinkunft freier Willen, jedoch machen die Vertragspartner die Freiwilligkeit des Anderen zum Mittel ihrer Zwecke, denn jeder versucht, bei einem Vertragsgeschäft sein eigenes Interesse durchzusetzen; die Interessen des Anderen nimmt er dabei in Kauf als Mittel zur Durchsetzung der eigenen. Dabei wird „die Chancengleichheit zur Waffe des Stärkeren gegen den Schwächeren. Denn in jeder, vollends aber in einer mobilisierten Gesellschaft ist Vertragsfreiheit immer auch wirtschaftliche und also öffentliche Macht, die die Freiheit anderer notwendig beschränkt oder unterdrückt.“92 Das setzt allerdings eine Gesellschaft voraus, in der die Interessen der Einzelnen nicht – wie Hegel für die Staatsidee reklamiert – zugleich auch allgemeine Zwecke sind. Wird diese Differenz zwischen den Interessen der Einzelnen und den allgemeinen Zwecken als natürlich vorausgesetzt, erscheint Kants Formulierung, man dürfe Menschen nicht ‚bloß zu Mitteln‘ machen, als pragmatische Kautel des kategorischen Imperativs: In der antagonistischen Welt müssen die Menschen immer auch instrumentalisiert werden können, um überhaupt allgemeine Zwecke verfolgen zu können.93 92 93

Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, a.a.O., 458. So sieht es auch die herrschende Interpretation des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland. Dessen erster Artikel, demzufolge die Würde des Menschen unantastbar sei, wird ausdrücklich nicht so interpretiert, daß Menschen unter keinen Umständen zum Mittel gemacht werden dürften. Im Gegenteil wird eingeräumt, es sei ganz unvermeidlich, daß Menschen durch staatliches und gesellschaftliches Handeln immer wieder zu Mitteln gemacht würden. Dies stelle aber keinen Verstoß gegen die Menschenwürde dar, solange nicht der Mensch vollständig zum Objekt gemacht worden sei. Aber schon die Forderung nach einer Definition, wann dies der Fall sei, ist zynisch; denn diese müßte zugleich angeben, bis wohin Abhängigkeit und Erniedrigung von Menschen durch das Grundgesetz geschützt werden. So sah es der Kommentar von Theodor Maunz/Günther Dürig (Hgg.), Grundgesetz, München 1991 (Art. 1: Günther Dürig). Die neue Fassung (München 2005, Art. 1: Matthias Herdegen) hat den Anspruch vernünftiger Allgemeinheit, unter dem allein sich von Würde reden ließe, nicht nur preisgegeben, sondern verspottet: „Für die staatsrechtliche Bedeutung sind allein die (unantastbare) Verankerung im Verfassungstext und die Exegese der Menschenwürde als Begriff des positiven Rechts maßgeblich. Wer dies bestreitet, kann nur auf das Hohepriestertum seiner höchstpersönlichen Ethik und deren Überzeugungskraft in der Gemeinschaft der Würdeinterpreten setzen.“ (Rn. 17) Soweit ist der Moralbegriff durch Ethikdiskussionen pluralisiert. Allerdings weiß der Positivist Herdegen, der Dürig für einen Kantianer und Naturrechtler hält, daß der Positivismus „alles andere als wertfrei“ (Rn. 18) sei. Insgesamt folgten aus der Würde keine Rechte (bei Kant folgen alle daraus, da sie als Autonomie Legislationsprinzip ist), denn dadurch würde Deutschland sich „von anderen Staaten […] isolieren, die keinen derartigen Primat der Menschenwürde […] kennen“ (Rn. 21). Die Ausführungen Herdegens, die Würde nur im ständigen Rekurs auf den Nationalsozialismus fassen können, weil ihnen ein Begriff eben nicht zugrundeliegt, wären eingehend zu kritisieren, aber rechtsphilosophisch bliebe das wohl letztlich unergiebig. – Bedenklich findet aber auch der philosophisch eingeleitete Kommentar von Horst Dreier (Hg.), Grundgesetz Kommentar, Tübingen 2004. Art. 1 (Horst Dreier) die „Übernahme der Lehre Kants als maßgebliche[] oder gar alleinige[] Interpretationsmaxime für den Menschenwürdesatz“ (Rn. 13), und zwar wegen der pluralistischen Interpretationslandschaft und weil Kant selbst den Würdebegriff nicht ins Recht übernommen, sondern überhaupt zwischen

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Genau besehen wendet die konsequente Interpretation von Kants Formulierung des ‚praktischen Imperativs‘ sich aber gegen jede augenzwinkernde Deutung. Wer nicht bloß Mittel ist, ist damit sofort als möglicher Urheber seiner Zwecke zu betrachten: „Er ist nämlich das Subject des moralischen Gesetzes, welches heilig ist, vermöge der Autonomie seiner Freiheit. Eben um dieser willen ist jeder Wille, selbst jeder Person ihr eigener, auf sie selbst gerichteter Wille auf die Bedingung der Einstimmung mit der Autonomie des vernünftigen Wesens eingeschränkt, es nämlich keiner Absicht zu unterwerfen, die nicht nach einem Gesetze, welches aus dem Willen des leidenden Subjects selbst entspringen könnte, möglich ist“94 . Die Identität des Subjekts, der letzte Zweck aller systematischen Philosophie, ist hiernach nur dann gewahrt, wenn zwischen ZweckSein und Mittel-Sein kein Widerspruch besteht. Dies gelingt einzig unter der Voraussetzung, daß Menschen zu Mitteln allein solcher gesellschaftlicher Zwecke werden, die sie zugleich als ihre eigenen erkennen und annehmen können müssen, so daß sie durch ihre Mittelbarkeit zu gesellschaftlichen Zwecken zugleich unmittelbar sich selbst zum Zweck haben. Diese Objektivierung des moralischen Willens im Selbstzweck impliziert zugleich, daß alle möglichen vernünftigen Wesen in ihrem Selbstzwecksein systematisch miteinander vereinbar sind, weil dieses Selbstzwecksein sich auf ihre Vernunftnatur bezieht, nach der sie alle gleich sind. Als Bestimmung a priori vermöchte sie den widerspruchsfreien Zusammenhang aller Vernunftwesen zu stiften, in dem sie als Selbstzwecke eben nicht isoliert, sondern gerade a priori aufeinander verwiesen sind. Selbstzweck sind sie ihrer allgemeinen, nicht ihrer besonderen Natur nach, nicht dieser oder jener Mensch, sondern die Menschheit in seiner Person. Seine Vernunftnatur als Gattungsmerkmal bestimmt ihn zum Selbstzweck. Dies ist mithin keine empirische Bestimmung und kein subjektiv gesetzter Zweck, sondern ein objektiver Zweck a priori. Der systematische Zusammenhang der Vernunftwesen führt zurück zur problematischen Formulierung des kategorischen Imperativs in Analogie zum Naturgesetz. Die konstitutive Funktion des Sittengesetzes für ein System der Sittlichkeit, analog dem Naturzusammenhang, ist möglich, weil die Menschen als Vernunftwesen a priori sittlich auf alle anderen Vernunftwesen bezogen sind. Daraus ergibt sich die dritte Formulierung des kategorischen Imperativs, „die Idee des Willens jedes vernünftigen Wesens als eines allgemein gesetzgebenden Willens. […] Der Wille wird also nicht lediglich dem Gesetze unterworfen, sondern so unterworfen,

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Moralgesetz und Rechtsgesetz strikt unterschieden habe. „Daher führt der Hinweis auf den sittlichen Charakter des Kantischen Rechtsbegriffs nicht weiter, sondern stellt sich als Rückschritt gegenüber Kants eigenen Differenzierungsleistungen dar.“ Jede Kritik an Kant gölte nach dieser Maxime, würde sie zum Gesetz, als reaktionär, weil Kant sie nicht selbst formuliert hat. Gleichwohl wird diese Differenzierungsleistung mit Scheler als ‚Entpersönlichung‘ kritisiert, um sie aber doch als positiven Grund der Ausgrenzung moralischer Begründung aus der „konkrete[n] Rechtsordnung“, die das Grundgesetz sei, anzuführen. In Abwandlung eines Hegelischen Aufsatzes ließe sich fragen: Wer denkt konkret? – Böckenförde bringt dies alles präzis auf den Punkt: Der „Gehalt der Achtung der Menschenwürde und des Grundrechts auf Leben“ seien „konsensabhängig“ (Recht, Staat, Freiheit, a.a.O., 65). Die Begriffe der Philosophie werden dann formale Stichwörter, die in den ‚gesellschaftlichen Diskurs‘ zurücksacken, dem sie mühevoll entrungen worden waren. KpV, V 87, meine Hervorhebungen.

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daß er auch als selbstgesetzgebend, und eben um deswillen allererst dem Gesetze (davon er sich selbst als Urheber betrachten kann) unterworfen, angesehen werden muß.“95 Indem der Wille allgemein gesetzgebend ist, also nicht nur sich selbst bestimmt, sondern Gesetze der Willensbestimmung überhaupt setzt, ist zugleich die Ausgangsformulierung wieder eingeholt: Durch die Selbstgesetzgebung ist er zugleich allgemein gesetzgebend; so wird durch die Maxime zugleich das Allgemeine gesetzt. Und darin ist zugleich seine Selbstgesetzgebung objektiv verankert, weil dieses Allgemeine, das der Wille setzt, jeder Maxime, die er sich selbst gibt, als Maßstab dient. Das Kriterium, Gesetzen nur dann und deswegen unterworfen zu sein, wenn und weil man sie vernünftigerweise sich selbst geben könnte, ist zugleich die moralische reflektierte Form des politischen Grundsatzes des Republikanismus.96 Diese Selbstgesetzgebung nennt Kant Autonomie. Allein durch Autonomie fällt alles Hypothetische weg, weil gesetzgebende und gesetzbefolgende Instanz identisch sind: Reine Vernunft kann gegen sich kein empirisches Interesse haben.97 Das einzige Interesse, das die Vernunft hat, ist a priori und betrifft die Einheit aller Vorstellungen in einem System. Dem korrespondiert moralisch die systematische Einheit aller Zwecke in dem, was Kant ein ‚Reich der Zwecke‘ nennt. Dieses ist die moralische Idee der widerspruchsfreien Organisation aller Subjekte von Zwecken als Zwecke an sich selbst. Zudem werden ihre äußeren Zwecke ideal derart organisiert gedacht, daß die Kollision von Zwecken und von den durch sie bestimmten Handlungen a priori ausgeschlossen ist. Diese Idee muß unabhängig von den empirischen Beschränkungen gefaßt werden können, denen Vernunft in gesellschaftlicher Praxis unterworfen ist, Sonst könnten solche Beschränkungen überhaupt nicht als Beschränkungen interpretiert werden.98

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GMS, IV 431. Vgl. MdS RL, VI § 46. Auf das nicht-empirische der in dieser Gesetzgebung geltenden Subjekt-Objekt-Einheit hat Annemarie Pieper hingewiesen: Vgl. Wie ist ein kategorischer Imperativ möglich?, a.a.O., 273. Der Vermittlungsversuch des intelligiblen Autonomiebegriffs mit der empirischen Realität des Subjekts gelingt aber nur, wenn man, wie Kant, den moralischen Status der Bedingungen, unter denen gehandelt wird, für irrelevant hält. Dann kann sich „[d]erselbe Wille, der sich empirisch […] als unfrei erfährt, […] seiner ursprünglichen Freiheit vergewissern, wenn er auf die Herkunft der […] Gesetze reflektiert. Dabei wird er erkennen, daß dem Gesetz der praktischen Vernunft der Vorrang […] gebührt, weil das praktische Gesetz seinen Ursprung in der Idee der Freiheit hat.“ (274; meine Kursivierung) Der durch das hier kursivierte Pronomen vertretene Wille ist durch die bezeichnete Reflexion schon wieder der intelligible, reine Wille, dessen Einsicht zu den tatsächlichen Handlungsbedingungen schief steht und dessen empirische Realisierung das Subjekt dieser Realisierung möglichweise auslöscht. Der ‚transzendentale Standpunkt‘ (vgl. 277) hat eben nicht nur keinen doppelten Boden, sondern gar keinen; für die Standfestigkeit ist das empirische Subjekt zuständig. Vgl. dagegen Ludwig Siep, Konkrete Ethik, a.a.O., 178: „Gegen selbstbezogene Affekte fordert die Einsicht in das Gewicht der Werte die vernünftige Überlegung und die Überschreitung der subjektiven Beschränkung. Diese Forderung muss aber nicht auf die Autonomie der Vernunft von allen übrigen ‚Regungen‘ zurückgeführt werden, sondern liegt in der Vernunft als Werteinsicht.“ Das Bewußtsein der Differenz von Vernunft und anderen ‚Regungen‘ kann aber nur in eine Vernunft fallen, die nicht mit solchen Regungen konfundiert ist, sondern sich begrifflich rein auf sich beziehen kann. Eine konfundierte Vernunft könnte keine ‚Überschreitung‘ von ‚Beschränkungen‘

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Politisch-praktisch gesprochen wäre jene Idee die Idee vollständiger rationaler Arbeitsteilung und Kooperation, deren Zweck der reibungsfreie systematische gesellschaftliche Zusammenhang selbst wäre und durch diesen die menschenwürdige Reproduktion der Gesellschaft und jedes einzelnen ihrer Mitglieder. Diese Idee hat Hegel später als die Idee des Staats formuliert, der als ‚konkrete Freiheit‘ darin bestehe, daß die Verfolgung der allgemeinen Zwecke mit der der besonderen Zwecke im Handeln der Individuen und auch dem der Institutionen unmittelbar verschränkt sei.99 Eine solche politisch-praktische Auslegung stößt bei Kant jedoch auf ein massives transzendentalphilosophisches Hindernis: Das Zwecksystem a priori läßt die Beziehung auf die gegenständliche Reproduktion der Menschen nicht zu, weil deren Zweck als äußerer den Imperativ als hypothetischen qualifizieren müßte. Nun ist die moralische Form gesellschaftlicher Reproduktion weder empirisch noch a priori positiv zu entwickeln. Empirisch ist sie nicht zu entwickeln, weil sie so keiner notwendigen allgemeinen Begründung fähig wäre, a priori ist sie es nicht, weil aus dem bloßen Begriff des Subjekts von Zwecken, der reinen praktischen Vernunft, keine qualitative Vielheit von Subjekten zu entwickeln ist. Der kategorische Imperativ gilt für Vernunftwesen, insofern sie Vernunftwesen sind, und erlaubt deshalb neben dem allgemeinen Begriff der Vernunft allenfalls numerische Verschiedenheit, bloße Vielheit von Vernunftsubjekten, von deren qualitativen Unterschieden abzusehen ist: „Ich verstehe aber unter einem Reiche die systematische Verbindung verschiedener vernünftiger Wesen durch gemeinschaftliche Gesetze. Weil nun Gesetze die Zwecke ihrer allgemeinen Gültigkeit nach bestimmen, so wird, wenn man von dem persönlichen Unterschiede vernünftiger Wesen, imgleichen allem Inhalte ihrer Privatzwecke abstrahirt, ein Ganzes aller Zwecke (sowohl der vernünftigen Wesen als Zwecke an sich, als auch der eigenen Zwecke, die ein jedes an sich selbst setzen mag), in systematischer Verknüpfung, d. i. ein Reich der Zwecke gedacht werden können, welches nach obigen Principien möglich ist.“100 Die Vereinbarkeit der ‚eigenen Zwecke‘ der jeweiligen Vernunftwesen zu einem Ganzen resultiert daraus, daß von ‚allem Inhalte ihrer Privatzwecke abstrahiert‘ wurde. Sie geraten dieser Konstruktion nach nur deshalb nicht in Konflikte, weil sie nichts Bestimmtes wollen, zumal von allen persönlichen Unterschieden der Subjekte ebenso abstrahiert wurde, so daß die widerspruchsfreie Koordination der Subjekte als Selbstzwecke nichts Anderes ist als ihre Identität in der transzendentalen Einheit der Apperzeption, ihre Übereinstimmung als Vernunftwesen überhaupt.101

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sinnvoll fordern, weil sie selbst nicht Maßstab der Unterscheidung des zu Beschränkenden sein könnte. Vgl. G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, a.a.O., § 260. GMS, IV 433. Das wird in einer an den Kategorischen Imperativ angelehnten Formulierung der Maximen des Denkens deutlich: „Sich seiner eigenen Vernunft bedienen will nichts weiter sagen, als bei allem dem, was man annehmen soll, sich selbst fragen: ob man es wohl thunlich finde, den Grund, warum man etwas annimmt, oder auch die Regel, die aus dem, was man annimmt, folgt, zum allgemeinen Grundsatze seines Vernunftgebrauchs zu machen“ (Sich im Denken orientieren, VIII 146f. Anm.) Vgl. Ludwig Siep, Einleitung, in: Praktische Philosophie im Deutschen Idealismus, Frankfurt am Main 1992, sieht in dem Verhältnis theoretischer Einheit von Subjektivität und sittlicher Einheit individuierter Subjektivität das Ausgangsmotiv der praktischen Philosophie des

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Um aber an der objektiven Realität der Idee des Reichs der Zwecke überhaupt festhalten zu können, muß Kant einen qualitativen Unterschied zitieren, und zwar den von ‚Mitglied‘ und ‚Oberhaupt‘ im Reich der Zwecke. Jedes Vernunftwesen wäre im Reich der Zwecke durch seine Vernunft allgemein gesetzgebend; aber nur sinnenbegabte Vernunftwesen, die auch unvernünftigen Antrieben unterliegen, sind den Gesetzen aus Pflicht unterworfen. Reine Vernunftwesen könnten nicht gegen sie verstoßen. Der Plural reiner Vernunftwesen ist der Sache nach absurd: Gäbe es ihrer mehrere, so wären sie nicht unterscheidbar. Deshalb gibt es bloß die Unterscheidung zwischen Oberhaupt und Mitgliedern im Reich der Zwecke und sodann die der Mitglieder untereinander. Aber auch diese Differenzierung führt nicht auf bestimmte Zwecke und Gesetze, wie in Kants Behauptung des Gegenteils immerhin durchscheint: „Denn vernünftige Wesen stehen alle unter dem Gesetz, daß jedes derselben sich selbst und alle anderen niemals bloß als Mittel, sondern jederzeit zugleich als Zweck an sich selbst behandeln solle. Hiedurch aber entspringt eine systematische Verbindung vernünftiger Wesen durch gemeinschaftliche objective Gesetze, d. i. ein Reich, welches, weil diese Gesetze eben die Beziehung dieser Wesen auf einander, als Zwecke und Mittel, zur Absicht haben, ein Reich der Zwecke […] heißen kann.“102 Ausdrücklich sind die Gesetze, die das Zusammenleben ordnen, keine ‚allgemeinen objektiven‘ sondern ‚gemeinschaftlich objektive‘ Gesetze. Während Objektivität strenge Allgemeinheit, Gültigkeit schlechthin, voraussetzt, bezeichnet ‚gemeinschaftlich‘ bloß komparative Allgemeinheit, Gültigkeit für einen bestimmten definierten Bereich. Selbst wenn diese gemeinschaftlichen Gesetze für alle gölten, wäre ihre Quelle, ihr Geltungsgrund, nicht die reine Vernunft sondern die Gemeinschaft. Darin ist aber bereits ein juridisches Verständnis von Sittlichkeit antizipiert, das sich vom moralischen durch die äußere Geltungsweise der Gesetze unterscheidet.103 Die Vorstellung widerspruchsfreier Koordination bestimmter Einzelzwecke gelingt solange nicht widerspruchsfrei, wie die praktischen, gegenständlichen Beziehung der endlichen Vernunftwesen auf die gegenständlichen Bedingungen ihres Daseins nicht nach vernünftigen Zwecken organisiert werden. Dazu wären individuelle und gesellschaftliche Reproduktionsprozesse nach einsehbar allgemeinen Regeln aufeinander zu beziehen. Dies indes setzt das Ideal des Reichs der Zwecke begrifflich voraus. Diese praktische

102 103

Deutschen Idealismus: „Mit Kant sieht er in der ‚transzendentalen Apperzeption‘ die grundlegende einheitsstiftende und erkenntnisermöglichende Funktion des Selbstbewußtseins. […] Subjektivität ist allen vernünftigen und bewußten Individuen gemeinsam, aber sie muß sich ‚individualisieren‘. Und sie tritt nicht nur in einem, sondern in mehreren Individuen auf, die in einem bestimmten, selber bewußten Verhältnis zueinander stehen. Für das Handeln und die Fragen von Moral und Recht ist dieses Verhältnis offenbar von zentraler Bedeutung.“ (11). – Auf den Zusammenhang von theoretischem Selbstbewußtsein und Autonomie in struktureller Gleichheit weist auch Dieter Henrich, Kant und Hegel, a.a.O., 183, hin und stellt eine Prävalenz der Theorie fest. Ebenso ders., Das Prinzip der Kantischen Ethik, a.a.O., 34. Maximilian Forschner, Gesetz und Freiheit. Zum Problem der Autonomie bei I. Kant, München 1974, 250, bezeichnet Kants Versuch, Autonomie in der transzendentalen Einheit des Subjekts zu begründen, hingegen als erfolglos. GMS, IV 433. Dieter Henrich, Ethik der Autonomie, a.a.O., zufolge fallen in der Autonomie Erkenntnisgrund und Geltungsgrund des Guten in der Vernunft zusammen.

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Idee der Widerspruchsfreiheit aller Zwecke korrespondiert dem theoretischen Begriff der systematischen Einheit des vernünftigen Selbstbewußtseins, der transzendentalen Einheit der Apperzeption. Durch diese Form strenger Allgemeinheit von Praxis wird ein konsistenter Maßstab vernünftigen Handelns begründet, der im Unterschied zu allen pragmatischen Maßstäben nicht korrumpierbar ist. Ohne eine solche Vorstellung a priori wären Widersprüche gesellschaftliche Praxis weder zu kritisieren, noch überhaupt zu denken: Wenn der Maßstab, den das Denken an die Sache legt, teils von der Sache selbst entlehnt ist, vermag er diese nicht unabhängig zu messen. Das bestimmt auch das Mißverhältnis, das in den sich normfrei verstehenden Sozialwissenschaften heute zwischen den erhobenen Daten und den Ausgangsfragen sowie den Interpretationen auftritt. Ergeben sich die Kriterien, nach denen die Fragen arrangiert und die Antworten interpretiert werden, selbst aus dem empirischen Zusammenhang, in dem geforscht wird, so fehlt gerade die objektive Distanz zum Gegenstand. Werden die Kriterien hingegen aus der praktischen Vernunft begründet, so sind sie nicht normfrei. Als Maßstab von Kritik ist die Idee des Reichs der Zwecke polemisch gegen die abstrakte Realität kollektiver Subjektivität in der bürgerlichen Gesellschaft. Diese Abstraktheit kollektiver Subjektivität ist das objektive Korrelat der Auslöschung von Subjektivität in der Konsequenz von Kants Beispielen. Sie besteht in der Abstraktion der persönlichen Unterschiede der Menschen zu Subjekten bürgerlichen Rechts, Rechtspersonen, die als solche nur das logische Substrat der Zurechnung ihrer Handlungen sind.104 Die Inhalte dieser Handlungen selbst werden in Rechtssätzen normiert erfaßt; sie figurieren als allgemeine Tatbestände. Die empirischen Sachverhalte sind nur in den Aspekten relevant, die unter den Tatbestand subsumiert werden können. Diese formelle Allgemeinheit organisiert keine vernünftige Allgemeinheit, sondern sie organisiert einen selbst formell allgemeinen Zweck: die Reproduktion einer kapitalistisch verfaßten Gesellschaft. In ihr sind alle Einzelzwecke auf die Reproduktion des Ganzen bezogen, aber als Mittel, die nicht an sich selbst zugleich Zwecke sind. Die entwickelte Reproduktion kapitalistischer Gesellschaften besorgt die Erhaltung der Subjekte ausschließlich so weit, wie dies profitabel möglich ist. Die Bestimmung des Einzelnen, einschließlich seiner bloßen Existenz, wird zu einer relationalen, zu einem ‚Preis‘.105 Dem steht Kants Bestimmung des vernünftigen Wesens im Reich der Zwe104

105

„Handlungen werden durch Zurechnungsprozesse konstituiert. […] ein geläufiges Vorurteil […] besteht in der Zurechnung des Handelns auf konkrete Einzelmenschen“ (Niklas Luhmann, Soziale Systeme, a.a.O., 228f.). Damit bezeichnet Luhmann, wenngleich nicht die theoretische Bestimmung von Handlungen, so doch die gesellschaftliche Realität ihrer Auffassung. – Henrich macht dagegen das Beispiel der Wohltätigkeit stark (vgl. Das Prinzip der kantischen Ethik, a.a.O.); dies ist allerdings im Zusammenhang von Kants Moralbegriff problematisch, weil schon die Wohltätigkeitspflichten eher einer utilitaristischen Begründungsform folgen. Vgl. dazu Manfred Walther, Konsistenz der Maximen. Universalisierbarkeit und Moralität nach Spinoza und Kant, unveröff. Ms. 2008, Veröff. i.V. Die soziale Fürsorge ist eher ein staatlicher Ausgleich der geschäftlichen Praxis, die auf Einzelne keine Rücksicht nimmt; insofern die Erhaltung dieser Menschen gegen unmittelbare ökonomische Interessen aber zugleich der Erhaltung der Akkumulationsbedingungen des Kapitals auf lange Sicht diene, betätige sich, so Marx, der Staat als ‚ideeller Gesamtkapitalist‘. Vgl. z. B. Das Kapital, Bd. 1, MEW 23, a.a.O., 504: „Die Fabrikgesetzgebung, diese erste bewußte und planmäßige

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cke als Subjekt von ‚Würde‘ entgegen; Menschen sind Subjekte von Würde und damit Selbstzweck, weil sie der Moralität fähig sind.106 Moralität ist demnach die notwendige Bedingung von Selbstzwecksein und Würde. Hätte nun Moralität auch nur ein einziges empirisches Moment, so folgte daraus erstens, daß unter unmoralischen Verhältnissen niemand Selbstzweck sein kann; denn die empirischen Verhältnisse, die der Moralität nicht genügten, lädierten diese und mit ihr das Selbstzwecksein, das ohne sie nicht bestehen kann. Dem mag so sein. Es folgte aber zweitens, daß unter unmoralischen Bedingungen auch niemandem Würde zukäme, denn auch diese hat nach Kant intakte Moralität zur Voraussetzung. Die Konsequenz wäre, daß unter unmoralischen Bedingungen Menschen nicht nur faktisch, sondern legitim entwürdigt würden. Läßt die Begründung sittlicher Geltung sich auf Faktizität auch nur momenthaft ein, bricht der substantielle Maßstab, die Einheit des Subjekts, zusammen. Sittlichkeit, wie Kant sie aus der Einheit des Bewußtseins entwickelt hatte, ist überhaupt nur zu fordern möglich, wenn Moralität als Bestimmung a priori schon unantastbare Würde begründet, oder in anderen Worten: wenn das Vernunftwesen Mensch bereits dadurch, daß es zum Mitglied eines bloß möglichen Reichs der Zwecke überhaupt nur qualifiziert ist, unantastbarer Selbstzweck ist. Kant bringt dies auf den Begriff der Autonomie. In dieser Fähigkeit zur Selbstgesetzgebung gründet die menschliche Würde.107 Allerdings ist dieser Begriff von Autonomie notwendig leer, denn das Gesetz, das reine Vernunft sich selbst gibt, läßt sich nur als bloße Form vorstellen, da reine Vernunft aus sich selbst, ohne Erfahrung, keine Inhalte setzen kann. So bleibt es „in Ansehung aller Objekte unbestimmt“108 . Auf der Seite des Sinnenwesens, das diesem Gesetz unterworfen sein soll, korrespondiert dem die Negation aller partikularen Beweggründe. Negativität und Positivität von Autonomie koinzidieren in deren Formalität: „In der Unabhängigkeit nämlich von aller Materie des Gesetzes (nämlich einem begehrten Objecte) und zugleich doch Bestimmung der Willkür durch die bloße allgemeine gesetzgebende Form, deren eine Maxime fähig sein muß, besteht das alleinige Princip der Sittlichkeit. Jene Unabhängigkeit aber ist Freiheit im negativen, diese eigene Gesetzgebung aber der reinen, und, als solche, praktischen Vernunft ist Freiheit im positiven Verstande. Also drückt das moralische

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Rückwirkung der Gesellschaft auf die naturwüchsige Gestalt ihres Produktionsprozesses, ist, wie man gesehen, […] ein notwendiges Produkt der großen Industrie“. Im Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Bedingungen ist auch die spätere deutsche Sozialgesetzgebung seit Bismarck zu sehen, in ihren Fortschritten ebenso wie in ihren neuerlichen massiven Rückschritten. Zum terminus ‚ideeller Gesamtkapitalist‘ vgl. Friedrich Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft, MEW 20, Berlin 1978, 260. Vgl. GMS, IV 435. Vgl. GMS, IV 436. GMS, IV 444. Das vollständige Zitat lautet: „Der schlechterdings gute Wille, dessen Princip ein kategorischer Imperativ sein muß, wird also, in Ansehung aller Objecte unbestimmt, bloß die Form des Wollens überhaupt enthalten, und zwar als Autonomie, d. i. die Tauglichkeit der Maxime eines jeden guten Willens, sich selbst zum allgemeinen Gesetz zu machen, ist selbst das alleinige Gesetz, das sich der Wille eines jeden vernünftigen Wesens selbst auferlegt, ohne irgendeine Triebfeder und Interesse derselben als Grund unterzulegen.“ Vgl. KpV, § 1, V 19f., demzufolge reine Vernunft den Willen ‚hinreichend‘ bestimmen solle.

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Gesetz nichts anders aus, als die Autonomie der reinen praktischen Vernunft, d. i. der Freiheit, und diese ist selbst die formale Bedingung aller Maximen, unter der sie allein mit dem obersten praktischen Gesetze zusammenstimmen können.“109 Mit dieser begrifflichen Bestimmung von Moral ist aber noch keine verbindliche Begründung der Möglichkeit ihrer unbedingten Geltung erfolgt. Diese ist nicht aus dem Begriff selbst abzuleiten, sondern muß mit dem Pflichtbegriff schon vorausgesetzt werden; allein deshalb ‚ergibt‘ sie sich aus Kants Begriffsanalyse von Moral. Die Begründung der Verbindlichkeit, so Kant, kann daher nur synthetisch erfolgen, durch die Untersuchung der Fähigkeit reiner praktischer Vernunft, ihre eigenen Begriffe a priori allgemeingültig zu erweitern. Kant geht von der Einsicht aus, daß Freiheit ein Gesetz haben muß, wenn sie nicht zum Spielball der Pathologie der Neigungen werden soll; ohne Gesetz wäre sie nicht als Ergänzung zur Naturkausalität unter die Kategorie Kausalität zu bringen.110 Allerdings könne ihr Gesetz nur aus ihr selbst hervorgehen, wenn es sie nicht als Freiheit beschädigen soll. Diese Freiheit durch Selbstgesetzgebung ist nun äquivalent mit dem Sittengesetz, weil sie auf der Allgemeinheit der Maximen beruht. Aus dem Begriff der Freiheit läßt sich demnach der des Sittengesetzes entwickeln; in diesem Sittengesetz aber wird selbstverständlich die Forderung nach Selbstbestimmung des Willens überhaupt zur Allgemeinheit dieser Selbstbestimmung erweitert: Die „Eigenschaft des Willens, sich selbst ein Gesetz zu sein“ wird kommentarlos zu dem Satz umgewandelt‚ nach dem „der Wille in allen Handlungen sich selbst Gesetz“ sei, so daß seine Maximen „sich selbst als allgemeine Gesetze zum Gegenstand haben könnten“111 , das heißt sie wollen nicht nur das, was ihr Inhalt ist, sondern sie wollen ihr eigenes Wollen zum Gesetz erheben, wodurch das, was sie wollen, unbedingte Verbindlichkeit erhält. Diese Erweiterung beruht auf dem unausgewiesenen Übergang von der negativen Freiheit zur positiven Freiheit. Die negative Freiheit war durch universale Abstraktion, durch Abweisung aller äußerlichen Antriebe für sich selbst als frei bestimmt worden. Der dadurch begründeten Möglichkeit von positiver Freiheit, die sich selbst das Gesetz gibt, wäre nun ihre Notwendigkeit nachzuweisen, durch die das Gesetz Verbindlichkeit gewänne, also überhaupt erst ein Gesetz würde. In dem Begriff des Gesetzes ist dann das sittliche System, das Reich der Zwecke, angelegt – wenn es eben gelingt, den Gesetzescharakter des Wollens zu begründen. Da nun Freiheit die Bestimmung des Willens ist, weil und sofern er vernünftig ist, kommt sie notwendig allen vernünftigen Wesen zu. Ein vernunftbegabtes Sinnenwesen, das heteronom bestimmt würde, wäre – als Gegenstand heteronomer Bestimmungen – eben kein Vernunftwesen, sondern ein Naturobjekt. Diesem Verhältnis von Freiheit und Natur korrespondiert das von positivem und negativem Freiheitsbegriff. Selbstbestimmt ist der Wille durch Negation von Fremdbestimmung; als selbstbestimmter hat er aber eine allgemeine Form, weil er nur durch reine Vernunft bestimmt ist. Dieses Verhältnis 109 110

111

KpV, § 8, V 33. Kant versteht, in Anlehnung an Hume, sowohl ‚Kraft‘ als auch ‚Handlung‘ als ‚Folgebegriffe‘ des Kausalitätsbegriffs (vgl. Prolegomena, IV 257). Zu dem Problem der Subsumtion von Freiheit unter die Form des Kausalitätsbegriffs vgl. Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, a.a.O., 243ff. GMS, IV 446f.

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läuft jedoch scheinbar auf einen Zirkel hinaus: „Wir nehmen uns in der Ordnung der wirkenden Ursachen als frei an, um uns in der Ordnung der Zwecke unter sittlichen Gesetzen zu denken, und wir denken uns nachher als diesen Gesetzen unterworfen, weil wird uns die Freiheit des Willens beigelegt haben“112 . In der Vorstellung negativer Freiheit liegt bereits die Differenz von empirischem und intelligiblem Subjekt, Sinnenwesen und Vernunftwesen. Die Abweisung äußerlicher Ursachen des Handelns setzt schon voraus, daß das Subjekt aus einer eigenen Bestimmung heraus sich von den äußerlichen Bestimmungsgründen zu unterscheiden vermag. Dieser Unterschied muß seinen Grund in einer intelligiblen Identität des Subjekts haben. Allerdings sind sich vernunftbegabte Sinnenwesen selbst nur in der Erfahrung, der äußeren oder inneren Selbstbeobachtung, gegeben. Ihre intelligible Einheit ist als reine Vernunft aber kein Gegenstand von Erfahrung. Erfahrbar mögen die Auswirkungen der Einheit der Vernunft im Handeln sein, nicht jedoch sie selbst. Aber diese Identität kann doch erschlossen werden als notwendige Bedingung von Subjektivität überhaupt: Wären nicht alle Vorstellung des Subjekts auf dessen subjektive Identität bezogen, so könnten sie von ihm gar nicht als seine Vorstellungen vorgestellt werden. Nun ist es aber möglich, in Urteilen verschiedene Erscheinungen nach solchen allgemeinen Regeln zu verknüpfen, die nicht aus Erfahrungserkenntnis resultieren können; die Sinne stellen nur partikulare Erscheinungen vor, der Verstand verbindet sie nach reinen Begriffen, die aber, wenngleich generalisierend, immer auf Erfahrung bezogen sind. Die Identität des subjektiven Bewußtseins, auf die alle zu verknüpfenden Vorstellungen bezogen wären, wäre in dieser Universalität aber über die Erfahrung erhaben. Deshalb könnte sie auch Ideen hervorbringen, die die unbedingte Vollkommenheit von Erfahrungsgegenständen antizipierten. Damit schüfe sie Begriffe, die aus der Erfahrung selbst nicht hervorgehen können. Ein solcher Begriff wäre der der unbedingten Selbständigkeit des Willens in Ansehung aller Erfahrungsobjekte, die Freiheit. Die Vernunft ist als reine, erfolgsunabhängige, Spontaneität der Ort der Selbstbestimmung a priori; zugleich ist sie deshalb der Grund der Unterscheidung der intelligiblen Seite des Subjekts von seiner empirischen. Vermöge der Vernunft kann das Subjekt sich selbst als selbstbestimmtes oder als fremdbestimmtes ansehen. Sofern es sich als vernünftiges, selbstbestimmtes Wesen betrachtet, kann es sich nur als freies Wesen denken; das freie Wesen in Bezug auf sich selbst als Naturwesen erkennt sich als Subjekt von Moral, das aus Vernunft sich gegen seine Naturbestimmtheit wenden kann.113 Dieses Subjekt von Moral ist aber nicht nur sub-iectum, der Moral Unterworfenes, sondern es ist Subjekt auch im spezifisch neuzeitlichen Sinn als Urheber von Moral. Freiheit erweist sich nach alledem nicht als ungedeckte Voraussetzung der Moralbegründung, sondern als in der Reflexivität der Vernunft selbst verankert. Deren Verbindung mit dem sinnlichen Körper begründet den verpflichtenden Charakter der Freiheitsgesetze, weil endliche Vernunftwesen – also nicht reine Vernunftwesen – den vernünftigen Gesetzen nicht notwendig folgen, sondern den Einfluß ihrer sinnlichen Antriebe den Gesetzen gemäß beschränken müssen, wenn sie gesetzmäßig handeln wollen. Indem Vernunft als Vermögen der Selbstunterscheidung der Subjekte in 112 113

GMS, IV 450. Vgl. GMS, IV 452.

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ihr intelligibles und empirisches Wesen sich erweist, begründet das zunächst die Möglichkeit, den reinen rationalen Grund der Notwendigkeit moralischer Gesetze in Bezug auf ihre empirische Subjektivität darzulegen; es begründet aber auch die entgegengesetzte Möglichkeit, Moralität als innere Gesetzgebung von den realen Verhältnissen ihrer empirischen Subjekte zu isolieren.114 Vernunft vermag sowohl, sich und ihr Anderes dialektisch zu vermitteln, als auch den Chorismos115 von Idee und Erscheinung zu begründen. Die erste Möglichkeit betont die Kraft reiner Vernunft über die Empirie, die zweite Möglichkeit betont die Erhabenheit reiner Vernunft über die Wirklichkeit; beides ist idealistische Präferenz des reinen Denkens. Was das Subjekt als empirisch praktisches tatsächlich vermag, hängt dagegen zwar von der Konzeption des vernünftigen Selbstbewußtseins ab, ist aber aus diesem allein nicht zu begründen.116 Indem die Vernunft mit dem Begriff der Freiheit ihr oberstes praktisches Prinzip ermittelt hat, hat sie zugleich ihre Grenze gesetzt. Freiheit ist zu denken möglich, weil sie dem Begriff der kausalen Naturordnung nicht widerspricht, und Freiheit muß gedacht werden, weil ohne diesen Gedanken kein konsistenter Begriff menschlichen Handelns möglich wäre. Als Modalitäten der Freiheit bilden sich Möglichkeit und Notwendigkeit heraus, die zusammengenommen die offene, unerfüllte Forderung nach Freiheit bestimmen. Von der Wirklichkeit von Freiheit heißt es bei Kant nur, daß sie kein positiver Gegenstand menschlicher Erkenntnis sei. Doch auch wenn niemals die Wirklichkeit von Freiheit festzustellen sein sollte, gibt es doch einen sicheren Grund dafür, sie stets zu fordern, sie – selbst als problematische – als Grund der unbedingten Verpflichtung zu ihrer Realisierung zu begreifen. Daß die Freiheitslehre den Modus der Wirklichkeit nicht enthält, beruht darauf, daß Freiheit eine Idee praktischer Vernunft ist, die diese um ihrer eigenen Möglichkeit und Konsistenz willen annimmt; so ist Freiheit bloß negativ erschlossen. Nun beruht zwar Moralität auf der reinen Vernunft, ihre Verpflichtung jedoch auf dem Verhältnis der Vernunft zur Sinnlichkeit: „Denn jetzt sehen wir, daß, wenn wir uns als frei denken, so versetzen wir uns als Glieder in die Verstandeswelt, und erkennen die Autonomie des Willens, sammt ihrer Folge, der Moralität; denken wir uns aber als verpflichtet, so betrachten wir uns als zur Sinnenwelt und doch zugleich zur Verstandeswelt gehörig.“117 Mit dem Begriff der Freiheit liegt der Pflicht eben auch der Chorismos von reiner Vernunft und Sinnlichkeit zugrunde. Die Distinktion von Vernunftwesen und Sinnenwesen ist aber selbst noch kein Akt praktischer Vernunft, sondern sie gehört der theoretischen Vernunft an. Diese denkt sie, um Natur und Freiheit unter 114 115

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Vgl. Dieter Henrich, Das Prinzip der kantischen Ethik, a.a.O., 37. Im Unterschied zu Ausdrücken wie ‚Differenz‘, ‚Distinktion‘, ‚Dualismus‘ oder ‚Dichotomie‘ bezeichnet ‚Chorismos‘ noch am nachdrücklichsten die auch reale Getrenntheit der beiden Seiten; es handelt sich, wo vom Chorismos die Rede ist, nicht bloß um eine begriffliche Konstruktion von Unterschied überhaupt, sondern um eine solche, die das durch sie Unterschiedene als real Getrenntes denkt und auseinanderhalten soll. Ebenso gilt freilich umgekehrt: „So wichtig es ist, die Indentität von empirischer Leiblichkeit und bewusster Subjektivität zu betonen, so wenig lässt sich aus der Identifikation mit der eigenen Leiblichkeit Freiheit erklären oder begründen.“ Christine Zunke, Kritik der Hirnforschung. Neurophysiologie und Willensfreiheit, a.a.O., 27. GMS, IV 453.

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der Einheit des Selbstbewußtseins vereinen zu können. In dieser theoretischen Absicht bewirkt sie aber nicht sowohl die synthetische Vermittlung beider Seiten als Momente eines Ganzen als vielmehr die analytische eindeutige Abgrenzung ihrer jeweiligen Bereiche. Als Sinnenwesen unterliegt ein Mensch vollständig der Naturkausalität, als intelligibles Wesen ist er frei. Das ‚zugleich‘ beider in der Verpflichtung ist nur als Unterordnung wohlunterschiedener Bereiche zu denken.118 Der praktische Akt der Vernunft ist nach dieser Unterscheidung aber auf die Willensbestimmung durch eine vernünftige, zur Allgemeinheit fähige Maxime beschränkt, unangesehen der empirischen Handlung. Es ist die logische Bedingung von Freiheit, die strikte Separierung des intelligiblen Wesens, die zugleich Freiheit im Subjekt verhält, ihre Realisierung tendentiell zurückhält, weil sie auf reale Bedingungen allenfalls negativ bezogen ist. Diese Trennung von intelligiblem und empirischem Subjekt findet im Selbstbewußtsein des moralischen Subjekts selbst statt: „[D]aß ein Ding in der Erscheinung (das zur Sinnenwelt gehörig) gewissen Gesetzen unterworfen ist, von welchen eben dasselbe, als Ding oder Wesen an sich selbst unabhängig ist, enthält nicht den mindesten Widerspruch; daß er sich selbst aber auf diese zwiefache Art vorstellen und denken müsse, beruht, was das erste betrifft, auf dem Bewußtsein seiner selbst als durch Sinne afficirten Gegenstandes, was das zweite anlangt, auf dem Bewußtsein seiner selbst als Intelligenz, d. i. als unabhängig im Vernunftgebrauch von sinnlichen Eindrücken […].“119 Nicht zufällig wechselt Kant mitten im Satz das logische und mit diesem auch das grammatische Subjekt. Zuerst ist allgemein vom ‚Ding in der Erscheinung‘ die Rede, dessen transzendentale Unterscheidung in Erscheinung und Ding an sich widerspruchsfrei zu denken sei; sodann setzt Kant nicht mit neutralem, sondern mit maskulinem Personalpronomen fort: Nicht es – das Ding –, sondern er – offenbar der Mensch –, solle sich selbst widerspruchsfrei jener Differenz im Ding gemäß vorstellen und bedürfe dazu der Differenzierung des eigenen Selbstbewußtseins in ein Bewußtsein von sich als einem bloßen sinnlichen Gegenstand und in ein anderes Bewußtsein von sich als einer bloßen sinnenfreien Intelligenz. Schon die Beschreibung des Selbstbewußtseins der sinnlichen Seite scheitert: Kant spricht von einem ‚durch Sinne affizierten Gegenstand‘. Tatsächlich affizieren nicht die Sinne Gegenstände, sondern Gegenstände affizieren die Sinne. In Kants Formulierung wird das Objekt, die physische Erscheinung des Subjekts, selbst zum Subjekt der Affizierung. Daß Kant hier Subjekt und Objekt durcheinandergehen, ist symptomatisch dafür, daß kein Selbstbewußtsein durch diese strikte Differenz von Sinnenwesen und Vernunftwesen tatsächlich bestimmt ist. Beides sind Momente des Selbstbewußtseins, die analytisch zu trennen sind, die aber keineswegs begründen, ‚daß er sich selbst auf diese zwiefache Art vorstellen müsse‘, so daß immer nur das eine im Unterschied zum anderen seine Subjektivität ausmache. Das denkende wie das handelnde Subjekt ist substantiell eines; kein Bewußtsein kann in der Reflexion auf die Sinnlichkeit die Reflexion ausschalten, und ebensowenig kann es in der Reflexion auf die Vernunft in bloßen Formen, ohne Rekurs auf sinnliche Gehalte reflektieren. Solches Bewußtsein wäre nicht einmal schizophren; es wäre nichts. 118 119

Vgl. GMS, IV 452. GMS, IV 457.

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Kants Behauptung, die Gleichzeitigkeit der empirischen Abhängigkeit und intelligiblen Unabhängigkeit der Dinge von der Naturkausalität enthalte nicht den mindesten Widerspruch, trifft überhaupt nur dann zu, wenn eine Verknüpfung beider Seiten nicht in Betracht kommt. Deshalb hält er an der Trennung fest. Unter deren Voraussetzung nämlich steht die Willensbestimmung nicht unter äußeren Einflüssen, aber ihre Beziehung auf äußere Gegenstände ist damit abgeschnitten. Die Differenz, daß Menschen bloß als sinnenfreie Vernunftwesen eigentlich sie selbst seien, als Menschen dagegen bloße Erscheinungen ihrer selbst, schließt die sinnlichen materialen Bedingungen des Handelns aus dem Begriff moralischer Freiheit aus, gemäß dem Grundsatz, daß Freiheit als bedingte in Wahrheit Unfreiheit wäre.120 Aber auch in der intelligiblen Welt, deren Bürger die Menschen als Vernunftwesen sind, läßt sich kein Objekt des Willens ausfindig machen; denn die intelligible Welt liegt außerhalb des Bereichs möglicher Erfahrung. Von ihr wissen wir nichts, außer daß sie uns zu denken möglich ist. Dies ist aber eine bloß formale Vorstellung, keine gegenständliche. Die Gegenständlichkeit versucht Kant nun weiter aus der positiven Wendung des Begriffs der Freiheit zu dem der Autonomie zu gewinnen. Dieser führe weiter auf den des reinen oder unmittelbaren Interesses, das Vernunft im Unterschied zu sinnlichen Antrieben vernunftloser Wesen fassen könne. Ein reines Vernunftinteresse besteht an solchen Handlungen, deren Maximen als allgemeine hinreichend zur Handlung, also durch praktische Vernunft bestimmt sind.121 Der Gegenstand des reinen Vernunftinteresses ist dann die eigene Objektivität der Vernunft selbst, ihre Kausalität als reine Vernunft. Dieses Interesse ist nicht abgeleitet, sondern bezeichnet die Praxis reiner Vernunft selbst als deren eigene Dynamik. Es ist die Übersetzung der vernünftigen Allgemeinheit des Selbstbewußtseins in Selbstbestimmung. Dies unterscheidet sich erheblich von der negativen Bestimmung der Möglichkeit des kategorischen Imperativs. Dort war Freiheit als logische Bedingung der Möglichkeit des sinnlich affizierten Willens erschlossen worden, der in der Erfahrung gegeben, aber logisch inkonsistent war. Dagegen entspricht die praktische Konsequenz der Vernunftnotwendigkeit als reines Interesse schon beinahe Hegels Vorstellung vom Übergang der theoretischen in die praktische Vernunft. Dieser Vorstellung Hegels zufolge ist die Erkenntnisrelation von Subjekt und Objekt die intellektuelle Assimilation von Objektivität ans Subjekt. Ein Aspekt begrifflicher Erkenntnis ist, daß Gegenstände der Erfahrung durch intelligible Formen bestimmt werden. So erscheint jede Erkenntnis als Selbstbestimmung: Erkannt wird nur das, was an sich schon dem Intellekt formal entspricht; was unter dessen Formen nicht paßt, muß fremd bleiben. Ein anderer Aspekt des subjektiven Zugriffs auf Objektivität ist das tätige Ergreifen eines Anderen. Dieses bietet dann die Überleitung vom Erkenntnisvorgang zur praktischen Aneignung der Welt. – Allein indem Kant erstens auf der Heterogenität von 120

121

Christine Zunke, Kritik der Hirnforschung. Neurophysiologie und Willensfreiheit, a.a.O., 29, weist die Auffassung, Kant sei Dualist, zurück mit der Begründung, „die Handlung als empirische [sei] nur über ihre zu denkende Intention zu begreifen“. Es bleibt aber fraglich, ob Kants Konstruktion der Intention als allgemein beurteilbarer den Weg vom Denken zurück zur Erfahrung offenhalten kann. Vgl. GMS, IV 460.

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Erscheinungen und Intellekt beharrt und zweitens das Interesse als logisch unableitbar bestimmt, bleibt der Idealismus aus. Der Sache nach kann aber bei Kant die Allgemeinheit der Vernunft von der Allgemeinheit moralischer Gesetze ebensowenig inhaltlich unterschieden werden wie das reine Interesse von der Vernunft selbst unterscheidbar ist; denn es wird ja nur durch seinen Gegenstand bestimmt. Dieser aber ist eben die Allgemeinheit der Vernunft selbst. Ebensowenig wie später Hegel kommt Kant deshalb aus der Immanenz der Vernunft heraus. Die Objektivierung der Vernunft bleibt bloße Paraphrase der Immanenz des Subjekts. Allein die negative Darstellung der Freiheit als Bedingung der Möglichkeit, Handlungen zu denken, bewahrt vor der Stillstellung in der Idee. Jeder Versuch, die dialektische Bewegung von negativem und positivem Moment im Freiheitsbegriff in eine positive Objektivierung reiner Vernunft umzuwandeln, verhindert dann gerade die Möglichkeit, objektive Realität vernünftiger Handlungen zu denken, weil das Besondere der empirischen Bedingungen, die der Vernunft gegenüberstehen, nicht als solches berücksichtigt wird. Der Übergang von der Theorie zur Praxis kann innerhalb der Theorie allein nicht hinreichend begründet werden. Das hat Kant zumindest angedeutet: „Wie nun aber reine Vernunft […] für sich selbst praktisch sein, d. i. wie das bloße Princip der Allgemeingültigkeit aller ihrer Maximen als Gesetze […] ohne alle Materie (Gegenstand) des Willens, woran man zum voraus irgend ein Interesse nehmen dürfe, für sich selbst eine Triebfeder abgeben, und ein Interesse, welches rein moralisch heißen würde, bewirken […] könne, das zu erklären, dazu ist alle menschliche Vernunft gänzlich unvermögend“122 . Gleichwohl kann diese Schranke nicht zum Anlaß genommen werden, die Vernunft nun hinsichtlich der Praxis für unzuständig zu halten und zum Pragmatismus überzugehen. Ebensowenig kann die Vernunft zum absoluten Grund moralischer Praxis erklärt werden. Das gegenläufige Verhältnis von Natur und Freiheit in den Menschen erwies sich als Grundlage des Schlusses auf den intelligiblen Grund der Freiheit, als dessen ratio cognoscendi. Freiheit ist vor ihrer bloßen Abstraktheit dadurch zu bewahren, daß sie negativ, als Bedingung der Möglichkeit jener Gegenläufigkeit begriffen würde, als deren ratio essendi. Im Medium dieser Gegenläufigkeit von Vernunft und Sinnlichkeit wäre sie zu entfalten, ohne die spekulative Form ihres Begriffs als positiven Ausdruck absoluter Innerlichkeit aufzufassen. Dann kann der Begriff der Freiheit dazu dienen, solche gegenständlichen Bedingungen, die eine Vermittlung von Natur und Freiheit den Menschen einzeln und kollektiv versagen, nicht bloß zu erkennen, sondern auch, wo möglich, sie zu verändern. Möglich ist es insbesondere dort, wo solche Bedingungen geschichtlich bestimmt sind. So bietet der Begriff der Freiheit die Grundlage dafür, moralisch begründete Kritik an unmoralischer gesellschaftlicher Praxis zu üben. Solche Kritik wäre nicht durch utopische Maßstäbe bedingt.123 Utopien dagegen entwerfen positive anschauliche Vorstellungen eines vermeintlich Besseren, die aus der Kritik des Gegebenen gar nicht abgeleitet werden können. Sie 122 123

GMS, IV 461. Als Ort der Kritik erscheint die gesetzprüfende Vernunft nicht bloß als ‚Herabsetzung‘ der als formelle Allgemeinheit und Tautologie erkannten gesetzgebenden Vernunft (vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes, a.a.O., 231f.): Als bestimmte Kritik tritt Vernunft ins Verhältnis zu ihrem geschichtlichen Inhalt.

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sind nicht Resultat der Kritik des Gegebenen durch eine Idee der Vernunft, sondern sie sind Projektion einer solchen Idee durch die produktive Einbildungskraft, nicht mehr als eine Phantasie gegen eine andere, vielleicht entgegengesetzte. Weil Utopien nicht strikt Vernunft kritisch auf Gegenstände beziehen, sondern aus der anschaulichen Vorstellung leben, sind sie immer auf die besonderen Interessen von Menschen gerichtet und haben daher unabdingbar ein Moment von Heteronomie. – Der moralische Begriff der Identität des Subjekts als Vermittlung von Vernunft und Sinnlichkeit leistet mehr als jede Utopie: Er erlaubt es grundsätzlich, solche Bedingungen zu identifizieren, an denen das Subjekt als Subjekt – in seiner Selbstbestimmung – scheitern muß. Dadurch weist er negativ über sich und vor allem über diese Bedingungen hinaus. Daß hierfür dann auch Kenntnisse der gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen die Menschen leben, erforderlich sind, bedeutet nicht, daß diese Bedingungen den moralischen Begriffen systematisch vorausgesetzt seien; diese würden dadurch durchaus heteronom.124 Unter der Maßgabe von Autonomie aber zeichnet sich ein Zusammenhang moralischer, erkenntnistheoretischer und gesellschaftstheoretischer Bestimmungen ab, außerhalb dessen praktische Philosophie form- und gegenstandslos ist.

4.

Zur Subjektivität von Autonomie

Die vernunftbegabten Sinnenwesen werden zu Subjekten des Sittengesetzes durch ihr Vermögen, sich selbst Zwecke zu setzen. Dieses Vermögen ist widerspruchsfrei nur zu denken, wenn diese Subjekte zugleich als Zwecke an sich selbst gelten. Das Selbstzwecksein seinerseits, so Kant, gründet in der Autonomie, die das Vermögen des Willens bezeichnet, das Grundvermögen der Willkür, selbständig Zwecke zu setzen, diese aus sich heraus gesetzmäßig zu bestimmen. Hierdurch bestimmt sich der Wille erst von der Willkür zum freien Willen fort, in der Autonomie kommt praktische Vernunft zu sich selbst. Das Vermögen zur Autonomie ist einerseits negativ bestimmt, indem es die „Unabhängigkeit nämlich von aller Materie des Gesetzes“125 voraussetzt: Nur eine praktische Vernunft, die in der Willensbestimmung von äußeren Zwecken nicht beschränkt wird, kann selbst Urheber der Willensbestimmung sein. Diese Freiheit im negativen Verstande schlägt in dem Vermögen, unbeeinflußt sich selbst zu bestimmen, in die Freiheit im positiven Verstande, diejenige zur Selbstgesetzgebung um. Kants Folgerung hingegen, die Autonomie, Freiheit im positiven Verstande, sei „die formale Bedingung aller Maximen, unter der sie allein mit dem obersten praktischen Gesetze zusammenstimmen können“126 , abstrahiert schon vom Zusammenhang negativ und positiv verstandener Freiheit, isoliert diese als formale Bedingung der Möglichkeit von Moralität. Sie ist aber diese formale Bedingung nur darum, weil sie aus der Negation 124

125 126

Vgl. Jan Weyand, Adornos Kritische Theorie des Subjekts, a.a.O., 10: „Ein Begriff von Heteronomie ist nur unter der Voraussetzung eines Begriffs von Autonomie zu formulieren.“ Der Begriff der Autonomie setzt aber seinerseits schon die Erfahrung der Diskrepanz von Subjekt und Heteronomie voraus, ohne die keine Reflexion auf moralische Autonomie stattfände. KpV, V 33. KpV, V 33.

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heterogener Bedingungen resultiert. Heterogene Bedingungen sind der reinen Vernunft insofern auch heteronom, als Vernunft nicht a priori über sie und ihre Gesetzmäßigkeit verfügt. Deshalb behält Natur – auch als beherrschte, eben weil sie beherrscht werden muß – für Kant immer das Moment des Heteronomen.127 So bleibt auch positiv verstandene Freiheit negativ auf die Materie des Wollens und auf die Materialität des Wollenden bezogen; sie ist ihrem Gehalt nach selbst ein negativ materiales Prinzip. Zwar kann die Materie nicht „als das Object einer Begierde […] in das praktische Gesetz als Bedingung der Möglichkeit desselben“128 aufgenommen werden, weil dann das Objekt die Begierde und diese den Willen heteronom beherrschte; aber das Objekt muß deshalb – gegen Kant – doch nicht als solches außer aller Erwägung gesetzt werden. Vielmehr ist dem Verhältnis von Selbstbestimmung und Negation der Fremdbestimmung zufolge das Heteronome am Objekt aufzuheben in eine der Selbstbestimmung adäquate Gestalt, in der nicht jede Beziehung des Subjekts auf Objekte pathologisch wäre. Die Heteronomie des Naturgegenstands als eines solchen ist nicht zu vernichten; die Brutalität – Rohigkeit –, mit der sie den Subjekten ankommt, wäre aber in einer zweiten Natur nach allgemeinen sittlichen Regeln zu organisieren. Negativer Ausweis dieser Möglichkeit ist die Organisation von Natur in bisherigen Gestalten zweiter Natur, in denen eine Minderheit sich weitgehend vor der Bedrohung durch die erste Natur dadurch sicherte, daß sie diese in gesteigertem Maß auf die Mehrheit der Menschen umlenkte. Wissenschaft und Technik, Mittel der Befreiung vom Naturzwang, repräsentieren dann für diejenigen, die an dieser Befreiung nicht voll partizipieren, den Zwang der zweiten Natur, dessen Undurchschaubarkeit ihnen ebenso in der Maschinerie entgegentritt, über die andere verfügen, wie in dem Wissen, das ihnen vorenthalten wird. Umgekehrt gründet die Undurchschaubarkeit der zweiten Natur eben in dem Vorenthalten von Wissen. Verdreht, aber eben nicht ohne Grund, erfassen die Menschen Wissenschaft und Technik als Bedrohung, der sie ein romantizistisches Naturbild entgegenstellen. Für Kant fallen derlei Erwägungen der Politik zu, die im Rahmen einer Rechtsgeschichte auch pragmatisch Zivilisation organisiert. Moral könnte allenfalls den reinen Begriff des Fortschritts der Vernunft bilden, und auch dieses nur dann, wenn sie außerhalb des Pragmatischen konzipiert würde. Diesen reinen Begriff muß es geben, wenn menschliches Handeln überhaupt zum Gegenstand vernünftiger Reflexion werden können soll. Insofern leistet Kants Moralbegriff, vor allen Fragen nach seinem Anwendungsgebiet, immerhin die Selbstvergewisserung reiner Vernunft über ihr praktisches Vermögen, die Gewißheit dessen, daß das vernünftige Interesse nicht ein beliebiges in der Konkurrenz partikularer Interessen ist. Durchaus sieht Kant richtig, daß die Heteronomie des Objekts eine Bestimmung ist, die nur in Beziehung aufs Subjekt gilt; nicht aber sieht er, daß Subjekte diese Heteronomie kraft Willkür in den Objekten befestigt haben, die Heteronomie der Naturgegenstände als willkommenes Werkzeug zur Errichtung und Befestigung gesellschaftlicher Heteronomie ergriffen haben. Macht von Menschen über Menschen ist nicht allein letztlich die Naturgewalt des Stärkeren, sondern sie bedient sich auf fortgeschrittenem Stand 127

128

Vgl. Peter Bulthaup, Kants Anarchismus und die Pathologie republikanischer Freiheit, in: Michael Städtler (Hg.), Kants ‚Ethisches Gemeinwesen‘, a.a.O., 175. KpV, V 33.

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der Naturkräfte in der Gestalt von Technik, um Herrschaftsverhältnisse effektiv und dauerhaft im ökonomischen Verhältnis der Gesellschaft zur Natur zu verankern, statt daß die Menschen ihre wachsende Naturbeherrschung zum Mittel der Überwindung gesellschaftlicher Herrschaft machten. Wie Menschen sich zu einer herrschaftslos und statt dessen unter moralischen Zwecken vermittelten Natur verhielten, läßt sich, da dies in der Geschichte der Menschen nie auch nur ernsthaft praktisch erwogen wurde, überhaupt nicht einschätzen; möglich sind allenfalls einige negative Bestimmungen wie diejenige, daß bei vernünftiger Überlegung niemand ein Interesse an der rücksichtslosen Ausbeutung von Ressourcen, bis zur Bedrohung menschlicher Lebensbedingungen, haben könnte. Dies sind Probleme, die sich für Kant, im vorindustriellen Zeitalter, noch nicht stellen. Er unterstellt traditionell anthropologisch, die moralische Deformation der Menschen durch ihre um die Gunst der Herrschaft oder um Anteile an ihr konkurrierenden Begierden läge in der menschlichen Natur begründet. Dadurch jedoch entzieht er dem moralischen Bewußtsein – um dessen purer Möglichkeit willen – die Objekte ganz. Damit aber ist der Moral auch die aus der Freiheit im negativen Verstande, der Negation der Heteronomie, resultierende Widerstandskraft gegen Beherrschung durch Fremdes oder durch Andere abgeschnitten. Daran scheitert auch das Reich der Zwecke, mit dessen Konzeption Kant sich moralisch am weitesten vorwagt: „Nun ist auf solche Weise eine Welt vernünftiger Wesen (mundus intelligibilis) als ein Reich der Zwecke möglich und zwar durch die eigene Gesetzgebung aller Personen als Glieder. Demnach muß ein jedes vernünftige Wesen so handeln, als ob es durch seine Maximen jederzeit ein gesetzgebendes Glied im allgemeinen Reiche der Zwecke wäre.“129 Diese Bestimmung muß, wegen der pathologischen Natur der Menschen, ins Subjekt zurückgenommen werden: „Ein solches Reich der Zwecke würde nun durch Maximen, deren Regel der kategorische Imperativ allen vernünftigen Wesen vorschreibt, wirklich zu Stande kommen, wenn sie allgemein befolgt würden.“130 Weil sie aber nicht allgemein befolgt werden, gerät Autonomie, gegen ihren streng allgemeinen Kern, zur Privatsache, an der jeder für sich selbst scheitern darf.131 Noch Kants Beispiel, nach dem es moralisch möglich ist, die allgemeine Glückseligkeit anderer, also einen dem Reich der Zwecke äquivalenten materiellen Zweck, zu wollen, zeugt von Inkonsequenz: „Die Materie sei z. B. meine eigene Glückseligkeit. Diese, wenn ich sie jedem beilege (wie ich es denn in der That bei endlichen Wesen thun darf), kann nur alsdann ein objectives praktisches Gesetz werden, wenn ich anderer ihre in dieselbe mit einschließe. Also entspringt das Gesetz, anderer Glückseligkeit zu befördern, nicht von der Voraussetzung, daß dieses ein Object für jedes seine Willkür sei, sondern blos daraus, daß die Form der Allgemeinheit, die die Vernunft als Bedingung bedarf, einer Maxime der Selbstliebe die objective Gültigkeit eines Gesetzes zu geben, der Bestimmungsgrund des Willens wird, und also war das Object (anderer Glückseligkeit) nicht der Bestimmungsgrund des reinen Willens, sondern die bloße gesetzliche Form war es allein, dadurch ich meine auf Neigung gegründete Ma-

129 130 131

GMS, IV 438. GMS, IV 438. Vgl. auch Jan Weyand, Adornos Kritische Theorie des Subjekts, a.a.O., 9.

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xime einschränkte, um ihr die Allgemeinheit eines Gesetzes zu verschaffen“132 . Zwar ist es die gesetzliche Form, die zur Allgemeinheit der Maxime führt, aber sie ist nicht der alleinige Bestimmungsgrund des Willens, der mit ihrer informatio zugleich von aller Materie abgesondert würde. Auch die Zuordnung des Begehrens zum unteren Begehrungsvermögen leistet diese Trennung nicht, da das Gesetz des Willens die Maxime des Begehrens reflektiert und so als bestimmend in sich aufnimmt. Wie unheimlich Kant der Gedanke der Glückseligkeit hier ankommt, zeigt die Formulierung, nach der die gesetzliche Form die Maxime einschränke. Tatsächlich erweitert jene ja diese zum allgemeinen Gesetz der Glückseligkeit aller, wie Kant sogleich einräumt. Daß Kant, in Antizipation des allgemeinen Rechtsprinzips, die Einschränkung als Verhinderung der Kollision partikularer Willkürsphären durch das Glückseligkeitsprinzip versteht, ist wiederum ein Zugeständnis an historisch bestimmte, konkurrenzbasierte Verhältnisse oder eines an die Anthropologie; beides hätte, seinem eigenen Theorieverständnis zufolge, in der Vernunftbestimmung nichts verloren. Kants weiteres Bedenken gegenüber der allgemeinen Glückseligkeit ist – wie gegenüber der je individuellen – ihre Unbestimmtheit. Niemand wisse, worin der andere seine Glückseligkeit setze, nicht einmal worin er selbst seine eigene zukünftig setzen würde, welche Bedürfnisse ihm – woraus auch immer – entstehen möchten. Vor allem sei ungewiß, ob Glückseligkeit überhaupt realisierbar sei.133 Nun war die Realisierbarkeit des moralischen Zwecks eines Reichs der Zwecke von Kant durchaus in Frage gestellt worden, woraus aber kein Einwand gegen das Sittengesetz zu machen war. Ebensowenig wäre die Fähigkeit der allgemeinen Glückseligkeit, allgemeiner Zweck zu sein, durch die Problematik ihrer Realisierbarkeit prinzipiell aufzuheben. Die prinzipielle Vagheit des Begriffs ließe sich wohl durch keinen gesellschaftlichen Fortschritt zu garantierter positiver Erfüllung aufheben; umso dringlicher erscheint aber die Aufgabe, alle objektiv erkennbaren Hindernisse von Glückseligkeit zum Gegenstand gesellschaftlicher Überwindung zu machen. Kant bestreitet dies nicht grundsätzlich: „Ein Gebot, daß jedermann sich glücklich zu machen suchen sollte, wäre thöricht; denn man gebietet niemals jemanden das, was er schon unausbleiblich von selbst will. Man müßte ihm blos die Maßregeln gebieten, oder vielmehr darreichen, weil er nicht alles das kann, was er will.“134 Daß diese Darreichung keine bloß technisch-praktische, in die naturkausal verstandene Zivilisationsgeschichte fallende Aufgabe ist, sondern vor allem eine moralische, weil die Mittel der Zivilisation immer – so oder anders – unter moralischen Bedingungen ge132

133

134

KpV, V 34f. Vgl. MdS TL, VI § 30; vgl. VI 393: „Daß diese Wohlthätigkeit Pflicht sei, ergiebt sich daraus: daß, weil unsere Selbstliebe von dem Bedürfniß von anderen auch geliebt (in Nothfällen geholfen) zu werden nicht getrennt werden kann, wir also uns zum Zweck für andere machen und diese Maxime niemals anders als blos durch ihre Qualification zu einem allgemeinen Gesetz, folglich durch einen Willen Andere auch für uns zu Zwecken zu machen verbinden kann, fremde Glückseligkeit ein Zweck sei, der zugleich Pflicht ist.“ Hierzu vgl. Manfred Walther, Konsistenz der Maximen, a.a.O.: „Dies ist sicherlich kein kategorischer Imperativ, sondern eine Variante der Goldenen Regel in ihrer positiven Fassung!“. Vgl. KpV, V 37: „Die Ursache ist, weil es bei dem ersteren nur auf die Maxime ankommt, die ächt und rein sein muß, bei der letzteren aber auch auf die Kräfte und das physische Vermögen, einen begehrten Gegenstand wirklich zu machen.“ KpV, V 37.

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braucht werden, sieht Kant nicht. Der Zusammenhang der Glückseligkeit mit der Moral liegt ihm so fern, daß es noch ein Argument gegen diesen Zusammenhang ist, daß die Menschen nicht gerne moralisch sein wollen und doch, wenn sie wollten, es könnten.135 Die offensichtliche Diskrepanz von Moral und Glückseligkeit, deretwegen die existentiell bedrohten Menschen sich zur Moral nicht durchringen können, sollen sie affirmieren, indem sie, ihre Existenz mißachtend, moralisch sind: Nur so könnten sie uneingeschränkt, was sie wollen müßten.136 Das Verhältnis des Sittengesetzes zur Objektivität bleibt indes für Kant problematisch. Wenngleich es „[n]ur auf die Willensbestimmung […], nicht auf den Erfolg“137 ankomme, gebe doch das Faktum der Autonomie „auf eine reine Verstandeswelt Anzeige“138 . Das Sittengesetz soll demzufolge „der Sinnenwelt, als einer sinnlichen Natur, (was die vernünftigen Wesen betrifft) die Form einer Verstandeswelt, d. i. einer übersinnlichen Natur, verschaffen, ohne doch jener ihrem Mechanism Abbruch zu thun“139 . Die praktische Vernunft wird geradezu der göttlichen Vorsehung gleich zum Ort einer natura archetypa, dergemäß eine moralische Sinnenwelt eine natura ectypa sein soll, die durch reine Vernunft erzeugt würde, wenn „sie mit dem ihr angemessenen physischen Vermögen begleitet wäre“140 . In zwei Momenten ist die praktische Vernunft von Gott unterschieden: Erstens existiert schon eine sinnliche Welt, die nur nach dem Sittengesetz einzurichten wäre; darunter wäre aber nur die Kohärenz von Sinnlichkeit und Moral vorstellbar, die es nach Kant nicht geben kann. Zweitens verbleibt die moralische Vorsehung deshalb in „einer reinen Verstandeswelt“141 , sie bleibt eine „übersinnliche[] 135

136

137 138 139 140 141

Vgl. KpV, V 37. Entsprechend weist Kant der Psychologie die moralische Aufgabe zu, Affekte zu erklären, damit Anstalten getroffen werden könnten zur „Wegräumung der Hindernisse, die sich dem Einflusse derselben [moralischen Gesetze] entgegensetzen“ (Erste Einleitung KdU, 46). Hindernisse moralischen Handelns liegen grundsätzlich in den Subjekten selbst. Die Diskrepanz von Moral und Glückseligkeit wird noch verschärft bestätigt durch Kants Vorstellung einer transzendentalen Begründung der Strafgerechtigkeit. Deren Grund soll darin liegen, daß jemand seine private Glückseligkeit über die Pflicht gestellt und so andere lädiert habe, woraus das Recht zur Vergeltung mittels Abbruchs an seiner Glückseligkeit durch Strafe folge (vgl. KpV, V 37). Die Strafbarkeit könne nun nicht positiv Grund der Strafwürdigkeit sein, vielmehr sei das unbedingte Sittengesetz deren Grund. Indem das Sittengesetz nicht bloß von der Glückseligkeit abstrahieren muß, sondern indem um seinetwillen und aus ihm begründet praktischer Abbruch an der Glückseligkeit von Menschen verübt wird, erscheint es denen, die solcher Praxis unterworfen werden, als das schlechte Andere von Glückseligkeit. Denen, die solche Praxis üben, gerät es zu deren schlechtem Äquivalent. – Der von Kant hier angedeutete Zusammenhang von Moral und Strafe steht in kontradiktorischem Gegensatz zu seinen eigenen Begriffen von Moral und Strafe, nach denen diese juridischen Zwang ausübt, jene aber nicht zu erzwingen ist. Die Aufhebung der geschichtlichen und theoriegeschichtlichen Koppelung von Moral und Strafe wäre wohl die mindeste Bedingung der Möglichkeit moralischen Bewußtseins. Jede neue Ethik, die das nicht deutlich macht, strickt weiter an Moralvorstellungen, die schon intuitiv abgelehnt werden, weil sie auch vernünftig abgelehnt werden müßten. KpV, V 45. KpV, V 43. KpV, V 43. KpV, V 43. KpV, V 43.

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Natur“142 , da in der wirklichen Natur die Menschen pathologische, keine vernünftigen Gesetze realisieren. Die Objektivierung der Moral als sittliche Anordnung der sinnlichen Welt weicht zurück in die Vorstellung eines Willensobjektes „reiner vernünftiger Wesen“143 , von deren Willen doch nicht erklärlich ist, wieso sie moralisches Interesse an der Sinnenwelt nehmen sollten. So ist Kants pejorative Parenthese zu erklären: „objective, obgleich nur praktische Realität“144 . Im Unterschied zur spekulativen Vernunft ist die Objektivität der praktischen gegen Erfahrung gleichgültig. Kant sieht darin die Stärke der unverbrüchlichen Geltung des Gesetzes; diese aber schlägt um in die Eremitage des Subjekts, selbstverhängte Einzelhaft. Darin wirkt die Trennung von spekulativer und praktischer Vernunft nach: „Die zwei Aufgaben also: wie reine Vernunft einerseits a priori Objecte erkennen und wie sie andererseits unmittelbar ein Bestimmungsgrund des Willens […] sein könne, sind sehr verschieden.“145 Das moralische Gesetz nämlich „betrifft nicht das Erkenntniß von der Beschaffenheit der Gegenstände, die der Vernunft irgend wodurch anderwärts gegeben werden mögen, sondern ein Erkenntniß, so fern es der Grund von der Existenz der Gegenstände selbst werden kann“146 . Diese Erkenntnis, die Gegenstände hervorbringen soll, gründet ihrerseits aber nicht in Erkenntnis von Gegenständen. Damit ist sowohl ausgeschlossen, daß die Erkenntnis der Beschaffenheit von Gegenständen, die Grundlage des Zivilisationsprozesses ist, selbst von praktischer Vernunft begleitet würde, als auch, daß praktische Vernunft wissenschaftliche Erkenntnisse zur Grundlage erhält.147 Praktische Vernunft soll nur aus sich selbst, nicht aber aus gegenständlicher Erkenntnis heruas praktisch werden können. Diese Trennung innerhalb der Vernunft begründet die Gegenstandslosigkeit von Moral. Der Chorismos von Gegenstandserkenntnis und Willensbestimmung entspricht gleichwohl der Unvereinbarkeit der realen Ordnung der Gegenstände mit Moral. Nur durch die konsequente Ausblendung äußerer Realität gelingt Kant noch ein Freiheitsbegriff im positiven Verstande. Der Gegenstand, den „(der Erkenntnis desselben gemäß) wirklich zu machen“148 Aufgabe der reinen praktischen Vernunft sei, ist kein bestimmtes Gut, sondern das Gute schlechthin, das als reine vernünftige Willensbestimmung selbst, immer den Subjekten immanent bleibt. Die „Bestätigung“149 der reinen spekulativen Vernunft durch die reine praktische, die Kant proklamiert, besteht paradox gerade im Chorismos beider: Auf die Trennung von Erkenntnis und Praxis, die jene zur Lösung der Antinomien behauptete, baut diese auf. Gemeinsam ist ihnen die Unbekümmertheit um den Zivilisationsprozeß, der schon vorausgesetzt wird, dessen Gestalt und Gestaltung aber moralphilosophisch anathema bleibt.

142 143 144 145 146 147 148 149

KpV, V 44. KpV, V 44. KpV, V 48. KpV, V 44f. KpV, V 46. Vgl. KpV, V 49. KpV, V 89. KpV, V 106.

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Das führt dazu, daß das Ideal praktischer Vernunft eine reine Verstandeswelt, ein Wolkenkuckuksheim, zu werden droht; denn Kant vermag die moralische „Erweiterung“150 der reinen Vernunft auf einen allgemeinen Zweck, „auf Dinge, die nicht Gegenstände möglicher Erfahrung sind“151 , nur zuzulassen, insofern endliche Vernunftwesen auch noumena sind. Als solche unterliegen sie keiner Beschränkung durch die empirische Welt, aber sie sind auch gegen sie abgedichtet. Das ergibt sich für Kant aus der Absicht zu vermeiden, daß „psychologische und comparative“152 Bestimmungen die Freiheit in einen subjektimmanenten Determinismus, das Subjekt in ein Leibnizisches automaton spirituale, verwandeln. In der Tat lägen dann die Bestimmungsgründe des Handelns, „wenn das Subject handeln soll, nicht mehr in seiner Gewalt“153 . Damit – mit der Berücksichtigung empirischer und psychischer Zwänge – wäre aber keineswegs, wie Kant fürchtet, die Möglichkeit transzendentaler Freiheit aufgehoben, wohl aber deren Übersetzung in praktische Freiheit und freie Handlungen beschädigt. Gerade die Affirmation eines moralische Selbstbewußtseins a priori befestigt unter solchen Bedingungen diesen Schaden. Die Vorstellung der moralischen Bestimmung der Sinnenwelt wäre aber tatsächlich nur den endlichen Vernunftwesen als ganzen möglich, und sie müßten ebenso ihre spekulative wie ihre praktische Vernunft bemühen. Die Vermittlung der erkannten Natur nämlich in der Geschichte müßte ihrerseits erkannt werden, um sie an den praktischen Maßstäben reiner Vernunft zu messen. Als defizitär kann sie nur durch die Verknüpfung spekulativer und moralischer Erkenntnismomente erfaßt werden. Die Kritik des Defizits begründet dann eine negative Vorstellung moralischer Realität, die so keineswegs ‚reine Verstandeswelt‘ wäre, sondern die Menschen als Subjekte der Kritik in ein sinnlichpraktisches Verhältnis zur Welt setzte, das stets erneuerter spekulativer wie moralischer Vernunftanstrengung bedarf, weil es nicht in der reinen Willensbestimmung zum Stillstand käme. Dazu taugte es seiner sinnlich-spekulativ-praktischen Herkunft nach nicht. Wenn nun aber der Inhalt praktischer Vernunft ihre eigene Form sei, ohne daß weitere Objektbestimmungen konstitutiv in sie eingingen, dann stellt sich dringlich die Frage nach „dem Begriffe eines Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft“154 . Auch in diesem Begriff verfährt Kant dichotomisch. Begriff des Gegenstandes der praktischen Vernunft überhaupt sei „die Vorstellung eines Objekts als einer möglichen Wirkung durch Freiheit“155 . Ist die praktische Vernunft nun nicht rein, weil ein Objekt das Begehrungsvermögen bestimmt, so hängt die Möglichkeit dieses Objekts, zum Gegenstand zu werden, allein vom physischen Vermögen des Wollenden ab. Dies ergibt hypothetische Imperative, und die Verfügbarkeit der Mittel entscheidet über den Zweck. Die Möglichkeit des Gegenstands reiner praktischer Vernunft aber ist gegen die Verfügbarkeit der Mittel gleichgültig und hängt allein von der moralischen Möglichkeit ab, das Objekt zu wollen, mithin davon, ob die Maxime, es zu wollen, widerspruchsfrei allge150 151 152 153 154 155

KpV, KpV, KpV, KpV, KpV, KpV,

V V V V V V

50. 54. 97. 96. 57. 57.

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mein sein kann ist. Kants résumé, hier sei „nicht der Gegenstand, sondern das Gesetz des Willens der Bestimmungsgrund derselben [Handlung]“156 , wiederholt die Abstraktion moralischer Subjektivität vom Objekt, das doch für die Handlung ebenso bestimmend ist, wie das Gesetz, unter das die Relation von Subjekt und Objekt subsumiert wird. Es ist, wie Kant im Zusammenhang der Glückseligkeit, die sich als notwendiges Objekt vernunftbegabter Sinnenwesen nicht eskamotieren läßt, feststellt, mehr die Frage der Reihen- oder Rangfolge157 der Bestimmungsgründe, nicht der Ersetzung des einen durch den anderen. Beim höchsten Gut ist diese Kombination daher unverfänglich, weil die Mittel der endlichen Vernunftwesen zur Realisierung des höchsten Guts, so wie Kant es bestimmt, nachweislich ebenso wenig zureichen wie zur moralischen Rechtfertigung. Beides wird zum Gegenstand einer unendlichen Annäherung gemacht und gehöre daher für endliche Wesen in die Dialektik der reinen praktischen Vernunft. Umgekehrt bedeutet das für die Analytik, daß endliche Gegenstände nicht zum Objekt der aufs Unendliche gehenden reinen praktischen Vernunft werden dürfen, weil sie dieses Vermögen beschränkten und zu einer pragmatischen Funktion menschlicher Körperlichkeit ermäßigten. Damit wird aber schon im Prinzip die Möglichkeit ausgeschlossen, die endlichen Existenzbedingungen der sterblichen Vernunftwesen durch moralisches Handeln in eine der Vernunft nicht widersprechende Ordnung zu bringen, beispielsweise die vereinzelten physischen Vermögen planmäßig durch Arbeitsteilung zu spezifizieren und durch Kooperation zu potenzieren und so ein gesellschaftliches Gesamtsubjekt zu konstituieren, als dessen selbstbewußte Momente die Menschen ihre Geschichte aus freien Stücken, das heißt moralisch selbstbestimmt, zu gestalten vermöchten. Für Kant bleibt die Bestimmung des Willens bezüglich endlicher Objekte entweder heteronom oder als autonome abstrakt gegenüber der Verwirklichung des moralischen Zwecks. Dessen materialer Gehalt erscheint noch schattenhaft in der Frage, „ob wir eine Handlung, die auf die Existenz eines Objects gerichtet ist, wollen dürfen“158 , aber in der Antwort ist jener Gehalt schon im Licht der Moralität vergangen. Das Objekt wird mittelbar, durchs reine Vernunftgesetz, erst möglich.159 Die Objektivität dieses Objekts verbleibt dadurch aber im Subjekt, weil, im Unterschied zu den Kategorien, „die praktischen Begriffe a priori in Beziehung auf das oberste Princip der Freiheit sogleich Erkenntnisse werden und nicht auf Anschauungen warten dürfen, um Bedeutung zu bekommen, und zwar aus diesem merkwürdigen Grunde, weil sie die Wirklichkeit dessen, worauf sie sich beziehen, (die Willensgesinnung) selbst hervorbringen“160 . Moralische Objektivität ist in der Gesinnung, nicht erst in deren sinnlichem Korrelat gegeben. Zwar – um überhaupt von etwas und nicht vielmehr von nichts zu reden – werden jene Begriffe „in Ansehung der durch sie möglichen Handlungen als Erscheinungen in der Sinnenwelt betrachtet“161 , aber es wird „jede Kategorie [der Freiheit] so allgemein genommen […], 156 157

158 159 160 161

KpV, V 57. In Religion, B 27ff., wird diese Rangfolge sinnlicher und vernünftiger Bestimmungsgründe als allgemeine Grundlage der Bestimmung von Gut und Böse erfaßt. KpV, V 57. Vgl. KpV, V 60. KpV, V 66. KpV, V 67.

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daß der Bestimmungsgrund jener Causalität auch außer der Sinnenwelt in der Freiheit als Eigenschaft eines intelligibelen Wesens angenommen werden kann“162 . Deshalb sind die moralischen Kategorien der Modalität in einer Hinsicht reflexiv: Die Differenz des Erlaubten und Unerlaubten, der Pflicht und des Pflichtwidrigen, der vollkommenen und unvollkommenen Pflicht stehen nämlich sämtlich unter der kategorialen Bestimmung, problematisch zu sein. So reagiert Kant darauf, daß sie schon eine apodiktische Unterscheidung hinsichtlich der Objekte enthalten, die sie aber nicht enthalten dürfen, wenn praktische Vernunft rein bleiben soll. Deshalb untersteht die dogmatische Entfaltung der problematischen Begriffe des Apodiktischen noch dem moralischen Gesetz, das – analog der transzendentalen Einheit der Apperzeption – als „Einheit des Bewußtseins […] im moralischen Gesetze“163 über dem Verhältnis von Subjekt und Objekt zu schweben scheint. Die Kritik an Kants praktischem Objektivitätsbegriff ist eine Wanderung auf dem Grat, dessen eine Seite zum Idealismus und dessen andere zum Pragmatismus hin abfällt; ihre einzige Orientierung bleibt die substantielle Einheit der lebenden Menschen, der vernunftbegabten Sinnenwesen. Die Rede eines moralischen Pragmatismus zu führen, hätte selbstverständlich vor der Stringenz des Kantischen Arguments keinen Bestand; zu bemerken ist nur, daß die Rigorosität, mit der Kant die Objekte aus der Moral ausschließt, implizit darüber Auskunft gibt, daß mit Beziehung auf die reale Verfassung der Objektivität ein selbstbestimmtes Leben vernünftiger Subjekte nicht möglich zu sein scheint. Die Entwicklung dieser Objektivität zu einer Gestalt, die der moralischen Selbstbestimmung nicht widerspricht, ordnet Kant der Zivilisationsgeschichte zu, die selbst nicht moralisch, sondern nach einer Naturabsicht verlaufe. Die Tauglichkeit der Objekte zu Gegenständen der reinen praktischen Vernunft unterliegt damit nicht allein dem Zufall einer hypostasierten Natur; schlimmer noch nimmt Kant als Mittel der Zivilisation notwendig die moralwidrige ‚ungesellige Geselligkeit‘ an, so daß auf unabsehbare Zeit, jedenfalls unter allen möglichen endlichen Verhältnissen, die endlichen materiellen Objekte des Willens unmoralisch – wenigstens amoralisch – konstituiert würden. So erscheint es als Bedingung a priori, daß die moralische Selbstbestimmung unabhängig von irgendeinem Objekt erfolgen müsse. So aber kann Moralität auch nicht auf die Konstitution der Objektivität zurückgewendet werden, um den von den verstandesbegabten Teufeln inszenierten Kreislauf zu durchbrechen. So hat die Vernunft, sofern Menschen bedürftige Wesen sind, „allerdings einen nicht abzulehnenden Auftrag von Seiten der Sinnlichkeit, sich um das Interesse derselben zu bekümmern“164 . Aber diese Bekümmerung steht zur Moral in einem zwiespältigen Verhältnis, denn die Menschen sollen zwar mittels reiner Vernunft moralische Gesetze entwerfen, die sie dann auf sinnliche Objekte anwenden, aber diese Objekte dürfen nicht in der für das Verhältnis zu ihnen konstitutiven Reflexion berücksichtigt werden; 162 163

164

KpV, V 67. KpV, V 66. Zum Zusammenhang von theoretischem Selbstbewußtsein und Autonomie vgl. Dieter Henrich, Kant und Hegel, a.a.O., 183. Fraglich ist jedoch, ob deshalb reine Vernunft der zureichende Grund von Freiheit sein kann (vgl. Dieter Henrich, Das Prinzip der kantischen Ethik, a.a.O., 34). KpV, V 61.

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anders ausgedrückt: An der moralischen Gesetzgebung ist keine reflektierende Urteilskraft beteiligt, sondern bestimmende Urteilskraft allein soll die Vermittlung des absolut, a priori, gefaßten Gesetzes mit den Objekten bewirken, nachdem es „ohne Rücksicht auf mögliche Objecte“165 gewonnen wurde. „Das Gesetz bestimmt alsdann unmittelbar den Willen, die ihm gemäße Handlung ist an sich selbst gut“166 ; welchen Inhalts aber diese Handlung sein sollte, ist unbestimmbar. Wohl ist „der Begriff des Guten und Bösen nicht vor dem moralischen Gesetze“167 bestimmbar; aber er kann auch nicht a priori bestimmt werden, sondern nur durch Kritik bestimmter Objektivität mittels eines Prinzips a priori, des Sittengesetzes. Dieses ist seinerseits durchaus Produkt der Vernunft, aber es langt nicht zu, den Willen „unmittelbar […] und diesem gemäß allererst den Gegenstand“168 zu bestimmen. Kants Vorstellung, daß die Vernunft ihr Gesetz ‚in abstracto‘ faßt und es dann mittels bestimmender Urteilskraft auf Fälle ‚in concreto‘ anwendet, führt die teils mit ausschweifender Kasuistik betriebenen Beispiele Kants mit sich. Soll der Bereich systematischer Moralphilosophie hier nicht überschritten werden, begründet jene Vorstellung die Forderung nach Subsumtionsregeln, der Kant durch eine ‚Typik der reinen praktischen Urteilskraft‘ entsprechen will. Der Stellung des Objekts zur Moral entspricht Kants strikte Trennung der Triebfedern: Gut und Böse allein stehen auf der Seite der reinen Vernunft; Wohl und Übel, Lust und Unlust, angenehm und unangenehm, nützlich und unnütz aber auf der empirischen Seite des Subjekts.169 Damit ist aber nicht allein ausgeschlossen, daß das Gute nach dem Nützlichen schiele, sondern daß es überhaupt nützlich sei, denn dann wären Pflicht und Pflichtgemäßheit in ihm indifferent, weshalb es umstandslos dem Pflichtgemäßen zuzuordnen sei: Man dürfe „zum Behuf des moralischen Gesetzes, und um ihm Einfluß auf den Willen zu verschaffen, keine anderweitige Triebfeder, dabei die des moralischen Gesetzes entbehrt werden könnte, suchen […], weil das alles lauter Gleißnerei ohne Bestand bewirken würde, und sogar es bedenklich ist, auch nur neben dem moralischen Gesetze noch einige andere Triebfedern (als die des Vortheils) mitwirken zu lassen“170 . Bestimmbar ist Pflicht nur als absolute, selbst wenn die Bestimmungen reiner praktischer Vernunft „nur in Beziehung auf die [Sinnenwelt] […] Statt haben können“171 . Daher ergibt sich das ‚Widersinnische‘ im Verhältnis von Gesetz und Handlung oder Objekt, „daß ein Gesetz der Freiheit auf Handlungen als Begebenheiten, die in der Sinnenwelt geschehen und also so fern zur Natur gehören, angewandt werden soll“172 . Insofern praktische Vernunft sich auf ihr Objekt, das Gute, im Modus des Sollens bezieht, ist dieses Objekt kein Sein, kein sinnlicher Gegenstand, und die Anwendung des Gesetzes auf ihn kann nicht durch ein Schema vermittelt sein, das Verstand und Sinnlichkeit in Beziehung setzte. Der Verstand selbst sei hier die einzige Quelle möglicher 165 166 167 168 169 170 171 172

KpV, V 62. KpV, V 62. KpV, V 62f. KpV, V 64. Vgl. KpV, V 57f. KpV, V 72; vgl. V 81. KpV, V 65. KpV, V 68.

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Vorstellungen. Gesetze des Verstandes sind nun aber Naturgesetze. Die einzige Möglichkeit, der reinen praktischen Urteilskraft einen Inhalt zu verleihen, wäre die Vorstellung des moralischen Gesetzes der Vernunft durch Analogie zu einem Naturgesetz. Dieser von Kant so genannte ‚Typus‘ des Sittengesetzes lautet daher: „Frage dich selbst, ob die Handlung, die du vorhast, wenn sie nach einem Gesetze der Natur, von der du selbst ein Theil wärest, geschehen sollte, sie du wohl als durch deinen Willen möglich ansehen könntest.“173 Obwohl Kant zugesteht, daß der Verstand „ohne etwas, was er zum Beispiele im Erfahrungsfalle machen könnte, bei der Hand zu haben, dem Gesetze einer reinen praktischen Vernunft nicht den Gebrauch in der Anwendung verschaffen könnte“174 , vermag der Typus, wie Kant ihn konzipiert, dieses Problem nicht zu überwinden, denn er ist nur zulässig, „so lange ich nur nicht die Anschauungen, und was davon abhängig ist, auf diese übertrage, sondern blos die Form der Gesetzmäßigkeit überhaupt […] darauf beziehe.“175 Sittengesetz und Typus sind darin kongruent, daß sie die Form der Gesetzmäßigkeit aufweisen. Wenn der Typus außer dieser Gesetzmäßigkeit der Sinnenwelt nichts von Gehalt in ihr berücksichtigen darf, so unterscheidet er sich nicht vom Sittengesetz selbst, was schon durch seine Nähe zur sogenannten Naturgesetzformulierung des kategorischen Imperativs176 angedeutet ist, die ausdrücklich eine von dessen Paraphrasen sei. Der Typus mag allenfalls die allgemeine Anwendbarkeit des Gesetzes auf Sinnliches überhaupt vorstellen, gibt aber der Urteilskraft keinerlei Anhalt, zumal noch der Typus selbst, soweit er zulässig ist, nicht gleichmäßig zwischen Verstand und Sinn vermittelt, sondern ganz jenseits der Grenze liegt, indem „was blos zur Typik der Begriffe gehört, nicht zu den Begriffen selbst gezählt werde“177 . Der Typus enthält zwar durchaus Momente beider Seiten, aber diese sind in ihm zum Widerspruch vereint. Sofern er zur Sinnlichkeit gehört, wäre wohl, schärfer als bei Kant, zu formulieren, daß nicht sowohl „selbst der gemeinste Verstand“178 so urteile, als vielmehr nur dieser, wenn überhaupt einer. Es wäre der Versuch, den Begriff moralischer Selbstbestimmung ohne theoretisch Anstrengung auf alltägliche Vorstellungen abzubilden. Kants Beispiel verfehlt auch hier sein Ziel: „Wie, wenn ein jeder, wo er seinen Vortheil zu schaffen glaubt, sich erlaubte, zu betrügen, oder befugt hielte, sich das Leben abzukürzen, so bald ihn ein völliger Überdruß desselben befällt, oder anderer Noth mit völliger Gleichgültigkeit ansähe, und du gehörtest mit zu einer solchen Ordnung der Dinge, würdest du darin wohl mit Einstimmung deines Willens sein?“179 Das hier angegebene Kriterium bezieht sich nun keineswegs auf die allgemeine Form der Gesetzmäßigkeit, sondern auf die sinnliche Vorstellung von Nutzen und Annehmlichkeit. 173 174 175 176 177 178

179

KpV, V 69. KpV, V 70. KpV, V 70. Vgl. GMS, IV 421. KpV, V 70. KpV, V 70. Gegen die Vorstellung, der intelligible Moralbegriff sei Gegenstand der Alltagsvernunft, wendet sich schon Herbart mit einem moral-pädagogischen Konzept. Vgl. Johann Friedrich Herbart, Sämtliche Werke Band 6, 270 (hier zitiert nach Günther Buck, Selbsterhaltung und Historizität, a.a.O., 300). KpV, V 69.

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Bezieht man den Typus aber bloß auf die Verstandesseite, so fügt er dem Gesetz hinsichtlich der Objektivität nichts hinzu. Kant will mit Recht sowohl den „Empirism der praktischen Vernunft“, den moralischen Pragmatismus, vermeiden, der seine Begriffe von Erfahrung abhängig macht, als auch den „Mystizism der praktischen Vernunft“180 , der jenen Naturgesetztypus zu einer affirmativen Vorstellung vom Reich Gottes oder irgend einer anderen Utopie ausspinnt. Wohl bewirkt beides nicht die Vermittlung des Gesetzes mit der Objektivität, sondern ordnet jenes – vielleicht absichtslos – einer Heteronomie unter. Aber Kants Typus leistet jene Verbindung auch nicht. – Er wäre denn negativ zu fassen als die gesetzmäßige, und das heißt: mit der Vernunft zwar nicht identische aber doch ihr gemäße, Ordnung der sinnlichen Welt, in der die Handlungen der Menschen nicht notwendig miteinander kollidieren. Kants positive Fassung der bestimmten Handlung als Wirkung eines Naturgesetzes stellt sie als mechanisch zwanghaft vor, und eine solche Ordnung kann schon deshalb niemand wollen, weil der Wille eines Subjekts, selbst ein Teil einer vollständigen Naturkausalität zu sein, sich selbst und das Subjekt aufhebt.181 Die Vorstellung aber einer naturgesetzanalogen Ordnung, die jeder als durch seinen Willen möglich ansehen könnte, ließe sich ebenso verstehen als selbstbestimmte Ordnung zweiter Natur.182 Dann wäre sie die Vorstellung der eigenen Handlung nicht als naturkausal, sondern als widerspruchsfrei vereinbar mit einer gesellschaftlichen Ordnung, in der Menschen deshalb selbstbewußt leben wollen könnten. Diejenige gesellschaftliche Ordnung, die dies gestattete, setzte die gemeinschaftlich vernünftige Organisation der Produktion und Reproduktion voraus, in der die individuellen und die allgemeinen Zwecke der Menschen nicht notwendig differierten. Damit wäre der Typus mehr als die bloße Form der Gesetzmäßigkeit, er wäre auf die bestimmten Lebensbedingungen der Menschen bezogen. Dies hat Hegel gesehen, als er die Moralität als defizitäre, bloß innerliche Gestalt der Sittlichkeit einstufte und ihren Mangel durch die ökonomische Funktion der bürgerlichen Gesellschaft ergänzte, deren Mangel, die Äußerlichkeit des Zwecks, aber in der Idee des Staates aufhob, die in gewisser Weise Kants Gedanken vom Typus kritisch aufnimmt. Die Vorstellung des moralischen Objekts, des allgemeinen Guten, wird gewonnen aus der an der Form der Gesetzmäßigkeit reflektierten defizitären Gestalt des Allgemeinen. So könnte Kants Typus – negativ verstanden – aus der Vermittlung geschichtlicher Erfahrung mit dem moralischen Gesetz eine Vorstellung der zweiten Natur hervorbringen, die nicht bloß als Kriterium sonst zufälliger Handlungen diente, sondern den Handlungen selbst ein Objekt vorstellte, das sie notwendig machte. So wäre das Subjekt moralisch mit seiner Objektivität zu vermitteln, ohne empiristisch-pragmatisch „die Menschheit 180 181

182

KpV, V 70. Dies wird besonders deutlich in der KdU, V 403f., wo Kant eine intelligible Welt entwirft, in der Sollen und Tun nicht differieren, weil Moralität unmittelbare Kausalität habe. Diese Vision moralischen Zombitums – von Subjekten ohne Subjektivität – diene den vernunftbegabten Sinnenwesen immerhin „zu einem allgemeinen regulativen Prinzip“, stellt also die Idee der Sittlichkeit dar, an der sie das eigene Handeln ausrichten können sollen. Vgl. auch KdU, V 275, wonach „Sittlichkeit […] eine zweite (übersinnliche) Natur ist“; auch die materialistisch gedachte ‚zweite Natur‘ unterscheidet sich von der ‚ersten‘ ja dadurch, daß sie aus Begriffen und Zwecken hervorgebracht ist und somit einer ‚übersinnlichen‘ Ordnung folgt.

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[zu] degradiren“183 . Allein im Hinblick auf das subjektive Verhältnis zum objektiven Zweck einer vernünftigen Ordnung der zweiten Natur, im Festhalten an diesem Anspruch des Subjekts auf Lebensbedingungen, die menschenwürdig, den vernunftbegabten Sinnenwesen als vernünftiger und als sinnlicher würdig sind, vermag sich moralische und intellektuelle Selbstachtung zu erhalten, auch unter Bedingungen, die dem moralischen Subjekt zuwiderlaufen. Diese Insistenz auf dem Anspruch auf Freiheit und allgemein freie Bedingungen schließt den moralisch begründeten intellektuellen Widerstand gegen die Bedingungen der Unfreiheit ein. Auch Kants Begriff der Selbstachtung ergibt sich aus der moralischen Subjektivität, kraft derer die Menschen sich selbst Zweck und so selbst Urheber ihres Gesetzes sind.184 Sie verbleibt aber aufgrund ihres unbestimmten Verhältnisses zur Objektivität im Subjekt, dessen Widerstand gegen das, was ihm zugemutet wird, sich gegen es selbst verkehrt: Der Selbstmordkandidat, der unter unerträglichen und unwürdigen Bedingungen weiterlebt, weil er weder durch moralisch zweifelhafte Mittel seine Lage bessern, noch sein Leben beenden will, um nicht die Selbstachtung zu verlieren „lebt nur noch aus Pflicht, nicht weil er am Leben den mindesten Geschmack findet. So ist die ächte Triebfeder der reinen praktischen Vernunft beschaffen; sie ist keine andere als das reine moralische Gesetz selber, so fern es uns die Erhabenheit unserer eigenen übersinnlichen Existenz spüren läßt“185 . Der verzweifelt sublimierte Kern dessen, was das Subjekt hier wirklich spürt, ist die Qual seiner sinnlichen Existenz, die ihm zur Hölle gemacht worden ist. Selbst wenn er nicht Opfer gesellschaftlicher Verhältnisse sein sollte, wäre eine zivilisierte Menschheit technisch-praktisch in der Lage, ihm Hilfe zu verschaffen, vielleicht selbst bei unersetzbarem Verlust. Warum umgekehrt in einer Zivilisation, die durch Kriege und durch ihre innere Organisation regelmäßig belegt, daß sie das menschliche Leben im Besonderen nicht sehr hoch schätzt, in verzweifelten Einzelfällen stets dessen absolute Würde oder Heiligkeit im Allgemeinen beschwört, wäre eine andere Frage. – Richtig bleibt an kants Überlegung aber, auch und gerade wenn Selbstmord in Einzelfällen verständlich sein mag, daß er von der sittlich gebildeten Subjektivität aus nicht vernünftig zu denken ist. Das verschafft aber nicht umgekehrt seinem absoluten Verbot eine affirmative vernünftige rundlage, sondern bewirkt erst einmal Hilflosigkeit der Vernunft vor solcher Erfahrung. In Kants Pflicht zur Selbsterhaltung bleibt als Möglichkeit von Subjektivität innerhalb zerstörerischer Bedingungen, daß die Subjekte intellektuell das, was ihnen äußerlich zugemutet wird, selbst an sich selbst vollstrecken. Auch der intellektuelle Widerstand gegen die Zumutungen läßt seine Subjekte nicht unbeschädigt zurück; aber in ihm erhielte sich ein Moment von Subjektivität, das über die heute positivistisch zugelassene ‚selbstreferentielle Struktur‘ hinauswiese. Diese Struktur, bloße Beziehung auf sich selbst, kommt letztlich noch der Selbstzerstörung und der Selbstaufgabe ebenso zu wie der Selbsterhaltung. Kant versucht, reine Moralität auch unter unmoralischen Bedingungen zu begründen – aber ohne sich gegen diese zu stellen. So will er jede empirische Verunreinigung des 183 184 185

KpV, V 71. Vgl. KpV, V 87. KpV, V 88.

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Sittengesetzes vermeiden. Dafür erkauft er die Achtung des intelligiblen Subjekts vor seiner eigenen gesetzgebenden Intelligibilität mit der Verachtung seiner Sinnennatur. Es kann sich überhaupt nur achten, indem es sich verachtet.186 Dieser Begriff der Achtung ist – gegenüber der Selbstachtung des bedrängten Subjekts, das sich als ganzes nicht preisgibt und darin moralische Instanz bleibt – zutiefst autoritär und offenbart darin das heteronome Moment eines positiven Moralbegriffs unter unmoralischen Bedingungen, unter denen die Neigungen zwangsläufig moralwidrig reagieren. Wo die Verfügung über die Mittel der Selbsterhaltung systematisch sittenwidrig geregelt ist, muß jede Äußerung einer Neigung tendentiell sittenwidrig erscheinen. Moral innerhalb solcher Bedingungen muß „allen unseren Neigungen Eintrag thu[n], [und] ein Gefühl bewirken […], welches Schmerz genannt werden kann“187 . Nun unterscheidet Kant noch in Anlehnung an Rousseau188 zwischen Eigenliebe und vernünftiger Selbstliebe. Die Reduktion der Eigenliebe auf Selbstliebe erfordere den Abbruch der sinnlichen Antriebe bloß, „so fern sie jenem Gesetze zuwider sein könnten“189 ; dies könnte noch als allgemeine Bestimmung genommen werden, da auch unter der Vorstellung autonom bestimmter Lebensbedingungen jene Neigungen, die das allgemeine Interesse irrational schädigten, moralisch zurückgewiesen werden müßten. Aber die fast manische Intensität, mit der Kant die sinnlichen Neigungen zurückzudrängen, ihrer Herr zu werden sucht, zeugt doch von Bedingungen, unter denen Neigungen durchweg gesetzwidrig sind. Kant erklärt dies durch den anthropologischen Status der Neigungen, da „alle Neigung und jeder sinnliche Antrieb […] auf Gefühl gegründet“190 sind. Da sie so bloß subjektiv sind, muß das Gesetz um der objektiven Allgemeinheit willen, wenn es auch nicht gleich alle gleichermaßen abbricht, so doch allen Eintrag tun. Kant schwankt fortwährend zwischen partikularen Rettungsversuchen und universell pejorativer Bewertung der Neigungen, weil er ihre Notwendigkeit zur Erhaltung der Subjekte nicht mit der gesellschaftlichen Deformation sinnlicher Interessen vereinen kann.191 Indem er statt dessen versucht, den Gegensatz von Pflicht und Neigung metaphysisch aufzulösen, erscheint schließlich Triebverzicht als unmittelbarer Ausdruck moralischer Selbstbestimmung und diese nur dort als echt, wo sie seelischen Schmerz verursacht. Ein Gesetz, das dies vermag, ist dann „Gegenstand der Achtung“192 , nicht weil hier das Subjekt seiner moralischen Autonomie gewahr würde und so Selbstachtung empfände, sondern weil es sich selbst als fremde Autorität gegenübertritt: „Dasjenige, dessen 186

187 188

189 190 191 192

Vgl. KpV, V 75. Zur Bedeutung und Problematik des Ausdrucks ‚Achtung‘, auch in Beziehung auf Schillers Kritik an ‚Achtung als Zwang‘ (Über Anmut und Würde, in: Theoretische Schriften, Köln 1999) vgl. Dieter Henrich, Ethik der Autonomie, a.a.O., 34ff. KpV, V 73. Zur Unterscheidung von amour de soi und amour propre vgl. Jean-Jacques Rousseau, Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, a.a.O. Die Übersetzung lautet hier allerdings „Sorge um die Selbsterhaltung“ (230) und „Selbstsucht“ (231). Zum theoriegeschichtlichen Zusammenhang vgl. Günther Mensching, Rousseau zur Einführung, Hamburg 2000, 43ff. KpV, V 72. KpV, V 72f. Vgl. KpV, V 75, 80, 93, 146. KpV, V 73.

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Vorstellung als Bestimmungsgrund unseres Willens uns in unserem Selbstbewußtsein demüthigt, erweckt, so fern als es positiv und Bestimmungsgrund ist, für sich Achtung.“193 Unabhängig von der Demütigung individueller Ansprüche der Subjekte an ihr Leben läßt sich dieses Konzept von Achtung kaum darstellen. Es erinnert so an die Achtung des Rekruten vorm Unteroffizier, die jenen Haltung annehmen läßt, auch wenn er vom Marsch zerschunden ist. Insofern ist die Nomenklatur durch eine militärische Metapher nicht bloß eine sprachliche Verlegenheit. – Moral droht zu einem autoritären Gebilde zu werden, wenn sie ohne Reflexion auf die unmoralischen Bedingungen des Handelns positiv aus reiner Vernunft begründet werden soll. Erforderlich war die Konzeption der Achtung, weil der Typus die Vermittlung von Verstand und Sinnlichkeit bloß wieder in der Vorstellung leisten konnte und nicht die Frage beantwortete, „wie ein Gesetz für sich und unmittelbar Bestimmungsgrund des Willens sein könne“194 . Überhaupt sei dies nur negativ, hinsichtlich der Bedingungen zu klären, die notwendig seien, um im Gemüt Moralität zu bewirken. Daß dafür außer der Einsicht noch eine Triebfeder anzunehmen sei, schließt Kant daraus, daß es nicht-moralische Triebfedern des Handelns gebe, die zu überwinden seien.195 So autoritär das Gemüt gebildet ist, so autoritär fällt auch der Begriff der Überwindung der eigenen Beschränkung aus: Vernunft wird zum Mittel der Zucht,196 Einsicht gelingt nicht ohne Zerknirschung und schmerzliche Selbstkasteiung. Kants Konzeption von Moral als rein intelligible Willensbestimmung erfordert, daß das Sittengesetz sowohl „formaler Bestimmungsgrund der Handlung“, als auch „materialer, aber nur objectiver Bestimmungsgrund der Gegenstände der Handlung sei“197 , damit in deren Vorstellung sich kein außersubjektives Element finde. Diese Konzeption riegelt aber die Vorstellung der Handlung wohlweislich ab gegenüber den gegenständlichen Bedingungen, unter denen gehandelt wird, einschließlich der eigenen sinnlichen Existenz des Subjekts.198 Diese muß aber nun, um der Möglichkeit einer sinnlichen Praxis willen, wieder eingeholt werden. Deshalb bedarf es dessen, was Kant nicht zufällig mit einer Metapher aus der Automatenmechanik ‚Triebfeder‘ nennt. Dieser Ausdruck paßt weder zu vernünftigen moralischen Wesen, noch überhaupt zu belebten Körpern. Sinnvoll erscheint er allenfalls in Beziehung auf eine generell pathologische Subjektivität oder auf die Subjekte als Objekte der in der ungeselligen Geselligkeit sich realisierenden Naturabsicht. – Nicht durch Einsicht, sondern durch ein ‚Gefühl‘ soll das Sittengesetz „subjectiver Bestimmungsgrund, d. i. Triebfeder, zu dieser Handlung“ werden, indem es „dem Einflusse des Gesetzes auf den Willen beförderlich“199 sei. Hierzu aber taugt kein Gefühl, weil es die Sittlichkeit sinnlich korrumpieren müßte; es sei denn, es handele sich um ein konfektioniertes Gefühl, eine Empfindung, 193 194 195 196 197 198

199

KpV, V 74. KpV, V 72. Vgl. KpV, V 79. Vgl. auch den Begriff der ‚Kultur der Zucht‘ in KdU, V § 83. KpV, V 75. Auf das Desiderat, „die moralische Beurteilung mit den Bedingungen des technischen Handelns“ reflektierend zu vermitteln, weist Johannes Rohbeck hin: Technologische Urteilskraft, a.a.O., 24. KpV, V 75.

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deren Gehalt selbst schon durchs Sittengesetz geformt ist. Dies nennt Kant „nicht pathologisch, sondern […] praktisch gewirkt“200 . In der Terminologie moderner Psychologie wäre eine solche Empfindung durchaus pathologisch, eben weil sie nicht durch pathos, Leidenschaft oder Trieb, sondern durch deren intellektuelle Verdrückung bestimmt ist. Gerade wenn „Achtung fürs moralische Gesetz ein Gefühl [ist], welches durch einen intellectuellen Grund gewirkt wird, und […] das einzige, welches wir völlig a priori erkennen, und dessen Nothwendigkeit wir einsehen können“201 , wird der Achtung ein in diesem Sinn ‚pathologisches‘ Moment mitgeteilt. Und dieses Moment reicht bis in die reine Vernunft selbst, denn sie begreift sich selbst als den intellektuellen Grund der Selbstdemütigung. Weil es Kant, aufgrund des Mangels einer systematischen Reflexion der unmoralischen Lebensbedingungen der Subjekte, nicht gelingt, die Subjektivität als Ganze moralisch mit ihrem Objekt zu vermitteln, fällt diese Vermittlung anders aus: Die Subjekte ziehen sich, wo die Objektivität ihnen nicht gemäß sein kann, auf ihre intelligible Identität zurück und schlagen von ihr aus ihre sinnliche Verbindung zur Objektivität nieder. Darin erweist die intelligible Identität der Subjekte sich schon als objektiv deformiert. Was als Eigendünkel erscheint, könnte auch tätiger Protest gegen die Zumutungen der Objektivität sein. Kants Versuche, Subjektivität mit Objektivität zu vermitteln, sind durchweg abstrakt-negativ. Die Triebfeder der Achtung führt dazu, daß die Subjekte in der Regel eben nicht handeln, sondern, den eigenen Zwecken entsagend, dem Weltlauf parieren; die eigenen Interessen werden reduziert auf „ein reines sinnenfreies Interesse“202 . Kritik daran stellt nicht den Vorrang vernünftig begründbarer allgemeiner Interessen gegenüber Privatvorlieben in Frage, wohl aber den Vorrang sinnenfreier Interessen der reinen Vernunft vor sachhaltigen der vernunftbegabten Lebewesen, die doch auch als solche allgemeiner Vorstellungen fähig sind. Wenn Kant den moralischen Zustand, der Menschen möglich ist, „Tugend, d. i. moralische Gesinnung im Kampfe“203 nennt, ist damit nicht der Kampf gegen unmoralische Bedingungen des Handelns gemeint, sondern der Kampf des intelligiblen Subjekts gegen sich selbst als sinnliches. Diesem Kampf und seiner Triebfeder, der Achtung, entspricht die Selbstzufriedenheit des gleichwohl unglückseligen moralischen Subjekts,204 das sich als Urheber seiner Unglückseligkeit wähnt, weil es die Heteronomie sich selbst zuzuschreiben erlernt hat und so noch in der Entsagung groß aufgeht. Das Zwangshafte dieses Charakters entwickelt Kant beiläufig selbst. Die Achtung entspringt einem „Bedürfniß, irgend wodurch zur Thätigkeit angetrieben zu werden“205 , 200 201 202 203 204

205

KpV, V 75. KpV, V 73. KpV, V 79. KpV, V 84. Vgl. KpV, V 118. Kant versteht es, dies positiv umzuwenden: „Junger Mensch! (ich wiederhole es) gewinne die Arbeit lieb; versage dir Vergnügen, nicht um ihnen zu entsagen, sondern so viel als möglich immer nur im Prospect zu behalten! Stumpfe die Empfänglichkeit für dieselbe nicht durch Genuß frühzeitig ab! Die Reife des Alters, welche die Entbehrung eines jeden physischen Genusses nie bedauren läßt, wird selbst in dieser Aufopferung dir ein Capital von Zufriedenheit zusichern, welches vom Zufall oder dem Naturgesetz unabhängig ist“ (Anthropologie, VII 237). KpV, V 79.

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man kann sich ihrer nicht erwehren,206 doch steht sie in Wechselverhältnis mit Neid und Mißgunst, durch die das Subjekt zwanghaft sich gegen sie zu wehren versucht. Schließlich produziert sie, hat man diesen Zwangscharakter erst überwunden, blanken Narzißmus, da „man sich wiederum an der Herrlichkeit dieses Gesetzes nicht satt sehen kann, und die Seele sich in dem Maße selbst zu erheben glaubt, als sie das heilige Gesetz über sich und ihre gebrechliche Natur erhaben sieht“207 , zumal sich eine Reihenfolge von Willensbestimmung und Hochgefühl nur analytisch behaupten läßt.208 Noch diese Erhebung aber ist mit ständiger „Furcht“209 verbunden. Zwar ist mit den billig gewordenen Begriffen der Psychopathologie grundsätzlich größte Vorsicht geboten, hier jedoch liegen sie nahe, denn ein derartiger „Einfluß einer blos intellectuellen Idee aufs Gefühl [ist] für speculative Vernunft unergründlich“210 und damit Gegenstand der Psychologie, ob diese ihm nun gerecht wird oder nicht. „Die Ehrwürdigkeit der Pflicht hat nichts mit Lebensgenuß zu schaffen; […] und wenn man auch beide noch so sehr zusammenschütteln wollte, um sie vermischt gleichsam als Arzeneimittel der kranken Seele zuzureichen“211 . Die Rationalisierung der irrationalen Dialektik von Demütigung und Erhebung, deren verständigen Grund Kant nicht im heteronomen Zwang, sondern in den ‚Tiefen der menschlichen Seele‘ wähnt, ist daher unausweichlich und nimmt so selbst schon manische Züge an, indem Kant diesen im Grunde schlichten Gedanken seitenweise fast variationslos repetiert, um ihn immer pedantischer zu fassen: „Es ist von der größten Wichtigkeit in allen moralischen Beurtheilungen auf das subjective Princip aller Maximen mit der äußersten Genauigkeit Acht zu haben, damit alle Moralität der Handlungen in der Nothwendigkeit derselben aus Pflicht und aus Achtung fürs Gesetz, nicht aus Liebe und Zuneigung zu dem, was die Handlungen hervorbringen sollen, gesetzt werde.“212 Zwar sei es „sehr schön, […] aus Liebe zur Ordnung gerecht zu sein, aber das ist noch nicht die ächte moralische Maxime unsers Verhaltens“213 , denn die Vorstellung von Moralität ohne inneren Kampf der Subjekte gegen sich selbst wäre die Vorstellung der den Menschen nicht möglichen Moralität Gottes. – Das Ideal einer ‚Ordnung‘, die allenfalls zu lieben wäre, weil sie diesen Kampf erübrigte, wird für Kant zur Blasphemie. Dahinter aber ist noch ein profanes Argument gelegen: Die Variante, daß kein Gebot sinnvoll ergehen könne, etwas gerne tun zu sollen, wohl aber eines, hiernach zu streben, verweist – bei aller Plausibilität – auf den geschichtlichen Antagonismus, denn eine wie immer mögliche Ordnung, in der die Menschen nicht zwangsläufig im Kampf gegen sich selbst stünden, wäre ohne Antagonismus und führte deshalb in Kants Vorstellung zum zivilisatorischen Stillstand. Dadurch ergreift die zur Naturgeschichte stilisierte Herrschaft auch den Moralbegriff. Noch in der mora-

206 207 208 209 210 211 212 213

Vgl. KpV, V 77. KpV, V 77. Vgl. KpV, V 116f. KpV, V 82. KpV, V 80. KpV, V 89. KpV, V 81f. KpV, V 82.

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lischen Ordnung eines „Reichs der Sitten“ sind die gesetzgebenden, befreiten Subjekte „Unterthanen, nicht das Oberhaupt desselben“214 . Die Moralsubjekte erwiesen sich der Analytik ihrer Freiheit zufolge als zerrissen im inneren Kampf ihres intelligiblen Wesens gegen die Ansprüche ihrer sinnlichen Erscheinung, ohne die jenes Wesen doch nicht wäre. Die Vermittlung beider Seiten gelang allein abstrakt-negativ, durch Unterordnung der Sinnlichkeit unter den Intellekt. So aber geriet es außer Sichtweite, wie die intelligible Willensbestimmung zur Handlung werden könnte, erkenntnistheoretisch wie praktisch. In jenem Kampf aber ist das vernunftbegabte Sinnenwesen wesentlich, es strebt, solange es lebt, aber das Objekt des Strebens bleibt ihm immer unangemessen; der Prozeß, als den Kant Moralität denkt, bleibt haltlos, weil er nichts außer sich hat. Nachzuweisen bleibt noch immer die Möglichkeit, die intelligible moralische Selbstbestimmung tätig zu realisieren, Moral in einer Handlung zu objektivieren. Dieser Übergang kann im Unterschied zur Moral selbst ‚Moralprozeß‘ genannt werden. Seine Bestimmung kann nicht Gegenstand einer allgemeinen Handlungstheorie sein, weil diese immer schon sozusagen nach dem Handeln einsetzt, um dieses theoretisch darzustellen. Einer kritischen Moralphilosophie geht es aber noch um die Möglichkeit, moralisch zu handeln, also zwar aus der Kantischen Inklusion von Moral herauszukommen, aber ohne den unverkürzten Anspruch auf Realisierung von Moral preiszugeben. Deshalb ist an der Kritik der Kantischen Konzeption eng festzuhalten; die Gründe ihrer Aporien öffnen den Ausblick, weil sie stärker als irgendeine andere Morallehre an der Autonomie der Subjekte sich orientiert.215 Für Kant nun fällt die Bedingung der Möglichkeit des moralischen Prozesses, an dessen Beginn nur das Subjekt steht, in eine Dialektik der reinen praktischen Vernunft, in der diese über ihre natürliche Begrenztheit hinaus auf Vollendung in einem höchsten Gut schließen kann. Die Vorstellung dieses höchsten Guts, die es ermöglichen soll, den Moralprozeß der endlichen Subjekte zu denken, transzendiert jedoch die Sterblichkeit. Es liegt so außer der Reichweite empirischer Subjekte.216 214 215

216

KpV, V 82. Kant entdeckt Freiheit, Spontaneität und Autonomie als „die letzte Angel […], auf der der Mensch sich dreht, die […] letzte Spitze, die sich durch nichts imponieren läßt“ (G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, a.a.O., 367). Birgit Recki nennt Kants Ethik in allen Aspekten „eine Ethik der Autonomie“ (Zur Wende zum Subjekt: Kant und die Aufklärung, in: Die Vernunft, ihre Natur, ihr Gefühl und der Fortschritt, a.a.O., 29; vgl. 55). – Genauer ist es die systematische Stellung des Autonomiebegriffs, durch die Moral von Ethik unterschieden werden kann. Vgl. Christine Zunke, Kritik der Hirnforschung. Neurophysiologie und Willensfreiheit, a.a.O., 163: „Denn der Mensch kann mit Vernunft nicht nur äußeres Material zu seinen Zwecken bestimmen, sondern aus Vernunft auch sich selbst nach dem Zweck seiner Vernunft bestimmen. Dasjenige, was die Vernunft für sich selbst sagt, ist der kategorische Imperativ, das moralische Gesetz, welches nach Kant allgemein und unbedingt, also unabhängig von kulturellen Veränderungen, Geltung für jedes vernünftige Wesen beanspruchen muss. Wird Vernunft nur im Hinblick auf ihr technischpraktisches Vermögen als natürliches Instrument analog zum tierischen Instinkt verstanden, dann erscheint Moral folgerichtig als ein veränderlicher Normenkatalog“. Vgl. Hans-Georg Deggau, Die Aporien der Rechtslehre Kants, a.a.O., 39: „Insofern gibt die Moral die Regeln der Verhältnisse des Leibes unter Abstraktion von dem Leib.“

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5.

267

Subjektivität unter der Dialektik der reinen praktischen Vernunft

Die Dialektik der praktischen Vernunft ist scheinbar eine erzwungene Folge der Unerfüllbarkeit praktischer Subjektivität unter der Bedingung der Trennung von intelligiblem und sinnlichem Subjekt, von Subjekt und Objekt.217 Die kategoriale Problematisierung der Gegenständlichkeit praktischer Vernunft erzwingt ein Surrogat. Daß nämlich die reine praktische Vernunft überhaupt in eine Dialektik gerät, ist nicht so selbstverständlich, wie Kant es darstellt,218 denn die spekulative Vernunft, an deren Dialektik die Begründung derjenigen der praktischen angelehnt wird, geriet in die ihre dadurch, daß sie Verstandesbegriffe, die nur auf Erfahrungen bezogen gehaltvoll waren, zu Vernunftideen erweiterte, sie zu Vorstellungen von Vollständigkeit und Unbedingtheit erhob. Die reine praktische Vernunft hingegen geht bereits von einer Vernunftidee, der der Freiheit, aus und entwickelt a priori deren Kongruenz mit dem Sittengesetz, der Autonomie, der Pflicht und der Achtung. Die Idee der Freiheit aber ist von Anfang an mit Vollständigkeit und Unbedingtheit ausgestattet und gegen ihre Verquickung mit bloßen Erscheinungen, sinnlichen Gegenständen und Triebfedern, verwahrt, indem noch ihr Gegenstand, das Gute aus ihr selbst gesetzt wird. Eine Dialektik ergibt sich hier – genau umgekehrt – aus der Rückbeziehung der Idee auf eine Vorstellung mit Erfahrungsgehalt, die zur Ermäßigung der Idee, zur Verendlichung des Absoluten zu geraten droht. Solche Ermäßigung folgt ihrerseits der absoluten Konzeption der Objektivität des moralischen Gesetzes, der Niederschlagung alles Sinnlichen. Weil die praktische Bedingtheit der Moralsubjekte im Begriff der Moral nicht reflektiert werden konnte, ließ sich innerhalb von dessen Analytik kein Objekt ermitteln: weil „Glückseligkeit und Sittlichkeit zwei specifisch ganz verschiedene Elemente des höchsten Guts sind, und ihre Verbindung also nicht analytisch erkannt werden könne“219 . Das Gute blieb Stellvertreter von Objektivität im Subjekt, in dessen separater Willensbestimmung; ebenso das Reich der Zwecke. Damit blieben Objektivität und Subjektivität der Moral unvermittelt, insofern die Objektivität zwar immer als subjektiv bestimmte im Subjekt verhalten war, aber die Subjektivität nicht in Objektivität überführt werden konnte, sich nicht objektiv zu setzen vermochte. Die „vollständig systematische[] Einheit“220 der Vernunft, die Kant im Blick hat, ist so nicht zu erreichen. „Denn der Glückseligkeit bedürftig, ihrer auch würdig, dennoch aber derselben nicht theilhaftig zu sein, kann mit dem vollkommenen Wollen eines vernünftigen Wesens, welches zugleich alle Gewalt hätte, wenn wir uns auch nur ein solches zum Versuche denken, gar nicht zusammen bestehen.“221 Die Verknüpfung des Guten mit dem Reich der Zwecke unter der Bestimmung der Vollständigkeit ergibt nun „die unbedingte Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft, unter dem Namen des 217

218 219 220 221

Giovanni B. Sala, Kants ‚Kritik der praktischen Vernunft‘. Ein Kommentar, Darmstadt 2004, 238f., weist darauf hin, daß die Dialektik der praktischen Vernunft nicht sachlich erzwungen sei. Die Diskussion wurde angestoßen bereits durch Lewis White Beck, A Commentary on Kant’s Critique of Practical Reason, Chicago 1961. – Allerdings ist zu zeigen, daß die Dialektik doch mehr ist als eine bloß äußerliche Analogie zur Kritik der reinen Vernunft. Vgl. KpV, V 107. KpV, V 112f. KpV, V 91. KpV, V 110.

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höchsten Guts“222 , nämlich die vollständige sittliche Verknüpfung von Glückseligkeit und Sittlichkeit. Kant betrachtet diese beiden Bestimmungen nun aber nicht als Momente einer übergeordneten Sittlichkeit, sondern je für sich ihrem vollständigen Begriff nach, soweit dieser aus dem Sittengesetz formal ableitbar ist. So erscheint ihre Vermittlung zunächst unerfüllbar, weil jede von ihnen schon allein genommen unerfüllbar ist. Sittlichkeit bestehe nämlich in der unendlichen Aufgabe, ohne jeden sinnlichen Antrieb den Willen vollständig aus reiner Vernunft zu bestimmen; dies könne „nur in einer Ewigkeit völlig aufgelöset werden“223 . Dagegen sei Glückseligkeit „der Zustand eines vernünftigen Wesens in der Welt, dem es im Ganzen seiner Existenz alles nach Wunsch und Willen geht“224 , so daß Bedürfnisbefriedigung zur Bedürfnislosigkeit idealisiert wird.225 Diese Idealisierung dient dazu, die natürliche Seite menschlichen Daseins ins transzendentale System zu integrieren, denn dieser Begriff der Glückseligkeit „beruht […] auf der Übereinstimmung der Natur zu seinem [des Menschen] ganzen Zwecke, imgleichen zum wesentlichen Bestimmungsgrunde seines Willens“226 . Von hier aus also ergibt sich aus der moralischen Bestimmung der Bedürfnisnatur der Menschen das Desiderat einer universellen Zweckmäßigkeit der Natur, die aus dem Verhältnis von Menschen zur Natur selbst nicht erklärt werden könne.227 Die selbst sittliche Verknüpfung von Glückseligkeit und Sittlichkeit, von partikularen und allgemeinen Interessen, die Hegel aufgrund seiner ins Politische gewendeten Darstellungsweise dieses Problems als Idee des Staates darstellen kann, wird bei Kant jedoch zur Utopie, weil sein Moralbegriff für die Möglichkeit sittlicher Vermittlung von Glückseligkeit keinerlei Argument bietet. Gleichwohl bedürfen die Menschen dieser Vorstellung, weil der Moralprozeß sonst ziellos und als zielloser gegenstandslos wäre. „Es ist a priori (moralisch) nothwendig, das höchste Gut durch Freiheit des Willens hervorzubringen; es muß also auch die Bedingung der Möglichkeit desselben lediglich auf Erkenntnißgründen a priori beruhen.“228 Hegel bedarf einer solchen Zielvorstellung nicht, weil in seiner Konstruktion das Ziel zwangsläufig aus dem Prozeß hervorgeht, da es diesem in allen Momenten schon immanent ist. Insofern verteidigt Kant ein Moment von Freiheit, wenn er die subjektive Notwendigkeit betont, die eigene Willensbestimmung der Kontingenz zu entreißen. Die unmittelbar darin liegende Konsequenz, daß der Moralprozeß komplett scheitern könnte, höbe aber kraft derselben einzuräumenden Kon-

222 223 224 225

226 227 228

KpV, V 108. KpV, V 124. KpV, V 124. Genauer führt Kant aus: „Glückseligkeit ist die Befriedigung aller unserer Neigungen, (sowohl extensive, der Mannigfaltigkeit derselben, als intensive, dem Grade, und auch protensive, der Dauer nach).“ (KrV, B 834) Diesen Zustand hat Kant andernorts – wohl nicht ganz zu Unrecht – mit dem Tod identifiziert (vgl. Anthropologie, VII 230ff. (§§ 60f.)). Kant freilich stellt eine so starke affirmative Bindung von Zufriedenheit und Tod her, daß er ‚dem Karaiben‘, für den es gleichgültig sei, ob er beim Angeln erfolgreich ist oder nicht, eine „angeborne Leblosigkeit“ unterstellt (VII 233 Anm.). KpV, V 124. Vgl. KpV, V 124. KpV, V 113.

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tingenz die positive theoretische Darstellbarkeit von Freiheit auf. Dieser Kontingenz nun theoretisch beizukommen, soll die Dialektik der reinen praktischen Vernunft dienen. Mit dem Begriff des höchsten Gutes erreicht Kant den, neben dem Begriff der Autonomie – der den der Würde und den des Reichs der Zwecke einschließt –, zweiten erhabenen Punkt seiner praktischen Philosophie. Hier führt die ‚Erinnerung‘, daß das höchste Gut der Gegenstand aber nicht der Bestimmungsgrund der praktischen Vernunft sei,229 nicht zu einer bloßen Wiederholung des Chorismos von intelligiblem und physischem Subjekt, sondern zu einer durchaus spekulativen Idee moralischer Praxis: „Es versteht sich aber von selbst, daß, wenn im Begriffe des höchsten Guts das moralische Gesetz als oberste Bedingung schon mit eingeschlossen ist, alsdann das höchste Gut nicht blos Object, sondern auch sein Begriff und die Vorstellung der durch unsere praktische Vernunft möglichen Existenz desselben zugleich der Bestimmungsgrund des reinen Willens sei“230 . Danach wäre das höchste Gut der sachhaltige Begriff der moralischen Organisation der gegenständlichen Lebensbedingungen vernunftbegabter Sinnenwesen, der sachhaltige Begriff der Verknüpfung des Allgemeinen mit dem Individuellen unter der Maßgabe des von allen Individuen vernünftig einsehbaren Allgemeinen, weil Tugend „noch nicht das ganze und vollendete Gut, als Gegenstand des Begehrungsvermögens vernünftiger endlicher Wesen [ist]; denn um das zu sein, wird auch Glückseligkeit dazu erfordert“231 , so daß „das eine durch reine praktische Vernunft nicht angenommen werden kann, ohne daß das andere auch zu ihm gehöre“232 . Dennoch werden die Momente Vernunft und Sinnlichkeit, Sittlichkeit und Glückseligkeit in hierarchischer Anordnung gedacht: Sie seien, da sie nicht identisch, sondern „specifisch ganz verschiedene Elemente des höchsten Guts sind“233 , in diesem synthe229 230 231 232

233

Vgl. KpV, V 109. KpV, V 109f. KpV, V 110. KpV, V 113. In der Kritik der reinen Vernunft wird das Ideal des höchsten Gutes direkt aus der Funktion des transzendentalen Ideals der reinen Vernunft entwickelt, so daß der Anspruch, reine Vernunft würde für sich selbst praktisch, noch ohne scharfe Trennung von reiner und praktischer Vernunft formuliert werden kann. Deutlicher wird der reinen Vernunft ein Einfluß auf geschichtliches handeln (vgl. KrV, B 835) eine Möglichkeit der Veränderung der Sinnenwelt gemäß moralischen Ideen (Vgl. KrV, B 836) eingeräumt. Allerdings werden moralwidrige Bedingungen auch hier schon als ‚Unlauterkeit der menschlichen Natur‘ gedacht. Dennoch erwägt Kant eine moralisch geeinte Menschheit, wenngleich unter der transzendenten Metapher des corpus mysticum (vgl. KrV, B 836), deren Mitglieder „Urheber ihrer eigenen und zugleich anderer dauerhafter Wohlfahrt sein würden“ (KrV, B 837). Wenn Kant jedoch von einem „obersten Willen, der alle Privatwillkür in sich, oder unter sich befaßt, entsprängen“ (KrV, B 838) spricht, so liegt darin wohl weniger eine Vorstellung Gottes als die eines kollektiven Subjekts, das durch vernünftige Organisation der Reproduktionsbedingungen diese in Einklang mit der individuellen Subjektivität – mit deren sowohl moralischer als auch spekulativer als auch physischer Identität – einrichtet. Dies hält die Vorstellung der Möglichkeit offen, von der moralkompatiblen Erfüllung von Neigungen zu sprechen. Weitere politische Forderungen vermeidet Kant dadurch, daß er auch hier als Bedingung der Unverbrüchlichkeit von Moral trotz Unvollkommenheit der Moralsubjekte die Geltung subjektiviert und Gott, Unsterblichkeit und Teleologie als ideale Erfüllungsbedingungen von Moralität ableitet. KpV, V 112.

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tisch zu verbinden, und zwar nach der Kategorie Kausalität. Die Kategorie Wechselwirkung zieht Kant nicht in Erwägung, da eine solche die ursprüngliche Gleichzeitigkeit von Sinnlichkeit und Verstand implizierte, wogegen Kausalität eine notwendige Folge in der Zeit bedeutet.234 Deshalb aber ist dieser Kategorie nach nur eine hierarchische Verknüpfung im höchsten Gut denkbar: Moral wird als oberstes Gut (supremum originarium) gedacht, dem die Glückseligkeit in dem vollendeten Gut (consummatum perfectissimum) bloß folge, wobei zu beachten ist, daß sowohl das höchste Gut als auch dessen Moment von Glückseligkeit als kausal von der Moralität abgeleitete Bestimmungen erscheinen. So aber gerät das Verhältnis von Tugend und Glückseligkeit zwangsläufig antinomisch, denn aufgrund des Chorismos beider können durch Glückseligkeit bestimmte Maximen, da sie selbst nicht moralisch seien, keine Tugend bewirken; ebensowenig aber können tugendhafte – also durch ein bloß intelligibles Gesetz bestimmte – Maximen den sinnlichen Zustand der Glückseligkeit bewirken, da dieser unter der Kausalität der Natur steht, in der bloße Ideen nicht wirken. – Gleichwohl hält Kant an dem erhabenen Begriff des höchsten Guts fest, von dem nun das Sittengesetz sogar logisch abhänge: „Ist also das höchste Gut nach praktischen Regeln unmöglich, so muß auch das moralische Gesetz, welches gebietet dasselbe zu befördern, phantastisch und auf leere eingebildete Zwecke gestellt, mithin an sich falsch sein.“235 Besteht nun das höchste Gut in dem Kausalverhältnis von Tugend und Glückseligkeit, so ist mit der logischen Verknüpfung von Moral und höchstem Gut auch eine solche von Moral und Glückseligkeit gesetzt, die Ursache ist ohne ihre Wirkung nicht als Ursache vorstellbar. Hätten sie aber keine Ursache, so wären „die moralischen Gesetze als leere Hirngespinste anzusehen“236 . Das Verhältnis von Moral und Glückseligkeit, wie Kant es in der Analytik darstellte,237 kann nicht aufrechterhalten werden. Dort hieß es zwar: „Glücklich zu sein, ist nothwendig das Verlangen jedes vernünftigen, aber endlichen Wesens und also ein unvermeidlicher Bestimmungsgrund seines Begehrungsvermögens.“238 Ebenso aber hieß es, sinnliche Bestimmungsgründe blieben immer subjektiv-zufällig, stünden mithin quer zur Moral, selbst wenn alle endlichen vernünftigen Wesen bezüglich ihrer Empfindung „durchgehends einerlei“ dächten239 . Das höchste Gut hingegen konstruiert gerade jene ‚Einerleiheit‘ als widerspruchsfrei mit dem Sittengesetz zu vereinbarende Organisation der Bedingungen der Sinnlichkeit. Kants Argument, dies sei eine synthetische Verbindung, die in der Analytik nicht zu thematisieren gewesen sei, verwandelt die Antinomie in ein self fulfilling prophecy: Die analytische Trennung von Intelligibilität und Sinnlichkeit bringt einen intelligiblen Moralbegriff hervor, dessen nachträgliche Assoziation mit der Sinnlichkeit nur kausal – und damit antinomisch – gedacht werden kann.

234

235 236 237 238 239

Wechselwirkung ist bei Kant „alle äußere Wirkung in der Welt“ (MAN, IV 544); dies trifft auf das Verhältnis von Sittlichkeit und Glückseligkeit nicht zu, weil zwar Intelligibles kausal auf Empirisches wirken könne (wie in der Dritten Antinomie), aber nicht umgekehrt. KpV, V 114. KrV, B 839. Vgl. KpV, § 3, Anm. II. KpV, V 25. KpV, V 26.

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Kant zufolge ist es „[m]it der vorliegenden Antinomie der reinen praktischen Vernunft […] eben so bewandt“240 wie mit der Dritten Antinomie der reinen Vernunft. Die These, aus glückseligkeitsbestimmten Maximen könne Tugend folgen, sei falsch, und zwar „schlechterdings falsch“241 . Tatsächlich ist schon hierdurch die vorliegende Antinomie von jener der spekulativen Vernunft strikt unterschieden, denn deren These und Antithese sollen beide zugleich wahr sein. Hier hingegen bezieht sich alle weitere Erörterung auf die Antithese, derzufolge Tugend Glückseligkeit nach sich ziehe, was doch unter empirischen Bedingungen nicht begründbar ist. – Überhaupt handelt es sich hier nicht um eine Antinomie, sondern um eine aporetische Behauptung, der Kant gegen ihren Anschein Plausibilität verschaffen will. Ihre Einkleidung in die Form einer Antinomie soll sie als notwendiges dialektisches Problem reiner praktischer Vernunft ausweisen, wo sie doch bloß die Folge einer Ungereimtheit von deren Analytik ist. Diejenige Antinomie, in die praktische Vernunft tatsächlich und zwangsläufig gerät, hatte Kant bereits dort, in der Analytik, erledigt: Es war die der notwendigen Verknüpfung von Autonomie und Heteronomie in der Bestimmung freier aber endlicher Willen, die durch die Zuordnung der Freiheit zur intelligiblen Verstandeswelt, der Heteronomie aber zur Endlichkeit, gelöst werden sollte. – Dieser Dichotomie bedient Kant sich nun erneut, um der Möglichkeit des Zusammenhangs von Sittlichkeit und Glückseligkeit „als Wirkung in der Sinnenwelt“242 eine erstaunliche Wendung zu geben. Diese Möglichkeit wird nämlich eröffnet durch die Befugnis jedes Subjekts, sich sein „Dasein auch als Noumenon in einer Verstandeswelt zu denken“243 , so daß seine Kausalität in der Verstandeswelt ‚notwendig‘ auf die Sinnenwelt wirke, „welche Verbindung in einer Natur, die blos Object der Sinne ist, niemals anders als zufällig stattfinden“244 kann. Kant konstruiert hier eine Sinnenwelt, die sich im Unterschied zu der, die Objekt der Sinne ist, in Übereinstimmung mit der Verstandeswelt befindet. Diese eigentümlich intelligible Sinnenwelt setzt hier bereits einen „intelligiblen Urheber[] der Natur“245 voraus, durch den gewährleistet ist, daß die Natur zumindest Menschen guten Willens keinen absoluten Widerstand entgegensetzt, also nicht ‚bloß‘ Objekt der Sinne ist. Die gleichsam durch prästabilierte Harmonie ermöglichte Koordination von Sittlichkeit und Sinnenwelt nimmt nun aber noch eine Wendung: Sie kann sich nicht mehr gegen unvernünftige Gestaltungen der Welt richten. Der Konflikt mit der Sinnlichkeit ist soweit intelligibilisiert, daß es befremdlich erscheint, daß „gleichwohl die Philosophen alter sowohl als neuer Zeiten die Glückseligkeit mit der Tugend in ganz geziemender Proportion schon in diesem Leben (in der Sinnenwelt) haben finden“246 wollen. Gleichwohl sei das Bewußtsein der eigenen Tugend notwendig von einem gleichsam endlichen „Analogon der Glückseligkeit“247 begleitet, nämlich der Selbstzufriedenheit als negati240 241 242 243 244 245 246 247

KpV, KpV, KpV, KpV, KpV, KpV, KpV, KpV,

V V V V V V V V

114. 114. 115. 114. 115. 115. 115. 117.

272

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vem Wohlgefallen. Dessen Negativität nun besteht darin, den theoretischen Chorismos von Sittlichkeit und Sinnlichkeit tätig zu exekutieren: als „Unabhängigkeit von Neigungen, wenigstens als bestimmenden (wenn gleich nicht als afficirenden) Bewegursachen unseres Begehrens“248 . Das von Neigungen affizierte Subjekt braucht nur deren Erfüllung zu widerstehen, um aus reiner praktischer Vernunft ein endliches Analogon der ‚Glückseligkeit als Wirkung in der (intelligiblen) Sinnenwelt‘ hervorzubringen. Die darauf folgende ‚Zufriedenheit‘ beruht „auf keinem besonderen Gefühle“249 ; sie ist die Zufriedenheit des Intellekts, der gelernt hat, jedes lebendige Verhältnis zum Leib nötigenfalls aufzugeben: Ihm sind dann seine Neigungen „jederzeit lästig“250 , – sich selbst zum Wohlgefallen, denjenigen aber zum Hohn, die unter der Last der Neigungen, deren Stillung ihnen grundlos versagt wird, zerbrechen und sich darin noch, daß sie der Last nicht standhielten, für „nichtswürdige, verworfene Menschen erscheinen“251 müßten. Beide dieser Charaktere sind Opfer der Beschädigung durch unmoralische objektive Bedingungen ihrer Lebensgestaltung. Die Harmonisierung des Verhältnisses von Sittlichkeit und Neigungen durch deren einfache Abstraktion erweise sich nicht bloß als Analogon der Glückseligkeit, sondern auch als sicherer Weg zum höchsten Gut. Dessen „Bewirkung […] in der Welt ist das nothwendige Object eines durchs moralische Gesetz bestimmbaren Willens“252 . Indem Kant das höchste Gut nunmehr als Kongruenz von Gesinnung und Gesetz bestimmt, ist von der anfänglichen Vorstellung der allgemeinen moralischen Organisation der Welt nichts mehr übrig geblieben; sie ist einer Partikularisierung der Idee des höchsten Guts gewichen, und zwar durch die Verkleidung der Aporie des Moralbegriffs in eine Antinomie der reinen praktischen Vernunft, die aus dem Mißverhältnis von Sittlichkeit und Neigungen, das dem Moralbegriff mitfolgte, sich allein durch die Möglichkeit tätiger Abstraktion der Neigungen retten konnte.253 – War die Amoralität der Sinnenwelt allein in der Natur des Subjekts begründet, so mußte es sich als intelligibles über seine Natur erheben, anstatt Moralität in der Welt zu verwirklichen. Der Schwierigkeit dieser Verwirklichung ist deshalb jedes individuelle Subjekt grundsätzlich allein konfrontiert.254 248 249 250 251

252 253

254

KpV, V 117. KpV, V 117. KpV, V 118, meine Kursivierung. KpV, V 152. Kants Kritik an den Stoikern, daß sie „das zweite Element des höchsten Guts, eigene Glückseligkeit, wegließen […] [obwohl] sie aber durch die Stimme ihrer eigenen Natur hinreichend hätten widerlegt werden können“ (KpV, V 127), ist keine Einschränkung dieses negativen Verhältnisses zur Sinnlichkeit, sondern dessen konsequente Steigerung: Nicht die Beschränkung des Weisen auf Sittlichkeit und seine Abkehr von der Sinnlichkeit rügt Kant, sondern die Illusion, daß dies zu Lebzeiten schon mit einem Status von Heiligkeit verbunden sein könne. Die ‚Stimme der Natur‘ steht nämlich nicht fürs legitime Bedürfnis, sondern für den „continuirlichen Hang[] zur Übertretung“ (KpV, V 127), den die Stoiker hochmütig ignorierten. Für Kant aber ist Sittlichkeit eben nicht Heroismus, sondern moralisches Bewußtsein im endlosen entbehrungsreichen Kampf mit der Sinnlichkeit. KpV, V 122. Das aporetische Verhältnis des Moralbegriffs zu den Bedingungen des Handelns bemerkt Nathan Rotenstreich, Theory and Practice in Kant and Hegel, a.a.O. Das gilt prinzipiell auch noch für die Religionsschrift, obwohl dort der Begriff eines ethischen Gemeinwesens entwickelt wird.

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Das endliche Subjekt kann aber jene Kongruenz von Gesinnung und Gesetz nicht vollständig hervorbringen, sofern diese Vollständigkeit Unfehlbarkeit, Heiligkeit wäre. Da sie dennoch Bedingung der Möglichkeit moralischen Handelns überhaupt ist, insofern dies sonst ziellos wäre, muß jeder stets soviel Sittlichkeit verwirklichen als es in seiner Kraft steht. Diese Bemühung stehe insofern unter der Bestimmung der Vollständigkeit als sie als der Progreß einer unendlichen Annäherung an die Heiligkeit vorgestellt werde. Dieser Progreß ist allein unter der Bedingung ewigen Lebens vorstellbar, so daß aus dem Moralbegriff selbst die Unsterblichkeit der Seele als Postulat abzuleiten sei. Die Möglichkeit, den sukzessiven Fortschritt zum höchsten Gut als Gattungsvermögen zu interpretieren, als akkumulative moralisch gestaltete Naturbeherrschung, hat Kant sich durch die einseitige Individualisierung der Moralität, schon durch deren Chorismos vom Sinnlichen, abgeschnitten. Damit hängt Kants Begriff von Moral letztlich an theoretischen Problemen, deren Übergang in Praxis, die geschichtlich sein müßte, nicht abzusehen ist.255 Der Progreß der unsterblichen Einzelseele ist das skurrile Surrogat von Moralität, in dessen Brüchen die zugrundeliegenden Aporien neu erscheinen: Wenn die Sittlichkeit der Gesinnung im Kampf gegen die Heteronomie der Sinne besteht, ist nicht zu sehen, wie dieser Kampf nach dem leiblichen Tode fortgeführt werden könnte, wenn das Subjekt nicht zu einer Art moralischen Wiedergängers werden soll.256 Welche Maximen wären im ewigen Leben, also außerhalb von Zeitbedingungen, zu fassen? Oder ist die an sich heilige Seele mit der unaustilgbaren Schuld vielleicht nur einer einzigen Verfehlung aus dem irdischen Dasein behaftet und kann daher durch unendlich währende Heiligkeit dem Ideal doch nur sich annähern? Gleichviel, zum Ziel, zum höchsten Gut, gelangt sie ohnehin nie, denn als unendliche Annäherung erreicht sie per definitionem kein Ende. Die Vollständigkeit der immer endlichen unendlichen Bewegung erscheint nur sub specie aeternitatis: Gott allein könne im Nu intellektueller Anschauung die unendliche Reihe als endlichen Ausdruck der Sittlichkeit eines Subjekts fassen.257

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256

257

In der Logik bezeichnet Kant die Postulate der praktischen Vernunft deshalb ausdrücklich als „theoretische Postulate […] zum Behuf der praktischen Vernunft“ (IX § 38). Vgl. Religion, VI 129 Anm.: „Unter der letztern Voraussetzung (der des Spiritualismus) aber kann die Vernunft weder ein Interesse dabei finden, einen Körper, der, so geläutert er auch sein mag, doch (wenn die Persönlichkeit auf der Identität desselben beruht) immer aus demselben Stoffe, der die Basis seiner Organisation ausmacht, bestehen muß, und den er selbst im Leben nie recht lieb gewonnen hat, in Ewigkeit mit zu schleppen, noch kann sie es sich begreiflich machen, was diese Kalkerde, woraus er besteht, im Himmel, d. i. in einer andern Weltgegend soll, wo vermuthlich andere Materien die Bedingung des Daseins und der Erhaltung lebender Wesen ausmachen möchten.“ Vgl. KpV, V 123. Zwar hat Kant die Postulate der praktischen Vernunft, von denen noch weiter zu handeln sein wird, als regulative Ideen verstanden; gleichwohl sind sie auch in ihren theologischen und religiösen Gehalten ernst zu nehmen, wenn deutlich werden soll, auf welche sachlichen Voraussetzungen Kants Moralbegriff reagiert und welche er inhaltlich selbst machen muß. Es hat sich durchgesetzt, Kants praktische Philosophie vor allem in ihrer Säkularisierungsleistung hervorzuheben. In diesem Licht erscheinen aber die theologischen und religiösen Gehalte, die es ja gibt, nur mehr als zu vernachlässigende, funktionslos gewordene Atavismen oder als pragmatische Zugeständnisse ans Publikum. Beides stünde philosophischen Arbeiten von solcher begrifflicher Stringenz kaum an.

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Die unendliche Annäherung ergab sich als Bedingung der Möglichkeit, Moralität zu denken; nun ergibt sich als deren Bedingung wiederum das Postulat der Existenz Gottes als Richter, denn die Vorstellung, daß wenigstens dieser die unendliche Fruchtlosigkeit als ewige Frucht anzuschauen vermag, wird zur letzten Stütze des Moralbegriffs, dem praktische Realität für die „Geschöpfe allein in Ansehung der Hoffnung dieses Anteils [am höchsten Gut] zukommen kann“258 . Diese Hoffnung ist die auf Rechtfertigung, die nie aus dem Subjekt selbst begründet werden kann,259 sondern allein aus göttlicher Gnade. Dies – Freiheit durch Gnade – ist allerdings dann kein Widerspruch, wenn man die ‚Zeitbedingung‘ in der Moralphilosophie fallen läßt.260 Später indes hat Kant hierin den salto mortale der Vernunft gesehen, wenngleich sein Versuch, dem Verhältnis von Moral und Religion einen politischen Gehalt unterzulegen, aporetisch blieb.261 Allerdings ist das Gnadenurteil, da Gott ewig ist, schon je gefällt, wird aber für das im unendlichen – nicht ewigen – Prozeß befindliche Subjekt nie gesprochen.262 Dessen moralisches Ziel existiert also nur in der eigenen Vorstellung, und das Subjekt, das dieser Illusion folgen soll, kann wissen, daß es eine Illusion ist. Die Heteronomie, zufälligen Einflüssen – der kontingenten Gnade einer herrschaftlich verfügten Sinnenwelt – ausgeliefert zu sein, die Kant durch abstrakt-negative Intelligibilisierung des Sittengesetzes zu beheben suchte, treibt in intelligibler Gestalt zwangsläufig aus diesem wieder hervor. Der konsequente moralische Gedanke läßt sich um 258

259

260 261 262

KpV, V 123. Ähnlich wird argumentiert in der Enzyklika SPE SALVI von Papst Benedikt XVI. an die Bischöfe, an die Priester und Diakone, an die gottgeweihten Personen und an alle Christgläubigen über die christliche Hoffnung. Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls Nr. 179 (verkündet am 30. 11. 2007; www.kath.net/SPE_SALVI.pdf): „Ich bin überzeugt, daß die Frage der Gerechtigkeit das eigentliche, jedenfalls das stärkste Argument für den Glauben an das ewige Leben ist. Das bloß individuelle Bedürfnis nach einer Erfüllung, die uns in diesem Leben versagt ist, nach der Unsterblichkeit der Liebe, auf die wir warten, ist gewiß ein wichtiger Grund zu glauben, daß der Mensch auf Ewigkeit hin angelegt ist, aber nur im Verein mit der Unmöglichkeit, daß das Unrecht der Geschichte das letzte Wort sei, wird die Notwendigkeit des wiederkehrenden Christus und des neuen Lebens vollends einsichtig.“ – Das Unrecht bleibt das letzte Wort, wenn es nicht gelingt, gerade die Bedürfnisse der Einzelnen in ein vor ihnen und von ihnen zu vertretendes Verhältnis zu bringen. Die Einsicht in die Unwiderruflichkeit vergangenen Unrechts ist hierfür eine notwendige Bedingung. Vgl. KpV, V 123 Anm. Hier hat Rüdiger Bubner das Einbekenntnis des praktischen Scheiterns der Transzendentalphilosophie gesehen, indem „Kant […] etwas unterstellen muß, das der praktischen Philosophie fern liegt“ (Geschichtsprozesse und Handlungsnormen, a.a.O., 187). Tatsächlich unterstellt Kant ja, daß jedes moralische Subjekt diese Unterstellung selbst machen muß, um ein identisches Bewußtsein von sich selbst haben zu können. Liegt diese Unterstellung der praktischen Philosophie wirklich fern, so ist das Selbstbewußtsein der Subjekte, die zu ihr systematisch genötigt sind, zerrüttet. Vgl. MdS RL, VI § 28 Anm. Vgl. Religion, VI 121. Zur Kritik der Postulatenlehre vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes, a.a.O., 326ff. Als Resultat hält Hegel fest: „Die Antinomie der moralischen Weltanschauung, daß es ein moralisches Bewußtsein gibt, und daß es keines gibt, – oder daß das Gelten der Pflicht ein Jenseits des Bewußtseins ist, und umgekehrt nur in ihm statt findet, war in der Vorstellung zusammengefaßt worden, worin das nichtmoralische Bewußtsein für moralisch gelte, sein zufälliges Wissen und Wollen für vollwichtig angenommen, und die Glückseligkeit ihm aus Gnade zuteil werde“ (341f.).

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die Reflexion auf Herrschaft nicht verkürzen, solange Herrschaft Autonomie bindet. Kant zufolge ist aber Gott als „Princip der Moral“ keine Heteronomie, „sondern Autonomie der reinen praktischen Vernunft für sich selbst“, denn nicht Gotteserkenntnis sei der Geltungsgrund moralischer Gesinnung, sondern eben praktische Vernunft. Gott sei nicht der Moral notwendig vorauszusetzen, sondern „nur [jedoch immerhin!; M.St.] der Gelangung zum höchsten Gute“263 . Indem dieses höchste Gut aber Bedingung der Möglichkeit der Objektivität des Moralgesetzes sei, muß sich doch jeder, der Moral und höchstes Gut ohne Gott denken wollte, von Kant sagen lassen, dies sei „phantastisch und auf leere eingebildete Zwecke gestellt, mithin an sich falsch“264 , beziehungsweise ein „Hirngespinst“265 . Autonomie durch Unterwerfung wird auch als ‚einstimmende Unterwerfung‘266 kein Akt rationaler Einsicht, sondern bleibt eben ‚Unterwerfung‘. Gott sei nun aber nicht bloß als Richter, sondern auch als Gesetzgeber und Regent der Weltordnung zu postulieren, weil die Unsterblichkeit der Seele wohl die Möglichkeit vollkommener Sittlichkeit, nicht aber die vollkommener Glückseligkeit begründen könne. Deren Figuration in der Sittlichkeit war bloß negativ-abstraktiv. Der Argumentation Kants zum zweiten Postulat ist kaum anzumerken, ob das Beweisziel noch die Möglichkeit von Glückseligkeit oder schon die Existenz Gottes selbst ist. Glückseligkeit faßt Kant nicht als kollektive Organisation gemeinschaftlicher Wohlfahrt unter moralischen Bedingungen,267 sondern er denkt sie nach dem metaphysischen Begriff der Vollkommenheit als vollständige Übereinstimmung von Natur und Freiheit: Die Natur müsse den menschlichen Zwecken und deren moralischen Gründen vollständig kompatibel sein. Da diese Gründe aber in der Analytik bereits von der Natur strikt getrennt worden sind, müßte der Mensch nun „Ursache der Welt und der Natur selbst“268 sein, um autonomer Urheber von Glückseligkeit sein zu können. Es genügt nicht, daß er vernünftiger Urheber einer zweiten Natur würde, mit deren Naturhaftigkeit er als Sinnenwesen zugleich wirksam verbunden wäre, weil diese Mittelbarkeit des Verhältnisses von Freiheit und Natur nach Kants Konzeption Freiheit schon als ganze aussetzt. Zudem wäre die Voraussetzung moralischer Naturgestaltung immer noch die Kompatibilität der Natur mit den freien Zwecken, deren Möglichkeit Kant durchaus einräumt, wenngleich als bloß zufällige.269 Obwohl Kants theologische Lösung bloß auf einem sublimierten Bedürfnis – der Hoffnung auf Gnade – beruht, gibt er ihr den Vorzug vor der praktischen ermittlung von Moral und Sinnlichkeit, mit dem Argument, sie sei „zur moralischen (gebotenen) Absicht zuträglich[] […], selbst aus der moralischen Gesinnung entsprungen“270 . Kant nimmt für die Vernunft selbst ein sie nötigendes Bedürfnis an, „aller Möglichkeit das

263 264 265 266 267 268 269 270

KpV, V 129. KpV, V 114. KrV, B 839. Vgl. KpV, V 132. Vgl. KrV. B 838. KpV, V 124. Vgl. KpV, V 145. KpV, V 146.

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Dasein eines allerrealsten (höchsten) Wesens zum Grunde zu legen“271 . Dieses Bedürfnis wirke keine Einsicht, aber ein Fürwahrhalten, das „dem Grade nach keinem Wissen nachsteht, ob es gleich der Art nach davon völlig unterschieden ist“272 . Nun kann weder spezifisch Verschiedenes graduell verglichen werden, noch wäre Wissen, das notwendig und allgemein gültig ist, überhaupt graduell bestimmt. Kant liegt aber daran, das Bedürfnis der Vernunft erkenntnistheoretisch in der Architektonik der Vernunft zu begründen, die in der Negativität ihrer Objektivität eines Haltepunktes bedürfe, um „sich von der Zufälligkeit der Existenz der Dinge in der Welt, […] von der Zweckmäßigkeit und Ordnung […] [einen; M.St.] befriedigenden Grund angeben“273 zu können. Freilich „müssen wir das, was nur abgenötigte Voraussetzung ist, nicht für freie Einsicht ausgeben“274 . Daraus resultiert, dem Ausgangsproblem entsprechend, aber kein negativer Begriff, sondern eine zwar regulative aber doch positive Vorstellung von Gott. Nicht seine Idee sondern sein Dasein anzunehmen, folge notwendigerweise aus dem Bedürfnis der Vernunft, überhaupt Dinge, deren relative Bestimmungen allesamt negativ seien, positiv als möglich anzunehmen. Diese Absicherung der Möglichkeit, von Bestimmtem zu reden, stellt aber zugleich alles Bestimmungsvermögen unter eine Ordnung, die ihm so unverfügbar ist, wie dem lebenden Körper seine Bedürfnisnatur. Doch differenziert Kant noch in diesem Bedürfnis. In theoretischer Absicht wirke es bloß bedingt: wenn man urteilen wolle. In der Moral aber, deren Geltung Kant für alternativlos hält – noch der ‚ärgste Bösewicht‘ muß sie als Mitglied der Menschheit akzeptieren – wirke das Bedürfnis der Vernunft unbedingt: „[W]eil wir urtheilen müssen“275 . Moralische Urteile gehen aber als Gesetze auf Vollständigkeit, die in einem Zustand allgemeiner Sittlichkeit zu realisieren wäre, in dem die der Naturseite der Menschen nötige Glückseligkeit proportional zu ihrer Sittlichkeit „ausgetheilt“276 wäre. Weil diese Austeilung nicht durch die Sittlichkeit selbst kausal bewirkt werden könne, sei die Realität des höchsten Guts nur zufällig. Auf diese bloße Möglichkeit sei die Notwendigkeit moralischer Urteile aber nicht zu bauen. Deshalb sei „eine oberste Intelligenz als höchstes unabhängiges Gut anzunehmen: zwar nicht um davon das verbindende Ansehen der moralischen Gesetze, oder die Triebfeder zu ihrer Beobachtung abzuleiten (denn 271

272 273 274 275 276

Sich im Denken orientieren, VIII 137f. Anm. Der Begriff ‚Bedürfnis‘ weicht hier von seinem üblichen Gebrauch ab: „Die Vernunft fühlt nicht; sie sieht ihren Mangel ein, und wirkt durch den Erkenntnißtrieb das Gefühl des Bedürfnisses.“ (Sich im Denken orientieren, VIII 139 Anm.) Selbst wenn das Bedürfnis, dessen eigener Ort dann nicht mehr angegeben wird, nur eine Folge vernünftiger Einsicht wäre, so ist es doch mit dieser nur durch einen Trieb vermittelbar, der offenbar wieder in die Vernunft fällt, und weil er intellektueller Trieb ist, zur Aufwertung des Bedürfnisses führt. Die Besonderheit dieses Bedürfnisses besteht dann darin, daß alle anderen Bedürfnisse der Menschen zugunsten vernünftigen Verhaltens eingeschränkt, ja negiert werden sollen, gerade weil sie die pejorative Naturmacht im Subjekt repräsentieren. Dem Vernunftbedürfnis bleibt nur die Macht, nicht das Pejorative der bloßen Natur. Sich im Denken orientieren, VIII 141. Sich im Denken orientieren, VIII 138. Sich im Denken orientieren, VIII 138 Anm. Sich im Denken orientieren, VIII 139. Sich im Denken orientieren, VIII 139.

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sie würden keinen moralischen Werth haben, wenn ihr Bewegungsgrund von etwas anderem, als von dem Gesetz allein, das für sich apodiktisch gewiß ist, abgeleitet würde); sondern nur um dem Begriffe vom höchsten Gut objective Realität zu geben, d. i. zu verhindern, daß es zusammt der ganzen Sittlichkeit nicht bloß für ein bloßes Ideal gehalten werde, wenn dasjenige nirgend existirte, dessen Idee die Moralität unzertrennlich begleitet.“277 Die der individuellen Sittlichkeit proportionale Austeilung der Glückseligkeit, die hier den Kern des Problems ausmacht, ist die positive Umwendung der Vorstellung individueller Moralrealisation durch Bedürfnisaufopferung: Wenn ein Mensch unter widrigen, weil endlichen Bedingungen Glücksgüter empfangen soll, dann nur in Äquivalenz zu seiner Gesinnung. Der im Konzept der ‚Aufopferung‘ gelegene Widerspruch wirkt sich hier als fundamentaler Begründungsmangel aus. Der Berechnungsmodus der proportionalen Austeilung mag noch von einer höheren Intelligenz erwartet werden; warum aber die Glücksgüter proportional zur Sittlichkeit auszuteilen sind, ließe sich allenfalls durch traditionelle Gerechtigkeitskonzepte begründen, deren metaphysische Begründung Kant offenbar unangesehen ihrer Aporien voraussetzt. Der naturrechtliche Gleichheitsgrundsatz ist hier aufgrund fehlender Maßstäbe nicht verwendbar. Unsittliches Verhalten, soweit es andere schädigt, kann positiv durch Gesetze beschränkt werden, und die Gesellschaft kann Sorge tragen, die Bedingungen des Handelns selbst sittlich zu gestalten, um das Konfliktpotential zu senken. Aber ein Gerechtigkeitsprinzip, das unsittliches Verhalten metaphysisch als Glücksunwürdigkeit auslegt, erscheint als politisch und moralisch sinnloses Ressentiment: Es handelt sich ja nicht um eine – ebenso problembeladene – Straftheorie, sondern darum, daß einer das Unglück, das ihm widerfährt, verdient habe, oder, wo es ihm nicht widerfährt, es doch verdient hätte. Durch solche Einstellung wird weder der Moralbegriff noch seine objektive Realität befördert. – Die von Kant problematisierte Negativität von Objektivität wäre in einem Erkenntnisbegriff aufzuheben, der die Menschen als an sich praktisch kollektiv vermittelte versteht, die über die Vernunft in der Welt frei, aber eben nur gemeinsam, verfügen. Die Grenze, der Haltepunkt der Vernunft in der Negativität, wäre in der Vernunft selbst aufzusuchen, wenn diese als praktische Subjektivität verstanden würde, deren Reflexion immer schon die geschichtlich-kollektive Dimension der Beziehung auf die Bedingungen des Denkens und des Handelns einschließt, die es bewußt zu entfalten gilt. – Kants Architektonik der Vernunft hingegen verfehlt hier ihren proklamierten Gegenstand: die Möglichkeit von Moral. Erst die Einsicht in das Verhältnis der natürlichen Möglichkeit der Übereinstimmung von Natur und Freiheit einerseits zu der aus Freiheit behinderten Realisierung dieser Möglichkeit andererseits, – die Einsicht in diesen Widerspruch erst könnte der moralischen Absicht wahrhaft förderlich sein. Eine vernunftgemäße Organisation der zweiten Natur beseitigte nicht die Antriebe der ersten, sondern gestaltete bloß die Bedingungen ihrer Realisierung, schüfe also keine vollständige Übereinstimmung; nur diese wäre Kant zufolge dem Sittengesetz aber adäquat: Wenn das Sittengesetz unabhängig von Natur gebieten solle, so könne es mit Glückseligkeit nur harmonieren, wenn deren Naturform von der Sittlichkeit nirgends unterschieden sei. Ursache dieser Identität könne nun aber nur Gott sein, der als absoluter 277

Sich im Denken orientieren, VIII 139.

278

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Intellekt das moralische Gesetz kenne und als absoluter Wille es rein realisiere. Da das höchste Gut nach Kant nur unter dieser Bedingung vorstellbar werde und ohne diese Vorstellung Moral unmöglich sei, ergebe sich aus dem unbedingten Anspruch der Moral, daß „es […] moralisch nothwendig [ist], das Dasein Gottes anzunehmen“278 . Dieser Übergriff von Moralbegründung auf das Gebiet Religion führt im Zusammenhang der Kantischen Subjektphilosophie auf erhebliche Schwierigkeiten.279 Eigentümlich kehrt sich die Argumentation der unbedingten Geltung der Moral gegen die Feststellung von lauter Bedingungen. Dem entspricht es, daß die Idee des höchsten Guts, deren Möglichkeit aus der sogenannten Antinomie erschlossen worden war, in diesem Zusammenhang selbst als Postulat bezeichnet wird. Nur deshalb bedarf es zu seiner Begründung eines weiteren Postulats. Damit nicht Postulate sich wechselseitig begründen, identifiziert Kant beide: „Folglich ist das Postulat der Möglichkeit des höchsten abgeleiteten Guts (der besten Welt) zugleich das Postulat der Wirklichkeit eines höchsten ursprünglichen Guts, nämlich der Existenz Gottes.“280 Wohlgemerkt sei Gott auch hier nicht der Grund der moralischen Verbindlichkeit selbst, sondern nur der Möglichkeit, diese Verbindlichkeit konsistent zu denken. Alle Pflichten seien daher als Gebote Gottes zu denken, jedoch nicht um ihrer positiven Geltung, sondern um der Möglichkeit ihrer Verbindung mit dem höchsten Gut willen.281 Die theoretische Reflexion auf das Dasein Gottes zerrüttet, gegen ihre Intention, das Bewußtsein der Autonomie: Es soll sich nur dann selbst als Urheber der Moral denken können, wenn es eine von ihm selbst unkontrollierbare Erfüllungsbedingung voraussetzt; das Bewußtsein von Freiheit muß um seiner Möglichkeit willen sich selbst als Bewußtsein von Freiheit suspendieren. Diese innere Gebrochenheit der Begründung praktischer Subjektivität korrespondiert indes den äußeren Bedingungen der realen Unfreiheit, unter denen die Subjekte leben und unter denen sie Freiheit denken. Die regulative Idee Gottes, die, wie Kant selbst ausführt, philosophisch kaum kontrollierbar ist, sondern zur Hypostase drängt,282 scheint erforderlich, weil Moral nicht unmittelbar selbst konstitutiv für richtige Praxis ist, sondern ihrer Form nach index falsi. Ihr Begriff ist daher außerhalb dessen zu verankern, was durch ihn beurteilt werden soll. Daß dieser Ankergrund 278

279

280

281 282

KpV, V 125. Kant hat den Argumentationsgang an anderer Stelle zusammengefaßt: „Weil aber eine reine praktische Teleologie, d. i. eine Moral, ihre Zwecke in der Welt wirklich zu machen bestimmt ist, so wird sie deren Möglichkeit in derselben, sowohl was die darin gegebene Endursachen betrifft, als auch die Angemessenheit der obersten Weltursache zu einem Ganzen aller Zwecke, als Wirkung, mit hin sowohl die natürliche Teleologie, als auch die Möglichkeit einer Natur überhaupt, d. i. die Transscendental-Philosophie nicht verabsäumen dürfen, um der praktischen reinen Zweckslehre objective Realität, in Absicht auf die Möglichkeit des Objects in der Ausübung, nämlich die des Zwecks, den sie als in der Welt zu bewirken vorschreibt, sichern“ (Gebrauch teleologischer Prinzipien, VIII 182f.). Vgl. Matthias Lutz-Bachmann, Religion nach der Religionskritik, in: Theologie und Philosophie 77 (2002), 381: „An dieser Stelle gehen die moralphilosophischen Überlegungen Kants ausdrücklich über in Religionsphilosophie“. Weil das Dasein Gottes thematisch ist, und zwar als subjektive Vorstellung eines moralischen Gesetzgebers, handelt es sich nicht mehr um spekulative Theologie. KpV, V 125. Vgl. V 133f. Hier bestimmt Kant das höchste Gut als ein Konglomerat der drei Postulate von Freiheit, Gott und Unsterblichkeit. Vgl. KpV, V 129. Vgl. KrV, B 610f.

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nicht das Selbstbewußtsein von Praxis selbst sei, das aus seiner formalen Einheit heraus die historischen Erfahrungen beurteilte, sondern daß er in etwas liege, was größer ist als gedacht werden kann, weist auf die historische Grenze der Form des Selbstbewußtseins hin. Geschichtsphilosophisch ist die Grenze immanent auch nicht aufzulösen, sondern führt auch hier auf die Annahme einer stabilisierenden Transzendenz, der Naturabsicht. Die Postulate der praktischen Vernunft sollen deren Begriffen objektive Realität verschaffen, insofern sie das Objekt des apodiktischen Sittengesetzes möglich machen. Ihr eigener erkenntnistheoretischer Status ist dabei nicht apodiktisch, wohl aber assertorisch,283 – nicht wie in der Kritik der reinen Vernunft bloß problematisch. Insofern erweitern sie die reine Vernunft, aber nicht durch synthetische theoretische Erkenntnisse, denn die dafür notwendige Anschauung kann nicht gegeben werden. Nicht für eine Erkenntnis transzendentaler Gegenstände, wohl aber für die Wirklichkeit des höchsten Guts sind sie konstitutiv. Konstitutive Bestimmungen aber sind stets subjektimmanent,284 sie konstituieren die Objektivität der Objekte, die selbst eine bloß subjektive Funktion von Vorstellungen ist.285 Der spekulativen Vernunft kommt die Aufgabe zu, „Anthropomorphism“ und „Fanaticism“286 abzuhalten, da beide die Reinheit der Pflicht beeinträchtigen. Obwohl es sich nun um „Ideen der Vernunft, die in gar keiner Erfahrung gegeben werden können“287 , handele, sei ihre objektive Realität, ihre Wirklichkeit, durch die Kategorien der reinen Vernunft zu bestimmen, da diese durch das aus praktischer Vernunft gegebene Objekt nicht leer seien. Was sich dem theoretischen Gehalt nach hinter dieser Objektivität der Ideen verberge, sei gleichgültig, entscheidend dagegen nur, „daß sie überhaupt Objecte haben“288 . Nun bezieht sich die Gewißheit der Wirklichkeit Gottes ja nicht auf ein Objekt überhaupt, sondern auf das besondere Objekt, so wie es die praktische Vernunft bestimmt hat; sonst wäre sie Gewißheit der Wirklichkeit von nichts Bestimmtem, von Nichts. Kant räumt ein, daß der Begriff Gottes lediglich die ins Absolute gesteigerte Vorstellung „unserer eigenen Natur“289 sei, von der alles Spezifische abstrahiert wurde, so daß „von den Begriffen, durch die wir uns ein reines Verstandeswesen denken, nichts mehr übrig [sei], als gerade zur Möglichkeit erforderlich ist, sich ein moralisch Gesetz zu denken“.290 Kants Vorstellung der Gewißheit der Wirklichkeit Gottes ohne Erkenntnis seiner Bestimmungen, beziehungsweise die Verteilung des Gottesbegriffs auf theoretische und praktische Vernunft, die auch hier absolut diskret bleiben müßten, soll die Ermäßigung des indirekten Gottesbeweises zum Postulat plausibel machen und zugleich Gewißheit, die der Moral schade, zur Hoffnung reduzieren. Gleichviel, ob der Gottesbegriff als eingestandene Hilfskonstruktion der praktischen Vernunft oder als Gottesbeweis ermittelt wird – ob durch „Schlüsse, wodurch wir uns auf unsere Einsicht etwas dünken, […] 283 284 285 286 287 288 289 290

Vgl. KpV, V 134. Vgl. KpV, V 135. Vgl. KrV, B 136f. (Deduktion B, § 17). KpV, V 135f. KpV, V 136. KpV, V 136. KpV, V 137. KpV, V 137.

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[oder durch] Befugnisse, die man uns nachsehen kann“291 – stets wird die subjektive Autonomie, der ein solcher Gottesbegriff dienen soll, durch ihn ausgesetzt. Jener Hoffnung korrespondiert ein „Bedürfniß [der reinen Vernunft] in schlechterdings nothwendiger Absicht […]: ich will, daß ein Gott, daß mein Dasein in dieser Welt auch außer der Naturverknüpfung noch ein Dasein in einer reinen Verstandeswelt, endlich auch daß meine Dauer endlos sei, ich beharre darauf und lasse mir diesen Glauben nicht nehmen“292 . Ein solcher freier Wille, etwas zu wollen, das den freien Willen erst möglich macht – der Wille, daß es das Objekt gebe, das dem Willen ein Objekt sichert – ist endlichen Wesen überhaupt nicht möglich, es sei denn in der Vorstellung ihrer eigenen praktischen Vernunft als außer der Zeit befindlich. Diese Vorstellung aber ist widersprüchlich. Der Suspension des autonomen Subjekts um seiner selbst willen entspricht die praktische Vorstellung der Notwendigkeit der „Übereinstimmung meines Willens mit dem eines heiligen und gütigen Welturhebers“293 , die einem endlichen Wesen doch auch nicht möglich ist. Glückseligkeit scheint ebenso durch die Bedingung ihrer Möglichkeit ausgesetzt: „Die Heiligkeit der Sitten wird ihnen [den Menschen; M.St.] in diesem Leben schon zur Richtschnur angewiesen, das dieser proportionirte Wohl aber, die Seligkeit, nur als in einer Ewigkeit erreichbar vorgestellt“294 . Die Übereinstimmung von Natur und Freiheit, von Sinnlichkeit und Vernunft, erscheint als realisierbar nur unter der Bedingung der Vernichtung der Sinnennatur in der Ewigkeit. Selbst dieses zweifelhafte Glück zu erreichen, ist den endlichen Vernunftwesen aber nach dem ersten Postulat nicht möglich, da sie die Notwendigkeit des unendlichen Progresses der Annäherung von der Seligkeit in Ewigkeit stets ums Ganze entfernt hält. Das Einzige, was dieser Vorstellung der Aufhebung der Sinnlichkeit in Ewigkeit real entsprechen kann, ist deren tätige Antizipation in der Entsagung ‚in diesem Leben schon‘; das ihr ‚proportionierte Wohl‘ in der Ewigkeit – und das liegt in Kants Konzeption des Postulats unmittelbar für jeden offen zu Tage – ist eine Illusion, die über den Widerspruch moralischer Forderungen unter unmoralischen Bedingungen ihrer Erfüllung nicht einmal mühsam hinwegtäuscht. Kant setzt möglicher Kritik entgegen, daß die Moral darauf gehe, nicht glücklich, sondern des Glückes würdig zu werden. „Würdig ist jemand des Besitzes einer Sache oder eines Zustandes, wenn, daß er in diesem Besitze sei, mit dem höchsten Gute zusammenstimmt.“295 Das heißt, die Erwerbung der Glücksgüter muß unter dem moralischen Gesetz stehen. Wie stünde es nun um die Glückswürdigkeit in einer Welt, in der die Glücksgüter regelmäßig nach unmoralischen Prinzipien erworben werden, etwa durch die systematische Beschränkung und Beschädigung der Interessen Anderer? – Kant berührt dieses Problem in einer abgelegenen Anmerkung: „Man darf nur ein wenig nachsinnen, man wird immer eine Schuld finden, die er sich irgend wodurch in Ansehung des Menschengeschlechts aufgeladen hat (sollte es auch nur die sein, daß man durch die Ungleichheit der Menschen in der bürgerlichen Verfassung Vortheile genießt, um deren willen andere desto mehr entbehren müssen), um durch die eigen291 292 293 294 295

KpV, KpV, KpV, KpV, KpV,

V V V V V

139. 143. 129. 128f. 130.

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liebige Einbildung des Verdienstlichen den Gedanken an Pflicht nicht zu verdrängen.“296 Unter solchen Bedingungen mißriete der unbeirrt angestrengte Erwerb der Glückswürdigkeit zur Entsagung und zur dauernden Zerknirschung darüber, daß man nicht allem entsagen kann. Eine Erfüllung dieser Würdigkeit wäre dann allein durch die Aufhebung dieser Welt vorstellbar. Müßte nun diese Aufhebung sich als tätige ebenso mit den Bedingungen der Unmoral konfundieren, bliebe in der Tat bloß ihre Sublimation zur Jenseitshoffnung.297 In dieser jedoch lebt die Illusion der Befreiung von den unmoralischen Bedingungen ihr eigenes Leben: Das Bewußtsein der Unwürdigkeit eines anderen, der glücklich ist, verbirgt Neid, das Bewußtsein der Unwürdigkeit eines, der unglücklich ist, Selbstgerechtigkeit;298 das Subjekt solchen Bewußtseins ist nicht das autonome Subjekt von Moral, sondern unversehens Objekt einer Welt, in der Moral nicht gilt.

6.

Korollar: Die Tugendlehre – Ein gelungener Vermittlungsversuch?

Der strikte Begriff moralischer Selbstbestimmung war auf die endliche Praxis endlicher Wesen nicht mehr widerspruchsfrei – das heißt ohne Annahme unendlicher Bedingungen – zurückzuwenden. Die Bestimmung dessen, was in der Welt zu tun sei, beanspruchte zwar das Recht; es leistet diese Bestimmung aber nur äußerlich. Daher bedarf es Kant zufolge der Ergänzung durch eine Ethik, die eine Verbindung zwischen der Gegenständlichkeit des Rechts und der reinen Grundsätzlichkeit der Moral darstellte. Kants Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre stehen somit als ausgeführte praktische Philosophie vor dem Problem, daß spezielle Tugenden, anders als das moralische Gesetz, auf besondere Zwecke bezogen sind, und daher inhaltlich über dessen Formalität hinausgehen.299 Die Frage ist, ob es für sie „auch metaphysischer Anfangsgründe 296 297

298

299

KpV, V 155 Anm. Kants Kritik am antiken Atheismus bezeichnet das Problem: „[W]as konnte leichter, was natürlicher sein, als der sich von selbst jedermann darbietende Gedanke, statt unbestimmter Grade der Vollkommenheit verschiedener Weltursachen eine einzige vernünftige anzunehmen, die alle Vollkommenheit hat? Aber die Übel in der Welt schienen ihnen viel zu wichtige Einwürfe zu sein, um zu einer solchen Hypothese sich für berechtigt zu halten.“ (KpV, V 140) Umgekehrt können die Übel auch ‚solche Hypothesen‘ fördern. Kant hat dies geahnt. Vgl. KpV, V 153: „Man kann in diesen Beurtheilungen oft den Charakter der über andere urtheilenden Personen selbst hervorschimmern sehen“. Vgl. zur Diskussion dieses Problems Andrea Marlen Esser, Eine Ethik für Endliche, a.a.O., 249ff. Esser selbst räumt ein, daß es verwundern müsse, wenn Kant an die inhalt- und materielosen Bestimmungen der Moralphilosophie eine „Theorie materialer Zwecksetzung“ (250) wie selbstverständlich anschließe, und bietet dann folgende Lösung an: „In der Metaphysik der Sitten wird die allgemeine […] Struktur auf ihre Verwirklichungsbedingungen für endliche Wesen hin untersucht […]. Hier werden die objektiven Zwecke konsequenterweise nicht in Bezug zum Willen gestellt, sondern in Bezug zur Willkür. […] [Sie] ergeben sich aus dem Gedanken einer selbstbezüglichen Willensbestimmung, wenn die Verwirklichung des Willens unter der Bedingung der Endlichkeit der Handelnden betrachtet wird.“ (252f.) So sei „[d]as praktische Gesetz Kants […] durch die Tugendlehre mit der empirischen Wirklichkeit der endlichen Wesen vermittelt, und die Ethik als ganze erhält dadurch eine pragmatische Dimension“ (16). Erstens ist es genau diese Betrach-

282

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bedürfe, um sie als wahre Wissenschaft (systematisch), nicht blos als Aggregat einzeln aufgesuchter Lehren (fragmentarisch) aufstellen zu können“300 , ob also philosophisch über Tugenden überhaupt etwas zu sagen sei. Die Rechtslehre war zwar auch schon ausgeführte praktische Philosophie, blieb aber nach Kants Rechtsbegriff auf die Form des äußerlichen Verhältnisses der Subjekte beschränkt.301 Zwar konnte eine aufs Privateigentum gegründete Rechtslehre kaum von sich behaupten, in ihr sei „abgesehen von allem Zweck“302 ; zumindest kann aber Kant beanspruchen, die Rechtsvorschriften aus dem äußerlichen Verhältnis bürgerlicher Subjekte, wenn sie einmal da sind, formal abzuleiten. Ob eine entsprechende Begründung auch der ethischen Tugenden aus metaphysischen Anfangsgründen möglich sei, oder nur ein je nach Lebens- oder Gegenstandsbereich variables ‚Aggregat‘, wird zur Aufgabe der allgemeinen Teile der Tugendlehre. Gerade die Situierung der Tugenden in besonderer Praxis verschärft die Schwierigkeit: Tugenden müßten lehrbar, für alle Menschen verständlich zu machen sein. Wäre ihre Ordnung aber metaphysisch zu begründen, bliebe sie „eine Sache der Speculation […], die nur wenig Menschen zu handhaben wissen“303 . Ebensowenig können Tugenden – Aristotelisch – anerzogen werden, was letztlich auf bloßer Gewöhnung beruhte, die als solche nicht sittlich wäre.304 Als Lösung visiert Kant eine zwar systematisch begründete Tugendlehre an, deren Vermittlung jedoch popularisiert sein dürfe: Philosophische Bildung sei nicht ihr Zweck, aber „der Gedanke muß bis auf die Elemente der Metaphysik zurück gehen“305 . Der ‚Gedanke‘ indes ist transzendentalphilosophisch doch allein durch prädikative Urteile a priori zu formulieren; eine ermäßigte Darstellung ohne Ermäßigung des Gehalts scheint unrealistisch.

300 301 302 303 304

305

tungsweise, die die Tugendlehre in Gegensatz zur Moralphilosophie bringt, weil diese intelligible Prinzipien formuliert; zweitens ist zu bezweifeln, daß die Tugendlehre ‚Verwirklichungsbedingungen‘ moralischer Gesetze untersucht. Allerdings ist an dieser Stelle bei Esser auch nur mehr von ‚allgemeinen Strukturen‘ die Rede; das betrifft dann besonders auch den Begriff der Maximen. Diese werden nicht als subjektive, innere, Zwecksetzungen verstanden, sondern als „Strukturen […], die unseren Handlungen zugrunde liegen, die aber gleichwohl erst als Resultate einer Reflexion über diese Handlungen aufgezeigt werden können“ (273). Wären sie subjektiv und innerlich, so ließe sich keine Verbindung zur Handlung herstellen, die gute Absicht könne schlimme Handlungen anleiten (vgl. 274, 286). Esser konfundiert hier die gute Absicht mit dem guten Willen, aus dem selbst nichts folgt. Die Entsubjektivierung der Selbstbestimmung und deren Plazierung unter endlichen Bedingungen nimmt dem Autonomiebegriff Kants allerdings sein polemisches Potential gegen unmoralische Bedingungen. MdS TL, VI 375 Vgl. MdS RL, VI § B. MdS TL, VI 375. MdS TL, VI 376. Vgl. Anthropologie, VII § 12: „Daher kann man die Tugend nicht so erklären: sie sei die Fertigkeit in freien rechtmäßigen Handlungen; denn da wäre sie blos Mechanism der Kraftanwendung; sondern Tugend ist die moralische Stärke in Befolgung seiner Pflicht, die niemals zur Gewohnheit werden, sondern immer ganz neu und ursprünglich aus der Denkungsart hervorgehen soll.“ Als „Angewohnheit“, also die „physische innere Nöthigung nach derselben Weise ferner zu verfahren, wie man bis dahin verfahren hat“ ist sie sogar „verwerflich“ (a.a.O.). MdS TL, VI 376.

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Kant schafft sich hier das Feld einer anwendungsspezifischen Darstellung des Sittengesetzes, obwohl dieses seiner Form nach, dem Gedanken nach, solcher Spezifizierung widersteht. Das Widerstandspotential der Moral gegen unmoralische Bedingungen, das in ihrer Verschlossenheit gegen Handlungen unter solchen Bedingungen zum Eklat kommt, wird durch die auf Anwendung erpichte Darstellung unterlaufen. Daß Kant dies selbst befürchtete, kommt in seiner Betrachtung der Wissenschaftlichkeit des Vorgehens zum Ausdruck, noch in der Methodenlehre.306 Das „oberste Prinzip der Tugendlehre“ will Kant, wie das der Rechtslehre, aus dem Sittengesetz hervorbringen, mehr noch formuliert er, es sei selbst „ein kategorischer Imperativ“307 . Schon der unbestimmte Artikel weist auf das Problem, denn der kategorische Imperativ kann, Kants eigener begründeter Auffassung zufolge „nur ein einziger“308 sein. Die Aufgabe der Tugendlehre soll aber die gegenständlich begründete Erweiterung des formalen Prinzips sein. Dies will Kant über folgende Formel erreichen: „[H]andle nach einer Maxime der Zwecke, die zu haben für jedermann ein allgemeines Gesetz sein kann.“309 Der Unterschied dieser Formel zum kategorischen Imperativ liegt darin, daß nicht die Maxime durch sich selbst zur Allgemeinheit fähig sei, sondern daß die Maxime Zwecken entspreche, die ihrerseits erst zur Allgemeinehit fähig sein müssen: Kant spricht von Zwecken, die an sich selbst Pflicht sind.310 Indem das formale Kriterium der widerspruchsfreien Allgemeinheit nicht in der bloßen Gesetzmäßigkeit der Maxime liegt, wird das immanente Moralprinzip extrovertiert: Es werden Zwecke angenommen, die zu haben für jedermann ein allgemeines Gesetz sein kann, also tritt ausdrücklich die Beziehung des Subjekts auf Äußeres in die Sittenlehre ein. Es geht nicht mehr darum, ob jemand etwas überhaupt wollen kann, sondern daß er manches Bestimmte wollen soll. Solche Bestimmtheit war aus dem kategorischen Imperativ nicht mehr zu gewinnen, weil Moralität ihrem strengen Begriff nach nur formal zu bestimmen war, durch Negation aller Zweckbeziehung. Diese Formalität weist Kant nun überraschend vollständig der Rechtslehre zu: „Die Rechtslehre hatte es blos mit der formalen Bedingung der äußeren Freiheit (durch die Zusammenstimmung mit sich selbst, wenn ihre Maxime zum allgemeinen Gesetz gemacht wurde), d. i. mit dem Recht, zu thun.“311 Tatsächlich sah das Prinzip 306

307 308 309 310 311

Vgl. MdS TL, VI § 50. Gegenwärtig erfreut sich Kants Tugendlehre einer beachtlichen Renaissance, im Rahmen der allgemeinen, sich aristotelisch inspirierenden Rückbesinnung auf den Tugendbegriff in der praktischen Philosophie, die überwiegend die massiven Probleme dieses antiken Begriffs, die unter dem Zeichen neuzeitlicher Subjektivität sicher nicht weniger werden, schlicht ignoriert. Zu diesen Problemen vgl. Michael Städtler, Die Freiheit der Reflexion, a.a.O. Auf Kants Tugendlehre griffen jüngst zurück Andrea Esser, Eine Ethik für Endliche, a.a.O. und Birgit Recki, Prinzipien des Handelns und Spielräume der Urteilskraft. Die Elemente moralischer Orientierung, in: Die Vernunft, ihre Natur, ihr Gefühl und der Fortschritt, a.a.O., 49ff. Derzeit laufen verschiedene anwendungsorientierte Projekte, vor allem zu den Hilfspflichten, sowie die Vorbereitung einer kommentierten Neuausgabe des Textes. MdS TL, VI 395. GMS, IV 421. MdS TL, VI 395. Vgl. MdS TL, VI 381 und pass. MdS TL, VI 380. Vgl. 381; 382; 411.

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der Rechtslehre keineswegs die innere Übereinstimmung der Maximen vor, sondern die widerspruchsfreie Koordinierbarkeit von Handlungen oder Willkürsphären.312 Gerade der Formalismus der äußeren Freiheit, den Kant hier zitiert, führte nicht auf formale Bestimmungen der Sittlichkeit, sondern auf formelle Koordination an sich disharmonischer äußerlicher Willkürsphären, deren geschichtlicher Hintergrund die Angemessenheit der Formalität der Kantischen Rechtsbegründung deshalb fraglich erscheinen ließ, weil sie mit dem Formanspruch der Moralphilosophie nicht konkordant ist. Hier nun wird die Moralphilosophie so behandelt, als sei sie die dem Recht und der Tugend gemeinsame allgemeine Grundlagentheorie, deren formales Moment das Recht ausgestaltete, während die Tugend es wie selbstverständlich auf bestimmte Inhalte beziehe. Daß diese Differenzierung problematisch ist, zeigt Kants Bemühung, die Inhalte, die Zwecke der Tugendlehre, wieder auf Innerlichkeit des Subjekts zu gründen, während die formale Rechtslehre ganz im äußeren Zwang aufgehe. Anders als in der Rechtslehre selbst erscheint das Recht nun nicht bloß als mit der Befugnis zu zwingen verbunden, sondern „der äußere Zwang […] ist das oberste Rechtsprincip“313 . Dieser Zuspitzung bedient sich Kant, weil das Rechtsprinzip gemäß der Rechtslehre ein synthetisches Urteil a priori vorstellen sollte, nun aber die Tugendlehre als synthetische Moralerweiterung von der bloß analytischen Rechtslehre abgegrenzt werden soll. Faßte nämlich Kant die Tugendlehre ebenfalls als bloße Analysis der Form, oder das Recht als – was es aufgrund seiner Geschichtlichkeit tatsächlich ist – bereits synthetische Auslegung von Sittlichkeit, so wäre die Tugendlehre offensichtlich redundant. Sie darf ihrem Prinzip nach nicht mit der Rechtslehre konkurrieren. Wenn die Tugendlehre nun auf Zwecke gehen soll, dann kann Kant Rechtslehre und Tugendlehre nicht ohne weiteres ihren Gegenstandsbereichen nach unterscheiden, ohne die Differenz der Gegenstandsbereiche umgekehrt aus den Prinzipien der Disziplinen zu begründen. Kant muß daher die Abstraktion von Zwecken im Recht und dessen bloße Beschränkung auf Form ernstnehmen.314 Dann fällt aber die Bestimmung des Verhältnisses von Willkürsphären, weil diese dann keine Materie haben, und so gar nicht unterschieden werden können. Wird nur die Relation der Ausschließenden zueinander, ohne Rücksicht auf das, wovon ausgeschlossen wird, betrachtet, so bleibt nur die Form der Gewalt, ohne die Möglichkeit der vernünftigen Bestimmung der Willkür, weil diese, als objektlos, nur in ihrer formellen Gegensätzlichkeit betrachtet werden kann. Die Differenz von Tugend und Recht gelingt Kant nur um den Preis des Eingeständnisses, daß nicht die Freiheit das oberste Prinzip des Rechts ist, sondern deren Gegenteil, der Zwang. Zwang allerdings ist auch das Prinzip der Tugendlehre, denn „[d]er Pflichtbegriff ist an sich schon der Begriff von einer Nöthigung (Zwang) der freien Willkür durchs Gesetz“315 . Die Differenz von Recht und Tugend beruht dann im Prinzip wieder darauf, daß jenes äußerlich zwingt, diese aber den verinnerlichten „Selbstzwang“316 voraussetzt. Dieser Selbstzwang vermöchte sich wohl auch auf die äußerlichen Zwecke des 312 313 314 315 316

Vgl. MdS RL, VI §§ B, C. MdS TL, VI 396. Vgl. MdS RL, VI § B und TL, VI 396. MdS TL, VI 379. MdS TL, VI 379.

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Rechts zu beziehen, folgt aber nicht aus ihnen, weil sie ihren Verpflichtungsgrund nicht in sich als Zwecken, sondern nur in der äußerlichen Koordination der Handlungen haben. Soll die Verbindlichkeit aus den Zwecken selbst folgen, dann wäre ein Zweck anzunehmen, „der zugleich als objectiv-nothwendiger Zweck, d. i. für den Menschen als Pflicht, vorgestellt wird“317 . Dies wäre Kant zufolge die ‚Materie‘ der reinen praktischen Vernunft, also das, was nach der Kritik der praktischen Vernunft eine contradictio in adjecto sein müßte. Daß gleichwohl ein solches Material, bestimmte Zwecke, denkbar seien, begründet Kant auf zweierlei Weise. Erstens neigten die Subjekte aufgrund ihrer Sinnlichkeit zu unmoralischen Zwecken. Soll die reine Vernunft den Willen moralisch bestimmen, so müssen die Neigungen überwunden werden. Hierfür bedürfe die Vernunft eines Mittels, und zwar eines „entgegengesetzten moralischen Zweck[s], der also von der Neigung unabhängig a priori gegeben sein muß“318 . Es genügt offenbar nicht, mittels Vernunft die vorzunehmenden Zwecke auf ihre Moralität zu prüfen, sondern diese Kritik durch die Vernunft muß konstruktiv sein, einen überzeugenden Gegenvorschlag machen, der gegen die Neigungen generell nur dann überzeugt, wenn er a priori begründet ist. Dafür müßte aber nun doch ein bestimmter Zweck aus der reinen praktischen Vernunft zu folgern sein. Ein solcher Zweck wäre aufgrund seiner Genese direkt verpflichtend: „dieses würde der Begriff von einem Zweck sein, der an sich selbst Pflicht ist“319 . Nach dieser Argumentation wären die an sich selbst verpflichtenden Zwecke bloße Mittel der Vernunft im Kampf gegen die Neigungen. Sollen sie auch ihrer Herkunft nach a priori sein, so müssen sie doch ihrer funktionalen Bestimmung nach a posteriori, stets auf Neigungen bezogen werden. Kants zweites Argument bezieht sich auf das Vermögen freier Zwecksetzung selbst: Da Menschen sich die Zwecke, die mit ihren handlungen notwendig verbunden seien, selbst setzen müßten, sei dies „ein Act der Freiheit des handelnden Subjects, nicht eine Wirkung der Natur“320 . Problematisch ist nicht allein, daß Kant offenbar einen Zustand ausschließt, in dem alle Zwecke heteronomen Gesetzen folgen; sein Schluß aus der Voraussetzung, daß es ein Akt der Freiheit sei, ‚irgendeinen Zweck zu haben‘, erweitert die Zwecksetzungskompetenz zu einem unbedingten Gebot von Zwecken, das diese unmittelbar mit ‚einem‘ kategorischen Imperativ verknüpfe und sie als Zwecke erweise, die selbst Pflicht seien. Diese Begründung für die Möglichkeit solcher Zwecke paraphrasiert Kant noch einmal negativ: Da es freie Handlungen gebe, müsse es auch Zwecke geben. Wäre jeder Zweck subaltern, hätte zugleich Mittelcharakter, so ergäbe sich ein unendlicher Progreß, der nur abzukürzen wäre entweder dadurch, daß manche Handlungen quasi zwecklos verpufften, oder durch Zwecke, die zugleich Pflicht seien, die also nicht mittelbar gesetzt würden, sondern unmittelbar gölten. Abgekürzt werden aber muß der Progreß, oder „ein kategorischer Imperativ wäre unmöglich; welches alle Sittenlehre aufhebt“321 . Die 317 318 319 320 321

MdS MdS MdS MdS MdS

TL, TL, TL, TL, TL,

VI VI VI VI VI

380. 381. 381. 384f. 385.

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Abkürzung des Progresses durch zwecklose Handlungen erzielt offenbar nicht das erwünschte Resultat; der Zweck, der Pflicht ist, schon. Allerdings bleibt das Argument eine petitio principii. Der Zweck, der Pflicht ist, steht seiner Form nach unter dem kategorischen Imperativ, dessen Möglichkeit er begründen soll; so werden beide wechselseitig zu Bedingungen ihrer Möglichkeit. Die Voraussetzung schon, daß es freie Handlungen gibt, daß Zwecke aus freien Akten, nicht aus Naturzwang hervorgehen, unterstellt bereits die Wirklichkeit von Moral. – Umgekehrt bewiese ein Zustand der Unfreiheit aller Handlungen keineswegs, wie Kant fürchtet, die Unmöglichkeit des kategorischen Imperativs, sondern bloß dessen mangelnde Realisierung. Er wäre wohl dennoch zu denken, selbst gegen alle äußeren Bedingungen des Handelns. Ein solcher Zustand hebt daher Moral faktisch auf, nicht aber den Geltungsanspruch von Moral und dessen Begründung durch die Sittenlehre. Für Kant geht es nun aber darum, die Objektivität des Moralprinzips in bestimmten Zwecken zu entfalten, um das gegen die Erfahrungswelt eigentümlich gleichgültige Prinzip doch noch als Prinzip menschlichen Handelns zu erweisen. Anders als die Rechtslehre gehe die Tugendlehre nun nicht von den beliebigen Zwecken der Menschen aus, um bloß die Handlungen – Kant sagt hier bemerkenswerterweise: die Maximen – widerspruchsfrei zu koordinieren, „denn das wären empirische Gründe der Maximen, die keinen Pflichtbegriff abgeben, als welcher (das kategorische Sollen) in der reinen Vernunft allein seine Wurzel hat“322 . Die Erweiterung der reinen praktischen Vernunft auf bestimmte Zwecke muß gleichwohl a priori erfolgen, wenn die Vernunft nicht selbst aufgehoben werden soll. „Also wird in der Ethik der Pflichtbegriff auf Zwecke leiten“ – was mit den Mitteln der Kritik der praktischen Vernunft nicht möglich ist – „und die Maximen in Ansehung der Zwecke, die wir uns setzen sollen, nach moralischen Grundsätzen begründen müssen.“323 Zuerst sind die Zwecke selbst moralisch zu begründen, sodann auch die zu ihrer Verwirklichung anzunehmenden Maximen. Zunächst überrascht es, daß Kant den kategorischen Imperativ ausdrücklich von den Tugendpflichten ausschließt: „[N]icht alle ethische Pflichten sind […] Tugendpflichten. Diejenige nämlich sind es nicht, welche nicht sowohl einen gewissen Zweck (Materie, Object der Willkür), als blos das Förmliche der sittlichen Willensbestimmung (z. B. daß die pflichtmäßige Handlung auch aus Pflicht geschehen müsse) betreffen“324 . Zwar bestimmt der kategorische Imperativ die Form aller Pflichten und geht selbst nicht auf Zwecke, so daß eine Verpflichtung zur Sittlichkeit eine Verpflichtung zur Pflicht wäre; neben diesem formalen Grund liegt aber in den zweckbestimmten Tugendpflichten eine Pluralität, die den Begriff der ‚weiten Pflicht‘ begründet: Da mehrere Tugendpflichten gleichzeitig bestehen können, sind gelegentlich Abwägungen nötig, welcher Pflicht mit welchen Maximen und wieviel Einsatz nachgegangen werde. Der kategorische Imperativ gilt aber unbedingt und ist keiner Abwägung fähig. Deshalb muß er außerhalb des Bereichs der Tugendpflichten bestehen bleiben.325 322 323 324 325

MdS TL, VI 382. MdS TL, VI 382. MdS TL, VI 383. Vgl. MdS TL, VI 383. Vgl. 395; 410. Eine Einordnung von Kants Pflichtenordnung in die Tradition naturrechtlicher Pflichtenlehre, deren Grundbestand Kant übernimmt, gibt Wolfgang Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, a.a.O., 187ff.

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Kant will an der prinzipiellen Singularität des kategorischen Imperativs festhalten, die nur abgesondert von allen Zwecken denkbar ist, und er will zugleich eine bestimmte Pluralität von Zwecken begründen, die unmittelbar aus dem kategorischen Imperativ folge. Die Materie der reinen praktischen Vernunft soll aus deren reiner Form begründbar sein. Mit anderen Worten: Kant sucht das principium individuationis der reinen Morallehre. – In Analogie dazu wurde das ontologische principium individuationis erst nötig, als affirmativ ein formal-abstrakter Begriff von Bestimmtheit, jener der prima materia, gedacht wurde. Der Universalienrealismus bedurfte des individuierenden Prinzips, der materia signata, um der materia non-signata überhaupt Gestalt abzugewinnen. Aristoteles hatte das Prinzip einer prima materia abgelehnt, nicht zuletzt deswegen, um einen dualistischen und damit widersprüchlichen Formbegriff zu vermeiden: Gäbe es die abstrakte Materie an sich wirklich, so wäre sie als abstrakte ein Äquivalent der Form und doch zugleich völlig unförmig. Ein solcher Begriff taugte aber nicht zur Bestimmung konkreter Substanzen.326 – Für Kant stellt sich nun die Frage, woher, ausgehend von der reinen Form der Gesetzmäßigkeit, die Bestimmungen der konkreten Zwecke stammen: Stammen sie aus dem Pflichtbegriff, so ist dieser nicht rein; stammen sie aus der Erfahrung, so sind die Zwecke empirisch begründet. Nimmt man die Bestimmungen der Kritik der praktischen Vernunft ernst, so ist die Angelegenheit wohl nicht so banal, daß „[e]ine Mehrheit der Tugenden sich zu denken (wie es denn unvermeidlich ist) […] nichts anderes [sei], als sich verschiedne moralische Gegenstände denken, auf die der Wille aus dem einigen Princip der Tugend geleitet wird“327 . Kant bezieht die nötigen Bestimmungen aus derjenigen Paraphrase des kategorischen Imperativs, in der überhaupt von einem Zweck die Rede ist: „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“328 Hieraus schließt Kant das oberste Prinzip der Tugendlehre, das Zwecke vorschreibt, die nicht allein mit der Form der Gesetzmäßigkeit kompatibel seien, sondern „die zu haben für jedermann ein allgemeines Gesetz sein kann“ So wird aus dem negativen Kriterium praktischer Vernunft ein begründendes Vermögen: „Nach diesem Princip ist der Mensch sowohl sich selbst als Andern Zweck, und es ist nicht genug, daß er weder sich selbst noch andere blos als Mittel zu brauchen befugt ist (dabei er doch gegen sie auch indifferent sein kann), sondern den Menschen überhaupt sich zum Zwecke zu machen ist an sich selbst des Menschen Pflicht.“329 In der Moralphilosophie hatte jene Formulierung ihre Bedeutung im Verhältnis von positivem Freiheitsbegriff und negativem Freiheitsbegriff: Selbstzweck ist die Negation der Negation, das heißt die Aufhebung der Mittelbarkeit des Subjekts. Ein solcher absoluter Zweck war nötig, um die Negativität anderer Zwecke überhaupt denkbar zu machen, darüber hinaus, insbesondere auf die positive Bestimmung besonderer Zwecke hin, war der Selbstzweckbegriff jedoch nicht zu verwenden. Auch das Reich der Zwecke blieb eine formale Bestimmung.

326 327 328 329

Vgl. Aristoteles, Metaphysik, a.a.O., VII, 4. MdS TL, VI 406. GMS, IV 429. MdS TL, VI 395.

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Hier nun unterstellt Kant dem Selbstzweckbegriff eine unmittelbar positive Potenz: „Was im Verhältniß der Menschen zu sich selbst und anderen Zweck sein kann, das ist Zweck vor der reinen praktischen Vernunft; denn sie ist ein Vermögen der Zwecke überhaupt, in Ansehung derselben indifferent sein, d. i. kein Interesse daran zu nehmen, ist also ein Widerspruch: weil sie alsdann auch nicht die Maximen zu Handlungen (als welche letztere jederzeit einen Zweck enthalten) bestimmen, mithin keine praktische Vernunft sein würde. Die reine Vernunft aber kann a priori keine Zwecke gebieten, als nur so fern sie solche zugleich als Pflicht ankündigt; welche Pflicht alsdann Tugendpflicht heißt.“330 Die bloß negative Funktion der reinen praktischen Vernunft, ein formales Prinzip der Willensbestimmung zu geben, aber nicht diese selbst zu leisten, widerspreche nun der praktischen Vernunft, insofern sie Vermögen der Zwecke überhaupt sei: Bestehe also vor ihrem formalen Prinzip ein Zweck, so müsse sie diesen als ihren Zweck verfolgen. So wie Kant die reine praktische Vernunft bestimmt hatte, war sie wohl das Vermögen der Zwecke überhaupt, was aber hieß: ohne Ansehung bestimmter Zweckinhalte. So war sie das Vermögen der formalen Reflexion der Zwecksetzung, nicht die Instanz, die direkt Zwecke setzt. Nur aus dem formal beschränkten Begriff der praktischen Vernunft war der Begriff der Autonomie hervorzubringen gewesen, in Opposition zu den empirischen Bedingungen. Kants Absicht, die reine praktische Vernunft nun zur Quelle bestimmter Zwecke oder Pflichten zu machen, versieht das autonome Subjekt aus sich selbst heraus, ohne diese oppositionelle Beziehung zu seinen Gegenständen und Bedingungen, mit Handlungsanweisungen. Dadurch wird die Autonomie, die nur im Verhältnis zur Heteronomie – als Negation der Negation – Sinn hatte, endgültig zur Abstraktion: Der scheinbare Reichtum an Inhaltsbestimmungen verdeckt, daß nun auch noch die negative Erfahrungsrelation abgeschnitten wird. Die Inhalte sind dann ganz zufällig. Was nun dem Selbstzweckbegriff der Menschheit widerspruchsfrei korrespondiere, sei erstens, die je eigene Humanität zum Zweck zu machen, und zweitens die der Anderen; die Tugendzwecke seien demnach, noch in allgemeiner Form: „Eigene Vollkommenheit — fremde Glückseligkeit.“331 Einer regelrechten Deduktion dieser Zwecke sieht Kant sich enthoben, da ja das, was in Ansehung des Selbstzwecks Zweck sein könne, unmittelbar Zweck werde. Die Pflicht zur eigenen Vollkommenheit bestehe dann genauer in der Kultivierung, der Entwicklung dessen, was Naturanlage sei, aber nicht sich selbst durch Natur entwickele. So sei es erstens Pflicht, sich intellektuell zu bilden und zweitens „reineste[] Tugendgesinnung“ auszubilden, die darin bestehe, „jeden besonderen Zweck, der zugleich Pflicht ist, sich zum Gegenstande zu machen“332 . Dieser Universalismus gerät aber schon bei der Pflicht gegen Andere in Konflikte, wenn es darum zu tun ist, deren Glückseligkeit aus Pflicht zu befördern, also zum eigenen Zweck zu machen: Weil es über die zufälligen Inhalte der Glückseligkeit, die man Anderen zu verschaffen vermeint, ganz unterschiedliche Auffassungen geben kann.333 Wenn die Vorstellungen von Glückseligkeit differieren, so entscheiden zunächst gültige Rechtsansprüche, was 330 331 332 333

MdS TL, VI 395. MdS TL, VI 385. MdS TL, VI 387. Vgl. MdS TL, VI 388.

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dem Anderen zusteht und was ihm aus Tugendgründen verweigert werden darf. Rechtsansprüche stehen im Zweifel über der Tugend. Sodann aber können eigene Zwecke mit dem Tugendzweck kollidieren; jene sind freilich zum Wohl der Anderen zurückzustellen. Schließlich aber können auch verschiedene Tugendzwecke miteinander kollidieren, „z. B. die allgemeine Nächstenliebe […] [mit der; M.St.] Elternliebe“334 So begründet Kant zunächst die Bestimmung, daß Tugendpflichten keine Gesetze für Handlungen angeben, sondern für Maximen. Sie schreiben vor, bestimmte Maximen zu bestimmten tugendhaften Zwecken zu haben, aber sie schreiben nicht die korrespondierenden Handlungen vor. So entstehe ein Spielraum bezüglich der Art und Weise und des Umfangs der Ausführung von Tugendpflichten.335 Unter dieser Bestimmung sind die Tugendpflichten von weiter Verbindlichkeit, das heißt sie gelten nicht strikt. Zwar sollen hierdurch keine Ausnahmen gestattet werden, wohl aber soll dem Umstand Rechnung getragen werden, daß „eine[] Pflichtmaxime durch die andere“336 eingeschränkt werden können muß, wenn überhaupt gehandelt werden können soll. Das weicht aber schon von Kants Auffassung ab, daß Pflichtenkollisionen prinzipiell unmöglich seien, weil in einem solchen – scheinbaren – Fall entweder die eine gar keine Pflicht oder doch von geringerem Verpflichtungsgrund, weshalb sie hier eben nicht Pflicht daher aufzugeben sei.337 Eine wechselseitige Einschränkung gleichzeitiger konträrer Pflichten käme danach nicht in Frage. Plausibel erscheint es daher, wenn Kant bemerkt, daß durch den Begriff der ‚weiten Pflicht‘ „in der That das Feld für die Tugendpraxis erweitert wird“338 . Ging der strenge Pflichtbegriff tendentiell auf Selbstverleugnung und Selbstaufgabe,339 stellte also in der Konstitution praktischer Subjektivität diese selbst in Frage, so wird hier das Subjekt in einem Abwägungsgefüge erhalten, um die Möglichkeit von Praxis nicht preisgeben zu müssen. Dafür löst Kant aber auch hier Verbindlichkeit und Kollision der Zwecke zunächst von den erfolgenden Handlungen ab, in denen dann der Spielraum gelegen sei. Während die Kritik der praktischen Vernunft den Erfolg als gleichgültig ansah, geht es hier darum, daß überhaupt Handlungen erfolgen. Daß sie den kollidierenden Zwecken einen Spielraum verschaffen, negiert allerdings auch hier die moralische Opposition der Zwecke gegen die Bedingungen ihrer Ausführung, die etwa in der Frage erschiene, ob die Zwecke denn notwendig oder bloß zufällig kollidieren und ob sich daran etwas ändern ließe. Dies begründete freilich das Desiderat eines über die Kollision hinausliegenden Zweckes, der dann auch a posteriori bestimmt wäre, insofern die Erfahrung von Handlungsbedingungen an der zwecksetzenden Vernunft 334 335

336 337 338 339

MdS TL, VI 390. Vgl. MdS TL, VI 390. Wolfgang Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, a.a.O., bezeichnet dies als ‚epistemologischen Unterschied‘ zwischen engen Rechtspflichten und weiten Tugendpflichten (vgl. 194f.), der keinen Einfluß auf die Verbindlichkeit habe. Während das Recht eindeutige Maßstäbe fürs Handeln setze, gebe die Ethik bloß objektive Zwecke an und müsse „hinsichtlich der weiteren Frage nach der Weise ihrer Realisierung an die Umstände verweisen“ (195). Das ist nicht ein epistemologischer, sondern ein pragmatischer Unterschied, der das umstandslose Moralgesetz umständehalber handhabbar macht, und dies berührt den Verbindlichkeitsstatus durchaus. MdS TL, VI 390. Vgl. MdS RL, VI 224. MdS TL, VI 390. Vgl. GMS, IV 407.

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geprüft würde. Kant schafft sich durch das Konzept der weiten Pflicht mit Ausführungsspielraum die Möglichkeit, an dem Zweckbegriff a priori und am empirischen Subjekt zugleich festzuhalten. Wer der Erfüllung solcher Zwecke nicht nachkommt, aber sie doch nicht vorsätzlich vernachlässigt, ist demzufolge bloß moralisch unfähig, nicht schon als lasterhaft zu verurteilen.340 Für die von Kant benannten Zwecke, die zugleich Pflichten seien – eigene Vollkommenheit und fremde Glückseligkeit – ergeben sich unter der Bestimmung der weiten Pflicht charakteristische Merkmale: Zwar schreibe die Vernunft den Menschen, deren Menschheit für sie selbst Zweck ist, die „Cultur der rohen Anlagen seiner Natur, als wodurch das Thier sich allererst zum Menschen erhebt“341 verbindlich vor, aber „[w]ie weit man in Bearbeitung (Erweiterung oder Berichtigung seines Verstandesvermögens, d. i. in Kenntnissen oder in Kunstfähigkeit) gehen solle, schreibt kein Vernunftprincip bestimmt vor“342 . Kants Begründung dafür, keine bestimmten handlungen oder Bildungsgehalte vorzuschreiben, ist die, daß es hierfür keinen Grund a priori geben könne. Indem aber Bildung überhaupt zur Pflicht erklärt wird, hat Kant im Grunde doch eine Bestimmung gegeben: die möglichst umfassende Bildung. Deren spezifische Intensität sei allerdings durch die Fülle des Materials beschränkt, denn niemand wisse, welche Kenntnisse er im Leben zur Anwendung bringen werde. Diese Entscheidung sei immer von Willkür und Zufall getragen. So bleibe die allgemeine Maxime: „Baue deine Gemüths- und Leibeskräfte zur Tauglichkeit für alle Zwecke an, die dir aufstoßen können“343 . Bildung dient diesem Konzept gemäß nicht dazu, die Verhältnisse, in denen die Menschen zueinander und zur Natur stehen, durchsichtig zu machen und vernunftgemäß zu organisieren, sondern sie dient im Gegenteil dazu, die Menschen mit soviel Kenntnissen auszurüsten, wie sie nötig haben, in den gegebenen Verhältnissen die Funktionen zu erfüllen, die ihnen je nach „Verschiedenheit der Lagen, worin Menschen kommen können“344 , heteronom zugeordnet werden. Daß dieser Einwand nicht erst einem anachronistisch herangetragenen soziologischen Bildungsbegriff folgt, zeigt Kants eigene Diskussion des Bildungsbegriffs, die dessen Idee ausdrücklich auf eine ‚bessere Welt‘ anlegt, die Ausführung der Idee aber auf die von Kant selbst kritisierte Zurichtung zu den Zwecken der gegenwärtigen Gesellschaft reduziert.345 Kant trennt in der Tugendlehre im Interesse der Funktionsfähigkeit des Gemeinwesens – auf je gegenwärtigem Stand – die bloß technisch-praktische Kultur, die allerdings zu einer Tugendpflicht erhoben wird, von der moralischen. Die Kultivierung von Moral sei nun auch eine Pflicht, überraschender Weise ebenfalls eine ‚weite‘: „[D]as Gesetz gebietet nicht diese innere Handlung im menschlichen Gemüth selbst, sondern blos die Maxime der Handlung, darauf nach allem Vermögen auszugehen: daß zu allen pflicht340 341 342 343 344 345

Vgl. MdS TL, VI 384; 390. MdS TL, VI 392. MdS TL, VI 392. MdS TL, VI 392. MdS TL, VI 392. Vgl. Pädagogik, IX 444ff. Zu der Frage, ob es nicht selbstverständlich sei, daß Kinder in der Schule die Fertigkeiten erlernen, die sie im – harten – Alltag dann brauchen und daß Schule daher sich den gesellschaftlichen Wandlungen anzupassen habe, vgl. oben den Exkurs über Schulpädagogik.

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mäßigen Handlungen der Gedanke der Pflicht für sich selbst hinreichende Triebfeder sei.“346 Zwar besteht der Begriff der Moralität, im Unterschied zu dem der Legalität, gemäß der Kritik der praktischen Vernunft und noch gemäß der Einleitung zur Rechtslehre, darin, zu gebieten, daß die gesetzmäßige Handlung auch nach gesetzmäßiger Maxime erfolge, das heißt aus Einsicht ins Gesetz, aus Pflicht, nicht bloß pflichtmäßig. Weil aber niemand in der Lage sei, über die wirkliche Moralität seiner Handlung Gewißheit zu erlangen, sei auch bei der Kultivierung von Moral nur „die Maxime der Handlung, nämlich den Grund der Verpflichtung nicht in den sinnlichen Antrieben (Vortheil oder Nachtheil), sondern ganz und gar im Gesetz zu suchen — mithin nicht die Handlung selbst“347 geboten. Sowenig es aber, wie Kant selbst betont, eine Pflicht zur Pflicht geben kann, sowenig auch solche Maximen, denn Kant verdoppelt hier unversehens die Relation von Handlung und Maxime: Geboten sei die Maxime (Tugend) der moralischen Bestimmung der Maxime (moralische Pflicht) der Handlung, – nicht die Handlung der moralischen Bestimmung der Maximen von Handlungen. Das Fassen von Maximen, das dem Handeln vorausgeht, der eigentliche Gegenstand der Morallehre, wird in der Tugendlehre selbst als eine Handlung interpretiert und steht so erneut unter einer Maxime; dies ließe sich fortsetzen ad infinitum. Schon deshalb ist es präziser, für die Objektivierung der moralischen Subjektivität den spezifischen Ausdruck ‚Moralprozeß‘ zu gebrauchen und zu einer allgemeinen Handlungstheorie Abstand zu halten. Kant erreicht aber dadurch zweierlei: Erstens wird die enge Moralpflicht selbst zum Gegenstand einer weiten Tugendpflicht. So will Kant die erste praktikabel denken, schneidet ihren unbedingten Anspruch aber im handelnden Subjekt ab. Moral wird so endgültig zum Medium der Anbildung des Subjekts an eine nicht moralische Welt, weil das intelligible Widerstandspotential gegen deren Anforderungen, das in der notwendigen Geltung des Autonomieanspruchs liegt, für alle Praxis – grundsätzlich – problematisiert wird. Die angestrengten Versuche, die Morallehre positiv applikabel zu machen, müssen sich auf solche Praxisbedingungen einlassen, auf die sich Moral ihrem Begriff nach nicht einlassen kann. Zweitens kann Kant durch die Kombination von Moral und Tugend eine Tugendpflicht konstruieren, derzufolge Rechtspflichten zu achten seien. Zwar nicht die legale Handlung, aber die Maxime, das Recht zu achten, sei verdienstlich.348 Zwar sind nicht die Rechtspflichten selbst Tugendpflichten,349 aber „es ist die Tugendlehre, welche gebietet das Recht der Menschen heilig zu halten“350 . Diese Formulierung erhebt ausdrücklich ‚das Recht der Menschen‘, worunter positive, von Menschen erlassene Rechtsgesetze, 346 347 348 349 350

MdS TL, VI 393. MdS TL, VI 392. Vgl. MdS TL, VI 390. MdS TL, Vgl. VI 410. MdS TL, VI 394. Vgl. Pädagogik, IX 490: „das Recht des Menschen, diese[r] Augapfel Gottes auf Erden“. Ähnlich argumentiert auch Marcus Willaschek, Recht ohne Ethik? Kant über die Gründe das Recht nicht zu brechen, in: Volker Gerhardt (Hg.), Kant im Streit der Fakultäten, a.a.O. Allerdings wird durch solche Gründe nicht dem Recht materialiter moralisch etwas hinzugefügt, sondern es wird lediglich für die Einhaltung des für sich positiven Rechts ethisch argumentiert.

292

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nicht moderne Menschenrechte351 zu verstehen sind, zur Heiligkeit. Das Recht, das seinem Geltungsgrund und seinem Verpflichtungscharakter nach wesentlich empirisch bestimmt ist, wird als Gegenstand einer Tugendpflicht noch einmal rationalisiert. So wie das Moralgesetz durch die Überlagerung mit einer Tugendpflicht praktisch problematisiert wird, so wird das Rechtsgesetz im Gegenteil durch dasselbe Verfahren gestärkt, in die moralische Subjektivität hinein verlängert, die ihrerseits durch beides zu einer Funktion der je positiven gesellschaftlichen Ordnung wird. Die Trennung von Moral und technisch-praktischer Kultur bewirkt, daß es bei Kant keinen näher bestimmten Begriff von Kultur gibt: Was aus dem ernsten Spiel der ungeselligen Geselligkeit hervorgehen möge, läßt sich nur ganz allgemein als technischer Fortschritt bezeichnen, weil dieser Fortschritt nicht Gegenstand gemeinsamer Überlegung, Planung und Anstrengung ist. Die Gesellschaft bleibt eine Gesellschaft von isolierten Subjekten, die je ihre eigenen Zwecke verfolgen; daher ist für Kant das grundsätzliche menschliche Potential der kollektiven Überschreitung individueller Grenzen, das Gattungsvermögen, nicht zu erschließen. Ein solches kennt Kant nicht als vernunftgemäß organisierte Einheit der Einzelnen, sondern nur als deren Summe oder diachrone Akkumulation partikularer Fortschritte.352 Durch Kants Ausgang von einer nicht nur historischen, sondern prinzipiellen Mangelgesellschaft wird auch die Tugendpflicht, fremde Glückseligkeit zu fördern, bestimmt. So ergibt sich diese Pflicht schon formal aus der Selbstliebe. Diese sei verbunden mit dem „Bedürfniß von Anderen auch geliebt (in Nothfällen geholfen) zu werden“353 . Dadurch mache man sich für andere zum Zweck. Diese Maxime beinhalte als verallgemeinerte, eben sich auch die anderen zum Zweck zu machen. Die so konstituierte Kollektivität ist nicht das Resultat der moralischen Reflexion auf die sittliche Überwindung der individuellen Schranken, sondern sie ist Resultat der technisch-praktischen Überlegung, wie Subjekte, die zunächst sich selbst lieben, überhaupt miteinander bestehen können.354 Der Unterschied beider Überlegungen, der als größere Praxisnähe der zweiten erscheint, hat seinen Grund darin, daß diese die individuelle Beschränktheit der Subjekte affirmativ bestehen läßt, wogegen die erste Reflexion sie als negative Bestimmung in einem höher organisierten Prinzip aufheben will. Deshalb kann bei Kant die Pflicht, das Wohl aller zu befördern, keine strenge Pflicht sein, denn ihre Ausführung läuft darauf hinaus, „mit einem Theil meiner Wohlfahrt ein Opfer an Andere ohne Hoffnung der Wiedervergeltung [zu] machen“355 . Obwohl nun negativ Maximen der Selbstliebe keine zulässigen 351

352 353 354

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Vgl. zur Kritik an der Verwechslung von Menschenrecht und Menschrechten in der Kant-Interpretation vgl. Wolfgang Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, a.a.O., 209ff. Vgl. Pädagogik, IX 441; 445f. MdS TL, VI 393. Vgl. dazu Manfred Walther, Konsistenz der Maximen. Universalisierbarkeit und Moralität nach Spinoza und Kant, a.a.O. MdS TL, VI 393. Den Grund des Eintretens der Tugend in das öffentliche Elend sowie für ihr Scheitern gibt Böckenförde an: „Der liberale (bürgerliche) Rechtsstaat als Verfassungstyp […] konnte von seinen Prinzipien her keine Antwort auf die soziale Frage geben, die er selbst mit hervorbrachte.“ (Recht, Staat, Freiheit, a.a.O., 158). Vgl. auch G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, a.a.O., §§ 242 ff.: „Es kommt hierbei zum Vorschein, daß bei dem Übermaße des Reichtums die bürgerliche Gesellschaft nicht reich genug ist, […] dem Übermaße der

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Gründe seien, die Unterstützung anderer zu beschränken,356 lasse sich doch positiv das Selbstopfer nicht moralisch fordern. Dies ist mit der sinnlichen Konstitution endlicher Vernunftwesen nicht vereinbar; und ebensowenig mit der Erhaltung der Produktivität ungeselliger Geselligkeit. Allerdings wird das ‚wahre Bedürfnis‘ dadurch zur Empfindungssache: Wieviel einer abgeben kann, bis die Grenze zum Selbstopfer überschritten wird, aber auch, wieviel Mangel man anderen zumuten will, bevor man ihnen hilft, ist nicht a priori zu entscheiden.357 – Dies muß wohl auch tatsächlich subjektiver Einschätzung überlassen bleiben; das einzige, das objektiv feststellbar wäre, wäre die Forderung, gemeinsam genug für alle zu produzieren: Ein Ideal, das sich nicht erst heute denken läßt, nachdem es technisch problemlos zu realisieren wäre, sondern das auch unabhängig von den bestimmten technischen Mitteln denkbar ist, denn wer nur ein Bewußtsein des Mangels hat, hat auch eine Vorstellung von Fülle.358 Jedes Leid, das mit Bewußtsein verbunden ist, ist an sich die Forderung, es zu beenden; gegenüber der Vernunft aber erscheint es als Skandal, der grundsätzlich zu beheben sei.359 Die Vagheit der Pflichtausübung, die im Begriff der weiten Pflicht liegt, führt weiter auf die Frage, wie denn das richtige Verhalten – die sittliche Handlung im Einzelfall – zu bestimmen sei, wenn diese Bestimmung aus der Pflicht selbst nicht folge; denn trotz der Erweiterung des engen Pflichtbegriffs um seiner Praktikabilität willen folgt für die Handlung noch immer nichts Bestimmtes. Kant grenzt die Tugendpflicht strikt gegen ihren metaphysischen Begriff ab, der sie nur als hexis/habitus vorstellen konnte, also als eine Verhaltensweise, die nur durch Anleitung und Übung zu erlernen sei, schließlich zum gewohnheitsmäßigen Wohlverhalten führe. Das ergab sich aus der mesotäs-Lehre, die, in Ermangelung einer systematischen Bestimmung von Sittlichkeit, diese als Mittleres zwischen Übermaß und Mangel konstruierte, eine Bestimmung, deren Anwendung im Einzelfall nicht ableitbar war. Kant weist nun eine solche graduelle Bestimmung mit klaren Worten als „falsch“360 zurück, eine „schale Weisheit, die gar keine bestimmte Principien hat“361 . Gegen dieses quantitative Prinzip sei das qualitative des Verhältnisses der Maximen zum Gesetz zu setzen. Allerdings ist auch dieses Verhältnis bei Kant selbst zunächst das quantitative einer partikularen Maxime zur Allgemeinheit des Ge-

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Armut und der Erzeugung des Pöbels zu steuern.“ (§ 245) „Hier ist der Ort, wo bei aller allgemeinen Veranstaltung die Moralität genug zu tun findet.“ Bei Ernst Forsthoff entspricht dieser Zuständigkeit subjektiver Wohlfahrtspflege negativ die Unvereinbarkeit von Rechtsstaat und Sozialstaat. Vgl. Rechtsstaat im Wandel, Stuttgart 1964, 38ff. Vgl. MdS TL, VI 388. Das moralische Wohl anderer zu befördern liegt nach Kant in der Pflicht, sie nach Möglichkeit davor zu bewahren, sich öffentlich zu blamieren. Eine weite Pflicht sei das deswegen, weil diese „Sorgfalt für die moralische Zufriedenheit Anderer“ (MdS TL, VI 394) in der Tat unbestimmt sei. – Ob ein Blick genügt, oder ein Tritt vors Schienbein unterm Tisch erforderlich ist, hängt ja in der Tat von mancherlei ab. Dieser Begriff von Fülle meint freilich nicht das von Charles Taylor beschworene ‚Gefühl der Fülle‘, das seine religiöse Anthropologie bestimmt (vgl. Ein säkulares Zeitalter, Frankfurt am Main 2009, pass.). Vgl. Heinz-Joachim Heydorn, Über den Widerspruch von Bildung und Herrschaft, a.a.O., 9: „Vernunft zielt auf Schmerzbefreiung, auf die Verwandlung der Ängste in gestaltendes Glück“. MdS TL, VI 404. MdS TL, VI 404 Anm.

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setzes; an sich qualitativ wird sie indes dadurch, daß Gesetzmäßigkeit selbst als Form und Inhalt des Sittengesetzes gefaßt wird. Für sich qualitativ würde sie erst durch die Zuspitzung auf die bestimmte Allgemeinheit der Menschheit. Ebenso wie den mesotäs-Gedanken weist Kant den der bloßen Gewohnheit zurück: „Denn wenn diese nicht eine Wirkung überlegter, fester und immer mehr geläuterter Grundsätze ist, so ist sie wie ein jeder andere Mechanism aus technisch-praktischer Vernunft weder auf alle Fälle gerüstet, noch vor der Veränderung, die neue Anlockungen bewirken können, hinreichend gesichert.“362 Das Subjekt würde im Gegenteil „damit die Freiheit in Nehmung seiner Maximen einbüßen […], welche doch der Charakter einer Handlung aus Pflicht ist“363 . Jedoch ist Kant der Gedanke der Gewöhnung nicht überhaupt fremd, sondern nur, sofern diese durch unreflektierte Übung angeeignet wird. Der Tugendbegriff, sofern er als Fähigkeit zur Überwindung von Hindernissen der Sittlichkeit in der Sinnlichkeit, ja geradezu kriegerisch als „Tapferkeit“364 gefaßt ist, enthält ein Moment empirischer Stärke, das zu trainieren ist, auch wenn das Prinzip der Ausübung dieser Stärke ein intelligibles ist.365 So streng die Abgrenzung zu Aristoteles beabsichtigt ist, die empirische Anlage der Tugendlehre kann doch nicht mehr auf die rationale Einsicht ins moralische Gesetz als Triebfeder allein bauen, sondern muß „subjective Bedingungen der Empfänglichkeit für den Pflichtbegriff“ voraussetzen, wenngleich diese nicht „objective Bedingungen der Moralität“366 sein dürfen. Diese ästhetischen Bedingungen von Moralität „sind das moralische Gefühl, das Gewissen, die Liebe des Nächsten und die Achtung für sich selbst“367 . Objektive und subjektive Bedingungen geraten jedoch in ein problematisches Verhältnis: Einerseits habe jeder Mensch diese ästhetischen Anlagen und könne deshalb Subjekt von Pflichtzuschreibung sein. Andererseits kämen die ästhetischen Anlagen nicht empirisch, sondern nur durch das Bewußtsein des moralischen Gesetzes ihrerseits zu Bewußtsein.“368 Wenn das Bewußtsein vom Gesetz erst die ästhetische Bedingung hervorbringt, diese aber ihrerseits die Empfänglichkeit für den Pflichtbegriff – der doch wohl das Bewußtsein vom Gesetz ist – darstellen, ergibt sich ein Zirkel, der zudem ins Leere läuft. Interpretiert man den Begriff der ‚moralischen Empfänglichkeit‘ nicht streng systematisch, so ergibt sich eine Moralität, die nicht aus Einsicht zur Durchführung gelangt, sondern durch ein Gefühl der Neigung, dessen Bildung – und mit dieser die praktizierte Moral – Gegenstände einer éducation sentimentale werden. Diese selbst wird in einer Welt, deren nichtmoralische Verhältnisse der Einsicht in Moral 362 363 364 365 366

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MdS TL, VI 383f. Vgl. Anthropologie, VII 146. MdS TL, VI 409. MdS TL, VI 380. Vgl. MdS TL, VI 397. MdS TL, VI 399. Annemarie Piepers Versuch der empirischen Vermittlung des kategorischen Imperativs in der GMS führt deshalb auch zu der Feststellung, empirische Moralisierung bedürfe „vor allem aber der Gewöhnung durch Erziehung“ (Wie ist ein kategorischer Imperativ möglich?, a.a.O., 277). MdS TL, VI 399. Vgl. MdS TL, VI 399. Vgl. auch auf derselben und der folgenden Seite Kants Ausführung zum ‚moralischen Gefühl‘, das innerhalb desselben Abschnitts einmal auf das Gesetz nur folgen könne und einmal die Empfänglichkeit für die Bestimmung durchs Gesetz darstelle.

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tatsächlich keine affirmative Funktion zukommen lassen, zum Surrogat von Vernunft. – Kants Urteil: „Ohne alles moralische Gefühl ist kein Mensch; denn bei völliger Unempfänglichkeit für diese Empfindung wäre er sittlich todt“369 ist hart, aber bezeichnet den historisch-gesellschaftlichen Status der praktischen Vernunft doch exakt. Die ästhetischen Anlagen im einzelnen betrachtet, erscheint nun die Achtung, die einzige in der Kritik der praktischen Vernunft zugelassene Triebfeder, äußerst knapp an letzter Stelle. Die Achtung vor sich selbst als gesetzgebendem Subjekt fungiert hier als subjektive Bedingung, um überhaupt Pflichten denken zu können. Zentral erscheinen dagegen das moralische Gefühl der Empfänglichkeit der Willkür für Vernunft, dessen Unterschied zur Achtung undeutlich ist, sowie das Gewissen, das die Funktion der praktischen Vernunft vorstellt, dem Subjekt im Einzelfall seine Pflicht vorzuhalten und dadurch eine Wirkung im moralischen Gefühl – oder der Selbstachtung – zu erzeugen. Beide wirken im Grunde nur zusammen und sollen kultiviert werden, um ihre Wirkung aufs Subjekt zu stärken. Ihre Kultur ist Pflicht; eine Pflicht, sie zu haben, wäre jedoch redundant, denn Kant zufolge hat sie „jeder Mensch, als sittliches Wesen, […] ursprünglich in sich“370 . Die Doppeldeutigkeit der Formulierung dürfte Kant dahin verstanden haben, daß jeder Mensch diese Gefühle ursprünglich habe und deshalb ein sittliches Wesen sei. Dagegen wäre die andere mögliche Interpretation hervorzuheben, daß Menschen nur diese Gefühle haben, wenn sie sittliche Wesen sind. Dann allerdings hätten sie sie nicht ursprünglich, weil sie nicht in einer ursprünglichen Weise sittliche Wesen sind, sondern nur als zugleich substantiell gesellschaftliche Wesen. Ihr Gewissen und Gefühl sind in ihrer Form und Bestimmtheit Resultate des Kultur- und Zivilisationsprozesses, die akkumulativ tradiert werden. Sie haben – mindestens – ein Moment von Heteronomie, das eben so stark ist, wie jener Prozeß auch durch Herrschaft und Unmoral bestimmt ist.371 Und diese Heteronomie verlören derartige nicht sowohl zu kultivierende als immer schon kultivierte Gefühle übrigens nicht im Geringsten unter freien gesellschaftlichen Bedingungen. Es ist zum Beispiel davon auszugehen, daß die Menschen auch in einer Welt, in der niemand mehr Angst zu haben brauchte,372 solange weiter Angst haben werden – und zwar besonders je vor sich selbst – bis sie durch eine andere Form von Kultur ihre kultivierten Gefühle der Angst verlernt haben werden, weil diese, so ist zu hoffen, funktionslos geworden sind.373 369 370 371

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MdS TL, VI 400. MdS TL, VI 400. Vgl. Josef Simon, Kant, a.a.O., 431f.: Das Gewissen sei „Internalisierung fremder Vernunft“, die geradezu einen „Widerspruch im Begriff der Person“ bewirke. Vgl. Theodor W. Adorno, Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit, a.a.O., 202; auch Negative Dialektik, a.a.O., 340. Auf eine derartige Erziehung des Gefühls geht die Ästhetik von Helmut Lachenmann aus: „Das Moment der Brechung des Vertrauten durch Bewußtmachung, Beleuchtung seiner Struktur schafft, für sich gesehen, eine Situation nicht nur von Verunsicherung, sondern von bewußt ins Werk gesetzter ‚Nichtmusik‘: Dies ist zugleich ein fürs Hören existentieller Moment, und erst im Sicheinlassen auf jene Erfahrung ‚Nichtmusik‘ wird das Hören zum Wahrnehmen, erst hier ‚horcht man auf‘. Erst hier hört man anders, erst hier wird man an die Veränderbarkeit des Hörens beziehungsweise des ästhetischen Verhaltens, an die eigene Struktur also, an die eigene strukturelle Veränderbarkeit, aber auch an jene humane Invariante erinnert, von wo aus allein dies alles denk-

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Die Menschheit selbst rangiert bei Kant unter den ästhetischen Bedingungen, weil ohne sie keine Triebfeder zur Tugendpflicht, fremde Glückseligkeit zu befördern, denkbar wäre. Allerdings schrumpft diese Triebfeder bis auf die Identität mit der Pflicht, deren Treibfeder sie sein soll, zusammen, denn die menschliche Gattung sei „leider! dazu nicht geeignet […], daß, wenn man sie näher kennt, sie sonderlich liebenswürdig befunden werden dürfte“374 . Aber „das Wohlwollen bleibt immer Pflicht“375 und wird daher „(obzwar sehr uneigentlich) Liebe“376 genannt. Mehr bleibt nicht. Übe einer sich jedoch fleißig darin, denen, die ihm übelwollen, selbst wohlzuwollen, so komme er „endlich wohl gar dahin, den, welchem er wohl getan hat, wirklich zu lieben“377 . Auch diese Form der Menschenliebe ist eine Variante der Selbstaufgabe, die mit der Selbstachtung nicht wohl verträglich ist: Zwar ist es unbestreitbar, daß der, der überhaupt moralisch handeln oder nur mit sich selbst einig bleiben will, unter unmoralischen Bedingungen eigene Interessen hintanstellen muß und daß es eine Frage der Erwägungen und des individuellen Gefühls sei, wie weit er damit gehe; dies aber als Resultat einer philosophischen Morallehre zu entwickeln, legt den Subjekten die unmoralischen Verhältnisse als anthropologisch notwendige Existenzbedingungen auf, eine Last, unter der sie als Subjekte zerbrechen, oder genauer: einen Widerspruch, der ihre Subjektivität von innen heraus zersplittert. Das moralische Subjekt im Unmoralischen könnte als Subjekt überhaupt nur bestehen, wenn es auf der Einheit des eigenen Selbstbewußtseins besteht – auch wo es zur Autonomie praktisch nicht zu gelangen vermag –, anstatt das Unmoralische noch als ontologisch-anthropologisches Konstituens seiner Moralität zu begreifen. Innerhalb des Unmoralischen entstehen Applikationsprobleme nicht zufällig, sondern zwangsläufig, und zwar schon – was Kant nicht sieht – im Recht.378 Ihm zufolge enthalte die Rechtslehre nur enge Pflichten, für deren Anwendung keine zusätzlichen Vorschriften nötig seien, sondern die sie „durch die That wahr macht“379 . Dies ist wohl als die Behauptung unmittelbarer objektiver Gültigkeit des Rechts zu verstehen, dessen Geltung und Ausübung nicht differieren. Soweit dies so ist, liegt das an der positiven Form des Rechts, nicht aber an der besonderen Art seiner Pflichten: Als positiv mit Zwangsgewalt verknüpftes erzwingt es die Identität von Rechtsgeltung und Rechtswirklichkeit, aber dies nur äußerlich und nur soweit es gelingt. Weil das so ist, ergeben sich auch in Kants metaphysischen Anfangsgründen des Rechts schon pragmatische Probleme; die

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379

bar ist: die Kraft dessen, was man Geist nennt.“ (Interview, in: DIE ZEIT, Nr. 19 vom 29. 4. 2005). MdS TL, VI 402. MdS TL, VI 402. MdS TL, VI 402. MdS TL, VI 402. Deshalb entwickeln schon die frühesten Kantianer unter den Rechtswissenschaftlern, z. B. P.J.A. Feuerbach, Vermittlungsmodelle zwischen Naturrecht und Rechtspraxis. Vgl. Friedrich Kaulbach, Naturrecht und Erfahrungsbegriff im Zeichen der Anwendung der kantischen Rechtsphilosophie; dargestellt an den Thesen von P.J.A. Feuerbach, in: Manfred Riedel (Hg.), Rehabilitierung der praktischen Philosophie, a.a.O., Bd. 1. MdS TL, VI 411.

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moderne Rechtspraxis ist von Pragmatismus gekennzeichnet,380 weil eben die Konflikte bürgerlicher Rechtssubjekte nicht einfach dogmatisch entschieden werden können. Hegel beschreibt dieses grundsätzliche Problem bürgerlichen Rechts, indem er das unbefangene Unrecht direkt aus dem Vertragsbegriff entwickelt: Die Interessenkollision erscheint als notwendige Folge dieser abstrakten Form der Interessenvermittlung. Eine Kasuistik, die den systematischen Rahmen sprengt, ergibt sich für Kant aber – quasi systematisch – erst aus dem Begriff der Tugendlehre, die es eben mit weiten Pflichten zu tun habe, und daher Fragen aufwerfe „ welche die Urtheilskraft auffordern auszumachen, wie eine Maxime in besonderen Fällen anzuwenden sei und zwar so: daß diese wiederum eine (untergeordnete) Maxime an die Hand gebe (wo immer wiederum nach einem Princip der Anwendung dieser auf vorkommende Fälle gefragt werden kann)“381 . Das Verhältnis von Tugendpflicht und Handlung – die Sphäre, in der Moral objektiv real werden soll – wird durch Maximen vermittelt, die die Tugendlehre auf die Aporie des ‚dritten Menschen‘ führen: „[U]nd so geräth sie in eine Casuistik, von welcher die Rechtslehre nichts weiß. Die Casuistik ist also weder eine Wissenschaft, noch ein Theil derselben; denn das wäre Dogmatik und ist nicht sowohl Lehre, wie etwas gefunden, sondern Übung, wie die Wahrheit solle gesucht werden; fragmentarisch also, nicht systematisch (wie die erstere sein mußte) in sie verwebt, nur gleich den Scholien zum System hinzu gethan.“382 Während die Urteilskraft so der Kasuistik überlassen wird, versucht Kant noch einmal bei der reinen Vernunft anzugreifen und diese im Rahmen einer Methodenlehre theoretisch und praktisch „zu üben“ und sie dadurch für die Praxis tauglich, eben tugendhaft, zu machen.383 Für diese Methodenlehre gilt, sie könne „nicht fragmentarisch, sondern muß systematisch sein, wenn die Tugendlehre eine Wissenschaft vorstellen soll“384 . Von der Möglichkeit, Tugend grundsätzlich zu lehren, hängt dann die Möglichkeit einer Tugendlehre überhaupt ab. Im Unterschied zur Moral, die durch vernünftige Einsicht erkannt würde, kann es sich bei der Tugendlehre, aufgrund des Spielraums der Verbindlichkeit, nur darum handeln, in den Subjekten eine Grundhaltung – eben doch eine Art von habitus – auszubilden, wodurch die Wahrscheinlichkeit erhöht würde, daß zumindest die absichtlich falsche – die lasterhafte – Entscheidung nicht getroffen wird. Entsprechend bietet Kants Methodenlehre einen ‚Katechismus‘ und eine ‚Asketik‘ auf, deren Anklang an religiöse Praktiken der nicht-wissenschaftlichen Form des Gegenstandes geschuldet zu sein scheint, deren explizite Abgrenzung aber gegen religiöse Praxis die Wissenschaftlichkeit, zumindest die Verträglichkeit der Methoden der Tugend mit dem Begriff der Moral sicherzustellen wünscht. Daß eine Didaktik der Tugenden notwendig sei, ergebe sich direkt aus dem Begriff der Tugend als einer sittlichen Stärke in Relation zu den nicht-sittlichen Triebfedern, die zu überwinden seien. Keine Stärke sei angeboren, allenfalls das Vermögen, sie auszu380

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Vgl. Peter Bulthaup, Rechtspragmatik oder von der Zwangsläufigkeit des sittlichen Verfalls der Justiz, in: Das Gesetz der Befreiung, Lüneburg 1998. MdS TL, VI 411. MdS TL, VI 411. Vgl. MdS TL, VI 411. MdS TL, VI 478.

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bilden und dieses müsse eben bearbeitet werden. Dazu gehören dann Unterweisungen inhaltlicher Art, um in dem Spielraum der Tugend Orientierung zu ermöglichen. Dies wäre Aufgabe des Katechismus: zu unterrichten, was man wollen soll, und es dem Gedächtnis einzuprägen; für den Katechisierten heißt das auswendig zu lernen.385 – Wäre es vernünftig, so müßte es von einer gebildeten Vernunft jederzeit rekonstruierbar sein. Herrscht Zugzwang zum Handeln, wären Bedingungen anzustreben, die überlegtes Handeln ermöglichen.386 Für echte Notsituationen gibt es ohnehin keine katechisierbaren Rezepte. Kant will trotz dem Spielraum der Pflichten daran festhalten, daß man das, was man soll, auch kann.387 Er erweitert diese These aber in pragmatischer Absicht dahin, daß „man […] nicht Alles sofort [kann], was man will, wenn man nicht vorher seine Kräfte versucht und geübt hat“388 . Diese Einschränkung soll sich nun nicht auf den sittlichen Zweck selbst beziehen, weshalb „die Entschließung auf einmal vollständig genommen werden muß“389 . Der moralische Entschluß erlaubt keine pragmatische Ermäßigung, denn die moralische Maxime wäre dann der Maxime untergeordnet, es sich möglichst leicht zu machen – durch verkürzte und etappenweise Realisierung von Moral. Nur in der Ausübung aber darf geübt und geprobt werden. Dies heißt aber vor allem – da an der moralischen Maxime nichts nachgegeben werden soll –, daß die Übung in der Praxis der Selbstverleugnung bestehen müßte, die freilich keiner von Geburt an beherrscht. Deshalb muß die Tugend „durch Versuche der Bekämpfung des inneren Feindes im Menschen [d. i. die Sinnlichkeit; M.St.] (ascetisch) cultivirt, geübt werden“390 . Der zweite Teil der Didaktik besteht also in einer Asketik. Ohne nun auf deren Methoden im einzelnen einzugehen, ist festzuhalten, daß es Kant darauf ankommt, wie die Tugenderziehung „für den noch rohen Zögling“391 auszusehen hat. Schon diese Voraussetzung ist zweifelhaft, denn der junge Mensch, der in die Tugendschule gerät, ist nicht roh, sondern bringt schon aus der elterlichen und sozialen Erziehung eine Reihe bestimmter Vorstellungen mit. Zwar beschränkt sich nach Kants Pädagogik die Erziehung vor der später einsetzenden Unterweisung auf bloß physische Erziehung, nämlich die Verpflegung und Pflege durch Eltern oder deren Stellvertreter. Und doch gehören schon Gemütsbildung und Kul385 386

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388 389 390 391

MdS TL, Vgl. VI 479. So auch Michael Quante in einem Vortrag über das Thema Warum kann es keine gerechte Verteilung knapper Organe geben? 10 Jahre Transplantationsgesetz, am 29. 4. 2008 im Rahmen der Ringvorlesung Aktuelle Probleme der Medizinethik an der Westfälischen Wilhems-Universität Münster: Wo es keine ethische Regel zur Lösung von Gerechtigkeitskonflikten gebe, könne allenfalls im Vorfeld darauf gesehen werden, daß solche Konflikte möglichst nicht entstünden. Für Kant ist dieser Zusammenhang von moralischem Wollen, Sollen und Können so selbstverständlich, daß er ihn als eine „hochtönende Tautologie“ (Anthropologie, VII 148) bezeichnet. Dieter Henrich hat darauf hingewiesen, daß diese These bei Kant bloße Behauptung bleibt und daß auch bei Fichte lediglich die Darstellung des positiven Verhältnisses von Subjekt und Sittlichkeit durch dessen Deduktion von Freiheit und Gesetz anders ausfällt. Vgl. Dieter Henrich, Ethik der Autonomie, a.a.O., 52. MdS TL, VI 477. MdS TL, VI 477. MdS TL, VI 477. MdS TL, VI 478.

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tur dazu und selbst die Fragen des Windelns und Säugens (unter welchen Bedingungen nämlich beispielsweise Branntwein als Babynahrung zu verwenden sei) verweisen auf soziokulturelle Zweckzusammenhänge.392 Die Roheit, von der Kant in der Tugendlehre ausgeht, gründet wohl in folgender Auffassung: „Es ist Niemand, der nicht in seiner Jugend verwahrlost wäre und es im reifern Alter nicht selbst einsehen sollte, worin, es sei in der Disciplin, oder in der Cultur (so kann man die Unterweisung nennen), er vernachlässigt worden. Derjenige, der nicht cultivirt ist, ist roh, wer nicht disciplinirt ist, ist wild.“393 Gleichwohl sedimentieren auch im verwahrlosten Charakter, wie vereinzelt auch immer, gesellschaftliche Vorstellungen, mit denen Kants „Bruchstück eines moralischen Katechisms“394 auch erkennbar arbeitet. Jede Frage, die der arme Schüler überhaupt zu beantworten weiß – etwa die, daß man auch, wenn man vermögend ist, Trunkenbolden keinen Wein einzuschenken hat –, reproduziert, wie berechtigt auch immer, zunächst ansozialisierte Vorurteile, bis hin zum physikoteleologischen Gottesbeweis, der aus der rohen Seele nur so herauszusprudeln scheint.395 Kant, für den der Gottesbeweis die natürliche Denkweise selbst der gemeinsten Vernunft ist, rechtfertigt die Methode gegenüber dem als abstrakt abgelehnten religiösen Katechismus dadurch, daß der moralische „aus der gemeinen Menschenvernunft (seinem Inhalte nach) entwickelt werden kann“396 . Dadurch wird moralische Bildung zu einer Erziehung mit vorgeblich ungeschichtlichen Inhalten. Daß diese Erziehung tatsächlich durchaus mit schon vorgebildeten Charakteren arbeitet, gesteht Kant mit der Unterscheidung des „verunarteten Lehrling[s]“ von dem „guten (ordentlichen, fleißigen) Knaben“397 implizit wohl zu; zugleich relativiert er das Zugeständnis, denn der Ausdruck der Verunartung setzt eine von Natur gegebene ‚richtige Art‘ des Verhaltens voraus. Sonst wäre von einem wohlerzogenen und einem schlecht erzogenen Kind zu reden. Indem Kant die geratene Erziehung aber als natürlichen Ausdruck der gemeinen Vernunft verhandelt, erscheinen sowohl die von Eltern und Umgebung vorurteilshaft übernommenen Vorstellungen als auch das, was mit den Kindern in der Tugendschule geschieht, als Unterstützung der Ausbildung natürlicher Begabungen. Tatsächlich wird hier ein junger Mensch systematisch in den Funktionszusammenhang gesellschaftlicher Normen integriert. Selbst wenn diese Normen rational – moralisch – sein sollten, setzen die Art und die Form ihrer Anerziehung darauf, sie als gesellschaftlich transportierte Vorurteile zu befestigen, ohne sie der Reflexion des Selbstbewußtseins und der Selbstbestimmung des jungen Menschen, der ja kein ganz kleines Kind mehr sein dürfte, anzuvertrauen. 392 393 394 395

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Vgl. Pädagogik, IX 456-486. Pädagogik, IX 444. MdS TL, VI 480ff. Die Form, die sich an den Platonischen Dialog anlehnen will, gerät unfreiwillig zu dessen Karikatur, indem sie die ästhetische Form antiker Philosophie zur ernsthaften Didaktik erhebt, die ohne Platonische Ironie auskommen muß. MdS TL, VI 479. Gegen Kants wiederholte Behauptung, Moral und Gott seien dem gemeinen Menschenverstand zugänglich, wandte sich schon Johann Friedrich Herbart, Psychologie als Wissenschaft. Neu gegründet auf Erfahrung, Metaphysik und Mathematik, in: Sämtliche Werke, 18871912, Bd. 6, 270. MdS TL, VI 480.

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Vertrauen in die Reflexion und Selbstbestimmung der Schüler würde aber deren Einsicht in die geschichtlichen Bedingungen des Handelns im Verhältnis zu dessen rationalen Gesetzen voraussetzen und erforderte damit die Aufklärung der Schüler über die objektiven Bedingungen, unter denen sie werden handeln müssen. Die Welt, in der Menschen handeln, ist aber nicht einfach durch den – wie immer eingeschränkten – teleologischen Gottesbeweis darzustellen. Im Gegenteil: „Denn bei der etwanigen großen Menge der Verbrecher, die ihr Schuldenregister immer so fortlaufen lassen, würde die Strafgerechtigkeit den Zweck der Schöpfung nicht in der Liebe des Welturhebers (wie man sich doch denken muß), sondern in der strengen Befolgung des Rechts setzen (das Recht selbst zum Zweck machen, der in der Ehre Gottes gesetzt wird), welches, da das Letztere (die Gerechtigkeit) nur die einschränkende Bedingung des Ersteren (der Gütigkeit) ist, den Principien der praktischen Vernunft zu widersprechen scheint, nach welchen eine Weltschöpfung hätte unterbleiben müssen, die ein der Absicht ihres Urhebers, die nur Liebe zum Grunde haben kann, so widerstreitendes Product geliefert haben würde.“398 – Durch aufgeklärte und aufklärende Bildung zur Autonomie, die eine umfassende Schulbildung einbegreift, und die Schüler, soweit möglich, aus dem Zusammenhang gesellschaftlicher Vorurteile und Sachzwänge heraushält, wäre allenfalls das zu realisieren, was Kant als „Princip der Erziehungskunst“ bezeichnet: „Kinder sollen nicht nur dem gegenwärtigen, sondern dem zukünftig möglichen bessern Zustande des menschlichen Geschlechts, das ist: der Idee der Menschheit und deren ganzer Bestimmung angemessen erzogen werden.“399 Eine Tugenderziehung über dieses Prinzip hinaus ist aufgrund dieses Prinzips selbst abzulehnen, weil sie traditionelle Inhalte aufgreift, die mit der Idee der Menschheit nicht vereinbar sind. Kants pragmatische Tugenderziehung soll nun auch demgemäß zwar auf die Stärkung der moralischen Widerstandskraft wirken, aber nicht zum Widerstand gegen das Unmoralische in der Welt, sondern gegen die eigene sinnliche Existenz. Den jungen Menschen sei deutlich zu machen, „daß alle Übel, Drangsale und Leiden des Lebens, selbst Bedrohung mit dem Tode, die ihn darüber, daß er seiner Pflicht treu gehorcht, treffen mögen, ihm doch das Bewußtsein, über sie alle erhoben und Meister zu sein, nicht rauben können“400 . Dazu helfe durchaus die Vorstellung des Lasters selbst als das immer noch größere Übel. Diese Vorstellung sei zwar nicht Prinzip der Didaktik, die „ganz rein auf das sittliche Princip gegründet“ werden muß, aber sie sei ein „den Gaumen der von Natur Schwachen zu bloßen Vehikeln dienender“401 Zusatz. In diesem Sinn ‚schwach‘ sind dann alle, die nach bestimmbaren Gründen verlangen, weil diese mit dem Begriff der Freiheit nicht gegeben werden können, denn der ist spekulativ nicht faßbar; doch muß gerade diese „Unbegreiflichkeit in diesem Selbsterkenntnisse der Seele eine Erhebung geben, die sie zum Heilighalten ihrer Pflicht nur desto stärker belebt, je mehr sie angefochten wird“402 . Auch wenn es zugestanden wird, daß der Grund von Freiheit

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MdS TL, VI 490f. Pädagogik, IX 447. MdS TL, VI 483. MdS TL, VI 482. MdS TL, VI 683.

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durch positive Erklärung nicht darstellbar ist, so bleibt es doch fragwürdig, ob daraus der affirmative Mystizismus solcher Selbsterhebung der Seele zu ziehen sei. Die bestimmten Kenntnisse sollen nicht prinzipiell vermittelt werden, sondern dadurch, „bei jeder Pflichtzergliederung einige casuistische Fragen aufzuwerfen und die versammelten Kinder ihren Verstand versuchen zu lassen“403 . Diese Form der Wissensvermittlung, in der wieder und vermehrt die vorhandenen Vorurteile bestätigt und ausgebaut werden, führt zu einer geradezu emotionalen Bindung an diese Vorurteile, „weil es in der Natur des Menschen liegt, das zu lieben, worin und in dessen Bearbeitung er es bis zu einer Wissenschaft (mit der er nun Bescheid weiß) gebracht hat, und so der Lehrling durch dergleichen Übungen unvermerkt in das Interesse der Sittlichkeit gezogen wird“404 . – Nun ist ‚Bescheidwissen‘ keineswegs Wissenschaft, eher ihr Gegenteil, denn wer einen Bescheid weiß, weiß ihn deshalb, weil ihm zuvor Bescheid gegeben wurde, weil er so und nicht anders beschieden wurde. Solches Wissen steht tatsächlich in einem affirmativen Verhältnis zu seinem Gegenstand, das der reflektierten Wissenschaft durchaus abgeht. Gerade das erhabene Gefühl, in der Wissenschaft von der Moral etwas erkannt zu haben, sollte doch mit dem Entsetzen über den realen Zustand der Moralität verbunden sein und das ‚Interesse an der Sittlichkeit‘ wäre in sich gebrochen. Die moralische Katechisierung der Jugend aber unter unmoralischen Bedingungen richtet die Negativität der Moral systematisch gegen die Subjekte selbst. Deren natürliches Widerstreben wird zum Gegenstand einer ethischen Asketik, in der – der Unmöglichkeit, zum Selbstopfer zu verpflichten,405 zum Trotz – die Opferung mancher Lebensfreude einzuüben sei,406 um im Kampf mit den inneren, sinnlichen Hindernissen der Tugend ein wackeres Gemüt zu erwerben, das aber durch das Selbstopfer zugleich fröhlich gestimmt sei, denn wenn man sich „nicht mit Lust“ opfere, so habe das „keinen inneren Werth und wird nicht geliebt, sondern die Gelegenheit ihrer Ausübung so viel möglich geflohen“407 . Nun mag es wohl sein, daß in gewissen Situationen, in denen moralisches Handeln geboten ist, dieses ohne Verzicht auf eigene Interessen nicht möglich wäre. Dies kann aber nicht zur affirmativen Regel erhoben werden, deren von den Bedingungen aufgezwungene Befolgung noch ein Lustgewinn abzunehmen sei. In der für Kant eher untypischen affirmativen Synthese des Stoizismus mit dem Epikureismus zeigt sich erneut die Geschichtslosigkeit der Konstruktion. Freilich soll die Neigung nicht als solche bekämpft oder bestraft werden, im Sinne einer „Mönchsascetik“, sondern sie sei eine „ethische Gymnastik […] in der Bekämpfung der Naturtriebe, die das Maß erreicht, über sie bei vorkommenden, der Moralität Gefahr drohenden Fällen Meister werden zu können; mithin die wacker und im Bewußtsein seiner wiedererworbenen Freiheit fröhlich macht“408 . Die von Kant als abergläubisch zurückgewiesene Selbst403 404 405 406 407

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MdS TL, VI 683. MdS TL, VI 484. Vgl. MdS TL, VI 393. Vgl. MdS TL, VI 484. MdS TL, VI 484. Entsprechend werden auch in der Anthropologie „Purism“ und „Fleischestödtung“ abgelehnt, weil sie „verzerrte Gestalten der Tugend und für diese nicht einladend“ (VII 282) seien. MdS TL, VI 485.

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kasteiung erhält tatsächlich nur ein anderes Objekt. Nicht eine transzendente Instanz gebietet sie, sondern das Subjekt sich selbst. Dadurch wird Selbstkasteiung nach innen, ins bürgerliche Subjekt verlegt, unter der Vorstellung einer bloß pragmatischen Übung, nämlich die Neigungen bis zu dem Maß zu drücken, unter dem sie nicht mehr moralisch bedenklich seien. Dieses Maß aber ist im Kontinuum der Entsagung nicht zu bezeichnen, und deshalb tritt die systematische Neigungsbekämpfung unter dem Wahlspruch ‚Sustine et abstine!‘409 prinzipiell immer einen Schritt zu kurz und ist damit potentiell schon immer einen zu weit gegangen. Die Pragmatisierung der Morallehre als Tugendlehre gerät nicht zufällig, sondern zwangsläufig in diese Konsequenz, weil sie den Anspruch von Moral unter solchen Bedingungen empirisch auflegt, die diesem Anspruch zuwiderlaufen. Die Ermäßigung zu weiten Pflichten verschlägt dabei nichts, weil sie die Subjekte nicht von der moralischen Unbedingtheit befreit, ohne sie zugleich in die empirische Unnachgiebigkeit der Verhältnisse einzuspannen. Weil diese Pragmatik das Wesen der Tugendlehre insgesamt ausmacht, erscheint hier Sittlichkeit ausgeführt als das Zwangssystem, das in der Morallehre bloß antizipiert war: „Zur inneren Freiheit aber werden zwei Stücke erfordert: seiner selbst in einem gegebenen Fall Meister (animus sui compos) und über sich selbst Herr zu sein (imperium in semetipsum), d. i. seine Affecten zu zähmen und seine Leidenschaften zu beherrschen.“410 Die Selbstverhaltung wird als Regelfall des sittlichen, gesellschaftlichen, Handelns begriffen. Deshalb kann Kant sagen: „Der Pflichtbegriff ist an sich schon der Begriff von einer Nöthigung (Zwang) der freien Willkür durchs Gesetz“411 . Wenn Freiheit stets als Zwang verstanden wird, dann wird die wesentliche Differenz der Moral zum Recht – durch Freiheit und nicht durch Zwang bestimmt zu sein – in einer Hinsicht aufgehoben. Für Kant wird deshalb die Sittlichkeit ein reines Zwangsverhältnis des Subjekts zu sich, und zwar sowohl in positiver wie in negativer Hinsicht, denn nicht nur die Befolgung des Sittengesetzes geschieht „ungern“412 , sondern auch seine Übertretung, „denn es giebt keinen so verruchten Menschen, der bei dieser Übertretung in sich nicht einen Widerstand fühlte und eine Verabscheuung seiner selbst, bei der er sich selbst Zwang anthun muß“413 . Freiheit erscheint nur mehr als „[d]ieser wechselseitig entgegengesetzte Selbstzwang“414 . Für das Subjekt, jedenfalls für das, das durch Kants Katechismus und Asketik gegangen ist, kann Handeln nur noch als gegen sich selbst zu erzwingende Option erscheinen. Tatsächlich wird der, wenngleich verinnerlichte, Zwang wirksam äußerlich vertreten, denn die Zwangshaftigkeit des Handelns ist längst auch ohne systematische Anwendung und Instrumentalisierung von Asketik oder Katechismus gesellschaftliche Realität. Die Freiheit des Selbstzwangs sieht Kant nun ausgerechnet im Vermögen Zwecke zu setzen realisiert: „Es giebt nämlich keine andere Bestimmung der Willkür, die durch ihren Begriff schon dazu geeignet wäre, von der Willkür Anderer selbst physisch nicht 409 410 411 412 413 414

Pädagogik, IX 486. MdS TL, VI 407. MdS TL, VI 379. MdS TL, VI 379. MdS TL, VI 380 Anm. MdS TL, VI 380 Anm.

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gezwungen werden zu können, als nur die zu einem Zwecke. Ein Anderer kann mich zwar zwingen etwas zu thun, was nicht mein Zweck (sondern nur Mittel zum Zweck eines Anderen) ist, aber nicht dazu, daß ich es mir zum Zweck mache, und doch kann ich keinen Zweck haben, ohne ihn mir zu machen.“415 Die letzte Wendung, die Kant als widersprüchlich bezeichnet, drückt exakt das Grundproblem heteronom bestimmter Arbeitsprozesse aus, also desjenigen Phänomens, das die gesellschaftliche Realität maßgeblich bestimmt: Niemand kann einen fremden Zweck ausführen, ohne ihn sich selbst zu eigen zu machen; Menschen sind keine Maschinen und müssen noch die fremde Herrschaft über ihre Zwecke an sich selbst exekutieren.416 Dadurch müssen sie sich selbst als Gegner ihrer existentiellen Interessen begegnen und erkennen;417 und dies müssen sie, gleichgültig ob sie der Affirmation folgen, sie selbst seien Urheber des Selbstzwangs oder ob sie diesen als äußerlich verursachten erkennen. Es bleibt ein Moment von Selbstzwang. Im zweiten Fall aber sind sie vermögend, kritisch zu begreifen, daß es – wie Kant beiläufig bemerkt – „ein Act der Freiheit, der doch zugleich nicht frei ist“418 , sei. Kant bezieht dies nur auf Zwecke, die zugleich Pflicht seien, und dort sei es doch kein Widerspruch, „weil ich da mich selbst zwinge, welches mit der Freiheit gar wohl zusammen besteht“419 . Selbstzwang ist nur dort ein Merkmal, wo Herrschaft die Notwendigkeit von Selbstbezwingung erst erzeugt. Unter diesen Bedingungen wird das sinnliche Subjekt als Träger des intelligiblen Subjekts immer auch zum Mittel von dessen Instrumentalisierung. Wenn es selbst diese Instrumentalisierung an sich vollzieht, so wird ihm das Bedürfnis seiner Sinne, das über das, was ihm beschieden wird, hinausweist, zum Objekt der Bekämpfung: „[E]r muß lernen, etwas zu entbehren, was ihm abgeschlagen wird“420 . Das sinnliche Subjekt sei zu erhalten, soweit es Bedingung der Möglichkeit des Handelns und der Tugend unter den gegebenen Bedingungen überhaupt ist: „Wohlhabenheit für sich selbst zu suchen ist direct nicht Pflicht; aber indirect kann es eine solche wohl sein: nämlich Armuth, als eine große Versuchung zu Lastern, abzuwehren.“421 So wird die Unendlichkeit des Bedürfnisses aber nicht zum Motor der Kultivierung seiner gesellschaftlichen Befriedigung. Dieser Pragmatismus der Tugend darf nun keineswegs als „[p]hantastisch-tugendhaft“ mißverstanden werden. So kann „der genannt werden, der keine in Ansehung der Moralität gleichgültige Dinge (adiaphora) einräumt und sich alle seine Schritte und Tritte mit Pflichten als mit Fußangeln bestreut und es nicht gleichgültig findet, ob ich mich mit 415 416

417

418 419 420 421

MdS TL, VI 381. Ein Ausdruck dieses Sachverhaltes ist das Marxische Modell vom Baumeister, der doch der besten Biene noch voraushat, daß er den Plan des Bauwerks gedacht haben muß, bevor er ihn ausführt. Vgl. Das Kapital, Bd. 1, MEW 23, a.a.O., 193. Daß Heidegger hieraus die absolute Freiheit im Sein zum Tode ableiten zu können glaubte, beleuchtet die innere Konsequenz von Kants Argumentation schon richtig. Sind Menschen bei der einzigen Alternative der Preisgabe ihrer Existenz gezwungen, sich Zwecke zu setzen, die nicht ihre sind und die es vernünftiger Weise auch nicht sein können, so geraten sie mit sich in einen Widerspruch, der notwendig ihr Selbstbewußtsein beschädigt. MdS TL, VI 381. MdS TL, VI 381f. Pädagogik, IX 487. MdS TL, VI 388.

304

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Fleisch oder Fisch, mit Bier oder Wein, wenn mir beides bekommt, nähre; eine Mikrologie, welche, wenn man sie in die Lehre der Tugend aufnähme, die Herrschaft derselben zur Tyrannei machen würde.“422 Tyrannei wäre Gewalt zwar mit Gesetz, doch ohne Freiheit. Kant will dagegen Freiheit mit Gesetz und Gewalt, die Republik der Tugend. In dieser aber, das zeigt gerade Kants menschlichste Einlassung, existiert das Subjekt, dessen Sache verhandelt wird, als empirisches, sinnliches im Bereich des adiaphoron. Ohne das Gleichgültige gering zu achten, ohne das kein Leben wäre, müßte aber doch die Subjektivität der lebenden Menschen unverhandelbarer Maßstab sein, dessen Refugium nicht eben am Modell einer Speisenkarte darzustellen wäre.

7.

Exkurs: Über Moralpädagogik

Moralische Begriffe fassen die Schüler erst im Jünglingsalter. Diese sollen sie nicht allein einsehen, sondern unter Anleitung als solche erfassen, die sie aus sich selbst hervorbringen: „Von dem, was sie wohlgezogen machen soll, brauchen sie nicht die Gründe zu wissen; sobald es aber die Pflicht betrifft, so müssen ihnen dieselben bekannt gemacht werden. Doch muß man überhaupt dahin sehen, daß man nicht Vernunfterkenntnisse in sie hineintrage, sondern dieselben aus ihnen heraushole. Die sokratische Methode sollte bei der katechetischen die Regel ausmachen.“423 Deshalb darf auch in der Moralerziehung nicht gestraft werden; Moral darf in dieser Phase nicht mit bloßer Disziplin verwechselt werden.424 Was aus den Schülern derart herauszuholen ist, dürfte von den sittlichen Vorstellungen und Vorurteilen abhängen, die sie in ihrer früheren Schulbildung erfahren haben. Zu der ganz frühen physischen Erziehung gehört, neben der Ernährung und körperlichen Entwicklung eben auch eine als physisch verstandene Gemüts- und Chraktererziehung, die im allgemeinen in der Gewöhnung an gesellschaftliche Zwänge und im besonderen in der Gewöhnung an Arbeit als fremdbestimmte Tätigkeit besteht. Ausdrücklich nun bezeichnet Kant diese Charaktererziehung zur „Fertigkeit, nach Maximen zu handeln“ aber als ersten Schritt in der Moralerziehung: „Im Anfange gehorcht das Kind Gesetzen. Maximen sind auch Gesetze, aber subjective; sie entspringen aus dem eignen Verstande des Menschen. Keine Übertretung des Schulgesetzes aber muß ungestraft hingehen“425 . Danach ist das Befolgen von Maximen überhaupt als bloße Form von Moral zunächst durch äußeren Zwang und unter ausnahmsloser Strafdrohung zu erlernen, um diese Form hernach als die Form subjektiver Autonomie aus sich selbst entwickeln zu können. Was zudem materialiter bei Strafe zu erlernen ist, sind Charakterstrenge und Planmäßigkeit der Lebensführung: „So setzt man ihnen z.E. eine Zeit zum Schlafe, zur Arbeit, zur Ergötzung fest, und diese muß man dann auch nicht verlängern oder verkürzen.“ Hinzu kommt ein geradezu spielerisches Element: „Bei gleichgültigen 422 423

424 425

MdS TL, VI 409. Pädagogik, IX 477. – Zum Zusammenhang vgl. Andreas Gruschka, Bürgerliche Kälte und Pädagogik. Moral in Gesellschaft und Erziehung, Wetzlar 1994. Vgl. Pädagogik, IX 481. Pädagogik, IX 481.

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Dingen kann man Kindern die Wahl lassen, nur müssen sie das, was sie sich einmal zum Gesetze gemacht haben, nachher immer befolgen.“426 Das adiaphoron, in dem schon hier ein Refugium individueller Subjektivität zu suchen sei, war doch nur scheinbar eins: Weichen die Kinder einmal einen Finger breit von ihrem selbsterwählten Wege ab, so ist zu strafen. Einheit des Subjekts, das Innerste, wird äußerlich erzogen und erzwungen. Gestraft wird vorzüglich durch Liebesentzug, den Kant ‚moralische Strafe‘ nennt.427 Verschlägt diese nichts, so ist physisch zu strafen. Ohne auf die psychischen Schäden einzugehen, die diese Strafkultur erzeugt – von Kants Auffassungen zur Sexualerziehung ganz zu schweigen –,428 ist hier nur zu betrachten, wie solche Bildung sich im praktischen Selbstbewußtsein der Subjekte niederschlägt. Die zentrale Charaktereigenschaft nun, die durch Zwang zu erzeugen sei, sei Gehorsam, weil „er das Kind zur Erfüllung solcher Gesetze vorbereitet, die es künftighin als Bürger erfüllen muß, wenn sie ihm auch gleich nicht gefallen“429 . Die Staatsbürgerprägung geht nicht nur vor der Moralerziehung vorher, sondern war ja sogar als deren erster Schritt vorgestellt worden. Ein weiteres staatsbürgerliches Element des Charakters ist die Geselligkeit, Gesellschaftstauglichkeit, zu der die Kinder erzogen werden müssen; diese ist jedoch von Anfang an mit dem Attribut der Ungeselligkeit wie selbstverständlich verbunden: Das Kind, will es andere erfolgreich „zu seiner Absicht gebrauchen“, muß „sich verhehlen und undurchdringlich machen, den Andern aber durchforschen können. […] Die Kunst des äußern Scheines ist der Anstand.“430 Das dritte Moment des Charakters ist, übrigens, ‚Wahrhaftigkeit‘. So wie Kant vorschlägt, die Kinder möglichst nicht mit den Standesunterschieden der bürgerlichen Gesellschaft zu konfrontieren und den Jünglingen diese als so kontingent und gewaltsam zu erklären, wie sie tatsächlich sind,431 so wäre es über Kant hinaus wohl auch denkbar, die Menschen, in Aussicht auf eine weltbürgerliche Moralerziehung, solange vor den bürgerlichen Zwängen zu bewahren, bis sie fähig sind, das Potential ihrer praktischen Vernunft wenigstens im ersten Ansatz zu erfassen. Für die Subjekte, die durch die bürgerliche Charakterschule gegangen sind, wie sie in der einen oder anderen Form grundsätzlich jedes ereilt, gilt unter Vorbehalt wohl Kants Einsicht: „Viele Leute denken, ihre Jugendjahre seien die besten und die angenehmsten ihres Lebens gewesen. Aber dem ist wohl nicht so. Es sind die beschwerlichsten Jahre, weil man da sehr unter der Zucht ist, selten einen eigentlichen Freund und noch seltener Freiheit haben kann.“432

426 427

428 429 430 431 432

Pädagogik, IX 481. Vgl. Pädagogik, IX 482: „Moralisch straft man, wenn man der Neigung, geehrt und geliebt zu werden, die Hülfsmittel der Moralität sind, Abbruch thut, z.E. wenn man das Kind beschämt, ihm frostig und kalt begegnet. Diese Neigungen müssen so viel als möglich erhalten werden. Daher ist diese Art zu strafen die beste, weil sie der Moralität zu Hülfe kommt; z.E. wenn ein Kind lügt, so ist ein Blick der Verachtung Strafe genug und die zweckmäßigste Strafe.“ Vgl. Pädagogik, IX 496f. Pädagogik, IX 482. Pädagogik, IX 486. Vgl. Pädagogik, IX 498f. Pädagogik, IX 485.

306

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Daß dies nur unter Vorbehalt gelte, ist Kants Bemerkung zu entnehmen, derzufolge Viele diesen Sachverhalt anders beurteilen. Der Vorbehalt ist folgender: Wer nicht ein Leben lang Zucht und Annehmlichkeit verwechseln soll, dem muß es gelingen, sich, nachdem er der Schule entronnen ist, aus eigener moralischer Kraft von dem, was ihm beigebracht wurde, zu befreien, – aus einem Zuchtobjekt sich selbst in einen freien und freundschaftlichen Menschen zu verwandeln. Den wenigsten, wie auch Kant schreibt, gelingt das.433

433

Ausnahmsweise eine biographische Anmerkung: Kant, der unter seiner pietistischen Erziehung gelitten haben soll, gelang die Befreiung immerhin soweit, daß er zu dieser Beobachtung fähig war.

II. Teil: Subjektivität

IV Die transzendentale Form praktischer Subjektivität

1.

Die Antinomien der reinen Vernunft

a.

Subjektivität zwischen Vernunft und Erfahrung

Die Annäherung an Kants transzendentale Erkenntnistheorie von der Idee der Freiheit – vom praktischen Subjekt – aus, führt geraden Wegs in die Dialektik der reinen Vernunft, genauer in die Antinomienlehre, in der Freiheit als kosmologische Idee aus einem erkenntnistheoretischen Problem heraus entwickelt wird. Zwar argumentiert Kant hier und an späteren Stellen der Kritik der reinen Vernunft explizit praktisch, aber nur, um die erkenntnistheoretische Materie beherrschbar zu machen.1 – Um dieses Thema durchzuführen, ist es hier anhand der Antinomik unter praktischen Vorzeichen zu exponieren. Von dieser Exposition aus soll über die Paralogismen in den erkenntnistheoretischen Grund – das Subjekt-Objekt-Verhältnis in der Deduktion und den Grundsätzen – zurückgegangen werden. Dessen praktische Implikationen sind in der Konsequenz am Ideal der reinen Vernunft heraufzuführen; in mancher Hinsicht wird sich diese Darstellung dann als Reprise der Antinomik ergeben. Dieses Programm setzt selbstverständlich voraus, daß Ästhetik, Analytik, Dialektik und Methodenlehre nicht separate, gegeneinander selbständige Teile seien, deren Einheit in der Buchbinderei gründet; vielmehr soll gezeigt werden, daß die auf Architektonik und Teleologie hinauslaufenden Überlegungen der Dialektik direkt an erkenntnistheoretische Probleme der Analytik anschließen, ja daß ohne die Dialektik Kants Begriff systematischer Wissenschaft nicht einzulösen ist. Deshalb nimmt auch die Kritik der Urteilskraft diese Probleme wieder auf. 1

Zwar ist, auch Kants eigener Aussage zufolge, die theoretische Philosophie auf die praktische ausgerichtet; allerdings sind auch umgekehrt erkenntnistheoretische Motive für praktische Argumente bestimmend. Das liegt in der Einheit der Vernunft. – Für eine überzeugende Entwicklung des Zusammenhangs der Kantischen Philosophie aus der Idee der Freiheit vgl. Oliver Robert Scholz, Aufklärung und kritische Philosophie. Eine ganz kurze Einführung in die Gedankenwelt Immanuel Kants, in: Bernd Prien/Oliver R. Scholz/Christian Suhm (Hgg.), Das Spektrum der kritischen Philosophie Kants, a.a.O.

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In den zu entwickelnden Aporien der Bestimmung des theoretischen Subjekt-Objekt-Verhältnisses finden sich Probleme praktischer Subjektivität wieder: Das Verhältnis von subjektiver Konstitution von Objektivität und objektiver Selbständigkeit ist selbst ein praktisches, insofern die Gegenstände naturwissenschaftlicher Erkenntnis nicht abstrakt da sind, sondern erst im wissenschaftsgeschichtlichen Prozeß als Gegenstände erschlossen wurden und zweitens in arbeitsteiligen Prozessen wissenschaftlicher Forschung präpariert und erkannt werden. Diese Prozesse sind keine rein geistigen, sonder sie schließen ein Moment objektiver Bildung von Natur, deren Bearbeitung unter allgemeinen vernünftigen Zwecken, ein. Daß Kant dies vernachlässigt, gibt Aufschluß über sein Konzept von Praxis und ist zugleich als Spur geschichtlicher Praxis im Selbstverständnis von Subjektivität zu erschließen. Der Begriff der Freiheit, den Kant als subjektives Faktum aus dem Subjekt heraus entfalten will, stößt bald an die Grenze seiner Objektivität. Die Reinheit des Prinzips gebietet dessen Entfaltung aus der Autonomie des Subjekts a priori und muß so auch die Bedingungen seiner objektiven Realität a priori konstruieren. So aber schafft es sich Bedingungen, die von ihm nicht mehr zu kontrollieren sind, Gott und dessen a priori sinnvolle Weltordnung, unter deren Voraussetzung die Schranken der realen mangelhaften Ordnung sich zur Grenze des Subjekts in ihm selbst aufbauen. Entgegen Kants Überzeugung, praktische Vernunft werde handlungsfähig erst in ihren spezifischen Unterschieden zur theoretischen, existiert eine enge sachliche Bindung jener an diese, in der auch ihre eigentümliche Lähmung grundgelegt ist; diese kann auch durch Kants Gewaltstreich, die Begründung transzendentaler Freiheit in der praktischen Vernunft zugunsten von deren bloßer Faktizität zu verlassen, nicht mehr überwunden werden. So sehr ist die transzendentale Begründung von Freiheit auch schon theoretische Reflexion der praktischen und ihrer Bedingungen. Der theoretische vernünftige Kern der praktischen Vernunft war die Forderung nach Identität auch des praktischen Selbstbewußtseins.2 Diese Identität, wie Identität von Selbstbewußtsein überhaupt, ist als sachhaltige herzustellen nur im Einklang des Bewußtseins mit den Bedingungen seiner Gegenstände. Wohl ist das Vernunftprinzip absoluter Einheit auf der Seite der Subjektivität die Form von Subjektivität selbst; die Inhalte jedoch, derer die subjektive Form notwendig bedarf, um Erfahrung wirken zu können, sind selbst als Erscheinungen, Material der Anschauung, in mannigfaltigen Gestalten gegeben. Deshalb wäre von einer einheitlichen Erfahrung nur zu reden, wenn dieses Material unter einer selbst unbedingten Einheit vorstellbar wäre, obwohl es als eine durch unendlich viele Bedingungsrelationen verknüpfte Mannigfaltigkeit erscheint. Die Prinzipien der hierdurch eröffneten transzendentalen Kosmologie führen aber auf Widersprüche. Die hypostasierte Identität schlage nun an ihr selbst in ihr Gegenteil um und verweise die Vorstellung einer absoluten Objektivität aus dieser selbst heraus darauf, daß sie Ausdruck „objektiver Synthesis“3 sei, denn die gleichberechtigte Koordination von Entgegengesetztem kann nicht Gegenstand von Erfahrung sein. Es handelt sich um in sich antinomische kosmologische Ideen der Vernunft, Weltbegriffe, deren Konzeption als endliche Ausdrücke des Unendlichen, Begriffe von Welt, schon antinomisch – und 2 3

In diesem Sinn auch Christine M. Korsgaard, Creating the Kingdom of Ends, a.a.O. KrV, B 433.

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311

in der Pluralität fragwürdig – ist.4 Nicht nur der Skeptizismus, der über die notwendige Widersprüchlichkeit der Prinzipien der Objektivität an der Möglichkeit von Erkenntnis verzweifelt, hebt die adäquate Verknüpfung von Subjekt und Objekt auf; auch jede Auflösung nach einer Seite der Antinomien höbe die Möglichkeit von Erfahrung auf, weil damit zugleich die Möglichkeit von deren Gegenständen zerstört würde. Da beide Seiten der Antinomien, wenn überhaupt, nur im Subjekt koordiniert werden können,5 da schlechthin die Antinomie nur Ausdruck der vernünftigen Reflexion auf Objektivität ist, kann die Lösung des Problems auch nur im Subjekt, das es denkt, selbst gesucht werden. Die Antinomien der Vernunft ergeben sich näher aus deren Reflexion auf die Begriffe des Verstandes. Die Kategorien als Bedingungen der Möglichkeit der Verknüpfung von Anschauungen zu Objekterfahrungen dienen zumindest teilweise der Ordnung von Reihen von Anschauungen, weil sie diese als Bedingungsverhältnisse bestimmen. Diese Reihen sind empirisch immer endlich, die Kategorien, als allgemeine Formen solcher endlicher Reihen, sind zwar a priori nicht begrenzt, leisten aber auch nicht den Übergang zum Unendlichen; sie sind indifferent, bloße begriffliche Formen empirischer Verhältnisse, die als solche nicht in den Grenzen möglicher Erfahrung erkannt werden könnten, wenn die Kategorien ihren empirischen Gehalt aus sich heraus sogleich transzendieren würden. Wenn nun die Anschauungen selbst schon kategorial vermittelt – durchs Subjekt konstituiert – werden, läßt sich annehmen, daß ein Moment von Endlichkeit sogar in den Kategorien selbst liege; dies zwar nicht, sofern sie Begriffe – Formen – sind, aber doch, sofern sie immer schon auf Gegenstände der Erfahrung bezogen gedacht werden müssen.6 Kants Subjektivierung der Objektivität zum Trotz 4 5

6

Zur Einteilung der Welt- bzw. Naturbegriffe vgl. KrV, B 446ff. Widersprüche sind schon als Relationen keine Gegenstände möglicher Erfahrung, der allenfalls einzelne Relata gegeben sein können; deren Vermittlung zum Widerspruch ist eine Leistung des Denkens. Vgl. Josef Simon, Kant, a.a.O. Simon vertritt die weitgehende Auffassung, das ‚Ich denke‘ sei ‚standpunktgebunden‘, stets definiert durch sein hier und jetzt (z. B. 557). Allerdings verwahrt Simon sich gegen den Relativismus-Vorwurf: Das Ich sei geschichtlich bedingt, nicht aber geschichtlich ableitbar (74). Hier soll noch zurückhaltender und nur negativ behauptet werden, daß transzendentale Subjektivität als Reflexionsform der empirischen ohne diese nicht denkbar ist. Frank Kuhne, Selbstbewußtsein und Erfahrung bei Kant und bei Fichte. Über Möglichkeiten und Grenzen der Transzendentalphilosophie, Hamburg 2007, stellt ein „historische[s], gesellschaftliche[s] Moment der transzendentalen Einheit der Apperzeption“ (325) fest, durchaus im Bewußtsein dessen, daß die Geltung der Erkenntnis nicht in ihrer Genesis aufzulösen sei. Vgl. hierzu wissenschaftstheoretisch Kurt Bayertz, Wissenschaft als historischer Prozeß, a.a.O., Kapitel XII. Die Notwendigkeit der Spontaneität hält Henrich fest in Subjektivität als Prinzip, a.a.O.: Selbstwissen könne von außen angeregt werden, müsse aber völlig spontan und unveränderlich entstehen. „Darauf ist dann aber auch die soziale Genese des Selbstwissens beschränkt.“ (38). – Diese formale Immanenz des Selbstbewußtseins führt aber auf den eklatanten Widerspruch einer „leeren Selbstbeziehung“ (Dieter Henrich, Selbsterhaltung und Geschichtlichkeit, a.a.O., 304), die doch ein Wissen von den Bedürfnissen und Bedingungen des eigenen Wesens beinhalte (also nicht leer ist). Kennzeichnend für weite Teile der Diskussion um Selbsterhaltung war, daß diese als logische Struktur, bewußtseinsimmanent aufgefaßt wurde: „Er [der Mensch] kennt sich als Ein Wesen und zugleich als Distanz in ihm selber.“ (ebda. 310) Dafür bietet Kant allerdings einen Anknüpfungspunkt, insofern er von „Selbsterhaltung der Vernunft“ spricht (Sich im Denken orientieren, VIII

312

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scheint hier ein Moment objektiver Bestimmung im Kern von Subjektivität selbst auf.7 Diese Beschränkung der Kategorien aufzuheben, liegt nun im Interesse der Vernunft, die sie „von den unvermeidlichen Einschränkungen einer möglichen Erfahrung frei mache und ihn also über die Grenzen des Empirischen, doch aber in Verknüpfung mit demselben zu erweitern suche“8 . Die Vernunft geht darauf aus, die Möglichkeit endlicher Erkenntnis – dort wo diese Endlichkeit die Erklärung eines Erfahrungsgegenstandes aus Bedingungen bestimmt – in der Begründung durch ein Unendliches abzusichern, durch die universale Bedingung, die selbst keine Bedingungen mehr hat. Diese Ausrichtung der Vernunft ist daraus zu erklären, daß sich ein bedingtes Gegebenes zwar jederzeit faktisch verstehen läßt, daß aber sein Dasein – solange jede seiner Bedingungen auf weitere verweist – nicht gedacht werden kann: „[W]enn das Bedingte gegeben ist, so ist auch die ganze Summe der Bedingungen, mithin das schlechthin Unbedingte gegeben, wodurch jenes allein möglich war“9 . Hierin liegen zwei Möglichkeiten, das Unbedingte zu denken, weil zunächst nicht die Totalität der Welt als reiner Begriff hier thematisch ist, sondern die Totalität der Bedingungen in Ansehung von Erscheinungen, also von Gegenständen möglicher Erfahrung; diese Totalität ist selbst kein Gegenstand möglicher Erfahrung. In der Vorstellung der Totalität der Reihe der Bedingungen muß das Unbedingte enthalten sein, sonst wäre sie nicht Totalität, sondern selbst bedingt – so aber hätte sie eine Bedingung außer ihr, die doch zu ihr als der Totalität der Bedingungen gehören müßte. Die Vernunft kann nun entweder diese Totalität selbst als das Unbedingte betrachten. Dies nennt Kant – der Sache nach in Antizipation von Hegels ‚schlechter Unendlichkeit‘ – „nur potentialiter unendlich“10 . Hier ist jedes Glied der Reihe bedingt, die Reihe selbst aber unbedingt. Oder die Vernunft zeichnet ein Glied der Reihe als Unbedingtes vor den anderen aus, so daß es gewissermaßen in Hypostase das wahrhaft Unendliche repräsentiert, indem in ihm die Bedingtheit alles Anderen aufgehoben ist. Beide Gestalten des Unbedingten treten nun in antinomische Verhältnisse, die nicht künstlich konstruiert zu werden brauchen, sondern sich notwendig aus der konsequenten Tätigkeit der Vernunft ergeben.11 Der Schein, so Kant, sei unvermeidlich, so daß er „selbst, wenn man nicht mehr durch ihn hintergangen wird, noch immer täuscht, obschon nicht betrügt, und also zwar

7

8 9

10 11

147 Anm., ähnlich in einer Reflexion, XV 823). Daß die innere Distanz oder Differenz auf einer äußeren beruht, hat Klaus Düsing als Erfahrung „von Umwelthaftem“ (Selbstbewußtseinsmodelle. Moderne Kritiken und systematische Entwürfe zur konkreten Subjektivität, a.a.O., 20) hervorgehoben, ähnlich Ulrich Pothast als Erleben von differenziertem Erlebtem (Über einige Fragen der Selbstbeziehung, Frankfurt am Main 1971, 87). Volker Gerhardt betont die „vollständige[] Einbindung des Menschen in den Lebenszusammenhang“ (Selbstbestimmung, a.a.O., 19). Vgl. KrV § 17. Diese Subjektivierung setzt Kant im Grunde schon bei den Sinnen an. Vgl. Anthropologie, IX 156: „Diese drei äußern Sinne [Tastsinn, Gehör und Gesicht] leiten durch Reflexion das Subject zum Erkenntniß des Gegenstandes als eines Dinges außer uns“ (meine Hervorhebungen). KrV, B 435. KrV, B 436. Der Umstand, daß dies nur für die Reihe der Bedingungen, der regressiven Synthesis in antecedentia gilt, wird später noch bedeutend. KrV, B 445. Vgl. KrV, B 449.

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313

unschädlich gemacht, aber niemals vertilgt werden kann“12 . Die Vernunft muß hier einsehen, daß sie in intentione recta die Gegenstände nicht erfassen kann, sondern daß ihre Begriffe jene notwendig transzendieren, gerade um deren Objektivität erschließen zu können, ihrer in intentione obliqua habhaft zu werden. Die Unmöglichkeit, den Schein – trotzdem er durchschaut ist – zu tilgen, weist aber noch darüber hinaus, denn gerade in dem Nachweis, daß die Bedingungen, unter denen die Vernunft Objektivität denkt, notwendig transzendentalem Schein unterworfen sind, macht sich die Selbständigkeit der Objekte geltend: Was für Kant nur ein Merkmal menschlicher Vernunft ist, drückt grundsätzlich das Verhältnis des Subjekts zu seinen Gegenständen aus. Hegel wirft Kant vor, die Antinomienlehre sei eine pseudo-logische Konstruktion, deren Unauflöslichkeit bloß dem empirischen Bewußtsein angehöre, aber vor der Vernunft gerade nicht bestehe.13 In der Vernunft werde der Gegensatz von Subjekt und Objekt aufgehoben. Hegel rügt mit Recht Kants Inkonsequenz, wo dieser in der Analytik die Objekte als eine Funktion des Subjekts erklärt, dagegen aber in der Dialektik nur mehr die widersprüchliche Fassung der Grundlagen des Subjekt-Objekt-Verhältnisses zugibt: Das Objekt sei zugleich Konstituiertes und Gegebenes. – Kant selbst beabsichtigt eine Lösung der Antinomien, die auch deren Mangel allein dem Subjekt auflädt. Tatsächlich ragt ein Moment von Selbständigkeit der Gegenstände – ein Moment dessen, was sich nicht ganz verfügbar machen läßt – in die subjektive Bedingung der Möglichkeit, sie als Objekte zu denken, hinein und formt dadurch die Subjektivität zuinnerst als auch objektive. Kants erkenntnistheoretische Anstrengung gilt dem Ziel, diese Objektivität zugunsten des reinen Selbstbewußtseins – der absoluten Relationalität der Apperzeption – zurückzudrängen. Nur in diesem Zusammenhang transzendental-erkenntnistheoretischer Systemkonzeption, die bei Kant auch ‚Architektonik der Vernunft‘ heißt, wird der Freiheitsbegriff der 3. Antinomie zu verstehen sein. Um die Reflexion von Praxis, die in ihm liegt, und vor allem, um die Grenzen dieser Reflexion begreifen zu können, ist die Darstellung der gesamten Antinomienlehre unumgänglich. Die Beschränkung auf die Dritte Antinomie allein oder deren praktischen Gehalt müßte eine Illusion über den kritisierten Illusionen aufbauen. Für alle Antinomien, die aus der Vernunftreflexion auf die vier Gruppen der Verstandesbegriffe entstehen, ergibt sich die Idee der Totalität als notwendige Forderung der Vernunft, um die Synthesis des Verstandes mittels der Kategorien als möglich begreifen zu können. Der Verstand verknüpft nach seinen Begriffen und Grundsätzen Vorstellungen zu Erfahrungsurteilen. Der empirische Gehalt dieser Vorstellungen geht auf Erscheinungen zurück. Wenn diese Erscheinungen nicht in sich subsistieren, sondern nur in Relationen zu anderen existieren, so sind diese Relationen als Bedingungen der Erscheinungen zu verstehen. Relationen sind ihrerseits nicht subsistent, sondern verweisen 12 13

KrV, B 449f. Vgl. Hegel, Wissenschaft der Logik. Lehre vom Sein, a.a.O., 228ff. Entsprechend wirkt Kants wiederholte Verbürgung für die ‚Richtigkeit‘ seiner ‚einleuchtenden, klaren und unwiderstehlichen Beweise‘ für Thesen wie Antithesen schon beschwörend (vgl. Prolegomena, IV §§ 52 und 52 b Anm.). – Peter F. Strawson, Die Grenzen des Sinns. Ein Kommentar zu Kants ‚Kritik der reinen Vernunft‘, Frankfurt am Main 1992, 29, bezweifelt die Notwendigkeit des Scheins vom empirischen Standpunkt aus und findet die Begründung der Antinomien daher „fragwürdig“.

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auf Anderes. Von diesen Bedingungsketten hängt die Möglichkeit der Erscheinungen und mit ihr die Möglichkeit synthetischer Verstandesleistungen ab. Sie lassen sich nun mathematisch auf die Größe und dynamisch auf das Dasein der Erscheinungen beziehen: In jedem Fall fordert die Vernunft absolute Vollständigkeit der in ihnen ausgedrückten Relationalität, soweit sie auf die Synthesis der Reihe der Bedingungen gerichtet ist; die Totalität des Weltganzen, das transzendentale Ideal, ist hier noch nicht explizit thematisch, doch der Gedanke der Vollständigkeit der Reihe hat hier bereits die Funktion, die Bedingtheit der Elemente der Reihe in einem Unbedingten aufzuheben. Der andernfalls anzunehmende Begriff einer ‚absoluten Bedingtheit‘ wäre widersinnig und höbe so die Möglichkeit von Erkenntnis auf, anstatt ihren Grund zu legen. Aristoteles konnte den regressus ad infinitum aufgrund der Voraussetzung der Verschränkung ontologischer und logischer Momente in seiner Argumentation zurückweisen:14 Wenn Substanz nicht nur das ist, was von nichts Anderem ausgesagt wird, sondern auch das, dessen Sein von nichts Anderem abhängt,15 so ist mit der Ersten Substanz als letztem Subjekt der Prädikation auch der Abschluß im Ursachenregreß gegeben. Die angenommene unendliche Zahl von Exemplaren, die jedem Exemplar schon vorhergehen, wird zur unbedingten Ursache zusammengefaßt im Begriff der Zweiten Substanz, der Artform, der allein im Arterhaltungsprozeß volle Realität zukommt.16 Die Unendlichkeit der Gegenstände der Erfahrung in einer ewigen Welt hat ihre unbedingte Bedingung im ontologischen Begriff der kosmologischen Ordnung, deren Ausdruck das unbewegt bewegende Prinzip, und deren Modell die Kreisbewegung ist: „Also war nicht eine unendliche Zeit Chaos oder Nacht, sondern immer dasselbige, entweder im Kreislauf oder auf eine andere Weise, sofern die Wirklichkeit dem Vermögen vorausgeht. Wenn nun immer dasselbe im Kreislauf besteht, so muß etwas bleiben, das gleichmäßig in wirklicher Tätigkeit ist.“17 Auch bei Kant sind im Problem des Regresses zwei Ebenen miteinander verknüpft. Sein logischer Ort ist erstens die Vernunft, aber nur, soweit sie sich zweitens auf Erscheinungen bezieht. Das Vermögen höchster Einheit bezieht sich so auf das durch die Mannigfaltigkeit des Materials der Anschauung Gegebene. Die kosmologischen Ideen der Vernunft sind deshalb keine reinen Vernunftideen, sondern sie resultieren erst aus der Reflexion auf Nicht-Vernünftiges. Da Kant über eine ontologische Repräsentation von Vernunft nichts sagen kann, ergeben sich aus dem Organisationsprinzip der Vernunft den Erscheinungen gegenüber Widersprüche: Vernunftimmanent lassen sich nämlich ebenso Gründe für die Annahme unbedingter Ordnungsprinzipien finden wie solche gegen sie. Die Erscheinungen selbst sind Gegenstände der Anschauung, und das Unbedingte kann in keiner Anschauung gegeben werden. Gleichwohl entfaltet die Vernunft ihren Begriff des Unbedingten an der synthetischen Form der Anschauung und faßt es als Totalität der Reihe der Bedingun14 15 16

17

Vgl. Aristoteles, Metaphysik, a.a.O., 994a f. Vgl. Aristoteles, Kategorien, Hamburg 1974, 2a ff. Vgl. Aristoteles, Metaphysik, a.a.O., 1032a ff. Zum Problem prozessualer Substanzbestimmung bei Lebewesen und bei Artefakten vgl. Michael Städtler, Die Freiheit der Reflexion, a.a.O., Kapitel 3, II, 3. Aristoteles, Metaphysik, a.a.O., 1072 a.

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gen. Diese soll entweder als Ganze das Unbedingte vorstellen, oder sie soll, selbst wenn irgendein Glied der Reihe das Unbedingte sein sollte, dieses jedenfalls enthalten. Aus dieser in der Reflexion der reinen Vernunft auf Erfahrungsgegenstände liegenden Doppelung des Unbedingten folgen nun die Antinomien: Beide Seiten ermöglichen die von der Vernunft geforderte Vollständigkeit, stehen aber im Gegensatz zueinander, denn in einem Fall gibt es ein erstes der Reihe, im anderen hingegen nicht, weil die Reihe ins Unendliche läuft. Kant bindet die Vernunft und ihre Begriffe strikt an die Erfahrung: Weltbegriffe seien sie nicht etwa, insofern unter ‚Welt‘ der Inbegriff aller Erscheinungen zu verstehen sei, sondern nur weil sie in der Forderung nach Totalität der Bedingungen zu einer gegebenen Erscheinung innerhalb der Sinnenwelt diese graduell überstiegen. Das Kontinuum möglicher Erfahrung überschritte so sich selbst.18 Wenn die Gegenstände der Vernunftideen keine noumena sind, so sind die Ideen – streng genommen – als Erfahrungsbegriffe zu behandeln, allerdings als Erfahrungsbegriffe, deren Erfahrungsgegenstände graduell die Erfahrung sprengen. Als solche müssen sie antinomisch sein. Indem Kant die Ausdrücke des Unbedingten als Vollständigkeit der Glieder einer Reihe oder als Negation des Bedingten in einem Glied, das doch zugleich wieder Glied dieser Reihe sein soll, als äquivalent vorstellt, verbleibt er insgesamt im Bereich der ‚schlechten Unendlichkeit‘, die als Totalität auf Vollständigkeit geht und doch durch sukzessive Synthesis zustande kommen soll.19 Die Aufhebung der Widersprüchlichkeit der ‚schlechten Unendlichkeit‘ könnte bloß in einem reinen Vernunftbegriff erfolgen und wäre mit der Hypostase der Vernunft in ihrem eigenen Begriff erkauft. Kants Auflösungsversuch muß daher den Anspruch, den die Vernunft auf eigene Begriffe erhebt, selbst treffen.20 Demzufolge gelten die Antinomien als Resultat dessen, daß „wir unsere Vernunft nicht bloß zum Gebrauch der Verstandesgrundsätze auf Gegenstände der Erfahrung verwenden, sondern jene über die Grenze der letzteren hinaus auszudehnen wagen“21 . Genauer ist es die Ausdehnung des auf Erfahrung bezogenen Gebrauchs der Vernunft über die Erfahrung hinaus, die auf Antinomien führe, weil sie die Bedingungen von Erfahrung in einen Bereich verlagere, in dem nur von entia rationis die Rede sein könnte. Wenn Kant betont, daß diese Antinomik ein Proprium der Transzendentalphilosophie sei, weil die Mathematik in der reinen Ausdehnung und die Physik in der experimentellen Erfahrung Überprüfungsmöglichkeiten habe, verbirgt sich dahinter auch die Besonderheit, daß die Mathematik als Geisteswissenschaft und die Physik als experimentelle Naturwissenschaft ein gewissermaßen unbefangenes Verhältnis zu ihren Objekten haben: 18

19 20 21

Vgl. KrV, B 447: „In Betracht dessen, daß überdem diese Ideen insgesamt transszendent sind und, ob sie zwar das Objekt, nämlich Erscheinungen, der Art nach nicht überschreiten, sondern es lediglich mit der Sinnenwelt (nicht mit Noumenis) zu tun haben, dennoch die Synthesis bis auf einen Grad, der alle mögliche Erfahrung übersteigt, treiben, so kann man sie insgesamt meiner Meinung nach ganz schicklich Weltbegriffe nennen.“ Vgl. Gebrauch teleologischer Prinzipien, VIII 159: Unter ‚Natur‘ sei der ‚Inbegriff von allem, was nach Gesetzen bestimmt existiert‘ zu verstehen, mithin: ‚Welt (als eigentlich sogenannte Natur) mit ihrer obersten Ursache zusammengenommen‘. Vgl. KrV, B 450. Vgl. Hegel, Wissenschaft der Logik. Lehre vom Sein, a.a.O., 239f. KrV, B 448f.

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Die eine produziert sie selbst, die andere nimmt sie, wie sie gegeben sind.22 Die Philosophie dagegen fragt nach den Bedingungen ihrer Möglichkeit und legt in den Begriff von Objektivität deren Beziehung zum Subjekt hinein. In dem Mißlingen des Unternehmens, die Bedingungen von Erfahrung widerspruchsfrei in der reinen Vernunft aufzuheben, macht die Selbständigkeit der Erfahrungsgegenstände sich geltend.

b.

Zur Darstellung der Antinomien

Die Erste Antinomie ergibt sich daraus, daß hinsichtlich der Kategorie Quantität die gegebene Zeit bedingtes Resultat aller vorhergegangenen Zeiten ist. Der Raum ist zwar Aggregat einander beigeordneter Teile, aber deren Synthesis durchs Subjekt erfolgt wiederum in der Zeit und wird dadurch zu einer geordneten Reihe, in der jeder Teil eine Bedingung des Ganzen darstellt. Daraus ergibt sich die Gegenüberstellung der empiristischen Behauptung, die Welt sei zeitlich wie räumlich begrenzt, mit der doktrinalen Vernunftbehauptung, nach der jene unendlich sei. Beide Thesen werden apagogisch bewiesen, durch Widerlegung der jeweiligen Gegenthese. Hätte die Welt keinen Anfang in der Zeit, so müßte immer schon eine unendliche Zeitreihe abgelaufen sein, die, weil sie unendlich ist, niemals – zu keinem Zeitpunkt – zu dem gegenwärtigen Status hätte gelangt sein können. Was Kant hier zum Argument macht, ist eine Aporie im objektiven Zeitbegriff selbst und wird demgemäß später durch Verweis auf die Subjektivität von Zeit aufgelöst. Wenn Kant formuliert, es sei „bis zu jedem gegebenen Zeitpunkte eine Ewigkeit abgelaufen“, macht er durch die falsche Verwendung des Begriffs ‚Ewigkeit‘ klar, daß von spekulativen Begriffen hier nicht die Rede ist; denn ‚Ewigkeit‘ meint keineswegs „eine unendliche Reihe aufeinander folgender Zustände der Dinge in der Welt“23 , sondern die nicht-zeitliche Beiordnung von Zuständen, in deren Begriff alle Grenzen als solche aufgehoben wären. 22

23

Das Verhältnis von Geistes- und Naturwissenschaften ist komplizierter, als hier darzustellen ist. Wie sehr der dichotomische Charakter der Differenz zweifelhaft ist, wurde in der Diskussion zu Walter Jaeschkes Vortrag Der Geist und seine Wissenschaften auf dem 27. Internationalen Hegelkongreß 2008 deutlich. Jaeschke hatte beide traditionell nach Gegenstandsbereichen unterschieden und gegen die bloß methodische Auffassung argumentiert, daß Unterschiede der Methoden Gründe in den Sachen haben müßten. Gegenstand der Geisteswissenschaften sei aber der Geist selbst. Die Frage, wozu die Mathematik zu rechnen sei, beantwortete Jaeschke dahin, daß sie wohl eher eine Geisteswissenschaft sei. Dann aber ergeben sich erhebliche Schwierigkeiten für die Zuordnung der modernen Naturwissenschaften, die durchgängig mathematisch axiomatisiert sind und insbesondere in ihren reinen theoretischen Abteilungen ausschließlich mathematisch konstruieren. Weiterführen könnte hier Renate Wahsners, ebenfalls auf diesem Kongreß in dem Vortrag Verdirbt die Naturwissenschaft den Begriff des Geistes? (Vgl. Preprint des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte 358, Berlin 2008), vorgetragene Überlegung, daß die Naturwissenschaft ihren Gegenstand immer ‚in der Form des Objekts‘ und die Geisteswissenschaft den ihren immer ‚in der Form des Subjekts‘ nehme. – Kants weitere Auffassung, daß auch reine Mathematik „auf keine andere als bloße Gegenstände der Sinne geht“ (Prolegomena, IV § 11), ist allerdings etwa angesichts irrationaler Zahlen problematisch; sie kann insofern gelten, als der Begriff der Größe auch als negativer von Bestimmungen reiner Anschauung abgeleitet ist. KrV, B 454.

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Die Unendlichkeit der Welt im Raum kann – und auch das antizipiert die subjektive Auflösung des hier nur scheinbar objektiven Problems – nur unter der Bedingung der Zeit vorgestellt werden, in der alle unendlich vielen Teile der ausgedehnten Welt synthesiert würden. Daher verfällt sie derselben Kritik. Umgekehrt würde die Endlichkeit der Welt die Annahme einer leeren Zeit vor ihrer Entstehung und eines leeren Raumes außerhalb ihrer Grenzen erzwingen. Jene leere Zeit wäre in sich ununterschieden, so daß der Zeitpunkt eines Anfangs nicht zu denken wäre; dieser leere Raum wäre – als grenzenloser – durch nichts definiert und daher gar kein mögliches relatum zur Welt, obwohl deren Grenze doch nur durch Relation zu ihm vorstellbar wäre. Auch hier liegt die subjektive Bestimmung von Raum und Zeit deren objektiver Verwendung bereits zugrunde und bestimmt das Absurde der zu kritisierenden Vorstellung. Insofern Kant hier bewußte Verstöße gegen die Resultate der transzendentalen Ästhetik konstruiert, erscheint es problematisch, ob „nicht Blendwerke gesucht“ wurden, sondern wirklich „[j]eder dieser Beweise […] aus der Natur der Sache gezogen“24 sei. Allerdings ist nicht die Antinomie selbst konstruiert, denn sowohl der unendliche Regreß als auch dessen willkürlicher Abbruch heben die Möglichkeit einer einheitlichen Erfahrung auf; Kants Darstellung der Antinomie als fehlerhafte Verwendung des Zeitbegriffs antizipiert jedoch bereits ihre Auflösung, die darauf beruhen wird, daß es in Wahrheit sich nicht um eine Antinomie handele. Das, was sich nach Kant nicht sagen läßt, wird das Resultat dieser Auflösung sein: Die Objektivität wird vom beschränkten Subjekt als ruhig-widerspruchsloses System freigelassen. So weist Kant zwar den Begriff einer ‚schlechten Unendlichkeit‘ als „Größe, über die keine größere […] möglich ist“25 , als falsch zurück, setzt dagegen als „wahre[n] […] Begriff der Unendlichkeit […]: daß die sukzessive Synthesis der Einheit in Durchmessung eines Quantum niemals vollendet sein kann“26 . Wie Hegel anmerkt, bleibt das Unendliche Kants damit eine Größe und demzufolge deren Widerspruch von Kontinuität und Diskretion ausgeliefert.27 Erneut wird deutlich: Es handelt sich bei Kants ‚Ideenlehre‘ nicht um die Konstruktion reiner Vernunftbegriffe, sondern um die Konfrontation von Vernunftprinzipien mit Erfahrungsgegenständen.28 Der reine Begriff von Welt wird als abstrakt-negativer, gehaltloser Begriff abgewiesen; innerhalb der Bedingungen der Sinnlichkeit aber führt jeder Weltbegriff, der für die Vernunft ja Bedingung der Möglichkeit von Objekten überhaupt sein soll, auf Widersprüche. Gerade hier, in der Dialektik, dem einheimischen Reich der Vernunft, setzt sich die Selbständigkeit der Erfahrungsgegenstände gegen eine mögliche idealistische Auflösung im Subjekt derart zur Wehr, daß 24 25 26 27 28

KrV, B 458. KrV, B 459. KrV, B 460. Vgl. G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik. Lehre vom Sein, a.a.O., 240, 189f. Vgl. KrV, B 461: „Es ist hier aber nur von dem mundus phaenomenon die Rede und von dessen Größe, bei dem man von gedachten Bedingungen der Sinnlichkeit keinesweges abstrahieren kann, ohne das Wesen desselben aufzuheben. Die Sinnenwelt, wenn sie begrenzt ist, liegt notwendig in dem unendlichen Leeren. Will man dieses und mithin den Raum überhaupt als Bedingung der Möglichkeit der Erscheinungen a priori weglassen, so fällt die ganze Sinnenwelt weg.“

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diese Selbständigkeit sich mit dem Anspruch auf absolute Einheit der inneren Konstitution der Subjektivität als unverträglich erweist. Die Zweite Antinomie folgt der Kategorie Qualität. Dieser gemäß führt die Räumlichkeit der Materie auf das Problem ihrer prinzipiellen Teilbarkeit. So kollidiert die Behauptung, alles sei entweder aus einfachen Teilen zusammengesetzt oder selbst einfach, mit der, daß nichts Einfaches in der Welt (räumlich) existieren könne. Auch hier argumentiert Kant ad absurdum des jeweiligen Gegenteils. Der Begriff der zusammengesetzten Substanz erfordert nämlich den des Einfachen, weil die Zusammensetzung nur eine relationale, akzidentelle Bestimmung der Substanz ist, die an ihr selbst auf die Möglichkeit der Auflösung verweist. Ist aber die Substanz oder das, woraus sie besteht, nicht selbst etwas Einfaches, Beharrliches, sondern substantialiter Zusammengesetztes, so führt der Begriff der Auflösung auf haltlose absolute Relationalität, absolute Akzidentalität, die soviel ist wie Nichts. Der Begriff der ‚Zusammengesetzten Substanz‘ impliziert mithin den des Einfachen; ein schon fast Hegelisches Verfahren, das Hegel selbst Kant jedoch als petitio principii vorwirft. Indem Kant die analytische Tätigkeit des Gedankens zum Prüfstein macht, ist auch hier die Subjektivität als eigentliches Kriterium der Objektivität antizipiert. Die logische Form, die Kant der Begründung gibt, ist insgesamt brüchig, zumal Kant „unmittelbar“ schließt, „daß die Zusammensetzung nur ein äußerlicher Zustand [der Substanz; M.St.] […] sei“29 . Dies ist tatsächlich nur die Wiederholung einer Behauptung, einer zitierten Eigenschaft des ontologischen Substanzbegriffs, den Kant bereits durch die Kategorialisierung des Substantiellen erschüttert hatte: Ist ‚Substanz‘ ein reiner Verstandesbegriff, so läßt sich mit ihm nicht mehr derart unbefangen ontologisch argumentieren. Der Begriffsdialektik von Einheit und Vielheit30 setzt Kant im Beweis der Antithese die Beziehung der Idee der Einheit auf die Anschauungsform des Raumes entgegen, was auf die Dialektik von Kontinuität und Diskretion führt. Das Zusammengesetzte und seine Teile müssen im Raum sein. Der Raum ist „quantum continuum“31 , seine Teile sind nicht diskrete Punkte, sondern immer wieder Räume; wäre ein Diskretes im Raum denkbar, so wäre es zugleich außerhalb des Raumes und könnte von der durch den Raum konstituierten Anschauung nicht erfaßt werden. Ein Einfaches nun müßte selbst im Raum vorgestellt werden und wäre als ausgedehntes immer teilbar, wenn nicht die Einheit der Erfahrung in sich zerrüttet sein sollte. Kant geht weiter: Das Einfache sei eine bloße Idee, unmöglich aber Gegenstand der Erfahrung. Erfahrung des Einfachen wäre nämlich die, „welche schlechthin kein Mannigfaltiges außerhalb einander […] enthält“, das „Nichtbewußtsein eines solchen Mannigfaltigen“32 . Dieses lasse sich aber nicht als Unmöglichkeit des Bewußtseins eines Mannigfaltigen hinsichtlich des Gegenstandes verstehen; die Negation von Bewußtsein kann nicht Ausgangspunkt eines Beweises sein, sie kann vielerlei Ursachen haben. Deshalb kann jede sinnliche Vorstellung eines Ein29 30

31 32

KrV, B 464. Für deren metaphysischen Ursprünge vgl. Platon, Parmenides, in: Werke, Bd. 5, Darmstadt 1990, 137a ff.; Aristoteles, Metaphysik, a.a.O., 1052a ff., bes. 1054a ff. und 1056b f. KrV, B 211. KrV, B 466.

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fachen Täuschung sein. Das Einfache ist nicht Gegenstand möglicher Erfahrung. Da die Sinnenwelt aber ‚Inbegriff aller möglichen Erfahrung‘ sei, sei das Einfache folglich aus ihr ausgeschlossen. Deutlich baut Kant auch diese Begründung auf der sinnlichen Konstitution des Subjekts auf. Es handele sich nicht um das begriffliche, sondern um das phänomenale Verhältnis von Zusammengesetztem und Einfachem. Weil es aber keine unteilbaren Teile des Raumes gebe, sei in ihm kein Einfaches darstellbar.33 Das Räumliche ist deshalb nicht compositum, sondern totum.34 Insofern die Objektivität auf die durch Erfahrung konstituierte Natur beschränkt ist, kann der Begriff der Einfachheit nur in der privativen Negation der Form der Anschauung durch die Vernunft bestehen. Nun sei zwar das Ding an sich als unbekannte Ursache der Erscheinung kein Gegenstand möglicher Erfahrung, aber doch sei es objektiv. Dadurch wäre mit ihm ein Einfaches in der Welt denkbar. Dieses Residuum objektiver Selbständigkeit wird aber in Kants Konstruktion von Welt ‚eine bloße Idee‘, ens rationis, leerer Begriff ohne Gegenstand: ein Nichts ohne das Subjekt. „Es bringt […] nur das Selbstbewußtsein es so mit sich, daß, weil das Subjekt, welches denkt, zugleich sein eigenes Objekt ist, es sich selber nicht teilen kann (obgleich die ihm inhärierende Bestimmungen); denn in Ansehung seiner selbst ist jeder Gegenstand absolute Einheit.“35 Solche Einheit aber ist nur „die ganz nackte Vorstellung“36 , die logische Form ohne Inhalte, deren Bestimmung sich allenfalls als Abfolge im inneren Sinn – nicht als Zusammensetzung, wozu der äußere Sinn erforderlich wäre – darstellten. Deshalb ist die Behauptung der Einfachheit des reinen Selbstbewußtseins für Kant tautologisch, und die Frage nach Vielheit oder Einfachheit setzt den äußeren Sinn voraus. Die Antinomie der reinen Vernunft ist dann in Wahrheit eine Antinomie im Versuch der direkten, unvermittelten, Verknüpfung von Vernunft und Sinnlichkeit. – Die Möglichkeit einer an der Mannigfaltigkeit reflektierten Einheit der Vernunft – die dann Einheit aus der Vielheit wäre, so wie diese aus der Einheit gesetzte Vielheit wäre – liegt nahe, kommt aber nicht in die Betrachtung, weil die wechselseitige Vermittlung von Subjekt und Objekt – im Unterschied zu Kants Vermittlung aus dem Subjekt – doch beide mit einem Moment von Selbständigkeit voraussetzte: Sonst wäre sie Vermittlung aus dem Nichts, Produktion von relata aus der Bestimmungslosigkeit vormals absoluter Relationalität. Damit wäre das auf Sachhaltigkeit angelegte Subjekt-Objekt-Verhältnis reduziert auf jene Leere, die Kants Vermittlung aus dem Subjekt wohl auch ist, nur daß diese durch ihre logische Widerspruchslosigkeit den Schein sachlicher Konsistenz erwirbt. Die wechselseitige Vermittlung von Subjekt und Objekt hingegen trägt eben durch ihren Widerspruch die nicht zu beruhigende Forderung nach der Sache vor, deren eigene Inkonsistenz zum Skandal des sich harmonisch wähnenden Denkens wird, das sich der Abhängigkeit von dem, das es sich gegenüber gesetzt hat – der Abhängigkeit schon im Gegenübersetzen –, bewußt werden müßte. Die aus der Kategorie Relation sich ergebende Dritte Antinomie, wie dann auch die Vierte, unterscheidet Kant von den ersten beiden ‚mathematischen Antinomien‘ als ‚dy33 34 35 36

Vgl. KrV, B 470. Vgl. KrV, B 467. KrV, B 471. KrV, B 471.

320

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namische‘. Sie seien nicht wie die mathematischen auf die Reihe der Bedingungen in der Dimension der Gegenstände, sondern auf die ihres Daseins gerichtet. Deshalb gingen sie auch nicht nur auf Synthesis von Gleichartigem, sondern möglicherweise auch auf die von Unterschiedenem.37 Die Bedingung des Daseins eines Gegenstandes ist seine Ursache, aus deren Regreß sich das Problem ergibt, daß jede Ursache, wenn sie der Naturkausalität folgt, wieder als Wirkung einer weiteren zu betrachten ist, daß mithin der Regreß unendlich ist. Dem wäre nur durch eine Ursache abzuhelfen, die selbst nicht dieser Schranke der Naturkausalität unterliegt. Diesen anderen Ursachentyp bezeichnet Kant als ‚Kausalität aus Freiheit‘. Gäbe es diese nicht – so stellt Kant wieder apagogisch fest – bliebe der Ursachenregreß ohne Ende, und es ließe sich die Vollständigkeit der Ursachenreihe, die in dem Satz ‚alles hat eine Ursache‘ impliziert ist, gar nicht denken. Eine abgeschlossene Ursachenreihe wäre nur durch eine „absolute Spontaneität der Ursachen, eine Reihe von Erscheinungen, die nach Naturgesetzen läuft, von selbst anzufangen, mithin transzendentale Freiheit“38 denkbar. Dieser Begriff transzendentaler Freiheit ist hier nicht vorderhand auf das Vermögen eines mit Willen und Bewußtsein begabten empirischen Subjekts bezogen, sondern Ausdruck eines Problems rationaler Anforderungen an eine einheitliche Erfahrung, die einen konsistenten Naturbegriff voraussetzt. Deshalb bezeichnet Kant diese Freiheit ausdrücklich als Welt- und Naturbegriff, nicht als praktische Vernunftidee.39 Diese Freiheit beansprucht, eine objektive Vernunftidee zu sein, ein Begriff, der die Beziehung von Subjekt und Objekt auf der Seite des Objekts ermöglicht. Der Versuch, Modelle für diesen objektiven Grund der Subjekt-Objekt-Beziehung anzuführen, erzwingt nun aber – trotz Neutralisierung des Sprachgebrauchs – den vollständigen Wechsel auf die moralische Ebene: Zwar redet Kant von „Substanzen“, denen solche Freiheit zukomme, aber es ist doch die „Freiheit zu handeln“40 . Kant weist wohl alle Bestimmungen empirischer Psychologie zurück und beschränkt den Begriff der Freiheit auf die „absolute[] Spontaneität“41 , aber es ist doch die der „Handlung“, und zwar als Grund ihrer „Imputabilität“. Auch die generalisierende Verwendung dieser Rechtsmetapher vermag letztlich die Bedeutung des sittlichen Handelns von der erkenntnistheoretischen Bestimmung der spontanen Kausalität nicht mehr fernzuhalten. Zwar bestehe die Problematik der Frage, ob es Willensfreiheit gebe, nur in der transzendentalen Möglichkeit, eine Reihe spontan zu beginnen; es ist aber doch wohl das Bewußtsein von der Freiheit des Willens im Verhältnis zur Naturkausalität, die dieses Problem zuerst aufwirft. Anders aber will Kant erkenntnistheoretisch aus dem Schluß auf die Notwendigkeit der Annahme eines spontanen Weltanfangs die Erlaubnis ableiten „mitten im Laufe der 37 38 39 40 41

Vgl. Prolegomena, IV §§ 52 c und 53. KrV, B 474. Vgl. KrV, B 447f. KrV, B 478. KrV, B 476. Vgl. Prolegomena, IV § 53: „Was ich hier anführe [nämlich Handlungsmodelle; M. St.], gilt nur als Beispiel zur Verständlichkeit, und gehört nicht nothwendig zu unserer Frage, welche, unabhängig von Eigenschaften, die wir in der wirklichen Welt antreffen, aus bloßen Begriffen entschieden werden muß.“

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Welt verschiedene Reihen der Kausalität nach von selbst anfangen zu lassen und den Substanzen derselben ein Vermögen beizulegen, aus Freiheit zu handeln“42 . Der transzendentale Freiheitsbegriff ist erzwungen, um den Regreß abzubrechen, und es gibt keine logische Veranlassung, ihn auf bestimmte Zeitpunkte oder auf bestimmte Sorten von Substanzen zu beschränken; er beziehe sich nämlich nicht auf den Anfang in der Zeit, sondern allein auf ein kausales Verhältnis. Transzendentale Freiheit könne so jederzeit in eine laufende Ursachenreihe eine neue einsetzen, der alten somit einen Richtungswechsel aufnötigen und sie als diejenige, die sie war, dadurch abbrechen. Nicht nur das Modell Kants, der vom Stuhl aufsteht, ist selbstredend das eines mit Vernunft und Willen begabten Wesens, sondern die transzendentale Freiheit ist eben immer, wenn sie wirkt, die Freiheit einer Handlung. Der Begriff der transzendentalen Freiheit soll die Konsistenz von Erfahrung garantieren, und zwar der Erfahrung in einer Welt, deren Begriff sonst über unendliche Ursachenreihen sich in nichts auflöste. Kant will aber nicht auf die von ihm durchaus zitierten klassischen Modelle – das kosmologische des unbewegt Bewegenden oder das theologische des Schöpfergottes – zurückgreifen, sondern er will die Einheit der Erfahrung aus dem Subjekt heraus begründen.43 Daher steht das Verhältnis von Subjekt und Objekt der Erfahrung unter ihrem wechselseitigem Einfluß: Kausalität ist nur möglich durch willentlichen Eingriff des Subjekts in den kausalen Ablauf der Objektivität; das Vermögen dieses Eingriffs begreift sich aber zugleich logisch als Komplement der Naturkausalität. Allerdings steht das Vermögen, in den Naturablauf einzugreifen, zur Naturkausalität im Widerspruch. Setzt man nämlich Kausalität als Spontaneität, so impliziert dies neben der Möglichkeit, eine Reihe von selbst zu beginnen, auch einen absoluten Anfang der kausalen Ordnung der Erscheinungen selbst, der als solcher nicht gesetzmäßig bestimmbar wäre: Ein solcher Anfang steht zu den ihm zeitlich vorhergehenden Zuständen in keinem kausalen Verhältnis, was einen Sprung in der Natur bedeutete, den Kant im Abschnitt über die Grundsätze explizit ausschließt.44 Der Versuch, durch Spontaneität vollständige Konsistenz der Erfahrung zu begründen, zerstört somit selbst die Einheit der Erfahrung. Mehr noch: Solche Freiheit, die als gegen die Gesetze blinde Kausalität den Kausalzusammenhang der Erfahrung zerreißt, wäre nicht Gegenstand möglicher Erfahrung, ein ens rationis, soviel wie Nichts. Als Abbruch der gesetzmäßigen Ursachenreihe ist sie Negation des Prinzips der Kausalität und damit „Gesetzlosigkeit“; folgte sie aber den Gesetzen, so wäre sie „nichts anderes als Natur“45 .

42 43

44 45

KrV, B 478. Zur Problematik dieses Vorgehens vgl. Peter Rohs, Kants Unterscheidung zwischen Kausalität nach der Natur und Kausalität aus Freiheit, in: Reinhard Hiltscher/André Georgi (Hgg.), Perspektiven der Transzendentalphilosophie im Anschluß an die Philosophie Kants, a.a.O., 167. Vgl. KrV, B 280ff. KrV, B 447. Vgl. Sich im Denken orientieren, VIII 145: „Die Folge davon [der Maxime der Gesetzlosigkeit; M.St.] ist natürlicher Weise diese: daß, wenn die Vernunft dem Gesetze nicht unterworfen sein will, das sie sich selbst giebt, sie sich unter das Joch der Gesetze beugen muß, die ihr ein anderer giebt; denn ohne irgendein Gesetz kann gar nichts, selbst nicht der größte Unsinn, sein Spiel lange treiben.“ Vgl. ebenso Pädagogik, IX 442, wo Kant ‚Unabhängigkeit von Gesetzen‘ als ‚Wildheit‘ definiert.

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Doch selbst die traditionelle metaphysische Annahme der Ewigkeit der Welt schaffte dasjenige Problem nicht aus derselben, wie denn die bloße Möglichkeit von Veränderungen vor deren bestimmter Erfahrung gedacht werden könnte. Dieses Problem wird auch nicht durch die Annahme einer einmaligen Spontaneität außerhalb der Welt behoben. Ob die bleibende Spontaneität aber – der Kausalordnung transzendent – von außen eingreift, oder ob sie den Substanzen in der Welt zu eigen ist, macht keinen Unterschied: Immer zerstört sie den Begriff der Natur, „weil die Gesetze der letzteren durch die Einflüsse der ersteren unaufhörlich abgeändert und das Spiel der Erscheinungen, welches nach der bloßen Natur regelmäßig und gleichförmig sein würde, dadurch verwirrt und unzusammenhängend gemacht wird“46 . Die Aristotelische Metaphysik reagierte auf dieses Problem mit der Lehre vom unbewegt bewegenden Prinzip (to kinoun akinäton), das nicht als erster Anfang, sondern als ein Prinzip der Zirkularität des Weltlaufs gedacht wurde, in den alle Sekundärursachen verwoben seien.47 Solch ein Prinzip ist entweder ‚nichts anderes als Natur‘ und erlaubt den Begriff der Veränderung nicht, oder es geraten in ihm Spontaneität und Regelmäßigkeit in Konflikt. Die christliche Philosophie reagierte auf die offenbare Spontaneität des göttlichen Willens zunächst mit der Theorie von dessen unmittelbarer Vernünftigkeit, um die Einheit des Naturbegriffs erhalten zu können. Aber auch hier wäre der göttliche Wille, wenn er durch Vernunft beherrscht wäre, nichts Anderes als Natur, sein Inhalt, die Anordnung der Welt, fiele mit der Vorsehung nach logischen Gesetzen zusammen, die zudem noch die Einheit der menschlichen Erfahrung respektieren müßten, soweit nicht explizit Wunder gewirkt würden. Dagegen richtet sich die Lehre vom Willensprimat, eigentlich eine Aufwertung der Willkür, wonach Gott alles wirken kann, was er will, und auch das Gewirkte wieder aufheben kann. Bemerkenswerterweise ist auch diese Spontaneität an den Satz vom zu vermeidenden Widerspruch gebunden, weil sonst nicht einmal die Einheit des göttlichen Bewußtseins möglich wäre: Als sich selbst widersprechend wäre Gott ein absolut verrücktes Bewußtsein und mit ihm die Welt eine in sich verrückte Wirklichkeit, das ‚Narrenspital des universi‘48 , das Kant – aufgrund seines formalisierten Subjektbegriffs auch mit Recht – nicht für ausgeschlossen halten mochte. Selbst jene strikte Spontaneitätsvorstellung ist also noch vom menschlichen Bewußtsein der Notwendigkeit der Einheit der Erfahrung inspiriert. Deshalb ist in der göttlichen Spontaneität auch zu unterscheiden in potentia absoluta und potentia ordinata; nach der ersten ist Gott frei, jede Ordnung zu schaffen, auch eine, in der das Kausalgesetz nicht gilt; nach der zweiten aber kann Gott innerhalb der geschaffenen Ordnung nichts wirken, was deren Gesetzen zuwider wäre, es sei denn er höbe die Ordnung als solche auf.49 Innerhalb des gegebenen Bereichs möglicher Erfahrung kann das Bewußtsein der 46 47 48

49

KrV, B 479. Vgl. Aristoteles, Metaphysik, a.a.O., 1072a. Vgl. Reflexionen zur Anthropologie, XV 211: „Ob nicht alle Menschen in gewisser Weise gestohrt sind (narrenspital des universi). Wiederspruch ihrer Vernunft und Neigung. (zu schlecht vor einen Gott, zu gut vors ungefehr. Zweydeutig Mittelding von Engeln und Vieh.)“ Vgl. Günther Mensching, Das Allgemeine und das Besondere, a.a.O., 249f., sowie Michael Städtler, „Von Gottes Willen können wir zweifach sprechen.“ Naturrecht, positives Gesetz, Vernunft und

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Erfahrung von dem Anspruch auf Einheit nicht abrücken, wenn es nicht sich selbst als Bewußtsein preisgeben will. Werden die dynamischen Kategorien, die aufs Dasein des Objekts gehen, universalisiert zum Zweck der vollständigen Ordnung von Objektivität im Subjekt, so ergibt sich zwangsläufig ein Subjektbegriff, der den empirischen Subjekten entgleitet.50 Diese Problematik bestimmt auch die Vierte Antinomie, die sich aus der Kategorie Modalität ergibt. Durch diese wird zunächst nur der Daseinsmodus von Gegenständen erfaßt. Im Verhältnis von Zufall und Notwendigkeit liegt aber selbst die kategoriale Grundlage der Umwandlung der Kategorien des Verstandes in Ideen der Vernunft: Zufall ist die Kategorie des Einzelnen, Endlichen, Bedingten; Notwendigkeit ist die Kategorie, nach der das Unbedingte zu denken ist. Mit der Notwendigkeit, die in kategorialen Urteilen ausgesprochen wird, ragt die Unendlichkeit der Vernunft in der Tat in die Endlichkeit des Verstandes hinein. Die Verknüpfung von Zufälligem und Notwendigem, die Kant nicht als Reduktion der Reihe des bedingten Zufälligen auf ein unbedingtes notwendig Erstes, sondern als Totalität jener Reihe faßt, fällt aber nicht in den Verstand selbst. Die Vernunft erst vermag dialektisch die Gesamtheit alles Zufälligen als notwendig zu denken, denn dieser Begriff, der kein Gegenstand möglicher Erfahrung ist, ändert empirisch an der Zufälligkeit der Erfahrungsobjekte, an ihrer kategorialen Bestimmung also, nichts. Er faßt lediglich durch die ideale Vorstellung eines Ganzen des Zufälligen den Begriff der Veränderlichkeit als unveränderlichen Ausdruck des Veränderlichen faßt: Die Gesamtheit alles Zufälligen als solche ist keinem Zufall mehr unterlegen, wenn sie nicht größer ist als sie selbst. – Natur soll als Inbegriff der Erscheinungen denkbar gemacht werden. Als dieser Inbegriff reicht sie aber schon über den Naturzusammenhang von Erscheinungen selbst hinaus. Insofern ist die Vierte Antinomie mit der Frage, „ob es endlich eine oberste Weltursache gebe, oder die Naturdinge und deren Ordnung den letzten Gegenstand ausmachen, bei dem wir in allen unseren Betrachtungen stehenbleiben müssen“51 , schon auf die spätere Unterscheidung von kollektiver Einheit des Naturganzen und distributiver Einheit des Erfahrungsgebrauchs hin angelegt.52 Der Modalität nach ist nun jede Bedingung, die wieder eine Bedingung hat, zufällig, da sie ist, nachdem sie nicht war. Aus dieser Zufälligkeit läßt sich entweder hinsichtlich der Vernunftforderung nach Vollständigkeit der Reihe folgern, daß diese auf ein Not-

50

51 52

Wille bei Thomas von Aquin, in: Günther Mensching (Hg.), Radix totius libertatis. Zum Verhältnis von Willen und Vernunft in der mittelalterlichen Philosophie, Würzburg 2010. Peter Euler versucht, das Problem der Spontaneität im Begriff ‚innerer Natur‘ aufzufangen: Diese sei als „vernunftfähige Wesen konstituierende Durchdringung von Trieb und Kultur […] der Existenzgrund von Spontaneität, letztlich subjektive Bildung, Subjektivität“ (Enteignung der inneren Natur als letzte Provokation der Bildung, in: Irmgard Heydorn/Brigitte Schmidt, Traditio lampadis. Das Versöhnende dem Zerstörenden abtrotzen, Vaduz 1989, 68.) Das trägt Adornos Reklamation des somatischen Impulses von Freiheit gegen deren reinen Begriff Geltung (vgl. Negative Dialektik, a.a.O., 228); potentiell freie und vernünftige Wesen sind die Menschen erst in ihrer Reflexion auf die geschichtliche Kultivierung ihrer Natur, und darin liegt immer auch ein gesellschaftliches Moment. Kants reiner Begriff der Sponteneität reflektiert in seiner Leere, ja Ausdehnungslosigkeit, die reale Vereinzelung der Subjekte in deren Subjektivität und hat insofern Notwendigkeit. KrV, B 491. Vgl. KrV, B 610.

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wendiges zurückzuführen sein muß; oder es läßt sich hinsichtlich der Zufälligkeit der Bedingungen in der Reihe folgern, daß es ein solches Notwendiges nicht geben kann. Auch hier verknüpft Kant Vernunft und Sinnlichkeit; so ergeben sich die Schlüsse auf das Sein und auf das Nichtsein eines ‚Urwesens‘ aus demselben Grund: „Erst hieß es: es ist ein notwendiges Wesen, weil die ganze vergangene Zeit die Reihe aller Bedingungen und hiemit also auch das Unbedingte (Notwendige) in sich faßt. Nun heißt es: es ist kein notwendiges Wesen, eben darum weil die ganze verflossene Zeit die Reihe aller Bedingungen (die mithin insgesamt wiederum bedingt sind) in sich faßt.“53 Der Widerspruch rührt daher, daß in der These der Beweisgrund nach der Seite der Vernunftforderung, in der Antithese aber nach der Seite der Sinnlichkeit des Gegenstandes aufgelöst wird. Der Schluß auf das Notwendige ist Kants Absicht zufolge hier keineswegs ein Gottesbeweis,54 wenngleich Kant an anderer Stelle das Notwendige doch als „Urwesen“, von dem die Welt „abstammt“, bezeichnet, um dessen Annahme ein praktisches Interesse beizulegen.55 Um aber ein notwendiges Wesen außerhalb der Weltreihe – selbständig – anzunehmen, genüge nicht die empirische Kontingenz der Gegenstände der Erfahrung, da diese stets sukzessiv sei; das, was jetzt ist, ist nicht zugleich nicht, sondern es war nicht oder wird nicht sein. Dieser Gegensatz ist nicht kontradiktorisch, sondern konträr und kann immer in einem Dritten aufgelöst werden. In der Sinnlichkeit, im Empirischen, ist kein Widerspruch – nicht einmal der Möglichkeit nach – gegeben. Widersprüche sind Verhältnisse von Urteilen und können daher nur gedacht werden. Deshalb ist Zufälligkeit „im reinen Sinn der Kategorie“56 und mit ihr der Schluß auf „das Dasein eines notwendigen Wesens“57 auch nur in Verstandesbegriffen zu konstruieren. Kant antizipiert hier den bei Hegel durchgeführten Übergang vom absoluten Widerspruch in die Notwendigkeit der Grundbeziehung, schließt diesen Idealismus allerdings für den Erfahrungsgebrauch der Vernunft aus und erklärt ihn für transzendent, wissenschaftlich unzulässig. Darin, daß Kant allerdings den Widerspruch aus dem Bereich möglicher Erfahrung ausschließt, indem er alle erfahrbaren Gegensätze als Veränderungen und Bedingungsverhältnisse allein als Bedingungsreihen thematisiert, ist die metaphysische Affirmation aufbewahrt, nach der Widersprüche in der Erfahrung nicht bestehen könnten. Bei Kant sind sie aufgrund der Form der Anschauung aus dieser ausgeschlossen. Die Kategorie Wechselwirkung wird, wie auch schon in der Dritten Antinomie, nicht behandelt; sie fiele allenfalls indirekt unter die Antinomie der räumlichen Vollständigkeit, die Kant sofort der subjektiven Auffassung nach in die zeitliche überführt hatte. Tatsächlich aber sind nach dem Grundsatz der Wechselwirkung Gegenstände der Erfahrung – zumindest im praktischen Bereich – durchaus gleichzeitig vorstellbar und aus der erfahrbaren Konstellation von Eigenschaften läßt sich auf deren kategorial widersprüchliches Verhältnis schließen. Das führte aber darauf, daß eine und dieselbe Erscheinung, eine empirische Handlung zum Beispiel, zugleich zwei widersprechende Ursachen hätte, die dennoch in Wechselwirkung miteinander stünden. Die Vollständigkeit dieses Ver53 54 55 56 57

KrV, B 487. Vgl. KrV, B 484ff. Vgl. KrV, B 494. KrV, B 486. KrV, B 488.

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hältnisses könnte nicht in einem absolut notwendigen Wesen erschlossen werden, wohl aber in einer zwangshaften Notwendigkeit, die jede moralische Maxime zugleich ins Unmoralische verkehrt und gerade dadurch die Zufälligkeit des Systems der Sachzwänge in jeder Handlung offenbart. Durch die strikte Reduktion auf die Bedingungsreihe der Naturerfahrung entgeht Kant solchen Problemen und kommt zunächst in der These der Antinomie zu dem Ergebnis, daß das Notwendige nur Bestandteil der Sinnenwelt sein könne, da es als Anfang von Veränderung zu der Zeitreihe, durch die diese Veränderung bestimmt ist, gehören muß, entweder als Teil der Weltreihe oder als deren Ganzes. So sehr diese Argumentation von den Gottesbeweisen der christlichen Tradition abweicht, gerät sie doch ins Fahrwasser des Pantheismus: Auf der objektiven Seite wäre das die Vorstellung von Gottes Welterhaltung durch permanente Schöpfung, creatio continua, die Gottes Substantialität als Existenzbedingung in allen kontingenten Dingen verortet. Auf der subjektiven Seite wäre es die averroistische Vorstellung vom intellectus separatus, der getrennt existierenden Intellektsubstanz, an der die empirischen, kontingenten Intellekte teilhaben müssen, um ihre allgemein verbindliche Intellektualität zu gewinnen, die sich dann jedoch vom göttlichen Intellekt kaum mehr unterscheiden ließe. Die Notwendigkeit der Weltreihe selbst ist deren Apotheose und damit ist die These der Vierten Antinomie nicht weniger problematisch als ein Gottesbeweis. Diese Apotheose entsteht aber aus dem Versuch, die Notwendigkeit der Vernunft in ein unmittelbares Verhältnis zu den Gegenständen der Sinnlichkeit zu bringen. Das ist schon eine metabasis eis allo genos, deren Wiederholung im Schluß auf den absoluten Widerspruch58 allerdings entweder zu Gott oder zur Preisgabe des Systemanspruchs führen müßte. – Die Knüpfung der Vernunftideen an die Sinnenwelt schließt aber, wie die Antithese zeigt, die Idee eines Notwendigen schlechthin aus, so wie sie dessen Annahme zunächst provozierte. Kants Antinomien sind insgesamt auf dem Dualismus von Vernunft und Sinnlichkeit erbaut und resultieren aus der zuvor als unzulässig erkannten Überschreitung von dessen innerer Grenze, aus den „glänzenden Anmaßungen der ihr Gebiet über alle Grenzen der Erfahrung erweiternden Vernunft“59 . Kants Behauptung, in der Darstellung der Antinomien seien die Ansprüche der Vernunft „von allem Empirischen entkleidet“60 worden, kann nur die partikulare Erfahrung meinen, nicht aber Erfahrung überhaupt oder mögliche Erfahrung, denn im Medium des reinen Begriffs werden die Antinomien keineswegs entfaltet. Damit wird aber derselbe Begriff möglicher Erfahrung, der in der Analytik die Unterschiedenheit der Objekte vom Subjekt aufbewahren soll, als unempirisch bestimmt. In der Tat hat dieser Begriff als Begriff von Erfahrung diesen Doppelcharakter, Erfahrungsobjekte zu meinen, aber sie nur meinen zu können,soweit sie auf ihre allgemeine Repräsentation im Subjekt reduziert und nach dessen Bestimmungen gefaßt sind: Auf Objekte bezogen enthält der Begriff möglicher Erfahrung zuwenig Selbständigkeit der Objekte, auf subjektive Vernunft bezogen zuviel. Das Bewußtsein, in dem das Verhältnis von Subjekt und Objekt rekonstruiert werden kann, ist von vornherein als eines gefaßt, das dieses Verhältnis konstruiert. So denkt sich 58 59 60

Vgl. KrV, B 486. KrV, B 490. KrV, B 491.

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ein Subjekt, das kritisch seine Subjektivität, die reine Vernunft, ermäßigen muß, um mit seiner Objektivität nicht in Konflikt zu geraten; nur so ist es möglich, die Objektivität als a priori vom Subjekt antizipierte greifbar zu machen. Die Konflikte von Vernunft und Wirklichkeit, die das Subjekt praktisch zum Subjekt seiner geschichtlichen Wirklichkeit machen könnten, haben kein explizites correspondant in der spekulativen Vernunft.

c.

Bedingungen der ‚Auflösung‘ der Antinomien

Obwohl die Antinomien erstens aus der Mißachtung der Differenz von Verstand und Sinnlichkeit hervorgehen und zweitens auf ihre beabsichtigten Auflösungen schon immanent ausgerichtet sind, muß Kant eine Reihe von Bedingungen klären, unter denen diese Auflösungen stehen. Das liegt daran, daß jene Mißachtung eben kein bloßer Fehler ist, sondern von der Sache selbst nahegelegt wird. Die Differenz von Sinnlichkeit und Verstand ist für Erfahrungserkenntnis so notwendig wie ihre Vermittlung. Kants Bemühungen in der Antinomik, letztlich in der Dialektik insgesamt, dienen dem Versuch, jene Vermittlung der beiden in der Analytik differenzierten Erkenntnisquellen zu leisten, die in der Analytik selbst nicht geleistet werden kann. Dabei soll die Dialektik aber nicht hinter das strikte Resultat der Analytik zurückfallen. Deshalb wird dieses Resultat von Kant geradezu herausgefordert, auf seine absurde Spitze getrieben, gegen die er dann den Vernunftanspruch auf Einheit von Bewußtsein und Erkenntnis geltend machen will. Aber dafür sind eben einige Bedingungen des Welt- und des Selbstverhältnisses der Subjekte zu erörtern, die zwar aus der Analytik prinzipiell bekannt sind, die aber unter dem Aspekt eines Vernunftanspruchs gegen die Aporetik der Differenz der Erkenntnisquellen nun einer veränderten Darstellung unterzogen werden müssen. Die Problematik, daß aus der spekulativen Vernunft kein Maßstab für ein praktisches Verhältnis zur Objektivität zu folgen scheint, greift Kant auf, indem er den als ‚dogmatisch‘ bezeichneten Forderungen der Vernunft in den Thesen der Antinomien „ein gewisses praktisches Interesse“ konzediert, da sie „Grundsteine der Moral und Religion“61 seien. Dagegen enthielten die ‚empiristischen‘ Antithesen „kein solches praktisches Interesse aus reinen Prinzipien der Vernunft, als Moral und Religion bei sich führen“62 , so daß „die moralischen Ideen und Grundsätze alle Gültigkeit [verlieren] und […] mit den transzendentalen Ideen, welche ihre theoretische Stütze ausmachten“63 , fielen. Dem ‚spekulativen Interesse‘64 der dogmatischen Vernunft, „a priori die ganze Kette der Bedingungen [zu] fassen und die Ableitung des Bedingten [zu] begreifen, indem man vom 61 62 63 64

KrV, B 494. KrV, B 496. KrV, B 496. Vgl. KrV, B 494. Axel Hutter, Das Interesse der Vernunft, a.a.O., stellt dies so dar, daß die Thesen aus dem praktischen und die Antithesen aus dem spekulativen Interesse der Vernunft hervorgebracht würden; beide wurzelten dann „in dem einen Interesse der Vernunft […], das konstitutiv ist, weil es als transzendentales Vernunftinteresse die Wirklichkeit ursprünglich erschließt“ (146). Hutter interpretiert programmatisch die Kritik der reinen Vernunft nicht als Erklärung der Bedingung der Möglichkeit von Wissenschaft, sondern als Entfaltung eines darüber hinausreichenden Vernunftbegriffs (25). Wenn man diesen, bei Kant in praktischer Absicht konzipierten, Vernunft-

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Unbedingten anfängt“65 , stehe allerdings das Interesse des Empirismus entgegen, allein im Bereich möglicher Erfahrung empirische ‚Gesetze‘ zu ermitteln. Dieses Vorgehen ist prinzipiell unbegrenzt, weil der Rekurs auf unendliche Vernunftbegriffe – Ideen – konzeptionell ausgeschlossen ist.66 Das von Kant hier skizzierte aufklärerische Pathos des rast- und ruhelosen Forschers und Entdeckers, dessen Pioniergeist mit der Vorstellung absoluter Weltbegriffe unvereinbar ist, hat allerdings, auch bei Kant, ein spezifisches Subjekt: nicht die Vernunft, sondern den Verstand. Die Antinomie wird insgesamt zum praktischen Problem dadurch, daß die empirische Unbeschränktheit der Verstandestätigkeit, die auch von der Vernunft keine Schranke akzeptiert, zugleich deren für Moralbegriffe unabdingbaren Absolutheitsanspruch auszuschließen scheint. Moralbegriffe, deren Realisierung in der unendlichen Überschreitung von Bedingungsgrenzen bestünde, wären irreal. Hier zeichnet sich theoretisch das praktische Problem ab, daß Moral, selbst wenn es gelänge, sie in der rein isolierten praktischen Vernunft absolut zu denken, bei ihrer Realisierung in der durch den Verstand konstituierten Sinnenwelt auf massive gegenständliche Hindernisse stoßen muß. Kants Vorbehalte gegenüber der Preisgabe der Empirie an eine rational absolut konstituierte Welt haben aber durchaus auch ihre praktische Berechtigung, denn in einer absolut vernünftigen Welt – das hat die Vorstellung vom Vernunftwillen Gottes gezeigt – wäre menschliche Praxis stillgestellt als Regression zu Gott im cursus einer Heilsordnung. Deshalb strebt Kant eine Lösung an, in der nicht „der Empirismus in Ansehung der Ideen (wie es mehrenteils geschieht) selbst dogmatisch wird […], weil dadurch dem praktischen Interesse der Vernunft ein unersetzlicher Nachteil verursacht wird“67 . Er soll lediglich „eine Maxime der Mäßigung in Ansprüchen“68 der Vernunft vertreten, dergemäß diese Ansprüche „in Ansehung des praktischen Interesses gelten“ können, ohne „für eine Beförderung des spekulativen Interesses“69 zu gelten. Der in der nominalistischen Formalisierung der Philosophie logisch aufgehobene metaphysische Anspruch auf systematische Einheit der Welt – konsequent vertreten durch die grundsätzlich teleologische Form von Metaphysik – ist es, der die Architektonik der Vernunft bestimmt, die Eigenschaft, „alle Erkenntnis als gehörig zu einem möglichen

65 66

67 68 69

begriff auf die Erkenntnistheorie ausweitet, erhält man eine idealistische Interpretation, in der Problemtitel als ursprüngliche Einsichten geführt werden. KrV, B 495. Vgl. KrV, B 496f. In diesem Sinne argumentiert noch Strawson, Die Grenzen des Sinns, a.a.O., 127f., gegen die Einheit von Wahrheit, Objektivität und Selbstbewußtsein. – Wenn man gegen diese Kritik an solchen Begriffen festhalten will, muß man sich allerdings darüber klar sein, daß ihre erkenntnistheoretische Funktion zugleich normativ ist. Faktisch herrscht allemal Pluralität in der Welt- und Selbstauffassung der Menschen, wie sie von der alltagssprachlich gewendeten Philosophie beschrieben wird. Tatsächlich ist kein Selbstbewußtsein mit der Welt, wie sie ihm erscheint, in Einklang zu bringen; das demonstrieren Flexibilisierung und Austauschbarkeit der Subjekte. Was bleibt ist die Forderung der Subjekte nach Identität ihrer selbst, ohne die sie nicht wissen können, ob sie gerade heteronomen Zwecken folgen oder nicht. KrV, B 499. KrV, B 498. KrV, B 498.

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System“70 zu betrachten. Kant erkennt hierin die Natur der menschlichen Vernunft, denn für Vernunft als solche ist das keine natürliche Bestimmung. Sie folgt vielmehr der Notwendigkeit der gegenständlichen subjektiven Träger der Vernunft, sich in der ebenso gegenständlichen Wirklichkeit zu orientieren. Die Einheit der Erfahrung, ohne die solche Orientierung unmöglich wäre, wird durch den Verstand hergestellt, bedarf aber der Einheit der Ideen der Vernunft und der Einheit der Vernunft selbst, des vernünftigen Selbstbewußtseins mithin, um als systematische Ordnung begriffen werden zu können. Deshalb spricht nach Kant auch ein architektonisches Interesse der Vernunft für die Ideen in den Thesen der Antinomien. Die Vernunft ist aber nicht allein der Ort des Grundes der Einheit des Bewußtseins, sondern sie ist auch der einzige mögliche Ort des Zweifels an Identität. In der Wahrnehmung werden keine Widersprüche gegeben, in der Erfahrung können sie durch den Verstand rekonstruiert werden, aber nur unter der Voraussetzung der Identitätsforderung der Vernunft. Die Reflexion schließlich auf das Verhältnis des Systemanspruchs zu Brüchen des Systems, die in der Erfahrung identifiziert wurden – eine dem Systemanspruch widersprechende Erfahrung genügt –, kann allein in die Vernunft fallen. Der reine Widerspruch kann keine Kategorie des Verstandes sein, weil er als konstitutiver Verstandesbegriff die Einheit der Erfahrung aufhöbe. Fehlstellen im System können formal von der Vernunft getragen werden,71 auch ohne sie aufzulösen, so daß sie weder zu systematischen Elementen nivelliert werden müssen, noch die Einheit der Erfahrung oder der Verstandeserkenntnis notwendig zerstören. – Wohl aber berühren solche Fehlstellen die Einheit des Selbstbewußtseins, das auf die technisch-praktische Orientierung und Reproduktion seines subjektiven Trägers in der Welt reflektieren kann. In dieser Reflexion wird es dessen inne, daß die erkenntnistheoretische Relation von Subjekt und Objekt vor dem Vernunftanspruch auf Vollständigkeit widersprüchlich erscheint, obwohl sie vor dem Verstandesanspruch auf jene technische Praxis sich doch als gültig erweist. Findet die Vernunft aber einen Grund, ihre architektonische Organisationsleistung der Erkenntnis in deren grundsätzlich unbeschränkter Geltung zu bezweifeln, so ist ihre Natur in sich gebrochen. Der Hebel, über den dieser Bruch erfolgt, sind die empirischen Subjekte von Vernunft, deren Reproduktion die Vernunft doch nur unter Voraussetzung einer kosmologischen Teleologie als allgemein möglich ausweisen kann. Diese Teleologie muß aber zugleich die menschlichen Lebensverhältnisse ergreifen und tilgt dadurch nicht bloß die Möglichkeit von Geschichte, sondern stilisiert Wissenschaft zum Selbstzweck. Die Reflexion auf den Bruch zwischen Vernunftanspruch und wissenschaftlicher Praxis – daß diese nicht in absoluten Begriffen aufgeht – ermöglichte es erst, Wissenschaft überhaupt als Praxis zu begreifen, als kollektive Tätigkeit, die auch der Produktion und

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KrV, B 502. Es kann nicht genug betont werden, daß dies bei Kant unter dem Titel ‚Architektonik‘ gemeint ist, und nicht eine immanente Ordnung von Vernunftabteilungen und -funktionen. Dies wäre bestenfalls Innenarchitektur, nicht eine der Vernunft substantiell zukommende Eigenschaft, auf systematische Einheit auszugehen. Vgl. G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik. Lehre vom Sein, a.a.O., 232.

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der erweiterten Reproduktion menschenwürdiger Lebensverhältnisse dienen könnte.72 Das aufklärerische Ideal von Wissenschaft als Fortschritt um der eigenen Vollständigkeit willen ist im Grunde nicht über das metaphysische Kontemplationsmodell hinaus, so sehr auch Wissenschaft experimentell Natur zurichtet. Die systematische und zugleich systemkritische Verbindung von Theorie und Praxis ist erst noch zu erkennen und herzustellen.73 – Der „unaufhörlich schwankende[] Zustand[]“74 der uninteressierten Vernunft ist nun keine ontologische Bestimmung von Vernunft überhaupt, sondern eine Reflexionsform der gegenläufigen Vernunftinteressen, deren Darstellung bei Kant ihrerseits schon Reflexionsform der Interessiertheit der historischen Subjekte ist. Die idealen Ansprüche reiner Vernunft sind Reflexion der Bedingungen der Einheit der Erfahrung und widerständische Isolation gegen die Erfahrung zugleich. Nun räumt Kant ein, die kosmologischen Ideen müßten „ihren Gegenstand und die zu dessen Begriff erforderliche empirische Synthesis als gegeben voraussetzen können; und die Frage, die aus ihnen entspringt, betrifft nur den Fortgang dieser Synthesis, so fern er absolute Totalität enthalten soll, welche letztere nichts Empirisches mehr ist, indem sie in keiner Erfahrung gegeben werden kann“75 . Obwohl – oder gerade weil – die Ideen Reflexionsformen der Gegenstände der Erfahrung sind, betreffen sie Gegenstände, die „nirgend anders als in unseren Gedanken gegeben werden“76 . Durch diesen Kunstgriff werden die Antinomien der Ideen auflösbar, denn sie beruhen nicht auf dem Verhältnis der Ideen zu Gegenständen, sondern allein im Vernunftgehalt dieser Ideen selbst. Damit sind sie der Selbstkritik der Vernunft vollständig zugänglich, wie auch die Aporien der von Kant ausdrücklich als reine Geisteswissenschaft bezeichneten Mathematik und Morallehre.77 Selbst die Ideen reiner Moral sollen als Reflexionsformen der Praxis von allen Bedingungen der Praxis frei sein. Durch die vollständige Ablösung der Ideen von den Gegenständen der Erfahrung werde eine Auflösung der mit den Ideen verbundenen Probleme möglich, die ohne Objektivitätsansprüche rein im Denken zu völliger Gewißheit führe.78

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Vgl. Ludwig Siep, Konkrete Ethik, a.a.O., 185: „Eine konkrete Ethik, der es um Normen des technischen Umgangs mit der Natur […] geht, muss dazu die wissenschaftliche Erklärung der Welt in den Natur[wissenschaften] […] einbeziehen.“ Vgl. Frank Kuhne, Selbstbewußtsein und Erfahrung bei Kant und bei Fichte, a.a.O. Kuhne identifiziert die mangelnde Reflexion auf das Verhältnis von transzendentaler Einheit des Selbstbewußtseins, empirischer Einheit des Selbstbewußtseins und Einheit des empirischen Selbstbewußtseins als erkenntnistheoretischen Ausdruck des problematischen Verhältnisses von Theorie und Praxis (46, 58ff., 166). Über die Einsicht in den Charakter der Wissenschaft als gesellschaftlicher Praxis erweisen sich jene drei Einheiten als Momente subjektiver Identität. – Klaus Düsing, Selbstbewußtseinsmodelle, a.a.O., 43, geht dagegen von einem „komplex strukturierten Verhältnis[] von transzendentalem und empirischem Ich bei Kant“ aus. KrV, B 503. KrV, B 507. KrV, B 509. Vgl. KrV, B 508. Vgl. KrV, B 512.

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Indem das Subjekt die objektiven Bedingungen der Reflexion von deren Resultaten, den Ideen, absetzt, macht es sich aber mittelbar umso stärker zum Prinzip der Objekte: Es stellt die Ideen als gegenüber den Objekten selbständige reine Produkte der Subjektivität vor. Tatsächlich sind diese Produkte aber an der Objektivität negativ vermittelt, ohne sie nicht denkbar. Das Subjekt erlangt deshalb in den Ideen nur eine scheinhafte Selbständigkeit. Diese scheinhafte Selbständigkeit verstellt die substantielle Selbständigkeit des Subjekts, mit der es gegenüber den Objekten agieren, nicht bloß reagieren könnte. Die substantielle Selbständigkeit ist ihrerseits nicht ontologisch isoliert zu haben, sie ist Ausdruck der Reflexion des Subjekts auf seine eigene Objektivität, genauer: Sie kann nur bestehen in dem Vollzug dieser Reflexion selbst, deren Bewußtsein ein Moment von Unmittelbarkeit in der eigenen Vermitteltheit zu entdecken und damit zu realisieren vermag. Die Möglichkeit der Verschränkung von Subjekt und Objekt reflektiert Kant durchaus in der Feststellung, daß die Idee, je nach welcher Seite der Antinomie sie aufgelöst werde, dem durch sukzessiven Regreß bestimmten Erfahrungsbegriff entweder zu klein oder zu groß sei: wenn der unendliche Regreß angenommen würde, zu groß, wenn dessen absoluter Abschluß angenommen würde, zu klein. Diese Relation könnte nämlich immer in ihren reziproken Gegensatz umgekehrt werden, so daß etwa nicht die Idee dem Begriff zu groß, sondern dieser für jene zu klein sei. Dieses reziproke Verhältnis löst Kant auf mit dem Hinweis darauf, daß mögliche Erfahrung das Kriterium der Unterscheidung bloßer entia rationis von objektiv realen Begriffen sei.79 In dieser Auflösung unterstellt Kant der Bildung der Idee einen Zweck, und zwar den, Erfahrung zu ermöglichen. Subjektivität wird dadurch scheinbar eine Funktion der subjektiven Konstitution von Objektivität; – tatsächlich ist sie eine Funktion der subjektiven Konstitution von Objektivität, die dadurch selbst zum Ausdruck von Subjektivität wird. Verräterisch ist Kants Beispiel: Wenn eine Kugel nicht durch ein Loch paßt – in einem mathematischen Verhältnis zweier Objekte also – lasse sich nicht entscheiden, ob die Kugel zu groß oder das Loch zu klein sei. Passe einem Menschen aber ein Kleidungsstück nicht, sei es immer der Mensch, der die richtige Größe habe, weil er den Zweck bestimme. Bezogen auf das Verhältnis von Erfahrung und Idee soll daraus folgen, daß jene diese begrenze, weil Erfahrung den Zweck der gesamten Erkenntnis bestimme. Vernunft, Selbstbewußtsein, wird so zu einem Mittel der empirischen Orientierung des Subjekts unter objektiven Bedingungen. Tatsächlich sind diese objektiven Bedingungen aber schon durch den Verstand konstituiert: Die zweckmäßige Unterordnung der Vernunft unter die Objektivität akklamiert somit die – später zu entwickelnde – Vorstellung aus der Analytik, derzufolge die Objektivität durchs Verstandessubjekt erst bestimmt wird; Selbständigkeit der Vernunft dagegen verwiese wieder auf die Objekte als Objekte, deren Vernunftbegriff nicht immer umstandslos der Verstandesdiagnose dessen, was ist, sich fügt. Der transzendentale Idealismus setzt voraus, daß nur Anschauungen Gegenstände von Erfahrung sein können, nicht aber Raum und Zeit, in deren Formen sie gegeben sind. Ebensowenig ist das den Gegenständen zugrundeliegende transzendentale Objekt selbst Gegenstand von Erfahrung, es kann nur aufgrund dessen, was in der Anschauung gegeben ist, erschlossen werden. Dadurch wird der Begriff der Totalität seinem möglichen 79

Vgl. KrV, B 517.

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Gehalt nach doch vollständig durchs Erfahrungssubjekt beschränkt. Gerade die Prävalenz der Erfahrung antizipiert aber die subjektive Dominanz übers Objekt. Was nicht aktuell gegeben ist, kann als Vergangenes nur Objekt sein, wenn es in der Reihe der Bedingungen des Gegebenen in antecedentia enthalten, also nach Erfahrungsgesetzen Bedingung gegenwärtiger Erfahrung ist; als Zukünftiges, oder mögliche Erfahrung, kann es nur Objekt sein, wenn es nach Regeln der Erfahrung im Fortgang derselben zum Objekt wird. Zwar läßt sich darüber nichts sagen, aber wohl läßt sich sagen, daß selbst diese problematische Objektivität bloß unter den Gesetzen der Erfahrung denkbar ist.80 Alle Gegenstände, die außerhalb des aktuell Gegebenen liegen, sind „für mich nichts, mithin keine Gegenstände, als sofern sie in der Reihe des empirischen Regressus enthalten sind“81 . Die Reprise der Differenz von Ding an sich und Erscheinung und ihre Variation am Material des Regresses der Bedingungen exponiert zugleich Kants Lösung der Antinomie: Der Satz, daß mit dem Gegebensein des Bedingten zugleich alle Bedingungen gegeben seien, gilt nur von Dingen an sich, beziehungsweise als logische Folgerung, außerhalb der Bedingungen der Sinnlichkeit, denn innerhalb dieser ist die Reihe der Bedingungen niemals gegeben, bevor sie in der Sukzession der Synthesis hergestellt wird. Kant formuliert, hier sei die Reihe wohl „aufgegeben“82 , das heißt, ohne die Antizipation der Reihe ist das Bedingte nicht sinnvoll in die Einheit der Erfahrung zu integrieren, aber eine andere Daseinsform als die problematische der Antizipation haben die Glieder der Reihe dann nicht. Der Regreß ist, solange er nicht durchgeführt ist, bloß „ein logisches Postulat der Vernunft: diejenige Verknüpfung eines Begriffs mit seinen Bedin80

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Auf die Asymmetrie von Zukunft und Vergangenheit weist in verwandtem Zusammenhang Peter Rohs hin: Vgl. Kausalität aus Freiheit, a.a.O., 37; 43f. KrV, B 524. – So arbeitet Geschichtsforschung, die sich nicht mit dem Hererzählen partikularer Fakten begnügt, bis hin zur naturgeschichtlichen Suche nach dem ‚missing link‘; nicht allein dessen unbekannte Objektivität wird durch den kausalen Zusammenhang mit den zu verbindenden Zuständen begründet, auch diese zusammenhangslosen Zustände selbst sollen durch das missing link ihre systematische Stelle und dadurch erst vollends Gegenstandscharakter erhalten: Sonst sind sie unbestimmte oder mangelhaft bestimmte Partikulare. Daraus folgt aber auch die fatale Konsequenz, daß vergangene Ereignisse, die nicht geschichtswirksam wurden, die nicht als subalterna dieses kausal zu rekonstruierenden Geschichtsverlaufs fungieren und in dieser Funktion aufgehen, zwangsläufig den fahlen Schimmer des Unwirklichen erhalten. Geschichtsschreibung ist deshalb aber nicht bloße Geschichte der Sieger (vgl. Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, a.a.O., 254), sondern – schlimmer noch – auch die der zweckmäßig Unterlegenen. Die Sieger gedenken stets derjenigen Opfer, die ihnen als Opfer nützlich waren. Das Verschwinden der Anderen – wie „Matrosen, die man auf einer Insel vergessen hat“ (Charles Baudelaire, Der Schwan, in: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 3, München 1975, 231) – macht Geschichte zu der brutalen Selbsttäuschung, mittels derer die Menschen die objektiven Brüche ihrer Subjektivität seit je gekittet haben. Schon Odysseus muß für den sinnlos betrunken vom Dach gefallenen Elpenor einen Gedächtniskult zelebrieren, damit dieser gleich den ‚sinnvoll gefallenen‘ Gefährten im Hades aufgenommen und so konstitutiv ins kollektive Gedächtnis und Selbstbewußtsein eingeschrieben werde (vgl. Homer, Odyssee, Stuttgart 1992, X. Gesang und Michael Städtler, Sterben als zweckgerichtete Tätigkeit? Ein Beitrag zum Verhältnis von Erinnerung und Gemeinschaft, in: Hegel-Jahrbuch 2002, sowie zum Kontext dens., Das Leben denken: Zu welchem Zweck?. Der Zusammenhang von Herrschaft und Selbstbewußtsein bei Hegel, in: Hegel-Jahrbuch 2007). KrV, B 526.

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gungen durch den Verstand zu verfolgen und so weit als möglich fortzusetzen, die schon dem Begriffe selbst anhängt“83 . Im Schluß der Antinomie gilt daher die 1. Prämisse, daß mit dem Bedingten die Reihe der Bedingungen gegeben sei, rein kategorial als logische Verknüpfung. Das in der 2. Prämisse gesetzte Bedingte aber gilt als Gegenstand der Erfahrung; die Verknüpfung beider in der Konklusion ist unzulässig, weil – selbst bei Reduktion der 2. Prämisse auf bloß mögliche Erfahrung – deren Gegenstände einer Sukzession und damit der Zeit unterliegen, die logische Verknüpfung in der 1. Prämisse aber nicht. Da dieser Fehler sowohl der These wie der Antithese zugrunde liegt, sind beide in ihrem Anspruch, etwas über Gegenstände auszusagen, zurückzuweisen; allein, der notwendige Widerstreit der Vernunft bleibt bestehen, weil beide auch einzeln logisch nicht zu widerlegen sind. Die Auflösung muß die Gegenstandslosigkeit beider Seiten – „daß sie um nichts streiten“84 – nachweisen. Diese Gegenstandslosigkeit der Antinomie bestehe nun darin, daß der Gegensatz von These und Antithese bei allen Antinomien nicht kontradiktorisch, sondern dialektisch, scheinhaft, sei. Endlichkeit und Unendlichkeit der Welt widersprechen sich nur, wenn diese Welt als Ding an sich genommen wird. Unter der Voraussetzung, daß sie als solches nicht gegeben ist, also ihre Größe für uns nicht Gegenstand werden kann, erweisen sich beide Prädikate – hinsichtlich aller Antinomien – als falsch, weil dann Ideen der Vollständigkeit auf Erscheinungen angewandt werden, die als solche immer partikular sind; die Welt existiert „weder als ein an sich unendliches, noch als ein an sich endliches Ganzes. […] Die Reihe der Bedingungen ist nur in der regressiven Synthesis selbst, nicht aber an sich in der Erscheinung als einem eigenen, vor allem Regressus gegebenen Dinge anzutreffen“85 . Aufschlußreich ist Kants Behauptung, aus den Antinomien ließen sich Widerlegungsbeweise zugunsten des transzendentalen Idealismus führen: Weil die Annahme der Realität der Erscheinungen auf einen Widerspruch aus zwei falschen Sätzen führe, folge als Bedingung der Möglichkeit eines vermittelnden dritten die transzendentale Idealität der Erscheinungen. Nun hatte aber erst die Annahme des transzendentalen Idealismus auf die Einsicht in jene Widerspruchsdialektik geführt, aus der er nun indirekt bewiesen werden soll. Einerseits wird durch diesen Zirkel die Vernunftdialektik als bloßes Spiel von entia rationis, als eine Verirrung der Vernunft in sich selbst, vorgestellt, aus der aber indirekt an allen Enden die Erfahrung hervorspringen soll, und zwar als eine von Dialektik und Antinomie ganz unberührte: „Der Widerstreit der daraus gezogenen Sätze entdeckt aber, daß in der Voraussetzung eine Falschheit liege, und bringt uns dadurch zu einer Entdeckung der wahren Beschaffenheit der Dinge als Gegenstände der Sinne.“86 Die Beschaffenheit der Dinge, deren Reflexion die Vernunft in Antinomien stürzte, ist für Kant das Wahre; die Widersprüche der Vernunft fallen nicht in deren Verhältnis zu ihren Gegenständen, sondern in die Vernunft selbst allein, weil sie die Gegenstände als ihre Gegenstände vorstelle und sich so nur mit sich beschäftige. Als Ausdruck dieser 83 84 85 86

KrV, KrV, KrV, KrV,

B B B B

526. 529. 533. 535.

D A   V

333

Selbstbestimmung der Vernunft, aus der nur ihre Selbstbeschränkung folgen könne, hätten sie Legitimität. Das zu betonen, ist Kant so angelegen, daß er sich zu einer Phrase hinreißen läßt: „Diese Anmerkung ist von großer Wichtigkeit.“87 Indes ist die Selbstisolation schon der spekulativen Vernunft Bedingung und Ausdruck der Reflexion der Vernunft auf ihr inadäquates Verhältnis zu den Gegenständen. Bedingung von Reflexion ist die Isolation, weil nur das reine identische Subjekt Maßstab der Inadäquanz von Gegenständen sein kann. Ausdruck von Reflexion ist die Isolation, weil sie nur als Negation des ihr Inadäquaten überhaupt zu denken ist. Das problematische Verhältnis der Vernunft zur Gegenständlichkeit ihrer Gegenstände verweist auf Defizite der Praxis: Auch reine praktische Vernunft kann nicht im Verhältnis zu ihren Gegenständen, sondern muß rein in sich selbst bestimmt werden. – Gerade weil nun die Objekte nur im Verhältnis zur Einheit des Subjekts Gegenständlichkeit haben, ist diese Einheit in sich gebrochen. Dies ist nicht Ausdruck der Vernachlässigung der Erfahrung, sondern der formal ins Subjekt ragenden Selbständigkeit der Objekte der Erfahrung, die selbst nie unmittelbar gegeben sind, sondern durch die Form, wie sie gegeben sind, an ihrer Selbständigkeit angegriffen. Eine subjektive Wendung der Antinomie erlaubt nun ihre produktive Anwendung: Wenn der Vernunftanspruch auf Vollständigkeit nicht auf objektive sondern auf subjektive Vollständigkeit bezogen wird, ist er der Grundsatz, zu jeder Bedingung immer wieder eine weitere Bedingung aufzusuchen, die perennierende Aufgabe des Regresses, verkürzt um die Vorstellung seiner Abschließbarkeit. Diese „Regel“88 steht zwischen reiner Vernunft und Erfahrung, da sie weder aus reinen Vernunftsätzen Gegenstände konstituiert – was auf Widersprüche führte –, noch konstitutiv für die Gegenstände der Erfahrung ist, die in den Grenzen der Sinnlichkeit definiert sind. Sie ist ein „regulatives Prinzip der Vernunft“89 , das der je begrenzten Erfahrung aufgibt, die Grenze nicht absolut, sondern bloß empirisch zu nehmen. So ist es das Prinzip von Forscherdrang und Pioniergeist ebenso wie das der Erfahrungsverhaftung aller wissenschaftlichen Erkenntnis.90 Sie ist das Prinzip der Subjektivität von Wissenschaft, die, indem sie sich selbst Grenzen zieht, tatsächlich auch ihre Objekte einbeschreibt in die Gestalt, die eine widerspruchsfreie Kongruenz von Subjekt und Objekt in der ruhigen Einheit des Selbstbewußtseins ermöglicht. Der Begriff des Unendlichen muß daher an eine subjektiv-empirische Verfahrensweise gebunden werden und wird so zum Begriff des Unbestimmten, so daß „nur gesagt werden könne: daß, so weit ich auch zurückgegangen bin, niemals ein empirischer Grund angetroffen werde, die Reihe irgendwo für begrenzt zu halten, so daß ich berechtigt und zugleich verbunden bin, zu jedem der Urväter noch fernerhin seinen Vorfahren aufzusuchen, obgleich eben nicht vorauszusetzen“91 . Kant hält auch hier an der quantitativen Fassung des Unendlichen fest, damit es als Resultat des Quantifizierens unter Zeitbedingungen, nicht als dessen begrifflich-qualitative Voraussetzung zu fassen sei. Das Unend87 88 89 90 91

KrV, B 535. Es ist ja nicht so, daß die Kritik der reinen Vernunft ansonsten belanglos wäre. KrV, B 536. KrV, B 537. Vgl. Prolegomena, IV § 46. KrV, B 540.

334

D  F  S

liche als Begriff, selbst aufgehobenes Negatives, Negation der Negation, bezöge seine Geltung zwar auch aus dem Subjekt, beanspruchte aber zugleich, etwas Gültiges übers Objekt zu sagen, dessen Gültigkeit nicht allein in der Erfahrung gründe. Kant ahnt, daß im absoluten Wissen der Fortschritt von Wissenschaft und mit ihm alle Kultur stillgestellt wären und proklamiert dagegen die Unbestimmbarkeit des Unendlichen als Regel der unaufhörlichen Erforschung des Endlichen, die sich aber deshalb niemals übers Endliche zu erheben vermag. Unter Voraussetzung dieses Wissenschaftsbegriffs bleibt aber auch Kultur praktisch innerhalb der Grenzen der technisch-praktischen Organisation des endlichen Daseins; eine Verbindung von Kultur und Moralität ist so nicht denkbar. Der regressus in infinitum ist denkbar nur in Beziehung auf ein gegebenes Ganzes, dessen Teile aufgesucht werden sollen, weil hier jedes mögliche Glied der Reihe mit dem Ganzen gegeben ist. So ist zum Beispiel der Inhalt einer geometrischen Figur infinitesimal zu berechnen. Diese Einschränkung ist nötig, weil sonst die Mathematik unmöglich würde, da sie mit solchen Unendlichen rechnet, die empirisch nicht darstellbar sind, deren Möglichkeit aber gewiß ist. – Der regressus in indefinitum dagegen stellt die Aufgabe, zu einem Bedingten immer noch eine weitere Bedingung aufzusuchen, deren Ausführung „in unbestimmte Weite“92 führt, wo die möglichen Glieder der Reihe eben nicht schon in einem Ganzen virtuell gegeben sind: „Denn ihr habt entweder keine Wahrnehmung, die euren empirischen Regressus schlechthin begrenzt, und dann müßt ihr euren Regressus nicht für vollendet halten, oder habt eine solche eure Reihe begrenzende Wahrnehmung, so kann diese nicht ein Teil eurer zurückgelegten Reihe sein (weil das, was begrenzt, von dem, was dadurch begrenzt wird, unterschieden sein muß), und ihr müßt also euren Regressus auch zu dieser Bedingung weiter fortsetzen und so fortan.“93 Gegenüber dieser an der Endlichkeit von Erfahrung orientierten Dialektik wäre es – mit Hegel – für die Vernunft die Grenze selbst – und nur sie allein –, die den Regreß ins Unendliche führte, denn der von Kant reklamierte Unterschied des Begrenzenden vom Begrenzten ist begrifflich die Einheit beider. Er ist die Grenze, die das Begrenzte auf das Begrenzende als seine Bedingung verweist. Ohne Grenze geht es, sozusagen, nicht weiter in der Begriffsdialektik. Die Aufhebung der Grenzen als Motoren schlechter Unendlichkeit gelänge nicht in der Idee der Vollständigkeit aller Grenzen, sondern allenfalls in der Idee der Negation der Negativität der Grenzen; in dieser Idee wäre nicht die Vollständigkeit von Erfahrung gegeben, sondern Erfahrung würde durch sie allererst geöffnet, weil sie nicht mehr bloß Funktion von Subjektivität wäre. Diese Negation der Negation fiele aber – da irrt Hegel – auch nicht in die Selbstentfaltung des Begriffs zur Idee, sondern sie wäre erst durch die Reflexion der Subjekte auf die Widersprüche ihrer Beziehung zu den Objekten möglich. Aus Kants Absicht, die mögliche Einheit der aufs Unendliche gehenden Vernunft zu begründen, ergab sich erst die Notwendigkeit, nachzuweisen, daß Ideen keine konstitutiven Prinzipien seien; nun soll ihre Gültigkeit als regulative Funktionen für die Synthesis des Verstandes begründet werden, wodurch „der Streit der Vernunft mit sich selbst völlig geendigt [werde], indem nicht allein durch kritische Auflösung der Schein, der sie 92 93

KrV, B 541. KrV, B 543.

D A   V

335

mit sich entzweiete, aufgehoben worden, sondern an dessen Statt der Sinn, in welchem sie mit sich selbst zusammenstimmt“94 , aufgezeigt werde. Diese Harmonie der Vernunft soll aber erzeugt werden gerade durch die Verlegung der Widersprüche in die Vernunft, durch ihre Entfernung aus dem Objekt; einer antinomischen Objektivität nämlich wäre keine einheitliche Vernunft adäquat. Die Vernunft, nun Ort der Antinomie, schränkt sich selbst soweit ein, daß ihr antinomischer Charakter nicht im Gebrauch an den Objekten offenbar wird, deren eigene Antinomie dadurch ebenso verborgen bleibt. So sei ein Grundsatz der Vernunft „gerade eben so viel, als ob er wie ein Axiom (welches aus reiner Vernunft unmöglich ist) die Gegenstände an sich selbst a priori bestimmte“95 . Er gilt als Regel des Verstandesgebrauchs und bestimmt so dessen fortschreitende Konstitution der Objektivität. Durch die Ermäßigung der Idee zur regulativen erhält sie eine ‚doktrinale‘96 Funktion analog den Grundsätzen; sie soll „den größtmöglichen Verstandesgebrauch in der Erfahrung den Gegenständen derselben angemessen bestimmen“97 . Wenn Kant dies als ‚subjektive Bedeutung des dialektischen Grundsatzes‘98 bezeichnet, weil der Verstandesgebrauch thematisch ist, subsumiert er doch zugleich die Gegenstände der Erfahrung unter dieselbe subjektive Bedeutung des Grundsatzes: Die Definition des Verstandesgebrauchs ist zugleich eine Erweiterung aufs größtmögliche und eine Beschränkung aufs größtmögliche. Die Grenze wird durch die Anmessung an die Gegenstände ermittelt. Ist die Begrenzung selbst subjektive Tätigkeit, so muß auch das Kriterium der Grenzziehung ins Subjekt fallen. Diese Begrenzung des Verstandesgebrauchs ist die Eingemeindung aller Gegenstände möglicher Erfahrung in dessen Gebiet, schon deshalb, weil sie als Bestimmungen seiner Grenze immer sowohl in das Gebiet fallen als auch nicht. Nur die Seite, nach der sie nicht hineinfallen, ihre selbständige Bestimmtheit, will Kant ausschließen, weil deren Berücksichtigung keine widerspruchsfreie Einheit des Bewußtseins gestattete. Kants Beschränkung der Vernunft auf Regeln des Verstandesgebrauchs ist damit keine Kritik an einer Subjektivierung der Objekte, sondern der Versuch, die Widersprüche, die durch die Vernunft dabei aufgedeckt werden, zu vermeiden. Dadurch werden die Objekte umso gründlicher an Subjektivität gebunden. Allerdings zieht nicht Kant diese Konsequenz, sondern erst der kritisch an ihn anschließende Idealismus. Gleichwohl ist sie in der systematischen Form angelegt, die Kant der philosophischen Erkenntnis gibt.

d.

Zur ‚Auflösung‘ der mathematischen Antinomien

Wenn nun die Vernunft unvermeidlich in jene Widersprüche fällt, kann eine Lösung des Problems nicht durch die Auflösung der Antinomien erreicht werden. Demzufolge sehen Kants programmatische Überschriften auch nicht die Auflösung der Antinomien vor, sondern die Auflösung der Ideen, deren Betrachtung auf die Antinomien geführt 94 95 96 97 98

KrV, B 544. KrV, B 544f. Vgl. KrV, B 544. KrV, B 544. Vgl. KrV, B 544.

336

D  F  S

hatte.99 Aus dem Nachweis der Scheinhaftigkeit der Vernunftideen selbst ließen sich Argumente entwickeln, durch die auch die resultierenden Widersprüche ihres Scheins zu überführen wären: „Von zwei einander widersprechenden Sätzen können nicht alle beide falsch sein, außer, wenn der Begriff selbst widersprechend ist, der beiden zum Grunde liegt“100 . Kants Auflösung der Idee der Totalität aber beruht auf deren strikter Funktionalisierung für Erfahrungserkenntnis, wodurch sie auf ein quantitatives, ‚schlecht‘ Unendliches beschränkt bleibt, so daß der Ausgangsfehler der Antinomien die falsche Erhebung eines Erfahrungsbegriffs zu einer Vernunftidee ist. Unter Voraussetzung dieser Begriffe von Unendlichkeit oder Vollständigkeit kann die Welt als sogenannte Weltreihe nur als Resultat des empirischen Regresses vom Bedingten zu den Bedingungen vorgestellt werden, der keine absolute Grenze haben kann, weil deren Erfahrung die unmögliche Erfahrung der jenseitigen Leere, die Abwesenheit von Raum und Zeit, implizierte. Damit ist unmittelbar die regulative Funktion der Idee der Totalität gegeben, die bloß dazu anleitet, im Regreß fortzuschreiten. Dieser Fortschritt ist aber umgekehrt auch keiner ins Unendliche, weil dies ebensowenig in einer Erfahrung, die Bestandteil oder Summe des Regresses wäre, gegeben werden kann. Der Fortschritt geht daher immer nur in unbestimmte Weite und gibt niemals überhaupt eine Anschauung der Weltgröße. Weil man sich „allererst einen Begriff von der Weltgröße durch die Größe des empirischen Regressus machen“101 müßte, dieser aber „keine Größe im Objekt bestimmt“102 , muß das „Weltganze […] im Begriffe“103 schließlich als Illusion erscheinen; wahre Begriffe des Unendlichen oder der Totalität kann es nicht geben. Deshalb folgt aus der Auflösung der Idee des Weltganzen wohl, daß die Welt keine Grenze habe, nicht aber, daß sie unendlich sei, sondern bloß, daß der Regreß, der ihre Größe ermitteln soll, in indefinitum geht. Hier kehrt sich die Beschränkung des Erfahrungsgebrauchs des Verstandes in dessen Erweiterung um: Die affirmative Vorstellung von Unendlichkeit stellte den unbestimmten Regreß im Begriff still. Wird dagegen Unendlichkeit zur Regel, den Verstandesgebrauch immer weiter auszudehnen, so ergibt sich die Möglichkeit, das Weltganze – bislang allein begrifflich gedacht – potentiell dem empirischen Verstandesgebrauch zu subsumieren. Dadurch wird die Konstitution der Objektivität durchs Subjekt weit über den bestimmten Erfahrungsgebrauch hinausgetrieben, bis in deren elementare Zusammensetzung hinein. Das erlaubt der Begriff der möglichen Erfahrung, dessen begriffliche 99

100

101 102 103

Vgl. KrV, B 545, B 551, B 560, B 587; jeweils die Überschriften. Dies wird meist übersehen. Vgl. Herbert Schnädelbach, Vernunft, a.a.O., 91. Ihm zufolge gelingt die Auflösung der Antinomien, weil die Antithesen hinsichtlich der Erfahrung immer im Recht seien, die Thesen aber bloß gedankliche Notwendigkeit ausdrückten. Kant kommt es aber darauf an, durch die Ideen die Erfahrungserkenntnis systematisch zu organisieren, ohne sie doch spekulativ zu überschreiten. Erst die Regulativität, die den Ideen das Ideale nehmen soll, schafft hier vorerst Erleichterung. Prolegomena, IV § 52 b. Kants Sprachgebrauch ist allerdings nicht einheitlich. In § 54 ist von der „Auflösung des Widerstreits der Vernunft“ die Rede; diese setzt allerdings die Kritik der Ideen voraus, die nicht aufgegeben werden können, wenn in ihnen sozusagen stellvertretend die Widersprüche ausgetragen werden sollen. KrV, B 547. KrV, B 548. KrV, B 546f.

D A   V

337

Unbestimmtheit angesichts wirklicher Erfahrung Kant nun praktisch wendet: Es sei „der Fortschritt von Erscheinungen zu Erscheinungen geboten, sollten diese auch keine wirkliche Wahrnehmung (wenn sie dem Grade nach für unser Bewußtsein zu schwach ist, um Erfahrung zu werden) abgeben, weil sie dem ungeachtet doch zur möglichen Erfahrung gehören“104 . Auch dieses Vorgehen zeigt indirekt, daß die Antinomie der Vernunft auf ein Moment von Selbständigkeit in den Objekten weist, das verstörend in die Vernunft hineinreicht: Denn die Aufhebung der Antinomie dient der Erweiterung der konstitutiven Funktion des Verstandesgebrauchs. Allerdings mutet Kant dem Verstand in dieser Absicht zu viel zu. Die Gegenstände der Erfahrungserkenntnis beruhen auf dem, was in der Anschauung gegeben ist. Dasjenige, dessen Erscheinung „dem Grade nach für unser Bewußtsein zu schwach ist, um Erfahrung zu werden“105 , ist aber in keiner Anschauung gegeben, mithin ist es keine Erscheinung. Wie soll nun das, was nicht Erfahrung werden kann, „zur möglichen Erfahrung gehören“106 ? Solche Erfahrung wäre nur für ein Bewußtsein ‚möglich‘, das nicht an die Bedingungen der Sinnlichkeit gebunden wäre; ein solches Bewußtsein hat aber keine Erfahrung. Die Anschauung des Atoms, die scheinbar durchs Elektronenmikroskop vermittelt wird, ist nicht die Anschauung des Atoms, sondern die einer Wirkung der Anwendung der Meßapparatur aufs Atom, so wie jede Darstellung nicht sichtbarer oder hörbarer Größen oder Frequenzen immer nur die Anschauung des Ausschlags von Meßinstrumenten gewährt.107 Zwischen dem anschauenden Subjekt und dem scheinbar zur Anschauung gebrachten Objekt liegen mit der Apparatur deren mathematische Bedingungen, die nicht auf eine empirische Reihe ins Unbestimmte oder auch Unendliche zu gründen sind, sondern einen mathematisierten Begriff des Unendlichen voraussetzen, mit dem allein sich rechnen läßt. Dieser Begriff kann, wie Kant zeigt, nicht Resultat von Erfahrung sein, es muß ihn aber geben, und er muß sogar in Beziehung zur Erfahrung stehen, denn sonst wäre keine technisierte Gestalt mathematischer Resultate möglich. So zeigt sich gerade in der ‚reinen Geisteswissenschaft Mathematik‘ die Differenz von selbständiger Subjektivität und Objektivität ebenso wie deren Verschränkung. Wie Kants Grundlegung der Metaphysik, führt auch die Grundlegung der Mathematik, zum Beispiel in der Mengenlehre, auf Aporien und Antinomien der Vernunft, deren axiomatische Lösung ebenso wie bei Kant durch Definition des Anwendungsbereichs die Anwendung selbst widerspruchsfrei machen soll.108 104 105 106 107

108

KrV, B 550. KrV, B 550. KrV, B 550. In besonderer Weise gilt dies für die Verwendung bildgebender Verfahren in der Hirnforschung. Nicht ein Gefühl, ein Wille oder ein Gedanke werden sichtbar gemacht, sondern ein Meßergebnis, dessen Interpretation übrigens bereits in das Meßverfahren eingegangen ist, keineswegs aber dessen Resultat wäre. Vgl. hierzu, neben dem klassisch gewordenen Aufsatz von Thomas Nagel, Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?, in: Manfred Frank (Hg.), Analytische Theorien des Selbstbewußtseins, a.a.O., jetzt vor allem Christine Zunke, Kritik der Hirnforschung. Neurophysiologie und Willensfreiheit, a.a.O. Vgl. Jürgen Schmidt, Mengenlehre I, Mannheim 1966, 27ff. und Oskar Becker, Grundlagen der Mathematik in geschichtlicher Entwicklung, Frankfurt am Main 1975, 324ff. Der Versuch, das Subjekt mit seinem Objekt in ein widerspruchsfreies Verhältnis zu bringen, geht ohne das Mo-

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D  F  S

Unter der Bedingung der Knüpfung der Idee von Unendlichkeit und Totalität an Erfahrung hat diese Idee auch hinsichtlich der Teilung eines gegebenen Ganzen keinen Bestand. Unter Beiseitsetzung der Annahme, das Gegebene bestehe aus einfachen Teilen – die undenkbar ist, weil dann die Erscheinung nicht kontinuierlich wäre, was wieder einen leeren Raum zwischen den discreta erforderte – ist hier wohl von einem Regreß ad infinitum zu sprechen, und zwar gerade deshalb, weil die Erscheinung als begrenzte der Anschauung gegeben ist. Nur was außerhalb der aktuellen Erfahrung liegt, muß unbestimmt bleiben. Das gegebene Ganze kann bestimmtermaßen immer wieder in Teile zerlegt werden, ins Unendliche. Die unendliche Teilbarkeit ist aber nicht umzuwenden in die Behauptung, das Gegebene bestehe aus unendlich vielen Teilen, weil diese Teile erst mit dem Regreß der Teilung gegeben werden. Wären sie vorher, als Teile eines gegliederten organischen Ganzen, gegeben, so wären sie als quanta discreta „jederzeit einer Zahl gleich“109 . Wie der Raum selbst, dessen Teile immer wieder teilbare Räume sind, weil die vollständige Aufhebung von Zusammensetzung des Raumes diesen selbst aufhöbe, sind auch Erscheinungen im Raum unendlich teilbar. Nur der Verstandesbegriff der Substantialität des Objekts verweist auf eine unbedingte, nicht zerlegbare Grundlage. Dem Objekt in der Erscheinung hingegen kommt Substantialität nur zu, insofern es „beharrliches Bild der Sinnlichkeit“110 ist und „nichts als Anschauung“111 . Auch hierdurch soll das Objekt bis in unendliche Verästelung seiner Komposition der Konstitution des Subjekts unterworfen werden. Tatsächlich operiert Kant mit einem Begriff von Unendlichkeit, der längst kein Erfahrungsbegriff mehr ist, denn die Teilung von Teilen ist schon recht bald kein Gegenstand möglicher Erfahrung mehr, und ihre Antizipation durch die Vernunft ist mehr als bloße Anweisung auf Erfahrung. Sie exponiert nämlich einen Begriff von Unendlichkeit in der Reflexion auf die Aporien immer endlicher Erfahrung. Dies ist ein Begriff, der ohne negative Beziehung auf Erfahrung nicht darstellbar ist, der aber deshalb, weil er nur durch negative Beziehung auf Erfahrung darstellbar ist, auch kein Resultat von Erfahrung sein kann. Für Kant bleibt er aber Anweisung auf Erfahrung, weil auch in dieser Negation die Trennung von Subjekt und Objekt, die zugleich deren Verflechtung ist, durchscheint. Mit der Differenz von Teilbarkeit und Teilung gelingt Kant wohl eine Auflösung der Zenonischen Aporien. In diesen war der Vernunftbegriff von Unendlichkeit konfundiert mit dem unendlichen Regreß in der Dekomposition sowie in der Komposition und mit der unzulässigen empirischen Verwendung des Vernunftbegriffs. Im Kern geht Kants Argument aber nicht über das Aristotelische hinaus, das Teilbarkeit und Geteiltheit be-

109 110 111

ment gewaltsamer Unmittelbarkeit von Axiomatik nicht ab, die immer die Grenzen des Subjekts bestimmt und immer die Domestizierung des Objekts bezweckt. Einsicht in die Notwendigkeit der Widersprüche vermöchte aber keineswegs, Mathematik auszusetzen oder nur zu verändern; sie vermöchte aber das instrumentelle Bewußtsein von ihrer Wissenschaft, das Mathematiker heute lernen, infragezustellen. Für Philosophie, die auf jene Grundlagen und deren Anwendung reflektiert, ergibt sich unmittelbar die Aufgabe der Kritik des Verhältnisses von Subjektivität und Objektivität im Bewußtsein. KrV, B 555. KrV, B 553. KrV, B 554.

D A   V

339

ziehungsweise organische Gliederung unterscheidet.112 Bei Aristoteles sind Teilbarkeit und Teilung aber noch objektive Bestimmungen, wenngleich die Differenz nur dann das Problem löst, wenn mit der Teilbarkeit ein Moment von Subjektivität, die am Objekt nichts setzt, verknüpft wird. So blieben aber Subjekt und Objekt als verschiedene Seiten einander gegenüber, deren Vermittlungsgrundlage ontologische Voraussetzung blieb. Diese ontologische Voraussetzung – konsequent mit dem unbewegt Bewegenden als reiner Widerspruch bestimmt – blieb das Postulat der Vereinbarkeit des Uneinigen. Kants radikale Subjektivierung macht das Objekt ganz und in jedem seiner Teile zum Konstitutum. Die Antinomie, die Aristoteles als Sophismus entlarven wollte, ohne den Unterschied aufzuheben, wird damit auf ganzer Linie zum Schein. Kant löst die Antinomien der Vernunft durch Auflösung der ihr zugrundeliegenden Ideen: Werden diese als unzulässig erwiesen, so sind beide Thesen der Widersprüche falsch, weil ihnen falsche Begriffe von Totalität, Unendlichkeit oder Unbedingtheit zugrunde liegen. Damit wären die Antinomien – zunächst bezogen auf die mathematischen Kategorien – von vornherein keine Widersprüche, sondern bloß konträre Gegensätze, dessen Sätze nicht zugleich wahr, wohl aber zugleich falsch sein können. Kant gelingt dies aber nur durch Verlagerung des Ortes des Gegensatzes in den subjektiven Verstand, weil jeder Rest von Selbständigkeit im Objekt sich dem Verstand als unbegreifbar entgegenstellte. Die Vernunft, die Kant zufolge theoretisch die Welt nicht konstituiert, kann diesen Gegensatz nicht aufheben, gerade weil sie von ihm durchdrungen ist. Der Verstand, als Instrument der Konstitution von Erfahrung verstanden, weiß von solcher Selbständigkeit nichts. Diese Auflösung der Antinomien durch subjektive Identifikation ihrer Seiten ist Auflösung der Ideen, des selbstbewußten Gehalts von spekulativer Vernunft selbst, die als reine zur bloßen Form wird, dergemäß Erfahrung ihre Regeln faßt. Darin ist negativ das objektive Moment von Hegels Idee antizipiert, in der durch objektive wie subjektive Selbständigkeit der reinen Vernunft – unabhängig von Erfahrung – die Versöhnung der Widersprüche gelingen soll. In dieser Idee kann solche Versöhnung aber noch weniger als bei Kant gelingen, weil die Vernunft, die sich der Erfahrung entschlägt, ebenso in sich kollabiert wie der Verstand, der sie selbst produziert. Die mathematischen Antinomien der reinen Vernunft erweisen sich als Bestandteile des wissenschaftsgeschichtlichen Hintergrundes menschlicher Naturerkenntnis. Damit zehren sie zugleich von der Geschichte der Menschen überhaupt, von der die Wissenschaftsgeschichte ein integraler Teil ist: Die Möglichkeiten für die Entwicklung von Wissenschaften hängen eng mit der sozialen und politischen Organisation der Menschen zusammen. Zwar ist die Geltung der Resultate von Wissenschaft an ihre notwendige und allgemeine Begründbarkeit geknüpft, die unabhängig von geschichtlichen Bedingungen gilt; aber was überhaupt Gegenstand von Erkenntnis wird und wie Erkenntnis ihrerseits in den Gang der Geschichte eingeht, ist durchaus kontingent. Ebenso kontingent ist damit das Bewußtsein, das Menschen von sich, von ihrem denkenden Verhältnis zueinander und zur Welt, haben. Dieser Kontingenz unterliegt auch die Frage, wie mit Widersprüchen in der erkenntnistheoretischen Reflexion der Naturerkenntnis umzugehen sei. Ihre Verlegung ins Subjekt zeugt zugleich von Hochachtung vor der Subjektivität, 112

Vgl. Aristoteles, Physik, Halbbd. 2, Hamburg 1987, 239b f. Hier findet sich auch die Darstellung der Aporien des Zenon.

340

D  F  S

die solche Antinomien auffangen könne, und von Mißachtung der empirischen Subjekte wie der Natur, auf die sie sich praktisch beziehen: Die Vermittlung von Widersprüchen wird dieser Praxis entzogen.

e.

Zur ‚Auflösung‘ der dynamischen Antinomien

Die Verlagerung des Grundes der Antinomie ins Subjekt ermöglicht nun für Kant auch ihre Auflösung bezogen auf die dynamischen Kategorien, mit dem Unterschied, daß hier beide Thesen wahr sein können, daß es sich der Form nach also um einen subkonträren Gegensatz anstelle eines Widerspruches handelt. Wenn manches bedingt, anderes unbedingt, manches notwendig, anderes zufällig ist, ergibt sich kein Widerspruch. Die Differenz zu den mathematischen Antinomien ist darin begründet, daß deren Reihen immer „Synthesis des Gleichartigen“113 sind, weil sie sich auf Teile von Anschauung, bestimmt durch Raum und Zeit, beziehen. In den Bedingungsverhältnissen von Kausalität und Modalität ist aber auch die Verknüpfung von Ungleichartigem möglich. Während nun in der Synthesis des Gleichartigen nach Quantität und Qualität jede Bedingung des sinnlich Gegebenen wieder sinnlich gegeben und deshalb jede Bedingung der Reihe immer ein Teil derselben ist, kann in der Synthesis des Ungleichartigen die Bedingung der Reihe des Sinnlichen durchaus selbst intelligibel sein und außerhalb der Reihe liegen. So wäre der stets bedingten Reihe ein Unbedingtes, das als intelligibel denkbar ist, zuzuordnen, und sowohl These wie Antithese der Antinomie hätten einen Gegenstand. Die Gegensätze von Freiheit und Natur, sowie von Notwendigkeit und Zufall werden damit auch ins Subjekt verlegt, das in seiner Zweiseitigkeit als vernunftbegabtes Sinnenwesen den Gegensatz von Subjekt und Objekt in sich reproduziert, als dessen Einheit aber Vermittlung gewährt. Tatsächlich zersprengt diese Reflexion das Subjekt in zwei Seiten, auf deren sinnlicher alles bedingt, auf deren intelligibler aber alles unbedingt ist. Die Distinktion ist dualistisch, im Begriff der sich äußernden Subjektivität, der Handlung, reproduziert sich daher die Antinomie; der Übergang von Vernunft zu Sinnlichkeit bleibt gebrochen, wenn es nicht gelingt, eine objektive Konstitution des Subjekts selbst zu denken, in der dieses sich als Produkt seiner selbst nur verstehen kann, insofern es bis ins Innerste von den Rückwirkungen der geschichtlichen Manifestation seiner Objektkonstitution durchdrungen ist: Die Form, die das weltbestimmende Subjekt dem Gegebenen dadurch gab, daß dies nur als durchs Subjekt Gegebenes galt – die theoretische und praktische Verwandlung der Dinge in ‚Gegebenes‘ – macht das Subjekt schließlich umgekehrt zum Resultat der zugerichteten Welt. Diese ‚Zurichtung‘ meint nicht die theoretische Rekonstruktion der Welt, sondern die praktische Herstellung grotesk menschenfeindlicher Lebensbedingungen, die historisch mit der wissenschaftlichen Überwindung der natürlichen Beschränkungen menschlicher Reproduktion einhergeht, indem Herrschaft Bedingung von Wissenschaft wird und dadurch diese in den Dienst nimmt. Kants dualistisches Subjekt ist durch seine Brüchigkeit über sich hinausgetrieben, um zu sich selbst zu kommen; ohne externen Haltepunkt bleibt dies aber ein abstrakter Trieb. 113

KrV, B 558.

D A   V

341

Kant maskiert die geschichtliche Konstitution des Subjekts in dessen brüchigem Selbst, indem er die objektiven Momente des Bruchs nicht bezeichnet. So bleibt Geschichte – auch die vorangegangene – aber als bloße Möglichkeit stillgestellt. Der Grund dieser Stillstellung – die objektive Unmöglichkeit des Subjekts, seine eigene Objektivität zu denken – muß seinerseits gedacht werden als Bedingung der Möglichkeit, Stillstellung zu durchbrechen. Diese Möglichkeit wird aber nur eröffnet, wenn die Stellung des theoretischen Subjekts zur Geschichte bewußtgemacht wird. Es ist den Subjekten aber unmöglich, mit positiven Verstandesbegriffen oder Ideen sich selbst als Funktion der eigenen Vorstellung von Objektivität zu erkennen; die selbstbestimmte Überwindung dieser Funktionalität – Verweigerung gegen die Abhängigkeit von der menschengemachten Heteronomie – erfordert erst recht negative Reflexion: Nur Distanz zur bewußten Geschichtlichkeit des eigenen Denkens – zu dessen Zusammenhang mit den historischen Bedingungen, unter denen gedacht und unter denen Denken praktisch wird – öffnet Geschichte dem bewußten Eingriff.

(A.) Zur ‚Auflösung‘ der Dritten Antinomie Im praktischen Freiheitsbegriff ist das selbstbewußte Verhältnis von Subjektivität und Objektivität in der Bestimmung von Autonomie durch Negation von Heteronomie – Freiheit im positiven und im negativen Verstande – aufgehoben. Dagegen erscheint die Möglichkeit, eine kausale Reihe spontan anzufangen, nur als formale Hülle praktischer Subjektivität, die zunächst die Problematik des Verhältnisses von Subjektivität und Objektivität im Selbstbewußtsein reflektiert. „Die Freiheit ist in dieser Bedeutung eine reine transzendentale Idee, die erstlich nichts von der Erfahrung Entlehntes enthält, zweitens deren Gegenstand auch in keiner Erfahrung bestimmt gegeben werden kann“114 . Diese Idee ist nach Kant Resultat der Reflexion der Vernunft auf die Aporie im Verstandesbegriff der Kausalität, demzufolge keine „Totalität der Bedingungen im Kausalverhältnisse herauszubekommen ist“115 . Für die Vernunft entsteht dieses Problem, weil der nach empirischen Gesetzen konstituierte Naturzusammenhang ohne einen denkbaren Anfang als ganzer kein Dasein haben könnte; und solch ein Anfang müßte außerhalb des Zusammenhanges liegen, selbst keine Bedingungen haben. Die Auffassung dieser Idee als Regel, immer weiter nach Ursachen zu suchen, könnte das Problem nicht lösen, weil die ganze Größe, die in der Erfahrung ohnehin nicht gegeben sein kann, wohl unbestimmt bleiben durfte, das Dasein, das immer in der Erfahrung gegeben ist, muß aber als bestimmt denkbar sein. Weil es nun bei der Unbestimmtheit nicht bleiben kann, weil ein problematischer Begriff des Daseins gerade überwunden werden soll, ist für Kant die Beantwortung der Frage nach der transzendentalen Möglichkeit von Freiheit allein nicht zureichend. Sie muß an einem Modell assertorischer Freiheit entwickelt werden. Insofern ist es von Anfang an die transzendentale Möglichkeit der menschlichen praktischen Freiheit, die Kant untersucht.

114 115

KrV, B 561. KrV, B 561.

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Das unvermittelte Zitat des praktischen Freiheitsbegriffs und dessen Verknüpfung mit dem transzendentalen116 ist daher kein bloßes moralisches Autoritätsargument für die transzendentale Freiheit, denn nicht allein „würde die Aufhebung der transzendentalen Freiheit zugleich alle praktische Freiheit vertilgen“117 , sondern mit dieser auch die Bedingung der Möglichkeit eines konsistenten Bewußtseins vom Dasein der Objekte, mithin die Möglichkeit konsistenter Subjektivität selbst. Konsistente Subjektivität – Einheit des Selbstbewußtseins – ist aber Bedingung der Möglichkeit, Zwecke zu setzen, Bedingung der Möglichkeit für moralische wie für technische Praxis sowie für deren Verbindung in geschichtlicher Praxis. In der Notwendigkeit der Annahme des Vermögens spontaner subjektiver Eingriffe in den Zusammenhang der Objekte für die Möglichkeit, diesen Zusammenhang selbst denken zu können, spiegelt sich die Rückwirkung der Konstitution der Objektivität in die Subjektivität. Die Frage ist nun, wie „in Ansehung eben derselben Wirkung, die nach der Natur bestimmt ist, auch Freiheit stattfinden könne“118 . Entscheidend ist die Voraussetzung des transzendentalen Idealismus, daß die Erscheinungen nicht ontologische Wirklichkeit sind, sondern daß ihnen etwas zugrunde liegt, das selbst nicht Erscheinung ist und darum sich der kategorialen kausalen Konstitution durchs Erfahrungssubjekt entziehen kann: „Wenn wir der Täuschung des transzendentalen Realismus nachgeben wollen: so bleibt weder Natur noch Freiheit übrig.“119 Nur durch Rückzug auf den transzendentalen Idealismus bleibt der Kausalzusammenhang der Erfahrung erhalten, weil auch die möglichen spontanen Wirkungen der intelligiblen Ursachen der Erscheinungen in den Erscheinungen nach kausalen Gesetzen verlaufen können, obgleich sie nicht naturkausalen Ursprungs sind. Die Reihe bleibt kausal bestimmt, ihre absolute Ursache liegt außerhalb ihrer. Kants Proklamation: „sind Erscheinungen Dinge an sich selbst, so ist Freiheit nicht zu retten“120 erscheint geradezu als Überstilisierung einer transzendentallogischen Bedingung, weil – genau besehen – erstens längst nicht jedem Ding an sich die Eigenschaft der Spontaneität zukommen dürfte und zweitens bei dem Subjekt, dem sie zukommt, die Unterscheidung in Erscheinung und Ding an sich gerade hinsichtlich der Freiheit erhebliche Schwierigkeiten zur Folge hat. So beginnt Kant die Exposition seiner Lösung im allgemeinen erkenntnistheoretischen Rahmen: „Ich nenne dasjenige an einem Gegenstande der Sinne, was selbst nicht Erscheinung ist, intelligibel.“121 Erst im Fortschritt der Durchführung macht er die mensch116 117 118

119 120 121

Vgl. KrV, B 561. KrV, B 562. KrV, B 564. Daß Kant die Verknüpfung von Naturkausalität und Kausalität aus Freiheit für bloß möglich hält, ist schon Ausdruck der Trennung von theoretischer und praktischer Vernunft. Tatsächlich impliziert schon das Bewußtsein von Kausalität den Grund von Freiheit, denn sonst müßte dieses Bewußtsein eine bloße Folge von Naturkausalität, mithin selbst Natur sein. Schon die Einheit der Apperzeption und die konstitutiven Verstandesleistungen haben ein Moment von Freiheit, das allerdings in der Ununterscheidbarkeit von transzendentalem Subjekt und transzendentalem Objekt verschwindet, weil das Subjekt so keinen von ihm unterschiedenen Gegenstand zu einer möglichen Handlung hat. KrV, B 571. KrV, B 564. KrV, B 566.

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liche Willkür zum Substrat der Darstellung.122 Gleichwohl ist schon zu Anfang, ganz unvermittelt jedoch, von „Handlung“123 die Rede, und der ‚Gegenstand der Sinne‘, mit dem Kant begann, heißt plötzlich „Subjekt“124 . Die Unterscheidung von intelligiblem und empirischem Gegenstand erlaubt es nun, demselben Objekt, sogar hinsichtlich desselben Ereignisses, neben seiner naturkausalen Wirkung in der Erscheinung eine intelligible Ursache beizulegen, die nicht in den Erfahrungszusammenhang integriert ist. Diese intelligible Kausalität bezieht sich auf die „Handlung, als eines Dinges an sich selbst“125 . Schon an dieser grundlegenden Stelle ist die Handlung ihrem Kern nach kein empirischer Sachverhalt, sondern allein auf die intelligible Bestimmung der Willkür im Subjekt bezogen, die sich allen Erfahrungszusammenhängen entziehen soll. Davon unterscheidet Kant die „gegebene Handlung“126 , womit die Wirkung jener intelligiblen Handlung in der Erscheinung bezeichnet wird. Das Verhältnis von intelligibler und empirischer Ursache soll also darin bestehen, daß jene dem Subjekt als einem Ding an sich, diese demselben als Erscheinung zukomme. Dabei sei die ‚gegebene Handlung‘ die Wirkung der ‚Handlung, als eines Dinges an sich‘. Um diese Kausalfunktionen des Subjekts als prinzipiell bestimmte voneinander unterscheiden zu können, wendet Kant den moralischen Begriff des Charakters in eine theoretische Bestimmung: „Es muß aber eine jede wirkende Ursache einen Charakter haben, d. i. ein Gesetz ihrer Kausalität, ohne welches sie gar nicht Ursache sein würde.“127 Der Charakter, der seinem ursprünglichen Sinn nach durch Konsequenz in der unmittelbaren Willensbestimmung durch Vernunft,128 durch ausgebildete moralische Anlage129 gekennzeichnet ist, wird auf die abstrakte Bedeutung der Regelmäßigkeit kau122 123 124 125 126 127 128 129

Vgl. KrV, B 574. KrV, B 566. KrV, B 566. KrV, B 566. KrV, B 580; vgl. auch B 573: „Handlung in der Erscheinung“. KrV, B 567. Vgl. KpV, V 152 und 72. Vgl. Anthropologie, XII 324. In pädagogischen Zusammenhängen spricht Kant allerdings gelegentlich davon, daß „durch Beispiele und Anordnungen“ „ein[] moralische[r] Character zu begründen“ sei (Pädagogik, IX 488). Kant versucht, der Lehre vom Tugendhabitus dadurch auszuweichen, daß die „Pflichten […] aus der Natur der Sache gezogen werden“ müssen (ebda.). Einen anderen Versuch macht Marcus Willaschek, Praktische Vernunft, a.a.O.: Seinen intelligiblen Charakter verschaffe man sich dadurch, daß auf Seiten des empirischen Charakters nur noch legale Handlungen ausgeführt würden. So entstehe durch lauter Einzelfallentscheidungen unter der zeitlosen Perspektive der Vernunft eine Wandlung des intelligiblen Charakters. Deren materielles Substrat, die Einzelhandlungen, verliefen zwar in der Zeit, aber die Wandlung selbst erscheint für die Vernunft als zeitloser Grund der Einzelhandlungen: „Das Ideal einer unendlichen Folge legaler Handlungen kommt, aus dem Blickwinkel der Vernunft, einer radikal guten Gesinnung gleich.“ (165) Damit allerdings hat Willaschek Kants eigenes theologisches Argument vom ‚Herzenskündiger‘, von der Bestimmbarkeit von Moral allein sub specie aeternitatis, säkularisiert; dies jedoch um den Preis, daß Moral nun wirklich nur noch eine Frage der Interpretationsperspektive ist: „Da dieser Charakter allein von den Gründen abhängt, nach denen eine Person handelt, ist er nichts anderes als der Zusammenhang ihrer Handlungen ‚aus der Perspektive der Vernunft‘.“ (165) Die

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saler Abfolge gekürzt. Hierin soll das tertium comparationis beider Kausalitätsformen liegen: daß sie Kausalität nach Regeln, nicht chaotische Willkür, seien. So habe nun das Subjekt als Erscheinung einen ‚empirischen Charakter‘, nach dem es vollständig in den kausalen Naturzusammenhang integriert sei. Die Tätigkeit des Sinnenwesens gilt als bloße Resultante der empirischen Bedingungen, unter denen sie erfolgt und daher als prinzipiell vollständig berechenbar.130 Als intelligiblem Wesen aber sei ihm ein ‚intelligibler Charakter‘ zuzusprechen, eine Kausalität, durch die es Ursache von erscheinenden Tätigkeiten sei, ohne daß diese Ursache selbst unter Bedingungen der Sinnlichkeit stünde, so daß sie frei „von allem Einflusse der Sinnlichkeit und Bestimmung durch Erscheinungen“131 wirken könne. Beide Charaktere werden strikt voneinander geschieden, der eine sei durch Naturgesetze vollständig determiniertes Element der Sinnenwelt, der andere gegen diese völlig selbständig; dennoch soll er in sie hinein wirken können. Ein Ort der Koinzidenz beider Charaktere läßt sich jedoch nicht benennen. Wäre er im tätigen Subjekt selbst, in der Vermittlung von Ursachen und Wirkungen gelegen, so könnte in Anbetracht der Handlung die transzendentale Freiheit von der Naturkausalität nicht unterschieden werden, weil diese ein Konglomerat beider wäre. Kant wählt den Ausdruck, der empirische Charakter sei „bloß die Erscheinung des intelligiblen“132 ; wie aber die Erscheinung durch ihr Wesen bestimmt wird, läßt sich nicht ermitteln. Der intelligible Charakter bleibt, wie alles Intelligible, unbekannt, aber „er würde doch dem empirischen Charakter gemäß gedacht werden müssen“133 . Dem empirischen Charakter gemäß gedacht zu werden, kann nun nicht bedeuten, daß sich von jenem auf den intelligiblen schließen lasse, weil „wir aus der Erfahrung niemals auf etwas, was gar nicht nach Erfahrungsgesetzen gedacht werden muß, schließen können“134 . Die praktische Konsequenz dieser Konstruktion ist folgende: „Die eigentliche Moralität der Handlungen (Verdienst und Schuld) bleibt uns daher, selbst die unseres eigenen Verhaltens, gänzlich verborgen. Unsere Zurechnungen können nur auf den empirischen Charakter bezogen werden. Wie viel aber davon reine Wirkung der Freiheit, wie viel der bloßen Natur und dem unverschuldeten Fehler des Temperaments oder dessen glücklicher Beschaffenheit (merito fortunae) zuzuschreiben sei, kann niemand ergründen und daher auch nicht nach völliger Gerechtigkeit richten.“135 Das einzige, was sich erschließen läßt, ist der Ausschluß der logischen Unmöglichkeit der Vereinbarung einer der Sinnlichkeit entzogenen Kausalität mit der Natur. Diese intelligible Kausalität kann aber nicht anders als durch diese Negation gedacht werden und verliert dadurch allen Inhalt: Sie ist bloß der Begriff der Form von Kausalität, verkürzt um alle empirischen Bestimmungen. So bleibt vom intelligiblen Charakter nichts als die

130 131 132 133 134 135

‚Unterbestimmung‘ dieses explizit abhängigen intelligiblen Charakters kann Willaschek dann nur noch wegen der ‚endlichen Anzahl der rationalen Entscheidungen‘ einräumen; für Kant war die ‚Unterbestimmung‘ indes systematische Unbestimmtheit. Diese war die Unabhängigkeit des Subjekts, bestimmend aber nicht bestimmt zu sein. Diese geht dem pragmatischen Modell verloren. Vgl. KrV, B 568 und KpV, V 99. KrV, B 569. KrV, B 569, vgl. B 579. KrV, B 568. KrV, B 586. KrV, B 579 Anm.

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Form der Selbstbestimmung, abstrakte Spontaneität. Um ihn nämlich der Naturkausalität zu entwinden, muß seine Knüpfung an die Natur, den Inbegriff aller Erscheinungen, gelöst werden: „Dieses handelnde Subjekt würde nun nach seinem intelligiblen Charakter unter keinen Zeitbedingungen stehen, denn die Zeit ist nur die Bedingung der Erscheinungen, nicht aber der Dinge an sich selbst. In ihm würde keine Handlung entstehen, oder vergehen, mithin würde es auch nicht dem Gesetze aller Zeitbestimmung, alles Veränderlichen unterworfen sein: daß alles, was geschieht, in den Erscheinungen (des vorigen Zustandes) seine Ursache antreffe.“136 In der Vernunft findet „selbst in Betreff ihrer Kausalität, keine Zeitfolge statt“137 . Indem der intelligible Charakter nicht unter Zeitbestimmungen steht, kann er nicht der Ort einer Entscheidung – einer Willensbestimmung – sein, sondern nur das abstrakte Prinzip der Möglichkeit spontaner Selbstbestimmung, dessen Wirkung in der praktischen Selbstbestimmung in der Zeit nicht gedacht werden kann und außerhalb der Zeit nicht stattfinden kann.138 Den Übergang vom intelligiblen zum empirischen Charakter bestimmt Kant konsequent als Bruch. Die Handlung folgt nicht nach empirischen Gesetzen aus dem intelligiblen Charakter. Sie steht, als empirische, mit ihm in gar keiner direkten Beziehung, sondern sie folgt Vorstellungen des inneren Sinns, die ihrerseits Wirkungen des intelligiblen Charakters seien. Das Ausgangsproblem reproduziert sich aber in dem neuen Problem, wie der zeitlose intelligible Charakter in die durch Zeitbestimmung gekennzeichneten Vorstellungen des inneren Sinns soll übergehen können. – Kant kommt es weniger auf die Möglichkeit der Verknüpfung von Intelligiblem und Empirie an, als auf deren deutliche Trennung. Ausdrücklich geht es ihm nicht um die Beurteilung von Handlungen unter verschiedenen Perspektiven, sondern um die Bestimmung der Vernunft als Vermögen zu handeln: Rigoros wird sie als Ganze aus der Zeitbestimmung herausge136 137

138

KrV, B 567f. KrV, B 581. Zur Zeitlosigkeit (und Ortlosigkeit) der Spontaneität der Vernunft vgl. Prolegomena, IV § 53: „Alsdenn aber müßte die Ursache, ihrer Kausalität nach, nicht unter Zeitbestimmungen ihres Zustandes stehen“; „Gründe der Vernunft [geben] allgemein, aus Prinzipien, ohne Einfluß der Umstände der Zeit und des Orts, Handlungen die Regel“; „das Verhältnis der Handlungen zu objektiven Vernunftgründen ist kein Zeitverhältnis“. Anders Bernd Dörflinger, Das Leben theoretischer Vernunft. Teleologische und praktische Aspekte der Erfahrungstheorie Kants, Berlin 2000, 119f.: „Es haben solche unterscheidende Aussagen wie die, daß Vernunft nicht in der Zeit ist, die vorzugsweise unter dem Interesse stehen, Vernunft im Sinne praktischer Freiheit als über die Zeitfolge in der Zeit erhoben anzusehen, nur in oberflächlicher Betrachtung den Anschein, die Trennung zwischen Vernunft und dieser Anschauungsform zu zementieren. Dieser Anschein verliert sich, wenn die Zeit als die ursprüngliche bewußt wird, wodurch sie aus der strikten, an der Zeitfolge festgemachten Entgegensetzung zum genannten praktischen Interesse herauskommt. Denn als ursprüngliche Zeit ist sie die eine Zeit, die als solche – wie die angesprochene Vernunft – auch nicht in der Zeit ist, sondern worin alle Zeiten sind.“ Dörflinger versteht Zeit nicht als transzendental erschlossene Anschauungsform, die erklärt, wie Anschauungen möglich sind, sondern umgekehrt als ursprünglich vom Subjekt hervorzubringende Möglichkeit von Anschauung. Diese Auffassung verdankt sich der Perspektive des Opus Postumum, aus der Dörflingers Interpretation erfolgt (vgl. 2). Gegen Dörflingers Einschätzung, diese Perspektive ‚positiv‘ auf die KrV beziehen zu können, ist einzuwenden, daß Kant im Opus Postumum eher Versuche zur Überwindung grundsätzlicher Aporien der kritischen Philosophie notiert als deren konsequente Fortführung.

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nommen: „Die reine Vernunft als ein bloß intelligibles Vermögen, ist der Zeitform, und mithin auch den Bedingungen der Zeitfolge, nicht unterworfen.“139 Solche Vernunft wäre aber nicht einmal der Kritik ihrer selbst fähig. Die menschliche reine Vernunft wäre danach nicht vom göttlichen Intellekt unterschieden, der in Ewigkeit auf sich zurückgeworfen ist. So unerklärlich wie das Mysterium der Schöpfung – der creatio ex nihilo, mit der die Zeit erst gesetzt wird – so unerklärlich ist auch die Bestimmung der Handlung aus reiner Vernunft, der „ursprüngliche[n] Handlung“140 oder „unmittelbare[n] Wirkung“141 . Allerdings ist das Vermögen der Spontaneität unter Zeitbedingungen nicht denkbar, die Vorstellung der freien Setzung eines Zustandes in der Zeit kollidiert immer mit den in der Zeitreihe vorhergehenden Zuständen. Daher konstruiert Kant Spontaneität als reines Denken in der Form der Zeitlosigkeit. Als Selbstaufhebung seiner Äußerlichkeit wäre reines, selbständiges Denken aber nur negativ-formal zu fassen und verwiese als privative Negation immer auf sein objektives Gegenüber. Dieses will Kant umso vehementer abschütteln, je stärker es sich aufdrängt. Autonomie beruht immer auf der Negation von Heteronomie, und dieses negative Moment von Autonomie zeichnet ihre Hilflosigkeit gegenüber der von ihr verlassenen Welt aus.142 Hegels positive Selbständigkeit dagegen versöhnt das Herrschaftsmoment, gegen das Kant radikal polemisch bleibt, mit dem Bewußtsein und läßt dies unversöhnlich in ihm selbst werden. Der Antagonismus allen Inhalts im Selbstbewußtsein kommt bei Hegel nur zur Ruhe in der absoluten Inhaltslosigkeit der Identifizierung von Subjekt und Objekt, in der das dem Subjekt antagonistische Moment objektiver Herrschaft die Totenruhe des Geistes begründet, dessen absolute Gestalt sich auf dem Golgatha des weltgeschichtlichen Trümmerhaufens erhebt. Das Absolute, das Hegel als geschichtliche Vermittlung von Subjekt und Objekt stilisiert, ist bei Kant nur in der Abschottung des Subjekts gegen seine Verflechtung mit den Objekten denkbar; so ist Kants formales Subjekt der stillgestellte Trieb der Vernunft gegen das Unvernünftige – dessen entledigt, aber darum seiner nicht mächtig. Nun hat Kant diesen Mangel des „allein negativ als Unabhängigkeit von empirischen Bedingungen“143 angesehenen Freiheitsbegriffs erkannt: „dadurch würde das Vernunftvermögen aufhören, eine Ursache der Erscheinungen zu sein“144 . Dieser Mangel sei zu beheben durch positive Wendung des Begriffs, so daß er „auch positiv […] ein Vermögen […] [bezeichnete], eine Reihe von Begebenheiten von selbst anzufangen“145 . Logisch ist die positive Freiheit aber eine Reflexionsform der negativen und kann deshalb nicht substantiell mehr sein als diese. Die Unabhängigkeit von äußerer Bestimmtheit 139 140 141 142

143 144 145

KrV, B 579. KrV, B 572. KrV, B 581. Vgl. Karl Heinz Haag, Der Fortschritt in der Philosophie, a.a.O., 68: Die Ansätze zu einer negativen Metaphysik „bei Kant konnten Hegel folgerecht nur als Ausdruck inkonsequenten Denkens erscheinen“; eine Konsequenz, die Haag einerseits in der Kantischen Philosophie angelegt sieht (vgl. 82, 129), andererseits aber als transzendent-metaphysische „Aufspreizung“ (87) gegen das negative Potential Kants kritisiert. KrV, B 581. KrV, B 581. KrV, B 582.

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läßt den Schluß auf die Möglichkeit von Selbstbestimmung formal zu, aber nicht auf die bestimmte Möglichkeit, Reihen in der Zeit von selbst zu beginnen. Allein die logische Unmöglichkeit eines solchen Vermögens wird ausgeschlossen. Das Denken kann sich in der Reflexion der negativen Freiheit auf sich selbst beziehen, aber durch sie allein nicht aus sich herauskommen. Insofern die negative Freiheit ihrerseits Resultat der Reflexion auf die Abhängigkeit des Subjekts von Naturkausalität war, die positive nun Resultat der Reflexion auf den Mangel der negativen ist, entfernt sich das Denken formal mit jeder Reflexionsstufe weiter von den Gegenständen wie von der Gegenständlichkeit des eigenen Subjekts; es wird mit jedem Gewinn an Freiheit weniger handlungsfähig. Kants Versuch der Lösung der Aufgabe, intelligible und empirische Ursache miteinander vereint zu denken, ist daher auch unablässiges Springen zwischen Hinsichten. Das Subjekt, das der Ort der Koinzidenz sein soll, kann dies nur aufgrund dualistischer Verfaßtheit sein: Dies mag als selbstverständlich erscheinen bei Wesen, die sich teils als Phänomen selbst erscheinen und teils sich durch bloße Apperzeption selbst denken können;146 gleichwohl bringt Kants Durchführung des Dualismus erhebliche Vermittlungsprobleme mit sich, denn die ‚bloße Apperzeption‘ ist für Kant nichts weiter als die logische Identität des Subjekts: „Ich denke ist […] der alleinige Text der rationalen Psychologie“147 . Die bestimmte Auffassung der subjektiven Identität setzt schon Selbstwahrnehmung voraus und wird von Kant in die empirische Psychologie verwiesen.148 Die reine Selbstanschauung im inneren Sinn, Produkt der transzendentalen Einbildungskraft, stünde immerhin unter der Bedingung des inneren Sinns. Die Auffassung innerer Bestimmungen, der Kategorien etwa, oder innerer Handlungen, der Urteile, ist nie ohne den Umweg über Gegenstände dieser Urteile oder Kategorisierung möglich. Durch die Betonung der Geltung a priori der Kategorien gegenüber der logischen Form des Bewußtseins von ihnen als Reflexionsausdrücke der Urteilsformen149 soll das intelligible Subjekt vom empirischen geschieden werden; zugleich dichtet diese Unterscheidung das intelligible Subjekt aber gegen Empirie ab. Das geschieht durch die unvermerkte Positivierung des negativen Prinzips der Apperzeption: „Das Ich, das allgemeine Correlat der Apperception und selbst blos ein Gedanke, bezeichnet als ein bloßes Vorwort ein Ding von unbestimmter Bedeutung, nämlich das Subjekt aller Prädicate […] Der Gedanke Ich ist […] gar kein Begriff , sondern nur innere Wahrnehmung“150 . Als ne146 147 148

149

150

Vgl. KrV, B 574f. KrV, B 401. Der Psychologie kommt Kant zufolge nur beschreibende, nicht wissenschaftlich erkennende Bedeutung zu, weil ihre Analysen nicht synthetisch reversibel sind: Aus den erschlossenen Elementen des Seelischen läßt sich keine Seele konstruieren. Das liege an der Eindimensionalität der Zeit, in der die innere Beobachtung verlaufe. Zudem verfremde die Beobachtungssituation bereits den Gegenstand (vgl. MAN, IV 471). Die Anthropologie enthält zur Psychologie des Selbstbewußtseins dann nichts Näheres. Henrich faßt die Kategorien dagegen als Bestimmungen aus der Form des Selbstbewußtseins. Vgl. Kant und Hegel, a.a.O., 182f.; 191. Zugleich spricht er von den formalen Erkenntnisbedingungen als von Kants Ontologie (193ff.). Das Verhältnis von Einzeldingen und allgemeiner Ordnung, das aporetische Resultat des Universalienstreits, bezeichnet er als natürliches Weltverstehen, bzw. natürliche Ontologie. MAN, IV 542f. In Prolegomena, IV § 46 Anm., heißt es sogar, die Apperzeption sei „nichts mehr als Gefühl eines Daseins“.

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gatives, erschlossenes Subjekt aller Prädikate gewährt der Gedanke ‚Ich‘ durchaus eine bestimmte Vorstellung des Subjekts von seiner Subjektivität, vom Allgemeinen im Besonderen. Erst der Anspruch, damit überhaupt Dinghaftes zu verbinden, macht es zum Unbestimmten. Der Gedanke geht so über in eine Wahrnehmung, die nichts wahrnimmt, positive Unbestimmtheit, ein erfahrungsfreies Subjekt aller Erfahrung.151 Unabhängigkeit des Subjekts von Empirie zeigt sich nach Kant in der Vorstellung des Sollens, die im Zusammenhang von Natur und Naturerkenntnis keinen Ort hat. „Dieses Sollen nun drückt eine mögliche Handlung aus, davon der Grund nichts anders als ein bloßer Begriff ist, da hingegen von einer bloßen Naturhandlung der Grund jederzeit eine Erscheinung sein muß.“152 Der Zusammenhang des Sollens mit Natur ist allein der negative, daß die Natur die Realisierung des Gesollten nicht unmöglich mache. Hinsichtlich der „Bestimmung der Willkür selbst“153 muß der Imperativ der Vernunft ganz von Natureinwirkungen isoliert sein, nur so kann die Rigorosität von Imperativen, die Notwendigkeit von Handlungen, gedacht werden, „die doch nicht geschehen sind und vielleicht nicht geschehen werden“154 . Hier ist Kant aber längst nicht mehr bei der Darstellung der Möglichkeit transzendentaler Kausalität aus Freiheit im allgemeinen und auch nicht bei der Erörterung menschlicher Zwecksetzung überhaupt; vielmehr bedient sich Kant für die Begründung der Möglichkeit des Dualismus von Vernunft und Sinnlichkeit der spezifischen Möglichkeit moralischer Forderungen. Diese sind ihrer Form nach nur zu denken als unbedingte und setzen daher absolute Selbständigkeit des Subjekts voraus. Diese Form von Moralität, der kategorische Imperativ, drückt nun wirklich nichts mehr aus als ‚eine mögliche Handlung‘; der ‚bloße Begriff‘, der ihr Grund ist, ist die reine Form der Gesetzmäßigkeit.155 Jede wirkliche Handlung erfordert Erfahrungsbegriffe. Soll die Vernunft aber gegen diese immun sein, so kann sie nicht der Ort der Entscheidung sein. Soll sie hingegen entscheiden, so birgt die Relation zur Objektivität die Gefahr der Infektion an deren Verunreinigungen. Soll die Vernunft also nun „Kausalität in Ansehung der Erscheinungen“156 haben, so muß sie in einem empirischen Charakter erscheinen, denn diese Kausalität der Vernunft auf Erscheinungen muß, als Kausalität, einer Regel folgen; diese Regelmäßigkeit der Bestimmung der Willkür zu empirischen Handlungen ist der empirische Charakter des Subjekts. Dieser ist, wie die Vernunft, beständig und darin ein Abbild des intelligiblen Charakters. Jedoch ist schon die Beständigkeit des empirischen Charakters durch Erfahrung nicht mehr zu ermitteln, weil seine „Wirkungen, nach Verschiedenheit der begleitenden und zum Teil einschränkenden Bedingungen, in veränderlichen Gestalten

151

152 153 154 155

156

Manfred Frank hat dies als „merkwürdige Konstruktion“ bezeichnet (Fragmente einer Geschichte der Selbstbewußtseinstheorie, a.a.O., 421). KrV, B 575f. KrV, B 576. KrV, B 576. Christine M. Korsgaard verteidigt zunächst die Intelligibilität des Sittengesetzes gegenüber empirischen oder analytischen Interpretationen; allerdings sieht sie die spezifische Allgemeinheit des Moralgesetzes doch nicht in dessen Gesetzförmigkeit, sondern in allseitiger Reziprozität moralischer Zuschreibungen. Vgl. Creating the Kingdom of Ends, a.a.O., 193ff. KrV, B 577.

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erscheinen“157 . Wie es dann möglich sei, daß die Vernunft in den Erscheinungen ‚eine Regel zeigt‘, nach der die subjektiven Prinzipien der Willkür des Subjekts zu beurteilen seien,158 ist unerfindlich, zumal die Regelmäßigkeit des empirischen Charakters, zusammen mit den empirischen Handlungsbedingungen das komplette set der mathesis ergibt, für die es „keine einzige menschliche Handlung geben [würde], die wir nicht mit Gewißheit vorhersagen […] könnten“159 . Dieselbe Regelmäßigkeit, durch die sich im empirischen Charakter der intelligible ausdrückt, wird zum Grund der Möglichkeit der Einordnung des empirischen Charakters in die Naturkausalität: „In Ansehung dieses empirischen Charakters gibt es also keine Freiheit“160 . Die einzige ursprüngliche Regel des intelligiblen Charakters war aber dessen absolute Spontaneität. Hinter den subjektiven Prinzipien der Willkür, die zu beurteilen seien, verbirgt sich keineswegs ein gebildeter oder barbarischer oder sonstwie bestimmter Charakter, denn die zeitlose Vernunft ist „einerlei […]; sie ist bestimmend, aber nicht bestimmbar“161 . So bleibt vom Charakter des Subjekts allein absolute Spontaneität, deren Regel, nämlich Identität als Grund der Zurechenbarkeit, ist in der Tat durch alle Randbedingungen hindurch zu ermitteln. Nur durch Distinktion, „[w]enn wir […] eben dieselbe Handlung in Beziehung auf die Vernunft erwägen“ – und nicht in Beziehung auf deren Darstellung im empirischen Charakter – „finden wir eine ganz andere Regel und Ordnung, als die Naturordnung ist. Denn da sollte vielleicht alles das nicht geschehen sein, was doch nach dem Naturlaufe geschehen ist und nach seinen empirischen Gründen unausbleiblich geschehen mußte.“162 Auch dies kann keine moralische Bestimmung sein, denn das Unmoralische ist kein Naturzwang.163 Ein Beispiel für Kants Sollen wäre etwa die Feststellung, daß das Taumeln eines Gestoßenen nicht Ausdruck seiner absoluten Spontaneität sein konnte. Die Vernunft, die hier betrachtet wird, ist nicht die auf Inhalte bezogene spekulative, sondern die praktische, deren einziger Inhalt ist, spontane Ursache zu sein. Kants Beispiel des Lügners ist notwendig schief: Als dessen „Bewegursachen“ im empirischen Charakter, der ja Gegenstand der Naturkausalität ist, benennt Kant „schlechte[] Erziehung, üble[] Gesellschaft, zum Teil auch […] Bösartigkeit eines für Beschämung unempfindlichen Naturells […], zum Teil […] Leichtsinn und Unbesonnenheit“; alles dieses, ja sogar die „veranlassenden Gelegenheitsursachen“164 , sofern sie zu Bewußtsein kommen müssen, sind keine naturkausalen Ursachen, sondern Beschädigungen im Gemüt des Lügners, die dieser sowenig aus freien Stücken sich angezogen hat wie sie aus bloßer Natur ihm zuwuchsen. Kant legt die Vorstellung an, üble Gesellschaft – deren bessere man in mancher Lage eben nicht finden kann – ja sogar schlechte Erziehung 157 158 159 160

161 162 163 164

KrV, B 577. KrV, B 577. KrV, B 578. KrV, B 578. Zum Verhältnis der hierin angelegten Selbständigkeit der praktischen Philosophie zum Programm systematischer Einheit von praktischer und theoretischer Philosophie vgl. Wolfgang Röd, Rationalistisches Naturrecht und praktische Philosophie der Neuzeit, in: Manfred Riedel, Rehabilitation der praktischen Philosophie, a.a.O., Bd. 1, 283ff. KrV, B 584. KrV, B 578. Vgl. auch Peter Rohs, Kausalität aus Freiheit, a.a.O., 39. KrV, B 582.

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im Kindesalter seien äußere Bedrängnisse, denen das Subjekt als intelligibles zu widerstehen in der Lage, ja verpflichtet, sei – „denn man setzt voraus, man könne es [den vorher geführten Lebenswandel, M. St.] gänzlich beiseite setzen“165 . Dies ist eine ungeheuerliche Heroisierung des intelligiblen Charakters, die unmittelbar umschlägt in eine Verächtlichmachung der kaputterzogenen und -vergesellschafteten Subjekte. – Richtig bleibt daran aber, daß unangesehen der Zerrüttung des Subjekts seiner Entscheidung zur Lüge doch ein Moment von Spontaneität innewohnen muß, weshalb allein sie ihm einsehbar zuzurechnen ist.166 Diese Spontaneität muß vorausgesetzt werden können auch für jede korrupte Handlung, selbst für die Korruption als solche; aber sie kann auch verdreht werden durch die Entwicklung des Selbstbewußtseins unter Bedingungen, die dem Subjekt Heteronomie als Autonomie anbilden, in einer Welt etwa, in der die Freiheit der Entscheidung zur Verkleidung von im Kern ununterschiedenen – zumeist faktisch auch vorentschiedenen – Alternativen mißrät.167 Abgesehen von den schweren Schäden, die die Repräsentation gesellschaftlicher Zwänge in elterlicher Gewalt, oft genug auch in Gestalt von Fürsorglichkeit, den Psychen von Kindern zufügt, vermag das Bewußtsein davon, daß eine wahre Aussage womöglich zur Vernichtung der eigenen Existenz führen kann, den intelligiblen Charakter zu brechen. Solche Erfahrung von Gewaltandrohung oder nur von dauernder Alternativlosigkeit führt zur Stillstellung der Spontaneität praktischer Vernunft. Diese stillgestellte Spontaneität bedeutet nun gerade keine Handlungsunfähigkeit; aber sie entscheidet sich immer für ‚das Richtige‘, das Opportune; ihre Reflexion auf Zwecke – die notwendige Bedingung distanzierten Urteilsvermögens – ist gelähmt. Dem korrespondiert eine praktische Philosophie, in der Zweckbegriffe, Zweck als Begriff überhaupt, nicht mehr thematisiert werden, sondern verstärkt wieder durch Tugenderwägungen ersetzt werden. Zwecke stehen aber für das subjektive Prinzip der modernen Welt überhaupt, Tugenden dagegen für, wie immer pragmatisch oder nominalisiert 165 166

167

KrV, B 583. Das häufig verwendete Beispiel des Lügenverbots kann als Kants Reflexion auf die Bedingungen, unter denen Menschen sich über Zwecke verständigen, angesehen werden: sein Beitrag zur Kommunikations- und Intersubjektivitätsfrage mithin. Soll Verständigung möglich sein, muß das Lügen kategorisch ausgeschlossen werden. Zwar setzt Kollektivität Kommunikation voraus, aber aus deren Begriff, schon gar aus ihrem idealisierten Erfahrungsbegriff , läßt sich Kollektivität nicht normativ ableiten, weil der allein kommunikable Grund von Normativität – allgemeine Geltung – nur in der Subjektivität der Subjekte gründen könnte. Kant reflektiert dies implizit darin, daß noch der sozialen Beschädigung der Subjekte ihre Spontaneität formal vorausgesetzt ist. – Daß sich aus dem Lügenverbot, über diesen reflektierenden Sinn hinaus, kein positives Gesetz machen lasse, hat Hegel angemerkt: Phänomenologie des Geistes, a.a.O., 229f. Ein eindrucksvolles Modell der Verkehrung von Autonomie in Heteronomie gibt Michel Foucault mit einer Interpretation der Benthamischen Gefängnisarchitektur als „Panopticon“. Wenn von einem zentralen Punkt aus alle Zellen einsehbar sind, ohne daß von diesen her der Wächter sichtbar wäre, so funktioniert die Überwachung auch ohne Wächter: indem die Vorstellung, möglicherweise beobachtet zu werden, in Selbstüberwachung und Selbstmaßregelung umschlägt. Foucault deutet dies als Modell spezifisch gesellschaftlichen Bewußtseins überhaupt. Vgl. Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main 1977, 256ff., auch Abb.17. Bentham gelang mit diesem ernsthaften Entwurf schon eine bittere Realsatire auf den modernen Effizienzbegriff, bevor dieser noch gesamtgesellschaftlich zum Prinzip wurde.

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gedachte, objektiv orientierte Handlungsregeln. Tugendethiken, die beim besonderen Individuum ansetzen sollen, offenbaren dieses zugleich als ein entsubjektiviertes. Damit treffen sie etwas an der Sache. Handlungen aus stillgestellter Spontaneität sind nun durchaus subjektiv zurechenbar: Noch die moralisch rückständigste Gesellschaft hat ein – wie immer begründetes und selbst rudimentäres – Strafrecht, das ihr hilft, so bleiben zu dürfen, wie sie ist. Aber moralisch zurechenbar wären jene Handlungen allenfalls negativ: Als Ausdruck zerrütteter Subjektivität, deren verschüttete Möglichkeit zur Reflexion auf Zwecke allein der Maßstab ihrer eigenen Zerrüttung sein kann. Die Möglichkeit, daß die von der Vernunft unterschiedenen Objekte und deren Einrichtung soviel Selbständigkeit haben könnten, daß Vernunft sie gerade durch die Anstrengung, sie strikt von sich abzutrennen, in sich hineinzieht und sich von innen beschädigt, hat Kant bewußt abgeschnitten: So wäre kein transzendentaler Begriff von Freiheit zu denken. Umgekehrt ist aber die Möglichkeit der Bildung von Vernunft ist aber keine reale Freiheit zu denken. – Kann Vernunft aber gebildet werden, so kann sie auch mangelhafte Bildung oder Mißbildung erleiden.168 Hierin liegt nun auch die Wahrheit von Kants Vorstellung der Unerkennbarkeit des intelligiblen Charakters: Die Handlungen, die sich an den Menschen beobachten lassen, erlauben keine Rückschlüsse auf Gründe oder Regeln ihrer Willensbestimmung. „Warum aber der intelligible Charakter gerade diese Erscheinungen und diesen empirischen Charakter unter vorliegenden Umständen gebe, das überschreitet so weit alles Vermögen unserer Vernunft es zu beantworten“ – das Verbot jedoch, der Ausschluß „alle[r] Befugnis derselben, nur zu fragen“169 , ist selbst schon die Affirmation der Beschädigung des empirischen Charakters. Sind die Subjekte so durch die Welt, in der zu leben sie gezwungen sind, angegriffen, daß die Fremdbestimmung ihnen als Ausdruck ihrer Subjektivität schlechthin erscheint, so ist ihnen der Einblick in ihren eigenen intelligiblen Charakter versperrt. Noch nicht einmal der empirische Charakter ist aus den Handlungen abzuleiten. Dessen Regel, die Kant zufolge durch Erfahrung zu ermitteln sei, ist nicht zu ermitteln, soweit der empirische Charakter Erscheinung des intelligiblen ist, sondern nur, soweit er äußerlich bestimmt ist. Es sind die Regeln der Heteronomie, die sich ihm einbilden. Diese sind aber nicht durch Erfahrung zu ermitteln, schon gar nicht aus der Erfahrung der Handlungen eines Subjekts, da Heteronomie eine relationale Bestimmung ist, und zwar unter modernen gesellschaftlichen Bedingungen eine von universeller Relationalität: Jedes Subjekt ist in seinen Reproduktionsprozessen systematisch mit allen anderen verbunden. Die Regeln oder Gesetze, durch die gesellschaftliche Heteronomie bestimmt ist, sind nur durch Reflexion auf den systematischen Zusammenhang der Handlungen, der nicht Gegenstand möglicher Erfahrung ist, zu ermitteln. Sie sind zweite Naturkausalität, Kausalität zweiter Natur, und damit die Zumutung einer Kausalität aus Freiheit, die zur Naturillusion erstarrt ist. Das scheint durch in Kants Konstruktion des Über168

169

Um dieser aporetischen Konsequenz aus dem Weg zu gehen, zieht Kant sich aber die andere zu, daß formell vorgetäuschte Freiheit besser sei als materiell empfundene Unfreiheit. Das mag pragmatisch plausibel sein, führt aber begrifflich auf den von Kant auch verwendeten Satz: „mundus vult decipi“ (Anthropologie, VII 181), auf den sich dann keine Moral mehr aufbauen läßt. KrV, B 585.

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gangs des intelligiblen Charakters in den empirischen, an dessen Ende die Erscheinung von Freiheit in eine Unfreiheit übergegangen ist, aus der Freiheit doch, wie vermittelt auch immer, ablesbar sei. Um der theoretischen Möglichkeit transzendentaler Freiheit willen wendet Kant die Unerkennbarkeit des intelligiblen Charakters aber affirmativ in die isolierte Vorstellung absoluter Spontaneität der Vernunft, die durch ihre Erscheinung sowenig angreifbar sei wie das traditionelle ontologische Wesen, das eidos, durch seine jeweilige morphä. Gebildet oder beschädigt werde dann allein der empirische Charakter. Moralisierung wäre danach aber bloß als empirische denkbar, als Aristotelische Tugenderziehung,170 weil Praxis in die Vernunft nicht reicht. Wenn Vernunft dann doch noch als Grund von Praxis zu bezeichnen ist, so nur als absoluter Grund, adäquat der Isolation der Subjekte von Praxis, die freiheitstheoretisch, wie schon historisch und moralisch, immer nur als vereinzelte Einzelne angesprochen werden können. Im Gegensatz zu Kants affirmativem Freiheitsbegriff kann Freiheit unter unfreien Bedingungen immer nur negativ, als Opposition gegen die Unfreiheit im gebildeten Selbstbewußtsein gedacht werden. Die Erzeugung solchen Bewußtseins bedürfte wohl mehr als nur Aufklärung über den prinzipiellen Charakter von Vernunft, mindestens bedürfte sie auch Aufklärung über die Beschädigung von Vernunft – in den empirischen Subjekten – und über die realen Gründe der Beschädigung. Solche Aufklärung kommt nicht in den Blick Kants, weil der Dualismus von Vernunft und Sinnlichkeit – von denen nur Sinnlichkeit in die Welt der Erfahrung reiche – durch einen Begriff der Ursache schlechthin vermittelt sein soll, der, obwohl Kant ihn explizit als ‚Schema‘171 bezeichnet, die Vermittlung nicht wie dieses über Zeitfunktionen leistet. Es könnte die zeitlose Vernunft mit der zeitlichen Sinnlichkeit allein als logische Ursache vermitteln, denn beide stehen zueinander bestenfalls in einem logischen Bedingungsverhältnis außerhalb der Zeit. Kants Absicht der Reinerhaltung der transzendentalen Freiheit führt so zu dem dualistischen Ergebnis, daß Freiheit und Naturnotwendigkeit „beide voneinander unabhängig und durcheinander ungestört stattfinden können“172 . Eine Vermittlung von Freiheit und Natur, die etwa als freie Gestaltung der Naturbedingungen menschlichen Lebens denkbar wäre, scheint gar nicht nötig zu sein, solange beide nur einander nicht behindern, solange ihre spezifischen Gesetzmäßigkeiten unvermindert zugleich wahr, gültig und wirksam sein können. Diese Widerspruchsfreiheit von intelligibler und empirischer Kausalität ist aber erkauft nicht allein mit der Unmöglichkeit, ihre Verknüpfung in der Handlung zu denken, sondern auch mit der Spaltung des Subjekts, das ewig soll und deshalb niemals 170

171 172

Moralische Bildung tritt bei Kant entsprechend immer als unmittelbarer Entschluß zur Selbstbestimmung, als Mut, selbst zu denken, auf. Sie wird zwar beschrieben als Gewöhnung an die Vorstellung der Sittlichkeit, deren Annahme selbst aber als ein Pfropfen auf dem eingewöhnten Gemüt (vgl. KpV, V 161 oder Anthropologie, VII § 12). Die späte Einsicht, daß Menschen einander böse machen können (vgl. Religion, B 128f.), daß gesellschaftliche Lebensbedingungen in den intelligiblen Charakter, das Prinzip der Willensbestimmung, hineinragen, stellt Kant daher vor grundsätzlich neue Probleme der Koordination von Subjekt und Objekt in der Sittlichkeit, deren grundlegendes Problem das Verhältnis von Moral und Politik ist. Vgl. KrV, B 581. KrV, B 585.

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kann.173 Im ewigen Sollen ist aber die Opposition gegen die Bedingung der Unmöglichkeit seiner Säkularisierung der formalen Bedingung nach geronnen, weil es auch Resultat des reflexiven Rückzugs des Subjekts aus einer ihm feindlichen Umgebung ist. Das isolierte Subjekt Kants – wie der vereinzelte Einzelne in der modernen Gesellschaft – ist nicht bloß äußerlich von dem, was es nicht ist, unterschieden; es steht nicht als fertiges Wesen zwischen lauter Dingen und Bedingungen, sondern es kommt wesentlich nur durch diese Unterscheidung zustande, es ist zuinnerst Resultat seiner negativen Beziehung auf das ihm Äußerliche. Dies gilt nicht bloß für das philosophisch identifizierte Subjekt, sondern es betrifft durch Erziehung und öffentliche Zurichtung durchaus die empirischen lebendigen Subjekte: Sie lernen, sie selbst zu sein, durch Unterscheidung und Ausschluß von Anderen. Sie lernen, sich ihre Handlungen zuzurechnen ohne Ansehung der Umstände; wer aber diese ansieht, mag die sozialisierte Gestalt seiner Subjektivität, seine Persönlichkeit, als Zumutung empfinden.

(B.) Zur ‚Auflösung‘ der Vierten Antinomie Die Stillstellung der praktischen Subjektivität diente unmittelbar der Erhaltung der Einheit theoretischer Subjektivität. Deren Gehalt, der Einheit der Erfahrung, korrespondiert aber als ihre Voraussetzung die Einheit der Gegenstände der Erfahrung. Die Erörterung der formalen Möglichkeit von Praxis dient daher mittelbar der transzendentalen Begründung einer systematischen Einheit von Welt, in der Praxis theoretisch erneut zum Problemfall werden wird. Zunächst antizipiert Kant durch die Vereinbarkeit von Natur und Freiheit unter einem absoluten Kausalbegriff also schon die Vorstellung eines Weltganzen in der Modalität Notwendigkeit. Diese Vorstellung aber führt auf die Vierte Antinomie. Auch diese weist als dynamische die Eigenschaft auf, daß sie eine Reihung von Ungleichartigen zuläßt. Diese Reihe der Erscheinungen kann in jedem ihrer Glieder als zufällig, empirisch und bedingt gedacht werden, und doch ist auch eine absolute notwendige Bedingung der Reihe als ganzer denkbar, wenn diese Bedingung nur außerhalb der Reihe – als intelligibles Wesen – gesetzt wird. Im Unterschied zur Antinomie der Kausalität ist es hier um die Modalität des Daseins zu tun, darum ob „ein unbedingtes Wesen stattfinde“174 . Diese Frage drängt sich auf, weil die Vorstellung vollständiger Kontingenz, absoluter Zufälligkeit, die sonst die Welt bestimmen müßte, widersinnig – eine contradictio in adjecto – ist. Durch die Annahme des intelligiblen Grundes der Möglichkeit von Empirie außerhalb der Welt, als „ens extramundanum“175 , wird auch diese Antinomie in ein subkonträres Verhältnis verwandelt, dessen Gegensätze beide wahr sein können, weil sie auf zwei partikularisierte Gegenstandsbereiche bezogen werden, denn „[d]ie Vernunft geht ihren

173

174 175

Vgl. Georg Zenkert, Konturen praktischer Rationalität, a.a.O., 13: „Die Verbindung der beiden Sphären [Freiheit und Natur; M.St.] muß sich in der Perspektive der Kausalität aus Freiheit im subjektiven Willen nachweisen lassen. […] Doch wird sich herausstellen, daß hier der Dualismus in internalisierter Gestalt wiederkehrt.“ KrV, B 588. KrV, B 589.

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Gang im empirischen und ihren besonderen Gang im transzendentalen Gebrauche“176 und „[d]er empirische Gebrauch der Vernunft (in Ansehung der Bedingungen des Daseins in der Sinnenwelt) wird durch die Einräumung eines bloß intelligiblen Wesens nicht affiziert“177 . Das soll dadurch gelingen, daß Kant weder Dasein noch Möglichkeit des intelligiblen Wesens zu beweisen beansprucht, sondern nur die logische Möglichkeit seiner transzendentalen Annahme durch die Vernunft: daß diese – wenn sie es unternimmt, die prinzipielle logische Möglichkeit der Welt der Erfahrung vorzustellen – nicht notwendig in Widerspruch mit sich selbst gerate. Hiermit schafft Kant die Möglichkeit, die Sinnenwelt als intelligibel geordnet vorzustellen, ohne darauf zu verzichten, daß der Verstand in seiner Erfahrungserkenntnis die Sinnenwelt konstituiert. Diese Konstitution beruht zwar ihrer Möglichkeit nach auf jener Ordnung, geschieht aber unabhängig von ihr, weil diese als intelligibles Wesen der Verstandeseinsicht verborgen bleibt und deshalb in seine konstitutiven Erkenntnisakte, die ausschließlich nach Regeln der Erfahrung vorgehen, nicht eingehen kann. Menschliche Erfahrung ist so selbst der Sinnenwelt mächtig, aber stets durch Zufälligkeit begrenzt, ohne darum absurd zu werden. Dahinter steht die durch geschichtliche Erfahrung gestörte Weltvorstellung, die zuerst Ausdruck im Nominalismus erhielt. Die realen Modelle von Allgemeinheit – von universitas und katholou –, das imperium wie das sacerdotium, beginnen am Ende des Mittelalters, sich unter dem Druck partikularer Herrschaftsansprüche aufzulösen. Der Kampf zwischen weltlichem und kirchlichem Universalanspruch mündet in der Herausbildung territorialer Herrschaftsgebilde. Die heilige Kirche tritt zunehmend als weltlich-empirische Macht in Erscheinung. Nicht zuletzt entblößt der Kampf um allgemeine Herrschaft die faktische Partikularität jeder Herrschaft von Menschen über andere Menschen. Der theoretische Versuch Ockhams, des Marsilius von Padua und der spanischen Spätscholastik, die verlorene ontologisch verstandene Allgemeinheit konziliaristisch, durch die Idee der Kollektivierung aller Einzelnen, wiederherzustellen, ist die Folge. Aber diese praktische Einheit ist um ihren theoretischen Grund gebracht, obgleich sie doch ihrerseits nur als Idee, nie real, vorgestellt werden kann: Zu dieser Idee gehören nämlich nicht nur alle Lebenden, sondern auch alle früheren und alle künftigen Menschen. – Der Begriff des neuzeitlichen Individuums resultiert aus der praktischen Zerstörung des Gattungswesens. Theoretisch werden diese Individuen sich deshalb nicht mehr zur Gattung zusammenfassen lassen, solange sie nicht auch praktisch sich als solche konstituieren. Dem korrespondiert die theoretische Partikularisierung der Welt. Nur das Einzelne, Zufällige in seinem immer bedingten Erfahrungszusammenhang soll Realität beanspruchen können. Der Zusammenhang, der überhaupt allgemeine Aussagen noch ermöglicht, wird in einem absoluten Geist verortet, der primär als logisch gebundene Willkür vorgestellt wird, dem Geist Gottes, der im übrigen menschlicher Erkenntnis verschlossen bleibt. Die Vorstellung der nominalistischen Ermäßigung des rationalen Gottesbegriffs bringt nun Kant damit auf den Begriff, daß die Vernunft in ihren Ideen des Unbedingten sich selbst Gegenstände mache.178 Weil er das Unbedingte als abstrakte, nicht als priva176 177 178

KrV, B 591. KrV, B 592. Vgl. KrV, B 593.

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tive, Negation faßt, bezeichnet er radikal ein solches „transzendentales Objekt, von dem man übrigens nichts weiß“179 , als „ein bloßes Gedankending“180 , also seinem eigenen Verständnis zufolge als ein Nichts. Kant will an dem Ziel der durchgängigen subjektiven Konstitution der Objektivität festhalten, auch wenn dies nur durch die Vorstellung einer Ordnung möglich ist, die sich nicht dem Subjekt verdankt. Deshalb wird diese Ordnung fürs Subjekt in eine intelligible Sphäre verlegt, existiert womöglich im zeitlosen und raumlosen, luftleeren Äther außerhalb der Welt. Die Opposition von Subjekt und Objekt wird zu einer Vorstellung desselben Subjekts qua Vernunft, das sonst qua Verstand die Sinnenwelt konstituiert. So wird einerseits die Unbegreiflichkeit der erscheinenden Welt, ihre Zufälligkeit, festgehalten, die aber ihrerseits gerade die Bedingung der Möglichkeit dafür sei, die Welt als Produkt subjektiver Ordnung aufzufassen, – andererseits wird ein rationaler Begriff absoluter Ordnung als begriffliche Grundlage erzeugt, dessen mangelnde Realität deshalb kein Mangel ist, weil diese Realität grundsätzlich nicht Gegenstand von Erfahrung sein könnte. Am Ende erscheint dies als Versuch, einer dem subjektiven Begreifen brüchig gewordenen Welt noch als solcher eine widerspruchsfreie Auffassung durchs Subjekt anzuschaffen und sie damit selbst als widerspruchsfrei erscheinen zu lassen, so daß die Einheit des Selbstbewußtseins des Subjekts in seinem Verhältnis zum Objekt ungestört erscheint. Erkauft ist dies mit der Spaltung des Subjekts, das allgemeine Ordnung zu denken, aber nie sie zu realisieren vermag. Alle Anstrengung von Verstand und Vernunft in der Sinnenwelt bleibt partikular, deren Ordnung könnte nur pragmatisch sein. Die Möglichkeit, eine reale allgemeine Ordnung der Welt zu denken, die aber der transzendentalen Idee des absoluten Wesens nicht entspricht, entfällt somit. Wenn aber die Welt, die erscheint, nicht allein sinnlich und kategorial bestimmt ist, sondern auch durch die heteronomen Formen, in der die Subjekte sie sich geschichtlich als Objekt angeeignet haben, wenn sie daher als Objektivität schon unter Bestimmungen gebracht ist, in denen das Subjekt einer selbst subjektiv geschichtlich produzierten verkehrten Allgemeinheit konfrontiert ist, so ergibt sich für Kants unbedingte, notwendige, Bedingung der Sinnenwelt, daß dieses gedachte Prinzip nicht ein bloßes Gedankending ist, sondern daß es ein Moment der Rückwirkung des Verhältnisses von Subjekt und Objekt ins Subjekt aufweist. Die von Subjekten eingerichtete Ordnung wird im subjektiven Selbstverständnis als bloß objektive vorausgesetzt: Was Subjektivität in der Welt angerichtet hat, mag sie nicht als ihre eigene Leistung erkennen. Die Ordnung des geschichtlichen Trümmerhaufens, deren Vorstellung sich aufdrängt, soll nicht dessen von Subjekten geschichtlich verursachte Form sein, sondern nur je die originäre Konstitutionsleistung subjektiver Erkenntnis. Das auf Einheit drängende Subjekt soll zugleich wissenschaftlich neutral der allgemeinen Partikularisierung gegenüberstehen. Die Allgemeinheit, das unbedingte, selbständige Moment der Sinnenwelt, wird daher zum bloßen Gedankending, dessen Urheber- oder Komplizenschaft an der Sinnenwelt nie nachweisbar ist. Damit wird es aber zugleich zur absoluten Notwendigkeit verfestigt, mit der jene Ordnung, deren Erfahrung so widersprüchlich ist,

179 180

KrV, B 593. KrV, B 594.

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ewig festgelegt sei. Die Vorstellung der Ordnung als ewiger entspricht der Vorstellung zeitloser Spontaneität. Die vordergründige Trennung von Vernunftsubjektivität und sinnlicher Objektivität ist darum auch die erkenntnistheoretische Grundlage des falschen Bewußtseins, mittels dessen das Subjekt sich selbst von der Notwendigkeit des Zufälligen, wie es ist, überzeugt, und zwar nicht böswillig, sondern, wie Kant zeigt, als Konsequenz der erkenntnistheoretischen Bestimmung des Verhältnisses von Subjekt und Objekt, die eine auf Widersprüche führende Wechselbeziehung beider ausschließt, um zu einheitlichen Bestimmungen zu gelangen. Die Dritte und die Vierte Antinomie, die dynamisch auf das Dasein der Gegenstände der Erkenntnis sich beziehen, begründen das komplementäre Verhältnis von spontaner subjektiver Aussetzung des Naturzusammenhangs einerseits und absoluter subjektiver Einheit des Naturzusammenhangs mit seiner Aussetzung andererseits. Daß beide in der Vorstellung eines transzendenten Subjekts systematisch verbunden seien, bleibt zu zeigen, wenn ein System möglich sein soll.181 Wissenschaft und Bewußtsein sind durch die universale Absicherung des Partikularen angegriffen, aber nicht unumkehrbar geformt, denn das Allgemeine, insofern es Gedanke ist, hat auch das Moment freier Subjektivität an sich. Auch der falsche Gedanke ist noch Erzeugnis eines an sich selbständigen Subjekts. Gebrochen wäre es erst in der vollständigen Reduktion auf Instinkte. Als Gedachtes ist das falsche Allgemeine aber polemisch in sich gegen seine falsche Gestalt. Wird diese aber aus der Betrachtung abstraktiv ausgeschlossen, so bleibt von der Idee des Allgemeinen die bloße Form von Subjektivität, aus deren logischer, begrifflicher Notwendigkeit dann seine Bestimmungen geschlossen werden müssen, wenn es überhaupt welche haben soll. Die weitere Bestimmung der Idee ist deshalb konsequenter Weise nicht die Kritik ihres Verhältnisses zur Objektivität, sondern ihre fortschreitende Verfestigung zum Ideal, die aus dem Begriff geleistet werden soll, wobei der Gehalt durch Anleihen in der Erfahrung beigeschafft werden muß. – Bei diesem Verfahren, das Hegel schon gar nicht mehr deklariert, scheint es Kant noch unbehaglich genug zu sein; er empfindet es als Nötigung: „[S]o bleibt uns nichts anders übrig als die Analogie, nach der wir die Erfahrungsbegriffe nutzen, um uns von intelligiblen Dingen, von denen wir an sich nicht die mindeste Kenntnis haben, doch irgend einigen Begriff zu machen. Weil wir das Zufällige nicht anders als durch Erfahrung kennen lernen, hier aber von Dingen, die gar nicht Gegenstände der Erfahrung sein sollen, die Rede ist, so werden wir ihre Kenntnis aus dem, was an sich notwendig ist, aus reinen Begriffen von Dingen überhaupt, ableiten müssen. Daher nötigt uns der erste Schritt, den wir außer der Sinnenwelt tun, unsere neue Kenntnisse von der Untersuchung des schlechthin notwendigen Wesens anzufangen und von den Begriffen desselben die Begriffe von allen Dingen, so fern sie bloß intelligibel sind, abzuleiten“182 . Die Vernunft kann mannigfaltige Erkenntnisse, für Kant je Erkenntnis des Mannigfaltigen, nur dann in einen systematischen Zusammenhang bringen, wenn sie über Prinzipien oder prinzipielle Funktionen verfügt, die spekulativ sind, nicht selbst unter die Erfahrungserkenntnis fallen. Es geht darum, die Vielheit des Bedingten, Relationalen, 181

182

Diese Funktion erfüllt zunächst das Transzendentale Ideal, sodann auch alle anderen regulativen Gottes- und Teleologieäquivalente an den Zielpunkten der Kantischen Werke. KrV, B 594f.

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unter einer Einheit denkbar zu machen und dadurch das sonst chaotische Nebeneinander der verschiedenen Urteile zusammenschließen zu können. Das erfordert den Begriff der Totalität der Vielheit der Bedingungen, den Begriff unbedingter Einheit. Die Prinzipien, die für diese unbedingte Einheit stehen, können ihren Ort nur im Subjekt allein haben, vor aller Erfahrung, und müssen daher formaler Art sein. Die Form unbedingter Einheit aller Bedingungen ist aber gegenstandslos: absolute Identität. Diese absolute Identität, die bei Kant noch „unbedingte Einheit“183 heißt, muß als oberste Instanz transzendentaler Erkenntnistheorie schon angezielt werden. Die formale Gegenstandslosigkeit dieser Grundlage aller materialen Gegenstandserkenntnis ist der Skandal der Philosophie, der theoretischen zumal, aber auch der praktischen, sofern diese ihre Legitimität aus der theoretischen Vernunfteinheit bezieht. Der Idealismus sah sich konsequent genötigt, im Prinzip selbst – anstatt in äußerlich beifallender Erfahrung – nach dem der Form korrespondierenden Inhalt zu suchen, diesen als Selbstäußerung der Form zu begreifen. Nur wenn die Form selbst sich in ihren eigenen Inhalt umwenden ließe, wäre Erkenntnis, das Zusammenstimmen von Form und Inhalt – Subjekt und Objekt bei Kant – notwendig zu begründen. Insofern ist die idealistische Zuspitzung der Erkenntnistheorie von einer ihrer Sache immanenten Dynamik bestimmt. Kant will aber doch an der Anschauung und dem ihr korrespondierenden Gegebensein von Erscheinungen festhalten; nur von dort seien Inhalte zu erwarten. Dafür nimmt er die Inhaltslosigkeit des Subjekts in Kauf, das dialektisch sich Vorstellungen seiner selbst zulegt, die aus der absoluten Identität des ‚Ich denke‘ nicht zu entnehmen sind. Die Paralogismen der reinen Vernunft sind daher nicht bloß abzuweisende Fehlschlüsse sondern auch integrale Bestandteile der Erkenntnistheorie. Insofern das Selbstverständnis des Subjekts notwendig schwankt zwischen allgemeiner Subjektivität und Erfahrungssubjekt, verwickelt es sich in falsche Vorstellungen seiner selbst. Nun sind diese Paralogismen Analogien, durch die das Subjekt kategorische Bestimmungen von Objektverhältnissen auf sich selbst überträgt. Dem darin verborgenen Moment objektiver Bestimmung des Subjekts steuert Kant durch die Identifikation dieser Bestimmung als rein subjektiven Akt. Die notwendige dialektische Tendenz zur Objektivierung der absoluten Identität des Subjekts verbleibt so als subjektiver Akt im Subjekt selbst. So gelingt es Kant, die Paralogismen so zu präparieren, daß erstens absolute Subjektivität durch die Erklärung der Unzulässigkeit der Paralogismen gewahrt bleibt, und daß zweitens die Vorstellung der Paralogismen, weil sie als bloß subjektive Bestimmungen von Subjektivität gefaßt werden, unschädlich für die Vorstellung absoluter Subjektivität ist. In dieser Reduktion des – falschen – Inhalts auf die Kompatibilität mit der allgemeinen Form von Subjektivität ist dann die Grenze zwischen urteilendem Subjekt und Subjekt des Urteils gefallen.

183

Z. B. KrV, B 432

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2.

Das Subjekt der Paralogismen

a.

Selbsttäuschung über Subjektivität

Die Konstruktion der Subjektivität in der reinen Vernunft, die auf die Paralogismen führt, entwickelt Kant aus der Kritik der ‚rationalen Seelenlehre‘184 , einer Psychometaphysik, deren Gegenstand allein das ‚Ich denke‘ der transzendentalen Einheit der Apperzeption sein soll. Vorausgesetzt sei in dem Urteil ‚Ich denke‘ die Beschränkung der Betrachtung auf die Internalität des Subjekts, die Seele, abgetrennt vom Körper. Weiter soll der Ausdruck problematisch genommen werden, das heißt weder in Beziehung auf empirische Gegenstände noch auf die eigene Existenz, sondern als reiner Ausdruck des Selbstbewußtseins, das alle möglichen Bewußtseinszustände des Subjekts begleiten können muß: „Ich denke, ist also der alleinige Text der rationalen Psychologie, [...] weil das mindeste empirische Prädikat die rationale Reinigkeit und Unabhängigkeit der Wissenschaft von aller Erfahrung, verderben würde.“185 Selbstbewußtsein kann so nur in seinem Verhältnis a priori zu den Kategorien – als Denkformen, nicht -inhalte – bestimmt werden. Selbst seine Beziehung auf reine Anschauung ist nach Kant als innere Erfahrung schon Gegenstand empirischer Forschung. Der Ausdruck, es sei „zuerst ein Ding, Ich, als denkend Wesen gegeben worden“186 , verschweigt, wem und wodurch es gegeben wurde. Dies als grundlegend zu denkende Selbstbewußtsein ist nicht unmittelbar, sondern,

184

185

186

KrV, B 400. Zur Stellung der Paralogismen vgl. Dieter Henrich, Identität und Objektivität. Eine Untersuchung über Kants transzendentale Deduktion, in: Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse, Heidelberg 1976, 55ff. – Zur Entwicklung des theoretischen Subjektbegriffs im Medium von Kants kritischer Distanzierung von der Schulmetaphysik vgl. ausführlich Heiner F. Klemme, Kants Philosophie des Subjekts, a.a.O., Teil I: Der Subjektbegriff zwischen Dissertation und Kritik der reinen Vernunft. KrV, B 401. Vgl. A 397: „Weil wir beim Denken überhaupt von aller Beziehung des Gedankens auf irgendein Objekt (es sei der Sinne oder des reinen Verstandes) abstrahieren: so ist die Synthesis der Bedingungen eines Gedankens überhaupt [...] gar nicht objektiv, sondern bloß eine Synthesis des Gedankens mit dem Subjekt, die aber fälschlich für eine synthetische Vorstellung eines Objekts gehalten wird.“ Von dieser Einheit der Synthesis ist dann nicht mehr zu sagen, ob sie numerisch oder qualitativ sei. Vgl. Ernst Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, a.a.O., 286. Für eine gründliche Diskussion des ‚Ich denke‘ vgl. Richard Schantz, Der Sinn des Textes ‚Ich denke‘. Kants Kritik der rationalen Psychologie, in: Volker Gerhardt/Rolf-Peter Horstmann/Ralph Schumacher, Kant und die Berliner Aufklärung, a.a.O., Bd. II. Schantz bemerkt: „Wir könnten das Pronomen der ersten Person gar nicht kohärent verwenden, wenn es seinen Zusammenhang mit dem vollblütigen Begriff eines Subjekts der Erfahrung, mit dem Begriff einer beharrlichen körperlichen Person, völlig verloren hätte.“ (451). Allerdings sind daraus nicht notwendig empiristische Konsequenzen fürs Selbstbewußtsein zu ziehen, wie es etwa Bennett oder Strawson getan haben. KrV, B 402.

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wie Descartes zeigt,187 Resultat umfassender Negationen desselben Subjekts, das so sich zum Gegenstand nicht allein wird, sondern macht. Die theoretische Notwendigkeit der Isolation des Subjekts macht es zum negativen Ausdruck seiner praktischen Relationalität bezüglich heterogener und heteronomer Momente, die so zu impliziten Bestimmungen des Selbstbewußtseins werden. Die Vermittlung des Selbstbewußtseins mit seiner objektiven, es bestimmenden und differenzierenden Realität in seinem Begriff erweist sich als zwingend. Wenn Kant die Beschränktheit reiner Subjektivität hervorhebt, betont er erstens die Notwendigkeit von Erfahrung für empirische Subjektivität, aber verteidigt zweitens ein Konzept von Subjektivität überhaupt, das als formale Bedingung von Erfahrung zugleich – wie jede prinzipielle Erkenntnistheorie – polemisch gegen wirkliche Erfahrung ist. Diese Polemik soll das Subjekt gegen alle besonderen Funktionen verwahren und gibt es deshalb als reine Funktionalität188 wieder: Als solche wird reine Subjektivität paradox zum formalen Ausdruck dessen, was real aus ihr ausgeschlossen wurde. Die Behauptung, daß theoretisch nur die absolute Identität des Subjekts zu denken sei, dessen weitere Bestimmungen als zufällige in die empirische Psychologie fielen, provoziert die Frage danach, in welches Bewußtsein die Differenz jener absoluten Identität zu diesen empirischen Bestimmungen dann falle. Fiele sie in das empirische Selbstbewußtsein, so wäre diese Differenz selbst zufällig und mit ihr auch die Identität des Selbstbewußtseins, die als ein Moment der Differenz mit dieser vom empirischen Selbstbewußtsein abhinge. Als notwendige Differenz hingegen müßte sie in das absolute Selbstbewußtsein fallen, würde dadurch aber zum Moment von dessen Identität und wä187

188

Vgl. René Descartes, Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, Hamburg 1994. Der radikale Zweifel zu Beginn der Meditationen stellt Subjektivität her durch Negation der empirischen Bestimmtheit eines empirischen Subjekts. Dies ist die schon erkenntnistheoretisch systematisierte Version der Selbstvergewisserung des Subjekts bei Anselm von Canterbury, Proslogion, Stuttgart 1962, wo das ‚Menschlein‘ sich durch Rückzug aus der geschäftigen Alltagswelt in die Lage versetzt, über das Dasein Gottes zu spekulieren. Reflektiert ist die Negativität der Subjektivität darin, daß die Abschirmung gerade dazu dient, die Begrenztheit menschlicher Erkenntnis bewußt zu machen; die dann erfolgende Erkenntnis des Daseins und Erkennens Gottes antizipiert dagegen schon den absoluten Anspruch formalisierter Subjektivität. – Radikalisiert ist dies bei Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen, Hamburg 1987. Diese stellen eine Reflexion der Kantischen und der Hegelischen Reflexionen auf die Meditationen des Descartes’ dar. Die Vergegenständlichung von Subjektivität kulminiert in der Ontologisierung der Bewußtseinszustände, der absolute Anspruch von Subjektivität in der Generation von Objektivität aus dem Subjekt. Will Husserl zunächst – wie Kant – den ontologischen Gottesbeweis des Descartes umgehen, so ist er doch – wie Kant – implizit auf dessen Argumentstruktur angewiesen, wenn es um die Begründung von Objektivität geht (vgl. Dritte Meditation). Daß eine so begründete Subjektivität bei sich selbst bleibt, wendet auch Niklas Luhmann ein (vgl. Soziale Systeme, a.a.O., 202). Die „logische qualitative Einheit des Selbstbewußtseins im Denken überhaupt“ (KrV, B 413) ist keine Qualität, sondern der Begriff absoluter Funktionalität. Damit steht Kant grundsätzlich in der Tradition der „individualistische[n] Auffassung der Situation des Menschen, wie sie in der Philosophie der Neuzeit weit verbreitet gewesen ist“ (Oliver Robert Scholz, Autonomie angesichts epistemischer Abhängigkeit, a.a.O., 830). Allerdings hebt Scholz hervor, daß bei Kant das Testimonium durchaus als Erkenntnisquelle in Frage kommt, wodurch die Isolation des Subjekts einzuschränken sei. Aber die Möglichkeit dafür, daß daraus Erkenntnis folge, ist für Kant nur in einem isolierten Subjektbegriff zu begründen.

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re keine Differenz mehr. Identität und Differenz des Selbstbewußtseins sind theoretisch nicht als absolut Getrennte, sondern nur in wechselseitiger Vermittlung zu denken. Die strikte Trennung in theoretisches und empirisches Selbstbewußtsein macht jenes gegenstandslos und dieses erkenntnisunfähig;189 entscheidend ist aber, daß keines der beiden fähig wäre, dieses Problem auch nur zu bezeichnen, geschweige denn zu reflektieren.190 Das Beharren auf der Möglichkeit der Rückwendung des sublimen transzendentalen Subjektprinzips auf empirische Subjektivität indiziert deshalb keinen Rückfall in den Empirismus, sondern ist Bedingung der Möglichkeit reiner transzendentaler Subjektivität selbst, deren Begriff deshalb nicht ohne Aporie zu haben ist. Die „Subreption des hypostasierten Bewußtseins“191 , die falsche Vorstellung, daß der transzendentalen Einheit der Apperzeption eine auch empirische Einheit des Subjekts korrespondiere, führt Kant darauf zurück, daß die Einheit der Apperzeption nicht Resultat kategorialer Erkenntnis ist, sondern selbst vorkategorial; durch sie werden für das Subjekt die Kategorien erst Gegenstände, mithin hängt auch jede Vorstellung von Objektivität wie auch von Objekten von der Einheit der Apperzeption ab, so daß der Schein ihrer Identität mit dem Erfahrungssubjekt, das dem Objekt gegenübersteht, erweckt werde. Allerdings unterscheidet sich nach Kant „das bestimmende Selbst, (das Denken) von dem bestimmbaren Selbst (dem denkenden Subjekt), wie Erkenntnis vom Gegenstande“192 ; Kant trennt hier Spontaneität und Rezeptivität des Denkens. Jene – als Bedingung, überhaupt ein Objekt zu erkennen – könne niemals selbst Objekt sein, sondern immer nur reines Subjekt, dem nur seine Rezeptivität als Objekt gegeben sein könne. Mit dieser Distinktion schließt Kant jede materiale Reflexion aus der Subjektivität aus, deren Reflexivität dann allein formal, d. h. leer, sein kann. Gerade Kants Differenz von Subjekt und Objekt spaltet die Subjektivität derart, daß zwei ihrer Funktionen, Spontaneität und

189

190

191 192

Vgl. Frank Kuhne, Selbstbewußtsein und Erfahrung, a.a.O., 166. – Auf dieses Problem geht auch Peter F. Strawson, Die Grenzen des Sinns, a.a.O., 21, ein und plädiert für eine enge Verbindung von empirischem und intelligiblem Selbstbewußtsein, allerdings unter dem Aspekt der Selbstzuschreibung von Erfahrungen. Wissenschaftstheorie verhandelt das Verhältnis von Empirie und Theorie unter Umgehung der Bewußtseins- Selbstbewußtseinsproblematik als Differenz von Beobachtungssprache und Metasprache. Damit wird im wesentlichen auf strukturelle Analysen der sprachlichen Darstellung wissenschaftlicher Erkenntnisse abgestellt. Darüber hinausgehende Reflexionen gelten als „kaum durchschaubare Vermengung von begrifflichem und bildhaft-mythologischem Denken, unfundierte spekulative Wortklaubereien und Sprachträumereien“ (Wolfgang Stegmüller, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie, Bd. I: Wissenschaftliche Erklärung und Begründung, Berlin 1969, XV). Hinsichtlich der Kantischen Philosophie führt die geforderte sprachliche Klarheit z. B. zur Identifikation von Wissenschaftstheorie und Transzendentalphilosophie (XXIII). Der eminente Unterschied beider tritt indes hervor in der Frage danach, in welcher Sprache die Extension des Begriffs Metasprache darzustellen wäre. – Eine andere Form, Subjektivität zu umgehen, ist Luhmanns Wissenschaftsbegriff. Vgl. Niklas Luhmann, Die Praxis der Theorie, in: Soziologische Aufklärung. Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme, Opladen 1971. KrV, A 402. KrV, A 402.

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Rezeptivität, jeweils für sich hypostasiert werden.193 Die reflexive Verknüpfung beider, die den Widerspruch in einer prozessualen Bestimmung von Selbstbewußtsein zuließe, wäre das Gegenteil von Hypostase.194 Die Hypostase, die Kant rügt, die unzulässige Verknüpfung von transzendentalen Begriffen in den Obersätzen der Paralogismen – etwa der ‚Substanz‘ als ‚Vorstellung des absoluten Subjekts unserer Urteile‘ mit dem empirischen Gebrauch derselben Begriffe in den Untersätzen, das ‚denkende Wesen‘ als substantielles Subjekt – ist selbst eine Folge von Kants schon kritischer Rekonstruktion des affirmativen metaphysischen Seelenbegriffs. Kant zeigt, auf welche Aporien ein metaphysischer Seelenbegriff, wenn man ihn im Zusammenhang moderner Subjekttheorie reformuliert, führt; eine Auflösung der Aporie ist die Zurückweisung solcher Begriffe wegen ihrer Aporetik aber nicht, weil der neuzeitliche Subjektbegriff, in dessen Tradition Kant steht, damit nur die abstrakte Negation des metaphysischen ist, in der die für diesen kennzeichnende Hierarchie der Weltordnung nicht kritisch reflektiert, sondern lediglich dem Subjekt selbst implizit aufgebürdet wird: Die Ordnung, die Gott nicht mehr garantiert, soll samt ihrer Legiti193

194

Vgl. Theodor W. Adorno, Kants „Kritik der reinen Vernunft“, Frankfurt am Main 1995, 223: „Das Resultat der Abstraktion darf gerade Kant zufolge nicht hypostasiert werden; beim Ich denke aber tut er genau das.“ Hegel hat gegen Kant einen solchen prozessualen Begriff des Selbstbewußtseins eingewandt: „Erkennen ist in der That bestimmendes und bestimmtes Denken; ist die Vernunft nur leeres, unbestimmtes Denken, so denkt sie nichts. Wird aber am Ende die Vernunft auf jene leere Identität reducirt […] so wird auch sie am Ende glücklich noch von dem Widerspruche befreyt durch die leichte Aufopferung alles Inhaltes und Gehaltes.“ (G. W. F. Hegel, Enzyklopädie (1830), GW 20, Hamburg 1992, § 48 Anm.) Der Widerspruch, der den Gehalt der Vernunft bestimme, ist allerdings nach Hegel auch bloß der absolute von Identität und Differenz der Vernunft mit sich selbst: „Denken, Geist, Selbstbewußtseyn, sind Bestimmungen der Idee, insofern sie sich selbst zum Gegenstand hat, und ihr Daseyn d. i. die Bestimmtheit ihres Seyns ihr eigener Unterschied von sich selbst ist.“ (G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik. Lehre vom Begriff , a.a.O.) Vgl. hierzu auch den Zusatz zu Enzyklopädie, a.a.O., § 47: Die Kritik an der Prädikation der Einfachheit, Unveränderlichkeit usw. von der Seele sei richtig, aber nicht, weil die Prädikate das Vernunftvermögen überstiegen, sondern weil sie es unterböten, da die Seele „noch etwas ganz anderes ist, als das bloß Einfache, Unveränderliche usw. So ist z. B. die Seele allerdings einfache Identität mit sich, aber zugleich ist dieselbe, als tätig, sich in sich selbst unterscheidend […]“ (nach Werke, Bd. 8, hg. v. E. Moldenhauer/K.M. Michel, Frankfurt am Main 1986). – Um einen gehaltvolleren prozessualen Begriff von Selbstbewußtsein bemüht sich Adorno, der den Prozeß als den zwischen formaler Selbstbestimmtheit a priori und empirischer Bestimmung von Bewußtsein versteht, indem „die Scheidung von Subjekt und Objekt ihrerseits noch selber eine dynamische Unterscheidung ist, eine Unterscheidung, die in sich Prozeßcharakter hat, die aber genausowenig als eine sogenannte Grundstruktur […] zu verabsolutieren ist“ (Theodor W. Adorno, Kants „Kritik der reinen Vernunft“, a.a.O., 247). Diesen Prozeß verortet Adorno im Verhältnis der reinen Apperzeption zu der „Singularität eines bestimmten Ichs […], dessen Erlebnisse dadurch, daß sie seine und nicht die eines anderen sind, miteinander zusammenhängen“ (a.a.O., 303). Zwar seien beide Seiten, reine Form und empirischer Inhalt, bei Kant angesprochen, aber nicht vermittelt: „Eigentlich wäre die Konsequenz aus dem Paralogismenkapitel […], daß der Subjektsbegriff […] dann nicht als ein reines Apriori mehr erscheinen dürfte; sondern seine Apriorität und die Anschauungen […] müßten […] eigentlich als reziproke erscheinen.“ (A.a.O., 313) Der „Gedanke der Subjektivität ist ohne das Bewußtsein, von dem er abstrahiert ist, eigentlich nicht zu fassen“ (a.a.O., 221).

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mation selbstverständlich vom Subjekt, aus ihm selbst heraus, gesetzt werden; die durch die Subjektivierung der Philosophie eröffnete Möglichkeit, jene Ordnung grundsätzlich in Frage zu stellen, wird radikal erst im 19. Jahrhundert in der Kritik an den säkular verbrämten theologischen Spuren in der Philosophie aufgegriffen. Bis dahin soll das absolute Subjekt aller Urteile Substanz der begrifflichen Ordnung sein, ohne selbst substantiell in dem durch die Begriffe Geordneten repräsentiert zu sein. Der Chorismos von Begriff und Erfahrung, vormals die Differenz von Gott und Schöpfung, bleibt erhalten im Verhältnis von Selbstbewußtsein und Erfahrung, in dem das Selbstbewußtsein für die Rationalität der Ordnung seiner Erfahrungsgegenstände selbst als Grund bürgen könne, weil es an ihr nicht umgekehrt als Begründetes teilhabe. Die Ordnung und Einteilung, die subjektive Zurichtung der Erfahrungsgegenstände ist damit nicht eben so starr wie die göttliche Ordnung, sondern starrer, weil das Subjekt sich selbst nicht leugnen kann. Den Objekten bleibt auch in dieser Ordnung keine selbständige Objektivität, und da ihre Abhängigkeit nicht mehr im absoluten Subjekt Gottes gründet, sondern im erkennenden Subjekt selbst, ist dessen erkenntnistheoretische Absolutheit erborgt vom Objekt, erschlichene Hypostase. Schon die frühe Kritik an der Metaphysik hatte nicht das Prinzip hypostasierter Subjektivität aufgehoben, sondern hauptsächlich das Subjekt ausgewechselt. Damit hatte sie den Begriff des Selbstbewußtseins zu sich selbst gebracht: aus seiner transzendenten Gestalt göttlicher Trinität schließlich in eine transzendentale Vorstellung seiner selbst verwandelt, die den Widerspruch von Absolutem und Schöpfung in sich selbst austragen muß. Die Resultate aller Paralogismen sind ihrem Gehalt nach, die meisten schon ihrem Ausdruck nach, doppelte Negationen: Immaterialität, Inkorruptibilität, Personalität (als Negation empirischer Unterschiede zur Einheit der Person), Spiritualität (als Aufhebung empirischer Defizienz), Kommerzium (Wechselwirkung Verschiedner als Aufhebung von deren isolierter Verschiedenheit), Animalität (als Negation endlicher Körperlichkeit), Immortalität.195 Der Grund der Fehler der Paralogismen liegt nach Kant darin, daß ihnen bloß ‚Ich‘ zugrundeliegt, was weder ein Objekt noch eine Vorstellung sei „und wovon wir, abgesondert, niemals den mindesten Begriff haben können“196 . Um es zu denken, ist nämlich immer schon zweierlei vorausgesetzt, erstens es selbst und zweitens „die Gedanken, die seine Prädikate sind“197 . Gleichwohl sind nach Kant die Fehler, die aus der hypostatischen Annahme von ‚Ich‘ resultieren, notwendige Vernunftschlüsse, weil sonst der Vorrang des Bewußtseins vor seinen Inhalten nicht gedacht werden könnte. Die erkenntnistheoretische Isolation des Selbstbewußtseins hat einen sozialen Oberton: Die Gemeinsamkeit des Selbstbewußtseins mit anderen seinesgleichen, die deren Qualifizierung durch es selbst zu seinesgleichen voraussetzt, ist nur als Projektion einer Monade auf andere Monaden zu erklären, weil „wir den Dingen a priori alle die Eigenschaften notwendig beilegen müssen, die die Bedingungen ausmachen, unter welchen wir sie allein denken. Nun kann ich von einem denkenden Wesen durch keine äußere Erfahrung, sondern bloß durch das Selbstbewußtsein die mindeste Vorstellung haben. Also sind dergleichen Gegenstände nichts weiter, als die 195 196 197

Vgl. KrV, B 403. KrV, B 404. KrV, B 404.

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Übertragung dieses meines Bewußtseins auf andere Dinge, welche nur dadurch als denkende Wesen vorgestellt werden.“198 Damit wird die bei Anselm von Canterbury noch präsente Ablösung des Selbstbewußtseins von allen sozialen Zusammenhängen, die bei Descartes schon rein erkenntnistheoretisch gefaßt ist, bei Kant als vollzogen vorausgesetzt.199 Dieser Bestimmung des Selbstbewußtseins, der obersten Bedingung der Möglichkeit von Wissenschaft, korrespondiert in der realen gesellschaftlichen Organisation des Wissenschaftsbetriebes, daß in ihm die systematisch aufeinander verwiesenen Individuen zugleich nur als Konkurrenten erscheinen. Dem entspricht die Organisation des gesamten gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses, in dem die Einzelnen nur als Stellvertreter ihrer relationalen Funktionen – als Personen – gesellschaftliche Existenz erhalten und umgekehrt die gesellschaftliche Realität nur mehr als Funktion ihres Selbst erfahren, jedenfalls solange das Funktionsgefüge, als dessen Mittelpunkt sie sich wähnen, nicht gestört ist. Die Störung – der Offenbarungseid beispielsweise, durch den die Person als relatum, als Vertragspartner, inakzeptabel wird – stellt das Subjekt außerhalb des Gefüges der Gesellschaft. Dadurch demonstriert diese an ihm gleichzeitig die Deformation der Individualität und die eigene Integrität. Was die Gesellschaft – durch soziale Mechanismen – zerstört und aussetzt, präsentiert sie als selbst Aussätziges und erhält sich rein.200

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KrV, B 405f. Prinzipiell gehen die Elemente des Ich-Verständnisses auf Augustinus zurück, wie Gerhard Krieger gezeigt hat: Ichbewußtsein oder Selbstbewußtsein überhaupt? Zu einer mittelalterlichen Alternative zu Kant, a.a.O. Adornos Konsequenz schüttet das Kind allerdings mit dem Bade aus: „Die Allgemeinheit des transzendentalen Subjekts aber ist die des Funktionszusammenhangs der Gesellschaft […]. [Sie] hat ihre Realität an der durchs Äquivalenzprinzip sich durchsetzenden und verewigenden Herrschaft.“ (Negative Dialektik, a.a.O., 178). Gerade wenn die transzendentale Einheit nur in einer durch Herrschaft gespaltenen kollektiven empirischen Einheit erscheint, wäre dagegen unvermindert am Begriff der transzendentalen Einheit festzuhalten, ohne den kein Ausweg denkbar wäre. Die implizite Polemik dieses Begriffs gegen Heteronomie wird wirksam allerdings erst in seiner negativen Vermittlung mit dem empirischen Selbstbewußtsein. In Kants „Kritik der reinen Vernunft“, a.a.O., 220, vertritt Adorno vorsichtiger den Versuch „mit dem Begriff der Gesellschaft als einem konstitutiven erkenntnistheoretischen Begriff zu operieren“ und betont wenig später, „daß nun nicht etwa daraus zu folgern ist, das Constituens qua Geist, qua Transzendentalsubjekt sei nicht das Constituens; sondern das eigentliche Constituens, das sei was Empirisches, – nämlich die Gesellschaft.“ (224). Tatsächlich bestimmten beide sich wechselseitig und seien nicht reduzierbar. Das allerdings stimmt auch nur fürs empirische Subjekt und für die besondere erkenntnistheoretische Bestimmung des Begriffs der reinen Apperzeption; diese selbst muß aber auch unabhängig vorausgesetzt werden. Adornos Übertragung der Gesellschaft aufs Transzendentale rührt von der falschen Fixierung aufs sogenannte Tauschprinzip her, das ja tatsächlich gar kein Prinzip, sondern bloß eine Form der Vermittlung des gesellschaftlichen Stoffwechsels ist, dessen Prinzip im Zweck der Kapitalverwertung in der Produktion liegt. Weil Adorno alles, was mit Tausch zusammenhängt, verwirft, entgeht ihm das emanzipatorische Moment des gesellschaftlichen Arbeitsprozesses, in dem Allgemeinheit durchaus rational, aber unter falschem Zweck, daher widersprüchlich realisiert ist. Die Realität der Allgemeinheit des transzendentalen Subjekts liegt im autonomen Kollektiv, dessen Zerrbild das heteronome ist; keineswegs liegt sie im Tausch, der bloß eine – wohl mangelhafte – Verkehrsform des heteronomen Kollektivs ist.

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Keineswegs bildet Kant dies im Begriff des reinen Selbstbewußtseins ab; die erkenntnistheoretische Absicht jedoch, die metaphysische Überlastung des Subjekts zu vermeiden, reißt es aus allen Gefügen heraus, die metaphysisch die Objektivität von Wissenschaft und zugleich das individuierte Allgemeine, die Menschheit in den Einzelnen, ermöglichen sollen. Der Anlaß der Kritik der Paralogismen ist die kritische Zurückweisung des metaphysischen Seelenbegriffs, der die Probleme der Gemeinschaft von Körper und Seele, der pränatalen und der postmortalen Existenz der Seele in deren Vorstellung als Substanz auflöst.201 Kant kommt es auf Aporien im Erkenntnis-, später im Freiheitsbegriff an, die daraus folgen: Die von den Objekten unabhängige metaphysische Existenz der Seele bietet keinen Weg zur Überwindung der Differenz von Körper und Seele im Sinne objektiver Erkenntnis dar, und sie stellt das Problem des zeitlichen Handelns einer ewigen Entität. Mit seiner radikalen Kritik attestiert Kant implizit der neuzeitlichen Seelenmetaphysik, daß sie der hoffnungslose Versuch war, dem zur formal isolierten Funktion – zur Rechtsperson – ermäßigten Subjekt eine Substantialität anzuschaffen, die real bedeutungslos geworden ist.202 Kant will zeigen, daß die Menschen über ihr Selbstbewußtsein als über ein selbständig Daseiendes nichts wissen können, weil sie aufgrund der Beschränkung ihres Bewußtseins auf die eigenen Vorstellungen noch nicht einmal wissen können, „worauf die Wirklichkeit der äußeren Erscheinungen im jetzigen Zustande (im Leben) beruhe“203 . Die Überwindung der Seelenmetaphysik durch die Subjektivierung auch aller objektiven Momente von Subjektivität204 führt indes zu einem Begriff des Subjekts, der die Isola201

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Vgl. KrV, A 384. In den Prolegomena, IV, konzentriert sich die Darstellung des Identitäts- und Beharrlichkeitsproblems in den §§ 46ff. auf die Kritik eines affirmativen Begriffs von Unsterblichkeit. Mit Kants Kritik der Substantialität der Seele fällt ebenso die Möglichkeit, von entia moralia zu reden. Dieser Begriff – dessen erste Konjunktur die spanische Spätscholastik, vor allem bei Francisco Suarez, und dessen systematische Fassung die Rechtsphilosophie Samuel Pufendorfs darstellt – reagiert auf die nominalistische Ablösung des Sittlichen vom göttlichen Gesetz. Soll das Gute bestimmbar bleiben, muß ein Wesenssurrogat gedacht werden. Als solches fungiert der Begriff menschlicher Freiheit, zwischen gut und böse zu wählen. Moral wird dadurch zur Sache des modernen Subjekts, zugleich aber wird das moralische Subjekt in seiner nominalistischen Vereinzelung zum ens morale substantialisiert. Allgemeine Subjektivität, zuvor durch die Gattung gedacht, ist nur mehr als persona moralis composita, als aus substantiell Einzelnen zusammengesetze Person zu denken. (Zur Geschichte der Konzeption des ens morale vgl. Theo Kobusch, Die Entdeckung der Person, a.a.O., bes. Teile I und II.) Kant rettet die freie Persönlichkeit als Zurechnungssubjekt durch die Trennung von theoretischer Philosophie, in der er nachweist, daß dergleichen nicht zu denken sei, und praktischer Philosophie, in der es dennoch widerspruchsfrei angenommen werden dürfe. KrV, A 394. Hegel beurteilt Kants Intellektualisierung des Subjekts zum reinen Gedanken als Fortschritt gegen den Seelenmaterialismus, bemängelt aber, daß „der Inhalt des Gedankens für sich selbst […] nicht zur Sprache“ komme. (Enzyklopädie, a.a.O., § 47; vgl. Wissenschaft der Logik. Lehre vom Begriff , a.a.O., 193 und Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, a.a.O., 355f.). Der Verlust der objektiven Distanz zur Subjektivität erscheint in Kants steter Redeweise in der ersten Person Singular. Nicht vom Subjekt bestimmt Kant etwas, sondern konsequent zunächst immer von seiner Subjektivität, die ihm allein vor aller Erfahrung gegeben sei; diese Perspektive übernimmt jeder Leser suggestiv. Dem entspricht Benno Erdmann, der an einer Stelle, an der Kant

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tion repräsentiert, in der sich die realen Subjekte durchaus befinden. Das Subjekt der Philosophie wäre der Selbständigkeit nur negativ fähig, indem es das, was es nach Kant sei, erkennte als das, was es nicht ist. In dieser Reflexion könnte dann das Subjekt der Philosophie mit dem Subjekt in der Philosophie koinzidieren, ohne die kritische Distanz zu verlieren. Im Ersten Paralogismus legt Kant dar, daß die erkenntnistheoretische Identität des Subjekts im ‚Ich‘ der transzendentalen Einheit der Apperzeption lediglich logisch bestimmt sei, weil jeder weiteren Bestimmung des ‚Ich‘ dessen logische Operation schon zugrundeliege und diese Operation daher jene Bestimmung als abhängige, nicht-substantielle erwiese, so daß „wir außer dieser logischen Bedeutung des Ich, keine Kenntnis von dem Subjekte an sich selbst haben“205 . Was in falscher Weise als ein „Gegenstand, den ich denke, nämlich: Ich selbst und die unbedingte Einheit desselben“ vorgestellt werde, sei in Wahrheit „nur die formale Bedingung, nämlich die logische Einheit eines jeden Gedankens, bei dem ich von allem Gegenstande abstrahiere“206 . Dadurch sollen Schlüsse auf die traditionellen metaphysischen Bestimmungen der Substanz – insbesondere Ewigkeit und Unveränderlichkeit – ausgeschlossen werden. Die Reduktion der Substanz des Subjekts auf seine logische Funktion will Kant durch die Aufhebung der Differenz von urteilendem Subjekt und Subjekt im Urteil erreichen: „Von jedem Dinge überhaupt kann ich sagen, es sei Substanz, sofern ich es von bloßen Prädikaten und Bestimmungen der Dinge unterscheide. Nun ist in allem unserem Denken das Ich das Subjekt, dem Gedanken nur als Bestimmungen inhärieren, und dieses Ich kann nicht als die Bestimmung eines andern Dinges gebraucht werden. Also muß jedermann sich selbst notwendigerweise als die Substanz, das Denken aber nur als Akzidenzen seines Daseins und Bestimmungen seines Zustandes ansehen.“207 Gedanken, Urteile, die selbst ein logisches Verhältnis von Subjekt und Prädikat ausdrücken, gelten hier als Attribute, logische Prädikate des denkenden Subjekts. Dadurch werden die Subjekte der Urteile – traditionell als bestimmte Gegenstände die substantielle Grundlage der Abhängigkeit ihrer Prädikate – selbst zu abhängigen Prädikaten. Diese nominalistische Umwandlung der Substantialität in ein rein logisches Verhältnis verwandelt alle

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in der dritten Person formuliert, unverzüglich die erste als Lesart einsetzt. (Vgl. KrV, B 408, zit. nach der Ausgabe von Raymund Schmidt, Hamburg 1990. Adornos hochschätzende Beurteilung der 1. Person Singular ergibt sich aus der falschen Beobachtung, Kant rede „von Wir – und im allgemeinen jedenfalls nicht von Ich“ (Kants „Kritik der reinen Vernunft“, a.a.O., 228). Deshalb sei im Subjektbegriff bei Kant immer schon die kollektive, nahezu gesellschaftliche Perspektive anwesend, als deren empirisch-persönliche Ergänzung dann gelegentlich das Ich auftrete. Tatsächlich redet Kant überall, wo vom Bewußtsein etwas ausgesagt wird, von Ich und nur dort, wo ausdrücklich das untersuchende Subjekt spricht, also in der Distanz zum untersuchten, von Wir. – Ein echtes Paradoxon ist Hindrichs’ Formulierung: „Über das Ich kann nicht in der 3. Person gesprochen werden.“ (Negatives Selbstbewußtsein. Überlegungen zu einer Theorie der Subjektivität in Auseinandersetzung mit Kants Lehre vom transzendentalen Ich, Hürtgenwald 2002, 183). KrV, A 350. Vgl. auch Fortschritte, XX 270, wo Kant vom ‚logischen Ich‘ spricht. Vgl. ebenso Tobias Rosefeldt, Das logische Ich. Kant über den Gehalt des Begriffes von sich selbst, Berlin 2000. KrV, A 398. Auf die Plausibilität und zugleich Problematik dieses Gedankens hat Henrich hingewiesen: Identität und Objektivität, a.a.O., 83 und 85f. KrV, A 349.

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unabhängigen Substanzen in abhängige Attribute – bis auf eine, nämlich das ‚Ich‘, das jene logischen Verhältnisse denkt. An ihm haben alle Relationen ihr Absolutes. Das urteilende Subjekt wird dadurch zum ersten Subjekt der Prädikation,208 zum Erben der Aristotelischen ‚Ersten Substanz‘, der dadurch ausgezeichnet ist, „in allen Urteilen [...] immer das bestimmende [und das heißt: nicht das bestimmbare, das nur eine Funktion der äußeren Anschauung wäre, M.St.] Subjekt desjenigen Verhältnisses, welches das Urteil ausmacht“209 , zu sein. Damit aber ist nicht nur die Substantialität des Subjekts in dessen logische Funktionalität zurückgegangen, sondern auch alle andere Substantialität aufgehoben in der logischen Form der Kategorien, durch die das Subjekt die Bestimmungen der Objekte organisiert. Das Selbstbewußtsein ist dann die bloße ideelle Vorstellung seiner selbst, in die alle objektive Substantialität virtuell aufgehoben ist. Indem das gedachte Urteil, Denken selbst – eigenste Tätigkeit der Subjekte und Vermittlung von Subjektivität und Objektivität – als Prädikat absoluter Subjektivität gedacht wird, bleibt dem Selbstbewußtsein zur Selbstbestimmung keine Differenz mehr als allein die formale zu sich selbst, gemäß der es zum Bewußtsein seiner selbst sich schon voraussetzen muß. Die logische Funktion der Zuordnung der Gedanken zum Subjekt, deren Form in jenem Zirkel ausgedrückt ist, bleibt die einzige Bestimmung der Subjektivität des Subjekts, die, weil die Beziehung auf Erfahrung fehlt, „völlig leer“210 ist. In dieser Konsequenz der Fassung A macht sich aber schon die in der Fassung B dann stärker betonte Differenz von urteilendem Subjekt und Subjekt im Urteil geltend: „Daß das Ich der Apperzeption, folglich in jedem Denken, ein Singular sei, der nicht in eine Vielheit der Subjekte aufgelöst werden kann, mithin ein logisch einfaches Subjekt bezeichne, liegt schon im Begriffe des Denkens, ist folglich ein analytischer Satz; aber das bedeutet nicht, daß das denkende Ich eine einfache Substanz sei“211 . Im Unterschied zu Fichte, der aus der leeren Identität, A = A, die subjektive Form Ich = Ich ableitet,212 beharrt Kant im Zweiten Paralogismus auf der Differenz der logischen und der empirischen Identität. Diese abstrakte Differenz verwandelt das Selbstbewußtsein – die Bestimmung, die das Subjekt in Ansehung aller möglichen Objekte durch die Zeit als identisch bestimmt – in den Grund seiner formellen Ununterscheidbarkeit von allen anderen Subjekten, weil „die einzelne Vorstellung, Ich bin, [...] sich wie ein allgemeiner Satz, der für alle denkenden Wesen gelte, ankündigt, und, da er gleichwohl in aller Absicht einzeln ist, den Schein einer absoluten Einheit der Bedingungen des Denkens überhaupt bei sich führt, und dadurch sich weiter ausbreitet, als mögliche Erfahrung reichen könnte“213 . Die Paradoxie führt so zur Vorstellung von Kollektivität als einer Ansammlung isolierter Objekte, die als durch subjektive Suppositionen austauschbare Subjektäquivalente erscheinen; der Begriff des ‚denkenden Wesens überhaupt‘ wird unzulässig, „weil wir dieses uns nicht vorstellen können, ohne uns selbst 208 209 210 211 212

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Vgl. KrV, A 399: „dieses Ich ist das erste Subjekt“. KrV, B 407. KrV, A 400. KrV, B 407. Vgl. Johann Gottlieb Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre (1794/95), in: GA I,2, Stuttgart 1969, § 1. KrV, A 405.

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mit der Formel unseres Bewußtseins an die Stelle jedes anderen intelligenten Wesens zu setzen“214 . Die gleiche Gültigkeit aller individuellen Subjekte für die Wissenschaft, die erst im reproduziblen Resultat wissenschaftlichen Erkennens erscheint, wird so zur Bestimmung des Erkenntnisprozesses erklärt; dieser aber, sofern er synthetische Erkenntnis liefert, unterliegt keinem methodisch geregelten Verfahren und bedarf der historisch bestimmten Subjekte. Diese Subjekte sind jedoch in der Idealisierung des Erkenntnisprozesses untergegangen, denn die im Resultat gegebene Gleichgültigkeit der Individuen, als Bestimmung des Prozesses aufgefaßt, ist Bestimmung der diesen Prozeß tragenden Subjekte selbst. Das Verhältnis der denkenden Wesen zueinander wird nicht als objektives Verhältnis verschiedener Subjekte vorgestellt, sondern als wechselseitige Supposition aller objektiven Subjekte durch formale Subjektivität. Das impliziert schon die Auflösung der Identität des Bewußtseins seiner selbst, denn auch die eigene Einfachheit kann Kant zufolge aus der Form des Selbstbewußtseins, ‚Ich denke‘, nicht geschlossen werden. Zwar sei durch die logische Funktion des Ich, alle Vorstellungen begleiten können zu müssen, gesetzt, daß dieses Ich in sich nicht differiere; schließlich fiele der Gedanke einer möglichen Differenz wieder in ein identisches Bewußtsein. Aber diese Identität sei eine tautologische Bestimmung des Ausdrucks ‚Ich‘.215 Indem Kant die Einfachheit des Ich bloß als privative Negation von Mannigfaltigkeit versteht, die – als absolute verstanden – der bestimmungslosen logischen Identität äquivalent ist, verwandelt er die qualitative Identität des Subjekts, von der er hier handeln will, in eine bloß quantitative. Weil es keine Qualität des Subjekts gibt, kann sie dessen quantitativen Mangel, die „ärmste Vorstellung unter allen“216 zu sein, nicht kompensieren: Sie ist so arm an Bestimmungsdifferenzen, daß aus dieser Negation von Vielheit noch nicht einmal ihre Einfachheit gefolgert werden kann. Diese Bestimmungslosigkeit des Subjekts, auf die Kant dessen Einfachheit zurückbringen will, enthält aber doch jede Menge Bestimmungen, nämlich die Differenzen zu allen Elementen der Mannigfaltigkeit, die sie nicht ist. Für Kant aber ist das Ich als transzendentales Subjekt ein bloßes Etwas. Die Dialektik der Transzendentalienlehre, nach der bereits lange vor Hegel schon der Begriff des Etwas auf den des Anderen verweist, ist mit den ontologischen Seiten dieser Lehre vom Nominalismus beseitigt worden.217 Wenn der begrifflichen Ordnung keine rationale Seinsordnung mehr entspricht, sind auch die Relationen zwischen den Begriffen bloß subjektive Konstruktionen, deren Einsetzung anstelle der singulären Objekte deren isolierte Singularität unberührt läßt. „Die Einfachheit […] der Vorstellung von einem Subjekt“ ist dann noch keine „Erkenntnis von der Einfachheit des Subjekts selbst“218 . Die von Ockham noch festgehaltenen singulären Bestimmtheiten der Objekte werden 214 215 216 217

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KrV, A 354. Vgl. KrV, A 354f. KrV, B 408. Vgl. Thomas von Aquin, Von der Wahrheit. De Veritate, qu. 1, a. 1, Hamburg 1985, sowie G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik. Lehre vom Sein, a.a.O., 105ff. Zur Transzendentalienlehre vgl. Jan A. Aertsen, Medieval Philosophy and the Transcendentals: The Case of Thomas Aquinas, Leiden 1996. KrV, A 355.

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unter dem Begriff der ‚Singularität schlechthin‘ unter der Hand erneut zu Universalien, gegen die noch der letzte Rest objektiver Besonderheit als subjektive Setzung erscheinen muß. Durch diese heimliche Generalisierung wird wieder umgekehrt eine gnadenlose Vereinzelung bewirkt, die ihren Grund in der realen Gleich-Gültigkeit hat. Das Subjekt weiß sich mit seinesgleichen identisch, weil es an die Stelle jedes einzelnen Anderen zu treten vermag. Was zunächst notwendige Bedingung für die Allgemeingültigkeit wissenschaftlicher Urteile ist – und damit auch für die Bildung selbstbewußter Individualität – schlägt in seiner formalen Reduktion um in die Vernichtung von Individualität, der die Individualität solcher Subjekte, die Wissenschaft betreiben, nur mehr als Quelle der Fehler gilt.219 Individualität muß vom Subjekt, sofern es Wissenschaft betreibt, abstrahiert werden, wenn deren Resultate notwendig und allgemein sollen gelten können. In diesen Resultaten ist Individualität nicht repräsentiert; daß dies so ist, ist aber selbst keine erkenntnistheoretische Leistung, sondern ein Merkmal wissenschaftlicher Erkenntnis, deren Resultate unter adäquaten Bedingungen beliebig reproduzierbar sein müssen.220 Diese Ent-Individualisierung ist selbst schon eine Seite von Schillers individualistisch gemeintem Bildungspathos: „was Einer im Reich der Wahrheit erwirbt, hat er Allen erworben“221 . In den mathematisierten und technisierten Wissenschaften gilt dies a fortiori, sowohl als notwendige Bedingung der wissenschaftlichen Arbeitsteilung, als auch der zuverlässigen technischen Anwendung der Resultate; die Privatisierung von Wissen durchs Patentrecht ist – das läßt sich ebenso aus Schillers Wissenschaftsbegriff schließen – eine der allgemeinen Sache äußerliche formelle Subsumtion unter Warenbestimmungen, die der Einbindung wissenschaftlicher Arbeit in einen historisch bestimmten gesellschaftlichen Zusammenhang mitfolgt.222 In solchen Versuchen zur Lösung des Problems der – partikularisierenden – Wertbestimmung an sich allgemeiner wissenschaftlicher Arbeit macht sich aber erstens noch geltend, daß die Erzeugung wissenschaftlicher Resultate prinzipiell nicht unter standardisierbare Bedingungen zu subsumieren ist: Die Entdeckung methodisch geregelter Verfahren zur Reproduktion von Erkenntnissen folgt selbst noch keinem methodisch geregelten Verfahren. Zweitens macht sich geltend, daß die Resultate ihrer Form wegen allgemein gültig und verfügbar sind. Der Ausfall von Individualität im Resultat bedarf aber keiner erkenntnistheoretischen Reflexion; jeder Wissenschaftler, der in der Kooperation oder in der Konkurrenz der 219

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Hierin liegt der systematische Grund für die auch praktische Ambivalenz des Individuums. Vgl. auch Anthropologie, VII 325f., wo Kant die ebenso falsche Aufwertung des wissenschaftlichen Individuums vertritt, derzufolge Fortschritte an das Genie partikulärer Forscher gebunden sind. Das kollektive Moment an der Wissenschaftsgeschichte bleibt, wie das von Geschichte überhaupt, zumindest unterbelichtet. Zur Sache vgl. auch Eggert Holling/Peter Kempin, Die Subjektivität der (Natur-) Wissenschaft. Das Verschwinden des Subjekts in der Wissenschaft, in: Wechselwirkung 58 (1992). Daß dies eine essentielle Bestimmung auch von Kants Erkenntnistheorie ist, betont Heiner F. Klemme, Kants Philosophie des Subjekts, a.a.O., 186. Friedrich Schiller, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte, a.a.O., 16. Vgl. Peter Bulthaup, Die transzendentale Einheit der Apperzeption, das System des Wissens und der Begriff gesellschaftlicher Arbeit, in: Zur gesellschaftlichen Funktion der Naturwissenschaften, Lüneburg 1996.

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‚scientific community‘ bestehen will, erfüllt diese Bedingung blind. Dessen fähig sind die Subjekte aufgrund ihrer Vernunftbegabung. Die philosophische Analyse dieser Begabung und der aus ihr folgenden Eigenschaften hat dann zwei Seiten: Sie ist erstens Darstellung der wissenschaftlichen Funktion der Subjekte, zweitens aber Selbstreduktion des Selbstbewußtseins. Erkenntnistheorie ist immer auch Selbstdarstellung des Bewußtseins, das in ihr seine wissenschaftliche Funktion zur einzigen Bestimmung seiner selbst macht. So sehr die Kritik der reinen Vernunft die wissenschaftliche Qualität des Selbstbewußtseins trifft, so sehr repräsentiert sie auch die spezifische Gestalt dieser Funktion des Selbstbewußtseins in einer Welt, in der sein funktionales Moment gegen seine objektiven Verknüpfungen verselbständigt ist. So wird das Subjekt zum formalen Repräsentanten der Welt, deren Auflösung in subjektive Funktionen die objektiven Bestimmungsgründe möglicher Individualität auflöst. Erkenntnistheorie ist unabhängig von einer Theorie des Subjekts nicht zu formulieren, diese aber nicht unabhängig von Gesellschaftstheorie, weil kein Subjekt in historisch leerem Raum denkbar ist. Noch die Entscheidung zur Abstraktion von historischen Bestimmungen ist selbst auch Ausdruck der spezifisch historischen Situation der Subjekte, die solche Erkenntnistheorie formulieren. Selbst wenn sie die adäquate Theorie ist, hängt ihre Entdeckung an Zeitumständen. Erst der spezifisch moderne, von der romantischen Reaktion auf die Aufklärung vorgetragene Protest gegen den Verlust des Besonderen machte dieses Historische geltend gegen die Auffassung, es handele sich allein um einen objektiven Zug der Sache. Demzufolge reflektiert Erkenntnistheorie so oder so die gesellschaftliche Funktion des wissenschaftlichen Subjekts wie von Subjektivität überhaupt.223 Der Anspruch, eine Erkenntnistheorie reiner Vernunft zu entwickeln, gegenüber der alle objektiven Bestimmungen der Subjekte Gegenstand empirischer Psychologie – also zufällig – seien, repräsentiert daher nicht allein das Ideal exakter Wissenschaft, sondern auch eine Gesellschaft, die vom Individuum nichts wissen will. Ein Modell der verunglückten Synthese beider bietet die Karikatur des Wissenschaftlers, der sein Leben der Wissenschaft ‚weiht‘ oder gar ‚opfert‘, in den Gestalten von Bouvard und Pécuchet.224 Individualität erscheint zunehmend als Schrulle. Daß Wissenschaft, die das Opfern von Leben zu verhindern hätte, nicht bloß ihrer vulgären Vorstellung nach solche Opfer fordert, liegt nicht im Wesen der exakten Wissenschaft selbst, sondern im Unwesen der Gesellschaft, die sie so organisiert. Das aber kann in der Erkenntnistheorie – reflektiert als logische Verkürzung von Subjektivität – erscheinen. Das emanzipatorische Element, das im Begriff der transzendentalen Einheit der Apperzeption liegt, kann nicht unabhängig von den auch repressiven Momenten dieser Theorie aus ihr herausgebrochen 223

224

Vgl. Theodor W. Adorno, Zu Subjekt und Objekt, a.a.O., 748: „Nur die gesellschaftliche Selbstbesinnung der Erkenntnis erwirkt dieser die Objektivität, die sie versäumt, solange sie den in ihr waltenden gesellschaftlichen Zwängen gehorcht, ohne sie mitzudenken. Kritik an der Gesellschaft ist Erkenntniskritik und umgekehrt.“ Vgl. auch Matthias Lutz-Bachmann, Religion nach der Religionskritik, a.a.O., 380: „Der ‚kritische Weg‘ […] beinhaltet nicht nur eine Kritik des menschlichen Erkenntnis- und Vernunftvermögens, sondern auch eine Kritik gesellschaftlicher Institutionen und politischer Strukturen“. Lutz-Bachmann bezieht sich für diese Deutung von KrV, B 884 auf A Xf. Vgl. Gustave Flaubert, Bouvard und Pécuchet, Leipzig 1959.

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werden, sondern es müßte gegen die in den Subjekten auch real manifestierte Repression realisiert werden. – Das wäre eine Aufgabe von Philosophie: das Bewußtsein über die eigenen objektiven Bedingungen aufzuklären durch Kritik seiner theoretisch immanenten Selbstdarstellung. Die Minimalbedingung freien Selbstbewußtseins wäre Aufklärung des Bewußtseins über seine Form und deren reale Brüche. Die Exaktheit der Wissenschaft und die logische Befähigung der Subjekte, Wissenschaft zu treiben, wäre aber wohl nicht beschädigt durch die Einsicht, daß das Subjekt keine Funktion von Wissenschaft, sondern Wissenschaft ein Ausdruck der Tätigkeit von Subjekten ist. Ebenso wenig verlöre Wissenschaft durch eine kollektive Ordnung, in der Wissenschaft nicht mehr allein immanent rationalisiert wäre, sondern Zwecken einer Vernunft folgte, die nicht schon eine auf äußere Zweckmäßigkeit heruntergebrachte wäre. Auch wenn die Wahrheit für alle die gleiche ist: Gedacht werden muß sie von jedem selbst unter individuellen Bedingungen. Das ist eine Nuance ums Ganze, die aber nicht den Anspruch der Wissenschaft auf notwendige und allgemeine Geltung berührt. – Kant führt einen negativen Beweis gegen die Bestimmbarkeit von Individualität vor: In der Anschauung von einem denkenden Wesen wird nur dessen körperliche Erscheinung erfaßt. Deren unbekannte Ursache sei nicht den Bedingungen der Anschauung unterworfen, mithin nicht „ausgedehnt, nicht undurchdringlich, nicht zusammengesetzt, weil alle diese Prädikate nur die Sinnlichkeit und deren Anschauung angehen“225 . Daraus folge, daß die Seele mit ihren angenommen Bestimmungen ununterscheidbar sei von dem Ding an sich, das der Materie zugrundeliegt. Was Kant hier konstatiert, ist nicht mehr und nicht weniger als die Indifferenz von transzendentalem Subjekt und transzendentalem Objekt, die er in der Analytik bereits konstruiert hatte; durch den Chorismos von Körper und Seele wird sie zu einer Aporie im Subjektbegriff selbst: Das abstrakte Verhältnis von Subjekt und Objekt fällt ins Subjekt selbst zurück und begründet die Scheinhaftigkeit von dessen numerischer Identität. Im Grunde will Kant zeigen, daß der Vergleich der Seele mit dem Körper deswegen nichts übers Subjekt aussage, weil die Seele ein Ding an sich, der Körper aber nur dessen Prädikat als Vorstellung sei. Damit wird aber auch die Vorstellung, daß physisch erscheinende Menschen als Subjekte denken, zur bloßen Hypothese.226 Kants Kritik an der Trennung von Körper und Seele als Begründung metaphysischer Stilisierung des Subjekts führt auf eine viel strengere Trennung, nämlich die der Seele als transzendentalem Subjekt von sich selbst als transzendentalem Objekt: Das denkende Ich, Kern des Subjekts, ist ebenso „ein Name für den transzendentalen Gegenstand des inneren Sinns“227 , aber beide Seiten – gerade weil sie in ihrer Abstraktheit nicht mehr bestimmt unterschieden werden können – lassen sich auch nicht mehr als Momente der Reflexion eines identischen Ich auffassen. Objektiv kann das transzendentale Subjekt von sich selbst als transzendentalem Objekt durch Erfahrung nichts wissen.228 Deshalb bleibt nur bestimmungslose Identität, deren eigenes äußeres Dasein lediglich eine ihr inhärierende Vorstellung sein kann. – 225 226 227 228

KrV, A 358. Vgl. KrV, A 359f. KrV, A 361. Vgl. KrV, A 361.

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Dem Dritten Paralogismus zufolge begründet die zeitliche Invarianz der numerischen Identität des Ich dessen Eigenschaft, Person zu sein, in Analogie zur Erscheinung, an deren beharrlichem Subjekt die Attribute wechseln. Das bestimmungs- und substanzlose logische Ich aber ist Gegenstand des inneren Sinns, dessen Form die Zeit ist, und zwar Gegenstand des inneren Sinns seiner, des Ich, selbst.229 Daher sei „in dem, was wir Seele nennen, [...] alles im kontinuierlichen Flusse und nichts Bleibendes, außer etwa (wenn man es durchaus will) das darum so einfache Ich, weil diese Vorstellung keinen Inhalt, mithin kein Mannigfaltiges hat“230 ; denn die Zeitreihe, zu deren unterschiedenen Elementen das Ich sich identisch verhalten müßte, ist selbst Produkt des Verhältnisses des Ich zu seinen Vorstellungen, was wiederum nur unter der Voraussetzung der Identität des Ich denkbar ist. Deshalb ist es „einerlei, ob ich sage: diese ganze Zeit ist in Mir, als individueller Einheit, oder ich bin, mit numerischer Identität, in aller dieser Zeit befindlich“231 . Beide Seiten differieren in der Beobachtung durch ein anderes Subjekt, dem das erste in der äußeren Anschauung, mithin in der Zeit gegeben ist. Die Identität des Subjekts in der eigenen Zeitlichkeit der Reflexion stellt sich nach außen nicht dar und kann aus der äußerlichen Beobachtung nicht geschlossen werden. Die Identität des Subjekts durch die Zeit ist ebenso eine bloß subjektive formal-logische Bedingung der Einheit des Bewußtseins, aus der aber nicht auf eine numerische Identität des Subjekts zu schließen sei.232 Kants späteres Zugeständnis, Personsein, „wodurch das Bewußtsein der Identität seiner eigenen Substanz, als denkenden Wesens, in allem Wechsel der Zustände verstanden wird“233 , könne zwar nicht aus der logischen Identität des Subjekts bewiesen werden, aber womöglich aus dem Vergleich verschiedener Erinnerungen, birgt ein logisches Problem: Wenn die Identität der Person erst aus diesem Vergleich geschlossen werden kann, können die fraglichen Erinnerungen vor dem Vergleich gar nicht derselben Person zugeordnet werden, auch nicht demselben Subjekt, denn dessen logische Identität ist nicht mit Dauer verknüpft.234 Kant muß die Behauptung, vom Bewußtsein sei „die numerische Identität unzertrennlich, und a priori gewiß“235 , mit der entgegengesetzten, es könne in der Zeit vollständig ausgetauscht werden, verknüpfen, weil er nicht Individualität als 229

230 231 232 233

234

235

Zur Funktion des Personbegriffs im Zusammenhang der theoretischen mit der praktischen Philosophie bei Kant vgl. Ludwig Siep, Personbegriff und praktische Philosophie bei Locke, Kant und Hegel, a.a.O., 90-98, für die Zeitproblematik bes. 91f. KrV, A 381. KrV, A 362. Vgl. KrV, A 363. KrV, B 408. Georg Mohr hat auf die stärkere Betonung der Differenz von spekulativem und praktischem Gebrauch von ‚Person‘ in der Fassung B hingewiesen. Vgl. Der Begriff der Person bei Kant, Fichte und Hegel, in: Dieter Sturma (Hg.), Person. Philosophiegeschichte – Theoretische Philosophie – Praktische Philosophie, Paderborn 2001, 106. Das gleiche Argument verwendet Kant auch auf B 415: Die Beharrlichkeit der Seele sei „im Leben, da das denkende Wesen (als Mensch) sich zugleich ein Gegenstand äußerer Sinne ist, für sich klar“, weil hier die leere Identität durch Relation zur Differenz bestimmter Erfahrungen sachlich identifiziert werde. Jene leere Identität macht aber keine Erfahrungen. Nicht bloß die Behauptung von der Beharrlichkeit der Seele nach dem Tode, sondern deren philosophischer Begriff als solcher wäre zu kritisieren. KrV, A 113.

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prozessuale Vermittlung von Identität und Differenz – von subjektiven und objektiven Bestimmungsmomenten des Subjekts – denkt: Er braucht die abstrakte Identität als Bedingung der Möglichkeit allgemeiner und notwendiger Erkenntnis, und er braucht die abstrakte Differenz als Bedingung der Möglichkeit des Erfahrungssubjektes, das in der Zeit empfindet und denkt. Für Kants „Umwandlung des Subjekts“236 kommen äußerliche Veränderungen nicht in Betracht, denn sie bestätigen ebenso wie Veränderungen des Bewußtseinsinhaltes nur die formale Identität; diejenige Bewußtseinsänderung allein, deren Differenzen nicht in das veränderte Bewußtsein selbst fielen – Schizophrenie – wäre ohne vorausgesetzte Identität des Bewußtseins gar nicht diagnostizierbar. Kant geht es allein um das formale logische Modell einer gänzlichen Veränderung des Subjekts unter Beibehaltung seiner logischen Identität. Sein Modell scheint verrückt: Es soll ein Ausgangssubjekt seinen gesamten mentalen Zustand einem zweiten Subjekt übertragen, das diesen vollständig assimilierte, und zwar einschließlich der logischen Identität; dieser Vorgang würde mehrfach wiederholt: „Die letzte Substanz würde also aller Zustände der vor ihr veränderten Substanzen sich als ihrer eigenen bewußt sein, weil jene zusamt dem Bewußtsein in sie übertragen worden, und demunerachtet, würde sie doch nicht ebendieselbe Person in allen diesen Zuständen gewesen sein.“237 Unangesehen der Frage nach dem Verbleib der zurückgelassenen Substanzhüllen führt dieses Modell nur dann nicht auf das absolut schizophrene Bewußtsein, das, indem es Ich denkt, sich unmittelbar selbst widersprechen müßte, wenn die Identität des Ich tatsächlich bloß die logische Basisfunktion des Selbstbewußtseins bezeichnet. Dann nämlich sind alle diese mit sich selbst identischen Ich auch untereinander nicht bloß der Art nach, sondern virtuell auch der Zahl nach identisch. Sie verschmölzen in Kants Modell, so daß das resultierende Bewußtsein den assimilierten Zuständen nach die vorherigen durchaus repräsentierte, ohne mit ihnen identisch zu sein oder auch nur deren Identität zu repräsentieren. Dazu bedarf es allerdings der Vorstellung einer virtuellen Differenz des Ich, die erlaubt, es einmal numerisch zu differenzieren und ein anderes Mal es zu identifizieren. 238 236 237

238

KrV, A 363. KrV, A 364 Anm. In der analytischen und pragmatischen Philosophie haben solche Modelle unter dem Titel ‚Gedankenexperiment‘ Konjunktur. Zulässig ist dabei scheinbar jede Phantasie, die in sich formell richtig formuliert ist, wie z. B. die einmal vorgetragene Annahme, daß die fötale Zwillingsbildung in den achten Schwangerschaftsmonat postponiert wäre. Was sollte dadurch erläutert werden? – In der Bewußtseinsphilosophie haben die ‚Experimente‘ seit Wittgenstein bemerkenswerter Weise fast immer mit Schmerzen oder mit blutenden Armen zu tun. – Daß dies für Kant ein untergeordnetes Problem darstellt, bemerkt Peter Rohs, Kausalität aus Freiheit, a.a.O., 38. – Eine ebenfalls experimentelle, aber ironische, bündige Antwort auf alle materialistischen, reduktionistischen, physikalistischen und analytischen Bewußtseins- und Selbstbewußtseinstheorien gibt Konrad Cramer, Futuristischer Dialog über die beiden hauptsächlichen Weltsysteme, in: Thomas Grundmann u. a. (Hgg.), Anatomie der Subjektivität, a.a.O., 29ff. Zur Unangemessenheit von Kants Modell vgl. Heiner F. Klemme, Kants Philosophie des Subjekts, a.a.O. 337, Anm. 148. – Eine Reflexion aus dem beschädigten Leben läßt sich indes anschließen: Wer nach schlimmen Erfahrungen gesagt bekommt, daß er sich seltsam verhalte, und dann zu der Selbsterfahrung gelangt, er sei nicht mehr derselbe Mensch wie zuvor, dessen personale Identität liegt eben in der Fassungslosigkeit, die jene Erfahrung begleitet. Daß heißt ‚negatives Selbstbe-

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Die Proklamation der personalen Identität offenbart so eine virtuelle Differenz in der Persönlichkeit.239 Personalität stellt gesellschaftlich die formelle Reduktion auf die Relationalität der Subjekte dar, so daß jedes Subjekt an jedes anderen Stelle zu treten vermöchte. Zugleich sind alle wechselweise voneinander abhängig; letztlich hängt beispielsweise jedes einzelne Arbeitsverhältnis von der Situation des Weltmarkts ab. Persönlichkeit, die ‚Substanz‘ des handelnden Subjekts, ist real bloß relational konstituiert und wird bloß in pragmatischer Absicht als je eigene Identität vorgestellt, denn Relationen bedürfen der Relate.240 Entsprechend ist das Subjekt bei Kant sich der Identität der eigenen Person außerhalb von deren logischer Funktion keineswegs sicher: Weil das Selbstbewußtsein nur dasjenige sich selbst zuordnen könne, dessen es sich bewußt sei, sei der Schluß auf die eigene Identität selbstverständlich. Ob das für sich selbst gleiche Ich aber auch anderen so erscheine, oder ob es nicht vielmehr fließe, sei ungewiß.241 Aus dem auf seine logische Identität, das ‚Ich denke‘ ohne Objekt, reduzierten Subjekt – da hat Kant recht – folgt gar nichts als diese Identität selbst, die nun als nominalistisches Surrogat von Substanz, Identität und Personalität soll fungieren können, weil Kant nachweist, daß diese Bestimmungen aus ihr nicht anders abzuleiten sind als ihrer jeweiligen logischen Funktion nach, die je mit der Identität selbst formal zusammenfällt. Dennoch ist dieses Surrogat von der Abweisung seiner metaphysischen Korrelate nicht unberührt geblieben. Dieser logische Vorgang erweitert die logische Funktionalität durch Entfaltung ihres Begriffs. Insofern ist das Surrogat der Persönlichkeit unverzichtbar, denn „dieser Begriff [ist] auch zum praktischen Gebrauche nötig und hinreichend“242 . Wäre die Identität der Person ans Subjekt nicht wenigstens in dessen logischem Selbstbewußtsein zu knüpfen, so wäre seine Funktionalität im Rechtssystem undenkbar: Die

239

240

241 242

wußtsein‘, und es betrifft jeden, der an seinen Erfahrungen ‚gewachsen‘ ist, weil er ihrem Druck nicht zu widerstehen vermochte. Zu erinnern ist hier an die erwähnte Definition von ‚Person‘ im Preußischen Allgemeinen Landrecht als derjenige, der im Rechtsgebiet Rechte und Pflichten hat. Dies ist selbst eine bloß relationale Bestimmung, denn Rechte und Pflichten sind die Bestimmungen der Beziehungen bürgerlicher Subjekte untereinander. Das Subjekt ist als Person das Gerinnsel seiner Relationen. – Das BGB bestimmt §§ 1-12 die natürliche Person durch die Merkmale Rechtsfähigkeit, Lebendigkeit, ggf. Volljährigkeit, Wohnsitz und Namen. Sie muß allgemein, d. h. austauschbar, ein fluidum, sein, und doch gegebenenfalls dingfest gemacht werden können. Diese Abstraktion veranlaßt Hegel, Personalität als abstraktes Prinzip zu bestimmen. Vgl. auch Hans Hattenhauer, Person, a.a.O., 405-411. Eine Folge ist der sogenannte Identitätsverlust der Menschen, der in Surrogaten personaler Differenz erscheint: Nationalität, Religion, ein Sportverein oder auch paradox der Arbeitgeber. Die Konjunktur des Ausdrucks corporate identity bezeugt die Auslöschung von Individualität durch solche Identifizierungsprozesse, die keineswegs bloß äußerlich aufgezwungen werden, ebenso wie die Wertedebatten, die nicht selten den Subjekten die Einwilligung in ihre unvernünftigen Lebensbedingungen, das Brechen ihres intellektuellen Widerstands mithin, als moralischen Akt unterschieben wollen. Vgl. KrV, A 364. KrV, A 365, vgl. B 424f.

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Handlung des Subjekts im Zeitpunkt t = a könnte ihm im Zeitpunkt t = a + n prinzipiell nicht zugerechnet werden.243 Identität des Subjekts hat durchaus das Moment des Fließenden, dessen formale Bedingung – nicht sein sachlicher Ausdruck – die Zeit ist, denn die Vorstellung der formalen Produktion der Zeitreihe in der Reflexion des Ich ist der formale Ausdruck der Identität in der Zeit. Diese Identität ist schon formal eine fließende, sie ist die Einheit von Identität und Unterschied. Da dieser Unterschied, der der zeitlichen Identität des Selbstbewußtseins notwendig zugrundeliegt, bloße Selbstunterscheidung ist, ist jene Einheit als reiner Widerspruch die Grundform von Selbstbewußtsein. Dessen Verlaufsform ist die prozessuale Vermittlung des Widerspruchs, die das Selbstbewußtsein so fließend erhält. Diese prozessuale Vermittlung, ohne die jene Grundform in Nichts zusammenfiele, ist nur bestimmbar als Verhältnis von Subjekt und Objekt; ohne irreduzibel subjektives Moment aber wäre fürs Subjekt kein Objekt, ohne objektives Moment wäre die subjektive Selbstunterscheidung haltlos. Wenn das Ich in jedem Augenblick ein anderes ist, so ist es dies durch die Beziehung, in der es selbst zu anderem immer schon ist. Subjektivität ist aus dieser prinzipiellen Relationalität, unabhängig von deren konsistenter systematischer Bestimmbarkeit, nicht herauszulösen, ohne sie als bloß funktionale Selbständigkeit von Denken ohne Bestimmung zu einem Anhängsel der Objektivität zu machen, die es nur vermeintlich allein selbst produziert. Bei alledem kann für Kant allenfalls die praktische Philosophie einen Anlaß zur Hoffnung auf Kontinuität des Subjekts geben, weil auch der subjektive Grund von Moral – Freiheit – nicht beweisbar, aber eben auch nicht widerlegbar sei.244 Für Kant ist noch nicht einmal der Akt äußerer Anschauung ein Bestandteil der Subjektivität des Subjekts. Das Ich ist einzig die transzendentale Einheit der Apperzeption, die sich zu sich selbst verhält unter der Form des inneren Sinns, oder umgekehrt: Es ist die Selbsterfassung des Subjekts, sofern sie unter der Form der transzendentalen Einheit der Apperzeption steht. Von ihr als Prinzip des Allgemeinen ist die Wahrnehmung des inneren und äußeren Sinns als subjektives Prinzip der Besonderheit formal unterschieden. So wie aber das allgemeine Denken nur unter der Form des inneren Sinns gelingt, indem es Vorstellungen in der Zeit verknüpft, gelingt auch die Koordination von Erscheinungen im inneren und im äußeren Sinn unter der Form des inneren Sinns nur solange beide als Vorstellungen verknüpft werden. Werden dagegen die äußeren Erscheinungen als selbständige Dinge vorgestellt, so ist ihre Beziehung aufs intelligible Subjekt nicht mehr erklärbar. Beider Verhältnis – und damit das Subjekt, in das dieses Verhältnis fällt – wird schief.245 Dann aber können Erfahrung und Selbsterfahrung des Bewußtseins im reinen Selbstbewußtsein nur formal analog sein: Beide sind Vermittlung einer formalen Differenz im Subjekt durch die Form der Allgemeinheit des Subjekts selbst. Die Raumvorstellung des äußeren Sinns kann keine besondere, inhaltliche Differenz begründen, weil sie sachlich und formal aus der Subjektivität nicht herausführt: „Die berüchtigte Frage, wegen der Gemeinschaft des Denkenden und Ausgedehnten, würde also, wenn man alles 243 244 245

Vgl. Marcus Willaschek, Praktische Vernunft, a.a.O., 268f. und 274. Vgl. KrV, A 383f. Vgl. KrV, A 386.

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Eingebildete absondert, lediglich darauf hinauslaufen: wie in einem denkenden Subjekt überhaupt, äußere Anschauung, nämlich des Raumes (einer Erfüllung desselben Gestalt und Bewegung) möglich sei.“246 Der Reflexionsbegriff des ‚transzendentalen Objekts‘ ist explizit nicht die Lösung, sondern eine ‚Bezeichnung‘ dieses Problems. Zudem ist das transzendentale Objekt, wie noch genauer zu zeigen ist, vom transzendentalen Subjekt nicht zu unterscheiden und tritt hier ausdrücklich auch als Konstruktion des Subjekts zur Plausibilisierung der eigenen Objektivierung auf. Das unhintergehbare Postulat der zwei unabhängigen Erkenntnisquellen führt im Begriff der Vermittlung ihrer Inhalte auf die gestaltlose Indifferenz, die Heidegger sich zunutze macht, indem er sie als gemeinsamen ‚Quellgrund‘ mystifiziert um von da aus Philosophie erneut metaphysisch aufzuladen und so die Aporien des modernen Subjekts ontologisch festzuzimmern.247 Der Prozeß des Widerspruchs im Bewußtsein vermittelt dagegen Denken und Sinnlichkeit und kann eins nicht ohne das andere fassen. Er ist immer schon die Vermittlung, die sich aus der Abstraktion der Seiten heraus nicht mehr affirmativ reproduzieren läßt. Gerade die Aufladung des logischen Subjekts jedoch zum Grund aller Vorstellungen, auch der von Sinnlichkeit, ist es, die das empirische Subjekt austrocknet. – Der Vierte Paralogismus bringt die Frage nach der Vorstellung des Daseins des Subjekts auf den Punkt. Nachdem alle relationalen qualitativen und quantitativen Bestimmungen auf die logische Identität des Ich zurückgeführt worden sind, bleibt umso dringlicher die Frage nach dem „Verhältnis zu möglichen Gegenständen im Raume“248 , und es wird deutlich, „warum das letztere Attribut der Seele zur Kategorie der Existenz gehöre“249 . Das vordergründige Beweisziel ist jedoch nicht die Klärung der Frage, wie eine bloße logische Funktion ein Dasein soll haben können, sondern die Widerlegung der metaphysischen Vorstellung, die Seele selbst habe ein von der Körperwelt getrenntes Dasein: Wenn nämlich auf die Gegenstände der Wahrnehmung nur als auf die unbekannte Ursache der Wahrnehmung geschlossen werden könne, sei ihr Dasein, mithin auch das der Seele, völlig ungewiß. Zur Erläuterung unternimmt Kant eine ausführliche Kritik des Verhältnisses von Idealismus, Realismus und Empirismus, deren Resultat die Konzeption eines transzendentalen Idealismus ist.250 Während der transzendentale Realismus, der das selbständige Dasein von Raum und Zeit annimmt, eines empirischem Realismus nicht fähig ist, weil das menschliche Erfahrungsvermögen nicht hinreicht, solche extramentale Existenz sicher festzustellen, erlaubt Kants transzendentaler Idealismus, demzufolge Raum und Zeit 246

247 248 249 250

KrV, A 392f. Zum problematischen Verhältnis des transzendentalen Gegenstandes zu Ding an sich, Erscheinung und Einheit der Apperzeption vgl. Heiner F. Klemme, Kants Philosophie des Subjekts, a.a.O., 245ff., bes. 257ff. Vgl. Martin Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, Frankfurt am Main 1991, hier §6. KrV, A 344. KrV, A 344 Anm. Die Funktion dieser Passage, die in der Auflage B fehlt, hat dort die Widerlegung des Idealismus in den Grundsätzen (B 274ff.), die ihrerseits dort in der Auflage A fehlt. Tatsächlich hat die Frage nach der Möglichkeit von Gegenständen ebenso in der Erörterung des Verhältnisses der Kategorien zur Erfahrung – der Subjektivität der Objekte – ihren Ort wie in der Erörterung der Objektivität des Subjekts.

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reine Formen der Anschauung sind, die dualistische Koexistenz mit einem empirischen Realismus, der die Existenz materieller Dinge, solange sie als Vorstellungen betrachtet werden, annehmen darf. Durch diesen Kunstgriff hat Kant den objektiven Dualismus, den er den Materialisten vorwirft und den zu bekämpfen der negative Nutzen einer für sich ergebnislosen reinen Seelenlehre sei,251 in einen subjektiven verwandelt: Zwar vermöchte, wie Hegel es ausdrückt, die Welt den Widerspruch nicht auszuhalten; das Denken hingegen sei stark genug, ihn zu tragen. Damit wird aber auch die objektive Welt in eine subjektiv konstruierte verwandelt. Das Bewußtsein von diesen Vorstellungen des äußeren Sinns ist Ausweis ihrer Realität, wie das Bewußtsein der Vorstellung seiner selbst im inneren Sinn Ausweis der Realität des Subjekts ist. Der problematische Schluß auf das Dasein der Objekte erübrigt sich so, weil es „unmittelbar wahrgenommen wird“252 . Die Möglichkeit der Täuschung liege allein in der realistischen Annahme der Mittelbarkeit der Wahrnehmung, deren Ursache entweder in einer äußeren Realität oder einer inneren Täuschung liegen könne. Nach Kant aber täuscht der Sinn sich nicht, sondern nimmt unmittelbar wahr, der Irrtum liegt allein im Urteil, das die wahrgenommene Realität mit Eigenschaften verknüpft: „Denn Wahrheit oder Schein sind nicht im Gegenstande, sofern er angeschaut wird, sondern im Urteile über denselben, sofern er gedacht wird.“253 Das Urteil, ob eine Wahrnehmung innere Täuschung, vielleicht ein Traum, ist oder äußere Ursachen hat, folgt der Regel: „Was mit einer Wahrnehmung nach empirischen Gesetzen zusammenhängt, ist wirklich.“254 Es unterliegt dem Maßstab der konsistenten Kontinuität der Erfahrung. Das setzt allerdings die strikte Trennung von transzendentalem und empirischem Gegenstand voraus, so daß von diesem in völliger Unabhängigkeit von jenem, der immer unbekannt und für die Erkenntnis inhaltlich irrelevant bleibt, gehandelt werden kann und muß. Kants Realismus, dem zufolge das räumlich Gegenständliche immer Wahrnehmung – und nicht bloß Einbildungskraft – voraussetzt,255 verweist nicht allein alle gegenständlichen Bewußtseinsinhalte auf die Sinnlichkeit, weil solcher Inhalt „gar nicht a priori“256 gedacht werden kann, sondern er verweist zugleich alle Inhalte der Sinne auf die subjektiven Formen der Sinnlichkeit, so daß die „äußeren Dinge, die Materie nämlich, in allen ihren Gestalten und Veränderungen, nichts als bloße Erscheinungen, d. i. Vorstellungen in uns sind“257 . Die darin gelegene Konsequenz, „daß im Raume nichts sei, als was in ihm vorgestellt wird“258 , die Kant selbst als befremdlich, 251 252 253

254

255 256 257 258

Vgl. KrV, A 382f. und A 391. KrV, A 371. KrV, B 350. Vgl. Prolegomena, IV § 13 Anm. III. Vgl. weiter René Descartes, Meditationen, a.a.O., 4. Meditation, aber auch schon Aristoteles, Lehre vom Satz, Hamburg 1958, 16a: „Denn Falschheit und Wahrheit ist an Verbindung und Trennung der Vorstellungen geknüpft.“ KrV, A 376. Vgl. Prolegomena, IV § 13 Anm. III: „Der Unterschied aber zwischen Wahrheit und Traum“ ist bestimmt durch die Verknüpfung der Vorstellungen nach den „Regeln, welche den Zusammenhang der Vorstellungen in dem Begriffe eines Objects bestimmen, und wie fern sie in einer Erfahrung beisammen stehen können oder nicht“. Vgl. auch § 49. Vgl. KrV, A 373. KrV, A 375. KrV, A 371f. KrV, A 374 Anm.

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ja anstößig bezeichnet, sei, da es ja schließlich um Vorstellungen allein gehe, zulässig. Die „äußere Wahrnehmung [...] ist vielmehr das Wirkliche selbst“259 , weil ein möglicher außerhalb der Wahrnehmung befindlicher Gegenstand der Wahrnehmung eben außerhalb der Wahrnehmung nicht vorstellbar wäre. „Materie bedeutet also nicht eine von dem Gegenstand des inneren Sinnes (Seele) so ganz unterschiedene und heterogene Art von Substanzen, sondern nur die Ungleichartigkeit der Erscheinungen von Gegenständen (die uns an sich selbst unbekannt sind), deren Vorstellungen wir äußere nennen, in Vergleichung mit denen, die wir zum inneren Sinne zählen, ob sie gleich ebensowohl bloß zum denkenden Subjekte, als alle übrigen Gedanken, gehören, nur daß sie dieses Täuschende an sich haben: daß, da sie Gegenstände im Raume vorstellen, sie sich gleichsam von der Seele ablösen und außer ihr zu schweben scheinen“260 . Nach Kants Reduktion der objektiven Wirklichkeit auf die subjektive Vorstellung von ihr ist die Sinnlichkeit nicht der Ort der Rezeption extramental gegebener Objekte, sondern sie ist allein die formale Differenz zwischen Form und Inhalt des Denkens. Sie steht nicht für die Beziehung des Denkens auf extramentale Objekte, sondern sie mahnt nur die Unfähigkeit des Denkens an, aus den eigenen formalen Bedingungen selbst Inhalte zu kreieren. Diese Differenz in Form und Inhalt innerhalb der Erkenntnis ist damit aber selbst eine formale. Sie ist erfordert als logische Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung selbst. Indem der Begriff der Erfahrungserkenntnis aber auf dieser bloß formalen Differenz beruht, wird die Erfahrung selbst zum Formalismus. Die Differenz der Erkenntnisquellen, der „Dualism [...] im empirischen Verstande“261 , sagt nichts über eine an sich bestehende Trennung oder Verbindung von Körper und Seele aus, über die auch grundsätzlich nichts in Erfahrung zu bringen ist. Die bloß formale Differenz aber läßt auch keinen sachlichen Begriff der Unterscheidung mehr zu: „Ich, durch den inneren Sinn in der Zeit vorgestellt, und Gegenstände im Raume, außer mir, sind zwar skeptisch ganz unterschiedene Erscheinungen, aber dadurch werden sie nicht als verschiedene Dinge gedacht. Das tranzendentale Objekt, welches den äußeren Erscheinungen, imgleichen das, was der inneren Anschauung zum Grunde liegt, ist weder Materie, noch ein denkend Wesen an sich selbst, sondern ein uns unbekannter Grund der Erscheinungen, die den empirischen Begriff von der ersten sowohl als zweiten Art an die Hand geben.“262 Im Resultat sind Innerlichkeit und Äußerlichkeit des Subjekts nicht mehr zu unterscheiden, weder sachlich, noch ihrer Form nach, da beide nur Seiten derselben formellen Unterscheidung im Selbstbewußtsein des Subjekts sind, die, weil das Selbstbewußtsein logische Identität ist, der Sache nach zur Selbstunterscheidung wird. Dem Subjekt sind seine eigene Innerlichkeit und seine Äußerlichkeit – ebenso wie die anderer erscheinender Subjekte – nur als attributive Vorstellungen dieser logischen Identität möglich. Das Dasein dieses Subjekts, das der Gegenstand des Vierten Paralogismus’ war, ist einsam. Ihm entspricht auf der einen Seite die Zentralität der funktionalisierten abstrakten Subjektivität, auf der anderen die Marginalität der empirischen Subjekte und deren mög259 260 261 262

KrV, KrV, KrV, KrV,

A A A A

375. 385. 379. 379f.

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D  F  S

licher Individualität. Diese können sich entweder mit der Isolation identifizieren, die es bedeutet, substanzlose Hypostase der Reduktion gesellschaftlicher Beziehungen zu sein, oder sie können sich der Funktionalisierung verweigern und so allerdings nicht am Rande der Gesellschaft, sondern als Ausgestoßene in deren Mitte vegetieren. Ein selbstbewußter Umgang mit den heteronomen Prinzipien der Entsubstantialisierung der eigenen Subjektivität scheint – ohne grundsätzliche praktische Veränderungen – nur möglich zu sein in der Differenzierung in die theoretische Durchdringung von Subjektivität einerseits und die praktische Hinnahme ihrer Heteronomie andererseits. Die grundsätzliche Veränderung ist aber keinem Einzelnen möglich, sondern setzt die Auffassung der Einzelnen als wesentlich kollektive Individuen voraus. Was gesellschaftlich analog zu wiederholen wäre, ist nicht weniger als die Distanzierung der Gattung vom unmittelbaren Naturzusammenhang, die nur kollektiv gelingen konnte. Die Vereinzelung von Subjektivität und ihre Instrumentalisierung in einer formellen Kollektivität verhindern dies indes. Solange nur die Einzelnen real sind, wiederholt auch die Selbstdifferenzierung in theoretische und praktische Subjektivität – die Bedingung der Möglichkeit überhaupt von Kritik – auf ihre Art die Isolation der Subjektivität vom Leben. Nur ist dieses gebrochene Bewußtsein mit dem Bewußtsein seines Bruches verknüpft. Diese Verknüpfung kann implizit oder explizit sein.

b.

Zur logischen Bestimmung des Subjekts: Die Fassung B

In der Fassung B hebt Kant den Status der erkenntnistheoretischen Reflexion ungleich stärker hervor: „Ich denke mich selbst zum Behuf einer möglichen Erfahrung, indem ich noch von aller wirklichen Erfahrung abstrahiere, und schließe daraus, daß ich mich meiner Existenz auch außer der Erfahrung und den empirischen Bedingungen derselben bewußt werden könne. Folglich verwechsle ich die mögliche Abstraktion von meiner empirisch bestimmten Existenz mit dem vermeinten Bewußtsein einer abgesondert möglichen Existenz meines denkenden Selbst, und glaube das Substantiale in mir als das transzendentale Subjekt zu erkennen, indem ich bloß die Einheit des Bewußtseins, welche allem Bestimmen, als der bloßen Form der Erkenntnis, zum Grunde liegt, in Gedanken habe.“263 Jene Verwechslung, die Kant kritisiert, unterläuft ihm allerdings selbst in der Vorstellung, sich seiner Existenz als denkenden Wesens ‚auch außer der Erfahrung und den empirischen Bedingungen‘ bewußt werden zu können. Aber die privative Negation aller Erfahrung erzielt eben kein Resultat, das außerhalb dieser stünde: Jener Vorgang des Bewußtwerdens findet gerade in der Beschäftigung mit dem Medium Erfahrung statt.

263

KrV, B 426f. Gerade aus der besonderen Gewichtung der erkenntnistheoretischen Reflexion ergibt sich erst die antizipative Ausrichtung auf die praktische Philosophie, die Heiner F. Klemme für die Fassung B der Paralogismen feststellt (vgl. Kants Philosophie des Subjekts, a.a.O., 292f.). – „Daß ein transzendentales Subjekt über gesetzgebende Begriffe verfügt, stimmt nur unter der Voraussetzung empirischer Subjekte“ (Karl Heinz Haag, Der Fortschritt in der Philosophie, a.a.O., 159); das berührt aber seinen Gehalt.

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Nun muß Selbstbewußtsein als Grundlage aller Erfahrung vor dieser gegeben sein. Kants formales ‚Ich denke‘ ist, weil es gegenstandslos sein soll, zunächst unumgänglich an Erfahrung gebunden, es erkennt nichts aus sich selbst heraus, sondern nur durch die Beziehung von Anschauungen auf die Einheit des Bewußtseins. Dieses Bewußtsein ist aber keiner Erfahrung fähig, weil es als unbestimmtes sich von deren Gegenständen selbst nicht unterscheiden könnte. Es erkennt sich „nicht selbst dadurch, daß ich mich meiner als denkend bewußt bin, sondern wenn ich mir die Anschauung meiner selbst, als in Ansehung der Funktion des Denkens bestimmt, bewußt bin“264 . Dieses letzte Bewußtsein setzt aber im Selbstbewußtsein das Bewußtsein von Differenz zur Anschauung voraus, die ihm als bloßem ‚Ich denke‘ nicht zukommt. Als Lösung denkt Kant sich ein bloß funktional in sich modifiziertes Selbstbewußtsein. Solange dessen modi aber gegenstandslose Funktionsformen eines gegenstandslosen Funktionsvermögens sind, können sie diesem nicht aus sich heraushelfen. Kant will trotz der Gehaltlosigkeit reiner Subjektivität an deren Begriff festhalten. So dient die Betonung des Erfahrungssubjekts in der Fassung B gerade dem Festhalten an der reinen Subjektivität.265 Die Rezeptivität, die Kant der Spontaneität des Selbstbewußtseins zuordnet, damit dieses sich selbst auch erkennen könne, ist keine andere als Selbstwahrnehmung, und zwar Wahrnehmung des eigenen Aktes ‚Ich denke‘ im inneren Sinn. Kant trennt dafür bestimmendes und bestimmbares Selbst; jenes ist Subjekt und intelligibel, dieses Objekt und in der Anschauung.266 So kommt aber keine Vermittlung des Subjekts des Selbstbewußtseins mit dem Subjekt der Erfahrung zustande, geschweige denn eine des Subjekts mit Erfahrung selbst. Im Gegenteil wird Subjektivität in eine subjektive und eine objektive aufgespalten. So bleibt das Subjekt „im Bewußtsein meiner Selbst beim bloßen Denken [...] das Wesen selbst, von dem mir aber dadurch freilich noch nichts zum Denken gegeben ist“267 . Ein Denken, dem nichts zu denken gegeben ist, ist die Vorstellung funktionsloser Funktionalität, ein nihil negativum. Die Vorstellung des Denkens aber ist als Vorstellung 264 265

266 267

KrV, B 406. Vgl. KrV, B 409. Problematisch ist, daß Adorno dem ‚antipsychologischen‘ Kant ausdrücklich attestiert, hier „dem persönlichen Bewußtsein“ eine „Vorrangstellung“ zukommen zu lassen (Kants „Kritik der reinen Vernunft“, a.a.O., 301). Dies ist eine Konsequenz daraus, daß Adorno sich ausschließlich auf die Fassung B der Paralogismen bezieht und deren Herkunft aus der Fassung A nicht reflektiert. So muß Adorno den Vorrang des Persönlichen bei Kant wieder kassieren: Kant weigere sich, „die ganze Konsequenz zu ziehen. Sondern er beläßt es dann gewissermaßen bei der logischen Priorität des Ich denke“ (308). Das Empirische der Seele entgleite Kant. Allerdings entgleitet es ebenso Adorno, da er die empirische Einheit des Selbstbewußtseins, das Individuum, charakterologisch als frühkindlich fixiert begreift. Damit ist das empirische Selbstbewußtsein aber ausdrücklich der eigenen Reflexion genetisch entzogen; konsequent spricht Adorno von „unbewußten Mechanismen, durch die so etwas wie Identität und Nichtidentität, Stimmigkeit und Unstimmigkeit im Seelischen zustande kommt“ (313). Die Kritik an Kant, dessen Subjektbegriff abstrakt sei, weil er das Wechselverhältnis von transzendentalem und empirischem Selbstbewußtsein nicht reflektiere, versandet in einem Subjektbegriff, der im Grunde noch abstrakter ist, weil sogar die Form des empirischen Selbstbewußtseins an dem, dessen Form sie ist, quasi ontologisch festgemacht ist. KrV, B 407. KrV, B 429.

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immer an das Ich denke geknüpft, das „nicht bloße logische Funktion“268 sei. Das ‚Ich denke‘, obgleich es nicht an wirklicher Erfahrung partizipiert, ist für Kant durchaus mehr als der Reflexionsbegriff allgemeiner logischer Identität von Subjektivität, allein weil es als Form des Urteils auf die Form der Zeit und damit die innere Anschauung verweist. Deshalb sei dieser magere Begriff „ein Satz, der schon ein Dasein in sich schließt“269 . Damit kommt der Objektivität des ‚Ich denke‘ ein Moment des ontologischen Gottesbeweises zu, denn aus seiner begrifflichen Form wird sein Dasein als implizites Attribut entwickelt, wenngleich vermittelt über den inneren Sinn, denn der Begriff des ‚Ich denke‘ hat die Form eines Urteils, dessen Vermittlung von Subjekt und Prädikat nur in der Zeit vorgestellt werden kann und deswegen die Paraphrase ‚Ich bin denkend‘, habe also ein Dasein, enthalte.270 So, als in der Zeit vermittelt, ist der Satz allerdings transitiv zu verstehen und deshalb unvollständig, ohne Objekt; wird er intransitiv verstanden, ist er ebenso leer. Allerdings stellt Kant das ‚Ich denke‘ zugleich als ein ursprünglich zu Denkendes vor, dessen Vermittlung von Subjekt und Prädikat logisch, ja tautologisch, sei. So nimmt er es als Bedingung aller Zeitlichkeit aus der Zeit heraus. In dieser Hinsicht ist das Subjekt zu seinem Dasein auf nichts außer ihm angewiesen. Dieser Schluß aufs Dasein – weil das ‚Ich denke‘ ohne das Subjekt, das ihn formuliert, nicht vorstellbar ist – ist dann aber streng auf die Vorstellung jedes Subjekts von sich selbst beschränkt, über ein Dasein anderer Subjekte läßt sich nichts sagen. Schon über die Daseinsart des ‚Ich denke‘ lasse sich nichts ermitteln: Das empirische Subjekt macht die abstrakte Vorstellung seiner selbst zur eigenen Hypostase, deren Dasein dann allerdings nur logische Funktionen, keine Daseinsart, erkennen läßt. Auf diese Weise „würden die Sätze der rationalen Seelenlehre nicht vom Begriff eines denkenden Wesens überhaupt, sondern von einer Wirklichkeit anfangen, und aus der Art, wie diese gedacht wird, nachdem alles, was dabei empirisch ist, abgesondert worden, das was einem denkenden Wesen überhaupt zukommt gefolgert werden“271 . Aus dieser Wirklichkeit, von der alles Empirische, nur nicht ihr Dasein, abstrahiert wurde, folgt auch nichts weiter als logisch identische Subjektivität. Dasein selbst, traditionell die Vorstellung von Verknüpfung mit äußerer Bestimmtheit par excellence, wird ganz zur subjektiven Bestimmung. Der Analogie des ‚Ich denke‘ zum Gottesbeweis will Kant steuern: Keineswegs solle aus dem Denken die notwendige Existenz des denkenden Subjekts folgen, sondern das ‚Ich denke‘ sei mit der Existenz des Ich schlicht identisch. So soll der fatale Obersatz ‚Alles, was denkt, existiert notwendig‘ umgangen werden; allerdings lassen Gottesbeweise ebenfalls keine allgemeinen Obersätze zu, denn diese verstießen gegen das erste Gebot. Kant muß jene Identität vielmehr auf eine empirische Ebene zwingen, da ein 268 269

270

271

KrV, B 429. KrV, B 418. Vgl. Josef Simon, Kant, a.a.O., 52ff., der aus dieser Konstruktion Individualität entwickelt. Vgl. KrV, B 420: Der Satz „ich existiere denkend [...] ist [...] empirisch, und enthält die Bestimmbarkeit meines Daseins bloß in Ansehung meiner Vorstellungen in der Zeit“. So bestimmt er die reine Form des Denkens, die durch ihre Prozessualität auf ihr Dasein weise; das bringt die Schwierigkeit eines Begriffs reiner Prozessualität, ohne prozedierende oder prozedierte Inhalte, mit sich. Vgl. auch B 429f. KrV, B 418f.

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Dasein ohne Beziehung auf Äußeres nicht zu denken sei. Deshalb ordnet Kant ihm eine „unbestimmte Wahrnehmung“ zu: „etwas Reales, das gegeben worden, und zwar nur zum Denken überhaupt, also nicht als Erscheinung, auch nicht als Sache an sich selbst, (Noumenon) sondern als etwas, was in der Tat existiert, und in dem Satz, ich denke, als ein solches bezeichnet wird“272 . Diese Existenz ‚in der Tat‘, im Denkakt selbst, läßt zwar keinen Schluß auf die äußerliche Daseinsart des Subjekts zu, ist aber die Setzung der eigenen Äußerlichkeit, die allgemeine Selbstentäußerung des Subjekts, vermittelbar durch seinen Denkakt: So soll es aus seiner absoluten Identität herausspringen, gleich ‚Fichtes ursprünglicher Einsicht‘273 , der Identität des Selbstbewußtseins als ‚Thathandlung‘274 . Diese Sturzgeburt des Subjekts ist aber zugleich salto mortale, denn die selbstgesetzte Äußerlichkeit seiner selbst – die unbestimmte Wahrnehmung – unterscheidet sich in ihrer Bestimmungslosigkeit nicht vom Inneren des Subjekts. Kant denkt „das Empirische […] [als] Bedingung der Anwendung, oder des Gebrauchs des reinen intellektuellen Vermögens“275 , das sonst zu dem Akt ‚Ich denke‘ nicht fähig wäre. Aber er muß um der Reinheit des intellektuellen Vermögens willen dessen Anderes ihm gleich machen. Das reine intellektuelle Vermögen denkt damit etwas, das nichts ist. Kant fügt dem Subjektbegriff der Paralogismen in der Fassung B das Moment hinzu, daß die ‚Armut‘ dieses Begriffs eine vom Subjekt selbst hergestellte sei; dieses geht sozusagen in logische Eremitage. Diese Produktion des ‚Ich denke‘‚ zerfällt aber in zwei Produktionsrichtungen, zunächst die Abstraktion von empirischer Bestimmtheit des Subjekts als Grundlage logischer Selbstbestimmung, sodann die Selbstbestimmung des Daseins durch logische Tat eben dieses empirisch leeren Subjekts. Die Negativität des Subjektbegriffs soll hierdurch positiv aufgefangen werden; der in Abstraktion vom Empirischen gewonnene Funktionsbegriff von Subjektivität wird zur substantiellen Bestimmung des Subjekts erhoben, seine Funktionalität erscheint als Selbstbestimmung. Ein praktisches Modell dessen findet sich – nicht nur bei Kant – in der rechtsphilosophischen Methode einer Verschränkung von gesetzespositivistischer und naturrechtlicher Argumentation. Dieser zufolge wird Naturrecht vorwiegend als rationale Reflexion auf die allgemeine Geltungsmöglichkeit positiven Rechts verstanden. Es ist ein Vernunftrecht, das sich aber als Ausdruck der Subjektnatur der Menschen begreift. Durch dieses Vorgehen werden durchaus geschichtlich gewachsene soziale und politische Funktionszusammenhänge, die als solche immer den je gegenwärtigen Subjekten auch äußerlich sind, nachträglich rationalisiert und so als Ausdruck subjektiver Selbstbestimmung vorgestellt. Damit reflektiert die klassische Philosophie die bürgerliche Gesellschaftsordnung, in der die Menschen tatsächlich zum ersten Mal in der Geschichte nicht durch objektive – vom Kosmos, von Gott oder der Gefolgschaftsordnung bestimmte – Hierarchie funktionalisiert werden, sondern in der sie scheinbar selbst – ob durch Einsicht in die Notwendigkeit oder durch Vertrag – in ihre Bestimmung eintreten. Diese Befreiung der Subjektivität ist jedoch – wie Kant weiß – schon in ihrer Entstehung verknüpft mit 272 273

274 275

KrV, B 423 Anm. Vgl. Dieter Henrich, Fichtes ursprüngliche Einsicht, in: Ders./Hans Wagner (Hgg.), Subjektivität und Metaphysik, Frankfurt am Main 1966. Vgl. Johann Gottlieb Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre (1794/95), a.a.O., § 1. KrV, B 423 Anm.

382

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der Entwicklung der neuzeitlichen Eigentumsordnung.276 Durch sie werden die Besitzenden und mittelbar auch die Besitzlosen zu Vertragssubjekten. Dieser Prozeß erzeugt mit der Möglichkeit, über vertragliche Bindungen die eigene gesellschaftliche Funktion selbst festzulegen, zugleich auch die Notwendigkeit solcher Bindungen: Kein Subjekt – vor allem kein besitzloses – kann existieren, ohne Verträge einzugehen. Das Bewußtsein von Selbstbestimmung müßte sich diese objektiven Zwänge, über die Subjektivität aufrechterhalten und organisiert wird, selbst zurechnen. Tatsächlich vereint die Funktionalität der empirischen Subjekte in der Selbstunterwerfung die beiden Momente von Autonomie und Heteronomie; die Autonomie ist allerdings allein die negative Selbstbestimmung durch Negation aller empirischen Bestimmtheit. Als abstrakt-negativer soll ihr Selbständigkeit zukommen. Tatsächlich ist sie aber privativ und hängt von ihrem Negativen ab. In der Folge des Problems der logischen Selbstbestimmung hebt Kant selbst in der Fassung B der Paralogismen moralphilosophische Konsequenzen hervor, denn wo das vernünftige Selbstbewußtsein über den Kern seiner logischen Funktion hinausweist, sieht Kant es auf eine Ordnung der Zwecke bezogen. Diese sei zwar auf eine Naturordnung verwiesen, aber nicht auf sie eingeschränkt.277 In praktischer Hinsicht sind der Vernunft Einsichten in die Subjektivität möglich, die der theoretischen Vernunft allein deshalb keinen Schaden zufügen, weil Kant beide voneinander trennt; vom Sollen ist kein Sein zu prädizieren. Theoretische und praktische Vernunft, die am Objekt differenziert werden müssen, müssen ebenso notwendig im Subjekt verknüpft sein. Sollen praktische Sätze allgemeine Geltung beanspruchen, so können sie das nur aus der logischen Subjektivität heraus. Ein praktisches Äquivalent des funktionalen Zusammenhangs der logischen Subjektivität mit der teleologisch vorgestellten Naturordnung sei die Vorstellung einer moralischen Überteleologie von Rechtfertigung und ewigem Leben. Moralität scheint dann nicht aus der Subjektivität vernünftiger Sinnenwesen allein begründbar, sondern erst im Hinblick auf einen transzendenten Zweck.278 Aus dem Subjekt selbst folgt nur die absolute Form von Selbstbestimmung, „eine Spontaneität [...], wodurch unsere Wirklichkeit bestimmbar wäre, ohne dazu der Bedingungen der empirischen Anschauung zu bedürfen“279 . Auch das praktische Subjekt, so antizipiert Kant hier um dessen logischer Integrität willen, muß aus allen empirischen Zusammenhängen herausgehoben werden, damit seine Handlungsfähigkeit als selbständige denkbar werde. Zugleich bezieht es sich so „auf eine intelligible (freilich nur gedachte) Welt“280 , in der als solcher nicht wirklich gehandelt werden kann. Die logische Reinheit des Subjekts von Praxis beinhaltet die Paradoxie, freies Handeln nur abseits der empirischen Bestimmungen denken zu können, unter denen allein es praktisch möglich sein könnte. Selbstbewußtsein ist philosophisch polemisch gegen heterogene Bestimmungen, es bestimmt sich selbst. Unter heteronomen Bedingungen möglicher Praxis kann es darüber hinaus polemisch gegen die Bedingungen seines ei276 277 278 279 280

Vgl. Gemeinspruch, VIII 296. Vgl. KrV, B 424f. Vgl. KrV, B 425f. KrV, B 430. KrV, B 431.

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383

genen Daseins werden: Um der logischen Einheit seiner Selbstbestimmung willen setzt es sich dann außerhalb der Bedingungen, unter denen es allein wirklich sein kann. – So begriffslos es ist, in der Philosophie nur von empirischen Individuen zu reden, so gegenstandslos ist das völlige absehen von ihnen.

c.

Subjekte und Ideen. Zwischenspiel zwischen Vernunft und Erfahrung

So notwendig die Vernunftbegriffe sind, so unvermeidlich führen sie auf aporetische Bestimmungen im Subjekt, dessen praktische Desiderate theoretisch nicht mehr erfüllbar zu sein scheinen. Zwar entspricht der aporetischen Situation des Subjekts in der Theorie ein problematisches Selbstverhältnis der empirischen Subjekte, aber mit solch einem Subjektbegriff läßt sich keine Erkenntnistheorie begründen. Die Bestimmung erkenntnistheoretischer Subjektivität ist daher nicht Aufgabe der stets dialektischen Vernunft, sondern grundsätzlich Aufgabe des Verstandes. Er soll das Subjekt bestimmen im Rahmen des Gegenstandsbereichs der Erfahrung, der ihm überhaupt nur zugänglich ist. Gleichwohl geben die Schwierigkeiten, die Subjektivität des Erfahrungssubjekts rein und widerspruchsfrei zu denken, ihrerseits Anweisung auf eine Synthese in der Vernunft. Die Vernunftbegriffe dienen der systematischen Ordnung von Erfahrungserkenntnis, deren Resultate selbst stets Verstand und Sinnlichkeit verknüpfen. So wie Sinneseindrücke sich nicht selbst organisieren, sondern des Verstandes bedürfen, dessen reine Begriffe ihrerseits ohne Beziehung auf Sinnliches leere Formen blieben, so kann seinerseits kein Verstandesbegriff auf die Einheit der Verstandeserkenntnis reflektieren, ohne selbst wieder eine Verstandeserkenntnis, und damit nur relativ zu einem Gegenstandsbereich ein Prinzip zu sein: „Synthetische Erkenntnisse aus Begrifffen [sic!] kann der Verstand also gar nicht verschaffen, und diese sind es eigentlich, die ich schlechthin Prinzipien nenne; indessen, daß alle allgemeinen Sätze überhaupt komparative Prinzipien heißen können.“281 Die Vernunft erst ist fähig zur „Erkenntnis aus Prinzipien [...], da ich das Besondere im Allgemeinen durch Begriffe erkenne“282 . Wenn Kant die Objektivität von Verstandeserkenntnis als eine Funktion von Subjektivität bestimmt, um so eine mögliche Anwendung reiner Verstandesbegriffe auf Anschauungen erklärlich zu machen, so ermöglicht das die Vorstellung der Intelligibilität von Natur, nicht aber den Begriff einer intelligiblen Naturordnung als Grund der systematischen Verknüpfung aller partikularen Erkenntnisse im Objekt. Wenn die Ordnung der Verstandeserkenntnisse unter Vernunftprinzipien nun durch Vernunftschlüsse erfolgt, in denen die verschiedenen Erkenntnisse unter ihnen gemeinsame Bedingungen subsumiert werden, erfordert die Vorstellung der Zuordnung zu solchen Bedingungen wieder Bedingungen: Die Vernunft setzt Bedingungen, aber so, daß ihr eigenes Setzen sich als dadurch selbst bedingtes erweist; dieser Zirkel, indem Kant ihn als Regreß ausfaltet, ist nicht Ausdruck in sich geschlossener Reflexivität der Vernunft, sondern von deren fortschreitender Bedürftigkeit. Deshalb soll die Vernunft selbst den Regreß durch Prinzipien abbrechen, die aus ihr selbst stammen. Sie schließt daher aus 281 282

KrV, B 357f. KrV, B 357.

384

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dem Bedingten auf „die ganze Reihe einander untergeordneter Bedingungen, die mithin selbst unbedingt ist“283 . Dies ist nun ein Vernunftprinzip, das der Verstandeserkenntnis systematisch etwas hinzufügt, denn das Unbedingte folgt nicht aus dem Bedingten selbst, sondern erst aus der Vernunftabsicht der systematischen Ordnung des Bedingten. Diese Absicht nennt Kant einmal ontologisierend die ‚architektonische Natur‘ der Vernunft, gleich darauf jedoch moralisierend das ‚architektonische Interesse‘284 . Das Unbedingte faßt Kant genauer als ‚absolut Unbedingtes‘285 , das der Dialektik des Begriffs des Absoluten gemäß das in jeder Hinsicht Unbedingte meint, denn dasjenige, das ab-solutum – von allem abgelöst – ist, steht zu nichts in Beziehung. Damit aber steht es zu allem und zu jedem in einer negativen Beziehung. Diese allseitige Negation der Negativität, der Bedingtheit, faßt Kant nun positiv als „Totalität der Bedingungen“286 . In dieser affirmativen Wendung der Begriffe der Vernunft, die zunächst bloß die Möglichkeit von deren Beziehung auf mögliche Erfahrung bestimmen soll, liegt die auf den Deutschen Idealismus vorausweisende Aporetik der transzendentalen Dialektik begründet. Indem Kant aber die Vorstellung von Reflexivität der Vernunft nicht als absolute Einheit, sondern als quantifizierten unendlichen Regreß des Aufsuchens der Bedingungen faßt, deren summarische Totalität das Unbedingte sei, will er ihren Gebrauch an Erfahrung heften, über die sie aber der Form ihrer Begriffe nach immer schon hinausweist.287 Kant will diese Konsequenz noch durch die Differenz von transzendentalem Gebrauch der Ideen und immanentem Gebrauch der Verstandesbegriffe288 abschneiden, aber die später von Hegel hervorgehobene Eigendynamik etwa des Begriffes eines ‚absoluten Ganzen‘, wenn auch zunächst bloß eines ‚Ganzen der Verstandeshandlungen in Ansehung eines jeden Gegenstands‘289 , die schließlich zur absoluten Idee führt, ist damit nicht gezähmt. Der Konsequenz des erkenntnistheoretischen Vorgehens, Objektivität um ihrer Vereinbarkeit mit dem Subjekt willen aus diesem heraus zu setzen, ist nicht durch gleichsam äußerliche Beschränkung – durch Quantifizierung des qualitativ Unendlichen – zu entrinnen. Weder Subjekt noch Objekt erhalten dadurch die Selbständigkeit, die ihnen in ihrer wechselseitig bedingten Verknüpfung Beständigkeit verliehe. Die Instabilität, die Kants Subjekt sich um der Verfügbarkeit des Objekts willen antut, macht der Idealismus sich zunutze, wenn er Subjekt und Objekt in der An-und-fürsich-seienden Idee verschmilzt. Die von Kant beklagte „Unbequemlichkeit“290 , daß das Subjekt von sich nichts urteilen kann, ohne sich selbst vorauszusetzen, wendet Hegel geradezu in die Konstruktion der Setzung des Subjekts als Objekt seiner selbst durch

283 284 285 286 287

288 289 290

KrV, B 364. Vgl. KrV, B 502f. Vgl. KrV, B 382. KrV, B 383. Vgl. G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, Werke 20, Frankfurt am Main 1986, 353: „Es ist ein großes Wort, daß die Vernunft Ideen hervorbringt; bei Kant ist es aber Abstraktion. Das Konkrete der Vernunft wäre erst die Vereinigung des Unbedingten mit dem Bedingten.“ Vgl. KrV, B 383. Vgl. KrV, B 383. KrV, B 404.

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sich selbst, in der sich bloß der ideale Gehalt des Selbstbewußtseins und keineswegs ein Mangel präsentiere.291 Ohne systematische Ordnung wäre keine Wissenschaft möglich, denn der ihr immanente eigene Fortschritt durch Kritik und Wissensakkumulation ist bei gleichgültig einander beigeordneten Erkenntnissen undenkbar; den Gegenständen der Verstandeserkenntnis – den Gegenständen möglicher Erfahrung – ist die systematische Ordnung der Verstandesurteile durch ein unbedingtes Prinzip aber transzendent.292 Neben dem Status des Begriffs des Unbedingten muß daher ebenfalls durch reine Vernunft geklärt werden, ob die rationale Organisation der Verstandeserkenntnisse überhaupt einen sachlichen Grund habe, der über ein bloßes intellektuelles Bedürfnis, dessen Befriedigung bloßer Schein sein könnte, hinausgehe. Die Vernunftbegriffe, die etwas bezeichnen, „worunter alle Erfahrung gehört, welches selbst aber niemals ein Gegenstand der Erfahrung ist“293 , nennt Kant transzendentale Ideen. Sie sollen nun einerseits in der Vernunft ihren Ursprung haben, andererseits aus dem Verstand hervorgehen: „Der Begriff ist entweder ein empirischer oder reiner Begriff , und der reine Begriff, sofern er lediglich im Verstande seinen Ursprung hat (nicht im reinen Bilde der Sinnlichkeit) heißt Notio. Ein Begriff aus Notionen, der die Möglichkeit der Erfahrung übersteigt, ist die Idee, oder der Vernunftbegriff.“294 Kants Unentschiedenheit beruht darauf, daß zwar das Unbedingte aus keinem Verstandesbegriff ableitbar, aber nur durch Kombination der Kategorie Relation mit der Kategorie Negation darstellbar ist.295 Die Objektivität von Vernunftbegriffen belegt Kant zunächst durch praktische Modelle. Moralbegriffe wie auch politische Ideen müssen reine Vernunftbegriffe sein, ihre Gültigkeit kann unmöglich in Abhängigkeit von der Erfahrung begründet sein. Sonst wäre nur das als moralisch erkennbar, was ohnehin geschieht. Gleichwohl bleibt die Vernunft zur Bestimmung der Inhalte ihrer Ideen auf die Kritik von Erfahrung angewiesen. Das Ziel, die Überlegenheit der Vernunftbegriffe über „vorgeblich widerstreitende Erfahrung, die doch gar nicht existieren würde, wenn [...] Anstalten zu rechter Zeit nach 291

292

293 294 295

Vgl. G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik. Lehre vom Begriff , a.a.O., 194f. Dies Resultat setzt bei Hegel aber die Beseitigung der Objektivität als Erfahrung voraus; durch Teleologie und Idealität des Lebens wurde das Subjekt selbst sein eigenes Objekt. Vgl. KrV, B 365: „[E]s wird kein ihm adäquater empirischer Gebrauch von demselben jemals gemacht werden können“. KrV, B 367. KrV, B 377. Ein besonderes Problem stellt dabei die Kategorie substantia dar, die Kant als Begriff des singulären Trägers von Eigenschaften, mithin relational, faßt, die aber aus ihrem Begriff schon aufs Unbedingte hinausweist, weil sie sonst von den Eigenschaften, die sie trägt, nicht kategorial unterschieden werden könnte. Das setzt einen eminenten, nicht bloß formalen Unterschied voraus, durch den Vernunft schon in die Verstandesbegriffe eingreift, indem deren Ordnung schon Ausdruck eines nicht bloß koordinatorischen sondern systematischen Naturbegriffs ist. Zum Verhältnis von Verstand und Vernunft vgl. Theodor W. Adorno, Kants „Kritik der reinen Vernunft“, a.a.O., 264f.: „In der Tat ist es bei Kant so […], daß die beiden Sphären Verstand, also die wirklich gültige, auf Erfahrung sich beziehende Erkenntnis, und Vernunft, nämlich die Kenntnis der Ideen, unversöhnlich und unversöhnt auseinanderweisen, obwohl ihr Organon, nämlich der λόγος des Menschen selbst, also ganz einfach das Denken, in beiden Fällen eben doch das gleiche ist.“

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den Ideen getroffen würden“296 , nachzuweisen, führte auf den aporetischen Subjektbegriff der Dialektik der reinen Vernunft. In ihr wäre der Grund der rationalen Vermittlung der Subjekte miteinander und mit ihren Objekten zu suchen, den die Theorie empirischer Erkenntnis aufgrund ihres endlichen Gegenstandsbereichs verfehlt. Hiermit wird der subjekttheoretische Kern der praktischen Philosophie in der Transzendentalen Dialektik grundgelegt, und zwar nicht bloß beiläufig, denn ausdrücklich wird die Aufgabe formuliert, „den Boden zu jenen majestätischen sittlichen Gebäuden eben und baufest zu machen“297 . Von den Ideen – „wenn schon dadurch kein Objekt bestimmt werden kann“ – wäre womöglich zu erwarten, daß sie „von den Naturbegriffen zu den praktischen einen Übergang möglich machen, und den moralischen Ideen selbst auf solche Art Haltung und Zusammenhang mit den spekulativen Erkenntnissen der Vernunft verschaffen können“298 . Subjekttheoretisch kann deshalb die transzendentale Einheit der Apperzeption als erkenntnistheoretische Grundlage des aporetischen aber gehaltvolleren Subjektbegriffs der Dialektik betrachtet werden. So wie das Begründete nur durch den Grund ein Begründetes ist, so ist auch der Grund selbst nur als Grund zu denken in seinem Verhältnis zum Begründeten. Durch diese Betrachtungsweise tritt die Bedingtheit des subjektiven Prinzips hervor: Der praktischen Vernunft kann ihre strikte Geltung nur aus der Einheit der spekulativen zuwachsen. Umgekehrt antizipiert die spekulative Vernunft die praktische in der Grundlegung ihrer eigenen Geltungsbedingungen. Eine Kritik praktischer Vernunft – die Bestimmung praktischer Subjektivität – erfordert deshalb „daß, wenn sie vollendet sein soll, ihre Einheit mit der speculativen in einem gemeinschaftlichen Prinzip zugleich müsse dargestellt werden können, weil es doch am Ende nur eine und dieselbe Vernunft sein kann, die bloß in der Anwendung unterschieden sein muß“299 . Unter der Voraussetzung des Unterschieds der Anwendung, die den Unterschied der Anwendungsbereiche voraussetzt, bliebe als gemeinsames Prinzip – nach Abzug aller spezifischen Bestimmung von Theorie und Praxis – die bloße Form von Subjektivität übrig. Die antizipative Verwahrung des Unterschiedes von Theorie und Praxis gegen den Hervorgang der Praxis aus der Theorie, wie ihn der Idealismus später formuliert, benötigt theoretisch die Konstruktion des Unterschieds von Erfahrung und Idee. Hierin aber bringt sie eben das abstrakte Selbstbewußtsein – reine Reflexivität – hervor, von dem Hegel zeigen will, daß es die Basis der Identifizierung von Erfahrung und Idee sei. Kants Verhältnis von Subjekt und Objekt, wie es nun in der transzendentalen Analytik bestimmt wird, muß dann theoretisch grundlegend sein für die Praxis, deren Subjekt sich zu keiner anderen Objektivität stellen kann als zu der, die es als Subjekt der Theorie erkennt. Allerdings erkennt es, was gegeben ist; konstituiert ist aber dasjenige, was gegeben ist, durchs Subjekt. Die Differenz von Subjekt und Objekt, die Bedingung von Kritik wäre, wird indifferent. Wenn alles, was ist, immer schon durchs Subjekt ist, bleibt als sinnvolles Ziel nur, die an sich präformierte Adäquation für sich werden zu lassen. 296

297 298 299

KrV, B 373. Vgl. Gemeinspruch, VIII 309. Vgl. auch Norbert Herold, Hoffnung aus der Geschichte?, a.a.O., 211. KrV, B 375f. KrV, B 385f. GMS 391.

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Gleichwohl muß das Subjekt der Praxis Abweichungen zwischen Begriff und Wirklichkeit feststellen können, die nicht auf Täuschungen beruhen oder marginal sind. Auch hinsichtlich dieses Zwecks muß der Status der Idee geklärt werden; der Denkbarkeit jener Abweichungen dient die Bemühung der Transzendentalen Dialektik daher ebenso wie der Systematisierung von Verstandeswissen. Darin ist die transzendentale Bestimmung von Subjektivität immer schon auf das objektive Dasein empirischer Subjekte bezogen. Die Vernunft leistet in ihrer Beziehung auf die Totalität der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten eine Synthesis in antecedentia, nicht in consequentia, denn die mögliche Folge des Bedingten, gar eine Vorstellung ihrer Totalität nach Art göttlicher Vorsehung und Anordnung im Schöpfungsplan soll der Möglichkeit des gegebenen Bedingten nicht vorausgesetzt werden; Kant geht es durchaus um die Beziehung der Vernunft auf empirische Erkenntnis, nicht um eine ideale absolute Absicherung ewiger Wahrheit.300 Der Chorismos von spekulativer Vernunfterkenntnis und erfahrungsgebundener Verstandeserkenntnis erzwingt einerseits ein doppeltes Verhältnis des Subjekts zur Objektivität, die Trennung von theoretischem und praktischem Vernunftgebrauch, und bringt andererseits eine Antizipation idealistischer Systemvorstellung hervor, in deren Erläuterung von Welterkenntnis nicht mehr explizit die Rede ist.301 Die Idealität ‚der höchsten Zwecke unseres Daseins‘ gerät in ein problematisches Verhältnis zu den empirischen Bedingungen dieses Daseins, denn der Einsicht, „daß wir vom Objekt, welches einer Idee korrespondiert, keine Kenntnis, obzwar einen problematischen Begriff haben können“302 , steht doch die moralische Forderung nach Annäherung an die Idee entgegen. Die negative Bestimmung der Unmöglichkeit der Darstellung der Idee in der Erfahrung, ja sogar in ‚möglicher Erfahrung‘303 , wendet Kant in die affirmative der moralischen Notwendigkeit des steten Versuchs der weitest möglichen Realisierung. Gerade die theoretische Unmöglichkeit, überhaupt nur den aktuellen Grad der Annäherung zu bestimmen, wird zur praktischen Notwendigkeit des beharrlichen Versuchs.304 Allerdings setzt Kants Interpretation der Differenz von Ideal und Erkenntnis als notwendige Annäherung ein Subjekt voraus, das durch Negation der Erfahrungswelt konstruiert ist. Die wirklichen Subjekte hingegen gestalten die Annäherung ans Ideal als Perpetuierung der menschlichen Katastrophe, weil sie, um der Behauptung ihrer 300

301 302 303 304

Zwar folgen die drei Möglichkeiten des Unbedingten – Gott, Freiheit, Unsterblichkeit – aus der urteilenden Beziehung der Vernunft auf Verstandeserkenntnis; in der Anmerkung auf KrV, B 395 interpretiert Kant jedoch den Zusammenhang der Ideen als systematischen sowohl hinsichtlich ihrer selbst, so daß Gott, Freiheit und Unsterblichkeit – die einzigen Gegenstände der Metaphysik – als syllogistisch verbunden gedacht werden, als auch als systematischen Zusammenhang der entsprechenden wissenschaftlichen Disziplinen Theologie, Moral und Religion, die als „höchste[] Zwecke unseres Daseins, bloß vom spekulativen Vernunftvermögen und sonst von nichts anderem abhängig“ wären, wenn die sinnenbegabten Vernunftwesen durch Einsicht in die Ideen „über die Natur hinaus [...] kommen“ könnten. Vgl. hierzu auch Axel Hutter, Das Interesse der Vernunft, a.a.O., 10f. KrV, B 397. Vgl. KrV, B 396. Vgl. KrV, B 373f.

388

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Existenz gegen die konkurrierende Selbstbehauptung anderer Subjekte willen die fatale logische Indifferenz von affirmativer Unerkennbarkeit und absoluter Unerreichbarkeit des Ideals listig in die Behauptung wenden, die größte mögliche Annäherung sei in der bloßen juristischen Sublimierung des Kampfes aller gegen alle schon erreicht. Kant, der die Unerkennbarkeit jenseitiger Erlösung einräumen muß, setzt die Annäherung als deren Surrogat ein und unterwirft eben damit das diesseitige Handeln der Menschen doch der Jenseitigkeit der Idee. Der praktische Widerspruch des Bewußtseins der Ideen erscheint theoretisch in einer Eigenschaft der Vernunftschlüsse, die diese Ideen hervorbringen. Durch sie schließt die Vernunft von Bekanntem auf etwas notwendig Unbekanntes, dem gleichwohl objektive Realität zugesprochen wird. „Dergleichen Schlüsse sind in Ansehung ihres Resultats also eher vernünftelnde, als Vernunftschlüsse zu nennen“305 . Gerade weil diese Schlüsse aber keine Spinnerei seien, entspreche Kants Unentschiedenheit zwischen dem affirmativen Ausdruck ‚Vernunftschluß‘ und dem pejorativen ‚vernünftelnder Schluß‘etwas im Gegenstand: „Es sind Sophistikationen, nicht der Menschen, sondern der reinen Vernunft selbst, von denen selbst der Weiseste unter allen Menschen sich nicht losmachen, und vielleicht zwar nach vieler Bemühung den Irrtum verhüten, den Schein aber, der ihn unaufhörlich zwackt und äfft, niemals völlig loswerden kann.“306 Die Ideen sind demnach nicht nur notwendig zu denken, sondern auch notwendig mit dem Schein objektiver Realität versehen, haben aber solche Realität nicht. Und schlimmer noch: Auch die Einsicht in ihre Negativität nimmt ihnen nicht den Schein von Positivität. Diese Widersprüchlichkeit schreibt Kant nun nicht einem Fehler des bedingten menschlichen Denkens zu, sondern ‚der reinen Vernunft selbst‘. Nun kann aber reine Vernunft für sich auf den Paralogismus der Substantialität der Seele oder die Antinomie der Freiheit, zum Beispiel, gar nicht verfallen, da beides Transzendierungsversuche endlicher Vernunftwesen sind. Tatsächlich entsteht der Schein von Positivität in der Vorstellung der Transzendenz der doppelten Negationen, die die Ideen sind; in ihnen wird das Un-bedingte zur Totalität. Der Ort des Scheins wie seiner Kritik ist die Vermittlungsinstanz von Vernunft und Objektivität, nämlich die Organisation der empirischen Subjekte im Einklang mit der transzendentalen Einheit der Apperzeption zu einer kollektiven Einheit des Selbstbewußtseins. Diese ist die Bedingung der Möglichkeit der Verknüpfung endlicher Erkenntnisse zu einem Ganzen der Wissenschaft, das wohl die empirische Einsicht der Einzelnen jeweils übersteigt, das aber allein durch die Allgemeinheit dieser Einzelnen begründet wird. Die Irrealität solcher kollektiver Einheit zugleich mit der Realität systematischer Naturwissenschaft läßt deren Bedingungen als notwendigen ontologischen Schein außerhalb der Subjekte erscheinen; Kant sitzt diesem Schein in seiner Kritik an ihm auf, indem er die Auflösung der ontologischen Abstraktion in einem abstrakten Subjektbegriff betreibt. Dieser Begriff erhält sein Fundament in der transzendentalen Analytik.

305 306

KrV, B 397. KrV, B 397.

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3.

Subjekt und Objekt: Deduktion und Grundsätze

a.

Objektivität aus dem Subjekt: Die ‚Deduktion B‘

389

(A.) Das Subjekt-Objekt-Verhältnis als Bedingung des Selbstbewußtseins „Die Deduktion der Kategorien ist mit so viel Schwierigkeiten verbunden, und nötigt, so tief in die ersten Gründe der Möglichkeit unserer Erkenntnis überhaupt einzudringen“307 , weil sie die Aufgabe hat, zu zeigen, wie synthetische Urteile a priori möglich sind, wie reine Verstandesbegriffe objektive Erkenntnisse begründen können.308 Zwar liegen diese Erkenntnisse in der Gestalt allgemein darstellbarer und reproduzierbarer Resultate der Einzelwissenschaften vor und bilden so das historisch-reale Fundament der transzendentalen Begründungsreflexion, des Legitimationsnachweises der Vernunftansprüche,309 aber zu diesem Zweck erzwingt die Deduktion eine Bestimmung des Verhältnisses von 307 308

309

KrV, A 98. Vgl. Herbert Schnädelbach, Vernunft, a.a.O., 90. Dies von Kant zum Leitfaden der Prolegomena gemachte Kernproblem seines Metaphysik- und Wissenschaftsbegriffs wird gelegentlich, vor allem in der analytischen Tradition, vernachlässigt (vgl. grundsätzlich Peter F. Strawson, Die Grenzen des Sinns, a.a.O., 35). Das synthetische Urteil a priori ist keine metaphysische Zumutung, sondern ein negativer Erkenntnisbegriff, der die zwingende Geltung wissenschaftlicher Urteile bezeichnet, die auf Erfahrung sich beziehen, aber ihren Geltungsmodus nicht aus Erfahrung beziehen können, wie an jedem Naturgesetz zu demonstrieren ist. Daher kann Kant sagen: „Wir dürfen aber die Möglichkeit solcher Sätze hier nicht zuerst suchen, d. i. fragen, ob sie möglich seien. Denn es sind deren gnug, und zwar mit unstreitiger Gewißheit wirklich gegeben […]. Die […] Aufgabe […] ist also: Wie sind synthetische Sätze a priori möglich?“ (Prolegomena, IV § 5). – Die Geltung von Naturgesetzen läßt sich durch keine pragmatistische Konstruktion einholen, weil wohl der Gehalt der Urteile, nicht aber ihre Geltung Resultat interaktiver Prozesse sein kann. Zwar schreiben ‚wir‘ der Natur die Gesetze vor, aber ‚wir‘ einigen uns nicht darüber. In diesem Zusammenhang kann man es „auf schale Wahrscheinlichkeiten nicht aussetzen“ (Prolegomena, IV § 5). – Wie diese Urteile im Einzelnen begründet werden, kann hier, wo es nur um die Position der Subjekte in Kants Begründung zu tun ist, nicht weiter untersucht werden. Dagegen, daß die Kritik der reinen Vernunft eine Theorie der Erfahrung oder Wissenschaft sei, hat sich schon Martin Heidegger, Kant, a.a.O., 16, ausgesprochen. Axel Hutter, Das Interesse der Vernunft, a.a.O., hat dies neuerlich aufgegriffen. Auch Wilfried Hinsch, Erfahrung und Selbstbewußtsein. Zur Kategoriendeduktion bei Kant, Hamburg 1986, lehnt jene Interpretation ab: Begründete die transzendentale Deduktion nur die Möglichkeit der Geltung von Erkenntnissen, sei sie neben der metaphysischen Deduktion und den Grundsätzen funktionslos. Allerdings erschließt die metaphysische Deduktion die Kategorien lediglich aus den Urteilsformen und die transzendentale begründet, warum dieser Schluß zulässig ist. – Frank Kuhne, Selbstbewußtsein und Erfahrung bei Kant und bei Fichte, a.a.O., 161ff., hat darauf hingewiesen, daß die Transzendentalphilosophie Kants, im Unterschied zu der Fichtes, Schellings oder Hegels, insofern irreflexiv sei, als sie ihre Voraussetzungen nicht selbst setze, sondern auf historisch gegebene Erkenntnisse reflektiere. Vgl. auch Dieter Henrich, Über die Einheit der Subjektivität, in: Philosophische Rundschau 3 (1955), 55ff. Vgl. weiterhin Hans Michael Baumgartner, Zur methodischen Struktur der Transzendentalphilosophie Immanuel Kants, in: Eva Schaper/Wilhelm Vossenkuhl (Hgg.), Bedingungen der Möglichkeit. ‚Transcendental Arguments‘ und transzendentales Denken, Stuttgart 1984. – Herbert Schnädelbach, Reflexion und Diskurs. Fragen einer Logik der Philosophie, Frankfurt am Main 1977, bezeichnet Kants transzendentale Reflexion als „unterbestimmt“ (94).

390

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Subjekt und Objekt durch das Subjekt. Diesem werden somit die ersten Gründe seiner eigenen Erkenntnisse, sein – des Subjekts – Verhältnis zum Objekt, eigens zum Objekt. Damit unterscheidet das Subjekt nicht allein sich selbst vom Objekt, sondern, indem dieses Objekt erkenntnistheoretisch durch des Subjekts Verhältnis zum Objekt bestimmt ist, hat der Unterschied von Subjekt und Objekt ein Moment innerer Selbstunterscheidung des Subjekts. Insofern ist die Kritik der reinen Vernunft darauf ausgelegt, daß „die Selbsterkenntniß der Vernunft […] wahre Wissenschaft wird“310 . Das jeder auf Geschlossenheit angelegten Erkenntnistheorie als solcher zukommende idealistische Potential scheint Kant in der methodischen Vorbemerkung zur Vorläufigen Erinnerung der Deduktion A zu ahnen und läßt an der Stelle der angekündigten Deduktion zunächst eine weitgehend rhapsodische Darstellung der drei Formen der Synthesis folgen. Erkenntnis, so setzt Kant grundsätzlich voraus, sei Erfahrungserkenntnis, die der Seite ihres Gehalts nach allein bestimmt werden könne durch das, was gegeben wird; deduzierbar wäre sie dann nur ihrer Form nach, wobei diese jedoch die Form ihres Gehalts, das Gegebensein überhaupt als subjektiven Ausdruck dessen, was gegeben sei, einschlösse.311 Die erkenntnistheoretische Möglichkeit von Selbstbewußtsein hängt entschieden davon ab, wie es dem Subjekt gelingt, seine objektiven Voraussetzungen zu bestimmen.312 In der Fassung B, der systematisierten, fast völlig auf rhapsodische Elemente verzichtenden Überarbeitung der Deduktion der Kategorien, ergibt sich Selbstbewußtsein zunächst als eine Funktion der Objektivität von Erkenntnissen. Erkenntnis, in der das Subjekt sich auf etwas bezieht, was es nicht selbst ist, setzt notwendig Synthesis voraus, nicht erst mit der Verknüpfung von Begriffen zu nicht-analytischen Urteilen, in denen also nicht bloß formal, sondern auch inhaltlich synthesiert wird, sondern bereits mit der Verbindung des dem Anschauungsvermögen gegebenen Mannigfaltigen zu einer Anschauung. Als solches Mannigfaltige ist der Anschauung ihr Material gegeben, ohne daß sie bloße Form der Anschauung oder reine Anschauung bliebe. Dieses Material kann durch die Sinne nur sukzessive als außereinander im Raum und nacheinander in der Zeit aufgenommen werden. Seine Verbindung zu einer Vorstellung liegt daher weder in dem auf diese Weise Gegebenen selbst, noch kann sie durch die Sinne ins Bewußtsein gelangen, sie setzt eine genuine Verstandesleistung – die Synthesis – voraus. Der Begriff ‚Synthesis‘ bezeichnet allgemein die Verbindung einer Vielheit zu einer Einheit. Diese Einheit, die ihrem Begriff nach in dem der Synthesis selbst liegt, weil der durch diese beschriebene Prozeß der Verbindung sonst keinen Resultatzustand hätte und damit nicht als Prozeß denkbar wäre, hat sowenig wie die Synthesis selbst ihren Grund im Gegebenen oder in den Sinnen. Wenn für jede Synthesis Einheit begrifflich 310 311

312

Prolegomena, IV § 35. Auf diesem Zusammenhang beruht Hegels Diagnose des Bewußtseins, das „von dem einen zu dem anderen sich herüber und hinüber wirft und in die schlechte, nämlich in die sinnliche Unendlichkeit“ gerät (Phänomenologie des Geistes, a.a.O., 136). Dieses Resultat der Verendlichung von Ideen in einem schlecht unendlichen Progreß, wie es in den Antinomien erschien, ist begründet in Kants Situation zwischen Empirismus und Idealismus beziehungsweise Rationalismus. Die darin gelegene praktische Implikation hebt auch Dieter Henrich hervor, wenn er Selbstbewußtsein und auch Kategorien nicht bloß als Funktionen wissenschaftlicher Erkenntnis, sondern auch als Bedingungen einer Welt, in der selbstbewußtes Leben möglich ist, faßt. Der Gehalt des daran anschließenden Praxisbegriffs bleibt aber eher vage. Vgl. Kant und Hegel, a.a.O., 186ff.

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vorausgesetzt ist, so kann diese nicht einmal überhaupt selbst Resultat von Synthesis sein. Auch die Einheit als Kategorie der Quantität kann dies nicht leisten, weil schon die Urteile, deren Funktionen die Kategorien korrespondieren,313 Einheit der Synthesis von Begriffen voraussetzen. Soll die gesuchte Einheit aber noch die Bedingung aller Urteile sein, so ist sie notwendig Bedingung der Möglichkeit des Verstandesgebrauchs überhaupt, der sich in Urteilen erst ausdrückt. Mit dem Argument, daß die Einheit der Synthesis nicht im Gegenstand und nicht im Vorgang der Synthesis begründet sein kann, wird die Bedingung der Möglichkeit der Verbindung, deren Darstellung vom Mannigfaltigen der Anschauung ausging, im „Grund [...] der Möglichkeit des Verstandes, sogar in seinem logischen Gebrauche“314 lokalisiert. Der Ausdruck ‚Einheit der Apperzeption‘ bezeichnet zunächst nur die Einheit im Bewußtsein einer Wahrnehmung, das heißt die Funktion des Bewußtseins, durch die das Mannigfaltige der Anschauung zu einer Wahrnehmung synthesiert werden kann.315 Indem diese Einheit aller Sinnlichkeit vorausgeht und jedes Bewußtsein bestimmt, ist die Apperzeption selbst – das Bewußtsein der Wahrnehmung – als reine Apperzeption bestimmt. Damit will Kant dem Umstand Rechnung tragen, daß die Vorstellung ‚Ich denke‘, die alle anderen Vorstellungen begleiten können muß, damit diese überhaupt als Inhalte eines und desselben Bewußtseins gedacht werden können, „ein Aktus der Spontaneität, d. i. [...] nicht als zur Sinnlichkeit gehörig angesehen werden“316 kann. Die Einheit im empirischen Bewußtsein einer Wahrnehmung ist immer unter je singulären zufälligen Umständen bestimmt; die Einheit, die durch die reine Apperzeption bestimmt ist, ist dagegen die Grundlage jeder und aller Bewußtseinseinheit überhaupt. Sie ist als reine Bewußtseinseinheit vom Inhalt des Bewußtseins, an dem sich doch allein Apperzeption betätigen könnte, abgelöst. Sie ist im Grunde die Einheit des Bewußtseins mit sich selbst als die formale Bedingung aller Einheit von Bewußtseinsinhalten und nur insofern noch indirekt auf solche bezogen.317 Die Differenz der konstitutiven Bedingungen von Naturerfahrung als Bedingungen der Einheit solcher Erfahrung einerseits zur Gegenständlichkeit von Natur als vorauszusetzendem Inhalt andererseits tritt deutlich in den Metaphysischen Anfangsgründen 313

314 315

316 317

Vgl. MAN, IV 474 Anm.: Kategorien seien „von den logischen Funktionen in Urteilen überhaupt entlehnte[] Bestimmungen unseres Bewußtseins“. Vgl. zu dem Zusammenhang Heiner F. Klemme, Kants Philosophie des Subjekts, a.a.O., 271ff. – Zur Entwicklung der Kategorien aus den Urteilsformen vgl. Georg Mohr, Kants ‚Entdeckung aller reinen Verstandesbegriffe‘, in: Reinhard Hiltscher/André Georgi (Hgg.), Perspektiven der Transzendentalphilosophie im Anschluß an die Philosophie Kants, a.a.O. Mohr schlägt vor, Brüche im Übergang von den Kategorien zur Erfahrung durch eine Umstellung der Argumentationsschritte zu beheben (vgl. 137). Dagegen soll in der vorliegenden Arbeit herausgearbeitet werden, daß diese Brüche Gründe in der Sache haben. KrV, § 15. Vgl. Heiner F. Klemme, Kants Philosophie des Subjekts, a.a.O., 2f. Klemme weist auf die Herkunft des Terminus bei Leibniz hin, wo er für das Bewußtsein der Monade von ihren Perzeptionen steht, und zeigt sodann, wie aus der empiristischen Kritik das Problem entsteht, dessen Lösung Kant beansprucht. KrV, B 132. Deshalb dürfte Josef Simons Individualisierung des ‚Ich denke‘ als Zeichen der ‚Zuordnung des Gedankens zu mir, hier und jetzt‘ nicht zutreffen (vgl. Kant, a.a.O., 303).

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der Naturwissenschaft hervor, wo Kant die transzendentale Grundlegung der Erfahrung in einem bestimmten Gegenstandsbereich versucht. Auf die unverfügbare Vielfalt der Gegenstände reagiert schon die Erweiterung der Urteilsformen: Das disjunktive Urteil das in der Logik Entgegengesetztes ins Verhältnis setzt, ändert seine Bedeutung in der phoronomischen Erscheinungslehre zum alternativen und in der mechanischen Erscheinungslehre zum distributiven Urteil, so daß beide Gegensatzpole alternativ möglich oder sogar zugleich wirklich seien.318 Die Möglichkeit bloß konträrer Gegensätze reflektiert ein Moment von Unbestimmtheit in den Erfahrungsgegenständen. Kant konstruiert in dieser Grundlegung der Naturwissenschaft weder Natur noch Naturgesetze, sondern bloß Grundbegriffe a priori, die nötig sind, um geschichtlich erworbene Naturerfahrung konsistent denken zu können. Dafür muß er auf Ergebnisse Newtons, Keplers und anderer zurückgreifen. Jene Grundbegriffe aber sind negative Begriffe, das heißt, sie sind weder begründbar, noch ließen sich aus ihnen bestimmte Erscheinungen entwickeln.319 Die Grundbegriffe stehen noch nicht einmal in einem a priori bestimmbaren Verhältnis zu den Formen der Anschauung oder zu den Kategorien, außer daß ihre Anordnung von diesen hergenommen ist. Die einzelwissenschaftliche Anwendung der Kategorien setzt materiale Erfahrung voraus, und die Annahme des ‚empirischen Raums‘ wie des ‚absoluten Raums‘ folgt nicht aus der Anschauungsform Raum, sondern sie wird durch die Gegenständlichkeit der Objekte erzwungen.320 Die für die Wahrnehmung der Bewegung des Räumlichen notwendige Relativität führt zur unendlichen Mannigfaltigkeit der empirischen Räume, die Erfahrung wiederum nur durch erneute Reduktion, auf den absoluten Raum, erlaubt. Abgesehen davon, daß Kant die pragmatische Konstruktion des empirischen Raums mit keinem Wort ins Verhältnis zur Transzendentalen Ästhetik setzt, ist sie auch in sich widersprüchlich. Wäre er ‚Inbegriff aller Gegenstände der Erfahrung‘, also natura materialiter spectata,321 so wäre er einer und nicht viele, vor allem aber wäre er selbst kein Objekt der Erfahrung, denn „das absolute Ganze aller möglichen Erfahrung ist […] selbst keine Erfahrung“322 . Die Gratwanderung zwischen transzendentaler Erkenntnistheorie und Einzelwissenschaft droht, nach beiden Seiten abzustürzen, zumal der Begriff des absoluten Raums, der die Einheit von Einheit und Vielheit des empirischen als Idee noch einmal einheitlich überformen soll, ist inhaltlich der Widerspruch des leeren Raums, also ganz unbestimmt, und erhält Bestimmung nur in methodischer Absicht als „Idee von einem Raume, in welchem ich von aller besonderen Materie, die ihn zum Gegenstande der Erfahrung macht, abstrahire, um in ihm […] jeden empirischen Raum 318 319

320 321 322

Vgl. MAN, IV 595 Anm. Ein Grundbegriff ist der, der „von keinem anderen weiter abgeleitet werden kann“ (MAN, IV 524; vgl. 501). In der Grundlegung ist „nicht der Ort, Hypothesen zu besonderen Erscheinungen, sondern nur das Princip, wornach sie alle zu beurtheilen sind, ausfindig zu machen“ (532). Soweit diese Grundbegriffe Grundkräfte bezeichnen, „können wir keinen anderen Begriff geben […] als der von der Wirkung hergenommen ist und gerade nur diese Beziehung ausdrückt“ (Gebrauch teleologischer Prinzipien, VIII 180). Kräfte sind Reflexionsbegriffe auf beobachtete Wirkungen und bezeichnen so die Gesetzmäßigkeit bestimmter Erfahrung. Vgl. MAN, IV 481. Vgl. MAN, IV 467; auch KrV, B 163. Prolegomena, IV § 40.

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noch als [relativ; M.St.] beweglich […] zu denken“323 . Das ‚Leere‘ und ‚Unbegreifliche‘ als Schlußpunkt der Darstellung324 resultiert aus der Unableitbarkeit des Gegenständlichen, das doch prinzipiell darstellbar gemacht werden soll. So sind die Grundbegriffe bestimmter Erfahrung im Raum wesentlich Abstraktionsprodukte dieser bestimmten Erfahrung und keine transzendentalen Konstruktionen a priori. Wenn Kant feststellt, daß der Vernunft „nichts übrig bleibt, als von den Gegenständen auf sich selbst zurückzukehren“325 , so liegt die Betonung zweifellos auf dem Ausdruck ‚auf sich selbst‘; sie wäre aber auf jenen ‚von den Gegenständen‘ zu legen. Die transzendentale Darstellung der subjektiven Erkenntnisprinzipien in der Kritik der reinen Vernunft kann dieses Gegenständliche aber nicht berücksichtigen. Jedoch kann sie sich ebenso wenig auf die bloß negative Darstellung der subjektiven Prinzipien beschränken, weil diese ohne gegenständliche Korrelate leer, eben gegenstandslos, wären. Deshalb muß transzendentale Erkenntnistheorie die allgemeine Gegenständlichkeit erschließen, und dies kann sie nur aus dem Subjekt.326 Die Grundsätze, die Dialektik und später die Kritik der Urteilskraft sind so viele Versuche, die Konsequenz der Setzung der Objekte aus dem Subjekt abzuweisen, wie sie Versuche sind, eine Theorie der gegenständlichen Erfahrung doch noch abzuschließen, denn sonst bliebe Kants Beharren auf dem ‚Gegebenen‘ eine trockene Versicherung, die im transzendentalen System keinen Ort hätte. – In der Deduktion B gelangt Kant nun über die im lateinischen percipio gelegene Äquivokation in ‚wahrnehmen‘ und ‚begreifen‘ von der Einheit im Bewußtsein der Wahrnehmung zur Bewußtseinseinheit überhaupt. Die formale Selbstidentität, die in der reinen Apperzeption liegt, bezeichnet Kant dadurch, daß die Vorstellung ‚Ich denke‘ sowohl selbst reine Apperzeption genannt als auch durch diese hervorgebracht wird: „Also hat alles Mannigfaltige der Anschauung eine notwendige Beziehung auf das: Ich denke [...]. Diese Vorstellung aber ist ein Aktus der Spontaneität [...]. Ich nenne sie die reine Apperzeption [...] oder auch die ursprüngliche Apperzeption, weil sie dasjenige Selbstbewußtsein ist, was, indem es die Vorstellung Ich denke hervorbringt, die alle anderen muß begleiten können, und in allem Bewußtsein ein und dasselbe ist, von keiner weiter begleitet werden kann.“327 Demnach bringt das ‚Ich denke‘ sich selbst als das in allen bestimmten Bewußtseinszuständen identische Prinzip des Bewußtseins hervor. Es kann daher nur Bewußtsein seiner selbst sein, als Bedingung dafür, daß ein Bewußtsein von etwas nicht bewußtlos sei. So erschließt Kant das Selbstbewußtsein als formale Voraussetzung von durch anderes bestimmtem Bewußtsein. Dieses steht für „die Klarheit der Vorstellungen meiner Seele“, die Apperzeption aber für „das Vermögen des Bewußtseins“328 . Zumindest seiner Genese nach ist es deshalb Funktion der Objektivität von Erkenntnissen.329 323 324 325 326

327 328 329

MAN, IV 563. Vgl. MAN, IV 564. MAN, IV 565. Allerdings geht es nicht um eine genetische Lehre der ‚Entstehung der Erfahrung‘, sondern um die theoretische Bestimmung ihrer Bedingungen. Vgl. Prolegomena, IV § 21 [a]. KrV, B 132. MAN, IV 542. Vgl. Karl Heinz Haag, Der Fortschritt in der Philosophie, a.a.O., 79.

394

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Dieser Begriff des Selbstbewußtseins folgt Kants Programmerklärung in der Vorrede zur Auflage A, nach der das Vernunftgeschäft der Selbsterkenntnis dazu betrieben werde, um „einen Gerichtshof einzusetzen, der sie [die Vernunft] bei ihren gerechten Ansprüchen sichere, dagegen aber alle grundlosen Anmaßungen, nicht durch Machtsprüche, sondern nach ihren ewigen und unwandelbaren Gesetzen, abfertigen könne, und dieser ist kein anderer als die Kritik der reinen Vernunft selbst“330 . Wohl sind Selbsterkenntnis und Selbstbewußtsein nicht identisch;331 aber die Selbsterkenntnis der Vernunft muß der Form des Selbstbewußtseins unterliegen und damit auch alle Inhalte, die ihr, und sei es aus ihr selbst, zuwachsen. Die reine Apperzeption ist daher auch die Form dieses gesuchten Gerichtshofes: Der Äquivokation des Genitivs in subjektiven und objektiven in dem Ausdruck ‚Kritik der reinen Vernunft‘ gemäß besteht jenes forum in der Kritik der reinen Vernunft durch diese selbst.332 Die Bestimmung der Zuständigkeit reiner Vernunft und die Bestimmung ihrer Grenzen a priori sollen eine Sicherung der Gültigkeit aller sachbezogenen Erkenntnis bieten: Die Bedingungen, unter denen etwas gedacht werden kann, sollen allgemein bestimmt werden. – Die forensischen Metaphern, deren Kant sich häufiger bedient,333 deuten an, daß er hier von Erkenntniskriterien handelt, die den Rechtsgrund, nicht den besonderen Sachgrund der Objektivität von Erkenntnis betreffen. In die Rechtsordnung, die formal die Rechtsgründe des Handelns faßt, um so zu bestimmen, was objektiv für alle gelten soll, gelangt das Material nur aus Anlaß der Verletzung der Form. Dementsprechend dienen die ‚ewigen unwandelbaren Gesetze‘ der reinen Vernunft deren ‚Gerichtshof‘ als Kriterien des Rechts, um grundlose Anmaßungen – Scheinwissen – zurückzuweisen und so negativ Objektivität zu garantieren. Es geht Kant um die Möglichkeit der Objektivität von Naturerkenntnis. Die Kritik der reinen Vernunft durch sich selbst soll für diese die formalen Bedingungen a priori, vor aller Erfahrung, ermitteln.334 330 331 332

333 334

KrV, A XIf. Vgl. KrV, B 157f. Vgl. Herbert Schnädelbach, Vernunft, a.a.O., 98. Die doppelte Bedeutung des Genitivs impliziert zudem, „dass Vernunft und Kritik zusammengehören, dass also die Vernunft in ihrem Wesen kritisch ist und dass unkritische Vernunft auf faktische Unvernunft hinausläuft“ (14). Vgl. z. B. KrV, B 116f. Nach einer längeren Auseinandersetzung darum, ob die Deduktion der Kategorien deren objektive Geltung aus der Einheit des Subjekts ableitet (vgl. z. B. Dieter Henrich, Die Beweisstruktur von Kants transzendentaler Deduktion, in: Gerold Prauss (Hg.), Kant, a.a.O.) oder nicht allein aus dieser (vgl. z. B. Hans Wagner, Der Argumentationsgang in Kants Deduktion der Kategorien, in: Kant-Studien 71), brachte Henrich in einer dokumentierten Diskussion (in: Burkhard Tuschling, Probleme der Kritik der reinen Vernunft, a.a.O.) ein neues Verständnis von ‚Deduktion‘ ein. Mit Bezug auf die juristische Deduktionenliteratur der frühen Neuzeit wurde die Methode nicht mehr als logische Ableitung des Faktischen verstanden, sondern als rekursive Erörterung des ‚rechtlichen‘ Geltungsanspruchs der Vernunfteinheit. Vgl. hierzu aber auch Rüdiger Bubner, Geschichtsprozesse und Handlungsnormen, a.a.O., 275f. und dens., Selbstbezüglichkeit als Struktur transzendentaler Argumente, in: Wolfgang Kuhlmann/Dietrich Böhler (Hgg.), Kommunikation und Reflexion. Zur Diskussion der Transzendentalpragmatik. Antworten auf Karl-Otto Apel, Frankfurt am Main 1982, 307: „Der juristische Zusammenhang ändert auf wesentliche Weise das Verfahren, was der überwiegende Teil der Kant-Literatur nicht beachtet, der Deduktion wie ein Äquivalent für Demonstration behandelt.“ – Reinhard Brandt formuliert sogar, die KrV handele „durchgängig als

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Indem die Vernunft sich ohne Rücksicht auf besondere Inhalte ihrer eigenen Form als Bedingung aller Inhalte versichert, soll einerseits der Fehler des Empirismus vermieden werden, alle Erkenntnisgrundsätze aus singulären Erfahrungen zu schließen; andererseits soll aber auch der metaphysische Fehler des Voraussetzens transzendenter Prinzipien umgangen werden, durch das die Vernunft die Grenzen ihrer eigenen Erkenntnisfähigkeit überschreitet. Nachgewiesen werden muß dann allerdings, daß die in der Selbsterkenntnis der Vernunft zu ermittelnden Gesetze für alle Erkenntnisse gelten. Gölten sie nur für die Selbsterkenntnis selbst, so wären sie gegenstandslos, denn das Resultat reiner Erkenntnis der Vernunft ihrer selbst – die bloße Form von Selbsterkenntnis – ist leere Identität.335 So wäre die Kritik der reinen Vernunft von der reinen Apperzeption nicht unterschieden. Inhalt erhält sie nur, wenn die Vernunft a priori sich selbst als Bedingung a priori von Erfahrungserkenntnis kritisiert: Durch die in die Selbstreflexion reflektierte Differenz zu ihrem Gegenstand werden Differenzen, Inhalte in ihr selbst denkbar. Dann erst ist sie von der reinen Apperzeption unterschieden, die als formale Grundlage der Identität allen Differenzen vorausgesetzt bleibt. Die Bestimmung des reinen Selbstbewußtseins folgt dann aber funktional der Frage nach der Möglichkeit der Objektivität von Erfahrungserkenntnissen. Deutlicher wird Kant in der Vorrede zur Auflage B, nach der die Aufgabe der Kritik der reinen Vernunft darin besteht, Vernunfterkenntnis so zu fassen, daß sie „den sicheren Gang einer Wissenschaft“336 zu gehen vermöchte, das heißt nach beständigen Regeln zu notwendigen, allgemein gültigen Resultaten gelange. Dies sei unter den philosophischen Wissenschaften allein der Logik gelungen, in der es der Verstand nur mit sich selbst, seinen eigenen Regeln zu tun habe, während es in der Metaphysik, die Kant als Erkenntnistheorie versteht, um Erkenntnisse zu tun ist, denen objektive Realität zukommt, insofern in ihr das Erkenntnisvermögen sein Verhältnis zu seinen Objekten bestimmt. Es geht nun darum, daß Wissenschaften, bevor sie sich empirisch auf Gegenstände beziehen, diese Beziehung in reiner Form entwickeln, indem „Vernunft gänzlich a priori ihr Objekt bestimmt“337 . Als Modelle solcher reiner aber objektiver Vernunfterkenntnis führt Kant die Mathematik und die Naturforschung an.338 Metaphysik, die nicht durch Anschauungen bestimmt ist, sondern in deren reiner Begrifflichkeit Vernunft sich selbst bestimmt, wäre nun die reine Grundlage aller Vernunfterkenntnis, wenn es gelänge, sie zur Wissenschaft zu entwickeln, um den sophistischen Auseinandersetzungen der verschiedenen dogmatischen Schulen ein Ende zu machen.

335

336 337 338

juridischer Traktat von den Rechtsansprüchen des Verstandes und der Vernunft“ (Von der ästhetischen und logischen Vorstellung der Zweckmäßigkeit der Natur, in: Otfried Höffe (Hg.), Kritik der Urteilskraft, Berlin 2008, 43). Vgl. Dieter Henrich, Was ist Metaphysik – was Moderne?, a.a.O., 30: „Weder die logischen Grundformen noch die Begründungsweisen von Wissenschaft und Metaphysik noch die Grundnormen des Handelns lassen sich als einfache Implikationen aus ihm [dem Selbstbewußtsein; M.St.] ableiten.“ Vgl. auch Karl Heinz Haag, Der Fortschritt in der Philosophie, a.a.O., 85. KrV, B XIV. KrV, B X. Für die Naturforschung gilt dabei die Regel, „daß in jeder besonderen Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden könne, als darin Mathematik anzutreffen ist“ (MAN, IV 470).

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Dies soll gelingen durch die als ‚kopernikanische Wende‘ bezeichnete Analogie der Erkenntnistheorie zu Mathematik und Naturwissenschaft. Nicht die Bedingungen der Erkenntnis sollen den Gegenständen folgen, denn eine solche Erkenntnistheorie a posteriori wäre von besonderen Erfahrungen und damit vom Zufall abhängig; sie könnte keine verbindlichen Regeln für die Vernunfterkenntnis angeben. Im Gegenteil sollen noch die Objekte der Anschauung den Bedingungen des Subjekts unterliegen, „weil Erfahrung selbst eine Erkenntnisart ist, die Verstand erfordert, dessen Regel ich in mir, noch ehe mir Gegenstände gegeben werden, mithin a priori voraussetzen muß, welche in Begriffen a priori ausgedrückt wird, nach denen sich also alle Gegenstände der Erfahrung notwendig richten und mit ihnen übereinstimmen müssen“339 . Die Identifikation der Gegenstände der Erfahrung mit der Erfahrung selbst beruht auf der für alle Erfahrungserkenntnis grundlegenden und sie zugleich beschränkenden Einsicht, daß dem Subjekt außerhalb der Bedingungen seiner Erfahrung deren Gegenstände nicht gegeben sind. In jeder Hinsicht, in der sie dem Subjekt gegeben sind, müssen sie dessen Erkenntnisbedingungen unterliegen. Die Beziehung von Vorstellungen auf Gegenstände durch Begriffe, wodurch Erkenntnis erst objektiv wird, richtet sich nach den Begriffen, die a priori bekannt sein müssen; sonst wäre alle Objektivität a posteriori, durch singuläre Umstände bestimmt, und damit wissenschaftlich gegenstandslos.340 Die subjektive Bedingung der Begriffe a priori ist unabdingbare Voraussetzung für die Möglichkeit synthetischer Urteile a priori. In diesen soll es gelingen können, etwas zu prädizieren, das nicht schon in einer logisch notwendigen begrifflichen Verknüpfung mit dem Subjekt des Urteils steht, mithin etwas zu prädizieren, das durch Erfahrung hinzukommt, und dies so zu prädizieren, daß die Prädikation gleichwohl notwendig und allgemein gültig ist.341 Soll dies nun möglich sein, dann muß der Bereich der Erfahrung, 339 340

341

KrV, B XVIIf. Dieses Vorgehen hat jüngst Burkhard Tuschling als Verbindung von ‚transzendentaler Provokation‘ und ‚transzendentaler Bescheidenheit‘ bezeichnet (Allgemeine Naturgesetze haben ihren Grund in unserem Verstand – Fakt, Illusion oder Reflexion?, unveröff. Ms. zu einem Vortrag auf der Tagung Der Nutzen von Illusionen in Frankfurt am Main 20. Juni 2008, erscheint in: Bernd Dörflinger/ Günter Kruck (Hgg.), Über den Nutzen von Illusionen. Die regulativen Ideen in Kants theoretischer Philosophie, Hildesheim i.V.). Die Provokation habe zur systematischen Basis die „Deduktion des Objekts aus dem Ich“ (2), die Bescheidenheit in der Einsicht, daß bestimmte Objektivität nicht aus dem Ich entspringen kann: „[E]mpirische Gesetze können nicht ihren Ursprung, wohl aber ihre Normativität und Allgemeingültigkeit daraus ableiten.“ (ebda.). Tuschling führt aus, daß Kant sich in der Kritik der Urteilskraft und schließlich im Opus Postumum um neue Lösungen bemüht, die zwar nicht gelingen, ihn aber zunehmend in die Nähe der Naturphilosophie des Deutschen Idealismus führen. Hier soll die These vertreten werden, daß diese Konsequenz schon in der Problemstellung innerhalb der Kritik der reinen Vernunft angelegt ist. Ähnlich hatte Tuschling bereits in Beziehung auf die Kategoriendeduktion argumentiert: Vgl. Widersprüche im transzendentalen Idealismus, in: Ders. (Hg.), Probleme der „Kritik der reinen Vernunft, a.a.O. Hier nennt Tuschling als Grund aller Widersprüche bei Kant die Kombination von reiner Vernunft und Erfahrung (251). Vgl. auch Übergang: Von der Revision zur Revolutionierung und Selbst-Aufhebung des Systems des transzendentalen Idealismus in Kants Opus Postumum, in: Hans Friedrich Fulda/Jürgen Stolzenberg (Hgg.), Architektonik und System in der Philosophie Kants, Hamburg 2001. Die Ablehnung des synthetischen Urteils a priori in der neueren Philosophie mag dadurch bewegt sein, daß Kant nicht sagen kann, wie solche Urteile gebildet werden. Kants Argument für

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auch wenn er dem Erkenntnisvermögen äußerlich gegeben ist, unter denselben Gesetzen stehen wie die subjektiven Erkenntnisbedingungen, das heißt: unter diesen selbst. Konsequent führt das auf den Gedanken, „demjenigen, was die Vernunft selbst in die Natur hineinlegt, gemäß, dasjenige in ihr zu suchen [...], was sie von dieser lernen muß“342 . Das heißt: Vernunfterkenntnis – hier die Physik – konstruiert ihren Gegenstand, indem sie Natur experimentell präpariert. So sorgt sie dafür, daß auch dasjenige, was nicht präparierbar ist, weil es erst gefunden werden soll, immer nur gemäß der Präparation durch die Vernunft gefunden werden kann. Nun können in der Metaphysik die intelligiblen Gegenstände zwar nicht präpariert werden, aber doch ihre Begriffe, „indem man sie nämlich so einrichtet, daß dieselben Gegenstände einerseits als Gegenstände der Sinne und des Verstandes für die Erfahrung, andererseits aber doch als Gegenstände, die man bloß denkt, allenfalls für die isolierte und über Erfahrungsgrenze hinausstrebende Vernunft, mithin von zwei verschiedenen Seiten betrachtet werden können“343 . Durch die Differenzierung des Objekts in empirisches und intelligibles soll den Antinomien vorgebeugt werden, in die sich die reine Vernunft verstrickt, wenn sie Begriffe wie ‚Unbedingtes‘ oder ‚Freiheit‘ entweder bloß im Bereich der Erfahrung oder bloß im Bereich des Intelligiblen zu bestimmen versucht.344 Deshalb wird die Analytik auf den Erfahrungsgebrauch des Erkenntnisvermögens beschränkt, seine Erweiterung darüber hinaus erfolgt in der Dialektik. Die Beschränkung auf Erfahrung gelingt in der Analytik, deren Gegenstand Erkenntnisbedingungen a priori sind, durch den Begriff möglicher Erfahrung, der schon über die Zufälle wirklicher Erfahrung insofern erhaben ist, als er auf einen Begriff vom Gegenstand überhaupt geht. Der Gegenstand möglicher Erfahrung ist ein vor aller Erfahrung präparierter Gegenstand. Das Objekt der spekulativen Vernunft ist Objektivität, Objekt seinem allgemeinen Begriff nach. Nur dadurch kann Erkenntnistheorie als einzige objektive Wissenschaft den Anspruch auf systematische Vollständigkeit erheben.345 Dieser

342

343 344

345

das synthetische Urteil a priori ist aber rein negativ: Notwendig und allgemein geltende wissenschaftliche Erkenntnis ist weder durch analytische noch durch synthetische Urteile zu gewinnen. Das synthetische Urteil a priori steht daher zunächst für die Möglichkeit einer Erkenntnis, die sachhaltig ist, ohne der empirisch bedingten Gültigkeitsbeschränkung zu unterliegen, der solche Erkenntnisse normalerweise unterliegen. Jedes Naturgesetz ist ein Modell dafür. Daß Kant nicht ausführt, wie diese Urteile formuliert werden, ist dem spontanen Moment wissenschaftlicher Erkenntnis geschuldet: Sie gelangt zu methodisch reproduziblen Erkenntnissen, aber nicht durch methodisch reproduzible Verfahren. Durch pragmatische Plausibilitätskonstruktionen läßt sich die zwingende Form der Gültigkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse aber auch nicht bestimmen. Die wissenschaftstheoretischen Gültigkeitstheorien dagegen müssen Sachhaltigkeit preisgeben. KrV, B XIV. Dem korrespondiert die Sagazität, das Vermögen, der hypothetischen Antizipation in der experimentellen Naturforschung. Vgl. Anthropologie, VII 223. KrV, B XIX, Anm. Vgl. den Abschnitt Von dem Grunde der Unterscheidung aller Gegenstände in Phaenomena und Noumena, KrV, B 294ff. Den Systemgedanken betont Kant vor allem in den Prolegomena; seinen Mangel macht er für Humes Scheitern verantwortlich, der „sich seine Aufgabe nicht im Ganzen vorstellte, sondern nur auf einen Theil derselben fiel, der, ohne das Ganze in Betracht zu ziehen, keine Auskunft geben kann“ (Prolegomena, IV 260). Das System beruht, im Unterschied zum Aggregat, auf der Entwicklung der Grundbegriffe aus einem Prinzip, der Urteilshandlung des Verstandes. Allerdings

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Anspruch drückt den eigentlich affirmativen Gehalt von Kants Erkenntniskritik aus: Philosophie soll als methodisch gesicherte Wissenschaft aus dem kritischen Verfahren der Vernunft gegen sich selbst hervorgehen, obwohl dies – konsequent betrachtet – kein positives Ergebnis mehr zuläßt.346 Das negative Prinzip der Erkenntnistheorie, die Beschränkung auf Gegenstände möglicher Erfahrung, versteht Kant aber zugleich positiv: Indem der spekulativen Vernunft versagt wird, außerhalb der Erfahrung Erkenntnisse zu reklamieren, wird praktische Vernunft erst möglich, denn der theoretische Existenzbeweis transzendenter Weltprinzipien höbe die Möglichkeit der Vorstellung von Freiheit auf. Die Beschränkung auf Gesetze im Bereich der Erfahrung eröffnet dagegen der Vernunft als praktischer die Möglichkeit der Selbstbestimmung im intelligiblen Subjekt. Damit fällt die Unterscheidung des Objekts in ein empirisches und ein intelligibles ins Subjekt zurück: Weil Kritik der reinen Vernunft auf Selbsterkenntnis geht, wird die Vernunft sich selbst zum Objekt.347 Selbstbewußtsein kann diesem Begriff nach nicht

346

347

müssen dafür die reinen Verstandeshandlungen durch ‚Absonderung‘ der Anschauung präpariert werden (vgl. KrV § 39: Von dem System der Kategorien). Durch diesen Abstraktionsvorgang, der dem Erkenntnisbegriff zugleich Anschaulichkeit bewahren soll, bleibt Kant vom idealistischen System getrennt. – Gleichwohl nähert er sich diesem durch die Knüpfung der Unterscheidung von System und Aggregat an die von mechanischer und technischer Naturvorstellung: Wird Natur als der Systemabsicht der Urteilskraft angemessen aufgefaßt, so muß ihr eine „Technik der Natur“ beigelegt werden, die sie nur „als Kunst“ haben könne (Erste Einleitung KdU, 11). Die Negativität erscheint in der Wendung, die „Principien der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt“ seien „das wahre und hinlängliche Fundament der Grenzbestimmung der reinen Vernunft, aber nicht die Auflösung der Aufgabe: wie nun Erfahrung vermittels jener Kategorien […] möglich sei“ (MAN, IV 475 Anm.). Diese Wendung ist in der Diskussion um Subjektivität als skandalös empfunden worden. Alle Versuche, ‚Selbstbezüge‘ ohne reflexive Selbstunterscheidung zu konstruieren, halten der Frage, in welches Bewußtsein sie selbst fallen, nicht Stand. Dieter Henrich wollte an der Reflexionstheorie festhalten, aber die Aporetik der Selbstobjektivierung des Subjekts überwinden. Die Reflexionstheorie könne nur explizite Selbstbeziehungen erklären, nicht aber das Selbstbewußtsein als dessen Grundlage (vgl. Selbstbewußtsein. Kritische Einleitung in eine Theorie, in: Rüdiger Bubner/Konrad Cramer/Rainer Wiehl, Hermeneutik und Dialektik, Tübingen 1970, 265f.; dens., Fichtes ‚Ich‘, in: Selbstverhältnisse, a.a.O., bes. 60-65; dens., Fichtes ursprüngliche Einsicht, a.a.O.). Das zentrale Problem besteht darin, daß ein Selbstbewußtsein, das von sich nur durch Reflexion wissen kann, nicht bewußt in diese eintreten könnte. Die Lösung sollte darin bestehen, Bewußtsein so zu beschreiben, daß seine ‚Vertrautheit mit sich‘ erhalten bleibe, ohne dabei eine bewußte oder identifizierende Selbstbeziehung zu unterstellen (275; in diesem Sinn vgl. auch Ulrich Pothast, Über einige Fragen der Selbstbeziehung, a.a.O., 76). So sollte der Zirkel des Selbstbewußtseins, den Fichte als erster erkannt habe (280), überwunden werden. Allerdings hat Thomas von Aquin, Von der Wahrheit, a.a.O., qu. 10 a. 8, diesen Zirkel bereits bemerkt und durch das Postulat einer ‚habituellen Selbsterkenntnis‘ zu lösen versucht, zu dem Henrichs Vorschlag nichts Neues hinzufügt. Der Versuch, philosophisch eine vorgängige Subjektivität zu markieren, ist im Hochmittelalter geradezu subversiv aufklärerisch, weil er die Herausstellung individuierter Subjektivität aus dem heilsgeschichtlichen Kontext vorbereitet. Im 20. Jahrhundert wirkt ein analoger Ansatz umgekehrt: Nachdem Hegels Kritik an Fichtes Unmittelbarkeit – die Henrich als dogmatisch und unproduktiv zurückweist (vgl. 281) – die grundsätzlich historische Vermittlung im Bewußtsein hervorgehoben und damit den Weg für kultur- und gesellschaftstheoretische Bewußtseinsmodelle, etwa bei Feuerbach und dann bei Marx, bereitet hat, ist der Rekurs auf unmittelbare Vertrautheit mit sich abstrakt, obwohl er ganz konkret gemeint ist: „Wir kennen die Welt noch nicht, in

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Selbstbestimmung beinhalten, weil es als Funktion der Objektivität von Erfahrungserkenntnis auf die spekulative Grundlage der Einheit des Bewußtseins mit sich selbst reduziert bleiben muß. Selbstbestimmung dagegen ist praktischen Inhalts und findet gemäß Kant doch im Subjekt statt, soweit es nicht durch Erfahrung bestimmt ist. Damit ist aber einerseits die Beziehung, in der reine Apperzeption zum Subjekt der Erfahrung steht, zwieschlächtig, weil sie sowohl Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung als auch bloßes Bewußtsein der Identität ist; andererseits ist Autonomie zwieschlächtig, weil ihr Begriff die Bedingung der Möglichkeit selbstbestimmten Handelns nur als intelligible – dem Bereich der Empirie, in dem gehandelt wird, entzogene – zu fassen vermag. Die Differenz von Intelligibilität und Empirie, mittels derer Vernunft ihre Gegenstände präpariert, wirkt zurück auf das Bewußtsein der eigenen Reflexivität der Vernunft; sie tritt in dieses Bewußtsein als prinzipielle Bestimmung ein. Erkenntnistheoretisch ergibt sich diese Reflexivität, wie gezeigt, als ursprüngliche Bewußtseinseinheit, auf die alle besonderen Bewußtseinszustände bezogen werden können müssen, wenn sie als Inhalte desselben Bewußtseins aufgefaßt werden sollen. Diese Einheit, deren Begriff sich analytisch aus dem der Synthesis als deren Voraussetzung ergibt, muß Kant nun aber selbst als Ausdruck einer Synthesis fassen. Soll die Einheit der Apperzeption die Möglichkeit objektiver Erkenntnis garantieren, so muß sie auf das Verhältnis von Subjekt und Objekt bezogen sein. Als reine Bewußtseinseinheit ist sie aber nur Identität des Bewußtseins mit sich, reine Subjektivität und ohne Inhalt, also der Dunkel und Vernunft, Furcht und Mut, Tod und Aufbruch in ihrer Einheit erfahren und bewährt werden können und in der sie so zur eigentlichen Realität unseres Lebens würden.“ (Fichtes ‚Ich‘, a.a.O., 82). Mit Kant wäre zu fragen, ob hier nicht die Vernunft „auf dem Polster dunkler Qualitäten zur Ruhe gebracht werde“ (MAN, IV 532). – Henrich reagierte indes auf die Auflösung des Subjektprinzips durch die positivistische und sprachanalytische Philosophie seit Mach und Wittgenstein, die Ernst Tugendhat mit der Ersetzung der Reflexionstheorie durch ein ‚Propositionsmodell‘ pointiert formuliert (vgl. Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, a.a.O.). Danach bezieht das Subjekt nicht sich auf sich selbst als Objekt, sondern das Bewußtsein des Subjekts beziehe sich auf eine ‚Ich-Proposition‘, einen Satz, dessen grammatisches Subjekt die erste Person Singular ist. So aber ist Selbstbewußtsein nur ein Sonderfall von Bewußtsein und bezeichnet keine Subjektivität mehr. Eine konzentrierte und kommentierte Darstellung der Diskussion gibt Gunnar Hindrichs, Negatives Selbstbewußtsein, a.a.O. – Rolf-Peter Horstmann, Gibt es ein philosophisches Problem des Selbstbewußtseins?, in: Konrad Cramer/Hans Friedrich Fulda/Rolf-Peter Horstmann/ Ulrich Pothast (Hgg.), Theorie der Subjektivität, a.a.O., bezeichnet übrigens die derart intensiv diskutierte Vorstellung, das Subjekt werde sich selbst zum Objekt, schlicht als „naiv“ (227), und auch Klaus Düsing, Subjektivität und Freiheit, a.a.O., 27, 113, 121ff., bestreitet den Zirkelvorwurf ganz grundsätzlich. – Auf die Problematik der Lösungen des Reflexionsproblems durch Postulierung einer dunklen Selbstvertrautheit hat Karen Gloy, Bewußtseinstheorien. Zur Problematik und Problemgeschichte des Bewußtseins und Selbstbewußtseins, Freiburg 1998, 341 Anm. hingewiesen. – Manfred Frank, Fragmente einer Geschichte der Selbstbewußtseins-Theorien, a.a.O., 425f., betont die fatalen Konsequenzen, die Kants eigene Tendenz zu einem vorprädikativen ‚Selbst‘ für die Trennung der beiden Erkenntnisstämme habe, weshalb Kant seinerseits auf „das unhaltbare Reflexionsmodell“ (427) zurückgreife; damit sind die beiden Pole benannt, zwischen denen Selbstbewußtsein allenfalls aporetisch zu bestimmen ist. Eine positive Auflösung dagegen müßte allerdings „den Rekurs auf eine intellektuelle Anschauung“ (432) verlangen. In dieser sieht auch Düsing, Subjektivität und Freiheit, a.a.O., 124, das Zirkelproblem aufgehoben; nur ist diese Lösung philosophisch nicht adäquat darstellbar.

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auch ohne Beziehung auf Objektivität. Die Einheit, die als Gemeinsames im Mannigfaltigen der Anschauung dessen Synthesis organisiert, kann demzufolge nur dann als auf mögliche Inhalte bezogen gedacht werden, wenn sie selbst Ausdruck einer Synthesis von Verschiedenem ist.348 Nur in einem Bewußtsein, das über intellektuelle Anschauung verfügte, ginge die Identität der Objektivität aus der Identität des Subjekts selbst hervor. Die Identität von Vorstellungen im denkenden Bewußtsein dagegen ist nur möglich durch die Reflexion des Bewußtseins auf seine eigene synthetische Leistung. Erst das Bewußtsein davon, daß Bewußtseinsinhalte mit Bewußtsein begleitet und dadurch synthesierbar werden, konstituiert die Einheit des Bewußtseins. Die Einheit der Apperzeption setzt, um als ursprüngliche selbst Bedingung der Einheit aller Synthesis sein zu können, voraus, selbst a priori Bewußtsein der Einheit von Synthesis zu sein. Dafür aber muß die Apperzeption a priori auf einen synthetischen Akt bezogen sein, den sie selbst vollzieht und dessen Bewußtsein sie ist. Diese ursprüngliche Synthesis ist „der höchste Punkt, an dem man allen Verstandesgebrauch [...] heften muß, ja dieses Vermögen ist der Verstand selbst“349 . So ist dieser nichts weiter, „als das Vermögen, a priori zu verbinden, und das Mannigfaltige gegebener Vorstellungen unter Einheit der Apperzeption zu bringen“350 . Das heißt, die Einheit der Apperzeption ist der Verstand als Vermögen, Mannigfaltiges unter die Einheit der Apperzeption zu bringen; sie ist zu denken als Bedingung der Synthesis nur in ihrer Funktion des Synthesierens, die sie mit Selbstbewußtsein nur erfüllen kann, wenn sie auch in sich selbst synthetisch bestimmt ist. Die Vorstellung von Synthesis kann sie nicht erst aus der Erfahrung von Synthesis gewinnen, weil diese Erfahrung dann nicht mit Bewußtsein möglich wäre. Das Vermögen, a priori zu verbinden, kann deshalb als Vermögen a priori, Mannigfaltiges zu verbinden, nur gedacht werden, wenn es auch Vermögen ist, a priori Mannigfaltiges zu verbinden. Als solches setzt es aber den Begriff reiner Synthesis und mit ihr den reiner Mannigfaltigkeit voraus. Da es sich bei der reinen Apperzeption um eine Bestimmung des inneren Sinnes handelt, kann unter reiner Mannigfaltigkeit nur die reine Anschauung der Zeit vorgestellt werden und unter reiner Synthesis nur die Vorstellung der reinen Zeitfolge. Diese aber ist ohne von ihr und voneinander unterschiedene Zeitinhalte leer, sie würde „ohne die Gegenstände der Erfahrung [...] keine Bedeutung haben“351 . Diese Gegenstände werden ausdrücklich durch die bloß reproduktive Einbildungskraft zitiert;352 dennoch versucht Kant, die Aporie in der Selbstbestimmung durch den das Subjekt differenzierenden Begriff der produktiven Einbildungskraft aufzulösen, mittels der das Subjekt als Intellekt sich selbst als Anschauendes bestimmt. Es wird zu zeigen sein, daß dieser Begriff der produktiven Einbildungskraft, weil er als Vermittlung aus dem Gegensatz von Verstand und Sinnlichkeit erschlossen ist, das 348 349

350 351 352

Vgl. KrV, B 135. KrV, B 134 Anm. Eine Nuance ums Ganze falsch paraphrasiert übrigens Gunnar Hindrichs, Das Absolute und das Subjekt, a.a.O., § 200: „Das selber einheitliche, die Vielheiten verbindende Subjekt ist der ‚höchste Punkt‘, an dem unser Denken über die Dinge hängt.“ KrV, B 135. KrV, B 195. Vgl. KrV, B 195. Zur Entwicklung der Einbildungskraft aus der vorkritischen Psychologie vgl. Karl Hepfer, Die Form der Erkenntnis, a.a.O.

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Ausgangsproblem in dem Sinne aufhebt, daß er es in sich selbst reproduziert. Der Versuch, die ursprüngliche reine Apperzeption über ihre inhaltlose Identität durch Voraussetzung einer Synthesis a priori zur Objektivität zu erweitern, reproduziert das Problem in der Vorstellung des Objekts.353 Jener Verstand aber, der mit der transzendentalen Einheit der Apperzeption zusammenfällt, ist das Ich oder Er oder Es, das in mir denkt,354 die allgemeine Bestimmung des transzendentalen Subjekts = X, die sich aufnötigt, wenn dessen Verhältnis zum Objekt objektiv bestimmbar, wenn also Wissenschaft möglich sein soll. Soll sie nicht zum bloßen X – zum selbst bedeutungslosen Platzhalter – werden, ist zu klären, wie sich die Einheit des Verstandes, die auch die Einheit aller empirischen Subjekte bedeutet, zu der empirischen, bestimmten und nicht bloß numerischen Vielheit der Subjekte verhält.355 Kant will diese Einheit und mit ihr die Möglichkeit von Erkenntnis ohne Rekurs auf Gott begründen. Deshalb muß sich ihre Möglichkeit aus der Reflexion des Subjekts auf sich selbst begründen lassen. Damit wird der Verstand in seiner a priorischen Funktion der Bestimmung seiner selbst als Einheit aller Synthesis zunächst zum „oberste[n] Prin-

353

354 355

Das hat zu der idealistischen Kritik geführt, Kant sei inkonsequent verfahren oder, wie Düsing, Subjektivität und Freiheit, a.a.O., 154, formuliert, er habe „eine Lösung angedeutet, die jedoch Fragen offen läßt und nicht systematisch in einer eigenen Theorie der Subjektivität entwickelt wird“. Kants Theorie der Subjektivität bleibt negativ. Als solcher können aus ihr keine Bestimmungen konstituiert werden, und sie kann auch nicht mehr zur Objektivität ins Verhältnis gesetzt werden; sie erfüllt ihren Zweck scheinbar nicht. Dieser Mangel führt zu Antizipationen des Idealismus, die von diesem aus als angedeutete Lösungen erscheinen. Bei Kant bleibt freilich die Aporie stehen, die in der Sache liegt. Vgl. KrV, B 404. Die Übereinstimmung aller Menschen in den Erkenntnisbedingungen hatte schon Averroes bewogen, die ‚Einheit des Intellekts‘ anzunehmen. Thomas von Aquin wollte, mit Betonung der sinnlichen Bedingungen von Erkenntnis, die Individualität der erkennenden Subjekte bewahren, ohne doch deren Einheit in den Prinzipien des Intellekts preiszugeben. Er verlagerte diese Einheit in eine analoge Bestimmung: „Es ist [...] nicht nötig, daß sie der Zahl nach in allen dieselbe sei. – Wohl aber ist es nötig, daß sie von einem Grunde in allen hergeleitet wird.“ (Summa theologica, Salzburg u. a. 1933ff., I, 79, 5 ad 3) Damit sei nicht der intellectus agens die den Subjekten übergeordnete Einheit, in der ihre Gemeinsamkeit im Bewußtsein der ersten Prinzipien besteht, sondern ein intellectus separatus, der nicht der göttliche ist, nicht transzendent, sondern transzendental: erschlossen als Bedingung der Möglichkeit der Einheit von Erkenntnis in verschiedenen empirischen Subjekten. – Der intellectus possibilis kommt hier nicht in Frage, weil er als Vermögen, Erkenntnisse aufzunehmen, zwar allen Menschen in gleicher Weise zukommt, aber für sich selbst keine Gegenstände hat. – Gleichwohl bleibt die göttliche Einheit Bezugspunkt, Grund, aus dem die Einheit hergeleitet wird, insofern die erkennenden Subjekte auf ihn bezogen sind; das Resultat jedoch ist diese Beziehung selbst, eine bloß relationale Bestimmung. Thomas will den tätigen Verstand, der für die subjektive Aneignung von Objektivität zuständig ist, im Subjekt bewahren und konstruiert daher seine Kompatibilität mit dem Objekt nicht aus ihm selbst, sondern über seine Beziehung auf den Grund aller Objektivität, auch seiner eigenen. Erkauft ist die Individualität der Subjekte, die erst systematisch später über phantasmata der Einbildungskraft mit Gehalt versehen wird, hier mit der transzendenten Absicherung ihrer Objektivität, in der alle Individualität aufgehoben ist. Das Selbstbewußtsein bleibt auch in dieser Konstruktion abhängig.

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zip alles Verstandesgebrauchs“356 , das sich als „objektive Bedingung aller Erkenntnis“357 entpuppt, das durch die Objektivität – das heißt hier: daß für das Subjekt ein Objekt ist – erst möglich wird. Anschauungen können dem Subjekt in den Sinnen nur gegeben werden, wenn ihr Material – das in ihnen gegebene Mannigfaltige – den Bedingungen der Sinnlichkeit gemäß ist; durch den Verstand erkannt werden können sie nur, wenn ihr Material der Einheit der Apperzeption gemäß ist, denn sonst könnte dieses nicht zu einer Vorstellung von einem Objekt synthesiert werden, die der Anschauung zugeordnet werden kann. Das Objekt, das jetzt im Zusammenhang des Erkenntnisbegriffs thematisch wird, ist bei Kant indirekt bestimmt: „Objekt aber ist das, in dessen Begriff das Mannigfaltige einer gegebenen Anschauung vereinigt ist.“358 Die Bestimmung des Objekts selbst, um die es Kant hier im Unterschied zu dessen bloßem Begriff offensichtlich zu tun ist, erfolgt in Abhängigkeit vom gegebenen Mannigfaltigen der Anschauung sowie vom Begriff des Objekts; damit erfolgt sie zugleich abhängig von dem Bewußtsein, das der logische Ort der Verknüpfung dieser beiden Voraussetzungen ist. – Nach dem Aristotelischen Verständnis von ‚Definition‘ wird stets das weniger Bekannte durch das schon Bekannte definiert.359 Hier ist nun das ‚Mannigfaltige einer gegebenen Anschauung‘, das in einem Begriff vereinigt ist, das schon Bekannte, denn dieser Begriff erst weist auf das Objekt. Unklar bleibt an dieser Stelle, ob der Begriff selbst Resultat oder Bedingung der Synthesis des Mannigfaltigen ist.360 Jedenfalls ist das Objekt erkenntnistheoretisch Resultat des Erkenntnisprozesses und nicht dessen äußere oder gar äußerliche Voraussetzung; es ist für Kant Grundlage der Objektivität von Erkenntnis im doppelten Sinn: als Erkenntnis, der erstens ein Objekt korrespondiert und die zweitens darum auch als subjektive Einsicht Objektivität beanspruchen kann und so überindividuell gilt.361 In der Erkenntnis, so Kant, sind gegebene Vorstellungen auf ein Objekt bezogen, das sich aber außerhalb dieser Beziehung gar nicht greifen läßt, weil sonst das Mannigfaltige, um vorrelational der Vorstellung gegeben sein zu können, sich selbst synthesieren müßte. Dies läßt sich aber von einem Bewußtsein, daß immer schon alle seine Vorstellungen potentiell begleitet, nicht denken; es müßte denn sich selbst wegdenken, was eine widersinnige Forderung darstellt. So bleibt das Mannigfaltige ohne synthetische Leistung des Verstandes zumindest für diesen chaotische Mannigfaltigkeit, denn die Vorstellungen sind nur unter der Einheit der Apperzeption seine Vorstellungen und haben darin das Prinzip ihrer Synthesis. Die Sinnenwelt ist „entweder gar kein Gegenstand der Erfahrung oder eine Natur“362 . 356 357 358 359 360 361

362

KrV, B 136. KrV, B 138. KrV, B 137. Vgl. Aristoteles, Metaphysik, a.a.O., 1029b. Vgl. aber Deduktion A, in der beides gegenläufig verschränkt ist. Der Umstand, daß außerhalb der subjektiv gestifteten Objektivität kein Objekt, sondern bloß Mannigfaltiges ist, daß Objektivität das eigentliche Objekt der Erkenntnis ist, überholt Manfred Baums Differenzierung, daß die Synthesis nur die Objektivität, nicht aber die Objekte erzeuge. Vgl. Erkennen und Machen in der ‚Kritik der reinen Vernunft‘, in: Burkhard Tuschling (Hg.), Probleme der ‚Kritik der reinen Vernunft‘, a.a.O., 176. – Vgl. auch Opus Postumum, XXII 82. Prolegomena, IV § 38.

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Schärfer noch, als Kant es tut, wäre zu formulieren, daß die Vorstellungen ohne Beziehung auf meine Apperzeption nicht bloß allesamt nicht meine wären, sondern sie wären für mich unbestimmte Vielheit überhaupt, das heißt soviel wie nichts, jedenfalls weniger als ein Traum.363 Ein Bewußtsein, dem Mannigfaltigkeit in der Vorstellung gegeben wäre, ohne auf die Einheit der Apperzeption bezogen zu sein, wäre ein Bewußtsein, das in sich zerflösse, das Empfindungen hätte, das aber sich innerhalb des Empfundenen nicht zu orientieren vermöchte, eben weil das Empfundene sich nicht selbst synthesiert. Solch ein Bewußtsein wäre noch nicht einmal ein wahnhaftes Bewußtsein, weil sowohl paranoide als auch schizoide und selbst noch demente Formen der Bewußtseinsstörung die Apperzeption voraussetzen, indem eine ihrer Funktionen – Apprehension, Reproduktion oder Rekognition – gestört ist, wodurch falsche Zuordnungen von Vorstellungen zueinander oder zu Objekten verursacht werden. In einem Bewußtsein ohne Einheit der Apperzeption fielen absolute Fülle und absolute Leere zusammen, ein Zustand, dessen gelegentliche modische Affirmation wohl purer Euphemismus ist.364 Besteht Erkenntnis nun „in der bestimmten Beziehung gegebener Vorstellungen auf ein Objekt“365 , so unterliegen diese Vorstellungen der Synthesis durch den Verstand, in dessen zwieschlächtiger Funktion ‚a priori zu verbinden‘366 Erkenntnis und Selbsterkenntnis zusammenfallen, indem er sich selbst begründet: Wenn nämlich die Einheit der Apperzeption oberste Bedingung der Möglichkeit der Beziehung von Vorstellungen auf Objekte, also von Erkenntnis ist, dann ist sie, weil Erkenntnis der Gebrauch des Verstandes ist, ohne den der Verstand selbst gegenstandslos wäre, Bedingung des Verstandes selbst. Dieser aber fällt mit der Einheit der Apperzeption substantiell zusammen.367 Kant kommt es nun darauf an, daß nicht etwa die Einheit der Apperzeption die Grundlage allen Verstandesgebrauchs sei, sondern genauer „der Grundsatz der ursprünglichen synthetischen Einheit der Apperzeption“368 , der besagt, „daß alles Mannigfaltige der Anschauung unter Bedingungen der ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption stehe“369 . In der Deduktion A hatte Kant den obersten Grundsatz des Denkens anders formuliert. Dort heißt es: „daß alles verschiedene empirische Bewußtsein in einem einigen Selbstbewußtsein verbunden sein müsse“370 . Diese Formulierung stellt zwar mit dem empirischen Bewußtsein scheinbar die bestimmte Erfahrung in den Vordergrund, bezieht sich jedoch letztlich auf eine bloße Bewußtseinseinheit. Die Einheit der Apperzeption allein würde den Verstandesgebrauch auf die leere Reflexion des Verstandes auf sich selbst beschränken.371 363 364 365 366 367 368 369 370 371

Vgl. KrV, A 112. Zur Bedeutung der Einheit der Apperzeption für die Einheit der Erfahrung vgl. auch KrV, A 110f. KrV, B 137. Vgl. KrV, B 135. Vgl. KrV, B 134. KrV, B 137. KrV, B 136. KrV, A 117 FN. Vgl. Georg Mohr, Das sinnliche Ich. Innerer Sinn und Bewußtsein bei Kant, Würzburg 1991. Mohr entwickelt Selbstbewußtsein als Kombination von Identitätsbewußtsein, Zeitbewußtsein und Vorstellungspluralität äußerer Erfahrung, um es nicht, wie in großen Teilen der analytischen Tradition, als Bewußtsein isolierter mentaler Zustände, sondern als Einheit der Pluralität von Vorstellungen

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Soll Erkenntnis – Beziehung von Vorstellungen auf Objekte – möglich sein, so muß mit der Einheit der Apperzeption, der formalen Bedingung der Synthesis, deren materielle Bedingung der Synthesis, das gegebene Mannigfaltige, verknüpft sein. Wenn es sich um eine transzendentale Grundlegung von Erkenntnis handeln soll, muß diese Verknüpfung in Gestalt einer ‚ersten reinen Verstandeserkenntnis‘372 vorliegen. Die Erweiterung der Formulierung auf das Material der Anschauung dient also nunmehr zu dessen transzendentaler Absicherung. Kant weist allerdings mit Recht darauf hin, daß sowohl Raum als auch Rauminhalte – als Mannigfaltiges – keine Erkenntnisse sind, sondern Bedingungen möglicher Erkenntnis und daß für eine wirkliche Erkenntnis hingegen eine Vorstellung von – etwa durch geometrische Figuren – bestimmtem Raum erforderlich ist, die schon Synthesis voraussetzt. Er betont daher die synthetische Seite der ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption, weil die für die Raumbestimmung erforderliche Einheit nur durch eine Handlung des mit Einheit der Apperzeption ausgestatteten Subjekts möglich ist und weil nur in dieser Handlung der bestimmten Synthesis die ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption auch der Seite ihrer Ursprünglichkeit nach einen Gehalt hat: „die Einheit dieser Handlung [der Bestimmung des Raums etwa durch Ziehen einer Linie; M.St.] [ist] zugleich die Einheit des Bewußtseins (im Begriffe einer Linie)“373 . Die reine Apperzeption bestimmt sich selbst als synthetische des Subjekts erst durch die Konstitution eines Objekts. Kant bezeichnet nun den Grundsatz der Einheit der Apperzeption als analytisch, weil er bloß aussage, „daß alle meine Vorstellungen in irgendeiner gegebenen Anschauung unter der Bedingung stehen müssen, unter der ich sie allein als meine Vorstellungen zu dem identischen Selbst rechnen, und also, als in einer Apperzeption synthetisch verbunden, durch den allgemeinen Ausdruck Ich denke zusammenfassen kann“374 . Zwar wäre der Satz analytisch, wenn er sich etwa so verkürzen ließe: ‚Meine Vorstellungen stehen unter Bedingungen, unter denen sie meine Vorstellungen sein können, d. h. meine Vorstellungen sind meine Vorstellungen‘; die ausführliche Formulierung, ohne die Kants Betonung der synthetischen Seite der Apperzeption unmöglich wäre, enthält aber die Beziehung auf gegebene Anschauungen, die nur unter der Voraussetzung, daß diese Anschauungen vollständig unter der Einheit der Apperzeption erfaßt sind, die Analytizität des Satzes unberührt ließen. Die Beziehung der Einheit der Apperzeption auf Objekte, dergemäß die Subjektivität als Funktion der Objektivität erschien, schlägt aber mit dieser Voraussetzung in den Grund von Objektivität selbst um: „Die synthetische Einheit des Bewußtseins ist also eine objektive Bedingung aller Erkenntnis, nicht deren ich bloß selbst bedarf, um ein Objekt zu erkennen, sondern unter der jede Anschauung stehen

372 373 374

zu fassen. Zum Kernproblem wird dabei die Zeitlichkeit äußerer Erfahrung und deren Verhältnis zur inneren Erfahrung und zum Selbstbewußtsein, das als „Funktionszusammenhang von Gedanken“ (285f.), als „anschauungsbezogene Selbsterkenntnis“ gefaßt werden soll. – Zum Verhältnis Identität und Vorstellungspluralität vgl. auch Dieter Sturma, Kant über Selbstbewußtsein, Hildesheim 1985, 102. Vgl. KrV, B 137. KrV, B 138. KrV, B 138.

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muß, um für mich Objekt zu werden, weil auf andere Art, und ohne diese Synthesis, das Mannigfaltige sich nicht in einem Bewußtsein vereinigen würde.“375 Selbstbewußtsein, Bestimmung des Subjekts, wird zugleich Bestimmung der Objekte. Selbstbewußtsein als Gegenstand von Bestimmung, selbst Objekt der Subjektivität, wird zum Bestimmenden; die Objekte, die es generiert, werden aus Funktionen seiner Subjektivität zu bloßen Ausdrücken derselben. Zwar ist das Subjekt durch Objektivität bedingt, weil sein Selbstbewußtsein bestimmte Synthesis voraussetzt, aber nur mehr so, daß darin die Objekte erst konstituiert werden. Die Synthesis, die einzige Vorstellung, „die nicht durch Objekte gegeben, sondern nur vom Subjekte selbst verrichtet werden kann“376 , erzeugt gleichwohl erst die Objektivität der Objekte. Das Verhältnis von Subjekt und Objekt, die beide als indirekte, wechselweise abhängige Bestimmungen hervorgegangen sind, ist nicht symmetrisch, sondern überwiegt auf der Seite des Subjekts, indem dies nicht allein durch die Beziehung aufs Objekt, sondern als Inbegriff der Bedingungen dieser Beziehung selbständig bestimmt ist. Zwar formuliert Kant immer wieder die Notwendigkeit der Voraussetzung einer Selbständigkeit auch der Objekte: „das Mannigfaltige für die Anschauung [muß] noch vor der Synthesis des Verstandes, und unabhängig von ihr, gegeben sein“, dem Denken muß „der Stoff zum Erkenntnis, die Anschauung, [...] durchs Objekt gegeben werden“377 ; auch das Fehlen des bestimmten Artikels in folgender Formulierung weist auf ein Moment von Selbständigkeit in den Gegenständen: „Die Bedingungen a priori einer möglichen Erfahrung sind zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung.“378 In der systematischen Darstellung der transzendentalen Grundlegung der Möglichkeit aller Erkenntnis läßt sich dieses Objekt, das den Stoff gibt, aber selbst nur als Resultat der subjektiven Synthesis fassen, das Objekt geht in seinem Begriff auf; die Feststellung der Notwendigkeit seiner Heterogenität, die den Verstand von der intellektuellen Anschauung unterscheiden soll, erhält postulatorischen, fast beschwörenden Charakter, schon darin, daß Kant diese Unterscheidung mehrfach in expliziter und ausführlicher Form für nötig hält. Dietranszendentale Bestimmung der Möglichkeit von Erkenntnis muß die Seite der Selbständigkeit der Objekte in deren allgemeinem Begriff auflösen, weil sie in der Erkenntnis, deren Resultate mit einer durchs Subjekt vermittelten Allgemeinheit ausgestattet sind, nicht zu fassen ist; allgemein aber läßt sie sich höchstens der Form nach bestimmen, daß etwas sei. So muß Kant nicht allein vom Gehalt bestimmter Erfahrung abstrahieren, sondern „noch von der Art, wie das Mannigfaltige zu einer empirischen Anschauung gegeben werde“. Nur daran, daß etwas unabhängig gegeben werde, ist festzuhalten: „wie aber, bleibt hier unbestimmt.“379 Kant trägt damit der Gefahr Rechnung, daß seine Bestimmung des Verhältnisses von Subjekt und Objekt umschlage in eine Relation absoluter Produktivität des Subjekts in sich selbst. Deshalb grenzt er 375 376

377 378 379

KrV, B 138. KrV, B 130. Zur Erzeugung von Objektivität durch die Synthesis im Urteil vgl. Prolegomena, IV § 19. KrV, B 145. KrV, A 111. KrV, B 144f. Meine Kursivierung.

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das menschliche Erkenntnisvermögen von der göttlichen intellektuellen Anschauung ab. Die einzige Bestimmung, die ihm dafür aber noch zur Verfügung steht, ist die faktische des ‚auf irgendeine Weise Gegebenseins‘ irgendeines Materials der Anschauungen. Dieser Begriff des Mannigfaltigen, der bloßen unbestimmten Vielheit, ist von dem Begriff absoluter Einheit nicht mehr sachhaltig zu unterscheiden; das Festhalten an ihm wird zur trockenen Versicherung. Der Ausdruck ‚wie aber das Mannigfaltige gegeben sei, bleibt hier unbestimmt‘ ist doppelsinnig: Nicht nur die Art des empirischen Gegebenseins muß unbestimmt bleiben, sondern auch, wie das erkenntnistheoretische Subjekt ein Bewußtsein davon haben könne, daß ihm etwas gegeben sei, denn seine Erfahrung ist in der transzendentalen Bestimmung keine empirische mehr. Dieses Problem tritt massiv hervor in Beziehung auf den Erfahrungsgebrauch der Kategorien. Wenn Erfahrungserkenntnis einerseits als kategorial bestimmter Verstandesakt selbst Grund ihrer Objekte ist, andererseits aber auf eine subjektiv irreduzible Objektivität verwiesen ist, muß die Beziehung der Kategorien auf diese Objekte so bestimmt werden, daß jener Gegensatz im Objektbegriff vermittelt wird. Daran hängt die Möglichkeit, „der Natur gleichsam das Gesetz vorzuschreiben“380 . Die transzendentale Bestimmung des Verhältnisses von Subjekt und Objekt durch die transzendentale Einheit der Apperzeption und vermittels der Kategorien gab den Grund dafür, daß nur auf diese Weise ein Verhältnis von Subjekt und Objekt als Erkenntnisprozeß denkbar sei. Wie aber dieses wenngleich als notwendig eingesehene Verhältnis statthaben könne, wenn doch das durchs Objekt Gegebene und die innere Konstitution des Verstandes nicht materialiter identisch, sondern allo genos sind, bleibt zu klären. Die Bedingung der Möglichkeit von Einheit in der Apprehension von Mannigfaltigem, das in der Erscheinung gegeben ist, muß in den Bedingungen der Sinnlichkeit gesucht werden. Nun unterliegen alle Erscheinungen den reinen Formen der Anschauung: dem Raum nach als Außereinander und der Zeit nach als Nacheinander oder Zugleich. Daß schon in der Wahrnehmung die Vielheit als geordnete erscheint, ist durch die Bedeutung von Raum und Zeit als reinen Anschauungen zu erklären, die gewissermaßen gegenständlichkeitsanalog vorgestellt werden und so a priori mit Einheit verknüpft gedacht werden. Diese Einheit kann nun aber nicht aus der Vielheit selbst hervorgehen, ist nicht in den reinen Anschauungen gegeben, wohl aber mit ihnen; sie müssen als durch die Einheit der Apperzeption a priori begleitet vorgestellt werden, um die Möglichkeit von Synthesis in der Apprehension der Erscheinungen, d. h. die Möglichkeit von bestimmten Anschauungen, Wahrnehmungen schließlich, denken zu können. Kant zufolge wird hier die „Verbindung des Mannigfaltigen einer gegebenen Anschauung überhaupt in einem ursprünglichen Bewußtsein, den Kategorien gemäß, nur auf unsere sinnliche Anschauung angewandt“381 . Im Begriff der Anwendung ‚einer gegebenen Anschauung überhaupt‘ auf ‚sinnliche Anschauung‘ verknüpft Kant das Allgemeine – Anschauung überhaupt – mit dem Einzelnen – sinnliche Anschauung – durch das Besondere – eine Anschauung überhaupt –; er tut dies aber derart, daß das Allgemeine und Besondere schon im Begriff des Gegenstands der transzendentalen Synthesis verknüpft gedacht sind. Dessen Begriff ist in sich doppelsinnig, weil er hinsichtlich seines allgemeinen 380 381

KrV, B 159f. KrV, B 161.

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Moments echte – intensionale – Allgemeinheit ausdrückt, hinsichtlich des besonderen Moments aber bloß komparative – extensionale – Allgemeinheit.382 Der Begriff der ‚Anschauung überhaupt‘ ist seinem besonderen Moment nach – in der Bedeutung von ‚irgendeine Anschauung‘ – dadurch allgemein bestimmt, daß er alle beliebigen Anschauungen umfaßt. Darin setzt das besondere Moment einerseits das allgemeine schon voraus, weil die Intension der Extension sonst bestimmungslos wäre, andererseits setzt er auch das Einzelne in ein Momentverhältnis zu sich, weil sonst die Intension keine Extension hätte. Indem Kant den terminus medius, das besondere Moment, in den terminus maior integriert, erschleicht er dessen Zusammenschluß mit dem terminus minor, da dieser über sein logisches Verhältnis zum terminus medius bereits ebenso in den terminus maior integriert ist. Die idealistisch-logische Dynamik, mit der Hegel383 die Äußerlichkeit des Verhältnisses von Einzelnem und Allgemeinem ausgehend vom Schluß des Daseins zum Schluß der Notwendigkeit entwickelt und damit Subjektivität in Objektivität überführt, ist in jener Formulierung Kants schon angelegt. Allerdings ist für Kant die Bestimmung der transzendentalen Synthesis Resultat des Schlusses auf die Bedingung der Möglichkeit der empirischen Synthesis und, weil sie deren Bestimmungen resultativ enthält, auf sie anwendbar. Gleichwohl gilt jene Bestimmung notwendig und allgemein, aber ihre Ursprünglichkeit ist – paradox – abgeleitet; dem idealistischen Einwand ‚Aber abgeleitet erscheint sie doch nur uns zu sein‘ wäre zu antworten: ‚Wem denn sonst?‘ – Das steht Kants Anspruch entgegen, die erschlossene Ursprünglichkeit in ein Begründungsverhältnis umzuwenden: „Folglich steht alle Synthesis, wodurch selbst Wahrnehmung möglich wird, unter den Kategorien, und, da Erfahrung Erkenntnis durch verknüpfte Wahrnehmung ist, so sind die Kategorien Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung, und gelten also a priori auch von allen Gegenständen der Erfahrung.“384 Die Folgerungspartikel ‚also‘ unterstellt hier eine Begründung, setzt aber zusätzlich die Produktion der Objekte – als Objekte – durchs Subjekt voraus, in der dessen logische Abhängigkeit vergessen ist. Was Kant hier geleistet zu haben beansprucht, ist der Nachweis, daß die Konstitution der Objekte durchs Subjekt nicht nur dem allgemeinen Erkenntnisbegriff nach notwendig, sondern schon in der Konstitution der Wahrnehmung nachweisbar ist. Die Konstitution der Objekte besagt nun nicht, daß durch Wahrnehmung oder Erkenntnis das Objekt als gegenständliches hervorgebracht werde, aber doch als Objekt, das heißt „Kategorien sind Begriffe, welche den Erscheinungen, mithin der Natur, als dem Inbegriffe aller Erscheinungen (natura materialiter spectata), Gesetze a priori vorschreiben“385 . 382

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384

385

Wenn Kant wissenschaftliche Allgemeinheit definiert als „wie die Mathematiker dieses Wort nehmen, nämlich hinreichend vor alle Fälle“ (Prolegomena, IV § 5), so ist diese Menge aller Fälle eben nicht extensional, sondern nur durch einen Begriff zu bestimmen. Vgl. G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik. Lehre vom Begriff , a.a.O., Erster Abschnitt, Drittes Kapitel: Der Schluß. KrV, B 161. Die Vermittlung von Kategorien und Sinnenmaterial geschieht wieder über ‚Anschauung überhaupt‘, da die „reinen Verstandesbegriffe […] nichts weiter sind, als Begriffe von Anschauungen überhaupt, so fern diese […] nothwendig und allgemein bestimmt sind“ (Prolegomena, IV § 21). KrV, B 163.

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Diese Gesetze können nicht aus der Erkenntnis der Natur resultieren, da sie dieser ja im Gegenteil vorausgesetzt sind. Zu zeigen ist, wie der Verstand etwas ihm Heterogenes aus ganz eigenen Gesetzen bestimmen könne. Entscheidend ist hier schon der Begriff der ‚natura materialiter spectata‘, der eben nicht auf eine extramentale materielle Natur referiert, sondern auf Natur, insofern sie in materieller Hinsicht betrachtet wird, nämlich – in Kants Übersetzung – als ‚Inbegriff aller Erscheinungen‘, also als der allgemeine Ausdruck der Objektivität, sofern diese schon in Relation zum Subjekt bestimmt ist.386 Als Erscheinung ist das Objekt schon durch seine Beziehung aufs Subjekt bestimmt. Die Verknüpfung des zu einer Erscheinung gegebenen Mannigfaltigen leistet die Einbildungskraft, die als Mittler zwischen Sinnlichkeit und Verstand sowohl durch die Einheit der Apperzeption als auch durch die Mannigfaltigkeit der Sinnlichkeit bestimmt ist und so Wahrnehmung ermöglicht. Die Synthesis der Apprehension zur Wahrnehmung steht nun selbst unter der Einheit der Apperzeption und damit unter den Kategorien. Sofern Erscheinungen uns überhaupt zugänglich sind – „ihrer Verbindung nach“387 – ist auch hier die Identität der Erscheinungen mit der Wahrnehmung vorausgesetzt. Natur ist danach nicht einmal mehr der Inbegriff aller Erscheinungen, sondern der Begriff der intelligiblen Ordnung der Erscheinungen, das heißt der Begriff der Möglichkeit einer Natur als Inbegriff von Erkenntnisobjekten überhaupt: ‚natura formaliter spectata‘. Allein die Notwendigkeit der gesetzmäßigen Bestimmung einer solchen Natur ist im Rahmen der transzendentalen Bestimmung der Objektivität von Erkenntnis möglich. Alle weiteren Erkenntnisse – bestimmte Naturgesetze – erfordern bestimmte Erfahrung; diese Erfahrung aber – und ihr Objekt – sind außerhalb jener Gesetzmäßigkeit, mit der Objektivität durchs Subjekt gesetzt ist, nicht mehr zu denken. Jede weitere Frage danach verbietet sich, so daß der Begriff des Selbstbewußtseins bloß formal objektiviert ist, die Objekte aber ganz subjektiviert. Die Vernachlässigung des praktischen Moments im Selbstbewußtsein ist implizit idealistisch; in jenem Moment ist das Selbstbewußtsein immer schon auf Natur und auf die Menschheit bezogen, weil es erstens vom unmittelbaren Naturzusammenhang emanzipiert sein muß, um selbstbewußt zu sein, und weil zweitens diese Emanzipation dem isolierten, wesentlich einzelnen, Subjekt nicht gelingt.388 Kants Naturbegriff revolutioniert zwar das Verhältnis der Menschen zu ihren gegenständlichen Lebensbedingungen, insofern diese nur in ihrer dem Subjekt verfüg-

386

387 388

Vgl. KrV, B 164: „Gesetze existieren ebensowenig in den Erscheinungen, sondern nur relativ auf das Subjekt, dem die Erscheinungen inhärieren, sofern es Verstand hat, als Erscheinungen nicht an sich existieren, sondern nur relativ auf dasselbe Wesen, sofern es Sinne hat.“ KrV, B 164f. Dies ist auch für Klaus Düsing, Selbstbewußtseinsmodelle, a.a.O., 260, grundlegend: Aus der Form der noch unentwickelten Selbstbeziehung folge, „daß das Selbst, auch wenn es ansonsten schon höhere und komplexere Stufen der Selbstbeziehung erreicht hat, immer ein in seiner natürlichen und sozialen Umwelt befindliches bleibt“; vgl. 139f. sowie 267. Der Beziehung der Subjekte zu dem ‚Umwelthaften‘, das bei Düsing eher opak bleibt, gelten die vorliegenden Überlegungen, auch aus der Überzeugung heraus, daß weitere Bestimmungen der Subjektivität nicht, wie Düsing schreibt, in „von Erlebniszufälligkeiten gereinigten“ (268) Modellen von Selbstbeziehung zu verankern, sondern allenfalls auf kritischem Wege zu erschließen sind.

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baren Hinsicht betrachtet werden, „[d]enn wir kennen Natur nicht anders“389 ; aber – wie später im Zusammenhang des Kulturbegriffs der Kritik der Urteilskraft zu zeigen ist – diese Verfügbarkeit gerät zur absoluten, wenn ihre subjektive Konstitution nicht auch historisch vermittelt begriffen wird. In der Radikalisierung des subjektiven Naturbegriffs durch das Moment historischer Praxis träte erst die Selbständigkeit der Gegenstände wieder hervor. – Gemäß dem Begriff des ‚Mannigfaltigen einer gegebenen Anschauung überhaupt‘, durch den das Einzelne unter einen allgemeinen Begriff des Besonderen gebracht werden soll, sind die ‚Gegenstände möglicher Erfahrung‘, deren Inbegriff ‚Natur‘ ist, ihrem Begriff nach keine Objekte wirklicher Erfahrung, sondern Ausdruck der Form von Erfahrung überhaupt. Diese selbst ist von anderen Bewußtseinsprozessen nun formal durch die Beziehung auf die Sinne unterschieden, nicht etwa materiell durch Verweis auf ein extramentales Objekt. Das Selbstbewußtsein ist als synthetische Einheit immer auf Objektivität bezogen, aber a priori; diese Objektivität bleibt seine Grundlage, aber als blinder Fleck, nach dem zu fragen die transzendentale Begründung der Möglichkeit von Erkenntnis untergrübe. Diese ist nur als System möglich, das um das Selbstbewußtsein geordnet ist, so daß dieses Grundlage aller seiner Bestandteile ist; der Begriff von Erkenntnis wäre sonst nie vollständig zu denken. Diese Vollständigkeit bringt aber einen defizitären Begriff des Selbstbewußtseins mit sich, eines Selbstbewußtseins, das seine objektiven Bedingungen nicht wissen darf. Sofern es nun auf extramentale Bedingungen verwiesen ist, nennt Kant es das ‚empirische‘, im Unterschied zum transzendentalen, und das ‚subjektive‘ im Unterschied zum objektiven.390 Weil die empirische Einheit des Bewußtseins von zufälligen Umständen abhängt, unter denen bestimmte Anschauungen bestimmten Subjekten gegeben werden, ist sie für Kant keine Bestimmung des Verstandes, sondern eine „Bestimmung des inneren Sinnes“391 , der für die Aufnahme eines Mannigfaltigen in concreto zuständig ist. Der innere Sinn als Form der Anschauung in der Zeit muß schon unter der transzendentalen Einheit der Apperzeption stehen, damit dies gelingt.392 Kant macht sich hier die Differenz der Zeit in reine Anschauungsform, unter der alle Vorstellungen des inneren Sinns stehen müssen, und reine Anschauung, die selbst reine Mannigfaltigkeit – nämlich die Vorstellung der bloßen Zeitfolge – enthält, zunutze.393 Die Form der Anschauung steht nicht erst vermöge bestimmter Synthesis unter der Einheit der Apperzeption, sondern schon der bloßen Vorstellung von Zeitfolge nach, deren Mannigfaltigkeit als geordnetes Nacheinander oder als Zugleich notwendig auf die Verstandeseinheit bezogen ist. Diese reine Synthesis, obgleich gegenstandslos, liegt aller empirischen zugrunde, weil nur sie in der Bedeutung als Bedingung der Möglichkeit von Objektivität objektiv ist, während die empirische Synthesis immer gegebene Anschauungen als heterogen voraussetzt und deshalb dem Zufall, das heißt dem von ihr selbst nicht konstituierten heteron unterworfen ist. Soll Erfahrungserkenntnis als allge389 390 391 392 393

Prolegomena, IV § 36. Vgl. KrV, B 139. KrV, B 139. Vgl. KrV, B 140. Vgl. KrV, B 34f.

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meine möglich sein, so wären Begriffe zu entwickeln, in denen die Erkenntnis sowohl auf Erfahrung eingeschränkt ist, als auch über bestimmte Erfahrung erhaben. Die subjektiv empirische Einheit des Bewußtseins aber bleibt schon dem logischen Ort nach von der transzendentalen, vom Selbstbewußtsein, getrennt; jene erwägt Kant nämlich in der Kritik der reinen Vernunft nicht: Sie gehöre in die empirische Psychologie. Ihr Verhältnis zum Selbstbewußtsein sei das einer Ableitung „unter gegebenen Bedingungen in concreto“394 , die nicht unter die Aufgaben der Philosophie, sondern unter jene der Psychologie falle; für die Objekte der Erkenntnis, ihre Notwendigkeit und Allgemeinheit sei sie unerheblich. Gleichwohl ist sie notwendige Bedingung von deren Bestimmung, denn ohne sie wäre nichts gegeben. Letztlich wäre auch die synthetische Einheit der Apperzeption undenkbar, denn die reine Synthesis a priori kann nur Objekte konstituieren, wenn Anschauungen gegeben sind. Die reinen Anschauungen Raum und Zeit sind erschlossene Bedingungen der empirischen Anschauung, ohne die diese nicht möglich wäre; für sich aber sind sie nichts und die reine Synthesis zieht in der reinen Anschauung keine Linie, weil sie nicht einmal weiß, was Punkte sind. Die Beziehung a priori bloßer Einheit auf bloße Vielheit ist als Begriff der Form von Erfahrung denkbar, bringt aber aus sich selbst keine geordnete Vielheit hervor, weil dafür bestimmte Unterschiede erfordert sind, die die Form des Unterschieds erfüllen.395 –

(B.) Exkurs: Zur Anthropologie des Subjekts Zwar hebt Kant in seiner „Apologie für die Sinnlichkeit“396 deren Bedeutung als Erkenntnisquelle neben dem Verstand deutlich hervor und weist die rationalistischen Einwände zurück, denen zufolge die Sinnlichkeit die klare und distinkte Erkenntnis des Verstandes bloß trübe und veruneinheitliche; bei der scharfen Abgrenzung des erkenntnistheoretischen transzendentalen Subjekts gegen die empirischen Subjekte bleibt es aber auch in der anthropologischen Betrachtung.397 394 395

396 397

KrV, B 140. Vgl. dagegen Hegels Versuch, aus dem Fürsichsein die Quantität zu entwickeln. Dies gelingt nur dadurch, daß die Bestimmungslosigkeit reiner einfacher Selbstbeziehung als Moment verinnerlichter Negation interpretiert wird, die als Selbstunterscheidung aus der ‚Leere‘ dann ‚viele Eins‘ ausstößt. Diese Interpretation ist möglich, weil das Fürsichsein selbst schon – an systematisch verfrühter Stelle – Reflexionsform endlichen Seins ist. Vgl. G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik. Lehre vom Sein, a.a.O., 137 und 144-158. Da Kant nicht auf die Generation von Begriffen auseinander, sondern von Anschauungen aus der Beziehung von Empfindungen und Anschauungsformen aus ist, kann eine analoge Argumentation bei ihm nicht gelingen: In den subjektiven Vermögen der Synthesis liegen keine Unterschiede. – Hiermit hängt auch das Problem zusammen, ob mathematische Gegenstände vollständig konstruktiv darstellbar sind oder außermathematische empirische Voraussetzungen haben oder aber intuitiv gegebene Vernunftideen sind. Anthropologie, VII 143ff. In der Kritik der reinen Vernunft kündigt Kant die Untersuchungen zur empirischen Psychologie als Bestandteil einer ausgeführten Anthropologie an (vgl. KrV, B 877). In der Anthropologie bleibt aber die disziplinäre Zuordnung des inneren Sinns als Ort empirischer Selbsterkenntnis zu Anthropologie, Physiologie oder Psychologie undeutlich. Zunächst wird innerhalb der Anthropologie unterschieden in eine physiologische und eine pragmatische (vgl. Anthropologie, VII 119), deren erste den Menschen als Naturwesen, deren zweite ihn als Sittenwesen betrachte. Der innere

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Unter Ort- und Zeitumständen, im empirischen Dasein, sei den Menschen ihre Selbsterkenntnis erschwert. Abgesehen von der Möglichkeit, sich unter Beobachtung zu verstellen, wachse also den Menschen durch Gewohnheit eine zweite – gesellschaftliche – Natur zu, die zunächst den Wissenschaftscharakter der Anthropologie schon hinsichtlich ihres genuinen Erkenntniszieles einschränke.398 Dieses Ziel ist die „Erkenntnis des Menschen als Weltbürgers“399 , das heißt hier – zunächst ohne politische Konnotation – als eines in der Welt sich empirisch bewegenden Wesens. Eine Verbindung dieser Wesen zu ihrem Selbstbewußtsein erscheint dann ausgeschlossen, wenn schon die empirischen Bedingungen das empirische Wesen der Erkenntnis entziehen. Dennoch beginnt Kant die Darstellung der Erkenntnis des individuierten Menschen mit einem ganzen Buch über das ‚Erkenntnisvermögen‘, das seinerseits mit einem Kapitel über das Selbstbewußtsein einsetzt. Sowenig eigenständige Systematik traut Kant seiner empirischen Wissenschaft vom Menschen zu, daß er nicht mit der individuierenden Sinnlichkeit beginnt, sondern mit einer Abgrenzung zu dem, was systematisch bereits gesichert ist, dem Selbstbewußtsein. Allerdings gibt er diesem eine Bestimmung, die in krassem Gegensatz zu den Erkenntnissen der Kritik der reinen Vernunft steht: „Daß der Mensch in seiner Vorstellung das Ich haben kann, erhebt ihn unendlich über alle andere auf Erden lebende Wesen. Dadurch ist er eine Person und vermöge der Einheit des Bewußtseins bei allen Veränderungen, die ihm zustoßen mögen, eine und dieselbe Person, d. i. ein von Sachen […] durch Rang und Würde ganz unterschiedenes Wesen“400 . Erstens ist diese Subjektbestimmung nicht allein praktisch, sondern sie nutzt auch rechtliche Bestimmungen. Dadurch ist sie eine gesellschaftliche Subjektbestimmung, die jedoch als natürlich in der transzendentalen Subjektivität begründete vorgetragen wird. Damit endet die Verbindung beider aber auch schon, denn zweitens fällt die Ableitung der Einheit der Person aus der subjektiven Identität unter den Zweiten Paralogismus. Kant verstößt in der Anthropologie bewußt und explizit gegen die Resultate der Paralogismen und der Antinomien, weil er das Verhältnis der empirischen Subjekte zur empirischen Welt behandeln will; das heißt aber umgekehrt, daß dieses Verhältnis mit streng philosophischen Mitteln weder bestimmbar ist, noch daß seine Erörterung in die philosophische Bestimmung von Selbstbewußtsein eingehen könnte.401 Ebensowenig kann jene Erörterung mit philosophischen Mitteln erfolgen.402 Letztlich bleibt nur die Möglichkeit,

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Sinn wird dann einmal „zur Anthropologie (als Physiologie)“ gerechnet, später heißt es: „innere Erfahrung ist nicht blos anthropologisch, wo man nämlich davon absieht, ob der Mensch eine Seele (als besondere unkörperliche Substanz) habe oder nicht, sondern psychologisch, wo man eine solche in sich wahrzunehmen glaubt“ (VII 167); hiernach wären Anthropologie und Psychologie überhaupt zwei systematisch unterschiedene Disziplinen. Ohne dies aufzuklären, sollen hier kurz die wenigen Bemerkungen betrachtet werden, die Kant zur Selbsterkenntnis in pragmatischer Absicht in der Anthropologie immerhin macht. – Josef Simon, Kant, a.a.O., 358, deutet den Titel Anthropologie in pragmatischer Hinsicht dahin, daß im Unterschied zur spekulativen Seelenmetaphysik hier die Menschen im Verhältnis von Einheit und Pluralität bestimmt würden. Vgl. Anthropologie, VII, 121. Anthropologie, VII, 120. Anthropologie, VII, 127. Vgl. Anthropologie, VII, 130. Vgl. Anthropologie, VII, 142: „Diese Anmerkung [zum transzendentalen Subjekt; M.St.] gehört eigentlich nicht zur Anthropologie.“

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durch eine äußerliche – von der Philosophie entlehnte – Systematik die Beobachtungen zu organisieren.403 Dadurch aber werden die zuvor eingeräumten sozialen Bestimmungsmomente empirischer Subjektivität tendentiell unsichtbar, denn schon die anthropologische Beachtung unwillkürlicher Regungen des inneren Sinns, ja die Beobachtung seiner selbst, sei eine „Verkehrung der natürlichen Ordnung im Erkenntnißvermögen und […] entweder schon eine Krankheit des Gemüths (Grillenfängerei), oder führt zu derselben und zum Irrhause“404 . Läßt man sich auf die eigenen Assoziationen ein, so gerät man auf die seltsamsten Dinge, „[d]enn unvermerkt machen wir hier vermeinte Entdeckungen von dem, was wir selbst in uns hineingetragen haben“405 . Einen Grund dafür, daß die empirischen Bestimmungen des unter sozialen Verhältnissen individuierten Selbstbewußtseins – wie wahnhaft sie auch sein mögen – nicht in die anthropologische Betrachtung kommen sollen, führt Kant nicht an. Offenbar legt er hier aber den Maßstab einer reinen oder wenigstens partiell gereinigten Betrachtung des Selbstbewußtseins an, von dem aus die transzendentalphilosophische Erörterung der Subjektivität noch einmal verstärkt als explizit von den sozialen Bestimmungen abstrahierte erscheint. Die Gemütsverwirrung durch Beobachtung von ‚Dingen, die wir selbst in uns hineingelegt haben‘ widerspreche nun aber der äußeren Ordnung, aus der wir jene Dinge doch wohl ursprünglich bezogen haben. Als Heilmittel führt Kant an, „daß der Mensch in die äußere Welt und hiemit in die Ordnung der Dinge, die den äußeren Sinnen vorliegen, zurückgeführt wird“406 . Das Ziel moderner Psychotherapie und Psychiatrie, die beschädigten Menschen wenigsten alltagstauglich zu machen, wird von Kant noch als krude Konfrontationstherapie selbst zur Methode erhoben. Problematisch ist beides, weil nicht oder unzureichend geklärt wird, wodurch die Störung eigentlich verursacht ist. Bei Kant soll es die falsch angestellte Selbstbeobachtung sein; doch ist fraglich, wie weit nicht das, was dort beobachtet wird, der Störung zugrunde liegt, die sich wohl letztlich dem Zusammenspiel innerpsychischer und gegenständlicher Ursachen verdankt. Dann aber wäre das, was dort beobachtet wird – gerade wenn ‚wir es selbst in uns hineingetragen haben‘ – zurückzubeziehen auf die Ordnung, aus der die Subjekte diese Vorstellungen beziehen. Ist sie mit-ursächlich für die Störung, so scheint eine Konfrontation mit ihr als Therapie wohl eher ungeeignet.407 403 404 405 406 407

Vgl. Anthropologie, VII, 121f. Anthropologie, VII, 134. Anthropologie, VII, 133. Anthropologie, VII, 162. Sind psychische Krankheiten (auch) sozial bestimmt, so gerät die Therapeutik prinzipiell in ein Dilemma: Die Heilung setzt den Patienten den krankmachenden Einflüssen erneut aus, ja die therapeutische Situation ist um ihres Zwecks willen und als gesellschaftliche Institution selbst nach dem Modell der Gesellschaft geformt. Dies bestimmte den Streit der antipsychiatrischen Bewegung mit der Psychiatrie. Vgl. die Darstellung bei Peter V. Zima, Theorie des Subjekts, a.a.O., 216-237, bes. 221f. und 232ff. Die zentralen Autoren sind hier Ronald D. Laing, Das geteilte Selbst. Eine Studie über geistige Gesundheit und Wahnsinn, Köln 1994 und Michel Foucault, Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, Frankfurt 1976 sowie ders., Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt am Main 1969. Eine vermittelte Position bietet Theodor W. Adorno, Die revidierte Psychoanalyse, in: Gesammelte Schriften, Bd.

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Die Gefahr einer Veruneinheitlichung des bestimmten Selbstbewußtseins besteht aber auch ganz allgemein, denn dieses ist bezogen sowohl auf äußere Erfahrung, deren Gegenstände als räumlich konstituierte beständig sind, als auch auf innere Erfahrung, deren Form die Zeit ist und deren Inhalte daher unbeständig, fließend, sind. Eine Vereinbarung beider im Bereich der Psychologie, wo „wir uns selbst nach unseren Vorstellungen des inneren Sinnes“408 erforschen – und damit mit einem Bein, wie ein geläufiges Vorurteil über Psychologen bis heute lautet, bereits im Irrenhaus stehen – scheint ausgeschlossen; sie gelingt erst durch Zuflucht zur transzendentalen Logik, wo nicht die bestimmten Vorstellungen des inneren Sinns, sondern ihre formale Identität in der Reflexion betrachtet werden und als reine Apperzeption mit der äußeren Erfahrung als empirischer Apperzeption verbunden werden können. Doch auch diese transzendentale Bestimmung scheint nun vom empirischen Standpunkt aus problematisch zu sein, weil reine Apperzeption und Objekt des inneren Sinns allo genos seien: Das Ich erscheint als gedoppeltes, zwiefaches. Daß ein empirisches Subjekt sich reflektierend selbst zum Objekt werde, ist somit schon für Kant skandalös, da dies die Einheit des Selbstbewußtseins zerstöre, obwohl der transzendentale Begriff des Selbstbewußtseins nicht anders als über reflektierende Selbstobjektivierung des Subjekts konstruiert werden konnte.409 Kants anthropologische Lösung versucht, ohne spekulative Voraussetzungen auszukommen. Die eigene Identität aufgrund von Veränderungen infragezustellen, sei sinnlos, weil Veränderungen nur unter der Bedingung der Identität des Subjekts erfahrbar seien. Darüber hingen auch reine Apperzeption und Objekt des inneren Sinns zusammen: „[D]as Ich des Menschen ist zwar der Form (der Vorstellungsart) nach, aber nicht der Materie (dem Inhalte) nach zwiefach.“410 Daß ein Mensch von sich selbst Identität prädizieren kann, mag pragmatisch offenkundig sein, aber so läßt es sich nicht begründen, denn Kants Distinktion in betrachtendes logisches Subjekt und betrachtetes (objektiviertes) Erfahrungssubjekt ist keineswegs bloß formal, insofern über jenes logische „gar nichts weiter zu sagen“ ist, dieses empirische dagegen

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8, Frankfurt am Main 1972. Er weist zunächst zugunsten der Freudischen Auffassung die These von der sozialen Induktion der psychischen Störung vehement zurück, um dann aber zu zeigen, wie in der frühkindlichen Formung der Psyche gesellschaftliche Strukturen bereits wirksam sind; die psychische Entwicklung sei in einem solchen Maße sozial eingebunden, daß die Bezeichnung einzelner gesellschaftlicher Ursachen fehlgehen müsse und vor allem die spezifisch psychische Gewalt der Störung verfehle. Anthropologie, VII, 134 Anm. Zu diesem Problem der Reflexionstheorie des Selbstbewußtseins vgl. die Darstellung bei Gunnar Hindrichs, Negatives Selbstbewußtsein, a.a.O., 21ff. – Die analytische Tradition hat versucht, diese Aporie sprachlich zu lösen, indem die Bestimmung von ‚Selbstbewußtsein‘ an die Möglichkeit geknüpft wurde, selbstreferentiellen Ausdrücken ein Denotat zuzuweisen. Schon die Auffassung von Reflexion als Selbstreferenz löst dabei die reflexive Form in eine intentionale auf. Vgl. z. B. Peter F. Strawson, Kant’s Paralogisms: Self-Consciousness and the ‚Outside Observer‘, in: Konrad Cramer/ Hans Friedrich Fulda/Rolf-Peter Horstmann/Ulrich Pothast (Hgg.), Theorie der Subjektivität, a.a.O. Um über Selbstbewußtsein zu reden, ist die intentionale Isolierung seiner Momente erforderlich, aber Sprache kann auch ihre eigene Unangemessenheit an bestimmte Gegenstände mitformulieren. Nicht alles, worüber in intentione recta nicht zu reden ist, gebietet deshalb Schweigen. Anthropologie, VII, 134 Anm.

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„eine Mannigfaltigkeit von Bestimmungen“411 enthält, was einen ganz handfesten materiellen Unterschied darstellt. Kants Versuche, Subjekt und Objekt zusammenzuführen, erscheinen wie das vergebliche Aneinanderdrücken zweier gleichgepolter Magnete. Die Zuweisung von Reflexion und Apprehension zu zwei unterschiedlichen Betrachtungsweisen – jener zur Logik, dieser zur Psychologie – verschärft das Problem.412 Die Reflexion als Gegenstand der Logik hätte dann für sich keinen Inhalt, wäre absolut bestimmungslose reine Form. Der innere Sinn als Gegenstand der Psychologie hat aber aus sich selbst keine Einheit, kann gar nicht als Gegenstand von Wissenschaft erscheinen. Beide Einzeluntersuchungen wären gegenstandslos. Zwar versucht Kant, die Spaltung des Subjekts in eines, das mit sich subjektiv identisch ist, und ein anderes, das sich nur als Objekt des inneren Sinns hat, zu vermitteln, aber die Kontinuität des Subjekts durch seine Mannigfaltigkeit hindurch ist eine bloß pragmatisch-anthropologische Bestimmung, an die sowohl die transzendentallogische als auch die psychologische nicht heranreichen. Logik und Psychologie – ihre Trennung – sind Versuche, die Diskontinuität der Subjektivität durch philosophische Abstraktionen zu überbrücken. In der Anthropologie wird nicht die problematische Einheit beider Abstraktionen hergestellt, sondern eine dritte Abstraktion: In ihr sollen die abstrakte logische Identität und die abstrakte psychologische Identität der selbstverständlichen alltäglichen personalen Identität korrespondieren. Deren theoretische Begründungsaporie wird dadurch aber nicht behoben, sondern durch ein pragmatisches Postulat beseitigt.413 Kennzeichnend für die Subjektauffassung der Anthropologie und, ex negativo, auch für die der Transzendentalphilosophie, ist eine – gleichwohl von Kant gestrichene – Formulierung aus der Rostocker Handschrift: „[S]o wird das Erkenntnis was den inneren Sinn des Menschen zum Grunde hat diesen bei der inneren Erfahrung nicht vorstellen, wie er an sich selbst ist (weil die Bedingung nicht für alle denkenden Wesen gültig ist denn sonst wäre eine Vorstellung des Verstandes) sondern ist bloß ein Bewußtsein der Art wie der Mensch […] in der inneren Beobachtung […] ihm selbst erscheint“414 . Die Erkenntnis dessen, was ein Mensch selbst ist, bleibt danach immer die Erkenntnis jener Eigenschaften, die er mit allen denkenden Wesen gemeinsam hat. Ein ‚an sich selbst Sein‘ der Individuen gibt es dann nicht. Individualität bliebe immer nur akzidentell und trüge dem Selbstsein der Subjekte nichts ein. –

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Vgl. Anthropologie, VII, 134 Anm. Vgl. Anthropologie, VII, 141. So arbeiten pragmatische Interpretationen heute grundsätzlich. Auch ohne den Streit zu entscheiden, ob eine solche Argumentation zulässig ist, kann der Unterschied festgehalten werden, daß die pragmatische Lösung von Aporien durch widerspruchsfrei integrierbare Zusatzannahmen – Postulate gewissermaßen – vielleicht hinsichtlich der fraglichen Sachproblematik zu verwendbaren Ergebnissen kommt, jedenfalls aber nicht das erkenntnislogische Begründungsproblem aufheben kann. Dieses soll aber hier im Mittelpunkt der Betrachtung stehen, weil es nicht als wissenschaftlicher Fehler, sondern als Ausdruck eines Problems im realen Verhältnis von Subjekt und Objekt aufgefaßt werden soll. Anthropologie, in: Immanuel Kant, Werkausgabe, hg. v. Wilhelm Weischedel, a.a.O., Bd. 12, 429 Anm.

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(C.) Vom Selbstbewußtsein zum Subjekt-Objekt-Verhältnis? Das Urteil reiner Apperzeption – ‚Ich denke‘ – ist nach Kant äquivalent mit dem anderen ‚Ich bin‘.415 In Kants Ausdruck „Das, Ich denke, drückt den Aktus aus, mein Dasein zu bestimmen“416 wird jene Äquivalenz prozessual, als Bewußtseinsakt aufgefaßt. Die tautologische Selbstbestimmung des Bewußtseins wird in die Relation zweier äquivalenter aber unterschiedener Bestimmungen auseinandergelegt, deren Vermittlung Gehalt bedeutet, wenngleich dieser bloß formal sei: „Das Dasein ist dadurch also schon gegeben, aber die Art, wie ich es bestimmen, d. i. das Mannigfaltige, zu demselben gehörige, in mir setzen solle, ist dadurch noch nicht gegeben.“417 Kant schreibt nicht, ‚das Bewußtsein vom Dasein‘ sei damit gegeben, sondern ‚das Dasein‘ selbst und ‚dadurch‘, also mittels des Bewußtseinsakts. So kann das Dasein des Subjekts nur eine Vorstellung sein, deren Gehalt sich vom Denken nicht unterscheidet. Gleichwohl ist dieser Unterschied formal erfordert, denn ohne ihn könnte das ‚Ich denke‘ nicht bestehen.418 Als reines 415

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Vgl. KrV, B 138. Die Unmittelbarkeit des Verhältnisses von Denken und Sein verdankt sich einer negativen Argumentation: „Der Gedanke ich bin nicht kann gar nicht existiren; denn bin ich nicht, so kann ich mir auch nicht bewußt werden, daß ich nicht bin. Ich kann wohl sagen: ich bin nicht gesund, u.d.g. Prädicata von mir selbst verneinend denken (wie es bei allen verbis geschieht); aber in der ersten Person sprechend das Subject selbst verneinen, wobei alsdann dieses sich selbst vernichtet, ist ein Widerspruch.“ (Anthropologie, VII 167). – Den unmittelbaren Zusammenhang von Denken und Sein im Ausdruck des nur auf sich selbst zurückgezogenen Bewußtseins in Descartes’ cogito ergo sum hat Hegel als „schlechthin Erstes, Princip“ (G. W. F. Hegel, Enzyklopädie, a.a.O., § 64) bezeichnet. Allerdings sei es „Gedankenlosigkeit nicht zu sehen, daß die Einheit unterschiedener Bestimmungen, nicht blos rein unmittelbare, d. i. ganz unbestimmte und leere Einheit, sondern daß eben darin gesetzt ist, daß die eine der Bestimmungen nur durch die andere vermittelt, Wahrheit hat – oder wenn man will jede nur durch die andere mit der Wahrheit vermittelt ist“ (§ 70). Damit bestimmt Hegel die ‚Dritte Stellung des Gedankens zur Objektivität‘, das unmittelbare Wissen, als in sich selbst mit sich vermittelt und über diese ursprüngliche Vermittlung von Denken und Sein auf Wahrheit bezogen, deren Objektivität aus dieser Vermittlung logisch zu entwickeln sei. – Zu diesem Zusammenhang vgl. auch Manfred Frank, Fragmente einer Geschichte der Selbstbewußtseins-Theorie, a.a.O., 420ff. KrV, B 157 FN. KrV, B 157 FN. Daraus ergibt sich die Antwort auf Henrichs Frage, wie es zu erklären sei, daß in den §§ 21ff. dasselbe Problem, das in § 20 abgeschlossen zu sein schien (der Geltungsbereich des ‚Ich-denke‘), erneut verhandelt werde (in: Burkhard Tuschling, Probleme der „Kritik der reinen Vernunft“, a.a.O., 77): Im Objektivitätsbegriff der ersten Hälfte der Transzendentalen Deduktion erlischt das Objekt. Es wird somit die Möglichkeit der Geltung von Kategorien überhaupt gezeigt, nicht aber in Beziehung auf Erfahrungsgegenstände. Deshalb gehören auch die Grundsätze systematisch zu diesem zweiten Teil der Diskussion des Geltungsbereichs der Kategorien dazu. Ob sich daraus eine ‚konsistente Rekonstruktion‘ (vgl. 78) ergibt, bleibt allerdings fraglich: Wenn Kategorien über naturwissenschaftlich ideierte Objekte hinaus auf Gegenstände naiver Erfahrung bezogen werden sollen, wird eine solche Rekonstruktion nicht möglich sein, weil diese Gegenstände nicht Produkte der Subjektivität sind (zum ideierten Objekt vgl. Renate Wahsner, Verstand – Vernunft – Verantwortung. Ist die Naturwissenschaft schuld an der inhumanen Gestalt und Anwendung der Technik?, in: Zur Kritik der Hegelschen Naturphilosophie. Über ihren Sinn im Lichte der heutigen Naturerkenntnis, Frankfurt am Main 1996, 168f.) – Vgl. auch Manfred Baum, Erkennen und Machen in der „Kritik der reinen Vernunft“, a.a.O., 176: Die Synthesis produziere nicht das Objekt,

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Denken des Denkens wäre es leer, Denken von Nichts und damit gar kein Denken. Deshalb war bei Descartes der letzte Gewißheitsgrund, das Bewußtsein des Zweifels gerade als solches, per negationem auf die Fülle des Daseins bezogen. Die Beziehung des ‚Ich denke‘ auf Synthesis – und auf ein Material derselben – kann, wenn es transzendentale Bedingung der Möglichkeit aller Erkenntnis unangesehen ihrer Inhalte sein soll, bloß formal sein. Damit es aber nicht als Denken von Nichts implodiert, verknüpft Kant es in sich selbst mit dem ‚Ich bin‘, das als Existenzurteil einen Gehalt hat, der es vom ‚Ich denke‘ unterscheidet; diesem Gehalt nach kann es allerdings nicht durch das ‚Ich denke‘ hervorgebracht werden. Das gelänge nur einem Denken, dessen eigener Begriff von sich selbst ein Sein mit sich führte. Damit hätte es die Form des ontologischen Gottesbeweises. Diese liegt in der Struktur der transzendentalen Begründung des erkenntnistheoretischen Subjekts hinsichtlich der Seite seiner Ursprünglichkeit, die alle Synthesis begründet; hinsichtlich seiner synthetischen Seite, deren Resultat selbständig vorgestellt wird, liegt in ihm die Form des kosmologischen Gottesbeweises. Über die Götter erhaben wäre allein das revoltierende Bewußtsein, das „nichts Ärmer’s unter der Sonn’ [kennt] als euch Götter“419 , und seine Subjektivität gleichwohl nicht wie Goethes Prometheus aus der Affirmation des Endlichen bezöge, sondern aus einem Bewußtsein vom Endlichen, das dieses nicht bloß formal sondern historisch und antizipatorisch überragte. Die Bestimmung der Möglichkeit objektiver, das heißt notwendig allgemeiner Erkenntnis kann nur transzendental erfolgen, Erfahrung dagegen führt nur auf komparative Allgemeinheit.420 Für die transzendentale Bestimmung der Möglichkeit objektiver Erkenntnis benötigt Kant nun die formale Einheit des Selbstbewußtseins. Soll die Verknüpfung von Vorstellungen nicht bloß assoziativ sein, abhängig von Umständen und Einflüssen im empirischen Subjekt, sondern soll die Verknüpfung von Vorstellungen notwendig und allgemein in einem Urteil ausgedrückt werden, so bedeutet dies: „diese beiden Vorstellungen sind im Objekt [...] verbunden“421 . Soll dieses Objekt für alle Subjekte das gleiche sein, ist eine Beziehung von Subjekt und Objekt vorauszusetzen, die das Objekt als Korrelat der Verbindung der Vorstellungen konstituiert, aber vermöge einer Funktion von Subjektivität überhaupt. Diese kann, da nichts in sie eingehen kann, was irgendeinem bestimmten Subjekt nicht zukäme, nur die Form von Subjektivität – Einheit mit sich selbst – sein. Die Objektivität von Urteilen ist nur möglich, wenn die dadurch ausgedrückte notwendige und allgemeine Beziehung ihren Grund in der transzendentalen Einheit der Apperzeption hat. Das kann sie aber nur, wenn diese selbst der Grund der Objektivität der Vorstellungen ist. Der Verstand stellt also durch Urteile die Objektivität der Verbindung seiner Vorstellungen her, sofern diese als Einheit von gegebenem Mannig-

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sondern die wissenschaftliche Objektivität des Objekts, indem sie dieses in den gesetzmäßigen Naturzusammenhang der Erscheinungen einordne. – Zum Verhältnis der ‚zwei Beweisschritte‘ in der Deduktion B vgl. auch Heiner F. Klemme, Kants Philosophie des Subjekts, a.a.O., 159ff. Im ersten Beweisschritt stand „die Anwendung der Kategorien nicht zur Debatte“ (169; meine Kursivierung). Johann Wolfgang Goethe, Prometheus, in: Werke, Kommentar und Register. Hamburger Ausgabe, Bd. 1, München 1989, 45. Vgl. KrV, § 13, B 116ff. KrV, B 142.

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faltigen unter der Einheit der Apperzeption stehen, oder: Der Verstand transportiert seine Identität des Selbstbewußtseins durch Urteile ins Mannigfaltige, das nur so für ihn zu einer Vorstellung werden kann. Die ungeordnete Mannigfaltigkeit wird zur bestimmten Mannigfaltigkeit einer Vorstellung durch die Urteilsfunktionen des Verstandes, die Kategorien. Wenn ein Bewußtsein der Einheit einer Vorstellung nur möglich ist durch die transzendentale Einheit der Apperzeption und diese das Mannigfaltige mittels der Kategorien bestimmt, muß das Mannigfaltige der kategorialen Bestimmung zugänglich sein; sofern es dem Bewußtsein in einer Vorstellung gegeben ist, ist es immer schon kategorial bestimmt. Sofern Objektivität fürs Subjekt faßbar ist, muß sie durch es konstituiert werden. Dafür muß das äußerliche Material der Bestimmung durchs Subjekt zugänglich sein, das heißt, sofern es in Erkenntnis eingehen kann, unterliegt es immer schon subjektiven Bestimmungen. Wenn also Gegenstände als Gegenstände der Erfahrung erst durch kategoriale Bestimmung möglich werden, haben die Kategorien objektive Gültigkeit, das heißt sie beziehen sich notwendig und a priori auf Gegenstände der Erfahrung, weil ohne sie gar keine Erfahrung, gleich welchen Inhalts, möglich ist.422 „Also steht auch das Mannigfaltige in einer gegebenen Anschauung notwendig unter den Kategorien.“423 Hierbei ist jedoch innerhalb des Begriffs der Objektivität ein eminenter Unterschied zu beachten, der auf einem Unterschied im Begriff des Gegenstandes beruht: Die Gegenstände, deren Objektivität von den naturwissenschaftlichen Subjekten konstituiert wird – die Objekte wissenschaftlicher Erfahrung – sind nicht die Gegenstände der naiven Erfahrung.424 Das naturwissenschaftliche Objekt wird konstituiert, weil es von den Naturwissenschaftlern selbst hergestellt wird. Das Objekt des Experiments ist ein technisch realisiertes, von Randbedingungen befreites, das Objekt des Naturgesetzes ist erst recht ein idealisiertes. Nicht die Alltagswelt wird primär naturwissenschaftlich erkannt, sondern physische Welt überhaupt; die Beziehung dieser idealisierten Naturerkenntnis auf bestimmte einzelne Naturobjekte geschieht wiederum durch Technisierung der Erkenntnisse, d. h. ihre Anwendung unter bestimmten Bedingungen, über deren Bestimmtheit nicht a priori entschieden ist.425 Die Differenz in der Objektivität wird vollends deutlich daran, daß der systematische Zusammenhang der Naturerkenntnisse, der Grund der all422 423 424

425

Vgl. KrV, § 14, B 124ff. KrV, B 143. Damit hängt „Kants Restriktion der Sinnlichkeit auf Anschauung“ zusammen, „eben das Verhältnis zur äußeren Natur, das der distanzierten Beherrschung zugänglich ist“ (Peter Euler, Technologie und Urteilskraft, a.a.O., 180). Vgl. hierzu Renate Wahsner, Verstand – Vernunft – Verantwortung. Ist die Naturwissenschaft schuld an der inhumanen Gestalt und Anwendung der Technik?, in: Zur Kritik der Hegelschen Naturphilosophie. Über ihren Sinn im Lichte der heutigen Naturerkenntnis, a.a.O. Da die naturwissenschaftlichen Hintergründe hier nicht eingehend thematisiert werden können, soll ein längeres Zitat herangezogen werden: „[D]ie Aussagen der Naturwissenschaft, zumindest die der Physik, [sind] nicht unmittelbar schon Aussagen über die Natur […]. Die naturwissenschaftliche, bzw. die physikalische Welt ist nicht die sinnlich-konkrete, sondern eine ideale oder ideierte Welt, gefaßt unter der Form des Objekts. […] Diese Artifizierung ist erforderlich, um Messung und Berechnung zu ermöglichen. Die physikalischen Idealitäten verwandelt nun die Technik in gegenständliche Realitäten. Sie schafft eine bestimmte Wirklichkeit, die ‚von Natur aus‘ nicht da ist. Aber: Die Technik ist – wie übrigens auch jedes Experiment – nur die Realisierung bestimmter Lösungen der

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gemeinen Objektivität der idealisierten Objekte nicht durch eine kollektive Einheit des Erfahrungsganzen, ein metaphysisches Totalitätsprinzip nach der Form Gottes, begründet wird, sondern durch die Mathematisierung der Naturgesetze und die Bemühung, einen widerspruchsfreien mathematischen Zusammenhang der Naturforschung wenigstens in Teilbereichen herzustellen.426 Zwar bemerkt Kant „Erfahrung methodisch anstellen heißt allein beobachten“427 , aber das leitende Prinzip der Methode soll ein teleologisches sein. Der noch nicht ausreichend differenzierte Objektbegriff verdankt sich noch der Tradition Bacons. Dessen Vorstellung, die Natur schaffe Gegenstände gemäß einer experimentell aufzudeckenden Gesetzmäßigkeit,428 beerbt ihrerseits – gegen die eigene Intention – die mittelalterliche Naturvorstellung: Zwar wird der teleologische Prozeß naturalisiert vorgestellt, aber der experimentelle Eingriff geschieht noch nicht mit dem Bewußtsein, Natur dadurch grundsätzlich zu verändern, sondern mit dem, sie dadurch so, wie sie selbst ist, zugänglich zu machen. So wenig die Säkularisierung des Politischen – aller Kritik am Gottesbegriff zum Trotz – das Prinzip hierarchischer Herrschaft ebenso gründlicher Kritik unterzog, das im Gegenteil zum Prinzip neuzeitlicher Subjektivität aufgehoben wurde, so wenig hat die Säkularisierung der Natur deren Vorstellung als Subjekt zugunsten der menschlichen Subjektivität überwunden. Kant freilich verwendet den Naturbegriff Bacons schon in der durch die empiristische Erkenntniskritik problematisierten Gestalt.429 Daran aber, daß Kant immer wieder auf teleologische Argumentationen zurückgreift, um den allgemeinen Zusammenhang der Objektivität denkbar zu machen, zeigt sich, daß er im Ringen um die wissenschaftliche Erkennbarkeit von Erfahrungsgegenständen die Objekte der Naturwissenschaft und die Objekte der naiven Erfahrung nicht hinreichend unterscheidet. Die subjektive

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das physikalische Gesetz bildenden physikalischen Gleichungen. Das Gesetz für sich genommen beschreibt nämlich noch kein einziges physikalisches System. Das gelingt erst, wenn man unter Hinzugabe bestimmter Anfangs- und Randbedingungen aus dem Gleichungssystem eine bestimmte Lösung ausrechnet. […] Und welche der im Gesetz enthaltenen Möglichkeiten verwirklicht werden, ist nicht durch die Physik bestimmt, sondern durch die kulturhistorisch und sozialökonomisch gebildeten Interessen derjenigen, die die Auswahl aus der Fülle der physikalischen Möglichkeiten entscheiden.“ (168f.). Vgl. ausführlicher hierzu: Renate Wahsner/Horst-Heino von Borzeszkowski, Die Wirklichkeit der Physik. Studien zu Idealität und Realität in einer messenden Wissenschaft, Frankfurt am Main 1992. Vgl. auch Karl Heinz Haag, Der Fortschritt in der Philosophie, a.a.O., 58 und 79. Neuerlich hat Dieter Henrich den Unterschied von ‚wissenschaftlicher Welt‘ und ‚natürlicher Welt‘ hervorgehoben (Denken und Selbstsein, a.a.O., 39f.). – Die praktische Dimension im Objektivitätsbegriff bestimmt weiter den Unterschied von Objektivität der wissenschaftlichen Erkenntnis durch ihre Vernünftigkeit von einer ihr korrespondierenden Realität, die dieselbe Vernünftigkeit auch für die Gestaltung der Erkenntnisbedingungen in Anspruch nehmen müßte. Vgl. Peter Bulthaup, Objektivität und Realität, unveröff. Typoskript, Bulthaup-Archiv MAP 013. Frank Kuhne, Selbstbewußtsein und Erfahrung bei Kant und bei Fichte, a.a.O., hat deshalb vorgeschlagen, die transzendentale Einheit der Apperzeption als Einheit der Resultate der Wissenschaften zu verstehen (vgl. 342). Gebrauch teleologischer Prinzipien, VIII 161. Vgl. Francis Bacon, Neues Organ der Wissenschaften, Darmstadt 1962, 99f. Vgl. John Locke, Über den menschlichen Verstand, Hamburg 1968, III c. 3, 15, 17, und David Hume, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, a.a.O., 41.

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Konstitution der Objektivität naturwissenschaftlicher Erfahrung bedarf eines Anteils an technischer und wissenschaftlicher Konstruktion der Gegenstände, dessen die naive Erfahrung nicht bedarf, weil ihre Objekte womöglich nicht in einem System zusammenhängen. Wo sie dies zu tun scheinen, sind sie als Resultate technischer Eingriffe in die Natur und kultureller Distanzierung von dieser zu entdecken.430 Der Zusammenhang von Naturerkenntnis, Technik, Kultur und Gesellschaft ist bei Kant selbst aber zunächst deswegen nicht ausgebildet, weil ihr Zusammenhang zu Kants Zeit selbst noch nicht auf gesellschaftlich relevanter Ebene ausgebildet ist; dies bedarf noch vor allem der Industrialisierung und ihrer Rückwirkung auf Wissenschaft und Technik.431 Der Prozeß der Industrialisierung der gesellschaftlichen Reproduktion, in der schließlich alle Individuen als spezialisierte Teilproduzenten aufeinander angewiesen sind, ist aber zugleich der Prozeß der praktischen Bestätigung der Vereinzelung der bürgerlichen Subjekte, denn diese fungieren nicht als Gattungssubjekte, sondern als ein- und umsetzbare, auch auszusetzende, Individuen, deren Verbindung durch rechtlichen Willensakt hergestellt wird.432 – Auch wenn Kants Wissenschaftsbegriff noch nicht der entwickelte moderne ist, so drückt sein Subjektbegriff doch bereits das wissenschaftliche Selbstbewußtsein des Prozesses aus, der zu jenem modernen Begriff führte. Weil Kant nun die Unterscheidung innerhalb der Objektivität von Erfahrung in wissenschaftliche und naive Erfahrung nicht prinzipiell durchführt, ist in seiner Darstellung schließlich für die transzendentale Einheit der Apperzeption nicht allein die Objektivität, die aus der Erkenntnis resultiert, Produkt des Subjekts, sondern schon das bloße Material der Anschauung, das gegebene Mannigfaltige, sobald und sofern es nur gegeben ist. Entscheidend ist dabei die „Einheit der Anschauung“433 , durch die diese erst gegenständlich, das heißt bestimmt wird. Die Objektivität der Vorstellung wird erst durch die Einheit der Apperzeption in der Anschauung grundgelegt, durch die Beziehung des Mannigfaltigen der Anschauung auf die Einheit der Apperzeption. Diese Ordnung des Mannigfaltigen bewirkt, daß es als eine Anschauung, als Gegenstand, gegeben werden kann. Entscheidend ist die Beantwortung der Frage, an welcher erkenntnislogischen Stelle das Mannigfaltige unter den Kategorien subsumiert ist: bereits als gegebenes Mannigfaltiges oder erst als das zu einer Anschauung organisierte Mannigfaltige. Kant schreibt in 430

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Hierzu vgl. ausführlicher das Kapitel zur Kritik der Urteilskraft. An dieser Stelle läßt sich schon anmerken, daß aus dem Zusammenhang von Erkenntnis und Gestaltung von Welt ein „technologisch veränderte[s] Subjekt-Objekt-Verhältnis“ (Peter Euler, Technologie und Urteilskraft, a.a.O., 17) hervorgeht, daß „Technik als soziale Praxis“ (19) zu begreifen ist. Das läßt den Naturbegriff nicht unberührt. Für die Rekonstruktion jenes Zusammenhangs ist zunächst die geschichtliche Verselbständigung der Naturwissenschaften und der Technik vorausgesetzt. Vgl. Gernot Böhme/Wolfgang v.d. Daelen/ Wolfgang Krohn, Die Verwissenschaftlichung von Technologie, in: G. Böhme u. a. (Hgg.), Die gesellschaftliche Orientierung des wissenschaftlichen Fortschritts, Frankfurt am Main 1978. Vgl. Eggert Holling/Peter Kempin, Identität, Geist und Maschine. Auf dem Weg zur technologischen Zivilisation, Hamburg 1982, 204: „Sobald Wissenschaft als Produktion, als Tätigkeit des Subjekts begriffen wird, werden in den Naturwissenschaften soziale Tätigkeiten und in den Sozialwissenschaften die Technik als gesellschaftliche Form und Tätigkeit zu zentralen Gegenstandsbereichen.“ KrV, B 144 FN.

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dem Ausdruck ‚Mannigfaltiges in einer gegebenen Anschauung‘ das Wort ‚einer‘ das eine Mal groß, das andere Mal klein,434 so daß in diesem Fall der unbestimmte Artikel, in jenem das Zahlwort vorliegt: Hier ist das Mannigfaltige grundsätzlich immer schon kategorial bestimmt, dort erst hinsichtlich der Synthesis des Verstandes. Als miteinander kompatibel können beide Varianten nur unter der einschränkenden Bedingung ‚sofern das Mannigfaltige gegeben ist‘ gedacht werden, aber auf zweierlei Weise: Entweder steht alles Mannigfaltige grundsätzlich unter kategorialer Bestimmung und ist deshalb der Synthesis des Verstandes subsumierbar, oder manches Mannigfaltige ist kategorial bestimmt, manches nicht; dann wäre nur das erste auf die Synthesis bezogen, das zweite dagegen erkenntnistheoretisch irrelevant. In beiden Fällen gilt, daß alles, was synthesierbar ist, was Gegenstand von Erkenntnis sein kann, mit Hegels Ausdruck gesprochen ‚an sich‘ schon kategorial verfaßt sein muß, um von uns kategorial erfaßt werden zu können. Im ersten Fall ist die gesamte Objektivität der Sache nach fürs Subjekt Ausdruck subjektiver Bestimmung, im zweiten Fall ergäbe sich eine Objektivität, die zu einem Teil derselbe Ausdruck, zu einem anderen Teil aber gegen das Subjekt selbständig wäre. Dieser Teil bliebe aber fürs Subjekt irrelevant, könnte ihm bloß als diffuser Sinneseindruck erscheinen, dem keine Objektivität zukäme. Eine wie immer beschaffene Selbständigkeit des Erkenntnisobjektes, mit der dies jedem, der einmal versucht, etwas zu erkennen, sich entgegenstellt und womöglich verschließt, ist in beiden Varianten ausgeschlossen, und sie kann auch in einer systematischen Erkenntnistheorie nicht bestehen; der Gedanke daran wäre erst der außersystematischen Einsicht in die theoretische und praktische Uneinigkeit des Subjekts der Theorie möglich: als dessen unauflösbare Voraussetzung, die, weil sie dem Subjekt notwendig ist, eine Differenz in es selbst einträgt. So sinnlos es ist, von einem Objekt zu reden, das außerhalb subjektiven Bewußtseins da wäre, so sinnlos ist auch der Begriff eines Subjekts, das sich nicht auf irgend etwas bezöge, das es nicht selbst bestimmt hat; denn es kann nichts bestimmen, ohne über solche Bestimmungen zu verfügen, die nicht aus der bloßen Selbstunterscheidung des Denkens generiert werden können. Noch der Schluß auf die Kategorien als Bedingungen a priori solcher Bestimmungen setzt bestimmte Erfahrung voraus und mit ihr bestimmtes Selbstbewußtsein. Die transzendentale Einheit der Apperzeption ist die Verankerung a priori der Kategorien; aber auch diese Aufgabe vermag sie nur zu erfüllen, sofern sie eine aus bestimmter Erfahrung erschlossene Bestimmung ist. Als rein originäres, für sich selbst ursprüngliches, bloß in reiner Synthesis sich bestimmendes Selbstbewußtsein fällt sie in sich zusammen. Sie ist Inbegriff unabhängiger, übergeordneter Subjektivität nur im Bewußtsein ihrer Abhängigkeit. Kant reflektiert dieses Problem in der Unterscheidung von Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis, die systematisch der von Denken und Erkennen zugrundeliegt; in der Entwicklung der Erkenntnistheorie aber muß Selbsterkenntnis dem Selbstbewußtsein vorangehen. Die Bestimmung der Selbsterkenntnis selbst folgt dem Begriff der gegenständlichen Erkenntnis, die den bloßen Gedanken von einem Gegenstand durch 434

Vgl. KrV, B 143.

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Erfahrung, letztlich Wahrnehmung von in der Anschauung Gegebenem, ergänzt.435 Der Verstand bestimmt sich also seine Objektivität durch die Ordnung des in der Anschauung gegebenen Mannigfaltigen mittels kategorial bestimmter Urteile. Die Erkenntnisleistung dieser Synthesis ist nun explizit auf Erfahrungserkenntnis beschränkt, also bedingt durch die Beziehung des gedachten Gegenstandes auf die empirische Anschauung eines Gegenstandes. Zwar können Begriffe von Gegenständen ohne Anschauung formal konsistent sein, wodurch sie als nicht unmöglich bestimmt sind; aber sie sind doch gegenstandslos, Nichts (entia rationis). Darunter fallen auch die Begriffe der Mathematik, die formal durch reine Anschauung und reine Apperzeption, also durch Vielheit und Einheit, bestimmt, aber gemäß Kants Verwendung des Begriffs nicht schon ‚Erkenntnisse‘ sind. Nun soll Erkenntnis auf Erfahrung beschränkt sein, kann aber doch nicht im Einzelnen von empirischer Erfahrung abhängen. Kant beschränkt um der Allgemeinheit der Erkenntnistheorie willen die Beschränkung auf Erfahrung ihrerseits darauf, daß Erfahrung möglich sein muß, genauer: nicht unmöglich sein darf, wenn Gedanken nicht gegenstandslos bleiben sollen.436 Kant schließt daraus in Verbindung mit der Bestimmung der Anschauung als sinnliche, daß die Kategorien nur zu solchen Erkenntnissen dienen, die und vermittels der die Kategorien „auf empirische Anschauungen angewandt werden können“437 . Die Beziehung der Kategorien auf empirische Anschauungen wird zwar mit Notwendigkeit gefordert, aber als Möglichkeit. – Da die transzendentale Erkenntnistheorie nicht eine Beschreibung schon aktualisierter Erkenntnisse sein kann, sondern deren Möglichkeit so allgemein bestimmt, daß die Möglichkeit dieser Erkenntnisse als Erkenntnisse erwiesen wird, muß sie vom Empirischen im Begriff der Empirie abstrahieren. Die Beschränkung von Erkenntnis auf Erfahrung muß zugleich den Erfahrungsbegriff erweitern, über die wirkliche Koordination wirklicher sinnlicher Wahrnehmungen hinaus: Die Erfahrung, auf die Erkenntnis allgemein bezogen sein kann, ist mögliche Erfahrung.438 Zwar bestimmen Kategorien dann eine Erkenntnis, wenn zu dieser ein Gegenstand in der Wahrnehmung gegeben werden kann; ob das aber der Fall sei, läßt sich aber durch Erfahrung nicht bestimmen, denn ob eine bestimmte Erfahrung möglich ist, unterliegt nicht der Verifizierung tatsächlicher Erfahrung, sonst ginge die geforderte Verifizierung dem zu Verifizierenden voraus. Das Kriterium dafür, ob eine Erfahrung möglich ist, ist mit Kant dadurch zu bestimmen, daß sie nicht unmöglich ist. Unmöglich wäre sie, wenn ihr Begriff einen Widerspruch enthielte oder wenn sie in Widerspruch zu den reinen Anschauungsformen stünde. Dies aber sind Kriterien a priori. In der transzendentalen Bestimmung der Möglichkeit von Erkenntnis kann die Bestimmung von deren notwendigem Moment a posteriori, dem Objekt, selbst nur a priori erfolgen. Noch das Gegebensein des Objekts, soweit es in der Erkenntnis fungiert, setzt eine Bestimmung aus dem Subjekt voraus. 435 436 437 438

Vgl. KrV, B 146f. Vgl. KrV, B 146. KrV, B 147. Der Begriff möglicher Erfahrung gründet in den Formen der Anschauung, die selbst nicht anschaulich sind. Vgl. Prolegomena, IV §§ 7-10.

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Wenn Kant nun die Vorstellung der Erkenntnis des Absoluten durch Negation alles Empirischen in den Prädikaten Gottes als gegenstandslos zurückweist,439 trifft er daher indirekt auch eine Schwäche seines eigenen Begriffs von Erfahrungserkenntnis, der ebenfalls bloß negativ bestimmbar ist: Als Begriff von Erfahrung unterliegt er selbst deren Bestimmungen nicht. Erfahrung selbst – ihre Eigenschaft, ein Objekt geben zu können – ist bestimmt in Differenz zu möglichen anderen, uns nicht bekannten Arten von Erfahrung, nach denen uns kein Objekt gegeben werden könnte.440 Erfahrungserkenntnis ist ihrem Begriff nach die Verbindung der begrifflichen Einheit der Synthesis durch die Kategorien mit der Einheit der Synthesis in der Anschauung. Diese Verbindung geht weder aus den Kategorien, noch aus der Sinnlichkeit hervor. Die Kategorien können für sich nur ein ens rationis konstruieren. Die empirische Sinnlichkeit wird durch die Zufälligkeit der Objekte bestimmt und kann daraus keine Verbindung zu den Kategorien generieren. Die reine Sinnlichkeit schließlich kann wohl eine bloß formale Vorstellung von Objektivität, aber keine Verbindung zu den Objekten herstellen. Dem Begriff von Objektivität, der weder bloß formal noch empirisch bestimmt ist, wird so nicht genügt. Die Verbindung von Subjekt und Objekt soll nun adäquat durch die Einbildungskraft hergestellt werden. Kant unterscheidet die transzendentale Synthesis in eine synthesis intellectualis, mittels derer die Einheit der Apperzeption sich auf ‚Anschauung überhaupt‘ bezieht, und eine synthesis speciosa – auch figürliche oder „transzendentale Synthesis der Einbildungskraft“441 genannt –, in deren Begriff die Möglichkeit der Synthesis des Mannigfaltigen der sinnlichen Anschauung gemäß der Einheit der Apperzeption a priori gedacht werden kann. Um dies leisten zu können, darf die Einbildungskraft nicht wie die Sinnlichkeit bloß rezeptiv – bestimmbar – sein, sondern sie muß sich selbst spontan – bestimmend – auf die Sinnlichkeit beziehen; so kann sie beispielsweise Vorstellungen von etwas nicht aktuell Gegebenem generieren. Ihre Aufgabe ist es, die Sinnlichkeit den Kategorien gemäß unter die Einheit der Apperzeption zu bringen. Damit ist sie ein Vermögen des Verstandes, eine Funktion desselben in Beziehung auf die Sinnlichkeit. Insofern sie als Bedingung der Möglichkeit der Verknüpfung von Verstand und Sinnlichkeit erschlossen ist, partizipiert sie an beiden: Als spontane, nichtrezeptive Wirkung auf die Sinnlichkeit gehört sie dem Verstand an; insofern sie dem Verstand diese Gegenstände, auf die er mittels der Einbildungskraft wirkt, nur unter den subjektiven Bedingungen der Sinnlichkeit vermitteln kann, gehört sie dieser an und ist so eine subjektiv-objektive Funktion des Erkenntnisvermögens. Indem der Verstand sich in dieser Funktion selbst objektiviert, ist seine Objektivität immer schon subjektiv vermittelt. Das Objekt ist dem Verstand dadurch ein anderes, daß es nur unter den Bedingungen der Sinnlichkeit möglich ist.442 Diese aber sind subjektive Bedingungen und für den Verstand nur relevant, sofern sie unter die Einheit der Apperzeption gebracht werden können. Dasjenige in der Anschauung, was nicht schon unter die Einheit der Apperzeption gebracht worden ist, ist zunächst bloß assoziativ aufgefaßt 439 440 441 442

Vgl. KrV, B 149. Vgl. KrV, B 148f. KrV, B 151. Zu diesem Problem vgl. Georg Mohr, Das sinnliche Ich, a.a.O., bes. 74f.

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und empirisch synthesiert worden. Es ist Gegenstand der bloß reproduktiven Einbildungskraft, die „zur Erklärung der Möglichkeit der Erkenntnis a priori nichts beiträgt, und um deswillen nicht in die Transzendentalphilosophie, sondern in die Psychologie gehört“443 . Für die transzendentale Erkenntnistheorie ist allein die produktive Einbildungskraft von Interesse. Diese ist zwar kein bloß intellektuelles Vermögen, aber doch nicht weiter mit Erfahrung behaftet, als daß sie die Sinnlichkeit hinsichtlich aller möglichen Anschauungen, also a priori, mit der formalen Einheit des Verstandes versieht und so eine kategorial bestimmte Synthesis des Mannigfaltigen, eine „bestimmte Anschauung“444 ermöglicht. Indem so die Verbindung des Erkenntnisvermögens zu den Objekten als produktive Einbildungskraft kategoriale Synthesis und als reproduktive Einbildungskraft assoziative, vorkategoriale Synthesis ist, bleibt dasjenige am Erfahrungsobjekt, was nicht in der Synthesis aufgeht, seine Selbständigkeit zumal, aus der Vorstellung vom Objekt ausgeschlossen. Die „Anwendung der Kategorien auf Gegenstände der Sinne überhaupt“445 führt über die Bestimmung gegenständlicher Erkenntnis auf ein inneres Problem des Selbstbewußtseins zurück, auf dasjenige nämlich, wie die Zeit als „Vorstellungsart meiner selbst als Objekts“446 gedacht werden könne: Wenn die Zeit die Form des inneren Sinnes ist, bezieht sie sich auf alle Vorstellungen des Subjekts, insofern diese in doppelter Bedeutung seine Vorstellungen sind: sowohl als Bestimmungen, die es produziert, als auch als Bestimmungen – Inhalte – seines Bewußtseins. Wenn aber das Bewußtsein sich in der Form des inneren Sinns auf sich selbst, soweit es durch den inneren Sinn bestimmt ist, bezieht, müßte der innere Sinn sowohl aktives wie passives Vermögen sein, ‚wir‘ müßten „uns

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KrV, B 152. Übrigens widmet Kant auch in den psychologisch intendierten Untersuchungen zur Anthropologie der reproduktiven Einbildungskraft keine besondere Aufmerksamkeit. Er unterscheidet sie noch vom Gedächtnis dadurch, daß sie ein Moment des Unwillkürlichen und einen Einschlag der Phantasie habe (vgl. Anthropologie, VII 182). Selbst das Gedächtnis betrachtet Kant nicht eingehend in seiner Erkenntnisfunktion, im Unterschied zum ‚Vorhersehungsvermögen‘: Dieses „zu besitzen interessirt mehr als jedes andere: weil es die Bedingung aller möglichen Praxis und der Zwecke ist, worauf der Mensch den Gebrauch seiner Kräfte bezieht. […] Das Zurücksehen aufs Vergangene (Erinnern) geschieht nur in der Absicht, um das Voraussehen des Künftigen dadurch möglich zu machen“ (Anthropologie, VII 185f.). Die Erinnerung dessen, was das Subjekt nicht ist, tritt auch hier zurück gegen die Antizipation dessen, was das Subjekt aus sich heraus zu setzen vermag. KrV, B 154. Auch dies bestätigt die Anthropologie: Produktive Einbildungskraft ist „ein Vermögen der ursprünglichen Darstellung des letzteren [nicht gegenwärtigen Gegenstandes; M.St.] (exhibitio originaria), welche also vor der Erfahrung vorhergeht […]. Reine Raumes- und Zeitanschauungen gehören zur erstern Darstellung; alle übrige setzen empirische Anschauung voraus, […] Die productive aber ist dennoch darum [weil sie ‚dichtend‘ ist; M.St.] eben nicht schöpferisch, nämlich nicht vermögend, eine Sinnenvorstellung, die vorher unserem Sinnesvermögen nie gegeben war, hervorzubringen“ (VII, 167f.). Den Widerspruch reiner Anschauung als einer Zeit ohne Zeitinhalte reproduziert die produktive Einbildungskraft sozusagen a priori. KrV, B 150. KrV, B 54. Für eine detaillierte Erörterung der Funktion der Zeit bei der Bestimmung von Subjektivität vgl. Georg Mohr, Das sinnliche Ich, a.a.O. Die crux der Argumentation ist allerdings das Problem der Zeitlichkeit äußerer Erfahrung.

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gegen uns selbst als leidend verhalten“447 . Diese Vergegenständlichung korrespondiert der Selbstobjektivierung des Bewußtseins, geht aber als sinnliche Passivität darüber hinaus: Ein Subjekt, das sich selbst als leidendes erfährt, hebt seinen Subjektcharakter auf. Kant führt diesen Sachverhalt darauf zurück, daß Selbstbewußtsein, sobald es bestimmtes ist, das Bewußtsein seiner selbst nicht als Dinges an sich, sondern als Erscheinung ist. Kant kritisiert die Identifikation von innerem Sinn und Apperzeption als Grund der Vorstellung eines widersprüchlichen Selbstverhältnisses und setzt die Bestimmung des inneren Sinns durch den Verstand in seiner Funktion als Einbildungskraft dagegen. Der Verstand, der nicht intellektuell anschaut, ist für sich genommen bloß die formale Bestimmung der Einheit möglicher Anschauungen. Hinsichtlich dieser bestimmt er den inneren Sinn, der seinerseits für sich genommen bloß die formale Bedingung der Mannigfaltigkeit der Anschauung ist – eine Bedingung der Rezeptivität der Sinne – und aus sich selbst keine Einheit herstellt. Der Verstand als Bestimmung des Subjekts, insofern es aktiv ist, bestimmt den inneren Sinn als Bestimmung des Subjekts, insofern es passiv ist. Weder bringt der Verstand seine Objekte selbst hervor, noch kann er sie sich vollständig assimilieren. Seine synthetische Leistung, abstrakt betrachtet, ist bloß die Form der Einheitlichkeit des Denkens. Dieser Form ist das Subjekt sich als transzendentale Einheit der Apperzeption bewußt, und es bestimmt durch sie die Form der eigenen Sinnlichkeit in Ansehung von deren möglichen Gegenständen. Nachdem es zunächst von der figürlichen Synthesis hieß, die Einbildungskraft bestimme die Sinnlichkeit durch448 das Mannigfaltige gegebener Vorstellungen, bestimmt nun die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft die Sinnlichkeit in Ansehung449 des Mannigfaltigen, also rein. Schon die Bestimmung durch das Mannigfaltige war nach Kant eine Bedingung, unter der alle „Gegenstände der Anschauung notwendig stehen müssen“450 , weil sie zwar inhaltlich mittels empirischer Vorstellungen, aber dem Akt nach a priori vorgeht. So bleibt die transzendentale Einheit der Apperzeption für sich durch die Kategorien auf Gegenstände überhaupt bezogen, der innere Sinn für sich auf ein unbestimmtes Mannigfaltiges der Anschauung. Die Vorstellung einer bestimmten Vorstellung ist nur möglich, wenn die Apperzeption die formale Einheit ihrer reinen Tätigkeit zur Bestimmung des inneren Sinns machen kann. Eine bestimmte Anschauung ist dann das Bewußtsein der Bestimmung des Sinns durch die Einbildungskraft.451 Dieses Bewußtsein ist sowohl das einzige mögliche Bewußtsein von einem Objekt als auch zugleich das bestimmte Bewußtsein des Subjekts von sich selbst, weil es die Form der Selbstbestimmung des Subjekts darstellt, die eine Bedingung für Selbsterkenntnis ist; als Bestimmung a priori ist es nicht mehr als diese Form. Das gegebene Mannigfaltige, durch das diese Form des Subjekts sein Inhalt werden sollte, kann nicht benannt werden, außer als die Bedingung, daß Gegenständlichkeit überhaupt sei, a priori. Die Apperzeption ist Selbstbewußtsein nur formaliter: daß ein Ich ist; nicht materialiter: wie oder was es ist, noch nicht einmal – oder schon gar nicht – was es an 447 448 449 450 451

KrV, B 153. Vgl. KrV, B 150. Vgl. KrV, B 153. KrV, B 150. Vgl. KrV, B 154.

S  O: D  G

425

sich selbst ist.452 Ein materielles Selbstbewußtsein von sich als Dinges an sich ist dem Subjekt ganz unmöglich, weil das formale Selbstbewußtsein nicht intellektuell anschaut, sondern sinnlicher Anschauung bedarf, die auch das Subjekt selbst nur als Erscheinung darstellen kann. Wird im bestimmten Selbstbewußtsein die Apperzeption vom inneren Sinn unterschieden, um der Tautologie reiner Reflexivität zu entgehen, so schließt sich doch die Frage an, wie beide Seiten als Ausdrücke desselben Subjekts zu denken sind, wenn dessen bestimmte Einheit nur auf einer Vorstellung seiner selbst als Erscheinung, nicht auf einem Selbstbewußtsein der Substanz nach beruhen soll. Die traditionelle Differenzierung in aktiven und passiven Verstand begründete zwar ein substantielles Selbstbewußtsein, kam aber paradox nicht ohne Zitat eines heterogenen Objekts aus, durch dessen Erkenntnis die Substanz erst selbstbewußt werde.453 Kants Selbsterkenntnis ist in umgekehrter Weise paradox: Sie soll a priori bestimmt sein, bewußt ohne äußere Erfahrung auskommen, muß aber doch auf die Substantialität des Selbstbewußtseins verzichten. Das liegt aber nicht daran, daß unbeabsichtigt doch äußere Erfahrung als Bedingung in die Selbsterkenntnis einginge, sondern es liegt an deren Reduktion auf ihre formale Funktion als Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis. In der Erkenntnis wird die Form der Apperzeption mit der Form der Sinnlichkeit verknüpft, indem Apperzeption a priori den inneren Sinn bestimmt und so eine Anschauung der Subjektivität ihrer selbst erst herstellt. Ausdrücklich ist zur Selbsterkenntnis „eine bestimmte Art der Anschauung“454 erforderlich, durch die das Mannigfaltige, auf das die Apperzeption sich a priori beziehe, gegeben sei. Eine ‚bestimmte Art der Anschauung‘ ist nun nicht eine bestimmte Anschauung selbst, so daß es genügt, wenn die Einbildungskraft durch die Ordnung des inneren Sinns eine reine, bloß formale Anschauung produziert, in der das Subjekt sich selbst gegeben ist. In dieser Konstruktion fallen Subjekt und Objekt zusammen: „Ich, als Intelligenz und denkend Subjekt, erkenne mich selbst als gedachtes Objekt, sofern ich mir noch über das in der Anschauung gegeben bin“455 . Daß das Subjekt sich selbst ordnend im inneren Sinn affiziert, schließt Kant daraus, daß wir „die Bestimmungen des inneren Sinnes gerade auf dieselbe Art als Erscheinungen in der Zeit ordnen müssen, wie wir die der äußeren Sinne im Raume ordnen“456 . Zum Beispiel kann Zeit selbst nur als (skalierte) Linie vorgestellt werden. Der Gedanke der eigenen intellektuellen Existenz

452 453

454 455 456

Vgl. KrV, B 157. In der Tradition der Metaphysik war dieses Problem bekannt: „Durch den Akt wird der Verstand selbst erkannt.“ (Thomas von Aquin, Summa theologiae, a.a.O., I, 87, 3 c.) Diese These führt auf die Differenz von intellectus agens und intellectus possibilis, der Verstand erkennt sich selbst, indem er im Erkenntnisakt auf sich selbst als durch Vorstellungen bestimmten intellectus possibilis reflektiert. Dabei sind beide nicht als getrennt bestehende Vermögen, sondern als Funktionen desselben Verstandes zu verstehen. Gleichwohl muß auch Thomas dieser Selbsterkenntnis a posteriori das Selbstbewußtsein einer „habituellen Selbsterkenntnis“ als Bedingung der Möglichkeit a priori an die Seite stellen. (Thomas von Aquin, Über die Wahrheit, a.a.O., 10, 8 ad 1) Das Problem findet sich in gleicher Struktur schon bei Aristoteles, Über die Seele, Hamburg 1995, III, 5, 430a. KrV, B 157. KrV, B 155. KrV, B 156.

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ist bloß formal und bedarf der Ergänzung durch eine „Anschauung des Mannigfaltigen in mir“457 , um Erkenntnis sein zu können. Der Gehalt des Intellekts ist das Vermögen zur Synthesis hinsichtlich des Mannigfaltigen schlechthin, die Form der Synthesis selbst. Diese wird nach Kant ‚eingeschränkt‘458 , das heißt definiert, bestimmt durch die Festlegung auf eine Art oder Form der inneren Anschauung, in der allein dem Intellekt Mannigfaltiges gegeben sein kann, nämlich die Zeit als bloße Zeitfolge. Die Selbsterkenntnis gründet dann in der Festlegung der Funktion transzendentaler Synthesis auf zeitlich Gegebenes; diese Zeitverhältnisse sind der Apperzeption heterogen, weil sie prinzipielle Vielheit, nicht prinzipielle Einheit sind, gleichwohl sind sie als bestimmte Verhältnisse nur als mittels der Einbildungskraft durch die Verstandeseinheit formiert vorstellbar, so wie umgekehrt die Verstandeseinheit ohne sie gegenstandslos wäre. Es bleibt aber eine Beziehung bloßer Formen, durch die das Subjekt sich selbst objektiviert, sich zur Objektivität seiner selbst macht. Dem Inhalt nach wäre dies formierte Form. Zwar kann die Affizierung des inneren Sinns nur in Analogie zum äußeren Sinn dargestellt werden, das heißt nur unter Voraussetzung des Bewußtseins äußerer Erfahrung; dieses Bewußtsein, weil es in der Zeit gebildet wird, unterliegt aber schon der Bestimmung des inneren Sinns durch den Verstand (als Einbildungskraft) a priori, denn ohne geordnete Zeit wäre keine Apprehension möglich. Gleichwohl ist die Ordnung der Zeit nicht a priori vorstellbar, weil sie die bloße formale Unterschiedslosigkeit von Mannigfaltigem überhaupt zum Inhalt hat, also leer ist. – An dieser Gestalt des inneren Sinns hat auch die reine Apperzeption kein Objekt, so daß die Selbsterkenntnis a priori ein Verschweben bloßer Formen wäre.459 – Ihre Bedeutung ergibt sich allenfalls aus ihrer erkenntnistheoretischen Funktion, so daß sie als Resultate der Reflexion auf Erkenntnis a posteriori zu betrachten sind; diesen Charakter können sie – auch als Prinzipien betrachtet – nicht verlieren, ohne bedeutungslos zu werden. Erkenntnistheorie, die ohne den Rekurs auf bestimmte Modelle von Erkenntnis auszukommen sucht, löst sich ihrer Konsequenz nach in der gehaltlosen Identität von Subjekt und Objekt auf. Allerdings kann die Kritik an Kants Begriff vom Selbstbewußtsein, wie er in dem Verhältnis von Subjekt und Objekt gestaltet ist, keine bloße Zurückweisung dieses Begriffs intendieren: In seiner erkenntnislogischen Konzeption ist er konsequent und eine adäquate Darstellung der transzendentalen Bedingung der Möglichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis. Nur muß er einerseits im Begriff der Erfahrungserkenntnis, durch den er sich von Metaphysik wie Idealismus unterscheiden soll, Erfahrung selbst weitestgehend formalisieren. Andererseits ist der Umstand, ob Erkenntnistheorie den Verfahren der Einzelwissenschaften adäquat ist, nicht ihr einziges Kriterium, denn diese bedürfen ihrer nicht einmal. Naturwissenschaftliche Forschung orientiert sich nicht an philosophi-

457 458 459

KrV, B 158. Vgl. KrV, B 159. Vgl. Heiner F. Klemme, Kants Philosophie der Subjektivität, a.a.O., 229: „Man wird nicht behaupten können, daß Kant 1787 das zentrale Problem der empirischen Selbsterkenntnis […] aufgeklärt hat, nämlich ein Substitut für das fehlende Beharrliche im inneren Sinn anzugeben.“

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427

scher Erkenntniskritik.460 Deren innerer Maßstab wäre, scheinbar metaphysisch, ob sie dem in ihr gelegenen Ausdruck der vernünftigen Lebewesen gerecht wird. Deren Verhältnis zur Objektivität ist zunächst ihr Gegenstand, und die Einzelwissenschaften dienen als avanciertester Ausdruck dieses Verhältnisses als Modelle, an denen sein Begriff entfaltet werden kann. Erkenntnistheorie hat in ihrem allgemeinen Begriff der Möglichkeit von Erkenntnis das Maß, über das Erkenntnis nicht hinausreicht. – Diese Beschränkung der Erkenntnis durchs Modell bestimmt aber zugleich ihren praktischen Gehalt, denn mit der Reflexion der bestimmten Weise, in der Erkenntnisprozesse organisiert sind, gelangen Bedingungen und Zwecke dieser Organisation in den Erkenntnisbegriff. Der Begriff des Objekts ist auch dann noch ans Subjekt geknüpft, aber nicht mehr bloß transzendental. Das Bewußtsein dieses Erkenntnisbegriffs erweitert Selbstbewußtsein – die theoretische Bestimmung des Bewußtseins seiner selbst – zur Grundlage praktischer Selbstbestimmung: Das Verhältnis des Subjekts zur Objektivität erster wie zweiter Natur, das Zusammenstimmen von Natur und Freiheit im höchsten Gut, ergibt sich daraus als zentraler Gegenstand von Philosophie. Selbstbewußtsein als allgemeine Bedingung von Erkenntnis, die trotzdem zu denken ist, gerät dann aber in Konflikt mit den einschränkenden Bedingungen, denen Selbstbewußtsein in der Organisation wirklicher Erkenntnis unterworfen ist. Die heteronome Organisation der Zwecke von Wissenschaft im Wissenschaftsbetrieb kollidiert mit dem Anspruch auf Autonomie; dieser aber ist Wissenschaft ihrem Begriff nach – als Ausdruck des vernünftigen Lebewesens Mensch – immanent. Soll nun in einem reinen Begriff von Wissenschaft an dem humanen Anspruch der Wissenschaft auf Autonomie festgehalten werden, so muß dieser Begriff radikal gebildet werden durch Negation nicht bloß der heteronomen Bedingungen, sondern gleich durch Negation alles Heterogenen. Alles, was aus dem Begriff von Wissenschaft nicht selbst zu setzen ist, bringt sie in Auseinandersetzung mit Zwecken. Das ist der Darstellung bei Kant immanent in dem Versuch, die Subjektivität autonom zu fassen und noch gegen ihre heterogenen Bedingungen abzudichten. Das Scheitern des Versuchs, das Subjekt konsistent zu fassen, läßt die Inkonsistenz der Objektivität, durch die es bestimmt ist, in seinem Begriff aufbrechen: Wie sollen die dem Subjekt äußerlichen Elemente der ihn umgebenden Objekte erster wie zweiter Natur einem solchen Subjekt greifbar sein, in dessen Erkenntnisbegriff der Unterschied von Subjekt und Objekt auf das Postulat einer uneinholbaren Differenz hinausläuft, die sich nur als formale Identität darstellen läßt? Als Desiderat der Reflexion äußerlicher Elemente läßt diese antinomische Identität sich aber nur begreifen, wenn wissenschaftliche Erkenntnis als zweckvolles und durch Zwecke bedingtes Handeln verstanden wird. Naturwissenschaftliche Forschung – etwa der Umgang mit embryonalen Zellen – ist dann nicht an abstrakt ethischen Konzepten

460

Das weiß auch Kant: Vgl. Prolegomena, IV § 40. Das Ziel der Erkenntnistheorie liegt Kant zufolge deshalb in der Möglichkeit von Metaphysik, insbesondere der Reflexion über das Dasein Gottes zum Behuf der Moral. Richtig bleibt daran, gerade nach Negation der Transzendenz, daß Philosophie als positivistische Wissenschaftstheorie weder taugt noch benötigt wird.

428

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wie dem aus dem Zusammenhang genommenen Würdebegriff zu messen, sondern an der Reflexion der Zwecke, auch der gesellschaftlichen Zwecke, des Denkens.461

b.

Probleme objektiver Bedingungen von Subjektivität: Die ‚Deduktion A‘

Wenn Kant in der Deduktion B mit der Formalisierung des Selbstbewußtseins beginnt, die gleichwohl auf ihre Erweiterung zur Bestimmtheit angelegt ist, so reagiert er damit auf Schwierigkeiten der Deduktion A, in der er den umgekehrten Weg – von der bestimmten Gegenstandserkenntnis zum Selbstbewußtsein – gehen wollte. Statt von der Einheit des Subjekts als Grundlage der im Erkenntnisprozeß zu erreichenden Objektivität geht Kant in der Deduktion A aber von dem Problem der objektiven Seite der Erkenntnisrelation aus: Reine Verstandesbegriffe sind leer, bloße entia rationis, weil sie per definitionem nicht mit Anschauungen verbunden sind. Damit sie nun keine leeren Formen seien, sondern Begriffe, durch die „etwas gedacht“ werden könne, faßt Kant sie als zwar frei von Empirischem aber als „Bedingungen a priori zu einer möglichen Erfahrung“462 . Die Darstellung entwickelt hier nicht aus der schon übergeordneten Einheit des Bewußtseins deren objektive Geltung, aus der dann die Überbrückung der Differenz von Verstand und Anschauung folgt, sondern sie schließt umgekehrt aus der Differenz auf die Bedingungen der Möglichkeit ihrer Überbrückung, die daher zwar subjektive Bestimmungen sind, aber mit einem – negativen – objektiven Gehalt versehen.463 Das rückt 461

462 463

Zwar wird in der medizinethischen Diskussion die Würde gelegentlich noch in Kantischer Terminologie als ‚absoluter Wert‘ verstanden, aber dies eher im Sinne der neukantianischen Wertephilosophie. So schreibt Ludger Honnefelder zwar, man schreibe „dem Menschen im Unterschied zu allen anderen Lebewesen deshalb einen unbedingten Wert zu, weil er das mit Vernunft begabte Lebewesen ist, zu dessen Natur es gehört, sich zu sich selbst verhalten und selbstgewählte Zwecke verfolgen zu können“. Aber: „Der absolute Wert des Menschen wird nicht aus seiner Natur gefolgert, sondern er wird seiner Natur in Form eines letzten praktischen Urteils zugesprochen.“ (Natur und Status des menschlichen Embryos: Philosophische Aspekte, in: Mechthild Dreyer/Kurt Fleischhauer (Hgg.), Natur und Person im ethischen Disput, München 1998, 265ff.) Richtig wendet Christine Zunke, Das Subjekt der Würde. Kritik der deutschen Stammzellendebatte, Köln 2004, 15, ein, daß so die Würde mit den menschlichen Subjekten nicht notwendig zu verknüpfen sei. Für Kant ergibt sich die Würde als absoluter Wert zwingend als Bedingung der Möglichkeit, überhaupt die Subjektivität empirischer Subjekte denken zu können, da diese als bloß relationale gar nicht als Urheber selbstbestimmter Zwecke gedacht werden könnten. Menschen sind als prinzipiell gesellschaftliche Lebewesen ihrer ‚Natur‘ nach Selbstzwecke und brauchen dies nicht einer besonderen Hermeneutik nach voneinander zu prädizieren. KrV, A 95. Die Deduktion A versucht, synthetisch die Erfahrung aus Prinzipien a priori zu erklären, leistet dies aber nicht, weil sie zugleich Objektivität schon voraussetzen muß. Deshalb bestehen hier Probleme nicht bloß, wie Kant verschiedentlich formuliert, in der Darstellungsweise. In den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft hatte Kant angekündigt, er werde „die nächste Gelegenheit ergreifen“, dem abzuhelfen. In der Deduktion B wird dann in der ersten Hälfte analytisch erklärt, welche Bedingungen a priori für Erfahrung vorauszusetzen sind, um diese Prinzipien dann in der zweiten Hälfte auf bestimmte Gegenstände zurückzuwenden, um zu zeigen, „wie

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die Seite einer gegen das Subjekt selbständigen Objektivität in den Vordergrund, die dem Subjekt gegeben ist; die Verstandesbegriffe „würden ohne Data (gegebene Objekte) auch nicht einmal im Denken entstehen können“464 . Die Deduktion A geht damit aus vom bestimmten Erkenntnisprozeß, um dessen Bedingungen zu ermitteln, die Deduktion B aber vom allgemeinen Selbstbewußtsein, das sich als Subjekt des Begriffs ‚Synthesis‘ ergibt und dessen Möglichkeit der Beziehung auf Gegenstände ermittelt wird. Gleichwohl sind die Verstandesbegriffe in der Deduktion A Bedingungen a priori nicht bloß der Erfahrung, sondern auch des „Gegenstandes derselben“465 , nämlich des Objekts, sofern es Objekt des Subjekts sein kann. Die Deduktion A bietet keine Gegenposition zur Deduktion B, sondern sie bietet Einblick in die Genese des Begriffs subjektiver Einheit, aus dem in der Deduktion B das Verhältnis von Subjekt und Objekt entfaltet wird: Die Aporien und Brüche, die im Resultat – dem Begriff der transzendentalen Einheit der Apperzeption – aufgehoben sind, liegen in dieser Genese offen. Das Material der Anschauung liegt Kant zufolge als Mannigfaltiges vor und muß vom Subjekt in der Zeit aufgefaßt und geordnet werden, um die Vorstellung vom Angeschauten als eine bestimmte Vorstellung zu erzeugen. In der Apprehension synthesiert das Subjekt das mannigfaltige Material; das Auffassen des Gegebenen selbst stellt die erste Synthesis im bestimmten, auf sinnlich Gegebenes bezogenen, Erkenntnisprozeß dar. Wenn eine solche Synthesis für jede einheitliche Vorstellung von Mannigfaltigem erforderlich ist, dann ist sie es auch für die Vorstellungen a priori von Raum und Zeit, denn als Formen der Sinnlichkeit stellen sie sich zunächst als Formen – aber nicht als Begriffe – des Außereinander von Vielheit dar, das der Ordnung durchs Subjekt schon deshalb bedarf, damit dieses selbst sich als hier und jetzt daseiendes verstehen kann. Das Subjekt muß daher durch „eine reine Synthesis der Apprehension“466 die Form der eigenen Sinnlichkeit organisieren. Kant konstruiert diese reine Synthesis als subjektive Selbstorganisation a priori nach dem Modell der subjektiven Bedingungen objektiver Erkenntnis, nämlich der Synthesis der Apprehension in der Anschauung. Diese wurde ihrerseits als Einheitsfunktion aus der Differenz der Einheit der Vorstellung und der Vielheit von deren Material erschlossen. Das Resultat erscheint nun als eine ursprüngliche Tätigkeit des Subjekts; dessen Bewußtsein von seiner Tätigkeit ist aber bloß negativ möglich und tritt deshalb in Differenz zu sich selbst: Es weiß sich gerade als ursprüng-

464 465 466

nun Erfahrung mittels jener Kategorien und allein durch dieselbe möglich sei“ (MAN, IV 475 Anm.). Die Annahme einer prästabilierten Harmonie, für die das Prinzip der Affinität wohl gehalten werden könnte, reicht ihm ausdrücklich nicht, weil Erscheinungen und Verstandesgesetze „ganz verschiedene Quellen haben“. Die Begründung ihres Verhältnisses soll ganz aus dem Subjekt erfolgen, denn es „kann kein System der Welt diese Nothwendigkeit [objektiver Erkenntnis] wo anders herleiten als aus den a priori zum Grunde liegenden Principien der Möglichkeit des Denkens selbst“ (MAN, IV 476 Anm.); das Programm ist zugleich von Zweifeln an seiner Durchführbarkeit begleitet: „[G]esetzt, die Art, wie Erfahrung dadurch allererst möglich werde, könnte niemals hinreichend erklärt werden, so bleibt es doch unwidersprechlich gewiß, daß sie blos durch jene Begriffe möglich“ (ebda.) sei. – Zum Unterschied der ‚Darstellungsweisen‘ vgl. auch Prolegomena, IV § 4. KrV, A 96. KrV, A 96. KrV, A 100.

430

D  F  S

liches bloß als abhängiges. Diese Differenz tritt durch die veränderte Darstellung in der Deduktion B zurück. Wenn es nun möglich sein soll, Regeln bezüglich Gegenständen, die keine reinen Verstandesgegenstände sind, in allgemeinen und notwendigen Urteilen zu formulieren, so ist vorausgesetzt, daß die Gegenstände den Regeln auch unterliegen. Sollen im Urteil Vorstellungen nach einer Regel verknüpfbar sein, so müssen die Erscheinungen, auf die sich diese Vorstellungen beziehen, der Regel folgen; die Prädikation der Vorstellung ‚rot‘ von der Vorstellung ‚Zinnober‘ setzt voraus, daß die Erscheinung Zinnober auch stets in Verbindung mit der Erscheinung rot auftritt. Damit formuliert Kant eine subjektive Fassung des Satzes vom zu vermeidenden Widerspruch, der besagt, daß dasselbe nicht demselben zukommen und zugleich nicht zukommen könne, oder – in der aufs Existenzurteil bezogenen Variante – daß dasselbe nicht zugleich sein und nicht sein könne.467 Schon bei Aristoteles ist dies die negative Formulierung des Satzes der Identität, wenngleich bezogen auf einen singulären Gegenstand, dessen Bestimmtheit durch Raum und Zeit – in derselben Hinsicht, zugleich – definiert ist. Aber auch bei Kant erscheint die Bedingung der Reproduktion in der Einbildung schon als Identität des Objekts überhaupt, denn wenn nicht vorausgesetzt wäre, daß ein Gegenstand mit seinen Eigenschaften selbst verbunden ist, dann wäre die Verknüpfung beider in der reproduktiven Einbildungskraft unmöglich. Damit wäre aber auch die Apprehension des Gegenstandes als Verbindung verschiedener Merkmale überhaupt unmöglich, so daß die begründete Möglichkeit der Reproduktion in der Einbildung logische Voraussetzung der Apprehension in der Anschauung ist, wenngleich diese in der Zeit früher ist.468 Bei Aristoteles ist die Einheit des Subjekts Bedingung der einheitlichen Auffassung und Darstellung von Objektivität, von deren Einheit das Subjekt aber existentiell abhängt. Kant bestimmt die objektiven Voraussetzungen der Möglichkeit der Synthesis der Reproduktion in der Einbildung aus dem Subjekt heraus: Die Regel, „der die Erscheinungen schon von selbst unterworfen sind“469 , so daß sie geordnet reproduziert werden können, beruht nach Kant auf etwas, „was selbst diese Reproduktion der Erscheinungen möglich macht, dadurch daß es der Grund a priori einer notwendigen synthetischen Ein-

467

468

469

Vgl. Aristoteles, Metaphysik, a.a.O., 1005 b. Übrigens weist der Satz vom zu vermeidenden Widerspruch auch bei Aristoteles auf die Identität des Subjekts als seine Grundlage. Es ist nämlich ebenfalls unmöglich, „daß derselbe zugleich annehme, daß dasselbe sei und nicht sei“ (meine Hervorhebung). Alle Widerlegungsbeweise des Aristoteles laufen auf die Voraussetzung der Identität des Subjekts hinaus, die eine Bedingung für die Möglichkeit der Orientierung in der Welt der Erfahrung ist und sich darin äußert, daß das Subjekt in seiner Rede nicht die Identität der Objekte zerstört. Insofern die beiden auf Sinnliches gehenden Synthesen aufeinander verweisen und nicht durcheinander ersetzbar sind, ist ihr Unterschied schon ‚wesentlich‘. Vgl. dagegen Peter Rohs, Bezieht sich nach Kant die Anschauung unmittelbar auf Gegenstände?, in: Volker Gerhardt/Rolf-Peter Horstmann/Ralph Schumacher (Hgg.), Kant und die Berliner Aufklärung, a.a.O., Bd. 2, 220. Hansgeorg Hoppe, Die transzendentale Deduktion in der ersten Auflage, in: Georg Mohr/Marcus Willaschek (Hgg.), Kant – ‚Kritik der reinen Vernunft‘, Berlin 1998, reduziert die drei Synthesen sogar auf ‚eine einzige Synthesis‘ (vgl. 167). KrV, A 101.

S  O: D  G

431

heit derselben ist“470 . Damit ist nicht eine Einheit der Erscheinungen gemeint, sondern die synthetische Einheit von deren Reproduktion, so daß die Einheit der Erscheinungen in der subjektiven Einheit von deren Reproduzibilität gründet. Da die „Erscheinungen nicht Dinge an sich selbst, sondern das bloße Spiel unserer Vorstellungen sind, die am Ende auf Bestimmungen des inneren Sinnes auslaufen“471 , ist ihre Identität nur durchs Subjekt zu konstituieren. Wäre nun die subjektive Einheit der Reproduktion in der Einbildung von der Erfahrung oder gar von heterogenen Objekten derselben bestimmt – etwa dadurch, daß der Zinnober an sich selbst immer rot wäre –, dann wäre kein transzendentaler Begriff des Subjekts, keine transzendentale Erkenntnistheorie möglich; es muß „von allem Empirischen der Erscheinungen abstrahiert“472 werden. Dies gelingt über das Argument, daß schon in den reinen Formen der Sinnlichkeit eine solche Ordnung gegeben sei, die eine durchgängige Synthesis der Reproduktion in der Einbildung möglich macht, indem die bloße Vorstellung von Zeitfolge voraussetzt, daß durchlaufene Zeiteinheiten im Bewußtsein reproduziert wurden. Desgleichen setzt die Vorstellung des Raumes voraus, daß wenigstens etwa die Punkte einer Linie reproduziert wurden, damit deren Verlauf nicht stets in einem Punkt zusammensinkt. Die Sinnlichkeit des Subjekts ist demnach a priori so beschaffen, daß sie Mannigfaltiges als geordnet verknüpft vorstellbar macht und so über die grundsätzliche Möglichkeit der Reproduktion in der Einbildung überhaupt eine Apprehension in der Anschauung ermöglicht. Kant faßt die Reproduktion in der Einbildung später auch als Moment der Wahrnehmung selbst, die Apprehension als ihre „unmittelbar an den Wahrnehmungen ausgeübte Handlung“473 . Was Kant hier zeigen kann, ist aber nicht, warum der Zinnober nicht einmal rot und einmal schwarz ist, sondern bloß, warum der rote Zinnober als solcher apprehendiert werden kann; – genauer: Unter welcher subjektiven Voraussetzung die Annahme, daß der Zinnober immer rot sei, sinnvoll gemacht werden kann. Wird Kants Verbindung der transzendentalen Einbildungskraft mit der Regel, der die Erscheinungen von selbst unterworfen sind, ernstgenommen, so löst sich in ihr jede Selbständigkeit der Objekte subjektiv auf: Die Erscheinungen können deshalb ihrer Erscheinung adäquat apprehendiert werden, weil diese Erscheinung nur innerhalb der Apprehension überhaupt bestimmt ist. Die Subjektivierung der Objektivität von Erfahrungsgegenständen wird noch mittels einer weiteren Gestalt der Synthesis komplettiert. Von dem Vermögen der Einbildungskraft, die das in der Erscheinung assoziierte Mannigfaltige als nicht bloß Vereinzeltes auffaßt, unterscheidet Kant die Bestimmung der Einheit der Vorstellungen: Die Zusammenführung der einzeln apprehendierten und stets nur als reproduzierte 470 471 472 473

KrV, A 101. KrV, A 101. KrV, A 96. KrV, A 120. Diese reine Funktion der Einbildungskraft a priori, die in der Deduktion B als produktive Einbildungskraft besonders entwickelt wird, hat hier eigentlich noch kein Subjekt. Die transzendentale Apperzeption, als deren sinnlich-intelligible Funktion sie die Form der Sinnlichkeit durch Verstandeseinheit überformt und so die Verknüpfbarkeit von Verstand und Anschauung gewährleistet, ist hier noch nicht entwickelt. In der Umkehrung der Darstellung ab A 115 tritt sie dann allerdings als Synthesis a priori der produktiven Einbildungskraft zur transzendentalen Apperzeption (vgl. A 119).

432

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verfügbaren Anschauungen zu einer Vorstellung gelingt nur, wenn sie unter dem Begriff einer bestimmten Vorstellung koordiniert werden. Um sinnvoll eine Vorstellung aus dem Mannigfaltigen der Anschauung zu erzeugen, muß diese Vorstellung im Begriff schon antizipiert sein, ihre Erzeugung ist Re-kognition. Die aufs Objekt der Anschauung verwiesene Sinnlichkeit in Anschauung und Einbildung ist ohne Begriffe des Verstandes hilflos und gegenstandslos. Der erste Schritt der Synthesis der Rekognition im Begriff ist das „Bewußtsein, daß das, was wir denken, eben dasselbe sei, was wir einen Augenblick zuvor dachten“474 . Die Reproduktion des Apprehendierten in der Einbildung muß mit dem Bewußtsein der Einheit dieses Aktes begleitet sein, um eine Vorstellung zu erzeugen. Deren Begriff ist ihr der Form nach deshalb schon vorausgesetzt: Der Begriff der Zahl, so Kant, besteht lediglich in dem Bewußtsein der Einheit der Synthesis. Dieses Bewußtsein ist die Reduktion des subjektiven Prozesses der Erzeugung einer Vorstellung, dasjenige, das den Beginn mit dem Ende des Erkenntnisvorganges verknüpft und das in dessen Resultat als konzentriertes Bewußtsein der Einheit des Gegenstandes hervortritt; dies Bewußtsein ist daher Bedingung der Möglichkeit des Begriffes vom Gegenstand. Damit hat Kant den Erkenntnisgegenstand als Funktion der Einheit des Bewußtseins rekonstruiert. Konsequent werden die der Erkenntnis oder überhaupt den Vorstellungen korrespondierenden Gegenstände – die doch, um jenen korrespondieren zu können, von ihnen verschieden sein müßten – auf den Begriff des transzendentalen Gegenstandes = X reduziert: Daß der Erkenntnis etwas korrespondiere, wenn sie nicht willkürliche Behauptung bleiben soll, wenn sie also objektive Realität haben soll, ändert nichts daran, daß das Subjekt außerhalb seiner Erkenntnis vom Objekt nichts, das diesem korrespondierte, vorweisen kann, es wäre denn selbst wieder Erkanntes.475 Soll Erkenntnis objektiv auf den Gegenstand bezogen sein, muß ihr Einheit zukommen, sie kann nicht in sich variieren, wenn sie etwas bestimmen soll. Diese Einheit kann einerseits nicht an subjektive Vorstellungen geknüpft sein, sondern die Einheit der fraglichen Vorstellungen ist objektiv erzwungen, weil diese als auf den Gegenstand bezogen gedacht werden können sollen; dieser Gegenstand aber ist andererseits dem Subjekt außerhalb von dessen Vorstellungen nicht gegeben. Kant schließt daraus, daß zwar der Gegenstand diese Einheit erzwinge, daß sie aber durch eine subjektive Leistung konstituiert werde, als „die formale Einheit des Bewußtseins in der Synthesis des Mannigfaltigen der Vorstellungen“476 . Wahre Erkenntnis, die geschenkte und vorausgesetzte „Übereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstande“477 , erscheint dann als die Erzeugung 474 475

476 477

KrV, A 103. Vgl. Peter Rohs, Bezieht sich nach Kant die Anschauung unmittelbar auf Gegenstände?, a.a.O., 227: „Es gibt keine singulären Dinge an sich als mögliche Referenzobjekte. Man kann darum auch nicht eine einzelne Erscheinung mit einem einzelnen Ding an sich identifizieren“. KrV, A 105. KrV, B 82. Gerold Prauss hat darauf hingewiesen, daß die Frage nach der Wahrheit als Übereinstimmung von Erkenntnis und Gegenstand eben nicht vorausgesetzt werde, sondern das Hauptproblem der KrV sei (vgl. Zum Wahrheitsproblem bei Kant, in: Ders. (Hg.), Kant, a.a.O.). Kant hingegen schreibt nicht, daß Wahrheit in diesem Sinne vorausgesetzt werde, sondern ihre Nominaldefinition, und fügt an, daß deren Sacherklärung durch Kriterien weiter zu verfolgen sei.

S  O: D  G

433

der Vorstellung von bestimmter Gegenständlichkeit im gegebenen Material der Sinne. Diese Bestimmung erfolgt gemäß einer begrifflichen Regel.478 Dabei wird dieses Material, das die Anschauung ist, durchs Subjekt selbst hervorgebracht, und zwar so nach einer Regel, daß die Reproduktion in der Einbildung mit Notwendigkeit das Material zu der Vorstellung synthesiert. Dadurch werde der Begriff, in dem das Mannigfaltige geordnet vereinigt ist, erst möglich.479 Diese Erzeugung der Anschauung – die vorgängige Synthesis des Mannigfaltigen nach einer Regel – ist es Kant zufolge erst, die das Mannigfaltige in einen Zustand überführt, in dem „die Einheit der Apperzeption möglich“480 ist. Der Begriff dieser Einheit, das Bewußtsein der Identität des Subjekts, sei dann die Vorstellung vom Gegenstand. Oder umgekehrt: Der Gegenstand „ist nichts mehr, als das Etwas, davon der Begriff eine […] Notwendigkeit der Synthesis ausdrückt“481 . In den Formulierungen sträubt sich das Objekt beharrlich gegen seine vollständige Subjektivierung, nirgends aber scheint mehr durch, was es mit ihm auf sich habe. Das Subjekt konstituiert sein Selbstbewußtsein als Grundlage dessen, von dem es sich abhängig weiß, das aber selbst nicht nur unbekannt ist, sondern zunehmend eine bloße Funktion der Subjektivität wird.482 Indem die Form der Subjektivität so zur Objektivität des Objekts wird, ist sie allerdings vermittelt an dem gegebenen Mannigfaltigen der Anschauung. Aber: Die geometrische Konstruktionsanweisung des Dreiecks macht im Resultat nicht bloß das Mannigfaltige als geordnet erkennbar, sondern sie läßt das Mannigfaltige allererst als geordnet erscheinen, und außerhalb dieser Erscheinung wäre es fürs Subjekt bloße Mannigfaltigkeit; das heißt die Einheit des Bewußtseins bestimmt durch Begriffe, Regeln, vorgängig die Mannigfaltigkeit so, daß sie ihr, der Einheit des Bewußtseins, gemäß ist, die ihre eigene Form der Identität in der Erscheinung als deren objektive Identität in der „Vorstellung vom Gegenstande = X“483 wiedererkennt. Das Verhältnis von Subjekt und Objekt ist hier als Prozeß gedacht, in dem das Subjekt sich 478

479 480 481 482

483

Vgl. zur Verortung der Gegenstände zwischen Anschauung und Begriff Peter Rohs, Bezieht sich nach Kant die Anschauung unmittelbar auf Gegenstände?, a.a.O. Vgl. KrV, A 105. KrV, A 105. KrV, A 106. In der Abwehr des Idealismusvorwurfs in den Prolegomena (IV § 13, Anm. III) unterscheidet Kant die Erscheinung von dem Ding, das sie ‚in uns‘ bewirkt, dadurch, daß „die sinnliche Erkenntniß die Dinge gar nicht vorstellt, wie sie sind, sondern nur die Art, wie sie unsere Sinne afficiren“. Die Vorstellung vom Raum sei dem „Verhältnisse, was unsere Sinnlichkeit zu den Objekten hat“, gemäß. Kant definiert zwar die Erscheinungen als „die Vorstellungen, die sie [die Dinge: M.St.] in uns wirken“, aber er will sie nicht auf Vorstellungen, die – gleichgültig, wodurch bewirkt – subjektiv wären, beschränken. Deshalb bestimmt er sie als die Relation – das Verhältnis oder die Art der Affektion – zwischen Sinnlichkeit und Ding. Als solche ist die Erscheinung aber ebenso durchs Subjekt als Relatum bestimmt; zwar ist in der Relation das Objekt als zweites Relatum enthalten, aber es bleibt unabhängig vom Subjekt unbestimmt. Der bestimmte Inhalt schon der Anschauung sind deren subjektive Formen selbst. – Eine Austreibung des Teufels mit dem Belzebub scheint die Variante in §§ 49 und 52 zu sein: Es sei ein Widerspruch zu sagen, daß bloße Erfahrungsgegenstände auch außerhalb der Erfahrung existierten. Deshalb müßte sie wirklich sein, in derselben Weise wie das Subjekt selbst. KrV, A 105.

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mit sich identifiziert, vermittelt über die Vorstellung eines Objekts, in der es sich deshalb wiederfindet, weil es sie zuvor selbst erzeugt hat. In der Objektivität des Begriffs fallen Identität des Subjekts und des Objekts zusammen. Die Einheit der Apperzeption ermöglicht die identische Objektivität des Gegenstandes, indem sie als Bewußtsein des Erkenntnisprozesses das Mannigfaltige auf Bedingungen reduziert, die so als objektive Einheit der Vorstellung die ‚Einheit der Apperzeption möglich machen‘. Dieses wechselweise Bedingungsverhältnis von Identität des Objekts und Identität des Subjekts kann aber nicht als Vorgang in der Zeit vorgestellt werden. Soll jener Prozeß dennoch Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis sein, so muß er als transzendentale Einheit einer ursprünglichen Synthesis vorgestellt werden, in deren Begriff der Widerspruch des Prozesses zwischen Subjekt und Objekt als transzendentaler Bedingung stillgestellt ist. Dies ist die entscheidende Konsequenz, die Kant in der Deduktion B zieht, wogegen in der Deduktion A die transzendentale Apperzeption allein als ursprüngliche Identität des Bewußtseins erscheint.484 Der Sache nach sind hier aber auch beide Seiten schon vertreten: Soll die transzendentale Begründung der Objektivität von Erkenntnis möglich sein, so kommt sie nicht allein mit einem absoluten Subjekt aus, sondern dieses muß seine Objektivität ursprünglich produzieren. In der Deduktion A versucht Kant, die absolute Prozessualität des Selbstbewußtseins zu umgehen, indem er es als Vermögen aus dem wechselseitigen Bedingungsverhältnis von Voraussetzung und Resultat herausstellt und diesem Verhältnis vorordnet: „Alle Vorstellungen haben eine notwendige Beziehung auf ein mögliches empirisches Bewußtsein“, das heißt sie müssen zu Bewußtsein gelangen können, um Vorstellungen zu sein; jedes „empirische Bewußtsein hat aber eine notwendige Beziehung auf ein transzendentales […], nämlich das Bewußtsein meiner selbst“485 . Die Verknüpfung verschiedener empirischer Bewußtsein in der Einheit des Selbstbewußtseins ist dann der „schlechthin erste und synthetische Grundsatz unseres Denkens überhaupt“486 . Die hier wieder bezeichnete Antinomie von Ursprünglichkeit und Synthesis verlagert Kant dadurch, daß „die Möglichkeit der logischen Form alles Erkenntnisses […] notwendig auf dem Verhältnis zu dieser Apperzeption als einem Vermögen“487 beruhe. Von der Figur des Dreiecks bleibt die Projektion von Vorstellungen – der gedachten Prädikate seines Begriffs – auf Vorstellungen – das Mannigfaltige der Anschauung –, deren Koordination durch eine Vorstellung garantiert ist, nämlich die des Subjekts von sich selbst, die sowohl Resultat als auch Voraussetzung dieses Prozesses ist. Welchen Inhalt sie einerseits als Voraussetzung haben kann, und woraus sie andererseits resultieren kann, wenn ihr Resultat seine Voraussetzung aufhebt, vermag Kant nicht zu sagen; das verbleibt bei der unbekannten Ursache der Erscheinungen. Hegel hat diese Aporie konsequent in die Vorstellung des unendlichen Prozesses aufgelöst, in dessen Begriff Voraussetzung und Resultat eine Einheit bilden, deren höchste Form – die absolute Idee – die Einheit von Subjekt und Objekt behauptet. Indem ihre Differenz nicht mehr mitgedacht wird, wird das Subjekt um seine Freiheit beschnitten. Die Einheit von Subjekt 484 485 486 487

Vgl. KrV, A 107. KrV, A 117 Anm. KrV, A 117 Anm. KrV, A 117 Anm.

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und Objekt kann nur als Begriff, also subjektiv, gedacht werden. Die subjektive Dominanz über die Objektivität, die Vorstellung von Objektivität als Ausdruck der Identität des Subjekts, macht die Subjekte, insofern sie selbst auch Objekte sind, unfähig, ihre Objekte als etwas zu begreifen, dem wohl Bestimmungen subjektiver Vernunftobjektivität zu unterstellen sind, aber das nicht an sich selbst schon so ist. Was in Hegels Vernunfteuphorie abgeschlossen wird, ist in Kants transzendentaler Erkenntnistheorie durchaus schon angelegt. Begriffe liegen aller Erkenntnis zugrunde, weil durch sie erst das gegebene bloß Mannigfaltige als geordnetes erscheint, nicht als ein „Gewühle von Erscheinungen“488 . Indem Begriffe der Reproduktion eine Regel an die Hand geben, wird noch die Ordnung der Reproduktion des Mannigfaltigen notwendig. Diese Notwendigkeit kann nicht aus der Kontingenz des Sinnenmaterials hervorgehen. Sie wird daher auch nicht durch empirische Begriffe, sondern durch die Kategorien begründet,489 als die „Form aller Erkenntnis der Gegenstände (wodurch das Mannigfaltige als zu Einem Objekt gehörig gedacht wird)“, die „Art, wie das Mannigfaltige der sinnlichen Vorstellung (Anschauung) zu einem Bewußtsein gehört“490 . Deshalb ist Kants Beispiel vom Dreieck schief, und jedes Beispiel bestimmter Erfahrung wäre es; die Kategorien als reine Verstandesbegriffe sind Bedingungen der Möglichkeit möglicher Erfahrung, deren Begriff als allgemeiner selbst eine subjektive Bestimmung ist, deren sinnlicher Gehalt auf die reine Form der Anschauung reduziert ist. Wie aber die Synthesis der bestimmten Anschauung eines Dreiecks durch den Begriff erzeugt werde und ihm doch zugleich zugrunde liege, läßt sich nicht als reine Prozessualität darstellen. In der Deduktion B beschränkt Kant sich – ohne allen Zinnober – konsequent auf Beispiele in der reinen Anschauung491 und hebt unter diesen vor allem das Ziehen einer Linie in Gedanken hervor, das deshalb für die reine Bestimmung des äußeren Sinns durch die Form des inneren Sinnes stehen kann, weil die Linie, im Unterschied zum Dreieck, als Analogie zur Zeitfolge zu denken ist. Die durch Begriffe begründete Notwendigkeit in der Ordnung des Mannigfaltigen muß nun transzendental begründet sein. Dieser transzendentale Grund erstreckt sich nicht allein auf die Synthesis der Anschauungen und Begriffe, sondern auch auf alle Gegenstände der Erfahrung, wenn es möglich sein soll, Anschauungen Gegenstände zuzuordnen. Soweit ergibt sich die transzendentale Apperzeption als Bedingung, ohne die unsere Vorstellungen „gedankenlose Anschauung, aber niemals Erkenntnis, also für uns so viel als gar nichts sein“492 würden. Eine solche oberste Einheit der Identität des Subjekts kann dem Modus ihrer Notwendigkeit nach nicht das empirische Bewußtsein eines Subjekts von sich selbst sein, das stets kontingenten Umständen unterliegt, sondern sie ist als „transzendentale Apperzeption“493 zu denken. Sie ist die ursprüngliche Einheit, deren Bewußtsein die Einheit aller Vorstellungen ermöglicht, und die deshalb allen Vor488 489 490 491 492 493

KrV, A 111. Vgl. KrV, A 111; A 124f. KrV, A 129. Vgl. KrV, B 154. KrV, A 111. KrV, A 106f.

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stellungen, die gegeben werden können, vorhergehen muß. Die Einheit des Bewußtseins besteht aber im Bewußtsein ihrer Funktion, die Synthesis – und zwar grundlegend die des Mannigfaltigen in der Anschauung – zu ermöglichen: Die Identität des Selbstbewußtseins in den verschiedenen Vorstellungen ist nur unter Voraussetzung einer regelmäßigen transzendentalen Einheit der Synthesis dieser Vorstellungen möglich.494 Diese Bestimmung ist ambivalent. Einerseits erklärt sie die bestimmten Erkenntnisakte als Bewußtseinshandlungen zum notwendigen Vermittlungsmoment des Bewußtseins seiner selbst und knüpft es so an das, was es nicht selbst ist; das betont besonders die Katachrese der Formulierung vom Bewußtsein, das die Identität seiner Handlungen ‚vor Augen‘ habe. Andererseits führt der Versuch der transzendentalen Bestimmung der Möglichkeit der Bewußtseinsidentität in der Mannigfaltigkeit der Vorstellungen des Bewußtseins in eine andere Richtung: Die Mannigfaltigkeit der Vorstellungen kann nur dann a priori mit einem einheitlichen Bewußtsein verknüpft werden, wenn dieses selbst Urheber der Vorstellungen ist, „alle Synthesis der Apprehension (die empirisch ist) einer transzendentalen Einheit unterwirft, und ihren Zusammenhang nach Regeln a priori zuerst möglich macht“495 . Wieder ist die Einheit, das Bewußtsein des Bewußtseins, das aus dem Akt resultieren soll, als Inhalt und Maßstab dieses Aktes Voraussetzung desselben; wieder koinzidieren Voraussetzung und Resultat in der Handlung des Bewußtseins, die zugleich Ausdruck und Bedingung von dessen Identität ist. Der Begriff der Bewußtseinshandlung a priori antizipiert die absolute Prozessualität des Selbstbewußtseins. Der Versuch, diese, ihrem Begriff gemäß, hermetisch zu fassen, gelingt auch in der Deduktion B nicht vollständig; erst die Preisgabe des Kantischen Konzepts der Erfahrungserkenntnis bei Hegel erlaubt eine adäquate Fassung dieses der Anlage nach schon idealistischen Subjektivitätskonzepts. Von hier aus ergibt sich für den Begriff des transzendentalen Gegenstandes, der als nicht-empirischer allen Vorstellungen zugrunde liegen muß, wenn diese nicht bloß Vorstellungen von Vorstellungen, sondern von objektiver Realität sein sollen, daß er „gar keine bestimmte Anschauung enthalten [kann] und […] also nichts anders als diejenige 494

495

Vgl. KrV, A 108. Die frühe Interpretation von Dieter Henrich zu dieser Passage ist ein präzises Beispiel für den verbreiteten Irrtum, die transzendentale Deduktion sei eine Ableitung aus ursprünglich bekannter Identität, den Henrich selbst später korrigierte: Dieser Text „begründet die Ableitung von Regeln a priori auf die Identität des Selbstbewußtseins und unterstreicht, daß eine solche Ableitung nur dann gelingt, wenn diese Identität a priori bekannt ist.“ (Identität und Objektivität, a.a.O., 102). Henrichs Fehler bestand darin, daß er die ‚Handlung‘, von der Kant spricht, als rein bewußtseinsimmanente Identifikation verstand. Was Kant hier voraussetzt, ist die Realität von wissenschaftlicher Naturerkenntnis, deren subjektive Bedingung rekursiv erschlossen wird. Deduktion bedeutet dann den Nachweis der Möglichkeit der Geltung von Urteilen. Henrich korrigierte dies in der Diskussion mit Tuschling u. a., in: Burkhard Tuschling (Hg.), Probleme der „Kritik der reinen Vernunft“, a.a.O. Jürgen Habermas kritisiert, daß bei Henrich „die Kultur- und Sozialwissenschaften keinen Platz zwischen einer letztlich physikalischen Erforschung der Natur und der transzendentalen Selbstaufklärung des Geistes“ fänden (Nachmetaphysisches Denken, a.a.O., 276). Schärfer wäre einzuwenden, daß die sachhaltige Bedeutung gesellschaftlicher Praxis in Henrichs Subjekt-Konzeption keinen Ort hat; aber den hat sie in der Auffassung von Gesellschaft als „sprachlich konstituierten“ [ebda.] Bereichs auch nicht. KrV, A 108.

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Einheit betreffen [wird], die in einem Mannigfaltigen der Erkenntnis angetroffen werden muß, so fern es in Beziehung auf einen Gegenstand steht. Diese Beziehung aber ist nichts anders, als die notwendige Einheit des Bewußtseins, mithin auch der Synthesis des Mannigfaltigen durch gemeinschaftliche Funktion des Gemüts, es in einer Vorstellung zu verbinden.“496 Wenn von den Gegenständen, die der Vorstellung zugrunde liegen, im Einzelnen, ihrer Bestimmtheit nach, dem Subjekt nichts bekannt sein kann, der Begriff des Gegenstandes der Vorstellung überhaupt aber erforderlich ist, dann ist dieser Begriff bei allen Vorstellungen gleich, nämlich als die Repräsentation der Erfordernis, daß ein Gegenstand sei, der die Einheit der Vorstellung ermöglicht. Diese formale Bedingung erfüllt aber die Einheit der Apperzeption selbst als ‚notwendige Einheit des Bewußtseins, mithin auch der Synthesis des Mannigfaltigen durch gemeinschaftliche Funktion des Gemüts, es in einer Vorstellung zu verbinden‘. Über diese Funktion geht die formale Funktion des Gegenstandes nicht hinaus, zum materiellen Inhalt der Erkenntnis trägt er nichts bei. Daher ist der Gegenstand selbst – über die formale Notwendigkeit, daß er angenommen werde, hinaus – nicht von Interesse. Allein sein Begriff ist zu bestimmen, und zwar als die Funktion der Einheit, die im Erkenntnisprozeß objektive Realität der Vorstellungen garantiert. Diese Funktion erfüllt aber die Einheit der Apperzeption, die daher den Begriff des transzendentalen Gegenstandes von ihrem eigenen Selbstbewußtsein nicht mehr unterscheiden kann: „Diese Beziehung [des Mannigfaltigen der Erkenntnis auf einen Gegenstand, die einziger Inhalt des Begriffs vom Gegenstand ist; M.St.] aber ist nichts anderes, als die notwendige Einheit des Bewußtseins“497 . In dieser Indifferenz von transzendentalem Subjekt und transzendentalem Objekt liegt auch der Ort der Affinität der Erscheinungen, der „Grund der Möglichkeit der Assoziation des Mannigfaltigen, so fern er im Objekte liegt“498 , der die notwendige allgemeine Geltung von Naturgesetzen ermöglicht. Weil die Erscheinungen fürs Subjekt nur Erscheinungen unter der Bedingung der Ordnung durch die Identität des Selbstbewußtseins sein können, stehen sie a priori unter deren Gesetzen, die sich aus der Vermittlung des Selbstbewußtseins durch die Kategorien ergeben. Die Bedingtheit der Erscheinungen durch die Einheit der Apperzeption macht ihre transzendentale Affinität aus. Die Möglichkeit der Assoziation des Mannigfaltigen, sofern diese im Objekt gründet, ist wieder eine Funktion der subjektiven formalen Bedingungen dieser Assoziation. Die Affinität der Erscheinungen – der objektive Grund aller Assoziation – bezeichnet das, wodurch die Erscheinungen „an sich assoziabel“499 sind, aber nicht im Sinne einer reservierten Selbständigkeit, wie sie im Ding an sich allenfalls zu denken sei als nicht zu denkende, ‚unbekannte Ursache der Erscheinung‘; sondern ‚an sich assoziabel‘ sind sie als „Data 496 497 498

499

KrV, A 109. KrV, A 109. KrV, A 113. Daß der transzendentale Gegenstand und das Ding an sich übereinkommende Bestimmungen aufweisen, aber nicht dasselbe sind, hat Heiner F. Klemme herausgearbeitet: Kants Philosophie des Subjekts, a.a.O., 260ff. Die Begriffe haben je „eine spezifische Funktion oder Rolle innerhalb der Kantischen Erkenntniskritik“ (265). – So vertritt das Ding an sich die Stelle der ontologischen Substanz, der transzendentale Gegenstand die des Erkenntnisobjekts; daß beide auseinanderfallen, ist eine Folge der nominalistischen Metaphysikkritik. KrV, A 122.

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der Sinne“500 , und dieser Genitiv bezeichnet nicht allein, daß diese data den Sinnen gegeben seien, sondern auch daß sie ihnen possessiv zugeordnet sind, mehr noch werden die Sinne zu ihren Urhebern, so wie später bei Hegel das Andere der Reflexion durch diese Relation sich als deren Produkt und Zugehöriges erweist.501 Dem entspricht auch Kants Definition von Objektivität als ein „vor allen empirischen Gesetzen der Einbildungskraft einzusehende[s]“502 , das nicht empirisch, aber durchaus subjektiv, in Relation zur Einsicht im transzendentalen Subjekt, bestimmt ist. Soll Erkenntnistheorie überhaupt eine bestimmte Theorie sein, muß sie ihren Gegenstandsbereich definieren, und da er über das schon Bekannte tendentiell hinausgehen soll, kann diese Definition nur vom Subjekt aus gelingen, wo nicht Vagheiten in ihn eingehen sollen. Deshalb muß Kant den „objektiven Grund aller Assoziation der Erscheinungen“ reduzieren auf den „Grundsatz von der Einheit der Apperzeption, in Ansehung aller Erkenntnisse, die mir zugehören sollen“503 . Indem aber der Bereich möglicher Erkenntnisse in der traditionellen Erkenntnistheorie konsequent vom Subjekt her definiert werden muß, um Bestimmtheit zu erhalten, verliert er zugleich die materiale Basis aller Bestimmtheit: die Selbständigkeit der Gegenstände. „Die objektive Einheit alles (empirischen) Bewußtseins in einem Bewußtsein (der ursprünglichen Apperzeption) ist also die notwendige Bedingung sogar aller möglichen Wahrnehmung, und die Affinität aller Erscheinungen (nahe oder entfernte) ist eine notwendige Folge einer Synthesis in der Einbildungskraft, die a priori auf Regeln gegründet ist.“504 . – Die Argumentation der „Vorläufige[n] Erklärung der Möglichkeit der Kategorien, als Erkenntnissen a priori“505 in der Deduktion A, die vom Empirischen, dem Mannigfaltigen der Anschauung ausging und die transzendentale Einheit des Selbstbewußtseins als Funktion von deren Objektivität ermittelte, hat nun diese Einheit so zum Resultat, daß deren empirische Bedingungen nur mehr als Funktionen absoluter Subjektivität erscheinen. Dementsprechend kehrt Kant das Verfahren im „Dritte[n] Abschnitt“506 der Deduktion A so um, wie er es dann in der Deduktion B durchführen wird: „Wollen wir nun den innern Grund dieser Verknüpfung der Vorstellungen bis auf denjenigen Punkt verfolgen, in welchem sie alle zusammenlaufen müssen, um darin allererst

500

501

502 503 504 505 506

KrV, A 122. Zufolge Herbert Schnädelbach, Vernunft, a.a.O., 91, bezeichnet das Ding an sich „nichts anderes als den Gegenstand unserer Erfahrungserkenntnis, gedacht als unabhängig von der Art und Weise, wie wir ihn erkennen können“ (meine Hervorhebung). Darin ist der Widerspruch exakt erfaßt. Was man sich so denkt, wie man es nicht erkennen kann, ist entweder spintisiert oder notwendig antinomisch. Grundsätzlich ist das Ding an sich, Kants Intention entgegen, schon Relationsbegriff, weil er aus einer Unterscheidung resultiert: „An die Stelle der vorkritischen Tautologie von essentia und res tritt die kritische Unterscheidung von unerkennbarem Ding an sich und bloß partiell erkennbaren Phänomenen.“ Karl Heinz Haag, Der Fortschritt in der Philosophie, a.a.O., 74. KrV, A 122. KrV, A 122. KrV, A 123. KrV, A 110-114. KrV, A 115-130.

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439

Einheit der Erkenntnis zu einer möglichen Erfahrung zu bekommen, so müssen wir von der reinen Apperzeption anfangen.“507

c.

Subjektivität bestimmter Erfahrung: ‚Schematismus‘ und ‚Grundsätze‘

Die Untersuchung der Bestimmungen des Selbstbewußtseins in der Transzendentalen Deduktion zeigt, daß von Subjektivität nur im Verhältnis zu dem zu reden ist, was nicht selbst aus dieser Subjektivität gesetzt werden kann. Gerade die Probleme des Kantischen Versuchs, das Subjekt a priori zu fassen, bestätigen das. Je mehr dieser Versuch, der Objektivität ja nicht in Frage stellen, sondern begründen will, die Objekte vom Subjekt aus zu konstruieren unternimmt, umso stärker verflüchtigt sich das Gegenständliche der Gegenstände, umso leerer aber wird auch das Subjekt selbst. Die Frage nach der Selbständigkeit der Objekte tritt zunehmend als komplementär zur Frage nach der Subjektivität hervor. Deshalb ist die Analytik der Grundsätze, obwohl in ihnen vom Selbstbewußtsein wenig die Rede ist, wichtiger Bestandteil von dessen Theorie, weil in ihr von der Möglichkeit der Beziehung subjektiver Erkenntnisbedingungen auf bestimmte Gegenstände die Rede ist, von der Beziehung, durch die das Subjekt in doppelter Hinsicht Realität erlangen könnte: die des Gegebenen und durch sie erst die eigene.508 Die Realität des Subjekts, der letztlich gegenständliche Gehalt seiner Beziehung zur Objektivität, ist ebenso wie für Erkenntnis auch grundlegend für Praxis. Kants Ringen um Objektivität einerseits und Realität andererseits kann deshalb auch als erkenntnistheoretische Reflexion der praktischen Schwierigkeit betrachtet werden, wie subjektiv vernünftig in eine Welt einzugreifen sei, die nicht schon als vernünftig bestimmte zu denken wäre. Dieses Problem setzt sich – auf unterschiedliche Weisen – ins Transzendentale Ideal und in die Kritik der Urteilskraft fort. Die Grundsätze können so auch als Bestandteil, vielleicht als erkenntnistheoretischer Ursprung, des Teleologieproblems Kants angesehen werden. Es ergibt sich aus der subjektiv angelegten systematischen Form der Erkenntnistheorie und impliziert zugleich erhebliche Probleme praktischer Subjektivität. Im Unterschied zur allgemeinen Logik, in der die Formen des empirischen und des reinen Denkens gleichermaßen bestimmt werden, ist die Transzendentale Logik von Kant als Erkenntnistheorie, als Wissenschaft von den Bedingungen der Möglichkeit objektiver Erkenntnis, konzipiert. Diese liegt in der Form allgemeiner und notwendiger Urteile über Erfahrungsgegenstände vor. Da in solcher Erkenntnis sinnliche Anschauung und Begriffe zu vermitteln sind, muß die transzendentale Logik klären, wie sich Vorstellungen, die nicht empirisch sind, a priori auf Gegenstände der Erfahrung beziehen können.509

507

508

509

KrV, A 116. Die damit verbundene Hervorhebung der „subjektivitätstheoretische[n] Bedeutung der Einbildungskraft“ in der Deduktion B gegenüber der Deduktion A hat Klaus Düsing betont: Subjektivität und Freiheit, a.a.O., 24. Zur Funktion der Grundsätze vgl. Burkhard Tuschling, Widersprüche im transzendentalen Idealismus, a.a.O. Vgl. ebenfalls Wolfgang Bartuschat, Zum systematischen Ort von Kants Kritik der Urteilskraft, Frankfurt am Main 1972, 52f. Vgl. KrV, B 81f.

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Die Reduktion des Gegenstandsbereichs der transzendentalen Logik auf die reinen Erkenntnisse kann Kant als inhaltliche Bereicherung gegenüber der allgemeinen Logik verstehen,510 weil er reine Erkenntnis als formale Bedingung aller Erkenntnisse versteht, „ohne welche überall kein Gegenstand gedacht werden kann“511 . Die transzendentale Deduktion der Verstandesbegriffe hat nun gezeigt, unter welchen Bedingungen reine Begriffe und Erscheinungen vereinbar sind; allerdings konnte hier nicht von bestimmten Erscheinungen die Rede sein, die Bestimmung der objektiven Beziehung von Subjekten auf Gegenstände konnte nur auf die Formen von Subjektivität und Objektivität bezogen sein. Objektivität selbst ergab sich dabei als Funktion des Subjekts, die Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis als eine begriffliche Konstruktion, deren sinnliche Korrelate selbst schon begrifflich gefaßt sind. Dieses Ergebnis der konsequenten Erwägung der begrifflichen Erkenntnisbedingungen – eine Konsequenz der Sache durchaus – steht doch eigentümlich hinter Kants Erkenntnisbegriff zurück, nach dem es ohne Anschauung „aller unserer Erkenntnis an Objekten [fehlt], und sie bleibt alsdann völlig leer“512 . Kant stellt neben die Analytik der Begriffe des Verstandes daher die Analytik von Grundsätzen des Verstandes. Diese sind genauer Grundsätze des Erfahrungsgebrauchs des Verstandes, indem ihre Analytik Regeln ermittelt, nach denen die Verstandesbegriffe auf Erscheinungen anzuwenden seien. Diese Subsumtion der Erkenntnisinhalte unter Verstandesregeln weist Kant der Urteilskraft zu, die „Grundsätze des Verstandes“ sind in der Tat eine „Doktrin der Urteilskraft“513 . Der Verstand kann zwar durch seine Begriffe der Synthesis des Mannigfaltigen Regeln vorgeben, indem seine Funktion der Rekognition im Begriff Bedingung der Möglichkeit der Reproduktion in der Einbildung, und diese wieder Bedingung der Möglichkeit der Apprehension in der Anschauung sei; dadurch bestimmt der Verstand die formalen Bedingungen der Erkenntnis, aber die Anwendbarkeit der Regel aufs Sinnenmaterial geht nicht selbst aus den Begriffen hervor. Aus der Vorstellung von ‚Kausalität überhaupt‘ läßt sich nicht deduzieren, ob zwei gegebene Anschauungen im Verhältnis der Kausalität zueinander stehen. Nun löste die Transzendentalphilosophie ihr Spezifikum gegenüber der Logik nicht ein, wenn sie es bei der begrifflichen Fassung formeller Regeln beließe, „sondern sie muß zugleich die Bedingungen, unter welchen Gegenstände in Übereinstimmung mit jenen Begriffen gegeben werden können, in allgemeinen, aber hinreichenden Kennzeichen darlegen, widrigenfalls sie ohne allen Inhalt, mithin bloße logische Formen und nicht reine Verstandesbegriffe sein würden“514 . Was Kant als eigentümliche Stärke seiner Theorie vorstellt, ist tatsächlich ein Desiderat aus dem unbefriedigenden Objektivitätsbegriff der Deduktion. Die Urteilskraft soll die letztlich gegenstandslose Identität von transzendentalem Subjekt und transzendentalem Objekt aufsprengen. Schon deshalb ist sie nicht systematisch nach Begriffen auszubilden, sondern allein durch Übung,515 und selbst diese nützt nur 510 511 512 513 514 515

Vgl. KrV, B 80, B 170. KrV, B 87. KrV, B 87. KrV, B 171. KrV, B 175. Vgl. KrV, B 172.

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dem, der von der Natur ausreichend mit Urteilskraft ausgestattet ist. Die Notwendigkeit des Verstandes wird hier scheinbar von einem der Zufälligkeit ausgelieferten Vermögen flankiert. Nachdem die objektive Mannigfaltigkeit der Anschauung selbst als Produkt des subjektiven Verstandes ausgewiesen worden ist, erhält sie hier scheinbar eine neue Selbständigkeit, indem es eines eigenen Vermögens bedarf, sie unter die Regeln des Verstandes zu subsumieren, als deren Resultat a priori sie zunächst entwickelt worden waren. Diese Bestimmung der Urteilskraft erlaubt es aber vor allem, die Erscheinungen nicht bloß ihrer Regelmäßigkeit nach, sondern auch ihrer Einzelnheit nach zu Funktionen des Subjekts zu machen, denn als einzelne, der Subsumtion unter Regeln bedürftige, erscheinen sie, insofern sie Gegenstände der Urteilskraft sind. Im Unterschied zu empirischen Begriffen, denen Gegenstände zugeordnet werden können, weil sie Merkmale aufweisen, die auch im Begriff enthalten sind, sind „reine Verstandesbegriffe, in Vergleichung mit empirischen (ja überhaupt sinnlichen) Anschauungen, ganz ungleichartig, und können niemals in irgendeiner Anschauung angetroffen werden“516 . Ursache und Wirkung sind in der Anschauung bloß verschiedenes Mannigfaltiges, ihre logische Verknüpfung zu einer zusammenhängenden Vorstellung kann erst der Verstand durch Begriffe vollbringen. Diese Verknüpfung ist im Denken und soll doch objektive Realität haben in den Gegenständen der Anschauung. Mit der produktiven Einbildungskraft, durch die der Verstand gemäß seinen Begriffen das Mannigfaltige in der Apprehension erst für diese (mit)erzeugt, war nur erst das Vermögen der Verknüpfung bezeichnet, nicht jedoch das Mittel bestimmt, wodurch sie vollbracht wird. Dies muß nun eine Vorstellung sein, die begriffliche Vorstellungen mit sinnlichen Vorstellungen verknüpft, und deshalb muß diese, analog dem Vermögen der produktiven Einbildungskraft, „einerseits intellektuell, andererseits sinnlich sein. Eine solche ist das transzendentale Schema.“517 Diese Brückenfunktion gründet in der Zeit, da ihr einerseits als reiner Anschauung Allgemeinheit zukommt, wodurch sie den Begriffen adäquat ist, und sie andererseits als reine Anschauungsform a priori auf alle Erscheinungen bezogen ist, so daß in der Zeit als ihrem Inbegriff „alle unsere Vorstellungen enthalten sind“518 . Diese Koordination aller Vorstellungen wirkt als deren Bestimmung und verweist sie wechselseitig aufeinander, vermittels ihrer Zeitbestimmtheit. Es ist dadurch „der Verstandesbegriff in seinem Gebrauch restringiert“ auf eine „formale und reine Bedingung der Sinnlichkeit“519 . Nun war der Deduktion zufolge die Anwendung der Kategorien auf Mannigfaltiges dadurch möglich, daß die Einbildungskraft die Sinnlichkeit mittels der Kategorien gemäß der Einheit der Apperzeption formierte. Hier soll nun die bereits durch den Verstand formierte Anschauungsform als umgekehrt den Verstand beschränkendes Schema fungieren. Die Grundlage der Verknüpfung von Verstand und Sinnlichkeit – ohnehin die Vorstellung einer Verknüpfung von Vorstellungen – kann nicht als extramental gedacht werden, sonst höbe das Subjekt seine eigene Einheit auf und machte sie von etwas 516 517 518 519

KrV, KrV, KrV, KrV,

B B B B

176. 277. 194. 179.

442

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abhängig, das es nicht kontrollieren kann; – dann aber wäre es nicht das gesetzgebende Vermögen. Um deswillen muß der Schematismus ein bestimmendes Verhältnis des Subjekts zu sich selbst bleiben, von dem wiederum nicht zu sehen ist, woher es die bestimmende Differenz des Subjekts zu sich selbst nehmen sollte. Hierhin führt zwangsläufig der Versuch, die postulierte Beziehung des Subjekts auf etwas, das es nicht selbst ist, begrifflich konsequent aufzuklären. Die Kategorien sind mit der Zeit nur deshalb vereinbar, weil sie „reine synthetische Einheit des Mannigfaltigen überhaupt“520 enthalten. Diese ist in ihnen a priori zu denken, aber das Bewußtsein weiß dies nur als Resultat einer Analogie zu den Urteilsfunktionen.521 Die Bedingung der Möglichkeit der Synthesis von Anschauungen zu Vorstellungen ist nur zu denken nach dem Modell der logischen Synthesis verschiedener Vorstellungen in Urteilen, und damit ist sie für unser Denken nur durch negative Beziehung auf das in Urteilen verknüpfte bestimmte Mannigfaltige zu fassen. Das Vermögen zu urteilen, aus dem die Kategorien als dessen Bedingungen a priori erschlossen worden waren, wird in den Grundsätzen nun als Vermittlung von Kategorie und Sinnlichkeit eingesetzt. Damit enthält die Kategorie negativ schon das, mit dem sie nun vermittelt werden soll. Die Grundsätze des empirischen Gebrauchs der reinen Verstandesbegriffe sind tatsächlich Schlüsse auf die jeweiligen Kategorien als Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung. Sie sind insofern die Ausführung des Schlusses auf die Kategorientafel aus der Urteilstafel. Dieser Zusammenhang muß aber hier rein a priori dargestellt werden, und der Schematismus – Grundlage der Funktion der Urteilskraft – ist die Beschränkung des Verstandes durch seine eigene Zeitfunktion: „Die Schemate sind daher nichts als Zeitbestimmungen a priori nach Regeln, und diese gehen nach der Ordnung der Kategorien auf die Zeitreihe, den Zeitinhalt, die Zeitordnung, endlich den Zeitinbegriff in Ansehung aller möglichen Gegenstände.“522 Diese Bestimmung folgt auch aus der Unzulänglichkeit der Bilder und der sinnlichen Schemata: Wie Kant am Beispiel des Dreiecks zeigt, kann für dessen Begriff kein adäquates Bild gegeben werden, wohl aber ein Schema, das der arithmetischen Konstruktionsanweisung eine geometrische an die Seite stellt und so den Begriff auf die Sinnlichkeit überträgt. Das Schema des Hundes dagegen, das als „eine Regel, nach welcher meine Einbildungskraft die Gestalt eines vierfüßigen Tieres allgemein verzeichnen kann, ohne auf irgendeine einzige besondere Gestalt, die mir die Erfahrung darbietet, oder auch ein jedes mögliche Bild, was ich in concreto darstellen kann, eingeschränkt zu sein“523 , beschrieben wird, führt zu folgender Konsequenz: „Dieser Schematismus unseres Verstandes in Ansehung der Erscheinungen und ihrer bloßen Form ist eine ver520 521

522 523

KrV, B 177. Vgl. KrV, B 104f.: „Dieselbe Funktion, welche den verschiedenen Vorstellungen in einem Urteile Einheit gibt, die gibt auch der bloßen Synthesis verschiedener Vorstellungen in einer Anschauung Einheit, welche, allgemein ausgedrückt, der reine Verstandesbegriff heißt. […] Auf solche Weise entspringen gerade so viel reine Verstandesbegriffe, welche a priori auf Gegenstände der Anschauung überhaupt gehen, als es in der vorigen Tafel logische Funktionen in allen möglichen Urteilen gab“. KrV, B 184f. KrV, B 180.

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borgene Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele, deren wahre Handgriffe wir der Natur schwerlich jemals abraten und sie unverdeckt vor Augen legen werden.“524 Noch die sinnliche Vorstellung von einem Hund beruht danach zunächst auf einer Produktion der Einbildungskraft a priori, das heißt sie gilt als Resultat einer Formung der bloßen Mannigfaltigkeit durch die Einbildungskraft, was letztlich ermöglicht wird durch die Beschränkung a priori des Verstandes durch seine Zeitfunktionen.525 Die Anschauungen seien in der Zeit, aber ihre Apprehension erzeuge doch die Zeit erst aus der Projektion der reinen Form der Zeit auf Inhalte, die zugleich nur im Medium Zeit apprehendiert werden könnten. Das Immanenzverhältnis des durch Zeit beschränkten Verstandes, der vermittels dieser Zeitlichkeit ‚in der sukzessiven Apprehension eines Gegenstandes‘ der Quantität nach die Zeit selbst erst erzeuge und ebenso der Qualität nach ihre Inhalte, der Relation nach deren Verhältnisse zueinander und der Modalität nach ihre Verhältnisse wiederum in der Zeit hervorbringe, hat Heidegger – wenngleich er Kants Konstruktion als subjektivistische Verflüchtigung von Zeit ablehnt – treffend ausgedrückt: Die Zeitlichkeit zeitigt die Zeit und das Dasein als Innerzeitliches aber selbst nicht Zeitliches.526 Der Schematismus bestimmt soweit nur die allgemeinen subjektiven Bedingungen, die es der Urteilskraft ermöglichen, Kategorien auf Erfahrungsgegenstände anzuwenden, die transzendentalen Schemata sind zunächst die formalen Grenzen, innerhalb derer die Urteilskraft agiert. Die Grundsätze selbst sollen nun die Aktionsformen der Urteilskraft systematisch differenzieren, das heißt die Urteile bestimmen, die a priori begründbar sind aus dem Verhältnis der Kategorien „auf mögliche Erfahrung […], zur Sinnlichkeit überhaupt“527 . Auch diese Bestimmungen sind als Grundlage a priori aller Urteile subjektimmanent zu halten und sind objektiv nicht reduzibel auf anderes. Das Aristotelische Problem, daß man dasjenige, „was jeder erkannt haben muß, der irgend etwas erkennen soll, […] schon zum Erkennen mitbringen“528 müsse, hindert Kant zufolge nicht daran, daß „ein Beweis aus den subjektiven Quellen der Möglichkeit einer Erkenntnis des Gegenstandes überhaupt, zu schaffen möglich“529 wäre: Wenn transzendentale Erkenntnis so verstanden wird, daß sie keine Gegenstandserkenntnis darstellt, sondern innerhalb des gegen wirkliche Gegenstände abgedichteten Subjekts dessen mögliche Beziehung auf mögliche Objektivität nur soweit bestimmt, wie der Begriff möglicher Objektivität selbst eine subjektive Vorstellung ist, so gelten die Grundsätze nur für Erkenntnisse, in denen das Subjekt sich auf Anderes bezieht, nicht aber für die eigene Reflexion. In dieser könnten sie dann deshalb transzendental abgesichert sein. Aristoteles hatte seinen Grundsatz der Erkenntnis, den Satz vom zu vermeidenden Widerspruch, nur durch Beziehung des Denkens auf Anderes untermauern können, durch die Forderung, daß jemand Rede stehe, also überhaupt etwas widerspruchsfrei bezeichne. Die darin gelegene petitio principii galt ihm dennoch als begründet, indem der Exis524 525 526 527 528 529

KrV, B 180f. Diesen Aspekt betont auch Josef Simon, Kant, a.a.O., 254ff. Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1993, z. B. 420. KrV, B 187. Aristoteles, Metaphysik, a.a.O., 1005b. KrV, B 188.

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tenzgrund des Denkens nicht durch die Immanenz des Denkens, sondern nur durch seine adäquate Relation zu den Existenzmitteln des Denkenden zu sichern war. Das immanente Bewußtsein dagegen erwies sich als eine Illusion, die mit dem frühmorgendlichen Sprung in einen Brunnenschacht einfach aufzudecken war.530 Entsprechend ist für Kant das Widerspruchsverbot der oberste Grundsatz aller analytischen Urteile,531 das bloß negativ die notwendige Bedingung der Wahrheit von Urteilen angibt. Da synthetische Urteile nicht beanspruchen, im Prädikat Bestimmungen anzugeben, die im Urteilssubjekt schon enthalten sind, können sie sich nicht selbst widersprechen.532 Für die Möglichkeit der Verknüpfung von logischem Subjekt und Prädikat in synthetischen Urteilen – also für die Möglichkeit der Erweiterung von Erkenntnis – hat jener Satz demnach keine Funktion. Kant faßt ihn ausschließlich als logisches Prinzip. – Seine Aristotelische Funktion als negative Bestimmung der Identität des Bewußtseins durch Vermittlung über das, was es nicht selbst ist, gelang nur durch Koordination der logischen mit der ontologischen Formulierung des Satzes: Es kann nicht zugleich demselben logischen Subjekt dasselbe Prädikat zugesprochen und abgesprochen werden; und: Das logische Subjekt kann nicht zugleich sein und nicht sein. Das Seinsprädikat fällt unter die Regel, die für alle Prädikate gilt, trägt aber noch eine ausgezeichnete Funktion. Die Verbindung subjektiver Identität mit objektiver Identität macht bei Aristoteles den Gehalt von Identität überhaupt aus, der impliziter Gegenstand des IV. Buches der Metaphysik ist, aber nicht explizit, weil er sich geradezu, positiv, nicht bestimmen ließe, denn für sich ist Identität ein leerer Begriff. Für Kant ist die subjektive Identität innersubjektiv nachgewiesen. Der Satz vom zu vermeidenden Widerspruch ist deshalb bei ihm auf seine logische Funktion beschränkt, und zwar so sehr, daß Kant mit der ontologischen Formulierung umgeht, als sei sie die logische. An dem Satz „Ein Ding = A, welches etwas = B ist, kann nicht zu gleicher Zeit non B sein.“533 kritisiert er weder den Ausdruck ‚Ding‘, noch das Seinsprädikat; beides gilt – nach der Erklärung aller Erscheinungen zu Vorstellungen – als unschädlich. Wohl aber kritisiert Kant den Ausdruck ‚zu gleicher Zeit‘, denn hiermit würden die Dinge nach der Kategorie Relation als geordnete Zeitinhalte gesetzt, also auf ein Dasein bezogen, das ihnen logisch nicht zukomme. Das Problem der Objektivität besteht für Kant nicht mehr in der Zuordnung der Vorstellungen zu Sinnesgegenständen, sondern in der zu Zeitfunktionen. Die Zeit, Form der Sinnlichkeit, droht zum Surrogat des Sinnlichen zu werden. Für Kant ist selbst der von Aristoteles bemühte Brunnenschacht zunächst einmal eine Vorstellung, die als Vorstellung einer subjektiven Form unterliegt, deren Verhältnis zu anderen subjektiven Formen sich im Subjekt bestimmen lasse. Die Erkenntnis des Brunnens als Brunnen, die für Aristoteles nicht weiter als bis auf die Empfindung reduzibel ist, hat für Kant Voraussetzungen, die weit ins Subjekt hineinreichen und nur der Möglichkeit nach auf Objektivität bezogen sind, die ihrerseits der Wirklichkeit der Objekte

530 531 532 533

Vgl. Aristoteles, Metaphysik, a.a.O., 1008b. Vgl. KrV, B 189ff. Vgl. B 82ff. Vgl. KrV, B 193f. KrV, B 191.

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nach für das Subjekt nicht faßbar ist. Daher ist eine Begründung noch der Grundsätze aller Beziehung auf Bestimmtes für Kant denkbar.534 Objektive Realität kommt den reinen Begriffen zu durch ihre Beziehung auf mögliche Erfahrung, Diese Verbindung wird grundgelegt durch die Form des inneren Sinns, soweit sie mittels der Einbildungskraft durch die Einheit der Apperzeption bestimmt ist. Als oberster Grundsatz aller synthetischen Urteile – vorausgesetzt, die Beziehung ihrer Elemente soll bestimmt, das heißt objektiv sein – ergibt sich daher die schon aus der Deduktion A bekannte Bedingung der Objektivität der Kategorien selbst: „[D]ie Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt sind zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung.“535 Waren es aber in der Deduktion A noch „die Bedingungen a priori einer möglichen Erfahrung“536 , das heißt die im Subjekt gründenden Voraussetzungen seiner Beziehung auf Gegenstände beliebiger möglicher Erfahrung, so sind es hier ‚die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt‘, das heißt noch die Möglichkeit von Erfahrung schlechthin wird explizit im Subjekt verankert. Allein das Fehlen des bestimmten Artikels – die Erfahrungsbedingungen sind Bedingungen, aber nicht ‚die‘ Bedingungen der Gegenstände – markiert hier noch die Differenz des Subjekts zu seinen Objekten.537 Objektivität wird möglich allein als Wendung der transzendentalen Einheit der Apperzeption zur Grundbestimmung der Gegenstände der Erkenntnis. Diese objektive Wendung538 vermitteln die Grundsätze, „nach welchen alles (was uns nur als Gegenstand vorkommen kann) notwendig unter Regeln steht, weil, ohne solche, den Erscheinungen niemals Erkenntnis eines ihnen korrespondierenden Gegenstandes zukommen könnte“539 . Diese universale Regelung der Erfahrung durch Grundsätze des reinen Verstandes verleiht letztlich auch den Naturgesetzen ihre gesetzmäßige Geltung im Bereich der Erfahrung. Die Einteilung der Grundsätze, als Anwendungsfunktionen der Kategorien, entspricht deren Einteilung: Der Kategorie Quantität werden die Axiome der Anschauung (1) zugeordnet, der Qualität die Antizipationen der Wahrnehmung (2), der Relation die Analogien der Erfahrung (3) und der Modalität die Postulate des empirischen Denkens überhaupt (4). Die entscheidende Differenz ist die zwischen mathematischen und dynamischen Grundsätzen. Mit ihr folgt Kant der Unterscheidung der Kategorien,540 die sich darauf gründete, daß Quantität und Qualität ‚keine Korrelate‘ haben, Relation und Modalität aber schon, das heißt jene sind durch einen einzelnen Begriff bezeichnet, 534

535 536 537 538 539 540

Jürgen Habermas wirft Dieter Henrich vor, daß das „Surplus an Gewißheit“, das dieser der denkenden Reflexion vor der Naturforschung einräumt, „nicht wiederum mit Berufung auf evident Gewisses begründet werden“ könne (Nachmetaphysisches Denken, a.a.O., 276), sondern allenfalls transzendentalpragmatisch. Der einfache Gedanke, daß Denken, auch sprachlich sich darstellendes, nicht subsistiert, weist einen anderen Weg. KrV, B 197. KrV, A 111; meine Hervorhebung Diese Differenz ist selten bemerkt worden; vgl. aber z. B. Josef Simon, Kant, a.a.O., 114. Vgl. KrV, B 138. KrV, B 198. Vgl. KrV, B 110.

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diese durch das Verhältnis zweier Begriffe. Diese Besonderheit wird von Kant zunächst nicht erklärt, sondern bloß angemerkt: „Dieser Unterschied muß doch einen Grund in der Natur des Verstandes haben.“541 Jetzt, im Zusammenhang der Grundsätze, tritt dieser Grund hervor aus der sinnlichen Beschränkung des Verstandes, das heißt im Zusammenhang von dessen Anwendung der Kategorien auf Anschauungen. Die mathematischen Kategorien bestimmen nämlich nur die Anschauung hinsichtlich ihrer Form – Größe und Gestalt –, die dynamischen aber auch hinsichtlich ihres Daseins – Wirksamkeit, Notwendigkeit etc. Die mathematischen Kategorien und Grundsätze bestimmen die formalen Bedingungen der Möglichkeit von Anschauung überhaupt, die dynamischen dagegen nur die Bedingungen der Möglichkeit von Anschauung in einer empirischen Erfahrung. Jene sind daher notwendig, diese zufällig; jene sind konstitutiv für die Erkenntnis und die Anschauung, weil unter ihrer Bedingung allein Anschauung möglich ist, indem sie die Gestalt der Anschauung hervorbringen, diese aber sind zwar konstitutiv für die Erkenntnis, weil sie für die Apprehension gegebener Anschauungen notwendig gelten, aber sie sind bloß regulativ für die Anschauung selbst, weil sie nicht das Dasein der Anschauung hervorbringen. (1) Die Möglichkeit der Anwendung der Kategorie Quantität auf Anschauungen beruht auf dem Grundsatz, daß alle Anschauungen extensive Größen sind,542 weil ihre Apprehension sukzessive in den Formen Raum und Zeit erfolgt, die jedem bestimmten Raum und jeder bestimmten Zeit vorhergehen. Dieser sukzessiven Assoziation von gleichartigen Teilen zu einem Ganzen entspricht der Begriff extensiver Größe. Die synthetischen Sätze a priori, die die Geometrie an den reinen Anschauungen entwickelt, gelten daher auch für alle empirischen Anschauungen. Dieser Grundsatz – isoliert genommen – stößt auf Schwierigkeiten bei den bestimmten Quanta. Im Unterschied zu geometrischen Sätzen, die allgemeine Konstruktionsregeln in der reinen Anschauung darstellen, sind arithmetische Ausdrücke der Art 7 + 5 = 12 singulär, ja jede Zahl ist durch eine singuläre Synthesis bestimmt, die keine allgemeine Regel darstellt; dennoch soll „der Gebrauch dieser Zahlen nachher allgemein“543 sein. Darin macht sich die Aporie der Zahl geltend, nicht anschaulich, aber ohne vorhergehende Anschauungen undenkbar zu sein. Dahinter verbirgt sich aber auch das Problem von Kontinuität und Diskretion der Quanta, ihre Eigenschaft, zugleich extensive und intensive Größen zu sein.544 – (2) Diese Bestimmung wird nun zum Gegenstand des Grundsatzes der Anwendung der Kategorie Qualität auf Anschauungen: „In aller Erscheinung hat das Reale, was ein Gegenstand der Empfindung ist, intensive Größe, d. i. einen Grad.“545 Kant bestimmt die Materie der Empfindung als intensive Größe, deren Quantum also nicht sukzessive, sondern im Nu erfaßt wird. Kontinuität kommt dann den extensiven Anschauungen selbst zu, insofern sie je eine Anschauung darstellen, den intensiven Wahrnehmungen aber in 541

542 543 544 545

KrV, B 110. Vgl. auch Prolegomena, IV § 39 Anm., wo Kant den Unterschied näher erläutert, zugleich aber als eine von ‚allerlei artigen Anmerkungen‘ bezeichnet. Vgl. KrV, B 202f. KrV, B 205. Vgl. G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik. Lehre vom Sein, a.a.O., 189f. KrV, B 207.

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jedem Fall, weil die Wahrnehmung Anschauungen synthesiert zur Vorstellung eines Objekts, dessen Einheit in der Vorstellung etwas in der Apprehension korrespondieren soll. Schließlich trifft das auch auf den Begriff des Quantum, die Zahl, zu: „Da nun bei aller Zahl doch Einheit zum Grunde liegen muß, so ist die Erscheinung als Einheit ein Quantum, und als solches jeder Zeit ein Kontinuum.“546 Kant differenziert beide Momente, weil die intensive Größe – wäre sie mit Extension versehen – den Begriff der Realität der Erscheinung an deren räumliche und zeitliche Dimension knüpfen würde; diese aber sollen nur formale Bedingung der Möglichkeit von Anschauungen sein, als deren Axiome. In der Empfindung ist etwas vorausgesetzt, das Kant die Materie der Erscheinung nennt und das aller Subjektivität vorausgesetzt sein soll; daher ist es prinzipiell nicht bestimmbar, denn alle Bestimmung erfordert die Beziehung aufs Subjekt. Ihre Verknüpfung mit dem Grundsatz der Anschauung wäre daher unzulässig. Seine negative Bestimmung als notwendiges Korrelat der Empfindung führt nun aber zurück auf das Problem, das Kant nötigte, die erste Kategorie der Qualität nicht dem ihr entsprechenden Urteil gemäß Affirmation zu nennen, sondern Realität:547 Soll die Bestimmung des erkennenden Bewußtseins seiner selbst a priori erfolgen, so muß die fürs Selbstbewußtsein nötige Differenz des Subjekts zum Objekt im Subjekt selbst – und zwar als dessen Objektivierung seiner selbst – gesetzt werden. Die reinen Verstandesbegriffe können daher nicht bloß logische Urteilsfunktionen sein, sondern sie müssen in sich die Beziehung auf Realität enthalten. Was das Subjekt nicht ist, wird zum immanenten Konstituens seiner Einheit. Diese innere Verwiesenheit auf Realität holt das Subjekt nun ein: „Erscheinungen, als Gegenstände der Wahrnehmung, sind nicht reine (bloß formale) Anschauungen, wie Raum und Zeit (denn die können an sich gar nicht wahrgenommen werden). Sie enthalten also über die Anschauung noch die Materien zu irgend einem Objekte überhaupt (wodurch etwas Existierendes im Raume oder der Zeit vorgestellt wird), d. i. das Reale der Empfindung als bloß subjektive Vorstellung, von der man sich nur bewußt werden kann, daß das Subjekt affiziert sei, und die man auf ein Objekt überhaupt bezieht, in sich.“548 Diese Materie ist das Korrelat des Bewußtseins der Affektion, des Selbstbewußtseins des reinen Bewußtseins als eines empirischen Bewußtseins. Es schließt aus der Erfahrung auf einen Gegenstand der Erfahrung, der als ‚Objekt überhaupt‘ nicht vom transzendentalen Objekt = X unterschieden ist, das seinerseits vom transzendentalen Subjekt – dem X, das in mir denkt – nicht zu unterscheiden war. Als Voraussetzung dieser Selbstunterscheidung der Identität des Subjekts, als Bedingung dafür, daß dieser absolute Unterschied im Subjekt dieses nicht zur Implosion bringt, führt Kant hier die ‚Materie des Objekts überhaupt‘ an. Nun ist das ‚Objekt überhaupt‘ kein Objekt, sondern der Begriff, den das Subjekt sich von Objektivität macht. Dessen Materie gilt es zu bestimmen, nicht als bestimmte Objektivität, sondern als Objektivität überhaupt. Deshalb kann dem ‚Objekt überhaupt‘ keine extensionale Bestimmung in Raum und 546

547 548

KrV, B 212. Vgl. Aristoteles, Metaphysik, a.a.O., 1052a ff.: Aus der Dialektik von Einheit und Vielheit gewinnt Aristoteles die Unterscheidung, daß die Zahl 5 sowohl das sei, was sie einmal sei, nämlich 5, als auch das, was sie fünfmal sei, nämlich 1. Zum Problem vgl. Peter Bulthaup, Affirmation und Realität, a.a.O. KrV, B 207f.

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Zeit zukommen, wohl aber eine intensive Größe, die der Intensität des Eindrucks auf die Sinne entspricht. So soll es möglich sein, daß das Subjekt nicht bloß die Form von Erscheinungen durch die Anschauungsformen antizipiert, sondern auch die Erscheinung als solche – ihre Realität eben – so daß die Bedingung der Möglichkeit von Wahrnehmung nicht von den Zufälligkeiten äußerer Gegebenheiten abhängt, sondern a priori im Subjekt selbst gesetzt ist, und zwar als etwas, „was sich an jeder Empfindung, als Empfindung überhaupt, (ohne daß eine besondere gegeben sein mag,) a priori erkennen läßt“549 . So soll es gelingen, „der Erfahrung in demjenigen vorzugreifen, was gerade die Materie derselben angeht, die man nur aus ihr schöpfen kann“550 . Soll Erfahrung a priori möglich sein, so muß das, was das Subjekt in ihr sich erst aneignet, grundsätzlich in ihm schon präformiert sein. Die Intensität der Erscheinung ist der Grad, in dem eine extensionale Größe auf die Empfindung wirkt, sie ist also in Abhängigkeit vom Empfindungsvermögen, als dessen Voraussetzung erschlossen oder antizipiert. Dieser Grad bezeichnet die Realität, der vollständige Mangel an Empfindung in einem Augenblick ist Negation. Zwischen dem Nichtsein und der Empfindung findet ein graduelles, kontinuierliches Anwachsen, respektive Abebben der Intensität statt, es ist kein punktueller, diskreter Übergang zum Nichts denkbar, auch Raum und Zeit sind schließlich Kontinua, deren kein kleinster Teil vorstellbar ist. Die Antizipation der Wahrnehmung kann sich nicht auf eine bestimmte Qualität der Erscheinung beziehen, sondern nur darauf, daß sie eine habe. Qualität wird damit eher reduziert auf Realität, bloßes Sachesein überhaupt, und dieses noch auf eine graduelle Quantität, die der Intensität der Empfindung korrespondiert. Diese ist zwar als augenblickliches Phänomen nicht durch die Sukzession der Zeit bestimmt, ihr Begriff als Grad aber schon, denn der Grad kann nur als kontinuierliches Anwachsen der Intensität „in einer gewissen Zeit“551 vorgestellt werden. So wird die Antizipation der Wahrnehmung ebenfalls der Form des inneren Sinns gemäß bestimmt. Damit ist aber keine Selbständigkeit des Materials der Empfindung gegeben. Nur indem seine graduelle Bestimmung nötigt, das kontinuierliche Abebben der Intensität anzunehmen, eröffnet sich ein Bereich, in dem das Objekt nicht mehr empfunden wird, aber auch noch nicht in Nichts übergegangen ist, da dieser Übergangspunkt gar nicht bezeichnet werden kann. Das – wie schon Zenon von Elea wußte – prinzipiell aporetische Verhältnis von Kontinuität und Diskretion wird zum transzendentalen Ort der Selbständigkeit der Realität. – (3) Die Anwendung der Kategorien der Relation auf Anschauungen gelingt nach Kant durch „Analogien der Erfahrung“; deren Prinzip ist: „Erfahrung ist nur durch die Vorstellung einer notwendigen Verknüpfung der Wahrnehmung möglich.“552 Erfahrungserkenntnis soll den Wahrnehmungen eine Vorstellung eines Objekts der Wahrnehmung zuordnen. Dafür ist eine Koordination der einzelnen Wahrnehmungen erforderlich, die nicht aus diesen selbst begründet sein kann, sondern eine Synthesis 549 550 551 552

KrV, KrV, KrV, KrV,

B B B B

209. 209. 208. 218.

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voraussetzt, die ihren Grund in der Einheit des Subjekts hat, die durch Begriffe a priori das Verhältnis der Wahrnehmungen a priori, und damit notwendig, bestimmt. Diese Ordnung der Wahrnehmungen zueinander muß unter Zeitbestimmungen erfolgen, weil sie vom Bewußtsein in der Zeit verknüpft werden, entweder (a) nach der Kategorie Substanz als durch die Zeit hindurch beharrlich oder (b) nach der Kategorie Kausalität als aufeinander folgend oder (c) nach der Kategorie Wechselwirkung als zugleich. Daraus ergeben sich die drei Analogien, denen insgesamt zugrunde liegt, „daß alle empirischen Zeitbestimmungen unter Regeln der allgemeinen Zeitbestimmung stehen müssen“553 . Mit der Verknüpfung der Anschauungen zu Erfahrungen ist also nicht mehr die formale Bedingung der Synthesis der Anschauung thematisch, also die Konstitution der Anschauungen in Raum und Zeit, sondern das Verhältnis der Anschauungen selbst zur Zeit, das Kant ihr ‚Dasein‘ nennt.554 Das Dasein der Gegenstände von Anschauungen wäre nun nicht allein deren bloßes Sein, sondern ein Sein, das sich also vom Sein anderer Gegenstände unterschiede.555 Dieses Problem folgt den dynamischen Kategorien deshalb, weil sie ‚ein Korrelat haben‘, das heißt weil sie Relationen von Erscheinungen bestimmen. Was in einer Relation steht, ist als relatum durch Negation – Unterscheidung zum anderen relatum – bestimmt, und insofern wären die Objekte beider relata nicht einerlei = X, sondern vereinzelt. Diese Differenz ist aber a priori nicht zu begründen, weil sie die allgemein notwendige Bestimmung des Verstandes zu Gegenständen der Erfahrung überhaupt in sich differenzierte und so das Allgemeine auf Partikulares herabbrächte. Nun bestimmt die Kategorie Relation die Zeitverhältnisse der Erscheinungen bloß untereinander, durch die Kategorie Modalität aber werden sie auf das Subjekt bezogen und in Relation zu dessen Zeitvorstellungen bestimmt als zu einer Zeit oder zu aller Zeit oder zu keiner, beziehungsweise zu keiner bestimmten Zeit gegeben. Durch die Reduktion auf Zeitverhältnisse bleiben die Erscheinungen zwar Funktionen ihrer Vorstellung im Subjekt, die Einheit dieser Vorstellung jedoch wäre durchbrochen, wenn die Kategorien durch die Relationen der Erscheinungen konstitutiv für das Dasein der Objekte der Erscheinungen wären. Sie sind daher nur konstitutiv für die Relationen, nicht jedoch für die relata, die einzelnen Anschauungen. Deren Dasein selbst bleibt verborgen, ist jedenfalls weder in der Zeit noch im Raum gegeben. Könnte auch dies a priori erkannt werden, so wäre nicht allein durchs Subjekt bestimmt, wie und als was ihm etwas gegeben ist, sondern auch, daß es überhaupt gegeben ist, das heißt das Dasein würde selbst durch bloße Begriffe hervorgebracht. Weil Kant auf der Differenz von Subjekt und Objekt aber beharren will, erklärt er, das Besondere des Daseins könne nicht antizipiert werden. Die Grundsätze der Kategorien der Relation und der Modalität seien deshalb 553 554

555

KrV, B 220. Darunter versteht er ebensowenig wie später Hegel „etymologisch genommen: Seyn an einem gewissen Orte“, denn: „die Raumvorstellung gehört nicht hierher“ (G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik. Lehre vom Sein, a.a.O., 97). Nach Kant ist Raum nur die Form körperlicher Anschauungen, die nach Qualität und Quantität als Anschauungen zwar bestimmt sind, hinsichtlich ihres Objekts aber nur auf ein transzendentales Objekt = X verweisen. Hegel nennt dies ein „bestimmtes Seyn“ (G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik. Lehre vom Sein, a.a.O., 96), ein Sein, das mit einer Negation versehen wäre.

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regulativ für die Objekte, das heißt sie geben Regeln für ihre formale Verknüpfung an – für ihre Verknüpfung als Objekte überhaupt –, nicht aber für sie als bestimmte Objekte. Als bestimmbar gelten immer nur die Relationen, nicht aber die relata. So sind diese Grundsätze regulativ für die Anschauung, aber immerhin konstitutiv für die Erfahrung, weil sie die Bedingungen der Möglichkeit a priori von Begriffen sind.556 Wenngleich auch die mathematischen Grundsätze nur für Gegenstände überhaupt darstellbar waren, so waren es doch Gegenstände möglicher Erfahrung, die durch die Grundsätze konstituiert wurden. Hier sind es nun die Relationen der Gegenstände möglicher Erfahrung, deren Ordnung geregelt wird. Sie müssen so einerseits a priori als relationes in se subsistentes gedacht werden, ohne doch – wie diese in der theologischen Tradition es vermochten – ihre relata schließlich mit Notwendigkeit aus sich selbst hervorzutreiben, um nicht in der Immanenz zu bleiben. Kant muß die Relationen deshalb durchaus an Gegenstände möglicher Erfahrung knüpfen, aber nur deren bloßer Gegenständlichkeit gemäß, als Gegenstände = X. Die Bestimmtheit der Gegenstände, die erst ihre kategoriale Verknüpfung erlaubte, muß so als Resultat der Analogie verstanden werden, so daß schließlich auch hier die reine Relation ihre relata produziert, mit der einen Einschränkung, daß sie dem nackten Dasein nach schon vorausgesetzt waren und so der Verstand mittels der Relation nicht das Dasein, wohl aber das bestimmte Dasein durch Analogie zu seiner eigenen Zeitbestimmtheit, dem Schema, hervorbringt. Dadurch gelingt es Kant schließlich, die Totalität des Erfahrungsganzen a priori unter die Kontrolle des Verstandes zu bringen, und zwar nicht bloß kollektiv, indem sowohl alle Gegenstände möglicher Erfahrung a priori bestimmt sind als auch ihre Beziehungen untereinander. Der distributiven Einheit des Erfahrungsgebrauchs, als deren Bedingungen die Bestimmungen des Verstandes a priori erschlossen wurden, ist so nicht bloß eine Vorstellung kollektiver Einheit, sondern eine systematische Einheit des Erfahrungsganzen vorgeordnet. Die Identität des Selbstbewußtseins, die aus der Erkenntnisfunktion des Bewußtseins erschlossen wurde, produziert nun aus sich selbst die Bedingungen der durchgängigen Bestimmtheit der Identität der Welt. Regulativität besagt lediglich eine Einschränkung der Funktion der Relationen hinsichtlich des bloßen Daseins ihrer relata. Dieses nackte Dasein überhaupt ist das einzige, das sich der Bestimmung durchs Subjekt entzieht. Es ist dasjenige, um das dann Hegel auf dem Weg zur absoluten Idee überhaupt noch ringen muß, denn aller ihrer Bestimmtheit nach ist die Objektivität schon Kant zufolge eine Funktion von Subjektivität. (a) Die Erste Analogie – diejenige zur Kategorie Substanz und Akzidenz – bestimmt den „Grundsatz der Beharrlichkeit der Substanz: Bei allem Wechsel der Erscheinungen beharrt die Substanz, und das Quantum derselben wird in der Natur weder vermehrt noch vermindert.“557 Alle Zeitverhältnisse von Erscheinungen, Veränderungen, können nur als solche wahrgenommen werden, wenn die Zeit – als Medium der Veränderung – selbst sich nicht verändert, die Zeitfolge setzt Zeiteinheit voraus. Zeit ist aber kein Gegenstand der Anschauung, sie kann nur durch Analogie wahrgenommen werden, indem in den Gegenständen der Anschauung etwas angenommen wird, das in der Veränderung 556 557

Vgl. KrV, B 692. KrV, B 224.

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der Gegenstände gleichbleibt und an dem diese Veränderung gemessen werden kann. Dieses Gleichbleibende „Substrat alles Realen“ nennt Kant „die Substanz an welcher alles, was zum Dasein gehört, nur als Bestimmung kann gedacht werden“558 . Die Kategorie Substanz ist überhaupt selbst eine Kategorie der Relation, weil sie Bedingung der Möglichkeit aller Relationalität ist.559 Indem Kant die Substanz zur formalen Bedingung ihrer Akzidentien macht, ist sie vom Substrat – für Aristoteles als hypokeimenon im Unterschied zur ousia der materielle Träger der Substanz – tatsächlich nicht mehr zu unterscheiden. So identifiziert Kant auch explizit Substanz und „Materie“560 . Indem aber mehr noch die Vorstellung von Substanz zur formalen „Bedingung der Möglichkeit aller synthetischen Einheit der Wahrnehmung“561 der Akzidentien wird, zum bloßen Maßstab des Variablen, ist ihre Identität bloßer negativer Ausdruck der Mannigfaltigkeit, das was traditionell prima materia heißt. Die prima materia – als Reflexionsausdruck der Mannigfaltigkeit verstanden – ist tatsächlich nichts Anderes als eine Analogie der subjektiven Bedingungen der Erfahrung und, sofern sie auf das Wechselnde in ihr bezogen ist, eben eine Analogie der durch die Einbildungskraft präformierten Zeit als Einheit in der bloßen Mannigfaltigkeit. Aristoteles hatte diesem Materiebegriff die Substantialität abgesprochen, weil Substanz die Kategorie des Bestimmten, des ersten logischen und ontologischen Subjekts aller Prädikation, bloße Materie dagegen ganz unbestimmt sei.562 Da Kant im Kategorienbegriff nicht logische und ontologische Bestimmungen – ‚etwas von etwas aussagen‘ und ‚etwas oder an etwas sein‘ – verschränkt, sondern in ihnen formale Bedingungen der Erfahrung a priori sieht, ist es gerade diese Unbestimmtheit und Identität absoluter Bestimmbarkeit, die zur Funktion der Beharrlichkeit in der Zeit paßt. Sofern aber in der transzendentalen Bestimmung der Möglichkeit von Beharrlichkeit Substanz und Substrat nicht differieren, wird „der Satz, daß die Substanz beharrlich sei, tautologisch“563 ; so kann nur transzendentallogisch von Gegenständen möglicher Erfahrung, nicht aber von wirklichen, bestimmten Erfahrungsgegenständen die Rede sein. Dafür nennt Kant einen guten Grund: Das dafür notwendige synthetische Urteil a priori, „daß in allen Erscheinungen etwas Beharrliches sei, an welchem das Wandelbare nichts als Bestimmung seines Dasein ist“564 , kann nicht aus Begriffen begründet werden. Die Kritik am naiven Realismus der Metaphysik ist begründet, weil deren Substanzen außerhalb der Erfahrung durch ein Subjekt nicht anders vorzuweisen sind, denn als Reflexionsbegriffe. Kant macht Ernst und entzieht seinen Substanzbegriff von vornherein dem Zugriff wirklicher Erfahrung; er ordnet bloß regulativ die Gegenstände der Anschauung, ist Bedingung aber nicht Gegenstand von Erfahrung. Allerdings ist die sachhaltige Bestimmung der Mannigfaltigkeit der Gegenstände der Erfahrung mithilfe des Substanzbegriffs dann unmöglich, – im Gegenteil ist nur ein umfassendes Substrat der Totalität noch vorstellbar, 558 559 560 561 562 563 564

KrV, B 225. Vgl. KrV, B 230. KrV, B 230. KrV, B 226. Vgl., Aristoteles, Metaphysik, a.a.O., 1029a. KrV, B 227. KrV, B 227.

452

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weil die Substanz, als Substrat der Beharrlichkeit in aller Zeitvorstellung, selbst nicht entstanden sein kann und nicht als vergänglich denkbar ist.565 Alles bestimmte Sein ist dann eine akzidentelle Bestimmung an der Substantialität des Erfahrungsganzen. Die Realität, als qualitativ bestimmtes Dasein, wird dadurch zur bloßen Relation von Akzidenz und Substanz, noch die Differenz von Inhärenz und Subsistenz erscheint Kant als zu inhaltsreich;566 das Dasein darf nicht als Daseiendes durch Relation bestimmt sein, sondern es kann nur in dieser Relation selbst, der Möglichkeit nach, beruhen. Dialektisch wendet Kant den Begriff der Veränderung gegen die Substanz selbst. Wenn sie das Beharrliche sei, an dem die Zustände wechseln, so heiße dies für die Zustände, daß sie wohl selbst entweder seien oder nicht seien, aber doch nicht, daß sie selbst verändert würden. So sei ihr Wechsel des Seins oder Nichtseins die Veränderung der Substanz; dadurch wird die absolute Mannigfaltigkeit vollends in den Substanzbegriff transferiert. Die Substanz selbst muß ewig sein, weil sonst die paradoxe Annahme einer leeren Zeit vor oder nach ihrer Existenz folgte. Sollten unterschiedene Substanzen teils vergehen, teils entstehen, so würden unterschiedene Zeiten nebeneinander verlaufen, da die Erfahrung von Zeit eben an die Analogie der Beharrlichkeit der Substanz geknüpft sei. Um der Einheit der Erfahrung willen, in der Unterschiedenes in Relation gesetzt werden kann, muß Kant die Unterschiede im Substanzbegriff auf die formale Möglichkeit bloßer Verschiedenheit reduzieren. Die subjektive Möglichkeit der Erkenntnis mannigfaltiger Gegenstände fordert einen Begriff der Gegenstände, dessen objektive Realität entweder aufgehoben ist oder gerade darin besteht, als Möglichkeit von Relationalität die Relationen und durch sie die bestimmte Totalität der Objekte hervorzubringen. (b) Die Zweite Analogie formuliert den „Grundsatz der Zeitfolge nach dem Gesetze der Kausalität: Alle Veränderungen geschehen nach dem Gesetze der Verknüpfung der Ursache und Wirkung“567 . Grundlegend bleibt der Begriff der Veränderung aus der Ersten Analogie, demgemäß kein substantielles Entstehen und Vergehen stattfinde, darauf weist Kant in einer ausführlichen Erinnerung explizit hin. Die Wahrnehmung einer Folge von Erscheinungen als Folge ist nach Kant bereits eine synthetische Leistung der Einbildungskraft, weil schon die zeitliche Abfolge zweier Zustände nicht Gegenstand der Anschauung sei, sondern die Zustände A und B in der Einbildungskraft sowohl in der Folge AB als auch in der Folge BA reproduziert werden können. Das heißt, die Zeitfolge der Erscheinungen kann nicht am Objekt abgelesen werden, der objektive Zustand überhaupt bleibt danach in der Wahrnehmung unbestimmt. Damit die Zeitfolge aber nicht dem Zufall der subjektiven Verknüpfung ausgeliefert sei, sondern einen objektiven Grund aufweise, muß es möglich sein, eine bestimmte Abfolge als notwendig zu denken. Diese Notwendigkeit kann in die Erfahrung nur a priori eingehen, aus einem reinen Verstandesbegriff; dafür kommt hier, der Form des Problems gemäß, das Verhältnis von Ursache und Wirkung in Frage. Nur durch die durchgängige Anwendung der Kategorie Kausalität auf die Erfahrung sei ein Chaos in der Einbildungskraft zu vermeiden, nur so seien Erscheinungen überhaupt in geordneter Weise unter der Bedingung des inneren Sinns vorstellbar. Weil die 565 566 567

Vgl. KrV, B 228f. Vgl. KrV, B 230. KrV, B 232.

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zeitliche Relation von Erscheinungen uns nicht in der Anschauung gegeben ist, wird die Objektivität von Prozessen allein durch die subjektive Kategorie der Kausalität begründet. Auch hier wendet Kant die Einsicht, daß Relationen nicht Gegenstände der Anschauung, sondern solche der Synthesis in der Einbildungskraft sind, in eine konstitutive Bestimmung der Objektivität von Relationen. Nicht die zeitliche Abfolge von Gegenständen oder deren Zuständen ist danach eine Bedingung von deren Kausalität, sondern der Begriff der Kausalität ist Bedingung der Vorstellung von Zeitfolge und konstituiert so die relationale Ordnung der Gegenstände der Erfahrung und damit – mittelbar – diese selbst, so sehr Kant auch auf der Notwendigkeit wirklicher Erfahrung beharrt: „Wie nun überhaupt etwas verändert werden könne; wie es möglich sei, daß auf einen Zustand in einem Zeitpunkte ein entgegengesetzter im andern folgen könne, davon haben wir a priori nicht den mindesten Begriff. Hierzu wird die Kenntnis wirklicher Kräfte erfordert, welche nur empirisch gegeben werden kann, z. B. der bewegenden Kräfte oder, welches einerlei ist, gewisser sukzessiven Erscheinungen (als Bewegungen), welche solche Kräfte anzeigen.“568 Der physikalische Begriff der Kraft wird hier von seiner Repräsentation in den Meßergebnissen – aus denen Kräfte, die selbst keine Gegenstände möglicher Erfahrung sind, nur erschlossen werden können – nicht unterschieden.569 Bemerkenswerterweise führt Kant als Beispiele lauter solche Kausalverhältnisse an, die durch Menschen bewirkt werden; damit trifft er – gemäß dem an Vico angelehnten Prinzip: „Wir verstehen aber […] nichts recht als das was wir zugleich machen können wenn uns der Stoff dazu gegeben würde“570 – die experimentelle Naturwissenschaft, in der die Versuchsverläufe und mit ihnen die Ergebnisse durch den Experimentator antizipiert werden. Die wissenschaftliche Bestimmung von Natur ist dann aber Bestimmung isolierter Naturzusammenhänge und nicht einer Natur, wie sie unabhängig vom Menschen vorauszusetzen wäre. Der Grund der Möglichkeit des Mißlingens von Experimenten wäre danach aber bloße Unfähigkeit des Experimentators, nicht ein Widerstand in der Sache selbst. Der Experimentator, umgekehrt, wird zur Funktion der Objektivität des Experiments: „Die Kausalität führt auf den Begriff der Handlung, diese auf den Begriff der Kraft, und dadurch auf den Begriff der Substanz.“571 Kant bezeichnet hier die Wirksamkeit der Ursache als Handlung eines Subjekts der Ursache. Dieses kann als handelndes nicht eine Erscheinung A sein, auf die in der Zeit eine andere B folgt; es muß vielmehr das Subjekt sein, das in seiner Empirie die Relation von A und B a priori konstituiert. Die Verknüpfung von subjektiver Konstitution der Form des Prozesses und objektivem Prozeßverlauf 568 569

570

571

KrV, B 252. Vgl. zur Bedeutung dieses Problems für gesetzmäßige Naturerkenntnis: Andreas Hüttemann, Naturgesetze, in: Andreas Bartels/Manfred Stöckler (Hgg.), Wissenschaftstheorie. Ein Studienbuch, Paderborn 2007, 142. So in einer Anmerkung in der Rostocker Handschrift der Anthropologie, in: Immanuel Kant, Werkausgabe, hg. v. Wilhelm Weischedel a.a.O., Bd. 12, 426 FN. Vgl. Giovanni Battista Vico, Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker, Hamburg 1990, 142 und Manfred Baum, Erkennen und Machen in Kants Kritik der reinen Vernunft, a.a.O., sowie Karen Gloy, Kants Philosophie und das Experiment, in: Gerhard Schönrich/Yasushi Kato (Hgg.), Kant in der Diskussion der Moderne, Frankfurt am Main 1996. KrV, B 249.

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im Begriff der Handlung, deren kontinuierliche Wirkungsentfaltung Kant erneut auf die Einheit der Apperzeption zurückführt,572 bestärkt die Ununterscheidbarkeit von Subjekt und Objekt. Das Subjekt objektiviert sich in der Antizipation der Kausalität und bleibt als empirisches bloß noch als Quelle der Fehler zurück. Nur in diesen Fehlern, Zufälligkeiten, erschiene theoretisch noch die Differenz der von Kant geforderten wirklichen Erfahrung zu deren allgemeiner Form, die zur wirklichen Erfahrung dadurch wird, daß ein Subjekt eine Erscheinung als reproduzierbares Objekt ansieht: „Daß also etwas geschieht, ist eine Wahrnehmung, die zu einer möglichen Erfahrung gehört, die dadurch wirklich wird, wenn ich die Erscheinung ihrer Stelle nach in der Zeit als bestimmt, mithin als ein Objekt ansehe, welches nach einer Regel im Zusammenhange der Wahrnehmungen jederzeit gefunden werden kann.“573 Wirkliche Erfahrung resultiert aus der Spontaneität des Subjekts, die gleichwohl durch die Erscheinung beschränkt sein soll: „Diese Regel aber, etwas der Zeitfolge nach zu bestimmen, ist: daß in dem, was vorhergeht, die Bedingung anzutreffen sei, unter welcher die Begebenheit jederzeit (d. i. notwendiger Weise) folgt.“574 Deutlicher noch heißt es: „[D]ie Erscheinungen müssen einander ihre Stellen in der Zeit selbst bestimmen und dieselbe in der Zeitordnung notwendig machen“575 . Solch eine Bestimmung der Objektrelationen aus den Objekten selbst, zusätzlich zur transzendentalen Bestimmung ihrer Form, ist erforderlich, weil ununterscheidbare transzendentale Gegenstände – jeder = X – in keine Ordnung zu bringen sind. So setzt sich die Konstitution der Relation auch als Desiderat an die relata in diese hinein fort und führt auf den Satz vom zureichenden Grund als Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung. Die Totalität der Gegenstände der Erfahrung ist kausal geordnet, es gibt kein bloßes post hoc, das objektiv wäre: Nichts geschieht, dessen Bedingungen nicht vorher in der Zeit gegeben wären.576 Das läßt sich umgekehrt so deuten: „Wenn alle Bedingungen einer Sache vorhanden sind, so tritt sie in die Existenz.“577 Soll der Empirismus vermieden werden, so kann kein Gegenstand möglicher Erfahrung außerhalb der als durchgängig vorgestellten Kausalordnung liegen; als Grund von deren Objektivität kann nur der Verstand fungieren. Das Verhältnis von Subjekt und Objekt verwickelt sich zunehmend in Aporien: „[I]ch erkenne einen Gegenstand, den ich in der Zeit auf eine bestimmte Stelle setzen muß, die ihm, nach dem vorherigen Zustand nicht anders zukommen kann“578 . Woher weiß das erkennende Subjekt dies? Die Kategorie Kausalität bestimmt nur die formale Möglichkeit von Zeitfolge, aber keine bestimmte Zeitfolge. Die Erkenntnis der Gegenstände als sich in ihren Bestimmungen wechselseitig bedingende ist vorausgesetzt für die Zuordnung in der Zeit. Die Zuordnung in der Zeit bestimmt aber erst die Relation und damit die wechselseitige Bestimmung der Gegenstände. 572 573 574 575 576 577 578

Vgl. KrV, B 256. KrV, B 245. KrV, B 245f. KrV, B 245. Vgl. KrV, B 246f. G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik. Lehre vom Wesen, a.a.O., 321. KrV, B 243.

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Der Begriff der Kausalität als bloßer Zeitfunktion ist die allgemeine transzendentale Bestimmung der Möglichkeit, Prozesse wahrzunehmen; aber bestimmte Prozesse sind nicht ohne Bestimmung der Momente des jeweiligen Prozesses zu erkennen. Diese sollen nun erst durch die Relation Bestimmtheit erlangen, die Relation ist aber ihrerseits ohne Verhältnis der schon bestimmten relata nicht zu denken. Kant deutet daher ein wechselweises Begründungsverhältnis der transzendentalen Form und der empirischen Erfahrung an.579 Nur ist diese Wechselbeziehung nach Kants Bestimmungen nicht möglich, weil die Trennung der Form möglicher Erfahrung einerseits von der wirklichen Erfahrung andererseits auf einen Widerspruch im Erfahrungsgegenstand selbst führt: Die Gegenstände der Erfahrung sollen in ihrer Zeitrelation durch die Kategorie konstituiert sein,580 diese Relation muß somit die relata – Gegenstände der Erfahrung – a priori aus der Kategorie bestimmen, auch wenn Kant dies nicht explizit formuliert. Sodann sollen die Gegenstände der Erfahrung aber selbst solche Bestimmungen haben, die es erlauben – ja erzwingen –, sie in die richtige Relation zu setzen.581 Der erste Vorgang der Bestimmung aus der Kategorie müßte dann blind sein, unbewußt. Aber dann bezöge er sich nicht auf die Gegenstände der Erfahrung, die als Vorstellungen bewußt sein müssen. Die wechselweise Bestimmung der allgemeinen Form der Kausalität und der relata der durch sie bestimmten Relation geht so immer ganz ins Subjekt zurück. Wenn „die subjektive Folge der Apprehension von der objektiven Folge der Erscheinungen“582 abgeleitet werden soll, gelingt das nur nach einer Regel a priori, durch die „ich meine subjektive Synthesis (der Apprehension) objektiv mache“583 . Die relata, die kausal aufeinander bezogenen Erscheinungen, können nur zur Bestimmung des Kausalverhältnisses herangezogen werden, weil und insofern sie als durch diese Relation bestimmt gedacht werden, sofern sie also unter der Regel a priori stehen; ein zusätzliches Kriterium dafür, ob sie darunter stehen, bieten die Erscheinungen nicht dar, weil ein solches Kriterium – ihre empirische Bestimmung – als selbst unter keiner Regel stehendes bloß subjektiv apprehendiert würde. Ohne einen bestimmten Unterschied der Erscheinungen ist aber ihre Anordnung in der Zeit durch nichts begründet. Ein Begriff von Kausalität, dessen Form allein in der reinen Anschauung gründen soll, bleibt aporetisch und die Art und Weise, wie er durch Erfahrung an Gehalt gewinnen soll, bleibt unerklärlich, weil die Frage: „wie geht diese Vorstellung […] aus sich selbst

579 580 581

582 583

Vgl. KrV, B 241. Vgl. KrV, B 234. Vgl. KrV, B 243. Eklatant wird das Problem, wenn Ursache und Wirkung zugleich aufgefaßt werden: „Wenn ich eine Kugel, die auf einem ausgestopften Kissen liegt und ein Grübchen darin drückt, als Ursache betrachte, so ist sie mit der Wirkung zugleich. Allein ich unterscheide doch beide durch das Zeitverhältnis der dynamischen Verknüpfung beider. Denn wenn ich die Kugel auf das Kissen lege, so folgt auf die vorige glatte Gestalt desselben das Grübchen; hat aber das Kissen (ich weiß nicht woher) ein Grübchen, so folgt darauf nicht eine bleierne Kugel.“ (KrV, B 248f.) Die Gleichzeitigkeit der Auffassung von Ursache und Wirkung setzt eine Bestimmung von Kausalität voraus, die nicht an die Zeitfolge geknüpft ist. KrV, B 238. KrV, B 240.

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heraus“584 die Grundaporie idealistischer Philosophie vorwegnimmt und damit ein unerfüllbares Programm antizipiert. In der Unerklärlichkeit des Verhältnisses von für sich aporetischen Formen a priori und wirklicher Erfahrung scheint die Selbständigkeit der Objekte auf, zu der keine Vorstellung aus sich selbst herausgeht. (c) Die Dritte Analogie bezeichnet den „Grundsatz des Zugleichseins, nach dem Gesetze der Wechselwirkung, oder Gemeinschaft“; er lautet: „Alle Substanzen, sofern sie im Raume als zugleich wahrgenommen werden können, sind in durchgängiger Wechselwirkung.“585 Das Zugleichsein von Erscheinungen kann nicht wahrgenommen werden, weil die Zeit nicht Gegenstand der Anschauung ist und somit nicht zwei Erscheinungen auf eine Zeitanschauung bezogen werden können. Zwei Erscheinungen können nur nacheinander in der Zeit apprehendiert werden, nicht zugleich. Gleichzeitigkeit ist konstruierbar nur als wechselseitige Bewirkung dieser Erscheinungen. Das Kausalverhältnis, das die Zeitfolge begründete, indem A etwas enthielt, das B bedingt und daher diesem vorhergehen mußte, hebt, als reziproke Kausalität, die Zeitfolge auf. Wenn sowohl A für B vorausgesetzt ist als auch in der gleichen Weise B für A, so gibt es kein Kriterium der Ordnung in der Apprehension. Beide können, ja müssen nun als zugleich vorgestellt werden. Damit ist nur durch die Kategorie Wechselwirkung die Wahrnehmung von Gleichzeitigkeit möglich und die Kategorie bestimmt somit die Erscheinung selbst. Bedingung von Gleichzeitigkeit ist es, daß die mannigfaltigen Gegenstände einander nicht bloß gleichgültig beigeordnet, sondern daß sie a priori der durchgängigen Bestimmung durch Kausalität und Wechselwirkung unterworfen sind.586 Alles steht, sofern es bloß da ist, unter kategorialen Bedingungen: „Also ist es allen Substanzen in der Erscheinung, sofern sie zugleich sind, notwendig, in durchgängiger Gemeinschaft der Wechselwirkung untereinander zu stehen.“587 Auch hier gilt, daß dieser Grundsatz zwar bloß für die Relation konstitutiv sein soll, daß er aber zwangsläufig als in die relata sich fortsetzender gedacht werden muß, wenn keine relatio in se subsistens angenommen werden soll. Die Mannigfaltigkeit des Gegebenen wird zur nicht bloß kollektiven sondern systematischen Einheit des Erfahrungsganzen. Mit dem Moment der Isolation wird aber zugleich auch das der Selbständigkeit der Objekte aufgehoben. Ein Kompromiß der Art, daß die Isolation eine teilweise sein könne, die Objekte also eine relative Selbständigkeit haben könnten, ist nach Kants Entwurf nicht möglich, weil das Dasein der Objekte in der Zeit nur soweit Gegenstand von Vorstellungen sein kann, als es kategorial bestimmt ist: Dasjenige, was an den Objekten nicht der Wechselwirkung unterläge, könnte nicht als in der Zeitordnung bestimmt apprehendiert werden und wäre, als Isoliertes, weniger als ein Traum. Kant stellt mit Recht fest, daß „[o]hne Gemeinschaft […] jede Wahrnehmung (der Erscheinungen im Raume) von der anderen abgebrochen“588 wäre, daß selbst unsere eigenen Bewegungen nur wahrnehmbar sind in Relation zu anderen gleichzeitigen Ob584 585 586 587 588

KrV, B 242. KrV, B 256. Vgl. KrV, B 258f. KrV, B 260. KrV, B 260.

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jekten, und die Konstruktion der Gemeinschaft als commercium und nicht communio589 ergibt sich daraus, daß die zufällige Gemeinsamkeit der communio nicht gesetzmäßig denkbar ist und daher das Projekt einer transzendentalen Erkenntnistheorie untergrübe. Mehr noch: Wenn den gemeinsamen Erscheinungen überhaupt eine Substantialität zugesprochen werden könnte, eine objektive Realität, dann nur durch kategoriale Bestimmung ihrer Wechselwirkung. Die Objektivität der Erscheinung ist nur mehr unter der Bedingung ihrer subjektiven Konstitution zu denken: „[D]ie Regel des Verstandes, durch welche allein das Dasein der Erscheinungen synthetische Einheit nach Zeitverhältnissen bekommen kann, bestimmt jeder derselben ihre Stelle in der Zeit, mithin a priori und gültig für alle und jede Zeit.“590 Durch jene dynamische „reale Gemeinschaft (commercium) der Substanzen, ohne welche also das empirische Verhältnis des Zugleichseins nicht in der Erfahrung stattfinden könnte […] [,] machen die Erscheinungen, sofern sie außereinander und doch in Verknüpfung stehen, ein Zusammengesetztes aus (compositum reale)“591 . Dieses Kompositum ist die Vorstellung der Erscheinungen unter der Kategorie Einheit, der „Inbegriff alles Daseins“592 . Die Analogien, nach denen das Dasein der Erscheinungen in der Zeit bestimmt wird, „stellen also eigentlich die Natureinheit aller Erscheinungen“593 dar, und diese Natureinheit, als Inbegriff des Daseins aller Erscheinungen, wird konstituiert durch die Einheit der Apperzeption. Weil diese nur durch gesetzmäßige Synthesis gewahrt werden kann, muß das Material der Synthesis in der Zeitbestimmung, in der es gegeben ist, als gesetzmäßig geordnet vorgestellt werden können. Das Selbstbewußtsein des Subjekts konstituiert so letztlich die kategoriale Bestimmung der Objekte durch die mathematischen Kategorien und die ihrer Ordnung durch die dynamischen, schließlich der Totalität durch die immanente Verknüpfung von Relation und relata. Die Grundsätze des empirischen Verstandesgebrauchs heißen daher nun auch „transzendentale[] Naturgesetze[]“594 . Allerdings handelt es sich bei diesen Gesetzen nicht um „empirische Gesetze der Natur, die jederzeit besondere Wahrnehmungen voraussetzen“, sondern um „reine[], oder allgemeine[] Naturgesetze[] […] und in Ansehung der letzteren ist Natur und mögliche Erfahrung ganz und gar einerlei“595 . Weil Kant diese Verknüpfung nicht als konstitutiv ansehen will, soll später das transzendentale Ideal die selbst vorgeblich nur regulative – aber objektive – Grundlage der systematischen Einheit der mathematischen mit den dynamischen Grundsätzen in einer Totalität darstellen. – (4) Die Postulate des empirischen Denkens überhaupt, durch die nun schließlich die Kategorien der Modalität auf Erfahrung bezogen sind, folgen dem Aufbau der Analogien, insofern (a) das Mögliche bestimmt ist als vereinbar mit den formalen Bedingungen der Erfahrung, das sind die Bedingungen der Anschauung und der Verstandesbegriffe, 589 590 591 592 593 594 595

Vgl. KrV, B 260. KrV, B 262. KrV, B 261f. KrV, B 262. KrV, B 263. KrV, B 263. Prolegomena, IV § 36.

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(b) das Wirkliche ist bestimmt durch den Zusammenhang mit den materialen Bedingungen der Erfahrung, das sind die Empfindungen, (c) das Notwendige schließlich beruht auf dem Zusammenhang mit dem Wirklichen nach allgemeinen Regeln, so daß also das notwendig Wirkliche nicht subjektiv-zufällig, sondern objektiv bestimmt ist, durch Begriffe a priori. Nach Kant sind diese modalen Bestimmungen keine Bestimmungen des Objekts, dem sie beigelegt werden, sondern allein des Verhältnisses der Objekte zum subjektiven Erkennen: Ob ein Gegenstand etwa überhaupt möglich ist, ist keine Bestimmung des Gegenstandes, sondern der Art, in der er zu denken ist. Schon insofern der Verstand hier seine eigene Relation zu den Gegenständen bestimmt, wären diese Bestimmungen Selbstbestimmungen: Schließlich können die Gegenstände in dieser Relation nur fungieren, insofern sie deren relata sind, also selbst in Beziehung auf den Verstand stehen. Genau das Gegenteil aber will Kant, nämlich die Beschränkung aller Kategorien auf den empirischen Gebrauch durch die Grundsätze der Modalität.596 Deshalb bezieht Kant diese Begriffe durchaus auf Dinge, aber eben als Postulate. Er postuliert hier das Dasein der relata, deren Relation er in den Analogien konstituiert hatte. Um die Behauptung einer objektiven Einheit des Erfahrungsganzen zu vermeiden, verteilt er das Dasein der Relation und der relata auf zwei Grundsätze, die Analogien und die Postulate.597 (a) Die Möglichkeit, die Zusammenstimmung des Begriffs von Dingen mit den formalen Bedingungen der Erfahrung verweist auf Synthesis, die nicht bloß begrifflicher Art ist, sondern selbst auf Erfahrung verweist, wenn nicht als empirischer Begriff auf Synthesis in der Erfahrung, so als reiner Begriff, dessen Objekt nur in der Erfahrung gegeben sein kann. Das heißt, die bloße logische Widerspruchsfreiheit reiner Begriffe, wie in der Geometrie, reicht nicht aus, um die objektive Realität dieses Begriffs zu bestimmen, es könnte sich auch um ein ens rationis, ein reines Gedankending, handeln. Nur durch die zusätzliche Bedingung der Form der Anschauung und der Konstruktion des Gegenstands unter dieser Form sagt etwas über seine Möglichkeit oder Unmöglichkeit aus: Daß sich aus zwei Linien keine Figur konstruieren läßt, wird nur unter der zusätzlichen Bedingung des euklidischen Raums erkennbar, nicht aus den Begriffen ‚Linie‘, ‚Zwei‘ und ‚Schnittpunkt‘. Wäre das anders, so könnten Begriffe, denen keine Erfahrung korrespondieren kann, nicht gedacht werden, die Vorstellung von Einhörnern mit Bernsteinhufen wäre ebenso wenig denkbar wie die von Engeln, den geschaffenen unkörperlichen Substanzen, die – obwohl ihr keine Erfahrung korrespondieren kann – die Erkenntnistheorie über lange Zeit mitbestimmt hat. Auch die Begriffe der Substanz, der Kausalität und der Wechselwirkung sind widerspruchsfrei zu denken, ohne daß dies etwas über die Möglichkeit ihnen korrespondierender Gegenstände aussagte. Allein ihre Beziehung wenigstens auf mögliche Erfahrung, die Einsicht, daß ohne die objektive

596 597

Vgl. KrV, B 267. Vgl. KrV, B 272: „Das Postulat, die Wirklichkeit der Dinge zu erkennen, fordert Wahrnehmung, mithin Empfindung, deren man sich bewußt ist; zwar nicht eben unmittelbar von dem Gegenstande selbst, dessen Dasein erkannt werden soll, aber doch Zusammenhang desselben mit irgend einer wirklichen Wahrnehmung nach den Analogien der Erfahrung, welche alle reale Verknüpfung in einer Erfahrung überhaupt darlegen.“

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Realität dieser Begriffe keine Erfahrung möglich wäre, veranlaßt den Schluß, daß diese Objektivität möglich sein muß, wenn Erfahrung denn wirklich ist. Zwar reicht die Widerspruchsfreiheit von Begriffen nicht aus, um etwas über deren objektive Realität zu ermitteln, aber doch ist die Möglichkeit von Gegenständen nur in Beziehung auf ihr Verhältnis zu den subjektiv formalen Bedingungen der Erfahrung zu ermitteln, und zwar durchaus in der reinen Anschauung, mithin a priori und in Beziehung auf mögliche Erfahrung. Dadurch läßt sich nun zwar nichts über bestimmte einzelne Gegenstände erkennen, aber über ihre Möglichkeit der Form nach wohl. Es ist daher keine Bestimmung der Objekte, sondern der subjektiven Bedingungen der Möglichkeit ihrer Objektivität überhaupt. (b) Für die Erkenntnis der Wirklichkeit eines Gegenstandes ist Wahrnehmung postuliert, und zwar gemäß den Analogien der Erfahrung nicht des Gegenstandes selbst, sondern seines Verhältnisses zu anderen, also von Relationen. Beispielsweise erlaubt die Wahrnehmung einer physikalischen Wirkung den Schluß auf das Dasein einer Kraft, die selbst nicht Gegenstand der Erfahrung ist. Aufgrund des Zusammenhangs der Erfahrung, unter Voraussetzung von deren Einheitlichkeit, kann über die Analogien von Kausalität und Wechselwirkung auf die Wirklichkeit von Atomen geschlossen werden, wenn etwa die Annahme von deren bloßer Illusion die systematische Einheit physikochemikalischer Erfahrungserkenntnisse aufheben würde. Die Konstitution der Objektivität von Relationen berechtigt zur Postulierung der Wirklichkeit der relata, zwar nicht als Resultate dieser Relationen, doch als notwendige Annahme zur Möglichkeit von deren Objektivität. Auch hier liegt die Wirklichkeit des Daseins in einem Bereich, der der Erfahrung strikt entzogen ist. Unmittelbare Erfahrung „von dem Gegenstande selbst, dessen Dasein erkannt werden soll“598 , wäre hier unzureichend oder gar hinderlich, weil das Dasein nicht aus den zufälligen subjektiven Bedingungen der Apprehension folgen kann und schon gar nicht als deren Darstellung gemäß angenommen werden darf. Läßt sich dagegen außerhalb wirklicher Erfahrung auf etwas schließen, dessen Dasein vorausgesetzt ist für die Möglichkeit solcher Erfahrung überhaupt, so ist seine Wirklichkeit anzunehmen. Ein Gegenstand der Erfahrung ist dieses Wirkliche selbst dann aber nicht. „Das Postulat, die Wirklichkeit der Dinge zu erkennen“599 , oder die Notwendigkeit, dies anzunehmen, was Kant als mittelbaren Beweis des Daseins bezeichnet,600 führt auf die Notwendigkeit einer „Widerlegung des Idealismus“, der „Theorie, welche das Dasein der Gegenstände im Raum außer uns entweder für bloß zweifelhaft und unerweislich, oder für falsch und unmöglich erklärt“601 . Die Opposition gegen den Idealismus „von der 598 599 600 601

KrV, B 272. KrV, B 272. Vgl. KrV, B 274. KrV, B 274. Diese Widerlegung war in der Auflage A Bestandteil der Paralogismen (vgl. A 377f.) und ist nun in der Auflage B in die Postulate des empirischen Denkens eingefügt worden. Das Dasein von Gegenständen der Erfahrung ist nicht erst eine Frage der dialektischen Vernunft, sondern bereits des Verstandes, wenn die Kategorien objektive Realität haben sollen. Vgl. KrV, B 288: „Solange es also an Anschauung fehlt, weiß man nicht, ob man durch die Kategorien ein Objekt denkt, und ob ihnen auch überall gar irgend ein Objekt zukommen könne, und so bestätigt sich, daß sie für sich gar keine Erkenntnisse, sondern bloße Gedankenformen sind, um

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Eleatischen Schule an, bis zum Bischof Berkeley“602 und zum Rationalismus Descartes’ – besonders gegen deren durch spekulative Gottesbeweise abgestützte Bodenlosigkeit – ist das zur Empirismuskritik komplementäre Motiv der Entwicklung der kritischen Philosophie. Die These der Unmöglichkeit des räumlichen Daseins, wie sie etwa Berkeley vertrat,603 sieht Kant durch die Transzendentale Ästhetik widerlegt: Nur wenn der Raum als äußere Eigenschaft verstanden wird, kann seine Existenz geleugnet werden, beziehungsweise müsse sie es dann auch, weil diese Raumvorstellung auf lauter Widersprüche führe. Die These, daß das Dasein von Dingen, außerhalb des Subjekts, gemäß dem Cartesischen Skeptizismus nicht nachweisbar sei, verlangt eine Widerlegung, deren Ziel nach Kant darin besteht, zu beweisen, daß ohne reale äußere Erfahrung keine innere Erfahrung möglich wäre. Da Descartes diese für unzweifelhaft erklärt, wäre jene dadurch – wieder im Einklang mit Descartes – auch erwiesen, doch ohne daß Kant einen ontologischen Gottesbeweis führen müßte.604 – Das bloße ‚Ich denke‘, das Selbstbewußtsein des Subjekts als eines Subjekts von Vorstellungen, weiß sich mit dem Denken, der Abfolge von Vorstellungen, als zeitbestimmtes. Alles Zeitbewußtsein setzt aber etwas Beharrliches voraus. Dieses Beharrliche kann weder die Selbstgewißheit des Subjekts selbst sein noch eine seiner Vorstellungen, weil es dafür schon ein Zeitbewußtsein haben müßte, das doch, wie vorausgesetzt war, aus der Beziehung auf Beharrliches erst resultieren kann. Daher, so Kant, müsse dieses Beharrliche eine objektive Bestimmung sein, die deshalb auf ein Dasein außerhalb des Subjekts verweise. Aufgrund dieser Verknüpfung der Möglichkeit des Selbstbewußtseins mit der Möglichkeit des Daseins äußerer Dinge nennt Kant „das Bewußtsein meines eigenen Daseins […] zugleich ein unmittelbares Bewußtsein des Daseins anderer Dinge außer mir“605 . Durch die Bestimmung des Verhältnisses von Selbstbewußtsein und Gegenstandsbewußtsein als ‚unmittelbar‘ soll zunächst bezeichnet sein, daß das Selbstbewußtsein kein Resultat diskreter Erkenntnis sei; das bedeutet sowohl, daß Selbstbewußtsein auf Bewußtsein von Anderem angewiesen

602 603

604

605

aus gegebenen Anschauungen Erkenntnisse zu machen.“ Und KrV, B 291: „Noch merkwürdiger aber ist, daß wir, um die Möglichkeit der Dinge zu Folge der Kategorien zu verstehen und also die objektive Realität der letzteren darzutun, nicht bloß Anschauungen, sondern sogar immer äußere Anschauungen bedürfen.“ – Diese Abgrenzung war Kant offenbar so wichtig, daß die vollständige Argumentation gegen den Idealismus in der Auflage B auch bereits in der Vorrede enthalten ist (vgl. B XXXIX, Anm.). Prolegomena, IV 374. Vgl. George Berkeley, Eine Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis, Hamburg 1979. Diesen Versuch, den Gottesbeweis bei der Herstellung der Objektivität zu vermeiden, hat später Edmund Husserl wiederholt, indem er aufgrund der Einsicht, daß Bewußtsein immer Bewußtsein von Etwas ist, vom cogito aufs cogitatum schließt (vgl. Cartesianische Meditationen, a.a.O., § 14). Er scheitert indes daran, diesem Objektivität zuzuweisen. Hierfür muß er „eine absolut vollkommene Evidenz [annehmen; M.St.], die den Gegenstand schließlich nach allem, was er ist, selbst geben würde“ (§ 29). Diesen Gedanken trägt wieder die Struktur des ontologischen Gottesbeweises, des Begriffs, der an sich selbst ein Sein mit sich führt. KrV, B 276.

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ist, als auch, daß das Bewußtsein von Anderem unmittelbar mit dem Selbstbewußtsein zusammenhängt. Kants Beweis gegen den subjektiven Idealismus gelingt über die Aufhebung der Mittelbarkeit des Verhältnisses von Subjekt und Objekt. Damit präformiert er aber auch den objektiven Idealismus, der aus dem subjektiven Begriff die Objektivität des Begriffs deduziert. Bei Kant ist diese Deduktion noch nicht ausgeführt, weil er das Verhältnis von Subjekt und Objekt, obwohl unmittelbar, doch an Erfahrung knüpft, insofern die Objektivität eine Funktion der Zeitlichkeit des Bewußtseins ist, nicht eine von dessen reinem Begriff. Daran aber, daß sie überhaupt eine Funktion des Subjekts ist – aus diesem beweisbar – kann der objektive Idealismus anknüpfen und zeigen, daß die Zeitfolge im reinen Begriff und in der Anschauung bloß die systematische Abfolge von Begriffsmomenten bezeichnen kann. Indem der objektive Idealismus die Präponderanz im unmittelbaren Verhältnis von Subjekt und Objekt zugunsten des Subjekts verschiebt, hat er notiert, daß Kants Widerlegung des subjektiven Idealismus das Subjekt aufzulösen droht. Dessen innere zeitliche Bestimmung weist es nämlich als den fließenden Wechsel seiner Vorstellungen aus. Schon dieses Bewußtsein seiner selbst erfordert eine Relation des Wechsels auf ein Beharrliches, das nicht Resultat des Bewußtseins selbst sein kann, weil es sonst Bestandteil des Wechsels wäre und nicht dessen unabhängige Bezugsgröße. Kants Schluß auf die Materie löst aber nun das Bewußtsein in dessen Relationen zu Anderem auf, das materielle Dasein ist nun die Wahrheit dessen, daß das Bewußtsein selbst nur mehr der Wechsel seiner Vorstellungen sei. Die Einheit der Apperzeption, die diesem Bewußtsein formal zugrunde liegt, solange es nicht Wahnbewußtsein wird, ist dann bewußtlose Identität, die nicht allein erst Gehalt bekommt, durch ihre Vorstellungen, sondern die überhaupt erst durch diese aktualisiert wird. Was vormals, wie immer schief, habituelles Selbstbewußtsein hieß606 – daß nämlich ein Subjekt immer schon weiß, daß es ein Subjekt ist – wird zur bloßen Potenz. Dem korrespondiert allerdings real, daß die bürgerlichen Subjekte sozial als Resultate ihrer Relationen, deren Gallerte gleichsam, begriffen werden und sich selbst begreifen. Die allseitige gesellschaftliche Verflechtung der Subjekte – durch Arbeitsteilung und Rechtspersonalität sowie deren ideologische Übertragung auch in dezidiert private Bereiche – überformt subjektive Identität relational. Daß bürgerliche Subjektphilosophie nach ihrem Höhepunkt bei Hegel kommunikationstheoretisch und pragmatistisch gewendet und das Subjekt selbst schließlich zu einem indexikalischen Relationengeflecht607 erklärt wurde, hat hierin einen Grund in der Sache. Kant geht es gleichwohl darum, die Relationalität des Subjekts rein erkenntnistheoretisch zu erklären. Nun will er aber durch die Rede von der Unmittelbarkeit der äußeren Erfahrung die idealistische Konsequenz seiner eigenen Erkenntnistheorie gerade abwenden: Nicht die innere Erfahrung des Subjekts seiner selbst sei unmittelbar und Grundlage eines Schlusses auf die äußere, der diese als durchs Subjekt vermittelt erwiese, sondern in der Tat sei die Bestimmung des Selbstbewußtseins als zeitliches Resultat von Vermitt606 607

Thomas von Aquin, Des heiligen Thomas von Aquin Lehre von der Wahrheit, a.a.O. qu. 10, a. 8. Frei nach dem Titel von Ulrich Baltzer, Erkenntnis als Relationengeflecht. Kategorien bei Charles S. Peirce, Paderborn 1994.

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lung, deren Medium die als unmittelbar anzunehmende äußere Erfahrung sei. Würde der äußere Sinn selbst, gemäß einem konsequenten Skeptizismus, bloß subjektiv eingebildet, sei das gesamte Anschauungsvermögen aufgehoben: „Das Bewußtsein meiner selbst in der Vorstellung Ich ist gar keine Anschauung, sondern eine bloß intellektuelle Vorstellung der Selbsttätigkeit eines denkenden Subjekts. Daher hat dieses Ich auch nicht das mindeste Prädikat der Anschauung, welches als beharrlich, der Zeitbestimmung im inneren Sinne zum Korrelat dienen könnte“608 . Nur durch diese Abstraktion gelingt es, an einer selbständigen Existenz des Subjekts festzuhalten. Das Beharrliche, das zum Kern der Existenz des Objekts wird, zu seiner „Substanz“, ist dann zunächst die „Materie“, deren Beharrlichkeit ihr Korrelat in der Anschauung in ihrer „Undurchdringlichkeit“609 hat. Die Erfahrung von Undurchdringlichkeit setzt indes im Bewußtsein eine doppelte Negation voraus, Beharrlichkeit resultiert in dieser Erfahrung aus der Negation dessen, was keinen Widerstand bietet. Deshalb weist Kant darauf hin, daß „selbst diese Beharrlichkeit […] nicht aus äußerer Erfahrung geschöpft“610 werde, also nicht Resultat, sondern unmittelbar sei, was aber nur gelingt, wenn sie ihrem Korrelat in der Anschauung schon „a priori als notwendige Bedingung aller Zeitbestimmung, mithin auch als Bestimmung des inneren Sinnes in Ansehung unseres eigenen Daseins durch die Existenz äußerer Dinge vorausgesetzt“611 ist. Die Unmittelbarkeit der Existenz des Objekts, die ohne Vermittlung im Subjekt nicht zu denken ist, kann aufrechterhalten werden nur durch ihre Fundierung a priori im Subjekt. Soll dies nicht zur affirmativen Auffassung des Voraussetzens, wie bei Hegel, führen, ist ein grundsätzlich anderer Begriff von Vermittlung zu entwickeln, der sich nur an der Kritik von Unmittelbarkeit entfalten kann, die er so negativ festhält. Dieser Vermittlungsbegriff beruhte darauf, daß Differenz und wechselseitige Verwiesenheit der Seiten Subjekt und Objekt nicht als bloß erkenntnistheoretische Relationen aufgefaßt würden, sondern als in der Verschränkung von Subjekt und Objekt selbst gründend. Allein in dieser Bedeutung, als Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung überhaupt, ist das „unmittelbare Bewußtsein des Daseins äußerer Dinge […] nicht vorausgesetzt, sondern bewiesen“612 . So will Kant der vollständigen Relationalisierung der Gegenstände der Erfahrung entgehen, steht dadurch aber umgekehrt vor der Aufgabe, die vollständige äußerliche Relationalisierung des Selbstbewußtseins ebenso zu vermeiden. Deshalb bleibt der äußeren Erfahrung doch deren Subjekt vorausgesetzt, aber als bloßes „Bewußtsein unserer eigenen Existenz“; diese „Vorstellung: ich bin, die das Bewußtsein ausdrückt, welches alles Denken begleiten kann“613 , schließt ihrerseits unmittelbar die Existenz des Subjekts ein, aber als ganz unbestimmte, deren nähere Bestimmung – in der Zeit – nur mittelbar, durch Relation auf ein äußerliches Beharrliches, sein kann.

608 609 610 611 612 613

KrV, KrV, KrV, KrV, KrV, KrV,

B B B B B B

278. 278. 278. 278. 276 Anm. 277.

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Das heißt selbstverständlich nicht, daß allen äußeren Anschauungen im Einzelnen ein existierendes Objekt korrespondiert, im Gegenteil kann jedes Einzelne durch Täuschung eingebildet sein. Das hebt aber die Notwendigkeit der Existenz deshalb nicht auf, weil nach Kant auch Täuschungen nur die zwar fehlerhafte Reproduktion objektiver Wahrnehmungen der Vergangenheit sein können. Der Beweis der Wirklichkeit äußerer Gegenstände ist so darauf beschränkt, „daß innere Erfahrung überhaupt nur durch äußere Erfahrung überhaupt möglich sei“614 . ‚Äußere Erfahrung überhaupt‘ aber ist keine Erfahrung, sondern deren reine Form oder allgemeiner Begriff im Subjekt und dieser hat keine Gegenstände, sondern bestimmt bloß die Beziehung von Subjektivität auf Gegenständlichkeit, die ihrerseits ein Begriff der Wirklichkeit von Gegenständen ist, nicht diese selbst. Bewiesen ist lediglich die erkenntnistheoretische Notwendigkeit der Beziehung der Subjekte auf etwas, das es nicht selbst ist, nicht jedoch die Wirklichkeit der Gegenstände äußerer Erfahrung. Letztlich stehen sich Subjekt und Objekt als zwei unabhängige Unmittelbare gegenüber, die als Bedingungen der Möglichkeit des bestimmten Selbstbewußtseins nachgewiesen werden. Zwar beharrt Kant damit auf der Trennung von Erkenntnisgrund und Existenzgrund des Bewußtseins, aber in umgekehrtem Verhältnis: Das Bewußtsein der Existenz des Subjekts folgt als Bewußtsein seiner Selbstgewißheit, seine Selbsterkenntnis ist über anderes vermittelt. Insofern die Grundlage des Beweises die bestimmte Selbsterkenntis ist, liegt auch darin schon die Tendenz zum objektiven Idealismus, der die Unmittelbaren – Subjekt und Objekt – in der Reflexion zu vermitteln sucht und in dieser Vermittlung die Setzung von Subjekt und Objekt als aufeinander bezogen erkennt. Erst die weitere Einsicht, daß schon das Bewußtsein des Subjekts von seiner eigenen Existenz dieses Subjekt selbst zum Objekt nicht bloß seiner eigenen Reflexion macht, sondern es auch als Objekt anderer Objekte erfaßt, als Moment seiner Relation auf die materiellen Bedingungen seiner Existenz, – erst diese Einsicht vermag den Schluß zu begründen, daß die Objektivierung des Subjekts allein aus der Autonomie seiner Selbsterkenntnis heraus zu begrenzen wäre.615 Diese Selbsterkenntnis wäre nur dann ein Gegengewicht zur Heteronomie, zur Unterwerfung unter eine heteronom organisierte Objektivität, wenn die Abhängigkeit des 614 615

KrV, B 278f. Die materiellen Konsequenzen einer dialektischen Reflexionstheorie mögen sowohl Gegner wie Vertreter reflexiver Subjektbegriffe zu dem eher aussichtslosen Versuch bewogen haben, die Selbstobjektivierung des reflexiven Subjekts zu bestreiten. Vgl. zum Beispiel Dieter Henrich, Selbstbewußtsein, a.a.O., 278: „In Übereinstimmung mit dem, was wir vom Zusammenbruch der Reflexionstheorie zu lernen hatten, ist zu sagen, daß diese Koexistenz von Bewußtsein als Dimension und Kenntnis von Bewußtsein keinesfalls als Selbst-Identifizierung genommen werden darf. Das würde sofort in den Zirkel zurücktreiben. Wir haben zu sagen, daß das eine nicht ohne das andere auftreten kann. Aber wir müssen vermeiden zu sagen, das Bewußtsein sei sein eigenes Objekt.“ Dies aber ‚wissen wir‘ nur, nachdem es sein eigenes Objekt gewesen ist. Also nicht bloß, wie Henrich einmal Tugendhat zurückgab, noch einmal in Zirkeln, sondern immer wieder; jedenfalls solange ein positiver Begriff des Selbstbewußtseins intendiert ist. (Vgl. Dieter Henrich, Noch einmal in Zirkeln. Eine Kritik von Ernst Tugendhats semantischer Erklärung von Selbstbewußtsein, in: Clemens Bellut/Ulrich Müller-Schöll (Hgg.), Mensch und Moderne. Beiträge zur philosophischen Anthropologie und Gesellschaftskritik, Würzburg 1989).

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Bewußtseins von dem, was es nicht ist, nicht allein an seine Erkenntnisweise, sondern schon an seine Existenz geknüpft ist. Das Bewußtsein, das die Existenz des Subjekts mit deren äußeren, heterogenen, Bedingungen vermittelt, wäre dann zugleich durch seine Momente – als deren Vermittlung es ist – bestimmt, und über sie erhaben, weil es als Vermittlung zugleich die Unterscheidung der Momente leistet und so der identische Ort ihrer Differenz ist, der sich gegen sie selbständig weiß. Diese Selbständigkeit ist nur als umgekehrter Ausdruck der eigenen Abhängigkeit von den äußeren Existenzbedingungen zu denken und geht daher grundsätzlich nicht utopisch hinter das Bewußtsein des Zusammenhangs von Autonomie und Heteronomie zurück; solches Bewußtsein ist nicht als Heilung des in sich gegenläufigen Bewußtseins von Autonomie und Heteronomie möglich, aber als Selbstbewußtsein der Gegenläufigkeit ist es möglich. Indem Kant Selbständigkeit und Abhängigkeit als unmittelbare Seiten festhält, bleibt ihm nur die Alternative, entweder ihre Vermittlung auszuschließen, oder sie als wechselseitige Überführung der Seiten ineinander idealistisch aufzulösen. Werden sie dagegen als geschichtlich – in der realen Beziehung lebender Menschen auf ihre objektiven Daseinsbedingungen – immer schon vermittelte gefaßt, so eröffnet dies den Ausblick auf ein negatives Selbstbewußtsein, das seine Selbständigkeit erst in der Reflexion gegen die Heteronomie erlangt und ihrer auch nur in dieser Reflexion habhaft bleibt, deren Moment die Heteronomie eben auch ist.616 Solche Selbständigkeit des Selbstbewußtseins ist nur in der Opposition gegen das äußerlich aufgeherrschte Unvernünftige wirklich und deswegen ständig instabil.617 (c) Bei der Notwendigkeit des Dritten Postulats des empirischen Denkens, so Kant, handele es sich nicht um die formale Notwendigkeit logischer Relationen, sondern um „die materiale Notwendigkeit im Dasein“618 . Nun ist gemäß dem Zweiten Postulat die Existenz von Objekten grundsätzlich nicht a priori aus Begriffen bestimmbar, wohl aber kann aus gegebenen Erscheinungen hinsichtlich deren Position im einheitlichen Zusammenhang der Erfahrung insgesamt auf das Dasein anderer Erscheinungen a priori geschlossen werden. Die Regel dieses Schlusses wird durch die Zweite Analogie der 616

617

618

Zur Konzeption eines negativen Selbstbewußtseins vgl. Gunnar Hindrichs, Negatives Selbstbewußtsein, a.a.O. Allerdings scheint dieses als Vermittlungsinstanz aus dem Streit von Heidelberger Schule und analytischer Philosophie entwickelte ‚negative Selbstbewußtsein‘ doch letzthin als erkenntnistheoretisch gültige Begründungsinstanz von Bewußtsein vorgestellt zu werden. Dagegen wird dies in der vorliegenden Arbeit ausdrücklich als geschichtlich gebrochenes Konzept gedacht. – Die Konsequenz deutet sich in Hindrichs neuerem Buch über Das Absolute und das Subjekt, a.a.O. an. Auch hier hält er an einer durch analoge Reflexion bedingten Negativität fest, deren Inhalt allerdings durch ihren Geheimnischarakter die mit der Kritik am Gottesbeweis verlorene Heimat des Subjekts soll ersetzen können. Die Ausführung der historischen Dimension von Selbstbewußtsein, vor allem von dessen heteronomem Moment, wäre Aufgabe einer philosophiegeschichtlichen Darstellung vor allem des Übergangs vom Mittelalter zur Neuzeit, an dem Heteronomie nicht entstand, aber theoretisch in beispielhafter Form aus ihrer transzendent-objektiven Verankerung gelöst und zum natürlichen Ausdruck von Subjektivität selbst modifiziert wurde. Dies wäre ein anderes Projekt. Hier muß es genügen zu zeigen, daß in den Konsequenzen der Kantischen Philosophie Aporien liegen, die auf die Repräsentation solcher Bedingungen im Selbstbewußtsein anhand von dessen theoretischem Selbstverständnis schließen lassen. KrV, B 279.

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Erfahrung, die der Kausalität, angegeben: Ist eine Ursache gegeben, so kann mit Notwendigkeit auf die Wirkung geschlossen werden. Da die Notwendigkeit auf diese Relationen im Erfahrungszusammenhang bezogen ist, wird nicht die Notwendigkeit der Objekte selbst, sondern die ihrer Zustände bestimmt: Nicht die Billardkugel selbst ist notwendig in ihrer Existenz, sondern ihre Position im Raum, wenn sie durch eine andere in bestimmter Weise ursächlich bewegt wird.619 Notwendigkeit erstreckt sich somit auf die Relationen, und auf deren relata nur, insofern sie relational bestimmt sind. Was geschieht, ist notwendig, insofern es Moment eines Geschehens ist, und zwar hypothetisch, das heißt bedingt durch das andere Moment des Geschehens. So wird die Notwendigkeit einerseits in den Bereich des NichtSubstantiellen verdrängt, andererseits erhält sie gerade dadurch enorme Bedeutung, denn der Naturzusammenhang als ganzer wird dadurch als notwendig ausgezeichnet. Wenn für die Möglichkeit von Erfahrungserkenntnis die Einheit der Erfahrung a priori in der transzendentalen Einheit der Apperzeption vorausgesetzt ist, dann wird das Desiderat von deren objektiver Realität im Dritten Postulat zu seiner eigenen Erfüllung umgewendet: „Alles, was geschieht, ist hypothetisch notwendig; das ist ein Grundsatz, welcher die Veränderung in der Welt einem Gesetze unterwirft, d. i. einer Regel des notwendigen Daseins, ohne welche gar nicht einmal Natur stattfinden würde.“620 Insofern also die Vorstellung eines einheitlichen Naturzusammenhangs Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung ist und insofern nach dieser Vorstellung alles Wirkliche in einem durchgängigen Kausalzusammenhang steht, gilt als Quintessenz aller Grundsätze: „[I]n mundo non datur hiatus, non datur saltus, non datur casus, non datur fatum“621 . Die Bestimmung des Zufälligen fällt damit im Rahmen der Verstandeserkenntnis zurück in die Kategorie ‚Dasein‘.622 Da es relational zum Subjekt zu interpretieren ist als der Mangel der Erfahrung der Ursache eines Geschehens, ist hier gemäß dem Zweiten Postulat auf eine Ursache zu schließen, die unter den modus der Wirklichkeit fällt. Da gemäß dem Begriff des Zufälligen diese Ursache kein Gegenstand möglicher Erfahrung ist – also die unbekannte Ursache einer Erscheinung sein müßte –, ginge dieser Schluß auf die Wirklichkeit eines Dinges an sich, durch deren Vorstellung der Kausalzusammenhang der Natur gewahrt bliebe.623 Gerade in Ansehung des Zufälligen greift aber später das Prinzip der Urteilskraft: „Denn Zweckmäßigkeit ist eine Gesetzmäßigkeit des Zufälligen als eines solchen.“624 Über die strikte Bindung der modi ans Subjekt wird auch die Selbständigkeit des Möglichen gegenüber dem Wirklichen ausgeschlossen, durch deren Annahme ebenfalls eine Inkonsistenz in den Naturzusammenhang geriete: „Alles Wirkliche ist möglich; hieraus folgt natürlicher Weise nach den logischen Regeln der Umkehrung der bloß par619 620 621 622

623

624

Vgl. KrV, B 280 KrV, B 280. KrV, B 282. Kant verweist dieses und ähnliche Probleme in den Bereich der Dialektik der reinen Vernunft, versteht sie also gewisser Weise als Schein-Probleme. Vgl. KrV, B 281f. und B 285ff. Zur Sicherung des Naturzusammenhangs durch die kategoriale Interpretation des Zufälligen vgl. auch KrV, B. 243f. und B 289f. Erste Einleitung KdU, 24.

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D  F  S

tikulare Satz: einiges Mögliche ist wirklich, welches denn so viel zu bedeuten scheint, als: es ist vieles möglich, was nicht wirklich ist. Zwar hat es den Anschein, als könne man auch geradezu die Zahl des Möglichen über die des Wirklichen dadurch hinaussetzen, weil zu jener noch etwas hinzukommen muß, um diese auszumachen. Allein dieses Hinzukommen zum Möglichen kenne ich nicht. Denn was über dasselbe noch zugesetzt werden sollte, wäre unmöglich. Es kann nur zu meinem Verstande etwas über die Zusammenstimmung mit den formalen Bedingungen der Erfahrung, nämlich die Verknüpfung mit irgend einer Wahrnehmung hinzukommen; was aber mit dieser nach empirischen Gesetzen verknüpft ist, ist wirklich, ob es gleich unmittelbar nicht wahrgenommen wird. Daß aber im durchgängigen Zusammenhange mit dem, was mir in der Wahrnehmung gegeben ist, eine andere Reihe von Erscheinungen, mithin mehr als eine einzige alles befassende Erfahrung möglich sei, läßt sich aus dem, was gegeben ist, nicht schließen“625 . Wenn aber weder Möglichkeit und Wirklichkeit, noch Wirklichkeit und Notwendigkeit in der Sache differieren, sondern alles Wirkliche hypothetisch notwendig ist, lassen sich die modi nicht objektiv, sondern einzig im Bewußtsein von der Objektivität unterscheiden. Dieses Bewußtsein erzeugt aber die Modalität seiner Objektivität selbst, analog der Geometrie, in der die idealen Konstruktionsanweisungen der Figuren nicht aus der Erfahrung zu schließen, sondern nur zu postulieren sind. ‚Postulat‘ meint daher hier nicht die sich von der Begründungspflicht dispensierende Behauptung von Sätzen, sondern die Funktion von Sätzen, die „ihren Begriff von Dingen überhaupt nicht vermehren, sondern nur die Art anzeigen, wie er überhaupt mit der Erkenntniskraft verbunden wird“626 . Ergänzt wird der Begriff damit um die „Handlung des Erkenntnisvermögens, dadurch er erzeugt wird“627 . Diese Erzeugungshandlung bestimmt den modus existendi des Begriffs, mithin seine objektive Realität in bezug aufs erkennende Subjekt. Außerhalb dessen aber ist keine Realität bekannt. Die erkenntnistheoretisch zwingende Sublimation der Differenz der modi präformiert letztlich den Satz, nach dem das, was wirklich ist, vernünftig sei und umgekehrt.

d.

Exkurs: Über Wahnsysteme

Einen besonderen Fall der Objektbeziehung des Denkens stellt der Begriff von einer „Substanz, welche beharrlich im Raume gegenwärtig wäre, doch ohne ihn zu erfüllen“628 dar, denn er steht nicht im Einklang mit den formalen Bedingungen der Erfahrung. Er ist eine zwar widerspruchsfreie Erdichtung, deren objektive Realität doch durch nichts zu begründen ist. Subjektiv sind konsistente Wahnsysteme nicht allein vorstellbar, sondern sie vermögen sogar in der Vorstellung die Empfindung realen Zwangs zu simulieren, ohne daß diesem objektive Realität zukäme. Manche Formen der Paranoia und Schizo-

625 626 627 628

KrV, KrV, KrV, KrV,

B B B B

283f. 287. 287. 270.

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phrenie nötigen dazu, gerade die Erfahrungsbeweise dafür, daß sie Wahnsysteme sind, logisch konsistent in diese Wahnsysteme einzubauen.629 Kant mißt dem Wahn durchaus einige Bedeutung zu, und zwar in der anthropologischen Betrachtung der „Fehler des Erkenntnißvermögens“630 . Deren oberste Einteilung ist die in den noch bewußten zeitweisen Kontrollverlust der Vernunft über sich selbst einerseits, die sogenannten ‚Grillenkrankheiten‘, zu denen unter anderen auch (manische) Depressionen gehören, und andererseits in die nicht mehr bewußte Differenz subjektiver Erkenntnisregeln von den objektiven Erfahrungsgesetzen, die ‚Gemütsstörungen‘. Der Versuch, die psychischen Krankheiten, die doch „wesentliche und unheilbare Unordnung“631 seien, in eine Systematik zu bringen, rekonstruiert sie konsequent als negative Seite der transzendentalen Erkenntnistheorie. Darin scheinen sich zunächst ontologische Voraussetzungen im transzendentalen Idealismus abzuzeichnen. Wären die subjektive Einheit des Selbstbewußtseins – Kontrolle der Vernunft über sich selbst – und die objektive Einheit der Erfahrung – Kongruenz subjektiver Regeln und objektiver Gesetze von Erfahrung – nicht ontologisch in einem Material fundiert, so wäre der Grillenfänger sowenig vom reflektierten Kopf zu unterscheiden wie der Gemütsgestörte, der Wahnsinnige, vom erkennenden Subjekt. Der Grillenfänger und der Wahnsinnige, die sich ihre eigene Welt konstituieren – dieser als geschlossenes Wahnsystem, jener als einen bewußt utopischen Entwurf, dessen Irrealität deprimierend ist –, würden dann mit der Weltkonstitution der Gesunden in freier Assoziation oder Konkurrenz leben. Vor allem das Wahnsystem bleibt System: „Wahnsinn (dementia) ist diejenige Störung des Gemüths, da alles, was der Verrückte erzählt, zwar den formalen Gesetzen des Denkens zu der Möglichkeit einer Erfahrung gemäß ist, aber durch falsch dichtende Einbildungskraft selbstgemachte Vorstellungen für Wahrnehmungen gehalten werden. Von der Art sind diejenigen, welche allerwärts Feinde um sich zu haben glauben; die alle Mienen, Worte oder sonstige gleichgültige Handlungen Andrer als auf sich abgezielt und als Schlingen betrachten, die ihnen gelegt werden. — Diese sind in ihrem unglücklichen Wahn oft so scharfsinnig in Auslegung dessen, was Andere unbefangen thun, um es als auf sich angelegt auszudeuten, daß, wenn die Data nur wahr wären, man ihrem Verstande alle Ehre müßte widerfahren lassen.“632 Dieser Störung des Verstandes kor629

630 631 632

Manfred Sommer, Ist Selbsterhaltung ein rationales Prinzip?, in: Hans Ebeling (Hg.), Subjektivität und Selbsterhaltung, a.a.O., 352, bestimmt den Einheitsanspruch der Vernunft als ein Prinzip der Selbsterhaltung. Dieter Henrich, Über Selbstbewußtsein und Selbsterhaltung, a.a.O., 126, geht soweit zu behaupten, daß noch die pathologische Spaltung des Bewußtseins eine Selbsterhaltungsfunktion des Subjekts sei: Dieses begegne der Gefahr der Auflösung der Bewußtseinseinheit durch Selbstzerstörung. Anthropologie, VII 202. Anthropologie, VII 214. Anthropologie, VII 215. Ein Modell mag Tschechows Schilderung des Gerichtsvollziehers Iwan Dmitritsch sein, der über seiner Profession paranoid wird. „Auch früher war Iwan Dmitritsch häufig Arrestanten begegnet, und jedesmal hatten sie in ihm ein Gefühl des Mitleids und der Peinlichkeit erregt; jetzt aber machte diese Begegnung einen ganz besonderen, seltsamen Eindruck auf ihn. Plötzlich schien es ihm, daß man auch ihn in Ketten legen könne und gleicherweise durch den Dreck ins Gefängnis führen. […] Ein Schutzmann ging ohne Hast an seinem Fenster vorbei. Dann blieben zwei Männer vor dem Hause stehen und schwiegen. Warum schwiegen sie? Und

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respondiert auf der Seite der Vernunft der ‚Aberwitz‘: „Der Seelenkranke überfliegt die ganze Erfahrungsleiter und hascht nach Principien, die des Probirsteins der Erfahrung ganz überhoben sein können, und wähnt das Unbegreifliche zu begreifen.“633 Es handelt sich bei diesen Störungen, die Kant in seiner Systematik als ‚methodisch‘ beziehungsweise ‚systematisch‘ verzeichnet, nicht um in sich widerspruchsvoll zerrissene Gemüter, die lebensunfähig wären, weil ihre Vorstellungen der Realität nicht entsprächen. Zwar wird der Aberwitzige unter die Hospitaliten gezählt – wohl weil er über sein verschlossenes Sinnieren die Lebenspraxis vernachlässigt –, aber er wird als völlig ungefährlich eingestuft. Der Wahnsinnige dagegen müsse gar nicht verwahrt werden, weil sein ganzes Wahnsystem gerade auf seine Selbsterhaltung gerichtet sei und er daher weder sich noch andere in Gefahr bringe. Für ihn mag auch gelten, was Kant für den Aberwitzigen in Anschlag bringt: „Denn es ist in der letzteren Art der Gemüthsstörung nicht blos Unordnung und Abweichung von der Regel des Gebrauchs der Vernunft, sondern auch positive Unvernunft, d. i. eine andere Regel, ein ganz verschiedener Standpunkt, worein, so zu sagen, die Seele versetzt wird, und aus dem sie alle Gegenstände anders sieht […]. Es ist aber verwunderungswürdig, daß die Kräfte des zerrütteten Gemüths sich doch in einem System zusammenordnen, und die Natur auch sogar in die Unvernunft ein Princip der Verbindung derselben zu bringen strebt, damit das Denkungsvermögen, wenn gleich nicht objectiv zum wahren Erkenntniß der Dinge, doch blos subjectiv zum Behuf des thierischen Lebens nicht unbeschäftigt bleibt.“634 Der Maßstab zur Beurteilung des Unterschieds von Wahnsystemen und Realitätserkenntnis liegt weder in diesen zu Unterscheidenden selbst, noch in ihrem Verhältnis zur Realität, das subjektiv in beiden Fällen gelingt. Kant bestimmt den Unterschied durch eine über das Privatsubjekt erweiterte Perspektive: „Das einzige allgemeine Merkmal der Verrücktheit ist der Verlust des Gemeinsinnes (sensus communis) und der dagegen eintretende logische Eigensinn (sensus privatus), z. B. ein Mensch sieht am hellen Tage auf seinem Tisch ein brennendes Licht, was doch ein anderer Dabeistehende nicht sieht […] Der, welcher sich an diesen Probirstein gar nicht kehrt, sondern es sich in den Kopf setzt, den Privatsinn ohne, oder selbst wider den Gemeinsinn schon für gültig anzuerkennen, ist einem Gedankenspiel hingegeben, wobei er nicht in einer mit ande-

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für Iwan Dmitritsch hoben qualvolle Tage und Nächte an. […] Die Tatsachen und die gesunde Logik wollten ihn überreden, daß alle diese Ängste – Blödsinn, Psychopathie seien […]; doch je klüger und logischer seine Überlegungen waren, desto qualvoller und stärker wuchs seine Seelenunruhe an. […] Schließlich sah Iwan Dmitrisch ein, daß es nutzlos sei, ließ die Überlegungen bleiben und gab sich ganz seiner Verzweiflung und Furcht hin. […] Merkwürdigerweise waren seine Gedanken früher nie so geschmeidig und erfindungsreich gewesen wie jetzt, da er jeden Tag tausenderlei vielfältige Anlässe ersann, die ihn ernstlich um seine Freiheit und Ehre bangen ließen.“ (Anton Tschechow, Krankenzimmer Nr. 6, in: Meisternovellen, Zürich 1946, 16ff.). Das Studium der Akten beispielsweise über psychisch kranke Rechtsbrecher kann darüber belehren, daß diese Schilderung keine bloße literarische Fiktion ist. – Aus der Perspektive der postfaschistischen, bzw. -nationalsozialistischen Gesellschaft befindet Horkheimer allerdings diese Erfahrungen für obsolet: „Die Angst reicht weiter als die Einheit seines [des Individuums; M.St.] Bewußtseins. […] Es muß das Ich aufgeben und sich selbst leibhaft überleben.“ (Vernunft und Selbsterhaltung, a.a.O., 69). Anthropologie, VII 215. Anthropologie, VII 216.

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ren gemeinsamen Welt, sondern (wie im Traum) in seiner eigenen sich sieht, verfährt und urtheilt.“635 Dieser ‚Gemeinsinn‘ ist nicht ein kommunikationstheoretisches oder intersubjektives Verständnis von Objektivität, sondern das der strengen Allgemeinheit: Eine Erkenntnis über die Natur muß nicht bloß widerspruchsfrei in einem System gedacht werden können, sondern sie muß notwendig und allgemein reproduzierbar sein. Es genügt auch nicht, daß ein Wahnsinniger sich mit anderen auf ein gemeinsames Weltbild verständige.636 Der Unterschied ist der, daß eine Wahnvorstellung für den Gesunden nicht unter Laborbedingungen reproduzibel ist, während eine Erkenntnis prinzipiell auch für den Wahnsinnigen reproduzibel ist, er mag sie auch anders interpretieren. Deshalb sind Erkenntnisse allgemein und notwendig darstellbar, Wahnvorstellungen nicht.637 635 636

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Anthropologie, VII 219. Bei Habermas ist der Begriff der Einheit der Erfahrung einem diffusen „Bedürfnis nach einer monistischen Weltauslegung“ gewichen: Freiheit und Determinismus, a.a.O., 170. Bei Kant geht es nicht um eine intersubjektiv verhandelbare Auslegung der Welt, sondern um die existentielle Bedingung subjektiver Identität im objektiven Bewußtsein. Der vorgebliche Detranszendentalisierungsversuch, der die Aporie von Natur und Freiheit als kulturevolutionären „Sprachendualismus“ oder „anthropologisch tief sitzende[] Wissensperspektiven“ auffaßt („Ich selber bin ja ein Stück Natur“ – Adorno über die Naturverflochtenheit der Vernunft. Überlegungen zum Verhältnis von Freiheit und Unverfügbarkeit, in: Zwischen Naturalismus und Religion, a.a.O., 215), will nicht den Dualismus, wohl aber das Subjekt hintergehen und resultiert daher in dem – auch pragmatistisch gewendet – höchst fragwürdigen Begriff des ‚objektiven Geistes‘, der zwar nur „symbolisch gespeichertes kollektives Wissen“ (Freiheit und Determinismus, a.a.O., 177) und als solches „aus der Interaktion der Gehirne von intelligenten Tieren hervorgegangen“ (180) sei, aber dann „eine relative Selbständigkeit [behauptet], weil der nach eigenen Regeln organisierte Haushalt intersubjektiv geteilter Bedeutungen symbolische Gestalt angenommen hat“ (ebda.). War bei Kant noch in den abgehobensten Theoremen unstrittig, daß die Bedeutungen in letzter Instanz Etwas bedeuten, so ist bei Habermas jeder gegenständliche Gehalt der Rede im Sprachspiel verspielt und objektiv ist bloß der Geist. Das schlägt aufs Subjekt zurück, von dem Habermas nicht ganz lassen will, dem aber Intersubjektivität vorgeordnet wird; vgl. z. B. Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt am Main 1985, 426ff. – Polemisch hat Henning Ottmann die kommunikativ-intersubjektivistische Politiktheorie pariert: „Verfahren aller Länder vereinigt euch!“ (Liberale, republikanische, deliberative Demokratie, in: Werner J. Patzelt/Martin Sebaldt/ Uwe Kranenpohl (Hgg.), Res publica semper reformanda, a.a.O., 108. Kommunikationstheoretische, auf Intersubjektivität angelegte Konzepte gehen dagegen von der syntaktisch oder semantisch formalisierten Struktur alltäglicher Mitteilungen aus. Da diese grundsätzlich arbiträr sind, läßt sich über sie aber kein wissenschaftlich allgemeines Urteil formulieren. Auf der Basis dessen, was die Leute reden, kann keine Theorie errichtet werden. Das ist der antiken Philosophie im Unterschied von doxa und orthä doxa bereits präsent. Die sprachlichen – besser: logischen – Reflexionen der Philosophie dokumentieren das Ringen um den Begriff wissenschaftlicher Allgemeinheit, nicht um die ubiquitäre Kommunizierbarkeit beliebiger Inhalte. Aus demselben Grund führt auch der Rekurs auf Spracherwerbstheorien in der Selbstbewußtseinstheorie nicht weiter: Selbstbewußtsein ist philosophisch ein Resultat der Reflexion auf die formale Möglichkeit wissenschaftlicher Urteile; dem Ungenügenden der reinen Form ist nicht durch eine Veränderung des Formbegriffs abzuhelfen, sondern durch die ergänzende Reflexion auf die materielle Möglichkeit wissenschaftlicher Urteile, die in der durch Herrschaft vermittelten Kollektivierung in der Kultur- und Zivilisationsgeschichte gebildet wird. Dies ist nicht durch einen ‚Paradigmenwechsel‘ (vgl. Jürgen Habermas, Nachmetaphysisches Denken, a.a.O., pass.) zu erledigen, weil dessen Konzept schon in der Wissenschaftstheorie (vgl. Thomas S. Kuhn, Die Struktur

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Damit ist die Objektivität von Erkenntnissen zwar an die subjektive Fähigkeit der Vernunft zu notwendigen und allgemeinen Urteilen geknüpft, aber darin zugleich auf die selbst objektive Einheit der menschlichen Gattung in ihrem praktischen Verhältnis zur Welt als Grund der Erkenntnisobjektivität bezogen. Deshalb können auch Massenpsychosen zwar kollektive Gegenwelten konstituieren, sind aber nicht qua intersubjektiver Bestätigung prinzipiell dem vernünftigen Urteil entzogen, auch wenn dieses Urteil praktisch als Privatmeinung singulärer, womöglich für verrückt erklärter, Außenseiter erscheint. Massenpsychosen wie Ideologien mögen logisch konsistent konstruiert sein, aber sie sind nicht notwendig und allgemein gültig; dies vermag aber nur die Vernunft zu beurteilen, die sich ihrer Reflexivität ebenso bewußt ist wie dessen, daß sie nicht subsistiert, sondern auf eine objektiv erkennbare Realität angewiesen ist. Daß Kant dort, wo nicht unmittelbar zweckmäßig gedacht wird, leicht Wahnsinn wittert,638 trifft durchaus die Transzendierung der gesellschaftlich normierten Zweckordnung, die solcher ‚Schwärmerei‘ zukommt, und deren Selbstbewußtsein – das Bewußtsein der Differenz der inneren Sehnsucht nach einer anderen Ordnung – ‚Grillenfängerei‘ bis hin zur Depression hervorrufen kann.639 Kant ist bemüht, die

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639

wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt am Main 1993) falsch ist. Vgl. dazu Kurt Bayertz, Über Begriff und Problem der wissenschaftlichen Revolution, in: Ders. (Hg.), Wissenschaftsgeschichte und wissenschaftliche Revolution, Bonn 1981. Bayertz zeigt, daß wissenschaftliche Neuheiten vielfältig an die Traditon anknüpften (13) und daß die ‚Paradigmen‘ keineswegs inkommensurabel seien (23). Es handele sich bei den ‚Revolutionen‘ nicht um Sprünge, sondern um Momente innerhalb umfassender geschichtlicher Umbruchsituationen (21; vgl. auch dens., Wissenschaft als historischer Prozeß, a.a.O., Dritter Teil, bes. 141ff.) Die gängige Vorstellung vom Paradigmenwechsel führe zum Wahrheitsrelativismus (26f.). – Durchaus setzt die kollektive Verfolgung von Zwecken die Verständigung über diese Zwecke voraus, so daß die kollektive Anstrengung kooperativ organisiert werden kann. Der allgemeine Gehalt der Zwecke entsteht aber nicht erst durch die Kommunikation, sondern er ist seiner Kommunizierbarkeit schon als allgemeiner vorausgesetzt. Als solcher gründet er in einer hetronomen Norm oder, günstigen Falles, in einer vernünftigen Begründung; beides sind subjektive Prinzipien. Kollektives Selbstbewußtsein, das durch Verständigung hergestellt wird, ist nicht intersubjektiv, sondern grundsätzlich subjektiv. Vgl. hierzu auch Dieter Henrich, Was ist Metaphysik – was Moderne?, a.a.O., 39. Vgl. Anthropologie, VII 181: Schon die regellos dichtende Phantasie produziert nicht etwa einfachhin mißratene Kunstwerke, sondern „nähert sich dem Wahnsinn, wo die Phantasie gänzlich mit dem Menschen spielt und der Unglückliche den Lauf seiner Vorstellungen gar nicht in seiner Gewalt hat“. Vgl. z. B. Georg Büchners Darstellung der Leidensgeschichte des Jakob Michael Reinhold Lenz: „Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, daß er nicht auf dem Kopf gehen konnte.“ (Lenz, in: Werke und Briefe, München 1980, 69). Das Leiden daran, die Welt nicht auf den Kopf, auf den Gedanken, stellen zu können, ist kein Einzelfall. – Vgl. auch Hegels Polemik gegen die Kritik von subjektiv als ungenügend erfahrenen Verhältnissen als abstrakten Individualismus, der im Wahnsinn des Eigendünkels endet: Phänomenologie des Geistes, a.a.O., 205. – Eine wieder gesellschaftlich funktionale Form des Wahns beschreibt Sören Kierkegaard in der Bewegung, die Verzweiflung im Widerstand gegen Heteronomie nicht in der Heteronomie, sondern im Widerstand gründen zu lassen; indem diese Wendung die zuvor als subjektfeindlich erfahrene Macht nunmehr zum Grund des Selbstverständnisses wendet, wird die falsche Auffassung der Welt zum Grund der Möglichkeit, in dieser zu bestehen. Vgl. Die Krankheit zum Tode, Frankfurt am Main 1984.

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gesellschaftlich normierte Zweckordnung als die normale zu kennzeichnen, von der abzuweichen Wahnsinn wäre. Darin läge insoweit ein Moment von intersubjektivem Konsens, als der Grund der Ordnung kein vernünftiger wäre. Dann aber erschiene diese Ordnung auch als eine, die den Weg in den Wahnsinn wenigstens eröffnet, insofern sie jene Sehnsucht erstens provoziert und zweitens sie pejorativ bewertet.640 Zwar kümmert Kant sich ausschließlich um die Typisierung und nicht um die Herkunft psychischer Störungen; indem er aber in der Abhandlung über das Erkenntnisvermögen die Aufhebung des Selbstbewußtseins, die Negation erkenntnistheoretischer Prinzipien, am Modell sozial situierter Angststörungen und Stimmungsschwankungen ausführt, fällt doch ein Schimmer gesellschaftlicher Bedingungen in den Begriff des Selbstbewußtseins. Daß hier von diesem nicht a priori, sondern empirisch die Rede ist, verdankt sich eben der Perspektive der Negation, die im Allgemeinen gegenstandslos wäre, nur am empirischen Selbstbewußtsein vorkommt.

4.

Das Ideal der reinen Vernunft: Zur Objektivität subjektiver Erfahrung

Die in den Grundsätzen unternommene Begründung der Möglichkeit, Kategorien auf Erfahrungsgegenstände zu beziehen, wies über die Subjektivierung der Objekte auf eine Abstützung der Erkenntnistheorie in einem systematischen Begriff von Totalität hin, in dem ihrerseits Subjektivität aufgehoben wäre. – Wahnsysteme waren nur das subjektivistische Spiegelbild davon. Die Problematik, die das Subjekt zur Selbstaufhebung – Erhöhung, Stabilisierung und Suspension gleichermaßen – in der Idee der Totalität treibt, entstand indes aus der dualistischen Trennung von Subjekt und Objekt, Freiheit und Natur, einerseits, und aus dem Ziel der restlosen Vermittlung beider andererseits. Diese Vermittlung gelingt unter der Voraussetzung der schroffen Trennung beider nur im Subjekt. Paralogismen und Antinomien dienen dabei der Verschärfung der Trennung von intelligiblem Subjekt und Erfahrungssubjekt. Dieses wird der Naturkausalität zugeordnet, jenes ganz aus ihr herausgesetzt. So können im intelligiblen Subjekt absolute Annahmen statthaben, deren mangelnder Erfahrungsgehalt ihrer Gültigkeit nichts abträgt. Die Funktion dieser Annahmen soll 640

Vgl. Michel Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft, a.a.O. Foucault interpretiert Wahnsinn grundsätzlich als Negation von Vernunft, ohne die diese selbst unbestimmt bliebe. Obwohl das die Vernunft bestimmende Andere nicht ihre Privation sein muß, sondern auch ihre natürlichen Voraussetzungen sein können, läßt sich wohl festhalten, daß im Wahnsinn ein bestimmtes Verhältnis der rationalen und nichtrationalen seelischen Kräfte ein zentrales Moment ist. Deshalb gibt der gesellschaftliche Umgang mit dem Wahnsinn, dessen Archäologie Foucault zu geben beansprucht, immer auch Auskunft über den gesellschaftlichen Status von Rationalität einerseits und elementarem Menschsein andererseits. „Der Irre enthüllt aber die endgültige Wahrheit des Menschen. Er zeigt, bis wohin die Leidenschaft des Menschen, das gesellschaftliche Leben und alles, was ihn von einer primitiven Natur abhält, die den Wahnsinn nicht kennt, haben bringen können.“ (545) Diese These erfordert weder eine Auflösung des Rationalitätsbegriffs, noch läuft sie zwingend auf kulturelle Regression hinaus. Sie besteht nur darauf, sich über die Grenzen des rational geordneten Lebens, die dessen Definition ausmachen, im Klaren zu sein.

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die Erkenntnistheorie gewissermaßen über sich hinaustreiben; dies sei von Anfang an deren Ziel gewesen, denn die wissenschaftliche Erkenntnis bedürfe der Reflexion ihrer Möglichkeit gar nicht.641 Aber die theoretische Systematisierung von Mathematik und Naturwissenschaft führt Kant zufolge immanent an den Punkt, „da es damit bei uns zu Ende geht“642 . Die Vollkommenheit, auf die Vernunft dennoch dränge, führe zu einer Theologie, die dann aber nur in praktischer, moralischer Rücksicht von Bedeutung sei. Die Notwendigkeit, die ihr dann zukomme, führt Kant darauf zurück, daß die Ideen „reine Vernunftbegriffe“643 seien. Sie seien ursprünglich mit den „Funktionen der Vernunftschlüsse“644 verbunden. Zwar seien sie nicht angeboren und sozusagen entweder okkulten Ursprungs oder bloße Natur, aber doch unmittelbar in jener Vernunfthandlung anwesend, die sich systematisierend auf Verstandeserkenntnis bezieht, um diese „der Vollständigkeit, die jene Idee bezeichnet, so nahe wie möglich zu bringen“645 , denn trotz der Unmöglichkeit eines „absolute[n] Ganze[n] der Erfahrung“ sei „doch die Idee eines Ganzen der Erkenntnis nach Principien überhaupt dasjenige, was ihr allein eine besondere Art der Einheit, nämlich die von einem System, verschaffen kann, ohne die unser Erkenntnis nichts als Stückwerk ist“646 . In diesem Verhältnis von Verstand und Vernunft liegt aber schon die geschichtliche Praxis fortschreitender Naturbeherrschung. Nicht in einem einzelnen Subjekt als solchem ist jene ‚Vernunfthandlung‘ vorstellbar, sondern nur im Progreß der Wissenschaftsgeschichte, in der Verstandesdaten akkumuliert und systematisiert werden durch das Zusammenwirken Vieler über Generationengrenzen hinweg. In dieser kollektivgeschichtlichen Daseinsform der ‚Vernunfthandlung‘ hat auch die Idee systematischer Vollendung allein Realität. Sie entsteht nicht empirisch, aber sie ist Vernunftbestimmung a priori nur insofern, als die Vernunft einem wesentlich kollektiven und geschichtlichen Subjekt zugehört. Die geschichtliche Erscheinung menschlicher Kollektivität ist indes widersprüchlich: Noch ihre grundlegenden Gemeinsamkeiten entfalten die Menschen im Kampf gegeneinander. Will Kant einen widerspruchsfreien theoretischen Ausdruck der Vernunft gewinnen, so muß er die kollektive Vernunfthandlung der Menschen hypostasieren. Die Vorstellung Gottes, in dem das einig ist, was die Menschen zerstückeln, wird insofern zur rettenden Basis nicht der Wissenschaft, die offenbar auch konkurrierend sich entwickelt, aber der Sittlichkeit, die auf moralische Einheit geht. In der bürgerlichen Gesellschaft, in der sittlicher Anspruch und Konkurrenz geradezu prinzipiell opponieren, liegt die Möglichkeit zu einem kritischen Impuls, weil sie über die anderen widersprüchlichen geschichtlichen Gestalten von Kollektivität hinaus eine gesamtgesellschaftliche Zweck- und Handlungsordnung installiert. In ihr liegt, neben der Verkleidung privater als kollektive Zwecke, die reale gemeinsame Organisation ihrer Ausführung. Diese objektive Anweisung aufs 641 642 643 644 645 646

Vgl. Prolegomena, IV §§ 40 und 44. Prolegomena, IV § 44. Vgl. § 57. Prolegomena, IV §§ 43 und 56. Prolegomena, IV § 43. Prolegomena, IV § 44. Prolegomena IV, § 56.

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Ganze allgemeiner Zwecke ist die historische Realität des Maßstabs der Kritik. Auch hier tritt die metaphysische Idee nicht für die Realität der Ordnung, sondern für deren Unwirklichkeit ein: Die Zwecke, nach denen die Menschen ihr Erkennen und Handeln organisieren, sind nicht vernünftig aneinander ausgerichtet. Die Möglichkeit allgemeiner und notwendiger Sätze setzt aber eine Ordnung auch in ihrem Gegenstandsbereich voraus, die positiv nicht auszuweisen ist. Diese in der historischen Erfahrung real nicht gegebene Ordnung postuliert die regulative Idee Gottes, das transzendentale Ideal. Es ist der negative Begriff von Ordnung, dessen Tendenz zur Hypostase gerade das Fehlen von Ordnung anzeigt. Die Erkenntnistheorie käme mit einem bloß negativen Ordnungsbegriff gut aus; die Tendenz zur Hypostase verdankt sich der historischen Perspektive in Kants Erkenntnisbegriff, die einen kulturellen, zivilisatorischen und letztlich sittlichen Fortschritt bezeichnet, dem in der historischen Erfahrung nichts widerspruchsfrei korrespondiert. Insofern sind auch in der Erkenntnistheorie die metaphysischen Begriffe indices falsi, und als solche sind sie notwendig. Gegenüber der Säkularisierungsleistung der Philosophie Kants sind ihre theologischen und religiösen Gehalte pointiert herauszuarbeiten, um die Funktion solcher Begriffe erfassen zu können. Deshalb führen Erkenntniskritik und Kritik der Praxis, die Kant so deutlich trennen will, immer wieder zusammen; nur Erkenntniskritik führt auf den „höchsten Zweck (der immer nur das System aller Zwecke ist)“, und dies umfaßt „nicht bloß den praktischen, sondern auch den höchsten Zweck des spekulativen Gebrauchs der Vernunft“647 . Gegen eine Vermittlung beider sprechen aber doch die Widersprüche der materialistischen Vertreter der Aufklärung, „die freche und das Feld der Vernunft verengende Behauptungen des Materialismus, Naturalismus und Fatalismus“648 . Deren Beseitigung des Gottesbegriffs konnte allerdings deswegen keinen überzeugenden Ersatz schaffen, weil auch sie keine prinzipielle Kritik der neueren Geschichte leisten konnten. Dieser ungeschichtliche Materialismus ist selbst abstrakt; ihm gegenüber scheint es geraten, an Metaphysik festzuhalten. Ohne Verlust überwunden werden könnte diese erst durch das Selbstbewußtsein der konstitutiven Funktionen geschichtlichen Handelns, wie es in Zusammenhang der Kritik an Kants Konzept der Urteilskraft skizziert werden kann. Im Ergebnis der Kritik der reinen Vernunft erklärt Kant metaphysische Spekulation zu einer „Anlage zu transscendenten Begriffen in unserer Vernunft“649 , deren ‚Naturzweck‘ es sei, Moral unabhängig von Theorie zu begründen: „Der praktische Nutzen, den eine bloß spekulative Wissenschaft haben mag, liegt außerhalb der Grenzen dieser Wissenschaft“650 . Würde Erkenntnis selbst als Praxis verstanden, und würde das, was Kant die technische Praxis nennt, selbst moralisch organisiert, ließen vielleicht Vernunft647

648 649 650

Prolegomena, IV § 56. Kurt Bayertz hält fest, daß „eine Lösung des philosophischen Wahrheitsproblems so lange unmöglich bleiben muß, wie von der Beziehung zwischen Erkenntnis und Praxis systematisch abstrahiert und die Wissenschaft als ein autonomer, nur immanenten Determinanten unterliegender Prozeß gedeutet wird“ (Wissenschaft als historischer Prozeß, a.a.O., 204). Prolegomena, IV § 60. Prolegomena, IV § 60. Prolegomena, IV § 60. Vgl. auch Erste Einleitung KdU, 4ff. Um theoretische Wissenschaft und Praxis umso deutlicher zu trennen, sollen die „Sätze der Ausübung […] statt praktischer technische Sätze heißen“ (7).

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ideen sich als negative Grundbegriffe von Praxis verstehen, die der Transzendenz nicht bedürften. In Kants Umgang mit den Problemen von Transzendenz werden die geschichtlichen Widersprüche im Subjekt selbst reproduziert als „Dialektik, die teils den Erfahrungsgebrauch der Vernunft verwirrt, teils die Vernunft mit sich selbst entzweiet“651 , denn die Trennung der Vernunftreflexion auf die Gesetze systematischen Verstandesgebrauchs von dessen Beschränkungen bietet zugleich die Möglichkeit zur theologischen Spekulation, der die Philosophie nicht hineinreden darf, weil sie deren Gebiet gar nicht beanspruche. „[D]er Dienst, den sie [die kritische Philosophie] der Theologie leistet, indem sie solche von dem Urtheil der dogmatischen Speculation unabhängig macht und sie eben dadurch wider alle Angriffe solcher Gegner völlig in Sicherheit stellt“652 , erscheint ihr selbst gegenüber als Bärendienst, denn mit dieser Freistellung theologischer Spekulation, deren Resultate aber Regeln technischer und moralischer Praxis werden sollen, verselbständigt die Vernunft schließlich „ihr eigenes Produkt“653 . Problematisch ist letztlich nicht die Idee selbst, sondern daß sie auch in ihrer Regulativität ein affirmativer Begriff bleibt, der sein negatives Verhältnis zu seinen eigenen Bedingungen, die ihm selbst inadäquaten Umstände, die seine Hypsotase zum Ideal erforderlich machen, nicht reflektiert. Die Auskunft, er sei bloß regulativ, weist in diese Richtung, bleibt aber der Begriffsbildung selbst äußerlich, wird ihr aufgesetzt, weil sie den gebrochenen Charakter von Subjektivität nicht eingestehen will. – Ließ sich nun zuvor, in der von der praktischen Vernunft ausgehenden Darstellung, die Dialektik der reinen Vernunft als ein Abstraktionsmedium auf dem Weg zur transzendentalen Einheit der Apperzeption entwickeln, so ergibt sich umgekehrt, im Ausgang von der Einheit der Apperzeption, doch keine Bereicherung von Subjektivität durch die transzendentale Dialektik. Diese ist insgesamt eine Hilfskonstruktion zur Plausibilisierung einer dualistischen Subjekttheorie. Die Unfähigkeit zur Erfahrung, die in der Einheit der Apperzeption geronnen ist, wird in der Dialektik – und gerade in den regulativen Versuchen ihrer Aufhebung – entfaltet. In deren Aporien wird deutlich, daß eine Lösung des Dilemmas der Subjekte nur in einer kritischen, geschichtlich reflektierten, Neufassung des Subjekt-Objekt-Verhältnisses möglich wäre.

a.

Der Weg des Bewußtseins zu Gott

In mehrfacher Hinsicht weist bereits die Transzendentale Analytik das Desiderat eines Totalitätsbegriffs aus, wie er im Transzendentalen Ideal nun formuliert wird. Im Ideal der reinen Vernunft sind dabei vor allem zwei Probleme miteinander verschränkt, die in der Antinomienlehre offen geblieben waren: Die Dritte Antinomie führte auf das Desiderat einer Gesetzmäßigkeit der Freiheit, die Vierte Antinomie auf dasjenige eines Totalitätsbegriffes.

651 652 653

Prolegomena, IV § 56. Prolegomena, IV 383. Prolegomena, IV § 56 Anm.

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Erstens erfordert also Freiheit ein „Richtmaß der Vernunft […], die des Begriffs von dem, was in seiner Art ganz vollständig ist, bedarf, um darnach den Grad und die Mängel des Unvollständigen zu schätzen und abzumessen“654 . Indem Kant diesen Begriff als positives Vorbild fassen will, gerät er ihm jedoch zur Personifikation im Ideal, worunter die „Idee nicht bloß in concreto, sondern in individuo, d. i. als ein einzelnes, durch die Idee allein bestimmbares oder gar bestimmtes Ding“655 zu verstehen sei. Das Ideal ist am weitesten von der objektiven Realität in der Erscheinung entfernt, weiter als Kategorien und Ideen, und doch kein ‚Hirngespinst‘, kein nihil negativum, sondern ein ens rationis,656 nämlich „die durchgängige Bestimmung nach Regeln a priori; daher sie [die Vernunft] sich einen Gegenstand denkt, der nach Prinzipien durchgängig bestimmbar sein soll“657 . Der ideale Gegenstand wird demnach vorgestellt durch die Zuordnung von jeweils einem aller möglichen sich widersprechenden Attribute durch die Vernunft. So ist er durchgängig, das heißt hinsichtlich aller Bestimmbarkeit, bestimmt. Zweitens ist dieser Konzeption schon anzusehen daß sie auf die allgemeine Form von Idealität hinausläuft, die von der Vernunft endlicher Wesen empirisch nie zu erfüllen wäre. Daraus ergibt sich folgendes Problem: Gibt es ein ideales Richtmaß der gesetzmäßigen Bestimmung der Freiheit, so müssen die spontanen Bestimmungen dieser Freiheit in einem widerspruchsfreien Verhältnis zur Vollständigkeit des Naturzusammenhangs stehen, wenn die Einheit der Erfahrung gewahrt bleiben soll. Sogar die gesetzlosen spontanen Bestimmungen müssen innerhalb eines notwendigen Gesamtzusammenhangs denkbar sein, wie er bereits in der Vierten Antinomie formuliert worden war. Dieser Zusammenhang führt zu dem, was Kant ‚Urwesen‘ nennt.658 Nunerfordert die Vorstellung kosmologischer Notwendigkeit, für sich genommen, keine derartige Idealisierung: Die Aristotelische Kosmosvorstellung, beispielsweise, kam ohne Personifikation aus.659 Ebensowenig bedarf Freiheit – das zweite offene Problem – der Idealisierung, denn das moralische Gesetz benötigt kein Urbild.660 Werden aber beide Seiten in der Absicht aufs System zusammengenommen, so ergibt sich das Desiderat der Vorstellung eines selbst vernunft- und willensbegabten Subjekts des Kosmos, unter deren Voraussetzung empirische Subjektivität erst möglich zu sein scheint. Hierin erscheint die antagonistische Vereinzelung der empirischen Subjekte. Das Ideal von deren Subjektivität ist ein Urbild in individuo, ein – wie einst die Universalien – 654 655 656 657 658

659

660

KrV, B 597f. KrV, B 596. Vgl. KrV, B 624 Anm. KrV, B 599. Vgl. KrV, B 612: „Wenn etwas, was es auch sei, existiert, so muß auch eingeräumt werden, daß irgend etwas notwendigerweise existiere. Denn das Zufällige existiert nur unter der Bedingung eines anderen, als seiner Ursache, und von dieser gilt der Schluß fernerhin, bis zu einer Ursache, die nicht zufällig und eben darum ohne Bedingung notwendigerweise da ist. Das ist das Argument, worauf die Vernunft ihren Fortschritt zum Urwesen gründet.“ Das unbewegt bewegende Prinzip des Aristoteles, beispielsweise, ist nicht mit einer personalen Gottesvorstellung verbunden. Wenn in seinem Kontext von ‚göttlichem‘ die Rede ist, so bezeichnet dies die ausgezeichnete theoretische Position des Prinzips. Vgl. Herbert Schnädelbach, Vernunft, a.a.O., 61. Vgl. auch Michael Städtler, Die Freiheit der Reflexion, a.a.O., 205-212. Vgl. KrV, B 597.

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selbst als vereinzelt gedachtes Absolutes, das gleichwohl alles umfasse. Kants Beispiel fürs Ideal, die „Menschheit in ihrer ganzen Vollkommenheit“661 sollte wohl moralische und spekulative Totalität verbinden können, jedoch steht gerade sie schief zum Ideal. Die Menschheit, als Gattung verstanden, ist nicht in individuo zu denken, sondern nur als vernünftig organisierte Wechselbeziehung aller Einzelnen zu einem Ganzen. Diese Vorstellung ist aber mittels durchgängiger Bestimmung a priori, durch Zu- oder Absprache sämtlicher Prädikate, also letztlich mittels durchgängiger einfacher Negation,662 nicht zu entwerfen. Entworfen werden könnte sie nur durch wechselseitige Bestimmung der Menschen im Verhältnis zueinander als ihresgleichen und als voneinander verschieden, sowie in ihrem Verhältnis zu dem, was sie zugleich nicht sind und doch auch sind: zur Natur. Kants Ideal vollkommener Menschheit dagegen kann nur die Menschheit in einer Person betreffen; wohl ist diese, als empirische Repräsentation des Allgemeinen, ein wesentliches Moment von Menschheit, aber für sich genommen gerät die individualisierte vollkommene Menschheit zum Klischee des Weisen und Tugendhaften. Dieser ist – auch wenn er seine Weisheit über sein humanes Verhältnis zu anderen versteht – wesentlich vereinzelter Einzelner, denn die sozialen Beziehungen greifen diesem Konzept nach nicht auf die dissoziierenden Prinzipien der Gesellschaft über.663 Kant setzt auch hier den Antagonismus der Privatpersonen dem Versuch seiner Aufhebung systematisch voraus und trägt mit jenem eine historische Bedingung in den systematischen Begriff des Unbedingten ein. Die Vorstellung der vollständigen Bestimmung eines Begriffs zum Ideal setzt dessen Bestimmbarkeit – „daß nur eines von jeden zwei einander kontradiktorisch entgegengesetzten Prädikaten ihm zukommen könne“664 – ebenso voraus wie seine „durchgängige[] Bestimmung, nach […] [deren Grundsatz] ihm von allen möglichen Prädikaten der Dinge, so fern sie mit ihren Gegenteilen verglichen werden, eines zukommen muß“665 . Damit aber verweist die Vorstellung von Idealen überhaupt auf „das einzige eigentliche Ideal, dessen die menschliche Vernunft fähig ist“666 , nämlich die Vorstellung Gottes. Sie ergibt sich daraus, daß die durchgängige Bestimmung eines Gegenstandes nur durch Negationen, durch disjunktive Vernunftschlüsse, darzustellen ist. Der Gegenstand ist disjunktiv „auf die gesamte Möglichkeit, als den Inbegriff aller Prädikate der Dinge

661 662 663

664 665 666

KrV, B 596. Vgl. KrV, B 599. Vgl. z. B. Otfried Höffe, Lebenskunst und Moral, a.a.O., 359: „Die Moralität wirkt zwar in die natürliche und soziale Welt hinein und befördert das reale Glück. Die Welt ist aber nicht so eingerichtet, daß stets ein zur Moralität proportionales Glück herauskommt.“ Für die Einrichtung der Welt ist sie nicht zuständig, sondern für deren Defizite kommt allenfalls die „Einstimmung des Schicksals“ (361) auf. Was dem Einzelnen bleibt, ist ein affirmatives Verhältnis zur Selbstachtung: „Für vieles mag man andere und anderes, Mitmenschen und Umstände, verantwortlich machen, die Verantwortung für die Selbstachtung trägt man ausschließlich allein.“ (361) Die Verantwortung aber dafür, daß unter manchen Umständen niemand sich selbst mehr zu achten vermag, ohne in den Tod zu gehen, tragen diejenigen, die an der Achtung festhalten, gewiß nicht selbst. KrV, B 599. KrV, B 599f. KrV, B 604.

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überhaupt“667 bezogen und setzt eine „Materie zu aller Möglichkeit, welche a priori die Data zur besonderen Möglichkeit jedes Dinges enthalten soll“668 voraus. Muß man aber, „um ein Ding vollständig zu erkennen, […] alles Mögliche erkennen“669 , so ergibt die Vorstellung der Intelligibilität alles Möglichen die „Idee von dem Inbegriffe aller Möglichkeit“670 . Dieser Inbegriff darf nun weder Widersprüche noch abgeleitete Bestimmungen enthalten, beides würde die absolute Möglichkeit einschränken, da abgeleitete Bestimmungen selbst Beschränkungen, Negationen – vermittelt durch etwas Anderes als sie selbst – sind. Insofern sie ein Nichtsein ausdrücken, kann als ursprüngliches Prädikat des transzendentalen Ideals nur unbeschränktes Sein gelten. Dieser Inbegriff aller Prädikation und Bestimmtheit wird zum ens realissimum, dem Unbeschränkten, das allen Schranken zugrundeliegt. Kant zufolge beruht die Hypostase der Vollständigkeit zum Ideal auf „einer natürlichen Illusion“671 der Vernunft: Tatsächlich sei lediglich die Einheit der Erfahrung als Bedingung der Möglichkeit bestimmter Gegenstände vorauszusetzen, da diese alle ihrem Inhalt nach Gegenstände der Erfahrung seien und ihre Prädikation lediglich dem konsistenten Zusammenhang mit anderen Erscheinungen nicht widersprechen dürfe.672 Diese Einheit auf ein Ding an sich zu beziehen – das „transszendentale[] Prinzip der Möglichkeit der Dinge überhaupt“673 –, sei dann die dialektische Verwechslung. Kant beschreibt hier zwar sein eigenes Vorgehen bei der Bestimmung des transzendentalen Ideals – vielleicht auch das seinerzeit gemeinhin akzeptierte – aber einen Grund für die Notwendigkeit der Verwechslung führt er nicht an. Wenn er schreibt, „[d]aß wir aber hernach diese Idee vom Inbegriffe aller Realität hypostasieren, kommt daher“, so gibt er anschließend keineswegs den zu erwartenden Herkunftsgrund der Hypostase an, sondern paraphrasiert erneut sein eigenes Verfahren: „weil wir die distributive Einheit des Erfahrungsgebrauchs des Verstandes in die kollektive Einheit eines Erfahrungsganzen dialektisch verwandeln und an diesem Ganzen der Erscheinung uns ein einzelnes Ding denken, was alle empirische Realität in sich enthält, welches denn vermittelst der schon gedachten transzendentalen Subreption mit dem Begriffe eines Dinges verwechselt wird, was an der Spitze der Möglichkeit aller Dinge steht, zu deren durchgängiger Bestimmung es die realen Bedingungen hergibt“674 . Nun ist schon die Vorstellung des Ideals der Vollständigkeit aller affirmativen Prädikate problematisch, weil sie selbst auf der durchgängigen Negation aller negativen Prädikate beruht. Schon Kants Beispiel – „[d]er Ausdruck Nichtsterblich kann gar nicht zu erkennen geben, daß dadurch ein bloßes Nichtsein am Gegenstande vorgestellt werde“675 – unterschlägt, daß tatsächlich die Sterblichkeit ein Moment des Nichtseins am Gegenstand ausdrückt, die Nichtsterblichkeit aber ein Nichtsein am Prädikat. Ebenso 667 668 669 670 671 672 673 674 675

KrV, B 600. KrV, B 601. KrV, B 601. KrV, B 601. KrV, B 610. Vgl. KrV, B 609f. KrV, B 610. KrV, B 610f., meine Kursivierung. KrV, B 602.

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ist die Unbeschränktheit676 offensichtliche Negation der Negation, und die Prädikate ‚einig, einfach, allgenugsam, ewig etc.‘677 lassen sich ihrerseits nur als Negationen einer differenten, mannigfaltigen, bedürftigen und zeitlichen Natur auffassen. Zudem ist unerklärlich, wie diese affirmativen Prädikate sonst, ohne Bezug auf ihre negative Herkunft, in dem Inbegriff aller Realität überhaupt unterschieden sein sollten, denn der Unterschied – als negative Bestimmung – kann nicht selbst Bestimmung des ens realissimum sein – das nicht allein „alle Prädikate ihrem transzendentalen Inhalte nach unter sich, sondern […] sie in sich begreift“678 – ohne einen Widerspruch zu erzeugen. Von diesen Aporien im Begriff des Ideals abgesehen, bleibt es zunächst unklar, aus welchem erkenntnistheoretischen Anlaß es „als die Vorstellung von einem Individuum erkannt“679 und sodann als ‚Urwesen‘, ‚höchstes Wesen‘, ‚Wesen aller Wesen‘ vorgestellt wird, obwohl es doch selbstverständlich sei, „daß die Vernunft zu dieser ihrer Absicht, nämlich sich lediglich die notwendige durchgängige Bestimmung der Dinge vorzustellen, nicht die Existenz eines solchen Wesens, das dem Ideale gemäß ist, sondern nur die Idee desselben voraussetze“680 . Die Hypostase ergibt sich erst daraus, daß unter Voraussetzung der Vorstellung des Ideals alle Bestimmungen als ‚Einschränkungen‘ dieser Vorstellung und diese selbst als „bloßes Aggregat von abgeleiteten Wesen“681 verstanden werden müßten. Wird es dagegen als Urwesen verstanden, ist es per definitionem nicht mehr einschränkbar. Die Hypostase – wie alle Hypostasen – erzwingt bloß sich selbst. Da Kant den Begriff der Vollständigkeit nicht als Negation der Negation, damit auch nicht als begrifflich abhängig von seinem Anderen, erfaßt, erscheint ihm die „transzendentale Verneinung [als] […] Nichtsein an sich selbst, dem die transzendentale Bejahung entgegengesetzt wird, welche ein Etwas ist, dessen Begriff an sich selbst schon ein Sein ausdrückt“682 . Das transzendentale Ideal ist der Begriff, der an sich ein Sein ausdrückt und kongruiert so formal dem ontologischen Begriff Gottes, demzufolge dieser notwendig existiert, weil sein Nichtsein nicht Bestandteil seines Begriffs sein kann. Ebenfalls diesem Begriff zufolge ist Gott aber auch größer als er gedacht werden kann,683 was zweierlei impliziert: Erstens weist er über sich hinaus, indem er die Mannigfaltigkeit hervorbringt ‚als seine vollständige Folge‘, zweitens entzieht er sich der Erkennbarkeit durch den endlichen Verstand, der ihn zwar soeben bewies, nun sich aber – in der dritten, die Negation der Negation als Verfahren insgesamt aufhebenden, Negation – gegen 676 677 678

679 680 681 682 683

Vgl. KrV, B 604. Vgl. KrV, B 607. KrV, B 605. Zu dem Problem des absoluten Unterschieds in der Idee vgl. bereits Platon, Parmenides, a.a.O., 166b. Die ideale Vereinigung von Identität und Unterschied, Platons späte Antwort auf das metexis-Problem, führt auf den reinen Widerspruch: „So sei demnach dieses gesagt und auch, daß, wie es scheint, ob das Eins nun ist oder nicht ist, es selbst und das Andere insgesamt, für sich sowohl als in Beziehung aufeinander, alles auf alle Weise ist und nicht ist, und sowohl scheint als auch nicht scheint.“ KrV, B 604. KrV, B 605f. KrV, B 607. KrV, B 602. Vgl. Anselm von Canterbury, Proslogion, a.a.O., 111.

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die Möglichkeit eines solchen Beweises verwahren muß, wenn der Begriff nicht bloß resultative, sondern absolute Geltung haben soll.684 Für Kant kommt noch etwas hinzu, das den Hinweis auf das dialektische quidproquo von distributiver Einheit des Erfahrungsgebrauchs und kollektiver Einheit des Erfahrungsganzen erzwinge: die Ahnung nämlich, daß die Vorstellung der kollektiven Einheit des Erfahrungsganzen den wirklichen Erfahrungsgebrauch der Menschen ausschließt, weil diese Menschen so selbst zum bloß abgeleiteten Attribut des Absoluten würden. Die bloß distributive Einheit des Erfahrungsgebrauchs hingegen würde Einheit und Bestimmtheit immer nur in partikularen Erkenntniszusammenhängen herstellen, ohne daß zu erklären wäre, wie dies möglich sei und wie dann dennoch universale Urteile möglich seien. Für Kant ist Wissenschaft eine Tätigkeit partikularer Subjekte, deren Resultate dann allgemein und notwendig gelten und deshalb für alle anderen einzelnen Subjekte einsehbar sind. Deshalb ist die transzendentale Bedingung der Möglichkeit ihrer Einheit ein transzendentales Subjekt, in dem alle ihre differierenden Vorstellungen, auch ihr praktischer Antagonismus, aufgehoben sind. Die Allgemeingültigkeit des Urteils reflektiert aber ebenso die arbeitsteilige Verschränkung tendentiell aller Subjekte in der zivilisatorischen und kulturellen Differenzierung vom unmittelbaren Naturzusammenhang. Diese gegenständliche Beziehung der Menschen als gegenständlicher Wesen auf Gegenstände ermöglichte einen anderen Begriff von Natureinheit: Diesem zufolge ist soviel Vernunft in der Welt, wie die Menschen in ihr verwirklichen.685 Demnach könnte Welt als Bedingung der Einheit von Erfahrung erst durch die Beziehung der Menschen auf Gegenstände in der Welt entstehen. Dieser Weltbegriff antizipiert zugleich die praktische, nicht bloß idealische, Überwindung des Antagonismus der Subjekte, unter dessen stillschweigender Voraussetzung dagegen kein Begriff von Wissenschaft ohne den Gottes auskommt, dessen Annahme doch zugleich quer zur Möglichkeit von Wissenschaft steht, weil sie die radikal selbstbestimmte Organisation von Erfahrung ausschließt. Gegen Kants Lösung des Allgemeinheitsproblems spricht, daß er der Partikularisierung der Vernunft heteronom antagonistischer Subjekte die allgemeine Heteronomie ihrer vernünftigen Subjektivität entgegenstellen will. Dadurch aber wird das Problem nicht sowohl behoben als vielmehr zum allgemeinen Prinzip erhoben. Diese Allgemeinheit ist in sich verkehrt. Kant macht sich diesen Einwand nicht, auch nicht in der schlichten Form, daß die Voraussetzung des „unbeweglichen Felsen[s] des Absolutnotwendigen […] [,der] selbst alles erfüllt und dadurch keinen Platz zum Warum mehr übrig läßt“686 , alles autonome Leben und Denken unter heteronome Bedingungen stellte. Kant wendet sich aber etwas Anderes ein: Aus dem Begriff des Absolutnotwendigen könne doch „nicht sicher gefolgert werden […], daß, was nicht die höchste und in aller Absicht vollständige Bedingung in sich enthält, darum selbst seiner Existenz nach bedingt sein

684

685

686

Das allgemeine Schema dieses Vorgehens läßt sich schon an Proklos, Kommentar zu Platons Parmenides, St. Augustin 1990, demonstrieren. Vgl. Michael Städtler, Die dritte Negation, a.a.O. Vgl. Max Horkheimer, Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie, Gesammelte Schriften, Bd. 2, Frankfurt am Main 1987, 268. KrV, B 612.

480

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müsse“687 . Dadurch fiele der Schluß auf die Notwendigkeit des Daseins Gottes – um der Möglichkeit des Daseins der endlichen Gegenstände willen – wegfiele. Zudem sei über den Realitätsgehalt des Gottesbegriffs nichts auszumachen: Die bloße Negation der Bedingungen des Denkens im Begriff des Unbedingten zeigt nicht an, „ob ich alsdann durch einen Begriff eines Unbedingtnotwendigen noch etwas, oder vielleicht gar nichts denke“688 . Kants Versuche der Widerlegung des ontologischen Gottesbeweises scheitern indes.689 Sein zentraler Einwand lautet, das Seinsprädikat ‚ist‘ sei kein Prädikat, sondern setze nur die Position des in sich vollständigen Begriffs Gottes, ein Dasein seines Begriffs, das deswegen dessen Dasein sei, weil es sich von ihm nicht dem Gehalt nach, sondern lediglich in der Beziehung auf unsere Erkenntniskräfte unterscheide: „Denn obgleich an meinem Begriffe von dem möglichen realen Inhalte eines Dinges überhaupt nichts fehlt, so fehlt doch noch etwas an dem Verhältnisse zu meinem ganzen Zustande des Denkens, nämlich daß die Erkenntnis jenes Objekts auch a posteriori möglich sei.“690 Dieser Einwand verfehlt sein Ziel, denn der ontologische Gottesbeweis prädiziert nicht die Existenz eines Wesens, das seine Existenz einschließt; so wäre es in der Tat „eine elende Tautologie“691 . Vielmehr behauptet er, der Begriff des ens realissimum selbst sei ohne dessen objektiv reale Existenz unmöglich zu denken, so daß dieser Begriff um seiner Möglichkeit willen unmittelbar selbst seine Wirklichkeit setze.692 Keineswegs wird – wie Kant unterstellt – ein Zwang statuiert, daß Menschen diese Wirklichkeit erst von ihm prädizieren müßten. Im Gegenteil ist Gott jenem Beweis zufolge nicht bloß das Größte, was gedacht werden kann, sondern größer als er gedacht werden kann. Kants Versuch, die Wirklichkeit zu einem bloßen Prädikat unseres Erkenntnisvermögens zu nivellieren, birgt eine fatale Wendung: Ist der Begriff Gottes in seiner logischen Möglichkeit schon vollständig und wäre seine Existenz bloß ein verändertes Verhältnis zum Denken, so wäre er unangesehen der Existenzprädikation wirklich, so wie es das Kreditwesen erlaubt, mit lauter möglichen Talern zu operieren als wären es wirkliche und so glänzende Geschäfte zu machen. Im Gegensatz zu Spekulationsgeschäften, die platzen können, hält der ontologische Gottesbegriff stand; er vermag gerade deshalb in der Vorstellung alles, weil er in Wirklichkeit nichts vermag, denn so ist er deren Bedingungen materialiter nicht unterworfen. Kants Idealismus gelingt, weil die Existenz Gottes seinem Begriff tatsächlich nichts hinzufügt: So oder so bewegt er alles und zugleich nichts.

687 688

689

690 691 692

KrV, B 614. KrV, B 621. Auch könne man sich „nicht den geringsten Begriff von einem Dinge machen, welches, wenn es mit allen seinen Prädikaten aufgehoben würde, einen Widerspruch zurück ließe“ (KrV, 623f.). Schließlich: „Die unbedingte Notwendigkeit der Urteile aber ist nicht eine absolute Notwendigkeit der Sachen“ (KrV, B 621). Anders und für viele: Herbert Schnädelbach, Vernunft, a.a.O., 70: „Kants Kritik aller Gottesbeweise bedeutete hier einen wohl endgültigen Schlußpunkt“. KrV, B 628. KrV, B 625. Vgl. Anselm von Canterbury, Proslogion, a.a.O., 85. Diesem Gedanken kann Kant, unter Verweis auf den empirischen Anteil an der Objektivität der Begriffe, nicht folgen. Vgl. KrV, B 667.

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Philosophie, die ihre Gegenstände als absolutes System zu denken beansprucht, schafft sich eine Objektivität, in der das Subjekt seine eigene Subjektivität vergegenständlicht zur ihm heteronomen Hypostase, deren Gesetzen es dann nur mehr zu folgen scheint. Insofern ist der ontologische Gottesbeweis Moment jedes Systems.693 Allein ein kritischer Begriff von System, von dessen Aporetik, könnte Subjektivität im Subjekt bewahren. Er hätte die Bedingungen des Systems in der wirklichen Erfahrung in Rechnung zu stellen: die materiellen Voraussetzungen, die sich in den Brüchen des Systems mitteilen. Kreditgeschäfte platzen nicht, weil sie Kreditgeschäfte sind, sondern nur wenn durch sie Werte repräsentiert werden, die sich materiell nicht realisieren lassen. So gesehen möchte „ein Mensch […] wohl eben so wenig aus bloßen Ideen an Einsichten reicher werden, als ein Kaufmann an Vermögen, wenn er, um seinen Zustand zu verbessern, seinem Kassenbestande einige Nullen anhängen wollte“694 . Kants eigene Kritik am Gottesbeweis setzt indes schon voraus, daß der Schluß auf den Absolutnotwendigen „der natürliche Gang [sei], den jede menschliche Vernunft, selbst die gemeinste, nimmt“, um „irgendwo ihren Ruhestand in dem Regressus vom Bedingten, das gegeben ist, zum Unbedingten zu suchen“695 . Damit nimmt Kant fürs transzendentale Ideal der Sache nach das in Anspruch, was unter dem Titel des kosmologischen Gottesbeweises seiner bissigen Kritik verfällt,696 und was in anderer Gestalt unter dem Titel des physikoteleologischen Gottesbeweises dem Gehalt nach gewürdigt, der Beweisabsicht nach jedoch zurückgewiesen wird.697 Kant erkennt, daß Vernunft, die sich einmal auf die systematische Begründung aller Erkenntnis in einem nicht von ihr selbst gesetzten rationalen Zusammenhang einläßt, kein Halten mehr kennt: „Zuerst überzeugt sie sich vom Dasein irgendeines notwendigen Wesens. In diesem erkennt sie eine unbedingte Existenz. Nun sucht sie den Begriff des Unabhängigen von aller Bedingung und findet ihn in dem, was selbst die zureichende Bedingung zu allem andern ist, d. i. in demjenigen, was alle Realität enthält. Das All aber ohne Schranken ist absolute Einheit und führt den Begriff eines einigen, nämlich des höchsten Wesens bei sich; und so schließt sie, daß das höchste Wesen als Urgrund aller Dinge schlechthin notwendiger Weise da sei.“698 Obwohl Kant die Haltlosigkeit dieser Vernunft sieht, schließt er nicht darauf, daß sie sich ihrer Bodenhaftung selbst beraubt habe; er stellt nur fest, daß sie das heteronome Prinzip, auf das sie stieß, nicht selbst begründen könne. Es ist kaum zu unterscheiden, ob es Kant vorrangig darum zu tun ist, zu zeigen, daß das Ideal auch ohne Religion denkbar sei, oder darum, zu zeigen, daß Religion trotz allen Zweifeln an ihr doch möglich sei. Welche erkenntnistheoretische Funktion die Behaup693

694 695 696 697

698

Das weist Kant auch Leibniz nach, dessen kosmologischen Gottesbeweis er auf den ontologischen zurückführt (vgl. KrV, B 632ff.); ebenso wird der physikoteleologische Gottesbeweis, sofern er objektive Realität beansprucht, aus den ontologischen reduziert (vgl. KrV, B 657). KrV, B 630. KrV, B 612. Vgl. KrV, B 638. Vgl. KrV, B 651 u. 657. Im Schluß von der Unfähigkeit der Natur, sich selbst zu konstituieren, auf einen dann nicht weiter zu qualifizierenden Grund sieht Karl Heinz Haag, Der Fortschritt in der Philosophie, a.a.O., 72, das Potential negativer Metaphysik. KrV, B 614f.

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tung hat, daß die Menschen etwas ‚treibt sich zu entschließen‘699 , worin sie den Begriff des höchsten Wesens setzen wollen, anstatt den Begriff bestenfalls als problematisch zu akzeptieren, bis er bewiesen sei, ist kaum zu verstehen ohne Rücksicht auf das theologische Problem, daß ein Absolutnotwendiger, der durch Beweis einzusehen wäre, von seinem Beweisgrund abhinge und deshalb weder absolut noch notwendig wäre: Wer sich nicht entschließt, ohne Beweis ein höchstes Wesen anzunehmen, wird es nie annehmen müssen, da es, wie Kant en détail nachweist, nicht zu beweisen ist.700 Dasjenige aber, was nun treibt, zur Annahme des Daseins Gottes sich zu entschließen, ist die Gegenstandslosigkeit praktischer Vernunft, deren begriffene Verbindlichkeit noch des göttlichen Gerichts als Triebfeder bedürfe. Kants Metaphorik der Heteronomie in den Ausdrücken ‚treiben‘, ‚Triebfedern‘ und ‚Nachdruck‘701 ist indes keine bloße Metaphorik, sondern bezeichnet auch das Gewaltsame, das in diesem Abschluß einer negativ angelegten Erkenntnistheorie liegt. Diese treibt zur Praxis, nicht so sehr weil sie den Anspruch der Vernunft auf ihre Objektivierung begründet, sondern weil ihr selbst unvermerkt praktische Bestimmungen, die Bedingungen der antagonistischen Partikularisierung der Subjekte, unterlegt sind. Die universale Vereinbarkeit solcher Subjekte ist im Subjektbegriff einer affirmativ idealisierten Erkenntnistheorie nicht darstellbar. Demgemäß zweifelt Kant: „[W]ie kann jemals Erfahrung gegeben werden, die einer Idee angemessen sein sollte? Darin besteht eben das Eigentümliche der letzteren, daß ihr niemals irgendeine Erfahrung kongruieren könne.“702 Eine Idee aber, die sich in der Erfahrungswelt nicht darstellen ließe, wäre – nicht nur nach Hegel – gegenstandslos. Die Vollständigkeit, die Kant zufolge die Idee unerfahrbar macht, entzieht sie wohl der individuellen, partikularen Erfahrung, nicht aber entzöge sie sie notwendig auch einer kollektiven Erfahrung, einem konsistent geordneten Erfahrungszusammenhang der Einzelnen, die nicht individualantagonistisch einander ausschlössen, sondern selbstbewußt ein kollektives Subjekt begründeten, dessen allgemeine Zwecke von allen Einzelnen eingesehen werden können müßten, da sie deren vernünftigen Zwecken nicht notwendig zuwiderliefen.703 In der Möglichkeit kollektiver Naturbearbeitung zum gemeinsamen Nutzen, ohne die natürlichen Ressourcen der anderen Subjekte zu beschädigen, liegt die Wahrheit von Kants Bemerkung, die zweckmäßige Ordnung der Natur sei kein Grund, auf Gott zu schließen, da sie nur durch Analogie zur Handwerkskunst überhaupt als solche wahrge699 700

701

702 703

Vgl. KrV, B 615. Auf Systematik und Geschichte der Gottesbeweise weiter einzugehen, ist hier weder möglich noch notwendig. Für Kant sind sie daher so wichtig, weil er durch ihre Kritik innerhalb seines eigenen, transzendentalphilosophisch unbequemen, Gottesbegriffes differenzieren will. Allein die Zwangsläufigkeit, mit der Kant dorthin gerät, war hier zu zeigen. Für ausführliche Referenzangaben vgl. Georg Mohr, Immanuel Kant. Theoretische Philosophie. Texte und Kommentar, Bd. 3, Frankfurt am Main 2004, 308. Vgl. KrV, B 617. Daher ist der Satz vom Dasein Gottes für Kant der „wichtigste[] aller Sätze der reinen Vernunft“ (Bemerkungen, VIII 152), der ihn wieder und wieder umtreibt. KrV, B 649. Deshalb ist die einzige bestimmte Idee, die Hegel selbst, neben der Natur, ausgeführt hat, nicht zufällig der Staat, der die vollständige Vermittlung der Einzelnen mit dem Allgemeinen und mit den natürlichen Bedingungen staatlicher Sittlichkeit, vorstellen soll.

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nommen werde:704 Die Welt, die wie ein Kunstprodukt angesehen wird, ist grundsätzlich nach vernünftigem Plan formbar. In Kants Differenzierung, dies begründe allenfalls einen Demiurgen, nicht aber einen Schöpfer, schwingt mit, daß noch die Herkunft des Materials, das zur Bearbeitung durch den Demiurgen geeignet sei, nach Höherem verlange. Ist dieser Demiurg die Menschheit, so ist sein Material, die Welt, schon immer Resultat der Geschichte von Zivilisierung und Kultivierung. Das Objekt ist schon längst Objektivierung eines – an sich – kollektiven Subjekts, wenngleich dieses sich seiner als eines solchen noch nicht bewußt wurde. Die Handhabbarkeit des Naturmaterials ist Resultat kollektiver Erfahrung, deren subjektive Voraussetzungen – die Erkenntnisbedingungen Sinnlichkeit, Verstand und Vernunft – erschlossen werden können, deren objektive Voraussetzungen aber nicht bewiesen oder postuliert werden müssen, weil sie schon an sich praktisch – nicht etwa unabhängig vom Subjekt – da sind. Diese kulturphilosophische Perspektive wird an der spekulativen Grundlage der Erkenntnistheorie sichtbar, weil hier die Bedingung der Möglichkeit des Subjekt-Objekt-Verhältnisses nicht mehr in weitere Vermögen postponierbar ist. Hinter dem idealisierten Grund universaler Erkenntnisse lassen sich praktische Bedingungen der Universalität der Subjekte wie der Objekte solcher erkenntnisse ausmachen. Im Zusammenhang der Kritik der Urteilskraft wird hierauf näher einzugehen sein. Wenn aber – und nur wenn – die Subjekte als substantiell Einzelne, antagonistische zumal, verstanden werden, bleibt alle Erfahrung partikular. Die Überwindung dieser Partikularität durch intelligible Allgemeinheit, allein in der Vorstellung, ist dann aber ohne Gottesbeweis nicht mehr schlüssig darzulegen. So formuliert Kant zwei Prinzipien: Erstens sei zu allem Bedingten ein a priori Unbedingtes anzunehmen, zweitens aber nichts Empirisches als Unbedingtes anzuerkennen.705 Diese Prinzipien seien keine objektiven, sondern subjektive, bloß regulative Prinzipien. Das erste sei notwendig anzunehmen, „um systematische Einheit in […] [die] Erkenntnis zu bringen“706 , das zweite wird nicht weiter begründet: In diesem Verhältnis spiegelt sich die Aporie im Verhältnis der Notwendigkeit, Gott anzunehmen, zur Untunlichkeit seines Beweises. Gerade indem das zweite Prinzip zum regulativen erklärt wird, ist ausgedrückt, daß diese Beschränkung keine Zweifel an der tatsächlichen Existenz Gottes begründe; nur für uns sei das nicht darstellbar. Durch den Ausschluß des Absoluten aus der Erfahrungswelt wird so gerade seine Annahme außerhalb dieser begünstigt.707 Erkenntnis in der Welt scheint schließlich nur möglich, weil Gott außer und über ihr anzunehmen sei.708 Der theoretische Gottesbegriff bleibt problematisch, aber der ‚Drang‘, ihn anzunehmen, bleibt ebenso, da die Möglichkeit allgemeiner wissenschaftlicher Erkenntnis der endlichen partikularen Subjekte zunehmend daran hängt. Von hier aus erscheinen die Kritik der praktischen Vernunft und die Kritik der Urteilskraft als erkenntnistheoretische Unternehmen: Nur die praktische Absicht erlaubt es, den problematischen Begriff Gottes als Postulat zu befestigen und schließlich im moralischen Beweis vom Dasein 704 705 706 707 708

Vgl. KrV, B 654. Vgl. KrV, B 644. KrV, B 644. Vgl. KrV, B 645. Vgl. KrV, B 646f.

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D  F  S

Gottes noch einmal groß durchzuführen.709 Auf praktischem Gebiet fungiert Gott nicht als Bedingung von Zufälligem, der Welt der Erfahrung, sondern als Bedingung des Sittengesetzes, das aus reiner Vernunft gesetzt und daher notwendig ist. So vermeidet das Argument die Mängel des kosmologischen oder des physikoteleologischen Gottesbeweises, ohne doch ontologisch zu argumentieren. Der Nachweis der Gültigkeit des zweiten Postulats der reinen praktischen Vernunft dient so dazu, die Annahme der Bestimmungen des transzendentalen Gottesbegriffs zu legitimieren. So werden auf einem Umweg die Bestimmungen des ontologischen Gottesbegriffs, die an ihm selbst nicht beweisbar waren, doch mit Realität ausgestattet, ohne daß explizit begründet würde, warum es dieser Gottesbegriff sein muß, der dem Postulat unterlegt wird. Als zwingend erscheint das nur, wenn es um systematische Koordinierbarkeit der Erkenntnisse antagonistisch aufeinander bezogener Subjekte zu tun ist. So wie deshalb die Kritik der praktischen Vernunft Konsequenzen aus einem Mangel der Kritik der reinen Vernunft zieht und als dessen Funktion erscheint, so begründet umgekehrt die Kritik der reinen Vernunft die theoretische Subjektivität eben jener antagonistischen Subjekte der Geschichte, deren Moralprinzip die Kritik der praktischen Vernunft entwirft. Kants System will Heteronomie – das an sich rational Unbegreifliche – begreifen, und muß sie daher einbegreifen. Zwar heißt es: „Die Vernunft bezieht sich niemals geradezu auf einen Gegenstand, sondern lediglich auf den Verstand und vermittelst desselben auf ihren eigenen empirischen Gebrauch, schafft […] keine Begriffe (von Objekten), sondern ordnet sie nur“710 , hierfür aber setzt sie „eine gewisse kollektive Einheit zum Ziele der Verstandeshandlungen […], welche sonst nur mit der distributiven Einheit beschäftigt sind“711 . Damit die distributive Einheit des Erfahrungsgebrauchs überhaupt zu Erkenntnissen gelangen könne, müsse die Vernunft die kollektive Einheit des Erfahrungsganzen – freilich nicht für unsere Erfahrung, wohl aber überhaupt – setzen. Zu diesem ‚focus imaginarius‘ sei die Vernunft nun durch keine Einsicht berechtigt, durchaus aber aufgrund ihres Interesses, durch die Vorstellung geordneter Totalität den Verstandesgebrauch zu ordnen und damit zu erweitern.712 Allein deshalb schließlich 709

710 711 712

Vgl. KdU, §§ 87-91. Dieses Vorhaben war für Kant in der Kritik der reinen Vernunft offenbar schon leitend; vgl. KrV, B 662: „Wir werden künftig von den moralischen Gesetzen zeigen, daß sie das Dasein eines höchsten Wesens nicht bloß voraussetzen, sondern auch, da sie in anderweitiger Betrachtung schlechterdings notwendig sind, es mit Recht, aber freilich nur praktisch postulieren; jetzt setzen wir diese Schlußart noch bei Seite.“ Vgl. auch B 668. – Auf die zunehmende Wichtigkeit dieses Motivs für Kant weist Georg Mohr hin: Das sinnliche Ich, a.a.O., 315. Zugleich meldet er Zweifel an der metaphysischen Hypostase heuristischer Prinzipien an (321; 323). Vgl. auch Rudolf Malter, Artikel ‚Kant/Neukantianismus‘ in: Theologische Real-Enzyklopädie, Berlin 1988, Bd. XVII. KrV, B 671. KrV, B 672. Vgl. KrV, B 702: Auf folgende Weise sollen bloße Gedankendinge mit Realität ausgestattet werden: „Also sollen sie an sich selbst nicht angenommen werden, sondern nur ihre Realität als eines Schema des regulativen Prinzips der systematischen Einheit aller Naturerkenntnis gelten, mithin sollen sie nur als Analoga von wirklichen Dingen, aber nicht als solche an sich selbst zum Grunde gelegt werden. Wir heben von dem Gegenstande der Idee die Bedingungen auf, welche unseren Verstandesbegriff einschränken, die aber es auch allein möglich machen, daß wir von irgendeinem Dinge einen bestimmten Begriff haben können. Und nun denken wir uns ein Etwas, wovon wir,

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komme der Hypostase der Vernunftidee objektive Realität zu: Sie fungiere analog zum Schematismus des Verstandes und beziehe die Einheit des Verstandes auch im Hinblick auf die universalen, über Erfahrung hinausreichenden Verstandesurteile auf objektive Realität. Damit gebe sie einen Grund an, warum die subjektive Einheit des Verstandes überhaupt auf Gegenstände bezogen werden kann. Dieses Schema ist aber selbst widersprüchlich: „Denn das Größte und Absolutvollständige läßt sich bestimmt gedenken, weil alle einschränkenden Bedingungen, welche unbestimmte Mannigfaltigkeit geben, weggelassen werden.“713 Bestimmtheit wird erzeugt durch Abstraktion von Bestimmtheit. Darin zeigt sich allerdings, daß die Mannigfaltigkeit einseitig als Beschränkung – als Verlust an Bestimmtheit gegenüber dem Ideal absoluter Identität – zu denken sei. Soll das unbestimmte Mannigfaltige nun aber dem Denken unter der Einheit der Idee zugänglich sein, so kann ihm die Unbestimmtheit, die es für uns hat, nicht notwendig zukommen: „Denn das Gesetz der Vernunft, sie zu suchen, ist notwendig, weil wir ohne dasselbe gar keine Vernunft, ohne diese aber keinen zusammenhängenden Verstandesgebrauch und in dessen Ermangelung kein zureichendes Merkmal empirischer Wahrheit haben würden, und wir also in Ansehung des letzteren die systematische Einheit der Natur durchaus als objektiv gültig und notwendig voraussetzen müssen.“714 Die Vermittlung des Mannigfaltigen mit der Erkenntnis geschieht durch die drei Systemprinzipien „der Homogenität, der Spezifikation und der Kontinuität der Formen“715 . Die Vernunft hält den Verstand an, alles unter immer höherer Einheit (der Gattung) zu erfassen, gleichermaßen die Besonderung unter immer weiter differenzierten Unterarten zu erfassen, so daß es zwischen zwei Arten keinen Sprung in der Natur, sondern einen kontinuierlichen Übergang gebe, der selbst schon das dritte Prinzip darstelle. Dem Begriff nach ist dies die Hegelische Dialektik der Reflexionsbestimmungen, die Identität von Identität und Unterschied im absoluten Widerspruch, der – über weitere Vermittlungen – zum Grund des objektiven Naturzusammenhangs wird.716 Dem steht wohl Kants Beschränkung der Prinzipien auf den Erfahrungsgebrauch noch entgegen.717 Unter dieser Voraussetzung ist Hegels Begriffsdialektik nicht denkbar, vielmehr könnten die Prinzipien, würden sie „konstitutiv betrachtet werden, […] als objektive Prinzipien widerstreitend sein“718 . Deshalb faßt Kant sie als heuristische Prinzipien des einigen Vernunftinteresses, als „Verschiedenheit und wechselseitige Einschränkung der Methoden, diesem Interesse ein Genüge zu tun“719 . Als bloße Methoden wären diese Prinzipien aber ganz zufällig, abhängig vom Material der Erfahrung; diese aber begründet kein

713 714 715 716

717 718 719

was es an sich selbst sei, gar keinen Begriff haben, aber wovon wir uns doch ein Verhältnis zu dem Inbegriffe der Erscheinungen denken, das demjenigen analogisch ist, welches die Erscheinungen unter einander haben.“ Vgl. B 704: „Ich kann genugsamen Grund haben, etwas relativ anzunehmen (suppositio relativa), ohne doch befugt zu sein, es schlechthin anzunehmen (suppositio absoluta).“ KrV, B 693. KrV, B 679. KrV, B 686. Kants Horizontmodell (vgl. KrV, B 686f.) antizipiert ausführlich die – freilich schon ältere – Metapher des Systems als Kreis in sich kreisender Kreise. Vgl. KrV, B 689. KrV, B 694. KrV, B 694.

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System. Hegel hat daraus die Konsequenz gezogen und den Prinzipien innerhalb des logischen Systems eine konstitutive Funktion zugewiesen. Wenn Kant aber schreibt, mit nur einer Methode könne man der „Natur des Objekts“720 nicht beikommen, bezeichnet das sowohl die Selbständigkeit des Objekts, das der Vernunft widerstehen kann, als auch die Möglichkeit der Vernunft, es durch Kombination der Prinzipien doch systematisch zu erfassen, weil seine Natur selbst schon an sich eine Kombination dieser Prinzipien sei. Weil nun diese oberste Natureinheit als Komplement der beschränkten menschlichen Vernunft erschlossen wurde, sei sie selbst als absolute Vernunft zu denken,721 so daß es einerlei wird, „zu sagen: Gott hat es weislich so gewollt, oder die Natur hat es also weislich geordnet.“722 Das „Etwas […] worauf alle empirische Realität ihre höchste und notwendige Einheit gründet“ sei somit „nicht anders, als nach der Analogie einer wirklichen Substanz, welche nach Vernunftgesetzen die Ursache aller Dinge sei,“ zu denken. Dagegen „mit der bloßen Idee des regulativen Prinzips der Vernunft zufrieden“ zu sein, sei „mit der Absicht einer vollkommenen systematischen Einheit in unserem Erkenntnis“723 unvereinbar. Dadurch wird es möglich und erforderlich, „systematische Einheit des Mannigfaltigen im Weltganzen und vermittelst derselben den größtmöglichen empirischen Vernunftgebrauch möglich zu machen, indem ich alle Verbindungen so ansehe, als ob sie Anordnungen einer höchsten Vernunft wären, von der die unsrige ein schwaches Nachbild ist“724 . Diese, geradezu neuplatonisch inspirierte, Formulierung verbindet die Funktion der Vernunftidee mit der äquivoken Vorstellung der Anordnung – sowohl Ordnung als auch Befehl – die in jedem Fall eine Hypostase der Idee unterstellt. Diese Hypostase ordnet aber, genau besehen, alle Verbindungen an, das heißt sowohl die kausalen Beziehungen in der Natur als auch deren Synthesis im Verstand der Subjekte, deren Vernunft dies freilich nur so vorstellt, als ob es so sei. Der Zweck, den die Vernunft hiermit verfolgt, ist die Möglichkeit der Objektivität universaler Verstandesurteile, deren Bedingung „das Systematische der Erkenntnis sei, d. i. der Zusammenhang derselben aus einem Prinzip“725 . Dieses Prinzip sei die „Form eines Ganzen der Erkenntnis, welches vor der bestimmten Erkenntnis der Teile vorhergeht und die Bedingungen enthält, jedem Teile seine Stelle und Verhältnis zu den übrigen a priori zu bestimmen“726 . Die Systemidee ersetzt den objektiven Mangel an kollektiver Einheit der Erkenntnissubjekte. Indem sie als bloß regulativ zu betrachten sei, wird noch die Systemeinheit aufs vereinzelte Subjekt reduziert; für dessen objektive Relationen ist sie nicht konstitutiv. 720 721 722 723 724 725

726

KrV, B 695. Vgl. KrV, B 698ff. KrV, B 727. KrV, B 703. KrV, B 706. KrV, B 673. Vgl. B 675: „Der hypothetische Vernunftgebrauch geht also auf die systematische Einheit der Verstandeserkenntnisse, diese aber ist der Probierstein der Wahrheit der Regeln. Umgekehrt ist die systematische Einheit (als bloße Idee) lediglich nur projektierte Einheit, die man an sich nicht als gegeben, sondern nur als Problem ansehen muß; welche aber dazu dient, zu dem mannigfaltigen und besonderen Verstandesgebrauche ein Prinzipium zu finden und diesen dadurch auch über die Fälle, die nicht gegeben sind, zu leiten und zusammenhängend zu machen.“ KrV, B 673.

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Die Allgemeinheit in nicht mathematisierenden Disziplinen, der theoretischen Gesellschaftswissenschaft zum Beispiel, beruht auf dem Nachweis, daß alles gesellschaftliche Leben existentiell von der Erfüllung des jeweiligen Prinzips abhängt. Alles Andere – und das ist das meiste, was heute als Erkenntnis auftritt – ist ohnehin von bloß komparativer Allgemeinheit. In der Philosophie ist es die theoretische Möglichkeit von Bewußtsein, von Subjektivität, von Handlung, die über die Allgemeinheit einer Vorstellung entscheidet. Darin liegen Bedingungen, die auf die Verknüpfung von Begriff und materiellen Daseinsbedingungen gehen, auch in der Mathematik: Die formale Analogie der Mengenlehre, etwa in der Allmengenantinomie, zum ontologischen Gottesbeweis bezeichnet gerade das Desiderat der Bindung der Mathematik an ein materielles Substrat, damit sie nicht zur bloßen Tautologie werde, ohne freilich in ihrer spekulativen Allgemeinheit beschränkt zu werden.727 Das ist den Antinomien zu entnehmen, wenn sie auf ihre Geschichte hin angesehen werden. In dieser Geschichte weist die Allgemeinheit zurück auf kollektive geistige Erfahrung in der Konfrontation mit Aporien, in denen sich der Gegenstand gegen die Absicht des Erkenntnissubjekts behauptet, das diesen aus sich – aus dem Subjekt heraus – in „völliger Reinigkeit“728 zu begründen strebt. Diese Reinigkeit, nicht die Allgemeinheit wissenschaftlicher Urteile selbst, erzwingt die Idee Gottes.

b.

Korollar: Natürliche Theologie als ‚Grenzwissenschaft‘?

In den Prolegomena versucht Kant, den Anschein aller Affirmation im Gottesbegriff abzuwehren, indem er dessen regulative Funktion – das ‚Als ob‘ – als Resultat einer „Erkenntniß […] nach der Analogie“729 entwickelt. Dafür unterscheidet er von den ‚Schranken‘ des Vernunftgebrauchs, die diesen auf den Bereich des Erfahrungsgebrauchs einschränken, noch seine ‚Grenzen‘.730 Nachdem die Betrachtung der Vernunftideen auf die Notwendigkeit der Annahme intelligibler Wesen geführt habe, erweise sich die bloß negative Beschränkung des Vernunftgebrauchs als unbefriedigend. Wenn das sich bekundende metaphysische Bedürfnis der Vernunft, das Kant für eine Naturanlage zum Zweck der Überwindung moralwidriger materialistischer Theorien hält,731 die Wirklichkeit der „Verknüpfung dessen, was wir kennen, mit dem, was wir nicht kennen, und auch niemals kennen werden“, ausweise, so müsse auch „der Begriff von dieser Verknüpfung bestimmt, und zur Deutlichkeit gebracht werden können“732 . Zu dieser transzendenten Absicherung des Erfahrungsgebrauchs der Vernunft dient Kant ein dialektischer Begriff der Grenze: Diese gehöre

727

728

729 730 731 732

Der Übergang der Wissenschaften, die Kant nach diskursiven und konstellativen Methoden trennt (vgl. KrV, 741ff.) ist in den Grundlagentheorien fließend. Vgl. auch B 752f. und B 761. Das zeigt auch Oskar Becker, Grundlagen der Mathematik in geschichtlicher Entwicklung, a.a.O. KrV, B 674. Zu Kants Vorstellung systematischer Einheit der Natur vgl. seinen Exkurs zum ‚logischen Prinzip der Gattungen‘, KrV, B 680-689. Prolegomena, IV § 58. Vgl. Prolegomena, IV §§ 57ff. Vgl. Prolegomena, IV § 60. Prolegomena, IV § 57.

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sowohl zu dem, was sie einbeschreibt, als auch zu dem, was außerhalb ihrer liegt. Das gelte auch für die Grenze zwischen Erfahrungserkenntnis und bloßer Spekulation.733 Wird nun das Reich der intelligiblen Wesen aufgefaßt als etwas, über das sich vernünftiger Weise nichts sagen läßt, so bleibt es verschlossen. Durch den Kunstgriff, es selbst als dasjenige aufzufassen, durch das menschliche Erkenntnis begrenzt sei, erscheint es aber legitim, darüber zu spekulieren, was dieses Begrenzende im Verhältnis zum Begrenzten sei, gerade um der Sicherheit des begrenzten Vernunftgenrauchs willen: Wenn der Bereich, der nicht betreten werden darf, nicht bekannt ist, kann auch die Einhaltung der Grenze nicht garantiert werden. Deshalb müsse das „Verbot, alle transscendentalen Urtheile der reinen Vernunft zu vermeiden“, mit dem „Gebot, bis zu Begriffen, die außerhalb dem Felde des immanenten (empirischen) Gebrauchs liegen, hinauszugehen, […] zusammen bestehen können, aber nur gerade auf der Grenze alles erlaubten Vernunftgebrauchs“734 . Mit demselben, so einfachen wie genialen, Argument, daß die Grenze die Identität von Identität und Unterschied sei, hebelt Hegel später alle dualistischen Differenzen der kritischen Philosophie aus. Die Vernunft wird zum Grenzgänger, der „nicht innerhalb der Sinnenwelt beschlossen, auch nicht außer derselben schwärmend, sondern so, wie es einer Kenntniß der Grenze zukommt, sich blos auf das Verhältniß desjenigen, was außerhalb derselben liegt, zu dem, was innerhalb enthalten ist, einschränkt. Die natürliche Theologie ist ein solcher Begriff auf der Grenze der menschlichen Vernunft“735 . Was die Vernunft aber auf der Grenze bestimmt, das ist deren Dialektik zufolge doch schon transzendent. Der kleine Grenzverkehr zwischen Gott und Welt hebt seine eigenen Schranken auf. Zwar sollen die Bestimmungen des höchsten Wesens, die von der Grenze aus ermittelt werden, „nicht in Ansehung dieses bloßen Verstandeswesens, mithin außerhalb der Sinnenwelt, etwas […] bestimmen“736 , sondern sie sollen das Verhältnis des unbekannten aber gewissen höchsten Wesens zur Welt bestimmen. Dieses Verhältnis sei nun in Analogie zum Verhältnis menschlicher subjektiver Zwecke zu deren objektiver Realisierung vorzustellen. Da hierbei nicht das subjektive Zweckbewußtsein auf Gott übertragen werde, sondern nur die teleologische Relation zwischen subjektivem und objektivem Zweck auf das Verhältnis zwischen Gott und Welt, sei der Anthropomorphismus nicht dogmatisch, sondern bloß symbolisch, „nur die Sprache und nicht das Object selbst“737 betreffend. Diese Sprache ist die Sprache hypostasierter Relationen, deren Muttersprachler vor allem die Trinitätsspekulation ist.738 Daß Kant hier nicht über innergöttliche Relationen spricht, entschärft

733 734 735 736 737 738

Vgl. Prolegomena, IV § 59, vgl. § 57. Prolegomena, IV § 57. Prolegomena, IV § 59. Prolegomena, IV § 59. Prolegomena, IV § 57. Die Personen Gottes sind der menschlichen Erkenntnis entzogen, aber ihre Relationen untereinander lassen sich durch natürliche Vernunft und in Analogie zu dieser bestimmen. Konsequent wurden aber diese relationes in se subsistentes dann als die Personen selbst erkannt und das mysterium, die Grenze zwischen Vernunft und Gott, bezog sich nur noch auf das Urteil über die Existenz dessen, was erkannt war. Vgl. Thomas von Aquin, S.th., a.a.O., I, 32, 1c.

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nicht das logische Problem: Über ein Verhältnis von relata, deren eines „außer aller Erkenntniß liegt“739 , ist als Verhältnis nichts Bestimmtes zu sagen. Deshalb dient der Schluß vom Verhältnis subjektiver und objektiver menschlicher Zwecke auf einen subjektiven Zweck als Korrelat der Weltordnung nicht der Bestimmung des Verhältnisses, das durch den Objektivierungsprozeß bezeichnet werden müßte, wohl aber der Übertragung menschlicher Subjektivität auf einen reinen Intellekt, der als Maßstab der teleologischen Einheit von Erkenntnis fungieren soll. Dieses ‚Wesen‘ sei nicht bloß erdichtet, sondern darin begründet, daß „außer der Sinnenwelt nothwendig Etwas, was nur der reine Verstand denkt, anzutreffen sein muß“740 . Dies sei durch Analogie bestimmbar. Der Gottesbegriff – wie immer subjektiv und regulativ er sein mag – der dabei herausspringt, leistet aber gerade die Abstützung des Systems der Erkenntnisse und Zwecke nicht. Gilt nicht Gott als weiser Weltregierer, sondern bloß die Weltregierung als weise – wer immer der Regent selbst sein mag –, so ist dieser voluntaristisch als deus absconditus gedacht. Sollte denn die Welt, wie sie ist, Anlaß zum Schluß auf eine weise Anordnung geben, so gibt sie doch keinesfalls Anlaß zu der Überzeugung, mit dieser Anordnung sei irgendeine Notwendigkeit verbunden. Ist es ungewiß, warum, die Welt so angeordnet wurde, so ist es ebenso ungewiß, daß sie so bleiben werde. Die potestas ordinata mag eine gewisse Beruhigung innerhalb der empirischen Erkenntnis bewirken, aber deren systematische Abstützung in einem stabilen Verhältnis immanenter und transzendenter Vorstellungen leistet sie gerade nicht. Deshalb ist der bei Kant angelegte Rückgriff vom nominalistisch geprägten protestantischen Gottesbegriff auf einen neuplatonisch-ontologischen bei Hegel nur konsequent, so protestantisch er sich auch selbst begreifen mag. Weil die theologische Spekulation das Erkennen und Handeln der Menschen unter unverfügbare Prinzipien stellt, ist es ein Irrtum, daß „ein solches Prinzip […] nirgend in ihrem [der Vernunft] Naturgebrauche schaden“741 könne: Die Vernunft begreift sich so nämlich nicht als vollständig selbst verantwortlich für die ‚Vernunftform‘ der Welt. Gerade wenn die analog erschlossene höhere Zweckmäßigkeit nicht auf Gott, sondern vermittels seiner auf die Welt bezogen wird,742 wenn also Gott nur als vernünftig gilt, sofern er die Rationalität begründet, „die in der Welt allenthalben angetroffen wird“743 , täuscht das wirksam darüber, daß ‚Vernunftform‘ in der Welt – der sittlichen wie der natürlichen – überhaupt nicht anzutreffen ist, wo sie nicht von Menschen in ihr realisiert wurde.

739 740

741 742 743

Prolegomena, IV § 57. Prolegomena, IV § 59. Die Unsicherheiten des Analogieschlusses, die Kant gesehen hat, stellen sich heute noch deutlicher dar. So bemerkt er in der Logik (IX § 84), nachdem er sowohl Unsterblichkeit als auch die Annahme vernünftiger Mondbewohner als Gegenstände von Analogieschlüssen benannt hat, man müsse sich dieser „mit Behutsamkeit und Vorsicht bedienen“. Prolegomena, IV § 58. Prolegomena, IV § 58. Prolegomena, IV § 58.

490

c.

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Das Selbstbewußtsein des Bewußtseins vom ‚Transzendentalen Ideal‘

Subjektivität ist über die regulativen Ideen in drei Hinsichten auf virtuelle Realität – ein ‚als ob‘ – reduziert: in psychologischer Hinsicht durch die Paralogismen, in kosmologischer durch die Antinomien und in theologischer durch das Ideal. Die eigene Kontinuität des Subjekts ist durch diese Vorstellungen problematisiert; sicher ist allein die logische, absolut spontane, Identität, für die – um der Kontinuität der Erfahrung willen – ein transzendentales Prinzip angenommen werden muß. Dies ist zwar gleichfalls problematisch, aber bloß für uns, für die es ebenso notwendig ist, es als möglich vorauszusetzen. Für die endlichen Subjekte ist beides gleichermaßen fatal. Ihrer selbst können sie ebenso wenig gewiß sein wie des Daseins des Absoluten, und sich selbst dürfen sie nur ebenso problematisch voraussetzen wie sie das Dasein des Absoluten voraussetzen müssen.744 Die Subjekte müssen, um ihrer selbst bewußt sein zu können, dieses Selbstbewußtsein der Modalität nach problematisieren und durch die Vorstellung eines äußerlichen Prinzips begrenzen.745 – Daß dieses Prinzip bloß regulativ ist, daß die Vernunft es „mit nichts als sich selbst“746 zu tun hat, stellt dabei keinen Vorteil dar, denn im Selbstbewußtsein, dem ganzen Bewußtsein ihrer Subjektivität, hängen die Subjekte von der Vorstellung des äußerlichen Prinzips notwendig ab,747 welcher Modalität sie selbst auch sein mag: Es bleibt „der unseren Begriffen sich entziehende Grund“748 . Sie wissen sich als autonome Subjekte durch eine Vorstellung heteronomen Gehalts, denn ihre Äußerlichkeit muß als unverfügbare Eigengesetzlichkeit gedacht werden; diesen Widerspruch besagt das problematische regulative Prinzip trotz allem. Deshalb ist das Selbstbewußtsein dieser Subjekte kein autonomes Selbstbewußtsein, sondern es ist in sich widersprüchlich. Der regulative Gebrauch der Ideen mag als ‚heuristisches Prinzip‘, als Methode wissenschaftlicher Naturerkenntnis für diese unschädlich oder sogar nützlich sein, wenn ihr konstitutiver Gebrauch streng vermieden wird.749 Der objektive Gehalt naturwissenschaftlicher Erkenntnisse ist relativ gleichgültig gegen das religiöse Selbstverständnis der Wissenschaftler. Aber für das Selbstbewußtsein der Subjekte, das praktische zumal, bleibt die Annahme Gottes auch als regulative katastrophal. Wird aber diese Annahme deshalb zugelassen, weil das Dasein Gottes problematisch ist, heißt das, es darf angenommen werden, weil es sein kann oder auch nicht sein kann. Wäre es nun, so wäre Autonomie auf Heteronomie gegründet und das Subjekt auf einen Widerspruch; – wäre es nicht und müßte dennoch angenommen werden, so wäre das Subjekt ebenso auf einen Widerspruch gegründet. Der Problemstatus des 744

745

746 747 748 749

Für viele spricht dagegen Hans Ebeling, wenn er sagt, daß mit Kant die Theologie für die Selbsterhaltung der Subjektivität bedeutungslos geworden sei: Vgl. Das neuere Prinzip der Selbsterhaltung und seine Bedeutung für die Theorie der Subjektivität, in: Ders. (Hg.), Subjektivität und Selbsterhaltung, a.a.O., 12f. Vgl. dagegen Dieter Henrich, Fichtes ‚Ich‘, a.a.O., 78: Die Annahme von Gott als Grund von Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung schränke Freiheit nicht ein, sondern gebe ihr einen unerschütterlichen Grund. KrV, B 708, vgl. B 714. Vgl. KrV, B 705f. KrV, B 709. Vgl. KrV, B 717ff.

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Ideals ist ein schwebendes Verfahren zwischen zwei möglichen, jeweils vernichtenden, Urteilen; Kants Trick, daß ein Urteil hier nicht zu fällen sei, macht das auf Autonomie bedachte Subjekt allerdings zu einem Toten auf Dauerurlaub: Seine Existenz ist durchaus durch seine eigene Nichtigkeit bestimmt. Dies entspricht dem Status eines praktischen Subjekts, das Kraft seiner Autonomie Funktionsmoment eines heteronomen Handlungszusammenhangs ist. Da diesem Status wieder jener einer Menschheit entspricht, deren kollektive Realität durchgängig auf wechselseitiger Negation – Geselligkeit durch Ungeselligkeit – beruht, ist die Nichtigkeit des Subjekts nicht einfach durch den Hinweis auf seine sinnliche Endlichkeit und Sterblichkeit lapidar zu bestätigen; seine Endlichkeit ist in vernunftgeleiteter Kooperation, im realisierten Gattungsvermögen, zu überwinden, seine Sterblichkeit freilich nicht. Welche Vorstellung aber Menschen mit dem Sterben verbinden könnten, die nicht schon ihr Leben lang wie Moribunde gedemütigt, beschränkt und vernutzt worden wären, läßt sich auch auf entwickeltem Stand von Zivilisations- und Kulturgeschichte noch nicht einmal antizipieren.750 Ein Argument für oder gegen ein menschenwürdiges Leben ist daraus ohnehin nicht zu ziehen; dieses zu ermöglichen bleibt in jedem Fall unbedingtes Vernunftgebot. Kants problematisiertes Subjekt kommt als Subjekt von Geschichte denn auch nicht in Frage. Zwar hat Kant klar gesehen, daß das einzige überhaupt aus der menschlichen Natur abzuleitende Recht dasjenige auf die Erfahrung der eigenen Freiheit wäre.751 Der Ort dieser Erfahrung könnte aber nur die selbstbewußte Geschichte, diejenige aus freien Stücken, sein. Unter der Voraussetzung des „notwendigen Urwesens“752 , das den Weltlauf anordnet, ist aber keine solche Geschichte denkbar. Der auf Ermäßigung der theologischen These zielende Ausdruck, es sei einerlei, ob Gott oder Natur den Weltlauf angeordnet hätte,753 schlägt mit Wucht ins Subjekt zurück, denn die Geltung des heteronomen Prinzips wird durch die Gleichgültigkeit seiner inhaltlichen Gestaltung nur noch verstärkt. Kants Erkenntnistheorie antizipiert in diesen Prinzipienreflexionen zielstrebig eine allgemeine Teleologie,754 in der die antagonistische Subjektivität zur „Harmonie“755 reflektiert werden soll. Da solcher Harmonie aber in der Erfahrung der Subjekte nichts entspricht, fallen ihre Prinzipien so brüchig aus. Die Größe Kants liegt letztlich darin, die enttäuschende Wirklichkeit in Begriffen zu denken; sein Fehler ist die Affirmation dieser Begriffe, – die Auffassung, daß der notwendig aporetische Begriff nicht Ausdruck 750

751 752 753 754 755

Vgl. Theodor W. Adorno, Aufzeichnungen zu Kafka, in: Prismen, Gesammelte Schriften, Bd. 10.1, Frankfurt am Main 1977, 273: „Das meint vielleicht die Erzählung von Gracchus, dem nicht mehr wilden Jäger, einem Mann der Gewalt, dem das Sterben mißlang. So ist es dem Bürgertum mißlungen. […] Gracchus ist das vollendete Widerspiel der Möglichkeit, die aus der Welt vertrieben ward: alt und lebenssatt zu sterben.“ Vgl. auch dens., Negative Dialektik, a.a.O., 354ff. Vgl. übrigens, wenngleich trotz aller Negativität mit deutlich positivem Klang: Dieter Henrich, Fichtes ‚Ich‘, a.a.O., 82: „Wir kennen die Welt noch nicht, in der […] Tod und Aufbruch in ihrer Einheit erfahren und bewährt werden könnten und in der sie so zur eigentlichen Realität unseres Lebens würden.“ Vgl. MdS RL, VI 237. KrV, B 707 Vgl. KrV, B 727. Vgl. KrV, B 714f. KrV, B 706.

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eines praktischen Defizits in der Sache, sondern Ausdruck eines anthropologischen Defizits im menschlichen Erkenntnisvermögen sei.

d.

Zur praktischen Wahrheit des ‚Transzendentalen Ideals‘

Die regulative Idee Gottes, die dem Subjekt die Unendlichkeit öffnen soll, verhält es in Wahrheit schon in der Zeit zur Ewigkeit756 : Der einzige mögliche Grund, Handlungsfreiheit systematisch geschlossen zu konstruieren, bestimmt das Subjekt zur Handlungsunfähigkeit. Dabei setzt die Möglichkeit, geschichtlichen Fortschritt überhaupt zu denken, diesen Fortschritt doch immer als den freier Subjekte voraus. Nur in der selbständigen Subjektivität, allein gemäß der Idee der Menschheit und durch Realisierung des Gattungsvermögens – des individuellen Vermögens zur Einheit der Gattung wie des potenzierten Vermögens der vereinten Gattung – wäre selbstbestimmte Geschichte als Geschichte der kollektiven Selbstbestimmung aller Einzelnen denkbar. Das jeweils aktuelle Bewußtsein von dieser Geschichte ist das des Revolutionärs, für den die Zeit immer schon reif ist,757 weil das Selbstbewußtsein von Stillstand gegen den Stillstand revoltiert.758 Es ist Selbstbewußtsein, Antizipation von Autonomie als Widerstand gegen Heteronomie. Dieses Bewußtsein ist durchgängig negativ. Das hat es mit Kants Proklamation der Regulativität der Ideen gemeinsam. Jeder affirmative Gehalt, Vorstellung der Freiheit, verkehrte dieses Bewußtsein in ein utopisches, das seinen Ort und seine Zeit nicht dort hat, wo das Subjekt, dessen Bewußtsein es ist, lebt. Utopisches Bewußtsein ist nicht länger Selbstbewußtsein dieses Subjekts, denn es hat keinen objektiven Gegenstand. Während die Idee kollektiver Selbstbestimmung sich doch negativ, gegen die Wirklichkeit, bestimmen läßt, ist die Ausmalung einer freien Welt weniger als ein Traum.759 Die Negativität des geschichtlichen Selbstbewußtseins, die in Kants Ideenreflexion zu ahnen ist, hat einen tiefen Grund. Das empirische Selbstbewußtsein, das durch Widerstand gegen ihm inadäquate Bedingungen sich konstituiert, antizipiert die kollektive Selbstbestimmung und in dieser Kollektivität der Gattung liegt seine Idealität, wenn756

757

758 759

‚Ewigkeit‘ ist, wie erwähnt, nicht eine lange Zeit, sondern die Absenz von Zeit, in der dann auch keine Handlung denkbar ist. Vgl. Max Horkheimer, Der Autoritäre Staat, Gesammelte Schriften, Bd. 5, Frankfurt am Main 1987, 305. Vgl. Michael Städtler, Subjekte des Stillstands, a.a.O. Vgl. KrV, B 823f.: „Indessen muß es doch irgendwo einen Quell von positiven Erkenntnissen geben, welche ins Gebiet der reinen Vernunft gehören, und die vielleicht nur durch Mißverstand zu Irrtümern Anlaß geben, in der Tat aber das Ziel der Beeiferung der Vernunft ausmachen. Denn welcher Ursache sollte sonst wohl die nicht zu dämpfende Begierde, durchaus über die Grenze der Erfahrung hinaus irgendwo festen Fuß zu fassen, zuzuschreiben sein? Sie ahndet Gegenstände, die ein großes Interesse für sie bei sich führen. Sie tritt den Weg der bloßen Spekulation an, um sich ihnen zu nähern; aber diese fliehen vor ihr. Vermutlich wird auf dem einzigen Wege, der ihr noch übrig ist, nämlich dem des praktischen Gebrauchs, besseres Glück für sie zu hoffen sein.“ Der Drang, die Erfahrung zu übersteigen, läßt nicht sowohl auf Positivität schließen, sondern auf die faktische Unverträglichkeit der Erfahrung mit dem Selbstbewußtsein. Daraus ergibt sich nicht, wie Kant antizipiert, ein erkenntnistheoretischer, sondern ein geschichtlicher Begriff von Praxis.

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gleich eine negative Idealität; denn negativ ist diese, weil sie ihren Gehalt allein aus der geschichtlichen Bestimmtheit desjenigen Bewußtseins bezieht, das sich gegen die Erfahrung der gescheiterten und verhinderten Kollektivität bestimmt. Es versucht, deren partikulare und verkehrte Realisierung unter Formen der Vernunft zu denken, um bestimmte Erfahrung zur begrifflichen Allgemeinheit zu bringen. Da die subjektive Vernunft, in der allenfalls eine unmittelbare Einsicht in die eigene Subjektivität gründet, bloß formaler Natur ist und deshalb der geschichtlich bestimmten Inhalte bedarf, ist das empirisch konstituierte Subjekt immer zugleich allgemein und geschichtlich verfaßt. In seiner Allgemeinheit hat es die Möglichkeit zur autonomen Bestimmung auch durch die Geschichte hindurch, keinesfalls aber hat es eine Garantie auf Autonomie. Dieselbe geschichtliche Bestimmtheit, durch die ein Subjekt Selbstbewußtsein realisiert, enthält nämlich einen überbordenden Hort petrifizierter Traditionen und autoritärer, heteronomer Erfahrungen, die das geschichtliche Bewußtsein eben zum Stillstand verhalten. Bekannt ist dies aus Ländern, in denen einmal Bürgerkrieg geherrscht hatte: Über Generationen des Friedens hinweg ist das gesellschaftliche Leben von Feindbildern dominiert, denen real nichts mehr korrespondiert als sie selbst, oft nicht einmal die Kenntnis der historischen Gründe. Unbestimmbar tiefer ist die Erfahrung von Herrschaft im Handeln der Menschen verwurzelt. Die Menschen, die sich beherrschen und erniedrigen lassen, die vielleicht noch gute Gründe dafür anführen, leben aus ihrer Geschichte; auch jene, die fast nichts von dieser wissen.760 Den Interessierten wird dies zum Plausibilitätsargument der Naturgegebenheit von Herrschaft, dessen Probe freilich nicht auf ein beiläufiges Exempel gemacht werden kann. Gesellschaftliche Zwänge, die ins Gemüt, ins kindliche schon, ganz unvermeidlich eingegraben werden – noch die besten Bedingungen können das nicht verhindern, wofern sich nicht leben läßt, ohne solchen Zwängen so oder so zu begegnen –, sind nicht das Werk von Menschen a priori, die einen Gesellschaftsvertrag eingingen und über dessen Kleingedrucktes frei verhandelten. Ebensowenig sind sie das zweckbewußte Werk von Menschen, die durch bestimmte Erfahrung gebildeten, vielleicht am Schaden klug geworden wären. Es sind zum großen Teil sedimentierte Erfahrungen, die das hervorbringen, was ‚Volksgeist‘ heißen mag, in Wirklichkeit aber ein Panzer aus lange verhärteten Gewohnheiten, Interessen und Traditionen ist, den Reflexion kaum mehr durchdringt; im Unterschied zur gemeinschaftlich angebildeten geschichtlichen Erfahrung müßte diese Durchdringung jeder selbständig leisten. Darin – in der Not, selbst denken zu müssen – hat Kants individualisierter Moralbegriff einige Wahrheit. Das eigene Interesse zu dezentralisieren, wird aber, auch wo es durchs allgemeine gar nicht beschränkt würde, von den ausgewachsenen Privatpersonen als Zumutung empfunden, nicht weil sie individuelle Sinnenwesen sind, sondern weil sie geschichtliche Subjekte sind. Deshalb ist es kaum abzusehen, daß die Traditionen der Heteronomie 760

Vgl. G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie des Rechts (1824/25), Nachschrift Griesheim, in: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818-1831, hg. v. K.-H. Ilting, Stuttgart 1973, Bd. 4, 642: „Der Geist einer nation geht in jedem Individuum fort, er mag es wissen und sich dagegen wehren wie er will oder er mag ihm unbekannt sein; wie ein jeder ißt und trinkt ohne von Anatomie zu wissen. In seinem besonderen Sein, in seinen handlungen ist jener Geist das Treibende, das Unbewegliche in ihm, was ihn bewegt.“

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des Bewußtseins ein Ende nähmen oder daß dieses Bewußtsein ihnen ein Ende setzte, obwohl sie vor der Vernunft, die doch jedem zu eigen ist, nicht bestehen können. So wie Kant die ideologische Vorstellung der ungeselligen Geselligkeit zum Naturprinzip, wechselseitige Zerstörung zum Grund gemeinschaftlicher Wohlfahrt verklärt, so ist die Vorstellung, daß die Menschen sich gemeinsam – miteinander und füreinander – in der Welt einrichteten, immer durch die Tradition von Vorurteilen bedroht. Die Spontaneität, das Vermögen zum freien Selbstbewußtsein, das im Intellekt liegt, wird schon durch die gegenwärtige gesellschaftliche Organisation der Erziehungssysteme nicht gebildet, sondern gedämpft. Das bedient zusätzlich der Impuls alltäglicher Erfahrung, die Unmengen von Beispielen der erfolgreichen Durchsetzung von Partikularinteressen gegen moralische Ideen bereithält und deswegen pragmatische Einträge in den Moralbegriff bedingen soll.761 Kant ist hier optimistisch: Der Unlauterkeit der Menschen, weil diese ihnen von Natur aus zukomme, müsse ein positiver Zweck einwohnen. Und tatsächlich habe die Neigung zu Heuchelei zur Zivilisierung und zur Moralisierung beigetragen, weil das Vortäuschen des Guten für Andere ein Beispiel des wahrhaft Guten sein könne. Allerdings, sobald auf diese Weise Maximen in Gesinnung übergegangen seien und „echten Grundsätze einmal entwickelt und in die Denkungsart übergegangen sind, so muß jene Falschheit nach und nach kräftig bekämpft werden, weil sie sonst das Herz verdirbt und gute Gesinnungen unter dem Wucherkraute des schönen Scheins nicht aufkommen läßt.“762 Die Überzeugung, daß Heuchelei und Eitelkeit dann noch keinen dauerhaften Schaden bewirkt hätten, ist nur möglich, weil Kant Subjektivität individuell und ungeschichtlich denkt: Wenn Subjektivität in jedem neuen Subjekt neu anfinge, so ginge Kants These auf. Zwar hat Subjektivität notwendig dieses ahistorische Moment in der allgemeinen Form der Vernunft, in der auch die Möglichkeit des Widerstands gegen die eigene Korrumpierung gründet, aber die empirischen Subjekte erschöpfen sich nicht in diesem formalen Moment, sondern sie erfüllen die Form durch empirische Inhalte und begründen so die Subjektivität kraft derer sie in der Welt agieren. Durch Kants analytische Trennung beider Momente ist das Subjekt seines Aufklärungsverständnisses das jeweils gegenwärtige Individuum, das zwar äußerlich vom erheuchelten Zivilisations- und Moralprozeß profitiere, innerlich aber geradezu unberührtes Objekt moralischer Bildung sei, ohne daß erwogen würde, ob es nicht durch die in den Resultaten der Zivilisation und in der Geschichtsschreibung objektivierte Heuchelei ebenso erzogen würde. – Kants Konzept ist daher widersprüchlich: Wieso sollte es nötig sein, nachdem die ‚echten Grundsätze 761

762

Wie unter solchen Bedingungen der womöglich ehrliche Anspruch auf Allgemeinheit korrumpiert ist, zeigt die Anekdote von dem sowjetrussischen Atomphysiker Kapitsa, der sich schriftlich bei Stalin und Molotov über die geheimdienstliche Administration der Atomforschung durch den Funktionär Beria beschwerte; Kapitsa wies auf die zu erwartenden Synergieeffekte einer international kollegial betriebenen Atomforschung hin. Derselbe Kapitsa, der am 18. Dezember 1945 an Molotov schrieb, daß allein internationalistisch effektiv das Wohl der Menschheit zu fördern sei, hatte am 25. November an Stalin geschrieben, daß Berias Versuche, die US-Forschung zu imitieren, nicht schnell genug und nicht billig genug zur Atombombe führten und im übrigen zuviel atomare Sprengkraft in sinnloser Strahlung verpuffen ließen. Vgl. David Holloway, Stalin and the Bomb, New Haven 1994, 138-144. KrV, B 775f.

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entwickelt und in die Denkungsart übergegangen sind‘, die ‚Falschheit kräftig zu bekämpfen‘ und zwar ‚nach und nach‘? Offenbar hat Kant durchaus eine Ahnung von der Gewalt geschichtlicher Vorurteile und von deren ideologischer Repräsentation gehabt. Innerhalb seiner individualistischen Subjektkonzeption ist dieses eminent gesellschaftliche Moment von Selbstbewußtsein jedoch nicht systematisch zu entwickeln, wohl aber von einem auf die Erfahrung aufmerksamen Autor – wie Kant es war – als Aporie festzuhalten. Die geschichtliche Gewalt, die dem zugrundeliegt, läßt sich nicht durch Proklamation einer nun gewaltfreien Gesellschaft aufheben, weniger noch durch gewaltbewehrtes Gesetz, wie es die klassischen Konzepte bürgerlicher Rechtsordnung vorsehen. Gewalt kann überhaupt nicht aufgehoben werden, sie könnte allenfalls aus Einsicht fortan unterlassen werden; diese Einsicht käme wohl ohne ein Moment von Scham über die menschliche Geschichte, als Komplement selbstbewußter Selbstbestimmung, nicht aus. Wo die Menschen in der Geschichte, und aus ihr heraus, leben, ist ein grundsätzlicher Ausschluß affirmativen Gewaltbewußtseins aber wohl kaum denkbar;763 dadurch wäre die Tendenz der säkularen Befreiungsbewegungen zur Geschichtsfälschung ebenso zu erklären wie die der religiösen zur Transzendenz, zur Verlagerung der Geschichte in eine jenseitige Zukunft. Beide sollen das Bewußtsein über seine historischen Brüche täuschen. Die Läsionen am Geschichtsbewußtsein verstören aber, mit ihm, die einzige Quelle von Freiheit im Selbstbewußtsein. Wenn das geschichtliche Bewußtsein, das Autonomie antizipiert, und dasjenige, das Heteronomie rezipiert, die gleiche Quelle haben – nämlich Geschichte – so bleibt kollektives Selbstbewußtsein und mit ihm individuelles grundsätzlich prekär.764 So bliebe Antizipation von Autonomie auch dauerhaft der Daseinsmodus von Freiheit, für den deren Ideal intellektuell so notwendig bleibt wie das Wissen von dessen empirischer Zufälligkeit. Die praktische Antizipation von Autonomie wäre Widerstand der Subjekte gegen Heteronomie; Antizipation bleibt dieser gerade in der Praxis, weil er Selbstbestimmung sein will und eben darin doch von der Heteronomie, gegen die er sich richtet, selbst zuinnerst bestimmt ist. Die durch die regulative Idee Gottes begründete Hoffnung, schon in diesem Leben auf Erlösung hinzuwirken, wendet sich in die erschre763

764

‚Gewaltverherrlichung‘ ist übrigens kein Problem moderner Medien (vgl. aber z. B. Christian Pfeiffer, Medienverwahrlosung als Ursache von Schulversagen und Jugenddelinquenz?, www.kfn.de/ versions/kfn/assets/medienverwahrlosung.pdf), sondern ein Prinzip affirmativen geschichtlichen und politischen Bewußtseins. Schon der Status, den die exekutive Staatsgewalt durch Ausstattung und Befugnisse erhält, ist offensichtlich eine ‚Verherrlichung‘ dieser profanen Gewalt, ihre Umkleidung mit einem Nimbus. Und diese Gewalt ist es, die potentiell jeder gegen jeden ausübt, um des rechtlich Seinen habhaft zu werden. Kritik an Gewalt muß zunächst einmal sich eingestehen, daß die Menschen in einer durchaus durch Gewalt konstituierten Welt leben. Die Verherrlichung von Gewalt im geschichtlichen Bewußtsein, auch der Philosophie, darzustellen, wäre ein eigenes Thema. – Zur gesellschaftlichen Diskussion vgl. auch Spiegel online, 22. 11. 2006: Wulff und Stoiber wollen Killerspiele verbieten. Kant hat dies in der Religion angemerkt. Individuelle Moralisierung sei nur im ethischen Gemeinwesen möglich, dieses selbst aber nur als internationalistisch universelles. Gleichwohl höre auch in diesem die Gefährdung der Moral nicht auf, was Kant allerdings auch hier durch Jenseitsspekulation aufzuheben strebt.

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ckende Einsicht, daß das Bewußtsein von Befreiung schon in sich selbst gegenläufig ist. Das gleiche geschichtliche Moment, das dieses Bewußtsein ermöglicht, vermag es auch zu lähmen und der Anspruch auf Befreiung, der stets aufs Ganze geht, hat so immer die zu Gegnern, die ihrer womöglich doch zuerst bedürften. Die Frage: „worauf wollte sie [die Vernunft] sich sonst verlassen, wenn sie, die allein alle Irrungen abzutun berufen ist, in sich selbst zerrüttet wäre, ohne Frieden und ruhigen Besitz hoffen zu können?“ hat außerhalb von Subjektivität selbst keine Antwort, die nicht affirmativ wäre wie die Kants: „Alles, was die Natur selbst anordnet, ist zu irgend einer Absicht gut.“765 Ist das Bewußtsein von Freiheit aber derart in sich gegenläufig, dann bleibt die ‚moralische Gesinnung im Kampfe‘ tatsächlich die einzig mögliche Daseinsform menschlicher Freiheit, allerdings mit einem Unterschied ums Ganze: Das über seine Geschichte aufgeklärte Bewußtsein weiß, daß sein Mangel in der Vereinzelung der Subjekte zu Antagonisten gründet und daß dieser Antagonismus keine Naturnotwendigkeit ist, sondern daß ihm als geschichtlich begründetem zu widerstehen wäre, ohne über Erfolgsaussichten pragmatisieren zu müssen. Deshalb führt die Einsicht in dieses problematische Dasein von Moral nicht zu einem transzendentalen Postulat oder Ideal Gottes, sondern zur moralischen Idee der Menschheit in der Zeit.766 Die hierfür zu denkende Aufklärung kennt keine Methodenlehre, weil jede Methode moralischer Aufklärung, die nicht diese Aufklärung selbst ist, heteronom sein muß, nicht selbst gesetzten Gesetzen folgt. Der einzige Weg aber zu dem „ursprünglichen Rechte der menschlichen Vernunft, welche keinen anderen Richter erkennt, als selbst wiederum die allgemeine Menschenvernunft“, dem theoretischen Grund moralischer Aufklärung, von dem „alle Besserung, deren unser Zustand fähig ist, herkommen muß“ und das nicht „geschmälert werden“767 darf, – der einzige Weg dorthin führte durch eine Welt, in der kein Mensch Angst zu haben brauchte, in der keiner sich in irgendeinem Moment seiner Menschheit bedroht sehen müßte.768 Daß die Menschheit noch nie einen Zustand realisierter moralischer Freiheit gekannt hat, ist nicht sowohl Ausweis seiner anthropologisch begründeten Unmöglichkeit, als vielmehr ein sekundärer Grund seiner geschichtlichen Unwahrscheinlichkeit: Das Inventar geschichtlichen Bewußtseins ist von Grund auf durch Erfahrungen von Herrschaft und Gewalt bestimmt. Deshalb setzt die Überwindung des moralischen Naturzustandes diejenige dieser Erfahrungen voraus. Dies könnte allenfalls durch mehrere Generationen währende moralische Erfahrung gelingen. 765 766

767 768

KrV, B 771. Nach Kant liegt „[d]er Keim der Anfechtungen […] in der Natur der Menschenvernunft“ (KrV, B 805) und sei daher durch ‚Hypothesen‘ auszurotten, zum Beispiel daß „[d]er Körper […] also nicht die Ursache des Denkens, sondern eine bloß restringierende Bedingung desselben, mithin zwar als Beförderung des sinnlichen und animalischen, aber desto mehr auch als Hindernis des reinen und spirituellen Lebens anzusehen“ (KrV, B 807) wäre. Kant schüttet das Kind mit dem Bade aus. KrV, B 780. Angst scheint zum Normalzustand menschlichen Daseins geworden zu sein und wurde deshalb von der existentialischen Kant-Interpretation, ganz im Sinne affirmativer Theorie, zentralisiert. Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., § 40 sowie den Kommentar Adornos, Negative Dialektik, a.a.O., 340: „Was mit Vorliebe Angst genannt und zum Existential veredelt wird, ist Klaustrophobie in der Welt: dem geschlossenen System.“

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Auch wenn die technisch-praktischen Bedingungen, deren Beschränkung einst Herrschaft als einziges Mittel der Entfaltung humaner Vermögen erscheinen ließen, längst einen Stand erreicht haben, auf dem moralische Praxis möglich wäre, setzt die Überwindung der geschichtlichen Erfahrungen offenbar schon jene moralische Realität voraus, die sie erst ermöglichen soll. Die Lösung dieses Zirkels ist nicht theoretisch, sondern allenfalls durch geschichtliche Tat möglich, durch einen Entschluß zur Freiheit, den die Menschen fassen werden oder nicht. Auch in dieser Hinsicht ist der kritische Weg fortgesetzter Aufklärungsbemühungen allein noch offen. Der Entschluß der Vernunft zur moralischen Freiheit ist nicht sowohl der einer zeitlosen Spontaneität; aber unter Bedingungen der Unfreiheit kann er nur so erscheinen, weil nichts Empirisches auf ihn auch nur hindeutet. Daß dies ein Schein ist, belegt die Schwierigkeit dessen, was Kant ‚akademische Unterweisung‘769 nennt und was heute an den Hochschulen immer weniger stattfindet: Die Bildung des Bewußtseins zum Selbstbewußtsein und zum autonomen, gemeinschaftlichen und konsistenten Denken.770 Solche Bildung verläuft in der Zeit und arbeitet zugleich gegen sie. Spontaneität setzt sie als formale Bedingung voraus, deren Absolutes gleichsam verschüttet und traumatisiert ist. Die unbefriedigende Einsicht, daß alle Aufklärung die Menschen wohl zum Widerstand gegen die Hindernisse ihrer Selbstbestimmung anhält, sie aber nicht an ein unwiderrufliches Ziel zu führen vermag, würde in einem kritischen Begriff von Freiheit allerdings nicht zur Affirmation ewigen Strebens verschnörkelt; gleichwohl hat diese Einsicht in die Fragilität auch gelungener Aufklärung einiges Befreiende: Sie bewahrt vor der selbstgefälligen Attitude, sich als Sieger, Vollender von Geschichte zu präsentieren, wodurch Freiheit in ihrem vorgeblichen Endzustand noch stets um ihren Grund betrogen wurde. Jene Einsicht hält dazu an, wenigstens solche Gründe, die notwendig zur Unfreiheit führen – Gewalt und Unmündigkeit – aufzuheben, wo immer dies möglich ist. Schließlich und grundsätzlich veranlaßt die Einsicht in die Negativität des geschichtlichen Selbstbewußtseins zur Reflexion auf seine allgemeine theoretische Form, dazu, auch das theoretische Verhältnis von Subjektivität und Objektivität als Moment ihres Selbstbewußtseins zu begreifen, als das Selbstbewußtsein menschlicher Subjektivität. Das Vertrauen einer ‚starken‘ Kant-Interpretation in den intelligiblen Charakter der Menschen mag zweifelhaft sein. Das implizite Mißtrauen in Vernunft aber, das die pragmatisierenden Kant-Interpretationen trägt, muß schon aus systematischen Gründen ohne vernünftige Begründung auskommen und setzt so auf bloße Überredung der Menschen. Daher, und aus der Geschichtlichkeit von Subjektivität, erklärt sich ihr Erfolg. Doch sie mißrät zu dem unglücklichen Versuch, dem Bewußtsein eine Identität anzuschaffen, der doch konträr dessen Zerrüttung bestätigt, weil der Zweifel am Vertrauen in die eigene Vernunft nur von dieser selbst ausgehen kann. Würde dies, der autonome Kern von Subjektivität, zu Bewußtsein gebracht, wäre jener Zweifel nicht notwendig Selbstzweifel, sondern das fassungslose Staunen darüber, daß die Leidensgeschichte der menschlichen Gattung und Gesellschaft, die allen Formen des politischen Pragmatismus mitfolgte, für die Vernunft nicht Grund genug zu sein scheinen, einen Weg einzuschla769 770

Vgl. KrV, B 783. Vgl. KdU, V 294; zur Einschränkung dieses Gedankens aber auch Anthropologie, VII 200 und 228.

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gen, der vor ihr bestehen könnte. – Mit dem Staunen, thaumazein, dem Schrecken vor dem Unbekannten, begann die philosophische Überwindung des Naturzwangs, deren geschichtliche Entwicklung diesen bloß transformierte; denn die Zwänge, die Menschen anderen Menschen antun, sind in Wahrheit um nichts mehr als Naturzwänge; doch sie richten ungleich größeren Schaden an, weil sie von an sich freien Wesen wiederholt werden. Auf der Überwindung dieser Zwänge durch die Bildung autonomer Vernunft zu insistieren, bleibt Aufgabe von Philosophie. Daß Kant dies wußte, zeigen seine stets erneuerten Versuche, Natur und Freiheit zusammenzuführen. Kant weigert sich, eines der beiden zugunsten des anderen aufzulösen. Sein zentrales Vertrauen ins Subjekt schlägt aber um: Das Subjekt ist um seiner selbst willen bereit zu Annahmen, die seinem Selbst doch zugleich zuwiderlaufen. Das bestimmt Kants wiederholten Rekurs auf Teleologie, der in der Kritik der Urteilskraft seine ausgeführte Fassung erhält. Dieser Teleologiebegriff ist aber durch alle Probleme des Subjekt-Objekt-Verhältnisses bestimmt, dessen Seiten zusammenzubringen zunehmend als ein ‚Zusammenzwingen‘ erscheint. Das, was solchen Zwang notwendig macht – das reale Verhältnis von Subjekten und Objekten – tritt ebenso zunehmend in der Darstellung hervor.

III. Teil: Subjekte der Praxis

V Objektivierte Subjektivität

1.

Zur vermittelnden Funktion der Urteilskraft

Ein subjekttheoretischer Gehalt der Kritik der Urteilskraft besteht in der Aufgabe zu klären, welchen Ort Subjekte in einer teleologischen Ordnung haben, genauer: wie sie sich in der von ihnen notwendig anzunehmenden teleologischen Ordnung selbst noch reflektierend verorten können. Die Notwendigkeit der Annahme von Teleologie selbst ergab sich aus theoretischen Erklärungslücken schon in der geschichtsphilosophischen Bestimmung äußerlich realer Subjektivität und wurde schließlich immanenter Bestandteil der reinen theoretischen Selbstbestimmung des Subjekts. In der Kritik der Urteilskraft fragt Kant nach der Möglichkeit, die subjektimmanent erschlossene Totalität des Erkenntnissystems auch objektiv abzustützen. Wieder sollen Subjekt und Objekt systematisch im Subjekt zusammengeführt werden, ohne doch die Selbständigkeit der Objekte aufzugeben. Die transzendentale Konzeption einer allgemeinen Naturteleologie im Teil über die teleologische Urteilskraft, die zunächst, im Anschluß an die Problematik des transzendentalen Ideals, zu untersuchen ist, stützt sich dabei ihrerseits auf den Nachweis der subjektiven Möglichkeit von Teleologie, deren Anlage im ästhetischen Vermögen der Subjekte, durch das diesen die subjektunabhängige Erkenntnisgemäßheit ihrer Gegenstände gegeben sei.1 Diese subjektive Abstützung von Teleologie soll anschließend, anhand der ästhetischen Urteilskraft betrachtet werden. Eine besondere Bedeutung kommt dabei der Analytik des Erhabenen zu, deren Gegenstand die subjektiv angelegte Ordnungsvorstellung theoretisch übersteigt und zugleich praktische Implikationen anzeigt, die den Blick auf ein geschichtlich reflektiertes Selbstbewußtsein von Subjekten der Praxis eröffnet.

1

Die besondere Bedeutung der Teleologie innerhalb der KdU, ebenso die immer noch starke Schieflage in der Forschung zugunsten der Ästhetik haben Stefan Klingner und David Süß betont: Vgl. Einleitung, in: Reinhard Hiltscher/Stefan Klingner/David Süß (Hgg.), Die Vollendung der Transzendentalphilosophie in Kants ‚Kritik der Urteilskraft‘, Berlin 2006.

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Aufgabe von Teleologie ist es, Hegels Wissenschaft der Logik zufolge, Objektivität mit Subjektivität zur Idee zu vermitteln. Wenn die bloß naturkausale – mechanische und chemische – Ordnung der Objekte in einem systematischen Begriff erfaßbar sein soll, so ist dieser Begriff implizit als Grund jener Ordnung unterstellt. Nur wenn diese als Resultat der Realisierung des subjektiven Begriffs im objektiven Material verstanden werden könnte, wäre Erkennbarkeit allgemein begründet zu gewährleisten. – Dadurch wird Objektivität aber subjektiv konstituiert, und in der Erkenntnis anverwandelt sich das subjektive Moment von Objektivität einem objektiven Moment von Subjektivität; das Resultat ist die ideale Einheit von Subjekt und Objekt. – Teleologie erscheint somit als objektive Bedingung systematischer Erkenntnistheorie. Sie meint nicht so sehr die universale Hinordnung auf einen obersten Weltzweck als vielmehr die universale zweckmäßige Ordnung der Gegenstände der Erkenntnis untereinander, ihre Adäquation an den Systembegriff, durch die sie zweckmäßig hingeordnet sind vor allem auf Erkenntnis.2 Diese Funktion von Teleologie ist bei Kant bereits angelegt im Konzept der Konstitution der Objektivität durchs Subjekt. Nur die Auffassung des Objekts der Erkenntnis als Wirkung subjektiver Erkenntnisformen erlaubt es, Gegenstände als Gegenstände der Erfahrung zu bestimmen. Das transzendentale Ideal, die durchgängige kategoriale Bestimmtheit des Gegenstandsbereichs vertritt zunächst die Systemfunktion der Hegelischen Teleologie. Wie indes die allgemeinen subjektiven Erkenntnisformen auf einzelne Gegenstände anzuwenden seien, sollte die Erörterung der Grundsätze klären. In den Deduktionen ging es zunächst um das erkennende Verhältnis von Subjektivität zu Natur überhaupt, die Grundsätze dagegen galten partikularen Naturzusammenhängen, die zum Zweck von Erkenntnis isoliert sind. Diese Zusammenhänge sind objektiv zweckmäßig durch die Isolation von beeinträchtigenden Bedingungen. Erkannt wird dann aber nicht Natur, sondern eben ein isolierter Naturzusammenhang.3 Obschon nun dessen Objekti2

3

Damit steht Kant einerseits noch in der frühneuzeitlichen Tradition des Naturgesetzbegriffs, die von der Frage angetrieben war, wie in der von substantiellen, realen Qualitäten entleerten Erfahrungswelt Ordnung begründet sein könne, andererseits reagiert er bereits auf Newtons Naturgesetze, die selbst mathematisiert allgemein und nicht Gegenstände möglicher Erfahrung sind, aber dennoch das Verhalten solcher Gegenstände bestimmen sollen. Vgl. zur Geschichte des Naturgesetzbegriffs Andreas Hüttemann, Materie, Chaos und Gesetz, in: Karin Hartbecke/Christian Schütte (Hgg.), Naturgesetze. Historisch-systematische Analysen eines wissenschaftlichen Grundbegriffs, Paderborn 2005. – Zwar hat Michael Hampe recht mit der Feststellung, der göttliche Verstand, den die rationale Theologie noch Newtons als Grund der Einheit der verschiedenen Naturgesetze annahm, werde bei Kant durch die Funktion der Urteilskraft abgelöst (vgl. Idealistische Variationen. Beobachtungen zur Entwicklung des Gesetzesbegriffs von Kant bis Peirce, in: Karin Hartbecke/ Christian Schütte (Hgg.), Naturgesetze, a.a.O.); allerdings gelingt dies nur durch eine subjektivierte Variante theologischer Motive. Deren bestimmende Wirkung für das erkennende Verhältnis zwischen Subjekt und Natur soll hier untersucht werden. „Der Grund liegt darin, daß die neuzeitlichen Naturwissenschaften die Differenz von universal geltendem Naturgesetz und dessen jeweils partikularer Realisierung prinzipiell anders als die traditionelle Naturphilosophie bestimmen. Zum Beispiel gibt die klassische Mechanik allgemeine Differentialgleichungen an, mit denen sich der universale Zusammenhang der Bewegung aller gravitierenden Massen zwar mathematisch allgemein formulieren läßt, aber das Problem des detaillierten Gesamtzusammenhangs aller gravitierenden Massen ist mathematisch nicht lösbar. Nur wenn aus dem universalen Zusammenhang ein partikularer isoliert wird, können realisierbare Mo-

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vität durch subjektive Bearbeitung, durch praktische Unterordnung unter das Prinzip der Kausalität, nach dem erkannt werden soll, präpariert ist, ist das bestimmte subjektive Moment doch nicht arbiträr. Sonst müßte das Naturobjekt nach jedem beliebigen Prinzip organisierbar sein.4 Ist es aber nur nach dem Prinzip der Kausalität, vermittelt über die Vorstellung von Zeitfunktionen, erkennbar, so zeigt sich in der Organisierbarkeit des Objekts durchs Subjekt zugleich die Selbständigkeit des Objekts, das gegen jede andere Organisationsweise sich verweigerte. Die Gültigkeit der kausalen Ordnung im Objekt selbst, die daraus folgt, veranlaßt nun Kants Schluß auf die regelmäßige Organisation der Natur als ganzer: „[I]n mundo non datur hiatus, non datur saltus, non datur casus, non datur fatum“5 . Teilzusammenhänge lassen sich nur durch zweckmäßige Eingriffe isolieren, wenn sie in einem allgemeinen Zusammenhang stehen, dessen Gesamtkonstitution solche abgrenzenden Eingriffe erlaubt. Was als Randbedingung abstrahiert wird, muß als Negation des Zwecks auch durch diesen selbst als solche erkannt werden können. Die Möglichkeit der Erkenntnis einzelner Naturprozesse nährt die Hoffnung auf universale Naturerkenntnis insofern, als eine allgemeine Erklärung jener Möglichkeit diese systematisch voraussetzt. Soll Erkenntnistheorie nicht am Ende wieder in eine ontologische Naturmetaphysik umschlagen, so ergibt sich das Desiderat einer kritischen Naturphilosophie. Ebenso führt die Moralphilosophie aufgrund der Diskrepanz von Absicht und objektiven Bedingungen ihrer Realisierung auf die Vorstellung einer zweiten Natur, eines Reichs der Zwecke, in dem widerspruchsfrei vernünftig sollte gehandelt werden können. Diese Vorstellung wurde zum teleologischen Maßstab der beständig mit ihren Zwecken an den objektiven Bedingungen scheiternden Subjekte und war nur unter den Voraussetzungen der Unsterblichkeit der Seele und der Existenz Gottes vorstellbar, denn jene suspendiert die subjektive Schranke, diese die objektive Schranke des Handelns. Die Natur wird zum möglichen Objekt des kulturellen Fortschritts der Gattung, während die Einzelsubjekte ihr Heil nicht einmal im Jenseits erwarten können – erhoffen sollen sie es sich freilich schon. Eine kritische Kulturphilosophie wäre hier der Ausweg aus der drohenden Ontologisierung der mit der Existenz Gottes gesetzten Teleologie der Moral. Die Kritik der Urteilskraft soll beides, Naturphilosophie und Kulturphilosophie, darstellen und vemitteln, um das theoretisch und praktisch offengebliebene Verhältnis von Natur und Freiheit, von Objekt und Subjekt, zu erschließen.6 Nicht so sehr in dem

4 5 6

delle konstruiert werden.“ Ulrich Ruschig, Korruption der Wissenschaft, in: Traditionell kritische Theorie, hg. v. Gesellschaftswissenschaftlichen Institut, Würzburg 1995, 24. Vgl. Peter Bulthaup, Zur gesellschaftlichen Funktion der Naturwissenschaften, a.a.O., 95. KrV, B 282. Vgl. Wolfgang Bartuschat, Zum systematischen Ort von Kants Kritik der Urteilskraft, a.a.O. Bartuschat untersucht die Funktion der Urteilskraft in der KrV und der KpV und stellt „eine Instanz als zentral heraus[], die in den beiden Kritiken in dieser zentralen Funktion nicht erörtert ist. Deutlich werden sollte bei der Analyse auch nicht so sehr, welche Funktion die Urteilskraft in den beiden Kritiken faktisch, d. h. in dem, wie sie auftritt, hat, sondern welche Bedeutung der Relation zwischen Allgemeinem und Besonderem als solchem, die zu thematisierende Aufgabe der Urteilskraft ist, in beiden Kritiken zukommt. Diese Spannung zwischen Allgemeinem und Besonderem hat sich als das gemeinsame Strukturmoment der theoretischen und praktischen Philosophie erwiesen, das aber beiden Kritiken als solches verborgen bleibt.“ (79). Die KdU habe zu zeigen, „inwiefern

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oberflächlichen Verhältnis von Natur und Freiheit überhaupt hängen theoretische und praktische Philosophie zusammen, als vielmehr in dem scheinbar pragmatischen aber doch tieferen Problem, daß zweckvolle Bearbeitung von Natur, die fortschreitende Differenzierung der zweiten von der ersten Natur, Bedingung der Möglichkeit von Naturerkenntnis selbst ist, die aber ihrerseits die technischen Bedingungen der zweckmäßigen Einrichtung der zweiten Natur erst erschließen kann. Darin koinzidieren Erkenntnis-, Zivilisiations- und Kulturprozeß, deren Gelingen ihrerseits Bedingung der Möglichkeit der objektiven Darstellbarkeit moralischer Handlungen ist, aber nur dann dies sein kann, wenn die Resultate jener Prozesse selbst schon der Moral kompatibel sind.7 – Ausdrücklich ist die „Urtheilskraft, als […] Verbindungsmittel der zwei Theile der Philosophie zu einem Ganzen“8 ausgewiesen. Dem liegt die Dichotomie von Zivilisation und Kultur auf der einen und Moral auf der anderen Seite zugrunde, die unvermittelte Differenz von technischer und moralischer Praxis, die beide unabhängig von einander gelingen könnten, weil die Begriffe theoretischer Vernunft, die Naturbegriffe, von dem der praktischen Vernunft, von dem Freiheitsbegriff „specifisch verschieden“ seien, ja beide Seiten sogar einander „jederzeit eine Entgegensetzung“9 darstellen: Der Wille, das Vermögen zu moralischer Praxis, sei als Begehrungsvermögen bloß naturkausal bestimmt, selbst technisch-praktische Bestimmung sei von der unmittelbar pathologischen Bestimmung nicht eminent unterschieden. Die Distanzierung der Menschen vom unmittelbaren Naturzwang – die Entfaltung subjektiven Selbstbewußtseins – bleibt damit selbst ein Naturprozeß, und die wissenschaftliche Betrachtung dieses Prozesses in den einfachen und entwickelten Momenten, „die Haus-, Land-, Staatswirthschaft, die Kunst des Umganges, die Vorschrift der Diätetik, selbst […] die allgemeine Glückseligkeitslehre“, werden nicht „zur praktischen Philosophie gezählt“10 . Kant ist Dialektiker genug, um festzustellen, daß diese strikte Differenz nur aufrecht zu erhalten ist mittels einer Verbindung des Differenten, denn „Verstand und Vernunft haben also zwei verschiedene Gesetzgebungen auf einem und demselben Boden der Erfahrung, ohne daß eine der anderen Eintrag thun darf“11 . Dürfen sie einander nicht behindern und sollen doch beide von den gleichen Gegenständen gelten, so muß eine Verträglichkeitsbedingung gefunden werden. Nun sind die Begriffe praktischer Vernunft Ideen, zu deren Erkenntnis die theoretische Vernunft nicht übergehen kann, ohne in dialektische – diesmal nach Kants Sprachgebrauch – Schwierigkeiten zu geraten. Aber „der Freiheitsbegriff soll den durch seine Gesetze aufgegebenen Zweck in der Sinnenwelt

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8 9 10 11

nämlich das von der Urteilskraft zu erfassende Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem so gedacht werden muß, daß in diesem Verhältnis das Besondere als solches erscheint“ (80). Dieser Aufgabe kann Kants klare Bereichsdifferenzierung in den Wissenschaften nicht gerecht werden, da jede Disziplin ihren besonderen Zweck habe, dem sie in ihrem ‚abgesonderten System‘ effektiver nachgehen könne als in einem angeschwollenen Gesamtsystem (vgl. MAN, IV 477f.). So zweckmäßig wissenschaftliche Arbeitsteilung nach Gegenstand und Methode ist, so unüberwindbar werden die Grenzen von Disziplinen, wenn sie nicht mehr als kooperative Leistungen begriffen werden, die in derselben Subjektivität ihren Grund haben. KdU, V 176. KdU, V 171. KdU, V 173. KdU, V 175.

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wirklich machen; und die Natur muß folglich auch so gedacht werden können, daß die Gesetzmäßigkeit ihrer Form wenigstens zur Möglichkeit der in ihr zu bewirkenden Zwecke nach Freiheitsgesetzen zusammenstimme“12 . Aus einer solchen moralischen Aufgabe, weil sie ihre Realisierbarkeit postuliert, lasse sich darauf schließen, daß die Naturgesetze den moralischen Vernunftgesetzen nicht widerstehen,13 daß die Naturkonstitution durch die reine Vernunft Moralität gestatte. Während die Kritik der praktischen Vernunft die Gesetzgebung der reinen Vernunft auf die Willensbestimmung, unangesehen von deren materialer Realisierbarkeit, beschränkte, unterstellt Kant hier unvermittelt, daß mit dem Sittengesetz seine Realisierbarkeit in der Sinnenwelt, in der Natur, gesetzt sei.14 Es bedarf dann aber eines objektiven Zweckbegriffs; es bedarf mithin der Möglichkeit, subjektive Zwecke als in einem Gegenstand manifestiert daseiende Zwecke vorzustellen. Diese Vorstellung setzt aber die der Zweckmäßigkeit der Natur voraus, ihrer Teleologie an sich, die doch nur für uns vorgestellt sein dürfe. Als Vermögen dieser Vorstellung präsentiert Kant die Urteilskraft, die zwischen „dem Verstande und der Vernunft […] enthalten“15 sei. Diese Positivierung überrascht zunächst, denn nach der Bestimmung der transzendentalen Urteilskraft vermittelte diese zwischen Verstand und Sinnlichkeit, indem sie die Kategorien schematisiert auf Erfahrungen bezog, also die bestimmende Subsumtion von Erfahrungen unter Verstandesbegriffe vermittelte. Allerdings kam der Urteilskraft deshalb die zentrale Rolle im Schließen der Vernunft zu, denn der Obersatz gibt ein allgemeines Verstandesurteil über den terminus major an, dem in der conclusio der terminus minor zugeordnet werden muß. Dafür ist es erforderlich, diesen unter den terminus medius zu subsumieren, eine Tätigkeit, ohne den keine Erkenntnis gelingt, für die es aber kein methodisches Verfahren des Verstandes oder der Vernunft geben kann: Ob Cajus ein Mensch ist, kann weder selbst geschlossen , noch durch ein synthetisches Urteil a priori bestimmt werden. Hier subsumiert die Urteilskraft den sinnlichen Gegenstand unter die Regel des terminus medius und vermittelt eben durch diese Vermittlung von Sinnlichkeit und Verstand ebenso zwischen Verstand und Vernunft.16 Aus der fragilen Konstellation dieser Funktion der Urteilskraft „im logischen Gebrauche“17 , in Analogie zur Position von Lust und Unlust zwischen Erkenntnis und Begehrungsvermögen,18 begründet Kant die Möglichkeit der Vermittlung von Natur und Freiheit durch eine ästhetische Urteilskraft. Sollen nun bestimmte Naturerscheinungen den Verstandesbegriffen zugeordnet, ihnen subsumiert werden, so ist dies nicht von einer transzendental bestimmenden Urteilskraft zu leisten, die lediglich a priori vorgegebene Gesetze auf Mannigfaltigkeit überhaupt, mögliche Erfahrung, bezieht, sondern es wäre die in der Zuordnung des terminus medius gelegene implizit reflektierende Funktion der Urteilskraft näher zu bestimmen als 12 13 14

15 16 17 18

KdU, V 176. Vgl. KdU, V 196. Vgl. Wolfgang Scheible, Wahrheit und Subjekt, Hamburg 1988, 474: „Die ‚Kritik der Urteilskraft‘ war der Versuch, die Allgemeinheit der Vernunft mit emanzipierter Subjektivität zu vermitteln.“ KdU, V 178. Vgl. KrV, B 360. KdU, V 179. Vgl. KdU, V 178.

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ein Vermögen, wirkliche Erfahrung gesetzmäßig zu bestimmen.19 Soll sie dies leisten, so kann ihr Prinzip nicht selbst empirisch sein, ebenso wenig aber kann es aus reinem Verstand gegeben sein, denn dann wäre sie bestimmende Urteilskraft. Das Subjekt konstituiert aber durch sie kein Objekt, sondern reflektiert, a posteriori, auf Gegenstände, deren Ordnung dadurch gleichwohl als notwendig zu erfassen sei. Kant nennt dies ‚empirische Gesetze‘20 . Zwar unterliegt die Welt der Erfahrung insgesamt der Einheit des Verstandes, aber für keinen Fall wirklicher Erfahrung läßt sich dies ableiten. Die Einheit möglicher und wirklicher Erfahrung soll nun aber doch reflektiert und begründet werden.21 Soll nun der einzelne, zufällig gegebene Gegenstand unter allgemeine Gesetze subsumierbar sein, so müsse er betrachtet werden, „als ob gleichfalls ein Verstand (wenngleich nicht der unsrige)“22 ihn gesetzmäßig angeordnet hätte. Die Anordnung durch einen Verstand setzt aber einen Zweck voraus, deshalb ist „[d]ie Zweckmäßigkeit der Natur […] also ein besonderer Begriff a priori, der lediglich in der reflectirenden Urtheilskraft seinen Ursprung hat“23 . Zwar könne den Naturprodukten nicht unterstellt werden, sie seien derart Kunstprodukte eines göttlichen Demiurgen; aber sie müssen doch vorgestellt werden, als seien sie es. Wohl durch eine sprachliche Unachtsamkeit – aber doch bezeichnend genug – überträgt Kant die Regulativität der Vorstellung der Zweckmäßigkeit auf die Zufälligkeit der Wahrnehmung: „Dieser transscendentale Begriff einer Zweckmäßigkeit der Natur ist nun weder ein Naturbegriff, noch ein Freiheitsbegriff, weil er gar nichts dem Objecte (der Natur) beilegt, sondern nur die einzige Art, wie wir in der Reflexion über die Gegenstände der Natur in Absicht auf eine durchgängig zusammenhängende Erfahrung verfahren müssen, vorstellt, folglich ein subjectives Princip (Maxime) der Urtheilskraft; daher wir auch, gleich als ob es ein glücklicher unsre Absicht begünstigender Zufall wäre, erfreuet (eigentlich eines Bedürfnisses entledigt) werden, wenn wir eine solche systematische Einheit unter bloß empirischen Gesetzen antreffen: ob wir gleich nothwendig annehmen mußten, es sei eine solche Einheit, ohne daß wir sie doch einzusehen und zu beweisen vermochten.“24 War zunächst die Zweckmäßigkeit zu betrachten, als ob es sie gäbe, ergibt sich unter dem durch sie bestimmten Blickwinkel der Zufall als das, was als bloß scheinhafte Vorstellung anzusehen sei. Das Subjekt jongliert mit den Vorstellungen ‚Zufall‘ und ‚Zweckmäßigkeit‘ und erweist sich darin als heautonom: Es gibt nicht sich selbst ein Gesetz für die Beziehung auf Erfahrung – was autonom wäre – sondern es gibt sich ein Gesetz allein für sich selbst. Wohl ist die Zweckmäßigkeit der Natur allein von Menschen zu konstruieren und daher auch für sie; 19

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22 23 24

Auf diesen Unterschied der reflektierenden Urteilskraft als eines aktiven Vermögens zur bestimmenden als bloßem „Vollzugsvermögen der Regelanwendung“ weist Peter Euler, Technologie und Urteilskraft, a.a.O., 242, hin. Vgl. KdU, V 179. Vgl. KdU, V 183f. Zur Lösung dieses aus der kritischen Philosophie folgenden Problems muß Kant über die bekannten Mittel der Psychologie hinausgehen. Vgl. Anselm Model, Metaphysik und reflektierende Urteilskraft bei Kant. Untersuchungen zur Transformierung des leibnizischen Monadenbegriffs in der Kritik der Urteilskraft, Frankfurt am Main 1987, 107. KdU, V 180. KdU, V 181. KdU, V 184. Meine Kursivierung.

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ob sie aber ein Bedürfnis der reinen Vernunft sei, ist noch zu klären.25 Die eingeklammerte Bemerkung übers Bedürfnis unterstützt erstens die Einführung des Zweckbegriffs und bereitet zweitens die des Lustbegriffs vor. Die Wahrung der Einheit der Erfahrung wird als Bedürfnis des Verstandes dargestellt, wodurch diesem ein direkt sinnenhaftes Moment zugeteilt wird, das über die Architektonik hinausweist. Dieses Bedürfnis ist aber nicht ursprünglich eines der reinen Vernunft, sondern des ganzen lebenden Subjekts. Soweit der Natur überhaupt Zweckmäßigkeit zu unterstellen ist, ist dies ein Resultat der tätigen Differenzierung der Menschen von der unmittelbaren Natur. Der Naturzwang ist zweckwidrig.26 Er behindert die Realisierung spezifisch menschlicher Zwecke. Jener Differenzierung ist aber doch die Möglichkeit, in der Natur zu überleben, vorausgesetzt. Daß diese Möglichkeit aber zum Gegenstand der Reflexion auf Gesetzmäßigkeit wird, setzt eben seinerseits die tätige Differenzierung von der Natur voraus, wodurch die Natur erst zu dem Gegenstand gemacht wird, als der sie dann erscheint.27 Vorher sind die Naturwesen nur als unmittelbare Elemente des Naturzusammenhangs selbst vorstellbar, als grenzenlos-amorphe in einer umfassenden Naturbewegung, in der für sie nicht einmal Tag und Nacht geschieden sind, ein Tröpfchen in den Wassern, über denen kein Geist schwebt. – Wohl ist dafür, daß Menschen aus der Natur sich sukzessive herausarbeiten können, weil dies als gegenständliches Tun zugleich in der Natur geschieht, vorausgesetzt, daß Natur selbst nicht völlig unbestimmt ist; Gestaltung setzt mit Gestaltbarkeit auch Bestimmtheit voraus, zumal wenn die Gestaltung Regelmäßigkeit aufweist. Im wissenschaftlichen Erkennen bleibt daher den Naturgegenständen immer etwas von dem, was Natur im geschichtlichen Prozeß immer war: das irreduzible und als solches unverfügbare Substrat gestaltender gegenständlicher Tätigkeit, auf das Menschen als gegenständliche Wesen verwiesen sind.28 Insofern ist sie nicht allein formal, sondern eminent von 25 26

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Vgl. KdU, V 185f. Mit Blick auf die Implikation zweckmäßiger Natur in Kants Begriff von Glückseligkeit schreibt Georg Zenkert: „Diese naive Vorstellung diskreditiert sich freilich von selbst, weil es keinerlei Anzeichen dafür gibt, daß die Natur menschlichen Wünschen entgegenkommt“ (Konturen praktischer Rationalität, a.a.O., 23). Vgl. Renate Wahsner, Verstand – Vernunft – Verantwortung, a.a.O., 172: „Der Mensch ist Mensch, weil und indem er die Natur verändert. Dies ist zwangsläufig mit der Entwicklung gewisser Arbeitsinstrumente, also der Entwicklung einer Technik verknüpft. Auf Technik zu verzichten hieße also, ins Tierreich zurückzukehren.“ Selbstverständlich ist die ‚Emanzipation vom unmittelbaren Naturzwang‘ nicht Emanzipation von Natur überhaupt. Vgl. auch 173, FN 11: „Er kann sich auch nicht – selbst, wenn er es will – von der Natur schlechthin emanzipieren; denn er ist nicht nur ein soziales, sondern auch ein natürliches Wesen. […] Er kann ‚nur‘ dafür sorgen – und das macht sein Menschsein aus –, daß er der Natur nicht blind ausgeliefert ist, er kann sie so gestalten, daß er mit ihr und in ihr seine Zwecke realisieren kann.“ – Insofern ist die „Übereinstimmung von Welt und Mensch“ nicht nur „geheimnisvoll[]“ (Christian Iber, Warum bedürfen Geschmacksurteile nach Kant einer Deduktion?, in: Reinhard Hiltscher/Stefan Klingner/David Süß (Hgg.), Die Vollendung der Transzendentalphilosophie in Kants ‚Kritik der Urteilskraft‘, a.a.O., 120). Vgl. Karl Heinz Haag, Der Fortschritt in der Philosophie, a.a.O., 110: Gegenstände naturwissenschaftlicher Erkenntnis „sind allein aus dem Gesamtzusammenhang separierte Naturvorgänge: partikulare Naturvorgänge, die sich unter meßbaren Bedingungen vollziehen. Der Prozeß der Separierung geht jedoch ein in die Bestimmung des untersuchten Objekts. Er restringiert sie auf die

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den Menschen und ihrer Bearbeitung unterschieden; aber in allen Gestalten, in denen sie den Menschen erscheint – zumal wo sie ihnen als zweckmäßig erscheint – ist sie Resultat von deren Geschichte. Darin hat allein die Rede vom „Vorrang des Objekts“29 ihren Sinn: Gegenstände können nur durch ihre Erscheinungen hindurch als auch an sich bestimmte gedacht werden, aber sie müssen so gedacht werden, wenn überhaupt etwas soll gedacht werden können. So erweist sich die subjektive Abhängigkeit des ontologischen Gedankens als tiefer abhängig von der gegenständlichen Objektivität des Subjekts, jener Gedanke ist „intentio obliqua der intentio obliqua“30 . Besonders in der Ersten Einleitung zur Kritik der Urteilskraft,31 in der Kant gewissermaßen deren Konzept entwirft, wird sein Ringen um den Zweckmäßigkeitsbegriff deutlich, der wohl subjektiv beschränkt sein soll, dem aber doch irgendwie Natur korrespondieren muß. Dasjenige an ihr, was korrespondiert, wird dabei unvermeidlich in die Korrespondenz eingezogen, soll als Verhältnisbegriff gefaßt werden, dessen Relatum ‚Natur‘ in seinem Bestimmungsmodus doch problematisch bleibt, weil es Kant einiger Andeutungen zum Trotz nicht gelingt, diese Korrespondenz praktisch zu fassen. So bezeichnet Kant den Grund der Möglichkeit, Naturformen zu klassifizieren, als ‚logische Zweckmäßigkeit‘ des Verhältnisses der Naturformen zueinander und zur Absicht der

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31

durch ihn unterstellten Verhältnisse. Allerdings ist diese Bestimmung keine subjektive Setzung. Sie hat als die relative Erkenntnis eines Naturvorgangs ihre objektive Grundlage in der Struktur, die ihm unabhängig vom erkennenden Subjekt zukommt: seiner Bestimmtheit an sich selber.“ (Vgl. auch 77f.) Haags Beharren hierauf rührt aus der negativen Einsicht: Die „Tendenz zum subjektiven Idealismus ist jeder Theorie immanent, die ein intelligibles Substrat der Natur nicht duldet“ (116). Daß Naturdingen selbst eine Bestimmtheit zukomme, muß aber nicht als ‚intelligibles Substrat der Natur‘ gefaßt werden. Während nämlich die Bestimmtheit der Naturdinge auf deren unverfügbar Gegenständliches verweist, dem Adorno Mimesis korrespondieren ließ, ist jenes ‚Substrat der Natur‘ größer angelegt, auf Dinge nämlich, die „von sich aus in begrifflich fixierbaren Zusammenhängen stehen“ (83), auf die Legitimation der Naturgesetze in der „Beschaffenheit der kosmischen Materie“ (77) oder auf eine „allmächtige[] denkende[] Entität als Urgrund der Materie“ (72). All dies sei positiv nicht erkennbar, aber als Gegenstand einer negativen Metaphysik zu erschließen, ohne dessen Einbeziehung alle Humanität positivistischer Instrumentalisierung verfiele (200). Konsequent erblickt Haag in der Teleologie der Kritik der Urteilskraft die Anlage solcher negativer Metaphysik (70; 87). – Hier soll dagegen gezeigt werden, daß das Operieren mit teleologischen Begriffen nicht schon deshalb, weil ihnen keine objektive Realität eingeräumt wird, der Widersprüche teleologischen Denkens, in dem Freiheit keinen Ort hat, ledig sei. Daß den Naturdingen Bestimmtheit zukomme, damit sie bestimmbar seien, wovon dann allein weiter zu reden ist, muß wohl reichen. Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, a.a.O., 184 u.ö. Theodor W. Adorno, Zu Subjekt und Objekt, a.a.O., 747. Vgl. Peter Euler, Technologie und Urteilskraft, a.a.O., 251: Die Schwierigkeit bestehe darin „nicht sagen zu können, was die Natur sei und zugleich zu wissen, daß eine Vorstellung davon, was sie sei, Voraussetzung der Vernunft historisch war und allemal zukünftig ist“. – Ohne freilich solche Konsequenzen zu ziehen, betont das Historische der Subjekt-Objekt-Relation, ihr Resultieren aus der Vergegenständlichung des freien Willens, mit Rekurs auf Hegel, Joachim Ritter, Person und Eigentum. Zu Hegels „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ §§ 34 bis 81, in: Ders., Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel, Frankfurt am Main 1969, 270. Erste Einleitung KdU, bes. V-VII.

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Urteilskraft,32 zu deren „Bewunderung […] schwerlich jemand anders als etwa ein Transzendentalphilosoph fähig sein“33 würde, die aber doch, der Logik der Relation zufolge, in der Naturformen ‚enthalten‘ sei.34 Deshalb nennt Kant die Repräsentation der logischen Zweckmäßigkeit im Gegenstand zwar nicht ‚forma finalis naturae intentionalis‘ wohl aber ‚forma finalis naturae spontanea‘.35 Das Ausgangsproblem stellt die Möglichkeit einer Erfahrung der Mannigfaltigkeit der besonderen Naturformen dar, ohne den systematischen Naturbegriff der Kritik der reinen Vernunft als Inbegriff der gesetzmäßig geordneten Gegenstände der Erfahrung zu zerstören. Dafür muß diese Erfahrung „als System und nicht als bloßes Aggregat anzusehen sein“36 . Dem wiederum wäre eine systematische Vorstellung der Natur selbst vorauszusetzen, wenn nicht beliebige Systeme von Erfahrung miteinander konkurrieren sollen. Dieser systematische Zusammenhang sei nun als selbsttätige Hervorbringung von einander zweckmäßigen Formen vorzustellen, als eine „Technik der Natur“, denn diese Zweckmäßigkeit könne nur in Analogie zur menschlichen Produktion von Artefakten gedacht werden.37 Ohne diese Voraussetzung als Prinzip der Urteilskraft wäre es unmöglich, sich „in einem Labyrinth der Mannigfaltigkeit möglicher besonderer Gesetze zurechtzufinden“38 . Zwar will Kant den Begriff systematischer Naturordnung nicht als Erkenntnis der Natur ausgeben und ordnet ihn deshalb nicht Verstand oder Vernunft, sondern nur der Urteilskraft zu; nur in Beziehung auf deren Zweck, das Mannigfaltige zu ordnen, soll er Geltung haben. Aber diese Geltung kann nicht in der Urteilskraft selbst gründen: „Naturgesetze aber, die so beschaffen und auf einander bezogen sind, als ob sie die Urteilskraft zu ihrem eigenen Bedarf entworfen hätte, haben Ähnlichkeit mit der Möglichkeit der Dinge, die eine Vorstellung dieser Dinge als Grund derselben voraussetzt.“39 Nicht die Realität der Ordnung steht hiernach unter der subjektiven Bedingung des ‚als ob‘, sondern die subjektive Bedingtheit dieser Konstruktion selbst: Die Urteilskraft denkt nicht die Ordnung, als ob sie real wäre, sondern, als ob sie so gedacht würde. So kann sie die ‚Dinge als Grund derselben‘ vorstellen. Weil nun der Begriff der Natur als System eine Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung sei, könne er nicht selbst Resultat von Erfahrung sein.40 Diese Voraussetzung sei deshalb a priori zwingend, auch wenn Menschen Natur immer nur als „rohes chaotisches Aggregat […] [ohne] die mindeste Spur eines Systems“ wahrnehmen sollten, 32 33 34 35 36 37

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39 40

Vgl. Erste Einleitung KdU, 22f. und 28. Erste Einleitung KdU, 23. Vgl. Erste Einleitung KdU, 23. Vgl. Erste Einleitung KdU, 42. Erste Einleitung KdU, 15. Vgl. Erste Einleitung KdU, 42. Vgl. auch 26: „Also ist die Urteilskraft eigentlich technisch; die Natur wird nur als technisch vorgestellt, sofern sie zu jenem Verfahren derselben zusammenstimmt und es notwendig macht.“ (meine Sperrung). Erste Einleitung KdU, 20. Jeder Jurist muß, hinsichtlich der Rechtsgesetze, das können. Selbst wenn die Theorie zugestanden wird, nach der die Einzelgesetze und ihre Auslegung konsistent, untereinander und mit der Verfassung, sein müssen, reicht das – wegen der Kontingenz der geregelten Materien – nicht zu einer systematischen Ordnung. Erste Einleitung KdU, 22f. Erste Einleitung KdU, 17.

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weil ihre Mannigfaltigkeit „unendlich groß wäre“41 . Der Versuch aber, durch Vergleichung von Naturformen zu deren empirischen Begriffen zu gelangen, sei von vornherein hoffnungslos, „wenn die Natur […] in diese […] eine so große Ungleichartigkeit gelegt hätte, daß alle, oder doch die meiste Vergleichung vergeblich wäre“.42 Indes erscheint doch diese Gefahr der Ungleichartigkeit erst vom Resultat einer relativ fortgeschrittenen Naturerschließung in der Wissenschaftsgeschichte aus; die erkenntnistheoretische Möglichkeit, „Erfahrungen systematisch anzustellen“43 , geht aus der Reflexion auf diese Geschichte hervor. Wäre die Natur nicht so bestimmbar, wie sie bestimmt wurde, dann wäre alles ganz anders – niemand weiß wie. Für kein Subjekt können freilich Prinzipien der Naturforschung aus der individuellen Erfahrung hervorgehen, aber ohne die geschichtliche Distanzierung vom Naturzusammenhang durch Gestaltung von Natur wäre an solche Prinzipien wohl nicht zu denken.44 Daß die Natur als System erscheinen kann, ist Resultat dieser Geschichte, ohne daß Bewußtsein deshalb evolutionär erklärt werden müßte. Die Verstandesformen können nicht aus der Erfahrung bezogen werden, auch nicht aus der der Gattung; aber die realisierte Objektivität dieser Formen, noch ihre Möglichkeit, kann umgekehrt auch nicht als rein subjektives Vermögen a priori verstanden werden. Durch die fortschreitende Erforschung wird Natur überhaupt erst im systematischen Bestand des Wissens darstellbar. Aber nicht Natur wird dabei systematisiert, sondern Naturerkenntnis. In deren Fortgang wird Natur partiell verfügbar gemacht, behält aber eine Seite von Selbständigkeit und bleibt so im strengen Sinn Gegenstand, von dem sich übrigens auch nicht sagen ließe, daß er ‚zu groß‘ oder ‚chaotisch‘ sei. Kants Beispiel von der biologischen Ordnung macht – nach der Widerlegung der Annahme der Konstanz der Arten – die metaphysische Tradition deutlich, in der der Zweckmäßigkeitsbegriff – aller Vorbehalte zum Trotz – steht: Eine Anwendungsbedingung von Logik auf Natur sei die Annahme, „daß die Natur in ihrer grenzenlosen Mannigfaltigkeit eine solche Einteilung derselben in Gattungen und Arten getroffen habe, die es unserer Urteilskraft möglich macht, […] zu empirischen Begriffen […] zu gelangen“45 . Diese Einteilung wird geradezu Porphyrianisch beschrieben: „Die logische Form eines Systems besteht bloß in der Einteilung gegebener allgemeiner Begriffe (dergleichen hier der einer Natur überhaupt ist), dadurch daß man sich das Besondere (hier das Empirische) mit seiner Verschiedenheit als unter dem Allgemeinen enthalten nach einem gewissen Prinzip denkt. Hierzu gehört nun […] ihre [der Klassen des Mannigfal41 42 43 44

45

Erste Einleitung KdU, 15. Erste Einleitung KdU, 19f. Erste Einleitung KdU, 17. Vgl. Matthias Lutz-Bachmann/Gunzelin Schmid Noerr (Hgg.), Die Unnatürlichkeit der Natur. Über die Sozialität der Natur und die Natürlichkeit des Sozialen, Basel 1992. Erste Einleitung KdU, 18f. Anm. Den Biologismus hat Robert Spaemann als Prinzip der Neuzeit, als Inversion der Teleologie, bezeichnet: Vgl. Bürgerliche Ethik und nichtteleologische Ontologie, in: Hans Ebeling (Hg.), Subjektivität und Selbsterhaltung, a.a.O. Wo früher Teleologie als Erhaltung durch heterogene Prinzipien in einer Ordnung verstanden wurde, wird sie nun zur Selbsterhaltung. Dem hat Günther Buck einen normativen Begriff von Selbsterhaltung entgegengehalten, demzufolge die Inversion von Teleologie erst durch politische Bestimmung der Zwecke erfolge: Vgl. Selbsterhaltung und Historizität, a.a.O.

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tigen; M.St.] Subsumtion unter höhere Klassen (Gattungen), bis man zu dem Begriffe gelangt, der das Prinzip der ganzen Klassifikation in sich enthält (und die oberste Gattung ausmacht).“46 Die Schwierigkeit, gerade am Begriff der biologischen Arterhaltung eine Selbständigkeit der Natur aufzuzeigen, werden schon in der Aristotelischen Konstruktion deutlich, in der zwar die Selbständigkeit von Artefakten nur am Modell natürlicher Genese von Substanzen dargestellt werden kann, aber der Begriff dieser Genese selbst nur am Modell der handwerklichen Produktion von Artefakten zu entfalten ist, weil sich über keine der Ursachen, vor allem Form und Zweck, unabhängig davon etwas bestimmen läßt.47 Anders als vom Stand der bearbeiteten Natur her, negativ, ist Natur nicht zu fassen; gerade weil dieser Begriff das unabdingbar Voraussetzungsvolle für praxis wie für technä festhalten soll, ist er ein negativer. Die Arterhaltung verbürgt solange positive Selbständigkeit, bis die Art ausstirbt oder vernichtet wurde. Die Ordnung der Arten erscheint solange als System, bis sie ökologisch kollabiert. Die Problematik des Gattungsbegriffs schließlich, vor allem des von Kant bemühten der ‚obersten Gattung‘, ist seit Porphyrius – Aristoteles formuliert noch vorsichtig, den zweiten Substanzen komme wohl weniger Sein zu als den ersten – kaum geringer geworden.48 Daß Kant die Spezifikation der Gesetze um der Vollständigkeit der Ordnung willen analog dem Schema der Gattungen und Arten denkt, hat einen Grund darin, daß in der Selbsterhaltungsbeziehung lebender Wesen auf ihre natürlichen Lebensbedingungen am ehesten eine Zweckanalogie erscheint: Die Welt wird als subjektkompatibel vorausgesetzt, insofern lebendige Subjekte sich in ihr erhalten können. Zudem hat die belebte Natur gewissermaßen ein allgemeines Grundgesetz, das sich durch ihre Arten systematisch zu spezifizieren scheint: Das Lebewesen, dessen Verhältnis zur Natur nicht seinem Leben zweckmäßig ist, stirbt.49 Evolutionsgeschichtlich hört es – seine Art – auf, Bestandteil der Natur zu sein. Darin liegt eine gewisse – negative – Vollständigkeit der Naturordnung, weil alles, was unter die Gesetzmäßigkeit der Spezifikation von Arten nicht paßt, per definitionem nicht dauerhaft existiert. Wird dieser Vorstellung nicht die der Mutation hinzugefügt, so entsteht zwangsläufig die Suche nach dem missing link, das Kant postuliert.50 Obwohl selbst die Mutationstheorie immer noch Zwischenglieder zuläßt, entstehen doch auch Sackgassen, die keine systematische Ordnung erlauben: Bakterien, Pilze, Schnabeltiere, Fledermäuse, Neandertaler.51

46 47 48 49

50 51

Erste Einleitung KdU, 21. Vgl. Aristoteles, Metaphysik, a.a.O., VII, 7-9. Vgl. Aristoteles, Kategorien, a.a.O., sowie Porphyrius, Isagoge, in: Aristoteles, Kategorien, a.a.O. Diese Einsicht verdankt sich aber erst der Kritik Darwins an Linnés Vorstellung der Konstanz der Arten, bzw. der Anpassung durch Gebrauch oder Nichtgebrauch von Organen. Daß Darwins Begriffe, vor allem der des survival of the fittest, teils auch der der radiativen Adaption, tautologisch sind, schränkt ihren Erklärungsgehalt, nicht aber ihren Beschreibungsgehalt ein. – Vgl. zu dem Zusammenhang Siegfried Roth, Kant und die Biologie seiner Zeit, in: Otfried Höffe (Hg.), Kritik der Urteilskraft, a.a.O., 276ff. Vgl. KrV, B 694; B 682ff.; B 684ff. Derartige Erscheinungen sind Hegel zufolge ‚ungehörig‘. Vgl. Christine Zunke, Die notwendige Widerspenstigkeit phantastischer Tiere, die es wirklich gibt, in: Hegel-Jahrbuch 2004.

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Wenngleich Menschen die belebte Natur nicht herstellen, so hängt deren Erscheinung doch seit es Menschen gibt – und in drastisch zunehmendem Maße – von der Naturgestaltung durch Menschen ab. Das trifft selbst auf Naturerscheinungen zu, die dem technischen Zugriff scheinbar grundsätzlich oder wenigstens auf sehr lange Sicht entzogen sind. Die Ordnung der Gestirne erscheint zweckmäßig allein unter der Voraussetzung, daß die Einbildungskraft reproduzierbare Gestalten auf sie projiziert. Welche es sind, ist dabei weitgehend gleichgültig, wie am Grad der Ähnlichkeit der Lichtkonstellationen zu ihren Namenspatronen zu erkennen ist. Die unverfügbare Voraussetzung dafür ist nur die, daß überhaupt leuchtende Punkte dauerhaft vorhanden sind. Diese Punkte als solche sind ganz unzweckmäßig, denn kein der Navigation Unkundiger wird auf hoher See durch einen Blick nach oben Hilfe finden. Erst die Konstruktion von Konstellationen durch die Einbildungskraft schafft Orientierung.52 Und dieser Konstruktion liegen existentielle Zwecke nicht der Natur, sondern denkender Naturwesen zugrunde. Die Verlängerung solcher Zwecke in die Natur hinein gelingt nicht durch ein erkenntnistheoretisches Prinzip, sondern durch Kultur. Kant räumt zwar ein, daß die Urteilskraft „[z]weckmäßige Formen der Anschauung […] a priori selbst angeben und konstruieren“ könne, aber „Zwecke, d. i. Vorstellungen, die selbst als Bedingungen der Kausalität ihrer Gegenstände (als Wirkungen) angesehen werden, müssen überhaupt irgendwoher gegeben werden, ehe die Urteilskraft sich mit den Bedingungen des Mannigfaltigen beschäftigt, […] und sollen es Naturzwecke sein, so müssen gewisse Naturdinge so betrachtet werden können, als ob sie Produkte einer Ursache seien, deren Kausalität nur durch eine Vorstellung des Objekts bestimmt werden könnte.“53 Dadurch, daß einzelne durch Naturforschung zu erkennende Zusammenhänge als mit Bewußtsein konstruierte gedacht würden, werde es auch möglich, „von einem Produkte der Natur zu denken, daß es etwas hat sein sollen, und es darnach zu beurteilen, ob es auch wirklich so sei“54 ; das Prinzip dieser, teleologischen, Beurteilung sei aus der Erfahrung nicht zu ziehen. Aber dieses Prinzip ist eben nicht ein vorgestellter Naturzweck, sondern es ist die praktische Antizipation menschlicher Zwecke in Natur. A priori ist allein das menschliche Vermögen, selbst Zwecke zu setzen. Was Natur dagegen ‚sein soll‘, ist immer zweite Natur; das trifft bereits auf systematisierte Vorstellungen von Natur zu. Auf dieser Grundlage ist die Vorstellung, daß Natur etwas sein soll, keine teleologische, sondern es wäre die Einsicht der Subjekte in ihre praktische Subjektivität: Im Verhältnis ihrer zwecksetzenden Vernunft zu den objektiven Bedingungen ihres erkennenden, technischen und sozialen Handelns können sie über die Entwicklung von Vernunft in der Welt verfügen; ob sie aber darüber verfügen oder ob sie das Verhältnis des Handelns zu den Bedingungen bloß registrieren und analogisch voraussetzen, ist ein Unterschied ums Ganze. Nur wenn Vernunft in der Welt, wie sie ist, nicht a priori verankert ist, kann sie die Welt, wie sie sein soll, bestimmen.

52

53 54

Zur notwendigen Subjektivität von Orientierungsprinzipen vgl. Sich im Denken orientieren, VIII 134ff. Erste Einleitung KdU, 39f. Erste Einleitung KdU, 48.

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Kants Problem mit Zufälligkeit und Notwendigkeit der Naturordnung resultiert indes aus seiner Trennung von theoretischer und praktischer Vernunft. Reine Subjektivität wäre geschichtlich die widersprüchliche bloßer Naturwesen. Kants Suche nach der transzendentalen Einheit der Erfahrung setzt vereinzelte Menschen voraus. Den praktischen Zusammenhang, daß Menschen substantiell darin zusammenhängen, daß sie dieselbe Geschichte der Naturdistanzierung haben, somit an sich Gattung – selbstbewußt: Kollektiv – sind und sich dadurch vermittelt auf die eine Natur beziehen, blendet Kant aus.55 Kants Rede vom Bedürfnis oder Zweck des Verstandes ist schon die Überschreitung der Grenze zwischen Verstand und Vernunft, die doch durch die Urteilskraft erst hergestellt werden soll. Zudem sei die Erfüllung des Erkenntniszweckes mit Lust verbunden, weil ein Bedürfnis befriedigt sei. Gleichwohl sei diese Lust nicht mit dem Begehrungsvermögen verbunden, da der Verstand den Gegenstand nicht haben, sondern ihn bloß erkennen wolle. Die Positionierung der Lust als selbständigen Vermögens zwischen Erkenntnis- und Begehrungsvermögen ermöglicht nun diese Rede vom reinen Verstandeszweck erst. Die Lust, die ihm korrespondiert, ist ein Gefühl, eine ästhetische Vorstellung der Zweckmäßigkeit und als solche subjektiv; indem diese Zweckmäßigkeit aber das Verhältnis des Gegenstandes zu den Erkenntnisvermögen bezeichnet, partizipiert die subjektive Vorstellung der Möglichkeit nach an der Allgemeinheit der Erkenntnis. Es kann die bloße Form des Gegenstandes in der Anschauung apprehendiert werden, ohne daß dies schon mit der Absicht, den Gegenstand zu erkennen, verbunden wäre. Gleichwohl, so Kant, prüfe die reflektierende Urteilskraft „auch unabsichtlich“56 , ob der Gegenstand zur Harmonie der Erkenntnisvermögen – Einbildungskraft und Verstand – angemessen sei, die, solange nicht bestimmte Erkenntnis angestrebt sei, sich in der Urteilskraft in einem freien, nicht auf die begriffliche Identität des Gegenstandes bezogenen, ‚Spiel‘ befänden. Werde jene Harmonie empfunden, so beurteile der Geschmack den Gegenstand als ‚schön‘. Die Konstruktion, die das Verhältnis der Erkenntnisvermögen nicht auf bestimmte Erkenntnis, sondern auf Erkenntnis überhaupt bezieht, ist fragwürdig: Was wäre eine ‚Erkenntnis überhaupt‘? Kann tatsächlich ein Vermögen vorgestellt werden, das die allgemeine Erkennbarkeit eines Gegenstandes noch vor dem Versuch, ihn zu erkennen, erfaßte? Wären dann gescheiterte Versuche der Naturerkenntnis als Resultat einer vorgängigen Geschmacklosigkeit zu erklären? Wären Gegenstände, die intuitiv als häßlich

55

56

Vgl. Renate Wahsner, Verstand – Vernunft – Verantwortung, a.a.O., 173: „Um jedoch ein Subjekt Menschheit zu haben, muß es mehr sein als nur die Sammelbezeichnung aller jemals gelebt habenden und leben werdenden Menschen, die Menschheit muß ein wirkliches Kollektivum [Kollektiv ist kategorial gemeint; Wahsner bezieht sich auf Prolegomena, IV § 40; M.St.] d. h. ein als eine in sich strukturierte Einheit, als ein sich durch das Verhältnis und Verhalten der Menschen zueinander konstituierendes Ganzes handelndes Etwas.“ KdU, V 189. Die Urteilskraft reflektiert auf das in der Anschauung Gegebene, nicht etwa auf Urteile. Vgl. aber Peter Euler, Technologie und Urteilskraft, a.a.O., 264. Euler will allerdings auf die subjektive Einheit von subjektiver Bildung und objektiver Bildung hinaus, auf „eine bildungstheoretische Bestimmung des Subjektbegriffs“ (236). Gebildete Subjekte sollen immanent sachkompetent, nicht extern moralisch ihre Zwecke reflektieren. Dafür scheint aber doch die Vernunft, als Vermögen Zwecke zu setzen, die geeignete Instanz zu sein.

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empfunden werden, unerkennbar?57 Letztlich bezeichnet Kants Begriff des Schönen eher die Lücke, als daß er sie schlösse: Es muß möglich sein, sich über die Naturordnung allgemein zu verständigen, noch bevor ihre Gesetzmäßigkeit erkannt ist, denn sonst wären keine kooperativen wissenschaftlichen Arbeitsprozesse denkbar, die von verschiedenen Einzelerkenntnissen ausgehend schließlich in der Erkenntnis desselben Objekts oder desselben systematischen Zusammenhangs von Objekten vereinigt werden könnten. Das Problem ist dabei, daß die Urteile, in denen solche Verständigkeit geschieht, für jeden gültig sein sollen, aber nicht a priori gelten können, weil sie, als auf bestimmte Gegenstände bezogen, materialiter zufällig sind. Das Prinzip der Urteilskraft ist ‚heautonom‘, praktisch uninteressiert, sinnlich ohnehin. Dies bezeichnet Kant nun nicht durch die Negation der praktischen Autonomie, sondern durch deren reflexive Steigerungsform. Der griechischen Grammatik zufolge wäre damit ein praktisches Interesse bezeichnet, das gleichsam ins Subjekt zurückgebogen würde. Dies kann ebenso bedeuten: ‚Es gibt sich ein Gesetz, aber nur für sich selbst‘ wie ‚Es gibt sich ein Gesetz, und zwar, mit Nachdruck, für sich selbst‘. Die Interesselosigkeit ist keineswegs Zweckfreiheit, denn das ästhetische Urteil ist erschlossen worden als Funktion der besonderen Objekterkenntnis. Es schwebt zwischen Erkenntnis und Praxis, was bei Kant zum Ausdruck gelangt etwa durch die Gleichgültigkeit, ob der Gegenstand „Product der Natur oder der Kunst“58 sei. Von einem ‚Produkt der Natur‘ läßt sich überhaupt nur in Analogie zur Kunst, zum Artefakt, reden, so wie sich von einem Gegenstand als Gegebenem nur in Analogie zur Natur reden läßt. Entsprechend zerfällt bei Kant die Vorstellung von Naturordnung in die materiale, objektive, die der teleologischen Urteilskraft untersteht, zum Zweck, sich „in ihr orientiren zu können“59 , und in die formale der ästhetischen Urteilskraft, die das Verstandesurteil, den Zweckbegriff auf Natur anzuwenden, bloß subjektiv vorbereite. Dies gelingt ihr nur durch Analogie zum Handwerk, zur Produktion künstlicher Gegenstände, wodurch die Natur als objektiver Zweck in Korrespondenz zu einem subjektiven Zweck vorstellbar wird. Darin erscheint, daß die Natur keine unmittelbare ist, sondern geschichtliches Produkt eben der Distanzierung der Menschen von ihr. Diese ist kein Erkenntnisprozeß reiner Vernunft, sondern in ihr ist Erkenntnis mit Praxis unmittelbar verbunden. Natur wir zweckmäßig präpariert, um erkennbar zu sein. Als erkennbare erlaubt sie dem Subjekt, sich auch ihr entgegen Zwecke zu setzen, und nur dadurch wird sie erst erkennbar. Ist Natur noch nicht erkennbar, so wissen die Menschen noch nicht von sich als von Menschen. Ihr Bewußtsein könnte nur unmittelbar das von integralen Naturbestandteilen sein. Haben sie aber spezifisches Selbstbewußtsein, so haben sie auch schon Naturerkenntnis. Insofern Voraussetzung und Resultat im Prozeß der Distanzierung der Menschen von der Natur aus heutiger Perspektive nicht systematisch getrennt werden

57

58 59

Hierauf hat besonders Reinhard Brandt aufmerksam gemacht: Vgl. Schön, Erhaben, nicht Häßlich. Überlegungen zur Entstehung und Systematik der Kantischen Theorie des ästhetischen Urteils, in: Heiner F. Klemme/Michael Pauen/Marie-Luise Raters (Hgg.), Im Schatten des Schönen. Die Ästhetik des Häßlichen in historischen Ansätzen und aktuellen Debatten, Bielefeld 2006. KdU, V 191. KdU, V 193.

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können, sind im Erkenntnisprozeß, wie er Zivilisation und Kultur zugrunde liegt, immer schon Natur und Freiheit miteinander verbunden. Daß Kant die sogenannte schöne Kunst in den Mittelpunkt der Betrachtung der ästhetischen Urteilskraft stellt, liegt daran, daß in ihr, im Unterschied zum Handwerk, die gelungene Komposition der Teile nicht einem technischen Zweck unterliegt, sondern selbst Zweck der Tätigkeit ist: interesselose Zweckmäßigkeit, ohne (äußeren) Zweck. Dies ist ein Modell für die vorgestellte Naturbeschaffenheit vor dem Erkenntnisprozeß, aber in Hinsicht auf ihn. Darin setzt das Modell ‚Kunst‘ Erkenntnis schon voraus; das tut sie insbesondere, insofern sie selbst Distanz zur Natur voraussetzt, in der sie selbst nicht zweckvoll figuriert, die sie aber reflektiert darstellt, der sie ein Bewußtsein gibt und so auch unter unfreien Bedingungen der nicht moralischen Kultur und Zivilisation ein Bewußtsein von Freiheit transportiert.60 Kants Theorie der Urteilskraft versucht, die Verknüpfung von Natur und Freiheit in einem eigenen Vermögen zu rekonstruieren, weil Kant diese Verknüpfung als notwendig erkennt, aber ihre geschichtlichen Bedingungen nicht erkennt. Er kann sie nicht erkennen, weil das Moment von Praxis darin seinem Begriff nicht genügt. Die Freiheit dieser Geschichte ist immer verkoppelt mit Heteronomie, die als natürliche sich gibt und als solche auch erscheint und so den ganzen Zivilisationsprozeß aus dem Blick der Freiheitslehre rückt. Die Kollektivität der Praxis, die der Geschichte vorausgesetzt ist, erscheint nur in Antagonismen. Deswegen sucht Kant eine transzendentale Begründung der Möglichkeit der Verbindung von Verstand und Vernunft in einem Vermögen, das zwar jeder hat, aber als Vereinzelter. Wenn Kant daher schreibt: „Die Wirkung nach dem Freiheitsbegriffe ist der Endzweck, der (oder dessen Erscheinung in der Sinnenwelt) existiren soll, wozu die Bedingung der Möglichkeit desselben in der Natur (des Subjects als Sinnenwesens, nämlich als Mensch) vorausgesetzt wird“61 , so bleibt die Möglichkeit der Zweckmäßigkeit der Natur zunächst auf die der Menschen beschränkt. Durch diese Zweckmäßigkeit aber werde der Vernunft die Möglichkeit gegeben, die Natur an sich, in „ihrem übersinnlichen Substrat […] durch das intellectuelle Vermögen“ zu bestimmen, also moralischen Zwecken konform zu gestalten, und dies gilt explizit für 60

61

Diese Bestimmung von Kunst beschränkt sich freilich auf einen avanciert modernen Begriff derselben. Weder umfaßt sie die magischen, repräsentativen usw., Funktionen, denen Kunst diente und dient, noch das von Kant bemerkenswerterweise präferierte Tapetenkunsthandwerk (vgl. KdU, V 229). In der Ersten Einleitung leitet Kant die Beurteilung des Kunstschönen aus dem Prinzip der Beurteilung des Naturschönen ab, das seinerseits die Zweckmäßigkeit von Naturformen für die Erkenntniskräfte im Blick hat (60). Zwar gestaltet Kunst aus Begriffen und setzt insofern Zwecke, aber diese vorgeschlagene Beurteilung interpretiert diese Zwecke als die bewußte, absichtliche Wiederholung der Zweckmäßigkeit der Naturformen. Dessen Modell ist dann die Motivtapete. Zudem wird aus der Tabelle, in der Kant die menschlichen Produkte den Gemütsvermögen zuordnet (55), deutlich, daß im Begriff der Kunst nicht zwischen Handwerk und schöner Kunst unterschieden wird. – Die schöne Kunst wäre aus dem Zweckmäßigkeitskontext herauszulösen; auch der Begriff der Zweckmäßigkeit ohne Zweck führt nicht weiter. Kunst als Akt der Freiheit kann unter Bedingungen der Unfreiheit beispielsweise ganz unzweckmäßig sein. Die Bedeutung von Kunst ist nicht in Begriffen, nicht in Gefühlen und nicht in Zwecken gelegen; eher ist sie einstweilen der negative Ort menschlicher Freiheit in der Zeit der Vorgeschichte der Menschheit, als Antizipation praktischer Subjektivität. KdU, V 195f.

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die Natur „in uns sowohl als außer uns“62 : Die Subjektivität – das übersinnliche Substrat des Subjekts – ist für die Urteilskraft nämlich diejenige des ‚Subjekts als Sinnenwesen‘. Die moralische Bestimmbarkeit des Menschen als Sinnenwesen gibt nun aber – über die Möglichkeiten der Kantischen Moralphilosophie hinaus – Anweisung auch auf die moralische Bestimmung der gegenständlichen Bedingungen, unter denen das Sinnenwesen Mensch sich, notwendig gemeinsam mit seinesgleichen, reproduziert.63

2.

Teleologie: Unverfügbare Objektivierung von Subjektivität

a.

Subjekt und Naturzweck. Zur ‚Kritik der teleologischen Urteilskraft‘

Die Architektonik der reinen Vernunft hatte auf metaphysische Universalbegriffe geführt, wie vor allem den der Totalität, deren problematische Zulässigkeit Kant durch die Differenz von regulativen und konstitutiven Prinzipien legitimieren wollte. Damit wird aber unterschieden zwischen Prinzipien, durch die der Verstand die Objektivität seiner wohlisolierten Gegenstände konstituiert und solche, durch die die Vernunft regulativ den systematischen Zusammenhang der einzelnen Verstandesurteile über die je isolierten Gegenstände ermöglicht, ohne damit etwas über diese Gegenstände selbst auszusagen. Dadurch wird das Subjekt in ein zwiegespaltenes Verhältnis zu seinem Objekt gesetzt, da die systematische Gültigkeit seiner Urteile durch ein Prinzip begründet wird, das zu dem Grund der Gültigkeit der je einzelnen Urteile allo genos ist. Entweder begeht das Subjekt die Subreption der natürlichen Geltung seiner Vernunftprinzipien und hebt sich damit als Subjekt der Erkenntnis auf, oder es beharrt auf der Subjektivität jener Prinzipien und substituiert den Gegenstand seiner Erkenntnis durch eine bloße Vorstellung. Dieses in sich brüchige und ausweglose Verhältnis des Subjekts zu den Objekten fällt in die Urteilskraft, mittels derer Prinzipien und Erscheinungen verknüpft werden. Da nun nicht bloß allgemeine Regeln zur Erklärung der Natur angewandt werden, sondern auch aus der Reflexion auf partikular gegebene Erscheinungen solche Regeln gewonnen werden, scheint eine Distinktion zur Lösung des Teleologieproblems greifbar: Die teleologische Beurteilung der Natur sei als Regel im Forschungsprozeß erlaubt, dürfe aber nicht zur Erklärung der Resultate verwendet werden: „Sie gehört also zur reflectirenden, nicht der bestimmenden Urtheilskraft.“64 Der Hinweis, daß die Kausalität der Natur – würde sie nicht als „durch eignes Vermögen technisch“ gedacht – „als blinder Mechanism vorgestellt werden müßte“65 , zeigt an, daß Kants Problem hier nicht die im modernen Sinn physikalische Notwendigkeit ist. Vielmehr meint er Phänomene, die zwar damals – noch im antiken Sinn – zur Physik, nach modernem Verständnis aber zur Biologie gehören.66 Wohl können mechanische Kausalzusammenhänge experimentell isoliert und bestimmt werden, – biologische aber nicht, ohne den Untersuchungsgegenstand prinzipiell zu zerstören, zu töten. Deshalb können bei der Untersuchung von 62 63 64 65 66

KdU, V 196. Vgl. Johannes Rohbeck, Technologische Urteilskraft, a.a.O., 24. KdU, V 360. KdU, V 360. KdU, V 382f.

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Organismen deren funktionale Bestandteile nicht ohne ihre Funktion für den Organismus verstanden werden; sie werden verstanden als zweckmäßig auf andere Funktionen und mit ihnen aufs Ganze ausgerichtete.67 Offenbar ist es unproblematisch, einen Mechanismus ‚als blinden Mechanismus‘ vorzustellen, die analoge Vorstellung vom Organismus erweist sich jedoch als diesem inadäquat, es sei denn im Blick einer reinen Biochemie oder einer abstrakten Gehirnphysiologie, die heute allerdings mechanistische Modelle auch des menschlichen Organismus reinstallieren wollen. Zu Kants Zeit aber hatten sie allenfalls in radikalmaterialistischen Spekulationen ihre Vorläufer, denen noch keine experimentalwissenschaftliche Praxis korrespondierte, abgesehen vielleicht von den Horrorkabinetten der Galvanisten.68 Die nun von Kant anhand einer spezifischen Problematik der Biologie eingeführte teleologische Form der Naturbetrachtung wird gerade deshalb, weil Begriff und Praxis der Naturforschung noch nicht hinreichend in die Disziplinen Biologie, Chemie und Physik unterschieden worden sind, zu einer teleologisch-organischen Vorstellung der Gesamtnatur erweitert, wie Kants Beispiele vom höheren Sinn des Treibgutes bis zum dankbaren Zweck des Alpenschnees belegen. Dieser Tendenz vermag die zitierte Differenzierung innerhalb der Urteilskraft nicht wirksam zu begegnen, denn die Frage nach dem Verhältnis von Untersuchungsmethode und Erklärungsmodell entsteht grundsätzlich: Können Untersuchungsergebnisse, die nur durch teleologische Vorstellungen vom Gegenstandsbereich möglich waren, anschließend zu einer teleologischen Erklärung desselben Gegenstandsbereichs dienen? – Nicht zufällig bezeichnet Kant das regulative Teleologieprinzip als „eine subjective Zweckmäßigkeit der Natur“69 . Darin wird das teleologische Prinzip zugleich als subjektives und als ein der Natur zugehöriges bezeichnet, wodurch eben allein seine vermittelnde Funktion möglich wäre. Der subjektive Zweck, hier die Erkenntnis der „Natur in ihren besondern Gesetzen“70 , wird nur dann objektiv zur erkannten Natur, wenn diese „zu der Faßlichkeit für die menschliche Urtheilskraft und der Möglichkeit der Verknüpfung der besondern Erfahrungen in ein System derselben“71 geeignet ist. Würde sie nur als geeignet ‚angenommen‘, wie Kant 67

68

69 70 71

Zu diesem Zusammenhang vgl. Ina Goy, Die Teleologie der organischen Natur, in: Otfried Höffe (Hg.), Kritik der Urteilskraft, a.a.O. und Siegfried Roth, Kant und die Biologie seiner Zeit, a.a.O. – Volker Gerhardt sieht in Kants Versuchen, die rein mechanistische Naturerklärung abzulösen, einen Vorläufer der Rede von der ‚Biologie als Leitwissenschaft‘ (vgl. Eine kritische Philosophie des Lebens. Kants Theorie der menschlichen Existenz, in: Reinhard Hiltscher/Stefan Klingner/David Süß (Hgg.), Die Vollendung der Transzendentalphilosophie in Kants ‚Kritik der Urteilskraft‘, a.a.O., 63). Zur weit verbreiteten mechanistischen Auffassung von Organismen vgl. exemplarisch Julien Offray de La Mettrie, Der Mensch als Maschine, Nürnberg 1985 oder schon René Descartes, Prinzipien der Philosophie, Hamburg 1955, II 64. Zur experimentellen Lage der Zeit, besonders dem Galvanismus, vgl. Erhard Oeser, Geschichte der Hirnforschung. Von der Antike bis zur Gegenwart, Darmstadt 2002, 91-101. Keine literarische Glanzleistung aber doch ein eindrückliches Stimmungsbild des zeitgenössischen Verhältnisses zum Lebendigen stellt immer noch Mary Shelleys um 1816 entstandener Roman Frankenstein oder Der moderne Prometheus, Stuttgart 1986, dar. KdU, V 359. KdU, V 359. KdU, V 359.

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zwar weiter formuliert, dann gäbe es doch keinen systematischen Grund, dieses und nicht ein beliebiges anderes Prinzip auf die zu erkennende Natur zu projizieren.72 In der Erfahrung, daß Erkenntnis unter bestimmten heuristischen Prinzipien scheitert, unter anderen aber gelingt, ist die mit der Teleologie verbundene Zwangsläufigkeit ihrer ontologischen Verallgemeinerung angelegt.73 Diese Anlage entwickelt sich unterm Systemgedanken der universellen Verknüpfbarkeit aller wissenschaftlichen Urteile, vor dem das partielle Scheitern von Erkenntnisbemühungen allein als individuelles Versagen empirischer Subjekte erscheint, das aus der Fortschrittsgeschichte der Wissenschaften zu tilgen sei. – Indes droht die Tilgung der dysfunktionalen Subjekte zur Tilgung von Subjektivität überhaupt durch Teleologie umzuschlagen. Zunächst folgt auch für Kant aus dem Naturbegriff a priori allein noch keine Teleologie.74 Allerdings könnte Teleologie dem Naturbegriff nur beigelegt werden, wenn die Menschen die Natur „als intelligentes Wesen“75 annähmen. Dann aber wären menschliche und natürliche Zwecke entweder prinzipiell unvereinbar, so daß Erkenntnis unmöglich würde, oder sie stimmten zufällig zusammen, wodurch Erkenntnis problematisch würde und daher keine – notwendig allgemeine – Erkenntnis wäre, oder sie kongruierten schließlich notwendig, wodurch das Subjekt als Subjekt im Erkenntnisprozeß aufgehoben würde. Soll Naturerkenntnis als System und als Erkenntnis durch Subjekte möglich sein, so bleibt Kant nur übrig, sie unter ein systemisches Prinzip zu stellen, das subjektiv gilt und objektiv nicht gilt. Dadurch entsteht eine subjektiv transformierte Objektivität, in der die dem Subjekt gegenständlichen Momente entweder nicht figurieren oder widersprüchlich als funktional interpretiert werden, so daß sie selbst zum teleologischen Grund ihrer Beseitigung werden, die Unreinheit der Natur zum Grund ihrer Bereinigung wird: „So [und nur so; M.St.] könnte man z. B. sagen: das Ungeziefer, welches die Menschen in ihren Kleidern, Haaren oder Bettstellen plagt, sei nach einer weisen Naturanstalt ein Antrieb zur Reinlichkeit, die für sich schon ein wichtiges Mittel der Erhaltung der Gesundheit ist.“76 – Immerhin geraten so die ‚Wilden‘, deren Existenz ohne Teleologie ganz uneinsehbar wäre, noch zu Aspiranten der Menschheit.77 In diesem geschichtlichen Moment liegt indes eine Kernbestimmung von Teleologie: Kant unterscheidet drei Formen der Zweckmäßigkeit in der wissenschaftlichen Naturbetrachtung, erstens die objektiv formale, zweitens die relative materiale und drittens die innere materiale, die allein als Zweckmäßigkeit der Natur selbst vorgestellt werden kann. Die objektiv formale ergibt sich aus der vielfachen Verwendbarkeit geometrischer Erkenntnisse, die für deren Erkenntnis selbst nicht leitend waren.78 So lassen sich durch das Konstruktionsprinzip der Ellipse Planetenbahnen beschreiben, die für die antiken Ma72

73

74 75 76 77 78

Zur Unmöglichkeit, Beliebiges auf Natur zu projizieren, vgl. auch Kurt Bayertz, Über Begriff und Problem der wissenschaftlichen Revolution, a.a.O., 24. Daher stellt Reinhard Brandt fest, daß Kant die allgemeine Telelologie nicht „zu einer bloß heuristischen Maxime“ (Immanuel Kant – Was bleibt?, a.a.O., 162) herabmindere. Vgl. KdU, V 359. KdU, V 359. So lautet auch das Resultat von Gebrauch teleologischer Prinzipien, VIII 182. KdU, V 379. Vgl. KdU, V 378. Vgl. KdU, V 362.

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thematiker kein Gegenstand sein konnten, da sie keine Gegenstände äußerer Erfahrung sind, sondern gegen die äußere Anschauung mathematisch konstruiert werden müssen; theoretisch setzt dies zudem die Einsicht in die dezentrale und bewegte Situation der Erde voraus. Die theoretischen Mittel hierzu stehen aber systematisch vor Kopernikus und Kepler, die mathematischen vor Newton nicht zur Verfügung.79 Daß nun die geometrischen Formen dennoch dazu taugen, Naturerscheinungen zu beschreiben, veranlaßt den Schluß auf einen zweckmäßigen Zusammenhang zwischen ihnen und dem, worauf sie anwendbar sind. Tatsächlich entsteht diese Vorstellung dadurch, daß sowohl die konstruierte Ellipse als auch die konstruierte Planetenbahn unter den Formen der Anschauung stehen und somit beide durch die menschlichen Erkenntnisbedingungen konstituiert sind. Deshalb ist die geometrische Konstruktion der Ellipse zwar objektiv zweckmäßig für die Darstellung von Planetenbahnen, aber diese Objektivität gründet in den Erkenntnisformen des Subjekts. Es gilt, daß „ich also in die Figur, die ich einem Begriffe angemessen zeichne, d. i. in meine eigene Vorstellungsart von dem, was mir äußerlich, es sei an sich, was es wolle, gegeben wird, die Zweckmäßigkeit hineinbringe, nicht von diesem über dieselbe empirisch belehrt werde“80 . Die Vorstellung einer materialen Zweckmäßigkeit der Natur ergebe sich dagegen nur, wenn die Erklärung einer Kausalbeziehung ebenso deren Umkehrung voraussetzt, indem sie von der Annahme abhängt, daß die Wirkung selbst Grund der Ursache sei, daß die als ursächlich auftretende Erscheinung nur in Absicht auf die Wirkung möglich war. Dies führt zunächst auf die Vorstellung einer relativen Zweckordnung, der zufolge zum Beispiel auf dem Boden deshalb Gras gedeihe, damit Viecher es fressen können, die es nur deshalb fressen können, damit sie in den Dienst der Mensch gestellt würden. Diese relative Zweckmäßigkeit ist immer nur im Verhältnis des zweckmäßigen Dinges auf andere Dinge zu interpretieren und gilt daher nie an sich für das Ding selbst, sofern es nicht als Artefakt eines Intellekts betrachtet wird. Zudem ist solche Zweckmäßigkeit immer von Menschen konstruiert, die als Selbstzweck an deren Spitze rangieren. Dieser oberste Zweck, von dem die Zweckreihe abhängt, zerstört sie aber zugleich, weil seine Zwecke als willkürliche anzusehen sind, die nicht aus den natürlichen Zwecken resultieren und darum gegen diese gewendet sind: „Denn seine Vernunft weiß den Dingen eine Übereinstimmung mit seinen willkürlichen Einfällen, wozu er selbst nicht einmal von der Natur prädestinirt war, zu geben.“81 Außerdem geht Kant davon aus, daß das Prinzip der Verteilung der Menschen über die Erde ihre Verfeindung sei. Würde nun die Möglichkeit des Überlebens von Menschen beispielsweise am Polarkreis als Zweckmäßigkeit der Natur interpretiert, so koinzidierten in dieser Interpretation die teleologische Einheit der Natur und die geschichtliche Entzweiung der Menschen; diese erschiene unmittelbar als Naturzweck, so daß der finale Zweck des Naturganzen „also außer dem Begriffe der Natur“82 angenommen werden müßte, in dem die Beziehungen 79

80 81 82

Vgl. Renate Wahsner, Hegels spekulativer Geozentrismus, in: Zur Kritik der Hegelschen Naturphilosophie, a.a.O., 208-213. Vgl. auch Eduard Jan Dijksterhuis, Die Mechanisierung des Weltbildes, Berlin 1983,Teil 4. KdU, V 365. KdU, V 368. KdU, V 360.

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ohne solchen transzendentalen Zweck als zufällig erscheinen müssen. So würde in dem Grund der relativen Teleologie, die nur unter der Voraussetzung sinnvoll ist, daß überhaupt Menschen leben sollen, zugleich ein der menschlichen Gattung zuwiderlaufendes Prinzip gesetzt. Diese von Kant hier zurückgewiesene Teleologie wurde später zur Grundform seiner Geschichtsphilosophie. Naturphilosophisch führt diese Konstruktion nicht weiter, weil sie auf die Voraussetzung eines pantheistischen Demiurgen führt, die sich menschlicher Erkenntnis entzieht. In der Geschichtsphilosophie soll dagegen ein dem Gegenstandsbereich der Naturerkenntnis prinzipiell entzogener Gegenstand, die menschliche Geschichte, mit jenem kohärent gemacht werden.83 Die unsystematische Erscheinung menschlicher Geschichte ist aber der systematischen Natureinheit nicht durch ein Prinzip der Geschichte selbst zu integrieren, weil diese offenbar nur widersprüchliche Prinzipien aufweist. Die zu konstruierenden Wirkzusammenhänge (nexus effectivus) ergeben keinen einheitlichen Zusammenhang. Dieser soll durch einen dem Geschehen transzendenten Zweckzusammenhang (nexus finalis) ersetzt werden. Würde Geschichte durch begründete Auswahl von Fakten als konstruierte Interpretation – im Sinne späterer hermeneutischer Geschichtsvorstellungen84 – verständlich gemacht, so träte unvermeidlich das Subjekt in den zu erklärenden Gegenstand ein und projizierte mit der Auswahl der Fakten bereits den Untersuchungszweck in den Gegenstand. Selbst wenn die verwendeten Kriterien sich als vernünftig allgemeine bestimmen ließen, wäre damit die Trennung vom Bereich der Naturerkenntnis vollzogen und deren System wäre stets nur ein partikulares.85

83

84

85

Vgl. Idee, VIII, 17f.: „Da die Menschen in ihren Bestrebungen nicht bloß instinctmäßig wie Thiere und doch auch nicht wie vernünftige Weltbürger nach einem verabredeten Plane im Ganzen verfahren: so scheint auch keine planmäßige Geschichte (wie etwa von den Bienen oder den Bibern) von ihnen möglich zu sein. […]. Es ist hier keine Auskunft für den Philosophen, als daß, da er bei Menschen und ihrem Spiele im Großen gar keine vernünftige eigene Absicht voraussetzen kann, er versuche, ob er nicht eine Naturabsicht in diesem widersinnigen Gange menschlicher Dinge entdecken könne; aus welcher von Geschöpfen, die ohne eigenen Plan verfahren, dennoch eine Geschichte nach einem bestimmten Plane der Natur möglich sei.“ Vgl. Heinrich Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, Stuttgart 1986, 161: „Wissenschaftlich aber kann die individualisierende Darstellung nur genannt werden, wenn es allgemeine Werte oder Kulturwerte sind, die sie leiten.“ und 163: „Wenn Werte es sind, welche die Auswahl des historischen Stoffes und damit alle historische Begriffsbildung leiten, ist dann – so kann und muß man fragen – die Willkür in den Geschichtswissenschaften jemals auszuschließen?“ – Die schon bei Wilhelm Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte, GS 1, Göttingen 1990, grundgelegte Dichotomie von Geistes- und Naturwissenschaften, mittels derer die Geisteswissenschaften dem Positivismus opponieren wollten, damit aber zugleich die rationalen Bedingungen, Welt zu gestalten, preisgaben, mündet in den Zustand, den Charles Percy Snow als „two cultures“ beschreibt. Vgl. Helmut Kreuzer (Hg.), Die zwei Kulturen. Literarische und Naturwissenschaftliche Intelligenz. C.P. Snows Thesen in der Diskussion, München 1987. Auch deshalb sind Zweifel angebracht, ob „die Überführung der Zweckhaftigkeit der Natur im Urteil der reflektierenden in die absolut gebotenen Zwecke der reinen praktischen Vernunft“ (Reinhard Brandt, Immanuel Kant – Was bleibt?, a.a.O., 172) gelungen sei.

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Die dritte Form von Zweckmäßigkeit, die der Natur an sich immanente, muß berücksichtigen, daß die Vorstellung, etwas sei nur als Zweck möglich, seine alleinige Bestimmtheit durch Naturgesetze ausschließt; vielmehr muß es ein Moment des Zufälligen aufweisen, das die auf notwendige Erkenntnis angelegte Vernunft dazu veranlaßt, eine willensanaloge Ursache anzunehmen, die das Zufällige als zweckmäßig und somit notwendig erscheinen läßt. Soll durch diese transzendente Naturerklärung die immanente, naturkausale, nicht aufgehoben werden, muß beides im Naturobjekt vermittelt werden: „ein Ding existirt als Naturzweck, wenn es von sich selbst (obgleich in zwiefachem Sinne) Ursache und Wirkung ist“86 . Unter diese Form faßt Kant erstens den Gattungsprozeß (Arterhaltung), in dem Gleichnamiges aus Gleichnamigem hervorgeht, zweitens den Selbsterhaltungsprozeß (Assimilation), in dem das sich nährende Naturobjekt seine heterogene Umgebung zweckmäßig umformt und so seine eigenen Existenzbedingungen schafft, und drittens das Selbstverhältnis der Teile eines Organismus zum Ganzen. Das Modell innerer Naturzwecke ist damit die belebte Natur in ihren verschiedenen reflexiven Strukturen. Dieser Reflexivität wird der mechanische nexus effectivus, der immer nur von der Wirkung zur Ursache verläuft, nicht gerecht. Der nexus finalis dagegen erlaubt auch reziproke Verhältnisse, weil er nicht durch den Verstand sondern durch Vernunft konstruiert ist, mithin Zwecke setzt, nicht bloß Kausalverhältnisse beschreibt. So kann ein Haus die Ursache dafür sein, im Regen nicht naß zu werden; aber die Absicht, nicht naß zu werden, kann ebenso – als Zweck – Ursache des Hauses gewesen sein. Damit können im Naturzusammenhang Zwecke gesetzt werden, die über diesen Zusammenhang hinausgehen; die menschliche Fähigkeit, Vorsorge zu betreiben, wird zum Modell der teleologischen Naturinterpretation und legt so schon mehr in sie hinein als die bloße Form von Zweckmäßigkeit, beziehungsweise ist diese Form als Vernunftbegriff immer schon über die Natur hinaus.87 Für Kants Beispiel gilt dies noch in einem eminenten Sinn, denn dort ist der Zweck des Hausbaus nicht die Bewohnung, sondern es sind die zu erwartenden Mieteinnahmen. Da diesen Einnahmen nicht bloß die Existenz eines Hauses, sondern auch soziale und rechtliche Bedingungen vorausgesetzt sind, treten zugleich geschichtliche Bestimmungen in ein analoges Verhältnis zum Naturorganismus.88 Dieser wird dadurch nicht bloß als Willensprodukt, sondern genauer als 86 87

88

KdU, V 370. Teleologie betrachtet Kant als in der Erfahrung gegründet, weil sie vom menschlichen Produktionsvermögen abgeleitet sei. Kant geht davon aus, daß eine „Grundkraft, durch die eine Organisation gewirkt würde […] als eine nach Zwecken wirkende Ursache gedacht werden“ müsse; deren Modell liege im menschlichen Vermögen, Artefakte zu produzieren. Analog müsse in der Natur ein „intelligentes Wesen“ gedacht werden, wenn dort überhaupt aus Ursachen heraus etwas erklärt werden solle. Dagegen sei „der Begriff von dem Vermögen eines Wesens [d. h. eines Organismus; M.St.] aus sich selbst zweckmäßig, aber ohne Zweck und Absicht, die in ihm oder seiner Ursache lägen, zu wirken […] erdichtet und leer“ (Gebrauch teleologischer Prinzipien, VIII 181). Tatsächlich wäre dies der biologische Reflexionsbegriff des Organismus, der für Kant, dem solche Begriffe sonst nicht fremd sind, nicht in Frage kommt, weil er den Organismus grundsätzlich mit Zwecken in kausale Verbindung bringt und Zwecke eben nicht eine Funktion, sondern eine bewußt und absichtlich eingerichtete Funktion bedeuten. Das gilt auch dann, wenn dieses Beispiel auf Seneca, Epistulae Morales, zurückgeht, wie Reinhard Brandt herausgefunden hat: Vgl. Von der ästhetischen und logischen Vorstellung der Zweckmäßigkeit der Natur, a.a.O., 55.

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Willkürprodukt ausgewiesen. Der Organismus des teleologischen Naturzusammenhangs wird entsprechend als „unerforschliche[] Eigenschaft“89 charakterisiert, der im Rückschluß die Zweckmäßigkeit der Bedingungen der Möglichkeit des Mietzinses als ebenso organisches wie geheimnisvolles Gefüge korrespondiert. Damit nun reale innere Naturzwecke möglich seien, müssen erstens die Teile des Gegenstandes in ihrer Möglichkeit von der Beziehung aufs Ganze abhängen, so daß die Idee des Ganzen die Teile organisiert. Diese Idee wäre die causa finalis, die das Verhältnis von causa formalis – dem Ganzen – zur causa materialis – den Teilen – und dadurch die Bildung – causa efficiens – des Zusammenhangs bestimmt. Das Naturprodukt erscheint dieser Bestimmung nach als artefactum. Zweitens muß deshalb der Gegenstand sich selbst organisieren, indem die Teile wechselweise voneinander Ursache und Wirkung sind. So hängt ihr Verhältnis nicht von einer ihnen äußerlichen causa finalis – im Bewußtsein eines Handwerkers etwa – ab, sondern der Finalnexus liegt im Gegenstand selbst. – Ebenso hatte Aristoteles90 – wie bereits erwähnt – die Entstehung substantiell bestimmter Gegenstände nur am Modell des Handwerksprozesses darstellen können, da nur in ihm Form, Materie und Wirkursache einzeln auseinandertreten als Plan des Handwerkers, Arbeitsgegenstand und Arbeitsmittel oder Arbeitskraft. Die Substantialität, Selbständigkeit, des Produkts war aber umgekehrt nur an Natursubstanzen darstellbar, die ihren Existenzgrund in sich selbst, nicht im Form- und Zweckbewußtsein eines Handwerkers haben. Ein angemessenes Modell hierfür bot wiederum nur die organisch belebte Natur, die in Gattungs- und Selbsterhaltungsprozessen Form und Materie reflexiv in sich vermittelte. Die über die bloße Reproduktion hinausgehende Entelechie, die als wesensbezogene Entfaltung der Substanzen verstanden wurde, erforderte den Begriff der Zweckursache, die sich aber ihrerseits am Handwerksmodell nicht unabhängig von der Form darstellen ließ, solange kein allgemeiner Begriff des frei Zwecke setzenden Wesens gedacht wurde. In der antiken Vorstellung baut ein Baumeister nicht deshalb ein Haus, weil er es will, sondern weil er ein Baumeister ist. Seine Zweckreflexion beschränkt sich auf die Auswahl der Mittel, die er dazu anwendet und die er aus dem gegebenen Zweck systematisch erschließen kann. Hier geht Kants Adaption des Modells weiter. Weil er die causa finalis, die durch sie geschaffene Zweckmäßigkeit des Objekts als Ausdruck eines Willens – als praktische Vernunft – interpretiert, vermag er das reflexive Naturobjekt als in sich vernünftig organisiert zu interpretieren. Die Idee des Gegenstandes als causa finalis fungiert so „als Erkenntnißgrund der systematischen Einheit der Form und Verbindung alles Mannigfaltigen, was in der gegebenen Materie enthalten ist, für den, der es beurtheilt“91 , ohne daß diese Beurteilung zugleich als Existenzgrund gölte. – Diese Differenz hatte Aristoteles nicht machen können. Der Zweck des Organismus, seine Entelechie, konnte nicht isoliert als Erkenntnisgrund genommen werden, sondern nur im Zusammenhang mit den materialen Lebensprozessen, die zugleich als Existenzgrund des Organismus galten. Für Kant wird die Unterscheidung aber nicht nur aufgrund des transzendentalen Skeptizismus wichtig, sondern auch deshalb, weil er die organizistische Interpretation nicht 89 90 91

KdU, V 374. Zum folgenden vgl. Aristoteles, Metaphysik, a.a.O., 1031a ff. KdU, V 373.

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auf die Lebewesen beschränkt: Deren Teile seien Organe, indem sie durch die anderen und um des Ganzen willen da seien. Indem sie außerdem einander hervorbrächten, seien sie keine künstlichen – selbst von natürlichen Voraussetzungen abhängige – Werkzeuge, sondern soger Organe der „Natur […]: und nur dann und darum wird ein solches Product, als organisirtes und sich selbst organisirendes Wesen, ein Naturzweck genannt werden können.“92 Indem Kant die Organe der Lebewesen als ‚Organe der Natur‘ beschreibt, weist er bereits auf einen Naturbegriff, der als Gesamtorganismus verstanden wird. Dieser Naturbegriff wird explizit in der Formulierung, derzufolge Natur nicht bloß ein Analogon der Kunst sei, weil sie nicht äußerlich organisiert werde, sondern sich selbst organisiere: „Näher tritt man vielleicht dieser unerforschlichen Eigenschaft, wenn man sie ein Analogon des Lebens nennt“93 . Zweifellos wird das Organismusmodell hier nicht allein für die belebte Natur verwendet, die ein ‚Analogon des Lebens‘ zu nennen Unfug wäre; vielmehr soll die Natur als ganze, analog ihrem belebten Teil, als Organismus aufgefaßt werden können. Die Gefahr, daß ein allgemeiner Biologismus als Wahrheit der Naturteleologie in eine Vorstellung vom Naturgeist umzuschlagen droht, hat Kant gesehen: Sollen sowohl Hylozoismus als auch die Vorstellung einer ‚Seele der Natur‘ vermieden werden,94 so kann der „Organisation der Natur nichts Analogisches mit irgendeiner Kausalität, die wir kennen“95 , zukommen. Eine Analogie bestehe weder zur mechanischen noch zur künstlerischen Kausalität, weshalb der Begriff der Naturorganisation keine konstitutive Funktion habe; gleichwohl habe er eine regulative für die reflektierende Urteilskraft, und zwar aufgrund einer „entfernten Analogie unserer Kausalität nach Zwecken überhaupt“96 . Nun kann eine Analogie nicht nahe oder ‚entfernt‘ sein, denn entweder ist das Verhältnis der zu vergleichenden Bestimmungen ein analoges, streng genommen durch einen Begriff (logos) bestimmtes, oder nicht. Kants vorsichtige Formulierung will vermeiden, daß der Natur hier Freiheit beigelegt werde. Was anstelle einer Analogie aber bliebe, nämlich eine entfernte Ähnlichkeit, wäre ein zufälliges Verhältnis, das zur Naturforschung nichts beitrüge. Die Analogisierung der als zweckvoll zu interpretierenden biologischen Organismen mit der Kausalität menschlicher Freiheit weist aber erneut über den Erklärungszusammenhang der Organismen hinaus auf „ihren obersten Grund“97 . Über diesen nachzudenken, gehört nach Kant nicht mehr zur Naturforschung, sondern befördere die praktische Vernunft des Forschers und mache so mittelbar ein moralisches Interesse zum Grund der teleologischen Naturauffassung, das unmittelbar deren Einführung in die Naturforschung nicht begründen könnte: Den Grund der Teleologie geben allein „[o]rganisirte Wesen“, weil diese, „wenn man sie auch für sich und ohne ein Verhältniß auf andere Dinge betrachtet, doch nur als Zwecke derselben möglich gedacht werden müssen, und die also zuerst dem Begriffe eines Zwecks, der nicht ein praktischer, sondern Zweck der Natur 92 93 94 95 96 97

KdU, V 373f. KdU, V 374. Vgl. KdU, V §§ 72, 73. KdU, V 375. KdU, V 375. KdU, V 375.

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ist, objective Realität“98 verschaffen. Außerhalb des Gegenstandsbereichs organisierter Wesen bliebe die Naturforschung beim ‚blinden Mechanismus‘; so aber wird umgekehrt der Gegenstandsbereich der nachmaligen Biologie zum Modellbereich der gesamten Naturforschung.99 – Hegels Konsequenz war es dann, die Projektion der Teleologie mittels des Lebens auf die Natur umzukehren und der physikalischen und chemischen Natur selbst Teleologie nachzuweisen, aufgrund derer die Idee des Lebens überhaupt möglich wird, Der Objektbegriff kann zu einem organisch reflektierten Objektbegriff nur werden, wenn die Objekte an sich selbst das hergeben. Dann aber wird die Objektivität zur an sich durchgeistigten Welt, die sich zur Synthese mit dem Subjekt im Anundfürsichseienden aufschwingt und dabei alles Geistlose ins Vergessen stürzt; die Wahrheit des Lebens ist der Tod der Lebenden, der erst die Kontinuität des Geistes begründet.100 – Diese Fragen stellt Kant noch nicht explizit, aber seine Antworten auf die Fragen, die er stellt, tendieren, der Form allgemeiner Erkenntnistheorie gemäß, in diese Richtung. So ist ein „organisirtes Product der Natur […] das, in welchem alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist. Nichts in ihm ist umsonst, zwecklos, oder einem blinden Naturmechanism zuzuschreiben.“101 Die Zweckmäßigkeit einzelner aufeinander bezogener Funktionen in einem partikularen Organismus führt aber nicht von selbst auf diese universelle Zweckmäßigkeit, die in der Beobachtung isolierter Funktionen nicht gegeben ist, sondern es bedarf eines Prinzips a priori. Schon Zweckmäßigkeit im partikularen Objekt ist kein Gegenstand der Anschauung, sondern ein Reflexionsbegriff.102 Dadurch erschließt sich Kants ‚entfernte Analogie‘ zur Kausalität aus Freiheit, denn die teleologische Interpretation bestimmter Naturerscheinungen reagiert zunächst auf Beobachtungen, die sich mechanistisch nicht darstellen lassen. Ein Moment a priori hat diese Reflexion aber dann, wenn sie auf eine allgemeine Vernunftidee, hier die der Freiheit, schließt und diese zum Prinzip macht.103 Offenbar ist nun die Zweckvorstellung zugleich Voraussetzung und Resultat der Reflexion. Wie sollte die mechanistische Betrachtung von partikularen Prozessen in Organismen auf deren teleologischen Zusammenhang schließen lassen? Auch das Scheitern der mechanistischen Betrachtung führt nicht zwangsläufig auf ein bestimmtes anderes Prinzip. Ebensowenig ist die Vorstellung der zweckmäßigen Ordnung des Gesamtorganismus hier eine krude, spontane Voraussetzung der Naturbetrachtung. – Teleologie ist doch eher eine vorwissenschaftliche Vorstellung104 – dem anschaulichen mythischen Vorstellen zugehörig –, die Kant weniger auf die Naturbetrachtung anwendet, als daß er ihren Geltungsbereich gegen den entwickelten Mechanismus abgrenzt und zu ihm in Beziehung setzt, da dieser selbst ohne Teleologie nicht systematisch begründbar zu sein scheint. Deshalb sieht Kant die Teleologie in den menschlichen Erkenntnisvermögen 98 99 100

101 102 103 104

KdU, V 375f. Soviel wäre zur Modernität der Installation der ‚life sciences‘ als Leitwissenschaften zu sagen. Vgl. G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik. Lehre vom Begriff , a.a.O. 191: „In dem GattungsProceß gehen die abgesonderten Einzelnheiten des individuellen Lebens unter […]. […] der Tod dieses Lebens ist das Hervorgehen des Geistes.“ KdU, V 376. Vgl. KdU, V 399. Vgl. KdU, V § 69. Vgl. KdU, V 390.

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verwurzelt. Den Zirkel der Begründung führt Kant auf die Haltlosigkeit der Urteilskraft im Falle der Prinzipienvakanz zurück: „so wird die reflektierende Urteilskraft in solchen Fällen ihr selbst zum Prinzip dienen müssen“105 . Durch Partizipation an einer Idee bleibt Teleologie regulativ, „eine Maxime der Beurtheilung der innern Zweckmäßigkeit organisirter Wesen“106 . Mit dem so begründeten Universalitätsanspruch von Teleologie verträgt sich ihre methodische Beschränkung auf den jeweils zu untersuchenden Zusammenhang nicht: Wenn ein Objekt einmal als teleologisch organisiertes vorgestellt werde, so müsse jeder seiner Bestandteile als Organ betrachtet werden, weil die partielle Zulassung mechanistischer Betrachtung den Organismus durchbrechen und so seinem Begriff nach insgesamt aufheben müßte. Ebenso wie die Aussetzung des Kontinuitätsgrundsatzes der mechanistischen Naturforschung (non datur saltus etc.) die Möglichkeit von Erfahrung ganz aufhöbe, so auch die Aussetzung des Organismusgrundsatzes die Möglichkeit der Erfahrung von Organismen. Diese Begründung der Allgemeinheit von Teleologie aus einem Prinzip a priori und in Analogie zur Bedingung der Einheit der Erfahrung erweitert den Geltungsbereich aber noch einmal: Wenn Kant ausgehend von der Organisation des partikularen Gegenstandes schreibt, es müsse um der Einheit der Idee des Naturproduktes willen „der Zweck der Natur auf Alles, was in ihrem Producte liegt, erstreckt werden“107 , ist schon die Äquivokation von bestimmten Produkten der Natur und natura naturata überhaupt gemacht, die alsbald zusammengefaßt wird: „Alles in der Welt ist irgend wozu gut; nichts ist in ihr umsonst; und man ist durch das Beispiel, das die Natur an ihren organischen Producten giebt, berechtigt, ja berufen, von ihr und ihren Gesetzen nichts, als was im Ganzen zweckmäßig ist, zu erwarten.“108 Die teleologische Beurteilung des partikularen Lebewesens erzwingt die seiner Gattung, die mit anderen Gattungen dann nur teleologisch ins Verhältnis gesetzt werden kann, ebenso wie die der unbelebten Gegenstände, aus denen es existiert; ist ein Teilbereich der Natur durch Zwecke bestimmt, kann seine Grenze zu dem, das zu diesem Zweck in keinem Zusammenhang mehr stünde, nicht mehr systematisch gezogen werden, die erkenntnistheoretische Begründung partikularer Naturzusammenhänge treibt über sich hinaus auf einen universellen Begriff von ‚der Natur‘, in der die Kohärenz zur Rationalität ihrer Beurteilung umfassend vorausgesetzt wird.109 In diesem Sinn wird die Wirkung – Naturerkenntnis – zu ihrer eigenen Ursache und erweist sich somit selbst als teleologisch. Die Natur erscheint nicht bloß als „das Naturganze als System“, sondern entsprechend den Wesen, die Zwecke in ihr verwirklichen, selbst als „System der Zwecke“110 . Für diese Erweiterung des Organismusbegriffs auf die Natur als ein ‚System der Zwecke‘ führt Kant weiter kein Argument an. Der Übergang ergibt sich indes aus dem Naturbegriff. ‚Natur‘ wird einmal als Inbegriff der Gegenstände der Erfahrung verwendet. 105 106 107 108 109 110

KdU, V 385. KdU, V 376. Vgl. § 74. KdU, V 377. KdU, V 379. Vgl. KdU, V 398. KdU, V 381.

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Hier verweist Kant auf die Kontinuitätsthese aus den Grundsätzen. Diese wird absichtlich hier beigebracht, um durch sie den Systembegriff der Natur zu bestimmen. Das heißt aber umgekehrt für die Grundsätze, daß in der These der objektiven Kontinuität der Natur als Bedingung der Möglichkeit ihrer Erkenntnis schon Teleologie angelegt ist. Schon im Systemanspruch überhaupt liegt diese, sofern er die Korrespondenz von Erfahrung und Gegenständen der Erfahrung, von Subjekt und Objekt, universal begründen will. Um an der Einheit und Kontinuität der Natur festzuhalten, betrachtet Kant diese selbst als Organismus, dessen Vermögen, zweckvoll zu agieren, unter der Voraussetzung eines kollektiven Ganzen der Erfahrung auch für dieses Ganze gelten muß. Darüber sollen nun auch Naturerkenntnis und Freiheit zusammengebracht werden, weil die Natur als ‚System der Zwecke‘ zugleich die anthropomorphe äußere Bedingung für die Möglichkeit eines ‚Reichs der Zwecke‘ darstelle. Tatsächlich gilt aber auch hier, daß eben soviel Vernunft in der Welt ist, wie die Menschen in ihr verwirklichen. Die Natur ist dann zweckvoll, und nur dann, wenn Menschen in ihrer mechanischen Naturbearbeitung – in ihrem mechanischen Erschließen des ihnen Äußerlichen als Natur – zugleich rationale Zwecke in ihr setzen. Es ist dagegen ebenso möglich, daß die Erschließung von Natur durch ihre Bearbeitung vernunftwidrigen Zwecken folgt; dann bleibt das Verhältnis der Menschen zur Natur und zueinander ein mechanisches, naturkausales. Die Spuren von Vernunftgebrauch, die darin aufblitzen, erscheinen als das, was sie sind: Ein Wirrsal einerseits von Protesten gegen die Erniedrigung zu Naturwesen und andererseits der permanenten Unterdrückung dieser Proteste durch die, die als, wie immer technisch armierte, Naturwesen stärker sind als die auf ihre Vernünftigkeit sich berufenden. Die Rationalisierung dieses Verhältnisses verdankt sich nur der kollektiven Organisation des Vernunftfeindlichen, die wegen ihrer politischen Gestalt als rationales Produkt interpretiert wird. Tatsächlich verbirgt instrumentelle Rationalität nur sehr mühsam, daß sie bloß formal rationelle Bündelung von Naturkräften ist, dem Gehalt nach aber über die Natürlichkeit dieser Kräfte nicht hinausgeht. Es gibt keine Natur, die a priori die beruhigende Grundlage der Realisierung vernünftiger Zwecke wäre. Vernünftige Zwecke können nur aus der Beunruhigung über Unvernunft hervorgehen und die an sich – formell – erschlossene Natur den Menschen auch menschlich erschließen. Für Kants Teleologiebegriff verschlägt es wenig, wenn er es unausgemacht läßt, „ob irgend etwas, das wir nach diesem Princip beurtheilen, absichtlich Zweck der Natur sei“111 , denn ausgemacht bleibt es, daß dem – wenn auch womöglich unabsichtlich – so sei.112 Führt die Regulativität des Beurteilungsprinzips für Teilzusammenhänge auf die universelle Vorstellung des Gesamtzusammenhangs, so sind wissenschaftliche Beurteilung und kosmologische Teleologie nicht mehr systematisch unterscheidbar. Dann erscheint nicht bloß das schon zitierte Ungeziefer als Antrieb zur Reinlichkeit, sondern es gelten auch „die Mosquitomücken und andere stechende Insecten, welche die Wüsten von Amerika den Wilden so beschwerlich machen, […] [als] Stacheln der Thätigkeit für diese angehende Menschen, um die Moräste abzuleiten und die dichten den Luft111 112

KdU, V 379. Vgl. KdU, V 382. Die „Barrikade […] mit der Kant uns den Weg zu jeder Art von objektiver Teleologie versperrt hat“ (Jürgen Habermas, Nachmetaphysisches Denken, a.a.O., 271), unterliegt – was Habermas entgeht – zugleich selbst der Teleologie.

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zug abhaltenden Wälder licht zu machen und dadurch, imgleichen durch den Anbau des Bodens ihren Aufenthalt zugleich gesünder zu machen.“113 Dies gilt, cum grano salis, auch für die Syphilis: „[E]s handelt sich hier um einen absolut notwendigen Bestandteil, um etwas schlechthin Unentbehrliches für die beste aller Welten: denn hätte sich Columbus nicht auf einer der Inseln Amerikas diese Krankheit zugezogen, die die Quelle der Zeugung vergiftet, ja sogar häufig die Zeugungsfähigkeit vernichtet und dadurch offensichtlich dem großen Endzweck der Natur entgegenwirkt, so würde es bei uns weder Schokolade noch Conchenille geben.“114 Kant hält beharrlich fest an dem schon damals nachweislich als Unsinn durchschauten Unsinn, daß die Diversität der Arten nur vom teleologischen „höheren Standpunkt“ aus zu beurteilen sei, indem etwa die Hunderassen im Urhund angelegt gewesen sein mußten, um diesen, der „bloß als Mittel einen Wert haben kann […] zu verschiedenem Gebrauche“ zu spezifizieren, wogegen „die größere Einhelligkeit des Zwecks in der Menschengattung so große Verschiedenheit anartender Naturformen nicht erheischte“115 . Noch jedes geschichtliche Erklärungsmoment wird durch die teleologische Beurteilungsweise, selbst wenn sie nicht mehr als dies sein sollte, abgehalten. Alles erscheint an seinem Platz: Arbeitsverhalten sei angeboren, weil auch die „Neger oder Indier“, die in unwirtliche Gefilde verschlagen werden, „niemals einen zu ansässigen Landanbauern oder Handarbeitern tauglichen Schlag abgeben wollen“116 , sondern ihre Freiheit allenfalls gebrauchen, um „Höker, elende Gastwirthe, Livereibediente, auf den Fischzug oder Jagd Ausgehende, mit einem Wort Umtreiber zu werden“. „Sollte man hieraus nicht schließen: daß es, außer dem Vermögen zu arbeiten, noch einen unmittelbaren, von aller Anlockung unabhängigen Trieb zur Thätigkeit (vornehmlich der anhaltenden, die man Emsigkeit nennt) gebe, der mit gewissen Naturanlagen besonders verwebt ist, und daß Indier sowohl als Neger nicht mehr von diesem Antriebe in andere Klimaten mitbringen und vererben, als sie für ihre Erhaltung in ihrem alten Mutterlande bedurften und von der Natur empfangen hatten, und daß diese innere Anlage ebensowenig erlösche, als die äußerlich sichtbare.“117 Zum Abschluß des Sockels sei noch erwähnt, daß „die Einwohner von Amerika“ nicht allein zu faul sondern auch zu schwach sind und daher „noch tief unter dem Neger selbst steh[en], welcher doch die niedrigste unter allen übrigen Stufen einnimmt“. Diese, freilich bloß aufs Urteilen abgesehene, Ordnung der Gattung geschieht indes aus der Absicht, moralischen Fortschritt denkbar zu machen: Ein derartiges Ziel bleibt für Kant ohne teleologische Begriffe sinnlos, weil „die gemeine seichte Vorstellungsart, alle Unterschiede unserer Gattung auf gleichen Fuß, nämlich den des Zufalls, zu nehmen, und sie noch immer entstehen und vergehen zu lassen, wie äußere Umstände es fügen, alle Untersuchungen dieser Art für überflüssig und hiemit selbst die Beharrlichkeit der Species in derselben zweckmäßigen Form für nichtig erklärt.“118 Wenn die Menschheit 113 114 115 116 117 118

KdU, V 379. Voltaire, Candide oder der Optimismus, Frankfurt am Main 1972, 25. Gebrauch teleologischer Prinzipien, VIII 167f. Gebrauch teleologischer Prinzipien, VIII 174. Gebrauch teleologischer Prinzipien, VIII 174 Anm. Gebrauch teleologischer Prinzipien, VIII 168.

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biologisch instabil wäre, so könnte sie nicht das Subjekt eines unendlichen moralischen Progresses sein. Die pragmatische Fassung des Moralbegriffs als Progreß der Annäherung, die Kant schon in der praktischen Philosophie entwickelt hatte, erzwingt hier die Stabilität der ‚zweckmäßigen Form‘ der Gattung, deren ‚Zweckmäßigkeit‘ doch allein in Relation zu dieser pragmatischen Moralvorstellung besteht. – Kants Unterschied von Wissenschaft und Kosmologie beruht auf einer Unterscheidung aus dem common sense: Gerade indem der Natur der Redeweise nach eine Absicht unterstellt wird, werde diese geleugnet: „weil hierüber kein Mißverstand Statt finden kann, indem von selbst schon keiner einem leblosen Stoffe Absicht in eigentlicher Bedeutung des Worts beilegen wird“119 . Wird dieser Selbstverständlichkeit gemäß kein „besondere[r] Grund der Kausalität“ eingeführt, sondern bloß „eine andere Art der Nachforschung“120 , so gibt es keinen systematischen Grund der Übereinstimmung von Gegenstand und Methode. Deshalb hat diese Methode keine Grenze, weder an bestimmten Gegenständen, noch letztlich an ihrer eigenen Regulativität. So steuert sie, gegen ihre selbstverständliche Beschränkung auf Zwecke der Natur, auf ein theologisches telos zu, so „daß also die Teleologie keine Vollendung des Aufschlusses für ihre Nachforschungen, als in einer Theologie findet“121 . In der Dialektik der teleologischen Urteilskraft verfolgt Kant die in sich gegenläufige Intention, die der Annahme der Teleologie folgenden aporetischen Konsequenzen zu mildern, indem die Annahme unter die Bedingung der Regulativität gestellt wird, ohne doch von der Notwendigkeit jener Annahme für die menschliche Vernunft etwas nachzulassen. Dabei ergibt sich eine Dialektik für die reflektierende Urteilskraft, die Erscheinungen unter Gesetze subsumiert, die noch nicht sicher bestimmt sind. Daher sind die Prinzipien, von denen sie ausgeht, bloß Subsumtionsmaximen, die im Resultat auf Erkenntnisprinzipien, auf besondere Naturgesetze – im Unterschied zu den kategorial bestimmten allgemeinen – führen sollen. Die Einheit der Natur nach empirischen Gesetzen ist dabei einstweilen der einzige Maßstab der reflektierenden Urteilskraft;122 wie diese sie erzielt, ist nicht konstitutiv zu begründen, sondern folgt auch der Besonderheit der Objekte, deren Beobachtung mit den Subsumtionsmaximen offenbar in eine wechselseitige Bestimmung eintritt. Die allgemeinen Gesetze der bestimmenden Urteilskraft erweisen sich als untauglich zur Bestimmung besonderer Phänomene, da „die Ableitung der besonderen Gesetze aus den allgemeinen in Ansehung dessen, was jene Zufälliges in sich enthalten, a priori durch Bestimmung des Begriffs vom Objecte unmöglich ist“123 . Deshalb tritt die Vernunft ein und mit ihr der architektonische Anspruch, der fordert, auch das Besondere, das nicht durch Verstandeserkenntnis zu erfassen ist, teleologisch zu interpretieren, um nicht die Möglichkeit der Einheit der Erfahrung aufzuheben. „[S]o wird der Begriff der Zweckmäßigkeit der Natur in ihren Producten ein für die menschliche Urtheilskraft in Ansehung der Natur nothwendiger, aber nicht die Bestimmung der 119 120 121 122 123

KdU, V 383. Vgl. 397. KdU, V 383. KdU, V 399. Vgl. auch die folgenden Seiten pass. Vgl. KdU, V 386. KdU, V 404.

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Objecte selbst angehender Begriff sein, also ein subjectives Princip der Vernunft für die Urtheilskraft“124 . Damit tritt dem universalen Erkenntnisprinzip, alles sei nach mechanischen Gesetzen zu beurteilen, das partikulare entgegen, manches sei teleologisch zu beurteilen. Wird das teleologische Beurteilungsprinzip nun als regulatives Prinzip der reflektierenden Urteilskraft verwendet, so ergibt sich nach Kant kein Widerspruch, weil nicht beide Prinzipien im Objekt verbunden gedacht werden; vielmehr konstituiere das mechanistische die Erscheinungen objektiv, das teleologische stelle dagegen aber nur eine subjektive Regel ihrer Interpretation dar. Ein Widerspruch ergebe sich nur aus eine überschwenglichen Verwechslung der reflektierenden mit der bestimmenden Urteilskraft, indem dieser die Teleologie als konstitutives Prinzip zugeordnet würde. Damit aber sei zugleich der Schlüssel zur Auflösung der Antinomie gegeben. Der problematische Status der Teleologie soll verhindern, daß diese die Naturforschung durch theologische Ersatzvorstellungen verkürze; im Gegenteil erweitert dieser Status die Naturforschung zu ihrer ganzen unbändigen Ausbreitung, die ihr heute zukommt: „[I]ch soll jederzeit über dieselben nach dem Princip des bloßen Mechanisms der Natur reflectiren und mithin diesem, soweit ich kann, nachforschen, weil, ohne ihn zum Grunde der Nachforschung zu legen, es gar keine eigentliche Naturerkenntniß geben kann. Dieses hindert nun die zweite Maxime bei gelegentlicher Veranlassung nicht, nämlich bei einigen Naturformen (und auf deren Veranlassung sogar der ganzen Natur), nach einem Princip zu spüren und über sie zu reflectiren, welches von der Erklärung nach dem Mechanism der Natur ganz verschieden ist“125 . Die Gewißheit der letztlich teleologisch abgeschlossenen Einheit des Naturganzen erlaubt es, immer weiter mechanische Naturzusammenhänge aufzubrechen, ohne in diesem Verfahren eine Grenze befürchten zu müssen, denn die Teleologie ist nicht Gegenstand möglicher Erfahrung und bietet so die intelligible Absicherung von Naturforschung, ohne in deren methodischen Bereich einzugreifen. Die Erklärung von Naturprozessen als teleologisch bleibt immer intelligibel, erstens weil der Zweckzusammenhang nicht experimentabel ist, zweitens weil er aus seinem Begriff heraus selbst auf Universalität ausgeht. Darin aber liegt ein Problem: Es steht dem Mechanismus mit der Teleologie nicht nur eine partikulare Beobachtungsmaxime der Urteilskraft entgegen, sondern eine Maxime der reinen Vernunft, die sich – von bestimmter Erfahrung inspiriert – sogar der ganzen Natur bemächtigt. Kant zufolge soll die Forschung nach mechanischem Prinzip soweit wie möglich getrieben werden. Ein dabei entdecktes nicht-mechanisches Prinzip könne dann aber ohne Widerspruch auf die gesamte Natur erweitert werden. Welchen Geltungsgrund haben aber dann die vorhergegangenen Resultate der mechanisch orientierten Forschung und mit ihnen auch das neue Prinzip, dessen Entdeckung jene doch als gültig zugrundelagen? Hegelisch wäre allenfalls zu sagen, daß das mechanische Prinzip sich selbst aufhöbe. Verträglich, wie Kant es formuliert, sind beide Prinzipien aber nur, wenn der Gegenstand nicht das ist, als was er erkannt wird. Dann wäre es aber gleichgültig, wie er beurteilt wird. Tatsächlich läßt sich aber nicht gleich gültig jedes Prinzip auf die Natur projizieren; Forschung unter falschen Voraussetzungen scheitert am Material ihres Gegenstandes. Nach Kant könnten nun das mechanische und das teleologische Prinzip in 124 125

KdU, V 404. KdU, V 387f.

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einem verborgenen Oberprinzip zusammenhängen, das lediglich für uns nicht erkennbar wäre. Denkbar ist dies für isolierte Naturzusammenhänge, eben für „gewisse Formen in der Natur“126 : Ein Organ kann sowohl biochemisch untersucht als auch im Zusammenhang seines partikularen Organismus teleologisch interpretiert werden. Aber dies erlaubt keinen Schluß auf die Natur als Ganze, denn diese ist weder mechanisch noch teleologisch: Sie ist kein Gegenstand möglicher Erfahrung. Die teleologische Betrachtungsweise entsteht aus der Betrachtung von Naturprozessen, die über ihre mechanischen Eigenschaften mit anderen Naturprozessen in einem Zusammenhang stehen, der selbst nicht nach mechanischen Regeln beschreibbar ist.127 Ein Organ produziert einen Stoff, der als Ausgangsstoff für ein anderes Organ dient, das ohne diesen nicht arbeiten könnte. Kant erweitert nun diese Betrachtung organischer Zusammenhänge auf die gesamte Natur. Dadurch entsteht eine teleologische Naturvorstellung, die auch durch den Titel der Regulativität nicht mehr aufs Subjekt zu beschränken ist; vielmehr beschränkt sie das Subjekt, das sich selbst als zweckmäßiges Element des universalen Organismus interpretieren muß, „zu de[m] wir selbst mitgehören“128 , anstatt daß es partikulare Organismen unter dem Aspekt der Zweckmäßigkeit untersuchte. So erweitert Kant zunächst die Vorstellung formaler Zweckmäßigkeit, die durch die subjektiven Erkenntnisbedingungen begründet wird – so wie geometrische Formen als zweckmäßig erscheinen, weil sie im Raum wahrgenommen werden –, zur materialen Zweckmäßigkeit in den Naturdingen selbst.129 Diese sei nötig, um Naturprozesse erklärbar zu machen, die nicht den konstitutiven Formen des Verstandes subsumierbar sind, sondern scheinbar nach Vernunftbegriffen angeordnet sind, also über ein mechanisches Ursache-Wirkungsverhältnis hinausgehen. Dieser Begriff der Zweckmäßigkeit ist zugleich so abgefaßt, daß er nicht als relative Zweckmäßigkeit gedacht werden kann, da diese stets die Notwendigkeit des Endzwecks, der Menschen, unterstellte, die für uns kein Gegenstand möglicher Erfahrung ist. Die materiale Zweckmäßigkeit wird daher als innere Zweckmäßigkeit, Reflexivität des Naturprozesses, bestimmt, obwohl diese auch kein Gegenstand möglicher Erfahrung ist: „Denn da wir die Zwecke in der Natur als absichtliche eigentlich nicht beobachten, sondern nur in der Reflexion über ihre Pro126 127

128 129

KdU, V 388. Vgl. KdU, V 400, 408f., 413f. Vgl. Dieter Henrich, Ethik der Autonomie, a.a.O., 12: In organischen Prozessen „geschieht faktisch Zwecktätigkeit“. KdU, V 408. Vgl. KdU, V 364f. Damit wird aber auch der erkenntnistheoretische Status der Teleologie bei Kant deutlich: Sie ist Bedingung der Möglichkeit wissenschaftlicher Naturerkenntnis, nicht aber „eine Elementarbedingung menschlichen Erlebens“ (so Volker Gerhardt, Immanuel Kants Entwurf zum ‚Ewigen Frieden‘, a.a.O., 114). Sollte sie eine solche Bedingung sein, könnte sie durch Reflexion aufgehoben oder bestätigt werden. Für Kant ergibt sie sich erst aus der Reflexion auf Naturbeobachtung, um dann freilich als a priori gesetzt zu werden. Wenn man dieses Ergebnis erkenntnistheoretischer Reflexion aber zur anthropologischen Elementarbedingung erhebt, wird Teleologie zur Bedingung erfolgreichen Handelns überhaupt (vgl. a.a.O.) und zur Orientierung von Politik, die an der Natur – nicht an vernünftigen Zwecken – ihre Grenze habe. Ließe sich auch das Leugnen von Teleologie nicht widerspruchsfrei ausdrücken, so wäre dies im Bereich der Semantik, wenn man es so nennen mag, ein „Suizid“ (a.a.O.), aber im Bereich des spekulativen Denkens nichts Außergewöhnliches; dafür wäre die voluntative Selbstaufgabe vermieden, was ja auch schon etwas ist.

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ducte diesen Begriff als einen Leitfaden der Urtheilskraft hinzu denken: so sind sie uns nicht durch das Object gegeben.“130 Aus Begriffen ist es, wie Kant weiter ausführt, erst recht nicht zu begründen. Obwohl die Teleologie als subjektiv – regulativ – vorgestellt wird, erwägt Kant nicht, es bei einer formalen Analogie, über deren Grund und Herkunft nichts zu sagen wäre, zu belassen. Die Vorstellung der Materialität schon erzwingt nun auch die Vorstellung der absichtsvollen Kreation. Diese aber tritt beim partikularen Naturprozeß in Widerspruch zu der inneren Zweckmäßigkeit, die sie begründen soll: „[W]ie kann ich Dinge, die für Producte göttlicher Kunst bestimmt angegeben werden, noch unter Producte der Natur zählen, deren Unfähigkeit, dergleichen nach ihren Gesetzen hervorzubringen, eben die Berufung auf eine von ihr unterschiedene Ursache nothwendig machte?“131 Beides, objektive innere Zweckmäßigkeit des Naturprozesses und absichtsvolle Kreation sind nur vereinbar unter der Vorstellung der absichtsvollen Kreation der inneren Zweckmäßigkeit des Weltganzen.132 Zwar versucht Kant, auch diesen Begriff als regulative Maxime der Urteilskraft zu fassen, „aber der Übergang vom partikularen Naturzweck zum universalen weist der Sache nach über diese Beschränkung hinaus: „Wir haben nämlich unentbehrlich nöthig, der Natur den Begriff einer Absicht unterzulegen, wenn wir ihr auch nur in ihren organisirten Producten durch fortgesetzte Beobachtung nachforschen wollen; und dieser Begriff ist also schon für den Erfahrungsgebrauch unserer Vernunft eine schlechterdings nothwendige Maxime.“133 In den Übergänge scheinen Begründungen formuliert zu sein: wenngleich ‚auch nur‘ die organische Natur Zwecke annehmen ließe, sei doch ‚der Natur‘ dies zu unterlegen, und: deshalb sei ‚also schon‘ die Maxime des Naturzwecks für den Erfahrungsgebrauch überhaupt vorausgesetzt. Aber diese Übergänge sind tautologisch; sie führen sonst kein Argument an. Erklärlich werden sie allein aus dem Widerspruch des partikularen Naturzwecks zum Naturganzen. Grund dieses Widerspruchs ist das Festhalten an einem positiven Begriff des Naturganzen, den es einerseits, als kollektive Einheit des Erfahrungsganzen, nicht geben kann, aber ohne den andererseits das philosophische System nicht auskommt. Daher schwankt Kant ständig zwischen Überschwenglichkeit und Beschränkung des Vernunftgebrauchs.134 Mit der absichtsvollen Kreation des Weltganzen geht nun die Teleologie in Theologie über: „Daher machen auch die Naturdinge, welche wir nur als Zwecke möglich finden, den vornehmsten Beweis für die Zufälligkeit des Weltganzen aus und sind der einzige für den gemeinen Verstand eben sowohl als den Philosophen geltende Beweisgrund der Abhängigkeit und 130 131 132 133 134

KdU, V 399. KdU, V 397. Vgl. KdU, V 398. KdU, V 398. Dem entspricht ein unbestimmtes Verhältnis von mechanischer und teleologischer Naturerklärung. Es ist keineswegs klar, daß „die teleologische Erklärungsart nur dann ins Spiel gebracht wird, wo die bloß mechanistische unzulänglich erscheint“ (Peter McLaughlin, Kants Kritik der teleologischen Urteilskraft, Bonn 1989, 160). – So auch Konrad Marc-Wogau, der ein unklares Verhältnis von Mechanismus und Teleologie bei Kant diagnostiziert: Die Bedeutung der mechanischen und der teleologischen Verknüpfung, in: Jens Kulenkampff (Hg.), Materialien zu Kants ‚Kritik der Urteilskraft‘, Frankfurt am Main 1974, 336; es handelt sich um einen Auszug aus der Schrift Vier Studien zu Kants Kritik der Urteilskraft, Uppsala/Leipzig 1938.

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des Ursprungs desselben von einem außer der Welt existirenden und zwar (um jener zweckmäßigen Form willen) verständigen Wesen: daß also die Teleologie keine Vollendung des Aufschlusses für ihre Nachforschungen, als in einer Theologie findet.“135 Kant schließt von der Zufälligkeit im besonderen Objekt auf die allgemeine Notwendigkeit eines zweckmäßigen Zusammenhangs.136 Das Zufällige stellt nur dann keine Lücke in der Naturkausalität dar, wenn es in einen zweckmäßigen Zusammenhang gestellt wird. Kants erkenntnistheoretisches Ziel dieses Vorgehens ist der Totalitätsbegriff als Systemgrundlage nach dem Muster des physikoteleologischen Gottesbeweises; für die Betrachtung isolierter Naturprozesse entsteht dieses Problem unmittelbar nicht. Kants Schluß von der Zufälligkeit des Besonderen auf die Notwendigkeit des allgemeinen Zusammenhangs durch einen transzendental verstndenen Willensakt Gottes ist ein Erbe des transzendenten göttlichen Willens in der Tradition nominalistischer Ontologiekritik. Kants Überzeugung, „daß im Erkenntniß durch denselben durch das Allgemeine das Besondere nicht bestimmt wird, und dieses also von jenem allein nicht abgeleitet werden kann“137 , beruht auf Ockhams These, alles Allgemeine sei bloß Konstruktion des menschlichen Erkenntnisvermögens, objektiv sei allein das Besondere. Wenn dies nun durch den begrifflichen, diskursiven Verstand nicht direkt bestimmbar ist, „gleichwohl aber dieses Besondere in der Mannigfaltigkeit der Natur zum Allgemeinen (durch Begriffe und Gesetze) zusammenstimmen soll, um darunter subsumirt werden zu können“138 , dann bedarf es einer weiteren Verstandesfunktion. Für Ockham erfaßt der Verstand das Besondere intuitiv, um es nach logischen Regeln dem Allgemeinen zu subsumieren. Dies ist „unter solchen Umständen sehr zufällig“139 . Der Begriff der Intuition gelingt bei Ockham unter anderem aufgrund der Voraussetzung der potestas dei ordinata.140 Zwar entzieht sich Gottes Ratschluß unserer Einsicht, so daß wir nicht grundsätzlich wissen, ob die willkürlich geschaffene Weltordnung dauerhaft stabil bleibe; insofern Gott aber auch in seiner Willkür ans Widerspruchsgesetz gebunden bleibt, ist anzunehmen, daß die Welt unserem Erkenntnisvermögen angemessen bleibt, da Gott die von ihm einmal gewollte Ordnung – hebt er sie denn nicht zur Gänze auf – wenigsten widerspruchsfrei erhalten wird, mit Ausnahme eventueller Wunder, die aber, da sie nicht aus Laune gewirkt werden, prinzipiell auch einer teleologischen Interpretation zugänglich sind. Für Kant erklären sich sowohl die Vorstellung eines transzendenten Willkürsubjekts als auch die Vorstellung der Stabilität seiner Willkür aus der Besonderheit der menschlichen Erkenntnisvermögen, die auf die Idee der zweckmäßigen Natur geführt hat. Diese allgemeine Idee ist für Menschen aber nicht notwendig mit der Auffassung des Besonderen zu verbinden, da dies das Allgemeine nicht schlechthin repräsentiert. Die Subsumtion scheitert an der Trennung des Vielfältigen Sinnlichen vom einfachen Allgemeinen. Ockhams intuitive Erkenntnis kann Kant den Menschen eben deshalb aber nicht beile135 136 137 138 139 140

KdU, V 398f. Vgl. V 400, wo die verständige Ursache als Gott bezeichnet wird. Vgl. KdU, V 360. KdU, V 406. KdU, V 406f. KdU, V 407. Vgl. Günther Mensching, Das Allgemeine und das Besondere, a.a.O., 329-349.

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gen: Aufs Besondere gehen die Sinne, die kein Vermögen des Allgemeinen haben, aufs Allgemeine dagegen gehen Begriffe, die zudem analytisch-allgemein, abstrakt, sind. Ein teleologischer Zusammenhang ist weder sinnlich noch durch den Verstand darstellbar, er bleibt eine Idee. Um deren Verwendung zum Erkenntnisprozeß überhaupt zu rechtfertigen, verknüpft Kant die Idee unmittelbar selbst mit Intuition: „Nun können wir uns aber auch einen Verstand denken, der, weil er nicht wie der unsrige discursiv, sondern intuitiv ist, vom Synthetisch- Allgemeinen (der Anschauung eines Ganzen als eines solchen) zum Besondern geht, d. i. vom Ganzen zu den Theilen; der also und dessen Vorstellung des Ganzen die Zufälligkeit der Verbindung der Theile nicht in sich enthält“141 . Dieser intuitive Verstand ist funktional nichts Anderes als die intellektuelle Anschauung Gottes, der als zeitloser praevidentia das All gegenwärtig ist.142 Diese intellektuelle Anschauung, der Kant hier, in Legitimationsabsicht auf die transzendentale Intuition, eine analoge Funktion in der Kritik der reinen Vernunft zuweist,143 war dort in Wahrheit funktionslos. Sie diente allein dem Nachweis der Beschränktheit des menschlichen Verstandes. Hier jedoch wird sie zur Überwindung dieser Schranken herangezogen, indem sie die Hintertür darstellt, durch die die kollektive Einheit des Erfahrungsganzen, wenngleich bloß regulativ, doch noch explizit eingeführt wird: „Nach der Beschaffenheit unseres Verstandes ist hingegen ein reales Ganze der Natur nur als Wirkung der concurrirenden bewegenden Kräfte der Theile anzusehen. Wollen wir uns also nicht die Möglichkeit des Ganzen als von den Theilen, wie es unserm discursiven Verstande gemäß ist, sondern nach Maßgabe des intuitiven (urbildlichen) die Möglichkeit der Theile (ihrer Beschaffenheit und Verbindung nach) als vom Ganzen abhängend vorstellen: so kann dieses nach eben derselben Eigenthümlichkeit unseres Verstandes nicht so geschehen, daß das Ganze den Grund der Möglichkeit der Verknüpfung der Theile (welches in der discursiven Erkenntnißart Widerspruch sein würde), sondern nur daß die Vorstellung eines Ganzen den Grund der Möglichkeit der Form desselben und der dazu gehörigen Verknüpfung der Theile enthalte.“144 Die Frage ist hier nicht mehr die nach den Bedingungen der Möglichkeit realer, partikularer Naturerkenntnis, sondern die nach deren Verankerung im Naturganzen. Die subjektive Gültigkeit von dessen Vorstellung ist schon mit deren Widerspruchsfreiheit gegeben. Der Intuitionsbegriff Ockhams, der den Universalienrealismus überwinden sollte, kehrt als Universalintuition zurück, um über die Vorstellung der universalen Weltordnung die nominalistische Trennung von Verstand und Sinnlichkeit wieder zu vermitteln. Daß es Naturprozesse gibt, die sich dieser Vermittlung entziehen, fällt dabei heraus; indes bleibt es doch denkbar durch den Chorismos von intellectus archetypus und intellectus ectypus,145 obwohl beide eng darin verknüpft sind, daß dieser jenen annehmen muß, um selbst möglich zu sein, um nicht ein Intellekt zu sein, der nichts 141 142

143 144 145

KdU, V 407. Thomas von Aquin hatte vorgeschlagen, statt von providentia – Vorsehung – besser von praevidentia – Vor-sich-Sehung – zu sprechen, um verendlichende temporale Konnotationen zu vermeiden. Vgl. Über die Wahrheit, a.a.O., 2, 12c. Vgl. KdU, V 405. KdU, V 407f. Vgl. KdU V 408.

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versteht: „[S]chlechterdings kann keine menschliche Vernunft (auch keine endliche, die der Qualität nach der unsrigen ähnlich wäre, sie aber dem Grade nach noch so sehr überstiege) die Erzeugung auch nur eines Gräschens aus bloß mechanischen Ursachen zu verstehen hoffen“146 . Hierbei ist es schon nicht mehr das Ziel, isolierte Naturprozesse gesetzmäßig zu erklären und hierfür Zweckanalogien einzusetzen, sondern es wird zum Ziel, die Zweckmäßigkeit selbst zu erklären: „so ist es uns schlechterdings unmöglich, aus der Natur selbst hergenommene Erklärungsgründe für Zweckverbindungen zu schöpfen“; nur unter der Voraussetzung aber, daß solche Erklärungsgründe überhaupt angestrebt werden, ist es „nach der Beschaffenheit des menschlichen Erkenntnißvermögens nothwendig, den obersten Grund dazu in einem ursprünglichen Verstande als Weltursache zu suchen“147 . Der universale Naturzusammenhang wird gerade durch die Bedingung seine Unerkennbarkeit hergestellt, und dadurch wird er umgekehrt zur Bedingung von Naturerkenntnis überhaupt. – Das subjektive Bewußtsein soll im Grund seiner eigenen Möglichkeit sich als absolutes von sich selbst als empirischem abgrenzen. Kants Reflexion auf den absoluten Grund des Naturganzen ist der Schritt von der Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit von Naturwissenschaft zur Kosmologie. Die Vereinigung des mechanistischen Prinzips mit dem teleologischen in einem „gemeinschaftliche[n] Princip […] [ist] das Übersinnliche, welches wir der Natur als Phänomen unterlegen müssen“148 , das Ding an sich des Naturganzen. Nur in Absicht auf dieses ergibt sich das Vereinigungsproblem überhaupt,149 denn die partikularen Naturzusammenhänge, die durch Physik oder Chemie untersucht werden, sind andere als die, die durch die Biologie untersucht werden, allenfalls werden biochemische oder biophysikalische oder physikochemische Naturprozesse zum Gegenstand der jeweiligen Grenzwissenschaften, die sie wieder ihrerseits nach besonderen Kriterien isolieren. Kant 146 147 148

149

KdU, V 409. KdU, V 410. KdU, V 412. Jens Kulenkampff zufolge besitzt die Kritik der teleologischen Urteilskraft „nachdem es der modernen Wissenschaftstheorie gelungen ist, den Begriff der teleologischen Erklärung so zu formulieren, daß der Schein eines unaufhebbaren Gegensatzes zu dem der kausalen Erklärung verschwindet, vorwiegend historische, kaum noch sachliche Bedeutung“ (Materialien zu Kants ‚Kritik der Urteilskraft‘, a.a.O., 8). Das stimmte indes nur, falls es sich bei Kants Problem um ein reines Formulierungsproblem handelte. Auf diesen Punkt weist auch Peter Rohs hin: Transzendentaler Idealismus und Naturteleologie in Kants ‚Kritik der Urteilskraft‘, in: Reinhard Hiltscher/Stefan Klingner/David Süß (Hgg.), Die Vollendung der Transzendentalphilosophie in Kants ‚Kritik der Urteilskraft‘, a.a.O. Rohs stützt dies allerdings auf eine einschränkende Kritik des transzendentalen Idealismus, die der ‚Totalteleologie‘ den Boden entziehe (161). Gleichwohl könne aus theoretischen Problemen der modernen Physik (der Unwahrscheinlichkeit des gegebenen Verhältnisses der Vielzahl von Naturkonstanten) möglichweise erneut die Erfordernis einer Physikotheologie abgeleitet werden. Falls dem ein solches Bedürfnis mitfolgt, dürfte es wohl immer noch aus dem anderen nach einer positiv systematischen Erkenntnistheorie überhaupt gespeist sein, deren Abschluß prinzipiell auf die Vereinigung von Denken und Welt angewiesen ist, die sie aus sich heraus nicht, oder eben nur als Analogie zum (ontologischen) Gottesbeweis, konstruieren kann. – Wäre das Verhältnis der Naturkonstanten übrigens ein anderes, würde wahrscheinlich diese Frage gar nicht diskutiert; daß sie diskutiert wird, ist indes selbst nicht notwendig.

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verwechselt indes durchgehend ‚Naturprodukt‘ und ‚Gegenstand von Naturerkenntnis‘ unter dem Titel ‚Naturobjekt‘. Der stets präparierte Gegenstand von Erkenntnisbemühungen wird ihm daher zum unmittelbaren Naturgegenstand. Naturerkenntnis selbst scheint dann nur möglich zu sein unter der Voraussetzung einer Naturordnung, die die Erkenntnisobjekte selbst zweckmäßig generiere. Eine solche Ordnung gibt es aber nicht. Deshalb erkennt Naturwissenschaft auch keine Naturprodukte als solche, sondern isolierte Teilzusammenhänge von Natur, die sie selbst herstellt.150 Für Kant wird die Vereinbarkeit von Mechanismus und Teleologie daher zum Hauptproblem, denn nur jene vermag Natur zu erklären, und nur diese verschafft den Erklärungen den Grund ihres Zusammenhangs. Aber die beiden Prinzipien schließen einander aus; sie können nicht in der Erklärung desselben partikularen Naturprozesses verbunden werden.151 Ist aber die mechanistische Erklärung partikularer Naturprozesse nur unter der Voraussetzung des universalen teleologischen Naturzusammenhangs begründbar, so müßte dieser Zusammenhang auch in jedem der zu erklärenden Prozesse gegenwärtig sein. Deshalb setzt Kant die Möglichkeit der Verbindung beider Prinzipien außerhalb der „empirischen Naturvorstellung“152 . Nun ist aber Natur, wie Kant selbst sie hier universal voraussetzt, keinesfalls Gegenstand einer ‚empirischen Vorstellung‘; das Oxymoron zeigt indes den pantheistischen Hintergrund dieses Naturbegriffs an: Die Möglichkeit der Verbindung von Mechanismus und Teleologie sei im Übersinnlichen als dem tertium comparationis anzusiedeln. Dieses Übersinnliche sei das Ding an sich des Naturganzen, das seinem Begriff nach nun von der Vorstellung der teleologischen Anordnung des Ganzen in der praevidentialen Intuition gar nicht zu unterscheiden ist. Die Verbindung von Mechanismus und Teleologie fällt daher gar nicht in ein Drittes, sondern, als Substanz des Mechanismus, in die Teleologie selbst: Man könne nicht eine Maxime durch die andere ersetzen, aber man müsse „die eine (der Mechanism) der andern (dem absichtlichen Technicism) unterordnen, welches nach dem transscendentalen Princip der Zweckmäßigkeit der Natur ganz wohl geschehen darf“153 . Begründet wird die Möglichkeit dieser Subsumtion ihrerseits – dem übergeordneten Prinzip gemäß – durch eine Zweck-Mittel-Relation: „Denn wo Zwecke als Gründe der Möglichkeit gewisser Dinge gedacht werden, da muß man auch Mittel annehmen, deren Wirkungsgesetz für sich nichts einen Zweck Voraussetzendes bedarf, mithin mechanisch und doch eine untergeordnete Ursache absichtlicher Wirkungen sein kann.“154 Das aus der nominalistischen Ontologiekritik entstandene Problem der Verknüpfung des Besonderen mit dem Allgemeinen sollte seinerzeit aufgelöst werden durch den Rekurs auf das metaphysische Konzept der Zweitursachen, demgemäß der notwendige Wille Gottes Kontingentes wirken könne durch geschaffene endliche Zweitursachen. Diese Ursachen sollten einerseits, ihrer Endlichkeit gemäß, als unabhängig von der Notwendigkeit Gottes vorgestellt werden, andererseits, gemäß ihrem Status als geschaffene, mit ihr in Verbindung stehen. – Nicht anders sollen Kants mechanische Ursachen zugleich 150 151 152 153 154

Vgl. Kurt Bayertz, Über Begriff und Problem der wissenschaftlichen Revolution, a.a.O., 19. Vgl. KdU, V 411f. KdU, V 412. KdU, V 414. KdU, V 414.

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als Repräsentanten ‚absichtlicher Wirkungen‘ gelten. Der historische Kern von Kants teleologischer Naturmetaphysik läßt sich im Vergleich mit Hegel herausarbeiten.155 Bei diesem ist das Mittel die Bedingung, durch die der subjektive Zweck in der Objektivität real wird. Dafür ist es sowohl noch Objekt, mechanisch-chemische Natur, als auch schon Zweck an sich. Jedes Werkzeug, auf das dies zutrifft, weil es als zweckmäßig gebildetes den subjektiven Zweck gegenständlich mit der gegenständlichen Objektivität vermittelt, ist selbst schon Produkt der Anwendung subjektiver Zwecke auf die mechanisch-chemische Natur. Das letzte Werkzeug, das nicht Produkt ist, ist das universale, die menschliche Hand.156 Das instrumentum universale bewegt sich aber nicht ohne die Menschen, die so selbst zum instrumentum vocale werden. Sie – lebende Menschen – sind die Wahrheit der reinen Vermittlung von Subjekt und Objekt, als jene Subjekte, die als Objekte ihre eigene Reinheit derjenigen eines rein bleibenden Subjekts zu opfern gezwungen werden. Damit zeigt Hegel – der zunächst zeigen will, daß Kants regulative Teleologie nur metaphysisch durchzuhalten ist – zugleich den materiellen Grund solcher Metaphysik. Wohl ist es Kant nur um ein regulatives Prinzip der Urteilskraft zu tun; doch die Selbstbeschränkung seines Argumentes erscheint gegenüber dessen Eigendynamik als Inkonsequenz. Daß mechanische Prozesse erscheinen können, als seien sie einem teleologischen Prozeß untergeordnet, setzt die technische Isolierung partikularer mechanischer Prozesse aus dem Naturzusammenhang – von dem selbst auch erst hernach zu reden ist – voraus. Diese Isolierung, deren Resultat Objekte der Naturerkenntnis sind, ist selbst Resultat gesellschaftlicher Arbeitsteilung. Was Naturwissenschaftler empirisch untersuchen, ist ihnen etwa von Laborassistenten präpariert worden, mithilfe von Werkzeugen, die von einer spezialisierten Industrie hergestellt wurden, oftmals aus Werkstoffen, die aus Naturstoffen erst gebildet werden müssen, weil sie gediegen nicht vorkommen, oder weil sie Legierungen oder Mischungen sind, oder weil sie gleich als Kunststoffe erzeugt werden müssen. Solche Stoffe sind nun ihrerseits Resultate eines langen Prozesses der Emanzipation der Menschen vom unmittelbaren Naturzusammenhang. Dieser Prozeß wiederum wurde nur durch Arbeitsteilung möglich. Insofern diese Geschichte auch der theoretischen Naturerkenntnis vorausgesetzt ist, muß sie ebenso als integrales Element gesellschaftlicher Arbeitsteilung gedacht werden.157 Diese Arbeitsteilung – ein Prinzip jener Emanzipation – wurde zuerst durch Herrschaft begründet, die entschied, wer als Mittel den Naturmechanismus den Zwecken der Anderen – zu Genuß oder Erkenntnis – vorbereitet. Jene Herrschaft erscheint anonym in der unbegrenzten Befugnis der mechanistischen Naturforschung, die gerade aus ihrer Unterordnung unters teleologische Prinzip legitimiert wird. – Wahr wäre daran allenfalls die Auszeichnung der belebten 155 156

157

Für das folgende vgl. G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik. Lehre vom Begriff , a.a.O., 154ff. Vgl. Anthropologie, VII 323. Vgl. auch Thomas von Aquin, Summa theologica, a.a.O., I, qu. 76, a. 5 ad 4. Thomas bestimmt die Hand als das Werkzeug der Werkzeuge. Hierzu vgl. Kurt Bayertz, Forschungsgegenstände und Untersuchungsobjekte. Zum Problem der Abgrenzung von theoretischer und empirischer Ebene in sich entwickelnden wissenschaftlichen Theorien, in: Hans-Jörg Sandkühler (Hg.), Die Wissenschaft der Erkenntnis und die Erkenntnis der Wissenschaft, Stuttgart 1978. Zur Bedeutung der Erkenntnismittel (und ihrer Herstellung) für die Wissenschaft vgl. auch: Über Begriff und Problem der wissenschaftlichen Revolution, a.a.O., 24.

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Natur, deren ‚Produkten‘ mit eminenter Sensibilität zu begegnen wäre. Das aber hieße zugleich, sie nicht bloß als zweckmäßig für die Menschen anzusehen, sondern eine Scheu vor ihrer bloßen Instrumentalisierung walten zu lassen. Liegt der Grund der Differenz von Subjekt und Objekt nun in einer ‚übersinnlichen Zweckmäßigkeit‘, so ist innerhalb der Differenz keine Grenze mehr gezogen, fürs Subjekt gibt es kein Halten mehr. Wissenschaft, deren System über das von Urteilen hinausstrebt, geht auf Domestizierung der Natur als Ganzer; da diese als solche kein Gegenstand ist, gelingt das nur durch ihre radikale Zerstückelung. Der Mechanismus wird unter der Aegide der Teleologie schrankenlos, bis zur Vernichtung der natürlichen Ressourcen menschlichen Lebens. Zu brechen wäre Teleologie nur durch die konsequente Verfolgung von Zwecken, für deren Vernünftigkeit die menschliche Vernunft bürgen kann: Dies sind allein moralische Zwecke. Die vernünftige Organisation des menschlichen Lebens in der Welt setzt nicht sowohl bloßen Erkenntniszuwachs voraus, als vielmehr einen Akt des Willens, der nicht nur aus nichts Äußerlichem folgt, sondern der unter teleologischen Annahmen sogar unmöglich wird. Für Kant ergibt sich aber „der Beruf: alle Producte und Ereignisse der Natur, selbst die zweckmäßigsten so weit mechanisch zu erklären, als es immer in unserm Vermögen (dessen Schranken wir innerhalb dieser Untersuchungsart nicht angeben können) steht“158 . So sehr der Mechanismus der Teleologie subsumiert ist, ebensosehr ist Teleologie ein Instrument des Mechanismus, der ohne sie grundlos wäre. Durch Kants Transzendierung des teleologischen Prinzips schimmert doch ein Vorrang des Objekts, das letzthin gegen Erkenntnis auch selbständig bleibt. Aber diese Selbständigkeit liefert es in Kants Verständnis seiner mechanischen Gestalt nach aus, weil der subjektive Kern des Vorrangs des Objekts nicht mitgedacht wird. Er ist manifest im geschichtlichen Moment der inneren Zweckmäßigkeit von Natur, das diese den subjektiven Zwecken zugleich erschließt und entrückt: Die gesellschaftlichen Bedingungen von Naturerkenntnis weisen als an sich allgemeine über sich hinaus auf selbstbewußte Allgemeinheit der Naturerkenntnis. Die Scheu vorm Naturobjekt wäre dann bloß Achtung vor den Subjekten, deren Subjektivität in ihm ausgeprägt ist; – der Möglichkeit nach.159 Kant bemüht sich nun durchaus, die Bedeutung moralischer Zwecke für den Teleologiebegriff zu zeigen. Da er hierbei aber Geschichte wieder, seinem aporetischen Geschichtsbegriff zufolge, zum Medium der Realisierung moralischer Naturzwecke im Menschen erklärt, werden unter der Hand wieder die Menschen zu Werkzeugen eines Naturprozesses, anstatt daß sie diesen bewußt selbst in die Hände nähmen.

158 159

KdU, V 415. Zur moralischen Dimension von Kants Naturbegriff vgl. Birgit Recki, Achtung vor der zweckmäßigen Natur. Die Erweiterung der Kantischen Ethik durch die dritte Kritik, in: Die Vernunft, ihre Natur, ihr Gefühl und der Fortschritt, a.a.O., 54ff., bes. 56.

538

b.

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Menschheit als Endzweck: Die ‚Methodenlehre der transzendentalen Urteilskraft‘

Eine Zweckordnung der Natur ist weder Gegenstand möglicher Erfahrung, noch kann sie ein konstitutiver Begriff sein. Deshalb kann ihre Vorstellung auch kein Prinzip der bestimmenden Urteilskraft sein. Aber sie dient Kant doch als Prinzip reflektierender Urteilskraft zur Bildung einer systematischen Weltvorstellung, nach dem Modell des Organismus. Selbständigkeit erlangt die teleologische Form des Organismus in den sich reproduzierenden Arten, im Verhältnis der biologischen Geschlechter. Solche Naturzwecke sind reflexiv. Die Reflexivität bestimmt aber den Organismus noch nicht zum Selbstzweck. Erst als solcher aber wäre er zugleich Endzweck der Natur, denn nur Selbstzwecke können nicht mittelbar sein. Der Endzweck der Natur wäre aber selbst kein reiner Naturzweck mehr, sondern in ihm wüchse Natur über sich selbst hinaus, denn innerhalb der Naturordnung existiert nichts, das nicht zugleich auch Mittel wäre.160 Da aber die Menschen keine bloßen Naturwesen sind, können sie als Vernunftwesen – im Bewußtsein ihrer moralischen Kompetenz161 – sich selbst als Endzweck und somit als teleologisches Prinzip der reflektierenden Urteilskraft setzen, wenngleich nur problematisch.162 Wenn nun die Menschen als Endzweck der Natur mit dieser in einem teleologischen Kausalsystem verknüpft sind, müssen die äußeren Zwecke, die sie als Endzweck verfolgen, zugleich inneren Ursprungs sein: „Wenn nun dasjenige im Menschen selbst angetroffen werden muß, was als Zweck durch seine Verknüpfung mit der Natur befördert werden soll: so muß entweder der Zweck von der Art sein, daß er selbst durch die Natur in ihrer Wohlthätigkeit befriedigt werden kann; oder es ist die Tauglichkeit und Geschicklichkeit zu allerlei Zwecken, wozu die Natur (äußerlich und innerlich) von ihm gebraucht werden könne. Der erste Zweck der Natur würde die Glückseligkeit, der zweite die Cultur des Menschen sein“163 . Zunächst erscheint fraglich, warum Glückseligkeit und Kultur so sorgsam unterschiedene Zwecke seien: Wäre nicht Glückseligkeit durch Fortschritte in der Kultur zu befördern? Befriedigt nicht die Natur menschliche Zwecke nur durch Bearbeitung, cultura? – Kant erinnert dagegen an die prinzipielle Unerfüllbarkeit von Glückseligkeitsvorstellungen, wie er sie in der Moralphilosophie entwickelt hatte.164 Dazu verwendet er verschiedene, teils gegenläufige Argumente. Erstens faßt er Glückseligkeit, ihrer Vollständigkeit wegen, als Idee. Ideen nun seien durch endliche Wesen nicht realisierbar. Dies begründet Kant zweitens damit, daß Menschen unter empirischen Bedingungen eine notwendig diffuse Vorstellung von Glückseligkeit hätten. Glückseligkeit tauge nicht zum vernünftigen Endzweck, weil die empirischen Vorstellungen der Idee nicht adäquat sein können.

160 161 162 163 164

Vgl. KdU, V 426. Vgl. KdU, V § 84, bes. 436 Anm. Vgl. KdU, V 431. KdU, V 429f. Zum Kulturbegriff vgl. Pauline Kleingeld, Fortschritt und Vernunft, a.a.O., 44. Vgl. GMS, IV 393f. und KpV, V 25f.

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Diese Bestimmung schlägt aber zurück auf die der sinnlichen Bedürfnisse selbst. Weder deren Beschränkung aufs „wahrhafte Natürbedürfnis“165 , noch die unendliche Steigerung der Fertigkeiten zur Befriedigung von Bedürfnissen könnte der natürlich gegebenen Maßlosigkeit menschlicher Genuß- und Besitzsucht je entsprechen. In Kants Hypothese der ‚wahren Bedürfnisse‘ liegt durchaus die Vorstellung, daß es ein solches Minimum gebe, unabhängig vom geschichtlichen, zivilisatorischen oder kulturellen Stand.166 Das weitere – verschärfte – Argument, daß Menschen ihrer Bedürfnisnatur nach auch im Minimum nicht zur Ruhe kommen, hebt dann tendentiell noch den Anspruch auf dieses auf, ebenso den auf die technische Erweiterung der Reproduktion. Schlimmer noch seien die Menschen physisch stiefmütterlich ausgestattet und zudem von Natur her kriegssüchtig. Insofern ihre Naturanlagen untereinander im Widerspruch stünden, könne von der Natur keine befriedigende Daseinsvorsorge erwartet werden. Menschen sind demzufolge nicht Endzweck der Natur, sondern subalterne Zwecke im Naturganzen. Warum gerade die vorgeblich natürliche Selbstzerstörung der menschlichen Gattung dem Zusammenhang des Naturganzen diene, der „Erhaltung der Zweckmäßigkeit im Mechanism der übrigen Glieder“167 , führt Kant nicht weiter aus. – Nun können Menschen aber, sofern sie über ihr Naturdasein hinausreichen, sich als Endzweck denken und in einer teleologischen Interpretation der Natur durch reflektierende Urteilskraft sich auch als letzten Naturzweck denken. Kant fragt weiter, welches der letzte Zweck der Natur sei, durch den sie den Menschen über sich erhebe. Durch diesen letzten Naturzweck müsse sie ihn natürlich darauf vorbereiten, aus dem Naturzusammenhang herauszutreten. Als solcher Zweck scheidet die Glückseligkeit aus, weil alle Zwecke, die auf sie gerichtet sind, die Menschen immer im Naturzusammenhang verhalten. Damit scheiden aber überhaupt gleich alle materialen Zwecke als Mittel zur Vorbereitung auf den Endzweck aus: „Es bleibt also von allen seinen Zwecken in der Natur nur die formale, subjective Bedingung, nämlich der Tauglichkeit: sich selbst überhaupt Zwecke zu setzen und […] die Natur den Maximen seiner freien Zwecke überhaupt angemessen als Mittel zu gebrauchen, übrig, was die Natur in Absicht auf den Endzweck, der außer ihr liegt, ausrichten und welches also als ihr letzter Zweck angesehen werden kann. Die Hervorbringung der Tauglichkeit eines vernünftigen Wesens zu beliebigen Zwecken überhaupt (folglich in seiner Freiheit) ist die Cultur.“168 Zwar wäre Kultur, wie erwähnt, das Mittel, durch Naturbearbeitung sich über den bloßen Naturzusammenhang zu erheben, um sich in die Möglichkeit zu versetzen, frei bestimmte Zwecke zu verfolgen, doch wird für Kant die Kultur ausdrücklich zum Naturzweck. Noch 165 166

167 168

KdU, V 430. Zur Problematik eines solchen Bedürfnisbegriffs vgl. Theodor W. Adorno, Thesen über Bedürfnis, in: Gesammelte Schriften, Bd. 8, Frankfurt am Main 1972. Sollte überhaupt ein ‚Minimum‘ unabhängig von historischen Vorstellungen als notwendig ausgezeichnet werden, so gilt wohl die einfache Regel: „Zart wäre einzig das Gröbste: daß keiner mehr hungern soll.“ (Theodor W. Adorno, Minima Moralia, Frankfurt am Main 1993, 206). A fortiori gilt dies zur Zeit einer Produktivität, die es mühelos erlaubte, jedem Menschen die zu seinem Überleben notwendigen 1000 Kalorien pro Tag zu gewähren, stünden nicht die Börseninteressen der Lebensmittelspekulanten dagegen. KdU, V 431. KdU, V 431.

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die Befähigung zum Selbstzweck-Sein verdankt sich einem Naturzweck, wenn auch dem letzten. Anders wäre Natur als teleologisches System nicht vorstellbar: Ein solches duldet kein gegen das System Selbständiges. Deshalb soll auch die den Naturzwang einschränkende Geschicklichkeit noch ein Naturzweck sein. Sie werde nur durch den Antagonismus gefördert, dessen brutale Gestalten nur dann als sinnvoll zu verstehen seien, wenn sie als Naturabsichten interpretiert würden. Sogar die Überwindung der eigenen Natürlichkeit durch Triebverzicht ordnet Kant den Naturzwecken zu.169 Statt auf die Entwicklung des Gattungsvermögens – der systematischen kollektiven Überwindung der Naturschranke – setzt Kant auf die „Cultur der Zucht […][,] die Befreiung des Willens von dem Despotism der Begierden“170 , denn die „Verfeinerung des Geschmacks […] und selbst der Luxus in Wissenschaften, als einer Nahrung für die Eitelkeit“ erzeugten mehr Neigungen als zu befriedigen seien. Dies behindere die menschliche Entwicklung. Gleichzeitig zeige die Geschichte von Geschmack und Wissenschaft aber den Naturzweck an, die „Neigungen des Genusses“ zurückzudrängen: „Schöne Kunst und Wissenschaften, die durch eine Lust, die sich allgemein mittheilen läßt, und durch Geschliffenheit und Verfeinerung für die Gesellschaft, wenn gleich den Menschen nicht sichtlich besser, doch gesittet machen, gewinnen der Tyrannei des Sinnenhanges sehr viel ab und bereiten dadurch den Menschen zu einer Herrschaft vor, in welcher die Vernunft allein Gewalt haben soll“171 . In dieser Konzeption wird nun nicht die Wissenschaft in den Dienst des Lebens gestellt, sondern alle Zwecke dienen einem autarken Wesen ‚Mensch‘. Die Überwindung des Naturzwanges erfolgt nicht durch kollektiv organisierte Naturbearbeitung, sondern durch Installation einer idealen intelligiblen Sphäre außerhalb der Bedürftigkeit jener bedürftigen Wesen, die doch diese Sphäre bevölkern sollen. ‚Geschicklichkeit‘ bleibt für Kant immer mit gesellschaftlicher Gewalt verbunden, weil sie auf sinnliche Bedürfnisse gerichtet ist, die nicht a priori legitimierbar sind. Darauf aufbauend gerät Kant der Kulturbegriff zu einem ganzen Nest von Paradoxien, in dem sich die Konzeption von Freiheit durch Naturgeschichte schon deutlich abzeichnet: Vor teleologischem Hintergrund ist die geschichtliche Entwicklung der menschlichen Gattung nur durch eine höhere, ja „oberste[] Weisheit“172 zu erklären. Ungleichheit erscheint als Bedingung der Möglichkeit kulturellen Fortschritts, weil die Mehrheit der Menschen – in Unwissenheit gehalten – „die Nothwendigkeit des Lebens gleichsam mechanisch […] zur Gemächlichkeit und Muße anderer besorgt, welche die minder nothwendigen Stücke der Cultur, Wissenschaft und Kunst, bearbeiten“173 . Durch die par169 170

171 172 173

Vgl. KdU, V 432f. KdU, V 432. Diese oft ignorierte Seite des Kantischen Kulturbegriffs vernachlässigt auch Peter Euler, Technologie und Urteilskraft, a.a.O. KdU, V 433. KdU, V 433. KdU, V 432. Dies hatte, implizit, Aristoteles schon gesehen: „Als daher schon alles Derartige (Lebensnotwendige) erworben war, da wurden die Wissenschaften gefunden, die sich weder auf das Angenehme noch auf die notwendigen Bedürfnisse des Lebens beziehen, und zwar zuerst in den Gegenden, wo man Muße hatte.“ (Metaphysik, a.a.O., 981b) Da dies nicht allein, wie die Formulierung nahelegt, ein diachrones Verhältnis ist, sondern sich aufgrund der Erneuerung der Bedürfnisse synchron fortsetzt, bestimmt Aristoteles es als natürliche Aufgabe von Sklaven,

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tikulare private Aneignung des gesellschaftlichen Mehrprodukts werden einige von der Notwendigkeit der Arbeit für die eigene Reproduktion befreit und können sich dem Fortschritt widmen. Die gesellschaftliche Herrschaftsordnung, ihre historische Manifestation in Klassen, wird so als Naturzweck interpretiert, wie einst die Sklaverei. Kant hat insofern Recht, als er die Verknüpfung von Emanzipation aus Naturzusammenhängen mit Herrschaft überhaupt sieht. Nur die Verkehrung dieser historischen Verknüpfung in eine systematisch notwendige wäre zu kritisieren. Dafür ist allerdings die Erfahrung einer sich systematisch erweitert reproduzierenden Gesellschaft vorausgesetzt, weil hier ein Maß an Freiheit realisiert ist, gegenüber dem jede Form von Herrschaft disfunktional ist. Sie dient, in anonymer Gestalt, nur noch der partikularen Verfügung übers Mehrprodukt, nicht mehr dessen allgemeiner Möglichkeit überhaupt.174 Daß eine solche Argumentation im Zeitalter der Aufklärung geführt wird, zeigt an, daß die ökonomische Entwicklung, vor allem aber das wissenschaftliche Bewußtsein von ihr, mit der philosophischen Entwicklung des Begriffs der Subjektivität nicht auf gleicher Höhe ist: Die Begriffe neuzeitlicher Subjektivität, politischer und gesellschaftlicher Aufklärung stehen in keinem adäquaten Verhältnis zu den materiellen gesellschaftlichen Lebensbedingungen der Menschen und die ökonomischen Theorie versucht eben, den Reichtum der Nationen darstellbar zu machen, ist aber von der Kritik seiner Gründe und Methoden noch weit entfernt. Das liegt auch am technischen Entwicklungsstand der Ökonomie. Eine allgemeine Gesellschaft freier Menschen, wie sie aus dem Subjektivitätsbegriff zu entwickeln ist, wäre auf dem ökonomischen Niveau noch weitgehender Agrarwirtschaft und nur gelegentlicher Manufaktur nicht ohne Rückschritte in der Kultur zu reproduzieren. Der Begriff der Gesellschaft kann erst kritisch zu sich selbst gebracht werden, wenn Vergesellschaftung auch ökonomische – und rechtlich-politische – Realität geworden ist. Deshalb geraten bei Kant die Begriffe von Menschheit und Kultur zu Widersprüchen. Die unverkürzte politische Konsequenz des aufgeklärten Subjektbegriffs hätte zu jener Zeit die Ideale von Aufklärung ad absurdum führen müssen. Das bedeutet aber auch, daß der allgemeine philosophische Freiheitsbegriff damals – vor der historischen Möglichkeit der systematischen Steigerung der Produktivkraft der Arbeit durch die industrielle Revolution – grundsätzlich elitär, partikular, bleibt und damit ein Widerspruch. Dieser Widerspruch weist ihn aber nicht als falsch aus, sondern als geschichtlich dynamischen Begriff, der aus der Reflexion von Geschichte in reiner Vernunft einen objektiven Anspruch formuliert, der zugleich Anspruch auf die objektiven Bedingungen seiner eigenen Erfüllung ist. Indem Kant die Möglichkeit der ökonomischen Freisetzung kulturellen Potentials nicht erwägt, sondern die gesellschaftlichen Widersprüche geradezu als anthropologische Konstanten interpretiert, weist er sein Geschichtskonzept im Grunde

174

den Herren Muße zu verschaffen, indem sie deren Reproduktion in der Natur durch ihre Arbeit vermitteln. Ganz im Gegensatz zu den realen Verhältnissen, in denen Sklaven vielfach einen hohen Bildungsstand aufwiesen, legitimiert Aristoteles die Sklaverei aus der natürlichen Differenz der Menschen, deren einer Teil geistig, der andere aber bloß körperlich hervorrage (vgl. Aristoteles, Politik, a.a.O., 1253b ff. Zur antiken Sklaverei vgl. allgemein Moses I. Finley, Die Sklaverei in der Antike, München 1981). Vgl. hierzu Jan Weyand, Adornos Kritische Theorie des Subjekts, a.a.O., 34ff.

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als geschichtsloses aus. So schildert er wohl die fortwährende Unterdrückung der produktiven Menschen durch die kulturell Wirkenden, nicht ohne auf die allmähliche Partizipation der Unterdrückten an der Kultur hinzuweisen, wodurch nicht ihr Status aufgehoben, sondern in ‚glänzendes Elend‘ verwandelt werde. Dieses aber finde sich wieder auf beiden Seiten, denn der kulturelle Fortschritt lindere nicht die Plagen, sondern steigere sie, sogar „auf beiden Seiten gleich mächtig“175 ; so sehr nämlich die Produzenten unter „fremde[r] Gewalttätigkeit“ zu leiden haben, so sehr leiden die von deren Arbeit Lebenden und Profitierenden an „innere[r] Ungenügsamkeit“176 . Der eher zynisch anmutende Vergleich von Mangelversorgung und Unfreiheit mit dem taedium vitae derjenigen, die für den Mangel und für die Unfreiheit verantwortlich sind, kann nicht gelten. Nicht allein, daß Kultur als Emanzipation vom Naturzwang einerseits Bedingung der Möglichkeit menschlicher Freiheit sei und andererseits die Menschen als Naturwesen aber zunehmend unter Plagen stelle, – darüber hinaus seien die formalen Bedingungen des kulturellen Fortschritts, die bürgerliche Gesellschaft und das Weltbürgertum, nur durch Kriege zu realisieren, weil die Mächtigen ihre partikulare Macht nicht preisgeben wollen. So werden die Machtgelüste der Menschen zu Werkzeugen der obersten Weisheit, um die Bedingungen für Kultur und mit dieser für Freiheit, zu schaffen. Krieg und Kriegsdrohung seien Mittel, „alle Talente, die zur Cultur dienen, bis zum höchsten Grade zu entwickeln“177 . Wohl hat die Kriegswaffenproduktion ungeheure technologische Kräfte freigesetzt, deren Produkte nicht selten auch ziviler Nutzung zugeführt wurden; so ist die heute geläufige medizinische Ultraschalluntersuchung ein Resultat der Notwendigkeit, Gegenstände auch durch signalverfälschende Massen hindurch darstellbar zu machen, um UBoote orten und zerstören zu können. Die Wissenschaftler, die stets nur den kulturellen Fortschritt wollten – gleichgültig, ob eine Rakete auf den Mond fliegt, ob sie Wasserstoffbomben für Nationalsozialisten auf Engländer oder für Demokraten auf Japaner fliegt – wurden allerdings öfters nur bezahlt, um ihre Produkte kriegstauglich einzusetzen. Dies stellt nicht die Wissenschaft als solche in Frage, wohl aber Kants affirmative Verknüpfung von Krieg und Kultur. Diese Kultur wäre eine, die auf ihrem ‚höchsten – technischen – Grade‘ nur noch zufällig von der Auslöschung der Kultursubjekte unterschieden ist: Das Substrat dieses Unterschiedes kann jederzeit zu Staub zerlegt werden. Würde Kultur von der Naturteleologie losgelöst, indem die Zwecke, die Menschen kultivierend in der Natur setzen, von ihnen selbstbewußt moralisch bestimmt würden, so ginge der Kulturbegriff gegen die reale Geschichte von Kultur zu Protest, anstatt sie der Naturgeschichte zu integrieren. Hier läge das Potential, zur ökonomischen Überwindung ihrer Naturschranke zu gelangen und so das Gattungsvermögen der Menschen zu entfalten. Dies wäre die materielle Bedingung menschenwürdigen Daseins aller einzelnen, auf dem als Grundlage allererst über Moral ernsthaft zu reden wäre. Letztlich dient Kants Nachweis der Naturzweckhaftigkeit der Kultur des intelligiblen menschlichen Wesens erneut der Stringenz und Geschlossenheit der naturphilosophischen Spekulation: Wie läßt sich die Freiheit widerspruchsfrei in eine systematisch 175 176 177

KdU, V 432. KdU, V 432. KdU, V 433.

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geschlossene Naturvorstellung integrieren? Sowohl die Antinomienlehre der reinen Vernunft als auch die Frage nach der Objektivität praktischer Vernunft liefen auf teleologische Vorstellungen hinaus, die zwar als Ideen regulativ wirken sollten, aber nicht weiter verfolgt wurden. Die Ausführung der Teleologie als Prinzip reflektierender Urteilskraft nun konstruiert Teleologie als kosmologischen Zusammenhang. Ironisch wendet sie sich aber gegen ihren eigenen Zweck: Die Teleologie, die das SelbstzweckSein der Menschen ermöglichen soll, stellt sich, ihrer systematischen Ausführung nach, gegen Freiheit. Eine teleologische, bewußt nach Zwecken gestaltete, Ordnung kann nicht unabgeschlossen sein, weil der unendliche Progreß der Zwecke ohne abschließenden Endzweck selbst für den transzendenten Intellekt, der diese Zwecke setzt, zufällig und bedingt bleiben müßte. Alle Kausalketten müssen als einem prinzipiellen Zweck unterstellt gedacht werden, der die Ordnung regiert, ihr aber nicht mehr als Glied angehört. Als solcher Zweck sei der Mensch vorzustellen, allerdings als der objektive Grund, der den für die teleologische Ordnung ursächlich zuständigen „productiven Verstand zu einer Wirkung dieser Art bestimmt haben könne“178 . Wenn es heißt, der Mensch habe „den höchsten Zweck selbst in sich, dem, so viel er vermag, er die ganze Natur unterwerfen kann, wenigstens welchem zuwider er sich keinem Einflusse der Natur unterworfen halten darf“179 , so ist erneut die im Zweifel strikte Opposition von Sinnlichkeit und Vernunft ausgesprochen, derzufolge die Vernunft das Subjekt ihrer sinnlichen Existenz sich selbst opfern muß. Das Verhältnis von Freiheit und teleologischer Natur ist hier aber implizit schon umgekippt: Teleologie dient nicht mehr der Bedingung der Möglichkeit von Moral, sondern das moralische Wesen, der Selbstzweck, dient dem Halt sonst bodenloser Teleologie: „Wenn nun Dinge der Welt, als ihrer Existenz nach abhängige Wesen, einer nach Zwecken handelnden obersten Ursache bedürfen, so ist der Mensch der Schöpfung Endzweck; denn ohne diesen wäre die Kette der einander untergeordneten Zwecke nicht vollständig gegründet; und nur im Menschen, aber auch in diesem nur als Subjecte der Moralität ist die unbedingte Gesetzgebung in Ansehung der Zwecke anzutreffen, welche ihn also allein fähig macht ein Endzweck zu sein, dem die ganze Natur teleologisch untergeordnet ist.“180 Naturteleologie und moralischer Endzweck werden als zirkulär angeordnete Bestimmungsstücke einer durch höheren Intellekt angeordneten Weltordnung vorgestellt, in der das Subjekt dieser Vorstellung als selbständiges nicht mehr vorkommt. Der Selbstzweck als Endzweck vergeht in dieser Dialektik von Grund und Begründetem, das Subjekt, das diese Dialektik um seiner selbst willen denkt, wird zum Luhmann’schen Beobachter des Beobachters.181 Subjektivität, die sich über sich selbst als 178 179

180 181

KdU. V 434f. KdU, V 435. Der Mensch verfolge in der Natur Zwecke, setze aber diese „von Naturbedingungen unabhängig“. Auch hier bleibt offen, wie gerade solche von Naturbedingungen unabhängige Zwecke, die vom Menschen „aber als Noumenon betrachtet“ (KdU, V 435) gefaßt werden, Naturwesen und übersinnliches Wesen vermitteln sollen. KdU, V 435f. Vgl. Niklas Luhmann, Einführung in die Systemtheorie, Bielefeld 2002, 141-166. Die methodologische Verwandlung von Subjektivität in eine strukturell verstandene Beobachtungsfunktion läßt zunächst die Dinge tanzen: „Diese Vorlesung hier ist ihr eigenes Subjekt.“ (150) Konsequent gerät der Tanz zum Taumel: „Was heißt dann noch Objektivität?“ (166).

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Funktion Rechenschaft ablegt, löst sich tendentiell auf. Auch eine verhaltene, regulativ verstandene Teleologie wie die Kants folgt dieser Tendenz, weil Subjektivität sich im Denken konstituiert und ebenso im Denken sich stillstellen kann; auch und gerade die Regel, nach der gedacht wird, formt das, was gedacht wird, und damit auch das Selbstverständnis des denkenden Subjekts und seines Verhältnisses zum Gedachten. – Die teleologische Unterordnung der Natur im Denken wäre durch deren zweckbewußte Gestaltung in einer Praxis zu ersetzen, in der das Denken terminierte. Das ist mit teleologischem Denken unvereinbar, weil dieses – im Gegenteil – seine Praxis stillegt. Selbstbewußtsein kann sich stets nur gegen seine objektiven Bedingungen objektivieren. Dieser Gedanke hebt nicht auf, daß „Glückseligkeit nur als Folge nach Maßgabe der Übereinstimmung mit jenem Zwecke [der Moralität; M.St.], als dem Zwecke seines Daseins, in Verbindung stehe.“182 Aber er nimmt das Subjekt aus der funktionalen Einheit mit einer als an sich vernünftig unterstellten Naturordnung heraus und stellt ihm die Aufgabe, durch die autonome Realisierung seiner Vernunft eine Ordnung zu begründen, in der es selbst – als Subjekt – eine Objektivität hätte. Der Gedanke, daß die Natur, in der Menschen handeln, immer schon durch dieses Handeln in Relation zu diesem Handeln bestimmt ist, leistet eines freilich nicht: Die grundsätzlich systematische Einheit von Natur und Sittlichkeit ist so nicht positiv zu bestimmen. Zwar ist im geschichtlichen Begriff von Natur deren Präparation durch wenigstens an sich sittliche Zwecke gesetzt, und mit ihr die Möglichkeit, diese Zwecke auch für sich, ihrem allgemeinen Begriff – der Sittlichkeit – gemäß, auszuführen; diese Möglichkeit ergibt sich aber immer nur negativ, als menschliches Vermögen, das sich durch die Bearbeitung seiner Realisationsbedingungen, im Widerstand gegen seine Hindernisse, objektivieren muß. Die allgemeine positive transzendentale Begründung dieser Möglichkeit im Sinne Kants – ‚was man soll, das kann man auch‘ – läßt sich daraus freilich nicht ableiten; denn wenn Natur als Resultat kollektiver menschlicher Kultivierung begriffen wird, ist ihr immer schon ein praktischer Prozeß vorausgesetzt, dessen Möglichkeit nur durch Praxis gesetzt und daher grundsätzlich nicht ableitbar ist. – Im Gegenteil schließt dies ein, daß Menschen unter bestimmten Bedingungen eben nicht können, was sie sollen. Diese Auffassung des Problems setzt ebenso den strikten Moralbegriff voraus, zieht aus seinem Mißverhältnis zur sinnlichen Realität aber den entgegengesetzten Schluß: Auf sinnliche Realität ist ebensowenig zu verzichten wie auf unverkürzten moralischen Anspruch; also wären die Bedingungen diesem Anspruch praktisch zu unterziehen. Das setzte aber den Begriff eines Subjekts voraus, das sich selbst als Resultat seiner eigenen Geschichte begriffe und nicht als transzendentale Instanz systematischer Einheit von Natur und sittlicher Praxis. Als diese Instanz nämlich wäre es der nominalistische Erbe der göttlichen Vollkaskoversicherung für Erkenntnis und Erlösung. Es wäre das ganz ungeschichtliche Prinzip von Geschichte. Erforderlich scheint es zu sein, weil aus der geschichtlichen Erfahrung deren Begriff als Fortschritt nicht zu begründen ist. Er ist gegen die Erfahrung zu denken, und dies nur unter der Voraussetzung eines Prinzips, das außerhalb dieser Erfahrung liegt, von ihr nicht berührt wird. In dem Festhalten an einem solchen Prinzip liegt zweierlei: der Protest gegen die 182

KdU, V 436 Anm.

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Unvernunft ebenso wie die Hypostase der Vernunft, die dann selbst ihre eigene Verwirklichung zu garantieren scheint. Indem nun Kant jenes ungeschichtliche Geschichtsprinzip in ein bloß negatives, abstraktes, Verhältnis zu den geschichtlichen Bedingungen des bürgerlichen Zeitalters setzt, stellt er diese Bedingungen im Subjekt still. Er konserviert Geschichte prozeßlos im Subjekt. Der aufklärerische Anspruch, daß die Menschen autonom ihr Dasein bestimmen mögen, schlägt deswegen in sein Gegenteil um. Das Subjekt als stille Instanz kann den Widerstand gegen Heteronomie, auf dem sein aufgeklärter Begriff beruht, nur gegen sich selbst wenden. Die angestrebte Ersetzung des göttlichen Prinzips durch ein menschliches trägt eigentümlich göttliche Züge: Was man soll, das kann man unmittelbar auch; diese potentia absoluta ist aber erkauft mit der bedingungslosen Preisgabe der physischen Existenz, wenn die Umstände des Sollens dies erfordern.183 Die sterblichen Götter können ihre eigene Möglichkeit, die Möglichkeit der adaequatio von Natur und Sittlichkeit, nur in der Vorstellung des alten, ihnen übergeordneten, göttlichen Prinzips begründen. Deshalb schließt sich bei Kant auch an die Erörterung des Kulturbegriffs der Kritik der Urteilskraft wieder ein, wie immer verhaltener, Gottesbeweis an. Was hier bewiesen werden soll, ist bloß die eigene Möglichkeit der autonomen Subjekte der Kulturgeschichte; was aber bewiesen wird, ist die von den Subjekten undurchschaute Funktion geschichtlicher Heteronomie in ihrer eigenen Subjektivität. Ähnlich wie schon in den moralisch-theologischen Passagen der Kritik der reinen Vernunft und der Kritik der praktischen Vernunft ist es Kant auch hier durchaus um die strikte funktionale Abgrenzung dieses Arguments zu tun. So sei von der Physikoteleologie allenfalls auf ein pantheistisches – oder pandämonisches – Prinzip zu schließen. Durch die teleologische Naturerklärung werde zwar eine allgemeine Zweckmäßigkeit aufgewiesen, die aber nicht hinreichend für den Schluß auf einen Endzweck der Natur sei, in dem diese selbst überschritten werde. Kant unterscheidet zudem strikt zwischen einer verständigen und einer moralischen Weltursache.184 Ein verständiges Wesen, das die Welt geschaffen habe, sei noch kein Gott, sondern könne gewissermaßen als unreflektierter Verstand – mechanische Anordnung – vorgestellt werden. Gleichwohl handle es sich um eine ‚Schöpfung‘.185 Ein Endzweck hingegen, der reflexiv – Selbstzweck – sei, setze eine moralisch reflektierte Absicht voraus, die nur Gott beigelegt werden könne. So ermöglicht Kant es sich, grundsätzlich von einer zweckmäßig hervorgebrachten Welt auszugehen, von einer „Schöpfung“186 zu reden. Diese Vorstellung von Natur bleibt als Vorstellung vernunft- und willensbegabter Wesen, die selbst zugleich Teile dieser Natur sind, inkonsistent, weil sie ein teleologisches System unterstellt, in dem die freien Wesen, die es denken, keinen Ort haben. Deshalb führt der teleologische – wenngleich explizit nicht-theologische – Schöpfungsbegriff schließlich doch zwingend auf Gott als Schöpfer, anders als dies bei einem negativen Naturbegriff der Fall wäre, in dem nur dasjenige als vernünftig geordnet erfaßt würde, was auch durch menschliche Arbeit rea183 184 185 186

Vgl. KdU, V 471 Anm. Vgl. KdU, V 455. Vgl. KdU, V 449 Anm. KdU, V 442.

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lisierte Vernunft darstellte. Dieser Naturbegriff gäbe auf nichts weiter Anweisung als darauf, in der Bemühung, Vernunft zu realisieren, fortzufahren. Für Kant, der den Endzweck als oberstes Systemprinzip denkt, ergibt sich die praktische Reflexivität der Menschen als Endzweck, da die theoretische – das Erkenntnisvermögen – sich letztlich kontemplativ zur Welt verhalte, und daher ihr keinen Wert oder Zweckgehalt zusetze.187 Für kontemplative Erkenntnis mag dies zutreffen, nicht aber für moderne Naturerkenntnis, die stets zugleich Zwecke in der Natur realisiert, indem sie die Erkennbarkeit der Natur zunächst praktisch herstellt, Teilzusammenhänge aus der Natur zu Erkenntnisgegenständen präpariert. Diese Praxis hat als arbeitsteilige und kooperative unmittelbar sittlichen Gehalt. Als solche aber ist sie mit dem Material schon konfundiert, dessen Kompatibilität mit den Zwecken doch erst begründet werden sollte. Deshalb bleibt allein das obere Begehrungsvermögen, der gute Wille als „dasjenige, wodurch sein Dasein allein einen absoluten Werth und in Beziehung auf welches das Dasein der Welt einen Endzweck haben kann“188 . Dieser ist aber der gegenstandslose gute Wille der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, was noch in dem Beispiel erscheint, daß jemand wohl den gemeinsamen Nutzen aller befördern könne, aber ohne guten Willen doch verächtlich bleibe,189 also geradezu mephistophelisch aus lauter Bosheit das Gemeinwohl erfindet, begründet und fördert. Wieder einmal platzt Kants Abstraktion auf und liberalistische Vorstellungen treten hervor: Das einzige dieser Konstruktion adäquate Modell wäre wohl die Beförderung des Gemeinwohls durch die eigensüchtige Verfolgung von Privatzwecken, die Kant hier immerhin als ‚nicht moralisch‘ bewertet. Fraglich ist allerdings, ob als Zweck einer solchen Form gesellschaftlicher Reproduktion überhaupt das bonum commune in irgendeiner Weise figuriert, oder nicht allenfalls dessen nominalistischer Ermäßigung zum utile commune, das in sich schon aporetisch ist, weil es partikulare Zwecke als allgemeine Form denkt. Dabei kommt auch Kants anti-pathologischer Moralbegriff nicht ohne Hinweis auf Pathologie aus. Der Schluß von der Moral auf die Vorstellung Gottes werde bestätigt durch das menschliche Bedürfnis nach „einer moralischen Intelligenz“, einem überweltlichen Wesen, demgegenüber die Menschen durch „Dankbarkeit, Gehorsam und Demüthigung (Unterwerfung unter verdiente Züchtigung)“190 ihre Pflicht tun und ihre moralische Gesinnung erweitern. Dieses seien unmittelbare moralische Regungen, in denen sich ohne weitere Triebfedern moralische Intelligenz ausdrücke. Dagegen ist wohl doch nicht auszuschließen, daß hier die soziale Psychopathologie die Triebfeder ist. Die Menschen bestimmen ihr Verhältnis zu der Vorstellung, die sie sich von Gott machen, anthropomorphistisch: Sie dienen, unterwerfen sich und anderes mehr, was ihrem Verkehr untereinander entspricht, in dem sie ihresgleichen ausgeliefert sind. Kant interpretiert dies aber als unmittelbare Vernunftakte und nicht als historisch präformierte Äußerungen. Fatal für die Vernunft ist dies, wenn es sich um Akte handelt, in denen sich ein Bedürfnis nach Unterwerfung – unter wen oder was auch immer – kundtut, dem eine gewisse Lust nicht abzugehen scheint, mithin die Empfindung der 187 188 189 190

Vgl. KdU, V 442. KdU, V 443. Vgl. KdU, V 443. KdU, V 446.

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Erhebung durch Erniedrigung. – So in sich verkehrt diese Empfindung ist, so gegenläufig ist die „moralische Anlage“191 , die Kant daraus ableitet, nämlich der Welt eine oberste beherrschende Ursache zu unterlegen: In ihrem höchsten Ausdruck untergräbt Autonomie sich selbst. Mit dem Gottesbegriff folgt aus der praktischen Reflexion die „Erkenntniß unserer Pflichten als göttlicher Gebote“192 , ohne daß dadurch Autonomie aufgehoben würde. Da es keinen theoretischen Beweis Gottes gebe, sei die Subordination der Subjekte keine äußerlich heteronome. – Umgekehrt wäre zu sagen, daß durch die Verknüpfung von Gott und Moral Heteronomie im Subjekt selbst gesetzt wird. Gottesfurcht ist dann keine ‚pathologische Furcht‘, wenn ‚pathologisch‘ die Äußerlichkeit meint. Wohl aber ist sie psychopathologische Furcht, oder kann es wenigstens sein. In der Fundierung der Moral in Religion, gerade in deren protestantisch verinnerlichter kultischer Demutspraxis, kann so auch die Pathologie des vergesellschafteten Subjekts sedimentieren. Dessen Selbstbewußtsein ist nicht gegen seine Sozialisierung unabhängig, sondern hebt sie auf, wie es selbst von ihr aufgehoben wird. – Die Vereinbarkeit von Sittlichkeit und Glückseligkeit kann Kant zufolge nur unter einem Weltprinzip gedacht werden, das die natürlichen Bedingungen der Ausführung moralischer Gesetze setzte. Dafür müßte es selbst ein moralisches Wesen sein, somit Gott. In der Verschränkung natürlicher und praktischer Bedingungen im Kulturbegriff der Kritik der Urteilskraft tritt die Funktion des Gottesbegriffs als index falsi, Ausweis inadäquater Erfahrungsbedingungen, besonders deutlich hervor, aber ebenso auch die Tendenz dieses Begriffs zur Affirmation. Zwar bemerkt Kant, daß die Welt eine sittliche Bestimmung nur im Urteil der menschlichen Vernunft hat und daß daher der Schluß über den Endzweck auf Gott auch nur in diesem Urteil gründen kann,193 weshalb es sich eben nur um ein Prinzip der reflektierenden Urteilskraft handeln könne; gleichwohl aber sei dies zwingend zu erschließen, da das Streben nach Glückseligkeit zur menschlichen Natur gehöre und seine Verwirklichungsbedingungen daher notwendig zu denken seien. Von vorzüglicher Notwendigkeit – so unterscheidet Kant mit mutwilliger Steigerung194 – sei indes das Sittengesetz selbst, denn Gott garantiere nur die Möglichkeit des höchsten Gutes, Sittlichkeit aber bleibe, da sie reines formales Prinzip sei, auch dann geboten, wenn jeder wüßte, daß sie nie mit Glückseligkeit kongruieren würde. Hier steht noch einmal die Moral in reinster Form da.195 Theoretisch sicher – das ist Kant wichtig zu bemerken – ist dieser theologische Schluß aber keineswegs, denn der teleologische Schluß auf die verständige Ursache der Natur191 192 193 194 195

KdU, V 446. KdU, V 481. Vgl. KdU, V 448. Vgl. KdU, V 450f., 470f. Einen tugendhaften Atheismus, den ethischen Skandal der Neuzeit in Gestalt des Spinoza, schließt Kant explizit aus durch den umständlichen Nachweis, daß Spinoza entweder seine Moralität mit wachsender Erfahrung der Welt habe aufgeben müssen oder daß er insgeheim doch von der Existenz Gottes überzeugt gewesen sein mußte. Vgl. KdU, V 452f. Zum Zusammenhang vgl. Michael Czelinski-Uesbeck, Der tugendhafte Atheist. Studien zur Vorgeschichte der Spinoza-Renaissance in Deutschland, Würzburg 2007. Für Kants Stellung zum Streit zwischen Jacobi und Mendelssohn, besonders zur Zurückweisung des Spinozismus-Vorwurfs an Kant vgl. Sich im Denken orientieren, VIII 143 Anm.

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teleologie und der theologische auf die moralische Ursache eines Endzwecks der Natur seien zwei verschiedene Schlüsse für die menschliche Vernunft, weil in dieser technischpraktische und moralisch-praktische Prinzipien hierarchisch differierten.196 Weder erlaube daher der naturteleologische Schluß auf den Welturheber den moralischen Schluß, noch sei dieser eine Ergänzung von jenem. Der moralische Schluß sei ganz selbständig. Daraus schließt Kant umgekehrt, daß der moralische Schluß seine subjektive Notwendigkeit auch behielte, wenn es gar keine Naturteleologie gäbe, „wenn wir in der Welt gar keinen, oder nur zweideutigen Stoff zur physischen Teleologie anträfen“197 . Die ‚vernünftigen Wesen in einer solchen Natur‘ – die wohl unkörperlich sein müßten, jedenfalls keine Organismen sein könnten, als die sie doch schon selbst jenen ‚Stoff‘ darstellten – würden dennoch „im Freiheitsbegriffe und in den sich darauf gründenden sittlichen Ideen einen praktisch-hinreichenden Grund finden, den Begriff des Urwesens diesen angemessen, d. i. als einer Gottheit, und die Natur (selbst unser eigenes Dasein) als einen jener und ihren Gesetzen gemäßen Endzweck zu postuliren und zwar in Rücksicht auf das unnachlaßliche Gebot der praktischen Vernunft“198 . Auch diese Konstruktion ist gegenstandslos, denn in einer derartigen Natur könnte das Gebot der praktischen Vernunft gar nicht gedacht werden, weil es nur in Analogie zur Kategorie Kausalität überhaupt formal denkbar ist. Dieser Kategorie soll aber in der hier postulierten Ordnung nichts korrespondieren, weshalb sie gänzlich leer bliebe. Kants Gedankenspiele um den moralischen Beweis vom Dasein Gottes entfernen sich immer weiter von den wirklichen Subjekten der Moral. Schließlich sei bei einer transzendenten Weltursache nicht sicher davon auszugehen, daß auch in ihrer Vernunft technisch-praktische und moralisch-praktische Prinzipien hierarchisch unterschieden seien. Das heißt, daß die Übereinstimmung der technischen Zweckmäßigkeit mit unserem moralischen Endzweck – das höchste Gut – nicht zwingend auf ein Wesen schließen lasse, dem über sein technisch-praktisches Vermögen hinaus noch ein moralisches zukäme. Es könnte jene Übereinstimmung vielmehr auch zufällig aus der technisch-praktischen Anordnung mit hervorgehen. – Nur die Menschen, die beides säuberlich unterscheiden, können sich einen moralischen Endzweck ohne moralischen Gott nicht begreiflich machen und müssen diesen daher als notwendiges Prinzip erschließen. Die Lösung der Problematik des moralischen Gottesbeweises – und mit ihm der Möglichkeit des höchsten Gutes – liegt Kant zufolge in „der Art des Fürwahrhaltens durch einen praktischen Glauben“199 . Zunächst geht es schon nicht um objektive Erkenntnis, sondern um die subjektiv bestimmte Beziehung von Begriff und Erkenntnisvermögen.200 Indem Kant das höchste Gut jeder Erfahrung entzogen hat, wird ihm dies zur Glaubenssache: objektiv nicht darstellbar, subjektiv aber doch gewiß, da es – und mit ihm die Bedingungen seiner Möglichkeit: Gott und Unsterblichkeit – durchs moralische Gesetz geboten sei, und was man soll, man auch kann: „Folglich bekommt der Begriff von Gott 196 197 198 199 200

Vgl. KdU, V 455. KdU, V 478. KdU, V 479. KdU, V 467. Vgl. KdU, V 467.

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nur durch die Beziehung auf das Object unserer Pflicht, als Bedingung der Möglichkeit den Endzweck derselben zu erreichen, den Vorzug in unserm Fürwahrhalten als Glaubenssache zu gelten“201 . Daß sie Glaubenssachen seien und nicht beweisbar, begründet Kant zufolge auch „ein freies Fürwahrhalten“, das „als ein solches mit der Moralität des Subjects vereinbar“202 sei. Daraus ergibt sich folgende Bestimmung des Glaubens: „Glaube (als habitus, nicht als actus) ist die moralische Denkungsart der Vernunft im Fürwahrhalten desjenigen, was für das theoretische Erkenntniß unzugänglich ist.“203 Deshalb könne umgekehrt „ein dogmatischer Unglaube […] aber mit einer in der Denkungsart herrschenden sittlichen Maxime nicht zusammen bestehen“204 . Die praktische Vernunft gerate geradezu in Widerspruch mit sich selbst, wenn sie nicht glaube.205 Diesem Widerspruch liegt die Annahme des höchsten Gutes als unerfahrbares zugrunde und außerdem die ‚merkwürdige‘ Zuordnung der Freiheit zu den Tatsachen: „Was aber sehr merkwürdig ist, so findet sich sogar eine Vernunftidee […] unter den Thatsachen; und das ist die Idee der Freiheit, deren Realität […] sich […] in der Erfahrung darthun läßt“206 . Dieser positive Freiheitsbegriff erlaube es, die Vernunft über hoffnungslose Naturbegriffe hinaus zu erweitern.207 Für Kant weist das Bewußtsein des Sittengesetzes im Verhältnis zur unsittlichen Sinnlichkeit die Faktizität der Freiheit auf, nicht aber die der tatsächlichen Unfreiheit, gegen die das Sittengesetz nur ein Bewußtsein der Möglichkeit von Freiheit, des Anspruchs auf sie, ist. Deshalb geraten ihm die Bestimmungen der Ausführbarkeit von Moral zur Glaubensvoraussetzungen, die das Subjekt als Subjekt an höchster Stelle aufheben: nämlich im eigenen praktischen Selbstbewußtsein. „Die Wirklichkeit eines höchsten moralisch-gesetzgebenden Urhebers ist also bloß für den praktischen Gebrauch unserer Vernunft hinreichend dargethan, ohne in Ansehung des Daseins desselben etwas theoretisch zu bestimmen. Denn diese bedarf zur Möglichkeit ihres Zwecks, der uns auch ohnedas durch ihre eigene Gesetzgebung aufgegeben ist, einer Idee, wodurch das Hinderniß aus dem Unvermögen ihrer Befolgung nach dem bloßen Naturbegriffe von der Welt (für die reflectirende Urtheilskraft hinreichend) weggeräumt wird; und diese Idee bekommt dadurch praktische Realität, wenn ihr gleich alle Mittel, ihr eine solche in theoretischer Absicht zur Erklärung der Natur und Bestimmung der obersten Ursache zu verschaffen, für das speculative Erkenntniß gänzlich abgehen.“208 Die praktische Vernunft bedarf zur Realisierung ihres moralischen Zwe201 202 203 204 205

206 207 208

KdU, V 470. KdU, V 469 Anm. KdU, V 471. KdU, V 472. Vgl. KdU, V 471 Anm.: „Da aber die speculative Vernunft sich völlig überzeugt, daß das letztere [d. i. daß die Moral eine Täuschung sei; M.St.] nie geschehen kann, dagegen aber jene Ideen, deren Gegenstand über die Natur hinaus liegt, ohne Widerspruch gedacht werden können: so wird sie für ihr eigenes praktisches Gesetz und die dadurch auferlegte Aufgabe, also in moralischer Rücksicht, jene Ideen als real anerkennen müssen, um nicht mit sich selbst in Widerspruch zu kommen.“ KdU, V 468. Vgl. KdU, V 474. KdU, V 456.

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ckes, der aus ihrer eigenen Autonomie hervorgeht, der Idee eines Gesetzgebers. Die Idee, die diese Realität ermöglicht, hebt zugleich die Moralität des Zwecks in ihrem Grund auf, denn die praktische Realität, die die Idee ‚dadurch‘ erhält, ist die ihrer heteronomen Macht übers Subjekt, das sich in seinen autonomen Handlungen unterm göttlichen Gesetz wähnt und dann so verhält, als ob es dies wirklich gäbe. – Diese praktische Realität ist nicht zu unterschätzen. Daß sie theoretisch, also durch das Vermögen, in dem das Subjekt tatsächlich sich noch konstitutiv weiß, weder zu bestätigen, noch zu widerlegen ist, bekräftigt – auch Kant zufolge – eher die faktische Macht jener Idee, als daß es sie problematisch schwächte. Von einem Beweis, auch dem vom Dasein Gottes, erwartet Kant, „daß er nicht überrede, sondern überzeuge“209 . Diese Erwartung erfüllt nun, Kant selbst zufolge, kein denkbarer Beweisgrund und keine Beweisart hinsichtlich der Existenz Gottes.210 – Gleichwohl hält Kant an der Möglichkeit eines methodisch eingeschränkten Beweises fest: „[L]egt er aber ein praktisches Vernunftsprincip zum Grunde (welches mithin allgemein und nothwendig gilt), so darf er wohl auf eine in reiner praktischer Absicht hinreichende, d. i. moralische, Überzeugung Anspruch machen“211 . Es werde dann nicht an sich, sondern für uns bewiesen, mit Rücksicht auf das menschliche Erkenntnisvermögen, in dem technisch-praktische und moralisch-praktische Prinzipien unterschieden werden und so den Schluß auf Gott moralisch sollizitieren: „Nun ist hierwider wohl nichts zu sagen, so fern man auf populäre Brauchbarkeit eigentlich Rücksicht nimmt.“212 Die ‚populäre Brauchbarkeit‘ besteht in der Erzeugung eines ‚heilsamen Scheines‘, der unmittelbar überzeugt – das heißt aber doch: überredet – und so den ‚frevelhaften Zweifel‘ abhält. Der moralischen Täuschung des schlichten Gemüts entspreche aber auch ein überzeugungskräftiger Kern, von dem es „für den Philosophen Pflicht“ sei, „den obgleich noch so heilsamen Schein, welchen eine solche Vermengung hervorbringen kann, aufzudecken und, was bloß zur Überredung gehört, von dem, was auf Überzeugung führt, […] abzusondern“213 . In der Annahme des Heteronomen um der Praxis willen liegt demzufolge durchaus die Konsequenz pragmatistischer Täuschungen. Kant bestimmt die praktische Realität Gottes in Analogie zum Bewegungsvermögen der Seele. Dies werde ihr beigelegt, ohne doch die Seele als physisch bewegende Kraft vorzustellen. Ebenso sei eine Ursache anzunehmen für die Möglichkeit der Ausführung des Moralgesetzes, die – ihrer Funktion zufolge – selbst moralisch sein müsse, ohne daß dies als Erkenntnis ausgegeben werden könne. Die Göttlichkeit Gottes bezeichne so nur „das Verhältniß dieses alle unsere Erkenntnißvermögen übersteigenden Wesens zum Objecte unserer praktischen Vernunft“214 , wie die Bewegungskraft das Verhältnis der Seele zur Wirkung im Körper bezeichne. Diese Analogie ist schief, weil die Seele sich auf den inneren Zusammenhang der Einheit des beseelten Lebewesens bezieht, etwas vorstellt, 209 210 211 212 213 214

KdU, V 461. Vgl. KdU, V 463. KdU, V 463. KdU, V 461. KdU, V 462. KdU, V 457.

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das nicht Körper ist, um die Einheit des Körpers zu begründen, das aber gleichwohl mit dem Körper in einem einheitlichen Zusammenhang steht. Gott als Prinzip der Möglichkeit des moralischen Objekts stehe aber außerhalb von dessen Zusammenhang mit der praktischen Vernunft, die es setzt. Diese Relation wird nicht an sich, sondern von außen her zur Einheit bestimmt. Die moralische Theologie, die ihre systematische Grenze als index falsi längst überschritten hat, steht der subjektiven Autonomie zutiefst entgegen. Das bestätigt Kant – gegen seine ausdrückliche Überzeugung – durch seine historischen Reflexionen in der Anmerkung, derzufolge dieser Beweis so alt sei wie die praktische Reflexion der Menschen.215 – Schon für die „unangebauteste Vernunft“216 sie die Vorstellung eines Schöpfergottes das adäquate Prinzip. Kant versetzt die Geltung dieses Prinzips damit aber explizit in eine Zeit, in der von Subjektivität, Selbstbewußtsein oder Selbstbestimmung nicht die Rede sein kann: Im Zustand völlig unkultivierter Vernunft gibt es noch nicht einmal eine Rechtsordnung, die Menschen haben sich noch nicht vom Naturzusammenhang gelöst. Rudimentäre Rechtsvorstellungen dagegen folgen Naturanalogien oder Interessen. Nun wäre zu sagen, daß nicht etwa ‚schon‘, sondern nur für solche unkultivierte Vernunft das Göttliche ein adäquates Prinzip sei. Wenn Kant dagegen Vorstellungen der Legitimation und Möglichkeit von Praxis in diesem kulturlosen und subjektlosen Zustand noch im Zeitalter fortgeschrittener Aufklärung zum Kriterium von Praxis macht, so kann das – wofern Kant nicht als Reaktionär anzusehen sein sollte – nur gegen den moralischen Zustand dieses Zeitalters sprechen. Jedenfalls erweist sich Kants Begründung der Möglichkeit moralisch-kultureller Fortschrittsgeschichte als ganz unhistorisch gedachte. Damit wird Fortschritt in seinem Begriff selbst stillgelegt. Geschichte könnte allein aus der Einsicht in die Geschichtlichkeit der menschlichen Subjektivität und ihres Verhältnisses zur Natur begründet werden, nie aber durch die Annahme einer Kongruenz a priori von ahistorischem Subjekt und ahistorischer Natur; nur durch Arbeit und die moralische Qualität von deren Bedingungen, die die Menschen zugleich der Natur wie sich selbst abringen müßten. Das proton pseudos hat Kant selbst deutlich benannt, indem er auf die Differenz von technisch-praktischen und moralisch-praktischen Prinzipien in der menschlichen Vernunft seine aporetische Moraltheologie aufbaute: Fiele die steile Differenz von technischer Reproduktion in der Natur und moralischer Praxis, dann könnten die Menschen sich selbst als alleinige Urheber ihrer Geschichte begreifen und eine vernünftige gesellschaftliche Praxis doch einmal aufnehmen. Von der Möglichkeit solcher Praxis finden sich bislang noch die deutlichsten Spuren im ästhetischen Verhalten der Menschen zur Welt. Alle gesellschaftlichen und politischen Antizipationen eines menschenwürdigen Lebens, alle Ansätze von Freiheit, sind zutiefst mit äußerlicher Gewalt von Menschen gegen andere Menschen konfundiert. Daß darin menschliches Gattungsvermögen mitwirke, ist Kants Bestimmungen des Verhältnisses der Subjekte zum Erhabenen zu entnehmen. Dies ist deshalb so, weil er zuvor die äußerliche Annahme von Teleologie mittels der ästhetischen Urteilskraft im Subjekt ver-

215 216

Vgl. KdU, V 458. KdU, V 458.

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O S

ankert. Der geschichtliche Gehalt dieser Zweckmäßigkeit tritt dann im Verhältnis gerade zum Unzweckmäßigen hervor.

3.

Ästhetik: Natur als Vermittlung von Subjektivität im Objekt

a.

Subjektive Grundlegung von Teleologie: Die ‚Kritik der ästhetischen Urteilskraft‘

Auf die Frage danach, wie Teleologie zu denken sei, um einerseits Erkenntnistheorie allgemein abzusichern, ohne andererseits doch die Möglichkeit subjektiver Freiheit preiszugeben, wie mithin die reine spekulative und reine praktische Vernunft miteinander bestehen können, ist implizit auch schon die Kritik der ästhetischen Urteilskraft ausgerichtet. Gewissermaßen versucht Kant hier, die Möglichkeit von Teleologie, wie die Kritik der teleologischen Urteilskraft sie ausführt, im Komplex der subjektiven Erkenntnisvermögen selbst grundzulegen.217 Die Bestimmung der Fähigkeit der transzendentalen Urteilskraft, subjektive Erkenntnisbedingungen grundsätzlich mit dem Gegebenen zu verknüpfen und dadurch eine adäquate Beziehung allgemeiner Erkenntnisformen auf besondere Gegenstände zu ermöglichen, erfordert eine ausführliche Kritik der Urteilskraft, zumal weder die Kritik der reinen Vernunft noch die Kritik der praktischen Vernunft eine reflektierende Urteilskraft kennen, ein Vermögen, das Regeln generierte, unter die Gegenstände subsumiert werden könnten, die in wirklicher Erfahrung gegeben werden. Das Ziel der Kritik der Urteilskraft ist daher in erster Linie ein erkenntnistheoretisches.218 Dem widerspricht es nicht, daß Kant von der Frage nach dem Schönen ausgeht, weil er sie als Frage nach der möglichen Objektivität des subjektiven Geschmacksurteils versteht.219 Diese Frage ist darin erkenntnistheoretisch relevant, daß sie die Beziehung des einzelnen Subjekts auf 217

218

219

Vgl. Reinhard Brandt, Von der ästhetischen und logischen Vorstellung der Zweckmäßigkeit der Natur, a.a.O., 44. Vgl. Dieter Henrich, Der Begriff der Schönheit in Schillers Ästhetik, a.a.O., 533; die spezifisch kunstphilosophische Tradition einschlägiger Motive der Kritik der Urteilskraft beginnt erst mit Schiller (vgl. ebda., 546). Vgl. auch Josef Simon, Kant, a.a.O., 206ff. Das Schöne sei „ästhetischer Vorschein der Naturerkenntnis“ (217). Vgl. ebenso Reinhard Brandt, Von der ästhetischen und logischen Vorstellung der Zweckmäßigkeit der Natur, a.a.O., 43: „Kant handelt in der Kritik der Urteilskraft weder vom Schönen und Erhabenen noch vom Zweckmäßigen in der Natur, sondern vom Rechtsanspruch unserer Urteile über diese Gegebenheiten.“ Vgl. auch Erste Einleitung KdU, 27, wo Kant das ästhetische Reflexions-Urteil, wie das Geschmacksurteil hier noch genannt wird (vgl. 47), als Bedingung des ‚Geschäfts‘ von Verstand und Einbildungskraft, also der Formulierung von Erkenntnisurteilen, bestimmt. Die Priorität der Naturerkenntnis vor der Kunstbeurteilung im Rahmen der Kritik der Urteilskraft hebt Kant dort an späterer Stelle eigens hervor (60f.). Vgl. auch Karl Vorländer, Zur Entstehung der Schrift [d. i. KdU; M.St.], in: Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Hamburg 1990, XVff. Vgl. Hierzu auch Peter Euler, Technologie und Urteilskraft, a.a.O., 245f. – Ein viel stärkeres Gewicht auf die Ästhetik legt Jens Kulenkampff (Hg.), Materialien zu Kants ‚Kritik der Urteilskraft‘, a.a.O. Er konzentriert Probleme und Leistungen der KdU insgesamt um die subjektive Allgemeingültigkeit des Geschmacksurteils (vgl. 18f.).

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grundsätzlich immer bestimmte, wirkliche, Erfahrung betrifft, über die keine notwendig allgemeinen Urteile möglich sind.220 Trotz der Singularität der daraus resultierenden Urteile beanspruchen die Subjekte für sie Objektivität. Die Frage nach dem Schönen transportiert damit für Kant jene, wie ein einzelner Gegenstand überhaupt als mögliches Objekt eines allgemeinen Urteils identifiziert werden kann, wie seine Qualifikation zum Allgemeinen – seine Erkennbarkeit – schon vor seiner Erkenntnis gewiß werde, so daß man sich hierüber verständigen könne. Nur wenn es ein Vermögen im Subjekt gebe, das dies leiste, sei eine zuverlässige Erkenntnisbeziehung der Subjekte auf Gegenstände der Erfahrung überhaupt zu gewährleisten. Ein solches Vermögen kann aber keine Verstandeseigenschaft sein, da es noch nicht auf begriffliche Erkenntnis geht;221 es kann aber auch keine bloße Sinneneigenschaft sein, da sein Resultat Allgemeinheit zumindest beanspruchen können soll: Daher sei es einerseits ästhetisch, andererseits aber allgemein. Die allgemeine Verständigung über Ästhetisches findet Kant nun in der Beurteilung des Schönen. Die Kritik der Urteilskraft ist daher keine Kunstphilosophie im engen Sinne, sondern sie bedient sich der Diskussion des Kunstschönen, um das Schöne überhaupt bestimmbar zu machen; der Bestimmung der schönen Kunst bedient sie sich, um den Erfahrungsgehalt der Erkenntnisrelation bestimmbar zu machen. Die adaequatio, die Anmessung des Gegebenen an die Erkenntnisvermögen, unterstellt dabei die Vorstellung der rationalen Beschaffenheit der Gegenstände, so daß diese zu der rationalen Form der Erkenntnisvermögen in einer sinnvollen Relation stehen. Die hierin liegende Naturteleologie wird aufgehoben in dem ästhetischen Urteil, das kein Erkenntnisurteil ist, das aber doch mehr ist als ein Ausdruck bloßer Empfindung. Dadurch soll die teleologische Vorstellung mitteilbar werden, ohne doch mit dem Anspruch auf erkannte Gültigkeit, Objektivität, verbunden zu werden. Die Kritik der Urteilskraft dient damit insgesamt der Ausführung der Naturteleologie, wie sie in der Kritik der teleologischen Urteilskraft erfolgt, und die Kritik der ästhetischen Urteilskraft setzt die subjektiven Bedingungen, die es ermöglichen sollen, eine solche Teleologie zu formulieren, ohne in dogmatische Metaphysik zurückzufallen. Diese Form von Begründung der Möglichkeit von Allgemeinheit soll wesentlich über die Konstruktion der regulativen Idee einer teleologischen Ordnung hinausgehen, die das Selbstbewußtsein in offenen Widerspruch versetzte, weil es um der Einheit seiner Selbstbestimmung willen einer Annahme bedurfte, die diese Selbstbestimmung zugleich aufhob. Hier wird hingegen die empirische – materiell individuierte – Daseinsweise der Subjekte ins Verhältnis sowohl mit ihrem intelligiblen Wesen als auch mit der Besonderheit ihrer Objekte gesetzt. Kants Versuch, dies in Einheit mit der reinen und mit der praktischen Vernunft – gar als deren einheitsstiftendes Prinzip – zu konstruieren, repro220

221

Als Beispiel für einen prinzipiell singulären Gegenstand, über den keine substantiellen Erkenntnisse formuliert werden können, nennt Aristoteles wie erwähnt die Ilias, andernorts Sonne und Mond. Vgl. Aristoteles, Metaphysik, a.a.O., 1030a und 1040a. Vgl. dagegen Reinhard Brandt, Von der ästhetischen und logischen Vorstellung der Zweckmäßigkeit der Natur, a.a.O., 50: „Anders also als in der Kritik der reinen Vernunft beginnt die jeweilige Untersuchung mit Gegenständen, die schon als Erfahrungsobjekte gemäß Anschauung und Verstand bestimmt sind und die nun eine weitere zwiefache Beurteilung ermöglichen oder erfordern, die des Ästhetischen in der Anschauung und des Teleologischen im Verstand.“

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duziert indes Widersprüche sowohl als es neue generiert. Schließlich birgt der Ausgang von Individualität und Besonderheit in der erfahrenden Beziehung auf die Welt einiges der bezweckten Teleologie widerstrebendes Potential. Kant muß dies in den Griff bekommen, wenn eine wie immer regulative teleologische Vorstellung im Einzelsubjekt begründbar sein soll; wo es ihm nicht gelingt, bieten sich aber Ausblicke auf ein Verhältnis der Subjekte zueinander und zu ihren Objekten, die deutlich über das aporetische Selbstverständnis von Subjektivität hinausweisen. Kants Absicht ist es hier nämlich nicht, unter Abstraktion aller Besonderheiten ein transzendentales Erkenntnissubjekt zu konstruieren. Vielmehr geht es darum, die Welterfassung der Subjekte aus deren bestimmter Beziehung auf Erfahrungsgegenstände zu entwickeln. – Die Funktion des Geschmacksurteils wird erschlossen aus dem Problem der Vermittlung allgemeiner Formen der Erkenntnis mit besonderen Gegenständen. Die Möglichkeit solcher Vermittlung wurde angezeigt durch die Feststellung der Einstimmung der Erkenntniskräfte angesichts eines Gegenstandes. Demgemäß ist dieses Urteil nach vier kategorialen Momenten bestimmt, und mit ihm das Schöne, als das der Gegenstand ihm zum Gegenstand wird: Es ist der Qualität nach interesselos ästhetisch und der Quantität nach allgemein, gleichwohl aber der Relation nach zweckmäßig; der Modalität nach ist es notwendig, wenngleich subjektiv. Soll nun das Geschmacksurteil auf den Erkenntnisprozeß bezogen sein, ohne ihm schon anzugehören, so muß es eine Vorstellung sein, „wodurch gar nichts im Objecte bezeichnet wird, sondern in der das Subject, wie es durch die Vorstellung afficirt wird, sich selbst fühlt“222 . Dies sieht Kant im Gefühl der Lust und der Unlust gegeben, weil das Subjekt seine innere Empfindung hinsichtlich eines Gegenstandes nicht als Bestimmung dieses Gegenstandes selbst ausgeben könne. Im Gegenteil sei das Wohlgefallen am Gegenstand Ausdruck der Beziehung der „Vorstellung gänzlich auf das Subject und zwar auf das Lebensgefühl desselben“223 . Ein solches Wohlgefallen, da es im Subjekt verbleibt, wäre interesselos, im Unterschied sowohl zu dem Wohlgefallen am Angenehmen, durch das das Begehrungsvermögen zur Hervorbringung des Gegenstandes zur Befriedigung einer Begierde bestimmt würde, als auch zum Wohlgefallen am Guten, das das obere Begehrungsvermögen zur Hervorbringung des Gegenstandes, zur Erfüllung einer Pflicht, bestimmte. Jenes wäre von pathologischem Interesse, dieses von moralischem Interesse begleitet. Das Wohlgefallen am Schönen sei nun nicht derart auf objektive Realität gerichtet. Damit aber wird die Lust am Schönen, durch die die Einstimmung der Erkenntniskräfte zu einer möglichen Erkenntnis festgestellt wird, von der Realisierung dieser Kräfte zur wirklichen Erkenntnis radikal abgeschnitten, denn Erkenntnis, insofern sie Naturbearbeitung voraussetzt, hat immer ein praktisches Moment. Deshalb darf das Geschmacksurteil nicht im mindesten auf den bestimmten Begriff bezogen sein. Dann aber wäre das Gefühl der Lust zwar ästhetisch, jedoch bewußtlos. Dies trifft nicht einmal die Beurteilung von Kunstwerken, denn die bewußtlose Beurteilung von Kunst, die es – vom billigen Platz bis zum Dirigentenpult – durchaus gibt, ist snobistische Schwärmerei, die das, was an dem fraglichen Werk ästhetisch gelungen ist, üblicherweise komplett ignoriert. Außer222 223

KdU, V 204. KdU, V 204.

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halb der sogenannten schönen Kunst, bei Artefakten und Naturgegenständen, wird es mit der Begriffs- und Interesselosigkeit des Geschmacksurteils eher noch schwieriger, weil es zweckmäßig auf den technischen oder intellektuellen Prozeß bezogen ist. Die Interesselosigkeit des Geschmacksurteils führt in eine Welt, die durchgängig von Interessen geleitet ist, und zwar von solchen, die zumal den Einzelnen heteronom sind; sie führt auf eine Abstraktion, die das Gegenstück derjenigen des Handelns aus Pflicht ist. Wie dieses nur feststellbar war unter zuverlässiger Abstraktion aller Neigung – im Extrem der Selbstverleugnung des existentiell bedrohten Subjekts – so setzt die Beurteilung des Geschmacks die tätige Negation der Interessen voraus: „Nur wenn das Bedürfniß befriedigt ist, kann man unterscheiden, wer unter Vielen Geschmack habe, oder nicht.“224 Umgekehrt umgekehrt, nach der Bauernregel ‚Gut’ Sau würgt’s ’runter‘: Unter mangelhaften Lebensbedingungen, in denen die Bedürfnisse nicht befriedigt werden, wäre kein sicheres Geschmacksurteil möglich. Es wäre allenthalben korrumpiert durch den pathologischen Mangel, der die freie Beurteilung der Gegenstände, die so immer auch Gegenstände des Begehrens sind, verhindert, und ebenso durch den Mangel an Freiheit, der das Verhältnis zu den Gegenständen so immer auch zu einem Objekt des oberen Begehrungsvermögens macht: Wenn das Geschmacksurteil grundsätzlich die Erfüllung der Bedürfnisse voraussetzt, so setzt es, terminologisch, allgemeine Glückseligkeit voraus. Es ist dann aber nicht schlechthin vorauszusetzen als Bedingung a priori aller Naturerkenntnis, sondern es ist immer auch Ausdruck des realisierten Standes von Naturerkenntnis und von deren gesellschaftlicher Situation. Die negative Bestimmung der Qualität des Geschmacksurteils, ohne Interesse zu sein, begründet seine Quantität: Beruht es nicht auf Neigungen oder „Privatbedingungen“225 , also bloß individuellen Bestimmungsgründen, so muß das urteilende Subjekt annehmen, daß es auch für alle anderen Subjekte gelten können muß. Dieser Allgemeinheitsanspruch ist begrifflich nicht zu erfüllen, weil begriffliche Bestimmungen in dem Urteil nicht figurieren, er bleibt ein Anspruch. Allgemeine Gültigkeit wird allen anderen Subjekten ‚angesonnen‘, insofern sie über dieselben Seelenvermögen verfügen. Dadurch ist sie subjektive Allgemeinheit. Das heißt nicht bloß, daß diese Allgemeinheit von einem Subjekt subjektiv postuliert werde, sondern daß sie zugleich für alle anderen, sofern sie Subjekte sind, postuliert wird, als ob es ein objektives Urteil sei; nur daß es eben nicht am Objekt begründet werden kann. Es ist, im Unterschied zum Angenehmen, das bestenfalls auf komparative Allgemeinheit zu bringen wäre, sogar von strenger Allgemeinheit. Die Realisierung dieser Allgemeinheit setzt aber auch hier jene der Befriedigung der Bedürfnisse voraus, damit das Schöne vom Angenehmen überhaupt zu unterscheiden ist. Erschließen läßt sich der Unterschied nur analytisch dadurch, daß im Geschmacksurteil das Urteil der Lust vorhergehe, im Urteil übers Angenehme aber umgekehrt. Die Lust am Schönen folgt dem Urteil, daß etwas schön sei; dieses Urteil aber ist von der Empfindung des Schönen – der Harmonie der Erkenntniskräfte – doch selbst bestimmt. Die Abfolge dieses wechselseitigen Bestimmungsverhältnisses kann bloß analytisch auseinandergelegt werden.

224 225

KdU, V 210. KdU, V 211.

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Nun soll dieses Urteil allgemein mitteilbar sein. Dies aber sind nur Vorstellungen, die auf Erkenntnis bezogen sind. Da das Geschmacksurteil keine Begriffe selbst erkennt, muß es doch zumindest etwas bezeichnen, das auf die begriffliche Einheit irgendwie bezogen ist. Dies könne nichts Anderes „als der Gemüthszustand sein, der im Verhältnisse der Vorstellungskräfte zu einander angetroffen wird, sofern sie eine gegebene Vorstellung auf Erkenntniß überhaupt beziehen“226 . Kant nennt dies ein freies Spiel der Erkenntniskräfte, da ihre prozessuale Beziehung aufeinander, das ‚Spiel‘, hier nicht durch ein bestimmtes Objekt begrifflich definiert, eingegrenzt, sei.227 – Wie aber Erkenntniskräfte in ein indefinites Verhältnis zu setzen seien, wie dessen Selbstwahrnehmung aussähe, davon läßt sich positiv gar keine Vorstellung fassen; das freie Spiel ist frei, weil es frei von Definition ist, nicht weil es frei zu etwas wäre. Von dieser Freiheit auf ein bestimmtes Geschmacksurteil zu schließen, ist unmöglich. Kants Versuch, dies näher zu bezeichnen, gibt als Gehalt des freien Spiels ein ‚Erkenntnis überhaupt‘ an, das „auf Begriffe, obzwar unbestimmt welche, bezogen“228 sei. Dies unterstellt nichts Anderes als die Negation des Definiten, nämlich die Adäquation des Verhältnisses der Erkenntniskräfte an nichts Bestimmtes. Die Harmonie von Verstand und Einbildungskraft im freien Spiel ist gegenstandslos, ein obskures Gefühl allenfalls, das sich wohl negativ von Argumenten unterscheidet, das aber sonst nichts Bestimmtes ausdrückt. Indes verweist die Metapher von der „Harmonie der Erkenntnißvermögen“229 auf die sogenannte schöne Kunst. Sie ist in Analogie zur harmonischen Form – zur gelungenen Komposition – eines Kunstwerkes zu verstehen. Der „Reflexionsgeschmack“, den Kant im Unterschied zum bloß privaten „Sinnengeschmack“230 einführt und dessen Allgemeinheit „die auf keinem Begriffe beruht“ und „nicht mit dem Begriffe des Objects, in seiner ganzen logischen Sphäre betrachtet, verknüpft“231 sei, könnte aber wohl nicht einmal auf Kunstwerke angewendet werden, denn das Urteil, ob eine Komposition – gleichgültig ob von Tönen, Farben, Flächen, Raum oder sprachlichen Vorstellungen – schön ist, müßte sie als ästhetisch gelungen auffassen. Dies aber ist nicht ohne jede begriffliche Vorstellung möglich. Daß Kant hier als Modell eine Rose, eine ‚freie Naturschönheit‘232 heranzieht, reagiert darauf. Allerdings kann Naturschönheit – wie Kant weiß – nur in Analogie zur Kunstschönheit233 festgestellt werden, und das heißt, daß ihre Beurteilung eine analoge Reflexion auf die Komposition unterstellt. Kant wendet ein: „Wenn man Objecte bloß nach Begriffen beurtheilt, so geht alle Vorstellung der Schönheit verloren.“234 – Damit behält er zweifellos Recht gegen Brechts eher banausische Behauptung „Zerpflücke eine Rose und jedes Blatt ist schön.“235 Brecht wollte damit 226 227 228 229 230 231 232 233 234 235

KdU, V 217. Vgl. zum ‚freien Spiel‘ auch KdU, V §§ 35 und 40. KdU, V 244. KdU, V 218. KdU, V 214. KdU, V 215. Vgl. KdU, V 229. Vgl. KdU, V 374f. KdU, V 215. Bertold Brecht, Über das Zerpflücken von Gedichten, in: Über Lyrik, Frankfurt am Main 1964, 123. Vgl. ebenso dens., Wie man Gedichte lesen muß, in: Über Lyrik, a.a.O., 128.

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gegen den Einwand kunstliebender Pioniere argumentieren, die Gedichte vor ihrer Interpretation, dem sogenannten ‚Zerpflücken‘ bewahren wollten. Tatsächlich ist dies ein Vorwand reflexionsfauler Schüler, sich selbst vor der Mühe zu bewahren, die aber, wie Brecht wußte, durch Anmut allein nicht erspart wird. Das sprachliche Kunstwerk wird nun dadurch, daß man seiner Komposition mittels Erschließung seiner Elemente gewahr wird, keinesfalls zerpflückt, sondern es entsteht erst dadurch als ästhetische Vorstellung; vorher ist Gefühlsduselei. Das Resultat der Zerteilung einer Rosenblüte hingegen sind tote Naturgegenstände, aus denen sich noch nicht einmal ihr ursprüngliches Ensemble rekonstruieren läßt, geschweige denn die Vorstellung einer Komposition. Brecht aber hat gegen Kant Recht damit, daß ohne Verständnis der Komposition des Kunstwerks über dessen Schönheit nicht zu urteilen sei. Ist aber über Schönheit zu urteilen, reicht dieses Urteil über den „natürlichen Hang[] des Menschen zur Geselligkeit“236 hinaus, eben weil diese Mitteilbarkeit des Gemütszustandes keine bloße Sym-pathie voraussetzt, sondern im Kunstwerk etwas antrifft, das unmittelbar Ausdruck menschlicher Freiheit ist und darin die an sich kollektive Geschichte der Distanzierung vom Naturzusammenhang exemplarisch transportiert, ohne aber selbst technisch-praktisch zweckmäßiges Element dieser Geschichte zu sein. Insofern sind Kunstwerke Luxus, wie es auch reine Wissenschaft nach Aristoteles sein sollte, aber sie sind ein Luxus, ohne den das freie Selbstbewußtsein der Menschen keinen objektiven Ausdruck hätte, schon gar nicht unter unfreien Lebensbedingungen. Unter diesen allerdings ist das Schöne, dessen lustvolle Empfindung, „jedem anderen im Geschmacksurtheile als nothwendig“237 zuzumuten sei, vom Angenehmen kaum zu unterscheiden und dies ist nicht mehr angenehm: Wenn jede ästhetische Komposition Zwecken unterworfen werden kann, die ihr an sich fremd sind, so werden durch sie so oder so Bedürfnisse bedient.238 Die Begegnung eines Menschen mit einem Kunstwerk ist in der Zeit der Museen und Konzertsäle das planmäßig Andere des Alltagslebens und keineswegs zweckfrei vorstellbar. Das schlägt sich auch im Bewußtsein nieder, das die Werke dann auffaßt. Ist Kunst Ausdruck des freien Selbstbewußtseins, so würde schöne Kunst in der heteronomen Welt zur Lüge, ihre Prätention auf affirmative Allgemeinheit zum Massenbetrug, dem noch Walter Benjamin a fortiori aufsaß. Seine Kritik am problematischen bürgerlichen Kunstideal – der Aura des Ausstellungsstücks – beseitigte gerade dessen widerständisches Moment: In der Authentizität des Kunstwerks objektiviert sich nämlich die Authentizität des künstlerischen Subjekts, dessen Individualität der Heteronomie nicht erlegen ist. Benjamins Ausführungen zur Massenwirkung der Kunst ersetzen – gegen seine Absicht wohl – Authentizität des Kunstwerks durch Mani236 237 238

KdU, V 218. KdU, V 218. Daraus, daß Kunst stets irgendwie funktionell wirkt oder aufgefaßt wird, läßt sich aber nicht zwingend etwas über Kunst selbst sagen, wie dies Reinold Schmücker beabsichtigt: Funktionen der Kunst, in: Bernd Kleimann/Reinold Schmücker (Hgg.), Wozu Kunst? Die Frage nach ihrer Funktion, Darmstadt 2001. Im Grunde versucht Schmücker, den Begriff autonomer Kunst dadurch ad absurdum zu führen, daß Kunst überhaupt – und unter historischen und sozialen Bedingungen im besonderen – rezipiert wird. Der so kritisierte Adorno, der das wußte, vertrat keinen affirmativen Autonomiebegriff, – ohne aber deshalb Autonomie aufzugeben. Vgl. z. B. Philosophie der neuen Musik, a.a.O., 24f.

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pulation, so wie schon die frühen plakativen Photomontagen von Massenszenen durch El Lissitzky von denen der nationalsozialistischen Propaganda formal nicht unterschieden waren. Allein, der natürliche Hang zur Geselligkeit, den Kant zitiert, verfällt nicht deshalb seiner Kritik, weil er mit ebenso natürlicher Ungeselligkeit verschwistert sei, sondern weil er für sich die Allgemeinheit des Geschmacksurteils nicht bewirke, sondern diese noch die Abwesenheit von Privatinteressen erfordere. Würden im ästhetisch bestimmten Gemütszustand keine privaten Interessen verfolgt, dann könnte die Geselligkeit dieses Zustandes gar keine ungesellige sein. Die Vorstellung der Allgemeinheit des reinen Geschmacksurteils bietet so eine Aussicht auf gesellschaftliche Kollektivität ohne Antagonismus. Der reale Antagonismus jedoch verstellt ästhetische Erfahrung, indem er Kunst, die irgend wahrzunehmen ist, den Regeln des Betriebs unterwirft.239 Kants Begriff des reinen Geschmacksurteils gerät in Widersprüche. Ob Erkenntnis einmal ein positives ästhetisches Moment dieser Art wird haben können, ist vom Standpunkt instrumentell zugerichteter Erfahrung kaum zu beurteilen. Kunst jedenfalls erhält sich authentisch nur im Widerstand gegen den Betrieb und wird damit schattenhaft; wahrnehmbar nur unter Verweigerung der Bedingungen ihrer Wahrnehmung. Das klassische Schöne der Kunst mußte, um sich zu retten, sich preisgeben. Um erscheinen zu können, mußte es sich mehr und mehr auf sich selbst, seine innere Möglichkeit, zurücknehmen und zunehmend diese Reflexion noch am Material darstellen. Wo ihr dies gelingt, da gewährt sie das demolierte Lustgefühl einer ästhetischen Erfahrung, die zuinnerst verknüpft ist mit dem Befremden vor der Wirklichkeit der zweiten Natur, deren Anordnung nicht annähernd in einem emphatisch sinnvollen Verhältnis zu sich selbst oder zur Subjektivität steht. So gibt die Kunst schon die Vorstellung einer Zweckmäßigkeit ohne Zweck, indem sie sich der Bestimmung durch heteronome Zwecke verweigert und so ein Modell von Selbstzweck-Sein bietet, dem die Autonomie der Subjekte entspräche. Sie hat aber deshalb nicht selbst einen Zweck in einem Befreiungsversprechen irgendeiner Art. Solche Agitation widerspricht gerade ihrem Selbstzweck, der durch Abweisung von Heteronomie begründet wurde: So würde sie mittels ästhetischer Wahrnehmung die Subjekte bereden und dadurch in ihrer Autonomie beschädigen. Aber damit ist eben keine affirmative Vorstellung zu verbinden. Für Kant betrifft die Zweckmäßigkeit, die das Geschmacksurteil bestimmt, zunächst die Natur. Der Zweck bezeichne den „Gegenstand eines Begriffs, sofern dieser als die Ursache von jenem (der reale Grund seiner Möglichkeit) angesehen wird; und die Causalität eines Begriffs in Ansehung seines Objects ist die Zweckmäßigkeit (forma finalis)“240 . Das kausale Verhältnis von Begriff und Gegenstand ist das des subjektiven Zwecks, der sich in der Objektivität ein Dasein gibt. Sofern dieser Gegenstand zum Dasein des Zwecks bestimmbar ist, dieser also in Ansehung von jenem Kausalität besitzt, ist der Gegenstand zweckmäßig, das heißt diesem Zweck gemäß. Dem korrespondiert Kants wiederholt vorgetragene – und in gewisser Hinsicht mit Recht gegen den Vorwurf des Idealismus verteidigte – Auffassung, das Begehrungsvermögen sei das 239 240

Dies gilt für Wissenschaft – Philosophie eingeschlossen – nicht weniger. KdU, V 220.

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Vermögen, „durch seine Vorstellungen Ursache von der Wirklichkeit der Gegenstände dieser Vorstellungen zu sein“241 . Alle Verteidigungsversuche Kants ignorieren jedoch ein Moment ganz, nämlich dasjenige, daß Zwecke intelligible Vorstellungen sind, ihre Realisierungen aber in gegenständlichen Gestalten vorliegen, so daß das Subjekt der Setzung des subjektiven Zwecks als gegenständliches Wesen auf gegenständliche Realisationsbedingungen wirken – oder wirken lassen – muß. Es bedarf der Werkzeuge und des Materials. Nur indem dieses bei Kant als zweckmäßiges vorgestellt wird, gelingt der Übergang vom subjektiven zum objektiven Zweck. Tatsächlich wird das Material in der Bearbeitung dem Zweck gemäß gemacht, durch ein Werkzeug, ein Mittel, das selbst schon aus einer analogen Prozedur hervorging. Damit ist die Zweckrealisierung nicht sowohl an eine natürliche Zweckmäßigkeit der Gegenstände gebunden, als vielmehr an Zivilisations- und Kulturprozesse, als dessen Resultat erst die dem Menschen verfügbare Natur eine Zweckmäßigkeit aufweist. Der Prozeß, in dem der Begriff Ursache des Gegenstandes wird, kann jederzeit an der bestimmten Materialität von dessen Gegenständlichkeit scheitern; wo er aber nicht scheitert, sondern Kausalität auf den Gegenstand beweist, ist dies das Resultat der Geschichte der Überwindung des unmittelbaren Naturzwanges.242 Aus Kants Reduktion von Zweck und Zweckmäßigkeit ergibt sich nun erst das Desiderat der Teleologie: Wenn auch die Natur als zweckmäßig erscheint, ohne daß ein universaler subjektiver Naturzweck anzugeben wäre, so kann doch „ihre Möglichkeit von uns nur erklärt und begriffen werden […], sofern wir eine Causalität nach Zwecken, d. i. einen Willen, der sie nach der Vorstellung einer gewissen Regel so angeordnet hätte, zum Grunde derselben annehmen“243 . Diese Vorstellung ist nun die einer Zweckmäßigkeit ohne Zweck, zumindest ohne begriffenen Zweck. Nicht jeder Handlung geht eine ausführliche Analyse der Handlungsbedingungen voraus. Damit dennoch gehandelt werden kann, muß das Subjekt stillschweigend die Zweckmäßigkeit dieser Bedingungen unterstellen, ohne den bestimmten Begriff eines Zweckes zu haben. Solche Zweckmäßigkeit 241

242

243

KdU, V 177 Anm. Vgl. MdS RL, VI 211, und KpV, V 9. Vorsichtiger formuliert Kant in der Anthropologie, VII § 73: „Begierde (appetitio) ist die Selbstbestimmung der Kraft eines Subjects durch die Vorstellung von etwas Künftigem als einer Wirkung derselben.“ Dies beruht wesentlich auf technischer Naturgestaltung. Günter Ropohl, Technologische Aufklärung, Frankfurt am Main 1991, 71, formuliert: „Technik ist eben nichts anderes als die Überwindung der Natur durch das menschliche Bewußtsein.“ Seine Diagnose des ‚Endes der Natur‘ ist insoweit richtig, als Natur nicht mehr als vom Bewußtsein Unabhängiges zu konstatieren ist, und zwar schon, seit Menschen überhaupt von unmittelbarer Natur sich unterscheiden. Gleichwohl bleiben Menschen gerade in ihrer technischen Gestaltung von Natur selbst Naturwesen, die sich unter gegenständlichen Bedingungen auf Gegenstände beziehen, die ihnen auch Widerstand entgegensetzen. Hierauf weist Dieter Hassenpflug hin: Die Natur der Industrie. Philosophie und Geschichte des industriellen Lebens, Frankfurt am Main 1990, 207. Ebenso Peter Euler, Technologie und Urteilskraft, a.a.O., 178: „Die Natur ist zweifelsohne immer das Gegebene und insofern kein zu Machendes. Aber die Gestalten, in der [sic!] Natur uns begegnet, genauer: die Formen der Naturgeschichte, sind nicht unabhängig von unserer Praxis gegeben.“ (Meine Hervorhebungen; M.St.) – Vgl. auch Paul Guyer, Nature, Art and Autonomy: A Copernican Revolution in Kant’s Aesthetics, in: Konrad Cramer/Hans Friedrich Fulda/Rolf-Peter Horstmann/Ulrich Pothast (Hgg.), Theorie der Subjektivität, a.a.O. KdU, V 220.

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muß nun auch das Geschmacksurteil bestimmen, da es ohne Begriff und ohne Interesse – das heißt Zweck – auskommen soll. Sein Gegenstand wäre die sinnvoll erscheinende Anordnung in der Erscheinung, ohne weiteren Begriff derselben. Das Bewußtsein dieser Anordnung nennt Kant ‚Lust‘, weil die so angeordnete Vorstellung des Gegenstandes als zweckmäßig zum Spiel der Erkenntniskräfte des Subjekts aufgefaßt wird: Daß eine Vorstellung, ohne schon erkannt zu sein, überhaupt als formal passend zum subjektiven Erkenntnisvermögen erfaßt wird, ist der ganze Inhalt dieser ‚Lust‘.244 Damit ist verbunden, daß der Gegenstand zwar in den Sinnen gegeben ist, aber das Geschmacksurteil die Empfindungen, in denen er im einzelnen gegeben ist, nicht berücksichtigt, sondern auf die bloß formale Konstellation sich bezieht; sonst wäre das ästhetische Urteil nicht rein, denn die Empfindungen sind immer aufs Angenehme bezogen. Die Vorstellung repräsentiert den Gegenstand nur soweit, wie er in Absicht auf mögliche Erkenntnis zu berücksichtigen wäre. Schönheit ist so zuallererst Erkenntnisfunktion, die ‚Zweckmäßigkeit ohne Zweck‘ unterliegt als solche insgesamt durchaus einem Zweck. Kants Beispiele stammen bezeichnenderweise zunächst aus dem Bereich der Kunst. Die Skizze, Vorzeichnung, sei das Wesentliche, die Anordnung der Bildelemente zur Formkomposition bestimme das Geschmacksurteil, die Farben dagegen bloße Sinnenreize, Beiwerk; ebenso seien die Klangfarben der Instrumente ein empfindlerisches Beiwerk zur Komposition. Nun mag es Menschen geben, deren musikalische Bildung es ihnen erlaubt, bei der Lektüre einer Partitur abstrakt Lust zu empfinden; dennoch besteht die ästhetische Erfahrung der Musik nicht bloß in den mathematischen Relationen der Töne, sondern ebenso in deren klingender Umsetzung mit je den Instrumenten, für die das Werk absichtsvoll komponiert oder eben transkribiert wurde. Vollends deutlich wird dies an sinfonischen Kompositionen, in denen die Instrumente nicht beliebig nach dem individuellen Empfinden der Zuhörer austauschbar sind, ohne das Werk zu verwandeln oder zu zerstören. Der innere Zusammenhang von Form und Farbe, der der Malerei zugrunde liegt, wurde seit dem Impressionismus als eigenes Prinzip erkannt und entwickelt. Die kompositorischen Bezüge der späten Gemälde von Willy Baumeister sind, trotz ihrer Schlichtheit, ohne Farbgestaltung nicht aufzufassen, was leicht am Vergleich einer schwarz-weißen Reproduktion mit dem Original festzustellen ist. Schlichter noch ist das ‚Schwarze Quadrat‘ von Kasimir Malević als Quadrat nichts, als schwarzes Quadrat aber richtungweisend für die Moderne. Nun sind diese besonders in die Augen springenden Beispiele alle historisch nach Kant entstanden, aber schon zu seiner Zeit war dasselbe Prinzip des Zusammenhangs von Form und Farbe in der Renaissance und mit Akzent auf dem Kontrast im Barock durchgeführt worden. Die Moderne hat nur das Prinzip der Darstellung selbst zum Gegenstand darstellender Reflexion erhoben. Kant will den Sinnenreiz dem Geschmacksurteil fern halten, weil dieses vorzüglich auf Erkenntnis bezogen sein soll. Es soll die reine Form der Zweckmäßigkeit erfassen, um diese von der Vorstellung des Weltschöpfers unabhängig zu machen. Es gelingt Kant aber nicht, das an einem natürlichen Beispiel vorzuführen, weil die Natur keine Planzeichnungen, keine Partituren anfertigt. Die Sinnenfreiheit, beziehungsweise die abstrakte Sinnlichkeit des Geschmacksurteils ist ironisch nur an Modellen vorzuführen, die ganz auf bestimmte sinnliche Erfahrung – und deren vernünftige Rezeption – abstel244

Vgl. KdU, V 222.

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len. Kant gerät damit eher unbeabsichtigt in die Kunsttheorie, die ihm, weil sie Funktion reiner Erkenntnistheorie sein soll, mißrät. Allerdings ist der Grund, der Kant dazu treibt, wohl auch der, daß die Zweckmäßigkeit der Welt sich nur in Analogie zur Kunst denken läßt. Das aber liegt daran, daß die Zweckmäßigkeit der Welt schon das Ergebnis kollektiver Naturbearbeitung, von Zivilisation, ist. Das Verhältnis zur Natur bleibt problematisch. Blumen und bunte Tiere erklärt Kant zu freien Schönheiten, als wären es schon blaue Pferde. Das schmückende Ornament verwirft er als Abbruch an der Schönheit,245 die Natur aber sei zum Schmücken befugt, gerade weil sie keinen Plan habe. Der Schmuck, beispielsweise der Blume oder des Kolibri, habe nicht den Zweck, die Sinne zu reizen; man wisse nicht, wieso das so sei. Die Kunst aber, die den Schmuck nachmache, die Natur zu Zwecken einspanne, entferne sich vom Schönen. Und doch wäre ohne ihr Modell Naturschönheit gar nicht zu beurteilen. Gerade das Ornament, die Tapete, in der die Kunst der Moderne teils als Kunsthandwerk zugrunde gehen sollte, wird bei Kant zum freien Schönen.246 Gerade die Gestaltung, die mit Bildkomposition nichts zu tun hat, in der kein innerer Zweck wirkt, soll Bindeglied zwischen Natur und Komposition sein. Aus der erkenntnistheoretisch erschlossenen Zweckmäßigkeit ohne Zweck entwickelt Kant nun den gemeinschaftlichen subjektiven Grund dafür, daß über etwas, für das es keine objektive Regel gibt, dennoch anders als bloß individuell zu reden sei. Es müsse eine Idee des Schönen angenommen werden, die aber als ästhetische – nicht als begriffliche – unmittelbar als Ideal aufzufassen sei. Weil diesem aber als Vernunftbegriff doch ein begriffliches Moment zukomme, könne sein Gehalt keine freie Schönheit, die ganz zweckfrei wäre, sein. Damit kann dies kein Naturgegenstand oder bloßes Ornament sein, ebensowenig aber ein Artefakt, weil deren begriffliches Moment, ihr Zweck, gegenüber der besonderen Ausgestaltung zu unspezifisch sei. Nun gibt es nur einen absoluten Zweck – über jeden besonderen Einfluß erhaben – und dies ist der Mensch als intelligibler Zweck an sich selbst. Um diesem eine ästhetische Qualität zu verleihen, legt Kant zunächst die sogenannte ‚Normalidee‘ zugrunde, die als statistisches Mittel der physiognomischen Abmessungen aller Individuen bestimmt wird, – dies ist nicht bloß ein durchaus langweiliger Homunculus, wie Kant selbst einräumt, sondern das Monstrum der Austilgung eines jeglichen Besonderen in den Gestalten der Menschen. Daß es notwendig erscheint, so etwas vorauszusetzen, um die allgemeine Mitteilbarkeit ästhetischer Gemütszustände denken zu können, mag allerdings als Indiz des gerade realiter amorphen Zustands der ästhetischen Gemüter genommen werden. Kant läßt allerdings offen, welchen Eigenanteil die Einbildungskraft der Subjekte jeweils an dieser Idee habe: Einerseits wird die Idee als Richtmaß der Einbildungskraft wohl schon vorausgesetzt, um jene Schablone zu erstellen, denn „die größte Zweckmäßigkeit in der Construction der Gestalt, die zum allgemeinen Richtmaß der ästhetischen Beurtheilung jedes Einzelnen dieser Species tauglich wäre, das Bild, was gleichsam absichtlich der Technik der Natur zum Grunde gelegen hat, dem nur die Gattung im Ganzen, aber kein Einzelnes abgesondert adäquat ist, liegt doch

245 246

Vgl. KdU, V 226. Vgl. KdU, V 229.

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bloß in der Idee des Beurtheilenden“247 ; andererseits wird deren Gestalt doch erst durch wirkliche Erfahrung ausgemittelt, denn „ein Neger [hat] nothwendig unter diesen empirischen Bedingungen eine andere Normalidee der Schönheit der Gestalt […], als ein Weißer“248 . Wie auch immer, bestimmt das statistische Mittel eine zweckmäßige Gestalt, beziehungsweise reduziert die Mannigfaltigkeit der Gestalten auf deren zweckmäßige Grundgestalt. Die dabei unterlegten Zwecke müssen nun durchweg äußere sein. Um dies aber zu vermeiden, kombiniert Kant die Normalidee mit der Vernunftidee, „welche die Zwecke der Menschheit, sofern sie nicht sinnlich vorgestellt werden können, zum Princip der Beurtheilung seiner Gestalt macht“249 . Hierin kommt nun Kants moralphilosophische Wendung zur Sinnenwelt zum Tragen, denn offenbar soll hier die Gestalt des Ideals als zweckmäßig zum moralischen Handeln bestimmt werden. Der Kritik der reinen Vernunft zufolge läßt sich aber noch nicht einmal aus moralisch erscheinenden Handlungen der empirischen Charaktere auf ihren bestimmten Ursprung im intelligiblen Charakter schließen.250 Wie soll nun die Intelligibilität des Charakters ästhetisch am Ideal vorgestellt werden? Möglicherweise denkt Kant hier an die römische Portraitplastik, die durch die besondere Anordnung von Gesichtsfalten Auskunft über Charaktereigenschaften des Portraitierten geben soll. Dafür sprechen auch seine Besipiele „Seelengüte, oder Reigkeit, oder Stärke oder Ruhe“. Aber ein „sichtbare[r] Ausdruck sittlicher Ideen, die den Menschen innerlich beherrschen“ scheint doch auch bei „reine[n] Ideen der Vernunft und große[r] Macht der Einbildungskraft“251 ausgeschlossen zu sein. Kant zufolge gebe nun das Ideal zwar eine Vorstellung von der Harmonie von Einbildungskraft und Verstand, so daß jedes Subjekt Anlaß habe, den anderen Beistimmung zum Geschmacksurteil anzusinnen und so eine subjektive Notwendigkeit zu begründen. Diese besagt aber nur, daß jeder beistimmen solle, das heißt die Notwendigkeit ist zudem nur unter einer zusätzlichen Bedingung zu erfüllen. Diese sei die Idee des Gemeinsinnes, einer Übereinstimmung aller Subjekte in der „Wirkung aus dem freien Spiel unserer Erkenntnißkräfte“252 . Das heißt, daß alle Subjekte angesichts desselben Gegenstandes dasselbe Verhältnis von Einbildungskraft und Verstand fühlen. Dies sei aller objektiven Erkenntnis vorausgesetzt, denn wenn Erkenntnis sich allgemein mitteilen lassen soll, wenn Kooperation aufeinander bezogener Erkenntnisprozesse möglich sein soll, dann muß sich auch bereits mitteilen lassen, wo ein Objekt möglicher Erkenntnis vorliegt. Nur scheinbar ist dieser sensus communis etwas ganz Anderes als sein metaphysischer Vorgänger, der für die Vereinbarkeit verschiedener Sinnesempfindungen zuständig war,253 so daß die Empfindungen ‚weiß‘, ‚kubisch‘, ‚hart‘ und ‚salzig‘ demselben Salz247 248

249 250 251 252 253

KdU, V 233. KdU, V 234. Derartige Typbeschreibungen haben vielleicht nicht sowohl die besonderen Menschengruppen von sich selbst notwendig, als vielmehr diejenigen, die andere Menschen in solche Gruppen sortieren und dafür sie gegebenenfalls auch vermessen lassen. KdU, V 233. Vgl. KrV, B 579 Anm. KdU, V 235. KdU, V 238. Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologica, a.a.O., I qu. 87, a. 3 ad 3. Zur Funktion der Vermittlung verschiedener Sinne vgl. auch Aristoteles, Über die Seele, Hamburg 1995, 425 a. Dazu,

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korn zugeordnet werden können. Bei Kant sorgt hierfür die Rekognition im Begriff, die noch der Apprehension in der Anschauung vorausgesetzt ist. Bei Thomas von Aquin ist es noch ein Vermögen, das schon oberhalb der partikularen Sinne agiert, aber noch nicht Intellekt ist. Dieses Vermögen, das schon einen Gegenstand als Gegenstand erfaßt, obwohl er noch nicht erkannt ist, ist dadurch Bedingung der Möglichkeit dafür, daß der Gegenstand überhaupt erkannt werde. Ebendiese Funktion hat das Geschmacksurteil bei Kant und es selbst wird möglich durch den sensus communis, eine Funktion der ästhetischen Urteilskraft. Für Thomas war das zweckmäßige Verhältnis von Erkenntniskräften und Gegenstand durch die göttliche Vorsehung und die dieser folgende Anordnung des Weltganzen hinreichend begründet. Kants Versuch der Säkularisierung dessen gerät also nicht zufällig auf die Kunst als Analogon. Aber die in der freien Zweckmäßigkeit der Kunst aufgespeicherte kollektive Distanzierung der Menschen vom unmittelbaren Naturzwang ermöglicht einen avancierten Begriff der Freiheit der Menschen als Gattungssubjekte, der bei Thomas im zunehmenden Interesse für die praktische Naturbearbeitung sich abzeichnet, im Übergang vom Begriff der Arbeit als Strafe zu einem Begriff erweiterter Reproduktion sowie vom bonum omnium zum bonum commune; dieser Übergang war jedoch in dem Grundgerüst der Theologie der exitus-reditus-Bewegung zwischen Erbsünde und jüngstem Gericht theoretisch nicht erfüllbar. Kant will nun den Gedanken der Teleologie aufgreifen, ohne doch seine theologischen Konsequenzen tragen zu müssen. Hatte die metaphysische Teleologie eine unverfügbar objektive, ontologische, sein sollen, so will Kant Teleologie ganz auf den problematischen Status einer heuristischen Bedingung zurücknehmen. Sie bleibt aber unverfügbar, weil sie als notwendige Funktion der Objektivität gilt, deren Abhängigkeit von menschlichem Denken und deren Geschichtlichkeit selbst von Kant nicht explizit bemerkt werden. Ihre Erörterung aber im Zusammenhang der Kunst läßt die geschichtlichen Bedingungen der Verfügung der Menschen über ihre Zwecke und die dazu tauglichen Mittel durchscheinen, und zwar gerade dort, wo Natur als unzweckmäßig erfahren wird, in der Erfahrung des Erhabenen.

daß es sich hier nicht schon um das handelt, was modern ‚Gemeinsinn‘ heißt, vgl. Wolfgang Welsch, Aisthesis, Stuttgart 1987, 287 ff. Zu den Wurzeln des ‚politischen‘ Gemeinsinnbegriffs vgl. Christian Helmut Wenzel, Gemeinsinn und das Schöne als Symbol der Sittlichkeit, in: Reinhard Hiltscher/Stefan Klingner/David Süß (Hgg.), Die Vollendung der Transzendentalphilosophie in Kants ‚Kritik der Urteilskraft‘, a.a.O., 126ff. oder Georg Kohler, Gemeinsinn oder: Über das Gute am Schönen. Von der Geschmackslehre zur Teleologie, in: Otfried Höffe (Hg.), Kritik der Urteilskraft, a.a.O., 143ff. Beide verorten den Kantischen Begriff des sensus communis zwischen der Sinne verbindenen Funktion bei Aristoteles und der Subjekte verbindenden Funktion bei Cicero. In der grundsätzlichen ‚Unbestimmtheit‘, die ihm als Sinn im Unterschied zu reflexiven Vermögen zukommt, liegt aber bei Kant seine Funktion. Kohler betont, Kant gehe nicht vermögenspsychologisch von der Existenz eines solchen Sinnes aus, sondern wolle ihn „erklären und ableiten“ (Kohler, 144). Noch genauer wäre das Verfahren vielleicht als ‚Erschließen durch Reflexion auf ein Problem‘ bezeichnet.

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b.

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Geschichte als Grenze von Teleologie – Kunst und Bildung als negative Orte von Subjektivität: Die ‚Analytik des Erhabenen‘

Das Erhabene unterscheidet sich Kants eigener Auskunft zufolge dadurch vom Schönen, daß es in keinem Zusammenhang zur Zweckmäßigkeit der Natur stehe, sondern seine Theorie „einen bloßen Anhang zur ästhetischen Beurtheilung der Zweckmäßigkeit der Natur“254 darstelle. Eine Verbindung bestehe vorderhand nur darin, daß „beiderlei Urtheile einzelne und doch sich für allgemeingültig in Ansehung jedes Subjects ankündigende Urtheile“255 seien, daß also der subjektive Eindruck des Erhabenen mitteilbar sei, obwohl er nicht auf Erkenntnis, sondern aufs Lustgefühl bezogen sei. Allerdings bringt Kant im Zusammenhang des Erhabenen jene kulturellen Bedingungen der Naturbetrachtung in die Diskussion, die bereits in der Kritik seiner Darstellung des Schönen aufstießen.256 Die zweckmäßige Kultivierung von Natur, die bei der Betrachtung des Schönen unbemerkt zugrunde liegt, ist für die des Erhabenen notwendig vorausgesetzt, insofern das Naturobjekt, das die Einbildungskraft sprengt, nur dann zur Idee des Erhabenen führt, wenn es das Subjekt dieser Einbildungskraft nicht zu zerstören droht, wenn mithin dieses Subjekt sich in zivilisatorischer Distanz zur rohen Natur befindet.257 So wie das Naturschöne nur in Analogie zur Kunst auf die Vorstellung der Zweckmäßigkeit führt, führe nun die Kunst allenfalls in Analogie zur Natur aufs Erhabene.258 Kant bedarf hier der Vorstellung einer rohen, unzweckmäßigen Natur, um zur inneren, letztlich moralischen Größe des Subjekts überzugehen. Gleichwohl muß er diese Naturvorstellung aus Berichten oder Abbildungen zitieren, als stilisierte – ästhetische – Darstellungen, die bereits eine Reflexion auf die Unangemessenheit der Darstellung an das Dargestellte antizipieren. Insofern hat die philosophische Vorstellung des Erhabenen 254 255

256 257

258

KdU, V 246. KdU, V 244. In der Ersten Einleitung KdU, 59, hatte Kant noch eine dem Erhabenen eigene Zweckmäßigkeit als Einordnungskriterium hervorgehoben: „Gleichwohl [obwohl es keine eigne Technik der Natur, sondern eher Unzweckmäßigkeit beweise; M.St.] würde das Urteil über das Erhabene in der Natur von der Einteilung der Ästhetik der reflektierenden Urteilskraft nicht auszuschließen sein, weil es auch eine subjektive Zweckmäßigkeit ausdrückt, die nicht auf einem Begriffe vom Objekt beruht.“ Ob Kant hier schon die moralische Intention im Blick hat, bleibt offen; das Erhabene scheint einer der Begriffe zu sein, über die Kant sich bei Abfassung dieser Exposition noch nicht ganz im Klaren war; das meiste Übrige ist dagegen recht detailliert schon vorhanden. Vgl. Paul Guyer, Nature, Art and Autonomy, a.a.O. Insofern rohe Natur für die Menschen lebensfeindlich ist, kann sie nicht Maßstab von Gesellschaftskritik sein. Vgl. Peter Euler, Technologie und Urteilskraft, a.a.O., 174. – Vgl. auch Norbert Herold, Hoffnung aus der Geschichte?, a.a.O., 206: „Der Mensch könnte sich im Naturzustand gar nicht erhalten, weil die Natur willkürlich und despotisch verfährt. Schon aus Gründen der Selbsterhaltung wird die Vernunft nicht ruhen, Mittel gegen die Bedrohungen aus der Natur zu entwickeln. […] Der bestehende Zustand muß also als selbst gewollt begriffen werden. Entsprechend sind auch die Schritte zur Verbesserung selber zu tun.“ – Aus dieser, indirekten, Perspektive ist es nicht zutreffend, daß man durch die Analytik des Erhabenen „nichts über die Natur“ erfahre (vgl. Michaël Fœssel, Analytik des Erhabenen, in: Otfried Höffe (Hg.), Kritik der Urteilskraft, a.a.O., 101 und 105. Vgl. KdU, V 245.

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bei Kant ein implizit künstlerisches Moment, das der Reflex dessen ist, daß im Gefühl des Erhabenen sich das geschichtlich bestimmte Gattungsvermögen der Menschen mitteilt.259 In der ästhetischen Reflexion des Erhabenen als eben des geschichtlichen Gattungsvermögens wären die aporetischen Ansprüche des Geschmacksurteils, bis hin zum intelligiblen – das heißt moralischen – Interesse am Schönen, allenfalls einzulösen. Für Kant jedoch bleibt jede geschichtliche Bestimmung des Subjekts, schon gar als eines kollektiven, stets ein Mangel, eine empirische Beschränkung der Subjektivität. Dagegen hält er fest am Begriff des Subjekts als eines wesentlich Einzelnen, der eben dadurch, daß sein geschichtliches Potential nicht reflektiert wird, ein abstrakt geschichtlicher ist, indem er genau die beschränkte, in sich verkehrte, Gestalt von Subjektivität wiedergibt, die geschichtlich gegeben ist; aber ohne es zu meinen. Ausgehend vom Grundproblem der Kritik der Urteilskraft, der Frage, wie die Beziehung der Erkenntniskräfte auf einzelne bestimmte Objekte zu erklären sei, entsteht das Problem, daß es Objekte gibt, die, allein indem sie gegeben werden, das Vorstellungsvermögen der Subjekte sprengen. Damit erscheinen sie aber „der Form nach zwar zweckwidrig für unsere Urtheilskraft, unangemessen unserm Darstellungsvermögen und gleichsam gewaltthätig für die Einbildungskraft“260 . Anders als das Schöne, dessen Form auf die Vorstellung der Zweckmäßigkeit führte, entzieht sich das Erhabene unmittelbar dem teleologischen Zusammenhang. Soll dieser Zusammenhang aber überhaupt gedacht werden, so muß auch das Erhabene, wenigstens mittelbar, in ihn integriert werden. Stärker als beim Schönen betont Kant deshalb, daß das Erhabene nicht „irgendeinen Gegenstand der Natur“ bezeichne, sondern einen Gegenstand, der „zur Darstellung einer Erhabenheit tauglich sei, die im Gemüthe angetroffen werden kann“261 . Der Gegenstand selbst sei eben gerade nicht vorstellbar, und dies vermöchte in einem „schon mit mancherlei Ideen angefüllt[en]“262 – mithin einem geschichtlich entwickelten – Gemüt „Ideen, die höhere Zweckmäßigkeit enthalten“263 , aufzurufen. Anders als das Schöne, das ein direktes „Gefühl der Beförderung des Lebens“264 errege, sei die Auffassung des Erhabenen durch „negative Lust“265 gekennzeichnet: Es erzeuge zunächst Abneigung im

259

260 261 262 263 264 265

Zur Ästhetik des Erhabenen vgl. auch Anthropologie, VII 241: „Aber es kann und soll die Vorstellung des Erhabenen doch an sich schön sein; sonst ist sie rauh, barbarisch und geschmackwidrig. Selbst die Darstellung des Bösen oder Häßlichen (z. B. der Gestalt des personificirten Todes bei Milton) kann und muß schön sein, wenn einmal ein Gegenstand ästhetisch vorgestellt werden soll, […] denn sonst bewirkt sie entweder Unschmackhaftigkeit oder Ekel“. Kant geht hier soweit, den Geschmack als „Moralität in der äußeren Erscheinung“ zu bezeichnen, „obzwar dieser Ausdruck, nach dem Buchstaben genommen, einen Widerspruch enthält“ (VII 244). KdU, V 245. KdU, V 245. KdU, V 245f. KdU, V 246. KdU, V 245. KdU, V 245.

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Gemüt, um vermittels der Idee der Erhabenheit ein darüber hinausweisendes Gefühl der Lust zu erregen.266 ‚Gewalttätig für die Einbildungskraft‘ kann der Gegenstand einer Vorstellung nun hinsichtlich der Unfaßbarkeit seiner Größe nach oder der Bedrohlichkeit seinem Dasein nach sein, das heißt mit Kant: in mathematischer oder in dynamischer Hinsicht. Kant deduziert diese Differenz aus der Gemütsbewegung im Gefühl des Erhabenen, die anders als die bloß auf Dauer gestellte Kontemplation des Schönen den Gegenstand mathematisch auf das Erkenntnis- oder dynamisch auf das Begehrungsvermögen – nach Kant das Vermögen zur Wirklichkeit des Gegenstandes – beziehe. Das mathematisch Erhabene sei nun „das, was schlechthin groß […], was über alle Vergleichung groß ist.“267 Die Größenschätzung der Urteilskraft bezieht sich auf alle möglichen Gegenstände und auf jede ihrer Eigenschaften, so daß „wir selbst die Schönheit groß oder klein nennen“268 . Die Größe könne nun – ohne Interesse am Objekt – ein Wohlgefallen auslösen, das sich auf die Erweiterung der Einbildungskraft anläßlich des Objekts bezieht. Die Einbildungskraft setze dabei Sinnlichkeit und Vernunft – nicht wie beim Schönen, den Verstand – in ein Verhältnis, das Kant aber nicht als Spiel, sondern als Ernst bezeichnet.269 Die ästhetische Größenschätzung beruht einerseits auf der sukzessiven Apprehension des Gegenstands und andererseits auf der Komprehension des Apprehendierten zur Einheit der Objektvorstellung. Nun kann der Umfang des apprehendierten Materials derart anwachsen, daß seine Komprehension empirisch nicht mehr gelingt.270 Im Unterschied zur mathematischen Größenschätzung stößt die ästhetische notwendig an die Grenze der Reproduzibilität der Vorstellung in der Einbildungskraft, wenn bereits soviele Teile erfaßt wurden, daß die ersten der Einbildungskraft wieder entgleiten, während sie noch weitere aufnimmt. Gleichwohl verfügt die Vernunft überhaupt über die Idee des Unendlichen und vermag so die ästhetische Grenze zu übersteigen. Die endliche Sinnlichkeit wird so durch die Einbildungskraft auf die unendliche Vernunft bezogen, die die Totalität der Mannigfaltigkeit in Einheit fordert.271 Dies zeige „ein Vermögen des Gemüths an, welches allen Maßstab der Sinne übertrifft. Denn dazu würde eine Zusammenfassung erfordert werden, welche einen Maßstab als Einheit lieferte, der zum Unendlichen ein bestimmtes, in Zahlen angebliches Verhältniß hätte: welches unmöglich ist. Das gegebene Unendliche aber dennoch ohne Widerspruch auch nur denken zu können, dazu wird ein Vermögen, das selbst übersinnlich ist, im menschlichen Gemüthe erfordert.“272 Damit gelangt Kant bemerkenswerterweise gerade im ästhetischen Zusammenhang zu dem Begriff des ‚wahren Unendlichen‘, den er in der Dialektik der reinen Vernunft nicht fassen konnte. Dort blieb es bei der Vorstellung des ‚schlecht-unendlichen Progresses‘, dessen transzendierte Vorstellung zum 266

267 268 269 270 271 272

Vgl. auch KdU, V 258; 261f. Kant präformiert hier den ästhetischen Begriff der ‚Erschütterung‘, der bei Adorno zu einem zentralen Begriff wird. Vgl. Ästhetische Theorie, Frankfurt am Main 1973, 363. KdU, V 248. KdU, V 249. Vgl. KdU, V 244f. Vgl. KdU, V 252. Vgl. KdU, V 254. KdU, V 254.

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Absoluten diente. Hier jedoch kommt der Vernunft das Vermögen zu, die Unendlichkeit des Mannigfaltigen nicht progredierend, sondern durch Begriff – den Begriff der Einheit – zu denken. Allerdings ist dieser Begriff keineswegs, wie Kant meint, ‚ohne Widerspruch‘, denn er beruht auf der privativen Negation des Endlichen an ihm selbst, indem die Un-endlichkeit des ästhetischen Materials gedacht, indem also dessen definite Bestimmtheit nicht aufgehoben, sondern selbst unter eine über sie hinausweisende Bestimmung gefaßt werden soll.273 So denkt Hegel die wahre Unendlichkeit als finiten Ausdruck des Infiniten, der sein Modell an rein reflexiver Selbstbestimmung habe: Was sich nur auf sich bezieht, hat die Bestimmung, nicht endlich bestimmt zu sein, ist aber damit zugleich bestimmungslos bestimmt. Für Kant ist die Idee der Unendlichkeit Gegenstand des Gefühls des Erhabenen. Deshalb trennt er sie abstrakt von der Sinnlichkeit ab, auf deren Defizit sie doch allein bezogen wird. Die Achtung, die mit dem Erhabenen einhergehen soll, bezieht sich damit bloß aufs Vernunftsubjekt, insofern es die Schwäche des ästhetischen Subjekts überwindet; nicht aber bezieht sie sich auf das vernunftbegabte empirische Subjekt. Darauf ausgerichtet bestimmt Kant das mathematisch Erhabene als „Größe, die bloß sich selber gleich ist“, für die es keinen empirischen Maßstab gibt, als „das, mit welchem in Vergleichung alles andere klein ist“, und das letzthin „ein Vermögen des Gemüths beweiset, das jeden Maßstab der Sinne übertrifft“274 . Insofern die Anwendung der Einbildungskraft auf bestimmte Gegenstände dieses Vermögen anzeigt, kommt diesem Verhältnis der Erkenntniskräfte Erhabenheit zu, nicht dem Objekt selbst. Bloß abgeleitet – „durch eine gewisse Subreption“275 – gilt: „Erhaben ist also die Natur in derjenigen ihrer Erscheinungen, deren Anschauung die Idee ihrer Unendlichkeit bei sich führt.“276 Obwohl das Erhabene sich vom Kunstwerk dadurch unterscheide, daß ihm keine objektiven Zwecke zukämen,277 bleibt das Urteil übers Erhabene ein ästhetisches, weil es ohne bestimmte Begriffe vom Objekt auskomme und lediglich das Kontrastverhältnis von Vernunft und Einbildungskraft als harmonisch – als subjektiv zweckmäßig – vorstelle, denn dieses Verhältnis überwinde die Schranke der Einbildungskraft. In der Erhabenheit, die das Subjekt dem Naturobjekt beilege, drücke sich deshalb bloß die Erhabenheit der Vernunft über die Einbildungskraft aus. Die unwillkürlich empfundene Achtung vorm Erhabenen beziehe sich deshalb nicht – nicht oder nur durch Verwechslung – aufs Naturobjekt, sondern eben auf das Gesetz der Vernunft, zu dessen Erfüllung die Einbildungskraft unangemessen aber gleichwohl angehalten sei.278 Insofern nun die ästhetische Erfahrung des Erhabenen auf die Achtung vor der Menschheit in der eigenen Person führt, indem sie die Unendlichkeit der Vernunft zu Bewußtsein bringt, ließe sich im Anschluß an Kant sagen, daß ein vernünftiges Selbstbewußtsein nur durch ästhetische Erfahrung möglich sei. 273

274 275 276 277 278

Das spiegelt sich seinerseits anschaulich in dem terminus „Weltanschauung“ (KdU, V 254); dieser ist ebenso in sich widersprüchlich, da ‚Welt‘ kein Gegenstand möglicher Anschauung ist. KdU, V 250. KdU, V 257. KdU, V 255. Vgl. KdU, V 252f. Vgl. KdU, V 256f.

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Die Beispiele, die Kant anführt, wecken jedoch Zweifel daran, daß diese Erfahrung eine Naturerfahrung sei. So wird das ästhetische Urteil übers Erhabene, bevor seine Reinheit gefordert wird, zunächst an Artefakten, an Modellen der Architektur, vorgestellt. Wenn die Einbildungskraft beim Betreten des Petersdomes zu Rom von der Fülle der architektonischen und bildkünstlerischen Details überfordert ist, so liegt dem das Verhältnis des einzelnen empirischen Subjekts zu der geschichtlich akkumulierten technischen Erfahrung der Baumeister und Künstler ebenso zugrunde wie auch der Reichtum und die Herrschaft der Kirche, die diesen Bau ermöglichten. Der Dom ist nicht etwas schlechthin für Menschen empirisch Unfaßbares, da er von Menschen geschaffen wurde; wohl aber ist das Fassungsvermögen eines Einzelnen dem augenblicklichen Eindruck unangemessen. – Deutlicher wird dies noch an den ägyptischen Pyramiden, die Kant als „Theile, die aufgefaßt werden, (die Steine derselben übereinander)“279 bestimmt. Die Größe, die durch die Vielzahl der Steine bezeichnet wird, reproduziert auch hier die technische Erfahrung, den Reichtum, vor allem aber das Leiden der ungezählten menschlichen Individuen, die diese Steine aufeinandertürmen mußten; insofern sprengt schon jeder einzelne Stein das Einbildungsvermögen. Über Kant hinaus wäre deshalb zu sagen, daß nicht bloß hinter der ästhetischen Erfahrung des Erhabenen die Achtung vor der Menschheit in der eigenen Person steht, sondern daß diese ‚Menschheit‘ selbst die geschichtlich akkumulierte Erfahrung und Erkenntnis bedeutet, die für die jeweils lebendigen Menschen kollektiv verfügbar sind. In der ästhetischen Erfahrung des Erhabenen erkennt jedes Subjekt sich selbst als geschichtlich mit allen anderen verknüpft, es erfährt sein Gattungsvermögen; diese Erfahrung wäre durch Aufklärung bewußt zu machen.280 Die dadurch ermöglichte Achtung bezöge sich auf dieses Vermögen der Menschen, ihr gemeinsames Leben vernünftig zu bestimmen, denn zugleich mit dem Gattungsvermögen demonstriert die Erfahrung des Erhabenen die Instrumentalisierung der Kollektivität zu bloßen Privatzwecken, unter schwerster Mißachtung der Menschheit in den instrumentalisierten Personen und damit der Menschheit als solcher – weil es diese anderswo als in den Menschen nicht gibt.281 279 280

281

KdU, V 252. In diese Richtung deutet Ludwig Feuerbach, Grundsätze der Philosophie der Zukunft, Frankfurt am Main 1967, § 59: „Der einzelne Mensch für sich hat das Wesen des Menschen weder in sich als moralischem, noch in sich als denkendem Wesen. Das Wesen des Menschen ist nur in der Gemeinschaft, in der Einheit des Menschen mit dem Menschen enthalten“. Der in der herrschaftlichen Verfügungsgewalt über das Mehrprodukt der Beherrschten grundsätzlich gelegene Widerspruch von universaler technischer Weltgestaltung und partikularer Verfügung wird im bürgerlichen Zeitalter zum gesellschaftlichen Prinzip. Der gesellschaftliche Zusammenhang der Einzelnen durch ihre marktvermittelte Konkurrenz bestimmt daher auch den „technischen Charakter der Gesellschaft“ (Günter Ropohl, Technologische Aufklärung, a.a.O., 184). Will man diesen gesellschaftstheoretisch ‚radikal‘ (vgl. ebda.) erklären, steht aber nicht die, wenngleich beachtliche, Verbreitung von Waschmaschinen, Telephonen, Fernsehern und Autos (vgl. 183) – allesamt Mittel individueller Konsumtion – im Mittelpunkt, sondern die Verfügung über Produktionsmittel. Von hier aus ist auch Eulers These zu widersprechen, daß „Technologie zum neuen Allgemeinen wird“ (Peter Euler, Technologie und Urteilskraft, a.a.O., 116), wenngleich der gesellschaftlichen Funktion der Naturwissenschaften und der durch sie begründeten Technologie und Technik eine zentrale Bedeutung für die Gesellschaftstheorie zukommt. Daß ihr Zusammenhang erst die „tendentiell grenzenlose[] Kapitalisierung“ (119) hervorbringt, charakterisiert sie gerade

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Wenn Kant anschließend das reine ästhetische Urteil übers Erhabene von diesen Modellen abzieht und es bestimmt als allein demonstrabel „an der rohen Natur (und an dieser sogar nur, sofern sie für sich keinen Reiz, oder Rührung aus wirklicher Gefahr bei sich führt), bloß sofern sie Größe enthält“, weil diese Naturvorstellung nichts enthalte, „was ungeheuer (noch was prächtig oder gräßlich) wäre“282 , so läßt sich auch dies nicht ohne Voraussetzung menschlicher Geschichte denken. Eine Naturvorstellung, die nichts enthält, ‚was ungeheuer, noch was gräßlich oder prächtig wäre‘, ist nur solchen Naturwesen möglich, die nicht mehr in strikter Abhängigkeit vom Naturzwang leben. Für die unzivilisierten und unkultivierten Menschen muß an der Natur fast alles ungeheuer – nämlich zu groß, um zweckmäßig zu sein – oder gräßlich – als unkontrollierbare Bedrohung – oder aber prächtig – als Gegenstand kultischer Verehrung – erscheinen. Die Vorstellung der Natur, ‚bloß sofern sie Größe enthält‘, ist keine ursprünglich-ästhetische, sondern eine höchst sublimierte, die in der Tat voraussetzt, daß Natur gleichsam laborhaft, ohne wirkliche Gefahr, beobachtet werden kann. Diese gleichsam erhabene Aussichtsplattform ist aber in den Vorstellungsgewohnheiten manifest gewordene materielle geschichtliche Distanzierung vom unmittelbaren Naturzwang; indem nun diese Vorstellungsgewohnheit zu Bewußtsein gelangt, kann das Subjekt seiner als eines geschichtlichen Elements der Menschheit gewahr werden. Dies zu begreifen und nach der unverkürzten Realisierung des Gattungsvermögens zu verlangen, wäre Gegenstand begründeter Selbstachtung.283 Die Abstraktion der Naturerfahrung auf ihre Vorstellung, ‚bloß sofern sie Größe enthält‘, weist das mathematisch Erhabene über sich hinaus auf das dynamisch Erhabene: „Die Natur, im ästhetischen Urtheile als Macht, die über uns keine Gewalt hat, betrachtet, ist dynamisch-erhaben.“284 Um der Naturmacht ihre Gewalt zu nehmen, müssen die Menschen ihr selbst als Macht entgegentreten. Dies können sie nicht als naive vereinzelte Subjekte, sondern nur als ideell oder reell kollektives Subjekt der Prozesse von Zivilisation und Kultur, dessen Bewußtsein in den Einzelnen „ein Vermögen zu widerstehen von ganz anderer Art“285 aufzeigt. Die dem korrespondierende ästhetische Erfahrung des Erhabenen ist es, „einen Gegenstand als furchtbar [zu] betrachten, ohne sich vor ihm zu fürchten“286 , denn die Macht der Natur tritt dem Subjekt zunächst mit dem Anschein bedrohlicher Überlegenheit entgegen, der Furcht erzeugt. Das in Furcht befangene Subjekt vermöchte aber kein ästhetisches Urteil abzugeben, sondern bloß ein pathologisch induziertes. Soll die Naturmacht hingegen als erhaben erscheinen können, so muß

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284 285 286

als Kapitalbestimmung, als geschichtliches Moment der Entfaltung des Kapitalprinzips. Vgl. Karl Marx, Das Kapital, Bd. 1, MEW 23, a.a.O., Kap. 13. Daß Marx nicht auf Technik in Gestalt individueller Komsumtionsmittel, sondern ausschließlich auf Produktionsmittel eingeht, hat nicht bloß historische Gründe. Mit einer Wendung Adornos wäre die Technisierung der privaten Welt vielleicht als Verlängerung der Produktion ins Privatleben zu bezeichnen. KdU, V 253. Eine Andeutung des Zusammenhangs von Kultur und Menschwerdung findet sich in der Anthropologie, VII 321ff. Allerdings bleibt es bei Andeutungen, denn Kant hat keinen systematischen Begriff von Fortschritt; dieser ist für ihn nur durch korrespondierende Entsagung möglich. KdU, V 260. KdU, V 261. KdU, V 260.

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sie als furchtbar beurteilbar sein, ohne doch Furcht zu erzeugen. Kants Widerstandsvermögen der besonderen Art beruht durchaus darauf, daß ein Anblick „nur um desto anziehender, je furchtbarer er ist, wenn wir uns nur in Sicherheit befinden“287 . Diese Sicherheit ist Ausdruck der geschichtlich errungenen Distanz vom unmittelbaren Naturzwang, und die mit ihr verbundene ‚Erhöhung der Seelenstärke‘ ist eine Anweisung aufs Gattungsvermögen, die Achtung vor der Menschheit, deren kollektiver Kraft und deren geschichtlicher Leistung das Individuum seine Sicherheit verdankt. Der bloß technisch-praktischen Sicherheit korrespondiert der Möglichkeit nach die innere Ruhe der ‚gestärkten Seele‘, die sich im Verband mit ihresgleichen weiß. Vermittelt durch dieses Bewußtsein erweist sich selbst die ‚rohe Natur‘ indirekt als bearbeitete Natur, denn gerade die rohe Natur, indem sie nicht bloß nicht übermächtig erscheint, sondern faktisch nicht mehr übermächtig ist, ist das Resultat technischer Distanzierung vom Naturzwang. Auch deshalb ist die allgemeine Übereinstimmung im Urteil übers Erhabene nicht so einfach zu erhalten wie die im Urteil übers Schöne. Dieses nämlich betrifft nur die gewohnheitsmäßige Voraussetzung der Kulturgeschichte in der Vorstellung der allgemeinen Zweckmäßigkeit der Natur zur Erkenntnis. Das Erhabene betrifft dagegen den moralischen Kern dieser Voraussetzung, der gar nicht widerspruchsfrei gegeben ist. Das kollektive Vermögen, das die sukzessive Befreiung vom Naturzwang ermöglicht, ist in antagonistischer Gestalt realisiert, so daß nicht alle auf gleiche Weise ihre Seele gestärkt finden, so wie dagegen alle, wenn sie nur Zwecke in der Natur verfolgen, auf gleiche Weise von der Zweckmäßigkeit der Natur ausgehen müssen. Unter Herrschaftsbedingungen gilt die Befreiung vom Naturzwang primär für die Herrschenden, und zwar notwendig dadurch, daß sie für die Beherrschten nicht oder vermindert gilt. Diese werden von den Herrschenden zwischen sich und der Natur eingespannt, um für die Herrschenden die Distanz zum Naturzwang zu reproduzieren; auch dafür, daß dies technisch möglich ist, ist aber die allgemeine Zweckmäßigkeit der Natur vorausgesetzt. – Die dem Geschmacksurteil korrespondierende Zweckmäßigkeit ist insofern ein bürgerlich-ästhetisches Ideal, als in ihm Standes- und Klassenschranken überwunden scheinen. In den Naturgewalten spiegelt sich die Erhabenheit der menschlichen Gattung indes nicht für alle gleich. Im Unterschied zum Schönen scheint eine größere ästhetische und intellektuelle Bildung oder „Cultur“288 erforderlich zu sein. Die cultura animi, die Kant hier als Bedingung bloß vermutet, ist eng mit Kultur und Zivilisation überhaupt verknüpft, wie auch das ‚Erkenntnisvermögen‘, auf das Kant hier besonders anspricht: das Vermögen des Gemüts, für Ideen empfänglich zu sein, eine „Anlage zum Gefühl für (praktische) Ideen, d. i. zu dem moralischen“289 . Dieses moralische Gefühl bewirke die zur Erfahrung des Erhabenen erforderliche Distanz zur rohen Natur: „In der That wird ohne Entwickelung sittlicher Ideen das, was wir, durch Cultur vorbereitet, erhaben nennen, dem rohen Menschen bloß abschreckend vorkommen.“290 Die rohen – nicht von der Natur distanzierten – Menschen vermögen in der ästhetischen Erfahrung der Natur nicht Achtung vor der Menschheit in der eigenen Person zu erfahren, nicht ein kollektiv287 288 289 290

KdU, KdU, KdU, KdU,

V V V V

261. 264. 265. 265.

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geschichtliches Selbstbewußtsein zu entdecken, weil dies ohne Kultivierung der Natur in dieser tatsächlich nicht liegt. Das steht bei Aristoteles und noch bei Thomas von Aquin hinter der Vorstellung, die Sklaven könnten nicht oder nur eingeschränkt moralisch handeln,291 weil sie im unmittelbaren Zusammenhang mit der Natur stehen, die sie bearbeiten und zu der sie ein vermitteltes Verhältnis allenfalls durch die Herrschaft haben, die ihnen aber selbst als Naturmacht entgegentritt. Ihr Verhältnis zur Natur ist rein heteronom. Indem Kant die Empfänglichkeit fürs Erhabene auf ein natürliches moralisches Gefühl gründet, will er der Gefahr ausweichen, jene Empfänglichkeit sei bloße geschichtliche oder gesellschaftliche Konvention.292 Tatsächlich ist sie keine Konvention, sondern objektiv gegeben; aber darum hat sie nicht schon eine ontologische „Grundlage in der menschlichen Natur“293 . Vielmehr hat die moralische Natur der Menschen selbst ein geschichtliches Moment: Wie Sittlichkeit sich in der Menschheit insgesamt darstellt, hängt ab von der Stellung der Menschen zueinander und gemeinsam zur Natur. Die sittlichen Ideen sind erst aus dem Protest der auf Einheit gehenden Vernunft gegen die defizitäre Realität von Sittlichkeit zu schließen; a priori ist bloß die Form der Vernunft selbst. Dieses geschichtliche Moment der moralischen Subjektivität kann im Erhabenen erscheinen, in der Furchtlosigkeit gegenüber dem Furchtbaren. Kant aber setzt die antagonistische Erscheinung der Sittlichkeit auch hier als natürlich voraus und stürzt dadurch das Subjekt, das sich in Betrachtung der Naturmacht erhaben findet, umso tiefer in den Widerspruch, den er vermeiden wollte durch das dictum, daß man nicht bewundern könne, wovor man sich fürchte. Für das furchtlose Verhalten zum Furchterregenden hat Kant nämlich ein eigentümliches Beispiel: „So fürchtet der Tugendhafte Gott, ohne sich vor ihm zu fürchten, weil er ihm und seinen Geboten widerstehen zu wollen sich als keinen von ihm besorglichen Fall denkt. Aber auf jeden solchen Fall, den er als an sich nicht unmöglich denkt, erkennt er ihn als furchtbar.“294 Das Gefühl des Erhabenen in der bloßen Vorstellung, dem Furchterregenden Widerstand leisten zu wollen, der dann vergeblich wäre, beruht hier nicht auf der Sicherheit des Subjekts vor dem Furchtbaren – Gott – und nicht auf seiner kollektiv begründeten Überlegenheit, sondern im Gegenteil auf freiwilliger Unterwerfung. Es ist das des unter despotische Regierungsgewalt – despotisch ist diese, da es in Gott keine Gewaltenteilung gibt – Unterworfenen, der sich selbst unterwirft und an der Vorstellung, daß ein Aufstand scheitern müßte, Gefallen findet, ja gerade darin die Macht des Regenten als selbsterzeugte Vorstellung bewundert. In der Selbsterzeugung dieser Vorstellung entgeht das Subjekt aber nicht der Unterwerfung, sondern macht sich selbst zu deren Grund, statt zum Grund der sittlichen Erhebung. Kant will durch den Hinweis, daß solche Unterwerfung bloß dann das Erhabene indiziere, wenn sie nicht aus kultischer Angst, sondern

291

292 293 294

Deutlich wird dies an der Unterscheidung von Tugenden der Herrschenden und Tugenden der Beherrschten, frappant anhand der Tugend ‚Gehorsam‘. Vgl. Thomas von Aquin, Summa Theologica, a.a.O., II-II, qu. 104, sowie Aristoteles, Politik, a.a.O., 1277a f. Vgl. KdU, V 265. KdU, V 265. KdU, V 260f.

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aus Vernunftreligion erfolge,295 den Widerspruch aus dem Bewußtsein der empirischen Subjekte heraushalten, beseitigt dadurch aber keineswegs denjenigen Widerspruch, den das Selbstbewußtsein dieser Subjekte in sich selbst gerade dadurch erzeugt, daß es sich konstitutionell von ihm unverfügbaren Voraussetzungen abhängig macht. Indem Kant den Antagonismus nicht in der sittlichen Grundlage des Erhabenen aufhebt, sondern ihn umgekehrt zu deren Grund macht, wird das sittliche „Vermögen, uns als von ihr [der Natur; M.St.] unabhängig zu beurtheilen“ – die „Selbsterhaltung von ganz andrer Art“296 , mit der die moralische Selbstachtung gemeint ist – unmittelbar zur Selbstaufgabe verkehrt: Kant denkt die moralische Selbsterhaltung abstrakt als „Kraft (die nicht Natur ist)“297 . Dies ist nur soweit richtig, als Sittlichkeit kein Naturprodukt ist. Gleichwohl ist sie Resultat der Versittlichung vernunftbegabter Naturwesen in sukzessiver Auseinandersetzung mit der Natur, so daß sie ohne das naturhafte Moment dieser Wesen ihren Sinn verliert. Kant setzt sie jedoch gegen „Güter, Gesundheit und Leben“, die gegen sie „klein“, ja sogar gleichgültig erscheinen, insofern „die Menschlichkeit in unserer Person unerniedrigt bleibt, obgleich der Mensch jener Gewalt [der Natur, die unsere Moral anficht; M.St.] unterliegen müßte“298 . Die Vorstellung der Erfahrung des Erhabenen als heroische Gleichgültigkeit der moralischen Selbsterhaltung gegenüber der möglichen physischen Vernichtung ignoriert, daß diese Erfahrung die kollektive Überwindung des lebensbedrohlichen Naturzwanges gerade zum Kern hat. Für Kant steht die widersprüchliche, antagonistisch herrschaftliche Organisationsform dieser Überwindung im Mittelpunkt, die den lebensbedrohenden Naturzwang prinzipiell nur für wenige überwindet, indem sie die Vielen ihm preisgibt. Das sittliche Moment im Erhabenen vermag Kant so nur zu retten, indem er es als natürliches Gefühl deklariert. Tatsächlich ist aber das sittliche Bewußtsein ebenso Resultat der kollektiven Distanzierung vom Naturzwang. Vom bloßen Bewußtsein davon, nicht Natur zu sein, bis zum Gattungsbewußtsein von der Einheit der vernünftigen Wesen qua Vernunft, wie es Ansatzweise schon die Sophistik, konsequent aber erst die Stoa formulierte, ist es schon ein weiter Weg; ein weiterer noch ist es bis zu den moralischen Prinzipien. Diese aber sind durch Naturmächte überhaupt nicht bedroht. Naturzwang als solcher ist weder sittlich noch unsittlich; er wird es erst durch das bestimmte Verhältnis, in das die Menschen gemeinschaftlich zu ihm treten. Aus der gefahrlosen Betrachtung der Naturmächte allein kann daher auch nicht das Bewußtsein von Moral resultieren. Die Vorstellung, um der sittlichen Selbsterhaltung willen sich zerstörerischen Naturmächten preiszugeben, ist absurd, weil dazu, daß es der Selbsterhaltung bedarf, immer schon andere Menschen erfordert sind. Weil Kant die substantielle Kollektivität des Naturerlebnisses nicht erkennt, ist das Subjekt nur wieder erhaben über seine eigene Natürlichkeit, die sein intelligibles Wesen beschränke.299 295 296 297 298 299

Vgl. KdU, V 263. KdU, V 261. KdU, V 261. KdU, V 261. Vgl. KdU, V 266f., 269. In diesem Zusammenhang erscheinen dann auch furchtlose Krieger und der Krieg selbst als erhaben (vgl. KdU, V 262f.). Heideggers Vorstellung, der Grund menschlicher Freiheit liege in der Möglichkeit, das eigene Leben zu beenden, übersieht ebenso die kollektive

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Tatsächlich ist es auch nicht erhaben über die gesellschaftliche verfügte Naturgewalt, die ihm als Gewalt von Herrschaft zugefügt wird, wie an Kants Beispiel von den Pyramiden leicht zu entwickeln ist; denn in der moralischen Selbsterhaltung geht es unter, und dem kann keine Lustvorstellung korrespondieren. Erhaben sind die Subjekte dort, wo ihnen die kollektive Naturüberwindung wenigstens modellhaft erscheint, und zwar nicht in den technischen Produkten, die bloß äußerliche Bedingungen von Freiheit darstellen und insofern selbst Naturkräfte – wenngleich domestizierte – sind. Es sind Modelle der freien Tätigkeit der vom Naturzwang distanzierten Subjekte: Kunstwerke. In ihnen ist das Gattungsvermögen präsent, in dem zugleich Naturabhängigkeit und das, was nicht Natur ist, erscheint: die Darstellung, die mit Naturmaterial arbeiten muß, die aber dieses Material gestaltet und in der Darstellung die Grenzen der Darstellbarkeit reflektiert: „Erhaben ist das, was durch seinen Widerstand gegen das Interesse der Sinne unmittelbar gefällt. […] Man kann das Erhabene so beschreiben: es ist ein Gegenstand (der Natur), dessen Vorstellung das Gemüth bestimmt, sich die Unerreichbarkeit der Natur als Darstellung von Ideen zu denken. […] Diese Bestrebung und das Gefühl der Unerreichbarkeit der Idee durch die Einbildungskraft ist selbst eine Darstellung der subjectiven Zweckmäßigkeit unseres Gemüths im Gebrauche der Einbildungskraft für dessen übersinnliche Bestimmung und nöthigt uns, subjectiv die Natur selbst in ihrer Totalität, als Darstellung von etwas Übersinnlichem, zu denken, ohne diese Darstellung objectiv zu Stande bringen zu können.“300 Die Darstellung der Grenze der Darstellung ist ein wichtiges Moment moderner Kunst, die auf ihr eigenes Medium reflektiert. Darin liegt auch ihr sittliches Vermögen zur Autonomie, so daß dieser Ausdruck nicht bloß negativ die formale Ungebundenheit bezeichnet, sondern die Kunst ebenso als Element sittlicher Selbstbestimmung erschließt. Ihr – wenn sie gelingt – streng individueller, hermetischer, Charakter setzt ebenso kollektive Befreiung vom Naturzwang voraus als er anzeigt, daß diese einstweilen bloß technisch realisiert ist. Diese Anzeige hat selbst wieder sittlichen Gehalt. Daß Kant übrigens den Einwand erwägt, die reale Gefahrlosigkeit in der Begegnung mit der Naturmacht könne das Erhabene schmälern, indiziert, daß ihm die Geschichtlichkeit der Gefahrlosigkeit nicht bewußt ist. Die Möglichkeit des Widerstands gegen die Herrschaft des Naturhaften, auch in den Menschen, ist dagegen Gattungsvermögen. Proprium der Gattung ist daher auch nicht ‚ungesellige Geselligkeit‘, der Antagonismus der Einzelnen, sondern gerade das Vermögen, diesen durch gemeinsame Vernunftanstrengung zu überwinden. Für Kant aber ergibt sich die Ästhetik des Erhabenen nicht als die des Widerstandes gegen äußere Hindernisse der Sittlichkeit, sondern als deren Internalisierung, als Antagonismen der vereinzelten Subjekte. Nun habe die Vereinzelung der Subjekte zwei Momente, einmal das physische, sodann das gesellschaftliche principium individuationis. Zu kritisieren sei nun nicht das gesellschaftliche zufällige Vereinzelungsprinzip, das die Bildung sittlicher Individualität verhindert, sondern das Subjekt solle sich über sei-

300

geschichtliche Bestimmtheit des Verhältnisses der Menschen zu ihren Lebensbedingungen: Nur so erscheinen diese als uneigentliches Zeug, an das sich zu heften Unfreiheit wäre. Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., §§ 22, 27, 51. KdU, V 267f.

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ne notwendige Einzelnheit hinwegsetzen, die Hindernisse der eigenen Sinnlichkeit aus Pflicht überwinden. Diese Handlung könne Gegenstand sowohl des moralischen wie des ästhetischen Gefühls sein. Insbesondere seien Gefühle dynamischer Erhabenheit möglich, wenn etwas „durch seinen Widerstand gegen das Interesse der Sinne unmittelbar gefällt“, und „selbst wider unser (sinnliches) Interesse hochzuschätzen“301 sei. Das vernunftgewirkte moralische Gefühl, das sich hinter der Vermittlung von Idee und Sinnlichkeit in der Urteilskraft verbirgt, wird nun seiner ästhetischen Beschaffenheit nach enttarnt als Gewalt des Subjekts gegen sich selbst: Es sei nur „ächte Beschaffenheit der Sittlichkeit des Menschen […], wo die Vernunft der Sinnlichkeit Gewalt anthun muß“302 . Die Macht des Gemütes, die sinnlichen Bedürfnisse ohne Erfüllung unwirksam zu machen, wird von Kant richtig als „Aufopferung“303 bezeichnet. Dem Skandal, daß „die menschliche Natur nicht so von selbst, sondern nur durch Gewalt, welche die Vernunft der Sinnlichkeit anthut, zu jenem Guten zusammenstimmt“304 , entspricht derjenige der Bedingungen, die der Differenz von Sinnlichkeit und Sittlichkeit zugrunde liegen, indem sie den sittenlosen Mangel, der im Naturzustand den potentiellen Krieg aller gegen alle notwendig macht, im Gesellschaftszustand erhalten, obwohl er wissenschaftlich und technisch-praktisch längst obsolet geworden ist. Aufopferung – Verzicht auf Erfüllung vitaler Sinneninteressen – ist unter keinen Umständen sittlich geboten, sondern sie ist dort, wo sie geboten zu sein scheint, Indiz unsittlicher Bedingungen. Nun ist zwar das Festhalten an der eigenen Überzeugung, auch unter Vernachlässigung der eigenen vitalen Interessen, für Kant ein sittlicher Akt, nicht aber die Abwehr unsittlicher Bedingungen. Diese fiele, wenn überhaupt, in den Zuständigkeitsbereich der Politik. Deren moralische Bestimmung, als ‚moralische Gesinnung im Kampfe‘ verstanden, lebt von der Antizipation der Sittlichkeit, die sie selbst noch nicht sein kann; sie ist ausschließlich negativ bestimmt und Aufopferung angesichts des Unsittlichen kehrt sich nicht in Sittlichkeit um. Die Gewalt, die unter unsittlichen Bedingungen den Subjekten angetan wird, erscheint im Gegenteil in affirmativen Moralkonzepten verschärft transformiert in der Gewalt, die sie den Subjekten anraten, sich selbst anzutun. Die gewaltsame Unterdrückung vitaler Bedürfnisse, deren Befriedigung unter objektiven Bedingungen steht, die nicht moralisch sind, wird gleichwohl „von der ästhetischen Seite (in Beziehung auf Sinnlichkeit) negativ, d. i. wider dieses Interesse, von der intellectuellen aber betrachtet, positiv und mit einem Interesse verbunden“305 vorgestellt. Ästhetisch ist dies allemal, da Mangel Leid erzeugt. Dieses Leid bezeichnet Kant als negatives Wohlgefallen, dessen positives correspondant in der Vorstellung der leidenden Subjekte besteht, den Mangel, dem sie ausgeliefert sind, sich selbst anzutun. Das an de Sade erinnernde Verfahren, die bewußtlos herrschende Gewalt zum selbstbewuß301

302 303 304 305

KdU, V 267. Vgl. Michaël Fœssel, Analytik des Erhabenen, a.a.O., 106: „Das Erhabene ist weniger demokratisch als das Schöne, insofern es eine gewisse moralische Bildung voraussetzt, das heißt die Fähigkeit des Subjekts, von der sinnlichen Welt abzusehen.“ (Vgl. auch 118). Diese Fähigkeit würde aber nicht nur subjektiv-moralisch, sondern auch objektiv-moralisch gebildet. KdU, V 269. KdU, V 271. KdU, V 271. KdU, V 271.

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ten Prinzip zu erheben und dadurch die gesellschaftlich deformierten Sinneninteressen zu demaskieren,306 schlägt um in sein an Sacher-Masoch anklingendes Gegenteil, wenn nicht das Prinzip, sondern nur die Dominanz des Stärkeren dadurch aufgehoben wird, daß jeder die Qual sich selbst zufügen solle.307 Dieses Selbstverhältnis des Subjekts ist nach Kant als „Gefühl der Beraubung der Freiheit der Einbildungskraft durch sie selbst“308 der moralische Kern des Erhabenen. Gäbe das Subjekt sich aber nicht auf angesichts der Naturmacht, sondern würde sich des kollektiven Potentials der Menschheit bewußt, das diese Naturvorstellung erst ermöglicht, so wäre die Freiheit nicht geraubt, sondern – ohne Pathos – unendlich erweitert. Das vereinzelte Subjekt in Kants Perspektive ist in seiner Moralität jedoch durch alles Ästhetische kontaminiert, „verunreinigt“309 . Deshalb kann das Wohlgefallen am Erhabenen nur intellektuell sein und muß ästhetisch auf einem negativen Wohlgefallen beruhen, mit Ausnahme des Enthusiasmus der Überwindung der Sinneninteressen, eines ideell begründeten Affektes, der als Affekt intelligibel kein Wohlgefallen erzeugt, als ideell erzeugter aber sehr wohl ästhetisch. Vorzüglich erhaben sei daher die Affektlosigkeit der guten Gesinnung, die das Sinneninteresse – ohne Pathos – beiseitsetzt. Dem korrespondiert Kants Affektenlehre, dergemäß der „Affect von der wackern Art“310 – der gewissermaßen heilige Zorn oder die entrüstete Verzweiflung –ästhetisch erhaben sei, weil er Stimmungen erzeuge, die der Überwindung der Sinneninteressen dienen. Er vermöchte jene Furchtlosigkeit zu erzeugen, die den Krieger zum Modell des Erhabenen im Menschen qualifizieren. Kants durchweg widersprüchliche Vorstellungen zeigen an, daß die Menschen noch nicht zur Realität ihres Erhabenen gelangt sind: „Auch im allergesittetsten Zustande bleibt diese vorzügliche Hochachtung für den Krieger; nur daß man noch dazu verlangt, daß er zugleich alle Tugenden des Friedens, Sanftmuth, Mitleid und selbst geziemende Sorgfalt für seine eigne Person, beweise“311 . Sowenig ein Krieger durch Sanftmut und Mitleid bestimmt sein kann, insofern er ein solcher ist, so wenig ist ein Zustand, in dem Krieger geachtet und nicht für Mörder 306

307 308 309 310 311

Vgl. z. B. Donatien A.S. de Sade, Juliette oder Die Wonnen des Lasters, Buch 1, Köln 1995, 264ff. – Die hier angedeutete Verbindung zu de Sade unterscheidet sich eminent von jener, die in der Dialektik der Aufklärung hergestellt wird (vgl. Theodor W. Adorno/Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, in: Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 3, Frankfurt am Main 1988). Dort wird noch die Autonomie wegen der ihr attestierten Inhalts- und Ziellosigkeit mit der brutalen Willkür des Despoten oder Lustmörders identifiziert. Autonomie hat indes ein Ziel: die Wirklichkeit der vernünftigen Subjekte. Kants teleologischer Kniff dagegen, die Abweichung zur Regel zu machen, trifft sich mit de Sade, steht aber nicht im Einklang mit Kants eigenem Autonomiekonzept. Vgl. auch Günther Mensching, Hat der Marquis de Sade die Vernunft entlarvt? Zu einem Kapitel der ‚Dialektik der Aufklärung‘, in: Iwan M. D’Aprile/Joachim Gessinger/Thomas Gil (Hgg.), Transformationen der Vernunft. Aspekte der Wirkungsgeschichte der Aufklärung, o.O. 2008. – Den radikal aufklärerischen Impuls der Schriften des Marquis de Sade hat, mit den notwendigen Einschränkungen, Peter Bulthaup hervorgehoben: Artistik des Lustmords. Zu neueren deutschen Ausgaben der Schriften des Marquis de Sade, a.a.O. Vgl. Leopold von Sacher-Masoch, Venus im Pelz, Frankfurt am Main 2006. KdU, V 269. KdU, V 271. KdU, V 272. KdU, V 262.

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gehalten werden, schon gesittet zu nennen. Daß ein „Krieg […] mit Ordnung und Heiligachtung der bürgerlichen Rechte geführt“312 , werden könne, ist eine absurde Naivität, an die freilich noch jener bereits erwähnte kroatische General glaubte, der befahl, die hinterlistig innerhalb der eigenen Truppen verhafteten muslimischkroatischen Soldaten seien derart in Konzentrationslagern zu arretieren, daß man sich hinterher dessen nicht zu schämen brauche. Selbst wenn diese Soldaten dann nicht im Hochsommer in unterirdischen Benzintanks erstickt wären, hätte dies sowenig „etwas Erhabenes an sich“313 gehabt, wie der wahllose Massenmord als solcher, den ein Krieg darstellt. Das Mitleid, die verzagte Verzweiflung, die dieser Zustand der Menschheit in Anbetracht der Erhabenheit, die die Menschen zu erfahren fähig sind, in einem Subjekt auslösen können, das seine Menschenähnlichkeit noch nicht ganz vergessen hat, bezeichnet Kant hingegen als „Affect von der schmelzenden Art“314 , der Verweichlichung des Gemüts anzeige. So beweise ein „theilnehmender Schmerz, der sich nicht will trösten lassen, […] eine weiche, aber zugleich schwache Seele“315 ; – warum aber nicht eine, die das Menschsein noch nicht verlernt hat, die die objektive Unerträglichkeit des grundlosen Leidens der Menschen subjektiv empfindet, so wie das Unrecht, das an einem Ort begangen wird, an allen gefühlt werde? Kant sieht dieses Problem durchaus. Die erhabene Reaktion auf den mißglückten gesellschaftlichen Zustand sei aber nicht Anteilnahme, sondern Verzicht.316 Da Kant den Befund der bislang gescheiterten Realisierung der Idee der Menschheit wieder auf die isolierten Subjekte zurückwendet, bleibt diesen als Widerstand gegen das Unmenschliche nur die Eremitage. Wenn nun aber das Erhabene „durch allgemeine Mittheilbarkeit unter den andern ästhetischen Beurtheilungen kenntlich unterschieden ist [und] […] auch durch diese Eigenschaft in Beziehung auf Gesellschaft (in der es sich mittheilen läßt) ein Interesse bekommt“, wie ist es dann möglich, daß „doch auch die Absonderung von aller Gesellschaft als etwas Erhabenes angesehen werde, wenn sie auf Ideen beruht, welche über alles sinnliche Interesse hinweg sehen“317 ? Nicht nur die Wendung des Befundes einer unmenschlichen Menschheit aufs isolierte Subjekt erweist sich darin als Abstraktion, sondern auch die damit verbundene Bestimmung der Erhabenheit durch bloße Überwindung sinnlicher Bedürfnisse. Die selbstbestimmte Isolation von der Gesellschaft ist auch, wenn sie gegen das Bedürfnis nach Gesellschaft vollzogen wird, nichts Erhabenes, sondern der Abdruck eben der Gesellschaft im Individuum, von der dies sich abwenden will. Die Abstraktion, die es an ihr nicht erträgt, wiederholt es so an sich selbst. Die Empfindung, die nicht sich selbst unempfindlich macht – die weiche Seele – wird nach Kant unfähig zum Widerstand gegen das Böse, das freilich in ihr selbst liege. Das Mitleid – Einsicht in den Skandal der Welt – verhindert in der Tat, wie Kant 312 313 314 315 316 317

KdU, V 263. KdU, V 263. KdU, V 272. KdU, V 273, vgl. 276. Vgl. KdU, V 276. KdU, V 275.

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schreibt, die Überwindung der Neigungen, weil eine solche asketische Haltung, die Leid anrichtet und aufrecht erhält, durch jede authentische ästhetische Erfahrung als sinnlos bloßgestellt wird. Wer das Leiden anderer nicht erträgt, wird es nicht an sich selbst nachvollziehen und dadurch affirmieren. Erhaben ist nicht die Wiederholung des objektiven Widerspruchs im Subjekt, denn sie überwindet die sinnliche Schranke nur scheinhaft durch Vernunft, abstrakt. Erhaben ist die ästhetische Erfahrung der Möglichkeit der Aufhebung dieses Gegensatzes, oder wenigstens des Bewußtseins der Möglichkeit dieser Aufhebung, in dem das Gattungsbewußtsein sich über partikulare Interessen erhebt und die Unwirklichkeit der Menschheit beklagt. Die Tendenz zur Rührseligkeit, die Kant in seiner Abschätzung der Kitschromanlektüre nicht zu Unrecht moniert, ist bedingt durch den partikularen Gehalt des bürgerlichen Antagonismus, von dessen Dramatisierung im bürgerlichen Trauerspiel Karl Kraus meinte, der dramatische Knoten werde darin aus einem Jungfernhäutchen geschürzt.318 Die bürgerliche Kunst hat es erst lernen müssen, immer weiter distanzierte Darstellungsformen zu finden, bis hin zu Becketts Spielen ohne Worte. Wenn die Erfahrung des Erhabenen die Subjekte auf das Freiheitspotential des kollektiven Subjekts ‚Menschheit‘ als Überlegenheit auch der Menschheit in der je eigenen Person hinweist, so wird in der Reflexion aufs Gattungssubjekt erst der Umfang des Selbstzweckseins der Subjekte erfaßbar: „Eben das ist von dem Erhabenen und Schönen in der Menschengestalt zu sagen, wo wir nicht auf Begriffe der Zwecke, wozu alle seine Gliedmaßen da sind, als Bestimmungsgründe des Urtheils zurücksehen und die Zusammenstimmung mit ihnen auf unser (alsdann nicht mehr reines) ästhetisches Urtheil nicht einfließen lassen müssen, obgleich, daß sie jenen nicht widerstreiten, freilich eine nothwendige Bedingung auch des ästhetischen Wohlgefallens ist.“319 Die Abstraktion von der äußeren Zweckmäßigkeit des bestimmten Körpers, seiner Fähigkeit, in der Natur und gegen ihre Bedrohungen überleben zu können, hebt die eigene innere Zweckmäßigkeit des Subjekts an sich selbst hervor. Dafür ist sowohl die gelungene Befreiung vom Naturzwang durchs kollektive Subjekt vorausgesetzt, als auch, daß dies in der stilisierten Darstellung der erhabenen Menschengestalt erscheint; daß diese Stilisation – die Darstellung der Gattungssubjektivität im Individuum – nur durch Abstraktion von der empirischen Individualität möglich ist, hebt jedoch das reale Mißverhältnis von Individuum und Gattung hervor. In der sittlichen Verfassung der Gattung wäre „die Gesetzmäßigkeit der Urtheilskraft in ihrer Freiheit“320 nicht notwendig eine Abstraktion, die freie Form nicht bloß Protest gegen die Unfreiheit der realen Gestalt. Festzuhalten ist aber an Kants Generalthese, daß die ästhetische Betrachtung die Natur nicht als zweckmäßig bereitgestelltes Mittel zu fremden Zwecken auffaßt. Sie kann Natur durch ihre Betrachtung als Ausdruck der Befreiung vom Naturzwang – auch von dem ge318

319 320

Vgl. Karl Kraus, Die Büchse der Pandora, in: Heine und die Folgen. Schriften zur Literatur, Stuttgart 1986, 6 (vgl. Die Fackel Nr. 182). Hegel hat herausgearbeitet, daß der sittliche Konflikt in der klassischen Tragödie ein substantiell anderer war als in den bürgerlichen Trauerspielen. Vgl. Vorlesungen über die Ästhetik III, in: Werke, Bd. 15, hg. v. E. Moldenhauer/K. M. Michel, Frankfurt am Main 1986.536 KdU, V 270. KdU, V 270.

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sellschaftlich reproduzierten Naturzwang des Antagonismus – auffassen und darin dem Selbstzwecksein, dem Selbstbewußtsein und der Selbstbestimmung der Menschen ein ästhetisches Modell geben. Solche Natur ist aber keine ‚rohe‘, sondern schon stets ästhetisierte Natur, Kants Begriff des Subjekts als eines wesentlich vereinzelten erzwingt dagegen als ästhetisches Ideal des Erhabenen das Bilderverbot:321 Wenn das Unendliche nur durch Negation des Endlichen darstellbar sei, so sei damit implizit die Darstellung selbst aufgehoben, jede Darstellung unangemessen. Ästhetisch gesehen ist allerdings die Konsequenz dieser Unangemessenheit nicht zwingend das Tabu über die Kunst, sondern die ästhetische Reflexion auf den Widerspruch von endlicher Darstellung und dargestelltem Absoluten, wie etwa Schönberg sie in Moses und Aron geradezu exemplarisch vorführt. Die Sprachlosigkeit der Sittlichkeit und der sittliche Mangel der Sprache, in der dargestellt wird, ergeben sich dort aus Verhältnissen, deren materieller Mangel Sittlichkeit und Praxis in Konflikt führt. Schönberg löst diese Situation nicht auf, die Zerstörung des goldenen Kalbs hat kein positives Resultat, wie Kant es möchte; aber die ästhetische Erfahrung des Widerspruchs von Vernunft und Wirklichkeit demonstriert den Menschen, daß sie potentiell über diesen Widerspruch erhaben sind: In der Darstellung ist er autonom durchformt, dem ‚ewigen Gesetz des Denkens‘ unterworfen, wenngleich dies nicht, wie Schönberg formuliert, seine Erfüllung geradezu ‚erzwingt‘322 ; wohl aber bestimmt sich im gelungenen Kunstwerk die Form auch vom Material aus. Im Verhältnis beider, das im Resultat Vernunft und Gegenstand als kompatibel erweist, liegt dann durchaus ein Moment von Notwendigkeit, das die Kunsterfahrung als intellektuelle Lust bestimmt. Die ästhetische Erfahrung ist darin erhaben über die Alltäglichkeit des Scheiterns der Vernunft an der Wirklichkeit, weil in der ästhetisch reflektierten Darstellung des Künstlers dieser selbst als ästhetisches Subjekt anwesend ist: Er ist das Modell eines Subjekts, das sich reflektierend über den Widerspruch erhoben hat und so nachweislich nicht an ihm gescheitert ist, obwohl er ihn nicht zu lösen vermochte. Theoretische Kritik allein hingegen – ohne dieses Moment – steht dem Kritisierten gegenüber, mag ihm auch intellektuell überlegen sein, ist aber nicht sittlich erhaben. Worauf solche rein theoretische Kritik Anweisung gäbe, wäre Sittlichkeit ohne Menschen. Daß es sich immer schon um ästhetisierte Natur handelt, setzt sich bei Kant überall durch. Die Beispiele, die er verwendet, zitieren durchweg Berichte über Natur sowie Abbildungen und Reproduktionen von ihr, so das Eisgebirge323 oder „den Ocean bloß, wie die Dichter“324 ihn sehen. – Die ästhetische Substanz solcher Motive geht erst in der Frühromantik auf, wenn beispielsweise Caspar David Friedrich Menschen so in der Natur darstellt, daß Natur als Negation von Subjektivität erscheint: Stets sind, wenn nicht 321 322 323 324

Vgl. KdU, V 274. Vgl. Arnold Schönberg, Moses und Aron. Oper in drei Akten, Mainz u. a. 1957, 8. Vgl. KdU, 264. KdU, V 270. Michaël Fœssel, Analytik des Erhabenen, a.a.O., 103, bestimmt Kants Vorstellung von der Perspektive der Dichter als eine „ohne […] irgend eine kognitive Finalität“. Damit ist Kants Mißverständnis von Kunst präzise ausgedrückt. Die ästhetischen Naturdarstellungen, auf die Kant sich bezieht, transportieren aber immer schon die zweite Natur in Gestalt der ersten und beeinflussen so auch Kants Naturvorstellung.

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Menschen, so doch Zeichen von Kultur in den Landschaften enthalten, oder die Perspektive des Betrachters erweist sich als eine real unmögliche. Darin ist reflektiert, daß das Gefühl gegenüber der Natur eines des Menschen gegenüber sich selbst ist, – daß noch die Einsamkeit des Wanderers ein Ausdruck von Kultur ist. Es ist dann nicht die Beherrschung der Sinnlichkeit durch die Sittlichkeit, sondern die Erweiterung des subjektiven Selbstbewußtseins durch die Reflexion auf den kollektiv-geschichtlichen Charakter der Ablösung von der Natur zum Gattungssubjekt, zum kollektiven Selbstbewußtsein. Das vorübergehende Interesse für Industriemotive im Impressionismus bringt dieses Pathos auf den Punkt, an dem es zerplatzt, weil die vergesellschafteten Kräfte nun in der Wirklichkeit systematisch gegen die einzelnen Menschen gewendet werden. Die kultivierte Welt taugt nicht mehr zum ästhetischen Gegenstand. Konsequent hebt die Entwicklung der Malerei sie abstrakt auf, erschafft in der Einbildungskraft Darstellungen der Undarstellbarkeit der Welt. Damit ist es nicht die Begrenzung der Einbildungskraft, sondern ihre Erweiterung aus der Vernunftidee des Sittlichen heraus, die den Menschen ästhetische Modelle ihrer Erhabenheit präsentiert.325 – Kant zeigt nun selbst ein moralisches Interesse auch in Beziehung auf das Schöne an, das er als Resultat einer „Deduction der reinen ästhetischen Urtheile“326 entwickelt. Diese Deduktion betrifft den Nachweis der Möglichkeit der notwendigen und allgemeinen Geltung des Urteils über das Schöne. Diese Gültigkeit konnte in der Exposition lediglich als notwendige Bestimmung solcher Urteile ermittelt, nicht aber in ihrer Möglichkeit begründet werden, da diese Urteile die Zweckmäßigkeit einzelner gegebener Objekte betreffen. Die Exposition der Urteile übers Erhabene dagegen war „zugleich ihre Deduction“327 , weil diese Urteile subjektimmanent die übers Empirische erhabene Freiheit des Willens bezeichnen, die als Vermögen a priori notwendig und allgemein ist. Diese Zweckmäßigkeit fürs moralische Selbstbewußtsein, die dem Erhabenen Allgemeinheit verleiht, soll nun auch dem Schönen nachgewiesen werden, obgleich der erkenntnistheoretische Status des Schönen zunächst eher dagegen spricht, daß auch ihm praktische Allgemeinheit zukommen könnte, da es ja die zweckmäßige Zusammenstimmung der Erkenntniskräfte in Ansehung eines Naturobjekts, nicht aber in Ansehung der eigenen Vernunftideen betrifft.328 Obwohl Kant den sittlichen Zusammenhang der Zweckmäßig325

326 327

328

Da Kants Kunstbegriff produktionsästhetisch um den Begriff des Genies zentriert ist, und da das Kunstschöne in Analogie zum Naturschönen bestimmt wird, fällt ihm ein solcher Begriff von kunstgeschichtlicher Entwicklung schwer. Vgl. KdU, V §§ 47 und 49. KdU, V 279. KdU, V 280. Die systematische Stellung der Deduktion der reinen ästhetischen Urteile hebt Christian Iber angemessen hervor: Warum bedürfen Geschmacksurteile nach Kant einer Deduktion?, a.a.O., 104. Er wendet sich damit gegen die verbreitete Auffassung, es handele sich bloß um eine Zusammenfassung der Analytik des Schönen. Birgit Recki führt aus, daß die moralische Bedeutung des Schönen, bis hin zur Funktion als Symbol des Sittlichguten (vgl. KdU, V § 59), die „Eigenart des Ästhetischen“ (Die Dialektik der ästhetischen Urteilskraft und die Methodenlehre des Geschmacks, in: Otfried Höffe (Hg.), Kritik der Urteilskraft, a.a.O., 208) nicht einschränke. Ob Kant deshalb bereits „der große Kronzeuge der ästhetischen Moderne […] [der] Autonomie der Kunst“ (ebda.) sei, ist aufgrund Kants Einlassungen zum Schönen wie zur Kunst vielleicht doch zu bezweifeln. – Auch Christian Iber hebt den Autonomie-Gedanken hervor (vgl. Warum bedürfen Geschmacksurteile nach Kant ei-

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keit der Natur mit der kollektiven Distanzierung vom Naturzwang nicht sieht, setzt sich auch bei ihm ein moralisches Moment des Ästhetischen durch. Kant will den Anspruch seiner Kritik der Urteilskraft – die Verbindung von Erkenntnis und Praxis – erfüllen, indem er bereits dem für die Erkenntnis grundlegenden ästhetischen Verhältnis des Subjekts zum Naturobjekt eine praktische Implikation nachweist. Das Kernproblem dieser Deduktion besteht darin, „die allgemeine Gültigkeit eines einzelnen Urtheils, welches die subjective Zweckmäßigkeit einer empirischen Vorstellung der Form eines Gegenstandes ausdrückt“329 , nachzuweisen. Es geht nicht darum, einer Klasse von Gegenständen das Prädikat ‚schön‘ universell zuzusprechen, sondern darum, das Wohlgefallen an einem singulären Gegenstand für alle Subjekte als gültig zu behaupten.330 „Daher sind auch alle Geschmacksurtheile einzelne Urtheile, weil sie ihr Prädicat des Wohlgefallens nicht mit einem Begriffe, sondern mit einer gegebenen einzelnen empirischen Vorstellung verbinden.“331 Das Problem des einzelnen Urteils begegnet schon in der Aristotelischen Behauptung, über die Ilias ließe sich nichts mit wissenschaftlicher Bestimmtheit sagen. Gleichwohl hat er diese unmögliche Rede in der Poetik geführt. Dort ist keineswegs das Instrumentarium der Formanalyse der Grund des gemeinschaftlichen Urteils über die Kunstwerke, sondern es ist einesteils die Lust an der Nachahmung, andernteils das Jammern und Schaudern, das eine gelungene künstlerische Darbietung im Betrachter erweckt. Damit ist nicht ein affektives bloß subjektives Verhältnis zum Werk gemeint, sondern eine reflektierte ästhetische Erfahrung, die Aristoteles „Reinigung der Affekte“332 nennt; nicht eine Eliminierung der Affekte – ‚Charakterstärkung‘ –, sondern eine Reflexionsform des Affekts, die zwischen Sinnlichkeit und Idee vermittelt.333 Damit kommt ihr teils die Funktion zu, die Kant dem Erhabenen zuteilt, bezogen aber aufs Schöne. Das Schöne – die ästhetische Form – erschüttert in der griechischen Tragödie und im Epos, weil in ihnen dem Subjekt seine zivilisationsgeschichtliche Bedingtheit vorgeführt wird: Es begreift sein Dasein als Resultat brutaler Gewalt, sein zweckmäßiges Verhältnis zur Natur als Resultat der Ablösung vom Naturzwang, der als Willkür der Götter in den sprachlichen Kunstwerken präsent ist. Die kontemplative Vorstellung des Schönen bei Kant setzt einen Stand der Zivilisation voraus, in dem die Herausarbeitung aus dem Naturzusammenhang schon Vorgeschichte geworden ist, so daß technische und moralische Praxis schon als getrennt erscheinen und nicht ohne Schwierigkeit wieder vereinbar sind.

329 330 331 332 333

ner Deduktion?, a.a.O., 110). Die begriffliche Unabhängigkeit oder Unabhängigkeit vom Begriff, die der ästhetischen Erfahrung zukommt, ergibt sich bei Kant aber zunächst aus dem erkenntnistheoretischen Problem der Möglichkeit, die Erkenntnisvermögen vor der Erkenntnis überhaupt auf Gegenstände zu richten; dafür kann es konzeptionell kein epistemologisches Beispiel geben. Die Kunst tritt hierfür ein, weil sie es erlaubt, objektivierte Zweckmäßigkeit zu beschreiben. KdU, V 280f. Vgl. KdU, V 285. KdU, V 289. Vgl. Aristoteles, Poetik, Stuttgart 1982, 1449b. Vgl. Michael Städtler, Katharsis als Versöhnung? Zur politischen Bedeutung eines Begriffs der Ästhetik, in: Hegel-Jahrbuch 1999.

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Aus der Einzelnheit des Urteils übers Schöne ergeben sich zwei Eigentümlichkeiten dieses Urteils. Es ist wohl a priori allgemeingültig, aber nicht durch seine logische Form; und es ist notwendig, kann aber nicht bewiesen werden. In beiden Hinsichten wäre ein universaler terminus erforderlich. Das praktische Moment am Geschmacksurteil erscheint darin, daß dieses „auf Autonomie Anspruch“334 macht: Die erwartete Beistimmung soll nicht aus äußerlicher Nachahmung – Anwendung erlernter Geschmacksregeln – erfolgen, sondern aus individueller Nachfolge; das Urteil der Beistimmung muß ebenso individuell selbständig sein, wie das Geschmacksurteil selbst. Die Beistimmung erweist sich dadurch als analog einem Akt vernünftiger Willensbestimmung, dessen Grund die freie Subjektivität selbst ist, deren ästhetische Erfahrung Kant sich gleichwohl nicht anders vorstellen kann, denn als Zusammenstimmung der Freiheit der Einbildungskraft mit der Gesetzmäßigkeit des Verstandes.335 Damit ist nun nicht etwa das Zusammenwirken von Einbildungskraft und Verstand im Kunstwerk gemeint, sondern die Anweisung der freien Einbildungskraft auf Teleologie. Freie Subjektivität erfülle sich in der Vorstellung ihrer Aufhebung in höhere Zweckmäßigkeit und es ist „nicht die Lust, sondern die Allgemeingültigkeit dieser Lust, die mit der bloßen Beurtheilung eines Gegenstandes im Gemüthe als verbunden wahrgenommen wird, welche a priori als allgemeine Regel für die Urtheilskraft, für jedermann gültig, in einem Geschmacksurtheile vorgestellt wird“336 . Zwar bleibt trotz der Anweisung auf Teleologie das Geschmacksurteil ein wesentlich subjektives, dessen Allgemeinheit lediglich die „Lust, als der Vorstellung desselben Objects in jedem andern Subjecte anhängig, a priori, d. i. ohne fremde Beistimmung abwarten zu dürfen, beurtheilte“337 . Aber es ist kein individuelles Urteil. So würde es zur bloßen Idiosynkrasie. Die Subjektivität des Urteils öffnet dagegen den Weg zur Allgemeinheit, insofern das Urteil auf die formalen Bedingungen der Subjektivität reduziert werden kann.338 Damit ist die Deduktion der Möglichkeit seiner Allgemeinheit schon gegeben: Wenn die Urteilskraft auf die formalen subjektiven Bedingungen des Urteilens gerichtet sei, die alle Menschen gemeinsam haben, „so muß die Übereinstimmung einer Vorstellung mit diesen Bedingungen der Urtheilskraft als für jedermann gültig a priori angenommen werden können. D.i. die Lust oder subjective Zweckmäßigkeit der Vorstellung für das Verhältniß der Erkenntnißvermögen in der Beurtheilung eines sinnlichen Gegenstandes überhaupt wird jedermann mit Recht angesonnen werden können.“339 Vorausgesetzt ist, daß sich „Menschen ihre Vorstellungen […] mittheilen“ können, was unmöglich wäre, wenn nicht „[b]ei allen Menschen […] die subjectiven Bedingungen dieses Vermögens, was das Verhältniß der darin in Thätigkeit gesetzten Erkenntnißkräfte zu einem Erkenntniß überhaupt betrifft, einerlei“340 wären.

334 335 336 337 338 339 340

KdU, V 282. Vgl. KdU, V 287. KdU, V 289. KdU, V 288. Vgl. KdU, V 282. KdU, V 290. KdU, V 290 Anm.

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Die Funktion der kollektiven Bestimmung des Selbstbewußtseins soll der sensus communis leisten, der als „Idee eines gemeinschaftlichen Sinnes“ die Subjektivität des eigenen Urteils am Maßstab der „gesammte[n] Menschenvernunft“ auf mögliche Objektivität überprüft.341 Die aus der bloßen Erkenntnisfunktion der Urteilskraft immanent begründete Möglichkeit der Allgemeinheit des Geschmacksurteils setzt insofern Verstand und Vernunft in Verbindung, als das Verhältnis von Verstand und Einbildungskraft Anweisung auf die Vorstellung der Zweckmäßigkeit der Natur gibt, die in die Vernunft – das Vermögen der Zwecke – fällt: Zwecke in der Natur zu verwirklichen, ist möglich, wenn diese zweckmäßig ist. Mit der Realisierung von Zwecken aber wäre Interesse verbunden, das nun dem interesselos begründeten Geschmacksurteil mitfolgen müßte.342 Die Verbindung der Lust an der bloßen Form, die begriffslos ist, mit der Lust am Dasein, die ein Objekt bestimmen müßte, erfordert einen Vermittlungsgrund, der entweder empirisch in den Neigungen oder intelligibel in der Moral liegen könnte. Die empirischen Interessen am Schönen schließt Kant nun aus, mit der beachtlichen Begründung, daß diese immer gesellschaftlich vermittelt seien: Das unmittelbare Interesse sei die „Geselligkeit […] als zur Humanität gehörige Eigenschaft“343 , alles empirische Interesse an der Mitteilbarkeit von Lust gehe immer hierauf zurück. Immerhin begegnet der Ausdruck der Geselligkeit hier ohne sein notorisches proprium ‚ungesellig‘; dies hätte Kant als Indiz für die moralische Qualität ästhetischer Erfahrung nehmen können. Dagegen bestimmt er aber das empirische Interesse aufgrund der Abhängigkeit von der Gesellschaft als jederzeit zu341

342 343

KdU, V 293. Die „Maximen des gemeinen Menschenverstandes“ gehören, entgegen Kants Auffassung, durchaus hierher, denn sie demonstrieren den geschichtlichen Charakter dieser kollektiven Einheit des Verstandes: „1. Selbstdenken; 2. An der Stelle jedes andern denken; 3. Jederzeit mit sich selbst einstimmig denken.“ (KdU, V 294. Vgl. dazu Birgit Recki, ‚An der Stelle [je]des anderen denken‘. Über das kommunikative Element der Vernunft, in: Die Vernunft, ihre Natur, ihr Gefühl und der Fortschritt, a.a.O., 111ff.). Dies wären die Bestimmungen eines aufgeklärten Subjekts in einer aufgeklärten Gesellschaft. Wo aber Vorurteile Allgemeingut sind, wird das vorurteilsfreie Urteil zur Schrulle: Der Aufrichtige wird, „weil er das Böse, was einmal zum öffentlichen Gebrauch (zur Mode) geworden, nicht mitmacht […][,] als ein Sonderling dargestellt“ (Anthropologie, VII 293); wo die Menschen durch Konkurrenz überhaupt gesellschaftlich verbunden werden, versetzt man sich an die Stelle der anderen, um ihnen zuvorzukommen; wo Konsequenz im Handeln die Existenz der Handelnden bedroht, wird die im Denken korrumpiert. Deshalb kann Kant nicht die ontologische Vorstellung der unitas intellectus bemühen, die als moralische Forderung zu wenden wäre, obwohl er in wissenschaftlicher Hinsicht daran festhält: „Es ist die bloße Idee von einer Person [des Philosophen; M.St.], die den Endzweck alles Wissens sich praktisch und (zum Behuf desselben) auch theoretisch zum Gegenstande macht, und man kann diesen Namen nicht im Plural, sondern nur im Singular brauchen (der Philosoph urtheilt so oder so): weil er eine bloße Idee bezeichnet, Philosophen aber zu nennen eine Vielheit von dem andeuten würde, was doch absolute Einheit ist.“ (Anthropologie, VII 280). – Übrigens geht es Kant bei der zweiten Maxime nicht um die Berücksichtigung fremder Perspektiven und Interessen, sondern darum, „sich (in der Mittheilung mit Menschen) an die Stelle des anderen zu denken“ (Anthropologie, VII 200), sich „den Begriffen Anderer [zu] bequemen[]“ (Anthropologie, VII 228), also bloß um eine liberale Darstellung, die aber den Gedanken selbst nicht modifizieren soll. Vgl. KdU, V § 41. KdU, V 296f.

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fälliges, das keine notwendige Verbindung von Ästhetik und subjektiven Zwecken biete, um die es hier zu tun sei. Tatsächlich ist ästhetische Erfahrung durch den Prozeß der kollektiven Distanzierung vom Naturzwang nicht indirekt, sondern direkt gesellschaftlich, durch ein kollektives Interesse, bestimmt.344 Dieses ist aber nicht nur zufällig, sondern es weist ein Moment von Freiheit auf, das erst durch seine kollektive Verkehrung in die Freiheit einiger durch die Unfreiheit anderer die Trennung von gesellschaftlicher ästhetischer Erfahrung und Sittlichkeit begründet. Diese Trennung nun nicht durch fortgesetzten geschichtlichen Prozeß zu überwinden, sondern sie in einem Interesse a priori als per se überwindbar zu fassen, dient das ‚intellektuelle Interesse am Schönen‘345 . Hiervon bleiben allerdings Kunstwerke generell ausgeschlossen, weil sie „die Eitelkeit und allenfalls gesellschaftliche Freuden unterhaltende[] Schönheiten“346 seien. Die Gesellschaftlichkeit lasse das Kunstwerk hinter die Naturschönheit zurücktreten, obgleich es „der Form nach“347 – also doch wohl hinsichtlich seiner Schönheit – sie übertreffe. Dies müßte Grund genug zum Zweifel an der Verfassung der Gesellschaft sein, nicht aber sowohl dazu, in dem Naturliebhaber „eine schöne Seele voraus[zu]setzen, auf die kein Kunstkenner und Liebhaber um des Interesse willen, das er an seinen Gegenständen nimmt, Anspruch machen kann“348 . Mehr noch behauptet Kant, daß Kunstinteresse keinerlei moralisches Denken anzeige, wogegen „ein unmittelbares Interesse an der Schönheit der Natur […] jederzeit ein Kennzeichen einer guten Seele sei“349 ; dies gilt, sofern das Interesse sich bloß auf die Form, nicht auf die Sinnenreize bezieht, also ein Interesse darstellt, das nicht vitaler Natur ist. Das allerdings hätte das Kunstwerk mit dieser Naturästhetik gemein: Zwar spricht es Sinne an, aber die Neigung der Sinne zum Kunstwerk hat keine vitale Funktion, wie eine solche in der Neigung zur Natur liegt und in der zur magischen Kunst noch vorgestellt wurde. Auch darin bewiese sich der sittliche Charakter der Kunst. Kant jedoch parallelisiert dem intellektuellen Wohlgefallen am Schönen in der ästhetischen Urteilskraft ein intellektuelles Wohlgefallen am moralischen Gesetz in der intellektuellen Urteilskraft, das gleichwohl ein Interesse an seinem Gegenstand hervorbringe. Tatsächlich ist das moralische Gesetz, Kants eigener Herleitung zufolge, als positive Wendung der negativen Freiheit immer schon wesentlich reflektiertes Interesse, nämlich die durch Reflexion begründete Vorstellung der Abwesenheit pathologischer Handlungsgründe. Das Interesse im moralischen Bewußtsein geht deshalb nicht erst nachfolgend, sondern negativ schon primär auf die objektive Realität der Moral. Diese geforderte Realisierung ist nur in der Natur, unter Naturbedingungen, möglich. Deshalb, 344

345 346 347 348 349

Das scheint in einer Formulierung Kants aus der Anthropologie durch: „Er [der Geschmack] ist also ein Vermögen der gesellschaftlichen Beurtheilung äußerer Gegenstände in der Einbildungskraft. — Hier fühlt das Gemüth seine Freiheit im Spiele der Einbildungen (also der Sinnlichkeit); denn die Socialität mit andern Menschen setzt Freiheit voraus, – und dieses Gefühl ist Lust.“ (VII 241). Vgl. KdU, V § 42. KdU, V 300. KdU, V 299. KdU, V 300. KdU, V 298.

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so Kant, besteht ein moralisches Interesse an Indizien der moralischen Zweckmäßigkeit der Natur, ihrer Angemessenheit an unsere Zwecke, die eben nur in der Auffassung des Naturschönen erkennbar wären. In der Notwendigkeit der Realisierung der Moral in der Natur erweist sich die technisch-praktische Realisierbarkeit als notwendige Bedingung moralisch-praktischer Realisierung. Die Verschränkung von technischer und moralischer Praxis, von Zivilisation und humaner Kultur erscheint aber im Kunstwerk, nicht in der Natur, weil in jenem die kollektive Distanz zur Natur, das erhabene Moment am Schönen, erscheint, das in dieser nur abgeleitet von der Kunst aufzuweisen wäre. Was das Naturschöne an ihm selbst auszeichnet, ist allenfalls ein Moment von Zwecklosigkeit, nicht Zweckmäßigkeit. Gerade in dieser Hinsicht jedoch mögen auch die Blütenblätter eines Gänseblümchens auf die Realisierbarkeit von Moral Anweisung geben, wie Kants Pfeffergartenbeispiel zeigt: „Marsden in seiner Beschreibung von Sumatra macht die Anmerkung, daß die freien Schönheiten der Natur den Zuschauer daselbst überall umgeben und daher wenig Anziehendes mehr für ihn haben: dagegen ein Pfeffergarten, wo die Stangen, an denen sich dieses Gewächs rankt, in Parallellinien Alleen zwischen sich bilden, wenn er ihn mitten in einem Walde antraf, für ihn viel Reiz hatte; und schließt daraus, daß wilde, dem Anscheine nach regellose Schönheit nur dem zur Abwechselung gefalle, der sich an der regelmäßigen satt gesehen hat. Allein er durfte nur den Versuch machen, sich einen Tag bei seinem Pfeffergarten aufzuhalten, um inne zu werden, daß, wenn der Verstand durch die Regelmäßigkeit sich in die Stimmung zur Ordnung, die er allerwärts bedarf, versetzt hat, ihn der Gegenstand nicht länger unterhalte, vielmehr der Einbildungskraft einen lästigen Zwang anthue: wogegen die dort an Mannigfaltigkeiten bis zur Üppigkeit verschwenderische Natur, die keinem Zwange künstlicher Regeln unterworfen ist, seinem Geschmacke für beständig Nahrung geben könne.“350 Hier erscheint Natur negativ, als noch nicht bearbeitete, als noch nicht menschlichen, technischen, ihr heteronomen gesellschaftlichen Zwecken unterworfene. Die Freude daran, daß etwas noch nicht domestiziert ist – wie auch im Beispiel von der Kunstblume deutlich wird, die nach Entdeckung der Künstlichkeit der Verachtung verfallen müsse – daß etwas in seiner unmittelbaren Zwecklosigkeit fortbestehen darf, ist vielleicht auch Ausdruck der verborgenen Trauer über die eigene Verwobenheit in heteronome Zwecke und weist so auf ein Subjekt, die mögliche Autonomie eines menschlichen Individuums, hin. Das gilt schon für die Betrachtung der rohen Natur, deren Erhabenheit in der Negation von Domestizierung gründet; aber weder Trauer noch Freude sind als Empfindungen angemessene ästhetische Ausdrücke praktischer Subjektivität, noch wäre Natur ein passendes Material. Kants Vorstellung der Anweisung auf Sittlichkeit setzt der Sache nach durchaus ein moralisch gebildetes Gemüt voraus. Sonst müßte er von einer Anlage zur moralischen Gesinnung reden. Das hieße zwar nicht, daß die an der Natur uninteressierten Menschen keine moralische Anlage hätten, aber doch, daß es Menschen ohne solche Anlage geben könne, von Natur verworfene. Wird das Naturschöne nicht als Individualempfindung, sondern als negativ kollektiv vermittelte verstanden, ergibt sich dieses Problem nicht. 350

KdU, V 243.

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A fortiori gilt deshalb jener Hinweis auf die subjektive Möglichkeit von Autonomie in der Betrachtung von Kunstwerken, denn in diesen – sofern und soweit Authentisches in ihnen ist – ist Freiheit, wie verhalten und verstellt auch immer, schon als subjektives Prinzip zur Objektivität gebracht worden. Darin kann sie eine Ahnung von Freiheit bieten, auch unter unfreien Bedingungen, wenn es ihr gelingt, die durch solche Bedingungen geschliffene Erfahrung zu verstören und in der ästhetisch gestalteten verstörenden Erfahrung die Erinnerung an die menschliche Geistfähigkeit und mit ihr an die Fähigkeit zur intellektuellen Resistance freizulegen.351 Den Kern dieser negativen Erfahrung von Freiheit als Modell menschlicher Praxis – der reflexiv auf sich selbst bezogenen, der erkennend und technisch auf Natur gerichteten, der politisch und moralisch auf einander in der Geschichte ausgehenden – zu entfalten, bleibt Aufgabe einer kritischen Philosophie.

351

Vgl. Helmut Lachenmann, Zum Problem des Strukturalismus, in: Musik als existentielle Erfahrung, a.a.O., 90.

VI Mauerschau. Résumé und Ausblick

Vom Subjekt ist heute kritisch zu reden. Dieser Satz, von dem die Untersuchung ausging, kann jetzt genauer, in drei Bedeutungen, gefaßt werden. Er bedeutet sowohl, daß vom Subjekt nur mehr kritisch zu reden sei, als auch, daß diese Rede möglich ist; die Philosophie verfügt über die Mittel zu einem kritischen Subjektbegriff. Schließlich ist diese Rede aber auch notwendig, denn außerhalb ihrer droht der Subjektbegriff sinnlos, zur bloßen Beschwörungsformel, zu werden; den Zweifeln, die am Prinzip der Subjektivität geäußert wurden, korrespondiert die Erfahrung, daß menschliches Denken und Handeln in keinem sinnvollen Verhältnis zu diesem Prinzip theoretischer und praktischer Selbstbestimmung steht. Die Subjekte scheinen so sehr durch die äußeren Bedingungen ihres Denkens und Handelns bestimmt zu sein, daß sich von der Einheit dieses Denkens und Handelns nur ein relativer, aus der Erfahrung bezogener, Begriff bilden lasse. Dieser aber ist nicht der von Subjekten, sondern etwa der von Agenten oder Aktanten, deren Denken und Handeln sich strukturell beschreiben, aber nicht prinzipiell begründen lasse. Das beschränkt nicht nur die Erklärung, sondern negiert auch die Möglichkeit selbstbestimmter Praxis in deren Kern. Subjektivität ist aber in einem kritischen Begriff ihrer selbst zu fassen, der in einem Punkt über den kritischen Weg, den Kant allein noch offen sah, hinausweist. Kant war es darum gegangen, daß die Vernunft sich selbst der Kritik unterziehe, daß sie durch kritein, Unterscheiden, in sich selbst die Vermögen zur theoretischen und praktischen Urteilsbildung unterscheide hinsichtlich ihrer Gegenstandsbereiche. Diese waren ihrerseits von der Vernunft zu unterscheiden, so daß schließlich sowohl die subjektiven wie die objektiven Begriffe als transzendentale, negative, Reflexionsbegriffe anzusehen waren. Darüber hinaus muß es dem kritischen Subjektbegriff darauf ankommen, daß Subjekte sich in der Bestimmung ihrer Subjektivität der Bedingungen dieser Bestimmung zugleich bewußt bleiben. Diese Unterscheidung kann nicht eine abstrakte sein, die Subjektivität als festen Kern in sich und die Bedingungen als eine gegebene äußere Welt differenzierte. Ebensowenig freilich kann die Subjektivität selbst vorab als intelligibler Grund ihrer Welt gelten. Die kritische Unterscheidung geht vielmehr darauf, Subjektivität als in sich selbst objektiv

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bedingte zu begreifen, in sich Bedingungen zu unterscheiden, ohne diese als bloß zufällige und äußerliche ablegen zu wollen. Umgekehrt gilt es, diese Momente, in denen Objektivität bestimmend ins Subjekt hineinragt, ihrerseits als Einheiten von Objektivität und Subjektivität zu begreifen: Die Bedingungen, denen es sich ausgesetzt sieht, sind als geschichtlich gewordene selbst mit Subjektivität durchdrungen, und dies mit einer solchen, die schon ihrerseits keine reine gewesen war. Der eigenartig zerrüttete Zustand moderner Subjekte, die ihre eigene Abhängigkeit zelebrieren in der Vorstellung von einer Welt sachlicher Zwänge, ist keine bloße Illusion, sondern Ausdruck der Geschichtlichkeit des Verhältnisses von Subjektivität und Objektivität. Eine Illusion hingegen wird dies sowohl in einer Theorie, die positivistisch bloß die Erfahrung analysiert, als auch in der Vorstellung, reine Subjektivität als intelligiblen Hort der Selbstbestimmung darstellen zu können. Abgesehen von den klassischen erkenntnistheoretischen Schwierigkeiten, die damit verbunden sind, verkennt das Freiheitspathos dieser Vorstellung die konstitutive Funktion, die historische und gesellschaftliche Bedingungen für die realen Subjekte und ihr Selbstbewußtsein haben. Der Schluß auf Subjektivität, die jedem menschlichen Akt, insofern ihm ein intelligibles Moment innewohnt, zugrundeliegt, trifft nur dann etwas, wenn er vom Bewußtsein der eigenen Bedingtheit begleitet ist, so wie dieses Bewußtsein nur im Bewußtsein der eigenen Subjektivität möglich ist. Die Geschichte, in deren Verlauf die menschlichen Subjekte das wurden, was sie gegenwärtig sind, ist durch keinen subjektiven Akt der Befreiung abzuschütteln. Die Freiheit, die meinte, alles hinter sich lassen zu können, wäre gleichsam der Rückgang in einen geistesgeschichtlichen Naturzustand, in dem die selbstbewußte Pose des Befreiten von der Drohgebärde des Herrschers nicht zu unterscheiden wäre. Was im vollen Sinn Subjektsein, Menschsein, heute noch sein könnte, wäre Selbstbestimmung im Bewußtsein der Bedingtheit und im Bewußtsein auch der Verbundenheit gegenüber der eigenen Geschichte, die kein Äußerliches ist. Deshalb begann die Untersuchung mit der Kommentierung von Kants Geschichtsbegriff, der von dem Bedürfnis gezeichnet ist, gegen die allfällige Erfahrung ein kollektives Subjekt der geschichtlichen Entwicklung ausfindig zu machen. Daß die Menschen gerade dort, wo sie die im Rückblick am deutlichsten sichtbaren sittlichen Fortschritte machen, in der Geschichte, zugleich einander auf grausamste Weise mißhandeln, kann vor der theoretischen Forderung nach Einheit der Vernunft nicht bestehen. Diese Einheit, ein durchaus erkenntnistheoretisches Desiderat, findet bei Kant ihr objektives Korrelat in der auf lange Sicht sich durchsetzenden Vernunft in der Natur. Diese Hypostase wird freilich, wie alle Kantischen Hypostasen, mit der Einschränkung versehen, sie nur regulativ zur Erkenntnis des Gegenstandes heranzuziehen, so als ob es sie gäbe, aber ihr keine konstitutive Funktion für den Gegenstand selbst zuzuweisen. Grundsätzlich läßt dieses Verfahren, einen Gegenstand durch ein Prinzip zu erklären, von dem man weiß, daß man von ihm nichts wissen kann, große Zweifel offen. Es dient dem Subjekt, die Einheit der eigenen Erfahrung zu erhalten. Das leistet es, solange es nicht zu sich selbst in Widerspruch gerät, also kategorial problematisch ist. Dadurch wird es aber zu einem rein formellen Gedankenspiel, das letztlich nichts leistet, außer eben der Erhaltung des Bewußtseins der Einheit der Erfahrung. Daß eine solche Operation angesichts der historischen Erfahrung nötig ist, um deren Diffusion zu bändi-

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gen, spricht aber zuallererst gegen die historische Erfahrung selbst, mit der die Subjekte sich nicht identifizieren können, ohne an ihrer Subjektivität irr zu werden. Die Hypostase ist dafür index falsi. Sie ist, insofern sie den Mangel an Vernunft in der historischen Erfahrung aufheben soll, ihrer Form nach Hypostase dieses Mangels. So ist sie einerseits die notwendige begriffliche Bedingung, um an der praktischen Idee von Selbstbestimmung wenigstens theoretisch festhalten zu können. Aber andererseits, unter der Voraussetzung des Falschen, das sie anzeigt, gerät sie zur eigenen Bestimmung in Widerspruch. Die bloße Vorstellung einer Naturabsicht schon hebt die Denkbarkeit praktischer, gar kollektiver, Subjektivität auf – und damit diese selbst. Das ist der adäquate Ausdruck des in sich widersprechenden Unternehmens, unter Bedingungen der Unfreiheit Akte aus Freiheit zu vollbringen. Diese Form hat jeder Befreiungsakt, jeder nicht nur marginale sittliche Fortschritt. Kant hat die Lösung im prozeduralen Fortschritt, in der Reform, gesehen, die letztlich auch den Gegensatz des ethischen zum juridischen Gemeinwesen überbrücken soll. Damit aber gerät ihm das kollektive historische Subjekt zu einer Kirche auch in dem Sinn, daß es wieder der Als-ob-Hypostase seiner sittlichen Konstitution bedarf. Daß die Geschichte der Menschen real in der Form von Gewalt, zumeist kriegerischer, verlaufen ist, hat Kant mit Abscheu notiert. Der spekulative Versuch, die Einheit subjektiver Erfahrung zu wahren, weist der historischen Erfahrung nicht nur unversehens höhere Zweckmäßigkeit zu, sondern führt ebenso zu dem Anspruch, dem Krieg rechtliche Formen zuzuordnen. Er soll sich denken lassen. Implizit drückt sich darin die Einsicht aus, daß die äußeren Bedingungen der subjektiven Erfahrung als deren integre Bestandteile gedacht werden können müßten. Insofern das Recht auf die vollkommene Realität der Rechtsidee im Weltbürgerrecht ausgerichtet ist, kommt den Staaten, als juridischen Einheiten, in gewisser Weise historische Subjektivität zu. Wie sie ihr gerecht werden soll, bleibt bei Kant offen: Der Völkerbund ist nicht bloß ein stagnierender Zustand, in dem die Staaten voneinander unbehelligt so bleiben können wie sie sind, sondern er ist konstitutiv offen für die Regression in den völkerrechtlichen Naturzustand; der Weltbürgerstaat hingegen ist eine Idee, die Kant für unrealisierbar hält. Der eigentümliche Stillstand hat seinen Grund im Staatszweck. Staaten verbürgen die privaten Rechte der Bürger, sie sind wesentlich konservative Einrichtungen, negativ bestimmt gegen den Rückfall in den Naturzustand. Eine progressive, etwa moralisch begründete, Tendenz kommt ihnen nicht zu. Allenfalls können sie innerlich durch einen politisch aufgeklärten Monarchen durch Reform in diejenige politische und rechtliche Gestalt überführt werden, die ihrem den bürgerlichen Zustand bewahrenden Zweck am besten entspricht: die Republik. Im Privatrecht indes, der rechtlichen Verfassung der Gesellschaft, deren politische Form der Staat ist, scheint die objektive Grundlage der Schwierigkeit auf, geschichtliche Erfahrung mit der subjektiven Einheit der Erfahrung zu vereinen. Kants Begründung des privaten Eigentums scheitert in mehreren Anläufen; jedesmal wieder muß er einräumen, daß es prinzipiell ausgeschlossen sei, daß ein einseitiger Willkürakt, wie jener der ursprünglichen Erwerbung, eine allseitige Verbindlichkeit erzeuge, wie die, daß alle anderen ihren Ausschluß vom Gebrauch einer privat angeeigneten Sache anzuerkennen hätten. Dennoch beruht die Rechtslehre auf der Möglichkeit, ja Notwendigkeit dieser Form des Eigentums. Sie überführt damit den nicht-rechtlichen Erwerb im Naturzu-

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stand, der kaum rückwirkend als Antizipation von Recht bestimmt werden kann, in eine Rechtsform, die lauter um Eigentum konkurrierende Privatpersonen enthält und durch die Regulierung von deren Konkurrenz im Grunde einen bürgerlichen Naturzustand stiftet, der die ungesellige Geselligkeit, die Kant zufolge Motor der Geschichte sein sollte, auf Dauer stellt. So entsteht der eigentümliche Stillstand, dessen Erfahrung in neuerer Zeit zu Zweifeln an der Subjektivität der Subjekte geführt hat. Die Rechtslehre ist ebenso ein Versuch, Erfahrung mit dem Selbstbewußtsein zu vereinen, und zwar indem der moralisch zu bestimmenden Freiheit ein Anwendungsgebiet erschlossen wird. Allerdings wird die Absicht, das Recht aus der Einheit der praktischen Vernunft zu begründen, was nur aus dem Prinzip des Sittengesetzes möglich wäre, schon bewußt in der Einleitung fallengelassen. Die Konkurrenz der Eigentümer läßt keine moralisch – das heißt strikt – allgemeine Gesetzgebung zu, sondern allenfalls eine komparativ allgemeine. Das Recht bezieht sich auf Sphären äußerer Freiheit. Die Moralphilosophie hatte zur Herausbildung des kategorischen Imperativs von allen empirischen Bestimmungen des Handelns absehen müssen. Die Einheit des moralischen Selbstbewußtseins in der immanenten Gesetzförmigkeit der Maximen scheint mit keiner realen Handlung kompatibel, Kants Beispiele nehmen sich für den empirischen Blick entsprechend befremdlich aus. Nicht zufällig wird das Lügenverbot bis heute immer wieder als Provokation wahrgenommen. Allerdings gelingt es Kant, gegen alle Erfahrung, praktische Subjektivität im Kern zu denken: als bedingungslose Autonomie, recht- und pflichtbegründend zugleich. Und es ist hinzuzufügen: Es gelingt ihm nur gegen die Erfahrung.1 Allerdings gehört dieser Begriff, wie der der Einheit der Apperzeption, zu den wenigen, die die Einheit des Subjekts gegen seine Erfahrungen festhalten, ohne Hypostase zu sein. Die theoretische wie die praktische Subjektivität findet jedes Subjekt durch kritische Vernunft in sich selbst, auch wenn es nie eine korrespondierende Erfahrung macht. Der Anspruch auf Autonomie wie auf Einheit des Selbstbewußtseins – darauf, an der Welt nicht irr werden zu wollen – widersteht der entgegenstehenden Erfahrung aus eigener Kraft; die Notwendigkeit, diese Begriffe noch einmal kritisch zu wenden, besteht darin, daß sie eben nur gegen die Erfahrung zu erzeugen sind. Sie dürfen darum aber nicht gegen die Erfahrung verselbständigt werden; Kants Tendenz hierzu schlägt sich in den aporetischen Versuchen nieder, ihnen Gegenstände zuzuordnen, das in sich zurückgegangene Subjekt wieder auf Natur zu beziehen. Dazu bedarf es, in der Linie des Descartes’schen Programms immer wieder einer, freilich transzendental verhaltenen, Variante des Gottesbeweises. Es muß bewiesen werden, daß das Subjekt mit der Welt, aus der es durch lauter Negationen abgezogen wurde, überhaupt noch gesetzmäßig vereinbar ist. Für diese Gesetzmäßigkeit kann es selbst aber nicht einstehen. Aber sowohl in der praktischen wie auch in der theoretischen Philosophie gibt es Hinweise, an die sich ein in sich praktisch vermittelter Subjektbegriff anschließen läßt. Ein Modell, gleichsam ein intelligibler Testfall, für den kategorischen Imperativ ist die Vorstellung einer vom Subjekt selbst verfertigten gesetzmäßigen Natur, an die die Frage zu richten sei, ob man in ihr könnte leben wollen. Die darin verborgene Figur einer 1

Vgl. auch Christine M. Korsgaard, Two arguments against lying, in: Creating the Kingdom of Ends, a.a.O.

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zweiten, subjektiven oder gesellschaftlichen, Natur eröffnet eigentlich erst das Feld der Praxis: Die reine praktische Vernunft kann mit sich selbst einstimmig sein – das heißt gesetzmäßig bestimmt sein – nur dann, wenn sie die Bedingungen, unter denen sie ihre Handlungen bestimmt, selbst auch mitbestimmt. Dem entspricht es in der theoretischen Philosophie, daß die in der transzendentalen Deduktion der Kategorien ungeklärte Frage, wie nun die a priori konstituierte Vernunft auf partikulare Erfahrungsdaten soll zugreifen können, im Kontext der Grundsätze und des Schematismus letztlich an die Urteilskraft verwiesen wird. Auch hier werden die von Kant aufgeworfenen, den Idealismus antreibenden, Probleme klassischer Subjekttheorie nicht positiv lösbar, der Gegensatz der einander bedingenden Seiten von Subjekt und Objekt nicht vermittelbar. Das Selbstbewußtsein muß sich in der Negativität, in der sein aporetischer Begriff erschlossen ist, festhalten. Nur soweit die Objektivität selbst durch – geschichtliche – Praxis gestaltet ist, ist Vernunft in der Welt und nur soweit hat subjektive Vernunft objektive Realität. Auch Fichtes Verschränkung von Subjekt und Objekt durch Praxis mangelt das Geschichtliche. Die Tathandlung des Setzens ist intelligible Tat, nicht gegenständliche Tätigkeit von Einzelnen, sondern Tat der Subjektivität als solcher. Dadurch wird die Objektivität unmittelbar jener konform, als System, gesetzt, und die Grenze, die das Objekt der Tat bieten soll, ist, wie Hegel gesehen hat, keine trennende, sondern eine verbindende. Dagegen ist ebensowenig ein empiristisches Modell der Begriffsgenese als Wiederspiegelung und Verallgemeinerung zu verteidigen. Es ist an dem Gegensatz der Momente des Allgemeinen und Besonderen festzuhalten, gegen alle Aufhebungstendenz zugunsten eines der beiden ebenso wie zugunsten ihrer absoluten Koinzidenz in einem positiv vermögenden Ersten. Dafür muß man sich allerdings von der Vorstellung trennen, es sei Aufgabe der Philosophie, positive, unmittelbar wirksam werdende Ergebnisse zu präsentieren. Wer daran festhalten will, ist – nach dem Stand der Reflexion in der Philosophie heute – auf den Empirismus verwiesen. Wer sich an diesen aber hält, vergibt sich mit den spekulativen Einsichten, die der Idealismus gerade an der Kritik des Empirismus entwickelt hatte, die Möglichkeit, aus Gründen Kritik zu üben. Dieser am Idealismus partizipierende Gedanke gelingt freilich nur, wenn er gegen seine idealistische Konzeption gewendet wird. Das vermittelnde Vermögen der Urteilskraft ist nun nur an Modellen der produktiven Einbildungskraft zu demonstrieren, am Vermögen, intelligibel Welt zu gestalten. Das Konzept der Teleologie oder der göttlichen Ordnung wird dabei – selbst in der Form des ‚als ob‘ – immer brüchiger, je detaillierter Kant es ausführt. Es vertritt dem Subjekt zwar zunächst die Einheit, die ihm in der Erfahrung abgeht, aber es schickt sich eben auch nicht zu seiner Subjektivität. Analog der Andeutung zweiter Natur im praktischen Kontext verknüpft Kant hier die Begriffe der Naturgeschichte, der Kulturgeschichte und des geschichtlichen Fortschritts miteinander. Bei Kant selbst bleibt diese Verbindung aporetisch, er möchte sie lieber zugunsten der Einheit der Natur auflösen. Tatsächlich wird es aber möglich, jene Einheit, soweit sie in der Erfahrung der Menschen liegt, selbst als Resultat der Kulturgeschichte zu verstehen: Menschen haben immer schon die Bedingungen ihres Handelns im Handeln mitbestimmt. Sobald sie ein Selbstbewußtsein gegenüber den natürlichen Bedingungen ihrer selbst hatten, haben sie

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diese Bedingungen begrifflich und praktisch zu verändern begonnen. Die Natur ist nicht mehr die bloße Natur, wenn sie als Natur gewußt wird, weil das Bewußtsein, in das dieses Wissen von der Natur fällt, eben deswegen der Natur nicht mehr ganz angehört. Darin liegt ebenso die Potenz zur hemmungslosen Ruinierung der natürlichen Ressourcen und der natürlichen Subsistenz vernünftiger Sinnenwesen, wie auch diejenige zur vernünftigen Gestaltung der natürlichen Lebensbedingungen und des Verhältnisses der Menschen untereinander. Um die Möglichkeit vernünftigen kollektiven geschichtlichen Handelns zu begründen, bedarf es keiner Hypostasen um der Einheit der Erfahrung willen, sondern des kritischen Bewußtseins der geschichtlichen Konstitution des freilich natürlich gegebenen Substrats. Das ändert nichts daran, daß die Realisierung dieser Möglichkeit einstweilen verstellt scheint; dies ist aber gerade deshalb so, weil die Bedingungen, unter denen wir handeln und die das vernünftige Handeln beschränken, Resultate geschichtlicher Konstitution sind und gleichsam die Macht der gesamten durch Herrschaft von Menschen über Menschen bestimmten Kulturgeschichte in sich akkumuliert haben. Und sind dies unsere Bedingungen, deren Erfahrung in die Bildung unserer praktischen Subjektivität eingeht, dann ist diese Herrschaftserfahrung ebenso ein inkorporiertes Element dieser Subjektivität. Menschen haben, soweit wir wissen, nie die Erfahrung einer Welt ohne Herrschaft gemacht. Das kollektive Bewußtsein von Geschichte und Gegenwart, auch die Erwartung der Zukunft, sind zutiefst davon geprägt. Der Schluß, Herrschaft von Menschen über Menschen sei notwendig, bleibt dennoch ein kategorial falscher vom Kontingenten aufs Notwendige. Wie Gewalterfahrung wirklich sozial ‚vererbt‘ wird, zeigt die Langzeiterfahrung mit kollektiven Feindbildern, die Generationen, und so oft ihre eigenen Gründe, überdauern. Wieviel Anstrengung und Erfahrung notwendig sein wird, um das historische Trauma Herrschaft kollektiv zu überwinden, ob es überhaupt je gelingen wird, läßt sich nicht antizipieren. Auch deshalb ist übers Subjekt kritisch zu reden, das heißt konsequent negativ. Den Aporien, in die Kants Bestimmungen der Subjektivität in den unterschiedlichen Zusammenhängen immer wieder hineinlaufen, korrespondiert die ästhetische Erfahrung der Moderne. Wenngleich die Kritik der ästhetischen Urteilskraft für Kant erkenntnistheoretische und nicht kunsttheoretische Bedeutung hat, und wenngleich die Beispiele aus der Kunst hauptsächlich der Verlegenheit geschuldet sind, daß sich zweckvoll Gemachtes, bei dessen Anblick die Erkenntnisvermögen harmonieren, in der Natur als solches nicht demonstrieren läßt, deutet sich doch in der ästhetischen Erfahrung die Fähigkeit an, das Besondere als Ausdruck eines Allgemeinen, letztlich als correspondant der Allgemeinheit in der eigenen Besonderheit wahrzunehmen. Daß die herausragenden Beispiele Kants, fürs Erhabene vor allem, kulturgeschichtliche Monumente sind, die Pyramiden und der Petersdom, verweist erneut auf das in der Kulturgeschichte liegende geschichtliche Potential menschlicher Vernunft und Praxis. Der Blick nach vorn, der legitim wäre, müßte durch den Blick zurück durchaus bestimmt sein. Man sieht nur in beide Richtungen gleich gut, wenn man auf der Mauer steht, die beide trennt. Die Teichoskopie dient dramaturgisch zumeist der Schilderung von Schlachten, die zu groß sind, um auf der Bühne Platz zu haben; dieser Blick nach draußen ist mehr als eine dramaturgische Notlösung, er spiegelt in den äußeren Bedingungen die Situation auf der Bühne. Der Blick nach vorn, scheint die im Rücken

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liegende Bedrängung zu wiederholen und zu potenzieren. Radikal hat das Bild Beckett ausgemalt, indem er im Endspiel Clov vom begrenzten Nichts auf der Bühne in das grenzenlose Nichts in der Welt hinausblicken läßt. So radikal haben Menschen die Bedingungen ihres Handelns in der Hand. Sie können die scheinbar absolute Fremdheit zwischen Subjekt und Natur – deren Überwindung die Philosophie durch teils spekulative teils hypostatische Begriffe intendierte, in denen sie sie oftmals nur wiederholte – wirklich herstellen. Die Möglichkeit in der Kunst, eine Erfahrung von Subjektivität zu provozieren, deren Begriff in der Philosophie zur Negativität bloßen Vermögens verblaßt, empfiehlt dem kritischen Begriff von Subjektivität, praktischer zumal, ein ästhetisches Moment an. Dieser Begriff von Ästhetik ist dem der Bildung verwandt, insofern Kunst objektive Bildung, Gestaltung von Welt, bedeutet und deren am weitesten freie, selbstbestimmte Form ist; darin ist sie zugleich subjektive Bildung, Entfaltung subjektiver Fähigkeiten über die Anbildung abstrakter Kenntnisse hinaus im tätigen Dialog mit dem Material. Am Ende einer philosophischen Arbeit kann dieses Moment nur in einem Überblick präsent gemacht werden, wie er sich dem Beobachter bietet, der von der Mauer in die Ebene blickt. Becketts Inszenierung des Nichts ist gleichwohl nur Modell einer Welt, in der die Subjekte sich in den Bedingungen ihres Handelns, der gesellschaftlichen, politischen und rechtlichen Ordnung der natürlichen Lebensbedingungen nicht selbst erkennen können, in denen ihnen darum Subjektivität, die in diesen Bedingungen vermittels ihrer Ordnung ja liegt, selbst fremd geworden ist. Darin hat der Allerweltsspruch ‚Ich verstehe die Welt nicht mehr.‘ am Ende von Hebbels Maria Magdalena seine tiefere Wahrheit. Die Hoffnungslosigkeit des radikalen Ausbruchsversuchs aus fremd gewordenen Ordnungen hatte schon Melville dargestellt in der genial einfachen Konstruktion des Bartleby, der, gesellschaftlicher Notwendigkeit folgend, sich zur Lohnarbeit verdingt als Schreiber in einer juristischen Kanzlei und schon bald auf jeden Arbeitsauftrag höflich antwortet: Ich möchte lieber nicht; der sich in seinem Büro einhaust und auch durch einen Umzug der Kanzlei nicht abzuschütteln ist. Sein Chef muß ihn – gegen das eigene Gewissen, aber im Geschäftsinteresse der Kanzlei – auf deren Stufen verhaften lassen. Als er ihn im Gefängnis besucht, ist Bartleby in einer Ecke des Hofes verhungert; Bild des Schicksals radikaler Kritik, die sich zum Konstruktiven nicht berufen fühlt. Menschen wie Bartleby haben dann die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts viele gezeitigt; eigentlich hervorgebracht aber hat sie deren Elterngeneration. Melvilles Darstellung des Scheiterns emphatischer Selbstbestimmung unter heteronomen Bedingungen, deren Verkehrung in skurrile Selbstbehauptung, die schließlich in der Selbstaufgabe die letzte aporetische Möglichkeit findet, an sich selbst festzuhalten, hebt sie gegenüber den kontemporären romantischen und realistischen Künstler- und Bildungsromanen trotz thematischer Nähe als spezifisch modern hervor. Die künstlerbiographische Pointe hat mit gleicher Radikalität Kafka im Hungerkünstler herausgestellt. Der im Käfig sich ausstellende Hungernde ist absolutes Kunstwerk und Modell absoluter Selbstbestimmung zugleich. Nur ist die Situation der Ausstellung, die auf ein Publikum angewiesen ist, schon die Beschränkung des absoluten Selbstbewußtseins. Dieses weiß, daß es ohne sein gegenläufiges Moment nicht möglich wäre, könnte es aber nur durch konsequente Ignoranz zu seinem Moment machen. So entspringt die

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Beschränkung des ausgerechnet von wohlgenährten Fleischhauern überwachten Hungerexperiments auf vierzig Tage lediglich der Kalkulation des Impresario: So lange läßt sich das Publikumsinteresse halten. In dem Moment, da der Hungerkünstler diese Regel bricht, vergißt man ihn im Stroh des Käfigs. Da geht ihm der Selbstbetrug seiner öffentlichen Selbstbehauptung auf: Nicht nur, daß er auf die Bewunderung des Publikums angewiesen war, sondern mehr noch, daß er sie gar nicht verdiente; sein Hungern war nicht freiwillig, sondern geschah, weil er die Speise, die ihm geschmeckt hätte, nicht finden konnte. Die Selbstbeschränkung war durch das Fehlen adäquater Bedingungen wahrer Selbstbestimmung ganz fremdbestimmt. „‚Nun macht aber Ordnung!‘ sagte der Aufseher, und man begrub den Hungerkünstler samt dem Stroh. In den Käfig aber gab man einen jungen Panther.“2 Dieser trägt die Freiheit mit sich; im Gebiß. Neben der Spitze gegen Rilkes ästhezistischen Panther tritt die Bürokratie, Ordnungswut, als Totengräber hervor. In beklemmender Weise hat der jugoslawische Autor Miodrag Bulatović an Kafka, und an Beckett, angeknüpft. In einer Verbindung von Parabel, brutalem Realismus und absurder Konstellation zeigt er, in dem Roman Wolf und Glocke, die Menschen in der eigenartig zeitlosen Szenerie eines Krieges, dessen Gründe niemand weiß. Gewiß ist: Die Stadt brennt, der Priester verbrennt auf dem Kirchturm, der Hodscha auf dem Minarett. Soldaten marodieren, deren Herkunft gleichgültig ist. Der einzige sichere Ort ist das Gefängnis, von dessen vergitterten Fenstern aus die Gefangenen die höllische Szenerie beobachten, bis das Feuer auch diesen Ort erreicht. Scheinbar unvermittelt dazwischen steht die Geschichte eines verhaltensauffälligen Mädchens, das, jahrelang in einen Wandschrank eingesperrt, sich eine Welt zwischen Spinnen und Weben erbaut und nach der Befreiung die Begegnung mit Mitmenschen, nach der sie sich sehnte, nicht mehr ertragen kann: „Ich hasse die Menschen nicht, ich kann sie nicht hassen, weil ich wohl weiß, sie sind ein Teil meiner selbst, wie auch ich in ihnen begriffen bin. Ich kann nicht aus meiner Haut, ich kann nicht in einen anderen mich verwandeln, ich kann mich selbst nicht hassen. Es scheint mir fast, daß ich die Menschen liebe […]. Aber ich halte es nicht aus bei ihnen da unten. […] Es tut mir leid, daß mich jede Berührung menschlichen Fleisches zum Erbrechen reizt.“3 Beckett präsentiert solche Zerrissenheit moderner Subjekte pars pro toto an dem verstörten Bewußtsein der von der sogenannten Menschheit ausgespuckten Charaktere seiner Erzählungen, die nicht wissen, woher sie kommen und wohin sie gehen; sie wissen nur noch eines: daß sie nicht geschlagen werden wollen. Dafür nehmen sie jede absurde Situation in Kauf, bis hin zum eigenen Untergang. Am Ende von Becketts Werk stehen konsequent die Texte um Nichts und die Spiele ohne Worte. Daraus folgt aber nicht zwingend die Verabschiedung des Subjekts. Robert Menasse hat in seiner sogenannten Trilogie der Entgeisterung die Rückbildung der sozialen Charaktere zu der Stufe vorgeführt, die Hegel als sinnliche Gewißheit bezeichnet hatte: Von der Unmittelbarkeit gesellschaftlicher Oberfläche befangen agieren sie in instantan begrenzten Situationen, die nicht ihre sind. Die Versuche, aus dem wiederspiegelungstheoretisch bestimmten Bewußtsein auszubrechen, zum Selbstbewußtsein zurückzufinden, 2 3

Franz Kafka, Ein Hungerkünstler, in: Sämtliche Erzählungen, Frankfurt am Main 1970, 171. Miodrag Bulatović, Wolf und Glocke, München 1962, 120.

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an die große Philosophie der Klassik anzuknüpfen, scheitern an den Bedingungen einer Welt, die diesem reflektierten Bewußtsein nicht entspricht, die aber nicht einfach zurückgesunken ist, sondern eine Unmittelbarkeit potenzierter Form angenommen hat. Diese Rückentwicklungstrilogie über eine ganze Generation endet mit dem Rückbildungsroman Schubumkehr, in dem die Konsequenz des Verstummens, der Flucht in unmittelbare Bilder ebenso wie deren Trügerisches in einem einzigen Charakter zusammengezogen wird, der aus der exotischen Weltläufigkeit Brasiliens in die beklemmende Enge eines österreichischen Dorfes zurückkehrt, wo er sich nur in sich selbst verhausen kann; von den Verrücktheiten der übrigen Dorfbewohner unterscheidet er sich gleichwohl nur dadurch, daß er diese nur mehr per Video wahrnimmt. Noch die Differenz wird durch ein Medium der Unmittelbarkeit erzeugt. Der Rückbildungsroman aber dokumentiert in der Dokumentation der ausweglosen Rückbildung zugleich, daß das Bewußtsein des Autors und eines jeden, der begreifend zu lesen vermag, der Rückbildung im Prinzip widersteht. In diesem ästhetischen Bewußtsein hält Denken an seiner Möglichkeit zur Selbstbestimmung fest. Das leistet ästhetische Erfahrung. So hat Helmut Lachenmann das Verstummen, das leise Geräusch, das mit der Erfahrung scheinbar nicht mehr mithalten kann, zum aufstörenden Moment seiner Kompositionen gemacht. Das sinfonische Orchester und seine musikalische Tradition – ein ‚bürgerliches Instrument‘ ihm zufolge – wendet er gegen die gesellschaftliche Erfahrung, für deren scheinhafte Harmonie es bis heute eintritt. Über die ästhetische Verstörung des Selbstverständlichen sei das Denken zu erreichen; gegen den fatalen Trend, ästhetische Erfahrung auf das Angenehme, was einem gefällt oder mißfällt, zu reduzieren und sie damit zu einem Komplement der ebenso scheinhaften Pluralität gesellschaftlicher Erfahrung zu machen. Die nicht von vornherein sinnlich reduzierte, sondern mit Bedacht erzeugte ästhetische Erfahrung vermöchte dagegen das Subjekt zur Wende auf sich selbst, zur Erfahrung von Selbstbestimmung, zu veranlassen, – ohne deswegen funktionalistisch zu sein. Im Gegenteil bewirkt sogenannte engagierte Kunst ein Gegenstück zur gesellschaftlichen Erfahrung, sie normiert den Protest vorab, um dessen selbstbestimmten Grund es doch ginge. Die Bedeutung ästhetischer Erfahrung für die moderne Subjektivität kulminiert in dem Satz Willi Baumeisters, der Künstler sei der letzte Mensch. Damit formuliert er eine Erkenntnis, die der Tradition des Künstlerromans und den ihr verwandten Gattungen implizit war: Der Konflikt, in den das moderne Subjekt, mittels der Konfrontation mit seinen geschichtlichen Bedingungen, mit sich selbst, seinem eigenen Anspruch auf Bildung zur Selbstbestimmung, gerät, läßt sich intensiv an der Künstlerbiographie darstellen, zu einer Zeit sinkenden Mäzenatentums, in der die Künstler zu gesellschaftlichen Akteuren werden und die Gesetze ästhetischer Formentwicklung an die Gesetze des Marktes zu verkaufen anstehen. Am ehesten, neben klassischen Bildungsfächern, ist die Kunst der Bereich, dessen Material kraft innerer Formgesetze gegen äußere Bedingungen zu Protest geht, und der Künstler ist das insofern privilegierte Subjekt, das, vielleicht unbewußt, beinahe zwangsläufig diese Erfahrung macht. Baumeisters Diktum mag von der besonderen Erfahrung zehren, in der nationalsozialistischen Zeit, unter Berufsverbot stehend, weder in die äußere noch in die innere Emigration gegangen zu sein, sondern, im Atelier weiter malend, den Bedingungen zum Trotz die eigenen Formen weiter ent-

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wickelt zu haben, mit einer Innovationskraft wie sie in der Generation wohl nur Paul Klee noch sich erhalten konnte, während viele andere nach dem Krieg schlicht formale Ratlosigkeit auf die Leinwand brachten. Das Bewußtsein, wissend aber hilflos von Barbarei umgeben zu sein, gibt Baumeisters Satz allerdings eine bittere Note. Aufgefangen wird diese von Joseph Beuys‘ Behauptung, jeder Mensch sei ein Künstler. Oft zurückweisen mußte er spöttische Interpretationen; gemeint war letztlich die Fähigkeit zur ästhetischen Erfahrung, die jeder habe und in der umgekehrt das Menschliche in den modernen Subjekten verwurzelt sei. Diesen Anspruch hat Timm Ulrichs in seinem Konzept des ‚totalen Kunstwerks‘ gewissermaßen invers aufgenommen und dadurch, mit unfreiwilliger Amtshilfe freilich, zur Groteske gesteigert. 1961 setzt er sich in einen Käfig mit der Beschreibung: ‚Timm Ulrichs: Erstes lebendes Kunstwerk‘. 1965, anläßlich der ‚Juryfreien Kunstausstellung‘ in Berlin, untersagt das Gremium mit dem schönen Namen ‚Hängekommission‘ Ulrichs die Selbstausstellung mit der Begründung, er hätte sich dem Reglement zufolge rechtzeitig selbst per Post einliefern und bis zur Ausstellung im Galeriegebäude verbleiben müssen, auch außerhalb der Öffnungszeiten. Dazu hätte er ein ärztliches Attest vorlegen müssen. Darüber hinaus aber hätte auf der Bildrückseite ein Schild mit dem Namen des Künstlers befestigt sein müssen, und der aus der Registratur stammende Anhängezettel hätte seinerseits an der Rückseite befestigt werden müssen, aber so, daß er nach vorne gehängt hätte werden können; seine Aufbewahrung in der Jackentasche des im Objekt sitzenden Künstlers reichte nicht aus. Die bezweckte Identität von Aussteller und Ausgestelltem – die schon ironisch gebrochene Identität des Kunstwerks – wird vom Ausstellungsbetrieb zerstört. Immerhin hat Ulrichs sich 1968 selbst als totales Kunstwerk in das Musterregister des Amtsgerichts Hannover eintragen lassen und 1969, im Sinne der Reproduzierbarkeit des Kunstwerks, eine Samenbank bestückt sowie seinen eigenen Leichenschauschein ausgefüllt, mit dem Vermerk: ‚fehlende Daten nachtragen‘. Ästhetische Erfahrung, gerade in gebrochener Form, kann das durch scheinbar äußere und scheinbar naturhafte Bedingungen verstellte Verhältnis der Subjekte zu sich selbst bewußtmachen. Der Kunst kommt damit schon für die Darstellung moderner Subjektivität eine Potenz zu, die der Philosophie abgeht. Diese kann die Subjektivität von Subjekten, die so verfaßt sind, wie sie in der Kunst reflektiert werden, mit ihren theoretischen Mitteln nicht erfahrbar machen; sie endet mit der, vielleicht durchgängigen, Negation der traditionellen affirmativen Bestimmungen von Subjektivität. Die Begriffe von Subjekt und Objekt, von Selbstbestimmung und Bedingungen, die danach übrig sind, sind negative, Begriffe kritischer Spekulation, die mit einem zwar notwendigen aber nicht unmittelbar greifbar zu machenden Begriff von Praxis operieren. Diese Begriffe bleiben ohne ästhetisches Moment der Erfahrung der eigenen Subjektivität erfolglos und leer, so formal wie diejenigen affirmativer Philosophie. Sie bedürfen der Modelle, des Besonderen und Einzelnen, das, wenngleich nicht zwingend aus der Kunst, zitiert, namhaft gemacht werden muß. Kunst in dieser Bedeutung ist verbunden mit der Kultur- und Bildungsgeschichte der Menschen. Die in der Kunst gegenwärtige Freiheit drückt nicht bloß symbolisch die materielle Freiheit einer durch organisierte Bearbeitung von der Natur emanzipierten und – gegen die herrschaftliche Form dieser Emanzipation – weiter sich emanzipierenden Menschheit aus. Die Verschränkung ästhetischer, technischer und politischer Befreiung liegt beispielsweise allen ästhetischen Modellen der Ästhetik des

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Widerstands von Peter Weiss zugrunde. Darin ist das ästhetische Element der kritischen Selbstbestimmung moderner Subjekte zugleich substantiell auf Andere verwiesen. Das widerständige Festhalten an der eigenen Subjektivität unter widrigen Bedingungen ist nicht solipsistisch möglich. Mensch zu bleiben, setzt eine kollektive Erinnerung voraus, so wie die kulturgeschichtliche Genese menschlicher Subjektivität kein solipsistischer Akt sein kann. Der reale Ort und der reale Gegenstand solcher kollektiver Erinnerung ist gleichwohl nur der Einzelne. Es kann aber nur der durch seine Geschichte sich konstituiert wissende, der aufgeklärte, Einzelne auch zum Träger intellektuellen Widerstands, der negativen Seite von Selbstbestimmung unter heteronomen Bedingungen, werden. Philosophische Aufklärung heute kann solches Selbstbewußtsein von Autonomie bilden, indem sie seine systematischen und historischen Voraussetzungen in der Perspektive auf Freiheit reflektiert und an ästhetischen Modellen die Diskrepanz von Begriff und Wirklichkeit der Freiheit erfahrbar macht; mehr kann sie dem geschichtlichen, politischen Handeln wohl nicht abnehmen. Kants Begriff der Aufklärung hat sich einerseits zu sehr auf die Vernunft verlassen, andererseits zu wenig. Zu sehr verließ er sich auf sie, indem er mit der Vernunft der Herrschenden rechnete, die als aufgeklärte an der Befreiung der Menschen wirken müßten. Aber die Herrscher waren damals schon nicht mehr alleinige Autoren ihrer politischen Zwecke, sondern auch Agenten der in der neuzeitlichen Gesellschaft sich verselbständigenden Privatinteressen. Deswegen hebt auch die republikanische Regierungsart die politische Unvernunft und Gewalt nicht auf, die im Prinzip von Herrschaft generell liegt. Aufklärung ist wesentlich polemisch gegen Herrschaft und Gewalt. Darum ist sie den Affekten so leicht und hilflos unterlegen: Schon ihre Verteidigung der Vernunft gegen die Affekte wird wirkungslos, wenn sie sich nicht in deren Stärke stellt; dann aber verliert sie ihren Zweck, die Vernunft. Dennoch ist das Prinzip Aufklärung nicht falsch. Die Affekte, das Somatische, gehören zu den Menschen wie ihre Vernunftbegabung, aber zur Subjektivität tragen sie nur bei, wenn sie mit vernünftigen Zwecken harmonieren; sonst zerstören sie Subjektivität. Dies als Entwicklungsmöglichkeit, entgegen einer condition humaine, in den Blick zu bringen, ist Aufgabe philosophischer Aufklärung. Am deutlichsten hat Kant dies wohl in der Vorlesung über Pädagogik gesehen, in der er das Erziehungsziel allem Pragmatismus entzog und auf eine künftige, freie, Menschheit bezog. Wenn die klassische Aufklärung an ihre Grenzen stieß, dann nicht, weil sie das Prinzip der Herrschaft inkorporiert hätte, sondern weil sie diesem, das ihr in der mit politischer Macht und affektiver Gewalt versehenen gesellschaftlichen Interessenlage entgegentrat, nichts auf derselben Ebene entgegenzusetzen hatte, ohne sich unmittelbar zutiefst selbst zu widersprechen. Vernunft hat keine unmittelbare Gewalt über die Gewalt der Affekte, die immer auch mit basalen vitalen Interessen verknüpft ist. Über das Unmittelbare hinauszudenken, ist unmittelbar eine Schwäche. Das kennzeichnet die moderne Subjektivität, in der Selbsterhaltung und Selbstbestimmung als Gegensatz erscheinen. Die philosophische Lösung des Gegensatzes von Selbstbestimmung und Selbsterhaltung, die nicht die Selbstbestimmung preisgeben will, gelingt nur bis zur negativen Identifikation der Bedingungen von Selbsterhaltung aus der Perspektive der Selbstbestimmung, bis zur Kritik inadäquater Lebensbedingungen. Darüber hinaus schlägt sie um in deren Affirmation als Momente des Weltlaufs oder ‚des Menschen‘.

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Aus alledem folgt dezidiert keine neue Theorie der Subjektivität, kein neuer Begriff des Subjekts. Was sich ergibt, ist als negatives Resultat der Kritik des Kantischen Subjektbegriffs die Einsicht in die objektiven Grenzen von Selbstbestimmung und in deren geschichtliche Konstitution. Damit ist der kritische Subjektbegriff aber schon kein bloß theoretischer mehr, sondern ein praktisches Verhältnis zu sich selbst. Im Grunde setzte das vorliegende Buch auf die Bereitschaft des Lesers, sich selbst – auch dort, wo er nicht einverstanden ist – als Subjekt der Kritik und dadurch als Subjekt möglicher Selbstbestimmung zu begreifen. Dies, neben den philologischen Ergebnissen, als Resultat der Kommentierung der Philosophie Kants, mag gering erscheinen. Aber mehr liegt vielleicht nicht im Vermögen moderner Philosophie. Wo sie mehr aspiriert, ist sie vielleicht schon zu sehr Element der allseitigen Experten- und Beraterkultur geworden, ist sie schon mittendrin in dem, wovon dieses Buch sie, im Bewußtsein ihrer Verflechtungen, als unterschieden festhalten wollte. Als solche greift Philosophie vermöge des Denkens vom Begriff her in die empirische Welt ein, indem sie jenen gegen deren bloße Unmittelbarkeit, Begriffslosigkeit, geltend macht; soviel Idealismus ist jedem Materialismus eigen, der nicht in das Kontinuum von Realismus, Naturalismus, Reduktionismus etc. sich verlieren will. All dem gegenüber bleibt der Philosophie die Bildung des Urteilsvermögens, die Aufklärung über die nicht pragmatisch, sondern allenfalls praktisch, aufzusprengenden Widersprüche, in denen uns denkend wie handelnd zu bewegen wir allzugut gelernt haben.

Literaturverzeichnis

a.

Immanuel Kant

Die Werke Immanuel Kants werden grundsätzlich zitiert nach der Ausgabe: Kant’s gesammelte Schriften, hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900ff. Die Nachweise folgen der Syntax ‚Kurztitel/Sigle, Bandnummer in römischen Ziffern Seitenzahl‘. – In seltenen, jeweils ausgewiesenen, Fällen wird aus dem Apparat der folgenden Ausgabe zitiert: Werkausgabe, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main 1968ff. – Folgende Schriften werden aus Einzelausgaben zitiert: Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft, hg. v. Gerhard Lehmann, Hamburg 1977 Kritik der reinen Vernunft, hg. v. Raymund Schmidt, Hamburg 1998 Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, hg. v. Bettina Stangneth, Hamburg 2003

(A.) Siglen und Kurztitel Anfang: Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte Anthropologie: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht Aufklärung: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? Bemerkungen:Bemerkungen über die Prüfung der Mendelssohnschen Morgenstunden oder aller spekulativen Beweise für das Daseyn Gottes (Ludwig Heinrich Jakob) EF: Zum ewigen Frieden Erste Einleitung KdU: Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft Fortschritte: Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibnitzens und Wolff�s Zeiten in Deutschland gemacht hat? Gebrauch teleologischer Prinzipien: Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie Gemeinspruch: Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis GMS: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten Idee: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht KdU: Kritik der Urteilskraft KpV: Kritik der praktischen Vernunft KrV: Kritik der reinen Vernunft Logik: Logik (Jäsche) Lüge: Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen

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MAN: Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft MdS RL: Metaphysik der Sitten, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre MdS TL: Metaphysik der Sitten, Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre Opus Postumum: Opus Postumum Pädagogik: Über Pädagogik Prolegomena: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können Rassen: Von den verschiedenen Rassen der Menschen Reflexion: Reflexionen aus dem handschriftlichen Nachlaß Religion: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft SF: Der Streit der Fakultäten Sich im Denken orientieren: Was heißt: Sich im Denken orientieren?

b.

Weitere Literatur

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620

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Über den Nutzen von Illusionen. Die regulativen Ideen in Kants theoretischer Philosophie, Hildesheim i.V. Burkhard Tuschling, ‚Bloße‘ Idee und ‚unbezweifelte praktische Realität‘: Recht, Staat, Gerechtigkeit, Ewiger Friede bei Kant, unveröff. Ms., erscheint in: Bernd Dörflinger/Günter Kruck (Hgg.), Worauf Vernunft hinaussieht. Kants regulative Ideen im Kontext von Teleologie und praktischer Philosophie, i.V. Hans Vaihinger, Die Philosophie des Als Ob. System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit auf Grund eines idealistischen Positivismus. Mit einem Anhang über Kant und Nietzsche, Berlin 1911 Harry van der Linden, Kantian Ethics and Socialism, Indianapolis 1988 Giovanni Battista Vico, Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker, Hamburg 1990 Eric Voegelin, Die politischen Religionen, München 1993 Voltaire, Candide oder der Optimismus, Frankfurt am Main 1972 Karl Vorländer, Zur Entstehung der Schrift, in: Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Hamburg 1990 Hans Wagner, Der Argumentationsgang in Kants Deduktion der Kategorien, in: Kant-Studien 71 Renate Wahsner/Horst-Heino von Borzeszkowski, Die Wirklichkeit der Physik. Studien zu Idealität und Realität in einer messenden Wissenschaft, Frankfurt am Main 1992 Renate Wahsner, Verstand – Vernunft – Verantwortung. Ist die Naturwissenschaft schuld an der inhumanen Gestalt und Anwendung der Technik?, in: Zur Kritik der Hegelschen Naturphilosophie. Über ihren Sinn im Lichte der heutigen Naturerkenntnis, Frankfurt am Main 1996 Renate Wahsner, Zur Kritik der Hegelschen Naturphilosophie. Über ihren Sinn im Lichte der heutigen Naturerkenntnis, Frankfurt am Main 1996 Renate Wahsner, Hegels spekulativer Geozentrismus, in: Zur Kritik der Hegelschen Naturphilosophie, Frankfurt am Main 1996 Renate Wahsner, Verdirbt die Naturwissenschaft den Begriff des Geistes?, Preprint des Max-PlanckInstituts für Wissenschaftsgeschichte 358, Berlin 2008 Manfred Walther (Hg.), Religion und Politik. Zur Theorie und Praxis des theologisch-politischen Komplexes, Baden-Baden 2004 Manfred Walther, Konsistenz der Maximen. Universalisierbarkeit und Moralität nach Spinoza und Kant, unveröff. Ms. 2008, Veröff. i.V. Susanne Weiper, Rechtsidee und ewiger Friede. Die Kantische Konzeption im Spannungsfeld zwischen Gesinnungspazifismus und Instrumentalmilitarismus, in: Volker Bialas/Hans-Jürgen Häßler (Hgg.), 200 Jahre Kants Entwurf „Zum ewigen Frieden“. Idee einer globalen Friedensordnung, Würzburg 1996 Peter Weiss, Die Ästhetik des Widerstands, Frankfurt am Main 1983 Wolfgang Welsch, Aisthesis, Stuttgart 1987 Christian Helmut Wenzel, Gemeinsinn und das Schöne als Symbol der Sittlichkeit, in: Reinhard Hiltscher/Stefan Klingner/David Süß (Hgg.), Die Vollendung der Transzendentalphilosophie in Kants ‚Kritik der Urteilskraft‘, Berlin 2006 Franz Josef Wetz, Wie das Subjekt sein Ende überlebt: Die Rückkehr des Individuums in Foucaults und Rortys Spätwerk, in: Reto L. Fetz/Roland Hagenbüchle/Peter Schulz (Hgg.), Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität, Bd. 2, Berlin 1998 Jan Weyand, Adornos Kritische Theorie des Subjekts, Lüneburg 2001 Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, Göttingen 1967 Wilhelm von Ockham, Epistola von 1334, in: Dialogus. Auszüge zur politischen Theorie, hg. v. J. Miethke. Darmstadt 1992 Marcus Willaschek, Praktische Vernunft, Stuttgart 1992

622

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Marcus Willaschek, „Verhinderung eines Hindernisses der Freiheit“ und „Zweiter Zwang“. Bemerkungen zur Begründung des Zwangsrechts bei Kant und Hegel, in: Barbara Merker/Georg Mohr/Michael Quante, Subjektivität und Anerkennung, Paderborn 2004 Marcus Willaschek, Recht ohne Ethik? Kant über die Gründe das Recht nicht zu brechen, in: Volker Gerhardt (Hg.), Kant im Streit der Fakultäten, Berlin 2005 Dieter Witschen, Kant und die Idee einer christlichen Ethik. Ein Beitrag zur Diskussion über das Proprium einer christlichen Moral, Düsseldorf 1984 Kurt Wolzendorff, Staatsrecht und Naturrecht in der Lehre vom Widerstandsrecht des Volkes gegen rechtswidrige Ausübung der Staatsgewalt. Zugleich ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte des modernen Staatsgedankens, Breslau 1916 Allen W. Wood (Hg.), Self and Nature in Kant’s Philosophy, Ithaca 1984 Yirmiyahu Yovel, Kant and the Philosophy of History, Princeton 1989 Veronique Zanetti, Widerstandsrecht und Interventionsrecht, in: Klaus-Michael Kodalle, Der Vernunftfrieden. Kants Entwurf im Widerstreit, Würzburg 1996 Barbara Zehnpfennig, Liberale Aporien, in: Werner J. Patzelt/Martin Sebaldt/Uwe Kranenpohl (Hgg.), Res publica semper reformanda. Wissenschaft und politische Bildung im Dienste des Gemeinwohls, Wiesbaden 2007 Georg Zenkert, Konturen praktischer Rationalität. Die Rekonstruktion praktischer Vernunft bei Kant und Hegels Begriff vernünftiger Praxis, Würzburg 1989 Peter V. Zima, Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne, Tübingen/Basel 2000 Günter Zöller, Aufklärung über Aufklärung. Kants Konzeption des selbständigen, öffentlichen und gemeinschaftlichen Gebrauchs der Vernunft, in Heiner F. Klemme (Hg.), Kant und die Zukunft der europäischen Aufklärung, Berlin 2009 Franco Zotta, Immanuel Kant. Legitimität und Recht. Eine Kritik seiner Eigentumslehre, Staatslehre und seiner Geschichtsphilosophie, Freiburg 2000 Peter Zudeick, Schicksalsgemeinschaft freier Bürger? Die CDU und die Leitkultur, Politisches Feuilleton, Deutschland Radio Kultur am 7. 3. 2007, www.dradio.de Christine Zunke, Das Subjekt der Würde. Kritik der deutschen Stammzellendebatte, Köln 2004 Christine Zunke, Die notwendige Widerspenstigkeit phantastischer Tiere, die es wirklich gibt, in: Hegel-Jahrbuch 2004 Christine Zunke, Kritik der Hirnforschung. Neurophysiologie und Willensfreiheit, Berlin 2008

Namenverzeichnis

Adorno, Theodor W. 25, 29, 32–34, 38, 40, 74, 95, 138, 146, 148, 202, 206, 235, 243, 295, 323, 361, 363, 365, 369, 379, 385, 412, 491, 496, 508, 539, 557, 566, 569, 575 Aertsen, Jan. A. 367 Alexy, Robert 29, 123, 130, 157, 161, 204 Anders, Günther 36, 206 Anselm von Canterbury 359, 363, 478, 480 Arendt, Hannah 118, 192 Aristoteles 13, 16, 28, 34, 100, 128, 140f., 147, 155, 197f., 204, 213–217, 287, 294, 314, 318, 322, 339, 376, 402, 425, 430, 443f., 447, 451, 475, 511, 522, 540f., 553, 557, 562f., 571, 580 Assmann, Jan 64f. Austin, John L. 24 Bacon, Francis 418 Baltzer, Ulrich 461 Bartel, Andreas 453 Bartuschat, Wolfgang 131, 439, 503 Baruzzi, Arno 162, 189 Basedow, J. B. 208 Batscha, Zwi 148 Baudelaire, Charles 331 Baudrillard, Jean 206 Baum, Manfred 402, 415, 453 Baumgartner, Hans Michael 63, 389 Bayertz, Kurt 15, 311, 470, 473, 518, 535f. Beccaria, Cesare 168 Beck, Lewis White 104, 208, 267

Becker, Oskar 337, 487 Beckett, Samuel 19, 577, 592f. Behrends, Okko 18 Bellut, Clemens 463 Benedikt XVI. 274 Benjamin, Walter 74f., 187f., 331, 557 Bennett, Jonathan 34, 358 Berger, Maxi 35, 62 Berkeley, George 460 Bialas, Volker 69, 86, 97, 112f. Bieri, Peter 225 Blumenberg, Hans 56, 223 Bodin, Jean 129f., 152 Böckenförde, Ernst-Wolfgang 117, 130, 137f., 142, 165, 171, 197, 200, 204, 237, 292 Böhme, Gernot 419 Bohman, James 41, 80, 85, 98, 126 Bonacker, Thorsten 26 Bothe, Michael 127 Brandt, Reinhard 38, 90, 92f., 141, 155, 157, 165f., 170, 394, 514, 518, 520f., 552f. Brecht, Bertold 556f. Brocker, Manfred 136, 156, 177f. Bubner, Rüdiger 53, 100, 118f., 157, 234, 274, 394, 398 Buck, Günther 107, 259, 510 Bude, Heinz 153 Büchner, Georg 470 Bulatović, Miodrag 593 Bulthaup, Peter 34–37, 138, 148f., 176f., 181, 250, 297, 368, 418, 447, 503, 575

624 Burgio, Alberto 86, 97 Butler, Judith 22 Cassirer, Ernst 24, 55, 206 Castañeda, Hector-Neri 15 Cavallar, Georg 80, 82, 99, 104, 113 Caysa, Volker 205 Cramer, Konrad 15, 91, 372, 398f., 413, 559 Czelinski-Uesbeck, Michael 547 Daelen, Wolfgang v. d. 419 Dante Alighieri 105 Defoe, Daniel 213 Deggau, Hans-Georg 124, 137, 156f., 172, 181, 193, 266 Demirović, Alex 22, 24, 205f. Dennert, Jürgen 138 Descartes, René 18, 45, 359, 363, 376, 415f., 460, 517, 589 Dietzsch, Steffen 118 Dijksterhuis, Eduard Jan 519 Dilthey, Wilhelm 520 Dörflinger, Bernd 120, 345, 396 Dreier, Horst 131, 156, 162, 204, 236 Dürig, Günther 151, 162, 204, 236 Düsing, Edith 133 Düsing, Klaus 13, 32, 37, 133, 211, 225, 312, 329, 399, 401, 408, 439 d’Alembert, Jean Le Rond 18 D’Aprile, Iwan Michelangelo 575 Ebbinghaus, Julius 81, 155f., 223, 233 Ebeling, Hans 92, 107, 109, 114, 118, 224, 467, 490, 510 Eberl, Oliver 41, 85f., 102, 128, 155 Eidam, Heinz 96 Eisenstadt, Shmuel N. 26 Elias, Norbert 53 Engels, Friedrich 242 Esser, Andrea Marlen 139, 213, 233, 281–283 Euler, Peter 24, 110, 234, 323, 417, 419, 506, 508, 513, 540, 552, 559, 564, 568 Falk, Hans-Peter 15, 31 Falk, Richard 126 Feuerbach, Ludwig 398, 568 Feuerbach, Paul Johann Anselm 167, 296 Fichte, Johann Gottlieb 32, 41, 366, 381, 389, 398, 590 Finley, Moses I. 541

N Flach, Werner 97 Flashar, Helmut 215 Flaubert, Gustave 369 Foot, Philippa 231 Forschner, Maximilian 62, 240 Forst, Rainer 226f. Forsthoff, Ernst 293 Foucault, Michel 22, 350, 412, 471 Fœssel, Michaël 564, 574, 578 Frank, Manfred 13f., 38, 337, 348, 399, 415 Freud, Sigmund 146, 202, 413 Frohn, Hansgeorg 113 Fulda, Hans Friedrich 15, 91, 396, 399, 413, 559 Furth, Peter 16 Gadamer, Hans-Georg 215 Gebhardt, Jürgen 64 Geismann, Georg 223 Gerhardt, Volker 13–15, 17, 82, 85, 93, 96–98, 103, 112, 115, 118, 131, 155, 165, 207, 291, 312, 358, 430, 517, 530 Geyer, Christian 225 Gigon, Olof 215 Gloege, Gerhard 67 Gloy, Karen 399, 453 Goethe, Johann Wolfgang 416 Goffman, Erving 205 Goy, Ina 517 Grice, Herbert Paul 24 Grotius, Hugo 124, 166, 172 Gruber, Johannes 206 Gruschka, Andreas 304 Guyer, Paul 559, 564 Haag, Karl Heinz 32, 95, 346, 378, 393, 395, 418, 438, 481, 507f. Habermas, Jürgen 14, 16, 20f., 41, 53, 62, 85, 101, 123, 127, 142, 215, 230, 436, 445, 469, 526 Hagenbüchle, Roland 18f., 22, 140 Haltern, Ulrich 162 Hampe, Michael 502 Hassenpflug, Dieter 559 Hattenhauer, Hans 169, 373 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 17, 21f., 32, 35, 40f., 46, 66, 84f., 90, 103, 112f., 116, 118, 131, 133, 143f., 166–168, 172, 184, 188, 200, 221, 223f., 236f., 239, 247f., 260, 266, 268, 274, 292, 297, 312f., 315, 317f.,

N 324, 328, 334, 339, 346, 350, 356, 359, 361, 364, 367, 373, 376, 384–386, 389f., 398, 407, 410, 415, 420, 434–436, 438, 446, 449f., 454, 461f., 470, 482, 485f., 488f., 493, 502, 508, 511, 524, 529, 536, 567, 577, 590, 593 Heidegger, Martin 303, 375, 389, 443, 496, 572f. Henrich, Dieter 14, 16, 25, 32, 38, 54, 79, 92, 100, 109, 116, 118f., 133, 148, 214f., 219, 223, 226, 233f., 240f., 245, 257, 262, 298, 311, 347, 358, 365, 381, 389f., 394f., 398f., 415, 418, 436, 445, 463, 467, 470, 490f., 530, 552 Hepfer, Karl 39, 400 Herbart, Johann Friedrich 259, 299 Herdegen, Matthias 162, 236 Herold, Norbert 25, 101, 386, 564 Herzog, Roman 151 Hespe, Franz 142, 176 Heydorn, Heinz-Joachim 37, 293 Hindrichs, Gunnar 23, 365, 399f., 413, 464 Hinsch, Wilfried 389 Hobbes, Thomas 106–108, 125, 135, 138, 152, 154, 166 Höffe, Otfried 156, 215, 226, 232, 395, 476, 511, 517, 563f., 579 Holborn, Hajo 68 Holling, Eggert 368, 419 Holloway, David 494 Holz, Hans Heinz 69, 81, 87 Homer 331 Honnefelder, Ludger 428 Honneth, Axel 21, 98, 187 Hoppe, Hansgeorg 430 Horkheimer, Max 118, 158, 179, 183, 468, 479, 492, 575 Horstmann, Rolf-Peter 15, 91, 93, 103, 155, 165, 207, 358, 399, 413, 430, 559 Hüttemann, Andreas 226, 453, 502 Hume, David 15, 138, 243, 397, 418 Husserl, Edmund 33, 359, 460 Hutter, Axel 34, 90, 131, 326, 387, 389 Iber, Christian 58, 507, 579 Iggers, Georg G. 90, 113 Jaberg, Sabine 85f. Jaeschke, Walter 316 Janich, Peter 226 Kafka, Franz

592f.

625 Kallhoff, Angela 102 Kaulbach, Friedrich 296 Kelsen, Hans 154, 161f., 169 Kempin, Peter 368, 419 Kersting, Wolfgang 104, 122, 126, 135f., 143f., 156, 161, 165, 170, 182, 226, 235, 286, 289, 292 Kierkegaard, Sören 470 Kirste, Stephan 169 Klar, Samuel 56, 62 Kleingeld, Pauline 95, 538 Klemme, Heiner F. 38, 115, 131, 165, 170, 358, 368, 372, 375, 378, 391, 416, 426, 437, 514 Klingner, Stefan 501, 507, 517, 534, 563 Knöbl, Wolfgang 26 Kobusch, Theo 139, 364 Kodalle, Klaus-Michael 97, 112, 114, 118f., 151 Köbler, Gerhard 180, 197 Kohler, Georg 563 Koneffke, Gernot 37, 209 Konhardt, Klaus 226 Korsgaard, Christine 122, 310, 348, 589 Kotkavirta, Jussi 133 Krahl, Hans-Jürgen 169 Kraus, Karl 19, 577 Krieger, Gerhard 24, 69, 363 Krohn, Wolfgang 419 Kuhn, Thomas S. 469 Kuhne, Frank 311, 329, 360, 389, 418 Kulenkampff, Jens 531, 534, 552 La Mettrie, Julien Offray de 517 Lachenmann, Helmut 207, 295, 585, 594 Laing, Ronald D. 205, 412 Langthaler, Rudolf 75 Laslett, Peter 166 LeGoff, Jacques 180 Leinkauf, Thomas 56f., 118 Lem, Stanisław 45 Lenin, Wladimir Iljitsch 71 Libet , Benjamin 225 Lindner, Josef Franz 84 Locke, John 107, 166f., 172, 418 Losurdo, Domenico 148 Lucas, Hans-Christian 112 Luhmann, Niklas 14, 20, 114, 137f., 169, 180, 199f., 241, 359f., 543 Lukács, Georg 60, 71 Luther, Martin 67, 150

626

N

Lutz-Bachmann, Matthias 41, 60, 80, 85, 98, 126, 138, 156, 164, 278, 369, 510 Mach, Ernst 13, 399 Malter, Rudolf 484 Marcuse, Herbert 60, 158, 183 Marc-Wogau, Konrad 531 Marsilius von Padua 354 Marx, Karl 16, 19, 21, 23, 28f., 61, 98, 106, 109f., 113, 135–137, 139, 142, 156, 166, 173, 187, 195, 241, 303, 398, 569 Maus, Ingeborg 155 McLaughlin, Peter 531 Meier, Heinrich 64 Melville, Herman 592 Menasse, Robert 19f., 593 Mensching, Günther 18, 24, 262, 322f., 532, 575 Model, Anselm 506 Mohr, Georg 133, 164, 168, 187, 371, 391, 403, 422f., 430, 482, 484 Nagel, Thomas 337 Nagl-Docekal, Herta 13 Niesen, Peter 41, 85, 102, 128, 155 Oehler, Klaus 18 Oeser, Erhard 517 Ottmann, Henning 64, 469 Palandt, Otto 169, 193, 196, 198f., 201 Palmquist, Stephen R. 62 Patzig, Günther 29 Pauen, Michael 93, 105, 514 Pfeiffer, Christian 495 Piché, Claude 207 Pieper, Annemarie 232, 238, 294 Platon 16, 128, 147, 299, 318, 478 Popper, Karl R. 109 Porphyrius 510f. Pothast, Ulrich 15, 91, 312, 398f., 413, 559 Prauss, Gerold 170, 213, 226, 233, 394, 432 Proklos 479 Pseudo-Dionysios Areopagita 150 Psychopedis, Kosmas 58, 174, 221 Pufendorf, Samuel 166f., 172, 364 Quante, Michael

133, 164, 168, 187, 298

Radbruch, Gustav 162

Randeria, Shalini 25 Rawls, John 84 Recki, Birgit 52, 100, 266, 283, 537, 579, 582 Reckwitz, Andreas 26 Ricken, Friedo 62f. Rickert, Heinrich 520 Ridder, Helmut 151 Riedel, Manfred 43, 139, 143, 215, 296, 349 Rimbaud, Arthur 25 Ritter, Joachim 216, 508 Röd, Wolfgang 349 Rohbeck, Johannes 102, 218f., 221f., 235, 263, 516 Rohs, Peter 14, 226, 321, 331, 349, 372, 430, 432f., 534 Ropohl, Günther 559, 568 Rosefeldt, Tobias 365 Rotenstreich, Nathan 79, 272 Roth, Gerhard 225 Roth, Siegfried 511, 517 Rousseau, Jean-Jacques 94, 107, 136, 138, 207, 262 Rühl, Ulli F. H. 164, 170, 176 Ruschig, Ulrich 503 Russell, Bertrand 13, 15 Sacher-Masoch, Leopold von 575 Sade, Donatien A. S. 148, 574f. Sala, Giovanni B. 62, 267 Sandkühler, Hans-Jörg 536 Schantz, Richard 358 Scheible, Wolfgang 505 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 389 Schiller, Friedrich 132f., 206, 262, 368, 552 Schiller, Hans-Ernst 118 Schmidt, Alfred 16 Schmidt, Arbogast 18 Schmidt, Brigitte 323 Schmidt, Jürgen 337 Schmidt, Raymund 365 Schmidt, Volker H. 26 Schmitt, Carl 63, 162 Schmücker, Reinold 557 Schnädelbach, Herbert 99, 147, 200, 222, 336, 389, 394, 438, 475, 480 Schönberg, Arnold 578 Scholz, Oliver Robert 25, 103, 121, 226, 309, 359 Searle, John R. 24 Seel, Martin 189 Seifert, Jürgen 142

N

627

Shelley, Mary 517 Shoemaker, Sydney S. 14 Siep, Ludwig 107, 121, 138, 148, 166, 231, 233, 238f., 329, 371 Silber, John R. 227 Simon, Josef 37, 131, 143, 160, 295, 311, 380, 391, 411, 443, 445, 552 Smith, Adam 109, 113 Sommer, Andreas Urs 101, 104 Sommer, Manfred 467 Sophokles 200 Spaemann, Robert 510 Stammen, Theo 82 Stangneth, Bettina 59, 73 Stegmüller, Wolfgang 360 Steiger, Heinhard 126 Stein, Lorenz von 182 Stöckler, Manfred 453 Strawson, Peter F. 14, 313, 327, 358, 360, 389, 413 Sturma, Dieter 371, 404 Süß, David 501, 507, 517, 534, 563 Taylor, Charles 293 Thiele, Felix 226 Thies, Christian 118 Thomas von Aquin 16, 129, 149, 204, 367, 398, 401, 425, 461, 488, 533, 536, 562f., 571 Tiedemann, Rolf 14 Tschechow, Anton 467f. Tugendhat, Ernst 14, 20, 91, 212, 231, 358, 399, 463 Tuschling, Burkhard 38f., 120, 394, 396, 402, 415, 436, 439 Vaihinger, Hans 96 van der Linden, Harry

104

Vico, Giovanni Battista 453 Voegelin, Eric 63 Voltaire 527 Vorländer, Karl 552 Vossenkuhl, Wilhelm 389 Wagner, Hans 381, 394 Wahsner, Renate 316, 415, 417f., 507, 513, 519 Walther, Manfred 64, 241, 252, 292 Weiper, Susanne 112 Weiss, Peter 596 Welsch, Wolfgang 563 Wenzel, Christian Helmut 563 Wetz, Franz Josef 22 Weyand, Jan 29, 249, 251, 541 Wieacker, Franz 155, 180, 236 Wiehl, Rainer 398 Wilhelm von Ockham 129, 354, 367, 532f. Willaschek, Marcus 139, 164, 167, 291, 343f., 374, 430 Witschen, Dieter 62 Wolzendorff, Kurt 151 Wood, Allen A. 104 Yovel, Yirmiyahu

104

Zanetti, Véronique 13, 151 Zehnpfennig, Barbara 179 Zenkert, Georg 232, 353, 507 Zima, Peter V. 13, 20, 146, 412 Zöller, Günter 115 Zotta, Franco 141, 166 Zudeick, Peter 161 Zunke, Christine 13, 225, 245, 247, 266, 337, 428, 511