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German Pages 264 [265] Year 2015
Joachim Hruschka
Kant und der Rechtsstaat und andere Essays zu Kants Rechtslehre und Ethik
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495807989
.
B
Joachim Hruschka Kant und der Rechtsstaat
VERLAG KARL ALBER
A
https://doi.org/10.5771/9783495807989 .
Kant entwickelt im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts als erster den Gedanken des Rechtsstaats, der bei ihm (lateinisch) »status iuridicus« heißt, was er selbst mit »rechtlicher Zustand« übersetzt. Einige seiner Anhänger erfinden als Übersetzung von »status iuridicus« das Wort »Rechtsstaat«, das es bis dahin noch nicht gegeben hatte und das dann im Laufe des 19. Jahrhunderts Kants eigene Übersetzung verdrängt. Wichtige Regeln werden als Regeln des Rechtsstaats zuerst von Kant formuliert, so die Regel, die wir heute mit dem Rechtssprichwort »Keine Strafe ohne Gesetz« wiedergeben, oder die Regel, dass die rechtsstaatlichen Organe verpflichtet sind, begangene Straftaten zu verfolgen, was wir heute als »Legalitätsprinzip« bezeichnen. – In Kants Ethik steht der Begriff der Menschenwürde im Mittelpunkt. Diese Würde setzt voraus, dass der Mensch als ein geistiges Wesen betrachtet wird.
Der Autor: Joachim Hruschka ist em. o. Professor für Rechtsphilosophie und Strafrecht an der Friedrich-Alexander-Universität in Erlangen. Zu seinen Publikationen gehören »Kant’s Doctrine of Right – A Commentary«, Cambridge 2010 (zusammen mit B. Sharon Byrd), und »Strafrecht nach logisch-analytischer Methode«, 2. Aufl., Berlin 1988.
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Joachim Hruschka
Kant und der Rechtsstaat und andere Essays zu Kants Rechtslehre und Ethik
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495807989 .
Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2015 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48723-5 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-80798-9
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zur Erinnerung an B. Sharon Byrd (1947–2014)
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Inhalt
Vorwort
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Abkürzungsverzeichnis
9
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
12
Erstes Kapitel: Kant und der Rechtsstaat . . . . . . . . . . . .
13
Zweites Kapitel: Das Erlaubnisgesetz der praktischen Vernunft und der ursprüngliche Erwerb von Stücken des Erdbodens .
48
Drittes Kapitel: Kant, Feuerbach und die Grundlagen des Strafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
89
Viertes Kapitel: Drei Vorschläge Kants zur Reform des Strafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
115
Fünftes Kapitel: Völkerstaat, Völkerbund und der permanente Staatenkongreß in Kants Rechtslehre . . . . . . . . . . . .
129
Sechstes Kapitel: Zur Logik der Zurechnung in der VigilantiusNachschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
151
Siebtes Kapitel: Die Würde des Menschen in der Metaphysik der Sitten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
169
Achtes Kapitel: Auf dem Wege zum Kategorischen Imperativ . .
194
Neuntes Kapitel: Die Goldene Regel in der Zeit der Aufklärung und Kants Stellungnahme zur Goldenen Regel . . . . . . .
211
Anhang: Die »Verabschiedung« Kants durch Ulrich Klug im Jahre 1968 – Einige Korrekturen . . . . . . . . . . . . . . . .
231 7
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Inhalt
Kants Schriften, die in diesem Buch angesprochen werden . . .
245
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
247
Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
257
Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
261
Kants Werke werden hier nach Band, Seite(n) und Zeile(n) der Akademie-Ausgabe zitiert. Für Leser, denen die Akademie-Ausgabe nicht zur Verfügung steht, gebe ich Hinweise (z. B. auf den herangezogenen § in der Rechtslehre), die ein Auffinden der Fundstelle erleichtern.
8 https://doi.org/10.5771/9783495807989 .
Vorwort
Der vorliegende Band stellt eine Reihe von neueren und einige etwas ältere Beiträge zu Kants Moralphilosophie zusammen, insbesondere zur Metaphysik der Sitten, und dort vor allem zur Rechtsphilosophie. Vier der neun Kapitel des Buches sind bisher noch nicht erschienen. Die übrigen Kapitel und der Anhang sind an verschiedenen verstreuten Stellen publiziert worden, die auch für den interessierten Leser nicht immer ganz leicht zugänglich sind. Die ersten sechs Kapitel, die alle neueren Datums sind, bauen auf dem 2010 erschienenen Buch auf, das B. Sharon Byrd und ich zum Thema »Kants Rechtsphilosophie« geschrieben haben (Kant’s Doctrine of Right – A Commentary, Cambridge, Cambridge University Press 2010; in diesem Buch zitiert als Commentary). Die sechs Kapitel enthalten nicht einfach Wiederholungen, sie sind vielmehr Fortsetzungen unserer früheren Ausführungen. Sie arbeiten insbesondere auch, soweit das bei dem bisherigen Forschungsstand möglich ist, den historischen Kontext auf, in dem die Metaphysik der Sitten und die anderen einschlägigen Schriften Kants geschrieben worden sind, was zu ihrem Verständnis erheblich beiträgt. Die Voraussetzungen, die ich dabei mache, haben wir in unserem Commentary vorgestellt. 1 Wie in unserem Commentary geht es mir in den ersten sechs Kapiteln, wie groß der Umweg auch sein mag, immer auch um eine sachgerechte Interpretation von Kants Rechtslehre von 1797/98, dem so lange vernachlässigten reifsten Werk Kants zur Rechtsphilosophie. Viele der früheren Werke Kants zum Thema enthalten, von Kants eigenem späteren Standpunkt aus gesehen, Fehler, die der Autor in der Rechtslehre zu vermeiden, und Mängel, die er zu beheben sucht. Bei den neun Kapiteln des Bandes geht es in erster Linie um eine Interpretation von Kants Lehre so, wie er selbst sie ins Auge gefaßt hat. Das ist jedenfalls mein Ziel. Denn der Leser von Kants Schriften 1
Commentary S. 9–22.
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Vorwort
kann sich mit seiner (Kants) Moralphilosophie erst und nur dann ernstlich auseinandersetzen, wenn er weiß, was Kant selbst zu dem jeweiligen Thema gedacht hat. Anderenfalls wird er (der Leser) lediglich zum (ersten) Opfer seiner eigenen Ideologie. Daraus, daß ein Interpret ein, sagen wir, ABCDist ist, 2 folgt an sich für die Kant-Interpretation nichts. Häufig aber erklärt der ABCDismus des Interpreten, warum der Interpret eine bestimmte Interpretation, manchmal auf Biegen oder Brechen, bevorzugt, und die Interpretation sagt dann über den Interpreten mehr aus als über Kant. Maßgeblich für die Interpretation sind danach Kants eigene Texte und darüber hinaus die allgemeine Denkweise und die Sprache des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Interpreten deutscher Muttersprache (das schließt mich selbst ein) sind natürlicherweise geneigt, das Deutsch Kants vom heutigen Deutsch her zu verstehen, und es erfordert eine gewisse Kraft zu reflektieren, daß uns von der Sprache Kants mehr als zwei Jahrhunderte trennen. Ein gutes Beispiel liefert das Wort »in« in dem Ausdruck »in der Versammlung der Generalstaaten« (6:350,27–28; § 61), das der scharfsinnigsten Interpretation trotzt, wenn man es dem heutigen »in« gleichsetzt. Im 18. Jahrhundert aber kann das »in« (in unserer heutigen Sprache) »bei« bedeuten, und das Problem, das die Stelle stellt, löst sich mehr oder weniger von selbst auf, wenn man das berücksichtigt. 3 Die Kapitel dieses Buches sind unabhängig voneinander entstanden, was gelegentlich zu (freilich nur geringfügigen) Überschneidungen führt. 4 Das ist kein Nachteil, da die Überschneidungen meistens Ich lasse offen, was ein ABCDist ist. Jede beliebige Ideologie, die heute im Schwange ist, kann für das ABCD eingesetzt werden. 3 S. dazu unten das fünfte Kapitel Abschn. V. 4 Das erste, das zweite, das fünfte und das sechste Kapitel sind (in deutscher Sprache) bisher noch nicht erschienen. [Das sechste Kapitel entspricht meinem Beitrag zu dem von Lara Denis & Oliver Sensen herausgegebenen Sammelband Kant’s Lectures on Ethics: A Critical Guide Cambridge, Cambridge University Press 2015 S. 170–183. Ich danke den Herausgebern und dem Verlag, daß sie in den Abdruck der deutschen Fassung eingewilligt haben.] Das dritte Kapitel wurde zuerst in: H.-U. Paeffgen u. a. (Hg.) Strafrechtswissenschaft als Analyse und Konstruktion – Festschrift für Ingeborg Puppe zum 70. Geburtstag Berlin Duncker und Humblot 2011 S. 17–37 publiziert, das vierte Kapitel zuerst in: Matthias Jahn u. a. (Hg.) Strafrechtspraxis und Reform – Festschrift für Heinz Stöckel Berlin Duncker und Humblot 2010 S. 77–92. Das siebte Kapitel ist zuerst im Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Bd. 88 (2002) S. 463– 480 erschienen, das achte Kapitel in: Sabine Doyé u. a. (Hg.) Metaphysik und Kritik – Festschrift für Manfred Baum zum 65. Geburtstag Berlin Walter de Gruyter 2004 S. 167–181. Das neunte Kapitel wurde zuerst im Jahrbuch für Recht und Ethik Bd. 12 2
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Vorwort
den Rechtsstaat betreffen, der im Mittelpunkt der Rechtslehre steht, was nicht oft genug betont werden kann. An den Teilen des Buches, die schon einmal veröffentlicht worden sind, habe ich einige kleinere Änderungen vorgenommen, meistens in den Fußnoten, es im übrigen aber im großen und ganzen bei den Texten belassen. Das dritte Kapitel habe ich gegenüber der früheren Publikation um einen Zusatz erweitert. An dieser Stelle (und in der Fn. 6 zum dritten Kapitel) habe ich meine frühere Interpretation verbessert und die Verbesserung auch kenntlich gemacht. Das vierte Kapitel habe ich um die (alte) Einleitung gekürzt, wogegen ich das neunte Kapitel erweitert und Kants Stellungnahme zur Goldenen Regel genauer dargestellt habe. Ein Wort ist noch zu dem Anhang zu sagen, der wohl nicht mehr als eine »Interpretation« von Kants Moralphilosophie im engeren Sinne bezeichnet werden kann. Der Anhang befaßt sich mit einer »Kritik« an Kant aus dem Jahre 1968. Er steht in einem engen Zusammenhang mit dem dritten Kapitel dieses Bandes und ist gleichzeitig mit dem dritten Kapitel entstanden. Ich drucke ihn hier auch deswegen ab, damit künftige Historiker einen Leitfaden haben, wenn sie das moralische und intellektuelle Niveau der »kritischen« Literatur der Jahre 1968 ff. beurteilen wollen. Ich widme dieses Buch dem Andenken an meine Frau und MitAutorin B. Sharon Byrd (1947–2014). Ihre hohen menschlichen Qualitäten und ihr scharfer analytischer Verstand bei der wissenschaftlichen Arbeit, die so oft eine gemeinsame Arbeit war, wirken weiter. Nachrufe auf B. Sharon Byrd (von Alice Pinheiro Walla, Karl Meessen, Heather M. Roff und Franz Streng) und ein Verzeichnis ihrer Schriften sind im Jahrbuch für Recht und Ethik / Annual Review of Law and Ethics Bd. 22 (2014) S. 1–14 abgedruckt.
(2004) S. 157–172, der Anhang zuerst in der Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft Bd. 122 (2010) S. 493–503 abgedruckt.
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Abkürzungsverzeichnis
a. F. ALR BGB BGBl. Collins Commentary
EGStGB Feyerabend GA Grundlegung »Gemeinspruch« GVG HRG Kaehler KprV KrV MdS Mrongovius MrongoviusAnthropologie Powalski R. Rechtslehre Religionsschrift RGBl. StGB StrRG StPO Tugendlehre
alte Fassung Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Vorlesungsnachschrift vom WS 1784/85 Byrd, B. Sharon / Hruschka, Joachim Kant’s Doctrine of Right – A Commentary, Cambridge, Cambridge University Press 2010 Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch Vorlesungsnachschrift vom SS 1784 Goltdammer’s Archiv für Strafrecht Grundlegung zur Metaphysik der Sitten »Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis« Gerichtsverfassungsgesetz Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte Vorlesungsnachschrift vom WS 1776/77 Kritik der praktischen Vernunft Kritik der reinen Vernunft Die Metaphysik der Sitten Vorlesungsnachschrift vom WS 1782/83 Vorlesungsnachschrift vom WS 1784/85 Vorlesungsnachschrift vom WS 1778/79 Reflexion Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft Reichsgesetzblatt Strafgesetzbuch Gesetz zur Änderung des Strafrechts Strafprozeßordnung Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre
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Erstes Kapitel: Kant und der Rechtsstaat
Das Wort »Rechtsstaat« ist heute in aller Munde. In den (gehobenen) Tageszeitungen kann man es beinahe täglich lesen. Nicht mehr bekannt ist dagegen die Rolle, die, gegen Ende des 18. Jahrhunderts, Kants Rechtsphilosophie für die Entwicklung des Begriffs des »Rechtsstaats« spielt. Immanuel Kant ist der Schöpfer des Begriffs, und auch bei der Schaffung des Kunstwortes »Rechtsstaat« hat er Pate gestanden. Verdanken wir also Kant, als erster formuliert zu haben, was den juristischen Kern des Staates ausmacht, dann verlangt diese herausragende Bedeutung seiner Rechtsphilosophie auch, daß wir zur Kenntnis nehmen, was ihr Autor zum Rechtsstaat zu sagen hat. Die bisher zum Thema »Kant und der Rechtsstaat« vorliegenden Untersuchungen beschränken sich auf einzelne Aspekte, weil sie nicht sehen, daß der Rechtsstaat das eigentliche Anliegen von Kants Rechtsphilosophie ist. 1 Dieses erste Kapitel versucht, hier Abhilfe zu schaffen und das zentrale Anliegen Kants herauszuarbeiten. 2 Für das im Grunde erstaunliche Phänomen, daß Kant der Schöpfer des Rechtsstaatsgedankens ist und heutzutage das so gut wie niemand mehr weiß, 3 gibt es eine Reihe von Erklärungen, die hier nicht alle aufgezählt werden müssen. Kants Rechtsphilosophie war, obwohl sie einerseits vom letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts an eine erhebliche (auch politische) Wirkung gehabt hat, andererseits doch schon zum Zeitpunkt ihrer Entstehung offensichtlich keine leicht verständliche Lektüre. Heute kommt insbesondere hinzu, daß wir, was wir nicht verkennen dürfen, nach mehr als zweihundert Jahren nicht mehr dieselbe Sprache sprechen wie Kant. Das Kapitel versucht, auch
Vgl. etwa: Dietze Kant und der Rechtsstaat 1982; Brocker Kant über Rechtsstaat und Demokratie 2006. 2 Zum Rechtsstaat vgl. im Commentary vor allem die ersten beiden Kapitel. 3 Zur heutigen Literatur s. unten Fn. 16. 1
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I · Kant und der Rechtsstaat
in diesem Punkt Abhilfe zu schaffen und einige sprachliche Schwierigkeiten zu beheben. Kant hat Jahrzehnte um den Begriff des Rechtsstaats gerungen. Das kann man an seinen einschlägigen Schriften, an einigen seiner Vorlesungen, von denen uns Nachschriften erhalten geblieben sind, und an anderen auf uns überkommenen Materialien ablesen. Zu den einschlägigen Schriften gehören der Aufsatz »Über den Gemeinspruch« von 1793, die Schrift Zum ewigen Frieden von 1795 und die Metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre von 1797/98. Seine Gedanken zum Rechtsstaat als System hat Kant in der Rechtslehre entwickelt und zusammengefaßt. Das Kapitel geht daher von der Rechtslehre aus und zieht die früheren Arbeiten (und anderes Material) nur heran, wenn es notwendig ist, die Überlegungen Kants in der Rechtslehre näher zu erläutern. Wir gehen zuerst auf die Geschichte des Wortes »Rechtsstaat« (unten I.), dann auf den Begriff des Rechtsstaats ein (unten II.). Danach kommen die subjektiven Rechte zur Sprache, die Menschen haben bzw. haben können, das ursprüngliche Freiheitsrecht einschließlich der Gleichheit (unten III. und IV.) und die erworbenen Rechte (unten V.). Die »öffentliche Gerechtigkeit« (wir müssen hier u. a. an die öffentliche Gerichtsbarkeit denken, die wir heute noch »Justiz« nennen) wird unter VI. und VII. angesprochen. VIII. behandelt die Unterscheidung und Trennung der drei staatlichen Gewalten. Unter IX. geht es um das Verhältnis von Rechtsstaat und Demokratie, unter X. um das Verhältnis von Rechtsstaat und Wohlfahrtsstaat, unter XI. um das von Rechtsstaat und Utilitarismus. Gegenüber dem positiven Recht hat der Begriff des Rechtsstaats eine kritische Funktion (unten XII.). XIII. spricht das Völkerstaatsrecht und das Weltbürgerrecht an, die beide von Kant gefordert werden. Die Schlußbemerkung (XIV.) geht auf den Frieden ein, der durch den Rechtsstaat geschaffen wird.
I.
Zur Geschichte des Wortes »Rechtsstaat«
Um uns dem Begriff des Rechtsstaats zu nähern, müssen wir uns zunächst mit der Wortgeschichte befassen. Diese Wortgeschichte beginnt mit den Vorlesungen, die Kant in den 1770er und 1780er Jahren in Königsberg über das Naturrechtskompendium des Göttinger Professors Gottfried Achenwall gehalten hat. Seit Thomas Hobbes hat 14 https://doi.org/10.5771/9783495807989 .
Zur Geschichte des Wortes »Rechtsstaat«
sich die Naturrechtslehre mit dem »status naturalis«, dem »natürlichen Zustand« oder »Naturzustand«, befaßt. In seinem Ius Naturae stellt Achenwall 4 dem »status naturalis« den »status socialis«, den »gesellschaftlichen Zustand«, gegenüber. Kant kritisiert das. Dem Naturzustand stehe nicht der »status socialis«, sondern der »status iuridicus« gegenüber. 5 »Status iuridicus« ist das entscheidende Stichwort, das Kant auch in seinen Publikationen verwendet, 6 aber dann bald durch den Ausdruck »rechtlicher Zustand« ersetzt. Der rechtliche Zustand steht im Mittelpunkt der Rechtslehre. Kants Anhänger Georg Samuel Albert Mellin spricht aber schon 1796 von »rechtlicher Staat«, womit er Kants »status iuridicus« meint. 7 Um dieselbe Zeit erfindet Johann Wilhelm Petersen, ein anderer Anhänger Kants, das Wort »Rechtsstaat«, ebenfalls eine Übersetzung von Kants »status iuridicus«. 8 Genau genommen erfindet Petersen nicht das Wort »Rechtsstaat«, sondern er erfindet den Ausdruck »Rechts-StaatsLehrer«, den er dem überkommenen Ausdruck »Staats-Rechts-Lehrer« ironisch gegenüberstellt. Die Staatsrechtslehrer sind die Leute, die sich mit dem so genannten Staatsrecht eines beliebigen »Staates« (im heutigen Sinne des Wortes »Staat«) 9 befassen, gleichgültig wie Kant benutzt die 5. Auflage von 1763. Zur Bedeutung von Achenwall für Kants Rechtsphilosophie s. Commentary S. 15–19. 5 Ein Widerhall dieser Vorlesungen findet sich noch in § 41 von Kants Rechtslehre (6:306,17–22), wo es heißt, dem »natürlichen Zustand (status naturalis)« werde »nicht der gesellschaftliche Zustand (wie Achenwall meint),« sondern »der rechtliche Zustand« entgegen gesetzt. 6 »Status iuridicus« finden wir im »Gemeinspruch« (8:292,33) und in Zum ewigen Frieden (8:383,13). Kant benutzt den Ausdruck noch in den Vorarbeiten zur Rechtslehre (23:211,9). – Der Ausdruck »status iuridicus« ist nicht neu. Wir würden ihn in seiner älteren Bedeutung heute (in einer halben Übersetzung) mit »rechtlicher Status« wiedergeben. »Was für einen rechtlichen Status hat diese Person?« Kant greift den Ausdruck auf und verwendet ihn in der neuen Bedeutung, die Gegenstand dieses Kapitels ist. 7 Mellin S. 118 (§ 239). 8 Der Autor schreibt unter dem Pseudonym »Jo. Wilhelm Placidus«, das Buch hat den Titel Litteratur der Staatslehre – Ein Versuch, Erste Abtheilung Strasburg 1798. In der Sekundärliteratur wird angenommen, daß das Buch nicht in Straßburg, sondern in Stuttgart und auch nicht 1798, sondern früher erschienen ist. Vgl. Fischer in: ADB Bd. 25 S. 506–508, und Hamberger / Meusel Das gelehrte Teutschland 5. Aufl. Bd. 10 S. 406. 9 Es kommt darauf an, den Ausdruck »Staat« bei Kant richtig zu verstehen. In der Rechtslehre ist »Staat« die Bezeichnung für den »rechtlichen Zustand der einzelnen im Volke in Verhältnis zueinander« (6:311,8–15; § 43). »Staat« meint danach den Rechtsstaat. Die heutige (positivistische) Bedeutung von »Staat« als »jedes politisch 4
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I · Kant und der Rechtsstaat
dieses Staatsrecht inhaltlich aussieht. Es kann auch das Staatsrecht eines despotischen oder semi-despotischen »Staates« sein. Die Rechtsstaatslehrer dagegen denken darüber nach, wie ein Staat und sein Recht aussehen sollen. Zu der von ihm so genannten »Schule der Rechts-Staats-Lehrer« zählt Petersen als ersten Kant. 10 Das neue Wort »Rechtsstaat« fristet dann rund anderthalb Jahrzehnte lang ein eher kümmerliches Dasein. Kants Einfluß in den ersten zwei, drei Jahrzehnten nach dem Jahre 1800 war offensichtlich gewaltig, 11 was auch von den Zeitgenossen selbst so gesehen worden ist. 12 Infolgedessen benutzen die Autoren dieses Zeitraums, die sich zum Staatsrecht äußern, etwa Karl Heinrich von Gros oder Paul Johann Anselm Feuerbach, Kants eigene Terminologie und sprechen (statt von »Rechtsstaat«) vom »rechtlichen Zustand«. 13 Das ändert sich im Laufe der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nur langsam. Eine erste größere Rolle spielt der Ausdruck »Rechtsstaat« 1813 in dem Erstlingswerk von Carl Theodor Welcker über Die letzten Gründe von Recht, Staat und Strafe. 14 Johann Christoph von Aretin, der organisierte Land von hinlänglicher Selbständigkeit« hat sich erst um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert durchgesetzt; vgl. Willoweit HRG Bd. IV Sp. 1793. Kant geht in der Rechtslehre also noch von einer älteren Bedeutung von »Staat« aus. Aretin Staatsrecht I S. 4 Fn. zählt einige Autoren auf, die noch im 19. Jahrhundert einen nicht als rechtlich organisierten Staat nicht als »Staat« anerkennen. 10 Petersen S. 73. Neben Kant werden noch Fichte und Reinhold genannt. An anderen Stellen benutzt Petersen den Ausdruck »rechtlicher Zustand«. 11 Die Rechtslehre ist sofort (in den ersten dutzend Jahren) nach ihrem Erscheinen an vielen deutschen Universitäten zur Grundlage von naturrechtlichen (rechtsphilosophischen) Vorlesungen gemacht worden. In der Zeit danach war Gros, der als Kantianer galt, der meistbenutzte Autor (zu Gros s. unten Fn. 13 und Fn. 62). Vgl. Schröder/ Pielemeier S. 261–263. 12 Mohl S. 242. Die Stelle ist auch abgedruckt bei Rückert S. 162. 13 Gros 4. Aufl. S. 17 (§ 46 Anm. 2), S. 207 (§ 289); Feuerbach Lehrbuch 1. Aufl. S. 12–13 (§§ 9–11); 11. Aufl. S. 13–14 (§ 8); Bauer S. 18 (§ 16), S. 263 (§ 196); Marezoll, der auf S. 28–63 (§§ 28–66) ausführlich die Notwendigkeit, die Möglichkeit und die Wirklichkeit eines rechtlichen Zustandes behandelt; Hegel S. 342 und Rotteck S. 62 sprechen vom »Rechtszustand«. 14 Welcker S. 11, 25 ff., 71 ff., 166 ff. u. ö. – Es ist möglich, daß Welcker den Ausdruck »Rechtsstaat« (unmittelbar oder mittelbar) von Petersen übernimmt. Aber das muß nicht so sein. Welcker kennt neben der Rechtslehre auch Kants »Gemeinspruch« genau, den er nach einem Nachdruck von 1794 zitiert (S. 105, S. 167). Da Kant im »Gemeinspruch« den Ausdruck »status iuridicus« benutzt (s. o. Fn. 6), kann Welcker die Übersetzung »Rechtsstaat« auch selbst gefunden haben. – Neben dem Wort »Rechtsstaat« verwendet W. gelegentlich auch den Ausdruck »rechtlicher Zustand« (etwa S. 249).
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Kants Definition eines rechtlichen Zustandes
1824 ein Buch über das Staatsrecht der konstitutionellen Monarchie schreibt, benutzt die Ausdrücke »Rechtszustand«, »rechtlicher Staat« und »Rechtsstaat« nebeneinander. 15 Noch vor der Mitte des 19. Jahrhunderts greift der einflußreiche Tübinger Professor Robert von Mohl den Ausdruck »Rechtsstaat« in einer Reihe von Büchern auf. Das Wort wird dadurch populär. Seitdem hält es seinen Siegeszug durch die Literatur bis hin zum heutigen Tag. 16
II.
Kants Definition eines rechtlichen Zustandes
In § 41 der Rechtslehre definiert Kant: »Der rechtliche Zustand ist dasjenige Verhältnis der Menschen untereinander, welches die Bedingungen enthält, unter denen allein jeder seines Rechts teilhaftig werden kann.« 17 Das ist der ganze Sinn eines rechtlichen Zustandes: Daß jeder seines Rechts teilhaftig werden kann. Das soll heißen: Daß jedem die (subjektiven) Rechte, die er hat, nicht nur nominell (»auf dem Papier«) zustehen, sondern daß er diese seine Rechte auch ausüben kann. Wir können das soeben Gesagte in seiner Bedeutung kaum überschätzen. Mit seiner Definition denkt Kant zum ersten Male den Rechtsstaat. Ein Rechtsstaat ist eine tatsächliche Situation, die dadurch ausgezeichnet ist, daß jedermann die subjektiven Rechte, die er hat, auch ausüben kann. Wenn ich (rechtswidrig) eingesperrt bin, dann habe ich zwar nach wie vor ein Recht auf (äußere) Freiheit, wie es etwa in § 239 des heutigen StGB vorausgesetzt wird. Ich kann das Recht aber nicht ausüben. In einem Rechtsstaat lebe ich, wenn ich das Freiheitsrecht und die anderen Rechte, die ich habe, auch tatsächlich ausüben kann.
Erster Band S. 1: »Rechtszustand«; S. 2: »rechtlicher Staat«; S. 4 Fn. 5, S. 71, S. 163: »Rechtsstaat«. 16 In groben Zügen ist ein Teil dieser Geschichte – beginnend mit Petersen (!) – schon seit einiger Zeit bekannt. Was die bisherige Geschichtsschreibung freilich ausgelassen hat, ist (auch wenn Kants Name erwähnt wird) die Rolle, die Kants Rechtslehre dabei spielt und die die zentrale, die eigentlich entscheidende Rolle ist. Vgl. G.-Chr. v. Unruh S. 251–281; Stolleis HRG IV., insbes. Sp. 368–369; Böckenförde Sp. 332–342; s. auch Schmidt-Aßmann S. 549. 17 6:305,34–306,1 (§ 41), Hervorhebung im Original. Eine ähnliche Definition findet sich schon in Zum ewigen Frieden (8:383,9–10), aber dort hat sie noch nicht die zentrale Bedeutung, die sie in der Rechtslehre hat. 15
17 https://doi.org/10.5771/9783495807989 .
I · Kant und der Rechtsstaat
Kants Definition setzt voraus, daß wir auch im nicht-rechtlichen Zustand, im Naturzustand, Rechte haben. Diese Rechte sind Rechte »vor« aller bürgerlichen Verfassung oder »abgesehen« von der bürgerlichen Verfassung. 18 Damit unterscheidet sich Kant grundlegend von Hobbes, der für den Naturzustand annimmt, daß jeder ein »Recht auf alles« hat, was im Ergebnis darauf hinausläuft, daß keiner irgendwelche Rechte hat. Kant distanziert sich von Hobbes. Im Naturzustande gibt es nicht nur ein »inneres Mein und Dein« (d. i. das Freiheitsrecht), 19 es gibt auch ein »äußeres Mein und Dein«, d. i. es gibt im Naturzustande Eigentum an Sachen, es gibt Ansprüche von Gläubigern gegen ihre Schuldner, es gibt familienrechtliche Rechte. 20 Die Rechte, die wir im Naturzustand haben, sind freilich noch »provisorisch (einstweilig)«. 21 Die Funktion eines rechtlichen Zustandes ist es, unsere Rechte zu »peremtorischen«, zu »gesicherten« Rechten zu machen. 22 Kant betont das immer wieder. Wenn er verlangt, daß wir den Naturzustand verlassen, dann formuliert er das einmal wie folgt: »Tritt in einen Zustand, worin jedermann das Seine gegen jeden anderen gesichert sein kann!« 23 Es ist diese Sicherung unserer Rechte, um die es bei einem rechtlichen Zustand geht. Unsere Rechte sind danach keine »Grundrechte«, die der Staat uns verleiht (und also auch wieder entziehen kann). Sie sind vorstaatliche Rechte, denen Rechtspflichten der anderen Personen entsprechen, die diese Rechte zu respektieren haben. 24 Die Rechtspflicht, meine Rechte zu respektieren, trifft infolgedessen auch den Staat, dem keine höhere Autorität zukommt (oder wie auch sonst man das ausdrücken mag), sondern der (ganz nüchtern) aus mir (dem Rechtsinhaber) und den verpflichteten anderen Personen besteht, deren Pflichten der Staat also teilt. Es ist also keineswegs so, daß unsere
6:256,31–33 (§ 9). Vgl. auch die unmittelbar voranstehende Bemerkung 6:256,27– 29, wo es heißt, daß im rechtlichen Zustand »jedem das Seine nur gesichert,« nicht aber »ausgemacht und bestimmt wird.« 19 Zur Terminologie 6:237,24–25 (Einteilung der Rechtslehre B). 20 6:312,34–313,8 (§ 44), wo Kant ausführt, daß es im Naturzustand ein äußeres Mein und Dein geben muß, weil es sonst kein Gebot gäbe, in einen rechtlichen Zustand einzutreten. 21 6:256,35–257,5 (§ 9). 22 Terminologie nach 6:292,28–30 (§ 33), Hervorhebung von mir. 23 6:237,7–8 (Einteilung der Rechtslehre A). 24 Zu dem Korrespondenzverhältnis zwischen den Rechten des einen und den Rechtspflichten des (der) anderen vgl. 6:383,5–8 (Einleitung zur Tugendlehre II.). 18
18 https://doi.org/10.5771/9783495807989 .
Das Axiom der äußeren Freiheit
Rechte (wie manche Politiker glauben) zur Disposition des Staates stünden. Kant bleibt bei der Definition des rechtlichen Zustandes, die wir oben wiedergegeben haben, nicht stehen. Er formuliert darüber hinaus die Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit ein rechtlicher Zustand erreicht werden kann. Das wird weiter unten (unter VI. und VII.) auszuarbeiten sein. Vorher müssen wir auf die Rechte zu sprechen kommen, um deren Sicherung es in einem rechtlichen Zustande geht.
III. Das Axiom der äußeren Freiheit Wie gesagt, unterscheidet Kant zwischen dem »inneren« 25 und dem »äußeren Mein und Dein«. 26 Das innere Mein und Dein betrifft das Recht eines jeden auf äußere Freiheit, das Kant auch als ein »ursprüngliches Recht« bezeichnet (abgesehen davon, daß er den Ausdruck »angeboren«, als Übersetzung des traditionellen »connatum«, benutzt und von einem »angeborenen Recht« spricht). Die Vergleichungsbegriffe »innen« und »außen« (oder: »innerlich« und »äußerlich«) verwendet Kant an verschiedenen Stellen der Rechtslehre. 27 Zu diesem Begriffspaar heißt es in der Kritik der reinen Vernunft: »An einem Gegenstande des reinen Verstandes ist nur dasjenige innerlich, welches gar keine Beziehung (dem Dasein nach) auf irgend etwas von ihm Verschiedenes hat.« Innerlich ist vor allem das reine Denken selbst. 28 Kants Beispiel für ein reines Denken, das er immer wieder bringt, ist die Euklidische Geometrie, die sich lediglich auf sich selbst bezieht und also »dem Dasein nach« keine Beziehung auf irgend etwas anderes hat, auch nicht auf die Ufer des Nil, zu deren Vermessung sie benutzt worden ist. Ähnlich ist das Recht auf äußere Freiheit 6:237,24–25; 6:238,21–22 (Einteilung der Rechtslehre B). Vgl. auch 6:254,6–7 (§ 7): »inneres Recht«. 26 Etwa 6:245,5 (Überschrift vor § 1). 27 Vgl. Commentary S. 55–56 und S. 62–63. – Auch die Unterscheidung von »innerer« und »äußerer Freiheit« (etwa 6:396,19 einerseits und 6:396,5 und 13 andererseits; Einl. z. Tugendlehre X.) gehört hierher. Zur inneren Freiheit vgl. Commentary S. 84– 87. – Zur äußeren Freiheit als einem »inneren Recht« s. 6:254,3–7 (§ 7) und unten zweites Kapitel Abschn. VI, Text zu Fn. 74. – Zur Unterscheidung von »innerem« und äußerem Wert« s. unten das siebte Kapitel Abschn. VI. Fn. 87. 28 3:217,29–218,11 (B 321). 25
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ein inneres Recht, weil es auf reinem Denken beruht. Das Recht auf äußere Freiheit ist der logische Ausgangspunkt jeder Rechtslehre, die ohne dieses Recht nicht einmal ansatzweise gedacht werden kann. Kant spricht deshalb auch vom »Axiom der äußeren Freiheit«. 29 Ein Axiom (schon Euklid verwendet den Begriff) ist eine Annahme, ohne die das System, dessen Axiom sie ist, nicht gedacht werden kann. Es gibt kein (objektives) Recht, und es gibt keine (subjektiven) Rechte, wenn wir nicht vom Axiom der äußeren Freiheit ausgehen. Wir müssen das Recht auf äußere Freiheit richtig verstehen. Kant definiert Freiheit als »Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür«. 30 Damit lehnt er sich an Achenwall an, der in seinem Ius Naturae Freiheit als »Unabhängigkeit im Handeln von der Willkür eines anderen« bezeichnet. 31 Kant ergänzt Achenwalls Definition durch die nähere Bestimmung der Willkür des anderen, der meine Freiheit durch eine Nötigung einschränkt. »Nötigung« ist im Strafrecht des späten 18. Jahrhunderts ein neuer Begriff. Im ALR von 1794 gibt es zum ersten Male in der Geschichte einen Straftatbestand der Nötigung. Im ALR ist Nötigung (nicht viel anders als im heutigen § 240 StGB) u. a. durch die Anwendung von »Gewalt« definiert. 32 Danach ist Nötigung das In-Not-Bringen eines Menschen durch Gewalt. »Freiheit« bedeutet deshalb (nach Kant), daß ich von anderer Leute Gewaltanwendung unabhängig bin. Gewalt ist nicht nur eine sog. vis compulsiva (»zwingende Gewalt«), sondern Gewalt ist auch eine vis absoluta, also die schlichte Gewaltanwendung selbst. Durch die Ergänzung von Achenwalls Definition mit Hilfe des Nötigungsbegriffs gelingt es Kant, das Recht auf Leben und das auf körperliche Unversehrtheit in das Recht auf äußere Freiheit einzubringen, das dadurch zu einem umfassenden subjektiven Recht wird. Das Recht auf Leben ist nichts anderes als ein Recht auf Freiheit von fremder Gewaltanwendung. Dasselbe gilt für das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Die beiden Rechte gehören zum Kernbereich des (umfassenden) Freiheitsrechts. 33 Der verbreitete Vorwurf, daß bei Kant wichtige 6:267,12–13 (§ 16); 6:268,25 (§ 17). 6:237,29 (Einteilung der Rechtslehre B). 31 Achenwall Ius Naturae I 5. Aufl. S. 66 (§ 77): »Libertas … est independentia in agendo a voluntate alterius.« 6. Aufl. S. 63 (§ 70): »Libertas … continet … independentiam in agendo ab arbitrio alius.« 32 ALR II 20 § 1077: »Wer … einen Menschen, der seines Verstandes mächtig ist, mit Gewalt … wider seinen Willen zu etwas nöthigt, …« 33 Um Mißverständnissen vorzubeugen, sei erwähnt, daß natürlich das Recht auf 29 30
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Das Axiom der äußeren Freiheit
Rechte heutiger (und früherer) Grundrechtskataloge fehlen, liegt neben der Sache. Kant geht es gerade darum, keinen »Katalog« (d. i. keine bloße Ansammlung) heterogener Rechte zu produzieren, sondern er legt, wie er ausdrücklich sagt, Wert darauf, das (umfassende) Freiheitsrecht als ein »einziges« Recht zu begreifen. 34 Die einzelnen »Befugnisse«, die er im Zusammenhang mit dem Freiheitsrecht im Anschluß an eine von Achenwall zusammengestellte Liste aufzählt, 35 »liegen schon im Prinzip der angeborenen Freiheit und sind wirklich von ihr [der angeborenen Freiheit] nicht … unterschieden.« 36 Die Befugnisse bilden eine Einheit. Sie bilden ein System, und sie müssen ein System bilden, weil sie (wie die Euklidische Geometrie) von einem reinen Denken hervorgebracht werden. Ein Moment des umfassenden Freiheitsrechts ist das Selbstbestimmungsrecht, oder, wie Kant sagt, daß jeder Mensch die Qualität hat, »sein eigener Herr (sui iuris) zu sein.« 37 Ein anderes Moment ist die Meinungsäußerungsfreiheit. Die Meinungsäußerungsfreiheit ist die Befugnis, anderen »bloß seine Gedanken mitzuteilen, ihnen etwas zu erzählen oder zu versprechen, es sei wahr und aufrichtig oder unwahr und unaufrichtig …, weil es bloß auf ihnen beruht, ob sie ihm glauben wollen oder nicht«. 38 Kant ist dafür kritisiert worden, persönliche Bewegungsfreiheit, das der heutige § 239 StGB schützt, ein Moment des umfassenden Freiheitsrechts bleibt. 34 6:237,29 und 31 (Einteilung der Rechtslehre B). Siehe auch die nächste Fußnote (am Ende). 35 Achenwall bringt unter der Überschrift »Jus naturale absolutum« (Absolutes Naturrecht) 1) das »Ius cuiusvis respectu sui ipsius« (das Recht jedermanns mit Bezug auf seine eigene Person), 2) die »Aequalitas Naturalis« (die natürliche Gleichheit), 3) die »Libertas naturalis« (die natürliche Freiheit), 4) das »Ius circa declarationem mentis« (das Recht, seine Gedanken mitzuteilen), 5) das »Ius circa existimationem« (das Recht auf Schätzung [im Urteil anderer]), 6) unter dem Titel »Ius circa res« (das Recht mit Bezug auf Sachen) das Recht jedermanns, Sachen zu gebrauchen, wenn durch diesen Gebrauch niemand in seinen Rechten verletzt wird; vgl. Ius Naturae I 5. Aufl. S. 56–91, §§ 63–108. Der Zusammenhang mit Kants Liste in 6:237,29–238,9 liegt auf der Hand. – Gleich am Beginn der Liste (in § 64) bringt Achenwall das »ius naturale in corporis vitaeque suae conservationem« (das Recht auf die Bewahrung seines Körpers und seines Lebens), und vor diesem Hintergrund wäre es schon sehr erstaunlich anzunehmen, daß Kant bei seinen Überlegungen das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit »vergessen« haben könnte. 36 6:238,9–11 (Einteilung der Rechtslehre B). 37 6:238, 1 (Einteilung d. Rechtlehre B). Das »sui iuris« (wörtlich: »eigenen Rechts«) ist ein juristischer Terminus technicus, der aus dem Römischen Recht stammt, vgl. etwa Institutiones 1,8. 38 6:238,5–9 (Einteilung der Rechtslehre B).
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daß auch unwahre und unaufrichtige Mitteilungen erlaubt sein sollen. Nicht zuletzt wird angeführt, daß das juristische Recht zu lügen in einem Widerspruch zu seiner (Kants) Ethik stehe, in der Kant sich »rigoros« gegen alles Lügen wende. 39 Die Antwort auf diese Kritik ist einfach. Mehr noch als für ein ethisches Verbot zu lügen tritt Kant für die Freiheit ein. Nehmen wir einmal an, das Mitteilungsrecht, das jedem Menschen zukommt, sei auf korrekte Mitteilungen eingeschränkt. In einem solchen Falle könnte jeder, dem inkorrekte Mitteilungen zu Ohren kommen, gegen diese Mitteilungen einschreiten, notfalls mit Gewalt. Oder, wenn man das nicht will, dann könnte jedenfalls eine oberste Wahrheitsbehörde einschreiten. Es ist aber eine Sache, ob mir mein Gewissen verbietet, die Unwahrheit zu sagen (das ist die ethische Seite), und es ist eine andere Sache, ob andere Leute darüber wachen, daß ich immer die Wahrheit sage, weil ich kein Recht habe, die Unwahrheit zu sagen. Wenn jeder (oder wenigstens die oberste Wahrheitsbehörde) einschreiten darf, wenn ich inkorrekte Mitteilungen mache, kann von Meinungsäußerungsfreiheit keine Rede mehr sein. Wir befinden uns dann bereits auf dem Wege in eine Diktatur. Es sollte daher nachdenklich stimmen, wenn heute bestimmte (unwahre) Mitteilungen, die Menschen machen, von Staats wegen bestraft werden.
IV. Gleichheit als gleiches Verpflichtungsvermögen Ein Moment des umfassenden Freiheitsrechts, das wir noch nicht angesprochen haben, ist »die angeborene Gleichheit«, aus der vor allem das Selbstbestimmungsrecht folgt. Kant definiert die »angeborene Gleichheit« als »die Unabhängigkeit, nicht zu mehrerem von anderen verbunden zu werden, als wozu man sie wechselseitig auch verbinden kann.« 40 »Verbinden« (wir benutzen heute noch »Verbindlichkeit«) bedeutet »verpflichten«, und zwar »aktiv verpflichten« (wir würden heute vielleicht sagen: »in die Pflicht nehmen«). Durch mein Dasein als Person verbinde (verpflichte) ich alle anderen, mich und meine subjektiven Rechte zu respektieren. Durch den (ursprünglichen oder In der Tat heißt es in § 9 der Metaphysischen Anfangsgründe der Tugendlehre von 1797 (= 6:429,4–6), daß die Lüge (das »Widerspiel der Wahrhaftigkeit«) die »größte Verletzung der Pflicht des Menschen gegen sich selbst« sei. 40 6:237,32–34 (Einteil. d. Rechtslehre B). 39
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Gleichheit als gleiches Verpflichtungsvermögen
abgeleiteten) Erwerb einer Sache verbinde (verpflichte) ich alle anderen, mein Eigentum an der Sache (in der Praxis) anzuerkennen. Durch die Annahme eines Vertragsangebots verbinde (verpflichte) ich den Vertragspartner (der dann »Schuldner« heißt), seine Verbindlichkeiten zu erfüllen. Bei der Gleichheit geht es um mein juristisches Vermögen, d. i. um mein juristisches Können, bei anderen Personen (Rechts-)Pflichten zu begründen, und Gleichheit bedeutet danach, daß das Vermögen, andere zu verpflichten, jedem in derselben Weise zukommt. Es ist nicht der Fall, daß ich das Vermögen habe, einer anderen Person Pflichten von einer Art aufzuerlegen, die diese andere Person mir nicht ebenfalls auferlegen könnte. Umgekehrt ist es nicht der Fall, daß eine andere Person das Vermögen hat, mir Pflichten von einer Art aufzuerlegen, die ich der anderen Person nicht ebenfalls auferlegen könnte. Gleichheit ist gleiches Verpflichtungsvermögen. Kant ist hier sehr präzise. Gleichheit bedeutet nicht, wie viele Autoren (und Nicht-Autoren) glauben, dieselben (subjektiven) Rechte zu haben. Rechte sind (bei Kant) ganz konkret. Ich habe ein Recht auf den Mantel, den ich trage. Der Mantel ist mein Mantel, und aus genau diesem Grunde ist er nicht dein Mantel. Zwar bist du eine Person, und deshalb könnte der Mantel, wenn er nicht mir gehörte, dir gehören. Das ist die Gleichheit des Vermögens, Eigentümer von Sachen zu sein. Aber diese Gleichheit ändert nichts daran, daß der Mantel mein Mantel ist. Gleichheit geht, wie es einmal im »Gemeinspruch« heißt, 41 notwendigerweise, mit einer Ungleichheit »an Rechten überhaupt (deren es viele geben kann) respektiv auf andere« einher. Wenn wir (was heute üblich ist) rechtliche »Gleichheit« als »Gleichberechtigung« verstehen, so ist das mißverständlich. Wenn wir davon sprechen, daß (aktive) Staatsbürger gleiches Wahlrecht zu einem Parlament haben, dann meinen wir damit das rechtliche Vermögen zu wählen. Wenn wir davon sprechen, daß jeder das gleiche Recht hat, einen Mantel (oder einen Nasenring) zu tragen, dann meinen wir damit ebenfalls ein rechtliches Vermögen. Dagegen haben A und B nicht ein gleiches Recht auf den Mantel, der dem A gehört, sondern es ist so, daß A ein Recht auf seinen Mantel hat, während B gerade kein Recht auf den Mantel des A hat. Man kann die Gleichheit des Vermögens, andere zu verpflichten, als den Kern des Freiheitsrechts auffassen, aus dem alle anderen Befugnisse folgen, die die Rechtslehre unter der Überschrift »Das ange41
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borene Recht ist nur ein einziges« 42 aufführt. Gleichheit schließt vor allem aus, daß jemand ursprünglich (rechtliche) Gewalt über eine andere Person, also das ursprüngliche Recht hat, dieser anderen Person zu befehlen. »Ursprünglich« bedeutet »vor jedem rechtlichen Akt«. 43 Natürlich kann jemand einen Dienstvertrag abschließen, durch den er verpflichtet wird, einem anderen zu gehorchen. Doch setzt die Verpflichtung eben diesen Vertrag (mithin u. a. einen rechtlichen Akt des durch den Akt Verpflichteten) voraus. Es ist also gerade nicht so, daß es von vornherein zwei Klassen von Menschen gäbe, die Klasse derjenigen, die anderen befehlen, und die Klasse der anderen, denen befohlen wird. 44 Oder: Es ist gerade nicht so, wie (in Kants eigenem Beispiel) »jener gallische Fürst es erklärte: ›Es ist der Vorzug, den die Natur dem Stärkeren über den Schwächeren gegeben hat, daß dieser ihm gehorchen soll.‹« 45 Statt dessen ist jedermanns Verpflichtungsvermögen die »Unabhängigkeit, nicht zu mehrerem von anderen verbunden zu werden, als wozu man sie wechselseitig auch verbinden kann.« Tatsächlich mag es so sein, daß der Schwächere es nicht wagt, dem Stärkeren nicht zu gehorchen. Vor der Vernunft aber müssen wir von der rechtlichen Gleichheit aller Personen ausgehen, weil wir sonst eine rechtliche Ungleichheit annehmen müßten, die sich (vor der Vernunft) nicht rechtfertigen läßt. Daraus ergibt sich das Freiheitsrecht als ein vorpositives Recht. Aus der Gleichheit des Vermögens, andere zu verpflichten, folgt, daß keine rechtlichen Hindernisse aufgestellt werden dürfen, die diese Gleichheit beschneiden. Jedes Glied des Staates »muß zu jeder Stufe eines Standes in demselben … gelangen dürfen, wozu ihn sein Talent, sein Fleiß und sein Glück hinbringen können.« 46 Abgesehen davon, daß dies auch gegen erbliche Prärogativen des Adels gerichtet ist, die nicht sein dürfen (was heute in Deutschland freilich keine Rolle mehr spielt), denkt Kant vor allem an die Fälle, bei denen sich ein Mensch aus dem Stande der Unselbständigkeit in den der Selbständigkeit und damit vom passiven zum aktiven Staatsbürger (dazu unten IX.) »emporarbeiten« kann. 47 6:237,29–238,9 (Einteilung d. Rechtslehre B). Etwa 6:250,30 (§ 6). 44 Dazu, immer noch lesenswert, Djilas Die neue Klasse – Eine Analyse des kommunistischen Systems (Übersetzung) 45 8:355,23–25 (Zum ewigen Frieden). 46 8:292,20–23. 47 6:315,17–22 (§ 46). 42 43
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Das äußere Mein und Dein
Es ist notwendig, die Gleichheit des Vermögens, andere zu verpflichten, von faktischer Gleichheit zu unterscheiden. Faktische Gleichheit gibt es in vielfacher Hinsicht nicht. Statt dessen bestehen zwischen Menschen unter anderem Unterschiede des Geschlechts, der Abstammung, der Rasse und der Sprache nach, der Heimat und der Herkunft nach, Unterschiede des Glaubens und der religiösen oder politischen Anschauungen. Diese Liste von Ungleichheiten finden wir im Grundgesetz (Art. 3 Abs. 3), und bei Kant heißt es dementsprechend im »Gemeinspruch«, daß zwischen Menschen die größte Ungleichheit »der Menge und den Graden ihres Besitztums« nach bestehen kann, »sei es an körperlicher oder Geistesüberlegenheit über andere, oder an Glücksgütern außer ihnen, und [was wir bereits erwähnt haben] an Rechten überhaupt … respektiv auf andere.« 48 Vor dem Gesetz und vor dem Richter spielen diese Unterschiede keine Rolle, und das ist es, was die Gleichheit des Vermögens, andere zu verpflichten, in einem (Rechts-)Staat ausmacht. 49
V. Das äußere Mein und Dein Das äußere Mein und Dein besteht in dem »intelligibelen Besitz« 50 von möglichen »äußeren Gegenständen meiner Willkür«. Die Begriffe, die Kant hier verwendet (äußeres Mein und Dein, intelligibeler Besitz, mögliche äußere Gegenstände meiner Willkür), haben ein hohes Abstraktionsniveau, weil Kant versucht, (scheinbar) sehr verschiedene Fallgruppen in ein System einzubringen. Mögliche äußere Gegenstände meiner Willkür sind »(körperliche) Sachen außer mir« oder Ansprüche gegen Personen. Kant teilt die äußeren Gegenstände meiner Willkür und damit das äußere Mein und Dein in drei Klassen ein. 51 1. Es gibt den intelligibelen Besitz von Sachen. Der intelligibele Besitzer einer Sache heißt »Eigentümer« dieser Sache. 52 2. Es gibt einfache schuldrechtliche Ansprüche einer Person gegen eine andere Person, etwa den Anspruch des A gegen den B, den Rasen des A zu 8:291,35–292,2. In einer handschriftlichen Notiz (19:376,4–5; R. 7439) heißt es einmal: »Die bürgerliche Freiheit besteht in der Gleichheit des Beystandes der öffentlichen Gerechtigkeit.« 50 6:245,19 (§ 1). 51 Vgl. 6:247,18–23 (§ 4). 52 6:270,10–11 (§ 17). 48 49
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I · Kant und der Rechtsstaat
mähen oder ihm (dem A) eine bestimmte Summe Geldes zu geben. In den Fällen dieser Art ist die erste Person (A), nach Kant, »intelligibeler Besitzer der Willkür« der zweiten Person (B) mit Bezug auf eine bestimmte Tat oder Leistung. 3. Es gibt familienrechtliche, gesellschaftsrechtliche und ähnliche Ansprüche einer Person (C) gegen eine andere Person (D), die darin bestehen, daß die beiden Personen miteinander eine »Gemeinschaft« bilden, in der die eine Person (D) bestimmte Interessen der anderen Person (C) wahrzunehmen hat (was häufig, wenn auch nicht notwendig, auf Gegenseitigkeit beruht). Beispiele bilden die Beziehungen in einer Ehe, die Beziehungen in einem Eltern-Kind-Verhältnis, die Beziehungen zwischen einem Auftraggeber (dem Mandanten) und einem Rechtsanwalt (dem Mandatar). In den Fällen dieser Art spricht Kant davon, daß die eine Person (C) »intelligibeler Besitzer der Person« der anderen Person (D) ist: die Ehegatten sind wechselseitig »intelligibele Besitzer der Person« des anderen, die Eltern sind »intelligibele Besitzer« des Kindes, der Mandant ist »intelligibeler Besitzer« der Person des Mandatars. Kant spricht auch von dem »Zustand eines anderen in Verhältnis auf mich.« Wenn wir in diesem Kontext »Zustand« in das lateinische »Status« zurückübersetzen, verstehen wir das besser. Ehegatten haben im Verhältnis zueinander, ein Kind hat im Verhältnis zu seinen Eltern, ein Rechtsanwalt hat im Verhältnis zu seinem Mandanten einen bestimmten (rechtlichen) Status, in dem die jeweils verpflichtete Person der berechtigten Person gegenüber bestimmte Treuepflichten zu erfüllen hat. Die Kategorie »intelligibeler Besitz« faßt diese drei Fallgruppen zusammen. 53 Äußeres Mein und Dein ist, im Gegensatz zum inneren Mein und Dein, deswegen ein äußeres Mein und Dein, weil es »(dem Dasein nach)« eine »Beziehung auf irgend etwas von ihm Verschiedenes hat.« Hier ist der Ausgangspunkt von Kants Überlegungen, daß »nichts Äußeres … ursprünglich mein« ist. 54 Niemand ist ursprünglich Eigentümer von Sachen (von welchen Sachen auch immer), kein Mann ist ursprünglich Ehemann einer Ehefrau, keine Frau ist ursprünglich Ehefrau eines Ehemannes, niemand ist ursprünglich Gläubiger eines Schuldners usw. Statt dessen verdankt alles äußere Mein Das Verhältnis des Mandanten zum Mandatar ist ein Fall des »Verdingungsvertrages« (6:285,32–286,2; § 31), der in § 4 Buchst. c) nur angedeutet wird: »und überhaupt eine andere Person« (6:248,21–22). 54 6:258,9 (§ 10). 53
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Die öffentliche Gerechtigkeit
und Dein sein Dasein als Mein und Dein einem Erwerbsakt. 55 Der Erwerbsakt ist von dem erworbenen (äußeren) Mein und Dein unterschieden. Also hat äußeres Mein und Dein seinem Dasein nach (notwendig) eine Beziehung auf etwas von ihm Verschiedenes. Wenn es Kant nach seiner Definition des rechtlichen Zustandes um die Ausübung der subjektiven Rechte des einzelnen geht, dann hat er dabei nicht nur das Freiheitsrecht, sondern er hat auch das äußere Mein und Dein, nicht zuletzt das Eigentum an Sachen im Auge. Heute geht es auch um die Forderungen, die Gläubiger gegen Schuldner haben, beispielsweise um die Forderungen, die ein Sparer gegen eine Bank hat, der er sein Erspartes anvertraut. Wenn, wie wir das jüngst erlebt haben, ein Staat die Sparer enteignet, die ihr Geld bei den Banken auf seinem Territorium angelegt haben, dann ist dieser Staat nicht mehr ein »Zustand, worin jedermann das Seine gegen jeden anderen gesichert« ist. 56 Dieser Staat hat seine Funktion als Rechtsstaat aufgegeben.
VI. Die öffentliche Gerechtigkeit Wie bereits gesagt, beschränkt sich Kant in § 41 der Rechtslehre nicht auf die Definition eines rechtlichen Zustandes, die wir oben (unter II.) wiedergegeben haben, sondern er formuliert, im unmittelbaren Anschluß an diese Definition, eine notwendige Bedingung, die erfüllt sein muß, damit ein rechtlicher Zustand erreicht werden kann, oder genauer, er formuliert für die Erfüllung dieses Zwecks drei notwendige Bedingungen. Er schreibt: Das »formale Prinzip der Möglichkeit« eines rechtlichen Zustandes 57 »heißt die öffentliche Gerechtigkeit, welche … in die beschützende (iustitia tutatrix), die wechselseitig erwerbende (iustitia commutativa) und die austeilende Gerechtigkeit (iustitia distributiva) eingeteilt werden kann.« 58 Kant ist nicht der erste, der von »öffentlicher Gerechtigkeit« re6:237,25–26 (Einteilung der Rechtslehre B): Das äußere Mein und Dein »muß jederzeit erworben werden«. 56 Siehe oben II., Text zur Fn. 23. 57 Ein »Prinzip der Möglichkeit« von X ist das, wovon die Möglichkeit von X ihren Ausgang nimmt. Ein »Prinzip der Möglichkeit« von X ist deshalb eine notwendige Bedingung von X. Ein formales Prinzip der Möglichkeit eines rechtlichen Zustandes ist danach eine formale Voraussetzung für einen rechtlichen Zustand. 58 6:306,1–8 (§ 41). 55
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I · Kant und der Rechtsstaat
det. Von »justice publique« spricht beispielsweise schon 1765 die berühmte Encyclopédie. 59 Wir müssen den Ausdruck »öffentliche Gerechtigkeit« richtig verstehen. »Öffentliche Gerechtigkeit« ist Kants Name für eine Einheit von öffentlichen Institutionen, zu denen nicht zuletzt die (rechtsstaatlichen) Gerichte gehören, die wir heute noch als »Gerechtigkeit«, nämlich als »Justiz« bezeichnen. 60 Die drei Iustitiae sind Allegorien, 61 Aspekte der Göttin Iustitia, die sich durch ihre Attribute voneinander unterscheiden. Die Einheit der drei Gerechtigkeiten ist leichter zu durchschauen, als es auf den ersten Blick scheinen mag, wenn man bedenkt, daß der Begriff der Justiz zu Kants Zeiten weiter war als unser heutiger Begriff. Noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts versteht man unter »Justiz« nicht nur die »Rechts-Handhabung« durch die Gerichte, sondern auch die »Rechts-Gesetzgebung« (die Terminologie nach Rotteck), also die Tätigkeit der Legislative (oder jedenfalls einen Teil dieser Tätigkeit). 62 Dieser Sprachgebrauch wird 1827 von Karl von Rotteck kritisiert. Rotteck will den Anwendungsbereich des Wortes [Diderot und d’Alembert] Encyclopédie Bd. 9 Art. »justice« S. 90 l. Sp. Diesem Begriff von öffentlicher Gerechtigkeit korrespondiert der Begriff des öffentlichen Rechts, dem seinerseits der Begriff des Privatrechts gegenübersteht. Hier mögen heutige Juristen terminologische Schwierigkeiten haben. Befinden wir uns nicht in einem rechtlichen Zustand, für den das »öffentliche Recht« konstitutiv ist (6:311,6–8; § 43), dann befinden wir uns im Naturzustand. Der Naturzustand ist, wie Kant das ausdrückt, der »Zustand des Privatrechts« (etwa 6:306,29; § 41). »Privatrecht« aber ist die Situation, in der jedermann seine Rechte verfolgt, wie es »ihm recht und gut dünkt«, nicht deswegen, weil er ein schlechter oder böser Mensch wäre, sondern deswegen, weil ihm, mangels einer (rechtsstaatlichen) Gerichtsbarkeit und einer Macht, die die gerichtlichen Entscheidungen auch durchsetzt, gar nichts anderes übrig bleibt, als seine eigenen Rechte und die Rechte anderer Leute nach seiner eigenen und daher privaten Meinung zu beurteilen (vgl. etwa 6:312–313; § 44). Deshalb und deshalb allein gibt es das an jedermann gerichtete Gebot, aus dem Naturzustand herauszugehen und in einen rechtlichen Zustand einzutreten. Zu der Unterscheidung von öffentlichem und Privatrecht vgl. auch Commentary S. 29–32. 61 Die Darstellung der (rechtsstaatlichen) öffentlichen Gerichtsbarkeit als römische Gottheit ist nicht neu. In Zum ewigen Frieden spielt Kant unverkennbar auf die Justiz als Gottheit an (8:369,12–16). In der Rechtslehre bezeichnet Kant die »Billigkeit« (»Billigkeit« wie in »recht und billig«, also die aequitas) ausdrücklich als eine »Gottheit« (6:234,30). Für die drei Gerechtigkeiten gilt dasselbe wie für die Billigkeit. 62 Das Titelkupfer der Textausgabe des ALR von 1791 zeigt die Iustitia als Allegorie für die Gesetzgebung. Das Bild ist wiedergegeben von Kissel S. 75. – Gros bespricht in der 2. Aufl. in § 355, S. 198, die »Justizgewalt oder Justizhoheit, welche in das Recht der Justizgesezgebung und das Recht der Gerichtsbarkeit nebst dem Executionsrecht zerfällt.« In der 4. Aufl. § 341, S. 243, heißt es: »Die Justizgewalt zerfällt … in die Justizgesetzgebung und die Justizverwaltung.« – Fries spricht auf S. 373–404 von 59 60
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Die öffentliche Gerechtigkeit
»Justiz« auf die »Handhabung des Rechts« und damit auf den heutigen Sprachgebrauch beschränken. 63 Rotteck hat mit seinem Vorschlag Erfolg gehabt (er war wahrscheinlich nicht der einzige, der den Vorschlag gemacht hat), und eine der Konsequenzen dieses Erfolges ist es, daß wir heute die weite Bedeutung des Wortes »Justiz« vergessen haben. Kant geht also von vornherein schon von einer (für uns) weiten Bedeutung des Wortes »Justiz« aus, weil diese weite Bedeutung dem Sprachgebrauch seiner Zeit zugrunde liegt. Er erweitert diese Bedeutung noch zusätzlich, indem er eine dritte Bedeutung hinzufügt. Die »beschützende Gerechtigkeit (iustitia tutatrix)« allegorisiert die Institution der öffentlichen Gesetzgebung. Die öffentliche Gesetzgebung beschützt unsere Rechte dadurch, daß sie diese Rechte »bestimmt«. Sie »bestimmt« unsere Rechte, 64 weil sie den Rechten Namen und Inhalt gibt. Denken wir an den Katalog der nach dem BGB möglichen dinglichen Rechte. Eigentum, Nießbrauch, Dienstbarkeiten und die anderen Sachenrechte bekommen durch das Gesetz einen Namen, das Gesetz definiert, was diese Rechte bedeuten, und die Rechte werden voneinander abgegrenzt. So, wie der Jäger einen gefangenen Schmetterling »bestimmt«, d. h. mit einem Namen (einer Stimme = einem Laut) belegt, werden die möglichen Rechte durch den Gesetzgeber bestimmt. Hat so die Gesetzgebung die Funktion, meine Rechte zu bestimmen, d. h. sie zur Sprache zu bringen, zu artikulieren, so dürfen wir aus dieser Funktion doch nicht die falschen Schlüsse ziehen. Kant kann durchaus als ein »Rechtspositivist« bezeichnet werden, weil er auf die Bestimmung unserer Rechte durch das positive objektive Recht großen Wert legt. Aber er ist kein »Rechtspositivst« in der heute üblichen Bedeutung des Wortes. Es ist nicht so, daß der Gesetzgeber mit meinen Rechten willkürlich, nach seinem bloßen Belieben, umgehen kann. In § 9 der Rechtslehre heißt es, daß von einer »bürgerlichen Verfassung« (einem bürgerlichen Zustand) nur dann die Rede sein kann, wenn es ein Zustand ist, »durch welchen jedem das Seine … gesichert, eigentlich aber nicht ausgemacht und bestimmt wird.« Das ist kein Widerspruch zu dem oben Gesagten. Der Zusam»Justiz-Verwaltung« und meint damit, wie seine Ausführungen zeigen, gleichermaßen die Gesetzgebung wie die Rechtsprechung der Gerichte. 63 Aretin/Rotteck S. 197–198. 64 Vgl. etwa 6:312,19 (§ 44).
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I · Kant und der Rechtsstaat
menhang, in dem das Wort benutzt wird, zeigt, daß »bestimmen« hier (in § 9) in der Bedeutung von »festsetzen« gebraucht ist. Es ist nicht so, daß der Gesetzgeber unsere Rechte festsetzt, sondern er »garantiert« sie, wie Kant im unmittelbaren Anschluß an die soeben wiedergebene Stelle sagt. »Garantie« aber setzt »das Seine von jemandem (dem es gesichert wird) schon voraus.« 65 Die öffentliche Gerichtsbarkeit, also das, was wir heute allein noch »Justiz« nennen, bezeichnet Kant als »austeilende Gerechtigkeit (iustitia distributiva)«. »Das Gericht« wird nicht nur ausdrücklich als ein Moment der »öffentlichen Gerechtigkeit« bezeichnet, 66 sondern es heißt in der Rechtslehre auch: »Der Rechtsspruch (die Sentenz) ist ein einzelner Akt der öffentlichen Gerechtigkeit (iustitiae distributivae) durch einen Staatsverwalter (Richter oder Gerichtshof).« 67 Es ist kein Zufall, daß bei Kant die Ziviljustiz »Zivilgerechtigkeit« und die Strafjustiz »Kriminalgerechtigkeit« heißt. 68 Zu diesen beiden (am Ende des 18. Jahrhunderts bekannten) Iustitiae kommt als dritte die »wechselseitig erwerbende Gerechtigkeit (iustitia commutativa)« hinzu, d. i. der freie »öffentliche, durchs Polizeigesetz geordnete Markt«. 69 In § 36 der Rechtslehre bezeichnet Kant die iustitia commutativa auch als die »zwischen Personen in ihrem wechselseitigen Verkehr geltende Gerechtigkeit«. 70 Das Substantiv, von dem sich das Attribut dieser Gerechtigkeit ableitet, ist »commutatio«. »Commutatio« (im weiten Sinne des Wortes) ist die »Umsetzung des Mein und Dein« 71 oder auch »der Verkehr« zwischen dem Besitzer einer Sache und dem Erwerber. 72 Statt von »Umsetzung« würden wir heute von »Umsatz« reden. »Commutatio« bezieht sich also auf den Markt, der bei Kant ein freier Markt ist. 73 Nicht zufällig spricht Kant auch außerhalb der Rechtslehre gelegent6:256,27–31 (§ 9). 6:335,23 (Allg. Anm. E). 67 6:317,23–25 (§ 49); Hervorhebung von mir. Es ist klar, daß »der Rechtsspruch (die Sentenz)« eine richterliche Entscheidung bedeutet. Vgl. auch 6:303,9–10 (§ 39): »Gerichtshof« = »iustitia distributiva«, und 6:297,3–5 (§ 36). 68 6:331,10–11 (Allg. Anm. E). 69 So die Formulierung in 6:303,1 (§ 39). 70 6:297,1–2 (§ 36). 71 6:289,18–19 (»Was ist Geld?«). 72 6:301,13–14 (§ 39). 73 Schon bei Hobbes ist der gerechte Preis der Marktpreis. Vgl. Leviathan I Cap. XV = Opera III S. 116: »Pretium omnium rerum contrahentium appetitu aestimatur; pretiumque justum est in quod ambo emptor et venditor consentiunt.« (»Der Preis aller 65 66
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Die öffentliche Gerechtigkeit
lich vom »Marktpreis«. 74 Dabei bedeutet »Markt« ganz allgemein den (zulässigen) Verkehr mit erwerblichen Gegenständen unserer Willkür, der nicht auf den Verkehr mit Sachen und Dienstleistungen beschränkt ist. Wir werden bei dem Wort »Markt« etwa auch an den »Heiratsmarkt« denken müssen. Bei dem (freien) geordneten Markt müssen wir die »Ordnung« dieses Marktes mitdenken. Die Ordnung des Marktes bewirkt die in § 39 der Rechtslehre erwähnte »Polizei«. Im 18. Jahrhundert meint »Polizei« die allgemeine innere Verwaltung eines Staates. Der Begriff ist positiv besetzt. Die Aufgabe der Polizei ist die Herstellung und Erhaltung »guter« Ordnung. 75 Durch die Ordnung des Marktes wird der Markt, den es an sich schon im Naturzustand gibt, wo er freilich ein noch ungeordneter Markt ist, 76 zu einer Institution des (Rechts-) Staats. Es mag auf den ersten Blick irritieren, daß Kant für die Kennzeichnung von zwei der drei öffentlichen Gerechtigkeiten, die er im Auge hat, Ausdrücke verwendet (»iustitia commutativa« und »iustitia distributiva«), die wir aus der aristotelisch-scholastischen Tradition kennen und die dort eine ganz andere Bedeutung haben. Kant steht dabei in der Nachfolge von Hobbes, der jene Tradition kritisiert hat, womit er die Terminologie für Kant vorbereitete. Das zu erläutern, würde längere Ausführungen notwendig machen, auf die wir an dieser Stelle verzichten müssen. 77 Die drei öffentlichen Gerechtigkeiten sind, wie gesagt, notwendige Bedingungen, sie sind Voraussetzungen für die Möglichkeit eines rechtlichen Zustandes (Rechtsstaats), d. h. ein rechtlicher Zustand ist nur dann möglich, wenn wir eine öffentliche Gesetzgebung (iustitia tutatrix), einen freien öffentlichen geordneten Markt (iustitia commutativa) und eine öffentliche Gerichtsbarkeit (iustitia distributiva) haben. Die drei Gerechtigkeiten sind noch nicht (auch nicht Sachen wird durch den Appetit der Vertragspartner bestimmt; und derjenige Preis ist gerecht, in dem Käufer und Verkäufer übereinkommen.«) 74 Für Waren und Dienstleistungen vgl. 4:434,35–36; 4:435,9 (Grundlegung). 75 Vgl. Hans Maier Sp. 1800–1803 (am Ende). 76 Vgl. 6:302,3–6 (§ 39), wo Kant von der iustitia commutativa »im Naturzustande« spricht. Die iustitia commutativa ist danach zunächst einmal durchaus eine private Gerechtigkeit, sie ist die Gerechtigkeit des Marktteilnehmers. Sie wird zur öffentlichen Gerechtigkeit dadurch, daß der Markt im rechtlichen Zustand (Rechtsstaat) ein geordneter Markt ist. 77 Näheres in Commentary S. 71–76.
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zusammen) eine hinreichende Bedingung für einen Rechtsstaat. Das (schwer zu formulierende) materiale Kriterium für einen rechtlichen Zustand umschreibt Kant so, daß die öffentliche Gerechtigkeit nach der »Idee eines allgemein gesetzgebenden Willens« zu betrachten sei. 78 Eine öffentliche Gesetzgebung, die Ordnung eines Marktes, eine öffentliche Gerichtsbarkeit können pervertieren, vom Zerrbild eines Rechtsstaats (etwa: Hehlerei von gestohlenen Daten unter Verwendung von Steuergeldern durch eine Regierung) bis hin zum regelrechten Unrechtsstaat. Das ändert nichts daran, daß ohne diese Institutionen von einem rechtlichen Zustand, einem Rechtsstaat, keine Rede sein kann.
VII. Insbesondere: Die öffentliche Gerichtsbarkeit und der freie öffentliche Markt Unter den drei Gerechtigkeiten hebt Kant die distributive Gerechtigkeit besonders hervor. Ob es eine (rechtsstaatliche) Gerichtsbarkeit gibt oder nicht, ist die juristische Kernfrage überhaupt. Kant selbst bemerkt, daß man den »Gerichtshof«, der entscheidet, was in einem besonderen Fall dem gegebenen Gesetz gemäß ist, »die Gerechtigkeit eines Landes nennt, und, ob eine solche sei oder nicht sei, als die wichtigste unter allen rechtlichen Angelegenheiten gefragt werden kann.« 79 Deshalb wird der rechtliche Zustand gerade auch als ein Zustand charakterisiert, der »unter einer distributiven Gerechtigkeit steht.« 80 Nur dann, wenn bei Streitigkeiten über ein (subjektives) Recht ein Richter zuständig ist, der »rechtskräftig« 81 entscheidet, und wenn diese Entscheidung auch durchgesetzt wird, können wir von einem rechtlichen Zustand reden, der dem Naturzustand, d. i. aller privaten Gewalt, ein Ende bereitet. Ist die distributive Gerechtigkeit die Krönung der öffentlichen Gerechtigkeit, so steht doch die iustitia commutativa, die wechselseitig erwerbende Gerechtigkeit im Mittelpunkt. Die iustitia commutativa ist die Wirklichkeit des Rechtslebens in einer arbeitsteiligen Gesellschaft, deren Möglichkeit die (rechtsstaatliche) öffentliche 78 79 80 81
6:306,2–3; dazu Commentary S. 39–42. 6:306,13–16 (§ 41); Hervorhebung von mir. 6:306,20–22 (§ 41) und 6:307,11 (§ 42). 6:312,26 (§ 44).
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Insbesondere: Die öffentliche Gerichtsbarkeit und der freie öffentliche Markt
Gesetzgebung schafft und um derentwillen es die (rechtsstaatliche) öffentliche Gerichtsbarkeit gibt, die die notwendige (juristische) Sicherheit gewährleistet. Die iustitia commutativa (der Markt) ist der Ort, an dem Waren und Dienstleistungen umgesetzt werden oder Personen sich zu einer Gemeinschaft zusammenschließen. Beschränken wir uns auf den ersten Aspekt. Der Umsatz besteht in dem Austausch der Waren und Dienstleistungen gegeneinander oder gegen Geld. Er findet in geordneten Bahnen statt, wenn der Austausch durch Verträge geschieht. Diese Verträge in ihrer Summe sind das rechtliche Leben einer Gesellschaft. Verträge, wie Kant sie versteht, sind Anwendungen des in einem Rechtsstaat geltenden (objektiven) Rechts. Erwirbt B in einem Uhrengeschäft eine Uhr, dann wenden der Verkäufer A und der Käufer B die schuld- und sachenrechtlichen Regeln an, die im BGB zu finden sind. Oder, wie Kant das ausdrückt: Der Erwerb einer Sache durch eine Person geschieht »durch Subsumtion« ihres Falles unter das Gesetz. 82 Das ist zwar ein uns heute nicht geläufiger, aber nichtsdestoweniger plausibler Begriff von Subsumtion. Nicht der Richter, sondern der Jedermann, der sich auf dem Markt betätigt, liefert das Modell für das, was Kant einen »praktischen Vernunftschluß« nennt. Der Obersatz für den praktischen Vernunftschluß ergibt sich aus dem Gesetz, den Untersatz stellen die Marktteilnehmer her, die ihre Handlungen dem Gesetz entsprechend einrichten, um äußere Gegenstände ihrer Willkür zu veräußern und zu erwerben. Diese Herstellung des (praktischen) Untersatzes enthält die »Subsumtion« unter das Gesetz, die die Parteien vornehmen. Gelingt es den Parteien, ihre Handlungen solchermaßen zu gestalten, dann liefert der Schlußsatz das juristisch relevante Ergebnis, etwa, daß B nunmehr (neuer) Eigentümer der Uhr ist. 83
Vgl. 6:316,27–29 (§ 49). Näheres zum praktischen Vernunftschluß in der Rechtslehre in Commentary S. 157–161.
82 83
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VIII. Die Unterscheidung und Trennung der drei staatlichen Gewalten Im Mittelpunkt von Kants Überlegungen steht damit der Bürger, der auf dem Markt agiert. Der Rechtsstaat ist für den Bürger auf eine dreifache Weise tätig. Er liefert das Gesetz, unter das der Bürger subsumieren kann, um Gegenstände zu veräußern und zu erwerben. Er ordnet den Markt, d. h. er schafft die juristische Infrastruktur, etwa durch die Einrichtung von Grundbuchämtern, die (wenn das Gesetz es so vorschreibt) nötig sind, um Grundstücke verkehrsfähig zu machen. Er stellt ein Gericht bereit, das im Streitfalle die von den Marktteilnehmern (den »Parteien«) vollzogene Subsumtion nachvollzieht (oder auch nicht) und dementsprechend rechtskräftig entscheidet. Damit haben wir die drei Funktionen des Rechtsstaats, die Legislative, die Exekutive und die Judikative, die den drei Iustitiae korrespondieren (aber nicht mit ihnen identisch sind). Wir kennen die drei Funktionen des Rechtsstaats seit Montesquieus L’Esprit des Lois 84 von 1748. Kant ist der erste, der mit dem Hinweis auf den praktischen Vernunftschluß, den der Bürger zieht, um Gegenstände zu veräußeren oder zu erwerben, eine Begründung dafür gibt, daß zwischen drei und nur drei staatlichen Gewalten zu unterscheiden ist. 85 Die Exekutive hat natürlich auch noch andere Aufgaben als die Einrichtung von Grundbuchämtern. Alle ihre Aufgaben aber lassen sich aus ihrer Funktion ableiten, den öffentlichen Markt (wie Kant sagt: »durchs Polizeigesetz«) zu ordnen. Kant unterscheidet nicht nur die drei Gewalten, er plädiert auch für deren Trennung. Schon in der Schrift Zum ewigen Frieden fordert er die »Absonderung der ausführenden Gewalt (der Regierung) von der gesetzgebenden.« Denn das Gegenteil führt zum Despotismus. 86 Auch kann, so Kant in der Rechtslehre, weder der Gesetzgeber noch die Regierung die richterliche Gewalt ausüben. 87 Die Unterscheidung und Trennung der drei Gewalten hat wichtige rechtsstaatliche Grundsätze zur Konsequenz, die das von Kant entwickelte System voraussetzen. So heißt es in der Rechtslehre, in
11. Buch, 6. Kapitel. 6:313,17–27 (§ 45). 86 8:352,14–18 (Zum ewigen Frieden). 87 6:317,19–20 (§ 49). Näher zu dem von Kant geforderten Gerichtsverfassungsrecht s. unten das vierte Kapitel. 84 85
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Rechtsstaat und Demokratie
der »Allgemeinen Anmerkung E«, daß »richterliche Strafe (poena forensis)« nur dann verhängt werden darf, wenn und weil der Angeklagte ein Verbrechen begangen hat, wobei Kant ein Verbrechen als die Übertretung eines öffentlichen Strafgesetzes begreift. 88 Schon früher (1784) heißt es in einer Vorlesung: »Alle Strafe ist Zwang, aber nicht jeder Zwang ist Strafe. Strafe ist Zwang, der unter der Auctoritaet eines Gesetzes ist«. 89 Das ist der Grundsatz »nulla poena sine lege«, den der junge Feuerbach dann zwei, drei Jahre nach dem Erscheinen der Rechtslehre formuliert, und zwar im Anschluß an die »Allgemeine Anmerkung E«. Kant formuliert auch das Legalitätsprinzip zum ersten Male: »Das Strafgesetz ist ein kategorischer Imperativ.« 90 Der Grundsatz »nulla poena sine lege« und das Legalitätsprinzip beruhen auf der Aufgabenteilung zwischen der gesetzgebenden und der richterlichen Gewalt, was die Unterscheidung und Trennung der beiden Gewalten voraussetzt. 91
IX. Rechtsstaat und Demokratie Mit der (bis in die Antike zurückgehenden) Tradition unterscheidet Kant drei Staatsformen, die er die »autokratische«, die »aristokratische« und die »demokratische Staatsform« nennt, bei denen entweder »einer im Staate über alle« oder »einige, die einander gleich sind, vereinigt über alle anderen« oder »alle zusammen über einen jeden, mithin auch über sich selbst gebieten.« 92 Obwohl dies dem heutigen Leser geläufig klingt, verbindet Kant mit dem Wort »Demokratie« nicht denselben Begriff, den wir heute gewöhnlich voraussetzen. Denn Kant unterscheidet zwischen »aktiven« und »passiven Staatsbürgern«. 93 Allen Staatsbürgern steht »als Menschen« das Recht auf äußere Freiheit zu, das »Gleichheit« (= gleiches Verpflichtungsvermögen, s. oben IV.) und das Recht der Selbstbestimmung einschließt. Aber daraus, daß jedermann fordern kann, »von allen anderen nach Gesetzen der natürlichen Freiheit und Gleichheit als passive Teile des Staates behandelt zu werden, folgt nicht das Recht, auch als aktive 88 89 90 91 92 93
Vgl. einerseits 6:331,20–24, andererseits 6:331,7–10 (Allg. Anm. E). 27:1333,19–21 (Vorlesung im SS 1784). 6:331,21–32 (Allg. Anm. E). Zu Einzelheiten vgl. unten das dritte Kapitel. 6:338,30–35 (§ 52). Die folgenden Zitate aus 6:314,4–315,22 (§ 46).
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I · Kant und der Rechtsstaat
Glieder den Staat selbst zu behandeln, zu organisieren oder zur Einführung gewisser Gesetze mitzuwirken.« Sondern dazu ist »bürgerliche Selbständigkeit« notwendig. Diese Selbständigkeit bedeutet, daß der Bürger »seine Existenz und Erhaltung nicht der Willkür eines anderen im Volke, sondern seinen eigenen Rechten und Kräften als Glied des gemeinen Wesens« verdankt. Nur der Selbständige hat die »Fähigkeit der Stimmgebung« im Staat und kann damit aktiver Staatsbürger sein. Wer nicht selbständig ist, gebietet nicht über sich selbst. Wäre er aktiver Staatsbürger, dann würde er zugleich über sich selbst gebieten und nicht über sich selbst gebieten, und er würde damit zugleich nicht über sich selbst gebieten, aber über andere gebieten. Mit der Unterscheidung von aktiven und passiven Staatsbürgern versucht Kant, diese Widersprüche zu vermeiden. 94 In seiner Lehre vom Staat unterscheidet Kant zwischen dem »Staat in der Idee« und einem Staat, den wir den »Staat in der Realität« nennen können. Der Staat in der Idee, »wie er nach reinen Rechtsprinzipien sein soll,« liefert eine Art Modell, das »jeder wirklichen Vereinigung« von Menschen zu einem Staat »zur Richtschnur (norma) dient.« 95 Im Staat in der Idee kommt die »gesetzgebende Gewalt« allein »dem übereinstimmenden und vereinigten Willen« des Volkes zu. Kant meint das wörtlich. Es ist der vereinigte Wille »aller«, der hier entscheidet. Das heißt, im Staat in der Idee ergehen die Entscheidungen des Gesetzgebers einstimmig. 96 Kant erkennt natürlich, daß eine solche Einstimmigkeit in der Das Modell, an dem diese Unterscheidungen entwickelt werden können, sind die Kinder unter 18 Jahren, mit Bezug auf die (im Augenblick) wenige daran zweifeln, daß sie nicht aktive Staatsbürger sein können. Kinder haben, wie alle anderen Menschen auch, das Recht auf äußere Freiheit, das die Gleichberechtigung mit allen anderen Menschen und das Selbstbestimmungsrecht einschließt. Aber sie können aus Gründen, die in ihrer Natur liegen, dieses Selbstbestimmungsrecht (noch) nicht ausüben. Von Rechts wegen ist jedes Kind »sui iuris«, tatsächlich aber ist es nicht »sui iuris« und kann es nicht sein. Kinder bestimmen nicht über sich selbst, und deswegen (weil sie nicht über sich selbst bestimmen) können Kinder auch nicht über andere bestimmen. Infolgedessen fehlt ihnen die »Fähigkeit der Stimmgebung«. Kant überträgt diesen Gedanken auf alle anderen Personen, die zwar einerseits das Recht auf Selbstbestimmung haben, aber andererseits tatsächlich nicht über sich selbst bestimmen, vor allem, weil sie sich durch einen Lohnvertrag verdingt, also eingewilligt haben, daß ein anderer für einen bestimmten Preis ihre Kräfte gebraucht (vgl. 6:285,28 – § 31). Auch hier gilt, daß, wer nicht über sich selbst bestimmt, nicht über andere bestimmen kann. 95 Vgl. 6:313,10–16 (§ 45). 96 6:313,29–314,3 (§ 46). 94
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Rechtsstaat und Demokratie
Praxis nicht zu erwarten ist, sondern »nur eine Mehrheit der Stimmen, und zwar nicht der Stimmenden unmittelbar (in einem großen Volke), sondern nur der dazu Delegierten als Repräsentanten des Volks dasjenige ist, was allein man als erreichbar voraussehen kann.« 97 Kant erkennt auch die mit einem parlamentarischen System verbundene Gefahr der Bestechlichkeit der Abgeordneten, die er am Beispiel des britischen Parlaments des ausgehenden 18. Jahrhunderts kritisiert. 98 Versuchen wir es also mit einer demokratischen Staatsform, dann bleibt uns nichts anderes übrig, als von dem Ideal Abstriche zu machen. Die Einstimmigkeit der Beschlüsse des Gesetzgebers, von der wir für den Staat in der Idee ausgehen müssen, hat den Vorteil, daß diese Beschlüsse »schlechterdings niemand unrecht tun können.« Denn es greift der Satz ein »volenti non fit iniuria« (dem Einwilligenden geschieht kein Unrecht), was Kant in § 46 der Rechtslehre näher ausführt. 99 Verzichten wir auf das Erfordernis der Einstimmigkeit, begnügen wir uns also mit einer Mehrheit (im Volk oder bei den Delegierten), dann fällt der Vorteil weg. Die »demokratische« Variante der Erklärung des gallischen Fürsten »Es ist der Vorzug, den die Natur der Mehrheit über die Minderheit gegeben hat, daß die Minderheit der Mehrheit gehorchen soll« gilt genausowenig wie das Original (s. oben IV.). Sie beruht auf der verbreiteten Vorstellung, der Staat könne in die Rechte einer Minderheit (die Rechte der »Reichen«, der »besser Verdienenden«) beliebig eingreifen, wenn sich nur eine Mehrheit dafür findet. Statt dessen ist es so, daß die Beschlüsse einer Mehrheit den Angehörigen der Minderheit unrecht tun können – etwa durch die Auferlegung von Abgaben für Zwecke, die nicht allein der Erhaltung des Rechtsstaats (dazu unten X.) dienen. Der Rechtsstaatsgedanke, der solche Eingriffe in die Rechte der Minderheit verbietet, zieht den (rechtlichen) Möglichkeiten des Gesetzgebers in einem demokratischen Staat dieselben Grenzen, die er auch dem Gesetzgeber in Staaten mit einer anderen Staatsform zieht. Der Unterschied zwischen Kants und dem heute üblichen Demo8:296,25–33 (»Gemeinspruch«). 6:319,29–320,10 (Allg. Anm. A); 7:90,1–20 (Der Streit der Fakultäten), dort (7:90,18–19): Die »Stellvertreter« des Volkes »durch Bestechung gewonnen.« – Aus der neueren Geschichte sei an die Bestechung eines oder mehrerer Abgeordneter im Zusammenhang mit dem Antrag auf ein Mißtrauensvotum nach Art. 67 GG erinnert, über den der Bundestag am 27. April 1972 abgestimmt hat. 99 6:313,29–314,3 (§ 46). 97 98
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kratiebegriff ändert nichts daran, daß eine demokratische Staatsform weder eine notwendige noch eine hinreichende Bedingung für einen Rechtsstaat ist. In der Schrift Zum ewigen Frieden von 1795, wo das, was in der Rechtslehre »rechtlicher Zustand« heißt, noch »Republik« genannt wird, warnt Kant ausdrücklich vor der Verwechselung einer »republikanischen« mit einer »demokratischen Verfassung« 100 (eine Verwechselung, die trotz dieser Warnung auch heute noch gang und gäbe ist). Auch ein autokratisch oder aristokratisch regierter Staat kann ein Rechtsstaat sein. 101 Auch eine demokratische Staatsform kann in eine Diktatur und in einen Unrechtsstaat führen, wie wir an Beispielen aus der Gegenwart und nicht zuletzt am Beispiel der freien, gleichen und geheimen Wahlen zum Reichstag im Jahre 1932 sehen können. 102 Nichts an einer Mehrheit (in einem Volk oder bei seinen Stellvertretern) gewährleistet, daß diese Mehrheit nicht genauso tyrannisch und despotisch sein kann wie eine Minderheit. In Zum ewigen Frieden schreibt Kant auch, es sei »an der Regierungsart dem Volk ohne alle Vergleichung mehr gelegen als an der Staatsform.« 103 »Regierungsart« meint hier »die auf die Konstitution … gegründete Art, wie der Staat von seiner Machtvollkommenheit Gebrauch macht,« nämlich, ob das Volk rechtsstaatlich oder despotisch regiert wird. 104 Angesichts der Tatsache, daß auch die Mehrheit eines Volkes despotische Tendenzen haben kann, liest sich der Satz, dem Volk sei an der Regierungsart mehr gelegen als an der Staatsform, weniger wie eine demoskopische Feststellung denn wie ein frommer Wunsch. Aber der Satz betont noch einmal, daß es wichtiger ist, in einem Rechtsstaat als in einem Staat mit demokratischer Staatsform zu leben.
8:351,21–22. Vgl. auch 7:91,14 (Der Streit der Fakultäten). In 6:339,12–15 (§ 51) trägt Kant freilich Bedenken gegen die autokratische Staatsform vor, weil sie zum Despotismus »so sehr einladet.« 102 Am 31. Juli und am 6. November 1932. Vgl. dazu Eyck S. 522 ff. und S. 533 ff. 103 8:353,9–10. 104 8:352,9–14. Kant schreibt »republikanisch oder despotisch«. Wir haben oben schon festgestellt, daß Kant in der Schrift Zum ewigen Frieden den Ausdruck »Republik« für »Rechtsstaat« benutzt. 100 101
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Rechtsstaat und Wohlfahrtsstaat
X. Rechtsstaat und Wohlfahrtsstaat Kant unterscheidet zwischen Rechtsstaat und Wohlfahrtsstaat. Genausowenig wie die Ethik auf einer Glückseligkeitslehre aufbaut, sondern auf dem Kategorischen Imperativ, genausowenig baut das Recht auf einer Glückseligkeitslehre auf. Zu dem Sprichwort »Salus reipublicae suprema lex est« (das Heil des Staats ist das oberste Gesetz) bemerkt Kant, das »Heil des Staats« bestehe nicht »in dem Wohl der Staatsbürger und ihrer Glückseligkeit«. Denn dieses Wohl kann »im Naturzustande oder unter einer despotischen Regierung viel behaglicher oder erwünschter ausfallen.« Statt dessen besteht das Heil des Staats in dem »Zustand der größten Übereinstimmung der Verfassung mit Rechtsprinzipien, als nach welchem zu streben uns die Vernunft durch einen kategorischen Imperativ verbindlich macht.« 105 Der Wohlfahrtsstaat macht das Wohl und die Glückseligkeit der Bürger, der Rechtsstaat macht das Recht der Bürger zum Zweck des Staats. Die beiden Zwecke schließen einander aus. Rechtsstaat und Wohlfahrtsstaat sind unvereinbar. 106 Der Gesichtspunkt, der auch im Rechtsstaat ein staatliches »Armenwesen« verlangt, ist nicht die Wohlfahrt, sondern dieser Gesichtspunkt ist, nach Kant, die »Erhaltung« des Volkes. Mit dem Gesellschaftsvertrag hat sich das (Staats-)Volk zu einem Staat zusammengeschlossen, und dieser Zusammenschluß, so sehr er, wie alles in dieser Welt, faktisch irgendwann einmal enden wird, ist rechtlich doch für alle Zeiten gültig. Oder, mit Kant: »Der allgemeine Volkswille hat sich zu einer Gesellschaft vereinigt, welche sich immerwährend erhalten soll.« 107 Denn ein Volk, das sich zu einem Rechtsstaat zusammenschließt, würde genau dies nicht tun, wenn der Gesellschaftsvertrag ein Ende des Rechtsstaats vorsehen würde, weil der Vertrag damit ein Ende der Sicherung der Rechte seiner Bürger vorsähe. Daraus folgt, daß dem Souverän (dem Gesetzgeber) das Recht zusteht, das Volk »mit Abgaben zu seiner (des Volks) eigenen Erhal6:318,6–14 (§ 49). Vgl. auch die lange Fn. zur Wohlfahrt in 7:86,33–87,38 (Der Streit der Fakultäten). 107 6:326,4–5 (Allg. Anm. C). Den Hintergrund liefert der römisch-rechtliche Begriff der universitas so, wie Achenwall ihn konzipiert; dazu Commentary S. 171–172. Bei Achenwall bildet der Staat ein »corpus aeternum«, eine »immerwährende Körperschaft«. 105 106
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tung zu belasten,« wobei die »Erhaltung« des Volkes die »Erhaltung« der einzelnen Glieder des Volkes impliziert. Kant unterscheidet zwei Klassen von Bürgern, erstens diejenigen, die in der Lage sind, die notwendigen Mittel zu ihrer eigenen Erhaltung zu produzieren, und zweitens diejenigen, die dazu nicht in der Lage sind. 108 Die ersteren können von Staats wegen genötigt werden, die fraglichen Mittel für die Erhaltung der letzteren »herbeizuschaffen«. 109 Kant diskutiert verschiedene Modelle, wie die notwendigen Mittel zur Erhaltung der zweiten Gruppe herbeigeschafft und verteilt werden sollen. Er weist auch auf die damit verbundenen Gefahren hin. Er schränkt die Gruppe der Bedürftigen auf diejenigen Personen ein, die »selbst den notwendigsten Naturbedürfnissen nach« nicht in der Lage sind, ihre Erhaltung selbst zu bestreiten, und er warnt vor solchen Systemen, die es erlauben, »das Armsein zum Erwerbsmittel für faule Menschen [zu] machen, und so eine ungerechte Belästigung des Volks durch die Regierung sein würden.« 110 Ein Wohlfahrtsstaat tendiert zur Entmündigung seiner Bürger. Im »Gemeinspruch« heißt es: »Eine Regierung, die auf dem Prinzip des Wohlwollens gegen das Volk als eines Vaters gegen seine Kinder errichtet wäre, d. i. eine väterliche Regierung (imperium paternale), wo also die Untertanen als unmündige Kinder, die nicht unterscheiden können, was ihnen wahrhaft nützlich oder schädlich ist, sich bloß passiv zu verhalten genötigt sind, um, wie sie glücklich sein sollen, bloß von dem Urteile des Staatsoberhauptes, und, daß dieser es auch wolle, bloß von seiner Gütigkeit zu erwarten: ist der größte denkbare Despotismus (Verfassung, die alle Freiheit der Untertanen, die alsdann keine Rechte haben, aufhebt).« 111 Ein paternalistisches System, wie Kant es hier beschreibt, setzt nicht voraus, daß es eine einzelne Person (als Diktator) ist, die den Untertanen vorschreibt, wie sie zu leben haben. Da es möglich ist, daß auch eine demokratische Mehrheit wie ein einzelner Diktator agiert (s. o. IX.), kann eine demokratische Mehrheit ganz ähnliche Allüren haben wie eine Einzelperson. Kant benutzt den Ausdruck »die Vermögenden«, was heute mißverstanden werden kann. »Die Vermögenden« sind nicht nur solche Leute, die über Geld (Ersparnisse) verfügen, sondern auch solche Leute, die nicht über Geld verfügen, aber es »vermögen« (= in der Lage sind), durch Arbeit zur Erhaltung der Bedürftigen beizutragen. 109 6:326,7–14 (Allg. Anm. C). 110 6:326,14–32 (Allg. Anm. C). Statt von »Belästigung« würden wir heute von »Belastung« sprechen. 111 8:290,33–291,5. 108
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Rechtsstaat und Utilitarismus
Dem Vorschlag, die Bürger (»zu ihrem eigenen Besten«) durch den Gesetzgeber zu zwingen, am Donnerstag kein Fleisch zu essen, haftet zwar auch etwas Lächerliches an. Daß der Vorschlag aber überhaupt gemacht werden konnte, legt die in der heutigen Gesellschaft bestehenden Tendenzen zum Despotismus frei.
XI. Rechtsstaat und Utilitarismus Utilitarismus ist eine in der westlichen Welt der Gegenwart verbreitete Lehre vom richtigen Handeln, die von dem jüngeren Zeitgenossen Kants Jeremy Bentham und dessen Schüler John Stuart Mill ausgearbeitet worden ist. Nach dem Bentham’schen Utilitarismus ist meine Handlung (welche Handlung auch immer) dann und nur dann richtig, wenn sie das größte Glück der größten Zahl mehr fördert als ihre möglichen Alternativen. Kant kennt das Wort »Utilitarismus« noch nicht (es ist erst im 19. Jahrhundert von Mill geprägt worden). Aber er kennt die Formel vom größten Glück der größten Zahl, die wir, lange vor Bentham, schon bei Leibniz und bei Hutcheson finden. 112 Das, was heute »Utilitarismus« heißt, heißt bei Kant »Glückseligkeitslehre«. Die Formel vom größten Glück der größten Zahl wirft Probleme auf, weil sie verlangt, »Glück« und »Unglück« (als Tatsachen!) gegeneinander zu verrechnen. So erlaubt die Formel, sagen wir, zehn Prozent eines Volkes zu versklaven, wenn das für die übrigen neunzig Prozent ein schönes Leben möglich macht. Da dieses Ergebnis vielen heutigen Utilitaristen unangenehm ist, wird der moderne Theoretiker des Utilitarismus Tatsachenbehauptungen aufstellen und Abwägungen vornehmen, die, ob plausibel oder nicht, das Ergebnis vermeiden sollen. Beispielsweise wird er behaupten, daß die Versklavung so vieler Menschen faktisch so fürchterlich sei, daß sie niemals durch das Glück auch einer großen Menge von Leuten aufgewogen werden könne. Bei dem bekannten Sheriff-Beispiel kommt es freilich zum Schwur. In dem Beispiel hat der Sheriff einen Gefangenen, von dem er weiß, daß er unschuldig ist. Der Mob fordert die Hinrichtung des Gefangenen. Erfüllt der Sheriff die Forderung nicht, dann wird es zu Ausschreitungen kommen, die hundert anderen unschuldigen Men112 Vgl. Leibniz Obs. XII; Hutcheson Inquiry S. 164.; dazu mein Beitrag zu »The Greatest Happiness Principle« (1991).
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I · Kant und der Rechtsstaat
schen das Leben kosten werden. Die Formel vom größten Glück der größten Zahl fordert hier die Hinrichtung des Gefangenen. 113 Kant, der zwar nicht das Sheriff-Beispiel, aber das Modell für das Beispiel (den Prozeß Jesu) kennt, kritisiert die »Schlangenwindungen der Glückseligkeitslehre«, 114 die die ungerechte Lösung des Falles produzieren. Er denkt an die Formel vom größten Glück der größten Zahl, wenn er den »pharisäischen Wahlspruch« aus Joh. 11,50 (in der Luther-Übersetzung) zitiert: »Es ist besser, daß ein Mensch sterbe, als daß das ganze Volk verderbe.« 115 Es ist »pharisäisch«, ein reiner Zynismus, wenn der Hohepriester auf den Nutzen abstellt, den die ungerechte Entscheidung (die Hinrichtung des Unschuldigen) hat. Die Utilitarismus-konforme Lösung des Falles setzt voraus, daß der unschuldige Gefangene nicht ein (subjektives) Recht, sondern daß er lediglich ein Interesse hat, nicht hingerichtet zu werden. Interessen können verrechnet werden, Rechte nicht. In der Tat erklärt Bentham die Idee vorpositiver subjektiver Rechte als »Unsinn auf Stelzen«. 116 Das ist die entscheidende Wendung. Die Leugnung vorpositiver Rechte ist eine notwendige Bedingung für die Möglichkeit des Utilitarismus. Sie zeigt auch die Unmöglichkeit, Utilitarismus und Rechtsstaat zusammen zu denken. Utilitaristische Theorien richten sich im Endeffekt notwendigerweise gegen den Rechtsstaat.
XII. Der Begriff des Rechtsstaats als Kritik am Rechtspositivismus Der in der westlichen Welt von heute ebenfalls (ähnlich wie der Utilitarismus) weit verbreitete Rechtspositivismus bezeichnet allein das positive (objektive) Recht, das in einem Staate (im heutigen Sinne des Wortes »Staat«) gilt, 117 als »Recht«, und er bezeichnet jedes positive Recht dieser Art als »Recht«. Eine Folge dieser Annahme ist, daß der Rechtspositivismus (ähnlich wie der Utilitarismus) vorpositive subjektive Rechte leugnet. Es gibt eine praktische und eine theoretische Variante des Rechtspositivismus. Die praktische Variante hält sich
113 114 115 116 117
Vgl. etwa Smart S. 69–71; s. auch Seelmann S. 170–173 (§ 10,1 Nrn. 2–9). 6:331,32–33 (Allg. Anm. E). 6:331,32–332,1. Bentham S. 501: »nonsense on stilts«. Als »Geltung« wird dabei die »Durchsetzbarkeit« bezeichnet.
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Der Begriff des Rechtsstaats als Kritik am Rechtspositivismus
(häufig unreflektiert) an die Definition, die wir soeben gegeben haben, und bearbeitet, in den Grenzen dieser Definition, allein das positive Recht. Die theoretische Variante spricht darüber hinaus ein Verbot aus. Sie verbietet, neben dem positiven Recht oder gar statt des positiven Rechts andere geistige Phänomene als »Recht« zu bezeichnen. Die Begründung dafür, soweit eine Begründung überhaupt gegeben wird, besteht in der Regel darin, Lehren, die das tun (nämlich die fraglichen anderen geistigen Phänomene als »Recht« zu bezeichnen), mit einem negativen Etikett zu versehen, sie z. B. als »unwissenschaftlich« zu titulieren. Nennen wir, mit Kant, die rechtspositivistische Position (in ihrer praktischen wie in ihrer theoretischen Variante) »empirische Rechtslehre«, dann ist alle Rede über Recht, die über die empirische Rechtslehre hinausgeht, »unwissenschaftlich«. Die empirische Rechtslehre (der Rechtspositivismus) ist Wasser auf die Mühle vieler Politiker (so mancher Couleur), die glauben, sich über die Rechte von Menschen hinwegsetzen zu können. Gegenüber diesen Politikern, gegenüber dem positiven »Recht« aller Art und damit gegenüber aller empirischen Rechtslehre hat der Begriff des Rechtsstaats eine kritische Funktion. Rechtsstaatsbegriff und positives Recht stehen nicht auf derselben Ebene. Es besteht eine unüberbrückbare (logische) Kluft zwischen dem Begriff des Rechtsstaats, der der Maßstab ist, und dem positiven Recht, das an dem Maßstab gemessen wird. Wie wir alle wissen, kann positives (Pseudo-)Recht rechtsstaatswidrig sein. Ob die (positivistische) Gegenkritik eine solche Kritik »unwissenschaftlich« nennt oder nicht, ist belanglos. Oder, mit Kant: Ob das, was die positiven Gesetze an einem gewissen Ort und zu einer gewissen Zeit sagen oder gesagt haben, »auch recht sei, und das allgemeine Kriterium, woran man überhaupt Recht sowohl als Unrecht (iustum et iniustum) erkennen könne,« bleibt dem Rechtspositivisten verborgen, wenn er nicht die Quellen in der reinen Vernunft sucht, »um zu einer möglichen positiven Gesetzgebung die Grundlage zu errichten.« »Eine bloß empirische Rechtslehre ist (wie der hölzerne Kopf in Phädrus’ Fabel) ein Kopf, der schön sein mag, nur Schade! daß er kein Gehirn hat.« 118 118 6:229,22–230,6 (Einl. in die Rechtsl. § B). Die Stelle bei Phaedrus, auf die Kant hier anspielt, lautet: »Vulpes ad personam tragicam: Personam tragicam forte vulpes viderat. – ›O quanta species‹ inquit ›cerebrum non habet!‹ – Hoc illis dictum est, quibus honorem et gloriam – Fortuna tribuit, sensum communem abstulit.« In der bekannten
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I · Kant und der Rechtsstaat
Die kritische Funktion des Rechtsstaatsbegriffs ist unbequem. Zahlreich sind die Versuche, die Unbequemlichkeit los zu werden. Raffiniert ist Carl Schmitts Diktum »Jeder Staat ist ein Rechtsstaat.« 119 Der Ausdruck »Rechtsstaat« wird beibehalten, aber er wird seiner Bedeutung entleert. Das wiederum nimmt der Verwendung des Ausdrucks den Biß.
XIII. Anwendung des Rechtsstaatsgedankens auf die Beziehungen zwischen den Staaten und zwischen den Völkern Wenn wir heute von »Rechtsstaat« sprechen, dann denken wir zunächst einmal allein an den Einzelstaat. Allerdings ist die Bedeutung des Wortes im Fluß. Wir würden heute auch von der Europäischen Union, einem völkerrechtlichen Gebilde, verlangen, daß sie rechtsstaatliche Grundsätze einhält. Kant geht dem voran. Der Begriff eines rechtlichen Zustandes ist bei ihm von vornherein weiter als der heutige Rechtsstaatsbegriff. Der Begriff (des rechtlichen Zustandes) bezieht sich nicht nur auf den Einzelstaat. Statt dessen fordert Kant drei rechtliche Zustände. Neben dem »Staatsrecht«, dem Recht eines Einzelstaates »in Beziehung auf seine eigenen Glieder«, 120 kennt er ein »Völkerstaatsrecht« und ein »Weltbürgerrecht«. 121 Das von Kant so genannte »Postulat des öffentlichen Rechts« – »Du sollst im Verhältnisse eines unvermeidlichen Nebeneinanderseins mit allen anderen aus [dem Naturzustand] heraus in einen rechtlichen Zustand … übergehen!« 122 – gilt nicht nur für Einzelpersonen, die aufgefordert werden, einen Rechtsstaat zu gründen, sondern das Postulat gilt von vornherein auch für die Staaten, die aufgefordert werden, sich zu einem Völkerstaat zusammenschließen, Übersetzung von Friedrich Rückert: »Der Fuchs an die Larve: Als eine Mask’ der Fuchs durch Zufall hatt’ gesehen, – Rief er: ›Warum birgt nicht die schöne Hülle Geist?‹ – Dies sei für die gesagt, die Ehr und großen Ruhm – Erhalten haben, aber nicht Verstand besitzen.« (Vgl. Liber Fabularum Erstes Buch, Fabel 7). Kant übersetzt »persona tragica« (bei Rückert »Larve« oder »Maske«) mit »hölzerner Kopf«. »Cerebrum« (bei R. »Geist«) übersetzt Kant (wörtlich) mit »Gehirn«. 119 Carl Schmitt S. 41. Den Hinweis auf diese Stelle verdanke ich Kaufmann Recht ohne Regel? S. 238 Fn. 26. 120 6:311,12–15 (§ 43). 121 6.311,24–26 (§ 43). 122 6:307,8–11 (§ 42); vgl. auch 6:306,24–28 (§ 41).
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Beziehungen zwischen den Staaten und zwischen den Völkern
den Kant auch einen »allgemeinen Staatenverein« nennt. 123 Vor dem Zusammenschluß zu einem solchen allgemeinen Staatenverein ist »alles Recht der Völker« (einschließlich des »äußeren Mein und Dein der Staaten«) »bloß provisorisch«, d. i. ungesichert und vorläufig. Erst in einem Völkerstaat kann es »peremtorisch« werden. 124 Für den Völkerstaat gilt mutatis mutandis das für den Einzelstaat Gesagte. Wie ein Einzelstaat benötigt der Völkerstaat eine Legislative, eine Exekutive und vor allem eine öffentliche Gerichtsbarkeit, deren Entscheidungen auch durchgesetzt werden. 125 Allerdings besteht zwischen dem Völkerstaat und den Einzelstaaten ein wichtiger Unterschied. Da ein Staat kein Privateigentum am Boden haben kann, 126 ist es ausgeschlossen, daß er am Wirtschaftsleben teilnimmt. Insofern sind die Glieder des Völkerstaats (die Einzelstaaten) nicht wie Privatpersonen, die auf einem Markt agieren. Die Staaten als solche sind keine Marktteilnehmer. Teilnehmer am internationalen Markt sind statt dessen, wie Kant sich ausdrückt, die »Völker«. Die Menge der individuellen Personen, die sich zu einem Staat zusammengeschlossen haben, bildet ein »Volk«. Die Völker verkehren miteinander, insbesondere treiben sie Handel miteinander, und dafür brauchen sie eine rechtliche Grundlage, sie brauchen ein Recht, bei dem es um »die mögliche Vereinigung aller Völker in Absicht auf gewisse allgemeine Gesetze ihres möglichen Verkehrs« geht. Dieses Recht nennt Kant das »Weltbürgerrecht (ius cosmopoliticum)«. 127 Auch für das (vom Völkerrecht und erst recht vom Völkerstaatsrecht zu unterscheidende) Weltbürgerrecht gilt das Postulat des öffentlichen Rechts. Auch für das Weltbürgerrecht brauchen wir eine Legislative, eine Exekutive und eine Judikative. 128 Mit Bezug auf die drei rechtlichen Zustände, die er fordert, erteilt Kant uns eine ernste Warnung. Wir können uns nicht damit begnügen, in unserem Einzelstaat alles in Ordnung zu bringen, d. h. wir können uns nicht damit begnügen, zu Hause einen Rechtsstaat zu errichten. Wir müssen uns auch mit den Nachbarstaaten (und im Endeffekt mit allen Staaten dieser Erde) zu einem Völkerstaat, der Zu Einzelheiten vgl. unten das fünfte Kapitel Abschnitte I und II. 6:350,6–12 (§ 61). Zur Terminologie s. oben II. 125 6:312,18–21 (§ 44). 126 6:324,2–5 (Allg. Anm. B). 127 Vgl. insbesondere 6:352,22–25 (§ 62). 128 Zu Einzelheiten zum Völkerstaatsrecht siehe unten das fünfte Kapitel, zum Weltbürgerrecht s. Commentary S. 205–211. 123 124
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I · Kant und der Rechtsstaat
ein Rechtsstaat ist, und mit unseren Nachbarvölkern (im Endeffekt mit allen Völkern) in einem System des Weltbürgerrechts zusammenschließen, das rechtsstaatlichen Grundsätzen folgt. Das zu erreichen, erscheint schon auf den ersten Blick als schwer genug. Es erscheint als noch schwerer, wenn wir bedenken, daß Zusammenschlüsse von Staaten, denen wir mit einer gewissen Plausibilität Rechtsstaatscharakter zusprechen können, auf der einen Seite und Staaten auf der anderen Seite, denen wir diesen Charakter nicht zusprechen können, auf die Dauer keinen Erfolg versprechen. Staaten mit Rechtsstaatscharakter und Diktaturen (Despotien) passen nicht zusammen. Alle Staaten, die sich zusammenschließen, müssen als Rechtsstaaten eingerichtet sein. Die Aufgabe, die Kant uns stellt, ist riesig. Erfüllen wir die Aufgabe aber nicht, fehlt es auch nur an einer der »drei Formen des rechtlichen Zustandes«, dann wird auch »das Gebäude aller übrigen unvermeidlich untergraben werden« und muß »endlich einstürzen.« 129
XIV. Schlußbemerkung: Rechtsstaat und Friedenszustand Dem rechtlichen Zustand ist der »nicht-rechtliche Zustand« kontradiktorisch entgegengesetzt. Der nicht-rechtliche Zustand ist der Naturzustand. 130 Bei Kants Begriff des Naturzustands dürfen wir nicht an die bekannte Beschreibung denken, die Hobbes im Leviathan vom Naturzustand gibt. Bei Hobbes steht dem Naturzustand der »Staat« gegenüber, und der Staatsbegriff Hobbes schließt auch den schlimmsten despotischen Staat ein, der seine Untertanen ermordet, ausplündert oder ihrer Freiheit beraubt (Beispiele aus der jüngeren Geschichte brauchen wir nicht lange zu suchen). Was auch immer Carl Schmitt sagen mag (s. oben XII), es ist nicht der Fall, daß jeder Staat ein Rechtsstaat ist. Statt dessen ist jeder Staat, der kein Rechtsstaat ist, nichts anderes als eine Variante des Naturzustandes. Naturzustand bedeutet Krieg. Der heute vorherrschende Kriegsbegriff beschränkt den Krieg auf den Krieg zwischen Staaten. Allenfalls wird konzediert, daß es Bürgerkriege gebe. Das ist nicht Kants 6:311,26–29 (§ 43). So ausdrücklich 6:306,17–22 (§ 41). Der dort erwähnte »bürgerliche Zustand (status civilis)« ist der »Staat« als »rechtlicher Zustand«; vgl. die entsprechenden Definitionen in 6:311,12–15 (§ 43). 129 130
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Schlußbemerkung: Rechtsstaat und Friedenszustand
Begriff von Krieg. Kants Kriegsbegriff erfasst die Realität des Krieges in ihrer ganzen Breite und mit ihrem ganzen Schrecken. Kriege können nicht nur zwischen Staaten oder zwischen Bürgerkriegsparteien geführt werden. Auch Einzelpersonen können gegen Einzelpersonen Kriege führen. Oder, mit Kant: Es gibt den Krieg »zwischen Mir und Dir im Naturzustande« und den Krieg »zwischen uns als Staaten«. 131 Nicht zuletzt können Kriege von Regierungen gegen die Untertanen geführt werden. Dabei müssen wir nicht nur an die Fälle denken, bei denen eine Regierung auf Untertanen, die ihr Freiheitsrecht auszuüben versuchen, schießen läßt, sondern auch an die Fälle, bei denen eine Regierung die Untertanen unter Einsatz staatlicher Gewalt oder durch Drohung mit solcher Gewalt ausplündert und entrechtet. Dem Krieg steht der Frieden gegenüber. Kant: »Der Friedenszustand ist allein der unter Gesetzen gesicherte Zustand des Mein und Dein in einer Menge einander benachbarter Menschen, mithin die in einer Verfassung zusammen sind,« wenn diese Verfassung »durch die Vernunft a priori von dem Ideal einer rechtlichen Verbindung der Menschen unter öffentlichen Gesetzen überhaupt hergenommen« worden ist. 132 Frieden ist nicht mit Friedhofsruhe zu verwechseln. 133 Friedhofsruhe kann jeder Staat in seinem Innern herstellen, wenn er nur die erforderliche Gewalt einsetzt. Ein solchermaßen staatlich geschaffener oder vom Staat zugelassener Naturzustand wäre ein Zustand permanenter staatlicher Rechtsverletzungen. Für die internationale Ebene ist es klar, daß die gewaltsame Annexion fremden Territoriums eine Rechtsverletzung ist. Unklar ist, warum es keine Rechtsverletzung sein soll, wenn, was so mancher Politiker für die nationale Ebene fordert, bestimmte Bevölkerungsgruppen entrechtet werden. Mit permanenten Rechtsverletzungen kann ein Staat zwar eine Friedhofsruhe erzwingen, Frieden aber bringt das nicht. Es ist der Rechtsstaat und der Rechtsstaat allein, der Frieden schafft.
131 6:354,21–22. Ein Krieg zwischen Einzelpersonen findet auch dann statt, wenn ich an sich in einem (Rechts-)Staat lebe, in der konkreten Kiegs-Situation aber auf mich selbst gestellt bin. Vgl. 27:1353,7–8: »Wenn ein Räuber mich anfällt, so bin ich im statu naturali [im Naturzustand], denn die Obrigkeit kann mich gar nicht schützen.« 132 6:355,9–16 (Beschluß). 133 Daß Kant zwischen Frieden und Friedhofsruhe unterscheidet, ergibt sich u. a. aus dem Vorspruch in der Schrift Zum ewigen Frieden (8:343,2–17).
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Zweites Kapitel: Das Erlaubnisgesetz der praktischen Vernunft und der ursprüngliche Erwerb von Stücken des Erdbodens
Unter der Überschrift »Rechtliches Postulat der praktischen Vernunft« heißt es in § 2 der Rechtslehre: »Es ist möglich, einen jeden äußeren Gegenstand meiner Willkür als das Meine zu haben.« 1 Was ein äußerer Gegenstand meiner Willkür ist, haben wir bereits im ersten Kapitel (Abschnitt V.) gesehen. Es sind dies 1) die »körperlichen Sachen außer mir«, 2) »die Willkür eines anderen zu einer bestimmten Tat« und 3) »der Zustand eines anderen in Verhältnis auf mich«. 2 Von diesen äußeren Gegenständen meiner Willkür sagt § 2, daß es möglich sei, sie »als das Meine zu haben.« Das soll heißen: 1) Es ist möglich, daß körperliche Sachen außer mir meine Sachen sind. 2) Es ist möglich, daß die Willkür einer anderen Person zu einer bestimmten Leistung mir unterworfen ist. Es ist, mit anderen Worten, möglich, daß ich eine Forderung (im Rechtssinne, vgl. § 398 BGB) gegen diese andere Person habe (etwa, meinen Rasen zu mähen). 3) Es ist möglich, daß eine andere Person in Bezug auf mich einen bestimmten Status hat, so daß diese Person in einer bestimmten Weise zu mir gehört (daß diese Frau meine Ehefrau, daß dieses Kind mein Kind ist, daß dieser Rechtsanwalt mein bevollmächtigter Vertreter ist usw.). Dabei sagt das Postulat nicht, daß eine bestimmte Sache mir gehört, sondern es besagt, daß es möglich ist, daß die Sache mir gehört. Es sagt nicht, daß ich einen bestimmten Anspruch gegen eine andere Person habe, sondern es besagt, daß es möglich ist, daß ich einen solchen Anspruch gegen eine andere Person habe. Es sagt nicht, daß eine bestimmte Frau meine Ehefrau ist, sondern daß es möglich ist, daß diese Frau meine Ehefrau ist. Die Möglichkeit, von der Kant in § 2 spricht, ist eine rechtliche (eine juristische) Möglichkeit. Diese rechtliche Möglichkeit ist von korrespondierenden tatsächlichen Möglichkeiten zu unterscheiden. 1 2
6:246,4–6. Vgl. 6:247,18–21 (§ 4).
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II · Das Erlaubnisgesetz der praktischen Vernunft
Natürlich ist es möglich, daß ich eine Sache tatsächlich beherrsche, daß ich (Kants eigenes Beispiel) einen Apfel in der Hand halte. Aber diese tatsächliche Herrschaft über eine Sache ist von der rechtlichen Möglichkeit, daß die Sache meine Sache ist, unterschieden. Es ist auch tatsächlich möglich, daß ich eine andere Person unter Druck setze (daß ich sie nötige), meinen Rasen zu mähen. Aber wiederum: Diese tatsächliche Herrschaft über die andere Person ist von dem Rechtsanspruch, meinen Rasen zu mähen, unterschieden, den ich gegen die andere Person haben kann. Schließlich ist es möglich, daß ich der biologische Erzeuger eines Kindes bin. Aber diese Erzeugerschaft ist davon unterschieden, daß ich der juristische Vater des Kindes sein kann, dem die elterliche Gewalt über das Kind zusteht. Kant nennt die rechtliche Herrschaft über eine Sache oder über eine andere Person »intelligibelen« oder »bloß rechtlichen Besitz«, 3 der, wenn es um Sachen geht, auch »Eigentum«, 4 wenn es um Forderungen geht, auch »Rechtsanspruch« (oder eben »Forderung« im Rechtssinne), und, wenn es um ein Kind geht, »elterliche Gewalt« heißt. § 2 der Rechtslehre formuliert danach die Möglichkeit eines intelligibelen Besitzes (daß ich möglicher Eigentümer jeder beliebigen Sache, möglicher Gläubiger gegenüber jedem beliebigen Schuldner usw. bin) und damit einen Rechtssatz, den Kant nicht nur ein »Postulat der praktischen Vernunft«, sondern auch ein »Erlaubnisgesetz (lex permissiva) der praktischen Vernunft« nennt. 5 Wir werden sehen, daß diese letztere Kennzeichnung uns hilft, den genauen Charakter des Postulats zu verstehen. 6 Eine genaue Analyse des Erlaubnisgesetzes der praktischen Vernunft setzt (mit Kant) ein Stück deontischer Logik und damit die Unterscheidung zweier verschiedener Begriffe von »erlaubt« voraus (unten I.), an die die Unterscheidung zweier verschiedener Begriffe von »Erlaubnisgesetz« anschließt (unten II.). Das Erlaubnisgesetz des § 2 der Rechtslehre würden wir heute eine Ermächtigungsnorm 6:245,19–20 (§ 1). Vgl. 6:270,10–11 (Anhang zu § 17). 5 6:247,1–2 (§ 2). 6 Auseinandersetzungen mit der einschlägigen Literatur finden sich in meinem Beitrag »The permissive law of practical reason«, im 4. Kapitel des Commentary S. 94– 106 und bei Byrd »Intelligible possession of objects of choice«; vgl. auch Byrd »The elusive story of Kant’s permissive laws«. – Eine erste Stellungnahme zu der Unterscheidung zweier verschiedener Begriffe von »Erlaubnisgesetz« bei Matthias Kaufmann »Was erlaubt das Erlaubnisgesetz – und wozu braucht es Kant?« 3 4
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II · Das Erlaubnisgesetz der praktischen Vernunft
nennen (unten III.), um deren Inhalt es unter IV. geht. Die Ermächtigung, die § 2 erteilt, erstreckt sich auf den ursprünglichen Erwerb von Stücken des Erdbodens (unten V.). Im Mittelpunkt von Kants Argumentation steht dabei der ursprüngliche Gesamtbesitz aller Menschen am Erdboden, dem ein ursprünglich und a priori vereinigter Wille korrespondiert (unten VI.). Dieser ursprünglich und a priori vereinigte Wille erteilt der Menschheit ein Aufteilungsgebot (unten VII.). Adressaten des Erlaubnisgesetzes sind nicht nur individuelle Personen, sondern auch die Völker und Staaten auf dieser Erde (unten VIII.). Der ursprüngliche Erwerb von Stücken des Bodens, der allein im Naturzustand geschieht, impliziert einen Vorgriff auf den rechtlichen Zustand (unten IX.), in den einzutreten, die Nachbarn gezwungen werden dürfen (unten X.). Danach findet der Leser eine knappe Zusammenfassung des Erörterten (unten XI.). Die Schlußbemerkung (unten XII.) geht auf die Grenzen ursprünglicher Erwerbung ein.
I.
Zwei Begriffe von »erlaubt«
Daß das Postulat des § 2 nach Kant ein Erlaubnisgesetz der praktischen Vernunft ist, hat den Interpreten der Rechtslehre bisher Schwierigkeiten bereitet. Die Schwierigkeiten beruhen u. a. darauf, daß es im Deutschen (und in anderen Sprachen) zwei verschiedene Begriffe von »erlaubt« und infolgedessen auch zwei verschiedene Begriffe von »Erlaubnis« und »Erlaubnisgesetz« gibt. Kant weiß um die einschlägigen Probleme. Auch er geht von zwei verschiedenen Begriffen von »erlaubt« und von zwei verschiedenen Begriffen von »Erlaubnisgesetz« aus. Wir müssen diese Begriffe auseinanderhalten, um Kants Argumentation in § 2 der Rechtslehre zu verstehen. Die beiden Begriffe von »erlaubt« zeigen sich, wenn wir das deontologische Sechseck betrachten. Kant kennt das deontologische Sechseck zwar noch nicht, weil das Sechseck erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts entwickelt worden ist. Die in dem Sechseck dargestellte Begrifflichkeit ist Kant aber vertraut. 7 Das Sechseck setzt die Begriffe »geboten (praeceptum)«, »verboten (prohibitum)«, »erlaubt (licitum)« und »bloß erlaubt (indifferens)« in ein Verhältnis zueinander. Von diesen Begriffen spricht Kant in der »Einleitung in 7
Zum folgenden vgl. 6:222,27–223,17 (Einl. in die MdS IV.).
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Zwei Begriffe von »erlaubt«
die Metaphysik der Sitten«. Die Begrifflichkeit (und die lateinischen Ausdrücke) übernimmt er von Achenwall. 8 Mit den Prädikaten »geboten (praeceptum)«, »verboten (prohibitum)« und »bloß erlaubt (indifferens)« lassen sich paarweise konträre Sätze bilden. Konträre Sätze stehen insoweit in einem Gegensatz zueinander, als sie einander ausschließen. Wenn in einem System von Vorschriften eine Handlung geboten ist, dann ist es ausgeschlossen, daß sie (die Handlung) verboten, und es ist ausgeschlossen, daß sie bloß erlaubt ist. Wenn die Handlung verboten ist, dann ist es ausgeschlossen, daß sie geboten, und es ausgeschlossen, daß sie bloß erlaubt ist. Wenn die Handlung bloß erlaubt ist, dann ist es ausgeschlossen, daß sie geboten, und es ist ausgeschlossen, daß sie verboten ist. Schließen sich zwei Sätze auf diese Weise aus, dann heißt das nicht, daß einer der beiden Sätze notwendigerweise wahr ist. Statt dessen ist es (logisch) möglich, daß der dritte Satz wahr ist. Beispielsweise schließen die Sätze »a ist geboten« und »a ist verboten« einander aus, aber es ist möglich, daß der Satz »a ist bloß erlaubt« wahr ist. Die Kontrarietätsbeziehung von »geboten« und »verboten« setzt Kant als selbstverständlich voraus. Zur »bloß erlaubten« Handlung heißt es dagegen wörtlich: »Eine Handlung, die weder geboten noch verboten ist, ist bloß erlaubt, weil es in Ansehung ihrer gar kein die Freiheit (Befugnis) einschränkendes Gesetz und also auch keine Pflicht gibt.« 9 Das ist genau der Begriff von »bloß erlaubt«, von dem wir auszugehen haben. Die drei Begriffe (»geboten«, »verboten«, »bloß erlaubt«) können in einem Dreieck dargestellt werden (wobei »a« die Vornahme einer beliebigen Handlung bedeutet): 8 Vgl. meine Schrift über Das deontologische Sechseck bei Achenwall mit umfangreichen Literaturangaben. 9 6:223,1–8. – Kants deutsche Terminologie (»bloß erlaubt«) knüpft an den in unserem Zusammenhang in der »Einleitung in die Metaphysik der Sitten« (6:223,9) ebenfalls erwähnten Ausdruck »res merae facultatis« an, der im 18. Jahrhundert ein terminus technicus der Juristensprache war. Beispielsweise definiert Augustinus Leyser (Resp. Heinrich Balthasar Seelmann) in der Dissertation De rebus merae facultatis von 1728, auf S. 3–4 eine res merae facultatis als eine Freiheit, die wir kraft eines eigenen (subjektiven) Rechts ausüben können, wobei weder ein fremder Besitz noch ein fremdes Verbot der Ausübung (der Freiheit) entgegensteht. Eine res merae facultatis ist eine Sache des bloßen Beliebens, oder, wenn wir mit Kant »facultas« mit »Befugnis« übersetzen, dann ist eine res merae facultatis eine Sache einer bloßen Befugnis. »Bloß« bedeutet hier »rein«. Eine »bloß erlaubte« Handlung ist eine rein erlaubte Handlung, was eben bedeutet, daß die Handlung weder geboten noch verboten ist.
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II · Das Erlaubnisgesetz der praktischen Vernunft
Die Seiten des Dreiecks (die gestrichelten Linien) symbolisieren die Kontrarietätsbeziehungen. Denken wir uns nun zu jedem der drei Sätze die Negation hinzu, dann erweitert sich das Dreieck zu einem Sechseck:
Das Sechseck erweitert das Dreieck, weil es den drei positiven Sätzen die ihnen korrespondierenden negativen Sätze gegenüberstellt. Die drei negativen Sätze widersprechen den positiven, sie sind deren kon52 https://doi.org/10.5771/9783495807989 .
Zwei Begriffe von »erlaubt«
tradiktorische Gegensätze (die kontradiktorischen Gegensätze werden durch die Linien dargestellt, die durch Punkte abgeschlossen werden). Kontradiktorische Sätze schließen einander aus. Insofern sind sie den konträren Gegensätzen ähnlich. Darüber hinaus ist es aber so, daß (in demselben System) einer der beiden kontradiktorischen Sätze wahr ist, und das macht den Unterschied zu den konträren Gegensätzen aus. So schließen die Sätze »a ist geboten« und »a ist nicht geboten« einander aus, und (im selben System) ist einer der beiden Sätze notwendig wahr. Daraus ergibt sich die weitere Logik des Sechsecks. In dem Sechseck finden wir sechs Implikationen (die durch Pfeile dargestellt werden). Der Satz »a ist geboten« impliziert den Satz »a ist nicht verboten« (nicht aber umgekehrt), genauso wie der Satz »a ist verboten« den Satz »a ist nicht geboten« impliziert (aber nicht umgekehrt). Offensichtlich ist außerdem, daß der Satz »a ist bloß erlaubt« sowohl den Satz »a ist nicht verboten« als auch den Satz »a ist nicht geboten« impliziert (aber nicht umgekehrt). Ebenso offensichtlich ist es, daß sowohl der Satz »a ist geboten« als auch der Satz »a ist verboten« den Satz an der Spitze des Sechsecks »a ist nicht bloß erlaubt« impliziert (aber nicht umgekehrt). Anders formuliert: Von den positiven Sätzen gehen jeweils zwei Implikationen aus. Der Satz »a ist geboten« impliziert sowohl den Satz »a ist nicht verboten« als auch den Satz »a ist nicht bloß erlaubt«. Der Satz »a ist verboten« impliziert sowohl den Satz »a ist nicht geboten« als auch den Satz »a ist nicht bloß erlaubt«. Wie bereits gesagt, impliziert der Satz »a ist bloß erlaubt« die beiden Sätze »a ist nicht geboten« und »a ist nicht verboten«. Auf dieser Grundlage müssen wir (mit Kant) versuchen, die negativen Sätze positiv zu interpretieren. Herkömmlich ist »erlaubt« die Negation von »verboten«. Diese Interpretation des Wortes »erlaubt« ist möglich, aber sie setzt eine Unterscheidung von »erlaubt« und »bloß erlaubt« voraus, die Kant tatsächlich macht. Zum »erlaubt« = »nicht verboten« heißt es: »Erlaubt ist eine Handlung (licitum), die der Verbindlichkeit nicht entgegen ist; und diese Freiheit, die durch keinen entgegengesetzten Imperativ eingeschränkt wird, heißt die Befugnis (facultas moralis).« 10 Nicht ohne Grund benutzt Kant hier Achenwalls »licitum«, um die »erlaubte« Handlung von einer »bloß erlaubten« Handlung zu unterscheiden, welch letztere bei Achenwall »indifferens« genannt wird. Dabei beschreibt Kant 10
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II · Das Erlaubnisgesetz der praktischen Vernunft
eine »erlaubte« Handlung als eine Handlung, »die der Verbindlichkeit nicht entgegen ist«. Anders ausgedrückt: der »erlaubten« Handlung steht, wie Kant ebenfalls sagt, kein Imperativ »entgegen«. Geht es beispielsweise um die Vornahme einer Handlung, dann steht der »erlaubten« Handlung kein »Verbot« entgegen. Freilich kann die »erlaubte« Handlung immer noch »geboten« sein (ein »Gebot« der Handlung wäre kein der »erlaubten« Handlung entgegengesetzter Imperativ), 11 während eine »bloß erlaubte« Handlung definitionsgemäß weder verboten noch geboten ist. Eine »bloß erlaubte« Handlung beschreibt Kant als eine »Handlung, in Ansehung derer es keine Pflicht gibt.« 12 Daraus folgt, daß die Negation einer »bloß erlaubten« Handlung eine Handlung ist, in Ansehung derer es eine Pflicht gibt. Das bedeutet, daß es mit Bezug auf die Handlung ein Gebot oder ein Verbot gibt. Stellen wir die gefundenen Begriffe in das Sechseck ein:
Das kann man auch folgendermaßen ausdrücken: Da der Satz »a ist geboten« den Satz »a ist erlaubt (licitum)« impliziert, ist es möglich, daß eine »erlaubte« Handlung »geboten« ist. 12 Vgl. 6:223,5–8. 11
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Zwei Begriffe von »Erlaubnisgesetz«
Das Sechseck stellt jetzt die Terminologie dar, die Kant benutzt. Aus ihm ergibt sich, daß Kant von zwei verschiedenen Begriffen von »erlaubt« ausgeht. Er unterscheidet »erlaubt (licitum)« und »bloß erlaubt (indifferens)«. Das Sechseck stellt die Beziehungen der beiden Begriffe zueinander und zu den übrigen Grundbegriffen der deontischen Logik dar. Es liefert das feste logische Gerüst, das den folgenden Überlegungen zugrunde liegt.
II.
Zwei Begriffe von »Erlaubnisgesetz«
Den beiden verschiedenen Begriffen von »erlaubt« korrespondieren (bei Kant) zwei verschiedene Begriffe von »Erlaubnisgesetz«. Beginnen wir mit dem Begriff »erlaubt (licitum)«. In der Alltagssprache hat der Satz »a ist erlaubt«, wenn »a ist erlaubt (licitum)« gemeint ist, regelmäßig einen impliziten Bezug auf ein Verbot (und nicht auf ein Gebot). Das liegt daran, daß die Sätze »a ist erlaubt (licitum)« und »a ist verboten« kontradiktorisch entgegengesetzt sind. Der eine Satz ist die Negation des anderen. Deshalb sagen wir in der Regel nicht »Fleischessen am Donnerstag ist erlaubt«, weil wir uns nicht so recht vorstellen können, daß es einen Gesetzgeber gibt, der Fleischessen am Donnerstag verbietet (ausgeschlossen ist das freilich nicht). 13 Dagegen können wir uns gut und gerne eine Situation vorstellen, in der jemand (ein Juraprofessor zu seinen Studenten) sagt »Die Tötung eines Menschen kann in einer Notwehrlage erlaubt sein«. Die Tötung eines Menschen ist generell verboten. Aber es gibt Ausnahmen, beispielsweise in einer Notwehrlage. Erlaubnissätze im Sinne von »erlaubt (licitum)« formulieren danach Ausnahmen von einer Regel. An diesen Begriff von »erlaubt« denkt Kant in der Schrift Zum ewigen Frieden, wo er mit Bezug auf »Erlaubnisgesetze« von einem »vorausgesetzten Verbot« spricht. Er definiert die Erlaubnis ausdrücklich als eine »Befreiung von diesem Verbot«. 14 Erlaubnisgesetze dieser Art liefern also »Ausnahmen« 15 von dem vorausgesetzten Verbot und damit eine Rechtfertigung für Handlungen, die bei einem ersten Gedankenschritt als verboten, bei einem zweiten GedankenIn einem medizinischen Zusammenhang können wir uns natürlich denken, daß es für eine bestimmte Person verboten sein kann, Fleisch zu essen. 14 8:348,11–12. 15 8:347,20 und 348,27–28. 13
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II · Das Erlaubnisgesetz der praktischen Vernunft
schritt aber, wenn und weil der Tatbestand eines Erlaubnisgesetzes erfüllt ist, als gerechtfertigt zu beurteilen sind. Mit anderen Worten: Die Erlaubnisgesetze in Zum ewigen Frieden arbeiten mit dem Begriff von »erlaubt«, der später (in der Rechtslehre) »erlaubt (licitum)« heißt, den Kant aber nicht erst bei der Abfassung der Rechtslehre, sondern schon viel früher kennt, weil der Begriff bei Achenwall vorkommt und von Achenwall ausdrücklich analysiert wird. Der Begriff von Erlaubnisgesetz, den Kant in der »Einleitung in die Metaphysik der Sitten« ins Auge faßt, ist ein anderer Begriff als der Begriff des Erlaubnisgesetzes in Zum ewigen Frieden. Kant entwickelt den Begriff im Kontext seiner Diskussion des Prädikats »bloß erlaubt«. 16 Von »erlaubt (licitum)«, das Kant zwei Absätze zuvor erörtert hat, ist in diesem Kontext nicht mehr die Rede. Bloß erlaubte Handlungen heißen auch »sittlich-gleichgültig«. Darüber hinaus ordnet Kant Achenwalls Ausdruck »indifferens« und die Ausdrücke »adiaphoron« und »res merae facultatis« in diesen Zusammenhang ein. Kant fragt, ob es bloß erlaubte Handlungen gebe, was er an dieser Stelle offen läßt, und er fragt, ob, wenn es bloß erlaubte Handlungen gibt, neben den Gebots- und den Verbotsgesetzen auch noch Erlaubnisgesetze erforderlich seien, was er ebenfalls an dieser Stelle offen läßt. Dabei macht er deutlich, daß er von Erlaubnisgesetzen für bloß erlaubte Handlungen redet. Er fragt, »ob dazu, daß es jemandem frei stehe, etwas nach seinem Belieben zu tun oder zu unterlassen, … noch ein Erlaubnisgesetz (lex permissiva) erforderlich sei.« 17 Wenn es darum geht, etwas nach meinem Belieben zu tun oder zu unterlassen, dann geht es allein um bloß erlaubte Handlungen, und das Erlaubnisgesetz, von dem die Rede ist, ist ein Erlaubnisgesetz für bloß erlaubte Handlungen – und nicht ein Erlaubnisgesetz für Handlungen, die erlaubt (licitum) sind. In der Tugendlehre beantwortet Kant die erste Frage (ob es bloß erlaubte Handlungen gebe). Es gibt, so heißt es in der »Einleitung zur Tugendlehre XVI, »in Ansehung der Moralität gleichgültige Dinge (adiaphora).« Beispielsweise ist es gleichgültig, »ob ich mich mit Fleisch oder Fisch, mit Bier oder Wein, wenn mir beides bekommt, nähre.« 18 In der Rechtslehre beantwortet Kant die zweite Frage (ob, wenn es bloß erlaubte Handlungen gibt, neben den Gebots- und den 16 17 18
6:223,5–17. 6:223,9–14 (Einl. in die MdS IV.). 6:409,13–18.
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Erlaubnisgesetze als Ermächtigungsnormen
Verbotsgesetzen auch noch Erlaubnisgesetze erforderlich seien). Wie wir sogleich (unter III.) sehen werden, gibt es solche Erlaubnisgesetze, und sie sind auch erforderlich. Es ist aber nicht so (und Kant betont das schon in der »Einleitung in die Metaphysik der Sitten«), daß für jede beliebige bloß erlaubte Handlung ein Erlaubnisgesetz notwendig wäre. Zu einer »allemal gleichgültigen« Handlung (adiaphoron), »wenn man sie nach sittlichen Gesetzen betrachtet, würde kein besonderes Gesetz erfordert werden.« 19
III. Erlaubnisgesetze als Ermächtigungsnormen Um uns dem Begriff des Erlaubnisgesetzes zu nähern, den Kant in der »Einleitung in die Metaphysik der Sitten« ins Auge faßt, müssen wir einen Blick in die Geschichte werfen. Im 18. Jahrhundert gibt es einen Begriff von Erlaubnisgesetz, der uns Heutigen verloren gegangen ist. In der ersten Hälfte des Jahrhunderts diskutiert Christian Thomasius in seinen Fundamenta Juris Naturae et Gentium eine Frage, die auch Kant später noch kommentieren wird, 20 nämlich ob Erlaubnisgesetze wirklich als »Gesetze« im strengen Sinne des Wortes angesehen werden können. Thomasius schreibt: »Eine Erlaubnis ist nicht ein Akt des Gesetzes, weil derjenige, der etwas erlaubt, keine Norm erläßt. Versteht man freilich als ›Erlaubnis‹ die Bestätigung des einem anderen zukommenden Rechts oder dessen Einführung, dann sieht das auf den ersten Blick anders aus. Aber auch dann ist die Erlaubnis nicht ein neuer Akt des Gesetzes, sondern ist schon immer in einem Verbotsgesetz eingeschlossen. Denn solange etwa die väterliche Gewalt oder das Eigentum der Bürger in den Gesetzen gestattet wird, ist es den anderen als Konsequenz verboten, diejenigen, die ihr Recht ausüben, dabei zu stören.« 21
6:223,14–17 (Einl. in die MdS IV.). – Im Endeffekt lassen sich drei und nur drei (logisch) verschiedene Erlaubnisgesetze denken (vgl. Byrd »The elusive story of Kant’s permissive laws«), von denen einer im Kontext der »Einleitung in die MdS« allerdings keine Rolle spielt. 20 8:347,34–348,10 (Zum ewigen Frieden). 21 Thomasius Fundamenta Lib. I Cap. V § VI (S. 146 f.): »Permissio non est legis actio, quia qui permittit, non praescribit normam, nisi hac voce comprehendatur confirmatio juris alteri competentis, aut ejus introductio. Nam v. g. dum imperium patris, dominium civium &c. in legibus permittitur, per consequentiam alii vetantur, nec utentes suo jure turbent.« 19
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Ganz ähnlich heißt es (offensichtlich im Anschluß an Thomasius) in dem Philosophischen Lexicon von Johann Georg Walch: »Wollte man unter dem Worte Vergönnung, Zulassung, die Bestätigung des einem anderen zukommenden Rechts, oder desselben Einführung, begreifen, daß wenn z. E. die väterliche Gewalt, das Eigenthum der Bürger u. s. w. in den Gesetzen zugelassen wird, so werden folglich andere gehindert, damit sie diejenigen, die sich ihres Rechts bedienen, nicht beunruhigen; so ist doch auf diese Art die Verstattung keine neue Verrichtung des Gesetzes, sondern wird schon unter dem wirklichen Verbote begriffen.« 22
Wir brauchen das Thema, das Thomasius und den Autor des LexikonArtikels eigentlich interessiert (ob Erlaubnisgesetze als »Gesetze« angesehen werden können), an dieser Stelle nicht zu erörtern. In unserem Zusammenhang wichtig ist es, daß Thomasius und der LexikonArtikel von »Erlaubnisgesetzen« ausgehen, durch die ein Rechtsinstitut »eingeführt« oder »bestätigt« wird. Thomasius spricht von »introductio« und »confirmatio«. Er erwähnt (wie später auch der Artikel) ausdrücklich die väterliche Gewalt (imperium paternale) und das Eigentum der Bürger (dominium civium). Greifen wir den für uns entscheidenden Gesichtspunkt heraus. Gesetze, die ein Rechtsinstitut von der Art des Eigentums oder der elterlichen Gewalt einführen, werden im 18. Jahrhundert »Erlaubnisgesetze« genannt. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts geht Achenwall von diesem Begriff eines Erlaubnisgesetzes aus, aber er präzisiert das bisher Gesagte. Er fragt, was es bedeutet, ein Rechtsinstitut wie die elterliche Gewalt 23 oder das Eigentum der Bürger einzuführen, und er gibt auf die Frage eine Antwort. In seinen Prolegomena Iuris Naturalis heißt es: »Ein Gesetz wird offenbar deswegen ›Erlaubnisgesetz‹ genannt, weil der Gesetzgeber kraft eines solchen Gesetzes das Vermögen verleiht, eine gewisse Handlung gleichsam als eine erlaubte vorzunehmen.« 24
Die Rechtsinstitute Eigentum und elterliche Gewalt werden danach dadurch begründet, daß Personen das juristische Vermögen zuWalch/Hennings Art. »Zulassung« Sp. 1707–1708. Ich schreibe »elterliche« (und nicht »väterliche«) »Gewalt«, weil Achenwall Iuris Naturalis Pars Posterior 5. Aufl. in § 53 (= 19:351,32–34) vorschlägt, an die Stelle von »patria potestas« (väterliche Gewalt) »potestas parentalis« zu setzen. 24 Achenwall Prolegomena 2. Aufl. § 90 (S. 90): »Appellatur nempe lex … permittens, quod legislator vi talis legis facultatem largiatur, certam actionem tamquam permissam … perpetrandi.« Hervorhebung von mir. 22 23
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Erlaubnisgesetze als Ermächtigungsnormen
gesprochen wird, Eigentümer von Sachen zu sein bzw. Väter oder Mütter (im juristischen Sinne), denen elterliche Gewalt zukommt. Was wir hier als ein »juristisches Vermögen« bezeichnen, nennen Achenwall und (Achenwall folgend) Kant ein »moralisches Vermögen«, 25 weil der Begriff des Moralischen im 18. Jahrhundert weiter ist als heute und den des Juristischen einschließt. Wenn wir in der Gegenwart von einer »Rechtsmacht« sprechen, dann meinen wir genau ein solches juristisches (moralisches) Vermögen. Auch Kant spricht im Zusammenhang des § 2 davon, daß etwas »rechtlich in meiner Macht« steht oder nicht steht, und stellt dem das, was »physisch in meiner Macht« steht, gegenüber. 26 Wenn Kant in § 2 der Rechtslehre schreibt, daß das rechtliche Postulat der praktischen Vernunft ein »Erlaubnisgesetz (lex permissiva) der praktischen Vernunft« genannt werden könne, das uns eine »Befugnis gibt«, 27 dann ist das deutlich eine Anknüpfung an die zitierte Stelle in Achenwalls Prolegomena. »Befugnis« ist nach Kants eigener Definition ein Ausdruck für »facultas moralis«, 28 für »moralisches Vermögen«. Ein Erlaubnisgesetz der hier interessierenden Art verleiht uns danach ein moralisches Vermögen – das entspricht genau Achenwalls Definition eines Erlaubnisgesetzes. Es verleiht uns eine Rechtsmacht. Statt von einem »Erlaubnisgesetz« würden wir heute von einer »Ermächtigungsnorm« sprechen. Reflektieren wir noch einmal, wie Kant in der »Einleitung in die Metaphysik der Sitten« das Erlaubnisgesetz in den Zusammenhang der deontischen Logik einordnet. Achenwall hat das Verhältnis der hier interessierenden deontologischen Prädikate zueinander analysiert (was wir hier nicht näher darstellen wollen). 29 Kant kennt Achenwalls Analyse und benutzt sie. Was über Achenwall hinausführt, ist die Einordnung der beiden Begriffe von Erlaubnisgesetz in das (von Achenwall) übernommene System. Es wäre ein Fehler, die beiden Begriffe von Erlaubnisgesetz, den Begriff in Zum ewigen Frieden und den in der »Einleitung in die Metaphysik der Sitten«, gewissermaßen gegeneinander ausspielen zu wollen. Es ist nicht so, daß der letztere den ersteren ersetzen soll. Vielmehr ist es so, daß die beiden 25 Achenwall Prolegomena § 90 spricht von »facultas moralis« (im Unterschied zu einem »physischen Vermögen« (etwa, ein Eisen zu stemmem). 26 6:246,9–11. 27 6:247,1–2 (§ 2). 28 6:222,29 (Einl. in die MdS IV.). 29 Dazu meine Arbeit Das deontologische Sechseck, passim.
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Begriffe einander so ergänzen, wie sich die beiden Begriffe von »erlaubt« (im System der deontischen Logik) ergänzen. Auch in der Metaphysik der Sitten kommen Erlaubnisgesetze vor, die an den Begriff »erlaubt (licitum)« anknüpfen, also Ausnahmen von einer vorausgesetzten Regel formulieren und infolgedessen Erlaubnisgesetze sind wie in der Schrift Zum ewigen Frieden. Hierher gehört (als ein Beispiel) die am Ende des § 8 der Rechtslehre gebrachte Erlaubnis, Kosubjekte zum Beitritt »in eine bürgerliche Verfassung« (einen rechtlichen Zustand) zu nötigen. 30 Die Erlaubnis setzt das Nötigungsverbot voraus, dem das umfassende Recht jedermanns auf äußere Freiheit korrespondiert. Daß Kant in der »Einleitung in die Metaphysik der Sitten« sich mit der Logik der Erlaubnisgesetze der letzteren Art nicht näher befaßt, liegt daran, daß die Regel-Ausnahme-Beziehung, auf der diese Erlaubnisgesetze aufbauen, ganz einfach ist und leicht erfaßt werden kann. Erlaubnisgesetze, die an den Begriff »bloß erlaubt« anknüpfen, liegen demgegenüber nicht auf der Hand, und es bedarf einiger Überlegungen, um sie in das System einzuordnen. Deshalb behandelt Kant die Logik der Erlaubnisgesetze dieser Art in der »Einleitung« ausführlicher. Man kann sagen, daß Kant sich für die Logik des Sechsecks deswegen interessiert, weil er sich für die denkbaren Begriffe von Erlaubnisgesetz interessiert. In der Rechtslehre stößt er auf das, was er »rechtliches Postulat der praktischen Vernunft« nennt, und er bemüht sich, den logischen Status des Postulats näher zu bestimmen.
IV. Der Inhalt des Erlaubnisgesetzes des § 2 der Rechtslehre Das Erlaubnisgesetz verleiht uns eine Befugnis (ein moralisches Vermögen), nämlich die Befugnis, »einen jeden äußeren Gegenstand meiner Willkür als das Meine zu haben.« 31 § 2 der Rechtslehre sagt uns auch, was das bedeutet. Die Befugnis ist eine Befugnis, »allen anderen eine Verbindlichkeit aufzuerlegen …, sich des Gebrauchs gewisser Gegenstände zu enthalten.« 32 Gemeint ist, daß die anderen sich des Gebrauchs derjenigen äußeren Gegenstände meiner Willkür enthalten müssen, die mir bzw. die zu mir gehören, weil ich sie »als 30 31 32
6:256,14–18. 6:246,5–6 (§ 2). 6:247,1–6 (§ 2).
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Der Inhalt des Erlaubnisgesetzes des § 2 der Rechtslehre
das Meine« habe. Das liegt am Begriff des rechtlich Meinen. Als das »rechtlich Meine (meum iuris)« definiert Kant »dasjenige, womit ich so verbunden bin, daß der Gebrauch, den ein anderer ohne meine Einwilligung von ihm machen möchte, mich lädieren würde.« 33 Ist also etwas rechtlich mein, dann müssen alle anderen sich (vorbehaltlich meiner Einwilligung) des Gebrauchs dieses Meinen enthalten, weil der Gebrauch mich verletzen würde und das Verbot gilt »neminem laede« – »verletze (lädiere) niemanden«. 34 Dabei ist die Rede, daß ich die Befugnis habe, allen anderen eine Verbindlichkeit »aufzuerlegen«, heute vielleicht irreführend, weil sie an den Akt denken läßt, durch den ich einen äußeren Gegenstand meiner Willkür erwerbe. Es ist jedoch in erster Linie das (erworbene) subjektive Recht selbst und erst in zweiter Linie der Erwerbsakt, durch das (durch den) ich den anderen die Verbindlichkeit auferlege, mich im Besitz des Gegenstandes nicht zu stören beziehungsweise, wenn der Gegenstand sich in ihrem (physischen) Besitz befindet, ihn (den Gegenstand) herauszugeben. 35 Kant schreibt, daß wir die Befugnis, allen anderen eine Verbindlichkeit aufzuerlegen usw., »aus bloßen Begriffen vom Rechte überhaupt nicht herausbringen könnten« oder, mit anderen Worten, daß wir die Befugnis ohne das Erlaubnisgesetz gar »nicht hätten«. 36 Die »bloßen« Begriffe von Recht überhaupt werden wir als die reinen Begriffe von Recht verstehen müssen und diese wiederum als diejenigen Begriffe von Recht, deren wir durch reines Denken gewahr werden. Der reine Begriff von Recht deckt sich danach mit dem, was Kant das »innere Mein und Dein« oder auch gelegentlich das »innere Recht« nennt (s. oben erstes Kap. Abschnitt III.). Die beiden Bemerkungen (daß wir die Befugnis »aus bloßen Begriffen vom Rechte überhaupt nicht herausbringen könnten« und daß wir die Befugnis ohne das Erlaubnisgesetz gar »nicht hätten«) beziehen sich danach
6:245,9–11 (§ 1). 6:236,31 (Einteilung der Rechtslehre A). 35 Vgl. 6:261,5 (§ 11), wo Kant das »ius contra quemlibet huius rei possessorem« erwähnt (wörtlich: »das Recht gegen jeden beliebigen Besitzer der Sache«). – Die Befugnis, von der Kant in § 2 redet, entspricht seiner Definition eines (subjektiven) Rechts als einem (moralischen) Vermögen, andere zu verpflichten, nach der das Recht den »gesetzlichen Grund« für die korrespondierenden (Rechts-)Pflichten der anderen liefert (vgl. 6:237,18–19 – Einteilung der Rechtslehre B). 36 6:247,2–3 und 247,4–5 (§ 2). 33 34
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auf die Definition des objektiven Rechts in § B der Rechtslehre, auf das davon abgeleitete »Allgemeine Prinzip des Rechts« in § C und das damit ebenfalls zusammenhängende Recht auf äußere Freiheit. Die Definition lautet: »Das Recht ist … der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann.« 37 Das »Allgemeine Prinzip des Rechts« lautet: »Eine jede Handlung ist recht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann.« 38 Ähnlich formuliert Kant das Recht auf äußere Freiheit dahin, daß dieses Recht mir zusteht, sofern meine Freiheit »mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann.« 39 Setzen wir das voraus, dann haben die beiden Bemerkungen den folgenden Hintergrund, auf den Kant in § 2 auch anspielt. Nehmen wir einmal an, es wäre für jedermann unrecht, von herrenlosen Gegenständen unserer Willkür Gebrauch zu machen, d. h. es wäre für jedermann unrecht, sich herrenlose Sachen anzueignen, es wäre für jeden Mann unrecht, eine unverheiratete Frau zur Ehefrau zu nehmen, es wäre rechtlich unmöglich, einen Rechtsanspruch gegen einen Schuldner zu haben usw. Nehmen wir also an, daß wir in einer Rechtswelt leben müßten, in der alles dies (und noch mehr) rechtlich nicht möglich wäre. Diese Welt, die unserer praktischen Vernunft sehr widerstreiten würde und gegen die Kant sich in § 2 der Rechtslehre auch ausdrücklich wendet (was uns im Augenblick aber nicht interessieren soll), wäre doch eine Welt, in der, wie Kant sagt, »die Willkür formaliter im Gebrauch der Sachen mit jedermanns äußerer Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusammenstimmte.« 40 Das soll
6:230,24–26. 6:230,28–31. 39 6:237,29–32 (Einteilung der Rechtslehre B). 40 Vgl. 6:246,17–19 (§ 2). Es wäre ein Fehler, »Sache« hier als Gegensatz zu »Person« zu verstehen. Statt dessen benutzt Kant das Wort »Sache« an dieser Stelle im weiten Sinne von »(äußerer) Gegenstand (meiner Willkür)«, wie auch heute noch in der Sprache der Gerichte von der »Sache: Meier gegen Müller« gesprochen wird. Auch »res« in »res nullius« (6:246,7–8 und 246,16) meint nicht eine Sache, die dem Sachenrecht unterworfen ist, sondern »Gegenstand«, wie auch heute noch das Wort »re« (der Ablativ von »res«) im Englischen und Amerikanischen zur Bezeichnung des Gegenstandes eines Schreibens verwendet wird (nämlich dann, wenn wir im Deutschen »Betreff« schreiben würden). 37 38
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Der ursprüngliche Erwerb von Stücken des Erdbodens
heißen, sie wäre eine Welt, in der das allgemeine Prinzip des Rechts nicht berührt wäre. Sie wäre eine Welt, in der alle Personen nach einem Gesetze behandelt würden, das für alle gleichermaßen gilt, weshalb alle Personen in ihrem Verhältnis zueinander gleichermaßen äußerlich frei wären. In dieser Welt kann das Freiheitsrecht als das Recht auf »Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür« 41 durchaus ausgeübt werden. Freilich hätten wir in dieser Welt wenig oder gar keinen (rechtlichen) Bewegungsspielraum. Zu dem »Axiom der äußeren Freiheit« 42 muß deshalb das Postulat des § 2 als eine Ermächtigungsnorm hinzutreten, damit wir diesen Spielraum bekommen. Aus diesem Grunde formuliert Kant das Postulat als ein Erlaubnisgesetz, das unser rechtliches (moralisches) Vermögen erweitert. Die Vernunft »erweitert sich«, wie Kant sagt, über das Axiom der äußeren Freiheit hinaus »durch dieses ihr Postulat a priori.« 43
V. Der ursprüngliche Erwerb von Stücken des Erdbodens Die Rechtsmacht, äußere Gegenstände als das Meine zu haben, impliziert die Rechtsmacht, äußere Gegenstände als das Meine zu erwerben, oder, mit anderen Worten, das Erlaubnisgesetz des § 2 der Rechtslehre erstreckt sich nicht nur auf den intelligibelen Besitz, sondern auch auf den Erwerb äußerer Gegenstände. Von den äußeren Gegenständen meiner Willkür ist der Erdboden von besonderer Bedeutung, weil ich schon immer ein Stück des Erdbodens brauche, um überhaupt leben zu können. Kant macht, wie sich zeigen wird, diesen Gedanken (daß ich schon immer ein Stück Boden zum Leben brauche) zur Grundlage seiner weiteren Überlegungen. Deshalb wirft er die Frage auf, wie es mit dem Erwerb von Stücken des Erdbodens, insbesondere wie es mit dem ursprünglichen Erwerb von Stücken des Erdbodens steht. Beginnen wir mit einigen Grundbegriffen der Lehre Kants vom Erwerb von äußeren Gegenständen meiner Willkür. Zu unterscheiden sind ursprünglicher und abgeleiteter Erwerb. 44 Abgeleitet ist der Erwerb eines Gegenstandes, wenn eine andere Person involviert ist, 41 42 43 44
6:237,29 (Allgemeine Einteilung der Rechtslehre B). Vgl. 6:267,12–13 (§ 16) und 6:268,25 (§ 7). 6:247,6–8 (§ 2). 6:258,7–11 (§ 10).
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II · Das Erlaubnisgesetz der praktischen Vernunft
deren Einwilligung für den Rechtserwerb notwendig ist. So ist für den Erwerb eines persönlichen Rechts (eines vertraglichen Anspruchs gegen eine einzelne Person) die Einwilligung des Schuldners erforderlich. Ursprünglich ist der Erwerb dagegen, wenn der Erwerb, wie Kant das ausdrückt, »nicht von dem Seinen eines anderen abgeleitet ist.« 45 Ein ursprünglicher Erwerb geschieht durch Bemächtigung, 46 also durch einen Akt einseitiger Willkür. 47 Deshalb kann ein ursprünglicher Erwerb nur »an körperlichen Dingen (Substanzen)« und nicht auch an anderen äußeren Gegenständen meiner Willkür stattfinden. 48 Denn die eigenmächtige Erwerbung eines solchen anderen Gegenstandes meiner Willkür »würde nicht mit dem Prinzip der Einstimmung der Freiheit meiner Willkür mit der Freiheit von jedermann gemäß, mithin unrecht sein.« 49 Einen ursprünglichen Erwerb von Sachen muß es dagegen geben. Denn nicht aller Erwerb kann abgeleitet sein. 50 Dem ursprünglichen Erwerb von Stücken des Erdbodens kommt, wie bereits gesagt, eine besondere Bedeutung zu. Nach Achenwall genügt es, sich eines »herrenlosen« und »ledigen« 51 Stücks des Erdbodens zu bemächtigen, um Eigentümer dieses Stücks Boden zu werden. So sehr Kant der Annahme zustimmt, daß die (einseitige) Bemächtigung zur Eigentumsbegründung genügt, 52 verlangt er doch eine darüber hinausgehende Überlegung, weil ich durch die schlichte (aus jedem Argumentationszusammenhang gelöste) »einseitige Willkür … keinen anderen verbinden [kann], sich des Gebrauchs einer Sache zu enthalten, wozu er sonst keine Verbindlichkeit haben würde.« 53 An einer ganzen Reihe von Stellen erklärt er, »der Grund der Möglichkeit« der Erwerbung liege in der »ursprünglichen Gemein-
6:258,7–8 (§ 10). 6:259,12–13 (§ 10). 47 6:259,18 (§ 10). 48 6:259,12–14 (§ 10). 49 6:271,12–14 (§ 18). 50 6:266,31–33 (§ 15). 51 Kant unterscheidet mit Achenwall zwischen »res nullius«, »herrenloser Gegenstand«, und »res vacua«, d. i. ein Gegenstand, der (zu dem jeweils relevanten Zeitpunkt) von keiner Person benutzt wird. »Res vacua« übersetzt Kant mit »ledige Sache« oder auch »erledigte Sache« (6:294,23–24 – § 34). Zur Terminologie vgl. auch Commentary S. 125 Fn. 13. 52 6:263,12–16 (§ 14). 53 6:261,8–10 (§ 11) u. ö. 45 46
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Der ursprüngliche Gesamtbesitz
schaft des Bodens überhaupt«, 54 die er als einen »ursprünglichen Gesamtbesitz« versteht. 55
VI. Der ursprüngliche Gesamtbesitz Das Wort »ursprünglich« in den Ausdrücken »ursprüngliche Gemeinschaft des Bodens« und »ursprünglicher Gesamtbesitz« (und in ähnlichen Zusammensetzungen) hat eine andere Bedeutung als das Wort »ursprünglich« im Zusammenhang mit dem Erwerb eines äußeren Gegenstandes meiner Willkür. Im letzteren Fall steht, wie gesagt, dem »ursprünglichen« der »abgeleitete Erwerb« gegenüber. Kant benutzt das Wort »ursprünglich« aber auch, um damit fundamentale Voraussetzungen des Rechts zu bezeichnen, etwa dann, wenn er von dem »ursprünglichen Freiheitsrecht« spricht. In Zusammenhängen dieser Art meint »ursprünglich« »vor jedem rechtlichen Akt der Willkür.« 56 Zum Ursprünglichen in dieser Bedeutung des Wortes gehört danach alles das, was ich (für das Recht) annehmen muß, bevor ich eine konkrete Handlung, die rechtlich revelant ist (Kant: einen »rechtlichen Akt«), vornehme. Der Komplementärbegriff zu diesem Begriff des Ursprünglichen ist das »Zufällige«. »Zufallig« bedeutet (hier), daß das jeweils konkrete Ereignis oder der jeweils konkrete Umstand in der Art und Weise, wie das Ereignis geschieht oder der Umstand auftritt, nicht notwendig ist. »Zufällig« ist beispielsweise alles »positive« Recht, 57 »zufällig« sind mein Alter, mein Geschlecht, meine Abstammung, mein Stand oder meine (Amts-)Würde. 58 »Zufällig« ist auch jeder Akt, durch den ich einen äußeren Gegenstand meiner Willkür erwerbe, und infolgedessen auch jeder Akt eines ursprünglichen Erwerbs. 59 Der ursprüngliche Gesamtbesitz gehört zu den Grundvoraussetzungen des Rechts. Das ist ein gegenüber der Tradition neuer Gedanke, und Kant bemüht sich, den Gedanken in verschiedenen Wendun6:262,12–14 (§ 13). Vgl. auch 6:260,33–261,8 (§ 11); 6:263,19–23 (§ 14) u. ö. 6:251,27 (§ 6); 6:261,1–2 und 261,6 (§ 11); 6:262,28 (§ 13); 6:251,31–32 (§ 6): »ursprünglich gemeinsamer Besitz.« 56 Etwa 6:262,17–18 (§ 13). 57 6:227,13–14 (Einl. in die MdS IV.). 58 Vgl. 6:468,6–9 (§ 44 der Tugendlehre). 59 Näher zu der Unterscheidung von »ursprünglich« und »zufällig«, die Kant von Achenwall übernimmt, s. Commentary S. 46–51. 54 55
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II · Das Erlaubnisgesetz der praktischen Vernunft
gen deutlich zu machen. Die Grotius-Pufendorf-Tradition sieht die Möglichkeit der Begründung von Eigentum an Stücken des Erdbodens in der Annahme einer »communio primaeva« (was Kant mit »uranfängliche Gemeinschaft« übersetzt; er spricht auch von einem »uranfänglichen Gesamtbesitz«). 60 Die communio primaeva deutet Kant als eine »gestiftete«, d. i. auf einem Vertrag beruhende Gemeinschaft aller Menschen, auf der die Möglichkeit des »Privatgebrauchs« von Sachen beruht. Für seine eigenen Überlegungen übernimmt Kant den traditionellen Ausdruck »communio«, er spricht von »communio fundi originaria« (d. i. wörtlich: »ursprüngliche Gemeinschaft des Bodens«) und von »communio possessionis originaria« (d. i. wörtlich: »ursprüngliche Gemeinschaft des Besitzes«). 61 Er weiß, daß »communio« in der Rechtssprache seiner Zeit oder jedenfalls bei Achenwall »Eigentümergemeinschaft« bedeutet, und er versucht, dem Eindruck entgegenzuwirken, daß »communio« auch in den Ausdrücken »communio fundi originaria« und »communio possessionis originaria« »Eigentümergemeinschaft« meint. 62 Die ursprüngliche Gemeinschaft des Bodens ist ausdrücklich kein gemeinsames Eigentum, keine »rechtliche Gemeinschaft des Besitzes«, nicht einmal ein gemeinsamer »Gebrauch«. 63 Schon ganz am Anfang von Kants Erwerbslehre heißt es: »Der Zustand der Gemeinschaft des Mein und Dein (communio) kann nie als ursprünglich gedacht, sondern muß (durch einen äußeren rechtlichen Akt) erworben werden.« 64 Das schließt das Eigentum am Boden ein, das nicht als ursprünglich gedacht werden 6:251,1–5 (§ 6); 6:258,14–20 (§ 10) einerseits und 6:262,29–31 (§ 13) andererseits. Vgl. auch 6:60,33–261,8 (§ 11). Zu der Tradition, wie Achenwall sie darstellt, vgl. Commentary S. 124–126. 61 6:251,2 (§ 6) und 6:267,5 (§ 16) einerseits und 6:262,28–29 (§ 13) andererseits. 62 Kant benutzt das Wort »communio« in zwei Bedeutungen, zum ersten in der Bedeutung von »Eigentümergemeinschaft« (siehe § 10, der sogleich im Text zitiert werden wird, und in 6:352,16 [§ 62], wo Kant eine »rechtliche Gemeinschaft des Besitzes« als »communio« bezeichnet), und zum zweiten dann, wenn er von der »communio fundi (possessionis) originaria« spricht, wo er an den traditionellen Ausdruck »communio primaeva« anknüpft, in dem »communio« schlicht »Gemeinschaft« bedeutet. 63 6:352,15–17 (§ 62); Hervorhebung von mir. Die »Menschheit« (= die Menge aller zu einem bestimmten Zeitpunkt lebenden Menschen) kann nicht Eigentümer der Erde sein, weil sie niemanden hätte, dem gegenüber sie den Eigentumsanspruch geltend machen könnte, genausowenig wie »ein Mensch, der auf Erden ganz allein wäre, … kein äußeres Ding als das Seine haben oder erwerben könnte, weil zwischen ihm als Person und allen anderen äußeren Dingen als Sachen es gar kein Verhältnis der Verbindlichkeit gibt.« Vgl. 6:261,17–21 (§ 11). 64 6:258,11–13 (§ 10); Hervorhebung von mir. 60
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Der ursprüngliche Gesamtbesitz
kann. Deutlicher kann man es kaum ausdrücken, daß der ursprüngliche Gesamtbesitz kein ursprüngliches Gemeineigentum ist. An derselben Stelle weist Kant einen möglichen Einwand zurück, wenn er schreibt, daß (wenn auch das Eigentum an einem äußeren Gegenstand nie als ursprünglich gedacht werden kann, doch) »der Besitz eines äußeren Gegenstandes ursprünglich und gemeinsam sein kann.« 65 Es ist der (physische) Besitz des Bodens, der ursprünglich und gemeinsam ist, und nicht das Eigentum am Boden. Die communio fundi originaria ist eine communio possessionis originaria. 66 Was hat es mit diesem ursprünglichen (physischen) Gesamtbesitz auf sich? Der Besitz des Erdbodens ist ein gemeinsamer Besitz aller Menschen, weil die Landfläche, die den Menschen in ihrer Summe zur Verfügung steht, knapp ist. 67 Kant stellt auf die Kugelfäche der Erde ab, die er der (antiken) Vorstellung von der Erde als einer »unendlichen Ebene« gegenüberstellt. 68 Die Knappheit des Erdbodens bringt es mit sich, daß wir, wo auch immer auf dem Globus wir uns aufhalten, stets damit rechnen müssen, anderen Menschen zu begegnen. Kant spricht von einer »physischen möglichen Wechselwirkung«, 69 die eine Notwendigkeit ist und die bewirkt, daß wir (alle Menschen) mit Bezug auf den Erdboden eine »Gemeinschaft« bilden, die »eine notwendige Folge« unseres Daseins auf der Erde ist. 70 Was ist das für eine »Gemeinschaft«? Kant ist nicht der Autor, der mit dem Begriff der Gemeinschaft irgendwelche romantischen oder sozialistischen Vorstellungen verbinden würde (die dann ihrerseits wieder als Ideologien für die Unterdrückung von Menschen dienen). Sein Begriff der Gemeinschaft ist ganz nüchtern, weil er sich So S. 76–77 der 2. Aufl. der Originalausgabe (Hervorhebung von mir). 6:258,13– 14 schreibt: »… ursprünglich nur gemeinsam …« (Hervorhebung von mir). Wenn es (in der Originalausgabe) heißt, der Besitz eines äußeren Gegenstandes könne ursprünglich und gemeinsam sein (und nicht: er sei ursprünglich und gemeinsam), dann liegt das daran, daß zwar der Besitz des Erdbodens, nicht aber der Besitz aller Gegenstände der Willkür ursprünglich und gemeinsam ist. 66 Peter Unruh nimmt zu dem ursprünglichen Gesamtbesitz Stellung (S. 145). Freilich verkennt er den Charakter dieses Gesamtbesitzes. 67 Wir finden den Begriff eines knappen Gutes bei Adam Smith, in der Übersetzung von Recktenwald S. 471. 68 6:262,21–25 (§ 13); 6:352,9–11 (§ 62). In den »Vorarbeiten zur Rechtslehre« (23:322,3–4) heißt es: Der Erdboden ist »seinem Umfange nach bestimmt und keiner Vergrößerung fähig.« 69 6:352,17–19 (§ 62). 70 6:262,24–26 (§ 13). 65
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II · Das Erlaubnisgesetz der praktischen Vernunft
allein auf den gemeinsamen Besitz des Erdbodens bezieht. Daß jeder von uns lebenden Menschen ein Stück Erdboden physisch (empirisch) besitzt, ist zunächst einmal eine schlichte Tatsache. Aber diese Tatsache ist mit einem (subjektiven) Recht verbunden. Kant: »Der bloße physische Besitz (die Inhabung) des Bodens ist schon ein Recht in einer Sache, obzwar freilich noch nicht hinreichend, ihn als das Meine anzusehen.« 71 Damit nimmt Kant einerseits ein Recht jedermanns auf ein Stück Boden an, andererseits macht er gleichzeitig die Einschränkung, daß mit dem Recht auf ein Stück Boden noch nicht die Annahme verbunden ist, das Stück Boden sei deswegen bereits mein Stück Boden, also mein Eigentum. Das Recht ist nicht ein Recht auf ein bestimmtes, sondern ein Recht auf irgendein Stück Boden. In den »Vorarbeiten zur Rechtslehre« spricht Kant von einem »disjunktiv-allgemeinen« Recht. 72 Das Recht ist ein Recht auf einen Platz auf dieser Erde, auf Platz A oder auf Platz B oder auf Platz C usw. Nicht von ungefähr nennt Kant den Gesamtbesitz in § 13 der Rechtslehre auch »communio possessionis originaria«. »Possessio« (= Besitz) ist von »sedes« (= Sitz) zu unterscheiden. »Sedes« meint einen »willkürlichen, mithin erworbenen dauernden Besitz«, woraus folgt, daß »possessio« einen Besitz meint (oder jedenfalls einschließt), der vor allem willkürlichen, erworbenen Besitz liegt. »Possessio« ist ein Besitz, in den uns »die Natur oder der Zufall« ohne unseren Willen gesetzt hat. Dieser Besitz ist nicht durch einen Erwerbsakt erworben und infolgedessen auch kein dauernder Besitz. Die communio possessionis originaria ist eine Gemeinschaft des Besitzes in diesem Sinne von »possessio«. 73 Die Begründung für die Annahme, daß jedermann ein disjunktiv-allgemeines Recht auf einen Platz auf dieser Erde hat, ist so einfach, daß Kant nur sehr kurz darüber spricht. In § 7 der Rechtslehre bezeichnet er den »Platz auf der Erde«, den ich »mit meinem Leibe 6:251,23–25 (§ 6). »Inhabung« meint den empirischen Besitz eines Gegenstandes. Vgl. 6:253,8–9 (§ 7). – Was Kant hier ein »Recht in einer Sache« nennt, würden wir in der heutigen Juristensprache als ein »Recht an einer Sache« bezeichnen. – Ein »Recht in einer Sache« ist ein »dingliches Recht«, das bei Kant auch »ius in re« heißt, im Unterschied zu einem »persönlichen Recht«, einem »ius ad rem«. Vgl. 6:260,14–15 (§ 11) und 6:362,1–4 (Anh. erl. Bem. 4). Wenn Kant von einem »Recht in einer Sache« spricht, verwendet er das lateinische »in« aus dem Ausdruck »ius in re«. 72 23:320,20–23; 321,16; 323,26–30. 73 Die Zitate in diesem Absatz sämtlich aus 6:262,17–26 (§ 13). Auch in 6:251,14 (§ 6) unterscheidet Kant zwischen »possessio« und »sedes«. 71
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Der ursprüngliche Gesamtbesitz
einnehme«, als ein »inneres Recht«. 74 Das bedeutet, das Recht auf einen Platz ist ein Moment des umfassenden Freiheitsrechts, was das Recht auf die Freiheit von Angriffen auf meine Körperintegrität oder mein Leben einschließt (s. oben erstes Kapitel Abschn. III). In der Tat, wollte mich jemand (auf die Dauer) von der Landfläche der Erde entfernen, dann hätte er mich im 18. Jahrhundert ins Wasser (ins Meer) werfen und damit töten müssen. Heute ist die Möglichkeit hinzugekommen, mich (mit demselben Ergebnis) in das Weltall hinauszukatapultieren. Lesen wir dazu noch in § 13 der Rechtslehre: »Alle Menschen sind ursprünglich (d. i. vor allem rechtlichen Akt der Willkür) im rechtmäßigen Besitz des Bodens, d. i. sie haben ein Recht, da zu sein, wohin sie die Natur oder der Zufall (ohne ihren Willen) gesetzt hat.« 75 Kant nennt den Besitz des Bodens hier ein ursprüngliches Recht. Nun ist das (umfassende) Freiheitsrecht aber das »einzige« ursprüngliche Recht. 76 Daraus folgt, was wir bereits gesagt haben, daß das Recht auf einen Platz ein Moment des Freiheitsrechts ist. Den Anspruch auf die Respektierung meiner äußeren Freiheit habe ich gegen jede andere Person auf dieser Erde. Infolgedessen habe ich auch das Recht auf einen Platz auf der Erde gegen jede andere Person. Wir alle, die wir heute auf dieser Erde leben, haben gegeneinander diese Ansprüche. 77 Das erklärt auch, warum der Begriff des physischen Besitzes bereits ein juristischer Begriff ist. Er ist ein juristischer Begriff, weil der Besitz, die physische Inhabung des Bodens, mit einem Recht verknüpft ist. Da wir die Inhaber des Rechts (gegeneinander!) sind, den Boden zu besitzen, besitzen wir den Erdboden auch (physisch) zusammen. Die »ursprüngliche Gemeinschaft des Bodens«, von der Kant redet, ist eine Gemeinschaft von Inhabern des Rechts (jedes einzelnen gegen jeden einzelnen anderen) auf einen Platz auf der Erde. Kants Lehre vom ursprünglichen Gesamtbesitz aller Menschen am Erdboden ist das rationale Gegenstück zu der traditionellen communio primaeva-Lehre. Die communio primaeva-Doktrin behauptet ein geschichtliches Ereignis, das nicht stattgefunden hat oder jeden-
6:254,3–7. 6:262,17–20 (§ 13). 76 6:237,27–32 (Einteilung d. Rechtsl. B). 77 Gegen Tiere, Pflanzen oder den Erdboden haben wir keine Rechte, und diese haben keine Rechte gegen uns. Vgl. etwa 6:261,17–25 (§ 11). 74 75
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II · Das Erlaubnisgesetz der praktischen Vernunft
falls nicht nachgewiesen werden kann. 78 An die Stelle des (behaupteten) geschichtlichen Ereignisses tritt mit dem ursprünglichen Gesamtbesitz ein »praktischer Vernunftbegriff« und damit eine a priori Argumentation, die »objektive (rechtlich-praktische) Realität«, 79 d. h. Geltung hat 80 und damit den Ausgangspunkt für die weiteren Überlegungen liefert.
VII. Das Aufteilungsgebot Der ursprüngliche Gesamtbesitz als ein »praktischer Vernunftbegriff« enthält, wie es in § 13 der Rechtslehre heißt, »a priori das Prinzip …, nach welchem allein die Menschen den Platz auf Erden nach Rechtsgesetzen gebrauchen können.« 81 Kant geht hier vom Besitz zum Gebrauch eines Stücks des Erdbodens über. 82 Ein Prinzip ist etwas, wovon etwas anderes seinen Ausgang nimmt. Danach nehmen die Rechtsgesetze über den Gebrauch des Erdbodens vom ursprünglichen Gesamtbesitz ihren Ausgang. Wie ist das zu verstehen? Kant denkt sich das so, daß dem ursprünglichen Gesamtbesitz ein »allseitiger …, a priori, mithin notwendig vereinigter und darum gesetzgebender Wille« (§ 14) 83 »entspricht«. 84 Dieser Wille ist ein »vereinigter Wille«, der »zu dieser Vereinigung keinen rechtlichen Akt voraussetzt.« Das heißt, der vereinigte Wille ist vor aller tatsächlichen Vereinigung der Willen verschiedener Personen da, was Kant auch damit umschreibt, daß der Wille ein »ursprünglich und a priori vereinigter Wille« ist. 85 Der ursprünglich und a prori vereinigte Wille entsteht, sobald wir vom ursprünglichen Gesamtbesitz aller Menschen am Boden ausgehen. Er 6:251,1–13 (§ 6); 6:258,14–21 (§ 10); 6:262,26–31 (§ 13). Vgl. auch 6:251,3 (§ 6). 80 Siehe 8:306,12–13 (»Über den Gemeinspruch« II. gegen Ende), wo »objektive (praktische) Realität« mit »verbindende Kraft« erläutert wird. 81 6:262,26–34 (§ 13). 82 Daß Kant bis hierher über den Besitz und (noch) nicht über den Gebrauch gesprochen hat, liegt daran, daß der Besitz eine notwendige Bedingung für den Gebrauch ist. Vgl. etwa 6:245,11–12 (§ 1): »Die subjektive Bedingung der Möglichkeit des Gebrauchs überhaupt ist der Besitz.« 83 6:263,26–27. In 6:264,18 (§ 15) spricht Kant von einem »a priori vereinigten (notwendig zu vereinigenden) Willen aller«; ähnlich an anderen Stellen. 84 Vgl. 6:250,21 (§ 6). 85 Vgl. 6:267,13–15 (§ 16). 78 79
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Das Aufteilungsgebot
ist der Wille der ursprünglichen Gemeinschaft des Bodens, dessen erste Entscheidung es ist, den Boden nach Rechtsgesetzen zu gebrauchen. Gehen wir dazu vom ersten Satz des § 16 der Rechtslehre aus, der wie folgt lautet: »Alle Menschen sind ursprünglich in einem Gesamtbesitz des Bodens der ganzen Erde (communio fundi originaria), mit dem ihnen von Natur zustehenden Willen (eines jeden), denselben zu gebrauchen …, der wegen der natürlich unvermeidlichen Entgegensetzung der Willkür des einen gegen die des anderen allen Gebrauch desselben aufheben würde, wenn nicht jener zugleich das Gesetz für diese enthielte, nach welchem einem jeden ein besonderer Besitz auf dem gemeinsamen Boden bestimmt werden kann …« 86
Die Stelle legt die Unterscheidung zwischen Wille und Willkür zugrunde, die Kant in der »Einleitung in die Metaphysik der Sitten« einführt. Was wir heute »Wille« nennen, wenn wir etwa von der Freiheit des Willens sprechen, nennt Kant »Willkür«. Es ist die Willkür, die der Träger konkreter Handlungen einer Person ist, und nur die Willkür, nicht der Wille, kann frei (oder unfrei) genannt werden. Demgegenüber bezeichnet Kant als »Wille« den gesetzgebenden Willen. Der Wille geht »auf nichts anderes als bloß aufs Gesetz,« 87 ein Begriff des Willens, der heutigen Juristen insofern vertraut ist, als auch wir (immer noch) etwa vom Willen eines Gesetzgebers reden, der insbesondere dann, wenn der Gesetzgeber eine Körperschaft ist, mit der Willkür einzelner Personen nicht verwechselt werden kann (oder jedenfalls nicht verwechselt werden sollte). Wenn Kant in § 16 von dem »Willen« redet, den Erdboden zu gebrauchen (und diesen Willen dabei ausdrücklich der Willkür gegenüberstellt), dann heißt das, daß der Mensch (jeder von uns) den Gebrauch des Bodens mit Rechtsansprüchen verbindet. Nun ist es aber so, daß die Willkür des einen unvermeidlich in eine »Entgegensetzung« gegen die des anderen gerät, die allen Gebrauch des Bodens aufheben würde, wenn der gesetzgebende Wille nicht zugleich eine Partikularisierung des Bodens vorsehen würde. 88 Der ursprünglich und a priori vereinigte Wille tut dazu zwei Schritte. Der erste Schritt 6:267,4–11; Hervorhebungen im Original. Die von Kant in Klammern hinzugefügten Begriffe »lex iusti« und »lex iuridica« habe ich weggelassen (und durch Punkte ersetzt). Zu ihnen vgl. Commentary S. 52–58. 87 6:226,4–11 (Einl. in die MdS IV). 88 6:267,7–11 (§ 16). 86
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II · Das Erlaubnisgesetz der praktischen Vernunft
besteht darin, es (rechtlich) zu ermöglichen, daß »einem jeden ein besonderer Besitz auf dem gemeinsamen Boden bestimmt« wird. 89 Dieser Schritt führt von dem bloßen disjunktiv-allgemeinen Besitz eines Stücks Boden zu der rechtlichen Möglichkeit der Zuweisung eines spezifischen, konkreten Stücks, das ein Mensch dann faktisch gebrauchen kann. Der vorhandene Erdboden kann also aufgeteilt werden. Darüber hinaus (und das ist der zweite Schritt) nimmt Kant eine »Pflicht« an, »nach dem Gesetz der äußeren Erwerbung zu verfahren.« 90 Der Boden muß aufgeteilt werden. Die Frage ist, wen diese Pflicht denn nun eigentlich trifft. Da wir nicht annehmen können, daß individuelle Personen (oder Völker) die Pflicht haben, Stücke des Erdbodens zu erwerben, kann der Pflichtige nur die Gemeinschaft selbst sein, die die Aufgabe hat, für die Aufteilung des Bodens zu sorgen. Ist das aber so, dann ist die Erlaubnis, von der gerade die Rede war, der vorhandene Erdboden könne aufgeteilt werden, nicht etwa identisch mit der Erlaubnis, die § 2 erteilt, sondern sie ist eine notwendige Bedingung für die die Gemeinschaft treffende Pflicht, den Boden aufzuteilen. 91 Das Müssen (der Boden muß aufgeteilt werden) impliziert das Können (der Boden kann aufgeteilt werden), und infolgedessen ist das Können eine notwendige Bedingung für das Müssen. 92 Kant schließt dann von der Pflicht (der Menschheit), den Boden aufzuteilen, auf das »rechtliche Vermögen des Willens, jedermann zu verbinden, den Akt der Besitznehmung und Zueignung, ob er gleich nur einseitig ist, als gültig anzuerkennen.« 93 Hier finden wir das Erlaubnisgesetz des § 2 der Rechtslehre wieder. Es ist dieses Erlaubnisgesetz (das »rechtliche Postulat der praktischen Vernunft«), das uns, wie wir gesehen haben (s. oben IV.), jene Befugnis gibt. Dabei ist der Begründungszusammenhang zwischen der Pflicht der Menschheit (den Erdboden aufzuteilen) und dem Erlaubnisgesetz nicht etwa eine Implikationsbeziehung, wie wir sie im deontologischen Sechseck finden. Die Pflicht der Menschheit impliziert eine Befugnis der Menschheit, aber nicht eine Befugnis einzelner Menschen. Trotzdem wäre es 6:267,9–11 (§ 16). 6:267,18–19 (§ 16); vgl. auch 267,32 (§ 16). 91 Es ist wohl unnötig, näher auszuführen, daß diese Erlaubnis eine Erlaubnis im Sinne von »erlaubt (licitum)« ist. 92 Vgl. 6:383,5–6 (Einl. II zur Tugendlehre): »Aller Pflicht korrespondiert ein Recht, als Befugnis (facultas moralis generatim) betrachtet.« 93 6:267,19–21 (§ 16). 89 90
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Die Adressaten des Erlaubnisgesetzes
absurd anzunehmen, es gäbe eine Pflicht (und eine Befugnis) der Menschheit (den Erdboden aufzuteilen), ohne zugleich anzunehmen, daß jedem einzelnen Menschen das Vermögen zukommt, Eigentümer von Stücken des aufzuteilenden Erdbodens zu werden und zu sein. Die Pflicht der Menschheit und die Befugnis einzelner Menschen sind synthetisch miteinander verknüpft. 94 Wie die Aufteilung des Erdbodens geschehen soll, beschreibt Kant im einzelnen in § 10 der Rechtslehre unter dem Stichwort »Die Momente der ursprünglichen Erwerbung«. 95 Für den Eigentumserwerb (durch Bemächtigung) fordert er »die Priorität der Zeit vor jedem anderen, der sich [der] Sache bemächtigen will.« Mit anderen Worten: Es gilt die römisch-rechtliche Regel »prior tempore, potior iure« (je früher in der Zeit, desto besser das Recht). 96 Aufgrund dieser Regel können wir eine körperliche Sache (außer uns) ursprünglich erwerben, wenn und weil wir sie, wie es in § 2 der Rechtslehre heißt, »zuerst in unseren Besitz genommen haben.« 97 Zu dem Grundsatz der Priorität, der bei der Aufteilung des Erdbodens gilt, gibt es keine rechtlich mögliche Alternative. Denn jede andere Weise, den Boden aufzuteilen, würde voraussetzen, daß es irgendjemanden gäbe, der kraft seines höheren Rechts bestimmt, was wem gehören soll. Statt dessen geht Kant von der Gleichheit aller Menschen aus, so daß jeder dasselbe Vermögen hat, andere zu verpflichten (s. oben erstes Kapitel Abschn. IV.), und es nicht so ist, daß irgendein Mensch ein höheres Recht hätte als andere.
VIII. Die Adressaten des Erlaubnisgesetzes Wir dürfen die Ausführungen, die Kant zum ursprünglichen Gesamtbesitz und zum ursprünglich und a priori vereinigten Willen aller macht, nicht so verstehen, daß es allein um individuelle Personen und den ursprünglichen Erwerb von Sachen, einschließlich von Stücken des Erdbodens, durch individuelle Personen geht. Es geht zwar auch um die individuellen Personen, aber es geht ganz genauso um die Völker auf dieser Erde. 94 95 96 97
Zu diesem Argumentationszusammenhang siehe Commentary S. 135–138. 6:258,28–259,4. 6:259,14–17 (§ 10). 6:247,6 (§ 2).
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II · Das Erlaubnisgesetz der praktischen Vernunft
Kant unterscheidet zwischen »Volk« und »Staat«. Ein Volk ist eine Menge von individuellen Personen, »eine Menge von Menschen«, 98 die sich eventuell zu einem Staat zusammenschließt. 99 Wenn Kant gelegentlich von einem Volk als einer »vereinzelten Menge« spricht, 100 dann meint er damit eine Menge von Menschen, die sich noch nicht zu einem Staat konstituiert hat, oder eine Menge von Menschen abgesehen davon, daß sie sich zu einem Staat konstituiert hat. Ein Staat hingegen ist »die Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen.« 101 Auch für die Völker (und infolgedessen auch für die Staaten) dieser Erde gilt, daß sie, alle Völker zusammen, »ursprünglich in einer Gemeinschaft des Bodens« stehen, 102 also eine communio possessionis originaria bilden, weil die Natur sie (alle Völker zusammen) »vermöge der Kugelgestalt ihres Aufenthalts, als globus terraqueus, in bestimmte Grenzen eingeschlossen« hat. 103 Die Begründung, die Kant für den Gesamtbesitz der Erde durch die Völker in § 62 der Rechtslehre gibt, ist (notwendigerweise) dieselbe, die er schon in § 13 gegeben hat. (1) »Der Besitz des Bodens, worauf der Erdbewohner leben kann, [kann] immer nur als Besitz von einem Teil eines bestimmten Ganzen … gedacht werden«, woraus (2) folgt, daß dieser Besitz nicht anders als ein Besitz gedacht werden kann, »auf den jeder derselben [jeder Erdbewohner] ursprünglich ein Recht hat.« 104 (1) besagt, daß der Besitz des Bodens stets der Besitz eines Teils eines begrenzten, eines knappen Ganzen, nämlich des Erdbodens, ist (die Erde ist eben keine »unendliche Ebene«), 105 und (2) besagt, daß daraus ein ursprüngliches (disjunktiv-allgemeines) Recht auf einen Platz auf der Erde resultiert. Die Völker werden genauso behandelt wie individuelle Personen, und individuelle Personen werden genauso behandelt wie Völker. Dem steht nicht etwa entgegen, daß Kant das von ihm formu6:311,8–9 (§ 42). Vgl. etwa 6:315,9 (§ 46), wo Kant über die Bedingungen spricht, unter denen ein Volk ein Staat wird. 100 6:315,29 (§ 47). 101 6:313,10–11 (§ 45). 102 6:352,14–15 (§ 62). 103 6:352,9–11 (§ 62). »Globus terraqueus«, der Globus, der aus Land (terra) und Wasser (aqua) besteht. 104 6:352,11–14. 105 6:262,23 (§ 13). 98 99
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Die Adressaten des Erlaubnisgesetzes
lierte Recht des äußeren Mein und Dein als »Privatrecht« bezeichnet. 106 Kants Begriff von Privatrecht deckt sich nicht mit dem Begriff des Privatrechts, den heutige Juristen zugrunde legen. »Privatrecht« ist das Recht des Naturzustandes, 107 der der Zustand einer nur privaten Gerechtigkeit ist, in dem »jeder seinem eigenen Kopfe folgt«, 108 also tut, »was ihm recht und gut dünkt«. 109 Das gilt nicht etwa nur für Einzelpersonen, wenn sie sich nicht in einem rechtlichen Zustand (Rechtsstaat) befinden, sondern auch für Staaten »im Zustande der natürlichen Freiheit«. 110 Im Verhältnis auf andere Völker ist ein Staat im Naturzustand eine »Macht«, 111 die tut, was ihr »recht und gut dünkt« und dabei von der Meinung der anderen Mächte »nicht abhängt«, 112 oder, mit anderen Worten, im Naturzustand ist ein jeder Staat Richter in seiner eigenen Sache. 113 Das Recht, das eine Macht, jede große oder kleine Macht, verfolgt, ist (mit Bezug auf die anderen Mächte) das private Recht dieser Macht, also Privatrecht. Daß Kant bei seinen Überlegungen zum Privatrecht und damit zur Möglichkeit von Eigentum und zum möglichen Erwerb von Sachen (auch) an das Recht zwischen den Völkern denkt, zeigen die in das Privatrecht eingestreuten Bemerkungen zu der Reichweite von Kanonen, die maßgeblich ist, um denjenigen Teil des Meeres, der dem Uferstaat gehört, von dem freien Meer (dem berühmten »mare liberum« des Grotius) 114 abzugrenzen. 115 Individuelle Eigentümer eines Stücks Land verfügen in der Regel nicht über Kanonen, aber Staaten haben Kanonen, und um deren Eigentum an ihrem Land geht es in den §§ 1–17 der Rechtslehre genauso wie um das Eigentum von individuellen Eigentümern. Dabei geht Kant von einer ganz nüchternen Voraussetzung aus. Wenn es darum geht, ob einer einzelnen PerEtwa 6:245,4–5 (Überschrift des ersten Teils der Rechtslehre). Vgl. 6:242,13–19 (Einteilung der MdS III am Ende). 108 6:312,15 (§ 44). 109 6:312,11 (§ 44). – Dementsprechend benutzt Kant auch sonst den Ausdruck »Privatrecht«, wenn es Privatpersonen sind, die dieses Recht beurteilen. Sehr deutlich etwa 8:383,17–20 (Zum ewigen Frieden): »Denn ohne irgendeinen rechtlichen Zustand, der die verschiedenen … Personen tätig verknüpft, mithin im Naturzustande, kann es kein anderes als bloß ein Privatrecht geben.« 110 6:343,20–21 (§ 53). 111 Vgl. 6:311,13 (§ 43). 112 6:312,12 (§ 44). 113 6:349,19–21 (§ 60). 114 Grotius Mare Liberum (1609). 115 6:265,5–10 (§ 15); 6:269,31–35 (§ 17). 106 107
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II · Das Erlaubnisgesetz der praktischen Vernunft
son oder einer Gruppe von tausend Personen oder einer Gruppe von einer Million Personen ein Stück Land gehört oder nicht, kommt es auf die Zahl der Personen nicht an. Die Probleme, die sich stellen, sind immer dieselben. 116 Die Überlegungen zum Adressatenkreis des Erlaubnisgesetzes liefern die Antwort auf die Frage, warum Kant beim ursprünglichen Erwerb von Stücken des Erdbodens (und von Sachen überhaupt) auf die Priorität der Zeit der Bemächtigung abstellt und nicht etwa auf die »Gerechtigkeit« bei der Verteilung der Güter. Auch hartgesottene Gleichheitstheoretiker 117 werden es heute vermeiden, eine (zwangsweise) Umverteilung der Güter, die sie den Untertanen ihres eigenen Staates ohne weiteres zumuten, auch im Verhältnis zwischen den Völkern und Staaten zu verlangen. Denn Umverteilung (etwa von Land) im Verhältnis zwischen den Völkern und Staaten würde Krieg bedeuten, und diesen Krieg wollen sie vermeiden. Umverteilung im Verhältnis zwischen individuellen Personen in einem Einzelstaat beseitigt die Sicherheit meiner Rechte und bedeutet daher ebenfalls Krieg, woran sich auch dann nichts ändert, wenn die Umverteilung unter Mißbrauch rechtsstaatlicher Formen geschieht.
IX. Der Vorgriff auf den rechtlichen Zustand Am Ende seiner Überlegungen zur Aufteilung des Erdbodens kommt Kant auf das Erlaubnisgesetz des § 2 der Rechtslehre zurück. Im zweiten Absatz des § 16 präzisiert er das Gesetz für den Erwerb von Stükken des Erdbodens. Die Ermächtigung zu Inbesitznahme und Zueignung erstreckt sich auch auf die »Bestimmung der Grenzen des 116 Wenn Kant, mit Achenwall (dazu Commentary S. 123 Fn. 5), annimmt, daß die Völker Eigentümer des Landes sind, das sie besitzen, dann gilt das zwar für die Beziehungen zwischen den Völkern (und Staaten), heißt aber noch nichts für das Verhältnis zwischen dem einzelnen Staat und seinen Staatsbürgern oder Untertanen. In diesem letzteren Verhältnis gilt vielmehr, daß der »Obereigentümer«, d. i. der Souverän, sei die »Staatsform« nun »autokratisch oder aristokratisch oder demokratisch« (6:338,34– 35), »kein Privateigentum an irgend einem Boden haben« kann. »Denn sonst machte er sich zu einer Privatperson.« Vielmehr gehört der Boden »nur dem Volk (und zwar nicht kollektiv, sondern distributiv genommen)«, was heißen soll, daß nur einzelne Personen Privateigentum am Boden haben können (6:324,2–14). 117 Damit meine ich solche Theoretiker, denen es nicht (wie Kant) um gleiches Verpflichtungsvermögen, sondern um wirtschaftliche Gleichheit und (die damit notwendig verbundene) Meinungsgleichheit geht.
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Der Vorgriff auf den rechtlichen Zustand
rechtlich möglichen Besitzes.« Dabei gilt die Ermächtigung zur einseitigen Bestimmung der Grenzen allein für den Naturzustand, was allerdings nichts daran ändert, daß die ursprüngliche Erwerbung von Grund und Boden (ausdrücklich!) »allen Effekt einer rechtmäßigen Erwerbung bei sich führt«, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil das Aufteilungsgebot gilt. 118 Die Beschränkung des rechtlichen Vermögens, die maßgeblichen Grenzen einseitig zu ziehen, auf die Situation des Naturzustandes folgt daraus, daß es in einem rechtlichen Zustand keine ursprüngliche Erwerbung gibt, vor allem keine ursprüngliche Erwerbung von Grund und Boden. Statt dessen ist in einem rechtlichen Zustand jede Erwerbung »abgeleitet«. 119 Das liegt daran, daß wir in einen rechtlichen Zustand ausschließlich zum Zwecke der Sicherung des äußeren Mein und Dein eintreten (und nicht etwa zugleich auch oder gar ausschließlich zum Zwecke der Sicherung des inneren Mein und Dein). Auch das Gebot, aus dem Naturzustand herauszugehen, gibt es nur um des äußeren Mein und Dein willen. 120 Denn die »ursprüngliche Gemeinschaft des Bodens«, in der wir uns schon immer bloß aufgrund unseres »Daseins auf Erden« befinden (und das ist die einzige »Gemeinschaft«, von der wir rationalerweise ausgehen können), besteht allein deswegen, weil der Erdboden knapp ist. Wäre die Erde »eine unendliche Ebene«, dann könnten »die Menschen sich darauf so zerstreuen …, daß sie in gar keine Gemeinschaft miteinander kämen.« Es ist allein »die Einheit aller Plätze auf der Erdfläche als Kugelfläche«, die uns in eine Gemeinschaft bringt. 121 Treten wir aber zum Zwecke der Sicherung des äußeren Mein und Dein in einen 118 6:267,24–32. Kant bezeichnet die Ermächtigung hier als eine »Gunst des Gesetzes«. Auch in dem Abschnitt über das »auf dingliche Art persönliche Recht« spricht Kant von einem »natürlichen Erlaubnisgesetz …, durch dessen Gunst« uns eine Erwerbung »möglich ist.« (6:276,32–34; § 22). Der Ausdruck »Gunst« im Kontext des Erlaubnisgesetzes erinnert an die »Vergönnung«, von der, in einem ganz ähnlichen Zusammenhang, der Autor des oben (in Abschnitt III.) zitierten Lexikon-Artikels spricht. Die Einräumung eines moralischen Vermögens eine »Gunst des Gesetzes« zu nennen, war im 18. Jahrhundert offenbar nicht unüblich. Auch Achenwall bezeichnet (im Zusammenhang mit den Notstandsfällen) eine bestimmte facultas moralis als einen »favor« (Gunst); vgl. Prolegomena § 145 (S. 132). 119 6:264,23–27 (§ 15). 120 Kant in 6:313,5–8 (§ 44): »Wenn es im Naturzustande auch nicht provisorisch ein äußeres Mein und Dein gäbe, [dann würde es] auch keine Rechtspflichten in Ansehung desselben, mithin auch kein Gebot geben, aus jenem Zustande herauszugehen.« 121 Die Zitate aus 6:262,19–26 (§ 13).
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II · Das Erlaubnisgesetz der praktischen Vernunft
rechtlichen Zustand ein, dann bringen wir dieses unser äußeres Mein und Dein, um dessen Sicherung es geht, in den rechtlichen Zustand ein. Andere äußere Gegenstände unserer Willkür, die nicht zu unserem äußeren Mein und Dein gehören, bringen wir dagegen nicht ein (das Gegenteil anzunehmen wäre ein Widerspruch in sich selbst). In einem rechtlichen Zustand gibt es, mit anderen Worten, keine herrenlosen und ledigen Sachen. Also kann es auch keinen ursprünglichen Erwerb geben, weil ein ursprünglicher Erwerb nur von herrenlosen und ledigen Sachen möglich ist (siehe oben V.). Der ursprüngliche Erwerb von Stücken des Erdbodens einschließlich der Bestimmung der maßgeblichen Grenzen findet danach im Naturzustande und nur im Naturzustande statt. Trotzdem spielt der rechtliche Zustand beim Erwerb von Stücken des Erdbodens eine Rolle. Denn die Ermächtigung zur ursprünglichen Erwerbung von Sachen, die das Erlaubnisgesetz des § 2 der Rechtslehre (implizit) erteilt, steht unter einer Bedingung, die Kant in § 15 folgendermaßen formuliert: »Nur in Konformität mit der Idee eines bürgerlichen Zustandes, d. i. in Hinsicht auf ihn und seine Bewirkung, aber vor der Wirklichkeit desselben … kann etwas Äußeres ursprünglich erworben werden.« 122
Kant sagt hier für die ursprüngliche Erwerbung (im Naturzustande), was er vorher schon für den intelligibelen Besitz von äußeren Gegenständen meiner Willkür im Naturzustande gesagt hat. Ein Besitz, der nicht nur ein rein physischer Besitz, sondern ein Besitz mit Rechtscharakter ist, ist allein ein Besitz »in Erwartung und Vorbereitung« eines rechtlichen Zustandes. 123 Entsprechend kann es eine ursprüngliche Erwerbung von Stücken des Erdbodens nur in Erwartung und Vorbereitung eines rechtlichen Zustandes geben. Die Argumente dafür finden wir (zum größeren Teil) in § 8 und § 9 der Rechtslehre. In § 8 heißt es: »Wenn ich (wörtlich oder durch die Tat) erkläre: ich will, daß etwas Äußeres das Meine sein solle, so erkläre ich jeden anderen für verbindlich, sich [dieses] Gegenstandes meiner Willkür zu enthalten.« Kant nennt die Erklärung eine »Anmaßung« (in der neutralen Bedeutung des Wortes). In der Anmaßung (durch die Erklärung) aber, so heißt es weiter, liege zugleich
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6:264,23–27 (§ 15). 6:256,35–257,1 (§ 9).
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Der Vorgriff auf den rechtlichen Zustand
»das Bekenntnis: jedem anderen in Ansehung des äußeren Seinen wechselseitig zu einer gleichmäßigen Enthaltung verbunden zu sein.« 124 Dieses »Bekenntnis« enthält zwei Elemente. Es enthält 1) das bedingte Angebot eines Versprechens, und es enthält 2) (was allerdings nicht sofort erkennbar ist) das bedingte Angebot einer Zusicherung. Das Versprechen, um das es geht, ist das Versprechen, sich der äußeren Gegenstände zu enthalten, die das Ihre der beteiligten anderen Personen sind. Die Zusicherung, um die es geht, ist die Verschaffung einer Sicherheit gleichermaßen für das Meine und für das Ihre der anderen Personen. Die Angebote (des Versprechens und der Zusicherung) sind durch »Wechselseitigkeit«, also dadurch bedingt, daß bei meiner Leistung des Versprechens und bei meiner Verschaffung der Sicherheit auch die (alle) anderen Personen ein korrespondierendes Versprechen abgeben und eine korrespondierende Sicherheit verschaffen. 125 Das zweite Element des »Bekenntnisses« ergibt sich nicht mit hinreichender Deutlichkeit umittelbar aus der Erklärung, »jedem anderen in Ansehung des äußeren Seinen wechselseitig zu einer gleichmäßigen Enthaltung verbunden zu sein.« Es zeigt sich allerdings in der Konsequenz, die Kant zieht, d. i. in dem »also«, mit dem Kant den (anschließenden) Satz über die Sicherstellung einleitet: »Ich bin also nicht verbunden, das äußere Seine des anderen unangetastet zu lassen, wenn mich nicht jeder andere dagegen auch sicher stellt, er werde in Ansehung des Meinigen sich nach ebendemselben Prinzip verhal-
6:255,26–32 (§ 8). Das Wort »Zusicherung« verwendet Kant in § 8 der Rechtslehre nicht. »Zusicherung« ist Kants Übersetzung von Achenwalls »cautio«. Cautiones sind (bei Achenwall) Zusicherungen, die zu einer (primären) Erklärung oder zu einem (primären) Vertrag hinzutreten. Achenwall unterscheidet zwischen der »cautio« im allgemeinen und einer »cautio« im engeren Sinne, wobei die letztere cautio das Verschaffen einer Sicherheit »durch Vertrag« bedeutet (Achenwall Ius Naturae 5. Aufl. § 224 [S. 196– 197]). »Cautiones« dieser letzteren Art heißen bei Kant »Zusicherungsverträge« (6:286,3–6). Von »Zusicherungsverträgen« spricht Kant bei seiner Erörterung der »erwerblichen Rechte aus Verträgen« (zu diesem Ausdruck: 6:284,7). Die Zusicherungsverträge (»Verpfändung und Pfandnehmung«, »Gutsagung für das Versprechen eines anderen« und »persönliche Verbürgung«) räumen dem Versprechensempfänger über das Recht hinaus, das er durch den primären Vertrag (das primäre Versprechen) erwirbt, ein weiteres Recht ein, entweder ein Recht an einer Sache (der Pfandsache) oder ein persönliches Recht gegenüber einer Person (dem »Gutsagenden«) oder, durch die Stellung einer Geisel, ein »dinglich-persönliches Recht (ius realiter personale) des Besitzes einer anderen Person als einer Sache« (zu diesem Ausdruck: 6:260,2–4). 124 125
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II · Das Erlaubnisgesetz der praktischen Vernunft
ten.« 126 Dieser letztere Satz wäre ohne das vorausgesetzte Angebot einer Zusicherung (auf meiner Seite) nicht zu verstehen. Über die Notwendigkeit einer Zusicherung spricht Kant in § 42 der Rechtslehre. Die Zusicherung ist erforderlich, weil der Satz gilt (den Kant nur in lateinischer Sprache bringt): »Quilibet praesumitur malus, donec securitatem dederit oppositi.« (Jedermann wird als böse vermutet, bis er für das Gegenteil Sicherheit geleistet hat.) 127 Ich traue den anderen (beteiligten) Personen nicht, und die anderen Personen trauen sich gegenseitig und auch mir nicht, und das mit vollem Recht. Wir brauchen die Argumente dafür an dieser Stelle nicht zu untersuchen. 128 Es genügt, daß sie Zusicherungen erforderlich machen. Wir (die beteiligten Personen einschließlich meiner) müssen sicherstellen, daß die Versprechen, sich des Seinen eines jeden anderen zu enthalten, eingehalten werden. Diese Sicherstellung geschieht durch den Eintritt in einen rechtlichen Zustand (Rechtsstaat). Nur der rechtliche Zustand kann »jedermann jene Sicherheit leisten.« 129 Wir müssen das »Bekenntnis« und den Vollzug des zweiten Teils des Bekenntnisses als Stufen eines Prozesses verstehen. Die Bemächtigung, durch die ich eine (herrenlose und ledige) Sache erwerbe und die zugleich das Angebot des Versprechens, Eingriffe in das Seine jedes anderen zu unterlassen, und das Angebot der hier interessierenden Zusicherung enthält, ist eine erste Stufe. Die Sicherung des erworbenen Rechts (durch den Eintritt in einen rechtlichen Zustand) ist die zweite Stufe, ein zweiter Akt, der zu dem ersten Akt hinzutritt. Die Parallele, an die Kant hier denkt, sind die Zusicherungsverträge, von denen in § 31 der Rechtslehre die Rede ist. Ein Zusicherungsvertrag (des § 31) setzt einen ersten Vertrag voraus, durch den eine Person (Kant: der »Acceptant«) von einer anderen Person (dem »Promittenten«) ein Versprechen erwirbt. Der Zusicherungsvertrag selbst ist ein zweiter Vertrag, durch den der Acceptant »zwar nichts mehr in Ansehung des Objekts, aber doch der Zwangsmittel erwirbt, zu dem Seinen zu gelangen.« 130 So Kants eigene Darstellung. Nehmen wir als Beispiel eine »persönliche Verbürgung«, die nicht mit dem verwech-
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6:255,33–256,1 (§ 8); Hervorhebungen von mir. 6:307,25–26 (§ 42). Dazu Commentary S. 190–193. 6:256,10 (§ 8). 6:284,28–32 (§ 31).
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Der Vorgriff auf den rechtlichen Zustand
selt werden darf, was wir heute »Bürgschaft« nennen. 131 Die persönliche Verbürgung bedeutet die Stellung einer Geisel (»praestatio obsidis«). 132 A und P haben einen (ersten) Vertrag geschlossen, bei dem A etwas (was auch immer) gewinnt. C (bei Kant: der »Cavent«) stellt sich selbst dem A als Bürge (als Geisel), um die Einhaltung des (ersten) Vertrages zu gewährleisten. Darin steckt der zweite Vertrag. Durch eine derartige Bürgschaft gewinnt der Sicherungsnehmer A, der ja mit dem Versprechensempfänger des ersten Vertrages identisch ist, hinsichtlich dessen, was er nach dem Versprechen des Versprechenden (des P) fordern kann, nichts mehr hinzu, sondern er gewinnt zusätzlich ein »Zwangsmittel, zu dem Seinen zu gelangen.« Schon die Terminologie, die er verwendet, zeigt, daß Kant die Parallele der in der Bemächtigung steckenden zweifachen Erklärung (dem »Bekenntnis«) und des Vollzugs ihres zweiten Teils (durch den Eintritt in einen rechtlichen Zustand) zu den Fällen eines primären Vertrages mit einem anschließenden Zusicherungsvertrag nicht nur sieht, sondern auch benutzt. Kant verwendet die Ausdrücke »sicher stellen« und »Sicherstellung«. 133 Die »Stellung« einer Sicherheit erinnert an die »Stellung« eines Bürgen. Auch der Verbürgungsvertrag wird erst vollzogen, wenn sich der Bürge (die Geisel, der Cavent) tatsächlich stellt. Der Unterschied der zweifachen Erklärung und des Vollzugs ihres zweiten Teils zu den Fällen eines primären Vertrages mit einem anschließenden Zusicherungsvertrag besteht allein darin, daß die Zusicherungsverträge, an die Kant in § 31 der Rechtslehre denkt, vorangehende Verträge voraussetzen, während die Fälle eines ursprünglichen Erwerbs mit einseitigen Erklärungen beginnen. Nach der Meinung einiger Interpreten gibt es nach Kant ein äußeres Mein und Dein (auch an Stücken des Erdbodens) nur in einem rechtlichen Zustand. Aber das ist nicht richtig. Für den ursprünglichen Erwerb und den intelligibelen Besitz eines Bodens ist nicht der Eintritt in den (einen) rechtlichen Zustand entscheidend, sondern entscheidend ist die Erwerbshandlung, d. i. die Bemächtigung. Der Eintritt in einen rechtlichen Zustand dient der Sicherung des durch die Erwerbshandlung Erworbenen, d. h. er tritt zu der Erwerbshandlung hinzu – genauso wie die persönliche Verbürgung (also die tat131 §§ 765 ff. BGB. Die heutige »Bürgschaft« ist bei Kant die »Gutsagung für das Versprechen eines anderen (fideiussio).« Vgl. 6:286,5. 132 6:286,6 (§ 31). 133 6:255,35 und 256,2 (§ 8).
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II · Das Erlaubnisgesetz der praktischen Vernunft
sächliche Stellung einer Geisel) zu dem primären Vertrag hinzutritt, dessen Sicherung sie dient. 134 Der Abschluß und der Vollzug eines Zusicherungsvertrages (im Sinne des § 31 der Rechtslehre) ist auf die Geltung des primären Vertrages ohne Einfluß, und genausowenig berührt der Eintritt in einen rechtlichen Zustand den Erwerb und den intelligibelen Besitz des äußeren Mein und Dein. Das Erlaubnisgesetz der praktischen Vernunft, aus dem sich die Möglichkeit ergibt, ein äußeres Mein und Dein zu erwerben, ist, wie es in § 15 der Rechtslehre heißt, »ein Prinzip des Privatrechts« »auch« und schon »im Naturzustande«. 135 Dementsprechend hebt Kant in § 9 der Rechtslehre ausdrücklich hervor, daß »das Seine« eines jeden nicht erst in einem rechtlichen Zustand »ausgemacht und bestimmt« wird, sondern daß es (das Seine eines jeden) durch einen rechtlichen Zustand »nur gesichert« wird. »Alle Garantie« aber, das soll heißen: alle Sicherung »setzt … das Seine von jemandem (dem es gesichert wird) schon voraus.« 136 So § 9 der Rechtslehre. An einer anderen Stelle kritisiert Kant die dritte Formel des Ulpian »Suum cuique tribue« als eine Ungereimtheit, wenn die Formel dahin verstanden wird, daß irgendjemand (z. B. der Staat) »jedem das Seine gibt.« Es ist nicht der Staat, von dessen Gnaden ich meine (äußeren) Rechte habe, nicht der Rechtsstaat und schon gar nicht ein »Staat«, der kein Rechtsstaat ist. »Denn man kann niemandem etwas geben, was er schon hat.« 137 Schon im nicht-rechtlichen Zustand haben wir Rechte, und der Staat hat die Funktion (und nur diese Funktion), diese Rechte zu sichern (s. oben Erstes Kapitel Abschnitt II.). 138 Fassen wir zusammen: Nicht erst in einem rechtlichen Zustand, sondern schon vor allem rechtlichen Zustand können wir Rechte an äußeren Gegenständen erwerben und haben, freilich können wir diese Rechte nur dann erwerben und haben, wenn der Erwerb und der Besitz im Hinblick auf das »Postulat des öffentlichen Rechts« geschehen, das uns gebietet, in einen rechtlichen Zustand einzutreten. 139 Dieses Hinzutreten hebt Achenwall in § 224 ausdrücklich hervor. 6:264,29–32. 136 6:256,27–31 (§ 9). 137 6:237,1–8 (Einteilung der Rechtslehre A). 138 Für einen Etatismus, der das Gegenteil behauptet, kann Kant nicht in Anspruch genommen werden. Es ist auch nicht der Fall, daß »der Staat« »geltungstheoretischer Bestandteil des Eigentums« ist, wie Peter Unruh auf S. 145 behauptet. 139 6:307,8–11 (§ 42). 134 135
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Die Nötigung zum Eintritt in einen rechtlichen Zustand
Das heißt, wir müssen »bereit« sein, in einen rechtlichen Zustand einzutreten. 140 Freilich hängt der Eintritt in einen rechtlichen Zustand nicht allein von mir ab. Auch die anderen beteiligten Personen müssen dazu bereit sein, und (böse, wie wir sie vermuten müssen) sind sie oft dazu nicht bereit. Wenn die anderen mich in dieser Lage zwingen wollen, »von einem gewissen Besitz abzustehen,« dann ist das ein bloß einseitiger Wille, der genauso einseitig ist wie mein eigener Wille. Ein bloß einseitiger Wille (auch wenn der Bösen viele sind) hat jedoch keine »gesetzliche Kraft«. Deshalb widerstehe ich denen, die mich in meinem Besitz stören wollen, mit vollem Recht. Mein Besitz hat »die rechtliche Präsumtion für sich«, ihn (den Besitz) durch den Eintritt in einen rechtlichen Zustand zu einem rechtlichen Besitz zu machen, und er gilt in der Erwartung des rechtlichen Zustandes schon im Naturzustande »komparativ« als ein rechtlicher Besitz. 141
X. Die Nötigung zum Eintritt in einen rechtlichen Zustand Das an die Menschheit gerichtete Gebot, den Erdboden aufzuteilen, hat die Konsequenz, daß ich (unter der Voraussetzung meiner eigenen Bereitschaft) alle anderen Beteiligten zwingen darf, mit mir in einen rechtlichen Zustand einzutreten. Kant in § 8 der Rechtslehre: »Wenn es rechtlich möglich sein muß, einen äußeren Gegenstand als das Seine zu haben: so muß es dem Subjekt erlaubt sein, jeden anderen, mit dem es zum Streit des Mein und Dein über ein solches Objekt kommt, zu nötigen, mit ihm zusammen in eine bürgerliche Verfassung zu treten.« 142
Wir müssen diesen Satz genau lesen. Es genügt nicht, daß es rechtlich möglich ist, sondern es ist so, daß es rechtlich möglich »sein muß«, äußere Gegenstände als das Meine zu haben. Diese Bedingung ist nicht schon mit dem Erlaubnisgesetz der praktischen Vernunft, sondern erst mit dem Aufteilungsgebot erfüllt. Die Menschheit ist verpflichtet, nach dem »Gesetz der äußeren Erwerbung zu verfahren.« Der Erdboden muß aufgeteilt werden (s. oben VII.). Infolgedessen ist es nicht nur rechtlich möglich, sondern es ist rechtlich notwendig, daß Personen (individuelle Personen oder Völker) Stücke des Erd140 141 142
6:257,6 (§ 9). Vgl. 6:257,6–19 (§ 9). S. auch 6:257,20–36 (ebenfalls § 9). 6:256,14–18.
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II · Das Erlaubnisgesetz der praktischen Vernunft
bodens erwerben und dann intelligibelen Besitz an ihnen haben. Es ist daher nicht so, daß ich bloß einer Laune folge, wenn ich mich eines (herrenlosen und ledigen) Stücks des Erdbodens mit Zueignungswillen bemächtige. Meine bloße Laune, auch wenn sie mich zum Eintritt in einen rechtlichen Zustand verpflichtete, könnte mich doch nicht dazu berechtigen, andere zu zwingen, in einen rechtlichen Zustand einzutreten. Es ist schon gar nicht so, daß ich, wenn ich mir ein (herrenloses und lediges) Stück Land aneigne, ein »turbator communionis primaevae«, ein Störer der (paradiesischen?) uranfänglichen Gemeinschaft bin, wie die communio primaeva-Lehre annimmmt. 143 Statt dessen vollziehen wir einen Auftrag, den der ursprünglich und a priori vereinigte Wille der communio fundi originaria, der ursprünglichen Gemeinschaft des Bodens, erteilt. Wir handeln als Repräsentanten dieses Willens und sind mit seiner Autorität ausgestattet, wenn wir ein Stück des Erdbodens ursprünglich erwerben, was Kant so ausdrückt, daß unser Wille in dem »a priori vereinigten … absolut gebietenden Willen enthalten« sei. 144 Nun verlangt der ursprünglich und a priori vereinigte Wille aber nicht nur die Aufteilung des Erdbodens, sondern auch die Sicherung des auftragsgemäß Erworbenen in einem rechtlichen Zustand. Also muß ich nicht nur selbst bereit sein, in einen rechtlichen Zustand einzutreten, sondern ich kann den Eintritt in einen rechtlichen Zustand auch von den anderen Beteiligten fordern. Das ist es, was uns dann berechtigt, »jedermann, mit dem wir irgend auf eine Art in Verkehr kommen könnten, zu nötigen, mit uns in eine Verfassung zusammenzutreten,« durch die das äußere Mein und Dein gesichert werden kann. 145 Vor diesem Hintergrund müssen wir den bereits (oben IX.) 146 wiedergegebenen Satz in § 8 der Rechtslehre verstehen, ich sei »nicht verbunden, das äußere Seine des anderen unangetastet zu lassen, wenn mich nicht jeder andere dagegen auch sicher stellt, er werde in Achenwall Ius Naturae I 5. Aufl. § 116 (S. 100). Vgl. 6:263,19–23 (§ 14). Hervorhebung von mir. 145 6:256,31–35 (§ 9). Der (am Anfang dieses Abschnitts wiedergegebene) »Folgesatz« in § 8 spricht lediglich von dem Fall, bei dem es »zum Streit des Mein und Dein« über einen äußeren Gegenstand »kommt«. Die Formulierung in § 9 ist demgegenüber weiter, weil wir jedermann zwingen dürfen, in einen rechtlichen Zustand einzutreten, mit dem es zu einem Streit über das Mein und Dein kommen könnte. Es ist klar, daß die Gruppe der Fälle, die § 9 im Auge hat, die Gruppe der Fälle des »Folgesatzes« des § 8 einschließt. 146 Text zu Fn. 126. 143 144
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Die ursprüngliche Gemeinschaft des Bodens als eine Interessengemeinschaft
Ansehung des Meinigen sich nach ebendemselben Prinzip verhalten.« In § 42 der Rechtslehre findet sich ein ganz ähnlich lautender Satz. 147 Die beiden Sätze (in § 8 und in § 42) enthalten nicht etwa, wie es bei oberflächlicher Betrachtung vielleicht scheinen mag, einen Freibrief zum Angriff auf den intelligibelen Besitz der anderen im Naturzustand. Dagegen spricht schon das allgemeine Verletzungsverbot des »neminem laede«, »Tue niemandem Unrecht«, 148 das auch im Naturzustand gilt. Die beiden Sätze betreffen vielmehr, wie der (ebenfalls oben wiedergegebene) Folgesatz des § 8 und die entsprechenden Ausführungen in § 9 zeigen, allein die Beendigung des Naturzustandes durch Nötigung, sei es mit Gewalt, sei es durch Drohung mit Gewalt. Sie enthalten eine Ausnahme von der Regel des »neminem laede«, also eine Erlaubnis im Sinne von »erlaubt (licitum)«, genauso wie die Gestattung der Nötigung zum Zwecke der Herbeiführung eines rechtlichen Zustandes eine Ausnahme von dem Nötigungsverbot enthält, das seinerseits dem Recht jedermanns auf äußere Freiheit (Freiheit ist »Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür«) 149 korrespondiert.
XI. Die ursprüngliche Gemeinschaft des Bodens als eine Interessengemeinschaft Wir können das bisher Gesagte noch einmal neu formulieren und die ursprüngliche Gemeinschaft des Bodens auch als eine Interessengemeinschaft derjenigen verstehen, die einen Anspruch auf einen Platz auf der Erde gegeneinander haben. Kant selbst spricht einmal von dem »gemeinsamen Interesse aller, im rechtlichen Zustande zu sein.« 150 Dieses gemeinsame Interesse, in einem rechtlichen Zustande zu leben, beginnt mit einem gemeinschaftlichen Interesse der communio fundi originaria, und zwar ist das gemeinschaftliche Interesse ein Interesse daran, den Erdboden aufzuteilen. Das disjunktiv-allgemeine Recht auf einen Platz auf der Erde ist nämlich insofern ein
147 6:307,14–16: »Niemand ist verbunden, sich des Eingriffs in den Besitz des anderen zu enthalten, wenn dieser ihm nicht gleichmäßig auch Sicherheit gibt, er werde eben dieselbe Enthaltsamkeit gegen ihn beobachten.« 148 6:236,31 (Einteilung der Rechtslehre A). 149 6:237,29 (Einteilung der Rechtslehre B). 150 6:311,15–17 (§ 43).
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II · Das Erlaubnisgesetz der praktischen Vernunft
schwaches Recht, als es noch keinen Anspruch auf einen bestimmten Platz auf der Erde bedeutet. Der Anspruch, den ich gegen jedermann habe, mir einen Platz auf der Erde zu lassen, bedarf daher, wie wir gesehen haben (oben VII.), der Konkretisierung. Auf diese Weise bringt das gemeinsame Interesse der communio fundi originaria den ursprünglich und a priori vereinigten Willen hervor, der seinerseits das Gebot enthält, die Erde aufzuteilen, und eine entsprechende Pflicht der Menschheit begründet. Deshalb bin ich nicht nur berechtigt, mich eines herrenlosen und ledigen Stücks des Erdbodens mit Zueignungsabsicht zu bemächtigen und dadurch Eigentümer des Bodens zu werden, sondern ich vollziehe den allgemeinen Willen, wenn ich das tue. Der Vorgriff auf den rechtlichen Zustand, der mit dem Eigentumserwerb verbunden ist, führt dann zu meinem und (durch Verallgemeinerung) zu dem gemeinsamen Interesse, in einem rechtlichen Zustande zu sein, von dem Kant an der zitierten Stelle spricht.
XII. Zu den Grenzen jeder möglichen ursprünglichen Erwerbung Mein Vermögen zur Bestimmung der Grenzen des rechtlich möglichen Besitzes steht nicht nur unter einer Bedingung (dem mit einem ursprünglichen Erwerb verbundenen Vorgriff auf einen rechtlichen Zustand – s. oben IX.), sondern es ist auch gewissen Einschränkungen unterworfen. Kant bemüht sich, für die Bestimmung der Grenzen des rechtlich möglichen Besitzes Kriterien zu finden, etwa die Reichweite von Kanonen. 151 Er stellt die Frage: »Wie weit erstreckt sich die Befugnis der Besitznehmung eines Bodens?« Und er gibt die Antwort: Die Befugnis erstreckt sich so weit als das Vermögen reicht, den Boden »in seiner Gewalt zu haben, d. i. als der, so ihn sich zueignen will, ihn verteidigen kann; gleich als ob der Boden spräche: wenn ihr mich nicht beschützen könnt, so könnt ihr mir auch nicht gebieten.« 152 Columbus, der an der Küste gelandet ist, kann nicht einen ganzen Kontinent für den König von Spanien in Anspruch nehmen. Ent-
6:265,7–10 (§ 15), 6:269,31–35 (§ 17). 6:265,1–5 (§ 15). Peter Unruh weist auf S. 142 mit Recht darauf hin, daß die von Kant gebrachten Argumente Grenzen der ersten Besitznahme aufzeigen und keine Begründung für gewaltsame Verschiebungen bereits begründeter Eigentumspositionen liefern. 151 152
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Zu den Grenzen jeder möglichen ursprünglichen Erwerbung
scheidend ist, daß Grenzen gezogen werden müssen. Formulieren wir das für den Extremfall: Es ist nicht so, daß einer alles haben kann. Denn dem steht entgegen, daß alle anderen gegen den einen einen Rechtsanspruch auf einen Platz auf der Erde haben. Es müssen also für die anderen einige Stücke des Bodens übrig bleiben. 153 Genaueres läßt sich nicht angeben. Kant beklagt das: »Die Unbestimmtheit in Ansehung der Quantität sowohl als der Qualität des äußeren erwerblichen Objekts macht diese Aufgabe (der einzigen ursprünglichen äußeren Erwerbung) unter allen zur schwersten sie aufzulösen.« Aber man kann »diese Aufgabe auch nicht als unauflöslich und als an sich unmöglich aufgeben.« Sie muß irgendwie gelöst werden. Denn nicht aller Erwerb kann ein abgeleiteter Erwerb sein. Es muß einen ursprünglichen Erwerb geben, oder aber es gibt gar keinen Erwerb, damit keinen intelligibelen Besitz und keine Rechtsbeziehungen von Personen mit Bezug auf Sachen und damit im Endeffekt, mit Bezug auf die Sachen, ein (rechtliches) Chaos schlechthin. 154 Die Lösung der Aufgabe muß vor dem Eintritt in einen rechtlichen Zustand stattfinden. Denn eine ursprüngliche Erwerbung gibt es nur im Naturzustande. Im Naturzustand sind zu »wirklichen Feindseligkeiten« 155 Verträge zwischen den betroffenen Parteien die einzige Alternative. Tatsächlich denkt Kant an die Lösung des Problems durch Verträge. Zunächst einmal kommen bilaterale Verträge in Betracht. Zwei Staaten können sich auf eine gemeinsame Grenze einigen oder auch darauf, daß »ein gewisser (zwischenliegender) Boden« als »neutral zur Scheidung zweier Benachbarter unbenutzt liegen« gelassen wird. 156 Freilich ist die vertragliche Grenzbestimmung nur im Verhältnis zwischen den Beteiligten verbindlich. 157 Auch der »doppelseitige« Wille zweier Vertragsparteien ist ein »besonderer« (und nicht der allgemeine) Wille, der »nicht jedermann eine Verbind-
153 Vgl. 23:320,16–18 (Vorarbeiten zur Rechtslehre): »Den ganzen Boden kann ich nicht ursprünglich erwerben, weil ich dadurch alle anderen von dem Rechte ausschließen würde, irgendwo zu sein.« 154 6:266,28–34 (§ 15). 155 Vgl. etwa 6:97,25–34 (Religionsschrift), wo Kant zwischen dem Naturzustand, der stets ein »Kriegszustand« ist, und »wirklichen Feindseligkeiten« unterscheidet, die auch im Naturzustand nicht immer »herrschen« müssen. 156 Vgl. 6:256,26–32 (§ 15). 157 Vgl. etwa 6:349,25–29 (§ 60), wo Kant »öffentliche Verträge« als für die Vertragsparteien verbindlich voraussetzt.
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II · Das Erlaubnisgesetz der praktischen Vernunft
lichkeit auflegen [kann], die an sich zufällig ist,« 158 und jede Grenzbestimmung ist »an sich zufällig«. 159 Kant erwägt auch die Möglichkeit, daß die Aufgabe der Bestimmung der Grenzen des zu erwerbenden oder erworbenen Bodens »durch den ursprünglichen Vertrag aufgelöst wird.« 160 In einem glücklichen Falle kommt es zum Abschluß eines solchen Vertrages. Ein ursprünglicher Vertrag ist ein multilateraler Vertrag, durch den ein Volk sich selbst zu einem (Rechts-)Staat konstituiert 161 und damit einen rechtlichen Zustand begründet. Oder er ist ein multilateraler Vertrag zwischen verschiedenen Staaten, die sich zu einem Völkerstaat zusammenschließen und damit auf der völkerrechtlichen Ebene einen rechtlichen Zustand herbeiführen. 162 Für multilaterale Verträge gilt nichts anderes als für bilaterale Verträge. Sie sind verbindlich nur im Verhältnis zwischen den beteiligten Parteien. Deshalb regeln sie auch das Mein und Dein, insbesondere das Eigentum an Stücken des Erdbodens nur im Verhältnis zwischen den Beteiligten. Infolgedessen schafft ein rechtlicher Zustand, der nicht alle (lebenden) Menschen erfaßt, die notwendige Sicherheit nur im Verhältnis zwischen den Beteiligten. Das aber wiederum bedeutet, daß ein rechtlicher Zustand nur dann eine endgültige Sicherheit bringt, wenn er für alle Menschen gültig ist. Woraus folgt, daß auch alle ursprüngliche Erwerbung »immer nur provisorisch«, d. i. »ungesichert«, 163 bleibt, wenn die Aufgabe der ursprünglichen Erwerbung zwar durch einen ursprünglichen Vertrag aufgelöst wird, sich dieser ursprüngliche Vertrag aber »nicht aufs ganze menschliche Geschlecht erstreckt.« 164
6:263,23–25 (§ 14). Zum Begriff des Zufälligen s. oben VI. 160 6:266,34–35 (§ 15). 161 6:315,30–33 (§ 47). 162 S. unten Fünftes Kap. Abschnitte I und II und oben Erstes Kap. Abschn. XIII. 163 Vgl. die Gegenüberstellung von »peremtorisch (gesichert)« und »provisorisch (einstweilig)« in 6:292,29–30 (§ 33). 164 6:266,34–37 (§ 15). 158 159
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Drittes Kapitel: Kant, Feuerbach und die Grundlagen des Strafrechts
Die Leistungen der Aufklärungsphilosophie für das Strafrecht sind bisher kaum gewürdigt worden. Kant ist der erste, der den Rechtsstaat denkt, und infolgedessen denkt er auch die rechtsstaatlichen Grundlagen des Strafrechts. Das geschieht vornehmlich in der Rechtslehre von 1797/98. 1 Paul Johann Anselm Feuerbach greift einige dieser Gedanken auf, im Anti-Hobbes von 1798 2 und in der Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechts von 1799, wo er die theoretischen Grundlagen legt, 3 später im Lehrbuch des gemeinen in Deutschland geltenden Peinlichen Rechts, das für die Verbreitung dieser Gedanken sorgt. Das Lehrbuch hat vierzehn Auflagen, elf von Feuerbach selbst besorgte (1. Aufl. 1801; 11. Auflage 1832) und drei weitere, die C. J. A. Mittermaier herausgegeben und teilweise ausführlich kommentiert hat (12. Aufl. 1836; 14. Aufl. 1847), woran man auch den Erfolg der Verbreitung rechtsstaatlicher Grundsätze und Grundbegriffe in der Strafrechtslehre ablesen kann. Die Würdigung der Leistungen Kants für das Strafrecht der Gegenwart setzt eine Interpretation der auf das Strafrecht bezogenen Teile der Rechtslehre voraus, die ihre Rationalität erkennen läßt. Das ist im (deutschsprachigen) Schrifttum von heute häufig nicht der Fall. Zu den Ausnahmen von der Regel gehören die Ausführungen von Altenhain zu Kants und Feuerbachs Strafrechtslehre. 4 Der Beitrag geht auf den Grundsatz »Keine Strafe ohne Gesetz« Das Kapitel enthält eine Reihe von Ergänzungen des Kapitels 13 des Commentary. Genauer: Anti-Hobbes oder über die Grenzen der höchsten Gewalt und das Zwangsrecht der Bürger gegen den Oberherrn. 3 Die Zitate verweisen auf den »Ersten Theil« des zweibändigen Werks. 4 Altenhain »Die Begründung der Strafe durch Kant und Feuerbach« (2003). Im englischsprachigen Schrifttum beginnt die analytisch genaue Interpretation von Kants Strafrechtslehre mit B. Sharon Byrd »Kant’s Theory of Punishment« (1989). Ohne diesen letzteren Aufsatz hätte das gegenwärtige (dritte) Kapitel nicht geschrieben 1 2
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III · Kant, Feuerbach und die Grundlagen des Strafrechts
ein, den wir bei Kant (unten I. und III.) und bei Feuerbach (unten II.) finden. Kant formuliert auch zum ersten Male das Legalitätsprinzip, das Feuerbach zwei Jahre später aufgreift (unten IV. und V.). VI. behandelt den Grundsatz, daß die Tat bewiesen sein muß, ehe sie bestraft werden kann. Unter VII. geht es um die Funktion des Strafrechts im Rechtsstaat bei Kant und Feuerbach, unter VIII. um Feuerbachs Zusammenfassung der rechtsstaatlichen Grundsätze des Strafrechts, die auf Kants Grundsätze zurückzuführen sind. Der Zusatz geht (im Anschluß an VII.) auf das Verhältnis von oberster Staatsgewalt und Strafgerechtigkeit ein.
I.
»Keine Strafe ohne Gesetz« in Kants Rechtslehre
In der Rechtslehre geht Kant auf die »richterliche Strafe« ein, was er noch mit dem lateinischen »poena forensis« erläutert. »Richterliche Strafe« ist die Strafe, die von einem Richter, von einem forum (Gerichtshof), verhängt wird. Richterliche Strafe muß von der Androhung von Strafe durch den Gesetzgeber 5 einerseits und der Vollstreckung der (durch den Richter verhängten) Strafe durch die vollziehende Gewalt 6 andererseits unterschieden werden. Die Unterscheidung, die auf der Lehre von der Gewaltenteilung aufbaut, ist, haben wir sie erst einmal gefunden, eine bare Selbstverständlichkeit. 7 Wenn Kant also von der »richterlichen Strafe (poena forensis)« redet, dann meint er die Verhängung von Strafe durch einen Richter, und er meint weder eine gesetzliche Strafandrohung noch die Vollstreckung der Strafe. Wenn wir die sogleich wiederzugebende Stelle, die sich mit der richterlichen Strafe befaßt, richtig verstehen wollen, dann müssen wir uns in die Zeit zurückversetzen, in der der »Nulla poena sine werden können. Vgl. jetzt auch Arthur Ripstein Force and Freedom (2009) S. 300– 324. 5 6:331,22; 334,17–18 (Allg. Anm. E). 6 Die Exekutive ist die »Macht« oder »Gewalt« (vgl. 6:312,20 und 312,33; § 44), die die richterlich verhängte Strafe vollstreckt. Der »Befehlshaber« (6:331,4; Allg. Anm. E), den ich in dem originalen Beitrag zur Festschrift für Ingeborg Puppe als die Exekutive angesehen habe, ist nicht diese Exekutive allein, sondern die ungeteilte Staatsgewalt, der das Strafrecht zusteht. Vgl. dazu jetzt unten den Zusatz zu diesem Kapitel. 7 Zur Gewaltenteilung in Kants Rechtslehre vgl. oben das erste Kapitel Abschn. VIII. und Commentary S. 146–167.
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»Keine Strafe ohne Gesetz« in Kants Rechtslehre
lege«-Satz (Keine Strafe ohne Gesetz) noch nicht galt. Genau das war am Ende des 18. Jahrhunderts der Fall. Es war Feuerbach, der in der ersten Auflage seines Lehrbuchs von 1801 den lateinischen Satz zum ersten Male formulierte, dann in jeder Auflage des Lehrbuchs wiederholte 8 und damit einen wichtigen Beitrag für die Durchsetzung des Satzes in Theorie und Praxis leistete. Eine deutsche Formulierung des »Nulla poena sine lege«-Satzes findet sich in der Revision von 1799. Die Stelle ist weiter unten (unter II.) abgedruckt. Wie sieht eine Strafpraxis aus, die den Satz »Keine Strafe ohne Gesetz« nicht kennt oder jedenfalls nicht anerkennt? Schaffstein hat das beschrieben. Kraft der Lehre von den »außerordentlichen Delikten« und verwandten Doktrinen waren die Richter des 18. Jahrhunderts weder an gesetzliche Straftatbestände noch an die gesetzlichen Strafrahmen gebunden. Es gab die »delicta extraordinaria« und den »stellionatus« »als Bezeichnung für diejenigen Delikte, die zwar nicht nach dem Gesetz, wohl aber nach richterlichem Ermessen strafbar waren.« Es gab weiter »die unbeschränkte Möglichkeit des Richters, die poena ordinaria beim Vorliegen besonders schwerer Umstände extraordinem beliebig zu verschärfen, der auf der anderen Seite ein praktisch unbeschränktes Milderungsrecht des Richters entsprach.« 9 Statt gesetzliche Straftatbestände und Strafrahmen anzuwenden, haben die Richter des 18. Jahrhunderts Kosten-Nutzen-Kalküle angestellt. 10 In dieser Situation schreibt Kant: »Richterliche Strafe (poena forensis) … kann niemals bloß als Mittel, ein anderes Gute zu befördern, für den Verbrecher selbst oder für die bürgerliche Gesellschaft, sondern muß jederzeit nur darum wider ihn verhängt werden, weil er verbrochen hat; denn der Mensch kann nie bloß als Mittel zu den Absichten eines anderen gehandhabt und unter die Gegenstände des Sachenrechts gemengt werden. … Er muß vorher strafbar befunden sein, ehe noch daran gedacht wird, aus dieser Strafe einigen Nutzen für ihn selbst oder seine Mitbürger zu ziehen«. 11 Nachweise unten Fn. 90. Schaffstein S. 39–43 (Hervorhebungen im Original). 10 Ich untersuche hier nicht, ob und wie sich die Situation veränderte, nachdem in Preußen (drei Jahre vor Kants Rechtslehre) das ALR in Kraft getreten war. Die von Schaffstein beschriebene Lage war Kant jedenfalls vertraut. 11 6:331,20–31 (Allg. Anm. E; Hervorhebungen im Original). – Das erste »muß« hat die Bedeutung von »darf« (Strafe darf nur verhängt werden). Kant verwendet das Wort »müssen« häufig mit der Bedeutung von »dürfen«, welche Bedeutung auch die ursprüngliche Bedeutung des Wortes ist; vgl. Heyne im Grimm’schen Wörterbuch, Art. »müssen«, Sp. 2750–2751. Das Wort wurde auch noch im 20. Jahrhundert mit 8 9
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III · Kant, Feuerbach und die Grundlagen des Strafrechts
Es ist offensichtlich, daß Kant sich hier gegen die Praxis wendet, die Schaffstein darstellt. Zweckmäßigkeitserwägungen dürfen nicht im Vordergrund stehen. Ihre Rolle ist auf jeden Fall eine untergeordnete. Vor allem können Mittel-Zweck-Überlegungen nicht den Grund für eine Bestrafung liefern, beispielsweise wegen der behaupteten Gefährlichkeit eines Menschen. Statt dessen fordert Kant, daß ein Mensch nur dann von einem Strafgericht verurteilt wird, wenn er ein Verbrechen begangen (Kant: etwas »verbrochen«) und sich damit »strafbar« gemacht hat. Es ist sinnvoll, sich schon an dieser Stelle klar zu machen, daß Kant sich hier einer Sprache bedient, die wir heute noch sprechen. Denn wir nehmen heute noch an, daß eine der Voraussetzungen für eine Verurteilung die Feststellung ist, daß der Täter ein Verbrechen (im weiten Sinn des Wortes) begangen und sich damit strafbar gemacht hat. 12 Was bei Kant »ein Verbrechen« heißt, findet sich wenige Zeilen vor der zitierten Stelle. Ein Verbrechen ist eine »Übertretung des öffentlichen Gesetzes«. 13 Dabei setzt Kant den Begriff eines Strafgesetzes voraus, wie wir ihn bei Achenwall finden. 14 Ein »Strafgesetz«, so Achenwall, ist ein »Gesetz, dem für den Fall einer Zuwiderhandlung eine ausdrückliche Strafe angehängt, d. h. ein Gesetz, das mit einer Strafsanktion bewehrt ist«. 15 Wenn also Kant an der hier zu interpretierenden Stelle sagt, daß ein Mensch nur dann und deswegen bestraft werden darf, wenn und weil »er verbrochen hat«, dann bedeutet das, daß eine (richterliche) Strafe nur dann zulässig ist, wenn der Täter ein öffentliches Gesetz, das Strafe androht, übertreten hat. dieser Bedeutung verwendet. Ich selbst habe eine Dame (eines Jahrgangs kurz nach 1900) gekannt, die den Satz »Das mußt du nicht tun« mit der Bedeutung von »Das darfst du nicht tun« benutzt hat. 12 Kant ist der erste, der diese Sprache spricht, die wir heute landauf, landab den JuraStudenten im ersten Semester zu vermitteln suchen. Vor diesem Hintergrund wirken die Invektiven gegen Kants »weil er verbrochen hat« und die damit angeblich verbundene angeblich absolute Straftheorie Kants nur noch peinlich. Besonders hervorgetan hat sich Ulrich Klug mit seinem Aufsatz »Abschied von Kant und Hegel« von 1968. S. dazu unten den Anhang. 13 6:331,7–10 (Allg. Anm. E). 14 Zur Bedeutung Achenwalls für Kants Rechtslehre näher Commentary S. 15–19. 15 Achenwall Iuris Naturalis pars posterior 5. Aufl. § 191 (= 19:411,29–31): Lex poenalis, »hoc est, cui in casum inoboedientiae adiecta poena expressa, seu quae sanctione poenali munita est.« Diesem Begriff entspricht es, wenn Kant von einem »Strafgesetz« spricht, das einem Täter »den Tod zuerkennt« (6:235,26–27; Anhang zur Einl. in die Rechtslehre II), d. h. die Todesstrafe androht.
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»Keine Strafe ohne Gesetz« bei Feuerbach
Denn nur dann hat der Mensch ein Verbrechen begangen und also etwas »verbrochen«. 16 Kant ist der erste, der den Rechtsstaat denkt. Das Wort »Rechtsstaat«, das zum Zeitpunkt der Abfassung der Rechtslehre noch nicht existiert, benutzt Kant freilich nicht. Statt dessen spricht er vom »rechtlichen Zustand«. 17 Der Begriff eines rechtlichen Zustandes impliziert die Öffentlichkeit des in diesem rechtlichen Zustand geltenden objektiven Rechts. Öffentlich ist das Recht, das offen zutage liegt, weil es promulgiert worden und damit für jedermann zugänglich ist. Kant: »Der Inbegriff der Gesetze, die einer allgemeinen Bekanntmachung bedürfen, um einen rechtlichen Zustand hervorzubringen, ist das öffentliche Recht«. 18 Ein »öffentliches Gesetz« ist danach ein Gesetz, das von einem Gesetzgeber in einem rechtlichen Zustand gegeben worden ist. Ist das Gesetz ein Strafgesetz, dann ist die Übertretung des Gesetzes ein Verbrechen im Sinne der von Kant gegebenen Definition. 19 Daraus folgt zwanglos der »Nulla poena sine lege«Satz. Nur dann, wenn sie ein Strafgesetz übertritt, kann eine Tat bestraft werden. Demgemäß heißt es schon in Kants Vorlesung über Achenwalls Naturrechtslehre von 1784: »Alle Strafe ist Zwang, aber nicht jeder Zwang ist Strafe. Strafe ist Zwang, der unter der Auctoritaet eines Gesetzes ist«. 20
II.
»Keine Strafe ohne Gesetz« bei Feuerbach
Im Anti-Hobbes greift Feuerbach Kants Gedanken auf, daß ein Mensch nur dann und nur deswegen bestraft werden kann, wenn Das ganz nüchterne »weil er verbrochen hat« wird, zusammen mit anderen Stellen, die genauso wie diese aus dem jeweiligen Zusammenhang gerissen werden, nicht nur von Klug (ob. Fn. 12), sondern auch sonst dazu verwendet, Kant eine »absolute« Straftheorie zu unterschieben. Vgl. nur Naucke (1962) S. 32, siehe auch S. 36. – Aus der neuesten Literatur s. Haas (2008) S. 182–191, der »Kants Straftheorie zwischen absolutem und relativem Strafbegriff« ansiedelt, und Mohr, »nur weil er verbrochen hat« (2009), der das »weil er verbrochen hat« im Sinne einer »Vergeltungstheorie der Strafe« versteht, die Richtigkeit dieser Annahme aber nicht untersucht, sondern voraussetzt. 17 Einzelheiten oben im ersten Kapitel und in Commentary S. 25–28. Siehe auch unten VII. 18 6:311,6–8 (§ 43). 19 6:331,7–10 (Allg. Anm. E). 20 27.2.2:1333,19–21. 16
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III · Kant, Feuerbach und die Grundlagen des Strafrechts
und »weil er verbrochen« (oder, in heutigem Deutsch, weil er ein Verbrechen begangen) hat. 21 Feuerbach weiß natürlich, daß sich das »weil er verbrochen hat« auf das berühmte Diktum des Seneca bezieht: »Nemo prudens punit quia peccatum est, sed ne peccetur« (Keiner, der klug ist, bestraft deswegen, weil ein Verbrechen begangen worden ist, sondern er bestraft, damit keine Verbrechen begangen werden). 22 Daran knüpft er an. In einem Exkurs zum Strafrecht 23 unterscheidet er zwischen der Androhung und der Zufügung von Strafe, 24 und er unterscheidet zwischen dem Zweck und dem Rechtsgrund der Androhung und dem Zweck und dem Rechtsgrund der Zufügung. Hier interessiert im Moment allein die Unterscheidung von Zweck und Rechtsgrund der Zufügung der Strafe. Der Zweck der Zufügung der Strafe besteht in nichts anderem »als darin, die Androhung selbst wirksam zu machen. … Die Strafe muß … exequirt werden, wenn die Drohung nicht ein leerer Schall und der Zweck unmittelbar zerstört werden soll, welcher durch sie beabsichtigt wird.« Dazu heißt es dann in einer Fußnote: »Die von den philosophischen Criminalisten so oft gebrauchte Sentenz des Seneca nemo prudens punit, quia peccatum est, sed ne peccetur ist daher in verschiedener Rücksicht wahr und falsch. Sie ist jenes, wenn sie auf den Zweck des Execution der Strafe; sie ist dieses, wenn sie auf den Rechtsgrund derselben bezogen wird.« 25 Das soll heißen: Der Zweck der Exekution der Strafe ist das »ne peccetur«, ihr Rechtsgrund aber ist das »quia peccatum est«. Der 21 Die 1. Auflage der Rechtslehre war spätestens Anfang Februar 1797 auf dem Markt. Denn die Rezension Bouterweks, die dies voraussetzt, ist in den Göttingschen Anzeigen vom 18. Februar 1797 erschienen (20:445,7–8). Vgl. auch Vorländer S. XIV. Feuerbachs Vorrede zum Anti-Hobbes S. XIX trägt das Datum vom 12. August 1797. Zwischen dem Erscheinen der Rechtslehre und der Beendigung der Arbeiten Feuerbachs am Anti-Hobbes liegen also mindestens sechs Monate. Kant wird im Anti-Hobbes zwar nicht im Zusammenhang mit der Seneca-Passage, sondern auf S. XVIII nur ganz allgemein erwähnt, trotzdem müssen wir davon ausgehen, daß Feuerbach die einschlägige »Allgemeine Anmerkung E« der Rechtslehre (6:331–337), die auch die oben (I.) wiedergegebene Stelle enthält, bei der Abfassung des Anti-Hobbes zur Kenntnis genommen hatte. – Auf die 2. Auflage der Rechtslehre von 1798 mit dem »Anhang erläuternder Bemerkungen« dagegen, wo Kant die lateinischen Ausdrücke »quia peccatum est« und »ne peccetur« (in der Rechtslehre) zum ersten Mal benutzt (dazu unten III.), konnte Feuerbach bei der Fertigstellung des Anti-Hobbes im August 1797 noch nicht zurückgreifen. 22 Seneca De ira 1, 19, 7. 23 Anti-Hobbes S. 201–237. 24 Anti-Hobbes S. 221 mit Fn. *. 25 Anti-Hobbes S. 225–227, Fn. * auf S. 226.
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»Keine Strafe ohne Gesetz« bei Feuerbach
Rechtsgrund der Strafzufügung besteht danach darin, daß der Täter ein Verbrechen begangen hat. In der Revision wird das noch einmal wiederholt: Mit Bezug auf die Exekution der Strafe ist der Satz des Seneca »durchaus falsch«. »Diese findet nicht darum statt, ne peccetur, sondern allein, quia peccatum est.« 26 Im Anti-Hobbes zieht Feuerbach noch nicht die Konsequenzen für seinen späteren »Nulla poena etc.«-Satz. Das geschieht erst in der Revision. In der Revision geht Feuerbach davon aus, daß die Strafgesetze dazu da sind, durch die Androhung von Strafe die potentiellen Täter von der Begehung von Straftaten abzuschrecken. 27 Diese Abschreckungsfunktion des Strafgesetzes bestimmt die »Natur der bürgerlichen Strafe«. Daraus folgt, als ein »Corollarium«, der »Nulla poena sine lege«-Satz. Feuerbach in der Revision: »Bürgerliche Strafe kann nur aus und nach einem Strafgesetze verhängt werden. In dem Strafgesetz und in der Uebertretung desselben durch die That liegt der einzige Grund zu der Zufügung des bürgerlichen Strafübels. Wo also gar kein Gesetz ist, da ist auch keine bürgerliche Strafe: wo das vorhandene Gesetz nicht anwendbar ist, da ist keine Strafe anwendbar.« 28 Die lateinische Formel findet sich dann, wie bereits gesagt, in der ersten Auflage des Lehrbuchs von 1801. Damit folgt Feuerbach der Linie, die Kant vorgezeichnet hat. Wenn der Rechtsgrund der Strafe allein darin besteht, daß der Täter ein Verbrechen begangen hat, dann bedeutet das, daß ein Mensch nur dann bestraft werden kann, wenn er ein Verbrechen begangen hat. Das aber wiederum bedeutet, wenn wir hinzunehmen, daß sich die Definitionen der Verbrechen allein aus dem Strafgesetz ergeben, daß ein Mensch nur dann bestraft werden kann, wenn er den Tatbestand eines Strafgesetzes erfüllt hat. Damit aber sind wir beim »Nulla poena etc.«-Satz angelangt. Nun kennt Feuerbach freilich, genauso wie Kant, die einschlägigen Stellen im Leviathan des Hobbes, in denen der Gedanke des Revision S. 61. Vgl. auch Revision S. 54 f., wo es heißt, daß »die begangene Handlung selbst wirklicher und zureichender Rechtsgrund des Uebels« sei. Das Übel »wird zugefügt bloß um des Verbrechens willen; weil ein solcher Mensch das Gesetz verletzt hat, und eine Verletzung des Gesetzes, welche durch ein solches Uebel bedingt war, nach Rechtsprincipien ein zureichender Grund ist, um ihn das Uebel wirklich leiden zu lassen.« 27 Revision S. 60. 28 Revision S. 63. Vgl. auch S. 131 Fn., wonach »keine Strafe ohne ein Gesetz gedacht werden kann.« 26
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III · Kant, Feuerbach und die Grundlagen des Strafrechts
»Nulla poena sine lege« bereits im 17. Jahrhundert ausgedrückt wird, 29 und alle drei (Hobbes, Kant, Feuerbach) kennen die Bemerkung im Römer-Brief des Paulus »Wo kein Gesetz ist, da gibt es auch keine Übertretung,« 30 aus der sich der »Nulla poena etc.«-Satz ableiten läßt. Zweifellos waren diese Kenntnisse für die Entwicklung des »Nulla poena sine lege«-Gedankens hilfreich. Doch setzt der Gedanke selbst eine klare Unterscheidung zwischen der gesetzlichen Strafandrohung einerseits und ihrer Verhängung und Zufügung durch den Richter und die Strafvollstreckungsorgane andererseits und damit die Unterscheidung und Trennung verschiedener Funktionen der Staatsgewalt voraus, die Hobbes und Paulus noch nicht kennen. Wie Feuerbach erklärt, ist die staatliche Strafgewalt »unter die gesetzgebende, richterliche und ausübende Gewalt nothwendig verteilt.« 31 Erst im Rechtsstaat bekommt der »Nulla poena sine lege«-Satz einen juristischen Gehalt.
III. Kants nachträglicher Kommentar zu dem »… weil er verbrochen hat« Kehren wir zu dem »weil er verbrochen hat« 32 zurück, das Kant im Kontext der Stelle benutzt, die wir oben (I.) wiedergegeben und interpretiert haben, und das eine Übersetzung des »quia peccatum est« ist. In der zweiten Auflage der Rechtslehre hält Kant es für zweckmäßig, den Charakter dieses »weil er verbrochen hat« noch einmal zu erörHobbes, im lateinischen Leviathan Cap. XXVII und XXVIII = Opera III S. 211, 212, 225: »Ubi lex non est, peccatum non est. … Cessantibus legibus civilibus cessant crimina.« (Wo kein Gesetz ist, das gibt es auch keine Verfehlung. Wenn die bürgerlichen Gesetze aufhören, hören auch die Verbrechen auf.) – »Quod ante legem latam factum est, crimen per legem illam fieri nequit. … Lex … post factum lata, quia cognosci non potuit, obligatoria non est.« (Was vor dem Erlaß eines Gesetzes geschah, kann nicht als ein Verbrechen angesehen werden, das diesem Gesetz entsprechend geschehen ist. … Ein Gesetz, das nach der Tat erlassen worden ist, ist, weil es nicht erkannt werden konnte, nicht verbindlich.) – »Ante legem, transgressio legis esse non potuit; poena autem factum supponit probatum et judicatum violationem legis esse.« (Vor einem Gesetz kann es keine Übertretung des Gesetzes geben; Strafe aber setzt eine erwiesene Tat voraus, die als eine Verletzung des Gesetzes zu beurteilen ist.) 30 Röm. 4, 15. 31 Revision S. 130–131 Fn., wo der Autor allerdings, anders als Kant, insgesamt vier Gewalten annimmt. 32 6:331,25 (Allg. Anm. E). 29
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Kants nachträglicher Kommentar zu dem »… weil er verbrochen hat«
tern. Im »Anhang erläuternder Bemerkungen« geht auch er, wie Feuerbach im Anti-Hobbes und in der Revision (siehe oben II.), ausdrücklich auf den Satz des Seneca ein. Die Stelle, um die es uns jetzt geht, lautet im Zusammenhang: »Die Strafgerechtigkeit (iustitia punitiva), da nämlich das Argument der Strafbarkeit moralisch ist (quia peccatum est), muß hier von der Strafklugheit, da es bloß pragmatisch ist (ne peccetur) und sich auf Erfahrung von dem gründet, was am stärksten wirkt, Verbrechen abzuhalten, unterschieden werden und hat in der Topik der Rechtsbegriffe einen ganz anderen Ort, locus iusti, nicht des conducibilis oder des Zuträglichen in gewisser Absicht, noch auch den des bloßen honesti, dessen Ort in der Ethik aufgesucht werden muß.« 33
Kant knüpft hier an die Argumentationstheorie seiner Zeit an. Mit der »Topik der Rechtsbegriffe« bezieht er sich auf die an die Topik des Aristoteles angelehnten Topoi-Kataloge (»topos« = »Ort«), die im 18. Jahrhundert noch im Gebrauch waren. Topoi-Kataloge stellen die nach den Vorstellungen ihrer jeweiligen Verfasser wichtigsten Grundbegriffe einer Disziplin zusammen und ordnen diese Grundbegriffe so, daß sie in jeder Situation, in der argumentiert wird, benutzt werden können. Topoi-Kataloge sind damit Hilfsmittel bei Diskussionen. Es gab sehr allgemeine Topoi-Kataloge als Hilfsmittel für Argumentationen über beliebige Themen und Topoi-Kataloge für einzelne Fächer, weshalb zwischen den loci communes (Gemeinörtern) und den spezielleren loci (Örtern) für besondere Fächer unterschieden wurde. 34 Kant denkt sich an der hier herangezogenen Stelle eine »Topik der Rechtsbegriffe«, also eine spezielle juristische Topik, in der die Strafgerechtigkeit und die Strafklugheit verschiedenen Örtern zugewiesen sind, die Strafgerechtigkeit dem »locus iusti« (wörtlich: dem »Ort des Gerechten«), die Strafklugheit dem »locus conducibilis« (in Kants Sprache wörtlich: dem »Ort des Zuträglichen« oder,
6:363,31–364,36 (Anh. erl. Bemerkungen 5 Fn. *). Loci communes sind naturgemäß sehr allgemein, und die Topoi-Kataloge für allgemeine Diskussionen wurden im 18./19. Jahrhundert so banal, daß der Ausdruck »Gemeinplatz« (d. i. die wörtliche Übersetzung von »locus communis«) die negative Konnotation bekommt, die er heute noch hat. Vgl. etwa Viehweg S. 6–26; Perelman/ Olbrechts-Tyteca S. 112–115; Primavesi/Kann/Goldmann Sp. 1263–1288. – Kant verwendet den Ausdruck »Gemeinplatz« noch in einem positiven Sinne, und er verwendet »locus communis« in einem weiteren Sinne, als wir oben voraussetzen (6:357,17– 32; Anh. erl. Bemerkungen 1).
33 34
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III · Kant, Feuerbach und die Grundlagen des Strafrechts
in heutiger Sprache, dem »Ort des Zweckdienlichen« oder »des Zweckmäßigen«). Unserer Stelle geht es ausdrücklich um »Argumente der Strafbarkeit«, d. h. um Argumente für die Strafbarkeit des Täters eines bestimmten Verbrechens. Zu unterscheiden ist, so Kant, zwischen der »Strafgerechtigkeit«, bei der »das Argument der Strafbarkeit moralisch ist,« und der »Strafklugheit«, bei der »es« (d. i. das Argument der Strafbarkeit) »bloß pragmatisch« ist. »Quia peccatum est« und »ne peccetur« sind solche Argumente der Strafbarkeit. Sie sind Argumente der Strafbarkeit, weil sie, mögen sie nun durchschlagende Argumente sein oder nicht, immer dann, wenn sie anwendbar sind, einen Grund dafür angeben, daß ein Mensch zu bestrafen sei. Das »quia peccatum est« behauptet, ein bestimmter Mensch sei zu bestrafen, wenn und weil er ein Verbrechen begangen hat; das »ne peccetur« behauptet, ein bestimmter Mensch sei zu bestrafen, wenn und weil es darum geht, daß kein (weiteres) Verbrechen begangen werde. Die Strafgerechtigkeit und damit das moralische Argument der Strafbarkeit (nämlich das »quia peccatum est«) haben in der Topik der Rechtsbegriffe deswegen einen anderen Ort als die Strafklugheit und damit das pragmatische Argument der Strafbarkeit (nämlich das »ne peccetur«), weil das Argument der Strafgerechtigkeit ein »moralisches«, das Argument der Strafklugheit dagegen ein »bloß pragmatisches« Argument ist. Wir müssen das Wort »moralisch«, das Kant hier gebraucht, richtig verstehen. Das Moralische steht dem Physischen gegenüber, Recht und Ethik gehören gleichermaßen zur Moral, weshalb Kant in der Metaphysik der Sitten sowohl die Rechtslehre als auch die Tugendlehre (die Ethik) behandelt. 35 Ein moralisches Argument ist danach ein Argument, das entweder in die Rechtslehre oder in die Ethik gehört, im Gegensatz zu einem pragmatischen Argument, das einen technischen Charakter hat (Welche Handlung muß ich vornehmen, um meinen Zweck Z zu erreichen?). Da er die Ethik an unserer Stelle ausschließt (dazu sogleich weiter unten), charakterisiert Kant mit dem Ausdruck »moralisch« das »quia peccatum est« als ein rechtliches Argument. Wenden wir uns dem »locus iusti« zu, dem im Kontext unserer Stelle eine Schlüsselrolle zukommt. »Locus iusti« weist zurück auf die »lex iusti« (wörtlich: das »Gesetz des Gerechten«). Die lex iusti 35
Zu diesem Begriff von »Moral« und »moralisch« vgl. Commentary S. 3–4.
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Kants nachträglicher Kommentar zu dem »… weil er verbrochen hat«
ist das Gesetz des äußerlich Rechten oder, mit anderen Worten, das Gesetz, das in einem konkreten rechtlichen Zustand (Rechtsstaat) maßgeblich ist. In einem konkreten rechtlichen Zustand maßgeblich ist einerseits das unaufhebbare Naturrecht, andererseits aber auch das in dem fraglichen Rechtsstaat gegebene postive Recht (wobei Kant als »positives Recht« nicht schon jedes beliebige Pseudo-Recht, sondern nur dasjenige statutarische Recht versteht, dem Verbindlichkeit zukommt, u. a. dann, wenn es dem Naturrecht nicht widerspricht). 36 Wir können das auch noch anders formulieren. Die lex iusti ist das Recht, mit dem sich (in einem Rechtsstaat) die Juristen befassen. Der Ausdruck »locus iusti« verweist auf diese lex iusti. Die lex iusti ist damit der Ort, wo es um reine Rechtsfragen geht. Wenn Kant also sagt, die Strafgerechtigkeit (und damit das moralische Argument der Strafbarkeit: »quia peccatum est«) gehöre in den locus iusti, dann meint er damit, daß es sich bei ihr (und bei diesem Argument) um eine rein juristische Angelegenheit handelt. Das »quia peccatum est« ist ein moralisches Argument, aber, so Kant ausdrücklich, es gehört nicht in den »locus honesti« (den »Ort des Ehrenhaften«, d. i. des ethisch Guten) und deshalb nicht in die Ethik. Infolgedessen ist es ein rechtliches Argument. Warum ist das »quia peccatum est« ein rechtliches Argument? Machen wir uns das an dem Beispiel der »Grundform des juristischen Schlusses« klar (die Terminologie nach Klug), welche »Grundform des juristischen Schlusses« Kant schlicht einen »praktischen Vernunftschluß« 37 nennen würde: 1) (Obersatz) Mörder sollen bestraft werden, 2) (Untersatz) A ist ein Mörder, 3) (Schlußsatz) A soll bestraft werden. 38 Das Argument »quia peccatum est« baut auf diesem Vernunftschluß auf. Es ist nichts anderes als eine Zusammenfassung dieses Schlusses. Es geht von dem Obersatz des Vernunftschlusses als einer allgemeinen Regel aus, subsumiert (im Untersatz) die Tat des A unter die Bedingung des Obersatzes und kommt zu dem Schluß, daß A zu bestrafen sei. A ist zu bestrafen, »weil er verbrochen hat«. Das ist eine rein juristische Angelegenheit.
Zum Begriff der lex iusti und über die Ableitungszusammenhänge, in denen die lex iusti steht, näher Commentary S. 52–54. 37 Zu den praktischen Vernunftschlüssen bei Kant vgl. Commentary S. 149–154. 38 Vgl. Klug Juristische Logik S. 47–48. 36
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III · Kant, Feuerbach und die Grundlagen des Strafrechts
IV. Das Legalitätsprinzip bei Feuerbach Gehen wir auf einen anderen rechtsstaatlichen Grundsatz ein, den wir u. a. bei Feuerbach finden. Das Legalitätsprinzip, das heute in §§ 152 Abs. 2, 160 StPO gesetzlich festgeschrieben ist, besagt bekanntlich, daß die Strafverfolgungsbehörden und die Gerichte verpflichtet sind, ihnen bekannt gewordene Straftaten zu verfolgen respektive abzuurteilen. In der Revision begründet Feuerbach das Legalitätsprinzip (das 1799 noch nicht diesen Namen hat) auf dem Wege über ganz allgemeine Überlegungen zum Strafrecht. Er fragt, wie der Staat den Bürgern die Überzeugung vermittelt, daß mit einem Verbrechen die auf das Verbrechen folgende Strafe notwendig verknüpft sei. 39 Die Vermittlung dieser Überzeugung geschieht auf der Grundlage von zwei hintereinander geschalteten Überlegungen: 1) Das Mittel, das die Überzeugung bei den Bürgern bewirken soll, muß, so Feuerbach, die fragliche »Ueberzeugung von der Nothwendigkeit der Verknüpfung des Uebels mit dem Verbrechen« selbst enthalten. 40 Dann heißt es weiter: »Hieraus folgt, daß die Verknüpfung des Uebels mit dem Verbrechen durch das Gesetz angedroht seyn müsse. Das Gesetz ist allgemein und nothwendig. Es spricht zu allen Bürgern, droht jedem, der sich des Verbrechens schuldig macht, die Strafe, und stellt diese Strafe, eben weil es ein Gesetz ist, als eine rechtlich-nothwendige Folge des Verbrechens dar. Wer diese Handlung thut, soll diese Strafe leiden; niemand der sie thut, darf der Strafe entgehen. Strafe und Verbrechen sind durch einander bedingt: niemand kann das Eine ohne das Andere wollen; niemand zu der gesetzwidrigen That sich bestimmen, ohne dem damit verknüpften Uebel sich zu unterwerfen.« 41
2) Das Gesetz, das die Strafe androht, allein genügt zur Vermittlung der fraglichen Überzeugung freilich noch nicht. Es muß auch durchgeführt werden. Feuerbach schreibt: »Aber mit dieser gesetzlichen Drohung allein ist noch nicht alles getan. Sie bestimmt zwar die absolute rechtliche Nothwendigkeit der Strafe; aber nach dieser rechtlichen Nothwendigkeit muß auch wirklich gehandelt werden. Das in dem Gesetz angedrohte Uebel muß auch überall eintreten, sobald die Beleidigung, welche es voraussetzt, wirklich vorhanden ist. Denn die 39 40 41
Revision S. 47. Revision S. 48–49. Revision S. 49.
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Das Legalitätsprinzip bei Feuerbach
gesetzliche Drohung soll den Willen bestimmen, dieses kann sie aber nicht, wenn sie nicht eine Drohung künftiger, nicht nur rechtlich-nothwendiger, sondern auch wirklich eintretender Uebel ist. In diesem Falle wäre sie eine leere Drohung, die niemand[es] Furcht erwecken, mithin auch nicht Triebfeder zur Bestimmung des Begehrens seyn könnte. Das Gesetz würde daher sich selbst widersprechen und so gut wie gar nicht vorhanden seyn. Damit nun also die Drohung des Gesetzes eine wirkliche Drohung sey; so muß sie, wenn der bedingte Fall eintritt, wirklich ausgeführt, das Uebel wirklich vollzogen werden.« 42
Es ist klar, daß das Legalitätsprinzip aus diesen Überlegungen folgt. Die gesetzlichen Strafandrohungen, sollen sie glaubwürdig sein, fordern, daß den Strafverfolgungsbehörden die Pflicht auferlegt wird, die begangenen Verbrechen auch zu verfolgen. In diesem Zusammenhang heißt es auch: »Das Gesetz sagt kategorisch, das Verbrechen soll mit dem Uebel verknüpft seyn.« 43 Der Satz besagt, daß die Strafe (das »Uebel«) mit dem Verbrechen ohne jede weitere Bedingung verbunden ist. Denn »kategorisch« bedeutet »unbedingt«. Danach ist der zitierte Satz – »Das Gesetz sagt kategorisch, das Verbrechen soll mit dem Uebel verknüpft seyn« – Feuerbachs Formulierung (genauer: eine von Feuerbachs Formulierungen) des Legalitätsprinzips. Das setzt natürlich voraus, daß das Strafgesetz zunächst einmal nicht so verstanden werden darf, daß es sich allein an die Bürger, sondern so verstanden werden muß, daß es sich in erster Linie an die Strafverfolgungsorgane und die Gerichte wendet. Genau das sagt Feuerbach ausdrücklich: Das Strafgesetz »bezieht sich … auf die Staatsbeamten, welche die richterliche Gewalt des Staats ausüben. Diesen legt es die vollkommene Verbindlichkeit auf, die Verbrechen nach ihm zu bestrafen und läßt sich in so ferne in zwei Propositionen auflösen: a) kein Verbrechen soll ohne die gesetzliche Strafe seyn; oder das Strafübel ist die Bedingung des Verbrechens (nullum crimen sine poena legali). b) Die gesetzliche Strafe soll nicht ohne das Verbrechen seyn, oder: die Bedingung (der nothwendige Grund) der Strafe ist allein das Verbrechen (nulla poena legalis sine crimine).« 44 Um Mißverständnissen vorzubeugen: Das Strafgesetz bezieht sich mittelbar natürlich auch 42 Revision S. 50. – Das Wort »Beleidigung« (wörtlich übersetzt: »Leidzufügung«) hat im 18. Jahrhundert eine weitere Bedeutung als heute und meint »Rechtsverletzung« (laesio) schlechthin. 43 Revision S. 55. 44 Revision S. 148.
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III · Kant, Feuerbach und die Grundlagen des Strafrechts
auf die »möglichen Verbrecher«. 45 Seine primären Adressaten aber sind die Gerichte (und die Strafverfolgungsorgane). Die erste der beiden Propositionen, in die sich das Strafgesetz (nach Feuerbach) auflösen läßt, ist die, daß kein Verbrechen ohne die gesetzliche Strafe sein soll, oder, lateinisch: »Nullum crimen sine poena legali« (Kein Verbrechen ohne die gesetzliche Strafe). Mit der Formulierung, »das Strafübel« sei »die Bedingung des Verbrechens«, stellt Feuerbach die gesetzliche Strafe als eine notwendige Bedingung für das (mit dieser Strafe bedrohte) Verbrechen dar, woraus folgt, daß das Verbrechen eine hinreichende Bedingung für die Strafe ist, 46 was seinerseits mit dem Grundsatz »Nullum crimen sine poena legali« gleichbedeutend ist. In der Tat folgt der Satz schon aus dem Strafgesetz selbst, das sich an die Richter (und die Strafverfolgungsorgane) wendet, denen es gebietet, Verbrechen zu bestrafen. Er ist nichts anderes als ein Hinweis auf das »Sollen«, das an die Richter (und Strafverfolgungsorgane) gerichtet ist, oder, mit anderen Worten, er ist eine weitere (Feuerbachs zweite) Formulierung des Legalitätsprinzips. – Der zweiten Proposition, die Feuerbach aus dem Strafgesetz gewinnt, werden wir uns weiter unten (unter VI.) zuwenden.
V. Das Legalitätsprinzip bei Kant Mit den unter IV. vorgetragenen Überlegungen knüpft Feuerbach an die Rechtslehre an, in der Kant das Legalitätsprinzip zum ersten Male mit den Worten formuliert: »Das Strafgesetz ist ein kategorischer Imperativ«. 47 Auch Kant setzt voraus, was Feuerbach ausdrücklich sagt, daß nämlich die Strafverfolgungsorgane und die Gerichte die eigentlichen Adressaten des Strafgesetzes sind. Schon in Hobbes’ Leviathan heißt es: »Die Strafgesetze bestimmen die den Übertretern der Gesetze gebührenden Strafen und sind allein an die öffentlichen Diener gerichtet, denen die Vollziehung der Strafen obliegt.« 48 Das ist für Kant, der den Leviathan genau kennt, eine Selbstverständlichkeit, Revision S. 149. Feuerbach wendet hier die Regel an »Stets dann, wenn p eine notwendige Bedingung für q ist, ist q eine hinreichende Bedingung für p.« Zu diesem Verhältnis von notwendiger und hinreichender Bedingung vgl. Klug Juristische Logik S. 44. 47 6:331,32–33 (Allg. Anm. E). – Zur Literatur vgl. meinen Beitrag ZStW 2003 S. 218; Altenhain S. 11–12. Vgl. auch Byrd/Hruschka Juristenzeitung 2007 S. 960–962. 48 Hobbes (lateinischer) Leviathan Cap. XXVI = Opera III S. 207: »[Leges] poenales 45 46
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Das Legalitätsprinzip bei Kant
zumal das Allgemeine Landrecht für die preußischen Staaten von 1794 (also drei Jahre vor Kants Rechtslehre), Strafbestimmungen als kategorische Imperative formuliert, etwa in II 20 § 826 ALR, der lautet: »Derjenige, welcher mit vorher überlegtem Vorsatze zu tödten einen Totschlag wirklich verübt, soll als ein Mörder mit der Strafe des Rades von oben herab belegt werden.« Kehren wir noch einmal zu der »Grundform des juristischen Schlusses«, dem »praktischen Vernunftschluß« zurück, den wir oben (unter III.) angesprochen haben. Wenn Kant davon spricht, das Strafgesetz sei ein kategorischer Imperativ, dann müssen wir das als einen Hinweis auf den Obersatz dieses Vernunftschlusses (»Mörder sollen bestraft werden«) verstehen, der eben ein kategorischer, d. i. ein unbedingter Imperativ ist, im Gegensatz zu den hypothetischen Imperativen, die unter einer Bedingung stehen (etwa: Wenn du einen Nagel in die Wand schlagen willst, dann mußt du die Spitze und nicht den Kopf des Nagels an die Wand halten. Oder: Wenn du nicht bestraft werden willst, dann solltest du es unterlassen, einen anderen Menschen zu töten). 49 Obwohl Feuerbach Kants Formulierung wörtlich wiedergibt, 50 darf doch ein Unterschied zwischen Kant und Feuerbach nicht übersehen werden. Feuerbachs Begründung für das Legalitätsprinzip ist u. a. die Glaubwürdigkeit der gesetzlichen Strafdrohungen. Mit diesem Gesichtspunkt kann Kant nicht arbeiten. Denn damit werden die (richterliche) Verhängung der Strafe und ihre Vollstreckung an dem jeweiligen Delinquenten zum Mittel für den Zweck gemacht, potentielle spätere Verbrecher in der Furcht zu erhalten, die von den (gesetzlichen) Strafdrohungen geweckt wird. Utilitaristische Überlegungen dieser Art kann es in einer reinen Rechtslehre nicht geben. Kants Satz »Das Strafgesetz ist ein kategorischer Imperativ« ist deshalb ein beschreibender, ein klarstellender Satz und nicht etwa eine Vorschrift oder Norm. Der Satz teilt uns lediglich mit, was wir aus II 20 § 826 ALR und anderen ähnlichen Vorschriften ohnehin schon wissen, nämlich daß die Strafverfolgungsbehörden und die Gerichte die Verbrecher bestrafen sollen und also kraft dieser Vorschriften verpflichsunt, quae poenas violatoribus legum infligendas definiunt, quaeque ministros, quorum officium est poenas exequi, solos alloquuntur.« 49 Naucke nimmt auf S. 31 an, daß das Strafgesetz als ein kategorischer Imperativ mir etwas gebiete. Mit Bezug auf den Bürger ist das Strafgesetz jedoch nicht ein kategorischer, sondern ein hypothetischer Imperativ. 50 Revision S. 141 Fn.
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tet sind, die Täter zu verfolgen und abzuurteilen. § 152 Abs. 2 StPO und andere Normen, aus denen sich die Verfolgungs- und Verurteilungspflicht der Behörden und Gerichte ergibt, brauchen wir heute nur deswegen, weil unsere Strafgesetze in einer pseudo-deskriptiven Sprache abfaßt sind (»Wer tötet, wird bestraft«) und also nicht wie Normen aussehen, sondern in dieser Form eher in eine ethnographische Arbeit als in das Strafgesetzbuch gehören. 51
VI. »Es kan niemand gestraft werden als nach bewiesenem Verbrechen« Der in der Überschrift wiedergegebene Satz 52 ist eine Bemerkung Kants zur Unschuldsvermutung, wie sie von Achenwall im Ius Naturae formuliert wird. 53 Die Unschuldsvermutung setzt voraus, daß die Schuld des Angeklagten zu beweisen ist, woraus folgt, daß niemand bestraft werden kann, wenn seine Tat nicht bewiesen ist. Die Unschuldsvermutung gehört zum Gemeingut der Rechtsphilosophie der Aufklärung. Ihre bekannteste Fassung ist die Pufendorfs, die auch Kant in der Rechtslehre (teilweise) wiedergibt: »Quilibet praesumitur bonus, donec probetur contrarium« (Jedermann wird als gut vermutet, bis das Gegenteil bewiesen ist). 54 Kant arbeitet einerseits mit der Unschuldsvermutung, andererseits mit dem Begriff der Unbescholtenheit. Unbescholtenheit ist ein Moment des ursprünglichen Freiheitsrechts. Infolgedessen kommt die »Qualität eines unbescholtenen Menschen (iusti)« »jedermann von Natur zu«. 55 Das soll heißen: Jedermann ist von Natur aus als Kant bringt Beispiele für die Anwendung des Legalitätsprinzips, das Beispiel des Verbrechers, der gefährliche Experimente an sich vornehmen läßt, um der Strafe zu entgehen (6:332,3–10; Allg. Anm. E), und das Insel-Beispiel (6:333,17–25; ebenfalls Allg. Anm. E), aus dem sich ergibt, daß ein Staat sich nicht auflösen darf, ohne dem Legalitätsprinzip Genüge getan zu haben. Dazu ist an anderer Stelle Ausreichendes gesagt worden, was hier nicht wiederholt zu werden braucht. Vgl. Byrd/Hruschka Juristenzeitung 2007 S. 961 f. Es gehört ebenfalls hierher, daß Kant sich gegen mögliche Begnadigungen von verurteilten Verbrechern wendet (6:337,9–20; Allg. Anm. E II); dazu Juristenzeitung 2007 S. 959. 52 19:413,3–4 (R. 7491). 53 Achenwall Iuris Naturalis pars posterior 5. Aufl. § 198 (= 19:413,28–34). 54 Vgl. 6:301,15–16 (§ 39), wo Kant die letzten beiden Wörter durch ein »etc.« ersetzt. Im übrigen vgl. meinen Beitrag »Die Unschuldsvermutung« ZStW 2000 passim. 55 Vgl. einerseits 6:238,1–3, andererseits 6:237,12–20 (Einteilung der Rechtslehre B). 51
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»Es kan niemand gestraft werden als nach bewiesenem Verbrechen«
ein »gerechter« Mensch (»iustus«) anzusehen, d. i. als jemand der tut, »was nach äußeren Gesetzen recht ist«. 56 Ausdrücklich hebt Kant hervor, daß es dabei um die Frage geht, wem, bei einer »bezweifelten Tat«, »die Beweisführung (onus probandi) obliege.« Kraft der Qualität eines unbescholtenen Menschen kann derjenige, der eine »Verbindlichkeit von sich ablehnt«, sich »auf sein angeborenes Recht der Freiheit« und damit auf seine Unbescholtenheit berufen. 57 Feuerbach arbeitet nicht mit der Unschuldsvermutung. Aber auch er kennt den Grundsatz, daß niemand bestraft werden kann als nach bewiesenem Verbrechen. In der Revision leitet Feuerbach den Grundsatz aus dem »Nulla poena sine lege«-Satz ab. Im Anschluß an die deutschsprachige Fassung des »Nulla poena etc.«-Satzes 58 heißt es: »Ein vorhandenes Gesetz ist nicht anwendbar, wenn die Bedingungen, an welche die Strafe als rechtliche Folge geknüpft ist, entweder gar nicht vorhanden, oder nicht erwiesen sind. Denn die Strafe ist nicht unbedingt festgesetzt, sondern ist an das Verbrechen als eine Bedingung geknüpft. Es giebt daher keine ausserordentliche Strafe bei unvollkommenem Beweis. Ein unvollkommener Beweis besteht in solchen Gründen für die Existenz des Verbrechens, welche nicht alle die Eigenschaften haben, die ein Gesetz zur vollkommenen Gewißheit erfordert. Da nun Strafe schlechterdings nach dem Gesetz erkannt werden muß; und eine Strafe nur nach dem Gesetz erkannt werden kann, wenn die Voraussetzung, die der rechtliche Grund der Strafe seyn soll, vorhanden ist; durch einen unvollkommenen Beweis aber, die Existenz jener Bedingung nicht festgesetzt ist; so folgt auch, daß das Strafgesetz bey unvollkommenem Beweis der Voraussetzung nicht statt finden, mithin auch keine Strafe erkannt werden könne.« 59
Weil es ohne ein Gesetz keine Strafe gibt, jedes Gesetz aber neben der zu verhängenden Strafe auch die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Strafe formuliert, kann es keine Strafe nach diesem Gesetz geben, wenn die tatbestandlichen Voraussetzungen nicht erfüllt sind. Daraus folgt, daß stets dann, wenn der zuständige Richter zu der Auffassung gelangt, es sei nicht bewiesen, daß die tatbestandlichen Vor-
Vgl. 6:224,7–8 (Einl. in d. MdS IV.). 6:238,12–20 (Einteilung d. Rechtslehre II). Vgl. auch Commentary S. 82–83. 58 Revision S. 63, oben (unter II.) abgedruckt. 59 Revision S. 63 f. – Beiläufig sei darauf hingewiesen, daß Feuerbach sich hier gegen »außerordentliche« Strafen wendet. Zu dem Strafensystem des 18. Jahrhunderts, das außerordentliche Strafen kennt, siehe oben Text zu Fn. 9. 56 57
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aussetzungen erfüllt sind, er auch keine Strafe nach dem Gesetz verhängen kann. An einer anderen Stelle in der Revision arbeitet Feuerbach mit der Proposition, deren Bedeutung wir oben IV. offen gelassen haben: »Die gesetzliche Strafe soll nicht ohne das Verbrechen seyn, oder: die Bedingung (der nothwendige Grund) der Strafe ist allein das Verbrechen (nulla poena legalis sine crimine).« 60 Der lateinische Satz bedeutet: »Keine gesetzliche Strafe ohne ein Verbrechen.« Im Lehrbuch wird der Gedanke etwas schärfer formuliert: »Die Zufügung einer Strafe ist bedingt durch die Existenz der bedrohten Handlung (Nulla poena sine crimine).« 61 Das soll heißen: Die Richter (und die Beamten der Strafvollstreckungsbehörden) können eine gesetzliche Strafe nur dann verhängen (zufügen), wenn sie die »Existenz« eines Verbrechens festgestellt haben. Denn nur dann, wenn ein Verbrechen »in concreto« 62 begangen worden ist, ist eine Strafe fällig. In der Sache stimmt Feuerbach mit Kant überein, wenn auch das Fehlen der Unschuldsvermutung (für uns) ungewohnt und Feuerbachs Lehrsatz »Nulla poena sine crimine« möglicherweise weniger handlich ist als die Unschuldsvermutung.
VII. Zur Funktion des Strafrechts in einem Rechtsstaat Im »Anhang erläuternder Bemerkungen« zur zweiten Auflage der Rechtslehre kommentiert Kant nicht nur das »… weil er verbrochen hat«, sondern er faßt auch mit einem Satz seine wesentlichen Vorstellungen zum Strafrecht zusammen: »Die bloße Idee einer Staatsverfassung unter Menschen führt schon den Begriff einer Strafgerechtigkeit bei sich, welche der obersten Gewalt zusteht.« 63 Von einem (Rechts-)Staat können wir nur dann reden, wenn wir eine »oberste Gewalt« haben. »Oberste Gewalt meint dabei nicht jede beliebige faktische Gewalt über Menschen (violentia), sondern »oberste Gewalt« ist eine Macht über Menschen (potestas), die Rechtscharakter hat. 64 Der Begriff einer obersten Gewalt aber und der einer StrafgerechtigRevision S. 148. Der volle Text unten VIII. 62 Revision S. 147. 63 6:362,31–33 (Anh. erl. Bemerkungen 5; Hervorhebung im Original). 64 Kant unterscheidet zwischen zwei verschiedenen Begriffen von Gewalt, nämlich zwischen »Gewalt (violentia)« (6:307,13; § 42) und »Gewalt (potestas)« (etwa 60 61
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Zur Funktion des Strafrechts in einem Rechtsstaat
keit oder, wie wir heute sagen würden, der Begriff einer »Strafjustiz«, d. i. einer menschlichen Strafgerichtsbarkeit, implizieren einander. 65 Nicht nur ist es so, daß der (Rechts-)Staat eine notwendige Bedingung für eine (menschliche) Strafgerechtigkeit ist, sondern es ist auch so, daß eine (menschliche) Strafgerechtigkeit eine notwendige Bedingung für eine oberste Gewalt und einen Rechtsstaat ist. Oder, mit anderen Worten: Es ist nicht nur so, daß Strafe nur im Verhältnis einer obersten Gewalt gegen die einzelnen im Volk gedacht werden kann, 66 sondern es ist auch so, daß nur dann, wenn die oberste Gewalt eine Strafgerechtigkeit einrichtet und unterhält, wir von einer obersten Gewalt und einem Rechtsstaat sprechen können. Vom Rechtsstaat und seinen Leistungen spricht Kant an einer anderen Stelle in der Rechtslehre. »Der rechtliche Zustand ist dasjenige Verhältnis der Menschen untereinander, welches die Bedingungen enthält, unter denen allein jeder seines Rechts teilhaftig werden kann.« 67 Das ist der ganze Sinn eines rechtlichen Zustandes (Rechtsstaats): Daß jeder seines Rechts teilhaftig werden kann. Das soll heißen: Daß jedem die Rechte, die er hat, nicht nur nominell zustehen, sondern daß jedermann diese seine Rechte auch ausüben kann. Auch im Naturzustand haben wir Rechte, 68 aber diese Rechte sind noch »provisorisch (einstweilig)«. Die Funktion eines rechtlichen Zustandes ist es, unsere Rechte auch zu »peremtorischen (gesicherten)« Rechten zu machen. 69 Eine »bürgerliche Verfassung«, so heißt es einmal, »ist allein der rechtliche Zustand, durch welchem jedem das Seine … gesichert … wird.« 70 Deshalb haben wir die (Rechts-)Pflicht, aus dem Naturzustand herauszugehen und in einen rechtlichen Zustand einzutreten. Dieses Gebot, das er »Postulat des 6:318,4; § 49), von denen sich die erste als rohe Gewalt, d. i. als tatsächliche physische Macht, die zweite als rechtliche Macht über Menschen beschreiben läßt. 65 Dazu, daß »Strafgerechtigkeit« (»Kriminalgerechtigkeit«) bei Kant die (rechtsstaatliche) Strafjustiz meint, siehe besonders deutlich 6:331,10–11 (Allg. Anm. E). Vgl. auch oben das erste Kapitel Abschn. VI u. VII und Commentary S. 38–39, wo jeweils gezeigt wird, daß die iustitia distributiva eine Allegorie für die (rechtsstaatliche) Gerichtsbarkeit ist. 66 Vgl. etwa 6:347,11–12 (§ 57), wo es heißt, Strafe finde »nur im Verhältnisse eines Obern (imperantis) gegen den Unterworfenen (subditum) statt« (Hervorhebung von mir). 67 6:305,34–306,1 (§ 41; Hervorhebung im Original). 68 Etwa 6:313,5–8 (§ 44). 69 Terminologie nach 6:292,28–30 (§ 33; Hervorhebung von mir). 70 6:256,27–29 (§ 9; Hervorhebung von mir).
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öffentlichen Rechts« nennt, 71 gibt Kant in verschiedenen Formulierungen wieder, von denen eine lautet: »Tritt in einen Zustand, worin jedermann das Seine gegen jeden anderen gesichert sein kann.« 72 Wir treten in einen rechtlichen Zustand um der Sicherung unserer Rechte willen ein. Dabei begeben wir uns des Rechts auf die Anwendung von Gewalt zur Durchsetzung unserer Rechte. Statt dessen übernimmt der Rechtsstaat die Sicherung dieser Rechte. Zur Sicherung der Rechte der Staatsbürger und aller anderen Personen, die sich in einem (konkreten) rechtlichen Zustand befinden, aber gehört die Einrichtung einer »Strafgerechtigkeit«. Auch für die Strafgerechtigkeit gilt, was Kant im Zusammenhang mit seinen Ausführungen zum rechtlichen Zustand schreibt, daß man den »Gerichtshof selbst die Gerechtigkeit eines Landes nennt, und, ob eine solche sei oder nicht sei, als die wichtigste unter allen rechtlichen Angelegenheiten gefragt werden kann.« 73 Gehen wir über zu Feuerbach. Über den Zweck des Staates heißt es in der Revision: »Der Zweck des Staates ist die wechselseitige Freiheit aller Bürger, oder, mit anderen Worten, der Zustand, in welchem jeder seine Rechte völlig ausüben kann, und vor Beleidigungen sicher ist. Jede Beleidigung widerspricht daher der Natur und dem Zweck des bürgerlichen Vereins.« 74 Abgesehen davon, daß er dabei von Kants Freiheitsbegriff ausgeht, 75 definiert Feuerbach hier den rechtlichen Zustand als einen Zustand, »in welchem jeder seine Rechte völlig ausüben kann, und vor Beleidigungen sicher ist.« 76 Das genau ist Kants Position. Weiter führt Feuerbach aus: Der »Schutz der Rechte« seiner Bürger ist der Zweck des Staates. 77 Aus diesem Zweck des Staates ergibt sich auch die Antwort auf die Frage, warum dem Staat überhaupt eine Strafgewalt zukommt. »Der Grund der strafenden Gewalt ist die Sicherung vollkommener Rechte.« 78 Auch das ist Kants Position. Die Übereinstimmungen zwischen Kant und Feuerbach sind 6:307,8–9 (§ 42). 6:237,7–8 (Einteilung der Rechtslehre A; Hervorhebung von mir). 73 6:306,14–16 (§ 41). Wenn wir bei dem Wort »Gerechtigkeit« das Wort »Justiz« mitdenken, dann wird die Stelle dem heutigen Leser klarer. Dazu oben das erste Kapitel Abschn. VI. 74 Revision S. 39. Zum Ausdruck »Beleidigung« siehe oben Fn. 42. 75 Revision S. 26 76 In Revision S. 66 spricht Feuerbach selbst vom »rechtlichen Zustand«. 77 Revision S. 31. 78 Revision S. 65. 71 72
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Zur Funktion des Strafrechts in einem Rechtsstaat
auch kein Zufall. Feuerbach ist ein Anhänger Kants, und er macht keinen Hehl daraus. An verschiedenen Stellen der Revision verweist er ausdrücklich auf die Rechtslehre, 79 und er hat auch den Kommentar zur Rechtslehre von Jacob Sigismund Beck benutzt. 80 Über das bisher Gesagte hinaus unterscheidet Feuerbach, wie wir oben II. gesehen haben, zwischen dem »Zweck der Androhung der Strafe«, der in der »Abschreckung« der potentiellen Verbrecher besteht, 81 und dem »Zweck der Zufügung derselben«. 82 Hier weicht Feuerbach insofern von der Position Kants ab, als Kant der Zufügung der Strafe keinen besonderen Zweck zuschreibt und das auch nicht tun kann (siehe oben V.). Die Abweichung ist Feuerbach vielleicht bewußt, möglicherweise sieht er sie (die Abweichung) aber auch nicht, zumal er sie nicht diskutiert. Sieht man von der Abweichung ab, dann passen Feuerbachs Ausführungen zu Androhung und Zufügung von Strafe durchaus in das Bild, das Kant vom Rechtsstaat (vom rechtlichen Zustand) zeichnet. Vor allem: Auch Kant geht für die gesetzliche Strafandrohung von einer Abschreckungstheorie aus. Das wird bei seinen Ausführungen zu dem klassischen Schulfall, dem Brett des Karneades, deutlich. Zum Brett-Fall heißt es ausdrücklich, das »Strafgesetz« könne »die beabsichtigte Wirkung« (nämlich den Schiffbrüchigen von der Tötung des Schicksalsgenossen abzuhalten) »gar nicht haben«. »Denn die Bedrohung mit einem Übel, was noch ungewiß ist, (dem Tode durch den richterlichen Ausspruch) kann die Furcht vor dem Übel, was gewiß ist, (nämlich dem Ersaufen) nicht überwiegen.« 83 Entscheidend ist hier die Bemerkung, daß das Strafgesetz eine Wirkung beabsichtigt. Kant stellt keine weiteren Überlegungen zur Abschreckungstheorie an, weil die Abschreckungstheorie sich aus der Aufgabe des Rechtsstaats, die Rechte der Bürger zu sichern, von selbst ergibt. Daß Kant von der Abschreckungstheorie ausgeht, heißt nicht, daß Feuerbach diese Theorie gerade von Kant übernimmt. Es bedeutet lediglich das, was wir oben gesagt haben: Feuerbachs Ausführungen zu Androhung Im ersten und zweiten Kapitel der Revision siehe S. 35, 48, 141. Revision S. 39. An der von Feuerbach herangezogenen Stelle sieht Beck (S. 450) richtig, daß Kants Strafrechtslehre u. a. dahin geht, daß auf die »Uebertretungen der Gesetze« vom Staat »Strafen bestimmt« werden, »damit keine Verbrechen existiren« (Hervorhebung von mir). 81 Revision S. 59–60. 82 Revision S. 56. 83 6:235,26–35 (Anh. z. Einl. in die Rechtslehre II; Hervorhebungen im Original). 79 80
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und Zufügung von Strafe passen in das Bild, das Kant vom rechtlichen Zustand zeichnet, hinein. Bei der Lektüre von Kants Ausführungen zum Brett des Karneades kann Feuerbach keine Schwierigkeiten gehabt haben. Für die Differenz von Androhung und Zufügung von Strafe und die damit verbundene Abschreckungstheorie haben Kant und Feuerbach in dem Naturrechtskompendium von Gottfried Achenwall, das in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Deutschland weit verbreitet war, 84 eine gemeinsame Quelle. 85 Nicht nur Kant, auch Feuerbach kennt die einschlägigen Schriften Achenwalls. 86 Achenwall unterscheidet zwei Mittel, die der Staat einsetzt, damit »jedem von jedem sein Recht gegeben wird«. Das erste und primäre Mittel ist die Herbeiführung von Furcht, das zweite und subsidiäre Mittel ist die Vornahme des angedrohten Zwangsakts selbst. 87 Ausdrücklich gibt Achenwall die Abschreckung von Straftaten als den Zweck der staatlichen Strafdrohungen an. 88 Achenwall äußert sich auch zu der Frage, warum im Falle einer Gesetzesübertretung Strafe zugefügt wird, und zwar sagt er, der Verbrecher werde wegen der Übeltat bestraft. 89 Diese letztere Bemerkung erlaubt in ihrer Allgemeinheit nicht nur Kants These, das Verbrechen allein sei der Grund der Bestrafung des Verbrechers (»weil er verbrochen hat«), sondern auch Feuerbachs These, mit der aktuellen Bestrafung einer Person sei auch der Zweck verbunden, die gesetzliche Strafandrohung wirksam zu machen. Vgl. dazu etwa Schröder/Pielemeier S. 261, wo gezeigt wird, daß Achenwalls Naturrechtskompendium in Deutschland häufig Gegenstand von Vorlesungen war. 85 Vgl. bereits meinen Beitrag über »Strafe und Strafrecht bei Achenwall« in Juristenzeitung 1987. 86 Siehe die Kritik des natürlichen Rechts S. 204 Fn., wo Feuerbach Achenwalls Ius Naturae zitiert. Auch in der Revision (S. 80 Fn. ***) verweist Feuerbach auf Achenwall. 87 Achenwall Prolegomena 2. Aufl. § 129 (S. 121–122). 88 Achenwall Iuris Naturalis pars posterior 5. Aufl. § 40 (= 19:347,14–15), wo es zu den Strafdrohungen heißt: »ut nempe proposito malo a transgressione legum absterreantur« (daß sie [die Untertanen] nämlich durch das vorgestellte Übel von der Übertretung der Gesetze abgeschreckt werden) (Hervorhebung von mir). Vgl. auch § 118 (= 19:383,13), wo es heißt: »ut ab earum transgressione sufficiter deterreantur« (daß sie von der Übertretung der Gesetze genügend abgeschreckt werden). 89 Iuris Naturalis pars posterior 5. Aufl. § 40 (= 19:347,15–17): »Consistit … poena … in malo, quod superior infligit inferiori ob eius maleficium.« (Die Strafe besteht aus einem Übel, das der Oberherr dem Untergebenen wegen dessen Übeltat zufügt.) (Hervorhebung von mir). 84
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Feuerbachs Zusammenfassung der rechtsstaatlichen Grundsätze des Strafrechts
VIII. Feuerbachs Zusammenfassung der rechtsstaatlichen Grundsätze des Strafrechts Den Höhepunkt von Feuerbachs Überlegungen zu den rechtsstaatlichen Grundsätzen des Strafrechts, die wir hier behandelt haben, finden wir nicht im Anti-Hobbes oder in der Revision, sondern im Lehrbuch. Feuerbach beschreibt dort einen Zusammenhang »höchster Principien des peinlichen Rechts«. Der Zusammenhang besteht in einem einzigen höchsten Prinzip und drei daraus folgenden, »keiner Ausnahme unterworfenen«, untergeordneten Grundsätzen. Das höchste Prinzip ist das folgende: »Jede rechtliche Strafe im Staat ist die Folge eines, durch die Nothwendigkeit der Erhaltung äusserer Rechte begründeten, und eine Rechtsverletzung mit einem sinnlichen Uebel bedrohenden, Gesetzes.«
Die untergeordeten Grundsätze lauten: »I. Jede Zufügung einer Strafe setzt ein Strafgesetz voraus. (Nulla poena sine lege). Denn lediglich die Androhung des Uebels durch das Gesetz begründet den Begriff und die rechtliche Möglichkeit einer Strafe. II. Die Zufügung einer Strafe ist bedingt durch die Existenz der bedrohten Handlung. (Nulla poena sine crimine). Denn durch das Gesetz ist die gedrohte Strafe an das Factum als eine rechtlich nothwendige Voraussetzung geknüpft. III. Das gesetzlich bedrohte Factum (die gesetzliche Voraussetzung) ist bedingt durch die gesetzliche Strafe. (Nullum crimen sine poena legali). Denn durch das Gesetz wird an die bestimmte Rechtsverletzung das Uebel als eine nothwendige rechtliche Folge geknüpft.«
An diesem höchsten Prinzip und den drei untergeordneten Grundsätzen hält Feuerbach in allen elf Auflagen seines Lehrbuchs fest. 90 Das höchste Prinzip faßt nicht nur Feuerbachs Strafrechtstheorie zusammen, sondern, soweit es reicht, gibt das höchste Prinzip Feuerbachs auch Kants Strafrechtslehre korrekt wieder.
Mir standen die folgenden Auflagen des Lehrbuchs zur Verfügung: 1. Aufl. 1801 S. 20; 2. Aufl. 1803 S. 19 f.; 3. Aufl. 1805 S. 20; 5. Aufl. 1812 S. 21 f.; 6. Aufl. 1818 S. 23 f.: 7. Aufl. 1820 S. 23 f.; 9. Aufl. 1826 S. 22 f.; 10. Aufl. 1828 S. 18; 11. Aufl. 1832 S. 19. Die oben wiedergegebenen Passagen sind (auf den angegebenen Seiten) in der 1. Auflage in den §§ 23, 24, ab der 2. Auflage jeweils in den §§ 19, 20 des Lehrbuchs enthalten. Die Hervorhebungen im Original. Ab der 7. Auflage sind die Wörter »die Existenz« durch »das Daseyn« und die Wörter »das […] Factum« (zweimal) durch »die […] That« ersetzt.
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III · Kant, Feuerbach und die Grundlagen des Strafrechts
Die drei »untergeordneten Grundsätze« Feuerbachs sind (in der Reihenfolge des Lehrbuchs) der »Nulla poena sine lege«-Satz, der Grundsatz, daß das Verbrechen bewiesen sein muß, ehe eine Strafe verhängt werden kann, und das Legalitätsprinzip. 91 Auch für die drei untergeordneten Grundsätze gilt, was wir zum »höchsten Princip des peinlichen Rechts« gesagt haben. Sie sind Grundsätze, die nicht nur zu Feuerbach, sondern vor allem auch in Kants Rechtslehre gehören. Die Leistung von Kants Rechtslehre besteht unter anderem darin, für Feuerbachs Strafrechtsdoktrin die Grundlage gelegt zu haben.
Zusatz: Zur gegenseitigen Implikation von oberster Staatsgewalt und Strafgerechtigkeit In seiner Besprechung der ersten Auflage der Rechtslehre bemerkt Bouterwek, daß das Strafrecht bei Kant »erst« beim Staatsrecht seine Stelle finde, 92 und damit ist wohl eher ein leichter Tadel verbunden. Der Autor verkennt dabei, daß das Strafrecht gar keinen anderen Platz haben kann. Kant betont immer wieder, daß Strafe nur im Staat denkbar ist. »Strafe ist das Zwangsmittel, den [äußeren] Gesetzen Achtung zu verschaffen,« heißt es einmal in einer Reflexion zu Achenwall. Im Naturzustand können Angriffe auf eine Person und ihren intelligibelen Besitz zwar abgewehrt werden, aber sie können nicht bestraft werden, eben weil es an äußeren (positiven) Gesetzen fehlt. 93 Deshalb ist auch ein »Strafkrieg« von Staaten, die sich noch nicht in einem Völkerstaat zusammengeschlossen haben, ein »an sich selbst widersprechender« Begriff. 94 Denn in ihrem Verhältnis zueinander befinden sich diese Staaten im Naturzustand. Damit fehlt es an einem »Oberen« 95 oder »Befehlshaber«, wie Kant den »Oberen« an anderen Stellen nennt, 96 und damit an äußeren (Straf-)Gesetzen, an Bohnert hält auf S. 9 die drei lateinischen Sätze Feuerbachs für Sätze, »in welchen das Bestimmtheitserfordernis festgestellt wird«. Auf die Stelle in der Revision S. 148, in der Feuerbach seinen zweiten und dritten Grundsatz in einen ganz anderen Kontext stellt (s. oben IV. und VI.), geht Bohnert nicht ein. 92 20:453,29–31. 93 19:585,29–31 (R. 8026). 94 Vgl. 6:348,24–25 (§ 58); s. auch 6:347,10–13 (§ 57). 95 Etwa 6:347,12 (§ 57). 96 Vgl. 6:306,37–307,1 (§ 41); 6:331,4–5 (Allg. Anmerkung E). Auch Achenwall setzt im Zusammenhang mit dem Strafrecht einen »superior« (einen »Höheren«) voraus, von dem die Strafe herrührt; dazu sogleich im Text. 91
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Zur gegenseitigen Implikation von oberster Staatsgewalt und Strafgerechtigkeit
einer öffentlichen Gerichtsbarkeit, die Strafen verhängt, und an einer Exekutive, die die verhängte Strafe vollstreckt. Strafrecht setzt einen »Befehlshaber« voraus. Die »Allgemeine Anmerkung E« beginnt mit dem Satz: »Das Strafrecht ist das Recht des Befehlshabers gegen den Unterwürfigen, ihn wegen seines Verbrechens mit einem Schmerz zu belegen.« 97 Die Stelle beruht auf und ist teilweise eine Übersetzung der Definition von Strafe, die wir bei Achenwall finden: »Consistit … poena … in malo, quod superior infligit inferiori ob eius maleficium.« 98 – »Die Strafe besteht in einem Übel, das der Oberherr dem Untergebenen wegen dessen Übeltat zufügt.« An derselben Stelle schreibt Achenwall dem »imperans« auch das »ius puniendi subditum maleficum« zu, d. i. das »Recht, einen Untertan, der eine Übeltat begangen hat, zu bestrafen.« 99 Kant kombiniert die beiden Sätze Achenwalls und kommt damit zu dem Satz, den wir hier diskutieren. »Befehlshaber« ist Kants Übersetzung von Achenwalls »imperans«. 100 Der Unterschied zwischen den beiden Text-Stellen besteht darin, daß Achenwall von der Strafe redet, während Kant vom Recht zu strafen spricht. »Imperans« ist (wörtlich:) »der Gebietende«. 101 Der imperans, der »Gebietende« im Staat, aber ist entweder das »allgemeine Oberhaupt« des Staates, 102 d. i. die (noch) ungeteilte Staatsgewalt, 103 oder, nach der Trennung der Gewalten, ist der imperans der Gesetzgeber. 104 Der Einleitungssatz der »Allgemeinen Anmerkung E« besagt danach, daß der (ungeteilten) Staatsgewalt das Recht zu strafen zusteht, ein Recht, das dieser Staatsgewalt, wie sich aus dem »Anhang erläuternder Bemerkungen« ergibt (s. oben VII.), notwendigerweise zusteht. Es ist ein Nebengedanke dieses Grundgedankens, daß der Inhaber der obersten Gewalt im Staate (wer immer das auch sei) nicht bestraft werden kann, denn niemand außer ihm hat die Strafgewalt. Man kann sich, wie Kant sagt, »nur seiner Herrschaft entziehen.« 105 6:331,4–5 (Allg. Anm. E). Iuris Naturalis pars posterior 5. Aufl. § 40 (= 19:347,15–17). 99 In § 40 (= 19:347,13). 100 So ausdrücklich 6:306,37–307,1 (§ 41). 101 6:227,11 (Einl. i. d. MdS IV); 6:283,7–9 (§ 30); 6:315,29–30 (§ 47). 102 6:315,24–30 (§ 47). 103 Vgl. auch 6:318,26–27 (Allg. Anm. A), wo das »Staatsoberhaupt« als »summus imperans« bezeichnet wird. 104 6:227,11–12 (Einl. i. d. MdS IV). 105 6:331,6–7 (Allg. Anm. E). 97 98
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III · Kant, Feuerbach und die Grundlagen des Strafrechts
Die Idee einer (rechtsstaatlichen) Verfassung ist mit der Idee einer Strafgerechtigkeit, einer Strafjustiz, notwendig verknüpft, wobei wir »Strafgerechtigkeit« in einem weiten Sinne verstehen müssen, der nicht nur die Anwendung von Strafgesetzen, sondern auch die Strafgesetzgebung einschließt (s. oben erstes Kapitel Abschn. VI.). Die Strafjustiz gehört schon begrifflich zu einer Staatsverfassung, d. h. wenn von einer »Staatsverfassung« die Rede ist, ist die Strafjustiz schon immer mitgedacht. Ohne eine Strafjustiz – ohne den Erlaß von Strafgesetzen und deren Anwendung – haben wir keinen rechtlichen Zustand (keinen Rechtsstaat), und es liegt auf der Hand, daß die Strafjustiz »der obersten Gewalt zusteht.«
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Viertes Kapitel: Drei Vorschläge Kants zur Reform des Strafrechts
Wie wir im dritten Kapitel gesehen haben, ordnet sich das Strafrecht in das durch den Begriff eines rechtlichen Zustandes vorgegebene System problemlos ein. Das Strafrecht ist eines der Mittel, vielleicht sogar das wichtigste Mittel, das der Staat einsetzt und einzusetzen verpflichtet ist, um seine Aufgabe, unsere Rechte zu sichern, zu erfüllen. Ein Verbrechen ist, so heißt es einmal in der Rechtslehre, die »Verletzung der Staatssicherheit im Besitz des Seinen eines jeden.« 1 Das soll heißen: Der (Rechts-)Staat sorgt dafür, daß jedem das Seine erhalten wird, und durch ein Verbrechen wird diese Sicherheit in Frage gestellt. Dabei denkt Kant auch die rechtsstaatlichen Aspekte der Anwendung des Strafgesetzes. Das vierte Kapitel befaßt sich mit drei Reformvorschlägen, die Kant für wichtig gehalten hat, 1. mit dem Vorschlag, zwei Privilegierungen (für die Tötung eines Menschen im Duell und für die Kindstötung) abzuschaffen (unten I.), 2. mit dem Vorschlag, Schwurgerichte einzuführen (unten II.), und 3. mit dem Vorschlag, das Leben im Rechtsstaat zu entkriminalisieren (unten III.).
I.
Ein Vorschlag zu zwei Privilegierungstatbeständen
Das Konzept eines rechtlichen Zustandes (Rechtsstaats) und das Konzept eines rechtsstaatlichen Strafrechts liefern den Hintergrund, vor dem Kant verschiedene Vorschläge zur Reform des Strafrechts macht. Von diesen Reformprojekten ist das hier als erstes vorzustellende Projekt inzwischen abgeschlossen. Es geht um die Privilegierung der Tötung eines nicht-ehelichen Kindes durch die Mutter, die Kant zusammen mit der Privilegierung der Tötung eines Duellanten in einem Zweikampf behandelt. Die beiden Privilegierungen finden sich noch 1
6:362,34–35 (Anhang erläuternder Bemerkungen 5).
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IV · Drei Vorschläge Kants zur Reform des Strafrechts
über siebzig Jahre nach Kants Rechtslehre im Reichsstrafgesetzbuch vom 15. 5. 1871, 2 die Privilegierung der Tötung im Duell in § 206, die Privilegierung der mütterlichen Kindestötung in § 217. Die Privilegierung der Tötung im Duell wurde vom deutschen Strafgesetzgeber im Jahre 1969, die Privilegierung der mütterlichen Kindestötung erst in unseren Tagen, im Jahre 1998, gestrichen. 3 Man muß den Weitblick bewundern, den Kant im Jahre 1797 gezeigt hat, als er eine Reform forderte, die in Deutschland erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (in einem Punkt erst ganz gegen Ende des 20. Jahrhunderts) durchgeführt wurde. Wie bereits gesagt, behandelt Kant die Tötung eines nicht-ehelichen Kindes durch die Mutter zusammen mit der Tötung im Duell, wobei er sich, was das Duell angeht, auf den im 18. Jahrhundert in der Praxis wichtigsten Fall der Tötung eines Offiziers durch einen Mitoffizier beschränkt. 4 Das erste Verbrechen heißt bei ihm »mütterlicher Kindesmord (infanticidium maternale)«, das zweite »Kriegsgesellenmord (commilitonicidium)«. Beide Verbrechen bezeichnet Kant als »todeswürdige Verbrechen«. Es ist klar, daß er dabei für die Tötung eines Menschen (»homicidium«) die Todesstrafe voraussetzt. Die im Jahre 1949 für (West-)Deutschland abgeschaffte Todesstrafe (Art. 102 GG) erregt noch heute Emotionen. Wer sonst wenig oder nichts über Kant weiß, weiß doch, daß Kant sich für die Todesstrafe eingesetzt hat. Wir wollen an dieser Stelle von den Emotionen zur Todesstrafe und zu anderen noch anzusprechenden Punkten absehen, um statt dessen Kants Gedankengang zur Tötung eines Kindes durch die Mutter und zur Tötung eines Mitoffiziers im Duell nachzuvollziehen. Es ist keineswegs so, daß Kant kein Verständnis für die beiden Privilegierungen hätte. Im Gegenteil. Zu den beiden Verbrechen, zum mütterlichen Kindesmord wie zum Kriegsgesellenmord, »verleitet das Ehrgefühl.« »Das eine ist das der Geschlechtsehre, das andere der Kriegsehre, und zwar der wahren Ehre, welche jeder dieser zwei Menschenklassen als Pflicht obliegt.« Die beiden »Menschenklassen« sind die Frauen und die Offiziere, um die es in unserem Zusammen-
RGBl. S. 127. Durch das 1. StrRG vom 25. 6. 1969 (BGBl. I 645), Art. 1 Nr. 58, bzw. durch das 6. StrRG vom 26. 1. 1998 (BGBl. I 164), Art. 1 Nr. 35. 4 6:335,36–337,7 (Allgemeine Anmerkung E). Die folgenden Zitate sind, soweit nicht anders vermerkt, dieser Passage entnommen. 2 3
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Ein Vorschlag zu zwei Privilegierungstatbeständen
hang geht. Probleme entstehen dadurch, daß, wie es heißt, »die Gesetzgebung« weder »die Schmach einer unehelichen Geburt« noch »den Fleck« wegwischen kann, »welcher aus dem Verdacht der Feigheit auf einen untergeordneten Kriegsbefehlshaber fällt, welcher einer verächtlichen Begegnung nicht eine über die Todesfurcht erhobene eigene Gewalt entgegensetzt.« Gemeint ist die öffentliche Gesetzgebung. Kein öffentlicher Gesetzgeber kann durch ein Gesetz verhindern, daß in der öffentlichen Meinung mit einer nicht-ehelichen Geburt eine »Schmach« der Mutter und mit der Äußerung des Verdachts der Feigheit ein »Fleck« verbunden ist, der die Ehre des Offiziers berührt. Wie die Dinge nun einmal liegen, wird (im 18. Jahrhundert) das Duell »durch die öffentliche Meinung der Mitgenossen seines Standes«, d. h. durch die öffentliche Meinung der Mitoffiziere, gefordert, und es ist eben so, daß die Leute auf der Straße die Mutter verachten. Valentin zu Gretchen: »Da du dich sprachst der Ehre los, gabst mir den schwersten Herzensstoß.« »Und, wenn dir dann auch Gott verzeiht, auf Erden sei vermaledeit!« 5 Die öffentliche Meinung (auch noch lange nach dem 18. Jahrhundert) ist so, wie sie ist, und daran kann auch Kant nichts ändern. 6 Deshalb »scheint es,« daß die Tat in beiden Fällen »zwar allerdings strafbar sei, von der obersten Macht aber mit dem Tode nicht könne bestraft werden.« Mit anderen Worten: Die beiden Verbrechen sind an sich »todeswürdig«. Aber es sieht so aus, als müsse man die Tötung des Kindes durch die Mutter und die des Gegners im Duell trotzdem mit einer geringeren Strafe (als der Todesstrafe) belegen. Damit ist freilich erst das Problem und noch nicht die Lösung geschildert. Die (von Kant) vorgefundene Situation bringt es mit sich, daß »die Strafgerechtigkeit gar sehr ins Gedränge« gerät. Entweder sie (die Strafgerechtigkeit) erklärt den Ehrbegriff »durchs Gesetz für nichtig« und bestraft die Täter mit dem Tode, oder sie nimmt »von dem Verbrechen die angemessene Todesstrafe« weg und ist damit »entweder grausam oder nachsichtig«. Sie ist »grausam«, wenn und weil sie sich über »den Ehrbegriff (der hier kein Wahn ist)« hinwegsetzt. Oder sie ist unangemessen »nachsichtig«, wenn und weil sie es unterläßt, die eigentlich verdiente Todesstrafe anzudrohen und zu Goethe Faust erster Teil, »Nacht. Straße vor Gretchens Tür.« In seinen von ihm selbst nicht veröffentlichten Vorarbeiten zum »Ehrenpunct«, 23:363–370, stellt Kant nicht nur für die Duellanten, sondern für beide hier diskutierten Fallgruppen auf die »öffentliche Meinung« ab.
5 6
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IV · Drei Vorschläge Kants zur Reform des Strafrechts
verhängen. In dieser Lage fragt Kant nicht zuerst, was zu tun sei, sondern er fragt, wie es zu dieser Lage kommt. Auf die Frage aber, wie es zu dieser Lage kommt, hat er eine klare Antwort. »Die Gesetzgebung selber … (mithin auch die bürgerliche Verfassung)« sei an der Lage »schuld«. Denn sie (die Gesetzgebung) sei noch nach wie vor »barbarisch und unausgebildet«. Mit »Gesetzgebung« meint Kant hier nicht die oben (im ersten Kapitel Abschn. VI.) angesprochene iustitia tutatrix, sondern, wie der Klammerzusatz »(mithin auch die bürgerliche Verfassung)« zeigt, die in der preußischen, überhaupt in der deutschen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts gegebenen Gesetze, die die Verfassung dieser Gesellschaft bestimmen – »Verfassung« nicht im Sinne von »Verfassungspapier«, sondern als die Form, in der sich eine Gesellschaft befindet, wie wir auch von einem einzelnen Menschen sagen, er befinde sich in einer bestimmten (guten oder schlechten) Verfassung. Diese Verfassung ist, was unser Problem angeht, (im 18. Jahrhundert) noch »barbarisch und unausgebildet«. Der Grund dafür kann nur darin liegen, daß die öffentliche Meinung im Volk, die die Verfassung der Gesellschaft mitbestimmt, Vorstellungen von Ehre hat, im Hinblick auf die in unseren Fällen die Todesstrafe nicht angedroht und nicht verhängt werden kann. Oder, mit Kants eigenen Worten: »Die Triebfedern der Ehre im Volk«, die »subjektiv«, d. h. zufällig und also veränderlich sind, »wollen« mit den »Maßregeln«, die »objektiv« gefordert sind (das sind das Gebot, für unsere Fälle die Todesstrafe anzudrohen, und das Gebot, falls der Tatbestand erfüllt ist, die Todesstrafe auch zu verhängen), nicht »zusammentreffen«. Daraus ergibt sich, daß »die öffentliche, vom Staat ausgehende Gerechtigkeit in Ansehung der aus dem Volk [hervorgehenden Gerechtigkeit] eine Ungerechtigkeit wird.« 7 Es ist diese Diskrepanz, die bewirkt, daß die »Gesetzgebung« und »mithin auch die bürgerliche Verfassung« noch »barbarisch und unausgebildet« sind. Kants Lösung des Problems (die »Auflösung des Knotens«) steckt in dieser Beschreibung. Denn Kant geht von dem aus, was er an der hier besprochenen Stelle den »kategorischen Imperativ der Strafgerechtigkeit« nennt, der besagt, »die gesetzwidrige Tötung eines anderen müsse mit dem Tode bestraft werden.« Dieser Imperativ bleibt erhalten. Kant ausdrücklich: »Der kategorische Imperativ
7
Hervorhebungen von mir (im Original ist »Ungerechtigkeit« hervorgehoben).
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Die Einführung und die Abschaffung der Schwurgerichte in Deutschland
der Strafgerechtigkeit bleibt.« 8 Auf dieser Seite kann nichts geändert werden. Auf der anderen Seite aber gilt, daß auch die Privilegierungen erhalten bleiben müssen, »solange« 9 die bürgerliche Verfassung noch barbarisch und unausgebildet ist. Soll also die Diskrepanz zwischen der Gerechtigkeit, die vom Staat, und der Gerechtigkeit, die vom Volk ausgeht, vermieden werden, dann muß sich die öffentliche Meinung ändern. Die »Schmach einer unehelichen Geburt« und der »Fleck«, der die Ehre des Offiziers belastet, (Produkte der öffentlichen Meinung) müssen verschwinden. Verschwinden sie, dann können auch die Vorschriften aufgehoben werden, die die Kindstötung oder die Tötung des Mitoffiziers privilegieren. Mit anderen Worten: Kant setzt auf eine Änderung der öffentlichen Meinung. Wie wir heute wissen, hat sich die öffentliche Meinung inzwischen geändert. Die ersatzlose Streichung des § 206 StGB (a. F.) und die des § 217 StGB (a. F.) wären danach in Kants Augen, hätte er die Änderung der öffentlichen Meinung miterlebt, nicht nur gerechtfertigt gewesen, sondern die Streichung der Vorschriften unter der Bedingung einer Änderung der öffentlichen Meinung ist genau das, was Kant gefordert hat.
II.
Die Einführung und die Abschaffung der Schwurgerichte in Deutschland
Der zweite Vorschlag Kants, den wir hier behandeln wollen, betrifft das Prozeßrecht. Das schließt das Strafprozeßrecht ein, auf das wir uns hier beschränken, obwohl die maßgeblichen Gesichtspunkte auch für den Zivilprozeß gelten. 10 In der Rechtslehre tritt Kant für das Jury-System ein, von dem er offensichtlich einige Kenntnisse hat. Im 18. Jahrhundert hat es eine ganze Reihe von Beschreibungen des englischen Gerichts-Systems gegeben, die auf dem europäischen Kontinent, insbesondere auch in Deutschland gelesen wurden. Hervorzuheben sind Charles-Louis de Secondat, Baron de la Brède et de Montesquieu De l’Esprit des Lois von 1748 und, weniger bekannt, Gottfried Achenwall Staatsverfassung der heutigen vornehmsten Europäischen Reiche und Völker im Grundriße von 1749, wovon Hervorhebung von mir. Vgl. 6:337,2–3 (Allg. Anm. E). 10 Die folgende Darstellung nach dem Commentary S. 163–167. 8 9
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IV · Drei Vorschläge Kants zur Reform des Strafrechts
mir die 5. (»verbesserte«) Auflage von 1768 vorgelegen hat. Beide Werke berichten unter anderem über das englische Jury-System. Es ist klar, daß Kant Montesquieus Vom Geist der Gesetze kannte. Es ist aber auch zu vermuten, daß er das Buch von Achenwall kannte, weil er über Achenwalls juristisches Hauptwerk, Ius Naturae 5. Auflage 1763, über Jahrzehnte hinweg Vorlesungen gehalten hat 11 und infolgedessen mit dem Werk dieses Autors vertraut war. Wir gehen hier davon aus, daß Kant diese beiden Quellen verwendet hat und daß er, wenn ihm Achenwalls Buch nicht zur Verfügung gestanden haben sollte, die dort vermittelten Kenntnisse aus einer oder mehreren anderen Quellen geschöpft hat. Kants Bemerkungen zum Jury-System (er benutzt, wie Achenwall, 12 das englische Wort »Jury«!) finden sich im Kontext seiner Ausführungen zur Dreiteilung der staatlichen Gewalt, 13 die ihrerseits in dem Abschnitt über den »Staat in der Idee« 14 enthalten sind. Kant vertritt die Auffassung, daß alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht, 15 und er tritt für die Gewaltenteilung ein. Danach können weder die Legislative noch die Exekutive Richter sein. Was den Gesetzgeber angeht, so ist der maßgebliche Gesichtspunkt der, daß zwischen Gesetzgebung und Gesetzesanwendung unterschieden werden muß. Sind der Gesetzgeber und ein Gesetzesanwender personenidentisch, dann ist der Gesetzesanwender an das anzuwendende Gesetz nicht gebunden, weil er (als Gesetzgeber) das Gesetz jederzeit ändern kann. Damit führt solche Personenidentität notwendig zur Despotie. 16 Folglich kann der Gesetzgeber nicht zugleich Richter sein. Aber auch die Exekutive kann nicht Richter sein, und zwar deswegen nicht, weil die Exekutive als »Obrigkeit« dem Angeklagten Unrecht tun kann. Diese Möglichkeit muß ausgeschlossen werden. Was das heißen soll, wird sogleich klar werden. Kant diskutiert das Problem unter dem Stichwort, daß die Legislative oder die Exekutive Zum Einfluß Achenwalls auf Kant s. Commentary S. 15–19. Achenwall Staatsverfassung S. 310. 13 6:317,19–318,3 (§ 49). Die folgenden Zitate sind, soweit nicht anders vermerkt, dieser Passage entnommen. 14 6:313,14 (§ 45). 15 Vgl. etwa 6:338,22–26 (§ 51): »Die drei Gewalten im Staat … sind nur so viel Verhältnisse des vereinigten, a priori aus der Vernunft abstammenden Volkswillens und eine reine Idee von einem Staatsoberhaupt, welche objektive praktische Realität hat.« 16 Kant bringt das Argument in der Schrift Zum ewigen Frieden (8:351,21–353,18) für das Verhältnis von Legislative und Exekutive. Vgl. auch 6:316,34–317,8 (§ 49). 11 12
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Die Einführung und die Abschaffung der Schwurgerichte in Deutschland
»Richter als Magistrate« einsetzt. Die von der Legislative oder der Exekutive eingesetzten Richter aber sind, schon wegen dieser ihrer Herkunft, »Staatsverwalter«, also Beamte, die über »den Untertan, d. i. einen, der zum Volke gehört, mithin mit keiner Gewalt bekleidet ist,« die richterliche Gewalt ausüben. Sie sind ein Teil der »Obrigkeit«, oder sie vertreten jedenfalls die »Obrigkeit«. Die Gefahr, die Kant sieht, besteht darin, daß die Richter qua Obrigkeit, wenn sie über einen Streitfall beschließen, dem Untertan »unrecht tun können«. Es wäre besser, wenn man das ausschließen könnte. Mit dem Jury-System wird ausgeschlossen, daß die Entscheidung dem Angeklagten Unrecht tun kann. Um zu verstehen, wie Kant das meint, daß eine Jury dem Angeklagten nicht Unrecht tun kann, ist es zweckmäßig, sich zunächst einmal dem Gesetzgeber zuzuwenden, an den Kant denkt, wenn er den »Staat in der Idee« entwickelt. Es gibt einen Gesetzgeber, der kein Unrecht tun kann, und das ist der »vereinigte Wille des Volkes«. Kant meint, was er sagt. Er denkt an den Ideal-Fall, daß »der übereinstimmende und vereinigte Wille aller, sofern ein jeder über alle und alle über einen jeden ebendasselbe beschließen,« Gesetzgeber ist. Vielleicht denkt er an den Fall, daß die Landsgemeinde in einem Schweizer Kanton, zu der sich alle Stimmbürger eingefunden haben, ein Gesetz einstimmig verabschiedet. In einem solchen Fall kann kein Unrecht geschehen. »Wenn jemand etwas gegen einen anderen verfügt, [ist es] immer möglich, daß er ihm dadurch Unrecht tue, nie aber in dem, was er über sich selbst beschließt (denn volenti non fit iniuria).« 17 Dem Einwilligenden geschieht eben kein Unrecht. Also, so Kant, kann im Staat in der Idee nur »der allgemein vereinigte Volkswille« Gesetzgeber sein. 18 Nehmen wir diesen Gesetzgeber als Modell und die Jury, die ihr »schuldig oder nichtschuldig« über ihre Mitbürger ausspricht, als eine Analogie dazu. Zwei Punkte sind von Wichtigkeit. Zum ersten ist im Jury-System der Angeklagte an der Auswahl der Geschworenen beteiligt. Das führt Kant nicht ausdrücklich an, aber es wird bei Montesquieu berichtet, und Kant setzt es voraus. Denn bei einem System, in dem nur beamtete Richter tätig werden, ist es so, daß der Angeklagte als einer aus dem Volk, der »mit keiner Gewalt bekleidet ist,« sich zur (richterlichen) Obrigkeit »bloß passiv« verhält, und ge17 18
Hervorhebung im Original. Die Zitate in diesem Absatz aus 6:313,19–314, 3 (§ 46).
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IV · Drei Vorschläge Kants zur Reform des Strafrechts
nau das wird von Kant kritisiert. Ist aber der Angeklagte an der Auswahl der Geschworenen beteiligt, dann verhält er sich nicht mehr »bloß passiv«, sondern er wirkt aktiv bei der Entscheidung darüber mit, wer über ihn zu Gericht sitzt und wer nicht. Vor allem kann er vorgeschlagene Personen ohne Begründung als Geschworene ablehnen, weshalb, wie Montesquieu schreibt, »die restlichen als Männer seiner Wahl angesehen werden können.« 19 Daher kann man sagen, daß der Angeklagte in der Jury repräsentiert ist. Der zweite Punkt wird von Kant ebenfalls nicht erwähnt, sondern als selbstverständlich vorausgesetzt. Achenwall berichtet, daß der Ausspruch der zwölf Geschworenen »einmüthig« erfolgt sein muß, ehe der Richter ein Urteil fällen kann. 20 Bekanntlich fällen die Geschworenen ihre Entscheidung über die Wahrheit der von den Parteien aufgestellten Tatsachenbehauptungen; Achenwall spricht ausdrücklich von »verdict«. Ist für den Wahrspruch aber Einstimmigkeit erforderlich, dann bedeutet das, daß auch diejenigen unter den Geschworenen, die den Angeklagten repräsentieren, für den Spruch gestimmt haben. Unter dieser Voraussetzung können wir den Satz »volenti non fit iniuria« gewissermaßen analog anwenden. Dem Angeklagten geschieht durch den Wahrspruch kein Unrecht, weil seine eigenen Repräsentanten für den Wahrspruch gestimmt haben. Das ist der tiefste Grund für Kants Vorschlag, das Jury-System einzuführen. Bei ihrem »schuldig oder nichtschuldig« kann die Jury dem Angeklagten nicht unrecht tun. Bekanntlich ist das Jury-System für den Strafprozeß durch das GVG vom 27. 1. 1877 und die StPO vom 1. 2. 1877 jedenfalls für die schwersten Delikte eingeführt worden. 21 Seit dem Inkrafttreten dieser Gesetze gab es in ganz Deutschland Schwurgerichte, bei denen die Aufgaben zwischen der Geschworenenbank und der Richterbank in einer Weise geteilt waren, wie Kant das vorgeschwebt hat. Bei der Auswahl der Geschworenen hatte der Angeklagte Ablehnungsrechte. 22 Freilich war für die Entscheidungen der Geschworenenbank eine Einstimmigkeit nicht erforderlich. 23 11. Buch, Kapitel 6. Achenwall Staatsverfassung S. 310. 21 GVG vom 27. 1. 1877 (RGBl. S. 41), StPO vom 1. 2. 1877 (RGBl. S. 253). Zuständigkeit der Schwurgerichte: § 80 GVG (a. F.). 22 §§ 281–285 StPO (a. F.). 23 Das Gesetz ging von zwölf Geschworenen aus (§ 282 StPO a. F.). Bei jeder dem Angeklagten nachteiligen Entscheidung war anzugeben, daß die Entscheidung mit 19 20
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Die Einführung und die Abschaffung der Schwurgerichte in Deutschland
Wiederum bekanntlich ist dieses System durch die »Emminger’sche Reform« vom 4. 1. 1924 wieder abgeschafft worden. 24 Nun hat zwar der Jurist die Aufgabe, »die gegenwärtigen Gebote des Landrechts zu vollziehen«, darüber hinaus aber ist er durchaus nicht verpflichtet, »jede jetzt vorhandene gesetzliche Verfassung und, wenn diese höhern Orts abgeändert wird, die nun folgende« immer als die beste anzusehen. 25 Statt dessen muß es ihm auch erlaubt sein, über die »Gesetzgebung selbst zu vernünfteln«. Ist das aber so, dann wird man Kants Vorschlag nicht bloß wegen der Emminger’schen Reform als »überholt« abtun können. Wie bereits gesagt, macht Kant den Vorschlag, das Jury-System einzuführen, im Kontext seiner Lehre von der Gewaltenteilung. Die Einführung der Schwurgerichte (und damit des Jury-Systems) war, auch wenn sie gemessen an dem Modell, das Kant vorgeschwebt hat, unzulänglich war, 26 durchaus ein Schritt in die richtige Richtung. Die Abschaffung der Schwurgerichte alten Stils (durch die Emminger’sche Gegenreform) hat die Reform wieder rückgängig gemacht. War die Reform von 1877 ein Versuch, dem Gedanken der Gewaltenteilung Rechnung zu tragen, dann ist die Abschaffung der Schwurgerichte alles andere als ein Fortschritt, sondern schlicht ein Rückschritt. Betrachtet man die Gewaltenteilung als ein Kriterium des Rechtsstaats, dann ist die Abschaffung der Schwurgerichte gleichbedeutend mit einem Schritt zurück in den Naturzustand. Dem entspricht es, daß durch die Emminger’sche Gegenreform auch das Legalitätsprinzip eingeschränkt worden ist, 27 eine Einschränkung, die heute »Opportunitätsprinzip« heißt. 28 Auch das ist ein Schritt zurück in den Naturzustand. »Das Strafgesetz ist ein kategorischer Imperativ!«, und vom Standpunkt des Rechtsstaats aus
mehr als sieben Stimmen, bei der Verneinung mildernder Umstände war anzugeben, daß die Entscheidung mit mehr als sechs Stimmen gefaßt worden ist (§ 307 Abs. 2 StPO a. F.). 24 Verordnung der Reichsregierung über Gerichtsverfassung und Strafrechtspflege vom 4. 1. 1924 (RGBl. I S. 15). § 12: Abschaffung der Schwurgerichte des alten Stils. 25 Vgl. Kants wenig freundliche Bemerkung über die »echten Juristen vom Handwerke« in der Schrift Zum ewigen Frieden, 8:373,21–26. 26 Halbherzig war vor allem der Verzicht auf das Einstimmigkeitserfordernis für die Entscheidungen der Geschworenenbank, was die Anwendung des »volenti non fit iniuria« unmöglich gemacht hat. 27 Vgl. §§ 23, 24 des Gesetzes von 1924 (ob. Fn. 24). 28 Vgl. etwa Meyer-Goßner § 152 Rn. 7.
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IV · Drei Vorschläge Kants zur Reform des Strafrechts
gesehen ist es gleichgültig, wie »zweckrational« der Schritt zurück und wie »pragmatisch richtig« die Gründe dafür gewesen sein mögen.
III. Ein Vorschlag zum Thema »Entkriminalisierung« des Lebens War der erste Reformvorschlag Kants erfolgreich, wenn es auch zweihundert Jahre zu seiner Durchführung gebraucht hat, und war dem zweiten Vorschlag auf die Dauer kein Erfolg beschieden – mit allen Nachteilen für den Rechtsstaat, die diese Erfolglosigkeit mit sich gebracht hat, so haben wir mit einer Durchführung des dritten hier zu behandelnden Vorschlags heute noch nicht einmal angefangen. Kant schlägt nämlich vor, bestimmte Delikte, die wir durchaus als zum Kernbereich des Strafrechts gehörig betrachten, aus diesem Kernbereich herauszunehmen und nicht mehr in einem Strafprozeß, sondern allein in einem Zivilprozeß zu ahnden. Den begrifflichen Hintergrund für den Reformvorschlag bildet die Unterscheidung zwischen »öffentlichen Delikten« und »Privatdelikten«, die wir aus der Kant vorangehenden Naturrechtslehre kennen. Bei Achenwall ist ein öffentliches Delikt (»delictum publicum«) ein Delikt, das sich gegen das Gemeinwesen (die »res publica«) und gegen den Herrscher (»imperans«) richtet. Ein Privatdelikt (»delictum privatum«) dagegen ist ein Delikt, das einen Privatmann schädigt und ihm dadurch Unrecht tut. 29 Ein delictum publicum ist ein Verbrechen im engeren Sinne (»crimen strictius«), ein delictum privatum ist dagegen lediglich ein Verbrechen im weiteren Sinne (»crimen latius«). 30 Wir kennen die Unterscheidung von Verbrechen im engeren und Verbrechen im weiteren Sinne heute noch. Kant knüpft an Achenwalls Begrifflichkeit an. Die einschlägige Stelle in der Rechtslehre sei hier vollständig wiedergegeben: »Diejenige Übertretung des öffentlichen Gesetzes, die den, welcher sie begeht, unfähig macht, Staatsbürger zu sein, heißt Verbrechen schlechthin (crimen), aber auch öffentliches Verbrechen (crimen publicum); daher das erstere (das Privatverbrechen) vor die Zivil-, das andere vor die Kriminalgerechtigkeit gezogen wird. – Veruntreuung, d. i. Unterschlagung der zum Vgl. Achenwall Iuris Naturalis pars posterior 5. Aufl., § 192 (= 19:411,36–412,2). Ebenda §§ 191, 192 (= 19:411,29 [»delictum« = »crimen latius«], 19:412,1 [»publicum delictum« = »crimen strictius«]).
29 30
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Ein Vorschlag zum Thema »Entkriminalisierung« des Lebens
Verkehr anvertrauten Gelder oder Waren, Betrug im Kauf und Verkauf bei sehenden Augen des anderen sind Privatverbrechen. Dagegen sind: falsch Geld oder falsche Wechsel zu machen, Diebstahl und Raub u. dergl. öffentliche Verbrechen, weil das gemeine Wesen und nicht bloß eine einzelne Person dadurch gefährdet wird. – Sie könnten in die der niederträchtigen Gemütsart (indolis abiectae) und die der gewalttätigen (indolis violentae) eingeteilt werden.« 31
Der Inhalt der Stelle ist klar. Der Reformvorschlag steckt in der Bemerkung, daß nur die öffentlichen Verbrechen vor die Strafjustiz gehören. Für die Privatverbrechen dagegen ist die Ziviljustiz zuständig. Es versteht sich: Im Rechtsstaat ist das so! Deshalb sagt Kant nicht, man solle die Zuständigkeiten künftig so regeln, wie er es vorschlägt, sondern er sagt, wie es ist, wenn wir von einem rechtlichen Zustand sprechen. Kant sagt auch ganz deutlich, welche Delikte nicht (mehr) von der Kriminaljustiz abgeurteilt werden sollen. Diese Delikte sind Veruntreuung und Betrug, wobei wir, jedenfalls für eine erste Durchsicht, durchaus die heute maßgeblichen Tatbestandsmerkmale voraussetzen können. 32 Geldfälschung, die Fälschung von Wechseln (was wir heute als Urkundenfälschung einordnen), Diebstahl und Raub 33 dagegen sind öffentliche Verbrechen, die von der Strafjustiz zu beurteilen sind. Sieht man genauer hin, dann differenziert Kant innerhalb einer Gruppe von Delikten, die sämtlich die iustitia commutativa, den öffentlichen freien Markt betreffen. »Commutatio« (worauf der Ausdruck »iustitia commutativa« hinweist) ist der »Verkehr zwischen dem Besitzer [einer] Sache und [einem] Erwerbenden« 34 oder auch die »Umsetzung des Mein und Dein«. 35 Mit anderen Worten: Es sind Handelsverkehr und Umsatz, die den Markt ausmachen. Der Geldfälscher, der Wechselfälscher, der Dieb, der Räuber greifen in diesen Markt von außen ein. Derjenige dagegen, der die andere Vertragspartei betrügt oder ihm anvertraute Gelder oder Wa6:331,7–19 (Allg. Anm. E), Hervorhebungen im Original. – Die Bezugnahme – »das erstere (das Privatverbrechen)« – mag auf den ersten Blick irritieren. Die Stelle ist wie folgt zu verstehen: Die sogleich anzuführende erste Gruppe von Verbrechen ist vor die Zivilgerechtigkeit zu ziehen. Die andere (die zweite) Gruppe gehört vor die Strafgerechtigkeit. 32 § 246 Abs. 2 und § 263 StGB. 33 §§ 146 Abs. 1, 267 Abs. 1, 242, 249 StGB. 34 6:301,13–14 (§ 39). 35 6:289,18–19 (§ 31). 31
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IV · Drei Vorschläge Kants zur Reform des Strafrechts
ren unterschlägt, nimmt am Marktgeschehen teil, dessen Möglichkeiten er allerdings mißbraucht. Wir kennen die Unterscheidung heute von einer anderen Art von Verkehr, vom Straßenverkehr, wo wir zwischen verkehrsfremden schädigenden Eingriffen in den Straßenverkehr (§ 315 b StGB) einerseits und den Straftaten der Verkehrsteilnehmer (§ 315 c StGB) andererseits unterscheiden. Nur die schädigenden Eingriffe in den Markt von außen sind crimina im engeren Sinne und sollen von der Strafjustiz abgeurteilt werden. Wer (wie der Betrüger oder der Täter einer Veruntreuung) am Markt teilnimmt, dabei aber die Grenzen des Zulässigen überschreitet, soll zwar durchaus zur Verantwortung gezogen werden, vor allem muß er auch den Schaden ersetzen. Aber dies soll mit der Hilfe der Ziviljustiz geschehen. Zur Begründung für die Unterscheidung und ihre Konsequenzen führt Kant an, daß durch die öffentlichen Verbrechen »das gemeine Wesen« gefährdet wird. Das »gemeine Wesen« ist die res publica, der (Rechts-)Staat mit seinen Institutionen (in den Beispielen ist es der freie öffentliche Markt). Oder, wie es in einer von Kant nicht publizierten Notiz heißt: »Criminel[l] ist dasjenige, wodurch [die] öffentliche Sicherheit lädirt wird.« Noch einmal anders gewendet: »Das crimen laedirt die bürgerliche Gesellschaft.« 36 »Crimen« und »criminell« bezeichnen hier das »Verbrechen im engeren Sinne«, oder, mit Kant, das »Verbrechen schlechthin«. Die Funktion des (Rechts-) Staats ist die Sicherung unserer Rechte. Ein öffentliches Verbrechen beeinträchtigt diese Funktion, und genau das macht die Tat strafwürdig. Darüber hinaus macht eine Tat dieser Art den Täter »unfähig, Staatsbürger zu sein«, weil er durch sie den Staat angegriffen hat. Kants Versuch, zwischen den Delikten der »gewalttätigen« und der »niederträchtigen Gemütsart« zu unterscheiden, weist in dieselbe Richtung. Nicht nur der Raub, sondern auch der Diebstahl, die Geldund die Wechselfälschung sind Delikte der »gewalttätigen Gemütsart«. Heutige Juristen, die mit der Auflösung des Gewaltbegriffs im Strafrecht leben, sollten über solche Zuweisungen nicht mäkeln. 37 19:536,7 und 13 (R. 7856). In einer anderen Notiz stellt Kant auf »das Recht und die Sicherheit des Volks« ab. Bei einem delictum publicum ist der Betroffene das Volk als ganzes. Ein delictum privatum dagegen ist, »eine Sache zwischen ihm [dem Opfer] und andern Privatleuten.« 19:587,15–18 (R. 8033), Hervorhebung von mir. 37 Wie die Verwendung des Konjunktivs (»könnten«) zeigt, faßt Kant die Unterscheidung zwischen der »gewalttätigen« und der »niedertächtigen Gemütsart« selbst als den Versuch einer begrifflichen Unterscheidung auf. 36
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Ein Vorschlag zum Thema »Entkriminalisierung« des Lebens
Mord und Totschlag werden von Kant in unserem Zusammenhang nicht erwähnt, gehören aber genauso hierher wie die »Nothzüchtigung« (Vergewaltigung), 38 die Kant in der bezeichneten Notiz nennt. Betrug und Veruntreuung dagegen sind, als Delikte der »niederträchtigen Gemütsart«, bloße Privatverbrechen. Betroffen ist allein das Opfer als einzelne Person. Das Opfer hat sich »sehenden Auges« mit dem Täter eingelassen und ist dann von dem Täter betrogen worden. Das Opfer hat dem Täter Geld oder Waren anvertraut, die der Täter dann unterschlagen hat. Oder, wie es in der Nachschrift einer von Kant 1784 gehaltenen Vorlesung heißt: »Der Betrug ist delictum privatum, weil ich nicht nöthig habe, mich mit einem einzulassen.« 39 Ich brauche dem anderen nicht zu trauen, ich habe es aber getan. Vor einigen Jahrzehnten ist die Möglichkeit erörtert worden, dem Betrugsopfer, das dem Täter leichtfertig vertraut hat, den strafrechtlichen Schutz zu entziehen. 40 Kant ist viel radikaler. Er verneint die Notwendigkeit einer Bestrafung schon dann, wenn das Opfer (leichtfertig oder nicht) überhaupt vertraut hat. Obwohl dieser Gesichtspunkt (daß das Opfer vertraut hat) von Kant immer wieder hervorgehoben wird, liefert er doch nur eine Nebenbegründung. Entscheidend ist statt dessen, daß durch ein Privatverbrechen der Staat als solcher nicht in Frage gestellt und also die allgemeine Sicherheit nicht beeinträchtigt wird. In diesem Kontext ist die folgende Bemerkung in der Vorlesung von 1784 zu sehen: »Stehlen ist also delictum publicum, entwenden aber, wo man den Genuß mehr als das Eigenthum sucht, veruntreuen, sind nicht Diebstähle und also keine delicta publica, weil hier die allgemeine Sicherheit nicht in Gefahr kommt.« 41 Die Bemerkung nimmt, außer der Veruntreuung, über die wir bereits geredet haben, auch den sog. Mundraub aus dem Bereich des Diebstahls heraus und behandelt ihn als Privatverbrechen, und zwar genau mit der Begründung, daß ein Mundraub keinen Angriff auf das Gemeinwesen darstellt. Fassen wir zusammen: Strafwürdig ist, wer durch seine Tat den (Rechts-)Staat und seine Institutionen (die rechtsstaatliche Gesetzgebung, den freien Markt und die rechtsstaatliche Justiz) als solche in Frage stellt. Alle anderen Vergehen dagegen sind nicht strafwür38 39 40 41
§ 177 Abs. 2 StGB. 19:1390,23–24. Amelung GA 1977. 19:1390,24–27.
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IV · Drei Vorschläge Kants zur Reform des Strafrechts
dig. Das heißt natürlich nicht, daß das Opfer schutzlos bleibt. Die Funktion des Rechtsstaats ist es ja gerade, unsere Rechte zu sichern. Die Sicherung der Rechte des Opfers eines nicht strafwürdigen Delikts übernimmt die Ziviljustiz. Würden wir das heutige StGB unter diesem Gesichtspunkt durchsehen und alle Taten herausstreichen, die Kants Kriterium nicht erfüllen, dann würde das StGB nicht unerheblich dünner werden. Die Entwicklung geht freilich, wie die Streichung des § 370 Nr. 5 StGB (a. F.) zeigt, 42 was den Mundraub von einer Übertretung zu einem Vergehen hochgestuft hat, eher in die entgegengesetzte Richtung.
§ 370 Nr. 5 StGB (a. F.) wurde durch Art. 19 Nr. 206 EGStGB vom 2. 3. 1974 (BGBl. I S. 469) gestrichen.
42
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Fünftes Kapitel: Völkerstaat, Völkerbund und der permanente Staatenkongreß in Kants Rechtslehre
In der »Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht« von 1784 und im »Gemeinspruch« von 1793 knüpft Kant an den Abbé de Saint-Pierre und an Jean-Jaques Rousseau an, 1 die einen Zusammenschluß der europäischen Staaten vorschlagen, um die Kriege, die den Kontinent verwüstet haben, für die Zukunft zu vermeiden. Wir gehen hier von zwei Arbeiten Rousseaus aus, »Extrait du Projet de Paix Perpétuelle de Monsieur l’Abbé de Saint-Pierre« und »Jugement sur la Paix Perpétuelle«, die beide in der Gesamtausgabe von Rousseaus Werken von 1782 erschienen sind und also Kant bei Abfassung der Arbeiten von 1784 und 1793 vorgelegen haben. 2 Kant erweitert den Vorschlag seiner beiden Vorgänger. Der Zusammenschluß soll sich auf alle Staaten der Erde erstrecken. Im »Gemeinspruch« fordert Kant »ein auf öffentliche, mit Macht begleitete Gesetze, denen sich jeder Staat unterwerfen müßte, gegründetes Völkerrecht (nach der Analogie eines bürgerlichen oder Staatsrechts einzelner Menschen)« 3 oder, mit anderen Worten, er fordert einen »allgemeinen Völkerstaat«. 4 An dieser Forderung hält er (wie wir sehen werden) auch in der Schrift Zum ewigen Frieden von 1795 und in der Rechtslehre von 1797 fest. In Zum ewigen Frieden entwickelt er (als eine Art von Kompromiß zwischen seiner Forderung und dem Egoismus der [Einzel-]Staaten) den Gedanken eines (vom »Völkerstaat« 8:24,28–30 und 8:312,34–313,3. Der volle Name des ersteren ist »Charles Irenée Castel de Saint-Pierre«, er nannte sich selbst aber häufig »Abbé de S. Pierre« oder ähnlich. Kant nennt ihn (im »Gemeinspruch«) »Abt von St. Pierre« (die AkademieAusgabe schreibt »Abbé von St. Pierre«). 2 Ich benutze die zweisprachige Ausgabe: Jean-Jaques Rousseau Friedenschriften und zitiere die beiden Arbeiten Rousseaus als »Extrait« bzw. als »Jugement«. »Extrait« und »Jugement« sind beide 1756 entstanden, der »Extrait« wurde schon 1761, der »Jugement« erst 1782 (in der Gesamtausgabe) publiziert (vgl. Köhler im Vorwort zu der Ausgabe von 2009 S. VII). 3 8:312,25–29. 4 8:312,35. 1
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V · Völkerstaat, Völkerbund und der permanente Staatenkongreß
zu unterscheidenden) bloßen »Völkerbundes«, der freilich nur ein kümmerlicher Ersatz für den Völkerstaat sein kann, weil er den Frieden nicht gewährleistet. Von diesem Modell geht Kant auch in der Rechtslehre aus. Soweit in der Literatur die Auffassung vertreten wird, Kant ziehe (in Zum ewigen Frieden und in der Rechtslehre) den bloßen Völkerbund dem Völkerstaat vor, fehlt es dafür an einer ausreichenden Textgrundlage. In Zum ewigen Frieden vertritt Kant die Auffassung, der Eintritt in einen Völkerstaat dürfe nicht erzwungen werden. Diese Auffassung gibt er in der Rechtslehre auf. Doch erörtert er in der Rechtslehre, neben dem Völkerstaat und dem Völkerbund, auch noch den permanenten Staatenkongreß, dem er die Aufgabe zuteilt, ein öffentliches Recht der Völker zu errichten. Das Kapitel bespricht die Frage nach dem Verhältnis von Völkerstaat und Völkerbund in der Schrift Zum ewigen Frieden und in der Rechtslehre (I. und II.). Unter III. wird die Frage beantwortet, ob der Eintritt in den Völkerstaat erzwungen werden darf. Unter IV. geht es um den permanenten Staatenkongreß, der von Völkerstaat und Völkerbund zu unterscheiden ist. V. und VI. behandeln den von Kant besonders hervorgehobenen permanenten Staatenkongreß in Den Haag und den damit zusammenhängenden Droit public de l’Europe. Unter VII. geht es um die Aufgaben des permanenten Staatenkongresses. 5
I.
Völkerstaat und Völkerbund in der Schrift Zum ewigen Frieden
Zwei Jahre nach der Publikation des »Gemeinspruchs« mit seinen Ausführungen zum Völkerrecht kommt Kant in Zum ewigen Frieden auf das Thema zurück. Jeder Staat »kann und soll«, so heißt es am Beginn von Kants Ausführungen zum zweiten Definitivartikel, »um seiner Sicherheit willen von dem anderen fordern …, mit ihm in eine der bürgerlichen ähnliche Verfassung zu treten, wo jedem sein Recht gesichert werden kann.« Dann heißt es weiter: »Dies wäre ein Völkerbund, der aber gleichwohl kein Völkerstaat sein müßte.« 6 Damit wird Das Kapitel enthält eine Reihe von Ergänzungen des Kapitels 9 des Commentary. 8:354,3–9. – Eberl/Niesen S. 235 behaupten, das »müßte« sei als »dürfte« zu lesen. Das verändert den Sinn des Satzes völlig. Es ist zwar richtig, daß Kant das Wort »müssen« manchmal im Sinne von »dürfen« verwendet. Aber das ist keineswegs
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Völkerstaat und Völkerbund in der Schrift Zum ewigen Frieden
zum ersten Male der Gedanke eines von einem Völkerstaat zu unterscheidenden Völkerbundes in die Diskussion eingeführt, den es vorher (bei Saint-Pierre, bei Rousseau und bei Kant selbst, in seinen früheren Schriften) noch nicht gegeben hatte. 7 Angesichts der Bedeutung der Unterscheidung lohnt es sich, die logische Beziehung zwischen den Begriffen »Völkerstaat« und »Völkerbund« zu untersuchen, die Kant hier im Auge hat. In der Literatur wird häufig undiskutiert ein Gegensatz von »Völkerbund« und »Völkerstaat« vorausgesetzt. Danach wäre eine Verbindung von Staaten entweder ein »Völkerbund« oder ein »Völkerstaat«. Der Satz »Dies wäre ein Völkerbund, der aber gleichwohl kein Völkerstaat sein müßte« geht jedoch offensichtlich von einem anderen Verhältnis der beiden Begriffe aus. Der »Völkerbund« ist der Gattungsbegriff, der in zwei Artbegriffe zerfällt, 1) den Völkerstaat und 2) einen Völkerbund, der keinen staatlichen Charakter hat und den wir einen »bloßen Völkerbund« nennen wollen. Ein Völkerstaat ist danach eine Variante (eine Art) von Völkerbund. Nur unter dieser Voraussetzung ist der Satz, den wir hier untersuchen, grammatisch und semantisch möglich. Dabei ist der Ausdruck »bloßer Völkerbund« nicht Kants Terminologie. Kant spricht, wenn er den bloßen Völkerbund meint, von einem »Bund von besonderer Art«, vom »Friedensbund (foedus pacificum)«, vom »Surrogat des bügerlichen Gesellschaftsbundes«, vom »freien Föderalism«. 8 Der Unterschied zwischen einem Völkerstaat und einem bloßen Völkerbund besteht darin, daß in einem Völkerstaat die Staaten eine »oberste gesetzgebende Gewalt« anerkennen und damit »öffentlichen Gesetzen und einem Zwange unter denselben« 9 unterworfen sind, was beides in einem bloßen Völkerbund nicht der Fall ist. Zu der Frage, ob Kant den Völkerstaat dem bloßen Völkerbund vorzieht oder den letzteren dem Völkerstaat, heißt es in Zum ewigen immer der Fall. Es müßte also gezeigt (und nicht bloß behauptet) werden, daß »müßte« hier »dürfte« bedeutet. Wie wir weiter unten sehen werden, spricht der Kontext klar dagegen. – Dazu, wie Kant das Wort »müssen« verwendet, vgl. oben das dritte Kapitel Fn. 11. 7 Der »Völkerstaat«, von dem hier und im folgenden die Rede ist, sollte nicht mit dem Welteinheitsstaat verwechselt werden, den Kant im »Gemeinspruch« (unter dem Namen »weltbürgerliche Verfassung«) und in Zum ewigen Frieden (unter dem Namen »Universalmonarchie«) anspricht und verwirft. Auf den Welteinheitsstaat gehe ich hier nicht ein. Zu Einzelheiten vgl. statt dessen Commentary S. 196–198. 8 8:356,6–7 und 356,31–32. 9 Vgl. die Formulierungen in 8:356,29 und 356,13–14.
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V · Völkerstaat, Völkerbund und der permanente Staatenkongreß
Frieden: »Für Staaten im Verhältnisse untereinander kann es nach der Vernunft keine andere Art geben, aus dem gesetzlosen Zustande, der lauter Krieg enthält, herauszukommen, als daß sie, ebenso wie einzelne Menschen, ihre wilde (gesetzlose) Freiheit aufgeben, sich zu öffentlichen Zwangsgesetzen bequemen und so einen (freilich immer wachsenden) Völkerstaat (civitas gentium), der zuletzt alle Völker der Erde befassen würde, bilden.« Nur durch einen Völkerstaat wird der Naturzustand beendet. Also verlangt die Vernunft die Errichtung eines Völkerstaats. Klarer als an der hier zitierten Stelle kann man kaum ausdrücken, daß ein Völkerstaat einem bloßen Völkerbund vorzuziehen ist, und es ist beinahe überflüssig, wenn Kant ausdrücklich schreibt, daß die Staaten »sich zu öffentlichen Zwangsgesetzen bequemen« müssen, wenn sie der Forderung der Vernunft nachkommen wollen. 10 Was aber, wenn die Staaten der Forderung der Vernunft partout nicht nachkommen wollen? Wenn das der Fall ist (und das war im 18. Jahrhundert und ist noch heute der Fall), »so kann an die Stelle der positiven Idee einer Weltrepublik (wenn nicht alles verloren werden soll) nur das negative Surrogat eines den Krieg abwehrenden, bestehenden und sich immer ausbreitenden Bundes den Strom der rechtscheuenden, feindseligen Neigung aufhalten, doch mit beständiger Gefahr ihres Ausbruchs.« 11 Ein bloßer Völkerbund ist zwar besser als nichts, wenn nicht alles verloren sein soll, aber es ist wenig genug. Das Surrogat des bürgerlichen Gesellschaftsbundes ist ein »negatives Surrogat«, es beseitigt den Naturzustand nicht, statt dessen bleibt die »beständige Gefahr« offener Feindseligkeiten. 12
8:357,5–11. – Vgl. auch 8:379,6–10, wo Kant eine »nach reinen Rechtsprinzipien innere Verfassung des Staats, dann aber auch die Vereinigung desselben mit andern benachbarten oder auch entfernten zu einer (einem allgemeinen Staat analogischen) gesetzlichen Ausgleichung ihrer Streitigkeiten« fordert. Auf diese Stelle weist besonders Kleingeld S. 52 hin. 11 8:357,11–16. 12 Wenn Eberl/Niesen auf S. 242 schreiben, der (bloße) Völkerbund sei »durchweg ›positiv‹ zu bewerten«, so ist das nicht mehr eine »Interpretation« der Schrift Zum ewigen Frieden, sondern eine Kritik an Kant (ob eine berechtigte oder nicht berechtigte Kritik kann dabei durchaus dahingestellt bleiben). Aus dem oben wiedergegebenen Text geht klar hervor, daß Kant den bloßen Völkerbund alles andere als »durchweg positiv« bewertet. 10
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Völkerstaat und Völkerbund in der Rechtslehre
II.
Völkerstaat und Völkerbund in der Rechtslehre
In § 61 der Rechtslehre fordert Kant (wie schon in der Schrift Zum ewigen Frieden) den Eintritt in einen Völkerstaat: »Da der Naturzustand der Völker ebensowohl als einzelner Menschen ein Zustand ist, aus dem man herausgehen soll, um in einen gesetzlichen zu treten: so ist vor diesem Ereignis alles Recht der Völker und alles durch den Krieg erwerbliche und erhaltbare äußere Mein und Dein der Staaten bloß provisorisch, und kann nur in einem allgemeinen Staatenverein (analogisch mit dem, wodurch ein Volk Staat wird) peremtorisch geltend und ein wahrer Friedenszustand werden.« 13 Ganz bewußt nennt Kant den Völkerstaat hier einen »Verein«. »Verein« ist Kants Übersetzung des lateinischen »unio«. Als »unio« bezeichnet Hobbes den Staatsgründungsakt (durch den die künftigen Untertanen sich dem künftigen Staatsoberhaupt unterwerfen). 14 Deshalb nennt Kant auch den (Rechts-)Staat einen »bürgerlichen Verein (unio civilis)«. 15 Die Benutzung des Wortes »Verein« bei der Bildung des Ausdrucks »allgemeiner Staatenverein« weist damit auf die Parallelen zwischen dem Einzelstaat und dem Völkerstaat hin, die auch in der Klammerbemerkung angesprochen werden. Der allgemeine Staatenverein wird gegründet »analogisch mit dem [nämlich mit dem Verein], wodurch ein Volk Staat wird.« Kant bedient sich dabei der Zweideutigkeit des Wortes »Verein«, das sowohl den Vorgang als auch das Ergebnis des Einigungsakts bezeichnet. Dabei wird, wie auch der Klammerzusatz zeigt (»… wodurch ein Volk ein Staat wird«), an dieser Stelle der Einigungsvorgang betont. Die Analogie zwischen dem Völkerstaat, der in § 61 »allgemeiner Staatenverein« heißt, und dem einzelnen (Rechts-)Staat hat, wie wir (in der Einleitung zu diesem Kapitel) gesehen haben, Kant schon im »Gemeinspruch« benutzt, um auf den Staatscharakter des Völkerstaats hinzuweisen. Es kommt hinzu, daß Kant nicht nur in § 61 den allgemeinen Staatenverein ausdrücklich als »Völkerstaat« bezeichnet, 16 sondern daß er schon in § 43 (bei der Aufzählung der »Formen 6:350,6–12. Hobbes De Cive Cap. 5/7 = Opera II S. 214, Leviathan (lat.) Cap. 17 = Opera III S. 131. Auch der Abbé de Saint Pierre spricht in den einschlägigen Zusammenhängen von »Union« (»Européenne«), vgl. Projet S. VII u. ö. 15 6:306,36 (§ 41). Auch in 6:323,32 (Allg. Anm. B) spricht Kant vom Staat, der auch an dieser Stelle »bürgerlicher Verein« heißt. 16 In 6:350,13 spricht Kant mit Bezug auf den allgemeinen Staatenverein von »einem 13 14
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V · Völkerstaat, Völkerbund und der permanente Staatenkongreß
des rechtlichen Zustandes«) davon spricht, daß die Begriffe des Staatsrechts und des Völkerrechts »zu der Idee eines Völkerstaatsrechts unumgänglich« hinleiten. 17 Der bloße Völkerbund, auf den wir sogleich zu sprechen kommen werden, liefert ein Recht nur »in subsidium eines anderen und ursprünglichen Rechts«. 18 »In subsidium« bedeutet, daß ein bestimmtes Recht (nämlich das subsidiäre Recht) nur hilfsweise eingreift, 19 nämlich dann, wenn es sich als tatsächlich unmöglich herausstellt, das ursprüngliche Recht, das wir auch als das »primäre Recht« bezeichnen können, zu schaffen. Wenn also das Recht des bloßen Völkerbundes nur hilfsweise eingreift, dann heißt das, daß das primäre oder ursprüngliche Recht das Völkerstaatsrecht ist, dessen Schaffung eigentlich gefordert ist. Die Schaffung eines bloßen Völkerbundes wäre zwar besser als nichts, aber sie kann nicht leisten, was sie leisten sollte, nämlich einen »wahren Friedenszustand« zu schaffen. 20 Wenn wir also ernst nehmen, was Kant selbst schreibt, dann ergibt sich, daß Kant in der Rechtslehre die Schaffung eines Völkerstaats verlangt. Nichts deutet darauf hin, daß er einen bloßen Völkerbund dem Völkerstaat vorziehen würde. (Auf den »permanenten Staatenkongreß«, der von einigen Autoren als ein Völkerbund gedeutet wird, werden wir weiter unten, unter IV., zu sprechen kommen.) Ein »Völkerbund« wird in der Rechtslehre an einer einzigen Stelle, nämlich in § 54 erwähnt. 21 Untersuchen wir wieder die logische Beziehung zwischen den Begriffen »Völkerstaat« und »Völkerbund«. Ähnlich wie in der Schrift Zum ewigen Frieden ist der in § 54 Nr. 3 genannte »Völkerbund« der Gattungsbegriff, der nach § 54 Nr. 4 in zwei Artbegriffe zerfällt, 1) den Völkerstaat, der an dieser solchen Völkerstaat« (Hervorhebung von mir). Schon Kleingeld S. 52 weist auf diese Stelle hin. Es ist kaum zu verstehen, wie angesichts von Kants ausdrücklicher Gleichsetzung des »allgemeinen Staatenvereins« mit einem »Völkerstaat« in unmittelbarem Anschluß an die erste (und einzige) Erwähnung des »allgemeinen Staatenvereins« in der Rechtslehre, die Vorstellung aufkommen kann, Kants »allgemeiner Staatenverein« sei ein bloßer »Völkerbund«. 17 6:311,20–26 (§ 43); Hervorhebung von mir. 18 6:344,21–23 (§ 54). 19 Das ist die im 18. Jahrhundert (und auch noch heute) übliche Bedeutung des Ausdrucks »in subsidium«. Auch Achenwall verwendet den Ausdruck in diesem Sinne; vgl. Achenwall Iuris Naturalis Pars Posterior 5. Aufl. etwa § 194 und § 270 (= 19:412,11; 19:437,34 und 438,5). 20 Vgl. 6:350,12 (§ 61). 21 6:344,14 (§ 54).
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Kann der Eintritt in einen Völkerstaat durch Krieg erzwungen werden?
Stelle als eine »Verbindung« bezeichnet wird, der »souveräne Gewalt (wie in einer bürgerlichen Verfassung)« zukommt, und 2) einen bloßen Völkerbund, der also kein Völkerstaat ist, »sondern nur eine Genossenschaft (Föderalität)« enthält. »Völkerbund« ist danach der umfassende Begriff, der den Begriff des »Völkerstaates« einschließt. In § 54 geht Kants Forderung dahin, daß ein »Völkerbund, nach der Idee eines ursprünglichen gesellschaftlichen Vertrages,« gegründet werden muß, der aber kein Völkerstaat zu sein braucht. 22 Das soll heißen: Kant fordert die Gründung eines Völkerbundes (in dem hier dargestellten weiten Sinn des Wortes »Völkerbund«), und er erlaubt vorläufig (!), daß es bei einem bloßen Völkerbund bleibt. Die Gründung eines Völkerstaats kann zurückgestellt werden. Die Konsequenz ist freilich, daß aller bisheriger Erwerb von Land und anderen Sachen provisorisch (»einstweilig«) 23 bleibt und erst in einem allgemeinen Staatenverein, d. h. in einem Völkerstaat, peremtorisch (»gesichert«) 24 werden kann. 25
III. Kann der Eintritt in einen Völkerstaat durch Krieg erzwungen werden? Die Frage stellt sich, ob der Beitritt zu einem Völkerstaat durch Krieg erzwungen werden kann. Rousseau hat zu der Frage Stellung genommen. In seinem »Jugement« stellt Rousseau die Bemühungen des französischen Königs Henri IV. dar, in Europa einen fortdauernden Frieden zu schaffen. Damit endlich Frieden werde, sollte das »Haus Österreich« in einem letzten großen Krieg niedergerungen werden. Rousseau schildert die Vorbereitungen zu diesem Krieg, die über Jahrzehnte getroffen wurden. Henri IV. hat diesen Krieg nicht geführt. »Derselbe Dolchstoß, der den Lebensfaden dieses guten Königs zerriß, ließ Europa wieder in ewige Kriege versinken, die endigen zu sehen es nicht mehr hoffen darf.« 26 Am Schluß der Schrift findet Rousseau sehr kritische Worte. »Bewundern wir einen so schönen Plan, aber trösten wir uns, ihn nicht ausgeführt zu sehen; denn dies
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6:344,16–19 (§ 54). Siehe die Definition in 6:292,29–30 (§ 33). Siehe 6:292,29 (§ 33). 6:350,6–12 (§ 61). Rousseau »Jugement« S. 104/105. Henri IV. wurde 1610 ermordet.
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V · Völkerstaat, Völkerbund und der permanente Staatenkongreß
kann nur durch gewaltsame und der Menschlichkeit auf furchtbare Weise widersprechende Mittel geschehen. Staatenbünde werden nicht anders als durch Umwälzung gebildet, und wer von uns wagte, unter der Voraussetzung dieses Prinzips zu entscheiden, ob dieser europäische Bund zu wünschen oder aber zu fürchten sei? Er brächte vielleicht auf einen Schlag mehr Übel, als er für Jahrhunderte verhindern würde.« 27 Nehmen wir diesen Text als den Hintergrund, vor dem Kant in der Schrift Zum ewigen Frieden erklärt, daß »von Staaten nach dem Völkerrecht nicht eben das gelten kann, was von Menschen im gesetzlosen Zustande nach dem Naturrecht gilt, ›aus diesem Zustande herausgehen zu sollen‹.« 28 Oder, mit ein wenig anderen Worten: Das Gebot, aus dem gesetzlosen Zustand herauszugehen, gilt für Staaten nicht in derselben Weise, wie es für individuelle Personen gilt, die sich im Naturzustand befinden. Diese These Kants soll nicht bedeuten, daß Staaten nicht verpflichtet sind, den Naturzustand zu verlassen, aber nach dem (sogleich zu diskutierenden) Kontext bedeutet sie, daß die Staaten keinem rechtmäßigen Zwang von außen zur Beendigung des Naturzustandes unterworfen sind. Die Pflicht der Staaten, aus dem Naturzustand herauszugehen, ist, was auch immer sie ist, jedenfalls keine juridische Pflicht, deren Erfüllung erzwungen werden kann. 29 Wie Kant (in dem soeben zitierten Text 8:355,33–36) selbst bemerkt, verlangt die Unterscheidung zwischen der (erzwingbaren) Pflicht aller individuellen Personen und der (nicht erzwingbaren) Pflicht der Staaten zum Verlassen des jeweiligen Naturzustandes eine substanzielle Unterscheidung zwischen dem Naturrecht (der einzelnen im Naturzustande) und dem Völkerrecht (der Staaten im Naturzustande). Hobbes in De Cive unterscheidet zwar terminologisch zwischen dem »natürlichen Gesetz« (»lex naturalis«), das für einzelne Menschen gilt, auf der einen und dem »natürlichen Gesetz der Staaten« (»lex naturalis civitatum«), das auch »Gesetz der Völker« (»lex gentium«) heißt, gewöhnlich aber »Völkerrecht« (»ius gentium«) genannt werde, auf der anderen Seite. Aber er erklärt die Unterschei-
Rousseau »Jugement« S. 106/107. 8:355,33–36. 29 Zum Begriff der juridischen Pflicht siehe 6:218,24–219,11 (Einl. in die Metaphysik der Sitten III.). 27 28
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Kann der Eintritt in einen Völkerstaat durch Krieg erzwungen werden?
dung für sachlich nicht relevant. »Die Vorschriften beider Rechtsgebiete sind dieselben.« 30 Pufendorf schließt sich dem an. 31 Im 18. Jahrhundert urteilen Heineccius, Wolff, de Vattel und Achenwall genauso. 32 Das Völkerrecht im Naturzustand ist angewandtes Naturrecht (Wolff, de Vattel). Kant, der die Literatur kennt und auf die er (mit dem Vergleich von Völkerrecht und Naturrecht) auch anspielt, möchte in Zum ewigen Frieden mit der Tradition brechen. Der sprachlichen Unterscheidung zwischen Naturrecht und Völkerrecht entspricht, so Kant, eine sachliche. Nicht alle Rechtssätze des Völkerrechts korrespondieren Sätzen des Naturrechts. Die Begründung dafür, daß nicht alle Vorschriften des Naturrechts auf das Völkerrecht übertragbar sind, lautet, daß die Staaten »als Staaten innerlich schon eine rechtliche Verfassung haben und also dem Zwange anderer, sie nach ihren Rechtsbegriffen unter eine erweiterte gesetzliche Verfassung zu bringen, entwachsen sind.« 33 Die Stelle liefert den (oben versprochenen) Kontext, aus dem sich ergibt, daß Staaten nicht von ihren Nachbarn gezwungen werden dürfen, den Naturzustand zu verlassen und mit ihnen (den Nachbarstaaten) in einen Völkerstaat einzutreten. Inhaltlich ist sie Kants Versuch, das Völkerrecht vom Naturrecht abzutrennen. Der Versuch mißlingt. Wie wir sogleich sehen werden, kehrt Kant in der Rechtslehre zu der traditionellen Lehre von der Parallelität von Naturrecht und Völkerrecht zurück. Der Versuch der Trennung der beiden Rechtsgebiete mißlingt, weil Kant in Zum ewigen Frieden noch nicht zwischen den Begriffen »Staat (civitas)« und »Macht (potentia)« unterscheidet. In der Rechtslehre heißt ein politisches Gebilde als Ganzes »der Staat (civitas)«, wenn es »in Beziehung auf seine eigenen Glieder«, und es heißt »eine Macht (potentia) schlechthin«, wenn es im Verhältnis auf an-
Hobbes De Cive Cap. 14/4 = Opera II S. 316. »Praecepta utriusque eadem sunt.« Hobbes dürfte sich hier auf Grotius De Jure Belli ac Pacis beziehen, der im Untertitel seines Buches von »Jus Naturae et Gentium« spricht, wobei die Unterscheidung von ius naturae und ius gentium bei Grotius unklar bleibt; zu Grotius vgl. Ziegler Völkerrechtsgeschichte S. 131. 31 Pufendorf De Jure Lib. II Cap. III § 23 = Werke Bd. 4.1 S. 160. 32 Heineccius Elementa Lib. I §§ XXI und XXII; Wolff Jus Gentium Prolegomena § 3 und § 4; de Vattel Le Droit des Gens Tome I. Préliminaires § 7, § 8; Achenwall Iuris Naturalis Pars Posterior 5. Aufl. § 210 und § 213 (= 19:419,36–420,4 und 19:420,22– 32). 33 8:355,36–356,1. 30
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V · Völkerstaat, Völkerbund und der permanente Staatenkongreß
dere Völker gesehen wird. 34 Auf der Grundlage dieser (notwendigen) Unterscheidung ist ein Schluß von der inneren Verfassung eines Staates darauf, daß er (der Staat) den Rechtsbegriffen anderer Staaten für die (Außen-)Beziehungen mit diesen anderen Staaten »entwachsen« sei, nicht möglich. Das öffentliche (positive) Recht, das ein Staat eingerichtet hat, besteht nur im Inneren dieses Staates und wirkt nur nach innen. Das Recht, das ein Staat in seinen Außenbeziehungen anwendet, ist und bleibt, wie Kant auch schon in Zum ewigen Frieden sieht, 35 vor der Errichtung eines zureichenden öffentlichen Rechts der Völker ein bloßes »Privatrecht«. Es ist »privates« (und also nicht ein »öffentliches«) Recht dieses Staates und nicht mehr. Dementsprechend kehrt Kant in der Rechtslehre zu der Doktrin der Naturrechtslehre seit Hobbes zurück, daß zwischen dem Naturrecht im Verhältnis zwischen einzelnen Personen zueinander und dem Völkerrecht im Naturzustande kein substanzieller Unterschied besteht. Das Völkerrecht »führt nur das Unterscheidende von dem des Naturzustandes einzelner Menschen oder Familien (im Verhältnis gegeneinander) von dem [Naturzustand] der Völker bei sich, daß im Völkerrecht nicht bloß ein Verhältnis eines Staats gegen den anderen im ganzen, sondern auch einzelner Personen des einen gegen einzelne des anderen, imgleichen gegen den ganzen anderen Staat selbst in Betrachtung kommt.« 36 Damit wird der Anwendungsbereich des Völkerrechts bestimmt. Zum Völkerrecht gehören nicht nur die Regeln, die die Beziehungen zwischen den Staaten, sondern auch die Regeln, die die Beziehungen zwischen den Angehörigen des einen Staates zu den Angehörigen eines anderen Staates oder zu einem fremden Staat als ganzem betreffen. Aber inhaltlich gibt es keine Unterschiede zum Naturrecht, das die Beziehungen zwischen den einzelnen Menschen im Naturzustande regelt. Für das Völkerrecht (im Naturzustande) bedarf das »Recht einzelner im bloßen Naturzustande« nur solcher Präzisierungen, »welche sich aus dem Begriffe des letzteren [d. i. des »Rechts einzelner im bloßen Naturzustande«] leicht folgern lassen.« 37 Ausdrücklich distanziert sich Kant hier von seiner eigenen These
6:311,12–19 (§ 43). Schon Rousseau Du Contrat Social Livre prémier Chapitre VI am Ende, kennt die Unterscheidung, die Kant in der Rechtslehre (§ 43) übernimmt. 35 8:383,17–20. 36 6:343,25–344,2 (§ 53); Hervorhebung von mir. 37 6:344,2–4 (§ 53). 34
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Kann der Eintritt in einen Völkerstaat durch Krieg erzwungen werden?
in Zum ewigen Frieden, daß bestimmte Regeln, die für einzelne Menschen im Naturzustand gelten, im Völkerrecht des Naturzustandes zwischen Staaten nicht gelten. Infolgedessen gilt nicht nur das Gebot, den Naturzustand zu verlassen und in einen rechtlichen Zustand (einen »Staat«) einzutreten, d. i. das »Postulat des öffentlichen Rechts« (§ 42 der Rechtslehre), gleichermaßen für individuelle Personen wie für Staaten. Auch der Satz, daß es »dem Subjekt erlaubt« ist, »jeden anderen, mit dem es zum Streit des Mein und Dein« über »äußere Gegenstände meiner Willkür« kommt, »zu nötigen«, mit ihm (dem genannten Subjekt) zusammen »in eine bürgerliche Verfassung zu treten,« 38 gilt für Staaten genauso wie für individuelle Personen. Es gibt, so Kant im Abschnitt über das Völkerrecht, ein Recht der Staaten, »einander zu nötigen, aus [dem] Kriegszustande herauszugehen,« 39 oder, mit anderen Worten, ein »Recht zum Kriege freier Staaten gegeneinander im Naturzustande, um … einen dem rechtlichen sich annähernden Zustand zu stiften.« 40 Das Recht, für die Errichtung eines rechtlichen Zustandes auf der völkerrechtlichen Ebene einen Krieg zu führen, ist nichts als eine Konsequenz daraus, daß das Völkerrecht im Naturzustande angewandtes Naturrecht ist.
6:256,14–18 (§ 8). Hervorhebung im Original. 6:343,24–25 (§ 53). 40 6:344,25–27 (§ 55). Kant zieht an dieser Stelle lediglich die Konsequenzen aus der Parallelität zwischen dem Naturrecht und dem Völkerrecht, und dem ist nichts hinzuzufügen. Koch Mikalsen S. 306–307 möchte die Aussage Kants mit der Begründung abschwächen, der Rest des § 55 behandele einen anderen Gegenstand als den des Rechts zum Kriege auf der Ebene des Völkerrechts. Daß Kant in § 55 noch andere Themen als das Recht zum Kriege anspricht, ändert nichts an seiner klaren Aussage. – Mertens S. 243–244 hält es für unwahrscheinlich, daß Kant in der Zeit zwischen 1795 und 1797 seine Auffassung geändert habe. Freilich setzt er damit seine eigenen Vorstellungen über das, was richtig oder nicht richtig ist, an die Stelle des Kant-Textes. Mertens stößt sich vor allem daran, daß die Staaten im Naturzustand selbst entscheiden (müssen), ob in einer konkreten Situation ein Krieg zu rechtfertigen ist oder nicht. Der Grund dafür, daß die Staaten die Entscheidung selbst treffen müssen, ist einfach der, daß »Zwistigkeiten« zwischen Staaten im Naturzustande nicht, wie »im rechtlichen Zustande«, »durch einen Prozeß« entschieden werden können (6:346,12– 14; § 56). Denn der Naturzustand ist u. a. gerade dadurch definiert, daß es eine mit der notwendigen Macht ausgestattete (vgl. 6:312,19–21; § 44) Gerichtsbarkeit über die Staaten nicht gibt. 38 39
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V · Völkerstaat, Völkerbund und der permanente Staatenkongreß
IV. Zum permanenten Staatenkongreß Jeder Völkerbund, sei es ein Völkerstaat, sei es ein bloßer Völkerbund, erfordert einen positiven Gründungsakt, der jedenfalls dann, wenn es um die Gründung eines Völkerstaates geht, mit Kant als die »Erwerbung eines öffentlichen rechtlichen Zustandes durch Vereinigung des Willens aller zu einer allgemeinen Gesetzgebung« 41 bezeichnet werden kann. Der Gründungsakt ist ein Vertrag der künftigen Mitgliedstaaten miteinander über den Beitritt jedes dieser Mitglieder zu der Vereinigung. Wenn Kant in der Rechtslehre im Zusammenhang mit dem Völkerbund auf die »Idee eines ursprünglichen gesellschaftlichen Vertrages« zu sprechen kommt, 42 dann hebt er damit u. a. die Notwendigkeit eines Gründungsvertrages zwischen den Mitgliedern hervor. Neben der Möglichkeit einer Vereinigung durch allseitige Zustimmung denkt Kant in der Rechtslehre aber auch an »Verbindungen« von Staaten, die anders als durch einen multilateralen Vertrag entstehen, die aber ebenfalls friedensfördernd sind. Eine Verbindung dieser Art nennt Kant (in § 61 der Rechtslehre) einen »permanenten Staatenkongreß«. Da der permanente Staatenkongreß in der Literatur fälschlich mit dem bloßen Völkerbund gleichgesetzt wird, 43 müssen wir uns den Kontext näher ansehen, in dem Kant den permanenten Staatenkongreß einführt. Die hier interessierende Stelle beginnt mit der Bemerkung, »der ewige Friede (das letzte Ziel des ganzen Völkerrechts)« sei letztlich »eine unausführbare Idee«. Dann heißt es weiter: »Die politischen Grundsätze aber, die darauf abzwecken, nämlich solche Verbindungen der Staaten einzugehen, als zur kontinuierlichen Annäherung zu demselben dienen, sind es nicht, sondern, so wie diese eine auf der Pflicht, mithin auch auf dem Rechte der Menschen und Staaten gegründete Aufgabe ist, allerdings ausführbar.« 44 Was Kant hier fordert, sind »Verbindungen der Staaten«, die der »kontinuierlichen Annäherung« an den ewigen Frieden dienen. An diese »Verbindungen« knüpft der Einleitungssatz des nächsten Absatzes an: »Man 6:259,23–26 (§ 10). 6:344,14–15 (§ 54). 43 So, ohne Begründung, Ripstein S. 227 und 229–230 und, ebenfalls ohne Begründung, Koch Mikalsen S. 302 und 306 und Mertens S. 239–240. 44 6:350,16–22 (§ 61). Die Verwendung des »als« (statt eines »die«) ist (für uns) altertümlich, aber immer noch verständlich. 41 42
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Zum permanenten Staatenkongreß
kann einen solchen Verein einiger Staaten, um den Frieden zu erhalten, den permanenten Staatenkongreß nennen, …« 45 Die Anknüpfung an den unmittelbar voranstehenden Satz ergibt sich aus dem Ausdruck »ein solcher Verein einiger Staaten« und aus dem Nebensatz »um den Frieden zu erhalten«, der auf die Funktion der »Verbindungen der Staaten« hinweist, einer kontinuierlichen Annäherung an den ewigen Frieden zu dienen. Daraus folgt, daß die Rückverweisung sich nicht auf den »allgemeinen Staatenverein« bezieht, über den Kant im ersten Absatz des § 61 spricht. 46 Folglich ist der permanente Staatenkongreß nicht mit dem »allgemeinen Staatenverein« identisch, also auch nicht mit dem von Kant angestrebten Völkerstaat und schon gar nicht, wie in der Literatur angenommen wird, mit einem bloßen Völkerbund. Statt dessen unterscheidet sich, wie sich sogleich zeigen wird, der permanente Staatenkongreß von einem Völkerstaat oder einem bloßen Völkerbund ganz erheblich. An keiner Stelle setzt Kant den permanenten Staatenkongreß des § 61 mit dem bloßen Völkerbund des § 54 Nr. 4 gleich. Schon die Wortwahl (hier: »permanenter Staatenkongreß«, dort: »Völkerbund«, zwei höchst verschiedene Ausdrücke) spricht dagegen, den permanenten Staatenkongreß einfach mit dem bloßen Völkerbund zu identifizieren. Es kommt hinzu, daß Kant sich deutlich bemüht (»Man kann … nennen«) 47, für das Modell, das er beschreiben will, einen Namen zu finden. Er sucht einen Namen für eine GesandtenVersammlung, die der Versammlung der Diplomaten entspricht, die in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Den Haag anwesend waren, und er findet den Namen »permanenter Staatenkongreß«. Weder die Suche nach einem Namen noch die Erfindung eines neuen Namens wären nötig gewesen, wenn der permanente Staatenkongreß mit einem bloßen Völkerbund gleichzusetzen wäre, über den sich Kant in § 54 der Rechtslehre (und damit in demselben Buch, in dem der permanente Staatenkongreß zum ersten Male erwähnt wird) schon längst geäußert hat.
6:350,23–24 (§ 61). Bei einer solchen Rückverweisung wäre der Nebensatz »um den Frieden zu erhalten« im Kontext des zweiten Absatzes unmotiviert. 47 6:350,23–24 (§ 61). 45 46
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V · Völkerstaat, Völkerbund und der permanente Staatenkongreß
V. Der permanente Staatenkongreß in Den Haag Der Name »permanenter Staatenkongreß« könnte heute irreführen. Kant denkt nicht an Kongresse von der Art des Kongresses von Utrecht von 1713 oder des (späteren) Wiener Kongresses von 1815, die wegen eines jeweils besonderen Anlasses zusammentraten und sich nach mehr oder weniger kurzer Zeit wieder auflösten. Denn Kongresse wie der Utrechter und der Wiener Kongreß waren keine »permanenten« Kongresse. Als unmittelbare Vergleichsmodelle scheiden sie damit aus. »Kongresse«, die »permanent« waren, wurden dagegen genannt 1) der »immerwährende Reichstag« in Regensburg, 2) das US-amerikanische Parlament in Washington. Der amerikanische Kongreß führte damals wie heute den Namen »Congress«, und auch der Regensburger Reichstag wurde im 18. Jahrhundert als »Kongreß« bezeichnet, u. a. von Saint-Pierre und von Rousseau. Kant übernimmt den Namen »permanenter Staatenkongreß« von Rousseau. In seinem »Extrait« bezeichnet Rousseau das oberste Organ des von ihm vorgeschlagenen europäischen Völkerstaats, in Anlehnung an den »congrez perpetuel« des Abbé de Saint-Pierre, 48 als »congres permanent«. 49 Das Modell für einen solchen ständigen Kongreß ist, bei Saint-Pierre wie bei Rousseau, der »immerwährende Reichstag« des alten Reichs (»immerwährend« = »permanent«), wobei freilich kein Zweifel daran bestehen kann, daß die beiden Autoren, inbesondere Saint-Pierre, die Entstehung des alten Reichs und seine Bedeutung nach dem Westfälischen Frieden von 1648 falsch eingeschätzt haben. 50 Wenn wir mit dem immerwährenden Reichstag den Namen einer Stadt assoziieren, dann ist dies Regensburg, wo (während der meisten Zeit seiner Bestehens) der Sitz des Reichstags war. Wir werden den zweiten und dritten Absatz des § 61 der Rechtslehre deshalb vor dem Hintergrund von Rousseaus »Extrait« lesen müssen. Wer Rousseau gelesen hat, mag erwarten, daß der Name der Stadt Regensburg fällt. Aber Kant, der die Arbeit des immerwährenden Reichstags durchaus schätzt, 51 erwähnt Regensburg nicht. Statt dessen schreibt er, daß ein permanenter Staatenkongreß in der 48 49 50 51
Projet S. VII und S. 120. Rousseau »Extrait« S. 44. Vgl. Saint-Pierre Der Traktat Einl. des Hg. S. 19*–21*; Asbach S. 123–156. Siehe unten Text zu Fn. 63.
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Der permanente Staatenkongreß in Den Haag
ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Den Haag stattgefunden habe, 52 und er nimmt diesen permanenten Staatenkongreß in Den Haag als Modell. Das liegt daran, daß Kant nicht an einen »Kongreß« denkt, der, wie er mit Bezug auf den amerikanischen Kongreß ausdrücklich sagt, auf einer Verfassung beruht und infolgedessen »unauflöslich« ist. Statt dessen denkt Kant an einen »Kongreß«, der nicht auf einer Verfassung beruht (und infolgedessen auflöslich ist). Der Reichstag in Regensburg beruhte auf einer Verfassung und war, wie der amerikanische Kongreß, unauflöslich. Damit scheidet der Reichstag zusammen mit dem amerikanischen Kongreß als Modell aus. Das Modell eines jederzeit auflöslichen, aber permanenten Kongresses (oder, mit Kant, einer »Zusammentretung verschiedener Staaten«), der sich sowohl von dem Kongreß in Washington als auch von dem Kongreß in Regensburg unterscheidet, finden wir danach in Den Haag. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts (wie schon in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts) war Den Haag, wie es später heißt, 53 der »Mittelpunkt der europäischen Diplomatie«. 54 François Michel Janiçon, der weiß, wovon er redet, beschreibt 1729 die Versammlung der Generalstaaten in Den Haag als »le centre presque toutes les Négociations de l’Europe« (das Zentrum fast aller Verhandlungen in Europa). 55 In Den Haag fand eine de facto-Versammlung 6:350,27–28 (§ 61). Vgl. etwa Meyers Großes Konversations-Lexikon Art. »Haag« Sp. 572. 54 Vgl. Legutke, Diplomatie als soziale Institution – Brandenburgische, sächsische und kaiserliche Gesandte in Den Haag 1648–1720 schreibt auf S. 13–15: »Die Republik der Vereinigten Niederlande und ihr Regierungssitz Den Haag waren in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts eines der Zentren dieses in seiner Intensität neuartigen europäischen Gesandtenwesens.« Bei kleinen wie großen Konflikten »spielte Den Haag als Verhandlungsort und Sammelpunkt zahlreicher Gesandter eine kaum zu überschätzende Rolle. Der niederländische Regierungsitz war für einige Jahrzehnte Dreh- und Angelpunkt europäischer Politik. Lokale, regionale und europäische Allianzen und Kriege wurden dort vorbereitet und beigelegt, wurden öffentlich präsentiert und auf der Bühne des Theatrum Europaeum in Den Haag gerechtfertigt. Im Zeitalter der Allianzkriege kam Den Haag seit den westfälischen Friedensschlüssen bis in die ersten beiden Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts damit eine Schlüsselstellung zu.« Den Haag wurde von einem »Treffpunkt von Gesandten zum Brennpunkt europäischer Diplomatie«. Legutke beschränkt sich auf den Zeitraum bis 1720. Was er schreibt, gilt aber auch, wie nicht zuletzt die sofort oben im Text wiederzugebende Stelle bei Janiçon aus dem Jahre 1729 zeigt, noch für einige Zeit nach dem Jahre 1720. Vgl. auch die Bemerkung eines anonymen Übersetzers unten in Fn. 78. 55 Janiçon, S. 91: »Une autre marque de la grandeur et de l’autorité des Etats Géneraux, c’est le concours des Ministres les Puissances étrangères envoyent à la Haye, et 52 53
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V · Völkerstaat, Völkerbund und der permanente Staatenkongreß
der europäischen Staaten statt. Wenn wir heute sagen, Den Haag sei in dem fraglichen Zeitraum »der Mittelpunkt der europäischen Diplomatie« gewesen, dann sagt Kant, in Den Haag habe ein »permanenter Staatenkongreß« stattgefunden, und er meint damit dasselbe historische Phänomen. Die de facto-Versammlung der Diplomaten in Den Haag beruhte nicht auf einem Vertrag aller Beteiligten (wie dies sowohl für einen Völkerstaat als auch für einen bloßen Völkerbund notwendig wäre), sondern auf bilateralen Vereinbarungen der Regierung der Niederlande (der »Versammlung der Generalstaaten im Haag«) mit den einzelnen Staaten, die ihre Diplomaten nach Den Haag schickten. Kant nennt, in Übereinstimmunng mit dem damaligen Sprachgebrauch, die Diplomaten »Minister«. Die »meisten europäischen Höfe und selbst die kleinsten Republiken« waren in Den Haag vertreten, und ihre Diplomaten waren bei der Versammlung der Generalstaaten akkreditiert, oder, wie Kant das ausdrückt, der permanente Staatenkongreß fand »in der Versammlung der Generalstaaten« statt. 56 Das »in« bedeutet, in unserer heutigen Sprache, »bei«. 57 Der permanente Staaqui rendent l’Assemblée des Etats Géneraux le centre de presque toutes les Négaciations de l’Europe.« (Ein weiteres Zeichen der Größe und der Autorität der Generalstaaten ist das Zusammentreffen der Minister, die die auswärtigen Mächte nach Den Haag schicken und die die Versammlung der Generalstaaten zum Zentrum beinahe aller Verhandlungen in Europa machen.) Janiçon stand in einer engen Verbindung mit dem Gesandten des Landgrafen von Hessen-Kassel in Den Haag, dem er auch sein Buch widmete. 56 Die »Versammlung der General-Staaten« (so der offizielle Name, niederländisch [nach Achenwall]: »Vergadering der Staaten Generaal of Algemeene Staaten«) war, wie Achenwall das 1768 beschreibt, ein Kollegium von »bevollmächtigten Gesandten« der sieben niederländischen Provinzen, das in Den Haag tagte. Sie war »das allgemeine Regierungs-Collegium der Union«, also das oberste Regierungsorgan der Niederlande. Vgl. Achenwall Staatsverfassung S. 369–370. 57 Nach Heyne im Grimm’schen Wörterbuch (Art. »in« Sp. 2087 [unter h]) hatte das Wort »in«, wenn es »sich auf eine Gemeinschaft innerhalb einer Bevölkerung, einer Gesellschaft bezieht«, früher (auch) den Sinn von »bei« oder »unter« (wenn wir dabei vom heutigen Deutsch ausgehen). Noch bei Lessing findet sich der Ausdruck »in den Heiden« mit der Bedeutung von »bei den Heiden« oder »unter den Heiden«. Die Annahme, das »in« an unserer Stelle bedeute »bei«, wird dadurch unterstützt, daß auch das lateinische »in«, verbunden mit dem Ablativ, die Bedeutung von »bei« haben kann, etwa in dem Ausdruck »in vino immodicum esse« (= »Beim Weintrinken unmäßig sein«; vgl. Georges Art. »in« Sp. 125 [unter C]). Daß Kants Sprache vom Lateinischen beeinflußt worden ist, liegt aus vielen Gründen, die hier nicht untersucht werden können, auf der Hand. Damit bietet sich eine Interpretation des »in« in unserer Stelle als »bei« von selbst an.
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Der permanente Staatenkongreß in Den Haag
tenkongreß, den Kant im Auge hat, hat bei der Versammlung der Generalstaaten stattgefunden. Kant betont die »Auflöslichkeit« des Kongresses, an den er denkt. Der Kongreß ist eine »zu aller Zeit auflösliche Zusammentretung verschiedener Staaten«. 58 Die Versammlung der Diplomaten in Den Haag war »auflöslich« gerade deswegen, weil sie nicht auf einem multilateralen Vertrag und damit nicht auf einer Verfassung beruhte. Deshalb beschreibt Kant den Kongreß auch als eine »willkürliche … Zusammentretung verschiedener Staaten«. Die Anwesenheit der Diplomaten jedes einzelnen Staates beruhte auf der freien Entscheidung der jeweiligen Regierung, nicht auf einer Vertragspflicht, und war also »willkürlich«. Jedem benachbarten Staat blieb es »unbenommen«, sich dem permanenten Staatenkongreß »zuzugesellen«. 59 Die Beteiligung eines Staates bedurfte lediglich der Zustimmung der Versammlung der Generalstaaten. Von der Zustimmung der übrigen Staaten war sie nicht abhängig. Die Bezeichnung einer solchermaßen »willkürlichen«, »zu aller Zeit auflöslichen« de facto-Ansammlung von Diplomaten an einem bestimmten Ort als »Kongreß« ist keine Idiosynkrasie Kants, weil das lateinische »congressus« schlicht »Zusammenkunft« oder (mit Kant) »Zusammentretung« bedeutet. Der Zeitgenosse des permanenten Kongresses Janiçon spricht von einem »concours« der Minister, die die auswärtigen Mächte nach Den Haag geschickt haben. 60 »Concours« und »Kongreß« bedeuten dasselbe. Die Auflöslichkeit hat der permanente Staatenkongreß mit den bereits erwähnten Kongressen von der Art des Utrechter oder Wiener Kongresses gemeinsam, die zwar nicht »permanent« sind, die aber trotzdem als »willkürliche Zusammentretungen verschiedener Staaten« bezeichnet werden können (und müssen). Aus der »Auflöslichkeit« des permanenten Staatenkongresses wird in der Literatur gelegentlich der Schluß gezogen, der permanente Staatenkongreß und ein bloßer Völkerbund seien identisch, weil auch ein bloßer Völkerbund angeblich »auflöslich« ist. Für den bloßen Völkerbund, der auf einem multilateralen Vertrag beruht, denkt Kant jedoch an eine »Kündigung« der Verbündung, 61 während der 6:351,1–2 (§ 61). In der 2. Auflage des Originals von 1798 heißt es auf S. 258 »ablöslich«. Ich lese mit der Akademie-Ausgabe »auflöslich«. Die Hervorhebung ist im Original. 59 Vgl. 6:350,24–25 (§ 61). 60 S. o. Fn. 55. 61 6:344,20 (§ 54). 58
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V · Völkerstaat, Völkerbund und der permanente Staatenkongreß
permanente Staatenkongreß als eine nicht-förmliche Verbindung auch ohne Kündigung »zu aller Zeit auflöslich« ist. Die Auflösung eines permanenten Staatenkongresses erfolgt nicht durch Kündigung, sondern (wie bei den nicht permanenten Kongressen) durch Abreise der Diplomaten. Wenn wir Kants permanenten Staatenkongreß mit einem Phänomen vergleichen wollen, das wir aus unserer eigenen Zeit kennen, dann können wir an die »runden Tische« denken, die in der jüngeren Vergangenheit stattgefunden haben und die auch in der Gegenwart noch gelegentlich stattfinden. Wie auch immer wir einen »runden Tisch« definieren, so ist ein runder Tisch doch jedenfalls eine lose, lockere, nicht-förmliche, nicht-verrechtlichte Verbindung von Personen, die tatsächliche Gespräche verschiedener Parteien und Gruppierungen miteinander ermöglicht. Natürlich war der permanente Staatenkongreß in Den Haag kein »runder Tisch« im Sinne des späten 20. und des frühen 21. Jahrhunderts, aber er war doch wie ein »runder Tisch« eine lose, lockere, nicht-förmliche, nicht-verrechtlichte Verbindung von Personen, die tatsächliche Gespräche verschiedener Parteien und Gruppierungen miteinander ermöglicht hat – und das ist für Kant das entscheidende Kriterium für die Brauchbarkeit eines permanenten Staatenkongresses zur Friedensstiftung. Daß die Versammlung in Den Haag eine de facto-Versammlung war, ändert nichts daran, daß der Kongreß in Den Haag ein permanenter Kongreß gewesen ist. Gesandte kommen und gehen, der Kongreß bleibt bestehen. Der Kongreß hatte, beginnend mit dem Westfälischen Frieden von 1648, rund einhundert Jahre lang Bestand, und Kant beklagt, daß es ihn (zur Zeit der Abfassung der Rechtslehre) nicht mehr gibt. 62 Er stellt den de facto-Kongreß in Den Haag (relativ) ausführlich dar, (1) um zu zeigen, daß ein nicht-förmlicher Kongreß ähnliches leisten kann wie ein förmlicher Kongreß, etwa der Reichstag in Regensburg, der, wie es in einer Vorlesungsnachschrift heißt, »viele Beispiele von glücklich entschiedenen Streitigkeiten« lieferte, 63 und (2) vor allem um zu zeigen, daß ein permanenter Kongreß wie der in Den Haag notwendig ist, um das erklärte Ziel, die Einrichtung eines Völkerstaats, (schrittweise) zu erreichen. Wir werden darauf zu sprechen kommen (unten VII.).
62 63
Vgl. die abschließende Bemerkung in 6:350,33–36 (§ 61). Vgl. 25:1411,27–1412,5 (Anthropologie Mrongovius).
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Der Droit public de l’Europe – Das Europäische Öffentliche Recht
VI. Der Droit public de l’Europe – Das Europäische Öffentliche Recht Zeitgleich mit der Existenz von Den Haag als Zentrum der europäischen Diplomatie entwickelt sich ein Phänomen, das später unter dem Namen »Droit public de l’Europe« bekannt wurde (nach dem so betitelten Werk von Gabriel Bonnot de Mably von 1746). 64 Der Droit public de l’Europe besteht aus den Verträgen, die die europäischen Mächte mit dem Westfälischen Frieden und in der Folgezeit miteinander abgeschlossen haben. Die Verträge schufen ein umfassendes europäisches Völkerrecht. 65 Wenn Kant am Ende des § 61 von der »Idee eines zu errichtenden öffentlichen Rechts der Völker« spricht, dann ist das ein Widerhall dieses öffentlichen Rechts von Europa. 66 Auch die in § 60 der Rechtslehre genannten »öffentlichen Verträge« 67 sind eine Anspielung auf die von den Europäern abgeschlossenen Verträge. Der Droit public de l’Europe wird, unter genau diesem Namen, von Rousseau im »Extrait« kritisiert, weil er nicht auf allgemeinen Prinzipien beruhe und Regelungswidersprüche enthalte. 68 Auch dann, wenn die Kritik zutrifft, ändert das nichts daran, daß der Droit public de l’Europe einen Zustand begründet hat, den man einen »dem rechtlichen sich annähernden Zustand« 69 nennen könnte und der es verständlich macht, wenn Kant den in Den Haag versammelten Diplomaten die Vorstellung zuschreibt, daß sie »sich ganz Europa als einen einzigen föderierten Staat dachten« 70 (was übrigens nicht heißt, daß Kant diese Vorstellung teilt). Mably Le droit public de l’Europe fondé sur les traitéz conclus jusqu’en l’année 1740, 1746. Spätere Auflagen haben den Titel: Le Droit public de l’Europe fondé sur les Traités depuis la paix de Westphalie jusqu’a nos jours. 65 Reibstein zählt auf S. 387 die zum Droit public de l’Europe gehörigen Verträge auf. – Zur zeitlichen Einordnung des Droit public de l’Europe vgl. Ziegler S. 157–158. 66 »Öffentliches Recht der Völker«, »jus publicum gentium« ist für Kant ein stehender Ausdruck; vgl. auch 23:351,7 (Vorarbeiten), 27:590,31, 27:591,2–3 (VigilantiusNachschrift). 67 6:349,26 (§ 60). 68 Rousseau »Extrait« S. 26/27. 69 Vgl. 6:344,36–37 (§ 55). 70 6:350,31–32 (§ 61), insbesondere wenn wir das Wort »Staat«, mit Kant, als einen Ausdruck nehmen, der einen rechtlichen Zustand bezeichnet. – Die Vorstellung von Europa als einem »Staat« wird auch von dem (später bekannt gewordenen) Professor des öffentlichen Rechts Johann Jacob Moser geteilt, der 1732 ein Buch mit dem Titel publiziert: Anfangs-Gründe der Wissenschafft von der gegenwärtigen Staatsverfassung von Europa Und dem unter denen europäischen Potenzien üblichen Völker- oder 64
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V · Völkerstaat, Völkerbund und der permanente Staatenkongreß
Kant schreibt über die Gesandten in Den Haag auch, sie hätten den »föderierten Staat« Europa in »ihren öffentlichen Streitigkeiten« »gleichsam als Schiedsrichter« angenommen. 71 Der Satz enthält offensichtlich eine Metapher. Wenn Europa ein »Staat« war, dann ist es begrifflich ausgeschlossen, daß dieser »Staat« als »Schiedsrichter« auftrat. Denn nur natürliche Personen können Schiedsrichter sein. Die Metaphorik wird durch die Formulierung »gleichsam als Schiedsrichter annahmen« noch unterstrichen. Auch der »Schiedsrichter« ist eine Metapher. 72 Kant beschreibt die Tätigkeit der Diplomaten in der Sprache der Entwürfe von Saint-Pierre und Rousseau, die dem von ihnen vorgeschlagenen »permanenten Kongreß« die Aufgabe übertragen, die »Streitigkeiten zwischen den verschiedenen Souveränen« »par voies d’arbitrage ou de jugement« (durch Schiedsspruch oder Urteil) zu beenden. 73 Das schließt natürlich nicht aus, daß in Den Haag Differenzen auch tatsächlich durch Schiedsrichter oder Mediatoren beigelegt worden sind, auch wenn später (im 20. Jahrhundert) geurteilt worden ist, daß die Erledigung von Streitigkeiten auf diesem Wege in der politischen Praxis keine große Bedeutung hatte. 74
VII. Die Aufgabe eines permanenten Staatenkongresses Damit kommen wir zu der Schlußbemerkung des § 61 der Rechtslehre, wo es heißt, daß durch einen permanenten Staatenkongreß (von der Art des Kongresses in Den Haag) »allein die Idee eines zu errichtenden öffentlichen Rechts der Völker, ihre Streitigkeiten auf zivile Art, gleichsam durch einen Prozeß, nicht auf barbarische (nach Art der Wilden), nämlich durch Krieg, zu entscheiden, realisiert werden kann.« 75 Es ist notwendig, die Gerundivform zu beachten, die Kant verwendet, wenn er von der »Idee eines zu errichtenden öffentallgemeinen Staatsrechte. Schon dieser Titel setzt ganz Europa als einen einzigen »Staat« voraus. 71 6:350,31–33 (§ 61). 72 Bei den »Beschwerden«, die die Minister in Den Haag »anbrachten«, dürfen wir nicht an »Beschwerden« im Sinne eines förmlichen Rechtsmittels denken. »Beschwerden« sind »gravamina« (s. 6:319,17; Allg. Anm. A), Gegenvorstellungen, die ein Mensch erhebt, der sich zu Unrecht belastet fühlt. 73 Rousseau »Extrait« S. 44. 74 Reibstein S. 395. 75 6:351,5–8 (§ 61).
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Die Aufgabe eines permanenten Staatenkongresses
lichen Rechts der Völker« spricht. Die Stelle besagt nicht, daß es die Idee des öffentlichen Rechts der Völker, sondern sie besagt, daß es die Idee der Errichtung des öffentlichen Rechts der Völker ist, die durch einen permanenten Staatenkongreß allein Wirklichkeit werden kann. Kant geht davon aus, daß es einen Völkerbund oder gar einen Völkerstaat noch nicht gibt. Mit dem Postulat des öffentlichen Rechts (§ 42 der Rechtslehre) fordert er die Schaffung, die Errichtung eines rechtlichen Zustandes der Staaten (d. h. er fordert einen Völkerstaat; s. o. II.). Dem Gebot, einen Völkerstaat zu errichten, aber können die Staaten nur nachkommen, wenn sie sich, vertreten durch ihre Minister, tatsächlich treffen, oder, mit Kant, nur über einen permanenten Staatenkongreß kann die Idee der Einrichtung eines öffentlichen Völkerrechts »realisiert werden«. Also brauchen wir einen permanenten Staatenkongreß. Anders als der Abbé de Saint-Pierre es sich vorgestellt haben mag, 76 ist die Entwicklung eines »öffentlichen Rechts der Völker« ein langsamer und schwieriger Prozeß. Wir müssen uns daran erinnern, daß »öffentliches Recht« bei Kant ganz allgemein positives Recht meint und damit nicht dasselbe bedeutet wie in der heutigen kontinental-europäischen Juristensprache. 77 Positives Recht kann nicht einfach aus dem Boden gestampft werden, sondern ist, wenn es brauchbar sein soll, immer das Ergebnis langen Nachdenkens und in der Regel auch das Ergebnis langen Verhandelns. Im Verlaufe seiner Bildung werden auch »Streitigkeiten« entschieden, wie Kant sie in der zitierten Schlußbemerkung des § 61 anspricht, nicht »durch einen Prozeß«, sondern »gleichsam durch einen Prozeß«. Kant greift hier die Metaphern des zweiten Absatzes des § 61 wieder auf. An dieser Stelle zeigt sich die entscheidende Gemeinsamkeit eines permanenten Kongresses mit den nicht-permanenten, aber ebenfalls jederzeit auflöslichen Kongressen (von der Art des Utrechter und des Wiener Kongresses). Die letzteren Kongresse hatten (und haben) dieselbe Funktion wie ein permanenter Staatenkongreß, durch abzuschließende Verträge ein internationales Recht zu schaffen, das der Herstellung und der Erhaltung des Friedens dient. Der Unterschied besteht allein darin, daß die eine Gruppe von (auflöslichen) Selbst Rousseau »Jugement« S. 94 spricht von einer gewissen »simplicité de l’Auteur« und meint damit den Abbé de Saint-Pierre und seine Vorstellungen von der Verwirklichung seines Projekts. 77 Dazu Commentary S. 31 und S. 34–36. 76
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V · Völkerstaat, Völkerbund und der permanente Staatenkongreß
Kongressen permanent und die andere Gruppe nicht permanent ist. Kant hat seine Wortwahl (»permanenter Staatenkongreß«) wohl bedacht. Betrachten wir die Dynamik in der Entwicklung von Kants Gedanken zum Völkerrecht. In dem Aufsatz »Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht« von 1784 und im »Gemeinspruch« von 1793 fordert Kant, in Fortsetzung der Vorschläge des Abbé de Saint-Pierre und Rousseaus, die Einrichtung eines Völkerstaats. Dabei ist es ihm klar, daß die Forderung keine Aussicht hat, in naher Zukunft durchgesetzt zu werden. Daher schlägt er, »wenn nicht alles verloren werden soll«, in Zum ewigen Frieden von 1795 vor, zuerst einmal einen bloßen Völkerbund zu gründen, ein weit vorausschauender Gedanke, wenn wir nachträglich feststellen, wie lange es noch nach dem Jahre 1795 bis zur tatsächlichen Einrichtung eines solchen Völkerbundes gedauert hat. Der Gedanke, daß wir uns zunächst mit der zweit- oder drittbesten Lösung zufrieden geben müssen, leitet über zu dem nächsten Gedanken, auf welche Weise wir überhaupt irgendwelche brauchbaren Ergebnisse erzielen können. Wir könnten daran denken (und sind berechtigt, das zu tun), unsere Nachbarn durch einen Krieg in einen Völkerbund (Völkerstaat) zu zwingen. Aber Kriege (auch Kriege mit einem zulässigen Kriegsziel) haben, wie wir alle wissen, ihre schweren Nachteile. Denken wir an die eindrucksvolle Schilderung des Krieges, den Henri IV. nicht geführt hat, bei Rousseau. Kant erinnert sich an den de facto-Kongreß der europäischen Diplomaten in Den Haag, über den auch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (also zu der Zeit, in der Kant schreibt) noch geredet wird. 78 Ein solcher de facto-Kongreß erscheint ihm als der beste beschreitbare Weg für die Staaten, um ein »öffentliches Recht der Völker« zu errichten und damit ihre Streitigkeiten »auf zivile Art« zu entscheiden. Er plädiert dafür, die Streitigkeiten auf diplomatischen Wegen (und nicht durch Krieg) beizulegen.
Vgl. etwa anonym [Jan Wagenaar] Allgemeine Geschichte der vereinigten Niederlande … Achter und letzter Theil, Leipzig 1767, wo es in der »Vorrede« des (ebenfalls) anonymen Übersetzers heißt: »Der Staat der vereinigten Niederlande hat, seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts, wegen seiner ansehnlichen Seemacht und weitläuftigen Handlung, fast an allen wichtigen Staats- und Kriegsgeschäften in Europa einen beträchtlichen Antheil gehabt, und der Haag ist der gemeine Mittelpunkt aller Unterhandlungen gewesen.«
78
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Sechstes Kapitel: Zur Logik der Zurechnung in der Vigilantius-Nachschrift
In der Vorlesung im Wintersemester 1793/94 befaßt sich Kant mit der Logik der Zurechnung. Seit Pufendorf, der sich in De Jure Naturae et Gentium von 1672 als erster mit dem Thema theoretisch auseinandergesetzt hat, 1 steht die Zurechnung im Mittelpunkt der Moralphilosophie. »Zurechnung« bedeutet, seit Pufendorf, ein Urteil, das ein Subjekt über sein eigenes oder über das Handeln eines Kosubjekts fällt. 2 Der Begriff der Zurechnung führt damit den Blick weg von der (zugerechneten) Handlung zu dem Urteil des zurechnenden Betrachters über diese Handlung. Diese Wende des Blickes von der Handlung weg zu dem Zurechnungsurteil korrespondiert für die praktische Philosophie dem (späteren) Blickwechsel von den Dingen weg hin zu der Erkenntnis der Dinge durch das erkennende Subjekt, der berühmten »kopernikanischen Wende« Kants für die theoretische Philosophie. Wie schon in früheren Vorlesungen beginnt Kant mit Unterscheidungen und Einteilungen, die wir bei Achenwall und Baumgarten finden, deren Lehrbücher Kant seinen Vorlesungen zugrunde legt. 3 Auch die lateinischen termini technici in unserem Vorlesungsabschnitt stammen zum großen Teil von Achenwall oder Baumgarten. Die beiden Autoren, vor allem Baumgarten, unterscheiden zwischen der Zurechnung einer Tat (»imputatio facti«) und der Zurechnung des Gesetzes (»imputatio legis«). Die Zurechnung einer Tat Pufendorf De Jure Lib. I Cap. 9 = Werke Bd. 4.1 S. 101–105. Pufendorf spricht von »declarare«. Wolff Philosophia practica universalis benutzt in § 642 »iudicium«. Auch Kant spricht in der Vorlesung ausdrücklich von »judicium imputatorium« und von »Urtheil« (27:559,37; 564,1), und er geht auch sonst davon aus, daß Zurechnung ein Urteil ist. Vgl. auch 6:227,21. (Einl. in die MdS IV.) Wenn in der Vorlesungsnachschrift eine bestimmte »Beschaffenheit der Handlung« (!) als »imputatio facti« bezeichnet wird (27:562,3–4), dann ist das offensichtlich falsch und kann nur auf einem Fehler der Nachschrift beruhen. 3 Baumgarten Initia; Achenwall Prolegomena 2. Aufl. 1 2
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VI · Zur Logik der Zurechnung in der Vigilantius-Nachschrift
ist das Urteil, wodurch jemand als der Urheber einer bestimmten Tat angesehen wird. Die Zurechnung des Gesetzes ist die Anwendung des Gesetzes auf diese Tat oder, mit anderen Worten, die Subsumtion der Tat unter das Gesetz. 4 Auf Einzelheiten kommen wir weiter unten zu sprechen. In der Vorlesung greift Kant die Unterscheidung von imputatio facti und imputatio legis auf. Bei der Zurechnung geht es, so Kant, einerseits um den Begriff eines »auctor circa factum« (Urheber mit Bezug auf eine Tat), andererseits um den Begriff von »meritum« (Verdienst) im weiten Sinne des Wortes »meritum«, 5 also um die Begriffe »Verdienst« (meritum in einem engeren Sinne) und »Verschuldung« 6 (demeritum). Für die Beurteilung von Verdienst und Verschuldung ist maßgeblich, was der Mensch nach Rechtsgesetzen zu leisten hat. Übersteigen oder unterschreiten seine Handlungen das, was der Mensch nach Rechtsgesetzen leisten muß, dann werden ihm diese Handlungen im ersten Fall zum Verdienst, im zweiten Fall zur Verschuldung zugerechnet. 7 Daraus folgt, daß die »Beobachtung einer Rechtspflicht … mit keinem meritum verbunden« ist. 8 Wer rechtspflichtmäßig handelt, dem wird die Handlung (obwohl eine Tat) weder zum Verdienst noch zur Schuld zugerechnet. 9 Das entspricht der Tradition. Pufendorf schreibt schon 1660: »Aus einer schuldigen Handlung entsteht kein Verdienst.« 10 Die soeben wiedergegebene Stelle aus der Vorlesung setzt die Unterscheidung zwischen den »Rechts-« oder »schuldigen Pflichten« 11 auf der einen Seite und den »ethischen« oder »verdienstlichen
So Baumgarten § 125 (= 19:61,22–26): »1) Iudicium, quo quis certi facti auctor iudicatur esse. 2) Applicatio legis ad factum, s[ive] facti sub lege subsumptio.« Vgl. auch Achenwall Prolegomena 2. Aufl. § 29. 5 27:558,27–28. Der weite Begriff von meritum ist der Gattungsbegriff zu einerseits »meritum« (Verdienst) im engeren Sinne und »demeritum« (»Verschuldung«). Zum weiten Begriff vgl. Achenwall Prolegomena 2. Aufl. § 27. 6 27:558,34. 7 27:558,27–36; 561,19–21. 8 27:560,11–14. 9 Der Schuldner, der seine Schuld termingerecht bezahlt, erwirbt kein Verdienst (27:560,20–22). Der General, der in der Schlacht feindliche Soldaten töten läßt, handelt ohne Schuld (Kaehler 88,10–18). 10 »Ex actione debita nullum est meritum.« Pufendorf Elementa I, Def. XIX, §§ 1, 2; Def. XX, § 1 = Werke Bd. 3 S. 111. 11 27:548,4. 4
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Der Begriff der causa libera
Pflichten«, die auch »Liebespflichten« heißen, 12 auf der anderen Seite voraus, die wir aus der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten kennen. 13 Die Rechtspflichten korrespondieren einem Recht anderer Menschen und sind infolgedessen mit einem »Zwangsrecht«, d. i. einem Recht zu zwingen, verbunden. 14 Ihre Erfüllung ist »unbedingt geboten«, 15 während die Erfüllung der ethischen Pflichten »nicht absolute notwendig« ist und es »dem Handelnden überlassen bleibt, wie und in welcher Art die Erfüllung geschehen soll.« 16 Daraus folgt, daß die Verletzung einer Rechtspflicht Schuld zur Folge hat, während die Erfüllung einer ethischen Pflicht verdienstlich ist. Das Kapitel befaßt sich zunächst mit dem Begriff der causa libera, der für die Abgrenzung von zurechenbarem und nicht zurechenbarem Handeln eine wichtige Rolle spielt (unten I.). Unter II. geht es um das Verhältnis von imputatio facti und imputatio legis, danach (unter III.) um die Gründe, die die Zurechnung ausschließen. In der Schlußbemerkung (unter IV.) wird die Frage aufgeworfen, warum Kant in der Metaphysik der Sitten nicht mehr auf die imputatio legis zu sprechen kommt.
I.
Der Begriff der causa libera
In der Vorlesung nimmt Kant ein besonderes Interesse an der Feststellung, daß aus der Erfüllung einer Rechtspflicht kein Verdienst entsteht, eine Feststellung, die er in der Metaphysik der Sitten wiederholt. 17 In der Vorlesung finden wir auch eine Begründung. Es stehe nicht bei dem Handelnden, so heißt es, die Pflicht zu befolgen, der Handelnde »steht unter der Pflicht und ist also nicht causa libera (auctor) seiner Handlung« (27:560,18–22). Danach ist, wer eine rechtspflichtmäßige Handlung vornimmt, nicht »causa libera (auctor)« seiner Handlung, er ist nicht Urheber seiner Handlung, und S. 27:548,4 einerseits und 27:560,8–9; 560,35–36 andererseits. Vgl. 4:424,10–14. 14 27:548,4–7. 15 27:560,15. 16 27:548,4–9. 17 Die Feststellung ergibt sich aus 6:227,30–228,2 (Einl. in die MdS IV.) und wird in 6:390,30–31 (Einl. zur Tugendlehre VII.) ausdrücklich formuliert: »Die Angemessenheit der Handlungen zum Rechte (ein rechtlicher Mensch zu sein) [ist] nichts Verdienstliches.« 12 13
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VI · Zur Logik der Zurechnung in der Vigilantius-Nachschrift
das ist der Grund, weshalb er kein Verdienst erwirbt. Das ist, wie sich zeigen wird, eine durchaus problematische Behauptung. Über die causa libera spricht Kant in der Vorlesung zum ersten Male kurz vor der soeben zitierten Stelle. Dort heißt es: »Die Imputation besteht … in dem judicium aliquem esse auctorem alicujus vel boni vel mali. Sie nimmt also auf das Gesetz Rücksicht, welches bestimmt, ob etwas gut oder böse sey, und enthält das Urtheil, daß der Handelnde causa libera vel auctor actionis (facti) sey« (27:559,36– 38). 18 »Causa libera« ist ein terminus technicus, den Christian Wolff in die Zurechnungslehre eingeführt hat. 19 Achenwall definiert: »Wenn jemandem aus einer bestimmten freien Tat eine gute oder schlechte Folge erwächst und er physisch vorhersehen konnte, daß ihm diese Folge der Tat erwachsen würde, dann ist sowohl die fragliche Tat als auch deren Folge seiner freien Willkür zuzuschreiben, und der Handelnde wird deshalb ›freie Ursache‹ oder ›Urheber‹ sowohl der Tat als auch der Folge genannt.« 20 Danach dient (in der Wolff/Achenwall-Tradition) der Begriff der freien Ursache der näheren Bestimmung des Begriffs des Urhebers. Ein Mensch ist dann Urheber der Tat und Urheber der Folgen der Tat, wenn er als die freie Ursache der Tat und ihrer Folgen angesehen werden kann. Von diesen Begriffen geht auch Kant sowohl in der Vorlesung als auch in der späteren Metaphysik der Sitten aus. Für die Vorlesung ergibt sich das aus 27:559,36–38, aber auch etwa aus dem folgenden Zitat: »Die caussalität bey der Handlung macht sie zum facto, und causa facti libera qua talis … bestimmt den auctorem facti.« 21 Dem entspricht es, wenn Kant in der Metaphysik der Sitten den »Urheber« (mit dem lateinischen Ausdruck) als »causa libera« bezeichnet und sagt, daß im Falle solcher Urheberschaft die Handlung »Tat (factum)« heiße. 22 Das »judicium aliquem esse auctorem alicujus vel boni vel mali« ist das »Urteil, jemand sei der Urheber irgendeines Guten oder Bösen.« »Causa libera vel auctor actionis (facti)« bedeutet »freie Ursache oder Urheber einer Handlung (Tat).« 19 Wolff Ph. Pr. Univ. § 526, § 527. Der Begriff wird in der Zurechnungslehre des 18. Jahrhunderts allerdings nicht allgemein verwendet. Baumgarten und Daries benutzen ihn nicht. 20 Achenwall Prolegomena 2. Aufl. § 27: »Si cui ex certo facto libero nascitur consectarium bonum vel malum, quod sibi ex eo exstiturum praevidere physice potuit: libero eius arbitrio tribuendum est et factum tale et eiusdem consectarium, indeque et agens vocatur et facti et consectarii talis CAUSSA LIBERA seu AUCTOR.« 21 27:561,35–37. Der Satz besagt, daß »die freie Ursache einer Tat als solche den Urheber der Tat bestimmt«. 22 6:227,21–23 (Einl. in die MdS IV.). 18
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Der Begriff der causa libera
Kant unterscheidet danach – mit der Tradition – zwischen »Handlung (actio)« und »Tat (factum)«. Eine Handlung ist ein Ereignis in der Welt, und zwar regelmäßig ein Ereignis in der Welt, in das ein Mensch involviert ist. Manchmal wird als »Handlung« (»actio«) aber auch ein Ereignis bezeichnet, bei dem es nicht der Fall ist, daß ein Mensch in das Ereignis involviert ist. Eine Handlung ist nur dann eine Tat, wenn sie die Wirkung einer »causa libera qua talis« (die Wirkung einer freien Ursache als solcher) ist, d. i. nur dann, wenn sie »aus dem Gesetz der Freiheit mit freiem Willen gewählt« ist. 23 Entscheidend für die Zurechnung ist deshalb die Frage, ob der Handelnde die Handlung »mit freiem Willen gewählt« hat oder nicht. »Causa libera« steht in einem Gegensatz zur »causa causata« (der »verursachten Ursache«). 24 Ist die Handlung eines Menschen, mit Bezug auf die gefragt wird, ob sie (die Handlung) zugerechnet werden kann, eine freie Handlung, dann kann die Handlung (als »Tat« – »factum«) zugerechnet werden, ist sie eine ihrerseits verursachte Handlung, 25 dann kann sie nicht zugerechnet werden. »Als Urheber fängt [ein Mensch] jedesmal eine Reihe von Handlungen an, wovon der Anfang und die Ursache in ihm selbst, nicht in der Natur lag.« 26 Damit stellt sich die Frage, wann eine Handlung eine freie und wann sie eine unfreie Handlung ist. Was Kant in der Vorlesung zur (inneren) Freiheit sagt, ist äußerst knapp. 27 Zurechnung, so heißt es da, »nimmt auf das Gesetz Rücksicht, welches bestimmt, ob etwas gut oder böse sey.« »Gesetz« meint hier die »Gesetze der Freiheit«, aus denen die Pflichten entstehen, die der Mensch befolgen oder verletzen kann. Die »Gesetze der Freiheit« heißen so, wenn und weil diese Gesetze den Gesetzen der Natur gegenüberstehen. Handlungen können nur dann zugerechnet werden, wenn wir sie auf die Gesetze der Freiheit beziehen. Der Freiheitsbegriff, den Kant in der Vorlesung zugrundelegt, ist danach der der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, der auch in der Metaphysik der Sitten noch maßgeblich ist. 28 Zu unterscheiden sind (nach der Grundlegung und der Metaphysik der Sitten) ein negativer und ein positiver Aspekt der Freiheit. Der 27:561,29–37. Vgl. 18:425,14–15 (R. 6019). 25 Oder, mit Kant, »die Wirkung einer causa naturalis qua talis (aus Naturursachen erfolgt)« – 27:561,32–33. 26 27:559,8–9. 27 Die folgenden Zitate aus 27:559,26–38. 28 4:446,5–447,25; 6:213,35–214,4 (Einl. in die MdS I.). 23 24
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VI · Zur Logik der Zurechnung in der Vigilantius-Nachschrift
negative Aspekt ist die Unabhängigkeit der Handlung »von der Natur«. 29 Die Unabhängigkeit einer Handlung von der Natur ist freilich nur dann möglich, wenn die Handlung den Gesetzen der Freiheit unterworfen wird. Dies ist der positive Aspekt der Freiheit. Die Freiheitsgesetze entstammen der Vernunft, 30 infolgedessen gebieten und verbieten sie kategorisch, d. h. betrachtet wird allein, wie es in der Vorlesung heißt, die »moralische Nöthigung durch das Gesetz der Freiheit«, 31 und nicht betrachtet werden (naturwissenschaftliche) Notwendigkeiten in der sinnlichen Welt, einschließlich der Zwänge, die von hypothetischen Imperativen ausgehen. »Causa libera« einer Handlung ist danach ein Mensch, wenn es um seine Pflichten geht, d. h. wenn der Mensch in einer konkreten Situation seine Pflichten erfüllt oder nicht erfüllt. 32 Zu den Pflichten gehören auch die Rechtspflichten, und deshalb ist der Mensch, der seine Rechtspflichten erfüllt, causa libera (freie Ursache) der Pflichterfüllung und auctor (Urheber) der Handlung, durch die er seine Pflichten erfüllt. Das aber steht, jedenfalls bei einem ersten Gedankenschritt, in einem Widerspruch zu der These in 27:560,18–22, daß, wer seine Rechtspflicht erüllt, nicht causa libera und Urheber seiner Handlung sei. Nun könnte man natürlich sagen, daß jemand, der seine Rechtspflichten erfüllt, in einer gewissen Hinsicht nicht frei sei, und zwar gerade deswegen, weil er unter einer Rechtspflicht steht. Unter dieser Voraussetzung könnte man auch sagen, der Handelnde sei nicht causa libera der rechtspflichtmäßigen Handlung. Aber dann hat das »liberum« in dem Ausdruck »causa libera« in 27:560,18–22 eine andere Bedeutung als das »liberum« in dem Ausdruck »causa libera« an den anderen Stellen in der Vorlesung. Wie andere Vorlesungs-Nachschriften (von Kaehler, Mrongovius und Collins) zum Thema Freiheit zeigen, schwebt Kant genau diese Lösung des Problems vor, die in der Vigilantius-Nachschrift freilich nicht expliziert wird. Wenn eine Handlung »nicht frei, sondern durchs Gesetz gezwungen« war, dann kann dem Handelnden die Handlung nicht zugerechnet werden (so Mrongovius und Collins). 33 In einem solchen Fall ist zwar nicht die
29 30 31 32 33
Vgl. 27:559,30–31. Vgl. 27:557,38–39. 27:557,32–33. Vgl. 27:557,31–558,3. 27:289,13–14 (Collins); 27:1438,6–8 (Mrongovius). Vgl. auch Kaehler 89,25–90,4.
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Die Differenz von imputatio facti und imputatio legis
imputatio facti, wohl aber die imputatio legis ausgeschlossen. Will man in diesem Fall (d. i. bei einem Ausschluß nicht der imputatio facti, wohl aber der imputatio legis) davon sprechen, der Handelnde sei nicht causa libera seiner Handlung, dann ist das also möglich. Freilich gehen wir dann von zwei verschiedenen Freiheitsbegriffen aus. Entsprechend kann man vielleicht von zwei verschiedenen Begriffen von Urheber ausgehen: Urheber ist, wem eine Handlung als Tat (factum) zugerechnet wird. Ist jemand solchermaßen Urheber einer Handlung, dann wird dieses Urteil wieder zurückgenommen (die Person ist also nicht Urheber), wenn die imputatio legis ausgeschlossen wird. Aber das klingt seltsam. 34 In der Vorlesung scheint Kant mit dem Begriff der causa libera zu spielen, den er achtmal erwähnt. 35 In der Metaphysik der Sitten kommt die causa libera dagegen nur einmal vor, nämlich zur Erläuterung des Urheberbegriffs bei der Definition der Zurechnung. 36 Freiheit ist eine Bedingung der Möglichkeit von Pflicht, und Kant möchte in der Metaphysik der Sitten, zur Vermeidung von Mißverständnissen, offensichtlich nicht mehr davon sprechen, daß unfrei handelt, wer seine Pflichten erfüllt.
II.
Die Differenz von imputatio facti und imputatio legis
Die Feststellung, daß eine Handlung eine Tat sei, d. i. die imputatio facti, bedeutet noch nicht, daß auch eine imputatio legis stattfindet, daß also die Gesetze, um deren Anwendung es geht, auf die Tat auch tatsächlich angewendet werden. Wird ein Gesetz auf die Tat angewendet, dann stehen wir, wie Kant in den älteren Vorlesungsnachschriften betont, nicht vor einer, sondern vor zwei imputationes. 37 In
Man könnte natürlich daran denken, daß die Stelle 27:560,18–22 auf einem Fehler des Nachschreibers beruht. Dagegen spricht u. a., daß die Zweideutigkeit des Ausdrucks »liberum = frei« sich in einer korrespondierenden Zweideutigkeit des Wortes »posse = können« in dem Satz »ultra posse nemo obligatur« wiederholt (dazu unten III.). Vor dem Hintergrund der anderen hier zitierten Vorlesungsnachschriften ist es klar, daß Kant selbst sich der Zweideutigkeiten bewußt ist. Deshalb wird man eher daran denken müssen, daß Kant über das Problem gesprochen hat, seine diesbezüglichen Überlegungen aber nicht in die Nachschrift eingegangen sind. 35 Vgl. 27:559,36–38; 560,19; 561,12; 561,23; 561,33–34; 561,36; 563,34; 565,29. 36 6:227,21–23 (Einl. in die MdS IV.). 37 Kaehler S. 88,7–8; Collins 27:289,5–6; Mrongovius 27:1438,1–2. 34
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VI · Zur Logik der Zurechnung in der Vigilantius-Nachschrift
der Vigilantius-Nachschrift geht Kant ausführlich auf die beiden Zurechnungsstufen, insbesondere auf die imputatio legis, ein. Die Zurechnung des Gesetzes setzt voraus, »daß die Handlung unter einem Gesetz stehe … und unter dieses Gesetz subsumiert werden kann.« Sie ist die »applicatio legis ad factum sub lege sumtum«, d. i. die Anwendung des Gesetzes auf die Tat, die unter das Gesetz subsumiert worden ist. Die Zurechnung des Gesetzes können wir damit als einen praktischen Vernunftschluß darstellen. Schon Baumgarten spricht von einem »syllogismus imputatorius«; das Gesetz liefert den Obersatz, die Tat (das factum) liefert den Untersatz. 38 Der Schlußsatz ist, so können wir aus der Kritik der reinen Vernunft ergänzen, »das wirkliche Urteil, welches die Assertion der Regel [d. i. die Assertion des Gesetzes] in dem subsumierten Falle aussagt.« 39 Kant bringt ein Beispiel: »Der Beschimpfende soll dem Beschimpften seine Ehre wiedergeben. – Er hat micht beschimpft. – Also muß er eine Satisfaction leisten.« 40 Die Logik dieses praktischen Vernunftschlusses ist einfach. Das intellektuell Interessante steckt in dem Untersatz, für dessen Herstellung Urteilskraft erfordert wird. Die beiden imputationes lassen sich, wie sich sogleich zeigen wird, nicht so leicht voneinander trennen. Kant wendet, wie Baumgarten, seine besondere Aufmerksamkeit bestimmten Einzelheiten der Zurechnung der Tat (imputatio facti) zu. In diesem Zusammenhang ist der Schlüsselbegriff die »species facti«. »Species facti« ist ein verbreiteter terminus technicus, der im 18. Jahrhundert und in der Zeit davor bei den Entscheidungen von Spruchkörpern als Überschrift für die Darlegung der festgestellten Tatsachen benutzt wurde. 41 Im 18. Jahrhundert wurde die species facti zum Gegenstand theoretischer Erörterungen gemacht. Autoren wie Daries, Baumgarten, Martini haben zu dem Thema geschrieben. 42 Kant, in seinen Vorlesungen, steht am Ende dieser Reihe. Er benutzt den Ausdruck in einer Weise, die seine Bedeutung als selbstverständlich bekannt voraussetzt. 43 Baumgarten § 171 (= 19:79,4–7). 3:255,29–30 (B 386/387). 40 27:562,5–18. 41 Vgl. etwa Schott S. 174. 42 Daries Institutiones § 212 (S. 129); ders. Observationes II Obs. XLVI (S. 130–133); Baumgarten § 128 (= 19:62,19–34); Martini § 174 (S. 148). – Zu Einzelheiten vgl. meinen Beitrag über »Die species facti« von 2001. 43 In 6:425,13 (§ 7 der Tugendlehre) heißt es, daß Menschen keine Bedenken trügen, 38 39
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Die Differenz von imputatio facti und imputatio legis
»Species facti« bedeutet nicht, wie man auf den ersten Blick meinen könnte, »Art der Tat« (im Gegensatz zur »Gattung«), sondern »Bild der Tat«. Ausdrücklich stellt Daries Begriffe wie »imago« und »effigies« in unseren Zusammenhang. 44 Daries definiert die species facti als eine »Aufzählung der Merkmale, die die in Rede stehende Tat als solche konstituieren.« 45 Baumgarten definiert sie als »Aufzählung der wesentlichen Momente in einer Tat«, »enumeratio momentorum in facto,« 46 eine Formulierung, die auch Kant benutzt. 47 Wir müssen die species facti als Antwort auf eine Frage verstehen, die quaestio facti. Das tut Baumgarten, 48 und Kant folgt Baumgarten darin. 49 Die quaestio facti ist die Frage nach den (rechtlich) relevanten Umständen einer Handlung, die Baumgarten »momenta in facto« nennt. 50 Die Antwort auf die Frage nach den wesentlichen Momenten einer Tat ist die species facti. Die »essentialia facti«, »die wesentlichen Aspekte der Tat«, und die »momenta in facti«, sind, wie Kant sagt, ein und dasselbe, während die »extraessentialia« (die unwesentlichen Aspekte der Tat) die quaestio facti selbst nichts angehen und nicht zu den momenta in facto gehören. 51 Damit stellt sich die entscheidende Frage, woher die Wesentlichkeit der wesentlichen Tatsachen herrührt. Die Antwort, die Kant gibt, lautet: »Bey Ausmittelung der circumstantiarum in facto ist es, um die momenta in facto zu finden, schon nöthig, auf das Gesetz Rücksicht zu nehmen, da, wenngleich hier das Gesetz noch nicht imputirt wird, es doch zur völligeren Bestimmung des facti selbst beyträgt« (27:563,14–17). 52 Ähnlich heißt es einige Seiten weiter, zum »factum« erhebe sich die Frage, ob das Gesetz dasjenige sey, unter welche[s] das factum … gestellt, und [ob] das factum solche Bestandteile habe, daß es dem Gesetz untergeordnet werden kann« (27:572,14– einen Selbstmord »mit allen seinen Greueln (in einer species facti) der Welt vor Augen zu legen«. 44 Daries Obs. XLVI § 1. 45 »Enumeratio characterum, qui rem obviam, qua tale, constituunt«, Daries Obs. XLVI § 2. 46 Baumgarten § 128 (= 19:62,26). 47 27:563,9–10. 48 Baumgarten § 128 (= 19:62,24). 49 27:562,24–25. 50 Baumgarten § 128 (= 19:62,23–26). Kant: 27,562,34–35. 51 27:563,3–8. 52 In der Vigilantius-Nachschrift steht: »circumstantiarium«, aber es muß »circumstantiarum« heißen.
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VI · Zur Logik der Zurechnung in der Vigilantius-Nachschrift
19). Mit anderen Worten: Die Relevanz einer Tat und ihrer Umstände ergibt sich aus dem Gesetz, und zwar noch vor aller Gesetzesanwendung. Damit ist Kant, der damit weit über Baumgarten hinausgeht, auf das gestoßen, was in der heutigen Jurisprudenz »hermeneutischer Zirkel« heißt. Im 20. Jahrhundert hat Engisch diesen Zirkel als das »Hin- und Herwandern des Blickes zwischen Obersatz und Lebenssachverhalt« beschrieben, 53 wobei der »Obersatz«, wie bei Kant, das Gesetz ist, während die Tat zusammen mit ihren relevanten Umständen von Engisch als »Lebenssachverhalt« bezeichnet wird. Um die Tatsachen richtig auszuwählen und zu deuten, muß der Urteiler bereits vor der Gesetzesanwendung auf das Gesetz blicken, und um das maßgebliche Gesetz zu finden, muß der Urteiler, wiederum vor aller Gesetzesanwendung, die Tatsachen ins Auge fassen, die dem Gesetz subsumiert werden sollen. Kant beschränkt sich auf den ersten Aspekt des Zirkels. Auf die Auswahl und Deutung des Gesetzes im Hinblick auf die Tatsachen kommt er nicht mit derselben Deutlichkeit zu sprechen, obwohl wir natürlich davon ausgehen können, daß er auch diesen Aspekt gesehen hat. Die Stelle 27:572,14–19 steht unter der Überschrift »lex et factum« (»Gesetz und Tat«). Die Überschrift könnte auch über der Stelle 27:563,14–17 stehen. An dem Thema des Verhältnisses zwischen Gesetz und factum bleibt Kant auch in der Metaphysik der Sitten interessiert. Dort unterscheidet er zwischen der »lex iusti« und der »lex iuridica«. Die lex iusti ist das Gesetz dessen, was nach äußeren Gesetzen recht ist, oder, kürzer, das Gesetz des Rechten, sei dies das in einer bestimmten Situation anwendbare Naturrecht, sei dies das in dieser Lage anwendbare positive Gesetz. Die lex iuridica ist demgegenüber die rechtliche Beschaffenheit konkreter Situationen, sie ist die Wirklichkeit, die unter rechtlichen Gesichtspunkten gesehen wird. Das Verhältnis von lex iusti und lex iuridica bestimmt Kant in der Metaphysik der Sitten als das Verhältnis von Form und Materie. 54 Durch die lex iusti wird die Wirklichkeit rechtlich geprägt, die durch diese Prägung zur lex iuridica wird. 55 Vergleichen wir Kants These in der Vorlesung mit der ihr korrespondierenden These in der Metaphysik der Sitten. Die Frage in der Vorlesung gehört noch zur juristischen Methodenlehre, weil es bei 53 54 55
Vgl. Engisch S. 15. 6:306,8–11 (§ 41 der Rechtslehre). Zu Einzelheiten vgl. Commentary S. 52–58.
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Zu den Gründen, die die Zurechnung ausschließen
ihr noch um eine Analyse der Gesetzesanwendung geht. Aus dieser Frage entwickelt sich in der Metaphysik der Sitten die allgemeinere rechtstheoretische Einsicht, daß einer rechtlichen Wirklichkeit der Rechtscharakter, den sie hat, von dem jeweils maßgeblichen objektiven Recht (der lex iusti) verliehen wird.
III. Zu den Gründen, die die Zurechnung ausschließen Es gibt Gründe, die die Zurechnung ausschließen. In der Vorlesung zählt Kant einige dieser Gründe auf. 56 Wir können die Gründe in zwei Gruppen einteilen. Zu einer ersten Gruppe gehört es, daß eine unter anderen Umständen gebotene Handlung über die Kräfte des Gebotsadressaten geht oder daß der Gebotsadressat das unerwünschte Ereignis, dessen Eintritt er hätte verhindern können, nicht hat vorhersehen können oder daß er außerstande war, den Eintritt des Ereignisses zu verhindern. Zur zweiten Gruppe gehören die Fälle, bei denen es dem Betroffenen »moralisch nicht erlaubt« oder daß er »nicht befugt« war, das unerwünschte Ereignis zu verhindern. In allen diesen Fällen greift, wie Kant sagt, die Regel »ultra posse nemo obligatur« ein (Über sein Können hinaus ist niemand verpflichtet), und die Vornahme oder Unterlassung der Handlung ist »nicht imputabel«. Betrachten wir für jede der beiden Gruppen ein Beispiel. 1) A ist im Begriffe, in einem See zu ertrinken. C könnte A retten, wenn er nur stark genug wäre, den A aus dem Wasser zu ziehen. C ist aber nicht stark genug dafür. A ertrinkt. Der Tod des A kann dem C nicht zugerechnet werden. – 2) A und B sind im Begriffe, in einem See zu ertrinken. C kann einen, aber auch nur einen der beiden retten. Rettet er den A, dann wird B ertrinken. Rettet er den B, dann wird A ertrinken. C steht, wie es in der Metaphysik der Sitten heißt, in der Situation einer Kollision zweier »Gründe der Verbindlichkeit«. Er hat einen moralischen Grund, den A zu retten, und er hat einen moralischen Grund, den B zu retten, kann aber nicht beiden Gründen entsprechend handeln. Nehmen wir nun an, B sei der minderjährige Sohn des C, wogegen A ein völlig fremder Mensch ist. In einem solchen Falle sind die beiden Gründe der Verbindlichkeit nicht gleichwertig, sondern einer ist »stärker« als der andere, weshalb der schwä-
56
27:563,27–31.
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chere Verpflichtungsgrund verdrängt wird. 57 C ist verpflichtet, den B zu retten. Deshalb ist es ihm nicht erlaubt, den A zu retten. C rettet den B. A ertrinkt. Der Tod des A kann dem C nicht zugerechnet werden. Mit dem »posse«, dem Können, in dem »ultra posse nemo obligatur«, das Kant in der Vorlesung zur Begründung der vorgestellten Fall-Lösungen heranzieht, stehen wir vor demselben Problem, das wir schon bei der Erörterung des Begriffs der causa libera kennen gelernt haben. In den Fällen der ersten Gruppe ist der betroffene virtuelle Gesetzesadressat (im Beispiel der C) nicht Urheber des unerwünschten Eintritts oder Nicht-Eintritts des relevanten Ereignisses. Die Verbindlichkeit, die er erfüllen müßte, wenn die Situation nur eine andere wäre, kann er nicht erfüllen. Die imputatio facti ist ausgeschlossen. In den Fällen der zweiten Gruppe dagegen ist der virtuelle Gesetzesadressat durchaus Urheber des unerwünschten Eintritts oder Nicht-Eintritts des relevanten Ereignisses. Daß C es in dem Beispiel unterläßt, den A zu retten, beruht auf seiner freien Entscheidung. Die imputatio facti findet also statt. Dagegen kann das Gesetz (im Beispiel: das Gesetz, das die Rettung des A gebietet) nicht angewendet werden, weil es dem C »nicht erlaubt« ist, den Eintritt des relevanten Ereignisses (den Tod des A) zu verhindern (denn C war verpflichtet, den B zu retten, was in der gegebenen Situation die Rettung des A ausschloß). Infolgedessen war C in dem Sinne nicht »frei«, als ihm die relevante Handlung (die Rettung des A) verboten war. C kann den A nicht retten, aber aus durchaus anderen Gründen als bei den Fällen der ersten Gruppe. Nicht die imputatio facti, sondern die imputatio legis ist ausgeschlossen. Kants Verwendung des »ultra posse nemo obligatur« macht das »posse« doppeldeutig, genauso wie die »causa libera« in der Vorlesung doppeldeutig ist. Die Fälle der ersten Gruppe werfen ein weiteres Problem auf, das Kant an zwei Stellen der Vorlesung anspricht. Es geht um die Fälle, bei denen die »Impotenz zu handeln oder eine Handlung zu unterlassen« dadurch enstanden ist, daß der Handelnde »causa libera dieser Impotenz« war, oder bei denen die Impotenz »nur durch eine Bedingung entstand,« die in dem Handelnden selbst lag. 58 Ein Schulbeispiel liefert der Betrunkene, der eine Handlung begeht (er schlägt und verVgl. 6:224,9–26 (Einl. in die MdS IV.); ganz entsprechend schon in unserer Vorlesung 27:537,13–16. 58 27:563,32–36 und 27:565,36–366,7. 57
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Zu den Gründen, die die Zurechnung ausschließen
letzt eine andere Person), die ihm, in einem ersten Gedankenschritt, wegen seiner Trunkenheit nicht zugerechnet werden kann, weil Trunkenheit die Freiheit des Handelnden ausschließt. In der Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts werden für die Fälle dieser Art zwei unterschiedliche Lösungen vertreten. 1) Einige Autoren bestehen darauf, daß der Täter zum Tatzeitpunkt unfrei gehandelt hat, und sie rechnen dem Täter deshalb allein die verschuldete Herbeiführung der Impotenz (im Beispiel: der Trunkenheit) zu. 2) Andere Autoren akzeptieren als eine freie Handlung (und damit als Tat) nicht nur solche Handlungen, die an sich selbst betrachtet frei, sondern auch solche Handlungen, die zwar nicht an sich selbst betrachtet, aber doch, wie es heißt, »in ihrer Ursache« frei sind. Zu den letzteren Autoren gehört Pufendorf, der nur eine solche Handlung nicht zurechnen will, »quae penes ipsum neque in se, neque in sua causa fuit« (die weder an sich selbst betrachtet noch in ihrer Ursache in der Macht [der handelnden Person] gewesen ist). 59 Pufendorfs schottischer Kommentator Carmichael dagegen kritisiert Pufendorf und vertritt die zuerst genannte Position. 60 Pufendorfs Lösung wird in der Folgezeit von einer ganzen Reihe von Autoren vertreten. Am Beginn des 19. Jahrhunderts setzt sich die folgende Terminologie durch. Ausgangspunkt ist die Annahme, daß alle actiones liberae in se (alle Handlungen, die an sich selbst betrachtet frei sind) zugerechnet werden müssen. Zurechenbar sind allerdings auch solche Handlungen, die, weil sie in einem Defektzustand begangen wurden, an sich selbst betrachtet nicht frei sind, nämlich dann, wenn der Handelnde für den Defektzustand verantwortlich ist. Diese Handlungen werden actiones liberae in (sua) causa genannt (in ihrer Ursache freie Handlungen). 61 Kant hat seine Stellungnahme im Laufe der Zeit geändert. In der Vorlesungsnachschrift von Kaehler heißt es: »Bey der Zurechnung muß die Handlung aus Freyheit entspringen, dem Besoffenen können zwar seine Handlungen nicht, wohl aber die Trunkenheit selbst, wenn er nüchtern ist, zugerechnet werden.« 62 Ganz ähnliches lesen wir bei
Pufendorf De Officio Lib. I Cap. I § 17 = Werke Bd. 2 S. 16. Vgl. Carmichael Observationes (Nachdruck von 1739) Obs. 2 zu Lib. I Cap. I § 17 (S. 30). 61 Zur Geschichte mit weiteren Nachweisen siehe meinen Beitrag zu »Der Einfluß des Aristoteles« von 2003. 62 Kaehler S. 87,15–18. 59 60
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Collins 63 und bei Mrongovius. 64 Das ist die oben als »Position 1)« bezeichnete Position. Bei Vigilantius dagegen vertritt Kant Pufendorfs Position, die Position 2). Zwar ist die Stelle 27:563,32–36 insofern verdorben, als die Nachschrift auf die Zurechenbarkeit der Impotenz (!) abstellt (und nicht auf die Zurechenbarkeit der im Zustande der Impotenz vorgenommenen Handlung). Die Stelle 27:565,36–566,7 dagegen ist eindeutig. »Die Imputation«, so heißt es, »trifft auf jede Wirkung, die in einer verschuldeten Unwissenheit oder Unvermögenheit ihren Grund hatte.« Die (hier als »Wirkung« bezeichnete) Handlung im Zustande der Impotenz kann deswegen zugerechnet werden, weil sie in einer »verschuldeten« Unwissenheit oder in einem »verschuldeten« Unvermögen »ihren Grund hatte.« Kant bringt das Beispiel, daß jemand durch Trunk an der Gicht leidet, die Krankheit aber macht ihn »zum Amte unfähig.« Hier wird dem Betroffenen die Unfähigkeit zum Amt (und nicht nur die Trunkenheit) zugerechnet. Als Kant die Vorlesung im Wintersemester 1793/94 hält, war Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft von 1793 gerade erschienen. Dort heißt es zu unserem Thema: »Durch keine Ursache in der Welt kann er [d. i. der Mensch] aufhören, ein frei handelndes Wesen zu sein. Man sagt zwar mit Recht, dem Menschen werden auch die aus seinen ehemaligen freien, aber gesetzwidrigen Handlungen entspringenden Folgen zugerechnet; dadurch aber will man nur sagen: man habe nicht nötig, sich auf diese Ausflucht einzulassen, und auszumachen, ob die letztern frei sein mögen, oder nicht, weil schon in der geständlich freien Handlung, die ihre Ursache war, hinreichender Grund der Zurechnung vorhanden ist.« 65
Die in einem selbst verschuldeten Defektzustand begangene Handlung nennt Kant in der Religions-Schrift eine »Folge« der Verursachung des Defektzustandes. Die Handlung ist zwar selbst eine Handlung, aber, da sie in einem Defektzustande begangen wird, ist sie auch eine »Folge« einer früheren freien Handlung, nämlich derjenigen Handlung, die den Zustand begründet hat. Die Zurechnung erfolgt, wenn und weil die Begründung des Defektzustandes »gesetzwidrig« ist. Wer in einem derartigen Zustand eine Handlung begeht, kann sich nicht darauf berufen, daß die Handlung nicht frei gewesen sei. Wir 63 64 65
27:288,23–26. 27:1437,27–28. 6:41,10–17.
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Zu den Gründen, die die Zurechnung ausschließen
brauchen eine derartige »Ausflucht«, wie Kant das nennt, nicht gelten zu lassen. Das soll heißen: Wir brauchen nicht zu erörtern, ob die in dem Defektzustand begangene Handlung an sich selbst betrachtet frei sei oder nicht. Denn schon in der verschuldeten Verursachung des Defektzustandes, die ihrerseits eine an sich selbst betrachtet freie Handlung ist, liegt ein »hinreichender Grund« für die Zurechnung der in dem Defektzustand begangenen Handlung (der »Folge«). Genau das ist der Gedanke der actio libera in causa, den Kant auch bei Vigilantius vertritt. Interessant ist die Vorlesungsnachschrift Powalski. Dort heißt es: »Nichts kann imputirt werden, als was frey ist. Sind sie nicht facta, so sind sie auch nicht actiones liberae. Eine wieder willen geschehene Handlung kann nicht imputirt werden, aber eine freye Handlung, eine actio ab ignominia illicita kann imputirt werden, unmittelbar ist dieses kein factum, aber mittelbar.« 66 Die Stelle fügt sich in unseren Kontext ein, wenn wir bei dem lateinischen Ausdruck eine Auslassung des Mitschreibers voraussetzen und annehmen, Kant habe in der Vorlesung von einer »actio libera ab ignominia illicita« gesprochen. Eine actio libera ab ignominia illicita ist eine Handlung, die aufgrund einer (vorangehenden) unerlaubten schändlichen Tat frei ist. Mit anderen Worten: »Actio libera ab ignominia illicita« ist ein anderer Ausdruck für »actio libera in causa«. 67 Dazu paßt auch der Schlußsatz unseres Zitats, die fragliche Handlung sei zwar nicht unmittelbar, aber sie sei mittelbar ein factum. Bei einem ersten Gedankenschritt ist die fragliche Handlung nicht frei. Betrachten wir aber ihre schändliche Vorgeschichte, dann müssen wir sagen, daß die Handlung trotz des Defektzustands eine freie Handlung ist. Datieren wir die Vorlesungsnachschrift von Kaehler (versuchsweise) auf das Wintersemester 1776/77 und die von Mrongovius auf das Wintersemester 1782/83. Die Nachschrift von Collins stammt aus dem Wintersemester 1784/85. In diesen Zeitraum zwischen der Mitte der 1770er und der Mitte der 1780er Jahre fällt auch die Vorlesungsnachschrift von Powalski, die aus dem Wintersemester 1778/ 79 zu stammen scheint. 68 Daraus folgt, daß Kant schon in der frühe27:156,24–28. Das »illicitum« in dem Ausdruck »actio libera ab ignominia illicita« entspricht dem »gesetzwidrig« in der Religions-Schrift, mit dem dort die Begründung des Defektzustandes näher gekennzeichnet wird. 68 Zur Datierung vgl. einerseits Lehmann »Einleitung« S. 1043–1044 (zu Powalski), S. 1050 (zu Collins), S. 1052 (zu Mrongovius), andererseits Kühn in der »Einleitung« 66 67
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VI · Zur Logik der Zurechnung in der Vigilantius-Nachschrift
ren Periode (gemessen am Jahre 1793, dem Erscheinungsdatum der Religions-Schrift und dem Beginn der Vigilantius-Nachschrift) zu dem Thema »Können wir eine actio libera in causa annehmen oder nicht?« geschwankt hat. Bei Kaehler, Mrongovius, Collins gibt er, wie gesagt, eine verneinende, bei Powalski eine bejahende Antwort. In der Metaphysik der Sitten greift Kant das Thema nicht wieder auf. Von seinem eigenen Standpunkt aus gesehen, hätte er die Antwort, die er in der Religions-Schrift gibt, wiederholen müssen, und das wäre uninteressant gewesen.
IV. Schlußbemerkung zur Zurechnung in der Metaphysik der Sitten An den Problemen der Zurechnung bleibt Kant auch in der Metaphysik der Sitten interessiert. Dort findet sich auch die oft zitierte Definition: »Zurechnung (imputatio) in moralischer Bedeutung ist das Urteil, wodurch jemand als Urheber (causa libera) einer Handlung, die alsdann Tat (factum) heißt und unter Gesetzen steht, angesehen wird.« 69 Das ist eine Definition der imputatio facti. Nach einer Definition der imputatio legis dagegen wird der Leser der Metaphysik der Sitten vergeblich suchen, obwohl Kant selbstverständlich auch in diesem Werk von »Verdienst (meritum)« und »Verschuldung (demeritum)« und damit von den Konsequenzen dessen spricht, was er in den Vorlesungen »imputatio legis« genannt hat. 70 Eine imputatio legis setzt voraus, daß das anzuwendende Gesetz für eine Pflicht konstitutiv ist, daß es sich also um ein Gebots- oder ein Verbotsgesetz handelt. 71 Der Begriff der imputatio legis hängt S. IX (zu Kaehler). Das Kriterium für die obige teilweise nur tentative Datierung ist die Übereinstimmung der Titel der Vorlesungsnachschriften mit den Titeln der Vorlesungsankündigungen bei Oberhausen/Pozzo. 69 6:227,21–23 (Einl. in die MdS IV.). 70 Etwa 6:227,30–34. 71 Deshalb läßt sich, sobald Erlaubnisgesetze ins Spiel kommen, nicht mehr sinnvoll von einer »Zurechnung des Gesetzes« sprechen. Aus diesem Grunde sagt Kant in der Vorlesung ausdrücklich, »daß alle Erlaubnisgesetze keine Imputation mit sich führen, da die Handlungen adiaphora sind, mithin nicht unter Pflicht oder Zwangsrecht stehen« (27:560,5–7). [Dem widerspricht zwar die Stelle 27:562,5–7, die eine imputatio legis auch bei einer »lex permissiva« erwähnt, doch dürfte dies auf einem Fehler der Nachschrift beruhen.] Dabei denkt Kant offensichtlich an Erlaubnisgesetze, die Ausnahmen von Geboten oder Verboten machen. Noch in der Schrift Zum ewigen Frie-
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Schlußbemerkung zur Zurechnung in der Metaphysik der Sitten
damit an einem engen Begriff des praktischen Vernunftschlusses, der die Obersätze solcher Schlüsse auf Gebote und Verbote beschränkt, etwa in dem oben (unter II.) gebrachten Beispiel oder in dem folgenden Schluß: »Lügen sind verboten. – Die Handlung, die ich ins Auge fasse, ist eine Lüge. – Also ist die Handlung, die ich ins Auge fasse, verboten.« Entsprechend sind für eine Subsumtion unter den Obersatz nur solche Handlungen tauglich, die im Endeffekt geboten oder verboten sind. In der Metaphysik der Sitten geht Kant von einem sehr viel weiteren Begriff von Subsumtion aus. Das bisherige für die Vorlesungen maßgebliche Modell lieferte die richterliche Subsumtion. 72 In der Metaphysik der Sitten nimmt jedoch nicht mehr nur der Richter Subsumtionen vor, Subsumtion unter das Gesetz ist vielmehr eine Alltagstätigkeit des Bürgers, der Rechtsgeschäfte abschließt, beispielsweise in einer Bäckerei Semmeln kauft, oder, allgemeiner, der »durch Subsumtion eines Falles« unter das Gesetz »etwas erwerben oder das Seine erhalten kann.« 73 Es ist der Bürger, der die Regeln des bürgerlichen Rechts z. B. über den Erwerb von Eigentum (an den Semmeln und an anderen Sachen) anwendet. Gegenüber dieser Alltagstätigkeit des Bürgers ist die Tätigkeit des Richters sekundär. Mit der Erweiterung des Subsumtionsbegriffs kommt auch ein weiter Begriff von Zurechnung ins Spiel. Bleiben wir bei dem Beispiel des Verkaufs und Kaufs von Semmeln. Verkäufer und Käufer rechnen sich die Tätigkeiten, die sie ausüben, unter der oben wiedergegebenen Zurechnungsdefinition gegenseitig als rechtlich relevante Handlungen zu, und sie tun das, weil sie sich gegenseitig als Personen betrachten. 74 Sie setzen voraus, daß die jeweils andere Vertragspartei Urheden ist von den Erlaubnisgesetzen dieser Art allein die Rede. Vgl. 8:347,34–348,33, wo Kant darauf abstellt, daß »Erlaubnisgesetze« »Ausnahmen« von »Verbotsgesetzen« machen (dazu oben zweites Kapitel Abschn. II). Nehmen wir als ein Beispiel, daß A den B in Notwehr verletzt. Eine Anwendung des Verbots einer Körperverletzung steht zwar im Raum, aber die Notwehrlage liefert einen Rechtfertigungsgrund. Damit aber stellt sich die Frage, ob die Tat dem A als »ein Verschulden« zugerechnet werden kann, überhaupt nicht mehr. In einer Reflexion bemerkt Kant zu solchen Fällen: »Wenn nach dem Gesetze jemand frei gesprochen wird, so ist ihm eigentlich nichts zugerechnet.« Kant nennt das eine »imputatio negativa«, eine negative Zurechnung (19:259,9–10 = R. 7155). 72 Das gilt auch noch für unseren heutigen Subsumtionsbegriff, der sich ebenfalls an der richterlichen Subsumtion orientiert. 73 6:316,27–29 (§ 49 der Rechtslehre). 74 Personen allein sind Subjekte, deren Handlungen einer Zurechnung fähig sind, 6:223,24–25 (Einl. in die MdS IV.).
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VI · Zur Logik der Zurechnung in der Vigilantius-Nachschrift
ber ihrer Handlungen ist, die deswegen Taten (facta) sind und unter Gesetzen stehen, nämlich in unserem Beispiel unter den Gesetzen des Kaufs und Verkaufs und des Erwerbs von Eigentum. Würden sie diese Voraussetzung nicht machen, dann wären die Übertragung und der Erwerb von Eigentum (an den Semmeln) nicht denkbar. Wir gehen eben nicht davon aus, daß (einem Semmelkauf) äußerlich ganz entsprechende Handlungen von Schimpansen oder Robotern zu der Annahme (zu unserer Annahme) führen, daß die Schimpansen oder die Roboter Eigentum übertragen oder erwerben. 75 Die Zurechnung, die der Verkäufer und der Käufer der Semmeln vornehmen, unterscheidet Kant als »beurteilende Zurechnung (imputatio diiudicatoria)« von der »rechtskräftigen Zurechnung (i. iudiciaria s. valida)« des Richters. 76 Vor diesem Hintergrund bilden die Fälle der imputatio legis eine (kleine) Gruppe von Spezialfällen, die keiner besonderen Betrachtung mehr bedürfen.
Zu den praktischen Vernunftschlüssen in der Rechtslehre vgl. Commentary S. 149–163. 76 6:227,23–26 (Einl. in die MdS IV.). Eine »beurteilende Zurechnung« ist kein abstraktes Urteil, sondern enthält durchaus eine Entscheidung der Vertragspartei. Denn das bedeutet das Wort »diiudicare«. Vgl. Heumann/Seckel, Eintrag »Diiudicare«. 75
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Siebtes Kapitel: Die Würde des Menschen in der Metaphysik der Sitten
Im Grundgesetz (Art. 1) ist bekanntlich von der »Würde des Menschen« die Rede. Bekannt ist auch, daß Kants praktische Philosophie eine der Quellen des Menschenwürde-Artikels ist. Der folgende Beitrag untersucht Kants Metaphysik der Sitten auf diese Menschenwürde hin. Die Metaphysik der Sitten von 1797 ist die reife (wenn auch nicht leicht zugängliche) Frucht von Kants jahrzehntelanger Befassung mit praktischer Philosophie. In dem Werk werden die Ansätze ausgebaut, die sich schon in früheren Arbeiten, nicht zuletzt auch in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten von 1785, finden. Wesentliche Begriffe werden gegenüber den früheren Werken verfeinert. Entsprechend wird die Terminologie verändert. Deshalb stützt sich (auch) dieses Kapitel in erster Linie auf Die Metaphysik der Sitten und zieht andere Arbeiten Kants nur zur Erläuterung heran. 1 In einem eindrucksvollen (aus zwei Absätzen bestehenden) Abschnitt stellt Kant dem Menschen »im System der Natur« den Menschen als »Person« gegenüber. Im ersten Absatz charakterisiert Kant den Menschen, wenn wir ihn lediglich, wie Kant ihn nennt, als »vernünftiges Naturwesen« sehen, mit wenig schmeichelhaften Worten wie folgt: »Der Mensch im System der Natur (homo phaenomenon, animal rationale) ist ein Wesen von geringer Bedeutung und hat mit den übrigen Tieren, als Erzeugnissen des Bodens, einen gemeinen Wert (pretium vulgare). Selbst daß er vor diesen den Verstand voraus hat und sich selbst Zwecke setzen kann, das gibt ihm doch nur einen äußeren Wert seiner Brauchbarkeit (pretium usus), nämlich eines Menschen vor dem anderen, d. i. einen Preis als einer Ware in dem Verkehr mit diesen Tieren als Sachen, wo er doch noch einen niedrigeren Wert hat als das allgemeine Tauschmittel, das Geld, dessen Wert daher ausgezeichnet (pretium eminens) genannt wird.« 2
1 2
Das Kapitel ergänzt Chapter 14 des Commentary. 6:434,22–31 (§ 11 der Tugendlehre); die sogleich wiederzugebende Fortsetzung
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VII · Die Würde des Menschen in der Metaphysik der Sitten
Der Text spricht für sich. Den Menschen als Naturwesen stuft Kant nicht sehr hoch ein. Aber nicht nur das. Auch dem Menschen als einem bloß vernünftigen Naturwesen steht kein besonderes Prädikat zu. Vor allem hat jeder Mensch, als vernünftiges Naturwesen betrachtet, einen Preis, d. i. er hat einen nur relativen Wert, der ein vergleichendes Urteil erlaubt. Ein Mensch kann mehr wert sein als andere Menschen. Er ist auch ersetzbar, weil alles, was einen Preis hat, ersetzt werden kann. 3 Das abschätzige Urteil wird noch dadurch unterstrichen, daß Kant den seit der Antike geläufigen Ehrennamen für den Menschen »animal rationale« in diesem Zusammenhang gebraucht. Der Mensch ist zwar das »vernünftige Tier«, aber auch die (spezifische) Rationalität des animal rationale vermag an dem Urteil nichts zu ändern. In unmittelbarem Anschluß an die Stelle heißt es dann, in einem zweiten Absatz, weiter: »Allein der Mensch als Person betrachtet, d. i. als Subjekt einer moralischpraktischen Vernunft, ist über allen Preis erhaben; denn als solcher (homo noumenon) ist er nicht bloß als Mittel zu anderer ihren, ja selbst seinen eigenen Zwecken, sondern als Zweck an sich selbst zu schätzen, d. i. er besitzt eine Würde (einen absoluten inneren Wert), wodurch er allen anderen vernünftigen Weltwesen Achtung für ihn abnötigt, sich mit jedem anderen dieser Art messen und auf den Fuß der Gleichheit schätzen kann.«
Die Passage steht in einer gewissen Diskrepanz zum ersten Absatz. Das relativierende Urteil über den Menschen wird seinerseits relativiert. Dem Menschen kommt Würde zu. Im Gegensatz zu »Preis« meint »Würde« einen absoluten Wert, den absoluten Wert dessen, der ein Zweck an sich selbst ist. Die Würde ist mit einem Anspruch auf Achtung verbunden. Würde, absoluter Wert, kommt dem Menschen aber nicht dann zu, wenn er als vernünftiges Naturwesen (animal rationale), sondern nur dann, wenn er als Person betrachtet wird. Man kann den folgenden Beitrag als eine Interpretation der wiedergegebenen Textstellen verstehen. Die Differenz zwischen dem Menschen im System der Natur und dem Menschen als Person ist dieselbe wie die zwischen dem homo phaenomenon (dem Menschen, wie er uns erscheint) und dem homo noumenon (dem Menschen als 6:434,32–435,5. Hervorhebungen im Original. – Mit dem Begriff des »Systems der Natur« schließt Kant sich an Carl von Linné an. Vgl. Commentary S. 279. 3 4:434,32–33 (Grundlegung): »Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden.«
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Der Mensch als homo phaenomenon und als homo noumenon
einem geistigen Wesen). Die entscheidende Eigenschaft des homo noumenon ist seine Freiheit (unten I.). Diese Freiheit folgt aus dem Bewußtsein eines unbedingten Sollens (unten II.), das nichts Dunkles ist, sondern im Denken (im logischen Sinne des Wortes »Denken«) eine Parallele hat (unten III.). Im weiteren spielen bestimmte moralische Beschaffenheiten des Menschen eine Rolle, die Kant »Gewissen« und »moralisches Gefühl« nennt (unten IV.). Gewissen und moralisches Gefühl sind konstitutiv für die Freiheit. Sie begründen den Charakter des Menschen als Person (unten V.), woraus dann die Menschenwürde folgt (unten VI.). Wird die Menschenwürde gestrichen, dann bleibt der Mensch als Posten übrig, der in utilitaristische Kalküle eingestellt werden kann (unten VII.).
I.
Der Mensch als homo phaenomenon und als homo noumenon
In den in der Einleitung wiedergegebenen Textabschnitten macht Kant Gebrauch von zwei Gliedern einer Dreiteilung, die in verschiedenen seiner Schriften zu finden ist. In der Metaphysik der Sitten stellt er einander gegenüber 1) den Menschen »als Sinnenwesen, d. i. »zu einer der Tierarten gehörig«, 2) den Menschen als »vernünftiges Wesen«, definiert als »lebendes körperliches Wesen«, das »mit Vernunft nach ihrem theoretischen Vermögen« ausgestattet ist, und 3) den Menschen als »Vernunftwesen«. 4 Obwohl sie wegen der Ähnlichkeit des Ausdrucks miteinander verwechselt werden können, sind »vernünftiges Wesen« und »Vernunftwesen« auseinanderzuhalten. »Sinnenwesen«, »vernünftiges Wesen«, »Vernunftwesen« bezeichnen drei Aspekte des Menschen, die schon in der Religionsschrift von 1793 erläutert werden. Zum ersten Aspekt des Menschen gehört gar keine Vernunft. Zum zweiten Aspekt gehört theoretische und durchaus auch »praktische, aber nur anderen Triebfedern dienstbare« Vernunft. Zum dritten Aspekt gehört »für sich selbst praktische, d. i. unbedingt gesetzgebende Vernunft«. 5 4 6:418,6–13 (§ 3 der Tugendlehre). In 6:456,27–28 (§ 34 der Tugendlehre) unterscheidet Kant zwischen dem Menschen »bloß als vernünftiges Wesen« und dem Menschen als einem »mit Vernunft begabten Tier«. 5 4:28,9–11 (Religionsschrift). – Der Dreiteilung in der MdS entsprechend unterscheidet Kant in der Religionsschrift drei »Anlagen« des Menschen, 1) »die für die Tierheit«, 2) »die für die Menschheit« und 3) die »für seine Persönlichkeit«. Die An-
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VII · Die Würde des Menschen in der Metaphysik der Sitten
Zum Menschen als »Sinnenwesen« ist nicht viel zu sagen. In dieser ersten Perspektive gesehen ist der Mensch schlicht Tier, ein physisch-psychisches Wesen, ohne daß seine Vernunft dabei in Betracht gezogen wird. Den Menschen als »vernünftiges Wesen« nennt Kant häufig (auch in unserem Ausgangstext) »homo phaenomenon« (d. i. der Mensch, wie er uns erscheint) oder auch »vernünftiges Naturwesen«. 6 Außerdem benutzt er, wie wir bereits gesehen haben, die traditionelle Bezeichnung »animal rationale«. Die Vernunft des animal rationale ist begrenzt. Der Mensch als animal rationale erbringt Intelligenzleistungen. Er gebraucht die »Vernunft nach ihrem theoretischen Vermögen«, d. i. er betreibt Wissenschaft, nicht nur Naturwissenschaft, sondern auch Mathematik, Logik und Metaphysik der Natur. 7 Er kann seine Vernunft auch seinem Handeln dienstbar machen, nämlich die besten Wege zur Erreichung seiner Zwecke ermitteln. Aber er ist durch und durch Tier und von den anderen Tieren, die ebenfalls Intelligenzleistungen erbringen, nur graduell unterschieden. Vor allem die Zwecke, die er sich setzt, sind ihm von seiner tierischen Natur vorgegeben. Infolgedessen ist er dabei durch seine sinnlichen Antriebe und Neigungen bestimmt. Dazu Kant in einer Vorlesung über Ethik im Wintersemester 1793/94: Wenn ein Mensch einen anderen totschlägt, dann kann man das so auffassen, daß dies allein nach Naturgesetzen geschieht. »Bloß der Zweck, den er [der Täter] durch den Totschlag erreichen will, z. E. das Geld des Erschlagenen, leitet ihn, er gebraucht seine Vernunft nach Maßgabe dieses Zweckes. Der Grund seiner Handlung ist also bloß physischer Reiz, und die Wirkung ist bloß wie jede Wirkung ihrer Ursache anzusehen, insofern seine physische Kraft dabei konkurrierte und diese durch Habsucht, Armut usw. in Bewegung gesetzt wurde.« 8 Dem Menschen als Sinnenwesen und als vernünftiges Naturwesen stellt Kant den Menschen als geistiges Wesen gegenüber, als lage für die Tierheit ist die Anlage des Menschen »als eines lebenden Wesens«, die für die Menschheit ist die Anlage des Menschen »als eines lebenden und zugleich vernünftigen Wesens«, die für seine Persönlichkeit ist die Anlage des Menschen »als eines vernünftigen und zugleich der Zurechnung fähigen Wesens« (6:26,6–11). – In der Anthropologie von 1798 (7:322,13–327,11) spricht Kant von 1) der »technischen Anlage«, 2) der »pragmatischen Anlage« und 3) der »moralischen Anlage« des Menschen. Dazu Brandt Kommentar zu Kants Anthropologie S. 473 ff. 6 6:379,20–21 (Einl. I z. Tugendlehre); 6:418,14–15 (§ 3 der Tugendlehre). – 6:439,30– 31 (§ 13 der Tugendlehre): »der mit Vernunft begabte Sinnenmensch«. 7 Vgl. 6:445,11 (§ 19 der Tugendlehre). 8 27:502,16–22 (Vigilantius-Nachschrift).
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Der Mensch als homo phaenomenon und als homo noumenon
(wie in unserem Ausgangstext) »homo noumenon« (von griechisch: »nous« »Geist«), der auch »Vernunftwesen« 9 oder – »moralische« – »Persönlichkeit« heißt. Die hervorragende Eigenschaft des homo noumenon ist seine Freiheit, wobei »Freiheit« die innere Freiheit des Menschen im Verhältnis zu sich selbst meint, im Gegensatz zur äußeren Freiheit im Verhältnis zu anderen Personen. Freiheit ist – negativ – die Unabhängigkeit des Menschen von seinen sinnlichen Antrieben, insofern diese (die sinnlichen Antriebe) den Menschen zwar affizieren, aber nicht determinieren, 10 und – positiv – »das Vermögen der reinen Vernunft, für sich selbst praktisch zu sein.« 11 Das letztere bedeutet: Die reine (praktische) Vernunft vermag durch mein Handeln in der Welt zu wirken. Ich bin frei von meinen sinnlichen Antrieben, wenn und weil ich vernünftig zu handeln vermag. 12 Wir müssen diese Freiheit von vornherein als Autonomie verstehen. Die reine praktische Vernunft gibt mir Gesetze, denen ich unterworfen bin. Aber diese Vernunft, die durch mein Handeln in der Welt zu wirken vermag, ist meine eigene Vernunft. Daher sind die Gesetze, die die Vernunft mir auferlegt, Gesetze, die ich mir selbst gebe. »Eine Person [ist] keinen anderen Gesetzen als denen, die sie … sich selbst gibt, unterworfen.« 13 Wir dürfen hier eine Analogie zu den Regeln der Logik ziehen, die wir uns auch nicht anders als uns von uns selbst auferlegt denken können und die trotzdem verbindlich sind. Den beiden Aspekten des Freiheitsbegriffs entsprechen die Erläuterungen, die Kant zum homo noumenon gibt. Dem negativen Aspekt der Freiheit entspricht es, wenn der homo noumenon »nach der Eigenschaft seines Freiheitsvermögens« »als von physischen Bestimmungen unabhängige Persönlichkeit vorgestellt« wird, 14 dem positiven Aspekt entspricht es, wenn der Mensch (als geistiges Wesen) 6:418,8 (§ 3 der Tugendlehre). 6:213,35–37 in Verbindung mit 213,32–33 (Einl. in die MdS I). 11 6:213,37–214,1 (Einl. in die MdS I). 12 Der positive Begriff der Freiheit setzt den negativen voraus und enthält eine notwendige Ergänzung. Der negative Begriff sagt lediglich, daß ich den Menschen nicht mehr als einen Teil der Sinnenwelt verstehe. Er ist der Schritt weg von der Sinnenwelt. Damit sagt er aber noch nicht, wohin der Schritt weg von der Sinnenwelt geht, was, mit anderen Worten, das positive Kriterium ist, an dem der Mensch als ein freies Wesen erkannt wird. Das leistet erst der positive Begriff, der den freien Menschen durch seine praktische Vernunft bestimmt. 13 6:223,29–31 (Einl. in die MdS IV). 14 6:239,23–26 (Einteilung d. MdS überhaupt II). 9
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VII · Die Würde des Menschen in der Metaphysik der Sitten
als das »Subjekt der moralischen, von dem Begriffe der Freiheit ausgehenden Gesetzgebung, wo der Mensch einem Gesetz untertan ist, das er sich selbst gibt« 15, und deshalb als die »reine rechtlich-gesetzgebende Vernunft« selbst 16 bestimmt wird. Als geistiges (»moralisches«) Wesen hat der Mensch die Fähigkeit, »nach Prinzipien zu handeln«, 17 und demgemäß die Fähigkeit, sich von seiner tierischen Natur unabhängige Zwecke zu setzen. 18
II.
Das Bewußtsein des moralischen Imperativs als Faktum der Vernunft
Mit dem Begriff des homo noumenon stellt sich die Frage, wie so etwas wie (innere) Freiheit überhaupt gedacht werden kann. Das war schon in früheren Werken ein ganz zentrales Thema, und an verschiedenen Stellen greift Kant auch in der Metaphysik der Sitten die alte Fragestellung wieder auf. Als Teil der physisch-psychischen Welt – in der Grundlegung spricht Kant von »Sinnenwelt« 19 – ist der Mensch den Gesetzen dieser Welt unterworfen, und deren Modell sind für Kant die Gesetze der Newton’schen Physik. Unter der Herrschaft dieser Gesetze besteht strenge Naturnotwendigkeit. Die Naturwissenschaften setzen diese Naturnotwendigkeit voraus und gehen 6:439,28–30 (§ 13 der Tugendlehre). 6:335,19 (Allg. Anm. E); vgl. auch 6:223,24–31 (Einl. in die MdS IV). 17 6:420,17–18 (§ 4 der Tugendlehre). 18 Vgl. 6:392,1–9 (Einl. z. Tugendlehre VIII/1). – Es ist notwendig, den Ausdruck »moralisch« in unserem Zusammenhang richtig zu verstehen, vor allem, wenn Kant von der »moralischen Persönlichkeit« spricht oder den Menschen als »moralisches Wesen« bezeichnet. Seit Pufendorfs Unterscheidung zwischen den »entia physica« und den »entia moralia«, den »physischen« und den »moralischen Seienden« (vgl. De Jure Lib. I Cap. I: »De Origine et Varietate Entium Moralium«; dazu etwa Welzel S. 19 ff.) drückt das Wort »moralisch« »überhaupt etwas aus, was sich auf Freiheit und Zurechnung bezieht, ohne Unterschied, ob es mit dem Gesetz übereinstimmt oder nicht« (Platner S. 4). »Moralisches Wesen« meint deshalb dasselbe wie »geistiges Wesen«. Der Ausdruck bezeichnet den homo noumenon. Entsprechend ist das Adjektiv »moralisch« zu verstehen, wenn weiter unten vom »moralischen Gesetz«, vom »moralischen Gefühl«, von der »moralischen Anlage« des Menschen gesprochen wird. – Die Bedeutung von »moralisch«, die »moralisch« und »ethisch« gleichsetzt und an die wir heute zuerst denken, geht u. a. auf Kants Unterscheidung zwischen der »Legalität« und der »Moralität« einer Handlung zurück, wird von Kant selbst aber nicht verwendet. 19 4:451,33 u. ö. (Grundlegung). 15 16
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Das Bewußtsein des moralischen Imperativs als Faktum der Vernunft
von ihr aus. Freiheit ist danach nicht ein Phänomen, das den Naturwissenschaften zugänglich wäre. Zugänglich wird Freiheit erst, wenn wir den Grund unserer Handlungen nicht weiter in den (physischen und psychischen) Ursachen suchen, die diesen unseren Handlungen zeitlich vorangehen. Die Suche selbst setzt den Naturmechanismus, sie setzt Naturkausalität und Naturnotwendigkeit schon voraus, und infolgedessen können wir auch gar nichts anderes finden als eben Naturmechanismus, Naturkausalität, Naturnotwendigkeit. Wir können und müssen aber, so Kant, von etwas ausgehen, was die Naturnotwendigkeit unseres Handelns und die aus ihr erklärbaren Zwecke, die der Mensch sich setzen kann, übersteigt. Das ist das Bewußtsein von einer Norm, und zwar von einer sehr besonderen Norm, die Kant »kategorischen Imperativ«, an anderen Stellen »moralischen Imperativ«, an wieder anderen Stellen »Pflichtgesetz«, »Sittengesetz« oder »moralisches Gesetz« nennt. 20 Der moralische Imperativ beschreibt nicht die Welt, wie Naturgesetze die Welt beschreiben, sondern er schreibt etwas vor. Dabei ist er einerseits radikal, andererseits fundamental. Er ist radikal, weil er nicht bloß, wie hypothetische Imperative, uns sagt, was wir tun sollen, um einen bestimmten, vorausgesetzten Zweck zu erreichen, sondern er steht über den Zwecken, die der Mensch sich setzt, wenn er sich seine Zwecke aus der Sinnenwelt holt. Er ist, wie Kant sagt, nicht ein bedingtes, sondern das unbedingte Sollen. 21 Darüber hinaus ist der moralische Imperativ grundlegend, er ist der Kategorische Imperativ, weil er die Quelle aller anderen kategorischen Imperative ist. 22 Die Formel dieses unbedingten Sollens, das uns gewisse Zwecke »Sittengesetz« und »moralisches Gesetz« bedeuten »Gesetz, das sich auf Handlungen bezieht« (vgl. oben Fn. 18), ähnlich wie der Ausdruck »logisches Gesetz« »Gesetz, das sich auf das Denken bezieht« meint. 21 Etwa 6:379,18 (Einl. z. Tugendlehre I). 22 Zu unterscheiden sind der Kategorische Imperativ und andere kategorischen Imperative. Der Kategorische Imperativ ist der oberste aller kategorischen Imperative. Alle übrigen kategorischen Imperative sind aus ihm abzuleiten. Der Kategorische Imperativ wird meistens in der sogleich im Text wiederzugebenden Formulierung gebracht. In der Literatur der Gegenwart wird der Kategorische Imperativ nicht selten mit einem großen Anfangsbuchstaben geschrieben, um ihn von den übrigen kategorischen Imperativen zu unterscheiden. Um Mißverständnisse zu vermeiden, benutzt der Text statt des Ausdrucks »Kategorischer Imperativ« den Ausdruck »moralischer Imperativ« und behält den Ausdruck »kategorischer Imperativ« den übrigen kategorischen Imperativen vor. 20
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vorschreibt, gewisse Zwecke ausschließt und im Hinblick auf dritte – erlaubte – Zwecke den Einsatz gewisser Mittel verbietet, lautet (in der bekannten Formulierung aus der Grundlegung 23): »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde!« 24 In der Metaphysik der Sitten gibt Kant dazu eine kurze Erläuterung. »Deine Handlungen mußt du also zuerst nach ihrem subjektiven Grundsatze betrachten; ob aber dieser Grundsatz auch objektiv gültig sei, kannst du nur daran erkennen, daß, weil deine Vernunft ihn der Probe unterwirft, durch denselben dich zugleich als allgemein gesetzgebend zu denken, er sich zu einer solchen allgemeinen Gesetzgebung qualifiziere.« 25 Die Maxime muß tauglich sein zu einem allgemeinen Gesetze. Andernfalls ist ein Handeln nach ihr durch den moralischen Imperativ untersagt. Das Bewußtsein des unbedingten Sollens hebt den Menschen, so wie wir ihn kennen, aus der Masse der Tiere heraus. Das (von Kant an verschiedenen Stellen wiederholte) Argument sieht etwa wie folgt aus: Daraus, daß ein Wesen Vernunft hat, folgt noch nicht, daß diese Vernunft »ein Vermögen enthalte, die Willkür unbedingt, durch die bloße Vorstellung der Qualifikation ihrer Maximen zur allgemeinen Gesetzgebung, zu bestimmen.« 26 Wir können uns durchaus ein vernünftiges Naturwesen, eben den homo phaenomenon (oben I.), denken, dessen Vernunft allein darin besteht, von den aus der Sinnenwelt vorgegebenen Zwecken die günstigste Auswahl zu treffen und bei der Verfolgung der ausgewählten Zwecke die günstigsten Mittel einzusetzen. Ein solches vernünftiges Naturwesen würde »die Möglichkeit von so etwas, als das moralische, schlechthin gebietende Gesetz ist,« nicht einmal ahnen. »Wäre dieses Gesetz nicht in uns gegeben, so würden wir es als ein solches durch keine Vernunft herausklügeln
4:421,7–8. »Maxime ist das subjektive Prinzip zu handeln« oder, mit anderen Worten, das, »was sich das Subjekt selbst zur Regel macht (wie es nämlich handeln will).« 6:225,34–37 (Einl. in die MdS IV). 25 6:225,8–14 (Einl. in die MdS IV). 26 »Willkür« meint hier und im folgenden das, was in der heutigen Alltagssprache in allgemeinen »Wille« genannt wird. In der MdS unterscheidet Kant zwischen »Wille und »Willkür« (etwa 6:226,4–11; Einl. in die MdS IV), reserviert »Wille« für den vernünftigen Willen, »von dem die Gesetze ausgehen«, und benutzt infolgedessen »Willkür«, um das Begehrungsvermögen zu bezeichnen, das mit dem Bewußtsein des Vermögens verbunden ist, ein Objekt hervorzubringen (6:213,14–18; Einl. in die MdS I). 23 24
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Ein Vergleich mit den Regeln der Logik
oder der Willkür anschwatzen.« 27 Kant geht also nicht nur davon aus, daß der moralische Imperativ in uns gegeben ist, sondern auch davon, daß dieses Faktum nicht nur die Sinnenwelt, sondern auch den technisch-praktischen wie den wissenschaftlichen Verstand übersteigt. Das Bewußtsein des moralischen Imperativs ist nicht bloß ein empirisches Datum, das die Psychologie, soweit sie sich als Erfahrungswissenschaft versteht, ausspähen könnte, sondern ein, wie Kant sagt, »Faktum der reinen Vernunft«. 28 Dieses Faktum der Vernunft ist der Garant der Freiheit. Um das zu sehen, bedarf es einer gewissen Vorbereitung. Hilfreich ist hier wieder (siehe oben II.) ein Vergleich mit den Regeln der Logik, die mit dem moralischen Imperativ den nicht-empirischen Charakter gemeinsam haben.
III. Ein Vergleich mit den Regeln der Logik Wie also ist es möglich, daß das unbedingte Sollen des moralischen Imperativs die Naturnotwendigkeit und den technisch-praktischen Verstand übersteigt? Nehmen wir zum Vergleich die zweiwertige Logik, wie sie im Alltag vorausgesetzt und in der Wissenschaft der Logik analysiert wird, und fragen wir nach der Möglichkeit, die logischen Regeln, die all unseren rationalen Überlegungen zugrunde liegen, zu beweisen. Jeder Beweis würde gewisse logische Axiome (etwa den Satz der Identität, den Satz vom Widerspruch und, eventuell, das »tertium non datur«) voraussetzen. Dasselbe gilt für gewisse Sätze der Konsequenzenlogik. Auch sie würden bei einem solchen Beweis vorausgesetzt. Das liegt am Begriff des Beweises. Daran würde sich nichts dadurch ändern, wenn ein Beweis der zu beweisenden Regeln auf einer gegenüber diesen Regeln metasprachlichen Ebene geführt werden würde. Denn dann würden die fraglichen Regeln eben auf dieser Ebene vorausgesetzt. Daraus ergibt sich, daß sich die Regeln nicht beweisen lassen. Wir arbeiten mit einer unbewiesenen und unbeweisbaren Logik. Allerdings lassen sich die fraglichen Regeln auch nicht widerlegen. Denn wiederum: Auch jede Widerlegung würde diese Regeln voraussetzen und damit genau das voraussetzen, was
27 28
6:26,23–25; 26,30–32; 26,32–34 (Religionsschrift). 5:31,24 und 33; 5:47,12 (= KprV A 56 und 81).
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VII · Die Würde des Menschen in der Metaphysik der Sitten
widerlegt werden soll. Das liegt am Begriff der Widerlegung. Logik läßt sich weder beweisen noch widerlegen, weil sie selbst die Grenzen des beweisenden und widerlegenden Denkens bezeichnet. Folgerndes Denken, das den Anspruch erhebt, »richtig« zu sein, setzt die fraglichen Axiome und Sätze schon immer voraus. Logik ist konstitutiv für Rationalität. 29 Die Sätze der Logik sind nicht bloß empirisch gegeben. Sonst könnten sie einen Standard der Richtigkeit (für unser Denken) gar nicht abgeben. Statt dessen sind Denken im logischen Sinne und Denken im psychologischen Sinne zu unterscheiden. Nur das erstere ist nicht-empirisch und deswegen auch kritisierbar, während Denken als empirische Tatsache (also das Denken im psychologischen Sinne) nur festgestellt werden kann und einfach hingenommen werden muß. Kant vergleicht denn auch die Gesetze der reinen praktischen Vernunft mit den »mathematischen Postulaten«, die zugleich »unerweislich und doch apodiktisch« sind. 30 Er geht davon aus, daß der moralische Imperativ ebenfalls in einem vergleichbaren Sinne »unerweislich und doch apodiktisch« ist. Auch der moralische Imperativ liefert einen Standard der Richtigkeit und ist damit konstitutiv für Rationalität, nämlich konstitutiv für die Rationalität unseres Handelns. Mit den Sätzen der Logik hat der moralische Imperativ auch den Formalismus gemeinsam. Die Formel »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde!« hat keinen konkreten Inhalt. Jede »Materie des Gesetzes« »geht ihr ab«. 31 Statt dessen bestimmt der Imperativ die Willkür »durch die bloße Form des Gesetzes«. 32 Er verlangt, daß die Willkür sich nicht in einen Widerspruch zu sich selbst setzt, d. i. daß sie nicht für sich selbst eine Ausnahme von der Regel reklamiert, im übrigen aber von der Fortgeltung dieser (von ihr übertretenen) Regel ausgeht. 33 Vgl. Lenk S. 201 ff. 6:225,27–28 (Einl. in die MdS IV). 31 Vgl. 6:214,7 (Einl. in die MdS I). 32 5:31,12 (= KprV A 55). 33 Der Gedanke, daß sich selbst widerspricht, wer für sich in Anspruch nimmt, was anderen untersagt ist, ist selbstverständlich älter als Kants moralischer Imperativ. Wir finden ihn beispielsweise bei Pufendorf, De Jure Lib. III Cap. II § 4. Kant formuliert den Gedanken neu, wobei er ihn in einen Zusammenhang mit dem Gedanken der Verallgemeinerung (universalitas) und dem des (allgemein geltenden) Gesetzes bringt. Vgl. auch unten das achte Kapitel. 29 30
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Ein Vergleich mit den Regeln der Logik
Der moralische Imperativ ist ein Produkt der reinen Vernunft. Er ist die reine praktische Vernunft selbst, nämlich, wie Kant sagt, ein »synthetischer Satz a priori, der auf keiner … Anschauung gegründet ist.« 34 Deshalb ist er kein Teil der Welt, wie sich die Welt den Naturwissenschaften darbietet, sowenig wie die logischen Axiome und die Grundsätze der Konsequenzenlogik ein Teil der Welt sind, der von den Naturwissenschaften erforscht werden könnte. Mit der Logik hat der moralische Imperativ auch eine Notwendigkeit gemeinsam, die von der Naturnotwendigkeit weit unterschieden ist. Die naturwissenschaftlichen Gesetze beschreiben die Welt so, wie sie erscheint. Die Gesetze selbst sind falsch, wenn sie die Phänomene nicht decken. Bei den Regeln der Logik und den Regeln der Sittlichkeit verhält es sich gerade umgekehrt. Mit Bezug auf die phänomenale, die Sinnenwelt stellt sich nicht die Frage, ob die Regeln falsch sind, vielmehr begründen die Regeln eine Notwendigkeit so, daß, wer den Regeln der Logik zuwider redet, Unsinn redet, und wer dem moralischen Imperativ zuwiderhandelt, ungerecht, unlauter oder auf andere Weise unrichtig handelt. Damit zeigt sich, wie der moralische Imperativ, als Produkt der reinen Vernunft, ein Garant der Freiheit ist. Weil wir von einem Sittengesetz auszugehen haben, das uns gegeben ist, müssen wir auch davon ausgehen, daß wir dem Sittengesetz auch folgen können. Denn jedes Sollen impliziert das entsprechende Können. Da Vernunft »gebietet, daß Handlungen, die den sittlichen Vorschriften gemäß sind, geschehen sollen, so müssen sie auch geschehen können.« 35 Das moralische Gesetz wird damit zum Erkenntnisgrund der Freiheit. 36 Die Freiheit der Willkür besteht gerade darin, daß wir in der Lage sind, den Geboten zu folgen, die die Vernunft uns auferlegt. Kant wendet sich ausdrücklich dagegen, Freiheit als »das Vermögen der Wahl« zu 5:31,27–28 (= KprV A 56). 3:524,20–23 (= KrV A 807/B 835). Daß jedes Sollen das entsprechende Können impliziert, ist eine Umformung des alten »Impossibilium nulla obligatio est!« – »Im Hinblick auf Unmögliches kann es keine Verbindlichkeit geben!«. Der Satz des Celsus, Dig. 50.17.185, formuliert das Können als eine notwendige Bedingung für das Sollen. Kants Satz formuliert das Sollen als eine hinreichende Bedingung für das Können. Kant ist nicht der erste, der die Implikation benutzt. Wir finden entsprechende Formulierungen beispielsweise bei Wolff Ph. Pr. Univ. § 598, und bei Turnbull Principles S. 18. Siehe auch Turnbulls Schüler Reid S. 447 (Intellectual Powers) und S. 517 (Active Powers). Zur Logik des »›Sollen‹ impliziert ›Können‹« vgl. Commentary S. 294–297. 36 5:4,28–37 (= KprV A 6 Fn.). 34 35
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VII · Die Würde des Menschen in der Metaphysik der Sitten
definieren, »für und wider das Gesetz zu handeln.« 37 Freiheit ist vielmehr, wie oben (I.) bereits gesagt, negativ, die Unabhängigkeit des Menschen von seinen sinnlichen Antrieben und Neigungen und, positiv, das Vermögen der reinen Vernunft, mich zu vernünftigem, d. i. (sittlich) richtigem Handeln zu bewegen.
IV. Gewissen und moralisches Gefühl In der Metaphysik der Sitten geht Kant näher auf die Bedingungen ein, unter denen praktische Vernunft menschliches Handeln zu bestimmen vermag. 38 Er arbeitet dabei mit Begriffen, die er, mehr oder weniger, der Tradition entnimmt, vor allem mit dem »Gewissen« und dem »moralischen Gefühl«. Der Tradition entspricht es, wenn Gewissen und praktische Vernunft (mit einer gewissen Modifikation) gleichgesetzt werden: »Gewissen ist die dem Menschen in jedem Fall eines Gesetzes seine Pflicht vorhaltende … praktische Vernunft.« 39 Ebenfalls der Tradition entspricht es, wenn Kant zwischen dem »warnenden Gewissen (praemonens) vor der Entschließung« 40 und dem retrospektivischen Gewissen unterscheidet, mit Bezug auf das er vom »inneren Gerichtshof« spricht, von »Zurechnung«, »Verantwortung«, »Verurteilung oder Lossprechung«. 41 Das Gewissen ist danach das Bewußtsein des unbedingten Sollens, das Bewußtsein des Sittengesetzes selbst, genauer: es ist die Vorstellung und Applikation des Sittengesetzes auf Handlungen und Unterlassungen, die ich für die Zukunft ins Auge fasse, oder auf meine vergangenen Handlungen und Unterlassungen. 42 Genauso wie Denken im logischen Sinne und Denken im psychologischen Sinne zu unterscheiden sind (siehe oben III.) muß zwischen dem Gewissen als einem Standard der Richtigkeit (meines Handelns) und dem Gewissen im psychologischen Sinne unterschie6:226,29–31 (Einl. in die MdS IV). 6:399–403 (Einl. z. Tugendlehre XII), unter der Überschrift: »Ästhetische Vorbegriffe der Empfänglichkeit des Gemüts für Pflichtbegriffe überhaupt.« 39 6:400,27–28 (Einl. z. Tugendlehre XII/b). 40 6:440,11–12 (§ 13 d. Tugendlehre). 41 6:438,11: »innerer Gerichtshof«; 6.438,1–2: »Zurechnung«; 6:439,14: »Verantwortung«; 6:438,7–8: »Verurteilung oder Lossprechung« (alles § 13 d. Tugendlehre). 42 Dem entspricht es, wenn etwa Thomas von Aquin die conscientia als »dictamen rationis« bezeichnet (Summa Theologiae I–II q 19 a 5c). 37 38
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Gewissen und moralisches Gefühl
den werden. Das letztere ist ein empirisch vorfindliches Phänomen. Beispielsweise kann ich konstatieren, wie ich ein bestimmtes Verhalten zu einem Zeitpunkt t1 und wie ich dasselbe Verhalten zu einem späteren Zeitpunkt t2 (ethisch oder rechtlich) beurteilt habe, und feststellen, daß die beiden Urteile voneinander abweichen. Ich betrachte dann meine früheren Beurteilungen als Gewissen im psychologischen Sinne. Das ist nicht mit einer Kritik verbunden und kann auch nicht mit Kritik verbunden sein. Statt dessen ist es mit der Feststellung vergleichbar, daß mir früher Kaffee mit Zucker besser geschmeckt hat als Kaffee ohne Zucker und daß es heute gerade umgekehrt ist. Widerspreche ich dagegen meinen früheren Auffassungen, sage ich, daß sie falsch waren, dann appelliere ich an einen Standard der Richtigkeit, der nicht empirischer Natur ist. Diesen Standard der Richtigkeit (und ihn allein) nennt Kant »Gewissen«, 43 und so wird der Ausdruck »Gewissen« im folgenden auch allein gebraucht werden. Das moralische Gefühl ist u. a. vor dem Hintergrund der britischen moral sense-Philosophie zu sehen. 44 An dem Ausdruck »moral sense« – »moralischer Sinn« – kritisiert Kant freilich die Benutzung des Wortes »Sinn«. Unter »Sinn« werde »gemeiniglich ein theoretisches, auf einen Gegenstand bezogenes Wahrnehmungsvermögen verstanden.« Für das »(sittlich) Gute und Böse« aber haben wir keinen »besonderen Sinn«, ebensowenig »wie wir einen solchen für die Wahrheit haben.« 45 Deshalb ersetzt Kant den »moralischen Sinn« durch das »moralische Gefühl«. Im Gegensatz zu einem Sinn liefert ein Gefühl keine Erkenntnisse. 46 Das moralische Gefühl ist vielmehr »die Empfänglichkeit für Lust und Unlust bloß aus dem Bewußtsein der Übereinstimmung oder des Widerstreits unserer Handlung mit dem Pflichtgesetze.« 47 Doch ist auch Kants eigene Wortwahl, worauf Wenn ein Mensch »nach Gewissen« handelt, dann hat er diesen Standard der Richtigkeit befragt. Darin kann der Mensch auch nicht irren. Denn darüber, ob ich glaube, recht zu haben, oder es bloß vorgebe, »kann ich schlechterdings nicht irren«. Vgl. 8:268,13–18 (»Über das Mißlingen«). Auch noch in einem anderen Sinne ist »ein irrendes Gewissen ein Unding«; 6:401,5 (Einl. z. Tugendlehre XII/b). Ein irrendes Gewissen ist genauso ein Unding, wie eine »irrende Logik« ein Unding wäre. Natürlich kann ein Mensch darüber irren, was in einem konkreten Fall denn nun seine Pflicht sei. Kant drückt das so aus, daß »man« irren könne. Aber es ist nicht »das Gewissen«, das dann irrt (6:401,5–6). 44 Dazu Ming-Huei Lee, S. 29 ff. 45 6:400,5–9 und 15–17 (Einl. z. Tugendlehre XII/a). 46 Vgl. auch 6:211,23–212,37 (Einl. in die MdS I, Fn. *). 47 6:399,19–21 (Einl. z. Tugendlehre XII/a); vgl. auch 6:400,18–20. – In der Religions43
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VII · Die Würde des Menschen in der Metaphysik der Sitten
schon L. W. Beck hingewiesen hat, 48 nicht ohne Probleme, weil das Wort »Gefühl« oft (nicht zuletzt auch in Kants früheren Schriften) ein Bewußtseinsereignis bezeichnet, in unserem Kontext aber eine »Empfänglichkeit«, also ein Vermögen bedeutet. 49 Menschliche Willkür wird in vier Schritten zu einer Tat veranlaßt. Am Anfang steht die Vorstellung einer möglichen Handlung (1). Zugleich mit der Vorstellung oder auch ihr (zeitlich) nachfolgend entsteht (2) ein Gefühl der Lust an der Handlung oder ihrer Wirkung, durch das die Willkür (3) ein Interesse an der Handlung nimmt. (Im Fall eines Gefühls der Unlust an der Handlung nimmt die Willkür natürlich kein Interesse an der Handlung, sondern ein Interesse an ihrer Unterlassung.) Aufgrund des Interesses an der Handlung schreitet die Willkür (4) zur Tat. 50 Stelle ich mir also eine bestimmte Handlung vor, die ich vornehmen könnte, dann ist die Vorstellung von einem Gefühl begleitet, das mich geneigt macht, die Handlung vorzunehmen bzw. zu unterlassen. Dieses Gefühl der Lust oder Unlust ist das Wie der Wahrnehmung der Handlung oder ihrer Wirkung, weshalb Kant das Gefühl (der Lust oder Unlust) auch einen »ästhetischen Zustand« 51 nennt und diesen ästhetischen Zustand als die Weise erklärt, wie der innere Sinn (d. i. der Inbegriff unserer Vorstellungen) 52 durch die Vorstellung der Handlung affiziert wird. Das moralische Gefühl vermag die Lust am richtigen Handeln zu bewirken. Das moralische Gefühl ist von, wie Kant das ausdrückt, »pathologischen Gefühlen« zu unterscheiden, 53 die ebenfalls zu (objektiv) richtigem Handeln führen können. Wenn, um ein Beispiel aus der schrift (6:27,27–30) ist das moralische Gefühl die »Empfänglichkeit der Achtung für das moralische Gesetz als einer für sich hinreichenden Triebfeder der Willkür.« 48 Lewis White Beck S. 211. 49 Mit diesen Modifikationen steht das »moralische Gefühl« der MdS der scholastischen Synderesis (etwa: Thomas De Veritate q 16; Summa Theologiae I q 97 a 12) näher als dem moral sense der Briten. Freilich versteht Thomas die Synderesis als habitus, während Kant das moralische Gefühl als eine Anlage und damit als eine Potenz auffaßt (s. unten VI.). 50 Das ist der Sinn des folgenden Satzes (6:399,21–23, Einl. z. Tugendlehre XII/a), den Lewis White Beck als »schwierig« einstuft: »Alle Bestimmung der Willkür … geht von der Vorstellung der möglichen Handlung durch das Gefühl der Lust und Unlust, an ihr oder ihrer Wirkung ein Interesse zu nehmen, zur Tat.« 51 Von »aisthesis« = »Wahrnehmung«. 52 Etwa 3:144,5–6 und 3:159,22–23 (KrV B 194 und 220). 53 Zu dieser Verwendung des Wortes »pathologisch« vgl. Probst Sp. 191 ff.
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Gewissen und moralisches Gefühl
Grundlegung aufzugreifen, 54 der Kaufmann seine Kunden ehrlich bedient (»sodaß ein Kind ebenso gut bei ihm kauft als jeder andere«), dann kann offener oder geheimer 55 Eigennutz die Triebkraft sein. Die Lust am richtigen Handeln ist dann pathologisch. Eine pathologische Lust am richtigen Handeln kann sich auch aus moraltheoretischen (ethischen) Überlegungen selbst ergeben. Jeder Mensch hat, wie es schon in der Grundlegung heißt, einen Zweck, den man als sicher voraussetzen kann, nämlich »die Absicht auf Glückseligkeit.« 56 Nun kann ein Mensch sich die Meinung bilden, daß die Befolgung des Sittengesetzes der beste Weg zur Erreichung des von ihm angestrebten Glückes sei. Eine derartige Überzeugung, die »Eudämonismus« genannt wird, kann das Handeln dieses Menschen beeinflussen. Sie liefert ein Gefühl der Lust an den Handlungen, die dem Sittengesetz gemäß, und ein Gefühl der Unlust an den Handlungen, die dem Gesetz zuwider sind, und der Mensch, der diese Gefühle hat, wird mit seinen Taten das Sittengesetz befolgen. Die Handlungen eines solchen Menschen sind, von außen betrachtet, pflichtmäßig und richtig. Doch hat ein solcher Grund für die Befolgung des Gesetzes auch den Nachteil, daß das solchermaßen entstandene Gefühl ein »pathologisches Gefühl« ist. Die Lust am richtigen Handeln kommt aus dem Streben nach Glückseligkeit, das jeder Mensch qua Naturwesen hat, sie hat folglich, wie Kant das ausdrückt, »empirische Prinzipien«, 57 und »das Verhalten [des Menschen] folgt der Naturordnung«. 58 Das moralische Gefühl zeichnet sich vor den pathologischen Gefühlen dadurch aus, daß wir uns zuerst das Sittengesetz vorstellen und (in Gedanken) auf die ins Auge gefaßte Handlung anwenden. Vorstellung und Anwendung des Sittengesetzes rufen dann ein Gefühl der Lust, das zur Vornahme, oder ein Gefühl der Unlust hervor, das zur Unterlassung der Handlung führt. Die Reihenfolge geht von der Vorstellung (und Applikation) des Gesetzes zur Lust oder Unlust an der Handlung, während bei einem pathologischen Gefühl die Reihenfolge gerade umgekehrt ist. Beim pathologischen Gefühl ist die Absicht auf Glückseligkeit das erste und die »Vorstellung des Gesetzes« das zweite. 59 Deshalb kommt beim moralischen Gefühl die Lust 54 55 56 57 58 59
4:397,21–32 (Grundlegung). 4:407,1–16 (Grundlegung). 4:415,28–33 (Grundlegung). 8:395,35 (»Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie«). 6:378,10–14 (Vorrede z. Tugendlehre). Vgl. 8:395,32–37 (»Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Phi-
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VII · Die Würde des Menschen in der Metaphysik der Sitten
oder Unlust an der Handlung ausschließlich aus der Vorstellung und Anwendung des Gesetzes auf die Handlung (Kant: »bloß aus dem Bewußtsein der Übereinstimmung oder des Widerstreits unserer Handlung mit dem Pflichtgesetze«), während bei einem pathologischen Gefühl das Gefühl der Lust oder Unlust nicht nur nicht allein aus dem Sittengesetz, sondern zugleich und vornehmlich aus der Absicht auf Glückseligkeit kommt. Das moralische Gefühl als das Vermögen des Menschen, aus Pflicht (aufgrund der Pflicht und um der Pflicht willen) pflichtmäßig zu handeln, ist danach eine »subjektive Bedingung« der Möglichkeit sittlich richtigen Handelns, die, wie Kant in der Religionsschrift schreibt, »eine für sich hinreichende Triebfeder der Willkür« liefert. 60 Das Sittengesetz vermag auf unser Handeln Einfluß zu nehmen, weil wir mit dem moralischen Gefühl ausgestattet sind.
V. Der Mensch als Person Fragen wir näher nach der Weise, wie das Bewußtsein eines unbedingten Sollens (das Gewissen) und das ihm korrespondierende moralische Gefühl dem Menschen zukommen. Kant beschreibt Gewissen und moralisches Gefühl als »moralische Beschaffenheiten« des Menschen, nämlich als »natürliche Gemütsanlagen, durch Pflichtbegriffe affiziert zu werden.« 61 Anlagen eines Menschen sind angeborene Prädispositionen. 62 Sie sind damit Vermögen, die »jeder Mensch (als ein moralisches Wesen)« »ursprünglich in sich« hat, 63 was bedeutet, daß Gewissen und moralisches Gefühl notwendig zu der Möglichkeit des Menschen als eines moralischen Wesens gehölosophie«); 6:378,8–14 (Vorrede z. Tugendlehre) und 6:399,19–27 (Einl. z. Tugendlehre XII/a). 60 6:27,27–29. 61 6:399,4 und 399,11–12 vgl. auch 6:400,18–20 (Einl. z. Tugendlehre XII/Vorbem. und XII/a). 62 Mit der Tradition unterscheidet Kant zwischen »Prädisposition« und »Neigung«, was der Differenz von Potenz und Habitus korrespondiert. Eine Neigung ist eine »habituelle Begierde«, eine Prädisposition ist »der subjektive Grund der Möglichkeit für eine Neigung«. Es gibt angeborene und erworbene Prädispositionen. Angeborene Prädispositionen heißen »Anlagen«. Vgl. 6:28,27–29,4 und die Fn. dazu 6:28,30– 29,37 (Religionsschrift); 6:212,23 (Einl. in die MdS I); 6:399,11 (Einl. z. Tugendlehre XII/Vorbem.). 63 6:399,31–32 und 6:400,23–25 (Einl. z. Tugendlehre XII/Vorbem. und XII/b).
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Der Mensch als Person
ren. 64 Ausdrücklich heißt es, das Gewissen sei eine »unausbleibliche Tatsache«. 65 Das ist nichts als eine andere Formulierung dafür, daß das Bewußtsein des unbedingten Sollens ein »Faktum« (der Vernunft) ist. Wenn wir sagen, ein Mensch sei »gewissenlos«, dann bedeutet das nicht, daß er kein Gewissen hat, sondern, daß er den »Hang« hat, »sich an dessen Urteil nicht zu kehren.« 66 Auch ist kein Mensch »ohne alles moralische Gefühl«. Denn ohne moralisches Gefühl wäre der Mensch »sittlich tot«, 67 d. h. er wäre unvermögend, sich durch reine praktische Vernunft zum Handeln bestimmen zu lassen. Das aber kann nicht sein, weil das unbedingte Sollen, dessen wir uns bewußt sind, das entsprechende Können impliziert. Mit Gewissen und moralischem Gefühl fällt der Mensch aus dem »System der Natur« (siehe oben die Einleitung) heraus. Praktische Vernunft und Sittengesetz gehören nicht zum System der Natur, und mit ihnen gehören auch die Vorstellung und Applikation des Sittengesetzes und die Empfänglichkeit für Lust oder Unlust bloß aus dem Bewußtsein der Übereinstimmung oder des Widerstreits unserer Handlungen mit dem Sittengesetz nicht zum System der Natur. Das gilt auch von der Weise, wie die beiden Gemütsanlagen festgestellt werden. Das Bewußtsein des Gewissens und das des moralischen Gefühls sind »nicht empirischen Ursprungs«. Statt dessen folgt das Bewußtsein der beiden moralischen Beschaffenheiten des Menschen auf das Bewußtsein des Sittengesetzes, insofern wir feststellen, daß das Sittengesetz »Wirkung aufs Gemüt« hat. 68 Obwohl wir also zu Gewissen und moralischem Gefühl keinen empirischen Zugang haben und ihre Feststellung statt dessen das Ergebnis einer Reflexion ist, sind die beiden moralischen Beschaffenheiten des Menschen (da sie subjektive Bedingungen der Möglichkeit Vgl. 6:28,19–29 (Religionsschrift). Vgl. 6:400,30–31 (Einl. z. Tugendlehre XII/b). 66 6:401,10–11 (Einl. z. Tugendlehre XII/b). 67 6:400,9–11 (Einl. z. Tugendlehre XII/a). 68 6:399,14–16 (Einl. z. Tugendlehre XII/Vorbem.) – In diesem Zusammenhang wehrt Kant auch den (Schein)-Gedanken ab, ein Mensch könne verpflichtet sein, sich ein moralisches Gefühl oder ein Gewissen anzuschaffen. Der Gedanke selbst ist schon in sich widersprüchlich. Würde ein Wesen, das als noch ohne moralisches Gefühl und Gewissen gedacht wird, den Gedanken fassen, dann würde das eine Empfänglichkeit für Pflichtbegriffe und damit ein moralisches Gefühl und ein Gewissen schon voraussetzen und damit genau das voraussetzen, was als noch nicht vorhanden angenommen worden ist. Vgl. auch 6:399,28–400,4 und 400,23–31 (Einl. z. Tugendlehre XII/a und b). 64 65
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VII · Die Würde des Menschen in der Metaphysik der Sitten
sind, durch das Sittengesetz affiziert zu werden) doch »natürliche Gemütsanlagen«. Das kann auch nicht anders sein, da sie Anlagen des Menschen als einer physischen Person sind, d. h. einem körperlichen Wesen zukommen, das auf dieser Erde lebt. Gewissen und moralisches Gefühl sind damit natürliche Prädispositionen des Menschen, die nicht zum »System der Natur« gehören. Das ist weder einzigartig noch mysteriös. Auch die Fähigkeit, logisch richtig zu denken, ist ein natürliches Vermögen des Menschen, das gleichwohl nicht empirisch feststellbar ist, sondern Ergebnis eines Rückschlusses von der Tatsache, daß Menschen logisch richtig denken. Gewissen und moralisches Gefühl gehören zu dem, was den eigentümlichen Charakter des Menschen als Menschen, im Unterschied zu allen anderen Tieren, ausmacht. 69 Ohne Gewissen und moralisches Gefühl würde sich »die Menschheit (gleichsam nach chemischen Gesetzen) in die bloße Tierheit auflösen und mit der Masse anderer Naturwesen unwiederbringlich vermischt werden.« 70 In der Anthropologie bezeichnet Kant das moralische Gefühl als »moralische Anlage« des Menschen, 71 in der Religionsschrift bezeichnet er es als »Anlage für die Persönlichkeit«, 72 wobei »Persönlichkeit« »moralische Persönlichkeit« und dieser Ausdruck den noumenalen Aspekt des Menschen als »eines vernünftigen Wesens unter moralischen Gesetzen« (siehe oben II.) meint. 73 Genauer ist das moralische Das gilt auch für die hier nicht weiter zu besprechenden anderen moralischen Beschaffenheiten des Menschen, »die Liebe des Nächsten« und »die Achtung für sich selbst (Selbstschätzung)«. Dazu 6:399–403, insbes. 6:401–403 (Einl. z. Tugendlehre XII/c und d). Bei Kants Erörterungen der moralischen Beschaffenheiten des Menschen in der Metaphysik der Sitten steht das moralische Gefühl im Vordergrund. In der Religionsschrift (6:27,29–30), bei der Diskussion der »Anlage für die Persönlichkeit«, und in der Anthropologie (7:324,20), bei der Diskussion der »moralischen Anlage« des Menschen, wird allein das moralische Gefühl angesprochen. In der Religionsschrift definiert Kant das »moralische Gefühl« als »Empfänglichkeit der bloßen Achtung für das moralische Gesetz in uns«, was der Begriffsbestimmung in der Metaphysik der Sitten korrespondiert. Es mag hier offen bleiben, ob das »moralische Gefühl« der Anthropologie dasselbe meint. 70 6:400,13–15. 71 7:324,12–21. 72 6:26,10, 6:27,27 und 28,2. 73 6:223,25–26 (Einl. in die MdS IV). – »Persönlichkeit« und »Person« sind auseinanderzuhalten. Dabei sind zwei Begriffspaare zu berücksichtigen: »Physische« und »moralische Person«, »psychologische« und »moralische Persönlichkeit«. 1. Traditionell ist die Differenz von »physischer Person« und »moralischer Person«, (Vgl. etwa Pufendorf De Jure Lib. I Cap. I § 12 = Werke Bd. 4.1 S. 19; Achenwall Prolegomena 69
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Der Mensch als Person
Gefühl eines von mehreren Momenten der Anlage für die moralische Persönlichkeit. Vom Standpunkt der Metaphysik der Sitten aus gesehen, die den Gedanken von den moralischen Beschaffenheiten des Menschen ausführlicher als die Religionsschrift erörtert, sind es die moralischen Beschaffenheiten des Menschen als Einheit, die die Anlage zur moralischen Persönlichkeit ausmachen, also, in unserem Zusammenhang, nicht das moralische Gefühl allein, sondern moralisches Gefühl und Gewissen zusammen. 74 Mit der Anlage zur moralischen Persönlichkeit wird der Mensch zur Person. Eine Person ist ein »mit Freiheit begabtes Wesen.« 75 Eine physische Person ist ein mit Freiheit begabtes lebendes körperliches Wesen. Wie Gewissen und moralisches Gefühl ist auch die Freiheit ein »Vermögen des Menschen«. 76 Gewissen und moralisches Gefühl sind konstitutiv für diese Freiheit, weil sie das Bewußtsein des unbedingten Sollens und das aus dem Sollen folgende Können sind. Sie sind identisch mit der Freiheit. Infolgedessen sind Gewissen und moralisches Gefühl diejenigen Anlagen des Menschen, die ihn zur Person machen. Zwischen dem Menschen und den übrigen Tieren besteht damit 2. Aufl. § 92). Kant macht von der Unterscheidung Gebrauch (etwa 6:227,27/Einl. in die MdS IV). »Physische Person« ist der einzelne Mensch, dem Pflichten und Rechte zukommen. »Moralische Person« ist eine Verbindung von (physischen oder moralischen) Personen, die als eine einzige »Person«, der Pflichten und Rechte zukommen, betrachtet wird. Gelegentlich ist eine »moralische Person« auch eine physische Person in einer besonderen Funktion, etwa der König in seiner Eigenschaft als »Souverän« (vgl. 6:320 33/Allg. Anm. A). Die »moralische Person« ist das, was wir heute »juristische Person« nennen, was aber etwa im Französischen immer noch »personne morale« heißt (etwa Art. 121–2 fr. Code pénal 1994). – 2. Was die »Persönlichkeit« angeht, so ist die »psychologische Persönlichkeit« das »Vermögen, sich der Identität seiner selbst in den verschiedenen Zuständen seines Daseins bewußt zu werden« (6:223,27– 28/Einl. in die MdS IV). Die »moralische Persönlichkeit« ist demgegenüber die »von physischen Bestimmungen unabhängige Persönlichkeit« (6:239,25–26/Einteilung der MdS überhaupt I) und damit eben »die Freiheit eines vernünftigen Wesens unter moralischen Gesetzen«. »Moralische Persönlichkeit« meint, mit anderen Worten, den homo noumenon, das geistige Element im Menschen. Im allgemeinen benutzt Kant in der Metaphysik der Sitten »Persönlichkeit« ohne einen Zusatz, und dann meint er damit die »moralische Persönlichkeit«. Zur Entwicklung des Begriffs der Persönlichkeit in Kants Denken, vor allem (zeitlich) vor der Metaphysik der Sitten, vgl. Mohr »Der Begriff der Person« S. 103 ff. 74 6:438,24–25 (§ 13 der Tugendlehre) bezeichnet expressis verbis das Gewissen als »ursprüngliche moralische Anlage« des Menschen. 75 Vgl. 6:280,24; 281,7 (§ 28). 76 Vgl. 6:226,20; 227,2–4 (Einl. in die MdS IV).
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VII · Die Würde des Menschen in der Metaphysik der Sitten
ein Hiatus, eine Diskontinuität, eine unüberbrückbare Kluft. Es ist kein Zufall, daß Kant das Wort »Menschheit«, gleichgültig wie er es in früheren Schriften benutzt haben mag, 77 in der Metaphysik der Sitten als kennzeichnend allein für den homo noumenon gebraucht. 78 Die »Menschheit in meiner oder eines anderen Person« ist das geistige Element, das Vernunftelement im Menschen für sich selbst betrachtet. 79 Der Mensch ist das einzige Tier, das wir kennen, das nicht nur mit der Rationalität des animal rationale, sondern mit Vernunft, d. i. mit dem Bewußtsein eines unbedingten Sollens und einer »Empfänglichkeit für den Pflichtbegriff«, 80 ausgestattet ist, und deshalb ist es geboten oder jedenfalls zweckmäßig, das Wort »Menschheit« zur Kennzeichnung eben dieses Unterscheidungsmerkmals zu verwenden.
VI. Menschenwürde Nach dem Gesagten ist es nicht verwunderlich, daß Kant ausdrücklich von »Menschenwürde« spricht. 81 »Die Menschheit selbst ist eine Würde«, und ich bin verpflichtet, »die Würde der Menschheit an je-
Noch in der Religionsschrift (6:26,8) wird »Menschheit« zur Kennzeichnung des Aspekts benutzt, der in der Metaphysik der Sitten »homo phaenomenon« heißt. 78 Kants Gebrauch des Wortes »Menschheit« entspricht der Verwendung des Wortes »humanitas« bei Achenwall (Prolegomena 2. Aufl. § 10): »Natura hominis generica, hoc est, quae omnibus hominibus est communis, HUMANITAS appellatur.« – »Die gattungsmäßige Natur des Menschen, d. i. das, was allen Menschen gemeinsam ist, wird ›Menschheit‹ genannt.« »Menschheit« in diesem Sinne ist nicht mit »Menschheit« im Sinne von »genus humanum« – »Menschengeschlecht« zu verwechseln. Auch das lateinische »humanitas« ist mehrdeutig. Kant gebraucht es (auch) im Sinne von »Menschlichkeit« (vgl. 6:456,26–27/§ 34 der Tugendlehre). Zur Verwendung des Wortes »Menschheit« bei August Friedrich Müller, der auf Kants Vokabular Einfluß gehabt hat, vgl. meinen Beitrag »Die Person als Zweck an sich selbst« S. 11. 79 Betrachte ich einen Menschen nach seiner »Menschheit«, dann heißt das, daß ich ihn (den Menschen) »objektiv« danach, »wozu er durch seine reine praktische Vernunft bestimmt ist«, »bloß als moralisches Wesen« (6:379,26–380,27/Einl. z. Tugendlehre I Fn.; 6:429,5/§ 9 der Tugendlehre) oder (ausdrücklich) als »homo noumenon« (6:295,11–13/§ 35; 6:423,5/ 6 der Tugendlehre) und damit »als von physischen Bestimmungen unabhängige Persönlichkeit« betrachte (6:239,25–26 Einteilung der MdS überhaupt II). 80 Vgl. 6:399,9 (Einl. z. Tugendlehre XII/Vorbem.). 81 Etwa 6:429,24 (§ 9 der Tugendlehre); 6:436,29 (§ 12 der Tugendlehre); 6:462,12–13 (§ 37 der Tugendlehre): »Würde an anderen Menschen«. 77
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Menschenwürde
dem anderen Menschen praktisch anzuerkennen.« 82 Diese Würde kommt jedem Menschen kraft seiner (moralischen) Persönlichkeit zu. Denn die Persönlichkeit ist das, wodurch der Mensch sich »über alle anderen Weltwesen, die nicht Menschen sind …, mithin über alle Sachen erhebt.« 83 »Selbst dem Lasterhaften als Menschen« kann ich »nicht alle Achtung versagen, die ihm wenigstens in der Qualität eines Menschen nicht entzogen werden kann; ob er zwar durch seine Tat sich derselben unwürdig macht.« 84 An dieser Stelle sind die bekannten Gegenüberstellungen zu erwähnen, die sich schon in der Grundlegung finden und die auch unserem Ausgangstext (s. oben die Einleitung) zugrunde liegen: Person und Sache, Zweck an sich selbst und bloßes Mittel, Würde und Preis. 85 Jeder Mensch ist eine Person, deshalb ein Zweck an sich selbst, und das ist es, was seine Würde begründet. Menschen sind keine Sachen (»alle anderen Weltwesen« sind Sachen), sie haben keinen Preis, sie dürfen deshalb nicht als bloße Mittel benutzt werden. Zur Kennzeichnung des Unterschieds zwischen Personen und Sachen benutzt Kant den Gesichtspunkt der Zurechenbarkeit von Handlungen. »Person ist dasjenige Subjekt, dessen Handlungen einer Zurechnung fähig sind.« »Sache ist ein Ding, was keiner Zurechnung fähig ist.« 86 Da eine Person ein mit Freiheit begabtes Wesen ist, kön6:462,21 und 29–32; vgl. auch 6:449,28–30 und 6:459,23 (§§ 38, 25 und 36 der Tugendlehre). 83 6:462,24–26 (§ 38 der Tugendlehre). 84 6:463,12–15 (§ 39 der Tugendlehre). 85 4:428,7–33 (Person und Sache, Zweck an sich selbst und bloßes Mittel); 4:434,31– 435,4 (Würde und Preis). 86 6:223,24–25 und 223,32 (Einl. in d. MdS IV). – Bei den lateinisch schreibenden Autoren des 18. Jahrhunderts ist »actio« der Gattungsbegriff zu den Artbegriffen »actio libera« und »actio physice necessaria«; vgl. Wolff Phil.Pr.U. § 12; Achenwall Prolegomena 2. Aufl. § 8. Dementsprechend unterscheidet auch Kant zwischen »Handlung« und »freier Handlung« (das letztere etwa in 6:222,3 [Einl. in. d. MdS IV]). Deshalb bedeutet »Handlung« bei ihm, anders als heute, nicht schon, daß der so bezeichnete Vorgang (auf der ersten Stufe der Zurechnung) zugerechnet werden kann. »Handlung« ist vielmehr jeder Vorgang, in den eine Person involviert ist, unabhängig davon, ob die »Handlung« zugerechnet werden kann oder nicht. Nur die freie Handlung, die zugerechnet wird, heißt »Tat (factum)« (6:227,21–23 [Einl. in d. MdS IV]). Selbstverständlich gibt es Vorgänge (= »Handlungen«), in die eine Person involviert ist und die trotzdem nicht zugerechnet werden können. Der erste der oben wiedergegebenen Sätze besagt demnach, daß es überhaupt »Handlungen« gibt, die der Person zugerechnet werden können, und er besagt nicht, daß einer Person alle »Handlungen«, in die sie involviert ist, zugerechnet werden können. 82
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VII · Die Würde des Menschen in der Metaphysik der Sitten
nen ihr diejenigen Handlungen zugerechnet werden, die in ihrer Freiheit begründet sind, während eine Sache ein Ding ist, mit Bezug auf das von Freiheit von vornherein keine Rede sein kann und für das deshalb eine Zurechnung von vornherein nicht in Betracht kommt. Würde ist absoluter innerer Wert, d. i. »ein Wert, der keinen Preis hat, kein Äquivalent, wogegen das Objekt der Wertschätzung ausgetauscht werden könnte.« 87 Aus der Würde der Person resultiert ein Anspruch auf Achtung, 88 und wegen ihrer Würde ist die Person ein Zweck an sich selbst. Es gilt die zweite Formel 89 des moralischen Imperativs: »Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst!« 90 Würde kommt jedem Menschen zu, und zwar von der Zeugung an. Auch »das Erzeugte [ist] eine Person«. Zwar können wir uns keinen »Begriff davon machen«, wie ein »mit Freiheit begabtes Wesen« (eben eine Person) »durch eine physische Operation« (die Zeugung) in die Welt gebracht werden kann. Doch unterscheiden sich der menschliche Embryo, der menschliche Fötus in diesem Punkte nicht von einer erwachsenen Person, für die wir ebenfalls keinen Grund (im Sinne einer ratio essendi) dafür angeben können, warum sie als ein physisches Wesen mit Freiheit ausgestattet ist. Denn die mora6:462,13–15 (§ 37 der Tugendlehre). – In der Metaphysik der Sitten unterscheidet Kant zwischen dem »äußeren« und dem »inneren Wert« eines Menschen. Der »äußere Wert« eines Menschen, der »Wert seiner Brauchbarkeit«, ist der »Preis«, der in dem Verkehr gilt, in dem dieser Mensch als Tier und also als Sache gehandelt wird (s. oben die Einleitung, Text zu Fn. 2). Etwa: »Geschicklichkeit und Fleiß im Arbeiten haben einen … Preis.« (4:435,9) Demgegenüber übersteigt der »innere Wert« (6:435,2; 436,10) eines Menschen jeden Preis, nämlich dann, wenn der Mensch »als ein Subjekt einer moralisch-praktischen Vernunft« betrachtet wird. Der innere Wert heißt »Würde«, »dignitas«, auch »dignitas interna« (6:435,2; 436,12). Die Unterscheidung von äußerem und innerem Wert ist ein Anwendungsfall der Unterscheidung von »äußerlich« und »innerlich«, wie wir sie aus der Kritik der reinen Vernunft kennen (dazu oben Erstes Kapitel Abschn. III und Commentary S. 55–56 und S. 62–63). Das bedeutet für die »Würde« als dem »inneren Wert« eines Menschen, daß er (der Wert) auf reinem Denken beruht, d. i. durch reines Denken hervorgebracht wird. Der Preis als der äußere Wert eines Menschen dagegen beruht darauf, daß ein anderer als der auf seinen äußeren Wert hin abgeschätzte Mensch diesen Preis zu zahlen bereit ist. 88 6:462,18–20 89 Im Unterschied zu der oben (III.) wiedergegebenen ersten Formel des moralischen Imperativs. 90 6:429,10–12 (Grundlegung). Vgl. auch 6:450,3–8 (§ 25 d. Tugendlehre). 87
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Vom Ende der Menschenwürde
lische Anlage, die moralischen Beschaffenheiten, die dem Menschen zukommen und ihn zur Person machen, sind, wie wir gesehen haben, nicht-empirischer Art. Infolgedessen habe ich menschliche Embryonen und Föten als meinesgleichen anzusehen. Es ist, wie Kant das ausdrückt, eine »in praktischer Hinsicht ganz richtige und auch notwendige Idee, den Akt der Zeugung als einen solchen anzusehen, wodurch wir eine Person … auf die Welt gesetzt« haben. 91
VII. Vom Ende der Menschenwürde Kant hat Abtreibung als ein Massenphänomen, verbrauchende Embryonenforschung und das Klonen von Menschen, das heute in greifbare Nähe gerückt ist, sowenig vorhergesehen, wie er die schweren Verletzungen der Menschenwürde vorhergesehen hat, die das 20. Jahrhundert hervorgebracht hat. Unter dem Gesichtspunkt der Menschenwürde kämpft er noch gegen das Vierteilen, das Zerreißenlassen eines Menschen von Hunden, das Abschneiden von Nasen und Ohren. 92 Den Utilitarismus allerdings, der die Ideologie für die heutigen Bedrohungen der Menschenwürde liefert, hat er wohl vorhergesehen. 93 Anders wird man den ersten Absatz unseres Ausgangstextes (s. oben die Einleitung) kaum verstehen können. Der erste Absatz unseres Ausgangstextes kommt heraus, wenn die Menschenwürde gestrichen wird. Wird die Menschenwürde gestrichen, dann wird der Mensch nicht mehr als ein geistiges Wesen wahrgenommen, und übrig bleibt der homo phaenomenon, das animal rationale, das vernünftige Naturwesen. Der Mensch, bloß als vernünftiges Naturwesen gesehen, hat einen Preis, d. h. er hat einen nur relativen Wert. 94 Was einen Preis hat, ist eine Ware und infolgedessen
Vgl. 6:280,23–281,3 (§ 28). 6:463,16–17 (§ 39 d. Tugendlehre). 93 Das schließt die Formel vom »größten Glück der größten Zahl« und den »Konsequentialismus« ein. Von beidem wird sogleich im Text die Rede sein. Der Name »Konsequentialismus« ist zwar neueren Datums. Aber schon die Kant vorangehende Naturrechtslehre des 18. Jahrhunderts wird vom Konsequentialismus beherrscht (dazu Drescher passim). Auch die Formel vom »größten Glück der größten Zahl« ist im 18. Jahrhundert bekannt. Wir finden sie, lange vor Bentham, bei Leibniz, Hutcheson, Beccaria. S. auch oben erstes Kapitel Abschn. XI. 94 Diese Begriffsbestimmung von Preis in 6:435,3–4 (Grundlegung). 91 92
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VII · Die Würde des Menschen in der Metaphysik der Sitten
eine Sache. Sachen sind ersetzbar. Der Mensch qua animal rationale ist ersetzbar. Der Mensch qua animal rationale hat keine Pflichten. Er verliert sich, wie »sittlich tot«, in der Masse der übrigen Tiere (siehe oben VI.), mit Bezug auf die wir ebenfalls nicht daran denken, daß sie Pflichten haben könnten. Vor dem animal rationale brauchen wir auch keine Achtung zu haben. Denn es ist nichts (mehr) an ihm, das den Anspruch auf Achtung begründen könnte. Das bedeutet auch, daß der Mensch keine Rechte (mehr) hat. Denn wiederum: Es ist nichts am animal rationale, das irgendwelche Rechte begründen könnte. 95 Wie sieht ein System aus, in dem Menschen leben, aber so betrachtet werden (und auch sich selbst so betrachten), daß ein Beobachter seriöserweise nicht davon sprechen kann, daß sie Pflichten und Rechte haben? Fragen wir zunächst einmal danach, wie solche Menschen ihre eigenen und anderer Leute Handlungen beurteilen werden. Es ist klar, daß diese Menschen, die mit der (spezifischen) Rationalität eines animal rationale ausgestattet sind, »Konsequentialisten« sind. »Konsequentialisten« beurteilen Handlungen nach den zu erwartenden Wirkungen, die aus den Handlungen hervorgehen. Das muß so sein, denn andere Maßstäbe, die auf den intrinsischen Wert der Handlungen abstellen, können sie vorausgesetztermaßen nicht haben. Ferner ist anzunehmen, daß ein solches System durch den Krieg aller gegen alle beherrscht wird, wie Hobbes ihn beschreibt, 96 es sei denn, es findet sich jemand, der stark genug ist, die anderen notfalls mit Gewalt vom Krieg abzuhalten. Der Krieg aller gegen alle bringt die Gefahr der Ausrottung der Menschengattung überhaupt mit sich, weshalb ein Bedürfnis entsteht, diesen Krieg zu beenden. Um das zu erreichen, werden sich die Menschen wahrscheinlich am leichtesten auf die Formel vom »größten Glück der größten Zahl« als Prinzip allen Handelns einigen können, jeder einzelne mit der Hoffnung, daß er dann nicht zu der Gruppe derjenigen gehören wird, die um des »größten Glücks der größten Zahl« willen Von den »Pflichten« und »Rechten« rechtspositivistischer Provenienz, die »der Staat« oder »die Gesellschaft« dem einzelnen »auferlegen« resp. ihm »gewähren«, ist hier nicht die Rede. Diese angeblichen Pflichten und Rechte können, wie der Rechtspositivismus lehrt, vom »Staat« bzw. von der »Gesellschaft« jederzeit widerrufen werden. Sie sind folglich bloße Scheinpflichten und Scheinrechte. Zum Rechtspositivismus vgl. auch oben Erstes Kapitel Abschn. XII. 96 Hobbes De Cive Kap. I § 12 = Opera II S. 165 f. 95
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Vom Ende der Menschenwürde
geopfert werden. Auch kommt die (Schein-)Arithmetik der Formel den »wissenschaftlichen« Neigungen des homo phaenomenon entgegen. Mit der Annahme der Formel entsteht ein Bedürfnis nach Entscheidungsträgern, die festlegen, welche Handlungen dem »größten Glück der größten Zahl« entsprechen und welche nicht. Es wird gefragt werden, wer in die Kalküle einzubeziehen ist, die mit der Formel vom »größten Glück der größten Zahl« operieren. Da der Mensch qua animal rationale sich von den übrigen Tieren qualitativ nicht unterscheidet, wird es Stimmen geben, die alle Tiere berücksichtigen wollen. Ein System, in dem Menschen allein als vernünftige Naturwesen betrachtet werden, wird, mit anderen Worten, ein utilitaristisches System sein. Tatsächlich ist es so, daß der englische politische Schriftsteller Jeremy Bentham, der als der Begründer des Utilitarismus gilt, den Konsequentialismus und die Formel vom »größten Glück der größten Zahl« von der ihm vorangehenden Naturrechtslehre übernimmt, die er im übrigen aber verachtet. Bentham hat die von der Naturrechtslehre entwickelte Vorstellung, daß dem Menschen (subjektive) Rechte zukommen, die dem Staat und der Gesellschaft vorausliegen, einen »Unsinn auf Stelzen« (»nonsense on stilts«) genannt. 97 Um wieviel mehr hätte er Kants Konzept der Menschenwürde, wenn er es gekannt hätte, als »Unsinn auf Stelzen« bezeichnet. An die Stelle der Würde tritt im Utilitarismus die Verrechenbarkeit des Menschen. Deshalb kann der Mensch (wie die übrigen Tiere) in die Kalküle der Utilitaristen eingestellt werden. Utilitarismus behauptet zwar, eine »ethische Theorie« zu sein, doch ist genau das zu bezweifeln, weil Utilitarismus keine Möglichkeit hat, Pflichten des Menschen zu begründen. Utilitarismus ist vielmehr das, was herauskommt, wenn wir gerade keine Ethik mehr haben. Peter Singer 98 hat Benthams Utilitarismus aktualisiert. Benthams Behandlung des Menschen als ein Wesen, das keine Rechte hat, stimmt Singer ausdrücklich zu. 99 Die Umsetzung dessen, was Singer vorträgt (und vieles wird bereits umgesetzt!), würde das Ende der Menschenwürde für das 21. Jahrhundert bedeuten. 100
Bentham S. 501. Practical Ethics. 99 Zu den »Rechten«, die das sog. positive Recht Menschen zuweisen mag, siehe oben Fn. 95. 100 Dazu mein Beitrag in Juristenzeitung 2001. 97 98
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Achtes Kapitel: Auf dem Wege zum Kategorischen Imperativ
Gegenstand der folgenden Interpretation ist eine Passage in den handschriftlichen »Bemerkungen«, die Kant in seinem Handexemplar zu den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen von 1764 angebracht hat. 1 Die »Bemerkungen« sind wahrscheinlich in den Jahren 1764 und 1765 geschrieben worden. 2 Sie stammen damit aus einer der frühesten Phasen, in denen sich Kant mit moralphilosophischen Fragen befaßt hat. Die Passage ist nicht zuletzt deswegen interessant, weil das in ihr verwendete Beispiel eines Früchtediebstahls in der Literatur der Gegenwart als eine frühe Anwendung des Kategorischen Imperativs aufgefaßt wird. 3 Die Stelle lautet: »Voluntas est vel propria hominis vel communis hominum. … Actio spectata secundum voluntatem hominum communem … si sibimet ipsi contradicat est externe moraliter impossibilis (illibitum). Fac me alterius frumentum occupatum ire tum si specto hominem neminem sub ea conditione ut sibi ipsi eripiatur quod acquisivit acquirere velle quod alterius est idem secundum privatum volo et secundum publicum aversor. Quatenus enim aliquid a voluntate alicujus plenarie pendet eatenus impossibile est ut sibi ipsi contradicat (objective). Contradiceret autem voluntas divina sibimet ipsi si vellet homines esse quorum voluntas opposita esset voluntati ipsius. Contradiceret hominum voluntas sibimet ipsi si vellent quod ex voluntate com-
20:1–192. Vgl. auch die von Rischmüller herausgegebene, kommentierte und übersetzte Fassung der »Bemerkungen«, auf die ich hier unter dem Namen der Herausgeberin verweise. – Aus den »Bemerkungen« gebe ich im folgenden verschiedene Abschnitte wieder, die ich zur Unterscheidung voneinander mit den Seitenzahlen des Bandes 20 der Akademie-Ausgabe kennzeichne. – Bei den Übersetzungen stütze ich mich im wesentlichen auf die Übersetzungen von Rischmüller, die ich jedoch gelegentlich modifiziere. 2 Vgl. Lehmann in der »Einleitung« 20:472, Rischmüller in der »Einleitung« S. XVI f. 3 Vgl. Schnoor S. 182 ff. mit weiteren Nachweisen. 1
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VIII · Auf dem Wege zum Kategorischen Imperativ
muni abhorrent. Est autem voluntas communis in statu collisionis praegnatior propria« (20:161,2–17). 4 »Der Wille ist entweder der eigene eines Menschen oder der gemeinsame der Menschen. … Eine unter dem Gesichtspunkt des gemeinsamen Willens der Menschen betrachtete Handlung ist dann, wenn sie sich selbst widerspricht, äußerlich moralisch unmöglich (es gefällt nicht). Nimm an, daß ich mich anschicke, das Getreide eines anderen zu stehlen. Weil ich keinen Menschen kenne, der unter der Bedingung, daß ihm selbst geraubt wird, was er erworben hat, überhaupt eines anderen Gut erwerben will, so will ich das für mich, was ich für die Allgemeinheit gerade nicht will. Soweit nämlich etwas vollständig vom Willen eines Subjekts abhängt, ist es unmöglich, daß das Subjekt sich (objektiv) selbst widerspricht. Der göttliche Wille würde sich selbst widersprechen, wenn er wollte, daß es Menschen gäbe, deren Wille seinem [dem göttlichen] Willen entgegengesetzt ist. Der Wille der Menschen widerspräche sich selbst, wenn sie etwas wollten, wovor sie mit dem gemeinsamen Willen zurückschrecken. Im Kollisionsfall ist der gemeinsame Wille gewichtiger als der eigene.« 5
Bei der Stelle fällt zuerst ins Auge, daß nach ihr eine Handlung dann und deswegen als moralisch falsch – Kant sagt »moralisch unmöglich« – zu beurteilen ist, wenn und weil die Handlung einen Selbstwiderspruch enthält. Das wird nicht nur gleich am Anfang gesagt, sondern am Ende der Stelle noch einmal näher ausgeführt. Am Anfang und am Ende der Stelle steht die »voluntas communis hominum«, der gemeinsame Wille der Menschen, im Vordergrund. Dazwischen findet sich das Beispiel des Früchtediebstahls, das eine Anwendung des Kategorischen Imperativs sein könnte, wenn der Kategorische Imperativ nur schon formuliert worden wäre. Wir fassen es – vorsichtiger – als eine Anwendung des Prinzips der Verallgemeinerung auf. Die nachstehenden Überlegungen beginnen mit einer Passage zur Soziabilität des Menschen bei Pufendorf, in der Pufendorf den Gedanken fomuliert, bestimmte moralische falsche Urteile liefen auf einen Selbstwiderspruch des Urteilenden hinaus. Kant übernimmt von Pufendorf den Gedanken der Soziabilität des Menschen (unten I.). Darüber hinaus formuliert er, wohl ebenfalls mit Blick auf die Pufendorf-Stelle, den Gedanken, daß moralisch falsches Handeln auf einem = Rischmüller S. 119 f. Rischmüller: statt »tum«: »tam«, statt: »acquisivit«: »acquisit«. Übersetzung Rischmüller S. 266. 5 Die Übersetzung des Satzes »Fac me …« (mit einigen Veränderungen) im Anschluß an Henrich S. 361; vgl. auch Schnoor, S. 182 Fn. 418. 4
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VIII · Auf dem Wege zum Kategorischen Imperativ
Selbstwiderspruch des Handelnden beruht. Zur Darstellung der Möglichkeit eines Selbstwiderspruchs bedient sich Kant der Figur einer »voluntas communis«, die sich einerseits an der Definition von Gerechtigkeit bei Ulpian orientiert, andererseits an den »sensus communis« anlehnt (unten II.). Danach ist zur Vorbereitung einer Diskussion des Diebstahlbeispiels auf die im 18. Jahrhundert bekannten Formulierungen des Prinzips der Verallgemeinerung einzugehen (unten III.). Schließlich ist das Beispiel selbst zu diskutieren, an dem sich der Selbstwiderspruch des moralisch falsch Handelnden aufzeigen läßt (unten IV.). Das Kapitel geht davon aus, daß Kant mit der einschlägigen Literatur seiner Zeit vertraut ist. Insbesondere kennt er Pufendorfs De Jure Naturae et Gentium von 1672 (in der Originalsprache) und den Kommentar dazu von Barbeyrac aus dem Jahre 1706. Aber er kennt auch die 1764/65 neuere und neueste Literatur. Dazu gehören Achenwalls Prolegomena Iuris Naturalis von 1758 (2. Aufl. 1763) und Hutchesons An Inquiry into the Original of our Ideas of Beauty and Virtue in der Übersetzung von Johann Heinrich Merck Untersuchung unserer Begriffe von Schönheit und Tugend von 1762. Ich nehme an, daß Kant Achenwalls Prolegomena etwa seit dem Erscheinen der 2. Auflage benutzt hat, was mit den uns bekannten äußeren Fakten gut zusammenpaßt. 6 In Achenwalls Prolegomena findet sich das Prinzip der Verallgemeinerung in einer ersten Variante, bei Barbeyrac und Hutcheson/Merck findet es sich in einer zweiten Variante.
Kant wird noch Jahrzehnte später Achenwalls Ius Naturae gerade in der 5. Auflage von 1763 (und nicht in der 6. Auflage von 1767) benutzen. Das gilt auch für die Vorlesung im Jahre 1784 (»Naturrecht Feyerabend«), was sich u. a. daran zeigt, daß die Reihenfolge der in der Vorlesung aufgezählten Rechte der Reihenfolge dieser Rechte in der 5. Auflage und nicht der demgegenüber geänderten Reihenfolge in der 6. Auflage entspricht (dazu genauer Commentary S. 18 Fn. 59). Dem korrespondiert die Tatsache, daß das erhalten gebliebene Exemplar der Iuris Naturalis pars posterior, das Kant kommentiert hat (19:325 ff.), ein Exemplar der 5. (und nicht der 6.) Auflage ist. Zur 5. Auflage des Ius Naturae aber gehört die gleichzeitig (also 1763) erschienene 2. Auflage der Prolegomena Iuris Naturalis (und nicht etwa die 3. Auflage von 1767). Aus der Tatsache, daß Kant seine Vorlesungen über Achenwalls Naturrecht »von ca. 1767« an gehalten hat (Lehmann 27:1053) kann man jedenfalls nicht schließen, daß er Achenwalls Werk 1764/65 noch nicht gekannt hat.
6
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Die Soziabilität des Menschen bei Pufendorf und Kant
I.
Die Soziabilität des Menschen bei Pufendorf und Kant
Ausgangsbasis unserer Interpretation von 20:161,2–17 sind zwei Äußerungen von Pufendorf zum Thema »Gleichheit«. Gegen Ende seiner Überlegungen zur Goldenen Regel, wo Pufendorf schreibt, die Goldene Regel sei kein fundamentales Axiom des Naturrechts, heißt es weiter, die Regel sei statt dessen, ein »consectarium illius legis de aequaliter habendis nobis cum aliis hominibus«, d. i. »eine Folgerung aus dem Gesetz, daß wir uns als auf gleicher Stufe mit den anderen Menschen stehend zu sehen haben«. 7 An einer anderen Stelle in De Jure Naturae et Gentium geht Pufendorf ausführlich auf diesen Gleichbehandlungsgrundsatz ein. Dort heißt es u. a.: »Et sane uti contraria judicare de rebus, quae inter se conveniunt, contradictionem implicat; ita enim in casu prorsus simili, meo & alieno, dissimilia statuere. Quin quia cuique sua natura est notissima, & exinde aliorum hominum natura, saltem quoad generales inclinationes non minus nota, sequitur illum, qui in simili alterius hominis statuit aliter, quam in suo, sibi in materia notissima contradicere, argumento animi non mediocriter aegrogantis. Nulla quippe ratio idonea proferri potest, quare quod mihi ipse fas duco, ceteris paribus nefas ducam alteri. Sic etiam ut illi ad societatem quam maxime sunt idonei, qui facile eadem omnibus permittunt, quae sibi, ita plane insociabiles sunt, qui dum aliis sese superiores existimant, omnia licere sibi solis volunt, omnia sibi ignoscunt, nihil aliis remittunt; & ante caeteros honorem sibi arrogant, partemque praecipuam ex rebus in medio positis, ubi nullo prae reliquis jure eximio pollent.« 8 »Genauso wie es einen Widerspruch impliziert, wenn von Dingen, die in ihren wesentlichen Aspekten übereinkommen, entgegengesetzte Aussagen gemacht werden, impliziert es auch einen Widerspruch, wenn ganz und gar ähnliche Fälle, mein Fall und der ähnliche Fall eines anderen, unterschiedlich beurteilt werden. Daraus, daß jedem seine eigene Natur bestens bekannt ist und von daher nicht weniger die Natur der anderen Menschen, jedenfalls was ihre allgemeinen Neigungen angeht, ergibt sich, daß jeder, der in dem ähnlichen Fall eines anderen Menschen anders urteilt als in seinem eigenen, sich in einer ihm bestens bekannten Sache selbst widerspricht, ein Zeichen für einen nicht nur geringfügig kranken Geist. In der Tat kann kein taugliches Argument dafür vorgetragen werden, warum ich etwas, was ich für mich selbst als Recht ansehe, für einen anderen als UnPufendorf De Jure Lib. II Cap. III § 13 = Werke Bd. 4.1 S. 146 Z. 24–26. – Zur Goldenen Regel s. unten das neunte Kapitel. 8 Pufendorf De Jure Lib. III Cap. II § 4 = Werke Bd. 4.1 S. 229 Z. 12–24; Hervorhebungen von mir. 7
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VIII · Auf dem Wege zum Kategorischen Imperativ
recht ansehen darf, wenn im übrigen die Dinge gleich sind. Wie diejenigen für die Gesellschaft am meisten taugen, die auch allen anderen bereitwillig gestatten, was sie sich selbst erlauben, so sind diejenigen klar ungesellig (insociabiles), die, solange sie sich den anderen überlegen fühlen, sich selbst allein alles herausnehmen wollen, sich selbst alles nachsehen, wogegen sie anderen nichts verzeihen, sich im Gegenteil vor den anderen eine besondere Ehre anmaßen und einen besonderen Anteil an den Dingen, die allen gehören, obwohl ihnen vor den anderen kein besonderes Recht zukommt.«
Pufendorf formuliert hier den Gedanken, daß es moralisch falsche Urteile gibt, die deswegen falsch sind, weil sie einen Selbstwiderspruch des Urteilenden enthalten, und zwar entsteht ein solcher Selbstwiderspruch immer dann, wenn zwei Fälle sich in ihren wesentlichen Zügen gleichen, ich die beiden Fälle aber trotzdem unterschiedlich beurteile. Was für mich selbst richtig ist, kann, ceteris paribus, für einen anderen nicht falsch sein, und was für mich selbst falsch ist, kann, ceteris paribus, für einen anderen nicht richtig sein. Mit diesem Gedanken verknüpft Pufendorf den der Soziabilität (»Geselligkeit«). Soziabilität ist die Tauglichkeit zum Zusammenleben mit anderen Menschen. Wer Urteile fällt, die aufgrund eines Selbstwiderspruchs moralisch falsch sind, und diese Urteile in die Praxis umsetzt, ist ein insociabilis. Er ist, wenn nicht untauglich, so doch jedenfalls weniger tauglich für die menschliche Gesellschaft als derjenige, der solche Selbstwidersprüche vermeidet. In den »Bemerkungen« greift Kant beide Überlegungen auf. Zunächst den der Soziabilität. An der hier interessierenden Stelle befaßt Kant sich mit der Frage, ob Lügen erlaubt sei. Dabei nimmt er einen »sensus juris quo fas ac nefas distinguimus« – einen »Sinn für das Rechte, durch den wir zwischen Recht und Unrecht unterscheiden« – an und führt dazu folgendes aus: »Hic sensus … originem ducit a mentis humanae natura per quam … quid sit bonum categorice (non utile) judicat non ex privato commodo nec ex alieno sed eandem actionem ponendo in aliis si oritur … oppositio et contrarietas displicet si harmonia et consensus placet. Hinc facultas stationum moralium ut medium heuristicum. Sumus enim a natura sociabiles et quod improbamus in aliis in nobis probare sincera mente non possumus. Est enim sensus communis veri et falsi non nisi ratio humana generatim tanquam criterium veri et falsi et sensus boni vel mali communis criterium illius. Capita sibi opposita certitudinem logicam corda moralem tollerent« (20:156,8–17). 9 9
= Rischmüller S. 116.
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Die Soziabilität des Menschen bei Pufendorf und Kant
»Dieser Sinn hat seinen Ursprung in der Natur des menschlichen Geistes, durch die er das, was kategorisch gut (nicht nützlich) ist, nicht nach dem privaten oder fremden Nutzen beurteilt, sondern dadurch, daß er dieselbe Handlung in andere Personen verlegt. Entsteht dabei ein (kontradiktorischer oder konträrer) Gegensatz, dann mißfällt die Handlung, entstehen Harmonie und Einklang, dann gefällt sie. Daher die Fähigkeit, moralische Standpunkte einzunehmen, als heuristisches Mittel. Wir sind nämlich von Natur aus sociabiles und, was wir bei anderen mißbilligen, können wir bei uns selbst nicht redlicherweise billigen. Der Gemeinsinn des Wahren und Falschen ist nichts anderes als die menschliche Vernunft, allgemein genommen als Kriterium des Wahren und Falschen, und entsprechend ist der Gemeinsinn des Guten und Bösen nichts anderes [als die menschliche Vernunft, wieder allgemein genommen,] als das Kriterium des Guten und Bösen. Entgegengesetzte Köpfe würden die Erkenntnisgewißheit, entgegensetzte Herzen die moralische Gewißheit aufheben.« 10
Die Stelle bei Pufendorf liefert den Hintergrund für Kants Überlegungen. Freilich setzt Kant die Akzente anders als Pufendorf. Pufendorf sagt, es sei für das streitlustige Tier, das der Mensch ist, ein »necessarium, ut sit sociabile« – d. h. es sei für den Menschen lebensnotwendig, für das Zusammenleben mit anderen zu taugen, 11 woraus er (Pufendorf) dann seinen Grundsatz des Naturrechts ableitet. Kant sagt, der Mensch sei von Natur aus, also schon immer, ein sociabilis (wenn auch vielleicht, wie es viel später heißt, 12 ein ungeselliger Geselliger). Unsere Soziabilität zeigt sich 1) an unserer Fähigkeit, moralische Standpunkte einzunehmen, d. i., wie Rischmüller richtig umschreibt, an der »Fähigkeit, sich an die Stelle anderer zu versetzen«. Anders gewendet ist die Fähigkeit, moralische Standpunkte einzunehmen, die Fähigkeit, die (künftige) Handlung, die wir ins Auge fassen, in eine andere Person zu verlegen. Tun wir das, dann kommt eine weitere Komponente hinzu. Wir können 2) gleiche Fälle ehrlicherweise nicht anders denn als gleich beurteilen, auch wenn der eine Fall mein Fall und der andere Fall der meines Nachbarn ist. »Was wir bei anderen mißbilligen, können wir bei uns selbst nicht redlicherweise billigen.« Soziabilität verhindert danach bei Kant wie bei Pufendorf, daß gleiche Handlungen verschieden beurteilt werden, wodurch moralische Gewißheit möglich wird. Sie ist bei Kant konstiÜbersetzung nach Rischmüller S. 261 f. (mit einigen Änderungen). Pufendorf De Jure Lib. II Cap. III § 15 = Werke Bd. 4.1 S. 148 Z. 16–17. 12 »Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht«, 8:20,30–31: »ungesellige Geselligkeit der Menschen«. 10 11
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VIII · Auf dem Wege zum Kategorischen Imperativ
tutiv für den »sensus boni vel mali communis«, den »sensus juris quo fas ac nefas distinguimus«, den moralischen Gemeinsinn, den Kant schon hier mit der (praktischen) Vernunft gleichsetzt.
II.
Zur voluntas communis als dem Maßstab richtigen Handelns
Kant übernimmt von Pufendorf aber nicht nur den Gesichtspunkt der Soziabilität, sondern auch den Gedanken, daß moralische Urteile falsch sind, wenn und weil sie einen Selbstwiderspruch enthalten. Allerdings geht er über Pufendorf hinaus, weil er den Gedanken von vornherein von bloßen (moralischen) Urteilen auf die zu beurteilenden Handlungen selbst überträgt. Nach unserem Ausgangstext (20:161,2–17) sind diejenigen Handlungen moralisch falsch, die auf einen Selbstwiderspruch des Handelnden hinauslaufen. Selbstwidersprüche bei Urteilen sind Widersprüche im Denken. Selbstwidersprüche bei Handlungen sind Widersprüche im Wollen. Deshalb stellt Kant auf den Willen ab, und, um zu zeigen, wie derartige Selbstwidersprüche aussehen, benutzt er die Figur einer »voluntas communis hominum«, eines gemeinsamen Willens der Menschen. Die Frage stellt sich, was diese voluntas communis hominum denn nun eigentlich ist. Dazu könnte man zuerst an einen vereinigten Willen in einer Gesellschaft denken. Nach Achenwall ist für eine Gesellschaft (im zivilrechtlichen Sinne von »Gesellschaft«) eine Reihe von Momenten konstitutiv, von denen das erste das gemeinsame Ziel und das gemeinsame Gut der Gesellschaft sind. Unter dem Titel »De societate in genere« schreibt Achenwall: »Cogitatur vero in omni societate … finis communis, ergo unio voluntatum et bonum commune.« 13 – »Zu jeder Gesellschaft wird ein gemeinsames Ziel gedacht, folglich eine Vereinigung der Willen [der Gesellschafter] und ein gemeinsames Gut.«
Es liegt nahe, die unio voluntatum, die Vereinigung der Willen der Gesellschafter, die auf eine finis communio und auf ein bonum commune hinarbeiten, »voluntas communis« zu nennen. Achenwall zieht diese Konsequenz zwar noch nicht, aber Kant zieht sie. Bei seiner 13
Achenwall Iuris Naturalis pars posterior 5. Aufl. § 2 = 19:333,19–20.
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Zur voluntas communis als dem Maßstab richtigen Handelns
Kommentierung von Achenwalls Ius Naturae spricht Kant im Zusammenhang mit dem Begriff der Gesellschaft ausdrücklich von einer »voluntas communis«: »Societas est totum personarum, quatenus obligatae sunt ad agendum secundum voluntatem communem.« 14 »Eine Gesellschaft ist eine Gesamtheit von Personen, soweit diese verpflichtet sind, einem gemeinsamen Willen gemäß zu handeln.« Nun geht es Kant in 20:161,2–17 aber nicht um eine einzelne Gesellschaft, sondern um die Menschheit schlechthin. Zwar sieht es auf den ersten Blick so aus, als ziehe er mit der voluntas communis hominum eine Analogie zu der voluntas communis, die in das Gesellschaftsrecht gehört. Doch ist die Annahme einer solchen Analogie alles andere als zwingend. Denn es stellt sich die Frage, ob und, wenn ja, wie der Menschheit, dem genus humanum, ein gemeinsamer Wille in derselben Weise zugeschrieben werden soll, wie wir einer Gesellschaft einen gemeinsamen Willen zuschreiben. Die Menschheit ist keine Gesellschaft mit einem gemeinsamen Ziel und einem gemeinsamen Gut in der Weise, wie eine Gesellschaft ein gemeinsames Ziel und ein gemeinsames Gut hat. An eine Weltgesellschaft war in den Jahren 1764/65 jedenfalls noch nicht zu denken. Infolgedessen kann die Menschheit auch keinen gemeinsamen Willen haben wie eine einzelne Gesellschaft. Deshalb muß, wenn Kant trotzdem von einer voluntas communis hominum spricht, diese voluntas communis hominum einen anderen Charakter haben als die voluntas communis, die für eine Gesellschaft konstitutiv ist. 15 Es läßt sich zeigen, daß Kant bei der voluntas communis hominum an die voluntas in Ulpians berühmter Definition von Gerechtigkeit denkt: »Justitia est constans et perpetua voluntas jus suum cuique tribuendi.« 16 – »Gerechtigkeit ist der beständige und andauernde Wille, jedermann sein Recht zu geben.« 19:446,11–13 (R 7524); vgl. auch 19:446,22–24; 19:447,8–13; 19:537,18–24; 19:565,24; 19:573,25–26 (R 7526, R 7528, R 7858, R 7962, R 7987). 15 Viel später, in der Rechtslehre, wird Kant einen »ursprünglich und a priori vereinigten Willen (der zu dieser Vereinigung keinen rechtlichen Akt voraussetzt)« annehmen (6:267,13–15; § 16). Dieser ursprünglich und a priori vereinigte Wille ist eine voluntas communis hominum, lange bevor von einer »Weltgesellschaft« auch nur die Rede sein kann. Zu dem ursprünglich vereinigten Willen vgl. Commentary S. 132– 135 und oben das zweite Kapitel Abschn. VII. 16 Digesten 1, 1, 10 pr. (Pseudo-Ulpian) = Institutionen 1, 1 pr. 14
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VIII · Auf dem Wege zum Kategorischen Imperativ
Kant sagt nicht ausdrücklich, daß er an die Ulpian-Formel anknüpft. Aber an der Stelle, wo er die voluntas communis in den »Bemerkungen« einführt, macht er eine Andeutung. Dort heißt es: »Habitus actionis e voluntate singulari est solipsismus Moralis – Habitus actionis e voluntate communi est justitia Moralis« (20:145,4–5). 17 – »Der Habitus, Handlungen aus einem vereinzelten Willen heraus vorzunehmen, ist moralischer Solipsismus; der Habitus, Handlungen aus dem gemeinsamen Willen heraus vorzunehmen, ist moralische Gerechtigkeit.«
Kant stellt hier (in 20:145,4–5) Gerechtigkeit und moralischen Solipsismus einander gegenüber. Gerechtigkeit wie moralischer Solipsismus können mit Hilfe der moralischen Standpunkte bestimmt werden, von denen auch 20:156,8–17 spricht. So Kant zum moralischen Solipsismus ausdrücklich: »De stationibus … moralibus, in Ermangelung Solipsismus moralis« (20:169,1–3). 18 Das soll heißen: Wenn ich nicht den Standpunkt der anderen einnehme, dann bin ich moralischer Solipsist. Daraus ergibt sich, daß es zu Gerechtigkeit führt, wenn ich den Standpunkt der anderen einnehme. Dabei bestimmt Kant in 20:145,4–5 Gerechtigkeit als einen Habitus, also als eine Einstellung und Fertigkeit, die ein Mensch bei seinem Handeln hat. Dazu gibt es eine geschichtliche Parallele. Schon die Scholastik hat Gerechtigkeit als einen Habitus bestimmt. Beim Aquinaten findet sich die folgende Stelle: »Iustitia est habitus secundum quem aliquis constanti et perpetua voluntate ius suum unicuique tribuit.« 19 – »Gerechtigkeit ist ein Habitus, kraft dessen jemand mit beständigem und andauerndem Willen jedermann sein Recht gibt.«
Nicht überraschend ist hier (bei Thomas) der Wille, der den Habitus der Gerechtigkeit hat, die voluntas aus der Definition des Ulpian. Thomas übernimmt die Begriffsbestimmung des römischen Juristen mit der Modifikation, daß Gerechtigkeit nicht der beständige und andauernde Wille selbst ist, sondern der Habitus eines Willens. Diese Bestimmung von Gerechtigkeit hält sich über Jahrhunderte hinweg. Wir können voraussetzen, daß Kant sie kennt, nicht zuletzt auch gerade deshalb, weil er im Zusammenhang mit dem Gerechtigkeitsbegriff die aristotelisch-scholastische Kategorie des Habitus benutzt. 17 18 19
= Rischmüller 108 (Übers.: 256); Rischmüller schreibt »Habitu«! = Rischmüller 125 (Übers.: S. 269). Thomas Summa Theologiae II/II q 58 a 1.
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Zur voluntas communis als dem Maßstab richtigen Handelns
Deshalb können wir auch voraussetzen, daß Kant, wenn er Gerechtigkeit als den Habitus eines Willens bestimmt, an die Gerechtigkeit denkt, von der Ulpian spricht. Damit erweist sich Ulpians voluntas ius suum cuique tribuendi als der Ursprung und die Wurzel der voluntas communis hominum. Die voluntas communis ist identisch mit dem Willen, jedermann sein Recht zu geben. Die Frage stellt sich, warum Kant es für richtig hält, die voluntas ius suum cuique tribuendi als »voluntas communis« zu bezeichnen. Hier wird eine weitere Assoziation erkennbar. Die »voluntas communis« ist an den »sensus communis« angelehnt, von dem auch in 20:156,8–17 die Rede ist. Sensus communis, Gemeinsinn, ist der gemeine Menschenverstand, der Erkenntnisse vermittelt. 20 Es ist kein Zufall, daß das, was in 20:161,2–17 »voluntas communis« heißt, in 20:156,8–17 »sensus boni vel mali communis« genannt wird. Kant wechselt zwischen den Ausdrücken »sensus boni vel mali communis« und »voluntas communis«, denen das »communis« gemeinsam ist, hin und her. 21 Auch sonst ist er in den »Bemerkungen« an dem interessiert, was Menschen gemeinsam haben. An einer anderen Stelle in den »Bemerkungen« bringt Kant einen Hinweis auf den »mundus communis«, die gemeinsame Welt der Menschen: »Wenn wir wachen, so haben wir mundum communem.« 22 An einer wieder anderen Stelle heißt es: »Wir müssen den gemeinen Verstand und den gemeinen Geschmack in Ehren halten.« 23 Betrachten wir das alles in einer Gesamtschau, dann zeigt sich, daß die voluntas communis, der gemeine Wille der Menschen, als eine Analogie vor allem zum sensus communis aufzufassen ist. Die voluntas communis ist eine Anlage des Menschen, die zum richtigen Handeln lenkt, wie der sensus communis zum richtigen Denken anleitet. Das Kriterium der Richtigkeit zeigt sich, wenn wir die voluntas communis als eine voluntas ius suum cuique tribuendi verstehen. Der voluntas communis steht der individuelle Wille gegenüber, 1705 beschreibt Thomasius im Titelblatt seiner Fundamenta Juris Naturae et Gentium die von ihm vorgetragenen Lehrsätze ausdrücklich als »ex sensu communi deducta«, d. i. als »aus dem sensus communis deduziert«. Auch andere Autoren des 18. Jahrhunderts nehmen einen sensus communis an. Vgl. von der Lühe Sp. 650 ff. (unter A5). Siehe auch die Hinweise auf die Literatur bei Hamilton S. 770 ff. 21 20:145,5: »voluntas communis«; 20:156,16: »sensus boni vel mali communis«; 20:161,5: »voluntas communis«. 22 20:179,1; Rischmüller S. 132. 23 20:167,5–6; Rischmüller S. 124. 20
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VIII · Auf dem Wege zum Kategorischen Imperativ
der in unserem Ausgangstext (20:161,2–17) »voluntas propria« (wörtlich: »eigener Wille«) heißt. In 20:145,4–5 stehen »voluntas communis« und »voluntas singularis« (wörtlich: »einzelner Wille«) einander gegenüber. Voluntas propria und voluntas singularis sind nicht dasselbe. »Voluntas propria« meint den individuellen Willen in einer neutralen Beschreibung. Die voluntas propria ist mein eigener Wille, wobei offen bleibt, was ich mit meinem eigenen Willen will. Die voluntas propria kann dem gemeinsamen Willen der Menschen entsprechend handeln. Sie kann ihm auch zuwider handeln. Die Gegenüberstellung von »voluntas communis« und »voluntas propria« korrespondiert damit der späteren Gegenüberstellung von »Wille« und »Willkür«. Kant in der Metaphysik der Sitten: »Von dem Willen gehen die Gesetze aus, von der Willkür die Maximen.« 24 Anders die voluntas singularis. Die voluntas singularis ist durch ihren moralischen Solipsismus gekennzeichnet. Sie hat sich von der voluntas communis gelöst und ist nicht so sehr einzelner als vielmehr vereinzelter Wille. Die Annahme einer voluntas communis hat vor allem den Zweck, den Gedanken zu formulieren, daß die Qualität einer Handlung, moralisch falsch zu sein, auf einem Selbstwiderspruch des Handelnden beruht. Mit diesem Problem befaßt sich unsere Ausgangspassage (20:161,2–17). Die Grundlage von Kants Reflexion ist der Gedanke, daß der reine Wille sich nicht selbst widersprechen kann. Schon Pufendorf hatte überlegt, daß Gott nicht schlechthin Beliebiges wollen könne, weil er sich sonst in einen Selbstwiderspruch verstricken würde. Beispielsweise kann Gott, so Pufendorf, nicht wollen, durch Blasphemie und Verachtung verehrt zu werden. 25 Kant greift das auf. Gott würde sich selbst widersprechen, wenn er wollte, daß Menschen etwas wollen, was dem göttlichen Willen entgegen ist. Aber auch der gemeinsame Wille der Menschen kann sich nicht selbst widersprechen. Die voluntas propria dagegen, der eigene Wille des einzelnen Menschen, kann der voluntas communis zuwiderhandeln. Wie individuelle Verstöße gegen Denkgesetze durch einen Vergleich mit den Regeln der Logik festgestellt werden können, die der sensus communis bereitstellt, und wie die individuelle Behauptung einer vermeintlichen Tatsache durch einen Appell an den mundus communis der Wachen als ein bloßes Phantasieprodukt entlarvt werden 24 25
6:226,4–5 (Einl. in die MdS IV.). Pufendorf De Jure Lib. II Cap. III § 4 = Werke Bd. 4.1 S. 132 Z. 43 – S. 133 Z. 1.
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Zum Prinzip der Verallgemeinerung im 18. Jahrhundert
kann, kann das individuelle moralische Urteil durch einen Vergleich mit der voluntas communis als falsch erwiesen werden.
III. Zum Prinzip der Verallgemeinerung im 18. Jahrhundert Eine gewisse Ausarbeitung des Selbstwiderspruchs, um den es Kant geht, enthält die Bemerkung über den Früchtediebstahl. Wir werden die Stelle vor dem Hintergrund des Prinzips der Verallgemeinerung lesen müssen, wie es im 18. Jahrhundert diskutiert worden ist. Wir finden das Prinzip schon bei Laktanz, der seinerseits von Pufendorf zitiert wird. 26 »Nihil sapienter fit, quod si ab omnibus fiat, inutile est ac malum.« – »Nichts tut der Weise, was, wenn es von allen geschähe, unnütz wäre oder schlecht.« 27
Zu Kants Zeiten sind insbesondere zwei Fassungen des Prinzips im Umlauf, eine erste von Johann Balthasar Wernher, eine zweite bei Jean Barbeyrac. 28 Wernhers Formel lautet: »Quicquid ita comparatum, ut, si ab omnibus hominibus omitteretur, generi humano pereundum esset, illud per legem Naturae a Deo praeceptum. Quicquid ita comparatum, ut, si ab omnibus hominibus fieret, generi humano pereundum esset, illud naturaliter a Deo prohibitum.« 29 – »Was so beschaffen ist, daß, wenn es von allen Menschen unterlassen würde, der Menschheit den Untergang brächte, das ist durch das Gesetz der Natur von Gott geboten; und was so beschaffen ist, daß, wenn es von allen Menschen getan würde, der Menschheit den Untergang brächte, das ist von Natur aus von Gott verboten.«
Die Regeln verlangen von jedem, der im Begriffe ist, etwas zu tun, daß er die Handlung verallgemeinert, an die er gerade denkt. Es kommt dabei auf die Wirkungen an, die zu erwarten wären, würde die Handlung von jedermann vorgenommen, beziehungsweise auf die zu erwartenden Wirkungen, wenn die Handlung von jedermann unterlassen würde. Stelle ich fest, daß die allgemeine Vornahme der Handlung, die ich im Auge habe, den Untergang der Menschheit (gePufendorf De Jure Lib. II Cap. III § 4 = Werke Bd. 4.1 S. 229 Z. 11–12. Lactantius S. 252. 28 Zu den beiden Versionen des Prinzips der Verallgemeinerung im 18. Jahrhundert vgl. meinen Beitrag über »Universalization and related Principles« von 1992. 29 Wernher De Apodictica Moralium Certitudine § 6; ders. Elementa S. 123. 26 27
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VIII · Auf dem Wege zum Kategorischen Imperativ
nus humanum) zur Folge hätte, dann bin ich verpflichtet, die Handlung zu unterlassen; und stelle ich fest, daß ihre allgemeine Unterlassung in den Untergang führte, dann bin ich verpflichtet, sie vorzunehmen. In seinem Kommentar zu Pufendorfs De Jure Naturae et Gentium schlägt Barbeyrac einen anderen Weg ein. Die maßgebliche Stelle lautet folgendermaßen: »Dès là qu’une chose paroît avantageuse ou nuisible à la Société Humaine en général, dans quelque état que les hommes puissent être, en tout tems, & en tout lieu; il faut la tenir pour absolument prescrite ou défendue par le Droit Naturel. Ainsi, quoi que le Larcin: par exemple, ou l’Adultére, ayent pu, en certaines circonstances, & par un effet des moeurs corrompues d’un certain pais, ne troubler que peu ou point une Société particulére, comme on prétend que l’expérience le fit voir autrefois dans la République des Maßagétes, & dans celle des Lacédémoniens: ces deux crimes n’en sont pas pour cela moins contraires à la Loi Naturelle; parsque, si on les permettoit toujours & dans tous les Etats du Monde, il en résulteroit, sans contredit, des fâcheux inconvéniens, & de terribles désordres; & qu’au contraire, toute Société, quelle que ce soit, sera toûjours plus tranquille & plus heureuse, lors que ceux qui la composent s’abstiensdront religieusement de ravir les biens oun de débaucher la Femme de leur prochain, que si l’on y commet fréquemment de pareils attentats.« 30 »Wenn eine Sache für die menschliche Gesellschaft im ganzen als vorteilhaft oder nachteilig erscheint, in welchem Status auch immer sich Menschen befinden, zu jeder beliebigen Zeit und an jedem beliebigen Ort, dann müssen wir diese Sache als vom Gesetz der Natur absolut geboten oder verboten betrachten. Obwohl also Diebstahl oder Ehebruch unter bestimmten Umständen und durch den Verfall der Sitten in gewissen Ländern und für besondere Gesellschaften wenig oder gar keine Schwierigkeiten verursacht haben, wie einige Leute behaupten, daß Erfahrung dies für die Reiche der Massageten und der Lakedemonier lehrt, so ändert das nicht das geringste daran, daß diese beiden Verbrechen dem Gesetz der Natur zuwider sind. Denn wenn sie immer und in allen Situationen erlaubt wären, dann würden daraus zweifellos schwerwiegende Nachteile und schreckliche Unordnung entstehen; im Gegenteil, jede Gesellschaft, welche auch immer, muß ruhiger und glücklicher sein, wenn ihre Mitglieder sich des Raubes und der Verführung der Frau des Nächsten peinlich genau enthalten, als wenn der Versuch dieser Verbrechen häufig gemacht wird.«
Barbeyrac bringt hier eine Variante des Prinzips der Verallgemeinerung, die sich von der Wernhers unterscheidet. Wernher stellt auf die 30
Barbeyrac Note 4 zu Liv. II Chap. III § XV (Bd. I S. 178); Hervorhebung von mir.
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Die Ausarbeitung des Selbstwiderspruchs am Beispiel des Früchtediebstahls
verheerenden Folgen für die Menschheit ab, die eintreten würden, wenn eine bestimmte Handlung von jedermann vorgenommen würde. Barbeyrac hingegen stellt auf die verheerenden Folgen ab, die eintreten würden, wenn eine bestimmte Handlung jedermann erlaubt wäre. Wernher arbeitet mit der Annahme, daß die Leute sich die fragliche Handlung tatsächlich herausnehmen, oder, um es anders zu fassen, daß sie sich die Handlung selbst erlauben. Barbeyrac arbeitet mit der Annahme, daß das Gesetz den Leuten die fragliche Handlung erlaubt. Wir wollen Wernhers Prinzip als »erste Variante« und Barbeyracs Prinzip als »zweite Variante« des Prinzips der Verallgemeinerung bezeichnen. Beide sind in der Folgezeit durchaus erfolgreich. Die erste Variante wird unter anderem von Achenwall aufgegriffen, der sie 1758 in seine Prolegomena Iuris Naturalis einstellt. 31 Die zweite Variante finden wir unter anderem bei Francis Hutcheson, der in Inquiry von 1725 ausführt, Handlungen seien dann moralisch schlecht, wenn ihre allgemeine Zulassung der Menschheit den größeren Schaden brächte als ihr allgemeines Verbot – »if their universal Allowance would be more detrimental to Mankind than their universal Prohibition«. 32 In der Übersetzung von Johann Heinrich Merck lautet die Stelle bei Hutcheson: »Dies ist die Ursache, warum manche Gesetze Handlungen überhaupt verbieten, auch da, wenn in besonderen Fällen diese Handlungen sehr nützlich sein würden, weil eine allgemeine Erlaubnis derselben, wenn man die Irrtümer betrachtet, worein die Menschen wahrscheinlicherweise fallen würden, schädlicher als ein allgemeines Verbot sein würde.« 33
Das ist offenbar der Gedanke, den Barbeyrac schon 1706 gehabt hat. Er wird von Hutcheson vielleicht etwas schärfer gefaßt als von Barbeyrac.
IV. Die Ausarbeitung des Selbstwiderspruchs am Beispiel des Früchtediebstahls Gehen wir über zu dem Beispiel selbst. Kant nimmt an, daß ein Mensch im Begriffe ist, einem anderen Menschen die Früchte seiner 31 32 33
Achenwall Prolegomena 2. Aufl. § 85. Hutcheson Inquiry, Works I S. 164 f. Hutcheson/Merck S. 193 (Hervorhebungen von mir).
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Arbeit zu stehlen. Der Täter vergegenwärtigt sich dabei die Möglichkeit eines Verlustes des Diebesguts. Er rechnet ein, daß ihm seinerseits das Diebesgut wieder abgenommen wird, und zwar nicht nur vom Eigentümer in einer Besitzkehr oder von der Polizei bei der Strafverfolgung, sondern gewissermaßen wahllos von jedermann. Die Voraussetzung, die er dabei macht, bleibt unausgesprochen. Man könnte daran denken, daß Kant hier die tatbestandlichen Voraussetzungen des Prinzips der Verallgemeinerung in der ersten Variante anwendet: Die Diebesbeute wird dem Täter von den anderen wieder abgenommen werden, weil jedermann jedem anderen Sachen wegzunehmen pflegt. Man könnte aber auch an eine Anwendung der tatbestandlichen Voraussetzungen des Prinzips in der zweiten Variante denken: Die Diebesbeute wird dem Täter von den anderen wieder abgenommen werden, weil die anderen das tun dürfen. Kant geht m. a. W. entweder von der Annahme aus, daß die Wegnahme von Sachen, die anderen Leuten gehören, allgemein üblich, oder von der Annahme, daß sie allgemein erlaubt ist. Ohne eine solche Annahme bliebe der Gedankengang unverständlich, weil erst die eine oder die anderen Annahme den Grund für die Bedingung liefert, daß dem Täter wieder weggenommen wird, was er erworben hat. Den Gedanken, einen Diebstahl als ein Beispiel zu nehmen, hat schon Barbeyrac gehabt. Kant greift den Gedanken auf und denkt ihn weiter. Er fragt, was die Konsequenzen wären, wenn Diebstahl allgemein üblich oder allgemein erlaubt wäre. Unter dieser Voraussetzung würde niemand mehr etwas durch einen Diebstahl erwerben wollen. Genauer: Niemand mehr würde überhaupt etwas erwerben wollen, auf welche Weise auch immer. Das Problem, das sich damit auftut, versucht Kant mit Hilfe der Gegenüberstellung von »voluntas communis« und »voluntas propria« zu formulieren. Ich verallgemeinere die voluntas propria, d. h. ich verallgemeinere meinen Entschluß, einen Diebstahl zu begehen. Die Verallgemeinerung führt zu der Annahme, Diebstahl sei allgemein üblich oder allgemein erlaubt. Diese Voraussetzung aber, daß Diebstahl allgemein üblich oder allgemein erlaubt ist, würde meinen Entschluß, den Diebstahl zu begehen, sinnlos machen. Denn ich kann dann nicht behalten, was ich zu stehlen plane. Deshalb muß ich mit der voluntas communis wollen, daß Eigentum als Institution erhalten bleibt. Wenn Eigentum erhalten bleiben soll, dann muß Diebstahl verboten bleiben. So die voluntas communis. Mit dem nicht verallgemeinerten Willen der voluntas propria dagegen will ich den 208 https://doi.org/10.5771/9783495807989 .
Die Ausarbeitung des Selbstwiderspruchs am Beispiel des Früchtediebstahls
Diebstahl. Darin sieht Kant den Selbstwiderspruch des Diebes, daß der Dieb (mit der voluntas communis) die Institution »Eigentum« erhalten will und (mit der voluntas propria, die zur voluntas singularis wird) sich selbst gleichzeitig gestattet, die Regeln, die aus der Institution folgen, zu durchbrechen. Das ist ein Selbstwiderspruch, weil sowohl voluntas communis wie voluntas propria jeweils mein Wille sind. Ich will beides zugleich, Eigentum und Diebstahl, was Kant so formuliert, daß ich »secundum privatum«, also mit meinem Einzelwillen, etwas will, was ich »secundum publicum«, d. i. mit der voluntas communis, gerade nicht will. Der Fortschritt, den Kant gegenüber Wernher und gegenüber Barbeyrac (und Hutcheson) erzielt, liegt bei der Formulierung der Folgen der Annahme, Diebstahl sei allgemein üblich oder allgemein erlaubt. Wernher hatte darauf abgestellt, daß die allgemeine Vornahme der Handlung zu einem Untergang des Menschengeschlechts führen würde. Barbeyrac hatte überlegt, ob die allgemeine Zulassung von Diebstahl »schwerwiegende Nachteile und schreckliche Unordnung« zur Folge hätte. Kant präzisiert das. Der Nachteil, der entsteht, besteht in dem Selbstwiderspruch des Handelnden, der aus dem Willen zur Aufrechterhaltung der Institution »Eigentum« bei gleichzeitigem Abbedingen der Konsequenzen aus eben dieser Institution resultiert. 34 Der Fortschritt, den Kant gegenüber Pufendorf erzielt, besteht darin, daß er besser als dieser formulieren kann, wann die Handlung eines Menschen einen Selbstwiderspruch enthält. Pufendorf konnte einen Selbstwiderspruch nur dann erkennen, wenn das moralische Urteil, das einer Handlung zugrunde liegt, dem Gleichbehandlungsgrundsatz entgegen ist. Kant dagegen kann sagen, daß der Selbstwiderspruch allgemein in einer Diskrepanz von voluntas communis und voluntas propria liegt. Für Kant kann der Verstoß gegen den Hervorzuheben ist, daß Kant mit seinen Überlegungen nicht zu dem Ergebnis kommt, die voluntas communis wolle stets die Institution »Eigentum«. Sie will es zwar im Falle des Diebes, weil die Möglichkeit von Diebstahl das Bestehen von Eigentum voraussetzt. Aber das bedeutet noch nicht, daß die voluntas communis Eigentum in jedem Falle will. Dafür braucht es zusätzliche Annahmen. Jahrzehnte später wird Kant in § 2 der Rechtslehre (6:246,5–6) ein »rechtliches Postulat der praktischen Vernunft« aufstellen, nach dem es »möglich« ist, »einen jeden äußeren Gegenstand meiner Willkür als das Meine zu haben.« Mit einem solchen Postulat wird Eigentum in einer zusätzlichen Überlegung geschaffen, die von dem Selbstwiderspruch des Diebes unabhängig ist.
34
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VIII · Auf dem Wege zum Kategorischen Imperativ
Gleichbehandlungsgrundsatz nur ein Sonderfall eines moralischen Selbstwiderspruchs sein: Mit der voluntas communis will ich, daß mein Nachbar und ich gleich behandelt werden, mit der voluntas propria will ich die Ungleichbehandlung, und darin steckt der Selbstwiderspruch. Aber es gibt auch andere Fälle. In dem Beispiel des Früchtediebstahls will ich mit der voluntas communis die Aufrechterhaltung der Institution »Eigentum«, mit der voluntas propria durchbreche ich die sich daraus folgenden Regeln, und wieder ergibt sich ein Selbstwiderspruch. So sehr Kant über Wernher, Barbeyrac und Hutcheson einerseits und über Pufendorf andererseits hinausgeht, so sehr ist doch auch die Kontinuität zu betonen, die zwischen diesen Autoren und Kants Diskussion des Früchtediebstahls in den »Bemerkungen« besteht. Die Verallgemeinerung (Wernher, Barbeyrac, Hutcheson) führt zu der voluntas communis, die nicht Eigentum und Diebstahl zugleich wollen kann, und das wiederum führt zu der Feststellung des Widerspruchs zwischen der voluntas communis und der voluntas propria, weshalb die mit der voluntas propria vorgenommene Handlung moralisch falsch ist. Pufendorf faßt den Gedanken, daß am Grunde moralisch falschen Urteilens ein Selbstwiderspruch liegt. Auch für Kant spielt ein Selbstwiderspruch die entscheidende Rolle, nämlich der Selbstwiderspruch, der am Grunde moralisch falschen Handelns liegt. Kant steht also in einer Tradition, sowohl, was die Verallgemeinerung, als auch, was den Gedanken des Selbstwiderspruchs angeht. Seine Leistung besteht nicht zuletzt in dem Zusammendenken von vorher als heterogen erscheinenden Gesichtspunkten. Es kann kein Zweifel sein, daß sich Kant mit unserer Ausgangspassage (20:161,2– 17) auf dem Wege zur ersten Formel des Kategorischen Imperativs befindet. 35 Die von seinen Vorgängern gedachten Gedanken liegen auf diesem Wege.
35
Vgl. 4:421,7–8 (Grundlegung).
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Neuntes Kapitel: Die Goldene Regel in der Zeit der Aufklärung und Kants Stellungnahme zur Goldenen Regel
Die Goldene Regel hat eine Geschichte. Wir pflegen heute von zwei Fassungen auszugehen, einer negativen Fassung »Was du nicht willst, das man dir tu’, das füg’ auch keinem anderen zu!« und einer positiven Fassung: »Was ihr wollt, das euch die Leute tun, das tut ihr ihnen auch!« Das war nicht immer so. Hobbes stellt wohl als erster die beiden Fassungen nebeneinander, und erst Thomasius bringt es zu vollem Bewußtsein, daß die beiden Versionen einander ergänzen. Daß es zwei (sich ergänzende) Fassungen gibt (und nicht drei, wie bei Thomasius), tritt erst bei Heineccius ins Bewußtsein (unten I.). Dabei wird der Name »Goldene Regel« zunächst allein für die positive Fassung und erst später auch für die negative Fassung gebraucht (unten II.). Unter III. geht es um die Funktion der Goldenen Regel in den Systemen von Hobbes, Thomasius und Heineccius, unter IV. um die Kritik an der Goldenen Regel und ihre Wirkung in der Zeit der Aufklärung, unter V. wird speziell Kants Stellungnahme angesprochen.
I.
Die Ausarbeitung der beiden Versionen der Goldenen Regel
Die Geschichte der Goldenen Regel in der Aufklärungsphilosophie beginnt mit Hobbes, aber Hobbes hat es im Laufe seines Autorendaseins mit der Goldenen Regel nicht leicht. Hobbes geht von einer lateinischen Vers-Fassung aus, die er später ungenannten »Philosophen« zuschreibt. 1 Schon in den Elements of Law von 1640 heißt es: »Quod tibi fieri non vis, alteri ne feceris.« – »Was du nicht willst, das man dir tu’, das füg’ auch keinem anderen zu.« 2 An dieser Formel hält 1 2
Hobbes Leviathan Cap. 15 = Opera III S. 121. Hobbes The Elements of Law P. I Chap. 17 § 9 (S. 92).
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IX · Die Goldene Regel in der Zeit der Aufklärung
Hobbes in De Cive 3 und im Leviathan 4 fest. Das gilt auch für die englische Fassung des Leviathan, wo er jedenfalls an einer Stelle die lateinische Formel bringt. 5 An anderen Stellen bringt er eine Übersetzung: »Do not that to another, which thou wouldest not have done to thyself«. 6 Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist also das, was wir heute die »negative Version« der Goldenen Regel nennen. Auf das, was wir heute als die »positive Version« der Goldenen Regel zu bezeichnen pflegen, 7 wird Hobbes erst nach und nach aufmerksam. Den ersten Schritt hin zur positiven Version tut er in den Elements of Law von 1640, den zweiten in De Cive von 1642, den dritten im Leviathan. Auch im Leviathan ist noch eine Entwicklung von der englischen Fassung von 1651 zu der lateinischen von 1668 festzustellen. Was die Elements of Law angeht, so bringt Hobbes in seinem eigenen Argumentationszusammenhang nur die negative Version. Bekanntlich versucht Hobbes aber auch, seine Thesen zum Naturrecht dadurch zu rechtfertigen, daß er für jedes der von ihm formulierten natürlichen Gesetze eine oder mehrere Bibelstellen anführt. In diesem Zusammenhang heißt es, das bei der eigenen Argumentation schon benutzte »Quod tibi fieri non vis, alteri ne feceris« werde durch vergleichbare Bibelstellen, Matth. 7,12 und Röm. 2,1, bestätigt. Die beiden Stellen werden wörtlich angeführt. 8 Matth. 7,12 enthält die positive Version der Goldenen Regel: »Whatsoever therefore you would have men do unto you, that do you unto them.« Röm. 2,1 enthält einen verwandten Gedanken, 9 ist aber mit der positiven Version nicht identisch. Daraus wird man schließen müssen, daß Hobbes den Unterschied zwischen den beiden Versionen – und daß sie sich gegenseitig ergänzen – in den Elements of Law noch nicht gesehen hat. Auch in De Cive bringt Hobbes in seinem eigenen Argumentationszusammenhang nur die negative Version. Die Schrift unterHobbes De Cive Cap. III § 26 und Cap. IV § 23 = Opera II S. 194 und S. 208. Hobbes Leviathan Cap. 14 und Cap. 15 = Opera III S. 103 und S. 121. 5 Hobbes Leviathan Chap. 14 = Works III S. 118. 6 Hobbes Leviathan Chap. 15 = Works III S. 144. Ähnlich Chap. 27 = Works III S. 279. 7 Zu den beiden Versionen vgl. etwa Schrey Sp. 451. 8 Hobbes Elements P. I Chap. 18 § 9 (S. 97 f.). 9 Bei Hobbes lautet Röm. 2,1: »In that thou judgest another, thou condemnest thyself, &c.« 3 4
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Die Ausarbeitung der beiden Versionen der Goldenen Regel
scheidet sich von den Elements of Law insofern, als Hobbes bei der Rechtfertigung seiner Lehre mit Bibelzitaten den Hinweis auf den Römerbrief wegläßt. Übrig bleibt allein der Hinweis auf das Matthäusevangelium. Wörtlich heißt es, in Matthäus 7,12 werde das, was die lateinische Formel – »Quod tibi fieri non vis, alteri ne feceris« – besagt, »beinahe mit denselben Worten« ausgedrückt. 10 Auf diese Weise werden die positive und die negative Version für die Naturrechtslehre der Aufklärung zum ersten Male ohne Beimischungen zusammengestellt. Eine echte Gegenüberstellung der beiden Versionen unter systematischen Gesichtspunkten wird man allerdings auch das noch nicht nennen können. Das geschieht erst im Leviathan. Erst in der englischen Fassung des Leviathan von 1651 stehen die positive und die negative Version gewissermaßen gleichberechtigt nebeneinander. 11 Das wiederholt sich in der lateinischen Fassung von 1668, 12 und zwar nicht nur an derselben Stelle wie in der englischen Fassung, sondern auch noch an einer anderen Stelle, an der sich in der englischen Fassung nur die positive Version findet. 13 Das deutet darauf hin, daß Hobbes der Zusammenhang zwischen der negativen und der positiven Version immer deutlicher geworden ist. 14 Freilich benutzt er nirgends die Wörter »positive« und »negative Version« oder ähnliche Ausdrücke. Statt dessen betont er jedesmal die biblische Herkunft der positiven Version, die er als »law of the Gospel«, »lex Evangelii«, »sententia Scripturae Sacrae« der negativen Version als dem »law of all men«, »lex omnium gentium«, »sententia philosophorum« gegenüberstellt. Das bedeutet nun aber noch nicht, daß Hobbes’ Nachfolgern – seinen Anhängern wie seinen Kritikern – der Zusammenhang der beiden Versionen der Goldenen Regel und der Unterschied zwischen ihnen so, wie wir Zusammenhang und Unterschied heute sehen, klar gewesen wäre. Velthuysen, in De Principiis Justi et Decori 15 von 1651 »Totidem pene verbis«. Hobbes De Cive Cap. IV § 23 = Opera II S. 208. Hobbes Leviathan Chap. 14 = Works III S. 118. 12 Hobbes Leviathan Cap. 14 und Cap. 15 = Opera III S. 103 und S. 121. 13 Hobbes Leviathan Chap. 15 = Works III S. 144. 14 Ein weiterer Hinweis: In Leviathan Chap. 26 = Works III S. 258 bringt Hobbes eine der positiven Version ähnliche, mit ihr aber nicht identische Formel, die in der lateinischen Fassung in die positive Version der Goldenen Regel umgewandelt wird; s. Opera III S. 200. 15 Velthuysen S. 112. 10 11
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IX · Die Goldene Regel in der Zeit der Aufklärung
und Pufendorf in den Elementa Jurisprudentiae Universalis von 1660 beschränken sich auf die Wiedergabe der traditionellen negativen Version. Von der positiven Version ist bei Velthuysen gar nicht die Rede, und bei Pufendorf ist es eher eine Nebensache, daß er sich auch auf die Evangelienstelle bezieht. 16 Sharrock in De Officiis secundum Naturae Ius 17 von 1660 und Pufendorf in De Jure Naturae et Gentium 18 von 1672 aber unterlassen es überhaupt, ihrer kritischen Diskussion der Goldenen Regel die eine oder die andere Fassung oder gar beide Fassungen voranzustellen. Beim jungen Christian Thomasius und bei Locke liegen die Dinge nicht anders. Thomasius, in den Institutiones Jurisprudentiae Divinae 19 von 1688, bringt nur die negative, und Locke, in An Essay concerning Human Understanding von 1690, bringt nur die positive Version. 20 Erst der Thomasius der Fundamenta Iuris Naturae et Gentium von 1705, der sich auch sonst Hobbes annähert, 21 greift auf die von Hobbes angedeutete Unterscheidung zurück. Er geht sogar noch über sie hinaus. Ausdrücklich stellt er drei verschiedene Versionen der Regel einander gegenüber, die traditionelle des lateinischen Sprichworts, die biblische Version und eine dritte Formel, die es bis dahin noch nicht gegeben hatte. 22 Mit Hilfe der drei Formeln möchte er das »principium honesti«, das »principium decori« und das »principium justi« voneinander unterscheiden. 23 In Walchs Philosophischem Lexicon von 1726 wird das folgendermaßen wiedergegeben: Thomasius nehme, so heißt es da, »zum Grundsatz des Ehrbaren« an: »was du willst, daß sich die Leute tun sollen, das tue du dir auch; des WohlPufendorf Elementa Lib. II Obs. IV § 2 = Werke Bd. 3 S. 135. Sharrock Cap. II Nr. 11 (S. 63 ff.). 18 Pufendorf De Jure Lib. II Cap. III § 13 am Ende = Werke Bd. 4.1 S. 146. Pufendorf bezieht sich hier auf Hobbes und auf Matth. 7,12, ohne die beiden Versionen zu zitieren. 19 Thomasius Institutiones 1688 Lib. I Cap. IV § 18 (S. 122); Lib. II Cap. II § 21 (S. 49); 7. Aufl. 1720 S. 76 mit Fn. b und S. 116. 20 Locke An Essay Book I Chap. III § 4 (S. 68). – In Two Treatises of Government, The Second Treatise Chapter II Nr. 5 zitiert Locke eine Stelle bei Richard Hooker Of the Lawes of Ecclesiastical Politic 1594 ff., die die positive Version der Goldenen Regel impliziert. 21 Vgl. Schneiders S. 269 Fn. 54. 22 Thomasius Fundamenta Lib. I Cap. VI §§ 40 bis 42 (S. 177). 23 Wörtlich heißt es in den Fundamenta: »Principium honesti hoc est: Quod vis, ut alii sibi faciant, tute tibi facies. … Decori: Quod vis ut alii tibi faciant, tu ipsis facies. … Justi: Quod tibi non vis fieri, alteri ne feceris.« 16 17
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Die Ausarbeitung der beiden Versionen der Goldenen Regel
anständigen: was du willst, daß dir die Leute tun sollen, das tue du ihnen auch, und des Gerechten: was du willst, daß dir die Leute nicht tun sollen, das tue du ihnen auch nicht.« Auf diese Weise setze er »einen dreifachen Grund, nach welchem man von der Moralität der menschlichen Verrichtungen urteilen« müsse. 24 In der Dreiteilung, die Thomasius vornimmt, steckt eine Leistung, die nicht gering ist und die, sollte die Entwicklung weitergehen, erst einmal erbracht werden mußte: Nicht nur ist es so, daß die beiden Versionen der Goldenen Regel ausdrücklich voneinander unterschieden werden und die positive Version als gleichberechtigt neben die negative gestellt wird. Das hatte auch Hobbes schon getan. Sondern es ist auch so, daß zwischen den verschiedenen Versionen ausdrücklich die Aufgabenteilung vorgenommen wird, die wir heute kennen und kraft deren die negative Version für die Unterlassung und die positive Version für die Vornahme von Handlungen zuständig ist. Verbunden ist damit bei Thomasius allerdings, wie gesagt, die Erfindung einer neuen, dritten Version. Thomasius hat Schüler und Nachfolger, die nicht nur seine Dreiteilung von honestum, decorum und justum, sondern auch die damit verbundenen Regeln übernehmen. Das geschieht im zweiten und dritten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts. 25 Noch 1740 bringt Christian Wolff Formeln, die auf die Differenz der drei Regeln des Thomasius zurückgehen. 26 Trotzdem setzt sich die von Thomasius erfundene dritte Formel nicht auf die Dauer durch. Es ist nicht nur so, daß ihr die historische Legitimation fehlt, die der traditionelle lateinische Vers und – natürlich – die Bibelstelle haben. Sie wirkt auch gezwungen, artifiziell. Während die beiden älteren Versionen die zwischenmenschlichen Beziehungen zum Gegenstand haben – »Wie soll ich mich anderen gegenüber verhalten?« –, geht es bei der dritten Variante allein um den Angesprochenen selbst. Thomasius hat sich die Walch Art. »Ehrbarkeit« Sp. 636; Walch/Hennings Bd. I Sp. 891. Auch sonst wird in der zeitgenössischen Literatur über die Thesen des Thomasius vielfach berichtet; vgl. etwa Schmauß S. 316, 333. Im Artikel »Gesetz der Natur« Sp. 1282 (4. Aufl. I Sp. 1729) beschreibt Walch den »Grundsatz des Thomasii« mit einer Wiedergabe der negativen Version. – Zur Verwendung der Goldenen Regel bei Thomasius siehe auch Link S. 122 f. 25 Genannt seien: Gerhard Lib. I Cap. VII § 58 f. und § 62 f.; Lib. II Cap. I § 18; Fleischer Lib. I Cap. VI §§ 69, 70, 71 (S. 186 f.); Kemmerich Cap. XIII § 72 (S. 217). Zu diesen Autoren: Rüping S. 104 ff. 26 Wolff Jus Naturae I §§ 98 bis 103 (S. 60 ff.). 24
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IX · Die Goldene Regel in der Zeit der Aufklärung
Formel gewissermaßen zurechtgeschneidert, damit sie in der Formulierung zu den älteren Formeln paßt. Das genügt nicht, um ihr über die Zeit hinweg Einfluß zu verschaffen. Damit bleiben die beiden überkommenen Versionen, die aber jetzt, als Folge der von Thomasius eingeführten Differenzierung, klar voneinander unterschieden werden. 1738 stellt Heineccius diese beiden Versionen ausdrücklich nebeneinander. Er bezeichnet sie als »regulae incomparabiles«, als »unvergleichliche Regeln« – wohlgemerkt: im Plural! –, und er behandelt sie als zwei voneinander zu unterscheidende, aber einander ergänzende Vorschriften. Da er die eine Version als die Regel für die vollkommenen, die andere als die Regel für die unvollkommenen Pflichten betrachtet, ist es auch klar, daß er die eine als positive und die andere als negative Fassung versteht. 27 Von dieser Zeit an ist die Unterscheidung und Gegenüberstellung der beiden Versionen üblich. In den Lehrbüchern des Naturrechts der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wird sie zur Selbstverständlichkeit. 28 Der Göttinger Professor der Poesie und Beredsamkeit Johann Matthias Gesner spricht 1756 von »illa duplex regula societatis«, er bezeichnet die Goldene Regel also als »Doppelregel«. Die negative Fassung nennt er, in deutlicher Anlehnung an eine Formulierung des Heineccius, 29 »regula iustitiae«, die positive Fassung »regula amoris, humanitatis atque aequitatis«. 30 Ihre Aufnahme in Gesners Primae Lineae Isagoges in Eruditionem Universalem zeigt, daß der Autor die Doppelregel als Gegenstand der Allgemeinbildung betrachtet. Das hat Wirkung bis in unsere Gegenwart hinein. Fassen wir zusammen: Die Vorstellung, die wir heute von der Goldenen Regel haben, daß wir zwei Versionen voneinder unterscheiden, die negative Version und die positive Version, die einander ergänzen, diese Vorstellung etabliert sich erst in den 30er Jahren des 18. Jahrhunderts. Die Entwicklung bis zu diesem Punkt, seit Hobbes’ Elements of Law, dauert rund 100 Jahre. Heineccius §§ 88, 93, 21 (S. 66, 70, 169) u. ö. – »Regulae incomparabiles«: § 88. Der Hinweis auf die Unterscheidung zwischen den »officia perfecta« und den »officia imperfecta« in § 215. 28 Vgl. etwa Hollmann Jurisprudentiae Naturalis S. 88 (Sch. zu § 58) und Achenwall Prolegomena (1. Aufl.) § 84 (S. 72); 2. (d. i. die von Kant benutzte) Aufl. § 84 (S. 85 f.), wo es heißt: »Fac aliis, quae vis, ut alii tibi faciant. … Quae tibi non vis fieri, alteri ne feceris.« 29 Heineccius § 88 (S. 66). 30 Gesner Bd. 1 S. 14, 20; Bd. 2 §§ 1268, 1269, 1276 (S. 488 u. S. 494). 27
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Der Name »Goldene Regel«
II.
Der Name »Goldene Regel«
Was den Namen »Goldene Regel« angeht, so pflegen wir die beiden heute anerkannten Versionen der Goldenen Regel mit eben diesen Worten, nämlich als »Fassungen der Goldenen Regel«, als ihre »positive Fassung« und ihre »negative Fassung«, zu bezeichnen. Die älteste mir bekannte Stelle findet sich in Seckendorffs »Teutscher Fürsten-Stat«, dessen Ausgabe von 1660 mir vorgelegen hat. Dort wird dem Fürsten angeraten, »daß er nach der güldenen Regel deß HErrn Christi kein ander Recht begehre/ oder anders mit den Leuten umbgehe/ als er sich selbst gethan haben wolte.« 31
Der Witz ist, daß der Ausdruck hier – also bei Seckendorff – und noch im 18. Jahrhundert allein für die Stelle bei Matthäus und nicht auch für den lateinischen Merkvers oder andere Formulierungen der negativen Version benutzt wird. Der schottische Pufendorf-Kommentator Gershom Carmichael spricht 1707 und 1718 von »Aurea illa et Catholica Regula, a Domino nostro inculcata«, also von »jener goldenen und allgemeinen Regel, die uns von unserem Herrn eingeschärft worden ist«, 32 ganz entsprechend sein deutscher Kollege Everard Otto 1728 von »aurea Domini nostri regula«. 33 Beide verweisen ausdrück-
Seckendorff Anderer Theil Cap. VII § 19 (»Von der Tugend der Gerechtigkeit«), S. 92. Vollständig lautet das Zitat: »Derowegen erfordern wir das Hertz und Gemüthe deß Regenten selbst zum Sitz dieser vortrefflichen Tugend der Gerechtigkeit: Der Gestalt/ daß er sich selbst nach Recht und Billichkeit weisen und gewinnen lasse/ und nach der güldenen Regel deß HErrn Christi kein ander Recht begehre/ oder anders mit den Leuten umbgehe/ als er sich selbst gethan haben wolte.« (Ein vergleicbares Zitat aus Seckendorf auch bei Schneider S. 263 Fn. 700.) – Den Hinweis auf Sekkendorff verdanke ich Herrn Professor Fumihiko Takahashi. – 1674 heißt es bei R. Godfrey: »Whilst forgetting that Golden Law do as you would be done by, they make self the center of their actions«. R. Godfrey: Inj. & Ab. Physic 54, zitiert nach: Oxford English Dictionary unabridged, Band VI S. 656 Art. »golden 5.a.« 32 Carmichael Theses Philosophicae § XVII (S. 5); ders., Supplementa et Observationes, Anm. zu Lib. I Cap. VII § 3 (S. 92): »Aurea illa et Catholica Regula, a Domino nostro inculcata, Prout vultis ut vobis faciant Homines, vos etiam facite iis similiter.« – »Jene Goldene und Allgemeine Regel, die unser Herr uns eingeschärft hat, Was ihr wollt, daß euch die Menschen tun, das tut ihnen in gleicher Weise«. Entsprechend in den späteren (auch auf dem europäischen Kontinent verbreiteten) Auflagen, bei denen die Supplementa et Observationes in die von Carmichael besorgte Ausgabe von Pufendorfs De Officio Hominis et Civis eingearbeitet sind. 33 Pufendorf De Officio mit Kommentar von Everard Otto Anmerkung zu Lib. I 31
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IX · Die Goldene Regel in der Zeit der Aufklärung
lich auf die Evangelienstelle. In seiner Übersetzung der Elementa des Heineccius 34 spricht der Schotte George Turnbull 1741 von »the golden rule (as it is justly called) ›Do as you would be done by‹«. 35 Obwohl Heineccius die beiden Versionen klar auseinanderhält, weist sein Übersetzer allein auf die positive Fassung hin. Ähnlich – noch gegen Ende des 18. Jahrhunderts – der bekannte Historiker Edward Gibbon. 36 Dabei ist der Ausdruck »Goldene Regel« selbst für die MatthäusStelle auch im 18. Jahrhundert alles andere als allgemein gebräuchlich. Wie die Zitate zeigen, erachten die Autoren, die den Ausdruck benutzen, es für notwendig, sich genauer zu erklären und etwa von der »goldenen Regel unseres Herrn« zu sprechen. Aber auch das ist nicht eindeutig. Bei dem Tübinger Moraltheologen Jeremias Friedrich Reuss gibt es eine Stelle, in der der Autor noch 1767 den Ausdruck »aurea vitae christianae regula« durchaus nicht für das benutzt, was wir heute »Goldene Regel« nennen. 37 Im 11. Band des Zedler’schen Universal-Lexicons von 1735 findet sich ein Artikel »Göldene Regel, Lat. regula aurea«, aber hier wird nicht unsere Regel, sondern eine mathematische, die wir heute »Dreisatzrechnung« nennen, als »göldene Regel« bezeichnet. 38 Weitere Hinweise auf diesen offenbar verbreiteten Sprachgebrauch liefern das Grimm’sche Wörterbuch 39 und – für das Englische, wo der Dreisatz ebenfalls »golden rule« genannt wird – das Oxford English Dictionary. 40 In einer seiner mathematischen Arbeiten benutzt Hobbes den Ausdruck »regula aurea« in eben dieser Bedeutung. 41 Irgendwann einmal hat eine Übertragung des Namens der posiCap. VII § 3 (S. 134): »Aurea Domini nostri regula …, quae lex est & Prophetae, Matth. VII vs. 12. Luc. VI,31.« 34 Heineccius Elementa, s. ob. Fn. 27. 35 Vgl. Turnbull A Methodical System Inhaltsverzeichnis zu Buch I, Anzeige des Kapitels VIII. 36 Gibbon Bd. 7 Kap. 54 Fn. j (S. 154). Auf Gibbon verweist Philippidis (S. 15). 37 Reuss Elementa S. 448. 38 Zedler 11. Bd. Sp. 64 ff. 39 Bei Kochs/Bahr im Grimm’schen Wörterbuch Art. »Golden«, Sp. 755 unten/ 756, heißt es: »Die goldene Regel in der Rechenkunst, die »regel de tri«, als ›regula aurea‹ schon 1468 bezeugt.« Es folgen weitere Nachweise. 40 OED Bd. VI S. 656 Art. »golden 5.b.« 41 Vgl. Hobbes Examinatio Dialogus Quartus = Opera IV, wo die »Regula Aurea« in Überschrift (nach dem Index Capitum; vor S. 1) und auf S. 147 ausdrücklich erwähnt wird.
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Die Funktion der Goldenen Regel bei Hobbes, Thomasius und Heineccius
tiven Fassung unserer juristisch-ethischen Doppelregel auch auf die negative Fassung stattgefunden. Wann dies der Fall war, wann, mit anderen Worten, auch die negative Fassung zum ersten Male als »Goldene Regel« bezeichnet worden ist, wird sich freilich nur schwer feststellen lassen. Die Namensübertragung setzt die ausdrückliche Unterscheidung und Gegenüberstellung der beiden Fassungen und das Bewußtsein voraus, daß sie sich gegenseitig ergänzen. Die Übertragung ist vermutlich auch dann leichter, wenn nur die beiden traditionellen Versionen anerkannt werden und nicht auch noch, wie bei Thomasius und seinen Anhängern, eine dritte. Diese Voraussetzungen sind erst etwa seit den 30er Jahren des 18. Jahrhunderts gegeben. Erleichtert wird die Namensübertragung auch dadurch, daß sich nicht nur für die positive, sondern auch für die negative Fassung eine Bibelstelle findet. Darauf muß man natürlich auch erst einmal aufmerksam werden. Heineccius 42 zitiert 1738 nicht nur »Matth. VII,12« und »Luc. VI,31«, sondern auch »Tob. IIII,16«. Ich kenne keine frühere Stelle, die das Buch Tobit in unserem Zusammenhang erwähnt. 43 Gehen wir also, bis zum Beweis des Gegenteils, davon aus, daß die beiden sich ergänzenden traditionellen Fassungen erst seit einer Zeit, die nach dem Jahre 1738 liegt, zusammen »Goldene Regel« heißen. Im Deutschen ist der Ausdruck »goldene Regel« im Zusammenhang mit dem Dreisatz heute verschwunden. Ich kann mir vorstellen, daß die Übertragung des Namens »Goldene Regel« von der Matthäus-Stelle auf unsere Doppelregel auch mit einem Blick auf die Verwendung des Namens für die Dreisatzrechnung geschehen ist. Beim Dreisatz geht es um eine geometrische Proportion. Auch bei unserer Goldenen Regel geht es um eine Proportion, um das richtige Verhältnis der Menschen zueinander.
III. Die Funktion der Goldenen Regel bei Hobbes, Thomasius und Heineccius Die nächste Frage ist die nach der Funktion der Goldenen Regel in den Systemen derjenigen Autoren, die die Regel als vorrangig anerkenHeineccius Elementa § 88 (S. 66). So zitiert beispielsweise Pufendorf in De Jure das Buch Tobit zweimal (Tob. 7,10 u. 7,18/19), nicht aber, obwohl er Anlaß dazu gehabt hätte, die Stelle 4,16. – Lib. III Cap. I § 10 und Lib. VI Cap. I § 14 = Werke Bd. 4.1 S. 225, und Bd. 4.2 S. 569.
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nen oder gar in den Mittelpunkt ihres Systems stellen. Das sind, nach dem vorhin Gesagten, vor allem Hobbes, der Thomasius der Fundamenta und Heineccius. Zunächst Hobbes. Da der Gedankengang in den Elements of Law wesentlich derselbe ist wie in De Cive, nur noch nicht so ausgearbeitet, 44 können wir mit Hobbes’ De Cive beginnen. 45 Hobbes überlegt wie folgt: Die Gesetze der Natur werden von der Vernunft gegeben, und zwar mit Bezug auf das, was wir zu einer möglichst langen Erhaltung unseres Lebens und der Glieder unseres Leibes zu tun und zu lassen haben. 46 Das zentrale Thema des Naturrechts ist die Selbsterhaltung. Deswegen ist das erste und fundamentale Naturgesetz dies, den Frieden zu suchen, wo er zu haben ist, und, wo er nicht zu haben ist, nach Unterstützung für den Krieg zu suchen. Dieses Naturgesetz ist das erste, weil die anderen Gesetze davon abgeleitet sind und die Wege zum Frieden oder zur Selbstverteidigung angeben. Das von Hobbes in De Cive als nächstes besprochene Gesetz fordert, daß jedermann einzelne Rechte übertragen oder aufgeben müsse, weil anders der Friede nicht zu haben sei. Die Aufgabe einzelner Rechte ist deswegen notwendig, weil im Naturzustand jeder das Recht auf alles hat, das berühmte »jus omnium in omnia«. 47 Danach formuliert Hobbes eine ganze Reihe von Gesetzen. Er sieht, daß es schwer ist, diese einzelnen Gesetze aus dem ersten und fundamentalen Gesetz abzuleiten. Aber es gibt auch für den ungelehrten und ungebildeten Menschen die Möglichkeit, um die Naturgesetze zu wissen. Er muß sich nur in Gedanken in die Lage desjenigen versetzen, mit dem er es zu tun hat, und umgekehrt den anderen in seine eigene Lage. Das bedeutet nichts weiter, als an einer Waage die Schalen zu vertauschen. Denn jedermanns Leidenschaft wiegt schwer in seiner eigenen Schale, aber nicht in der Schale des Nachbarn. 48 Das ist
Hobbes Elements P. I Chap. 15 §§ 1, 2 (S. 75); Chap. 17 § 9 (S. 92). Zum »every man by nature hath right to all things«: Chap. 14 § 10 (S. 72). Freilich ist die »conservatio sui« als Grundlage der Naturgesetze in den Elements noch nicht in der Weise zu finden wie in De Cive. Zum Recht auf Selbsterhaltung in den Elements siehe P. I Chap. 14 § 6 (S. 71). 45 Hobbes De Cive Kap. II §§ 1, 2, 3 = Opera II S. 169 f. 46 »Est … lex naturalis … dictamen rectae rationis circa ea, quae agenda vel omittenda sunt ad vitae membrorumque conservationem, quantum fieri potest, diuturnam.« 47 Hobbes De Cive Cap. I § 10 = Opera II S. 164 f. Der Ausdruck »jus omnium in omnia« in Cap. II § 3 = Opera II S. 170. 48 In den Elements P. I Chap. 17 § 9 (S. 92) ist das näher ausgeführt als in De Cive. 44
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Die Funktion der Goldenen Regel bei Hobbes, Thomasius und Heineccius
es, was das Sprichwort empfiehlt: »Quod tibi fieri non vis, alteri ne feceris.« 49 Im Leviathan wird dieser Gedankengang nicht unerheblich abgewandelt. Zwar geht Hobbes auch im Leviathan vom Gesichtspunkt der Selbsterhaltung aus, der zum Friedensgebot und dieses wiederum zu dem weiteren (zweiten) Gebot führt, jedermann solle auf sein Recht auf alles verzichten und sich mit soviel Freiheit begnügen, als er auch anderen zuzugestehen bereit ist. Das entspricht ungefähr noch dem, was wir aus De Cive kennen. Die überraschende Wendung ist aber die, daß Hobbes die Goldene Regel, und zwar, wie wir gesehen haben, in beiden Fassungen, schon an dieser Stelle einführt. Nicht mehr ist die Rede davon, die einzelnen Naturgesetze, die auch im Leviathan aufgezählt und besprochen werden, seien schwer abzuleiten, und die Regel sei ein Hilfsmittel für den Ungelehrten und Ungebildeten, in konkreten Situationen zu erkennen, was er zu tun und zu lassen habe. Statt dessen gilt Hobbes die Regel jetzt als ein anderer Ausdruck für das aus dem fundamentalen Gebot abgeleitete zweite Gebot, jedermann solle auf sein Recht auf alles verzichten und sich mit soviel Freiheit begnügen, als er auch anderen zuzugestehen bereit ist. Dieses zweite Gebot und das Gebot »Quod tibi fieri non vis, alteri ne feceris« meinen dasselbe. Von einem Hilfsmittel der Erkenntnis für den Ungebildeten ist die Goldene Regel aufgerückt zu einem der wichtigsten Naturgesetze schlechthin, das uns sagt, wie der Friede zu gewinnen und zu erhalten sei. 50 Die Überlegungen, die der Thomasius der Fundamenta anstellt, 51 sind den von Hobbes angestellten durchaus ähnlich. Zwar lehnt Thomasius Hobbes’ erstes und fundamentales Naturgesetz ab. Es stelle lediglich auf den äußeren Frieden ab und sichere auch diesen nur unzureichend. Das von Thomasius vorgetragene Naturrechtsprinzip sagt statt dessen: Zu tun sei, was das Leben der Menschen am längsten und am glücklichsten macht, und zu lassen sei, was das Leben unglücklich macht und den Tod beschleunigt. 52 Dieses Prinzip sei die universale Norm für alle Handlungen und der Grundsatz des Hobbes De Cive Cap. III § 26 = Opera II S. 194. Hobbes Leviathan Chap. 14 = Works III S. 117 f. = Opera III S. 102 f. 51 Thomasius Fundamenta Lib. I Cap. VI § 18 (S. 170): zu Hobbes; § 21 und § 24 (S. 172/173): zum eigenen Naturrechtsprinzip; §§ 40 bis 42 (S. 177): zu den ersten Prinzipien des honestum, decorum und justum. 52 »Facienda esse, quae vitam hominum reddunt & maxime diuturnam & felicissimam; & evitanda, quae vitam reddunt infelicem & et mortem accelerant.« 49 50
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Natur- und Völkerrechts. 53 Es schließe alle moralischen Vorschriften ein und liefere zugleich den Schlüssel für die Unterscheidung von honestum, decorum und justum. Thomasius kommt auch alsbald auf die ersten Prinzipien 54 des honestum, decorum und justum zu sprechen, und das sind, wie wir gesehen haben, die drei von ihm nebeneinander gestellten Versionen der Goldenen Regel. Thomasius kann die Funktion seiner Prinzipien in einer gewissen Hinsicht genauer beschreiben als Hobbes. Denn inzwischen ist die Unterscheidung von principium essendi und principum cognoscendi des Naturrechts in Gebrauch gekommen. Vom principium essendi, dem Seinsprinzip, leitet sich die Geltung der Naturgesetze ab, während die principia cognoscendi, die Erkenntnisprinzipien, den Grund dafür liefern, warum ich die Naturgesetze einsehe. Ausdrücklich sagt Thomasius, es gehe ihm nicht um das principium essendi, sondern um die principia cognoscendi des Naturrechts. Dabei wird nicht nur der Grundsatz des Naturrechts, den Thomasius annimmt, sondern es werden auch die von Thomasius angenommenen drei Versionen der Goldenen Regel ausdrücklich als principia cognoscendi des Naturrechts bezeichnet. 55 Auch Heineccius benutzt die Unterscheidung von principium essendi und principium cognoscendi des Naturrechts. 56 Im Anschluß an Thomasius verwirft er die Erkenntnisprinzipien des Hobbes. Er »Norma universalis quarumvis actionum & fundamentalis propositio juris naturalis & gentium late sic dicti.« 54 »Prima principia«. 55 Allgemein: Thomasius Fundamenta Lib. I Cap. VI § 1 Anm. (S. 167). Die Prinzipien des honestum, decorum und justum werden im Inhaltsverzeichnis zu Kapitel VI zu § 39 (S. 165) »principia cognoscendi generalia« genannt. – Eine Jenaer Dissertation aus dem Jahre 1724 benutzt die Unterscheidung gerade auch für die Interpretation von Hobbes’ Naturrechtsprinzipien. Ihr Autor, Gottlieb Sturm, legt den Leviathan so aus, daß das »Quod tibi non vis fieri, alteri ne feceris« auch für das System von Hobbes als das principium cognoscendi der Naturgesetze aufzufassen sei. Vgl. Sturm Hobbesius Socialis Cap. III § 3 mit Fn. a). Bei Sturm geht es ausdrücklich um das principium cognoscendi der Naturgesetze bei Hobbes, Cap. I § 3 (S. 61). Das principium essendi der Naturgesetze sei auch im System von Hobbes der Wille Gottes, worauf der Autor allerdings kein besonderes Gewicht legt; Cap. I § 3 (S. 61), Cap. III § 5 (S. 72) 56 Heineccius Elementa § 60 Anm. (S. 44 f.): zur Unterscheidung von principium essendi und principium cognoscendi; § 62 (S. 45 f.): zum Willen Gottes als dem von H. angenommenen principium essendi; § 73 (S. 54 f.): zu Hobbes; § 76 Anm. (S. 57 f.): zu Thomasius; § 79 mit Anm. (S. 60 f.): zum eigenen Prinzip; §§ 82/83 (S. 62 f.): zu den Graden der Liebe. 53
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Die Kritik an der Goldenen Regel und ihre Wirkung
verwirft auch den Grundsatz des Thomasius. Statt dessen ist ihm das principium cognoscendi des Naturrechts die Liebe. »Die Vernunft schärft uns kein anderes Prinzip des Naturrechts ein als die Liebe, durch die allein wir das Glück oder das wahre Gute genießen, das Gott mit seinem Gesetz bezweckt.« 57 Heineccius unterscheidet dann einen »Grad« der Liebe, den er »amor justitiae«, und einen anderen »Grad«, den er »amor humanitatis et beneficientiae« nennt: »Liebe im Grad der Gerechtigkeit« und »Liebe im Grad der Menschlichkeit und des Wohltuns«. Fundament aber der Liebe im Grad der Gerechtigkeit ist die negative Version, und Fundament der Liebe im Grad der Menschlichkeit und des Wohltuns ist die positive Version der Goldenen Regel.
IV. Die Kritik an der Goldenen Regel und ihre Wirkung Kants – bis heute wirksame – Kritik an der Goldenen Regel in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten von 1785 ist bekannt. 58 Weniger bekannt ist es, daß die Einwände, die Kant in der Grundlegung bringt, nicht von Kant selbst stammen, sondern älteren Ursprungs sind. 59 Bis in die Formulierungen hinein ist Kant von seinen Vorgängern abhängig. Diese Vorgänger sind in zwei Gruppen einzuteilen. Eine erste Gruppe schreibt in der Zeit vor den Fundamenta des Thomasius von 1705, also im wesentlichen in den letzten vier Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts. Eine zweite Gruppe schreibt nach diesem Datum, in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts. Die erste Gruppe beginnt mit Robert Sharrock De Officiis secundum Naturae Jus von 1660, 60 gefolgt von Pufendorf in De Jure Naturae et Gentium 61 (1672) und Christian Thomasius in den Institutiones Jurispru-
»Ratio docet, non aliud inculcans iuris naturae principium, quam amorem, quippe quo solo medio felicitate seu vero bono, quod Deus lege sua intendit, perfruimur.« Die Übersetzung nach Heineccius Grundlagen S. 71. 58 4:430,30–37. Die Stelle ist unten in Abschnitt V. abgedruckt. 59 Vgl. auch meinen Beitrag »Die Konkurrenz von Goldener Regel und Prinzip der Verallgemeinerung in der juristischen Diskussion des 17./18. Jahrhunderts als geschichtliche Wurzel von Kants kategorischem Imperativ« von 1987 und die Arbeiten von Schrey und Hoche. 60 Sharrock De Officiis. 61 Pufendorf Elementa Lib. II Obs. IV § 2 = Werke Bd. 3 S. 135; De Jure Lib. II Cap. III § 13 am Ende = Werke Bd. 4.1 S. 146. 57
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dentiae Divinae von 1688. 62 Diese erste Gruppe formuliert bereits die wesentlichen Argumente. Die zweite Gruppe ist eher eine Gruppe von Nachzüglern. Zu ihr gehören die beiden schottischen Anhänger Pufendorfs Gershom Carmichael und Francis Hutcheson 63, der erstere in seinem Kommentar zu Pufendorfs De Officiis Hominis et Civis von 1718, der letztere in einem erst posthum (1755) publizierten Vorlesungsmanuskript. Eine gewisse Sonderstellung nimmt der Altdorfer Professor Christian Gottlieb Schwarz ein, der 1722 ein kleines Pamphlet gegen die Goldene Regel schreibt. Die Argumente, die die Kritiker gegen die Goldene Regel vortragen, sind die folgenden: Thomasius stört sich besonders daran, daß die beiden Versionen der Goldenen Regel, die auch wir heute anerkennen, die Pflichten des Menschen gegen sich selbst nicht erfassen, 64 was dann 1705 zu der Erfindung der dritten Formel führt (siehe oben I.). Darüber hinaus suchen die Kritiker nach Beispielen, um zu zeigen, daß die Anwendung der Regel zu kontra-intuitiven Ergebnissen führt. Dies ist das Resultat der vereinten Bemühungen von Sharrock, Pufendorf, Thomasius, Carmichael, Hutcheson: Der Richter kann nicht dazu verpflichtet sein, den Straßenräuber freizusprechen, weil er selbst sich einen Freispruch wünschen würde, wäre er seinerseits angeklagt. Dieses Beispiel bringt Sharrock schon 1660. 65 Weiter: Der Reiche kann nicht dazu verpflichtet sein, dem Bedürftigen zu geben, was immer dieser von ihm fordert, weil auch er solche Ansprüche stellen würde, wäre er selbst an der Stelle des Armen. Der Habgierige, der für seine Waren einen viel zu hohen Preis verlangt, kann nicht dazu verpflichtet sein, selbst überzogene Preise zu bezahlen. Wer unziemliche Wünsche hat, kann nicht dazu verpflichtet sein, selbst unziemlichen Wünschen nachzugeben. Der Herr kann nicht dazu verpflichtet sein, seinem Diener die Schuhe zu putzen, auch wenn er täglich von ihm fordert, daß ihm dieser Dienst erbracht wird. Auch lassen sich mit der Goldenen Regel weder der Austausch von Ehepartnern noch Duelle rechtfertigen, genausowenig wie etwa der Freispruch des Straßenräubers. 66 Thomasius Institutiones. Hutcheson A System S. 16 Fn. 64 Thomasius Institutiones Lib. I Cap. IV § 18 (S. 122), 7. Aufl. S. 76. 65 Sharrock De Officiis S. 64. 66 Die Zusammenstellung in meinem Beitrag von 1993 »Kants Bearbeitung der Goldenen Regel im Kontext der vorangegangenen und der zeitgenössischen Diskussion« 62 63
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Die Kritik an der Goldenen Regel und ihre Wirkung
Die Beispiele betreffen die positive wie die negative Fassung der Goldenen Regel gleichermaßen, auch wenn die gegen die positive Fassung gerichteten der Zahl nach überwiegen. Mit der Feststellung der Schwierigkeiten der positiven Fassung wird die Möglichkeit verringert oder beseitigt, die Goldene Regel zur Grundlage für die unvollkommenen Pflichten zu nehmen, und mit der Feststellung der Schwierigkeiten der negativen Fassung wird die Möglichkeit verringert oder beseitigt, die Regel zur Grundlage für die vollkommenen Pflichten zu nehmen. Aus diesem Befund ziehen die Kritiker – und unter ihnen Pufendorf und seine beiden schottischen Anhänger Carmichael und Hutcheson mit besonderer Klarheit – den Schluß, daß die Goldene Regel nicht nur kein grundlegendes Axiom des Naturrechts sei, sondern auch keine universale Geltung habe. 67 Sie hat keine universale Geltung, weil sie zwei Einschränkungen unterliegt. Zum ersten müssen die Wünsche, um die es bei einer konkreten Anwendung der Regel geht, sich ihrerseits rechtfertigen lassen. Zum zweiten müssen die Umstände, in denen die Beteiligten sich jeweils befinden, ernstlich miteinander vergleichbar sein. Das erste aber setzt voraus, daß schon vor der Anwendung der Regel bekannt ist, wann ein Wunsch sich rechtfertigen läßt und wann nicht, und das ist nicht nur eine Einschränkung, sondern hat außerdem die Konsequenz, daß die Regel auch kein Axiom ist. Ist sie aber kein Axiom, dann kann sie allenfalls eine Folgerung sein – so die Konsequenz, die Pufendorf ausdrücklich zieht –, und in der Tat wird die Regel von ihren Kritikern im wesentlichen als ein Ausdruck des Gleichheitssatzes genommen. Es ist die Reziprozität der gegenseitigen Ansprüche der Gleichen gegeneinander, die von der Regel übrig bleibt. 68 Wer die Fußnote in Grundlegung liest, sieht, daß alle (tatsächlich S. 131. Auch der folgende Text zur Kritik an der Goldenen Regel schließt sich an meine früheren Ausführungen an. 67 Vgl. Pufendorf De Jure Lib. II Cap. III § 13 = Werke Bd. 4.1 S. 146, wo es unter anderem heißt, die Regel sei kein »fundamentale axioma legis naturalis« und keine »regula universalis«. 68 Die Formulierung des Gleichheitssatzes trägt bei Pufendorf denn auch deutlich die Züge der Goldenen Regel: »Quae unus ab altero postulare aut expectare potest, eadem alii quoque, caeteris paribus, ab eodem possunt; & quod juris quis in alium statuit, eo ipsum uti maxime convenit.« – »Was auch immer ein Mensch von einem anderen fordern oder erwarten kann, dasselbe können ceteris paribus auch die anderen von ihm fordern und erwarten; und was jemand in bezug auf einen anderen als rechtens annimmt, davon ist auch ihm selbst gegenüber Gebrauch zu machen.« De Jure Lib. III Cap. II § 2 = Werke Bd. 4.1 S. 227.
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IX · Die Goldene Regel in der Zeit der Aufklärung
alle) Argumente, die Kant gegen die Goldene Regel vorträgt, schon lange vor Kant, im wesentlichen im 17. Jahrhundert, formuliert worden sind. Was aber ist das Ergebnis? Von 1705, dem Erscheinungsjahr der Fundamenta des Thomasius, an, wird die Goldene Regel im 18. Jahrhundert zum Prinzip des Naturrechts erhoben. Das geschieht offensichtlich im Anschluß an Thomasius, wenn auch die von Thomasius erfundene dritte Formel an diesem Erfolg nicht oder jedenfalls nur in Grenzen teilhat. Eine kaum zu zählende Menge von Autoren 69 stellt die Regel nach dem Modell der Fundamenta in den Mittelpunkt ihres jeweiligen Systems, und zwar meistens ohne jede Einschränkung. Manchmal – eher selten – wird eine Einschränkung gemacht. Dann fügen die Autoren der Regel ein Adverb wie »rationaliter« oder »praesumtive« hinzu. Aber das wird nicht ausgearbeitet und bleibt folglich wirkungslos. Auch der einflußreiche Übersetzer und Kommentator Pufendorfs Jean Barbeyrac, der lange Zeit in Berlin lebt und die einschlägige deutsche Literatur genau kennt, akzeptiert die Regel in derselben Weise, wie dies die meisten Deutschen seiner und der nachfolgenden Generationen tun, und dies, obwohl ihm, wie auch seine Fall-Diskussionen zeigen, ihre Probleme durchaus bewußt gewesen sind. 70 Barbeyrac schreibt 1706. Hier einige weitere Namen: Justus Henning Böhmer (1710), 71 Ephraim Gerhard (1712), 72 Johann Laurentius Fleischer (1730), 73 Heinrich Köhler (1735), 74 Joachim Georg Daries Nachweise in meinem Beitrag »Die Konkurrenz« (ob. Fn. 59) S. 944. Ergänzend sei auf zwei wichtige Arbeiten von Hollmann hingewiesen: Jurisprudentia Naturalis, § 58 Scholium (S. 88), und Philosophia Moralis, praefatio S. 15 Fn. q). – August Friedrich Müller Einleitung (Dritter Theil) S. 262 (dazu mein Beitrag »Die Person als Zweck an sich selbst« S. 9) stellt die Goldene Regel mit dem Gedanken der Gleichheit zusammen.- Achenwall, dessen Arbeiten für Kant eine ganz besondere Rolle spielen, bringt in seinen Prolegomena § 84, die positive und die negative Fassung der Goldenen Regel ohne Einschränkungen, in Ius Naturae I 4. Aufl., § 72 (S. 60), 5. (d. i. die von Kant benutzte) Aufl. § 72 (S. 63), werden dann freilich einschränkende Varianten gebracht. 70 Barbeyrac im Vorwort zu seiner Pufendorf-Übersetzung, 2. Aufl. Bd. I § 1 (S. XVIII f.), wo der Autor auch auf Konfuzius eingeht, und Barbeyrac Traité Chap. IX § 7 (S. 144 f.) und Chap. XVI § 9 (S. 286 ff.). Die Interpretation zu Barbeyrac, die ich in meinem in der obigen Fn. 59 zitierten Beitrag (auf S. 943) gegeben habe, muß entsprechend korrigiert werden. 71 Böhmer Introductio Pars Generalis Cap. I § 30 Note p (S. 30). 72 Gerhard Delineatio Lib. I Cap. VII Nr. 62 und Nr. 67 (S. 62 f.); Lib. II. Cap. I Nr. 18 (S. 104). 73 Fleischer Institutiones, wie ob. Fn. 25. 74 Köhler Exercitationes § 716 (S. 140). 69
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Die Kritik an der Goldenen Regel und ihre Wirkung
(1740), 75 Samuel Christian Hollmann (1751), 76 Gottfried Achenwall (1758), 77 Karl Anton Martini (1770). 78 Dieser Erfolg der Goldenen Regel ist nicht auf Deutschland beschränkt. Für Turnbull ist die Goldene Regel »genauso evident wie ein Axiom in irgendeiner Wissenschaft«, also wie etwa die Proposition, nach der zwei Größen einander gleich sind, wenn beide einer dritten gleichen. Es sei deshalb genauso schwer, über die Regel zu räsonieren, wie es schwer ist, irgendein Axiom zu demonstrieren, und zwar hier aus genau demselben Grunde wie da: Es liegt in der Natur solcher Axiome, daß sie nicht bewiesen werden können. 79 Noch über vierzig Jahre später kann man dasselbe bei Turnbulls Schüler Thomas Reid lesen, 80 der seit 1764 in Glasgow Carmichaels und Hutchesons Lehrstuhl innehat. Zwar ist Turnbull mit Sharrocks und Pufendorfs Werken durchaus noch vertraut, und dasselbe gilt auch für Reid, 81 doch die alte Argumentation beeindruckt nicht mehr. In Deutschland ist es der bereits erwähnte Altdorfer Professor Schwarz, der 1722 Einspruch erhebt, sich gegen Thomasius wendet und noch einmal auf die Angewiesenheit der Goldenen Regel auf einen vorgängigen Maßstab hinweist und die Möglichkeit ihres Mißbrauchs hervorhebt. 82 Aber Schwarz muß sich ganz einsam vorgekommen sein. Die Argumente, alle längst bekannt, verfangen nicht mehr. Die Vertreter der herrschenden Meinung hören nicht mehr hin. Am erstaunlichsten ist im Grunde der Fall des Christian Thomasius selbst, der sich an der Kritik beteiligt hatte, aber dann, unter dem Eindruck der Lektüre des Hobbes, seine drei Versionen der Goldenen Regel zu Erkenntnisprinzipien des Naturrechts erklärt. Erst Kant bereitet dem ein Ende, und zwar nicht kraft seiner Argumente (denn die Argumente sind alle längst bekannt), sondern kraft seiner Autorität. Seitdem lebt die Goldene Regel zwar weiter, aber eher so, wie Johann
75 Daries Institutiones Introductionis ad Ius Naturae et Gentium Pars Generalis § 301 Sch. (S. 159). 76 Hollmann Jurisprudentia Naturalis S. 88 (Sch. zu § 58), S. 89 (Sch. zu § 59); ders. Philosophia Moralis S. 15 Fn. q). 77 Achenwall Prolegomena, wie ob. Fn. 28. 78 Martini Exercitationes § 115 Sch. (S. 94). 79 Turnbull A Methodical System, in seinen Bemerkungen zu Heineccius Book I Chap. VIII, auf S. 165. 80 Reid Intellectual Powers S. 453 f.; siehe auch Reid Active Powers S. 639. 81 Vgl. die Hinweise auf Pufendorf in Reid Practical Ethics S. 154 u. ö. 82 Vgl. Schwarz Disquisitio I S. 13 f.
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IX · Die Goldene Regel in der Zeit der Aufklärung
Matthias Gesner das ins Auge gefaßt hatte: sie lebt weiter als etwas, das in eine moralphilosophische Propädeutik, als etwas, das zur Allgemeinbildung gehört.
V. Kants Stellungnahme in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten Lesen wir am Schluß, was Kant in der Grundlegung zur Goldenen Regel zu sagen hat. Kants Stellungnahme findet sich bei den Fällen, die er im Anschluß an die zweite Formel des Kategorischen Imperativs bespricht. Dort heißt es in einer Fußnote: »Man denke ja nicht, daß hier das triviale quod tibi fieri non vis usw. zur Richtschnur oder Prinzip dienen könne. Denn es ist, obzwar mit verschiedenen Einschränkungen, nur aus jenem [dem Kategorischen Imperativ] abgeleitet; es kann kein allgemeines Gesetz sein, denn es enthält nicht den Grund der Pflichten gegen sich selbst, nicht der Liebespflichten gegen andere (denn mancher würde es gerne eingehen, daß andere ihm nicht wohltun sollen, wenn er es nur überhoben sein dürfte, ihnen Wohltat zu erzeigen), endlich nicht der schuldigen Pflichten gegeneinander; denn der Verbrecher würde aus diesem Grunde gegen seine strafenden Richter argumentieren usw.« 83
Gehen wir die Argumentation durch: 1) Mit dem Vorwurf, die Regel könne kein allgemeines Gesetz sein, greift Kant die Kritik auf, die Pufendorf und andere geübt haben. 2) Dann wiederholt Kant, was wir schon bei Thomasius finden. Schon Thomasius hat an den überlieferten Formeln kritisiert, daß sie »nicht den Grund der Pflichten gegen sich selbst« enthielten, weshalb er (Thomasius) die dritte (in der Folgezeit nicht anerkannte) Formel erfindet. 3) Obwohl er die positive Version durch das (erste) »usw.« nur andeutet, geht Kant von den beiden einander ergänzenden Versionen der Goldenen Regel aus, wie sie seit Heineccius die Diskussion beherrschen. Er beläßt es nicht, wie bei den Pflichten des Menschen gegen sich selbst, bei der Feststellung, es sei nicht der Fall, daß die Goldene Regel den Grund der Liebespflichten enthalte, sondern er bringt darüber hinaus das Beispiel des Unwilligen, der »es überhoben
83
4:430,30–37.
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Kants Stellungnahme in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
sein« möchte, anderen »Wohltat zu erzeigen«. Das Beispiel setzt die positive Fassung der Regel voraus, die Kant bei seiner Überlegung also im Auge hat. Auch Achenwall, von dem Kant in Dingen dieser Art häufig abhängt, bringt ausdrücklich beide Versionen. 84 4) Daß die beiden älteren Formeln weder den Grund der »Liebespflichten« (das sind die unvollkommenen Pflichten) noch den Grund der »schuldigen Pflichten« (das sind die vollkommenen Pflichten) liefern, belegt Kant mit zwei Falldarstellungen, in denen er die beiden Versionen der Regel als Argumente behandelt, die im Ergebnis allerdings nicht durchschlagen: a) Im ersten Fall möchte A einem anderen Menschen (B), der sich in einer Notsituation befindet, nicht helfen (obwohl er ihm helfen könnte). A argumentiert, die positive Version der Regel sei nicht anwendbar, weil er (A) selbst in einer vergleichbaren Lage keine Hilfe beanspruchen würde. Das ist richtig (d. h. die Regel ist nicht anwendbar), doch wird die daraus folgende Lösung des Falles von Kant verworfen, weil A trotzdem verpflichtet ist, dem B zu helfen. Die älteren Autoren hätten, wie bei den von ihnen gebrachten anderen Beispielen (s. oben IV.), die Annahme einer Pflicht zu helfen undiskutiert vorausgesetzt. Kant hat eine Begründung. Der Kategorische Imperativ ist anwendbar. 85 Infolgedessen darf die positive Fassung der Goldenen Regel nicht so aufgefaßt werden, daß sie den Grund der Liebespflichten enthält. b) In der zweiten (schon von Sharrock gebrachten) Falldarstellung argumentiert ein Mensch, der eines Verbrechens angeklagt ist, mit der negativen Version der Goldenen Regel. Da der Richter selbst nicht bestraft werden wolle, dürfe er auch den Angeklagten nicht verurteilen. Eine Verurteilung des Angeklagten bei nachgewiesenem Verbrechen ist aber gerade die Pflicht des Richters, der Richter ist die Verurteilung »schuldig«, seine Pflicht ist eine Rechtspflicht. 86 Das Beispiel enthält eine Parallele zu dem vorangehenden Beispiel des Hilfsunwilligen. Der Hilfsunwillige hat die Pflicht zu helfen, obwohl die Anwendung der positiven Fassung der Goldenen Regel das
S. oben Fn. 28. Vgl. 4:423,17–35 und 4:430,18–27. 86 Eine Begründung dafür wird Kant später in der Rechtslehre geben. Die Pflicht des Richters folgt aus dem vorausgesetzten Strafgesetz. Strafgesetze sind (für den Richter) kategorische Imperative. Vgl. dazu oben drittes Kapitel Abschn. V und Commentary S. 267–270. 84 85
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IX · Die Goldene Regel in der Zeit der Aufklärung
genaue Gegenteil ergibt. Der Richter hat die Pflicht, den überführten Verbrecher zu verurteilen, obwohl die Anwendung der negativen Fassung der Goldenen Regel das Gegenteil ergibt. Es zeigt sich, daß die Goldene Regel auch den Grund der schuldigen Pflichten nicht enthält. 87
Kant diskutiert Anwendungsfälle beider Versionen der Goldenen Regel schon in den handschriftlichen Bemerkungen zu den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, 20:157,15–158,8, wo er auch das Räuber-Beispiel behandelt, 20:158,1–6. Timmermann Kant’s Groundwork S. 100 f. hält das Räuber-Beispiel für artifiziell, wogegen freilich die Parallelität der beiden von Kant gebrachten Beispiele spricht.
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Anhang: Die »Verabschiedung« Kants durch Ulrich Klug im Jahre 1968 – Einige Korrekturen
1968 publiziert Ulrich Klug seinen Aufsatz »Abschied von Kant und Hegel«, in dem er die Strafrechtslehren der beiden Philosophen auf nur fünfeinhalb Seiten pauschal verwirft. 1 »Kants heller Geist«, so heißt es auf der ersten Seite des Beitrags, »scheint in seiner Straftheorie durch depressive Visionen verdunkelt.« Deshalb habe er »einer Zeit, die exakter und nüchterner zu reflektieren und zu handeln wünscht« (als Kant), »zur Philosophie der Strafe« »nichts oder doch fast nichts mehr zu sagen.« Und am Ende heißt es: »Es ist hohe Zeit, die Straftheorien von Kant und Hegel mit ihren irrationalen gedankenlyrischen Exzessen in all ihrer erkenntnistheoretischen, logischen und moralischen Fragwürdigkeit endgültig zu verabschieden.« Ich beschränke mich hier auf Klugs Stellungnahme zu Kant. Man könnte meinen, daß ein vor über vierzig Jahren erschienener Aufsatz, der, wie sich zeigen wird, Kant in wesentlichen Punkten falsch wiedergibt, heute keiner besonderen Aufmerksamkeit mehr bedarf. Das Gegenteil ist der Fall. Der Aufsatz hat nach wie vor großen Einfluß. Thomas Vormbaum nimmt ihn 1993 in seine Sammlung Texte zur Strafrechtstheorie der Neuzeit und dann noch einmal 1998 in die Sammlung Strafrechtsdenker der Neuzeit auf, 2 wo er als einziger individueller Autor das Strafrechtsdenken der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts repräsentiert. 3 Unter Juristen kennen den Aufsatz viele, die sich sonst nicht sonderlich für rechtsphilosophische Soweit der folgende Anhang auf Klug lediglich mit einer Seitenangabe verweist, bezieht er sich auf diesen Aufsatz. 2 Text 39, S. 571–577. 3 Neben dem Aufsatz von Klug bringt Vormbaum für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts noch Auszüge aus einem Urteil des Bundesgerichtshofs und Auszüge aus einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts (Texte 40 und 41). Erst in dem Sammelband Moderne deutsche Strafrechtsdenker von 2011 stellt der Herausgeber neben den Text von Klug noch zwei weitere Texte, die der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zuzurechnen sind und von individuellen Autoren stammen. 1
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Anhang: Die »Verabschiedung« Kants durch Ulrich Klug im Jahre 1968
Fragen interessieren, und er prägt deren Kant-Bild. Auch unter Nicht-Juristen ist er bekannt. Noch 2009 setzt sich Georg Mohr mit dem Aufsatz auseinander, 4 den er dabei als »berühmt-berüchtigt« bezeichnet, was einen größeren Bekanntheitsgrad voraussetzt. Freilich zeigt auch Mohr nicht die Mängel des Aufsatzes auf. Klugs Aufsatz enthält keine Fundstellen-Nachweise. Der Leser muß sich die einschlägigen Passagen bei Kant anhand der Zitate, die Klug bringt, selbst zusammensuchen. Bei dieser Suche stellt sich heraus, daß Klug sich im wesentlichen auf die »Allgemeine Anmerkung E« 5 in Kants Rechtslehre von 1797/98 beschränkt. Daneben bringt er eine Stelle aus der »Einleitung in die Metaphysik der Sitten«. 6 Auf die anderen Teile der Rechtslehre, die sich mit dem Strafrecht befassen, geht Klug nicht ein, insbesondere auch nicht auf Kants Ausführungen zum Brett des Karneades, die im Kontext von Klugs Thesen besonders wichtig gewesen wären. Wir werden darauf zu sprechen kommen (unten III.). Wenn ich ihn richtig verstehe, hält Klug den »Schutz der Friedensordnung der Gesellschaft und die diesem Schutz dienende Wiedereingliederung des Täters, seine Resozialisierung,« für den »Sinn der Strafe«. 7 Kant hingegen ist nach Klug ein Vertreter des »Vergeltungsgedankens«. Es ist Kants Autorität, so verstehe ich Klug, die den »Vergeltungsgedanken« bei der Strafrechtspraxis der Zeit vor dem Jahre 1968 durchgesetzt hat. An dieser Autorität rüttelt Klug. Er selbst schreibt: »Fast scheint es, als rühre man an ein Tabu,« wenn man die Argumente des »angesehenen Denkers« Kant »für unzureichend und verfehlt erklärt.« 8
I.
Kant und Klug zum »weil er verbrochen hat«
Sehen wir uns Klugs Argumente an. Kant schreibt: »Richterliche Strafe (poena forensis) … kann niemals bloß als Mittel, ein anderes Gute zu befördern, für den Verbrecher selbst oder für die bürgerliche Gesellschaft, sondern muß jederzeit nur darum wider ihn verhängt Mohr: »nur weil er verbrochen hat«. 6:331–337. 6 6:225,6–8. Siehe unten VI. 7 Klug S. 36; siehe auch S. 40. 8 Klug S. 36. – Gegen Klug richtet sich schon 1969 Hellmuth Mayer in der FS für Engisch. Freilich geht Mayer von einer unzureichenden Argumentationsbasis aus. 4 5
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Kant und Klug zum »weil er verbrochen hat«
werden, weil er verbrochen hat; denn der Mensch kann nie bloß als Mittel zu den Absichten eines anderen gehandhabt und unter die Gegenstände des Sachenrechts gemengt werden. … Er muß vorher strafbar befunden sein, ehe noch daran gedacht wird, aus dieser Strafe einigen Nutzen für ihn selbst oder seine Mitbürger zu ziehen«. 9 Klug stellt diese Passage wie folgt dar: »Strafe darf nach Kant niemals ›bloß als Mittel, ein anderes Gute zu befördern‹, sei es für den Verbrecher selbst, sei es für die Gesellschaft, eingesetzt werden. Vielmehr darf sie in jedem Falle ›nur darum wider ihn verhängt werden, weil er verbrochen hat‹. Denn der Mensch darf niemals als Mittel zu den Absichten eines anderen gehandhabt werden. Bei der Bestrafung darf nicht daran gedacht werden, ob aus der Strafe einiger Nutzen für den Verurteilten oder seine Mitbürger gezogen werden kann.« 10 Zusätzliche Kommentare gibt Klug an dieser Stelle nicht ab. Ich nehme an, daß er mit seiner Schilderung die Irrationalität der KantPassage für erwiesen hält. Allerdings verdreht Klug fast alles, was Kant schreibt. Das fängt damit an, daß Kant von der Strafe, die ein Richter verhängt, also von dem richterlichen Strafurteil spricht, 11 während Klug genau diesen (von Kant sogar besonders betonten) Hinweis auf den Richter wegläßt und damit den Sinn von Kants Satz unzulässig verändert. Auch im Jahre 1968 durfte ein Richter einen Angeklagten nur dann und nur deswegen verurteilen, wenn und weil der Angeklagte nach der Überzeugung des Richters ein Verbrechen (im weiten Sinne des Wortes) begangen hatte. Genau das schreibt Kant: Richterliche Strafe darf nur darum wider einen Verbrecher verhängt werden, »weil er verbrochen hat.« 12 Ein Verbrechen ist (nach Kant) die »Übertretung eines öffentlichen Gesetzes«. 13 Daraus folgt, 6:331,20–31 (Allg. Anm. E; Hervorhebungen im Original). Klug S. 37. 11 Das setzt natürlich die Unterscheidung und Trennung der drei staatlichen Gewalten voraus, die Kant in § 45 (6:313,17–24) und an anderen Stellen der Rechtslehre ausdrücklich zum Thema macht. 12 Klug versteht Kant insoweit richtig, als er sich nicht an Kants Verwendung des Wortes »müssen« stößt, das in dem Satz »sondern muß jederzeit nur darum wider ihn verhängt werden, weil er verbrochen hat« die Bedeutung von »dürfen« hat. »Dürfen« ist die ursprüngliche Bedeutung des Wortes »müssen«, und »müssen« ist auch noch im 20. Jahrhundert mit dieser Bedeutung verwendet worden; vgl. das Grimm’sche Wörterbuch Art. »müssen« Sp. 2750–2751. 13 6:331,7–9 (Allg. Anm. E). – Ein öffentliches Gesetz ist ein von einem öffentlichen Gesetzgeber erlassenes Gesetz, vgl. etwa 6:311,6–8 (§ 41). 9
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Anhang: Die »Verabschiedung« Kants durch Ulrich Klug im Jahre 1968
daß nur dann, wenn ein Mensch ein »öffentliches Gesetz« übertreten hat, von einem »Verbrechen« – und von »verbrochen« – gesprochen werden kann. Das unterscheidet sich in nichts von dem, was 1968 galt und heute noch gilt. Ein Richter darf einen Menschen nur dann verurteilen, wenn dieser Mensch ein öffentliches Gesetz übertreten und sich damit strafbar gemacht hat. Weiter: Auch im Jahre 1968 durfte kein Strafrechtsprofessor, der ernst genommen werden wollte, etwas anderes sagen als Kant, nämlich, daß der Angeklagte zuerst als »strafbar befunden« werden muß, bevor daran gedacht werden kann, aus der »Strafe einigen Nutzen für ihn selbst oder seine Mitbürger zu ziehen.« Das sind rechtsstaatliche Grundsätze allerersten Ranges, die Kant hier ausspricht, die als rechtsstaatliche Grundsätze aber nicht mehr zu erkennen sind, wenn der Hinweis auf den Richter nicht mitgeteilt wird. Läßt man, wie Klug, den Hinweis auf den Richter weg (und denkt man auch den Satz ohne Richter), dann wird der Satz, Strafe dürfe gegen einen Menschen nur dann und nur darum »verhängt« werden, »weil er verbrochen hat,« sinnlos, und aus einen sinnlosen Satz läßt sich alles ableiten. 14 Ich nehme an, daß Klug den »Vergeltungsgrundsatz« 15, den Kant angeblich vertritt, an diesem »weil er verbrochen hat« festmachen will, aber das ist eine bloße Vermutung auf meiner Seite, weil (bei Klug) jede Argumentation dazu fehlt. Überhaupt bringt Klug kein einziges Argument, wieso Kant ein Vergeltungstheoretiker sein soll. Kants Satz mit dem »weil er verbrochen hat« betrifft jedenfalls die richterliche Strafe, er hat mit »Vergeltung« nichts zu tun, sondern hat eine ganz andere und einfachere (nämlich die oben aufgezeigte) Bedeutung. Was aber macht Klug aus der zweiten hier vorgestellten rechtsstaatlichen Forderung Kants, der Angeklagte müsse »vorher« strafbar befunden sein, »ehe« noch daran gedacht wird, aus der Strafe Nutzen zu ziehen? »Bei der Bestrafung« dürfe, so Klug, »nicht daran gedacht werden, ob aus der Strafe einiger Nutzen für den Verurteilten oder seine Mitbürger gezogen werden kann.« Es gibt keinen Ausdruck, mit dem man eine derartige Verfälschung von Kants These angemessen titulieren könnte. Klug ist fixiert auf die Idee, daß Strafe einen Zweck hat. Deshalb tadelt er Kant, wenn Kant hervorhebt, daß der Zweckgedanke nicht
14 15
Menne S. 55: »Ex falso sequitur quodlibet« (aus Falschem folgt alles Beliebige). Ausdruck nach Klug S. 39.
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Kant und Klug zu: ein Richter darf nur die gesetzliche Strafe verhängen
unter jeder beliebigen Bedingung durchgeführt werden darf. Kant schreibt (im Jahre 1797!) in einer Lage, in der der »Nulla poena sine lege«-Satz (Keine Strafe ohne Gesetz) noch nicht galt. Es gab die außerordentlichen Delikte und den stellionatus, die keine bestimmten Tatbestandsmerkmale hatten, was den Richtern erlaubte, Strafen nach ihrem Ermessen zu verhängen. 16 Wenn dies zweckmäßig war (etwa, weil die Richter einen Angeklagten als einen gefährlichen Menschen ansahen), dann haben sie den Angeklagten bestraft. Dagegen wendet sich Kant: Strafe darf gegen einen Angeklagten nicht schon dann, wenn dies für ihn oder für die Gesellschaft zweckmäßig ist, sondern nur dann verhängt werden, wenn der Angeklagte ein Verbrechen begangen (Kant: etwas »verbrochen«) und sich damit »strafbar« gemacht hat. Es ist eben nicht so, daß der Zweck die Mittel heiligt.
II.
Kant und Klug zu dem Grundsatz, daß ein Richter nur die gesetzliche Strafe verhängen darf
In unmittelbarem Anschluß an die unter I. mitgeteilte Stelle stellt Klug Kant wie folgt dar: »›Das Strafgesetz ist ein kategorischer Imperativ, und wehe dem, welcher die Schlangenwindungen der Glückseligkeitslehre durchkriecht, um etwas auszufinden, was durch den Vorteil, den es verspricht, ihn von der Strafe oder auch nur einem Grade derselben entbinde.‹ Wird dies nicht beachtet, dann wird die Gerechtigkeit verletzt, und ›wenn die Gerechtigkeit untergeht, so hat es keinen Wert mehr, daß Menschen auf Erden leben.‹« 17 Die Stelle gibt, rein äußerlich betrachtet, Kant richtig wieder. Freilich sagt Kant nicht, »die Gerechtigkeit werde verletzt, falls man nicht allein um der Vergeltung willen strafe,« wie Klug zwei Seiten weiter behauptet. 18 Statt dessen spricht Kant von dem Fall, daß die Gerechtigkeit »untergeht«, wenn die Strafe durch einen vorteilhaften Ersatz vermieden wird, und er leitet den im voranstehenden Absatz zuletzt gebrachten Satz mit einem »denn« ein, aus dem sich ergibt, daß der Satz eine Begründung für das »Wehe dem!« liefert. Kant wörtlich: »Denn wenn die Gerechtigkeit untergeht, so hat es keinen 16 17 18
Vgl. Schaffstein S. 39–43. Klug S. 37. Die Stelle bezieht sich auf 6:331,31–332,3 (Allg. Anm. E). Klug S. 39.
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Anhang: Die »Verabschiedung« Kants durch Ulrich Klug im Jahre 1968
Wert mehr, daß Menschen auf Erden leben.« 19 Daß dies ein wesentlicher Punkt ist, wird sich sogleich zeigen. Weitere Kommentare gibt Klug in unserem Zusammenhang nicht ab, weshalb der Leser wieder (siehe oben I.) davon ausgehen muß, daß die Kant-Passage nach seiner (Klugs) Meinung, wenn man sie nur liest, (als »irrational«?) gegen sich selbst spricht. Nun ist Kants auch sonst viel zitierter Satz »Das Strafgesetz ist ein kategorischer Imperativ« an sich selbst betrachtet nicht schwer zu verstehen, wenn man nur überlegt, was Klug selbst in seiner Juristischen Logik zu der »Grundform des juristischen Schlusses« sagt, nämlich, daß der Obersatz dieses Schlusses die Form habe »Alle gewerbsmäßigen Hehler sollen mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren bestraft werden«. 20 Sätze dieser Art sind kategorische Imperative, weil sie mit dem »Sollen« die Bestrafung der Täter anordnen, und zwar ohne jede weitere Bedingung. 21 Sie sind in erster Linie an die Richter gerichtet, denen sie, falls der jeweilige Deliktstatbestand erfüllt ist, gebieten, die im Strafgesetz angeordneten Strafurteile zu fällen. Daß (bei Kant) die Gerichte die Adressaten der Strafgesetze sind, ergibt sich schon daraus (was Klug freilich unterdrückt), daß Kant in dem ganzen Absatz über die »richterliche Strafe« redet. Abgesehen davon, spricht Hobbes (zeitlich vor Kant) ausdrücklich die Richter als die Adressaten der Strafgesetze an. 22 Entsprechendes schreibt Feuerbach kurz nach dem Erscheinen der Rechtslehre. 23 Vor allem aber formuliert das preußische ALR von 1794 eine Reihe von Strafbestimmungen als kategorische Imperative. 24 Kant richtet sich nach dem Sprachgebrauch am Ende des 18. Jahrhunderts, der es erlaubt, Strafgesetze mit einem »Sollen« auszudrücken, wie dies auch Klug noch tut. Klug hätte seinen Obersatz bei der »Grundform des juristischen Schlusses« (»Alle gewerbsmäßigen Hehler sollen mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren bestraft werden«), den er selbst als eine »generelle gesetzliche Direktive« (!) bezeichnet, 25 als einen an die Richter adressierten kate6:332,1–3 (Allg. Anm. E). Vgl. Klug Juristische Logik S. 47–48. 21 Im Gegensatz zu hypothetischen Imperativen, die unter einer Bedingung stehen, was man durch einen Konditionalsatz ausdrücken kann, etwa: Wenn du nicht bestraft werden willst, dann solltest du nicht stehlen. 22 Hobbes Leviathan Cap. XXVI = Opera III S. 207. 23 Feuerbach Revision I S. 148. 24 Etwa II 20 § 826 ALR für Mord. 25 Klug Juristische Logik S. 47. 19 20
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Kant und Klug zu: ein Richter darf nur die gesetzliche Strafe verhängen
gorischen Imperativ erkennen müssen. Er versteht nicht, daß Kant im Kontext der »Allgemeinen Anmerkung E« mit dem Satz »Das Strafgesetz ist ein kategorischer Imperativ« von den Richtern verlangt, die gesetzliche und nur die gesetzliche Strafe zu verhängen (d. i. in Klugs eigenem Beispiel: Zuchthausstrafe bis zu zehn Jahren). Auch das ist ein rechtsstaatlicher Grundsatz. Der Richter darf Strafe nicht nach seinem Dafürhalten verhängen, sondern er ist an das Gesetz gebunden. Darum bringt Kant ein Beispiel, dessen Sinn es ist zu zeigen, daß die gesetzliche Strafe nicht durch etwas anderes ersetzt werden darf, und sei auch das, was die Strafe ersetzt, noch so nützlich für die Gesellschaft. 26 Bleiben wir beim Wortlaut der Kant-Passage. Vor allem müssen wir verstehen, was es bedeutet, wenn Kant von »Gerechtigkeit« spricht. Das teilt uns Kant an einer anderen Stelle der Rechtslehre mit: Es ist der »Gerichtshof selbst«, den man »die Gerechtigkeit eines Landes nennt.« 27 Klug nimmt das nicht zur Kenntnis. Sogar in der »Allgemeinen Anmerkung E«, auf die Klug sich bezieht, ist von »Zivilgerechtigkeit« und von »Kriminalgerechtigkeit« die Rede, wobei der Kontext ergibt, daß die Zivilgerichte und die Strafgerichte damit gemeint sind. 28 Das ist alles andere als ein abwegiger Sprachgebrauch, sprechen wir doch auch heute noch von der »Justiz« (von »Ziviljustiz« und von »Strafjustiz«) und meinen damit die öffentliche Gerichtsbarkeit. Kant erinnert uns lediglich daran, daß »Justiz« »Gerechtigkeit« bedeutet. Wenn wir von dieser Bedeutung von »Gerechtigkeit« ausgehen (und nicht von der Bedeutung des Wortes, die Klug unreflektiert zugrunde legt), dann besagt die Passage bei Kant, daß dann, wenn die Richter sich nicht an das Gesetz (das Strafgesetz) halten und nicht mehr die gesetzlichen Strafen verhängen, die Justiz »aufhört«, eine Gerechtigkeit zu sein, 29 und zur Willkürjustiz wird. Oder, im Klartext: Mißachtet der Richter das Gebot, die gesetzliche und nur die
6:332,3–10 (Allg. Anm. E), wo Kant den Fall diskutiert, daß an einem zum Tode verurteilten Verbrecher (zum Nutzen der Gesellschaft) lebensgefährliche Experimente vorgenommen werden, die er überlebt. Es ist unzulässig, so Kant, durch solche Experimente die gesetzlich angedrohte und vom Richter dem Gesetz entsprechend verhängte Todesstrafe zu ersetzen. 27 6:306,13–14 (§ 41). 28 6:331,7–11 (Allg. Anm. E). 29 Vgl. 6:332,9 (Allg. Anm. E). 26
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Anhang: Die »Verabschiedung« Kants durch Ulrich Klug im Jahre 1968
gesetzliche Strafe zu verhängen, dann ist das jedenfalls dann, wenn es zur Regel wird, das Ende der Justiz als Gerechtigkeit und damit das Ende des Rechtsstaats. Eine Institution (sei es die Justiz, sei es der Rechtsstaat) kann »untergehen«, wie Kant schreibt. Geht aber der Rechtsstaat unter, dann entfällt damit das einzig Wertvolle, das Menschen auf dieser Erde schaffen können. Das entscheidende Gebot der Rechtslehre ist das an mich gerichtete Gebot, zusammen mit allen anderen, mit denen ich in Kontakt kommen kann, in einen Rechtsstaat einzutreten. 30 Wir sind verpflichtet, den Rechtsstaat zu schaffen. Erbringen wir diese Leistung, dann haben wir damit einen Wert geschaffen. Der Rechtsstaat ist sogar der einzige absolute (äußere) Wert, den wir auf dieser Erde hervorbringen können. Wie an anderen Stellen seines Gesamtwerks 31 unterscheidet Kant auch in der »Allgemeinen Anmerkung E« zwischen absolutem »Wert« und »Preis«. 32 Einen Preis bezahle ich für etwas, was (u. a. durch eben diesen Preis) ersetzt werden kann. Einen absoluten Wert hat das Unersetzliche. Es gibt auf dieser Erde nichts, was den Rechtsstaat ersetzen könnte. Die Alternative zum Rechtsstaat ist der Naturzustand. Deshalb sagt Kant, daß dann, wenn der Rechtsstaat, dessen Krönung die rechtsstaatliche Justiz ist, 33 untergeht, die bloße Tatsache, daß Menschen auf Erden leben, mit keinem Wert mehr verbunden ist.
III. Kant zur »Vergeltung« und zum Zweck einer gesetzlichen Strafandrohung Gehen wir jetzt einmal nicht von Klug, sondern von Kant aus. In der Metaphysik der Sitten finden wir den Satz: »Eine jede das Recht eines Menschen kränkende Tat verdient Strafe, wodurch das Verbrechen an dem Täter gerächt … wird.« Der Satz formuliert zweifelsfrei den »Vergeltungsgedanken«. Freilich schränkt Kant den Anwendungs-
30 So Kant an verschiedenen Stellen der Rechtslehre, vgl. etwa 6:307,8–11 (§ 42). – Kant ist der Schöpfer des Rechtsstaats-Gedankens. Dazu oben das erste Kapitel und Commentary S. 23–43. 31 4:434,31–435,4 (Grundlegung); 6:434,22–435,5 (§ 11 d. Tugendlehre). 32 6:332,2 (»Wert), 6:332,10 (»Preis«) (Allg. Anm. E). 33 6:306,15–16 (§ 41) bezeichnet die Frage, ob eine rechtsstaatliche Justiz »sei oder nicht sei, als die wichtigste unter allen rechtlichen Angelegenheiten.«
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Kant zur »Vergeltung« und zum Zweck einer gesetzlichen Strafandrohung
bereich dieses Gedankens an derselben Stelle erheblich ein: »Niemand«, so heißt es weiter, hat »die Befugnis, Strafen zu verhängen und von Menschen erlittene Beleidigung zu rächen, als der, welcher auch der oberste moralische Gesetzgeber ist, und dieser allein (nämlich Gott) kann sagen: ›Die Rache ist mein; ich will vergelten.‹« 34 Gott allein ist es vorbehalten, eine Vergeltungsstrafe zu verhängen. Menschen dürfen das nicht tun. Kant betont, daß dies nach »Vernunftgesetzen« so ist. Infolgedessen findet sich in der Metaphysik der Sitten nicht ein einziger Satz, der den »Vergeltungsgrundsatz« 35 aufstellen würde. Die soeben wiedergegebene Stelle steht in der Tugendlehre, die den zweiten Teil der Metaphysik der Sitten bildet, deren erster Teil die Rechtslehre ist. Klug hat die Stelle nicht gelesen, jedenfalls setzt er sich nicht mit ihr auseinander. Er hätte Mühe, sie mit seiner These zu vereinbaren, daß Kant für menschliches Strafen den »Vergeltungsgedanken« vertritt. An diesem Punkt angelangt, können wir fragen, welche »Straftheorie« Kant denn nun wirklich vertritt. Die Antwort ist einfach. Kant geht davon aus, daß das »Strafgesetz« eine »Wirkung beabsichtigt«, also einen Zweck hat, und dieser Zweck besteht darin, potentielle Straftäter von Straftaten abzuhalten. Das u. a. ist der Sinn von Kants Ausführungen zum Brett des Karneades, 36 die freilich eine Selbstverständlichkeit, nämlich die Differenz zwischen einem Strafgesetz und einem richterlichen Strafurteil voraussetzen, die Klug in seiner Verabschiedung Kants unerwähnt läßt. Kant macht aus seiner »Theorie« nicht viel Aufhebens. Daß die Generalprävention der Zweck des Strafgesetzes sei, wurde am Ende des 18. Jahrhunderts ohnehin vielfach vertreten. 37 Es hätte Klug gut angestanden, sich mit dieser Passage in der Rechtslehre zu befassen, in der Kant von einer »Theorie« ausgeht, die mit der seines späteren Kritikers (soweit die »Theorie« Klugs aus dem hier besprochenen Aufsatz erkennbar wird) in wesentlichen Punkten verwandt ist.
6:460,23–34 (§ 36 der Tugendlehre); Hervorhebung im Original. Ausdruck nach Klug S. 39. 36 6:235,26–35 (Anh. z. Einl. in die Rechtslehre II). 37 Vgl. nur Achenwall Prolegomena 2. Aufl. § 129 (S. 121–122); ders., Iuris naturalis pars posterior 5. Aufl. § 40 (= 19:347,14–15). 34 35
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Anhang: Die »Verabschiedung« Kants durch Ulrich Klug im Jahre 1968
IV. Kant und Klug zum »Wiedervergeltungsrecht (ius talionis)« Von der »Vergeltung« als dem Sinn der Strafe, der Kant in die Schuhe geschoben wird, ist das »Wiedervergeltungsrecht (ius talionis)« als der Maßstab für die Art und die Höhe der Strafe zu unterscheiden, den Kant tatsächlich annimmt. 38 Diesen Gedanken, Gleiches sei mit Gleichem zu vergelten, kritisiert Klug als nächstes. 39 Da Klug bei seinen Darlegungen aber immer wieder auf den »Vergeltungsgedanken« zu sprechen kommt, den Kant nicht vertritt, werden die Argumente gegen das »Wiedervergeltungsrecht« als dem Maß der Strafe kaum deutlich. Das einzige, was Klug in diesem Punkt zu sagen weiß, ist, daß sich häufig nicht bestimmen lasse, was denn nun eine dem begangenen Verbrechen gleichartige Strafe sei. Es kann kein Zweifel sein, daß auch Kant mit diesem Problem kämpft, wie nicht zuletzt die Beispiele zeigen, die er in der »Allgemeinen Anmerkung E« bespricht. Wir brauchen also Klug nicht, um das Problem zu erkennen. Was Klug nicht sieht, ist, daß der von ihm so betonte Zweckgedanke überhaupt keine brauchbaren Maßstäbe für die Art und die Höhe der Strafe liefert. Aber Kant sieht das. Kant möchte vermeiden, daß die »Heilmittel« zur Bekämpfung der Verbrechen durch Bestrafung »aus der Erfahrung« genommen werden. 40 Denn da könnte sich schnell herausstellen, daß, sagen wir, die Zahl bestimmter Bagatelldelikte durch scharfe Strafen drastisch vermindert werden könnte (etwa: drei Jahre Freiheitsstrafe für kleine Ladendiebstähle). Hier greift das Wiedervergeltungsrecht ein, das die Höhe der Strafe beschränkt. Im übrigen beruht das Talionsprinzip auf dem Gedanken, daß die Strafen für schwere Straftaten größer sein müssen als die für vergleichsweise leichtere Straftaten; ein Mord muß schwerer bestraft werden als ein kleiner Ladendiebstahl. Klug verkennt das, wie er auch verkennt, daß Kant die Art und die Höhe der Strafe auch durch den Gesichtspunkt der Menschenwürde einschränken möchte, weshalb sich Kant gegen »die Menschheit selbst entehrende Strafen« wendet (»wie das Vierteilen, von Hunden zerreißen lassen, Nasen und Ohren abschneiden«). 41 38 39 40 41
6:332,11–334,19 (Allg. Anm. E). Klug S. 37. 6:363,3–4 (Anh. erl. Bemerkungen 5). 6:463,15–21 (§ 39 der Tugendlehre).
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Das Insel-Beispiel
Mit dem Wiedervergeltungsrecht sind wir bei der Todesstrafe für Mord angekommen, für die Kant bekanntlich eintritt. Es ist klar, daß Klug Kant auch deswegen kritisiert. 42 Aber auch hier kommt nichts anderes als das Argument fehlender Gleichartigkeit. Gemessen an Kants These, daß es »zwischen dem Tod und einem ›noch so kummervollen Leben‹ keine Gleichartigkeit« gebe, gebe es, so behauptet Klug, »zwischen einem Mord und dem Vollzug der Todesstrafe ebenfalls keine Gleichartigkeit.« Das aber ist alles andere als selbstverständlich. Im Gegenteil: Die Gleichartigkeit ist prima facie plausibel. Klug bleibt die Begründung für das angebliche Fehlen der Gleichartigkeit schuldig.
V. Das Insel-Beispiel Wir müssen noch auf das immer wieder und auch von Klug zitierte Insel-Beispiel zu sprechen kommen. Kant schreibt: »Selbst wenn sich die bürgerliche Gesellschaft mit aller Glieder Einstimmung auflöste (z. B. das eine Insel bewohnende Volk beschlösse, auseinander zu gehen und sich in alle Welt zu zerstreuen), müßte der letzte im Gefängnis befindliche Mörder vorher hingerichtet werden, damit jedermann das widerfahre, was seine Taten wert sind, und die Blutschuld nicht auf dem Volke hafte, das auf diese Bestrafung nicht gedrungen hat: weil es als Teilnehmer an dieser öffentlichen Verletzung der Gerechtigkeit betrachtet werden kann.« 43 Das Beispiel setzt voraus, daß auf der Insel ein von einem öffentlichen Gesetzgeber erlassenes Strafgesetz gilt, das (Kants Vorstellungen entsprechend) für Mord die Todesstrafe vorsieht. Anderenfalls wäre, wie wir oben (unter I.) gesehen haben, die Hinrichtung des Mörders keine Strafe. Ist aber der Täter dem Gesetze gemäß wegen Mordes verurteilt worden, dann lastet auf dem Insel-Volk eine »Blutschuld«. Das Wort »Blutschuld« gefällt uns nicht mehr, es gefällt auch Klug nicht, der die Blutschuld als »mystisch« bezeichnet, d. h. er gibt zu, nicht zu verstehen, was damit gemeint ist. Ein Blick in die einschlägige Literatur hätte da Aufschluß verschaffen können. »Blutschuld auf sich laden, wird«, so heißt es in einem Lexikon der Zeit,
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Klug S. 37 und S. 39. 6:333,17–25 (Allg. Anm. E); Klug S. 37.
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Anhang: Die »Verabschiedung« Kants durch Ulrich Klug im Jahre 1968
»von denjenigen gesagt, die eine[n] Verbrecher, welcher Todesstrafe verdient, dennoch von dieser Strafe befreyen.« 44 Das Insel-Volk oder, genauer, der dieses Volk repräsentierende Insel-Staat ist verpflichtet, den Verbrecher hinzurichten. 45 Warum? Das ergibt sich aus dem, was wir heute »Legalitätsprinzip« (§ 152 Abs. 2, § 160 StPO) nennen, oder, mit Kant: Das Strafgesetz ist ein kategorischer Imperativ (siehe oben II.). Deshalb lädt eine Blutschuld auf sich, wer es unterläßt, den verurteilten Mörder hinzurichten. Man kann die Unterlassung der Hinrichtung mit Kant auch als eine »öffentliche Verletzung der Gerechtigkeit« bezeichnen. Das Volk aber, das auf die »Bestrafung nicht gedrungen hat,« ist nach Kant »Teilnehmer« an dieser Verletzung. Deshalb lädt auch das Volk eine Blutschuld auf sich. An dieser Stelle rührt sich Klug noch einmal. Er meint, eine »Widersprüchlichkeit« entdecken zu können. Man braucht, so Klug, »nur zu fragen, auf wem eigentlich jene mystische ›Blutschuld‹ haften solle, wenn es doch gerade die Voraussetzung der Test-Überlegung von Kant war, daß kein Volk mehr existiere.« 46 Die Antwort, die Klug nicht findet, ist einfach. Die Blutschuld, die auf dem Volke haftet, haftet, wie es mit einer Kollektivschuld so geht, auch auf jedem einzelnen Glied des Volkes und damit, nach der Auflösung des Volkes, auf jedem einzelnen Glied des früheren Volkes.
VI. Kant und Klug zum Kategorischen Imperativ Klug zitiert auch eine »Kurzformel des kategorischen Imperativs«, die lautet: »Handle nach einer Maxime, welche zugleich als ein allgemeines Gesetz gelten kann!« 47 Er behauptet, daß der Kategorische Imperativ »eine Leerformel« sei, »aus der sich keine inhaltlichen Schlüsse ziehen lassen.« Die zitierte Formel lasse »die Inhaltlosigkeit
Vgl. Walch/Hennings Bd. I Sp. 454. Oder, für diejenigen, die sich gern melodramatisch ausdrücken: der Staat ist verpflichtet, das Blut des Mörders zu vergießen; daher der Ausdruck »Blutschuld«. 46 Klug S. 39–40. 47 Kant 6:225,6–8 (Einleitung in die MdS IV). Der Kategorische Imperativ ist von den kategorischen Imperativen zu unterscheiden, von denen auch in diesem Anhang die Rede ist (oben II.). Ich schreibe (einer neueren Übung entsprechend) den Kategorischen Imperativ mit einem großen K, um den Unterschied anzudeuten. 44 45
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Kant und Klug zum Kategorischen Imperativ
leicht erkennen, denn die Frage, welcher Art das allgemeine Gesetz sein soll, bleibt offen.« 48 Sehen wir uns dazu an, was Kant zu sagen hat. In unmittelbarem Anschluß an die zitierte »Kurzformel« gibt Kant Anweisungen, wie die Formel zu handhaben ist. 49 Wir müssen nach dem »subjektiven Grundsatz«, d. h. nach der »Maxime« suchen, die der Handlung zugrunde liegt, die wir jetzt gerade ins Auge fassen. Dann müssen wir fragen, ob wir vernünftigerweise haben wollen, daß sich diese Maxime »zu einer … allgemeinen Gesetzgebung qualifiziere«. Kann die Maxime zu einem Gesetz werden, das in jedem vergleichbaren Fall gilt? Können wir die Frage vernünftigerweise bejahen, dann ist die Handlung erlaubt. Können wir sie nicht bejahen, dann ist die Handlung verboten. Der Kategorische Imperativ ist zwar »formal«, aber deswegen ist die Formel noch keine »Leerformel«, »aus der sich keine inhaltlichen Schlüsse ziehen lassen«, wie Klug behauptet. Die Formel geht von der Maxime der Handlung aus, die ich in einer konkreten Situation jeweils ins Auge fasse, um sie vorzunehmen, welche Handlung auch immer das sein mag. Damit ist der Inhalt gegeben, und mit diesem Inhalt kann man arbeiten. Klug nimmt Kants Überlegungen, die, wohlgemerkt, unmittelbar im Anschluß an die zitierte »Kurzformel« zu finden sind, nicht zur Kenntnis. Vor allem nimmt er nicht zur Kenntnis, daß Kant unsere praktische Vernunft zum Urteil aufruft, um die Maxime der Handlung, die wir ins Auge fassen, einer Probe zu unterwerfen. Man kann die Frage stellen, ob der Kategorische Imperativ immer zu plausibelen Ergebnissen führt. Dazu gibt es zahlreiche Untersuchungen. Wir können die Frage hier nicht weiter verfolgen. Aber Klug interessiert sich dafür ohnehin nicht. Ihn interessiert allein, Kant zu »verabschieden«. Deshalb schreibt er, daß sich »der Vergeltungsgrundsatz« aus dem Kategorischen Imperativ nicht ableiten lasse. 50 Ich weiß nicht, wer das Gegenteil behauptet. Kant würde dem Satz jedenfalls zustimmen.
Klug S. 39 (wie auch sonst ohne Fundstellen-Nachweis). An derselben Stelle meint Klug auch, »der kategorische Imperativ könnte in einem Gangster-Kollektiv ebenfalls gelten.« Wenn man Klugs These über die Inhaltslosigkeit des Kategorischen Imperativs voraussetzt, dann bleibt dieser Satz unverständlich. 49 6:225,8–14 (Einl. in die MdS IV). 50 Klug S. 39. 48
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Anhang: Die »Verabschiedung« Kants durch Ulrich Klug im Jahre 1968
VII. Schlußbemerkung In den vorstehenden Abschnitten habe ich über den Aufsatz Klugs, soweit er Kant betrifft, ausführlich berichtet. Mehr finden wir in dem Aufsatz nicht. Das ist auch kein Zufall, denn auf den fünfeinhalb Seiten des Aufsatzes redet Klug nicht nur über Kants, sondern auch über Hegels Straftheorie. Klugs arroganter Umgang mit den KantTexten hat zu einem Pamphlet geführt, das hinter den Minimalanforderungen, die an eine wissenschaftliche Arbeit zu stellen sind, weit zurückbleibt. Das ist vor dem Hintergrund zu sehen, daß Klug auch wissenschafliche Leistungen erbracht hat, die den Namen verdienen. Ich erinnere nur an die Juristische Logik (1. Aufl. 1951) und an den Aufsatz »Zum Begriff der Gesetzeskonkurrenz« aus dem Jahre 1956, den ich in meinem Strafrecht nach logisch-analytischer Methode ausführlich referiere. 51 Stammen diese letzteren Arbeiten aus Klugs kritischer Periode, so gehört der Aufsatz von 1968 entschieden in seine nach-kritische Periode. 52
S. 387–396. Zu der erstmaligen Veröffentlichung dieses Anhangs hat Klaus Lüderssen im Strafverteidiger 2011 S. 377–380 Stellung genommen. Meine Antwort auf Lüderssen findet sich in meinem Beitrag »Die Interpretation von Kants Strafrechtsphilosophie – eine Wissenschaft oder eine Ideologie?«
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Kants Schriften, die in diesem Buch angesprochen werden
1) Von Kant selbst publizierte Arbeiten: Kritik der reinen Vernunft 1781, 2. Aufl. 1787 (kurz: KrV) »Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht« 1784 »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung« 1784 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten 1785 (kurz: Grundlegung) Kritik der praktischen Vernunft 1788 (kurz: KprV) »Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee« 1791 Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft 1793 (kurz: Religionsschrift) »Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis« 1793 (kurz: »Gemeinspruch«) Zum ewigen Frieden 1795 »Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie« 1796 Die Metaphysik der Sitten 1797 (kurz: MdS) darin enthalten: »Einleitung in die Metaphysik der Sitten« Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre (kurz: Rechtslehre) Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre (kurz: Tugendlehre), 2. Aufl. 1798 mit einem »Anhang erläuternder Bemerkungen zu den metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre« Der Streit der Fakultäten 1798 Anthropologie in pragmatischer Hinsicht 1798
2) Vorlesungsnachschriften [Die (teilweise tentative) Datierung nach den bei Oberhausen / Pozzo verzeichneten Vorlesungstiteln; s. auch oben das sechste Kapitel Abschn. III Fn. 68 und den Text dazu. – Die Bezeichnungen der Vorlesungen nach den überlieferten Namen der Mitschreiber oder anderer Bearbeiter.] Collegium Philosophiae practicae universalis una cum Ethica – wohl im Wintersemester 1776/77 (kurz: Kaehler) 1 1
Abgedruckt in: Immanuel Kant Vorlesung zur Moralphilosophie hg. von Werner
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Kants Schriften, die in diesem Buch behandelt werden Vorlesung über Practische Philosophie – wohl im Wintersemester 1778/79 (kurz: Powalski) 2 Vorlesung über philosophische Moral – wohl im Wintersemester 1782/83 (kurz: Mrongovius) 3 Vorlesung über Naturrecht (nach Achenwall) – im Sommersemester 1784 (kurz: Feyerabend) 4 Vorlesung über Anthropologie – im Wintersemester 1784/85 (kurz: Mrongovius Anthropologie) 5 Vorlesung über Moralphilosophie – im Wintersemester 1784/85 (kurz: Collins) 6 Vortrag über Metaphysic der Sitten – im Wintersemester 1793/94 (kurz: Vigilantius) 7
3) Reflexionen, Vorarbeiten und anderes Material aus Kants handschriftlichem Nachlaß u. a. Erläuterungen zu A. G. Baumgartens Initia Philosophiae Practicae Primae in 19:3–317 Erläuterungen zu G. Achenwalls Iuris Naturalis pars posterior in 19:321–613 Bemerkungen in den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen in 20:1–192. Der Text wird (in einer teilweise anderen Fassung) auch wiedergegeben in: Immanuel Kant »Bemerkungen« in den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, neu herausgegeben und kommentiert von Marie Rischmüller, 1991; Verweise auf dieses Werk hier unter dem Namen der Herausgeberin Vorarbeiten zur Rechtslehre (zum Privatrecht) in 23:271–336 Der Ehrenpunct in 23:363–370
Stark 2004 S. 1 ff. – Bei Oberhausen / Pozzo S. 395: »Philosophiam practicam universalem, una cum Ethica … secundum Baumgartenium«. 2 Abgedruckt in: 27:91 ff. – Bei Oberhausen / Pozzo S. 423: »Philosoph. pract. universalem … ad Baumgartenii compendium«. 3 Abgedruckt in: 27:1395 ff. – Bei Oberhausen / Pozzo S. 479: »Philosophiam moralem«. 4 Abgedruckt in: 27:1317 ff. – Bei Oberhausen / Pozzo S. 500: »Ius Naturae ad Achenwallium«. 5 Abgedruckt in: 25:1205 ff.- Bei Oberhausen / Pozzo S. 506: »Anthropologiam ad Baumgartenii Psychol. empir.« 6 Abgedruckt in: 27:237 ff. – Bei Oberhausen / Pozzo S. 506: »Philosophiam moralem ad Baumgartenium«. 7 Abgedruckt in: 27:477 ff. – Bei Oberhausen / Pozzo S. 609: »Metaphysicam morum, sive Philosophiam practicam universalem, una cum Ethica, ad compendia Baumgarteniana«.
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Personenregister
Achenwall 15, 20, 21, 39, 51, 53, 56, 58, 59, 64, 65, 66, 76, 79, 84, 92, 104, 110, 112–113, 119, 120, 121, 122, 124, 134, 137, 144, 151, 152, 154, 186, 188, 189, 196, 200, 207, 216, 227, 229 d’Alembert 28 Altenhain 89, 102 Amelung 127 Aretin 16, 29 Aristoteles 97, 163 Asbach 142 Bahr 218 Barbeyrac 196, 205–207, 208, 209, 210, 226 Bauer A. 16 Baumgarten 151, 152, 158, 159 Beccaria 191 Beck J. S. 109 Beck L. W. 182 Bentham 41, 42, 191–193 Böckenförde 17 Böhmer J. H. 226 Bohnert 112 Bouterwek 94 (Fn), 112 Brandt 172 Brocker 13 Byrd 5, 9, 11, 49, 57, 89, 102 Carmichael 163, 217, 224, 225, 227 Columbus 86 Daries 158, 159, 226 Diderot 28 Dietze 13
Djilas 24 Drescher 191 Eberl 130, 132 Engisch 160 Euklid 20 Eyck 38 Feuerbach 16, 89, 91, 93–96, 100– 102, 103, 105–106, 108–112, 236 Fichte 16 Fischer H. 15 Fleischer 215, 226 Fries 28 Georges 144 Gerhard E. 215, 226 Gesner 216, 228 Gibbon 218 Godfrey 217 Goethe 117 Goldmann 97 Gros 16, 28 Grotius 66, 137 Haas 93 Hamberger 15 Hamilton 203 Hegel 16 Heineccius 137, 211, 216, 218, 219, 222–223, 228 Hennings 58, 215, 242 Henri IV. 135, 150 Henrich 195 Heumann 76
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Personenregister Heyne 91, 144 Hobbes 18, 30, 31, 46, 93, 102, 133, 136–138, 192, 211–213, 214, 215, 216, 218, 222, 227, 236 Hoche 223 Hollmann 216, 226, 227 Hooker 214 Hutcheson 41, 191, 196, 207, 209, 210, 224, 225, 227 Janiçon 143, 145 Kann 97 Kaufmann M. 44, 49 Kemmerich 215 Kissel 28 Kleingeld 132, 134 Klug 92, 99, 102, 231–244 Koch Mikalsen 139, 140 Kochs 218 Köhler H. 226 Köhler M. 129 Kühn 165 Laktanz 205 Legutke 143 Leibniz 41, 191 Lehmann G. 165, 194, 196 Lenk 178 Leyser 51 Link 215 Linné 170 Locke 214 Lüderssen 244 Lühe 203 Luther 42 Mably 147 Maier H. 31 Mayer H. 232 Marezoll 16 Martini 158, 227 Meessen 11 Mellin 15 Menne 234 Merck 196, 207 Mertens 139, 140
Meusel 15 Meyer 143 Meyer-Goßner 123 Michael 142 (Fn) Mill 41 Ming Huei 181 Mittermaier 89 Mohl 16, 17 Mohr 93, 187, 232 Montesquieu 34, 119–122 Moser 147 Müller A. F. 188 Naucke 93, 103 Niesen 130, 132 Oberhausen 166 Olbrechts-Tyteca 97 Otto 217 Paulus 96 Perelman 97 Petersen 15, 16, 17 Phaedrus 43 Philippidis 218 Pielemeier 16, 110 Pinheiro Walla 11 Platner 174 Pozzo 166 Primavesi 97 Probst 182 Pufendorf 66, 104, 137, 151, 152, 163, 178, 186, 195, 196–200, 204, 205, 209, 210, 214, 217, 219, 220–221, 223, 224, 225, 227, 228 Reibstein 147, 148 Reid 179, 227 Reinhold 16 Reuss 218 Ripstein 90, 140 Rischmüller 194–203 Roff 11 Rotteck 16, 28–29 Rousseau 129, 131, 135, 136, 138, 142, 147, 148, 150 Rückert F. 44
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Personenregister Rückert J. 16 Rüping 215 Saint Pierre 129, 131, 133, 142, 148, 149 Schaffstein 91, 235 Schmauß 215 Schmidt-Aßmann 17 Schmitt C. 44, 46 Schneider H. P. Schneiders 214 Schnoor 194, 195 Schott 158 Schrey 212, 223 Schröder J. 16, 110 Schwarz 224, 227 Seckel 168 Seckendorf 217 Seelmann H. B. 51 Seelmann K. 42 Seneca 94, 97 Sharrock 214, 223, 224, 227 Singer 193 Smart 42 Smith A. 67 Stolleis 17 Streng 11 Sturm 222
Takahashi 217 Timmermann 230 Thomas 180, 182, 202 Thomasius 57, 58, 203, 211, 214–215, 219, 221–222, 223, 224, 226, 227, 228 Turnbull 179, 218, 227 Ulpian 82, 201, 203 Unruh, G.-Chr. 17 Unruh, P. 82, 86 de Vattel 137 Velthuysen 213, 214 Viehweg 97 Vorländer 94 Vormbaum 231 Wagenaar 150 Walch 58, 214, 215, 242 Welcker 16 Welzel 174 Wernher 205–207, 209, 210 Willoweit 16 Wolff 137, 151, 154, 179, 189, 215 Zedler 218 Ziegler 137, 147
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Sachregister
Abschreckung (durch Strafandrohung) 95, 109–110, 239 actio libera in causa 163–166 actio libera in se 163 adiaphoron 56, 57 Aufteilungsgebot 70–73, 85–86 außen s. innen Befehlshaber 90 (Fn), 112 Befugnis 51, 59 Beleidigung 101 (Fn) Besitz, intelligibeler (bloß rechtlicher) 25–26, 49 bloß erlaubt s. erlaubt Blutschuld 241–242 Brett des Karneades 109, 239 causa libera 153–157, 162 communio 66 (Fn) c. fundi originaria 66–67, 84 c. possessionis 66–68 c. primaeva 66, 69–70, 84 commutatio 30, 125 Delikte, öffentliche/private 124 Demokratie 35–38 Den Haag 141–146, 148, 150 Despotismus 34, 40–45 Diebstahl 125, 127, 194, 205, 207–210 Droit public de l’Europe 147–148 Duell 115–119 Ehre (Ehrgefühl) 116–118 Eigentum (Eigentümer) 25, 49, 57, 58, 75, 76 (Fn), 209–210 Entkriminalisierung 124–128
Erlaubnisgesetz(e) 46, 55–63, 71–76, 166–167 (Fn) erlaubt / bloß erlaubt 50–55 Ermächtigungsnorm 57–59, 63, 77 (Fn) Erwerbung (Erwerb) –, provisorische / peremtorische E. 88 –, ursprüngliche / abgeleitete E. 63– 64, 78, 81, 86–88 Europa 147–148 Europäisches Öffentliches Recht 147–148 Freiheit, äußere 19–22, 62, 63 Freiheit, innere 155–157, 173–174, 179–180 Frieden 46–47 Gefühl, moralisches 181–187 Gegenstand meiner Willkür, äußerer 25, 48 gemeines Wesen 126 Gemeinschaft des Bodens –, uranfängliche 66, 69–70 –, ursprüngliche 66–70, 77, 85–86 Gemeinplatz 97 Gerechtigkeit 201, 202 –, austeilende (distributive) 30, 32, 107, 237 –, beschützende 29–30 –, öffentliche (s. a. Justiz) 27–28, 31– 32 –, wechselseitig erwerbende 30–31, 32–33 Gericht (Gerichtshof) 32
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Sachregister Gesamtbesitz, ursprünglicher 65–70, 71 Geselligkeit s. Soziabilität Gesetzgebung, öffentliche 29–30, 117 Gewalt (potestas) 106 (Fn) Gewalt (vis/violentia) 20, 106 Gewalt, elterliche (väterliche) 57, 58 Gewaltenteilung 34–35, 90, 96, 120, 123 Gewissen 180–181, 184–187 Gleichberechtigung 23 Gleichheit 22–25, 35 –, wirtschaftliche 25, 76 Goldene Regel 197, 211–230 Funktion d. GR 219–223 Kritik a.d. GR 223–230 Name d. GR 217–219 Handlung/Tat (factum) 154, 155, 157–161, 189 (Fn) herrenlos 64 homo noumenon 170, 173, 188 homo phaenomenon 169, 172, 191– 193 imperans 113 Imperativ, moralischer (Kategorischer) 175–177, 179, 194–195, 242–243 Imperative, kategorische/hypothetische 103, 156, 175 (Fn), 236 imputatio facti/legis 151–152, 157– 161, 162, 166–168 innen (im Gs. zu außen) 19, 26–27, 61, 190 (Fn) Insel-Beispiel 104, 241–242 ius talionis 240–241 Jury-System 120–123 Justiz 28–29, 237–238 keine Strafe ohne Gesetz s. nulla poena sine lege Kindstötung 111–119 Krieg 46–47 Kugelfläche der Erde 67, 74, 77
ledig 64 (Fn) Legalitätsprinzip 35, 100–104, 111– 112, 123–124 lex iuridica 160 lex iusti 98–99, 160–161 lex permissiva 56, 59 Logik, deontische 50–55 Logik, zweiwertige 177, 178 Lüge 21–22, 167 Macht (s. a. Rechtsmacht) 75, 137 Markt 30–31, 33, 125–128 Mein und Dein, äußeres/inneres 19– 20, 25–27, 61, 77 Meinungs(äußerungs)freiheit 21–22 Meinung, öffentliche 117–119 moralisch (i. Ggs. zu physisch) 98, 174 (Fn) Naturrecht/Völkerrecht 136–139 Naturzustand (natürlicher Zustand) 15, 46–47, 78, 132, 133, 136, 138– 139 neminem laede 61, 85 ne peccetur 94, 96–99 Nötigung (Zwang) 20, 83–85, 135– 139 nulla poena sine lege 35, 90–96, 105, 111 Obereigentum/Obereigentümer 76 (Fn) Partikularisierung des Bodens 71 peremtorisch s. provisorisch Person 169–170, 184–188 Pflicht, Rechts-P./ethische P. 152–153 Platz auf der Erde 69 Polizei 31 possessio (Besitz) s. sedes Postulat des öffentlichen Rechts 44– 45, 107–108, 139, 149 Postulat des § 2 48 Preis 169, 170, 190 (Fn), 191–192, 238 principium honesti, decori, justi 214– 215
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Sachregister Prinzip 70 Prinzip des Rechts, allgemeines 62 prior tempore potior iure 73 Privateigentum 76 (Fn) Privatrecht 28 (Fn), 75, 138 Privilegierungstatbestände 115–119 provisorisch/peremtorisch 18, 45, 88, 107 Prozeß Jesu 42 quia peccatum est 94, 95, 96–99 Recht, disjunktiv-allgemeines 68–69, 74 Recht, inneres 20, 61, 69 Recht, öffentliches 28 (Fn), 148–149 Recht, positives 149 Rechtslehre, empirische 43 Rechtsmacht 59 Rechtspflicht 152, 153, 156 Rechtspositivismus (Rechtspositivist) 29, 42–44, 99, 192 (Fn) Rechtsstaat 13–47, 90–96, 100–106, 106–112, 115–128, 232–238 Begriff d. R. 17–19 Geschichte des Wortes »R.« 14–17 res 62 (Fn) res nullius/res vacua 64 (Fn) res merae facultatis 56 Sache 62 (Fn) –, ledige 64 (Fn) Recht in einer Sache 68 (Fn) Schwurgerichte 119–124 Sechseck, deontologisches 50–54 sedes (Sitz) 68 Selbständigkeit 36 Selbstbestimmungsrecht 21, 35 Selbstwiderspruch 196–198, 200, 204, 205, 207–210 Sheriff-Beispiel 41–42 Sicherheit des Mein und Dein 18, 82 Solipsismus, moralischer 202 Soziabilität 197–200 species facti 158–159 Staat 15 (Fn), 137 S. in der Idee 36, 120–121
Staatenkongreß, permanenter 140– 146, 148–150 Staatenverein, allgemeiner 45, 133 Staatsbürger (aktiver/passiver) 35– 36 Standpunkt, moralischer 199, 202 status iuridicus 15 Strafandrohung 94–95 Strafe Rechtsgrund d. S. 92–95 –, richterliche 90–93 Strafgerechtigkeit / -klugheit 97 Strafgerechtigkeit (Strafjustiz) 106, 112–114 Strafgesetz 92–93, 101, 103, 235–237 Strafrecht 106 Strafzufügung 94 Subsumtion 33, 99, 152, 158, 167– 168 sui iuris 21 suum cuique tribue 82 Tat (factum) s. Handlung Todesstrafe 116–118, 241 Topik d. Rechtsbegriffe 97–99 ultra posse nemo obligatur 161–166 Universalmonarchie 131 Unschuldsvermutung 104–106, 111– 112 Urheber 152, 153–157 ursprünglich (Ggsatz: abgeleitet) 63– 64 ursprünglich (Ggsatz: zufällig) 65 Utilitarismus 41–42, 103, 191–193 Verallgemeinerung, Prinzip d. 205– 207 Verbrechen 92 Verbürgung, persönliche 81–82 Verdienst/Verschuldung 152, 166 Verfassung 118 Vergeltung 93 (Fn), 232–235, 238– 241 Vergleichungsbegriffe (s. a. innen) 19 Vermögen, moralisches (juristisches) 58–59
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Sachregister Vermutung der Bosheit 80, 83 Vernunft, praktische 171, 173 (Fn), 176–177, 179 Vertrag, ursprünglicher 87–88 volenti non fit iniuria 121, 122 Volk/Staat 45, 74 Völkerbund/Völkerstaat 45, 129–139, 140–141 Völkerrecht 44–46, 129–139 Völkerrecht, europäisches 147–148 Völkerstaatsrecht 44–46, 134 voluntas communis 194–195, 200– 205, 208 Vorgriff auf den rechtlichen Zustand 78–83 »weil er verbrochen hat« 90–93, 96– 99, 232–235
Weltbürgerrecht 44–46 Wille, a priori vereinigter 70–72, 84– 86 Wille/Willkür 71, 176 (Fn) Wohlfahrtsstaat 39–41 Würde (s. a. Preis) 169–170, 188–193 Zeugung 190–191 Zirkel, hermeneutischer 159–160 Zurechnung 151–168, 189–190 Ausschluß d. Z. 161–166 Stufen d. Z. 157 zufällig 65 Zusicherung(svertrag) 79–81 Zustand, rechtlicher 15, 17–19, 31– 32, 44–46, 76–83, 93 Zwang s. Nötigung
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