Justiz-Strafrecht und polizeiliche Verbrechensbekämpfung im Dritten Reich [Reprint 2012 ed.] 9783110891881, 9783110119640


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German Pages 827 [828] Year 1989

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Table of contents :
Einleitung
Erster Teil: Einführung
A. Deutungsmuster zum Justiz-Strafrecht 1933 bis 1945
B. Die Ansätze zur Würdigung des Verhältnisses von Justiz-Strafrecht und polizeilicher Verbrechensbekämpfung
C. Zwischenbilanz
D. Weiteres Vorgehen
Zweiter Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht
A. Die erste Phase: 1933 bis 1935
B. Die Zwischenphase: 1936 bis 1938
C. Die zweite Phase: 1939 bis 1945
Dritter Teil: Polizeiliche Verbrechensbekämpfung
A. Die ausführenden Organe der polizeilichen Maßnahmen
B. Die vorbeugende Bekämpfung nicht-politischer Verbrechen
C. Die vorbeugende Bekämpfung politischer Verbrechen
D. “Todesurteile” außerhalb der Justiz: die Exekutionen
E. Polizeiliche Strafmaßnahmen gegen ausländische Zivilarbeiter, insbesondere: Die polizeilichen “Fremdvolk”-Strafrechte
Vierter Teil: Zur Zukunft von Justiz-Strafrecht und polizeilicher Verbrechensbekämpfung. Die Entwürfe zum Gemeinschaftsfremdengesetz 1940 bis 1944 und der Entwurf eines Reichsstrafgesetzbuchs 1944
A. Die Entwürfe zum Gemeinschaftsfremdengesetz
B. Die Einarbeitung des Entwurfs eines Gemeinschaftsfremdengesetzes 1944 in den Allgemeinen Teil des Strafrechts durch den Entwurf eines Reichsstrafgesetzbuchs 1944
Fünfter Teil: Ergebnisse. Nationalsozialistisches Verbrechensbekämpfungsrecht: Justiz-Strafrecht, Polizei-Strafrecht, polizeiliches Vorbeugungsrecht
A. Das Grundverhältnis von Justiz-Strafrecht und polizeilicher Verbrechensbekämpfung
B. Justiz-Strafrecht
C. Polizei-Strafrecht
D. Polizeiliches Vorbeugungsrecht
E. Strafrecht und Vorbeugungsrecht - Justiz und Polizei
Ausblick
Literaturverzeichnis
Register
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Justiz-Strafrecht und polizeiliche Verbrechensbekämpfung im Dritten Reich [Reprint 2012 ed.]
 9783110891881, 9783110119640

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Gerhard Werle Justiz-Strafrecht und polizeiliche Verbrechensbekämpfung im Dritten Reich

Gerhard Werle

Justiz-Strafrecht und polizeiliche Verbrechensbekämpfung im Dritten Reich

w DE

G

1989

Walter de Gruyter · Berlin · New York

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek

Werle, Gerhard: Justiz-Strafrecht und polizeiliche Verbrechensbekämpfung im Dritten Reich / Gerhard Werle. - Berlin ; New York : de Gruyter, 1989 ISBN 3-11-011964-1 ©

Gedruckt auf säurefreiem Papier

© Copyright 1989 by Walter de Gruyter & Co., 1000 Berlin 30. Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Ubersetzung vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Printed in Germany Druck: Kupijai & Prochnow GmbH, 1000 Berlin 61 Buchbinderei: Lüderitz & Bauer, Buchgewerbe GmbH, 1000 Berlin 61

VORWORT Die Untersuchung hat zum Ende des Wintersemesters 1987/88 und im Sommersemester 1988 der Juristischen Fakultät der Universität Heidelberg als Habilitationsschrift vorgelegen. Das Manuskript wurde im Januar 1988 abgeschlossen. Aus der seither erschienenen Literatur, die nicht mehr berücksichtigt werden konnte, ist das Werk des Historikers und Politologen Lothar Gruchmann, "Justiz im Dritten Reich 1933 - 1940", hervorzuheben. Mein besonderer Dank gilt Herrn Prof. Dr. Lackner, meinem akademischen Lehrer, und Herrn Prof. Dr. Küper für ihre eingehende Auseinandersetzung mit der Arbeit. Für begleitende Gespräche bin ich Herrn Prof. Dr. Naucke sowie meinen Kollegen Dr. Dr. Christensen, Dr. Hettinger und Dr. Müller-Christmann sehr verbunden; Herrn Prof. Dr. Naucke verdanke ich besonders wichtige Anregungen. Die Reinschrift des Manuskripts hat Frau Rosa-Maria Metzger mit großer Genauigkeit besorgt. Bei der Bewältigung technischer Aufgaben im Rahmen der Publikation der Arbeit haben mich Frau Christine Baumdick, Frau Madeleine Detzner, Frau Brigitte Seib und Frau Barbara Storch sowie die Herren Dr. Ulrich Höpfner, Georg Bernsau, Frank Haarer, Ulrich Krähe, Ralf Schreppel und Wilfried Weisbrod unterstützt. Die Mitarbeiter der Universitätsbibliothek Heidelberg und des Bundesarchivs Koblenz waren mir bei der Beschaffung von Literatur und Quellenmaterial behilflich. Allen Genannten danke ich sehr. Während der vier Jahre, in denen diese Arbeit entstanden ist, hat mich meine Frau Stefani mit ihrer Heiterkeit und ihrer Geduld begleitet. Ihr möchte ich auch an dieser Stelle von Herzen danken. Schriesheim, im April 1989

Gerhard Werle

INHALTSÜBERSICHT Einleitung

1

Erster Teil: Einführung

5

A. Deutungsmuster zum Justiz-Strafrecht 1933 bis 1945

5

B.

Die Ansätze zur Würdigung des Verhältnisses von Justiz-Strafrecht und polizeilicher Verbrechensbekämpfung

48

C. Zwischenbilanz

52

D. Weiteres Vorgehen

54

Zweiter Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Straf recht

57

A. Die erste Phase: 1933 bis 1935

58

B.

Die Zwischenphase: 1936 bis 1938

193

C. Die zweite Phase: 1939 bis 1945

202

Dritter Teil: Polizeiliche Verbrechensbekämpfang

481

A. Die ausführenden Organe der polizeilichen Maßnahmen

483

B.

488

Die vorbeugende Bekämpfung nicht-politischer Verbrechen

C. Die vorbeugende Bekämpfung politischer Verbrechen

532

D. "Todesurteile" außerhalb der Justiz: die Exekutionen

577

E.

Polizeiliche Strafmaßnahmen gegen ausländische Zivilarbeiter, insbesondere: Die polizeilichen "Fremdvolk"-Strafrechte

603

Vierter Teil: Zur Zukunft von Justiz-Strafrecht und polizeilicher Verbrechensbekämpfung. Die Entwürfe zum Gemeinschaftsfremdengesetz 1940 bis 1944 und der Entwurf eines Reichsstrafgesetzbuchs 1944

619

A. Die Entwürfe zum Gemeinschaftsfremdengesetz

621

B.

Die Einarbeitung des Entwurfs eines Gemeinschaftsfremdengesetzes 1944 in den Allgemeinen Teil des Strafrechts durch den Entwurf eines Reichsstrafgesetzbuchs 1944

661

Fünfter Teil: Ergebnisse. Nationalsozialistisches Verbrechensbekämpfungsrecht: Justiz-Strafrecht, Polizei-Strafrecht, polizeiliches Vorbeugungsrecht

681

A. Das Grundverhältnis von Justiz-Strafrecht und polizeilicher Verbrechensbekämpfung

681

VIII

Inhaltsübersicht

Β.

Justiz-Strafrecht

690

C.

Polizei-Strafrecht

724

D.

Polizeiliches Vorbeugungsrecht

726

E.

Strafrecht und Vorbeugungsrecht - Justiz und Polizei

730

Ausblick

733

Literaturverzeichnis

737

Register

766

INHALTSVERZEICHNIS Abkürzungsverzeichnis Einleitung

1

Erster Teil: Einführung

5

A.

Deutungsmuster zum Justiz-Strafrecht 1933 bis 1945

5

I.

Die Unterscheidung von nicht-nationalsozialistischem Strafrecht und nationalsozialistischem Straf(un)recht

5

1. Die "Perversion" des Strafrechts als übergreifender Gesichtspunkt

5

2.

Das Naturrecht als Maßstab

7

a) Gustav Radbruch: Übergesetzliches Recht und gesetzliches Unrecht b) Die strafrechtspraktische Bedeutung des naturrechtlichen Maßstabs: Der "Kernbereich des Rechts" in der Nachkriegsrechtsprechung

7 10

c)

14

3.

Zusammenfassung und Kritik

Das rechtsstaatliche Strafrecht als Maßstab

16

a) Materielles Strafrecht

16

b) Anwendung auf das Strafverfahrensrecht c) Weitere Anwendungsmöglichkeiten d) Praktische Bedeutung des Maßstabs: Rechtsbereinigung nach 1945 e) Zusammenfassung und Kritik 4. Die nationalsozialistische Weltanschauung als Maßstab a) (Straf-)Recht und Ideologie - zwei Welten b) Ideologisierte und neutrale Zonen des Strafrechts II.

B. I.

18 24 25 27 30 30 33

Das Strafrecht 1933 bis 1945 als Einheit

36

1. Die "politische Gleichstimmigkeit" des Strafrechts 1933 bis 1945 (Naucke)

36

2.

Strafrecht als Verwirklichung "nationalsozialistischer Weltanschauung"

40

a) Das Strafrecht "im Bann der neuen Ideologie" (Rüping) b) Was ist "nationalsozialistische Weltanschauung"?

41 45

Die Ansätze zur Würdigung des Verhältnisses von Justiz-Strafrecht und polizeilicher Verbrechensbekämpfung

48

Die polizeilichen Maßnahmen als rechtswidrige Einbrüche in den Bereich der Justiz

49

χ II.

Inhaltsverzeichnis

Die polizeilichen Maßnahmen als Ausfluß eines polizeilichen Verbrechensbekämpfungsrechts

51

III. Zusammenfassung

52

C.

Zwischenbilanz

52

D.

Weiteres Vorgehen

54

Zweiter Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

57

A.

Die erste Phase: 1933 bis 1935

58

I.

Zur formellen Seite der Gesetzgebung

59

1. Die Notverordnungen (Art. 48 II WRV)

59

2.

Die Reichsregierungsgesetze

59

3.

Das Reichstagsgesetz

63

II.

Die einzelnen Gesetze und Verordnungen

[Nr. 1] Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze des deutschen Volkes vom 4. Februar 1933 [Nr. 2] Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat vom 28. Februar 1933 [Nr. 3] Verordnung des Reichspräsidenten gegen Verrat am deutschen Volke und hochverräterische Umtriebe vom 28. Februar 1933 [Nr. 4] Verordnung des Reichspräsidenten zur Abwehr heimtückischer Angriffe gegen die Regierung der nationalen Erhebung vom 21. März 1933 [Nr. 5] Gesetz über die Verhängung und den Vollzug der Todesstrafe vom 29. März 1933 [Nr. 6] Gesetz zur Abwehr politischer Gewalttaten vom 4. April 1933 [Nr. 7] Gesetz zum Schutze der nationalen Symbole vom 19. Mai 1933 [Nr. 8] Gesetz zur Abänderung strafrechtlicher Vorschriften vom 26. Mai 1933 [Nr. 9] Gesetz gegen Verrat der Deutschen Volkswirtschaft vom 12. Juni 1933 [Nr. 10] Gesetz gegen die Neubildung von Parteien vom 14. Juli 1933 [Nr. 11] Gesetz zur Gewährleistung des Rechtsfriedens vom 13. Oktober 1933 [Nr. 12] Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung vom 24. November 1933

64 64 65 69 71 73 75 76 77 82 83 84 86

1. Grundlagen

86

2.

Die Strafschärfung für gefährliche Gewohnheitsverbrecher (§ 20a)

87

a) Zur Systematik b) Objektive Voraussetzungen

88 88

Inhaltsverzeichnis

aa) § 20a 1 bb) § 20a Π cc) Die Rückfallverjährung c) Der gefährliche Gewohnheitsverbrecher aa) Der Gewohnheitsverbrecher bb) Die Gefährlichkeit cc) Die Gesamtwürdigung der Taten d) Täterpersönlichkeit, Schuld und Strafe 3. Die Sicherungsverwahrung (§ 42e) 4. Die Maßregeln der Sicherung und Besserung im übrigen (§§ 42a ff.)

XI

88 88 90 90 90 91 92 92 95 97

a) Heil- oder Pflegeanstalt (§ 42b)

98

b) Trinkerheil- oder Entziehungsanstalt (§ 42c) c) Arbeitshaus (§ 42d) d) Allgemeine Grundsätze für die freiheitsentziehenden Maßregeln (§§ 42f - 42i) e) Die Entmannung gefährlicher Sittlichkeitsverbrecher (§ 42k) f) Sonstige Regelungen

98 98

5. Die neu eingefügten Vorschriften im übrigen a) Die (verminderte) Zurechnungsfähigkeit (§ 51) b) Volltrunkenheit (§ 330a) c) Der Besitz von Diebeswerkzeug (§ 245a) 6. Schlußbetrachtung

100 100 102 102 103 105 105 107

[Nr. 13] Gesetz zur Änderung von Vorschriften des Strafrechts und des Strafverfahrens vom 24. April 1934 (Verratsnovelle) 1. Einführung

2.

3.

108 108

a) Die Ziele der Novelle

108

b) Die Bewertung im Nachkriegsschrifttum

110

Hochverrat

112

a)

112

Die einzelnen Regelungen (§§ 80 bis 87)

b) Die Vorbereitung zum Hochverrat (§ 83) aa) Überblick bb) Die Grundtatbestände, insbesondere die Generalklausel des § 83 II in der Praxis des Volksgerichtshofs cc) Die Erschwerungsgründe (§ 83 III) in der Praxis des Volksgerichtshofs

113 113

Landesverrat

119

114 117

ΧΠ

Inhaltsverzeichnis

4.

a) Die einzelnen Regelungen (§§ 80 bis 93a)

119

b) Die Feindbegünstigung (§ 91b) in der Praxis des Volksgerichtshofs

124

Geltungsbereich (Art. II)

126

5. Zur "Kontinuität" des Staatsschutzstrafrechts

6.

126

a) Normtext und Rechtsnorm, insbesondere am Beispiel der "Verfassung" b) Die Einheit von materiellem und formellem Strafrecht

127 131

c) Ergebnis

133

Zusammenfassung

134

[Nr. 14] Gesetz über Maßnahmen der Staatsnotwehr vom 3. Juli 1934 135 [Nr. 15] Gesetz gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei und zum Schutz der Parteiuniformen vom 20. Dezember 1934 137 [Nr. 16] Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuchs vom 28. Juni 1935 (Analogienovelle) und Gesetz zur Änderung von Vorschriften des Strafverfahrens und des Gerichtsverfassungsgesetzes vom 28. Juni 1935 141 1. Übersicht und Einführung in den Grundlagenteil der Novellen

141

2. Die Grundlagendiskussion im (straf-)rechtswissenschaftlichen Schrifttum 1933 bis 1935: Recht, Gesetz, Richter und politische Führung

144

a) Die Rechtsquellenlehre: Recht und Gesetz b) Der materielle Verbrechensbegriff: Verbrechen als Verstoß gegen die völkische Sittenordnung c) Der Führer als Rechtsquelle d) Strafrichter und Gesetz am Beispiel der Arbeiten Henkels (1934), insbesondere die Kritik des Nulla-poena-sine-lege-Satzes e) Die Auslegung nach "nationalsozialistischer Weltanschauung" und Führerwille 3.

4. 5.

Straf-Recht, Straf-Gesetz und Strafrichter, insbesondere "nulla poena sine lege", in den Reformarbeiten bis 1935

144 145 146 147 150 151

a) Die Denkschrift des preußischen Justizministers Hanns Kerrl (1933) b) Die Auffassung der amtlichen Strafrechtskommission (1. Lesung 1933/34) c) Die Denkschrift des Zentralausschusses der Akademie für Deutsches Recht (1934) d) Der Vorschlag Freislers ( 1935) e) Die Auffassung der amtlichen Strafrechtskommission (2. Lesung 1935)

152

155 156 159

Die Rechtsschöpfung durch entsprechende Anwendung der Strafgesetze (§ 2 RStGB n.F, §§ 170a, 267a RStPO n.F.)

160

Die Auslegung (§ 2 RStGB n.F., Art.2 Verfahrensnovelle)

165

153

Inhaltsverzeichnis

6. Die Rückwirkung (§ 2a RStGB n.F.) 7.

XIII

167

Verhütung ungerechter Freisprechungen durch Zulassung der Wahlfeststellung (§§ 2d RStGB n.F., 267b RStPO n.F.)

167

8.

Die neuen Strafvorschriften im übrigen

168

9.

Die Rechtsschöpfung durch entsprechende Gesetzesanwendung in der Rechtsprechung des Reichsgerichts a) Der Anwendungsbereich b) Die Strafwürdigkeit nach gesundem Volksempfinden und der gesetzliche Grundgedanke c) Hinweise zur Kasuistik 10. Schlußbetrachtung

169 169 171 175 176

[Nr. 17] Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre vom 15. September 1935 (Blutschutzgesetz)

179

1. Einführung

179

2.

Der Begriff "Jude"

181

3.

Das Eheverbot

183

4.

Der "rassenschänderische" außereheliche Verkehr

184

5.

Die weiteren Strafvorschriften (§§ 3, 4)

189

6.

Verfahrensbestimmungen

190

7.

Die "Angriffe auf die Rasse" im E 1936

190

[Nr. 18] Gesetz zum Schutz der Erbgesundheit des deutschen Volkes vom 18. Oktober 1935 (Ehegesundheitsgesetz)

191

B.

Die Zwischenphase: 1936 bis 1938.

193

I.

Zur formellen Seite der Gesetzgebung

193

II.

Die einzelnen Gesetze und Verordnungen

194

[Nr. 19] Gesetz gegen erpresserischen Kindesraub vom 22. Juni 1936

194

[Nr. 20] [Nr. 21] [Nr. 22]

195 197

Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuchs vom 2. Juli 1936 Gesetz gegen Wirtschaftssabotage vom 1. Dezember 1936 Die Gesetzgebung 1937,1937 insbesondere das Gesetz gegen die Schwarzsender vomdes 24.Jahres November

[Nr. 23] Verordnung gegen die Unterstützung der Tarnung jüdischer Gewerbebetriebe vom 22. April 1938 [Nr. 24] Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden vom 26. Aprü 1938 [Nr. 25] Gesetz gegen Straßenraub mittels Autofallen vom 28. Juni 1938

198 199 200 200

XIV

Inhaltsverzeichnis

C.

Die zweite Phase: 1939 bis 1945

202

I.

Zur formellen Seite der Gesetzgebung

203

1. Der Ministerrat für die Reichsverteidigung

204

2.

Das "Dreierkollegium"

205

3.

Direkte Führergesetzgebung

207

4.

Zuständigkeiten durch besondere Führervollmachten (ab 1942), insbesondere für den Reichsjustizminister

207

Zuständigkeiten kraft Sub-Delegation

209

Die einzelnen Verordnungen und Gesetze

210

5. II.

[Nr. 26] Verordnung über das Sonderstrafrecht im Kriege und bei besonderem Einsatz (Kriegssonderstrafrechtsverordnung) vom 17. August 1938 / 26. August 1939...

210

1. Die Wehrkraftzersetzung (§ 5)

210

2.

Strafvorschrift und Zuständigkeit

212

3.

Erste Ergänzungsverordnung vom 1. November 1939

213

[Nr. 27] Verordnung über außerordentliche Rundfunkmaßnahmen vom 1. September 1939

214

1. Der Zweck der Verordnung

214

2.

Die Strafvorschriften

216

a) Das Abhören ausländischer Sender (§ 1)

216

b) Das Verbreiten von Nachrichten ausländischer Sender (§ 2)

217

3. Die Zuständigkeit der Sondergerichte (§ 4)

219

4. Die Einschaltung der Geheimen Staatspolizei (§5)

219

[Nr. 28] Kriegswirtschaftsverordnung vom 4 September 1939

220

1. Einführung

220

2.

222

Die Voraussetzungen des § 11 a) Die Tatobjekte

b) Die Tathandlungen c) Die Bedarfsgefährdung d) Die subjektive Tatseite, insbesondere die "Böswilligkeit" e) Strafzumessung, Verhältnis zu anderen Strafgesetzen f) 3. GesetzZuständigkeit und Richter [Nr. 29] Verordnung gegen Volksschädlinge vom 5. September 1939 1. Einführung

223 223 224 227 231 232 232 233 233

Inhaltsverzeichnis

XV

2.

Die Zwecke der Verordnung

234

3.

Die Deliktssystematik

237

4.

Das "Verbrechen bei Fliegergefahr" (§ 2)

242

a) Die Anknüpfungstat

242

b) Die Ausnutzung der Fliegerabwehrmaßnahmen

243

5. Das Tätertypenerfordernis als ungeschriebene Voraussetzung des § 2

6.

7.

8.

a) Die Judikatur des Reichsgerichts

245

b) Deutungen der Rechtsprechung zum Tätertyp aa) "Vikariieren" von Tat- und Täterelementen (Gallas, Schaffstein) bb) Die Verschmelzung von Tatbestand und Strafzumessung in der Strafwürdigkeit (Zawar)

249 249 250

c)

252

Die Ablehnung des Tätertypenerfordernisses

Die "Ausnutzung des Kriegszustandes als Strafschärfung" (§ 4)

253

a) Die "sonstige Straftat" b) Die "Ausnutzung der durch den Kriegszustand geschaffenen außergewöhnlichen Verhältnisse"

253 254

c)

Die "Überschreitung des regelmäßigen Strafrahmens"

256

d) Die Verwerflichkeitsklausel und das Tätertypenerfordernis

258

Die "Plünderung im freigemachten Gebiet" (§ 1)

259

a) Die praktische Bedeutung der Vorschrift b) Tatbestandsfragen

259 260

c)

261

Tätertyp und Tatbestand

Strafzumessung

264

a) Grundsätze b) Die "besondere Problematik" sehr langer Freiheitsstrafen: "Ausmerzung"

264

statt "Konservierung" 9.

244

Verfahren

10. Schlußbetrachtung: Gesetz und Richter [Nr. 30] Gesetz zur Änderung von Vorschriften des allgemeinen Strafverfahrens, des Wehrmachtstrafverfahrens und des Strafgesetzbuchs vom 16. September 1939

266 268 269

272

[Nr. 31] Verordnung zum Schutz gegen jugendliche Schwerverbrecher vom 4. Oktober 1933

273

1. Einführung

273

2.

273

Schutzstrafe

XVI

Inhaltsverzeichnis

3.

Die Zielgruppe: Der "jugendliche Schwerverbrecher"

274

4.

Die Voraussetzungen der Erwachsenenstrafe für Jugendliche

276

a) Die Neuregelung als Ausdruck des Vorrangs "materieller Gerechtigkeit"....

276

b) c) d) e)

276 276 277 278

Die "Begehung einer Straftat" (§ 11) Die Frühreife (§ 1 II) Das erhöhte Strafbedürfnis (§ 1 II) Die Beschränkung auf "jugendliche Schwerverbrecher"

5.

Die prozessuale Anwendbarkeitsvoraussetzung

279

6.

Gesetz und Richter

280

[Nr. 32] Verordnung zur Ergänzung der Strafvorschriften zum Schutz der Wehrkraft des Deutschen Volkes vom 25. November 1939 280 [Nr. 33] Verordnung gegen Gewaltverbrecher vom 5. Dezember 1939 284 1. Einführung

284

2.

Die Zwecke der Gewaltverbrecherverordnung

285

a)

285

Generalprävention

b) Sühne c) Die "Gewaltverbrecher" als Zielgruppe - "Reinigung" und "Ausmerzung".... d) Dauerrecht oder Kriegsrecht? 3. Die Voraussetzungen des § 1 1

286 286 287 287

a) Die "schwere Gewalttat" b) Die Modalitäten der Tatausführung aa) Der "Waffen'-Begriff bb) Die "gleich gefährlichen Mittel" cc) Die "Anwendungs"-Alternative dd) Die "Bedrohungs"-Alternative c) Das Tätertypenerfordernis aa) Die Rechtsprechung des Reichsgerichts bb) Stellungnahme des Schrifttums d) Tat, Täter und Todesstrafe

288 290 290 291 294 294 295 296 297 298

4.

Die Voraussetzungen des § 1 II

299

5.

Die Strafschärfung für Versuch und Beihilfe

300

6.

Verfahren

301

7.

Gesetz und Richter

302

[Nr. 34] Verordnung zum Schutze des Reichsarbeitsdienstes vom 12. März 1940

302

Inhaltsverzeichnis

XVII

[Nr. 35] Verordnung zum Schutz der Metallsammlung des Deutschen Volkes vom 29. März 1940 [Nr. 36] Verordnung zur Änderung der Strafvorschriften über fahrlässige Tötung, Körperverletzung und Flucht bei Verkehrsunfällen vom 2. April 1940

305

[Nr. 37] Verordnung über den Geltungsbereich des Strafrechts vom 6. Mai 1940

308

304

1. Einführung

308

2.

Der Personalgrundsatz (§ 3 RStGB n.F.)

309

3.

Die Regelungen im übrigen

311

4.

Schlußbemerkung

312

[Nr. 38] Verordnung über die Vollstreckung von Freiheitsstrafen wegen einer während des Krieges begangenen Tat vom 11. Juni 1940 [Nr. 39] Gesetz zur Änderung des Reichsstrafgesetzbuchs vom 4. September 1941 1. Einführung 2.

Die Todesstrafe für gefährliche Gewohnheitsverbrecher und Sittlichkeitsverbrecher (§ 1)

313 314 314 315

a) Deutungsmöglichkeiten zum Verhältnis von Schutz und Sühne b) Schutz und Sühne in der Rechtsprechung des Reichsgerichts aa) Die "Vereinigungsformer: Das Sittlichkeits- und Gerechtigkeitsempfinden der volkstumsbewußten Volksgemeinschaft bb) Der "Wert oder Unwert der Täterpersönlichkeit" als Maßstab cc) Die Gleichrichtung von Schutz und Sühne c) Schutz und Sühne (§ 1) in den Richterbriefen d) Die Tätertypenfrage e) Zusammenfassung und Schlußbetrachtung

320 322 324 329 330 332

Mord und Totschlag (§§ 211,212 RStGB n.F.)

334

a) Einführung b) Entstehungsgeschichte und Sinn des § 211 : Der "Mord" und der "Mörder".. aa) Die Beratungen der amtlichen Strafrechtskommission 1934 /1935 bb) Der E 1936 (§ 405) cc) Das Änderungsgesetz 1941 c) Die Rechtsprechung des Reichsgerichts zum neuen Mordtatbestand d) Zusammenfassung und Schlußbetrachtung

334 338 338 339 341 343 345

4.

Die Strafvorschriften im übrigen

346

5.

Verfahren

347

a) Die Entlassungszuständigkeit bei freiheitsentziehenden Maßregeln (§ 8).... b) Die Verwaltung der Rückwirkung

347 348

3.

316 320

XVIII

Inhaltsverzeichnis

6.

Die Delegationen

349

7.

Zum kriminalpolitischen Gesamtergebnis

349

[Nr. 40] Das nationalsozialistische Polenstrafrecht unter besonderer Berücksichtigung der Verordnung über die Strafrechtspflege gegen Polen und Juden in den eingegliederten Ostgebieten vom 4. Dezember 1941 1. Einführung

2.

351 351

a) Polenstrafrechtsverordnung und Polenstrafrecht

351

b) Polenstrafrecht, Deutschenstrafrecht, nationalsozialistisches Strafrecht

352

Die erste Phase: Die "sinngemäße" Anwendung des Reichsstrafrechts

353

a) Die Geltung deutschen Strafrechts, insbesondere § 7 des Führererlasses

3.

4.

vom 8. Oktober 1939 b) Das Sonderrechtsprinzip und seine "rechtlichen" Grundlagen c) Die "rechtsschöpferische" Leistung der Strafrechtspraxis aa) Das materielle Polenstrafrecht bb) Sonderverfahrensrecht Die Verordnung über die Einführung des deutschen Strafrechts in den eingegliederten Ostgebieten vom 6. Juni 1940

353 355 360 360 363

a) Die (rückwirkende)"Einführung" von Reichsstrafrecht (§§ 11, 7) b) Die "sinngemäße" Anwendung des Reichsstrafrechts c) Die "besonderen Strafvorschriften für die eingegliederten Ostgebiete"

364 364 366

d) Verfahrensrecht aa) Das Opportunitätsprinzip bb) Gesetzliches Sonderverfahrensrecht

368 368 370

e) Die Würdigung der Einführungsverordnung aus zeitgenössischer Sicht

370

Die Polenstrafrechtsverordnung

371

a) Das materielle Polenstrafrecht (Ziff. I bis III) aa) Die "Gehorsamspflicht" von Polen und Juden als Grundlage des

372

[1] [2] bb) cc) dd) ee) ff) [1]

Polenstrafrechts Der "Verhaltenskodex" (Ziff. I Abs. 1) und seine Ausstrahlungen Das Polenstrafrecht als "autoritäres Tatstrafrecht" Der Geltungsbereich Der Zentraltatbestand (Ziff.I Abs.3) Die Einzelvorschriften Die ("sinngemäße") Anwendung deutscher Strafgesetze (Ziffer II) Die Strafen Das Strafensystem

364

372 372 373 375 377 378 379 379 379

Inhaltsverzeichnis [2] Das Strafrahmensystem gg) Delegation; Rückwirkung hh) Zur Begriffsbildung im Polenstrafrecht b) Das Strafverfahren aa) Gerichtszuständigkeit bb) Erkenntnisverfahren cc) Das Richterbild [1] Der "politisch denkende" Richter [2] Richterbild und Lenkungsmaßnahmen [3] Richterbild und Personalpolitik: Die Einheit von Partei und Staat [4] Das Richterbild im Polenstrafrecht und im Deutschenstrafrecht c) Zur empirischen Seite der Zuständigkeit und der Strafzumessung d) Polizeiliche Strafgewalt aa) Standgerichtliche Verfahren (Ziff. XIII) bb) Die polizeiliche Strafverfügung

XIX 380 382 383 387 387 388 391 391 391 392 393 393 395 395 396

5. Justiz und Polizei

397

6.

Schlußbetrachtung

398

a) Die Grundbegriffe des Polenstrafrechts aa) Recht, Politik, Gesetzesfunktion bb) Materielles Strafrecht: "Aufbaunotwendigkeiten", Strafewecke,

398 398

"Polenunrecht" cc) Verfahrensrecht dd) Justiz und Polizei b) Bewertung der bisherigen Interpretationen zum Polenstrafrecht aa) "Rechtssicherheit" durch justizielles Polenstrafrecht? bb) Polenstrafrecht und Altreichsstrafrecht Polenstrafrecht und Deutschenstrafrecht cc) Exkurs: Polenstrafrecht und Strafrechtswissenschaft

401 401 402 402 402

[Nr. 41] Verordnung des Führers zum Schutz der Sammlung von Wintersachen für die Front vom 23. Dezember 1941 [Nr. 42] Verordnung des Führers zum Schutze der Rüstungswirtschaft vom 21. März 1942 [Nr. 43] Verordnung zur Ergänzung der Kriegswirtschaftsverordnung vom 25. März 1942 [Nr. 44] Verordnung zur Erweiterung und Verschärfung des strafrechtlichen Schutzes gegen Amtsanmaßung vom 9. April 1942 [Nr. 45] Paßstrafverordnung vom 27. Mai 1942

404 410 412 413 415 417 418

XX

Inhaltsverzeichnis

[Nr. 46] Gesetz zur Ergänzung der Vorschriften gegen Landesverrat vom 22. November 1942 [Nr. 47] Verordnung über die Änderung der Strafvorschrift gegen die Verletzung fremden Fischereirechts usw. vom 23. Januar 1943 [Nr. 48] Verordnung zum Schutz von Ehe, Familie und Mutterschaft vom 9. März 1943 nebst Durchführungsverordnung vom 18. März 1943

418 419 419

1. Angriffe auf Ehe, Familie und Mutterschaft (Art.I)

420

2. Abtreibung, Zerstörung der Fortpflanzungsfähigkeit und Vertrieb von Mitteln gegen die Schwangerschaft (Art.II)

421

a) Abtreibung b) Zerstörung der Fortpflanzungsfähigkeit c) Vertrieb von Abtreibungsmitteln

422 423 423

3.

Der völkisch-rassische Grundgedanke der Ministerratsverordnung

424

4.

Die Durchführungsverordnung

424

5.

Zur Weitergeltung nach 1945

425

[Nr. 49] Verordnung zur Angleichung des Strafrechts des Altreichs und der Alpen- und Donau-Reichsgaue (Strafrechtsangleichungsverordnung) vom 29. Mai 1943 nebst Durchführungsverordnungen 1. Einführung a) 2.

Ziel und Methode der Strafrechtsangleichungsverordnung

426 426 426

b) Die Bedeutung des "Willensstrafrechts"

427

Bestrafung der erfolglosen Anstiftung und anderer Vorbereitungshandlungen bei Verbrechen (Art. 1, § 49a RStGB)

430

a) b) c) d)

Die erfolglose Anstiftung (§ 49a I) Die erfolglose Beihilfe (§ 49a III) Sonstige Vorbereitungshandlungen (§ 49a II) Rücktritt und tätige Reue (§ 49a IV)

431 432 433 433

e)

Zur Fortgeltung des § 49a

433

3.

Einstehen für eigene Schuld (Art. 2, § 5 0 RStGB)

434

4.

Teilbarkeit des Strafantrags (Art. 3; §§ 63, 64 RStGB)

436

5. Ausdehnung der Strafbarkeit des Versuchs (Art. 4)

436

6. Änderung der Verfolgungsverjährung (Art. 5; § 66 II RStGB)

437

7.

Vortäuschung einer Straftat (Art. 6; § 145d RStGB)

437

8.

Bestrafung der falschen uneidlichen Aussage (Art. 7; §§ 153 ff. RStGB)

438

Inhaltsverzeichnis

XXI

9. Unzucht unter Mißbrauch eines Abhängigkeitsverhältnisses (Art. 8; § 174 RStGB) 10. Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener (Art. 9; § 189 RStGB)

439 440

11. Nötigung (Art. 10; § 240 RStGB)

441

12. Urkundenfälschung (Art. 11; § 267 RStGB)

443

13. Die Durchführungsverordnung vom 29. Mai 1943

444

14. Die Durchführungsverordnung vom 20. Januar 1944 (Aussagedelikte)

446

15. Schlußbetrachtung

447

[Nr. 50] Das "Judenstrafrecht" der Dreizehnten Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 1. Juli 1943

449

1. Die Dreizehnte Verordnung zum Reichsbürgergesetz

449

2.

451

Rückblick: Zur Entwicklung des "Judenstrafrechts" bis 1943

3. Polenstrafrecht und "Judenstrafrecht" [Nr. 51] Das Jugendstrafrecht auf dem Stand der Verordnung über die Vereinfachung und Vereinheitlichung des Jugendstrafrechts (Jugendstrafrechtsverordnung) vom 6. November 1943 (Reichsjugendgerichtsgesetz 1943) 1. Einführung

454

456 456

a) Zur formellen Seite, insbesondere zum Verhältnis von Gesetz, Verordnung und Verwaltungsvorschrift b) Zur Bewertung des RJGG 1943 durch die Nachkriegsliteratur und den Bundesgesetzgeber

458

c)

460

Drei Grundfragen

456

2.

Der persönliche Geltungsbereich (§ 1 II RJGG)

460

3.

Strafe und Erziehung

463

a) Die Strafewecke des RJGG, insbesondere der Schutzgedanke b) Das Erziehungsziel im RJGG c) Der außergesetzliche Sinnwandel von Strafe und Erziehung

463 464 465

4. Justizielles Jugendstrafrecht und polizeiliche Verbrechensbekämpfung

467

a) Die Polizei als Organ der Jugendstrafrechtspflege, insbesondere die polizeilichen Jugendschutzlager b) Die Polizeierlasse zur Bekämpfung der Jugendkriminalität aa) Der Runderlaß des Reichsministers des Inneren vom 30. März 1944 bb) Die Einweisung in die polizeilichen Jugendschutzlager 5.

Schlußbetrachtung

468 469 470 472 475

XXII

Inhaltsverzeichnis

[Nr. 52] Verordnung zur Sicherung des totalen Kriegseinsatzes vom 25. August 1944 [Nr. 53] Gesetz zur Änderung der Vorschriften gegen Landesverrat vom 20. September 1944 [Nr. 54] Verordnung des Führers zum Schutz der Sammlung von Kleidung und Ausrüstungsgegenständen für die Wehrmacht und den Deutschen Volkssturm vom 10. Januar 1945 [Nr. 55] Verordnung zur Sicherung des Fronteinsatzes vom 26. Januar 1945 [Nr. 56] Verordnung über das Strafrecht des Deutschen Volkssturms (VolkssturmStrafrechtsverordnung VoStVO.) vom 24. Februar 1945

476

Dritter Teil: Polizeiliche Verbrechensbekämpfung

481

A.

Die ausführenden Organe der polizeilichen Maßnahmen

483

I.

Kriminalpolizei und Geheime Staatspolizei

483

II.

Die Verschmelzung der Polizei mit der SS

485

B.

Die vorbeugende Bekämpfung nicht-politischer Verbrechen

I.

Die Entwicklung von planmäßiger Überwachung und Vorbeugungshaft bis 1937

488

II.

"Grundlegender Erlaß über die vorbeugende Verbrechensbekämpfung durch die Polizei" vom 14. Dezember 1937 nebst Richtlinien und Änderungen

489

1. Setzungsakt, Bekanntgabe und Zweck

490

2.

491

Rechtsgrundlage und Rechtsverbindlichkeit

477

478 478 479

488

III. Die polizeiliche planmäßige Überwachung auf der Grundlage des Erlasses vom 14. Dezember 1937

492

1. Materielle Voraussetzungen

492

a) Der Personenkreis b) Die Auflagen

492 493

c) Die Dauer

494

Das Verfahren

495

2.

3. Polizeiliche planmäßige Überwachung und Strafgerichtsbarkeit a) Das Verhältnis zur Polizeiaufsicht (§§ 38, 39 RStGB) b) Das Verhältnis zur Sicherungsverwahrung (Anordnung und Entlassung).... c) Planmäßige Überwachung nach Strafverbüßung IV. Die Vorbeugungshaft 1. Materielle Voraussetzungen a) Die Subsidiarität gegenüber Überwachungsmaßnahmen b) Der Personenkreis

496 496 497 498 499 499 499 500

Inhaltsverzeichnis

c)

aa) Der Verstoß gegen Überwachungsauflagen und die Begehung von Straftaten während der Dauer der Überwachung

500

bb) Die Berufs- und Gewohnheitsverbrecher

500

cc) Die Gemeingefährlichen

501

dd) Die Asozialen

501

[1] Der Personenkreis

501

[2] Asozialität und Kriminalität

502

[3] Die Fortschreibung des Asozialenbegriffs

505

Vollstreckung und Dauer

506

2.

Das Verfahren

507

3.

Vorbeugungshaft und Strafgerichtsbarkeit

508

a)

Vorbeugungshaft und Sicherungsverwahrung

509

b) c) V.

XXIII

aa) Vergleich der Voraussetzungen und Anwendungshäufigkeit

509

bb) Die Verfahrenseinleitung: Polizeiliches oder strafgerichtliches Verfahren?

511

cc) Vorbeugungshaft nach Abschluß eines strafgerichtlichen Verfahrens..

512

dd) Die Reaktionen der Justiz Vorbeugungshaft und strafgerichtliche "Asozialenbekämpfung" (Arbeitshaus)

516 520

Zur Anrechnung der Vorbeugungshaft auf eine gerichtliche Strafe

521

Die Reinigungsaktionen der Polizei

521

1.

Einzelne Aktionen

522

2.

a)

Die Sonderaktion vom 9. März 1937 ("Berufsverbrecherbekämpfung")

522

b)

Die Sonderaktion gegen "Arbeitsscheue" vom 21. April 1938

522

c)

Sonderaktion gegen Asoziale und vorbestrafte Juden (13. bis 18.6.1938)

523

d) Sonderaktionen gegen Zigeuner und Wehrunwürdige

524

e)

Regionale Sonderaktionen

524

Die Würdigung der Sonderaktionen

524

a) Arbeitskräftebeschaffung als eigentlicher Zweck?

525

b)

526

Die Sonderaktionen als "Verstöße" gegen Polizeierlasse?

VI. Die Einbettung des Grundlegenden Erlasses und der Reinigungsaktionen in den Gesamtrahmen polizeilicher Verbrechensbekämpfung: Der "Führerauftrag" als Grundlage und Grenze

528

C.

Die vorbeugende Bekämpfung politischer Verbrechen

532

I.

Die Schutzhaft

533

XXIV

Inhaltsverzeichnis

1. Der Ausgangspunkt: Die Verordnung zum Schutz von Volk und Staat vom 28. Februar 1933 2.

3.

II.

533

Der Schutzhafterlaß vom 12./26. April 1934

537

a) Die Rechtsgrundlage

538

b) Die Zuständigkeit c) Die materiellen Schutzhaftvoraussetzungen d) Das Verfahren Der Schutzhafterlaß vom 25. Januar 1938

538 539 541 542

a) Das Einführungsschreiben zum Erlaß ("Motive") b) Die Rechtsgrundlage: Der Auftrag der Politischen Polizei (zugleich: zum preußischen Gestapo-Gesetz 1936) c) Die Schutzhaft aa) Voraussetzungen bb) Vollstreckung und Dauer cc) Verfahren [1] Zuständigkeit [2] Anordnungsverfahren [3] Haftprüfung, Entlassung d) Die vorläufige Festnahme (§3) e) Änderungen des Schutzhafterlasses ab 1939

542 543 547 547 551 551 551 551 552 552 553

Die Nachüberwachung: Erlaß über die "Nachüberwachung der aus Strafhaft wegen politischer Straftaten oder aus Schutzhaft entlassenen Personen" vom 17. Februar 1938

555

1.

Rechtsgrundlage

555

2.

Regelungstechnik

555

3.

Die (allgemeine) offene Nachüberwachung

556

a) b) c) d)

556 557 557

4. 5.

Auflagen und Maßnahmen Dauer Verfahren Politische Nachüberwachung und kriminalpolizeiliche planmäßige Überwachung Die geheime Nachüberwachung

558 559

Die vollständige Freiheitsentziehung als Sonderform der offenen Nachüberwachung (insbesondere: Schutzhaft nach Strafhaft)

559

a) Voraussetzungen b) Verfahren

559 560

Inhaltsverzeichnis III. Weitere staatspolizeiliche Maßnahmen

XXV 560

1. Zwangsmittel

561

2. Fürsorgerische Maßnahmen

563

IV. Das Gesamtsystem vorbeugender staatspolizeilicher Maßnahmen Zusammenfassung und Weiterungen V. Staatspolizeiliche Vorbeugung und Strafgerichtsbarkeit

564 565

1. Das Grundverhältnis

565

2. Die Zuständigkeitsabgrenzung im einzelnen

566

a) Staatspolizeiliche "Warnung" und Strafgerichtsbarkeit b) Schutzhaft und Strafgerichtsbarkeit aa) Die Verfahrenseinleitung: Polizeiliches oder strafgerichtliches Verfahren? bb) Schutzhaft nach Abschluß eines strafgerichtlichen Verfahrens

567 569 569 570

3. Die Reaktionen der Justiz

572

4. Schlußbetrachtung

575

D.

"Todesurteile " außerhalb der Justiz: die Exekutionen

577

I.

Der Führer als oberster Gerichtsherr - die Gestapo als Vollstreckungsorgan

577

II.

Die Exekution auf Polizeibefehl ("Sonderbehandlung")

582

1. Der Ausgangspunkt: Himmler - Gerichtsherr kraft Führerdelegation

582

2. Die Erlasse

587

a) Überblick b) Funktion und Stellenwert der Erlasse c) Die Voraussetzungen der Sonderbehandlung aa) Der Erlaß über die "Grundsätze der inneren Staatssicherung während des Krieges" vom 3. September 1939 bb) Der (Ergänzungs-)Erlaß vom 20. September 1939 d) Das Verfahren aa) Die Vorbehandlung bb) Zwischenbehandlung und Entscheidung cc) Die Befehlsdurchgabe dd) Die Exekution ee) Die Nachbehandlung e) Zusammenfassung und Verhältnis zum Justiz-Strafrecht 3. Fremdvölkische

587 588 589 591 591 592 592 594 594 594 596 596 598

XXVI

Inhaltsverzeichnis

III. Die sog. Urteilskorrekturen und die Vereinbarung zwischen Himmler und Thierack vom 18. September 1942: Das Gerichtsherren-Duumvirat als Super-Instanz 599 IV. Zusammenfassung: Führer - Polizei - Justiz E.

I.

602

Polizeiliche Strafmaßnahmen gegen ausländische Zivilarbeiter, insbesondere: Die polizeilichen "Fremdvolk'-Strafrechte

603

Überblick

603

Π. Die Ermächtigung: Görings Auftrag an Himmler III. Die Gefahrenabwehr beim Ausländereinsatz und die Gruppenbildung nach politisch-volkspolitischer Betrachtung

603

IV. Die Fremdvolkstrafrechte

607

604

1. Überblick

607

2.

Das Ostarbeiterstrafrecht

608

a) b) c) d) e)

609 609 610 610

Die Disziplinwidrigkeit (Ziff. III) Reichsfeindliche Bestrebungen (Ziff. IV) Kriminelle Delikte (Ziff. V) Geschlechtsverkehr (Ziff. VI) (Annex-)Maßnahmen wegen verbotenen Umgangs gegen Deutsche und andere ausländische Arbeitskräfte

611

3. Das Strafrecht gegen Arbeitskräfte aus den Baltenländern und fremdvölkische Arbeitskräfte nicht-polnischen Volkstums aus dem Generalgouvernement und den eingegliederten Ostgebieten

612

4. Das Polenstrafrecht

613

5.

614

Das polizeiliche Verfahren

V. Justiz und Polizei

614

1. Von der konkurrierenden zur ausschließlichen Polizeizuständigkeit

614

2.

617

Polizeiliche und justizielle Fremdvolkstrafrechte

Vierter Teil: Zur Zukunft von Justiz-Strafrecht und polizeilicher Verbrechensbekämpfung. Die Entwürfe zum Gemeinschaftsfremdengesetz 1940 bis 1944 und der Entwurf eines Reichsstrafgesetzbuchs 1944 (E RStGB 1944)

619

A.

Die Entwürfe zum Gemeinschaftsfremdengesetz

621

I.

Der Verlauf der Gesetzgebungsarbeiten bis 1942

621

1. Die Initiative des Reichsinnenministeriums (Entwurf 1940)

621

2.

623

Stellungnahme des Reichsjustizministeriums

Inhaltsverzeichnis

Π.

XXVII

3. Die Verhandlungen zwischen Reichsjustizministerium und Reichsinnenministerium/Polizei

624

4. Der Entwurf 1941

624

5. Das Scheitern des Entwurfs 1941

629

Positionen und Ziele von Reichsjustizministerium und Polizei vor und nach der Amtsübernahme Thieracks

630

1. Die Zeit bis 1942

630

2. Die Position Thieracks ΙΠ. Die Vereinbarung Himmler/Thierack und der Entwurf eines Gemeinschaftsfremdengesetzes 1943

632

IV. Der Entwurf eines Gemeinschaftsfremdengesetzes 1944

636

1. Die Grundlagen des Entwurfs

634 637

a) Erblehre und Kriminalbiologie b) Der Vorrang der Volksgemeinschaft

637 637

c) Die Schrittmacherfunktion der Polizei

638

2. Die Gemeinschaftsfremden

638

a) Die Versagergruppe b) Die Arbeitsscheuen und Liederlichen

638 639

c) Die Verbrechergruppe

639

3. Die polizeilichen Maßnahmen (Art.II) 4. Die strafrechtlichen Maßnahmen gegen Gemeinschaftsfremde a) Die einzelnen Maßnahmen aa) Die Maßnahmen gegen gemeinschaftsfeindliche Verbrecher (§6) bb) Die Maßnahmen gegen Neigungsverbrecher (§7) ce) Die Maßnahmen gegen die lästigen Gemeinschaftsfremden (§ 9) dd) Die Entmannung gefährlicher Sittlichkeitsverbrecher (§ 10) b) Die kriminalpolitische und strafrechtssystematische Konzeption des Gemeinschaftsfremdenstrafrechts aa) Das kriminalbiologische Schema der Kriminalpolitik bb) Grundbegriffe des Gemeinschaftsfremdenstrafrechts [1] Die Weichenstellung: Die Zuweisung zur Sondergruppe [2] Der Straf-(Sicherungs-)Zweck [3] "Verbrechen" und Tatbestand" - "Verbrecher" und Täter-Typik" [4] Der Richter als Volkshygieniker c) Das Strafverfahren

640 642 642 643 645 646 647 648 648 650 650 651 653 653 656

XXVIII

B.

I.

Inhaltsverzeichnis

d) Der Vollzug

658

e) Die Verpolizeilichung des Strafrechts

658

5. Die Unfruchtbarmachung Gemeinschaftsfremder (Art. 4)

659

6.

660

Minderjährige Gemeinschaftsfremde (Art. V)

Die Einarbeitung des Entwurfs eines Gemeinschaftsfremdengesetzes 1944 in den Allgemeinen Teil des Strafrechts durch den Entwurf eines Reichsstrafgesetzbuchs 1944 Die einzelnen Änderungen

663

1. Das Herzstück: Die Strafen und Maßregeln gegen Gemeinschaftsfremde

663

2. Die Deliktseinteilung (§ 1)

663

a) Die konkrete Betrachtungsweise (§ 1IV)

II. C. D.

661

664

b) Die Deliktseinteilung bei Gemeinschaftsfremden (§ 1 V)

665

3. Die Rückwirkung des Gemeinschaftsfremdengesetzes (§ 5IV)

666

4. Ehrenfolgen und Ehrenstrafen (§§ 31 ff.)

666

5. Die Maßregeln der Besserung und Sicherung (§§ 37, 38)

667

6. Wegfall der Polizeiaufsicht (§§ 38, 39 RStGB)

668

7. Die Versuchsstrafbarkeit bei Gemeinschaftsfremden (§ 44 IV)

668

8.

Wegfall des Strafantrags bei Gemeinschaftsfremden (§ 61 II)

668

9.

Die Verjährungsvorschriften (§§ 66 ff.)

669

10. Das Zusammentreffen mehrerer strafbarer Handlungen (§§ 73 ff.)

670

11. Exkurs: Die Änderungen zum Zwecke der Strafrechtsangleichung und Bereinigung

673

Die Umwertung des Allgemeinen Teils des Reichsstrafgesetzbuchs (Gestraucheltenstrafrecht)

675

Das Scheitern der Entwürfe zum Gemeinschaftsfremdengesetz 1944 und zum RStGB 1944

677

Schlußbetrachtung

678

Fünfler Teil: Ergebnisse. Nationalsozialistisches Verbrechensbekämpfungsrecht: Justiz-Strafrecht, Polizei-Strafrecht, polizeiliches Vorbeugungsrecht

681

A.

Das Grundverhältnis von Justiz-Strafrecht und polizeilicher Verbrechensbekämpfung...

681

I.

Der "Führerwille" als Ausgangspunkt des Verbrechensbekämpfungsrechts

681

II.

Der Wechsel der Leitidee: Von der "Gesetzes"-Herrschaft zur "Führer'-Herrschaft

687

Inhaltsverzeichnis

XXIX

ΙΠ. Die formale Scheidung von Strafrecht und Vorbeugungsrecht

689

B.

Justiz-Strafrecht

690

I.

Primat der politischen Führung

690

1.

"Rechtsquelle" und "Gesetzgeber"

690

2.

Der "Oberste Gerichtsherr" und die Unter-"Gerichtsherren"

691

3.

"Führungsmittel" statt "Normenhierarchie"

691

4.

Richterliche Unabhängigkeit - politischer Richter - Justizlenkung

692

5.

Behördliche Strafrechtsverwaltung

694

a)

Blankettvorschriften

694

b)

"Antrags"-, Anordnungs- und Zustimmungserfordernisse zur Einleitung

II.

der Strafverfolgung

695

c)

Geltungsbereichsverwaltung

695

d)

Rückwirkungsverwaltung

e) Staatsanwaltschaftliche Strafrechtsverwaltung "Rasse" und Strafrechtskonstitution - "Deutschenstrafrecht" und "Fremdvolkstrafrechte"

ΠΙ. Deutschenstrafrecht 1.

Strafziel: "Schutz der Belange der volkstumsbewußten Volksgemeinschaft"

696 696 698 700 700

a)

"Sühne"

702

b)

Nationalsozialistische Spezialprävention: "Reinigung des Volkskörpers"

705

c)

Generalprävention

707

d)

Zusammenfassung

708

2.

Strafvoraussetzungen: Zwischen Tat und Täter

708

3.

Das "Gesetz" als Richtlinie

715

4.

Verfahrensrecht

721

a)

Erkenntnisverfahren

721

b)

Gerichtsverfassung

722

IV. Fremdvolkstrafrecht

723

C.

Polizei-Strafrecht

724

I.

Die "Sonderbehandlung" auf Polizeibefehl

724

II.

Strafmaßnahmen gegen ausländische Zivilarbeiter, insbesondere die "Fremdvolkstrafrechte"

725

Polizeiliches Vorbeugungsrecht

726

D.

XXX

E.

Strafrecht und Vorbeugungsrecht - Justiz und Polizei

Inhaltsverzeichnis

730

Ausblick

733

Literaturverzeichnis

737

Verzeichnis unveröffentlichter Quellen

765

Entscheidungsregister

766

Personenregister

770

Sachregister

777

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS aaO

am angegebenen Ort

AAR

Allgemeine Anweisungen der Militärregierung an Richter, Nr. 1, abgedruckt bei Göke (1947), S. 317 ff. Absatz Abschnitt Abteilung abweichend Akademie für Deutsches Recht am Ende Allgemeine Erlaß-Sammlung des Reichssicherheitshauptamtes alte Fassung Amtsgericht allgemein

Abs. Abschn. Abt. abw. ADR a. E. AE RSHA a. F. AG allg. a. M.

anderer Meinung

Amtsbl. KR AndG Ani. Anm. AöR

Amtsblatt des Kontrollrats in Deutschland Änderungsgesetz Anlage Anmerkung Archiv des öffentlichen Rechts (zitiert nach Band, Jahr und Seite)

Art. AT

Artikel Allgemeiner Teil

Aufl. AV

Auflage Allgemeinverfügung

Az.

Aktenzeichen

BA

Bundesarchiv Koblenz

Bad. Bd.

Badischer, Badische, Badisches Band

Begr. bes. betr.

Begründung besonders betrifft

BfdVj

Beauftragter für den Vierjahresplan

BGBl.

Bundesgesetzblatt

BGH

Bundesgerichtshof

BGHSt. Bl.

Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen (zitiert nach Band und Seite) Blatt

BS BT

Besonderer Strafsenat des Reichsgerichts Besonderer Teil

XXXII

Abkürzungsverzeichnis

BT-Dr

Bundestagsdrucksache

Buchst.

Buchstabe

BVerfG

Bundesverfassungsgericht

BVerfGE

Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (zitiert nach Band und Seite)

bzw.

beziehungsweise

ChdSP

Chef der Sicherheitspolizei

ChdSPudSD

Chef der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes

DAR

Deutsches Autorecht (zitiert nach Jahr und Spalte)

ders.

derselbe

dies.

dieselbe

DJ

Deutsche Justiz (zitiert nach Jahr und Seite)

DjD

Das Junge Deutschland (zitiert nach Jahr und Seite)

DJR

Deutsches Jugendrecht (zitiert nach Heft, Jahr und Seite)

DJT

Deutscher Juristentag

DJZ

Deutsche Juristenzeitung (zitiert nach Jahr und Spalte)

Dok.

Dokument, Dokumente

DR

Deutsches Recht (zitiert nach Jahr und Seite; Zitate aus der Ausgabe Β sind besonders gekennzeichnet - "B" -)

DRiZ

Deutsche Richterzeitung (zitiert nach Jahr und Seite)

DRWis

Deutsche Rechtswissenschaft (zitiert nach Jahr und Seite)

DStR

Deutsches Strafrecht (zitiert nach Jahr und Seite)

DVO

Durchführungsverordnung

E

Entwurf

Einl.

Einleitung

EntschKG

Entscheidungen des Kammergerichts und des Oberlandesgerichts München in Kosten-, Straf-, Miet- und Pachtschutzsachen (zitiert nach Band und Seite)

entspr.

entsprechend

Erlaßslg.

Erlaßsammlung

f.

folgende Seite

ff.

folgende Seiten

Fn.

Fußnote, Fußnoten

FS

Festschrift

FuRk

Führer und Reichskanzler

GA

Goltdammer's Archiv für Strafrecht (zitiert nach Jahr und Seite)

GBl.

Gesetzblatt

GBV

Generalbevollmächtigter für die Reichsverwaltung

GBW

Generalbevollmächtigter für die Wirtschaft

GE

Gegenentwurf

Ges.

Gesetz

Gestapa

Geheimes Staatspolizeiamt

Gestapo

Geheime Staatspolizei

Abkürzungsverzeichnis GewVerbrG

Gewohnheitsverbrechergesetz

GFrG

Gemeinschaftsfremdengesetz

GG

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland

ggfls.

gegebenenfalls

GS

Der Gerichtssaal (zitiert nach Band, Jahr und Seite); Großer Senat i. V. m. von Entscheidungen des Reichsgerichts oder des Bundesgerichtshofs

GStA

Generalstaatsanwalt

GVB1.

Gesetz- und Verordnungsblatt

h.L.

herrschende Lehre

HLR

Harvard Law Review (zitiert nach Jahr und Seite)

h. M.

herrschende Meinung

HRR

Höchstrichterliche Rechtsprechung

Hrsg

Herausgeber

HSSPF

Höherer SS- und Polizeiführer

i. d. F.

in der Fassung

IMG

Internationaler Militärgerichtshof

i. S.

im Sinne

i. S. d.

im Sinne des (der)

i. V. m.

in Verbindung mit

JA

Juristische Arbeitsblätter (zitiert nach Jahr und Seite)

JAkDR

Jahrbuch der Akademie für Deutsches Recht (zitiert nach Jahr und Seite)

JDR

Jahrbuch des Deutschen Rechts (zitiert nach Jahr und Seite)

JGG

Jugendgerichtsgesetz

JöR

Jahrbuch des öffentlichen Rechts (zitiert nach Band, Jahr und Seite)

JR

Juristische Rundschau (zitiert nach Jahr und Seite)

JuS

Juristische Schulung (zitiert nach Jahr und Seite)

JW

Juristische Wochenschrift (zitiert nach Jahr und Seite)

JZ

Juristenzeitung (zitiert nach Jahr und Seite)

Kap.

Kapitel

KE

Kommissionsentwurf

KG

Kammergericht

KJ

Kritische Justiz

KR

Kontrollrat

KRG

Kontrollratsgesetz

KStVO

KriegsstrafverfahrensordnungverfahrensO

krit.

kritisch

KRProkl.

Kontrollratsproklamation

KSStVO

Kriegssonderstrafrechtsverordnung

KWVO

Kriegswirtschaftsverordnung

LK

Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch

LR

Löwe/Rosenberg

XXXIII

XXXIV Ls. MBliV

MDR MfdRV MRG

Abkürzungsverzeichnis Leitsatz Ministerialblatt für die Preußische innere Verwaltung (bis 1935); Ministerialblatt des Reichs- und Preußischen Ministeriums des Innern (ab 1936), zitiert nach Jahr und Spalte Monatsschrift für Deutsches Recht Ministerrat für die Reichsverteidigung Militärregierungsgesetz

MRG Nr. 1

Militärregierungsgesetz Nr. 1, Tag der ersten Verkündung 18.9.1944, abgedruckt bei Göke (1947), S. 313 ff.

MSchrKrimBio

Monatsschrift für Kriminalbiologie und Strafrechtsreform (zitiert nach Jahr und Seite) mit weiteren Nachweisen Nachweise, Nachweisen Nürnberger Dokument Niederschriften Neue Juristische Wochenschrift (zitiert nach Jahr und Seite) Nürnberger Militärgerichtshof

mwN Nachw. NDok Ndschr. NJW NMG Nr.

Nummer

Nrn.

Nummern

NSDAP

Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Neue Zeitschrift für Strafrecht (zitiert nach Jahr und Seite)

NStZ NSV OGHSt. o. J. OLG öStG OKW PK Pr PrGS PrOVG PVG R RAD RArbBl. RE RFSSuChdDtPol RFVO RG RGBl. RGSt.

Nationalsozialistische Volkswohlfahrt Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs für die Britische Zone in Strafsachen (zitiert nach Band und Seite) ohne Jahr Oberlandesgericht österreichisches Strafgesetz Oberkommando der Wehrmacht Partei-Kanzlei Preußisch(e, er, es) Preußische Gesetzessammlung Preußisches Oberverwaltungsgericht Polizeiverwaltungsgesetz Rückseite (in Verbindung mit Blattzahlen) Reichsarbeitsdienst Reichsarbeitsblatt Runderlaß Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei Rundfunkverordnung Reichsgericht Reichsgesetzblatt Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen (zitiert nach Band und Seite)

Abkürzungsverzeichnis RiLi

XXXV

Richtlinien

RJGG

Reichsjugendgerichtsgesetz

RJM

Reichsjustizministerium

Rk

Reichskanzler

RKG

Entscheidungen des Reichskriegsgerichts und des Wehrmachtdienststrafhofs (zitiert nach Band und Seite) Reichskriminalpolizeiamt Reichsminister (Reichsministerium) des Innern Reichsminister der Justiz Reichsminister und Chef der Reichskanzlei Reichssicherheitshauptamt Rechtsprechung Reichsstrafgesetzbuch Reichsstrafprozeßordnung Recht und Politik Reichs- und Preußischer Minister des Innern Reichsverwaltungsblatt und Preußisches Verwaltungsblatt (zitiert nach Jahr und Seite)

RKPA RMdl RMdJ RMuChdRk RSHA Rspr. RStGB RStPO RuP RuPrMdl RuPrVerwBl RV

Rundverfügung

RVerwBl

Reichsverwaltungsblatt (zitiert nach Jahr und Seite)

S.

Satz; Seite

s. SA

siehe Sturmabteilung der NSDAP

Sachs. Sehr.

Sächsisch(e, er, es) Schreiben

SD

Sicherheitsdienst

SG

Sondergericht

Slg. Schumacher Sp.

Sammlung Schumacher Spalte

sog. SP

sogenannte; sogenannter Sicherheitspolizei

SS StA

Schutzstaffel der NSDAP Staatsanwaltschaft

StAG StGB

Strafrechtsänderungsgesetz Strafgesetzbuch

StPO StS

Strafprozeßordnung Strafsenat

StVdF

Stellvertreter des Führers

StVollzO u. a.

Strafvollzugsordnung unter anderem

Urt.

Urteil

XXXVI

Abkürzungsverzeichnis

usw.

und so weiter

v. VB

vom Völkischer Beobachter

VGH

Volksgerichtshof

vgl.

vergleiche

VjZ

Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte

VO VOB1. Vorb.

Verordnung Verordnungsblatt Vorbemerkung

weit. WRV

weitere; weiteren Weimarer Reichsverfassung

ZAkDR ζ. B.

Zeitschrift der Akademie für Deutsches Recht (zitiert nach Jahr und Seite) zum Beispiel

ZfDKPh ZfNR

Zeitschrift für Deutsche Kulturphilosophie (zitiert nach Band, Jahr und Seite) Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte (zitiert nach Jahr und Seite)

Ziff.

Ziffer; Ziffern

ZRP

Zeitschrift für Rechtspolitik (zitiert nach Jahr und Seite)

ZStaatW ZSt. Ludwigsburg ZStW ζ. T.

Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft (zitiert nach Band, Jahr und Seite) Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft (zitiert nach Band, Jahr und Seite) zum Teil

zusf.

zusammenfassend

zust.

zustimmend

EINLEITUNG Welches sind die wirkungsmächtigen Züge der Strafrechtsentwicklung 1933 bis 1945? Gibt es Entwicklungsrichtungen und Entwicklungsziele? Und fügen sie sich zu einem Gesamtbild, in dem die Einzelerscheinungen ihren Platz finden? Diese Fragen will die vorliegende Arbeit beantworten. Es geht um den Versuch einer übergreifenden Interpretation der Strafrechtsentwicklung 1933 bis 1945, um die Formulierung eines Bezugsrahmens, der die Einordnung und Bewertung von Einzelbefunden ermöglicht. Ein solcher Versuch erscheint gerade angesichts des wachsenden wissenschaftlichen Interesse am Strafrecht des Dritten Reiches und der sich anbahnenden Differenzierung und Spezialisierung der Forschung lohnend und notwendig. Eine "kühl distanzierte Behandlung" der Strafrechtsentwicklung im Dritten Reich mag "nach wie vor auf emotionale Abwehr stoßen ... als beunruhigend und vielleicht sogar als politisch unerträglich empfunden" 1 werden. Aber sie ist notwendig, weil man an den Tatsachen nicht vorbeikommt. Erst wenn die Eigenart des Gegenstandes erfaßt ist, sind die Fragen nach Ursachen, Konsequenzen und "Kontinuität" beantwortbar. Voraussetzung jeder "Bewältigung" ist die klare Kennzeichnung ihres Gegenstandes. Ziel der Arbeit ist eine "möglichst umfassende, undogmatische und unparteiische Erhellung"2 des Strafrechts 1933 bis 1945, der Versuch, dieses "durch Analyse und Erklärung ... aus sich selbst zu verstehen"3. Für ein solches explikatives Konzept4 ist die Perspektive von Schuld oder Nicht-Schuld5 - etwa der Justiz, der Strafrechtswissenschaft, des "Positivismus" usw. ohne Belang; sie wird im analytischen Teil der Arbeit keine Rolle spielen. Aus der Zielsetzung ergibt sich ferner, daß ein unmittelbarer Beitrag zum geltenden Recht, etwa im Sinne eines Identifizierens rechtsstaatsunverträglicher Bestandteile des geltenden bundesdeutschen Strafrechts, nicht beabsichtigt ist: Das Erkenntnisziel schließt eine derartige Verwertungsorientierung aus6. Freilich wird der strafrechtlich und rechtspolitisch interessierte Leser an vielen Stellen eigenständige Folgerungen "zur Person"und "zur Sache" zu ziehen wissen. Insbesondere rückt das hier befolgte Vorgehen auch die umstrittene "Kontinuitäts"-Frage in ein neues Licht7. 1 2

Vgl. Stolleis, Vorurteile und Werturteile I (1981), S. 29, in der Auseinandersetzung mit Forderungen nach "parteilicher" oder "persönlicher" Stellungnahme, dazu aaO, S. 28 ff. Stolleis, aaO, S 32.

3 4

Simon, Vorurteile und Werturteile (1981), S. 47. Vgl. aaO.

5

Zu dieser Perspektive in der Bearbeitung des NS-Rechts und NS-Strafrechts eingehend Stolleis, Vorurteile und Werturteile (1981), S. 17 ff., 26. Die genannte Perspektive leitet etwa die Arbeit von Schorn (1959), S. 1 f. und öfters.

6

Vgl. etwa Bader (1951), S. 7: "Die Rechtsgeschichte ... hat keine Rezepte für den Gesetzgeber oder für den juristischen Dogmatiker herauszustellen, aus denen er sozusagen kalenderartig ablesen könnte, was jetzt in iuridicis zu geschehen habe". Dazu den Ausblick.

7

2

Einleitung

Gegenstand der Untersuchung ist das Strafrecht 1933 bis 1945 in seinem umfassenden Sinne, in dem es materielles und formelles Strafrecht übergreift8. Den zeitlichen Rahmen bilden die nationalsozialistische Machtübernahme und das Kriegsende. Der Begriff des Strafrechts ist für den analytischen Teil dieser Arbeit nicht in einem rechtsphilosophischen oder strafrechtstheoretischen Sinne abschließend festzulegen: Strafrecht interessiert in seiner praktischen Erscheinungsweise als ein an eine bestimmte historische Situation gebundener Begriff. Einbezogen werden alle staatlichen Reaktionen auf strafbares Verhalten ("Straftaten"), seien sie als Strafen oder Maßregeln bezeichnet. Dabei ist daran zu erinnern, daß die Tat einen ganz unterschiedlichen Stellenwert für die Verhängung staatlicher Strafen und Maßregeln haben kann. Hier ist nur auf idealtypische Grundverhältnisse hinzuweisen, die den Rahmen abstecken: Ein "reines" Tatstrafrecht macht die Tat zum Grund und ihre Schwere zum ausschließlichen Maß einer Strafe, die rückwärtsblickend vergelten soll. Die Tat kann aber auch nur über das "Ob" der Strafe entscheiden, die Strafe ihr Maß und ihr Ziel allein aus dem Präventionsbedürfnis und den Eigenarten des Täters empfangen9; die Bedeutung des äußeren Verhaltens kann schließlich bis zu einem aus Zweckmäßigkeitsgründen geforderten Symptom für Gefährlichkeit oder Besserungsbedürftigkeit herabsinken10. Von diesem äußersten Punkt (noch) verhaltensgebundenen Strafrechts, in dem das Tatprinzip auf der Strafvoraussetzungsseite erhalten bleibt, führt ein letzter Schritt zum Modell eines reinen "Täterstrafrechts". Dieses verbindet direkt Täter und Strafe ohne das Zwischenstück der Tat 11 . Ein solches Täterstrafrecht kann auf der Grundlage einer rein spezialpräventiven Zweckbetrachtung der Strafe gedacht werden. Diese allgemeinen Orientierungspunkte zu betonen ist wichtig, weil sich im Strafrecht 1933 bis 1945 ein starker Zug zum "Täter" hin geltend macht12. Der Titel der Arbeit verweist auf ein grundlegendes Phänomen, mit dessen Einordnung jede Deutung des Strafrechts 1933 bis 1945 steht und fällt. Im Rechtsstaat ist Strafrechtsanwendung mit dem Justizprinzip verknüpft. Die Verhängung von Strafen ist grundsätzlich dem Richter vorbehalten; jede staatlich veranlaßte Freiheitsentziehung, sei sie präventiv oder reaktiv, setzt eine vorgängige oder, als Ausnahme, eine unverzüglich nachfolgende richterliche Entscheidung voraus. Zum Gesamtbild der Strafrechtspflege im Dritten Reich gehört dagegen, so eine Formulierung Eberhard Schmidts, "jene allertraurigste Begleiterscheinung, die der Entwicklung der eigentlichen justizförmigen Strafrechtspflege parallel gelaufen ist, aber als ganz besonders charakteristisch - schon wegen ihrer ungeheuren Auswirkung auf die Strafjustiz - in ständiger Verbindung zu ihr gesehen werden muß: die Entfesselung der Poli-

8

Vgl. nur Jescheck, AT 3 (1978), S. 13. Die dritte "Säule" (lescheck, aaO, S. 13) des Strafrechts ist das Strafvollzugsrecht.

9

Vgl. v. Liszt, Zweckgedanke (1882), S. 152, 175: Entscheidend sei die Frage: Was hat dieser Täter verdient?: "Nicht der Begriff wird gestraft, sondern der Täter" (aaO, S. 175). Zur symptomatischen Verbrechenslehre z.B. Tesar (1907), S. 197 ff.; zu den Konsequenzen für die Tatbestandsbildung aaO, S. 237 ff. Tesar hält hinsichtlich der Strafvoraussetzungen an der Verhaltensbindung fest, freilich nur, weil "man nicht direkt die psychischen Defekte und quantitativen Unterschiede anzugeben imstande ist" (S. 237).

10

11 12

Zu Tat- und Täterstrafrecht etwa Jescheck, AT 3 (1978), S. 41 f.; Marxen, in: Reifner/Sonnen (1984), S. 82 f. Vgl. auch Bockelmann, Täterstrafrecht I, II (1939/40). Zusf. 5. Teil Β III 2.

Einleitung

3

zeigewalt"13. Jeder Versuch, das Strafrecht 1933 bis 1945 zu interpretieren, muß die Entwicklung der polizeilichen Verbrechensbekämpfung ins Auge fassen und ihr Verhältnis zur justiziellen Strafrechtsanwendung klären 14 . Das justizförmige Strafrecht könnte sich als, vielleicht sogar untergeordneter, Teil eines nationalsozialistischen "Verbrechensbekämpfungsrechts" erweisen, die Polizei als ein der Justiz gleichgeordnetes oder sogar übergeordnetes Organ der Verbrechensbekämpfung. Jede Untersuchung, die das Strafrecht 1933 bis 1945 "im ganzen" in den Blick nehmen will, steht vor einem grundlegenden Methodenproblem: Es ist unzulänglich, mit einer mehr oder weniger intuitiv gewählten Globalperspektive zu operieren und diese nur mit ausgewählten Materialbeispielen zu illustrieren. Auf der anderen Seite entzieht sich das Material schon aufgrund seiner außerordentlichen Komplexität einer gleichsam "abbildhaften" Darstellung. Jede Art von Strukturierung aber bedarf eines theoretischen Vorgriffs, der seinerseits am Material legitimiert und präzisiert werden muß. Ausgegangen wird bei diesem Vorgriff von dem methodischen Prinzip, eine Zeit müsse an ihren eigenen Prämissen gemessen werden, ihre Dokumente seien aus ihrem eigenen Kontext heraus verständlich zu machen 15 . Die Beschreibung der Strukturen des Strafrechts 1933 bis 1945 orientiert sich an der Binnenperspektive16 des zeitgenössischen Kontextes. Die Bedeutung der Rechtsnormen wird aus ihrem Kontext heraus im Wege einer systemimmanenten Betrachtung entwickelt. Es wäre ein spezifischer - freilich nicht selten begangener - Fehler, Normtexte aus der Zeit von 1933 bis 1945 vom heutigen Auslegungshorizont zu verstehen, um ihre so ermittelte Bedeutung als historische Normeninhalte auszugeben. In dieser Arbeit geht es immer um den damaligen Sinn der Normtexte, nicht um den Sinn, den ein äußerlich identischer Normtext heute hat oder sonst vor 1933 oder nach 1945 in einem anderen Systemzusammenhang hatte. Die eingehende Beschreibung von "Vorgeschichte" und "Nachgeschichte" einschlägiger Normtexte und Auslegungsrichtungen war deshalb zur Erreichung des Ziels dieser Untersuchung nicht notwendig; entsprechende Hinweise werden freilich gegeben. Die Schlußfolgerungen werden aus der Regelsetzung für Strafrecht und polizeiliche Verbrechensbekämpfung entwickelt; erfaßt ist der Zeitraum 1933 bis 1945. Darüber wie die obersten Instanzen die neuen Regeln verstanden und umgesetzt haben, gibt die Arbeit in zahlreichen Zusammenhängen exemplarische Auskünfte. Die Klärung, in welchem Umfang, mit welchem Tempo und mit welchen Abweichungen oder Differenzierungen diese Entwicklung von den einzelnen mittleren und unteren Instanzen des Justiz- und Polizeiapparats 13 14 15 16

1965, S. 439. Vgl. auch Henkel (1968), S. 60; Rüping, Strafrechtsgeschichte (1981), S. 101 f. und GA 1984,287 ff.; Kern (1954), S. 277 ff. Dazu 3. Teil, 5. Teil. Vgl. Stolleis, Vorurteile und Werturteile (1981), S. 26. Das Anknüpfen an die Binnenperspektive wird von verschiedenen wissenschaftlichen Positionen als notwendige Voraussetzung des Verstehens bezeichnet. In der Philosophie wäre etwa auf den Ansatz von Winch und die daran anschließende Diskussion zu verweisen, vgl. dazu Wiggershaus, in: Wiggershaus (1975), S. 7 ff. bes. S. 9,15,18, 20 und öfters; Winch, aaO, bes. S. 59 ff., 78 ff.; für die Sozialwissenschaften wären vor allem der symbolische Interaktionismus (vgl. etwa Schiitze/Meinefeld/Springer/Weymann, in: Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen, 1975, S. 433 ff.) und die Ethnomethodologie (vgl. etwa Psathas, aaO, S. 263 ff.) zu nennen. Vgl. im hier interessierenden Kontext (rechts-)geschichtlichen Verstehens etwa Kirschenmann (1970), S. 19 ff.; Majer (1981), S. 35, beide jeweils im Anschluß an Nolte, vgl. Nolte5 (1979), S. 48 ff., 53 ff.

4

Einleitung

vollzogen wurde, bleibt empirischen Einzeluntersuchungen vorbehalten. In dieser Arbeit geht es um den Bezugsrahmen, nämlich um die Beschreibung des Strafrechts eines bestimmten politischen Systems, des Dritten Reiches, und den Versuch, Entwicklungsrichtungen und Entwicklungsziele aus einer in die Zukunft gerichteten Immanenzperspektive zu erfassen. In Frage steht, ob sich eine Art "Soll-Zustand" abzeichnet, ob es Bilder eines "nationalsozialistischen Systems der Verbrechensbekämpfung" gibt, in denen sich die wirkungsmächtigen Tendenzen vereinen. Für die Ermittlung von Entwicklungsrichtungen und Zielpunkten könnte die Kriegszeit in besonderem Maße aufschlußreich sein: Der Krieg muß nicht notwendig nur zeitbedingtes Notrecht und Notmaßnahmen hervorbringen. Die Ausnahmelage kann auch als Beschleuniger wirken, indem sie "von Rücksichten und Nebenerwägungen" befreit 17 . Vielleicht treten also gerade im Krieg die wirkungsmächtigen Tendenzen besonders klar hervor. JustizStrafrecht und Verbrechensbekämpfung im Krieg nehmen deshalb in dieser Untersuchung breiten Raum ein. Der Stand der bisherigen Interpretationen zum Strafrecht und zur polizeilichen Verbrechensbekämpfung im Dritten Reich (1. Teil) wird die Notwendigkeit einer übergreifenden Bestandsaufnahme belegen. Die Untersuchung erstreckt sich einmal auf die gesamte strafrechtliche Regelsetzung 1933 bis 1945 und bezieht die Rechtsprechung auf breiter Front ein (2. Teil). Zum anderen wird das wesentliche Material zur polizeilichen Verbrechensbekämpfung vorgeführt (3. Teil). Eine Darstellung des Verbundprojekts Gemeinschaftsfremdengesetz/E RStGB 1944 (4. Teil) schließt den Materialteil ab. Der 5. Teil enthält die zusammenfassende und systematisierende Interpretation; der Ausblick (6. Teil) greift die Kontinuitätsfrage auf. Bei der Durchführung der Untersuchung war der Verfasser bestrebt, möglichst "dicht" am Material zu arbeiten. Der Leser soll in die Lage versetzt werden, die einzelnen Untersuchungsschritte und Interpretationen in weitem Umfang zu kontrollieren. Zusammenfassungen und Zwischenbilanzen sowie Register sollen den Zugriff erleichtern, die Teile 1 und 5 einen orientierenden Überblick vermitteln. Freilich liefert der 5. Teil eben nur Ergebnisse, für deren Verständnis und Kritik die Kenntnis der Teile 2 bis 4 notwendig ist.

17

Vgl. Dohm, FS Siber (1941), S. 187 Fn. 4

Erster Teil

EINFÜHRUNG Der einführende 1. Teil stellt die bisherigen Deutungen der Strafrechtsentwicklung 1933 bis 1945 vor und legt das weitere Vorgehen fest. Behandelt werden zunächst diejenigen Interpretationen, die sich auf die Strafrechtsanwendung durch die Justiz beziehen, also auf die im Sinne Eberhard Schmidts "eigentliche justizförmige Strafrechtspflege"1. Zur Verdeutlichung des Gegenstands wird vom "Justiz-Strafrecht" gesprochen (dazu A). Zum anderen werden die Einordnungsalternativen zum Gesamtkomplex polizeiliche Verbrechensbekämpfung dargestellt (dazu B). Die Ansätze werden vorläufig gewürdigt (dazu C) und das weitere Vorgehen festgelegt (dazu D). A. DEUTUNGSMUSTER ZUM JUSTIZ-STRAFRECHT 1933 BIS 1945 I. Die Unterscheidung von nicht-nationalsozialistischem Strafrecht und nationalsozialistischem Straf(un)recht 1. Die "Perversion" des Strafrechts als übergreifender Gesichtspunkt Eine wesentliche und bis in die jüngste Zeit vorherrschende Tendenz bei der Deutung des Strafrechts 1933 bis 1945 ist die Unterscheidung von nicht-nationalsozialistischem Strafrecht und typisch nationalsozialistischen Regelungen, Gerichtsentscheidungen und Anordnungen, die von den staatlichen Instanzen als geltendes Strafrecht praktiziert wurden. Dabei sind zwei Hauptlinien zu beobachten. Eine erste Linie spricht bestimmten nationalsozialistischen Erscheinungen den Rechtscharakter ab (dazu 2, 4a), selbst wenn sie den innerstaatlich etablierten Geltungskriterien genügen. Eine zweite Linie unterscheidet - sei es nach einer ersten "Reinigung" des Gegenstandes, sei es unter Verzicht auf eine derartige Qualifikation bestimmter Erscheinungen als Nicht-Recht - innerhalb des positiv geltenden Strafrechts zwischen nationalsozialistischen und nicht-nationalsozialistischen Teilen (dazu 3, 4b). Gemeinsam ist beiden Ansätzen, daß die als positives Strafrecht praktizierten Normen, Gerichtsentscheidungen und Hoheitsakte in heterogene Bestände aufgeteilt werden, sei es in StrafrecAi und "typisch nationalsozialistisches" Strafunrecht im Sinne von Nicht-Recht1, sei es in nichtnationalsozialistisches und "typisch nationalsozialistisches" Strafrecht.

1 1

1965, S. 439. Die Rede von "Unrecht" kann sprachlich auch als negative Bewertung des Grundbegriffs, also als "schlechtes Recht" im Gegensatz zu "Nicht-Recht" verstanden werden (vgl. Hoerster, JuS 1987,184 f.), was aber die Vertreter jener ersten Linie gerade nicht meinen.

6

1. Teil: Einführung

Die Bildung solch heterogener Bestände kommt in ihrer allgemeinen, das Recht 1933 bis 1945 insgesamt betreffenden Form in den oft gebrauchten Bildern von der "Perversion" des Rechts durch die Nationalsozialisten 2 oder der "nationalsozialistischen Rechtsverwüstung" 3 zum Ausdruck: Die "Perversion", die krankhafte Abweichung vom Normalen, die "widernatürliche Entartung", setzt als Gegenbild das Normale, Natürliche voraus, also eine "gesunde" Rechtsordnung; ähnlich ist die Rede von der "Rechtsverwüstung" auf ein intaktes Recht als Gegenbild bezogen 4 . Beide Formulierungen besagen, daß der Nationalsozialismus auf dem Gebiete des Rechts eine krankhafte, zerstörerische Entwicklung eingeleitet hat, die anhand eines Vergleichs mit dem Normalzustand in ihrem genauen Ausmaß diagnostiziert werden kann 5 . D e r Gedanke der "Perversion" kann dabei einmal zur Entgegensetzung von nicht-pervertiertem Recht und perversem Nicht-Recht führen, zum anderen, ohne "Reinigung" des Rechtsbegriffs selbst, in die Gegenüberstellung von nicht-pervertiertem "gesunden" und pervertiertem "kranken" Recht münden. Über die Inhalte "normalen" und "verkehrten" Rechts geben die Bilder von "Perversion" und "Verwüstung", von "Gesundheit" und "Unversehrtheit" noch keine Auskunft 6 . Von Hippel, der ein exemplarisches Programm zur Entlarvung von Rechtsperversionen formuliert hat, setzt die Existenz von unbezweifelbaren "Rechtssätzen der verschiedensten Art", von "Rechtswahrheiten" 7 , voraus und beruft sich damit auf einen überzeitlichen naturrechtlichen Maßstab (dazu 2); andere Autoren verwenden rechtsstaatliche Prinzipien als Bewertungsgrundlage (dazu 3). Hält man spezifisch nationalsozialistische Vorstellungen schlechthin für "entartet", liegt es schließlich nahe, die "Perversion" der Rechtsordnung durch die Verwirklichung nationalsozialistischen Gedankenguts zu charakterisieren (dazu 4). In ihren konkreten Erscheinungsformen setzen die Unterscheidungen von nicht-pervertiertem Strafrecht und perversem Straf(un)recht einen bestimmten gemeinsamen Bezugsrahmen voraus: "Gesundes" und "entartetes" Strafrecht werden nicht abstrakt-definitorisch bestimmt, vielmehr gelten die Jahre 1933 und 1945 als historische Wendemarken für Beginn und E n d e von Entartungen und von Eingriffen in ein im Kern "gesundes" Strafrecht. So läßt sich etwa folgendes Verlaufsschema formulieren: Es gibt ein im wesentlichen intaktes (naturrechtskonformes/rechtsstaatliches) Strafrechtssystem der Weimarer Zeit, das vom National2 3

4 5 6

7

Vgl. namentlich F. v. Hippel (1955). Laufs3 (1984), S. 308, Kapitelüberschrift; vgl. etwa auch Weinkauff, Justiz und Nationalsozialismus (1968): "Kopernikianischer Umsturz aller Rechtswerte", "Verkehrung" der Rechtswerte (S. 27); Broszat, VjZ 1958, 390 ff.: "Zur Perversion der Strafjustiz im Dritten Reich"; Gribbohm, in: Justiz im Dritten Reich (1984), S. 16 zu "normaler" und "nicht-normaler" Strafrechtspflege. Krit. zum Begriff "Perversion" etwa Naucke, Analogieverbot (1981), S. 105 Fn. 30; Stolleis, RuP 1983, 1. Exemplarisch vgl. F. v. Hippel (1955), S. V, 14 f. Vgl. die Kritik von Stolleis, der im übrigen den Begriff Perversion als "Vokabular der Pathologie" bezeichnet, das vom "Nachdenken über die Ursachen" entlasten solle und "so auch als Technik der Abschiebung'" diene: "Man konnte so über den Nationalsozialismus reden wie über eine Krankheit, der man glücklich und endgültig entronnen sei", RuP 1983,1. F. v. Hippel (1955), S. 14 f., zur exemplarischen Durchführung des Programms vgl. S. 39 ff., 65. Es gelte, die "Schutzhülle einer raffinierten Tarnungstechnik" wegzuräumen, das "Vorhandensein und Wirksamwerden pervertierter Rechtssätze zu erkennen und auch anderen deutlich zu machen" (S. 14 f.).

Α. Deutungsmuster zum Justiz-Strafrecht 1933 bis 1945

7

Sozialismus, der sich des Strafrechts für seine Zwecke zu bemächtigen sucht, teilweise pervertiert wird, teilweise aber auch unversehrt bleibt. Nach 1945 wird das Strafrechtssystem durch Ausscheiden der pervertierten (naturrechtswidrigen/rechtsstaatswidrigen/nationalsozialistisch-weltanschaulich infizierten) Teile gereinigt, seine zerstörten Elemente werden wiederhergestellt, und es erscheint von neuem als intaktes Ganzes. Für die Zwischenphase 1933 bis 1945 ergibt sich das bemerkenswerte Phänomen, daß innerhalb derselben politischen Einheit Deutsches Reich heterogene Sphären "normalen" nicht-nationalsozialistischen und "perversen" nationalsozialistischen Strafrechts existieren. Diesem Phänomen wollen wir uns im folgenden nähern und eine Beschreibung der möglichen Konstruktionselemente versuchen. Die Maßstäbe Naturrecht (2), rechtsstaatliches Strafrecht (3) und nationalsozialistische Weltanschauung (4) sind in ihrer Anwendung auf die Strafrechtsentwicklung 1933 bis 1945 zu beschreiben. 2. Das Naturrecht als Maßstab Die Bewertung von strafrechtlichen Regeln, Gerichtsurteilen und Hoheitsakten aus der Zeit von 1933 bis 1945 anhand eines naturrechtlichen Maßstabs hat in der Rechtsphilosophie, der Rechtsdogmatik und der Rechtspraxis der Nachkriegszeit eine erhebliche Bedeutung. Die sog. Naturrechtsrenaissance der Nachkriegszeit steht in einem allseits anerkannten engen Zusammenhang mit den Erfahrungen des Nationalsozialismus. So hat Eberhard Schmidt 1961 bemerkt, die "Wiederbelebung naturrechtlicher Institutionen nach 1945" sei "als notwendiger Rückschlag gegen die verheerende Wirkung ungerechter, ja jedem Rechtsempfinden hohnsprechender Gesetze aus dem Dritten Reich sehr begreiflich gewesen"8. Es versteht sich, daß die Naturrechtsdiskussion hier nicht im einzelnen entfaltet werden kann. Die Struktur der Argumentation und ihre praktischen Auswirkungen seien exemplarisch zunächst am Beispiel Gustav Radbruchs verdeutlicht, dessen Stellungnahmen - auch angesichts der von ihm vollzogenen "Wende" - stark beachtet wurden und erheblichen Einfluß ausübten; sodann wird der Naturrechtsgedanke in der Nachkriegsrechtsprechung, insbesondere des Bundesgerichtshofs in Strafsachen, skizziert, um die praktische Relevanz des naturrechtlichen Maßstabs zu demonstrieren. a) Gustav Radbruch: Übergesetzliches Recht und gesetzliches Unrecht In seiner "Rechtsphilosophie" hatte Radbruch 1932 die Unmöglichkeit eines natürlichen Rechts und die uneingeschränkte Geltung des positiven Rechts behauptet, die Herstellung von Rechtssicherheit als primäre Aufgabe des Rechts angesehen9. "Für den Richter ist es Berufspflicht, den Geltungswillen des Gesetzes zur Geltung zu bringen, das eigene Rechtsgefühl dem autoritativen Rechtsbefehl zu opfern, nur zu fragen, was Rechtens ist, und niemals, ob es auch gerecht sei"10. In seinen "Fünf Minuten Rechtsphilosophie" rückte Radbruch 1945 in 8

Eb. Schmidt (1951), S. 42; vgl. auch Welzel (1962), S. 219 ff., wonach die Zeit von 1933 bis 1944 eine "tiefe Zäsur" in der Rechtsphilosophie gebracht und eine Wiederbelebung des Naturrechts bewirkt habe; Weinkauff, NJW 1961,1691; Langner (1959), S. 9,91.

9

Radbruch3/* (1932/1973), S. 177 f.

10

AaO, S. 178.

δ

1. Teil: Einführung

eindrucksvollen Formulierungen von dieser "Auffassung vom Gesetz und seiner Geltung (wir nennen sie die positivistische Lehre)" ab. Sie habe "die Juristen wie das Volk wehrlos gemacht gegen noch so willkürliche, noch so grausame, noch so verbrecherische Gesetze", sie setze "letzten Endes das Recht der Macht gleich". Radbruch anerkennt jetzt "Rechtsgrundsätze, die stärker sind als jede rechtliche Satzung, so daß ein Gesetz, das ihnen widerspricht, der Geltung bar ist. Man nennt diese Grundsätze das Naturrecht oder das Vernunftrecht". Es müsse sich dem "Bewußtsein des Volkes und der Juristen tief einprägen: es kann Gesetze mit einem solchen Maß von Ungerechtigkeit und Gemeinschädlichkeit geben, daß ihnen die Geltung, ja der Rechtscharakter abgesprochen werden muß". Recht sei, "Wille zur Gerechtigkeit", Gerechtigkeit bedeute, "ohne Ansehen der Person richten, an gleichem Maß alle messen". Daraus leitet Radbruch die Folgerung ab: "Wenn Gesetze den Willen zur Gerechtigkeit bewußt verleugnen, ζ. B. Menschenrechte Menschen nach Willkür gewähren und versagen, dann fehlt diesen Gesetzen die Geltung, dann schuldet das Volk ihnen keinen Gehorsam, dann müssen auch die Juristen den Mut finden, ihnen den Rechtscharakter abzusprechen"11. Seinen Standpunkt hat Radbruch 1946 präzisiert: Zu regeln sei einerseits der Konflikt zwischen Gerechtigkeit und Rechtssicherheit. Dieser sei "dahin zu lösen ..., daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als 'unrichtiges Recht' der Gerechtigkeit zu weichen hat". Es gebe aber auch "eine andere Grenzziehung", die nicht jene vergleichsweise unscharfe Grenze zwischen richtigem und unrichtigem Recht betreffe, sondern die Recht von Nicht-Recht scheide und die "mit aller Schärfe vorgenommen werden" könne: Wo "... die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewußt verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur 'unrichtiges Recht', vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur. Denn man kann Recht, auch positives Recht, gar nicht anders definieren denn als eine Ordnung und Satzung, die ihrem Sinn nach bestimmt ist, der Gerechtigkeit zu dienen. An diesem Maßstab gemessen sind ganze Partien nationalsozialistischen Rechts niemals zur Würde geltenden Rechts gelangt... Das gilt insbesondere von den Bestimmungen, durch welche die nationalsozialistische Partei entgegen dem Teilcharakter jeder Partei die Totalität des Staates für sich beanspruchte. Der Rechtscharakter fehlt weiter allen jenen Gesetzen, die Menschen als Untermenschen behandelten und ihnen die Menschenrechte versagten. Ohne Rechtscharakter sind auch alle jene Strafdrohungen, die ohne Rücksicht auf die unterschiedliche Schwere der Verbrechen, nur geleitet von momentanen Abschreckungsbedürfnissen, Straftaten verschiedenster Schwere mit der gleichen Strafe, häufig mit der Todesstrafe, bedrohten. Alles das sind nur Beispiele gesetzlichen Unrechts"12.

Die aufgrund solcher ungerechten Gesetze ergangenen Gerichtsurteile seien "nicht Rechtsprechung... vielmehr Unrecht"13, also unwirksam und "objektiv Rechtsbeugung". Radbruchs entscheidender Schritt ist die Anerkennung eines gegenüber dem Gesetz höherrangigen Rechts, das er als "Naturrecht", "Gottesrecht" oder "Vernunftrecht" bezeichnet,

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Fünf Minuten Rechtsphilosophie (1945), in: Rechtsphilosophie (1973), S. 327 f., Hervorhebung aaO. SJZ 1946,107. Radbruch, Die Erneuerung des Rechts (1947), in: Maihofer (Hrsg, 1962), S. 3.

Α. Deutungsmuster zum Justiz-Strafrecht 1933 bis 1945

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das den Maßstab für die Äecfttequalität gesetzter Bestimmungen bildet, "an dem gemessen das Unrecht Unrecht bleibt" 14 . Sachlich ausschlaggebend ist dabei für Radbruch der Wille des Gesetzgebers zur Gleichbehandlung, die den Kern der Gerechtigkeit bilde. Daneben betont Radbruch nach wie vor den hohen Wert der Rechtssicherheit: Er beschränkt im Hinblick auf die drohenden "furchtbaren Gefahren für die Rechtssicherheit" 15 die naturrechtlich begründete Unwirksamkeit von Gesetzen auf "außergewöhnliche, das Rechtsgefühl empörende, geradezu verbrecherische Gesetze"; "geringere Widersprüche zwischen Gesetz und Gerechtigkeit" seien im Interesse der Rechtssicherheit zu ertragen 1 6 . Dabei hofft Radbruch, daß das gesetzliche Unrecht der nationalsozialistischen Zeit "eine einmalige Verirrung und Verwirrung des deutschen Volkes bleiben werde"; nur "für alle möglichen Fälle" müsse man sich "durch die grundsätzliche Überwindung des Positivismus ... gegen die Wiederkehr eines solchen Unrechtsstaates ... wappnen" 17 . Im Schrifttum der Nachkriegszeit hat man sich bemüht, den Naturrechtsgedanken von verschiedenen Ausgangspunkten zu begründen und auszufüllen 18 . Der Inhalt vorausgesetzten Naturrechts ist dabei entsprechend der Eigenart naturrechtlicher Argumentation unterschiedlich; besondere Bedeutung hat das christlich geprägte, namentlich das katholische Naturrecht erlangt 19 . Überwiegend hat man in der Literatur in Übereinstimmung mit Radbruchs Auffassung die Naturrechtswidrigkeit nationalsozialistischer Normen und aufgrund dieser Normen ergangener Entscheidungen auf extrem ungerechte Regelungen beschränkt, so daß keineswegs allen als "ungerecht", "nationalsozialistisch" oder rechtsstaatswidrig anzusehenden Erscheinungen der Rechtscharakter abgesprochen wurde 20 . Teilweise geht die Konkretisierung der naturrechtlichen Grundsätze allerdings sehr weit und nähert sich einer Deckungsgleichheit mit Prinzipien einer rechtsstaatlichen Verfassung: So werden etwa bei Coing neben Frei-

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AaO, S. 2. SJZ 1946,107. Wie Fn. 13. SJZ 1946, S. 107. - Zur Naturrechtslehre Radbruchs vgl. namentlich die Kritik bei Hart, in: Recht und Moral (1971): Was Recht sei, ergebe sich aus den in einer Rechtsordnung etablierten Geltungskriterien. Man müsse das Recht, wie es ist, unterscheiden von dem Recht, wie es sein solle. Indem Radbruch den Protest gegen verwerfliche Gesetze in die Behauptung kleide, daß "gewisse Normen wegen ihrer moralischen Unhaltbarkeit nicht Recht" sein könnten, bringe er "Verwirrung in eine der stärksten, weil einfachsten Formen moralischer Kritik" (S. 45 f.; s. auch S. 42 f.). Fuller wirft Hart vor, die interne Moralität des Rechts, nämlich Orientierungssicherheit und Anwendungssicherheit, zu verkennen und zu unterstellen, der nationalsozialistische Staat habe eine Rechtsordnung neben vielen anderen geschaffen, vgl. Fuller, HLR 1958, 630 ff.; s. auch 1964, S. 33 ff., 40. Zur Kontroverse Hart/ Fuller vgl. Rottleuthner, RuP 1983,195 ff. Vgl. dazu Welzel (1962), S. 219 ff. und die Beiträge bei Maihofer (Hrsg, 1962); s. auch Bock, ZfNR 1984,132. Dazu Welzel (1962), S. 223 ff. Dazu die Kritik Grünwalds an der Lehre vom überpositiven Recht: Indem man Gesetzen nur in extremen Ausnahmefällen die verpflichtende Kraft abspreche, werte man das NS-Recht im übrigen als Teil einer objektiven Sollensordnung auf und ignoriere damit die Kluft, die unsere Rechtsordnung von der des Nationalsozialismus trenne (S. 10,13, 25).

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1. Teil: Einführung

heit, Leben, Gesundheit und Eigentum21 die Rechte auf freie Meinungsäußerung, auf Erziehung und Bildung, freie wissenschaftliche, künstlerische und religiöse Betätigung22 als notwendige Bestandteile jeder Rechtsordnung angesehen, ebenso das Recht auf Schutz der privaten Geheimsphäre in den Einzelausprägungen des Briefgeheimnisses und der Verschwiegenheitspflicht der Ärzte, Anwälte und Geistlichen23. Stets hängt es vom vorausgesetzten Inhalt des Naturrechts ab, in welchem Umfang positives "Recht" und damit nationalsozialistische Gesetze und Hoheitsakte als "naturrechtswidrig" ihres Rechtscharakters entkleidet werden. b) Die strafrechtspraktische Bedeutung des naturrechtlichen Maßstabs: Der "Kernbereich des Rechts" in der Nachkriegsrechtsprechung Für die Verfolgung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen existierten nach 1945 zwei grundlegend verschiedene Regelungsmodelle: Für das erste Regelungsmodell, auf dem das Gesetz Nr. 10 des alliierten Kontrollrats beruhte, bedurfte es keines Rückgriffs auf naturrechtliche Argumentation. Das Kontrollratsgesetz stellte Verbrechen gegen die Menschlichkeit unter Strafe24, gleichgültig, ob die für strafbar erklärten Handlungen die innerstaatlichen Gesetze des Landes, in dem sie begangen wurden, verletzten oder nicht. Ebensowenig konnte der Befehl einer Regierung oder eines Vorgesetzten eine Bestrafung wegen eines Menschlichkeitsverbrechens ausschließen25. Verbrechen gegen die Menschlichkeit waren danach unabhängig von ihrer Rechtswidrigkeit nach innerstaatlichem nationalsozialistischen Recht zu ahnden. Da die "Teilnahme von seiten der Regierung" als ungeschriebenes materielles Tatbestandsmerkmal angesehen wurde26, war umgekehrt die Begehung von Menschlichkeitsverbrechen gerade durch gewisse nationale Gesetze oder durch Teilnahme an ihrer Durchführung eine charakteristische Form der Tatbestandsverwirklichung27. Im Nürnberger Juristenurteil von 1947 heißt es zur Verfolgung von Menschlichkeitsverbrechen: "Das Argument, daß eine Befolgung der deutschen Gesetze eine Verteidigung gegen die Beschuldigung darstellt, beruht auf einer irrigen Auffassung von der grundlegenden Theorie, die unserem ge21 22 23 24

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Coing (1947), S. 64 f. AaO, S. 68 f. Krit. Welze! (1953), in: Maihofer (Hrsg, 1962), S. 324 f. Art. II le KRG Nr. 10. Die Vorschrift lautete: "Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Gewalttaten und Vergehen, einschließlich der folgenden, den obigen Tatbestand jedoch nicht erschöpfenden Beispiele: Mord, Ausrottung, Versklavung, Zwangsverschleppung, Freiheitsberaubung, Folterung, Vergewaltigung oder andere an der Zivilbevölkerung begangene unmenschliche Handlungen; Verfolgung aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen, ohne Rücksicht darauf, ob sie das nationale Recht des Landes, in welchem die Handlung begangen worden ist, verletzen". Näher zur Handhabung des KRG Nr. 10 Schwarz17 (1954) Anhang M3; zu den Verbrechen gegen die Menschlichkeit als Teil eines internationalen materiellen Strafrechts (Völkerstrafrecht) Oehler (1983), S. 606 f. mit Nachw. Zur Diskussion um Menschlichkeitsverbrechen und Rückwirkung auf dem Stand von 1947 vgl. Radbruch, SJZ1947, Sp. 131 ff.; Wimmer, SJZ 1947, Sp. 123 ff. Art. II 4b KRG Nr. 10. Vorgesehen war die Möglichkeit der Strafmilderung. Vgl. das Nürnberger Juristenurteil (1947) bei Friedrich (1983), S. 24; Ostendorf/ter Veen (1985), S. 139. Dazu die Beispiele bei Schwarz17 (1954), Anhang M3, Anm. 5 zu Art. II c.

Α. Deutungsmuster zum Justiz-Strafrecht 1933 bis 1945

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samten Verfahren zugrunde liegt... Es ist wohl richtig, wie die Angeklagten behaupten, daß die deutschen Gerichte im Dritten Reich dem deutschen Recht Folge leisten mußten (das heißt, dem Ausdruck des Willens von Hitler), selbst wenn es dem Völkerrecht widersprach. Aber eine derartige Beschränkung kann für diesen Gerichtshof nicht gelten. Wir haben hier das oberste materielle Recht und dazu einen Gerichtshof, der ermächtigt und verpflichtet ist, es ungeachtet der damit unvereinbaren Bestimmungen innerstaatlicher deutscher Gesetze anzuwenden. Der Kern der Anklage in diesem Fall besteht ja gerade darin, daß die Gesetze, die Hitler-Erlasse und das drakonische, korrupte und verderbte nationalsozialistische Rechtssystem als solche in sich selbst Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen und daß eine Teilnahme an dem Erlaß und der Durchführung dieser Gesetze verbrecherische Mittäterschaft bedeutet"28.

Als wesentlich ist für den hier interessierenden Zusammenhang festzuhalten, daß die Inhaltsbestimmung nationalsozialistischen "Rechts" für die objektive Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit nach dem vorrangigen Artikel II lc Kontrollratsgesetz Nr. 10 belanglos war. Eines Rückgriffs auf naturrechtliche Argumentationsmuster bedurfte es nicht, weil das "höhere Recht" positiv geworden war. Die deutschen Gerichte befanden sich in einer anderen rechtlichen Ausgangslage als die alliierte Gerichtsbarkeit: Sie konnten das Kontrollratsgesetz Nr. 10 bei Verbrechen von Deutschen gegen deutsche Staatsangehörige nur beim Vorliegen einer besonderen Zuständigkeitserklärung durch die Besatzungsbehörde anwenden29. Neben dem Kontrollratsgesetz Nr. 10 blieb deutsches Strafrecht anwendbar30 und wurde nach der 1951 erfolgten Aufhebung der deutschen Gerichtsbarkeit für Menschlichkeitsverbrechen31 zur alleinigen Grundlage für Bestrafungen durch bundesdeutsche Gerichte. Für die Anwendung deutschen Strafrechts ergab sich eine völlig andersartige rechtliche Ausgangslage: Das Rückwirkungsverbot wurde durch die alliierte Gesetzgebung?2 und später durch Artikel 103 II GG ausdrücklich für verbindlich erklärt. Die Rechtsprechung folgerte daraus, auch die Strafbarkeit von Verbrechen in der nationalsozialistischen Zeit hänge davon ab, was "damals geltendes Recht"33 war. Damit wurde die Inhaltsbestimmung des "damals geltenden Rechts" entscheidungserheblich: Die Verteidigung von Angeklagten, sie hätten ihre Taten in der Annahme begangen, im Rahmen des "damals geltenden Rechts" zu handeln, war beachtlich. Unvermeidlich mußten sich verwickelte Fragestellungen und bizarre Begründungslagen ergeben, wenn es beispielsweise etwa bei der Rechtsbeugung - galt, nach der damals (!) "noch vertretbaren" Auslegung von Tatbeständen zu suchen, die, wie beispielsweise das Blutschutzgesetz oder das Heimtückege-

28 29

Bei Friedrich (1983), S. 23 f. und Ostendorf/ter Veen (1985), S. 139. Art. III Id KRG Nr. 10. Die Ermächtigung wurde für die Britische Zone schon 1946 allgemein erteilt, vgl. Schwarz17 (1954), Anhang M3, Art. III Anm. 1 und dort die weiteren Ausführungen für die französische und sowjetische Zone; s. auch Friedrich (1983), S. 103 ff. - Zu den zahlreichen Entscheidungen des OGH für die Britische Zone zu Art. II lc KRG Nr. 10 vgl. etwa OGHSt. 1,1,6,11,19,36,39, 42,43,45 sowie die weit. Nachw. in BGHSt., Generalregister zu Bd. 1 bis 10, S. 631.

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Vgl. nur OGHSt. 1, 4 (Idealkonkurrenz); zum Verhältnis des Art. II lc KRG Nr. 10 zum deutschen Strafrecht zusf. Schwarz17 (1954), Anhang M3, Vorb. 2.

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Dazu Schwarz11 (1954), Anhang N5, Anm. 2 mit Nachw. Vgl. Art. II Nr. 2 KRProkl Nr. 3; Art. IV Nr. 7 MRG Nr. 1: Strafbarkeit ist nur zu bejahen, "falls ein zur Zeit der Begehung der Handlung in Kraft befindliches Gesetz diese Handlung ausdrücklich für strafbar erklärt". Vgl. nur BGHSt. 3,110,116 (Denunziantenfall) und OGHSt. 1,6,19,45.

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1. Teil: Einführung

setz 34 , spezifisch nationalsozialistische Züge trugen und auf eine Ausfüllung durch Vorstellungen der nationalsozialistischen Führung angelegt waren. In verschiedenen Zusammenhängen ergaben sich insbesondere Rechtfertigungsprobleme: Bei den sog. Denunziationsfällen war beispielsweise die Rechtfertigung des Täterverhaltens durch Gerichtsurteile problematisch. Nach einem 1946 von einem thüringischen Schwurgericht entschiedenen Sachverhalt hatte der Angeklagte wegen einer in einer Toilette hinterlassenen Inschrift mit dem Wortlaut: "Hitler ist ein Massenmörder und schuld am Kriege" Anzeige erstattet. Der von der Anzeige Betroffene wurde während des Krieges wegen Vorbereitung zum Hochverrat zum Tode verurteilt. In diesem Zusammenhang stellte sich die Frage, ob eine den damaligen Gesetzen entsprechende Verhängung der Todesstrafe die Bestrafung des Angeklagten, der wegen Beihilfe zum Mord verurteilt wurde, ausschließen konnte 35 . Bei der Verschleppung von Juden wurde die Frage nach einer Rechtfertigung der tatbestandsmäßigen Freiheitsberaubung durch Erlasse der Gestapo oder durch Führerweisungen aufgeworfen 36 , bei der Tötung von Geisteskranken setzte eine Bestrafung der Täter die Rechtswidrigkeit von Hitlers Euthanasiebefehl voraus, auf den sich die Angeklagten beriefen 37 . Entsprechend war im Zusammenhang der Judenvernichtung die juristische Bedeutung des von Hitler

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Zu diesen Gesetzen 2. Teil [Nrn. 15, 17]. Schon diese Ausgangslage dokumentiert ein Dilemma der Nachkriegsrechtsprechung: Die wirklichkeitsnahe Betrachtung nationalsozialistischen Rechts konnte Strafbarkeitslücken aufreißen, das Strafbedürfnis geradewegs zu innerlich unwahren Begründungen führen. In zugespitzter Form präsentierte sich das Problem bei der Rechtsbeugung; zur Rechtsbeugung vgl. Spendet (1984); s. auch Friedrich (1983); I. Müller (198η, S. 270 ff. Zum Fall: Radbmch, SJZ 1946, 105 ff.; zu weiteren Denunziantenfällen ζ. B. OGHSt. 1, 6, 19, 45; BGHSt. 3, 110. In der BGH-Entscheidung wird ausdrücklich anerkannt, die Bestrafung hänge davon ab, ob das Urteil rechtswidrig sei, wobei die Rechtswidrigkeit für den Urteilszeitpunkt festgestellt werden müsse. Sei die "ausgesprochene Todesstrafe vom Standpunkt der Richter ... eine rechtmäßige Maßnahme gewesen", sei das Verhalten des Denunzianten objektiv gerechtfertigt (aaO, 116). - Zur Naturrechtsfrage stößt die Entscheidung nicht vor, weil sie eine "Vermeidungsstrategie" befolgt: Der BGH prüft, ob die Entscheidung "selbstverständliche Grundsätze jeder noch vertretbaren Gesetzesauslegung" verletze (aaO, 118) und legt den einschlägigen § 5 KSStVO (dazu 2. Teil [Nr. 26]) auf dieser Basis aus. Ergebnis: (Damalige) Verurteilung wie Strafhöhe sind rechtswidrig und mißbräuchlich. Das Rückwirkungsverbot ist ohne Naturrecht neutralisiert (aaO, 116 ff.). Ebenso BGHSt. 4, 66, 68 f. (ebenfalls zu § 5 KSStVO); BGHSt. 9, 302, 305 (zu § 91b RStGB). Zur Kritik ("geräuschloses Aussteigen aus der NS-Verfassung") Kim (1972), S. 71; vgl. auch Jakobs, AT (1983), S. 56 f. Fn. 23: Das Rückwirkungsverbot passe nur bei einer "kontinuierlichen Ordnung". Vgl. BGHSt. 2,234, 238; 3,357,363. Vgl. OGHSt. 2,117. Nach OGHSt. 1, 321, 324 (Urt. v. 5. 3.1949) bestand über die Rechtswidrigkeit "in der Rechtspraxis und im Schrifttum so völlige Einhelligkeit, daß diese objektive Rechtswidrigkeit heute keiner Begründung mehr bedarf. Die Rechtswidrigkeit wurde teilweise auch schon aus formellen Gründen und nicht erst wegen eines Naturrechtsverstoßes bejaht, vgl. ζ. B. OLG Frankfurt, HESt. 1, 67, 71. Zur Naturrechtswidrigkeit im Anschluß an BGHSt. 2, 234, 237 f. (Kernbereich des Rechts) BGH 1 StR 55/55 und 4 StR 359/56 (bei Jäger, 1967/1982, S. 179 Fn. 57). Zur Diskussion über die geheimen Führerbefehle im Zusammenhang der SS-Einsatzgruppenprozesse vgl. Roesen, NJW 1964, 133 ff. und 1111 f., der die h. M. kritisiert; gegen Roesen etwa Arndt, NJW 1964, 486 ff.; Welzel, NJW 1964, 521 ff.; Baumann, NJW 1964, 1398 ff.; Redeker, NJW 1964,1097 ff.; Lewatd, NJW 1964, 1658 ff. Der Rechtscharakter der geheimen Führerbefehle wird überwiegend schon "aus der Sicht der damaligen Zeit" wegen der fehlenden Verkündung verneint, hilfsweise wird ein Verstoß gegen den "Kernbereich des Rechts" angenommen, so etwa Welzel, aaO. Zusf. Jäger, aaO.

Α. Deutungsmuster zum Justiz-Strafrecht 1933 bis 1945

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erteilten Vernichtungsbefehls nach Maßgabe innerstaatlichen nationalsozialistischen Rechts zu würdigen 38 . Der naturrechtliche Maßstab zur Bewertung positiven nationalsozialistischen "Rechts" konnte in solchen Zusammenhängen gewundene Begründungen erübrigen und Friktionen zwischen dem als gerecht empfundenen Ergebnis, Untaten zu bestrafen, und dem Rückwirkungsverbot vermeiden helfen: Gesetze wie Hoheitsakte, die als in höchstem Maße unsittlich und terroristisch angesehen wurden, verstießen gegen "höheres Recht" und waren damit für die Strafrechtsanwendung jedenfalls auf der Ebene der objektiven Rechtswidrigkeit unbeachtlich. Die Rechtsprechung hat sich in den ersten Nachkriegsjahren in erheblichem Umfang auf die Naturrechtswidrigkeit nationalsozialistischer Gesetze und Hoheitsakte berufen 39 . Der Bundesgerichtshof hat die Bedeutung des Naturrechts auch für das Strafrecht im Zusammenhang der Verfolgung nationalsozialistischer Gewalttaten ausdrücklich anerkannt: "Die Freiheit eines Staates, für seinen Bereich darüber zu bestimmen, was Recht und was Unrecht sein soll, mag noch so weit bemessen werden, sie ist doch nicht unbeschränkt". Es bestehe "ein gewisser Kernbereich des Rechts, der nach allgemeiner Rechtsüberzeugung von keinem Gesetz und keiner anderen obrigkeitlichen Maßnahme verletzt werden darf. Er umfaßt bestimmte als unantastbar angesehene Grundsätze des menschlichen Verhaltens, die sich bei allen Kulturvölkern auf dem Boden übereinstimmender sittlicher Grundanschauungen im Laufe der Zeit herausgebildet haben und die als rechtlich verbindlich gelten, gleichgültig, ob einzelne Vorschriften nationaler Rechtsordnungen es zu gestatten scheinen, sie zu mißachten"40. Der Bundesgerichtshof hat deshalb beispielsweise die Tragweite der Verordnung zum Schutz von Volk und Staat vom 28. Februar 193341 nicht abschließend erörtert und festgestellt, sie habe der Gestapo jedenfalls "keinen Freibrief zur Verletzung jenes Kernbereichs des Rechts geben" können, den "kein Gesetz und kein anderer obrigkeitlicher Akt antasten" dürfe 42 . Dieser Kernbereich ergebe sich aus dem "Grundgedanken der Gerechtigkeit und Menschlichkeit, wie er im Bewußtsein der Allgemeinheit" lebe, mit ihm sei der "Gedanke der Gleichheit untrennbar verbunden". Zusammenfassend heißt es dann in deutlicher Anlehnung an die Radbruchsche Formel: "Anordnungen, die die Gerechtigkeit nicht einmal anstreben, den Gedanken der Gleichheit bewußt verleugnen und die allen Kulturvölkern gemeinsame Rechtsüberzeugungen, die sich auf den Wert und die Würde der menschlichen Persönlichkeit beziehen, deutlich mißachten, schaffen kein Recht, und ein ihnen entsprechendes Verhalten bleibt Unrecht" 43 . Die Berufung der Täter auf einen Irrtum über die Rechtswidrigkeit ihres Verhaltens konnte auf der Basis einer solchen naturrechtlichen Argumentation häufig abgeschnitten werden: Die Vorstellung allein, das eigene Verhalten sei auf der Grundlage der damals gel38 39 40 41 42 43

Die Rechtsqualität wurde häufig schon wegen der fehlenden Verkündung verneint, nicht erst mit Rücksicht auf die Naturrechtswidrigkeit des Vernichtungsbefehls, vgl. soeben Fn. 37. Vgl. Jäger (1967/1982), S. 177 ff.; Lanier (1959), S. 91 ff. jeweüs mit Nachw. BGHSt. 2,230,237 (Hervorhebung G. W.); ebenso BGHSt. 3,357,363. RGBl. I, S. 83; vgl. 2. Teil [Nr. 2], BGHSt. 2, 234, 238 f.; vgl. auch BGHSt. 2,173,177; 3, 357, 362. Zur Vorbeugungs- und Schutzhaft 3. Teil Β IV, C I . BGHSt. 2,234,239; vgl. Radbruch, SJZ 1946,107 und oben bei Fn. 12.

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1. Teil: Einführung

tenden Gesetze rechtmäßig gewesen, Schloß das Unrechtsbewußtsein nicht aus, wenn sich diese Gesetze oder die auf ihrer Basis ergangenen Hoheitsakte bei naturrechtlicher Betrachtung als "Unrecht" und damit als unverbindlich erwiesen. Vielmehr konnte es allein darauf ankommen, ob sich die Angeklagten des Widerspruchs zwischen erlassenen Vorschriften und Anordnungen und höherem (Natur-) Recht bewußt waren, ob sie die "nichtrechtsstaatliche Willkür"44 ihres, sei es auch gesetzeskonformen, Verhaltens erkannten oder doch mit dieser Möglichkeit rechneten 45 . Da die Naturrechtswidrigkeit von Gesetzen und Hoheitsakten gerade aus ihrer "schrankenlosen Willkür"46, ihrem Verstoß gegen "im Bewußtsein der Allgemeinheit" - auch in der nationalsozialistischen Zeit - lebendige überpositive Rechtsgrundsätze abgeleitet wurde, mußte die Naturrechtswidrigkeit als solche ein wesentliches, schwer zu entkräftendes Indiz für das Vorhandensein eines entsprechenden Unrechtsbewußtseins bilden 47 : "Bei ganz offensichtlich groben Verstößen gegen den Grundgedanken der Gerechtigkeit und Menschlichkeit ist nicht nur die Rechtmäßigkeit einer staatlichen Maßnahme zu verneinen; die Gröblichkeit und Offensichtlichkeit der Verletzung wird regelmäßig auch ein sicheres Anzeichen dafür sein, ob diejenigen, die die Maßnahmen anordneten, durchführten oder förderten, im Bewußtsein der Widerrechtlichkeit handelten" 48 . Auf diese Weise war auch eine Berufung auf die naturrechtswidrigen Inhalte der nationalsozialistischen Weltanschauung abgeschnitten, ein "Rückgriff auf diese Ideologie" 49 strafrechtlich bedeutungslos. Seit BGHSt. 2, 194 waren entsprechende Fehlvorstellungen ohnehin nicht mehr als Vorsatzproblem, sondern als Verbotsirrtum zu behandeln, so daß die Möglichkeit einer differenzierenden Betrachtung unter Schuldgesichtspunkten eröffnet wurde. Der Verstoß gegen den "Kernbereich des Rechts" sprach dann, wenn man einen Verbotsirrtum bejahte, gegen dessen Unvermeidbarkeit. Die naturrechtliche Betrachtung vermochte also in der Praxis den Weg zum gerechten Ergebnis in den Fällen freizuräumen, in denen das Zusammenwirken von positivem nationalsozialistischen Recht und Rückwirkungsverbot ein Hindernis zu bilden drohte 50 .

c) Zusammenfassung und Kritik Der Verstoß gegen Naturrecht hat die rechtliche Unwirksamkeit der entsprechenden Gesetze, Urteile oder Hoheitsakte zur Folge, sei es, daß diese bestimmte Handlungen für strafbar erklären, sei es, daß die Strafbarkeit bestimmter Handlungen oder Personenkreise eingeschränkt wird. Dieser naturrechtliche überpositive Rechtsbegriff begrenzt den Inhalt nationalsozialistischen StTzfrechts auf die naturrechtskonformen Teile. Besonders anstößige Regelungen, wie etwa das Blutschutzgesetz oder die Polenstrafrechtsverordnung, sind danach nicht Teile des Strafrecto, bestimmten Urteilen, insbesondere solchen des Volksgerichtshofs oder

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OGHSt. 1,67,70.

45 Dazu Jäger (1967/1982), S. 177 ff. 46 BGHSt. 2,173,179. 47 Vgl. aaO. 48 BGHSt. 2, 234, 239. 49 Vgl. schon OGHSt. 1,1, 9, wo dieser Rückgriff nach Sinn und Zweck des KRG Nr. 10 für unzulässig erklärt wurde. 50

Zur Problematik des Unrechtsbewußtseins bei "Verbrechen unter totalitärer Herrschaft" Jäger (1967/1982), S. 166 ff. mit ausf. Nachw. zu Rspr. und Lit.

Α. Deutungsmuster zum Justiz-Strafrecht 1933 bis 1945

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der Sondergerichte, kann der Charakter der StrafrecÄteanwendung abgesprochen werden, bestimmte hoheitliche Anordnungen werden ungeachtet ihrer damaligen Einschätzung als verbindlich ihres Rectocharakters entkleidet. Daraus ergibt sich eine auf die nicht naturrechtswidrigen Erscheinungen der Praxis staatlicher Gesetzgebung und Strafverfolgung begrenzte Strafrectoordnung, welche zwar die - unterhalb der Schwelle zur Naturrechtswidrigkeit liegende - Illegitimität und Unrichtigkeit einzelner Elemente nicht ausschließt, die aber jedenfalls von den extremen Auswüchsen nationalsozialistischer Straf'rechts"praxis gereinigt ist: "Recht" sind die im Nationalsozialismus in Übereinstimmung mit den innerstaatlichen Gültigkeitskriterien gesetzten Vorschriften und erlassenen Entscheidungen, korrigiert durch die Normen des überpositiven (Natur)Rechts 51 . Eine solche, in ihrem Kernbereich als kontinuierlich gedachte - weil objektiv unverrückbare - Strafrec/ittordnung wird in der naturrechtlichen Betrachtung von bestimmten realen Erscheinungsbildern angeblichen Strafrechts und angeblicher Strafrechtsanwendung in der nationalsozialistischen Zeit unterschieden. Dieses Bewertungsmuster muß einen festen Begriff von Naturrecht voraussetzen, anhand dieses Begriffs den Inhalt des Strafrechts im Nationalsozialismus bestimmen und hiervon die sich unter dem Namen "Recht" oder "Strafrecht" tarnenden Erscheinungen der Willkür zu unterscheiden. Der erste Kritikpunkt gegenüber einem solchen Programm betrifft die Maßstabsbildung. Was als Strafrectoordnung anzusehen ist, hängt vom vorauszusetzenden Inhalt überzeitlichen Naturrechts ab. Die Schwierigkeiten, das "wahre Naturrecht" zu formulieren, sind offenkundig; eine von der Rechtsphilosophie allgemein anerkannte "Lösung" gibt es nicht. Hinzu kommt, daß Naturrecht im vorliegenden Zusammenhang in seiner Wendung gegen positives Recht interessiert. In dieser praktischen Erscheinungsweise verläßt Naturrecht die rechtsphilosophische Sphäre und ist an bestimmte politische Positionen und Kampflagen gebunden. Die Berufung auf Naturrecht soll gerade positives Recht beiseite schieben und ist in dieser praktischen Funktion wechselnden Inhalten zugänglich. Bezeichnenderweise werden selbst und gerade! - menschenrechtswidrigen nationalsozialistischen Vorstellungen ab 1933 naturrechtliche Weihen beigelegt52. Ab 1945 wird ein christlich geprägtes Naturrecht in den Händen der Justiz zum Instrument der "Rechts"-Bereinigung, die freilich erst ex post erfolgt, nachdem die ungleich brisantere unmittelbare Konfrontation von Naturrecht und Anwendung menschenrechtswidriger Strafgesetze durch die Justiz entfallen ist. Die Berechtigung der angesprochenen Einwände gegen den naturrechtlichen Maßstab muß hier nicht abschließend geklärt werden. Selbst wenn man wertoptimistisch die Existenz und Formulierbarkeit eines "wahren Naturrechts" unterstellt, ist dieses zur Erhellung historischer Normstrukturen ungeeignet: Das Strafrecht 1933 bis 1945 interessiert als ein an eine 51 52

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Vgl. Grünwald (1971), S. 14. Vgl. namentlich Dietze (1936), S. 109 ff. zur "Gestalt des heutigen Naturrechts", das sich als Naturrecht der Gemeinschaft (S. 52 f.) vom Naturrecht der Gesellschaft (S. 54 f.) abheben soll; u. a. heißt es: "Das Naturrecht der deutschen Gemeinschaft verbietet die Ehe zwischen Deutschblütigen und Juden. Die Reinerhaltung der Rasse ist ein Gebot des heutigen Naturrechts, weil jede Rasse im Plan der natürlichen Ordnung vorgesehen ist und nach dem Willen der Vorsehung und Natur als solche erhalten werden muß" (S. 270). Vgl. auch Erik Wolf, ARSP 28 (1934/35), 348 ff. und 1934, S. 3 ff.; H. Lange (1934), S. 20 ff. ("Recht ohne Sittlichkeit ist Unrecht", S. 26); ferner Schild, FS Marcie (1983), S. 437 ff.; Gemhuber, FS Kern (1968), S. 193; B. Koch (1985), S. 110 ff.; Bock, ZfNR 1984,133 ff. Dazu oben I.

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1. Teil: Einführung

bestimmte historische Situation gebundener Begriff, dessen Konturen zu bestimmen sind. Das Naturrecht führt gerade zur ahistorischen "Bereinigung" und damit zur Verengung des Gegenstandes: Die Naturrechtswidrigkeit des Blutschutzgesetzes etwa ändert nichts daran, daß dieses als nach innerstaatlichen Regeln gültiges Strafgesetz angewendet wurde, also Teil der empirischen Strafrechtsordnung war. Der naturrechtliche Maßstab, wie er in der Nachkriegszeit verwendet wurde, hat normativen Charakter und trägt zur Beantwortung der auf die historische Rechtsordnung zielenden Frage "wie es gewesen" nichts bei. Mit Hilfe eines naturrechtlichen Maßstabs wird in der Rechtsprechung in einer verwickelten rechtlichen Ausgangslage die Frage "Was tun?" beantwortet, wenn die Gültigkeit evident rechtsstaatsund menschenrechtswidriger staatlicher Gesetze oder Anordnungen den Weg zum gerechten Ergebnis zu versperren scheint. Leitend sind Bedürfnisse der Strafrechtsanwendung, nicht das Ziel einer Erhellung der historischen Strafrechtsordnung 1933 bis 1945. 3. Das rechtsstaatliche Strafrecht als Maßstab Das Strafrecht im Nationalsozialismus wird vielfach anhand seiner Abweichung von einem rechtsstaatlichen Maßstab in rechtsstaatswidrige (typisch nationalsozialistische) und rechtsstaatskonforme (nicht-nationalsozialistische) Bereiche unterteilt. Die Jahre 1933 und 1945 erscheinen dabei regelmäßig, entsprechend dem oben formulierten Modell53, als Zäsuren in der Entwicklung des Justiz-Strafrechts, das, soweit es nicht überhaupt verdrängt wurde54, in diesem Zeitraum durch inneren Zwiespalt gekennzeichnet war: Soweit überkommene Gesetze und dogmatische Prinzipien erhalten blieben, bewahrte das Strafrecht seinen rechtsstaatlichen Charakter. Bei Änderungen auf den Gebieten der Strafgesetzgebung, der Strafrechtspraxis oder der Strafrechtswissenschaft wird zwischen zwei Entwicklungsreihen unterschieden. Die eine ist - so Eberhard Schmidt und Welzel im Hinblick auf die Strafgesetzgebung durch "sachlich brauchbare Arbeit"55, nämlich im wesentlichen durch unpolitische Rechtsfortbildung gekennzeichnet56, die u. a. bereits angelegte Reformpläne oder -tendenzen aufgreift und verwirklicht. Die andere, die nationalsozialistische Tendenz, bewirkt eine Politisierung der Strafrechtspflege im Dienste der nationalsozialistischen Ziele, bedeutet hemmungslosen "Mißbrauch der herkömmlichen Formen des Strafgesetzes zur terroristischen Durchsetzung der politischen Ziele der Nationalsozialisten", "Kulturrückschritt" und "Pervertierung"57. a) Materielles Strafrecht Für das materielle Strafrecht werden im Hinblick auf den allgemeinen Teil als typisch rechtsstaatswidrig und nationalsozialistisch vor allem "tiefgreifende Einschränkungen"58 des Satzes nulla poena sine lege genannt59. Besonders hervorgehoben wird dabei die 1935 erfolgte 54 55 56 57 58 59

Dazu unten Β und 3. Teil; zusf. 5. Teil bes. D. Eb. Schmidt (1965), S. 430. Welzel11 (1969), S. 13. Schmidhäuser, AT2 (1975), 4/14. Vgl. Schreiber (1976), S. 191. Vgl. Baumann ¡Weber, AT9 (1985), S. 57; Jescheck, AT 3 (1978), S. 104; Schmidhäuser, AT2 (1975), 4/14; Tröndle, LK10 (1978 ff.), § 1 Rdn. 5-8; Schreiber (1976), S. 191 ff.; Eb. Schmidt (1965), S. 434,

Α. Deutungsmuster zum Justiz-Strafrecht 1933 bis 1945

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Aufhebung des Analogieverbots und die Bestrafung "nach dem Grundgedanken eines Strafgesetzes und nach gesundem Volksempfinden"60. Diese Novellierung habe den "ersten Schritt zu einem Bruch mit der kontinentaleuropäischen Tradition" gemacht61. Verwiesen wird weiter auf die "Durchbrechung" des Rückwirkungsverbots durch den nationalsozialistischen Gesetzgeber62, die erstmals schon 1933 durch das Gesetz über Verhängung und Vollzug der Todesstrafe erfolgt sei63. Bezeichnend für nationalsozialistische Regelsetzung sei weiter die Aufweichung des Bestimmtheitsgrundsatzes durch "unbestimmt gefaßte Gesetze und Verordnungen"64, in denen "die Generalklauseln, die ausfüllungsbedürftigen Wertformeln ... die Grenze zwischen Erlaubtem und Verbotenem, Straflosem und Strafbarem" verwischten65. Das gelte beispielsweise für Merkmale wie die Schädigung der Widerstandskraft des deutschen Volkes66 oder gar die Eignung, die Widerstandskraft des deutschen Volkes zu gefährden67. Konturlosigkeit kennzeichne auch das Autofallengesetz, wonach mit dem Tode bestraft wurde, "wer in räuberischer Absicht eine Autofalle stellt"68 oder den "furchtbaren Abschnitt II der ... Verordnung gegen Polen und Juden", der eine Bestrafung von Polen und Juden u. a. vorsah, wenn sie "eine Tat begehen, die gemäß dem Grundgedanken eines deutschen Strafgesetzes nach den in den eingegliederten Ostgebieten bestehenden Staatsnotwendigkeiten Strafe verdient"69. In diesen Zusammenhang wäre auch die in der Literatur zu wenig beachtete Ausweitung der Strafrahmen zu stellen, die im Kriegsstrafrecht unter Einbeziehung minder und besonders schwerer Fälle von Geldstrafe bis zur Todesstrafe reichen70. Als charakteristisches Mittel nationalsozialistischer Strafrechtspolitik gelten die Schaffung neuer und die Verschärfung vorhandener Straftatbestände; besondere Bedeutung hat in der nationalsozialistischen Regelsetzung der forcierte Einsatz der Todesstrafe. Als Beispiele rechtsstaatswidriger Verwendung des Strafrechts werden die wegen ihrer Willkürlichkeit und Brutalität besonders einprägsamen strafrechtlichen Gesetze und Verordnungen genannt. In

60 61 62 63

453; Kohlmann (1969), S. 207 ff.; Rüping, Strafrechtsgeschichte (1981), S. 97. Weit. Nachw. bei Naucke, Analogieverbot (1981), S. 73. Zur Analogienovelle 2. Teil [Nr. 16], zu § 2 n. F. aaO, 4. Welzel11 (1969), S. 21. Vgl. Schreiber (1976), S. 199 und die weit. Nachw. zur Perspektive "Durchbrechung" bei Naucke, FS Coing (1982), S. 225. Dazu 2. Teil [Nr. 5], Beispiel bei Eb. Schmidt (1965), S. 436; Schreiber (1976), S. 199. - Krit. zur Perspektive "Durchbrechung" Naucke, FS Coing (1982), der angesichts der von ihm festgestellten Häufigkeit der Nichtbeachtung des Rückwirkungsverbots (aaO, S. 227 ff.) das allgemein benutzte Schema "unhaltbare Durchbrechung rechtsstaatlicher Prinzipien 1933-1945" für nicht ausreichend erachtet (S. 226) und statt dessen von der Wirkungslosigkeit des Rückwirkungsverbots in der nationalsozialistischen Regelsetzung ausgeht (S. 236). Zum Rückwirkungsverbot zusf. 5. Teil Β III 3.

64 65 66 67

Welzel11 (1969), S. 13. Eb. Schmidt (1965), S. 435 f. Vgl. § 3 VolksschädlingsVO, 2. Teil [Nr. 29], Vgl. § 2 RundfunkVO und dazu 2. Teil [Nr. 27] 2b.

68

Vgl. 2. Teil [Nr. 25].

69

Zur Polenstrafrechts VO 2. Teil [Nr. 40] 4a. Alle Beispiele bei Eb. Schmidt (1965), S. 437. S. auch weit. Beispiele bei Claß, FS Eb. Schmidt (1961), S. 125,130 f.; Naucke (1973), S. 9 f. Zum Ganzen vgl. den 2. Teil dieser Arbeit; zusf. 5. Teil Β III 3. Dazu zusf. 5. Teil Β III 3.

70

18

1. Teil: Einführung

diesen sollen sich typisch rechtsstaatswidrige Tendenzen wechselseitig verstärken, etwa wenn in der VolksschädlingsVO, der RundfunkVO oder der PolenstrafrechtsVO unbestimmte Tatbestandsvoraussetzungen in Verbindung mit der Androhung der Todesstrafe "das endgültige Grab des nulla poena sine lege" würden . Zum rechtsstaatskonformen Teil des 1933 bis 1945 geltenden Strafrechts werden einmal all diejenigen Bestimmungen des RStGB und der strafrechtlichen Nebengesetze gerechnet, die aus vornationalsozialistischer Zeit stammen und vom nationalsozialistischen Gesetzgeber nicht geändert wurden. Dazu gehört die Mehrzahl der Vorschriften des RStGB. Aber auch "zahlreiche Vorschriften" des nationalsozialistischen Gesetzgebers, "insbesondere solche, für welche die Vorarbeiten schon geleistet waren, haben in dieser oder jener Form die Zeiten überdauert" 72 . Diese zweite, rechtsstaatskonforme Linie soll die gesamte nationalsozialistische Regelsetzung durchziehen. Danach enthalten nicht wenige Strafgesetze rechtsstaatswidrige und rechtsstaatskonforme Elemente nebeneinander, nicht selten sogar innerhalb derselben Vorschriften 73 . Im Ergebnis werden dem rechtsstaatskonformen Teil des materiellen nationalsozialistischen Strafrechts namentlich solche Vorschriften zugerechnet, die im Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland beibehalten wurden: Sie hat der bundesdeutsche Gesetzgeber trotz ihrer Entstehung in der Zeit des Nationalsozialismus als rechtsstaatlich vertretbar qualifiziert und deshalb übernommen. Als herausragendes Beispiel rechtsstaatskonformer gesetzgeberischer Entwicklung nennt Eberhard Schmidt das Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung vom 24. November 1933; er weist u. a. auch auf Änderungen im Bereich der Teilnahme und des Versuchs hin, die erst im Krieg erfolgten 74 . Welche neuen Vorschriften im einzelnen als rechtsstaatswidrig oder rechtsstaatsverträglich erachtet wurden, ist aus den Hinweisen im 2. Teil der Untersuchung ersichtlich.

b) Anwendung auf das Strafverfahrensrecht Für das Strafverfahrensrecht wird ebenfalls zwischen rechtsstaatlich vertretbaren und rechtsstaatswidrigen, typisch nationalsozialistischen Vorschriften und Einrichtungen unterschieden 75 . Albrecht Wagner hat 1968 in seiner Untersuchung über die "Umgestaltung der Gerichtsverfassung und des Verfahrens- und Richterrechts im nationalsozialistischen Staat" 71

So Eb. Schmidt (1965), S. 435. Zu den Beispielen vgl. 2. Teil [Nrn. 29, 27], [Nr. 40] 4a.

72

Vgl. Heimann-Trosien, LK9 (1970 ff.), Einl. Rdn. 24 mit Übersicht (Rdn. 24 ff.). - Über 240 Vorschriften blieben unverändert (ohne Übertretungen). Geändert wurden vom nationalsozialistischen Gesetzgeber 92 Vorschriften des RStGB, neu eingefügt 50 Vorschriften, u. a. das gesamte Maßregelrecht, aufgehoben 16 Paragraphen. Vgl. im einzelnen die tabellarischen Übersichten bei Dreher/Tröndle43 (1986), S. LV ff.; Lackner" (1987), S. XLIX ff. sowie die Darstellung der Änderungen im 2. Teil bes. [Nrn. 8,12,13, 16, 19, 20, 25, 30, 32, 36, 37, 39, 44, 46-49, 53].

73 74 75

Vgl. etwa 2. Teil [Nr. 13] lb; [Nr. 16] 4, 8; [Nr. 39] 2, 3, 4; [Nr. 48] 1, 2; [Nr. 49]; [Nr. 51]. Eb. Schmidt (1965), S. 430 ff. Vgl. Henket1 (1968), S. 59; Peters3 (1981), S. 69; Schäfer, LR 23 (1976) Einl. Kap. 3 Rdn. 21, 45; A. Wagner, Umgestaltung (1968), S. 192. Eb. Schmidt (1965) stellt hier, anders als zum materiellen Strafrecht, ausschließlich die in seinen Augen negativen Erscheinungen in den Vordergrund (S. 440 ff.). Krit. insoweit Henkel, aaO, S. 60, der zwar die Bewertungen Eb. Schmidts teilt, ihm aber "Einseitigkeit" und Vernachlässigung der positiven Errungenschaften vorwirft.

Α. Deutungsmuster zum Justiz-Strafrecht 1933 bis 1945

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festgestellt, es sei im Verfahrensrecht ein "bestürzendes Nebeneinander der Reste des Rechtsstaats und eines zunächst heimlich, dann immer offener ausgebauten Polizei-Staats entstanden", ein "schwer durchschaubares Gemenge von Legalität, Scheinlegalität und gesetzlosem Unrecht"76. Im Umfeld des Terrors seien "gerichtliche Zuständigkeiten und Verfahrensbestimmungen aus der Zeit vor 1933 inselgleich bestehen" geblieben77. Aber auch bei den "ebenso zahlreichen wie tief einschneidenden Neuerungen seit 1933 lassen sich", so Henkel 1968, "zwei Gruppen unterscheiden: Zum Teil dienen sie, vielfach unter Verwertung seit langem erwogener Reformpläne, einer gesunden Fortentwicklung des Strafverfahrensrechts; sie entspringen insoweit einem rein sachlichen Bestreben". Ein "anderer Teil der Reformen dagegen verfolgt in ungesunder und verwerflicher Weise sachwidrige machtpolitische Zwecke"78. Für eine an rechtsstaatlichen Maßstäben orientierte Betrachtung ist die Entwicklung des Verfahrensrechts von 1933 bis 1945 nach der negativen Seite durch einen zunehmenden Abbau rechtsstaatlicher Verfahrensgrundsätze gekennzeichnet, die nach Eberhard Schmidt insgesamt ein "Bild der Auflösung und des Niedergangs der Strafjustiz" ergeben79. Exemplarisch für eine am Zerfall des Rechtsstaats orientierte Darstellungsperspektive ist die bereits erwähnte Arbeit Wagners, der dokumentiert hat, wie "im Laufe der Jahre ... rechtsstaatliche Verfahrensgrundsätze konsequent Stück um Stück abgebaut" wurden80. Wagner ist dabei vom Stand der nationalsozialistischen Machtergreifung ausgegangen und hat die Umgestaltung von Gerichtsverfassungs- und Strafprozeßrecht im nationalsozialistischen rechtsstaatswidrigen Sinne81 im einzelnen beschrieben. Als wesentliche rechtsstaatswidrige Zerfallserscheinungen werden namentlich folgende Entwicklungen herausgestellt: Die Inanspruchnahme der obersten Gerichtsherrenschaft durch Hitler wird als "Durchbrechung" des Grundsatzes der Gewaltenteilung gewürdigt82. Unter dem Gesichtspunkt der "Durchbrechung" des Grundsatzes vom gesetzlichen Richter tritt die Ausschaltung der Justiz durch polizeiliche Freiheitsentziehungen83 sowie durch Tötungsbefehle Hitlers oder Himmlers84 ins Blickfeld: Hitler gegenüber habe der Grundsatz infolge seiner angemaßten Gerichtsherrenschaft und seines Niederschlagungsrechts "überhaupt nicht gegolten85. Polizeiliche Urteilskorrekturen 86 werden ebenso in diesen Zusammenhang gestellt wie die seit 1940 etablierte Gerichtswahl der Staatsanwaltschaft bei der Anklageerhebung87: Mit der in staatsanwaltschaftli76

S. 191,193.

77

AaO, S. 192. Vgl. auch Weinkauff, Justiz und Nationalsozialismus (1968), S. 195.

78

Henke? (1968), S. 59., Hervorhebung aaO.

79

Vgl. Eb. Schmidt (1965), S. 440.

80 81

A. Wagner, Umgestaltung (1968), S. 192, s. auch S. 194. "Rechtsstaatswidrig" und "nationalsozialistisch" werden identifiziert, vgl. aaO, S. 194, wo es heißt, die Darstellung beschränke sich im wesentlichen auf "Änderungen, die nationalsozialistisches Gedankengut enthalten".

82

A. Wagner, Umgestaltung (1968), S. 205; anders etwa Kern (1954): Aufhebung des Grundsatzes, Einheit der Führergewalt als neue staatsrechtliche Grundlage (S. 197 ff.). Näher 3. Teil B, C, E.

83 84

Näher 3. Teil D.

85

Vgl. A. Wagner, Umgestaltung (1968), S. 206.

8« 87

Näher 3. Teil Β IV 3, C V 2, D III. Vgl. V O v. 21. 2.1940, RGBl. I, S. 405, §§ 4 I (Wahl zwischen Amtsrichter und Strafkammer je nach Höhe der zu erwartenden Strafe) und 14 I (Begründung der Sondergerichtszuständigkeit durch die

20

1. Teil: Einführung

ches Ermessen gestellten Anklage vor dem Amtsgericht, der Strafkammer oder dem Sondergericht habe die Staatsanwaltschaft "praktisch von vornherein über die Höhe des Strafrahmens und die Zulässigkeit eines Rechtsmittels" entschieden88. Als rechtsstaatswidrig und typisch nationalsozialistisch gilt "die zielbewußte Unterminierung, schließlich Zerstörung der richterlichen Unabhängigkeit"89. Die sachliche Unabhängigkeit sei u. a. durch den behaupteten Inhaltswandel der richterlichen Unabhängigkeit angegriffen worden, nämlich durch die Bindung an die nationalsozialistische Weltanschauung und den Führerwillen90. In diesen Zusammenhang werden namentlich die sog. Lenkungsmaßnahmen eingeordnet91. Diese erfolgten einmal mittelbar über Richtlinien und Weisungen des Reichsjustizministers an die ihm nach Verreichlichung der Justiz92 - unmittelbar unterstellten Generalstaatsanwälte und Oberlandesgerichtspräsidenten oder bei sog. Chefbesprechungen im Reichsjustizministerium. Unmittelbarer Einwirkung auf die Richter dienten die Überwachung der Rechtsprechung durch die Oberlandes- und Landgerichtspräsidenten und Besprechungen mit den beteiligten Richtern93. Ab 1942 wurden alle als bedeutsam erachteten Fälle "zum Gegenstand einer vertrauensvollen Aussprache" mit den Gerichtspräsidenten gemacht ("Vor- und Nachschau")94 und die Richterbriefe 95 herausgegeben, die eine einheitliche Ausrichtung der gesamten Richterschaft bezweckten. Die persönliche Unabhängigkeit der Richter sei schon 1933 durch das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums angegriffen worden, indem dieses unter Ausschluß des Rechtsweges die Entlassung politisch unzuverlässiger Richter ermöglicht habe96. Nach der Zwischenstation des Beamtengesetzes von 193797 sei die persönliche Unabhängigkeit der Aiiklagebehörde, wenn nach deren Auffassung "die sofortige Aburteilung durch das Sondergericht mit Rücksicht auf die Schwere oder die Verwerflichkeit der Tat wegen der in der Öffentlichkeit hervorgerufenen Erregung oder wegen ernster Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit geboten ist"). 88 89 90

91

92

93 94 95 96 97

A. Wagner, Umgestaltung (1968), S. 207. Eb. Schmidt (1965), S. 440. Vgl. etwa Carl Schmitt, JW 1933, 2793 f. (u. a.: Handhabung der Generalklauseln nach den Grundsätzen des Nationalsozialismus); Frank, DJZ 1936,176,179 (Bindung an die nationalsozialistische Weltanschauung in ihrer Konkretisierung durch den Führer) oder Dohm u. a., DR Wis 1936,123 f. Dazu 2. Teil [Nr. 16] und öfters; zusf. 5. Teil A II, Β 14, Β III 3. Α. Wagner, Umgestaltung (1968), S. 210 ff.; zur "illegalen Verwendung der Staatsanwaltschaft zur Beeinflussung des Gerichts" Weinkauff, Justiz und Nationalsozialismus (1968); S. 146. Vgl. auch das Material bei Johe (1967), S. 117 ff. (für Hamburg); Boberach (1975), S. XI ff. Zur Überleitung der Rechtspflege auf das Reich, die im wesentlichen 1937 abgeschlossen war, und zur 1937 im wesentlichen vollzogenen Aufhebung der gerichtlichen Selbstverwaltung Kem (1954), S. 214 ff., 221 ff.; zusf. Claussen, in: Jeserich/Pohl/v. Unruh, Bd. 4 (1985), S. 1048 ff. Dazu für Hamburg Johe (1967), S. 127 f. Vgl. dazu Johe (1967), S. 179 ff. (für Hamburg); allg. Weinkauff, Justiz und Nationalsozialismus (1968), S. 148 f. Vgl. auch 3. Teü D I bei Fn. 37 (Freís 1er). Dazu Boberach (1975), S. XI ff. und Wahl (1981). Vgl. auch 2. Teil [Nr. 29] 10; [Nr. 39] 2c. Vgl. § 4 Ges. v. 7.4.1933, RGBl. I, S. 175. Vgl. §§ 711,171 Ges. v. 27.1.1939, RGBl. I, S. 39. Zur vorzeitigen Ruhestandsversetzung, wenn "der Beamte nicht mehr die Gewähr dafür bietet, daß er jederzeit für den nationalsozialistischen Staat eintreten wird" vgl. § 711. - Zu den Gesetzen von 1933 und 1937 vgl. die Darstellung bei Kern (1954), S. 219.

Α. Deutungsmuster zum Justiz-Strafrecht 1933 bis 1945

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Richter durch den Beschluß des Großdeutschen Reichstages vom 26. April 1942 auch "offiziell beseitigt"98 worden, indem der Beschluß Hitlers Befugiis anerkannt habe, jeden Richter ohne besonderes Verfahren aus seinem Amt zu entfernen . Zu den rechtsstaatswidrigen Erscheinungen auf dem Gebiet der Gerichtsverfassung wird ferner die Einrichtung und fortschreitende Ausdehnung und Differenzierung der Sondergerichtsbarkeiten auf Kosten der ordentlichen Gerichte gerechnet 100 . Namentlich der Volksgerichtshof 101 und die Sondergerichte 102 gelten als rechtsstaatswidrige Institutionen. Auch die Stärkung der Stellung der Staatsanwaltschaften gegenüber den Gerichten wird im engen Zusammenhang mit den für die Änderungen des Gerichtsverfassungsrechts kennzeichnenden Bestrebungen gesehen, die "Justiz in weitgehende Abhängigkeit von der Verwaltung", d. h. der politischen Führung, zu bringen 103 . Das von den Sondergerichtsbarkeiten anzuwendende Strafprozeßrecht gilt als eindeutig rechtsstaatswidrig104. Für die Sondergerichte wird schon 1933 ein Sonderverfahrensrecht eingeführt 105 : Der Wegfall von Rechtsmitteln setzt das richterliche Ermessen in der Verhandlungsführung frei 106 ; die Ladungsfrist beträgt drei Tage und kann bis auf 24 Stunden verkürzt werden 107 , 1940 wird die Ladungsfrist allgemein auf 24 Stunden verkürzt und kann auch ganz entfallen 108 ; gerichtliche Voruntersuchung, Eröffnungsbeschluß und mündliche Haftprüfung 98 A. Wagner, Umgestaltung (1968), S. 219. Vgl. auch Weinkauff, Justiz und Nationalsozialismus (1968), S. 147: "Völlige Vernichtung der letzten Reste der Garantien der richterlichen Unabhängigkeit, so daß künftig jeder Richter rechtlich vogelfrei war"; Eb. Schmidt (1965): "Der letzte und schwerste Schlag gegen die Justiz" (S. 446). 99 Vgl. RGBl. I, S. 247 und dazu auch 3. Teil D I . 100 Eingehend A. Wagner, Umgestaltung (1968), S. 242 ff. Vgl. ferner Henkel2 (1968), S. 59; Eb. Schmidt (1965), S. 447. 101 Zur Errichtung des Volksgerichtshofs 2. Teil [Nr. 13] 5a; eingehend W. Wagner (1974), der zum Ergebnis gelangt, der Volksgerichtshof sei kein "eigentliches Justizorgan" gewesen, sondern als "Schöpfung des nationalsozialistischen Systems ... viel eher ein politisches Werkzeug, das in einer justizförmigen Prozedur politische Funktionen ausübte"; ähnlich, aber zeitlich differenzierend, Gerhard Meyer bei Hillermeier (1981), S. 115 ("Aufgabe ... nicht ... rechtzusprechen, sondern die Gegner des Nationalsozialismus zu vernichten"); dezidiert für eine differenzierte Betrachtung Rüping, NStZ 1984, 815 ff. mwN. Im Ergebnis wie W. Wagner Beschluß des Bundestages BT-Dr 10/2368, S. 3. 102 Zu den Sondergerichten vgl. VO v. 21. 3. 1933, RGBl. I, S. 136 und die alle vorausgegangenen Verordnungen zusammenfassende VO v. 21. 2. 1940, RGBl. I, S. 405. Vor einer Gleichsetzung der Sondergerichte mit dem Volksgerichtshof warnt Rüping: Die Sondergerichte hätten sich im ganzen zu "Spezialstrafkammern für gravierende Delikte" entwickelt, nähere Aussagen setzten "detaillierte tatsächliche Untersuchungen" voraus (JZ 1984,820 f.). 103 Vgl. Eb. Schmidt (1965), S. 441. Näher etwa A Wagner, Umgestaltung (1968), S. 281 ff.; Claussen, in: Jeserich/Pohl/v. Unruh, Bd. 4 (1985), S. 1045 ff.; Schumacher (1985), S. 53 ff., 202. 104 Vgl. A. Wagner, Umgestaltung (1968), S. 257 ff. sowie Schorn (1963), S. 81; Eb. Schmidt (1965), S. 447 f.; Henket2 (1968), S. 59. VO v. 21.3.1933. 105 Dazu RGBl. I, S. 136 ff.; s. auch das Material bei I. Müller (1980), S. 85 f. 106 § 161 VO 1933 (Fn. 105). 107 § 12IV VO 1933 (Fn. 105). 108 § 23 II VO v. 21. 2. 1940, RGBl. I, S. 405 sah allgemein eine 24-stündige Ladungsfrist vor. Die Aburteilung mußte "sofort ohne Einhaltung von Fristen erfolgen, wenn der Täter auf frischer Tat betroffen wird oder sonst seine Schuld offen zutage liegt" (§ 231).

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1. Teil: Einführung

werden beseitigt 109 ; das Sondergericht kann eine Beweiserhebung ablehnen, wenn "es die Überzeugung gewonnen hat, daß die Beweiserhebung für die Aufklärung der Sache nicht erforderlich ist"110. Dieses Strafprozeßrecht ermöglicht "blitzartiges Zugreifen" der Sondergerichte111. Das Erkenntnisverfahren des Volksgerichtshofs ist eng an dieses Modell angelehnt 112 . Das Strafprozeßrecht des Normalverfahrens wird mit zeitlicher Verzögerung gegenüber dem modellhaften Erkenntnisverfahren der Sondergerichte ebenfalls im rechtsstaatswidrigen Sinne umgestaltet 113 : Hierher gehört etwa die entschiedene Verschärfung des Untersuchungshaftrechts durch die Einführung einer "Untersuchungshaft zur Sicherung vor Verbrechen", die bei Rückfallgefahr oder "öffentlicher Erregung über eine schwere Straftat" zulässig ist114; das Schnellverfahren vor dem Amtsrichter wird ausgedehnt 115 , Ladungsfristen können in allen Verfahren bis auf 24 Stunden verkürzt werden 116 . Der Beweiserhebungsanspruch des Angeklagten wird 1939 nach dem Modell der sondergerichtlichen Verfahren beseitigt: Das Gericht kann jetzt einen Beweisantrag ablehnen, wenn es die Beweiserhebung zur Wahrheitserforschung "nach seinem freien Ermessen ... nicht für erforderlich hält"117. Dieser "Einbruch in das Gefüge der beweisrechtlichen Bestimmungen"118 verabschiedet, so das Bild, das rechtsstaatliche Beweisrecht 119 . Zur rechtsstaatswidrigen Verschlechterung der Beschuldigtenrechte gehört auch der Abbau von Rechtsmitteln 120 , der 1944 bei der Zulassungsrevision endet, die vom Tatrichter nur 109 Vgl. §§ 11 S. 1,12 II, 91 VO 1933 (Fn. 105). 110 § 13 VO 1933 (Fn. 105). In der VO 1940 (Fn. 108) fehlt eine solche Regelung. Inzwischen sind die allgemeinen Verfahrensvorschriften, auf die verwiesen wird, angepaßt (§ 17 VO 1940 und bei Fn. 117). 111 Vgl. Freister, DJ 1938,1859. 112 Dazu Ges. v. 24. 4. 1934, RGBl. I, S. 341, Art. IV §§ 4, 5. Zum Strafprozeßrecht des Volksgerichtshofs W. Wagner (1974), S. 29 ff. 113 Vgl. A. Wagner, Umgestaltung (1968), S. 256 f.: Die Änderungen durchziehe "wie ein roter Faden ... das nationalsozialistische Bestreben, den Rechtsschutz vor den Strafgerichten möglichst zu verkürzen"; übereinstimmend Eb. Schmidt (1965), S. 441. Vgl. auch I. Müller, in: Reifner/Sonnen (1984), S. 74: "Entformalisierung des Strafverfahrens, Einschränkung der Justizförmigkeit und Schmälerung der Verteidigungsrechte bis schließlich das Strafprozeßrecht vollends aufgelöst war". Das "deutschkonservative Rechtsverständnis", "das heute so verbreitet ist, wie es 1920 und 1935 war", führte danach anders wohl als "1920 und heute" - zur "Rechtsauflösung". - Nähere Einzelheiten zu den Änderungen bei Wagner, Umgestaltung (1968), S. 261 ff.; I. Müller, aaO, S. 59 ff. sowie 1981, S. 86 ff. 114 Vgl. Art. 5 Ges. v. 28.6.1935, RGBl. I, S. 844. 115 Vgl. schon § 24 VO zum Schutze des deutschen Volkes v. 28. 2.1933, RGBl. I, S. 35 und dann die generelle Zulässigkeit des Schnellverfahrens vor dem Amtsrichter auf Antrag der Staatsanwaltschaft, Art. III § 28 VO 1940 (Fn. 108) mit einer Ladungsfrist von 24 Stunden (§ 28 III). 116 Beim Vorliegen "wichtiger Gründe", vgl. VO v. 29. 5. 1943, RGBl. I, S. 342, Art. 3 zu § 217 I S. 2 RStPO. 117 § 24 VO v. 1.9.1939, RGBl. I, S. 1658. 118 Eb. Schmidt (1965), S. 444. 119 Die Beseitigung des Beweisvorführungsrechts des Angeklagten bildete nach M. Köhler (1979), S. 23 den ersten Schritt zur Beseitigung des rechtsstaatlichen Beweisrechts (im allgemeinen Strafverfahren). 120 Dazu Α Wagner, Umgestaltung (1968), S. 266 ff. mit Nachw..

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zu gewähren ist, wenn ihre Versagung "unbillig" wäre; die Versagung ist unanfechtbar121. So wird eine fast vollständige Übereinstimmung mit dem Erkenntnisverfahrensrecht der Sondergerichte erreicht. Umgekehrt werden die Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft vermehrt, wodurch die "Rechtskraft gerichtlicher Entscheidungen - die in einem Rechtsstaat eine wesentliche Garantie der Rechtssicherheit ist - in zunehmendem Maße durchbrochen und ausgehöhlt wurde"122. Mit dem außerordentlichen Einspruch123 und der Nichtigkeitsbeschwerde124 kann im Ergebnis jedes der politischen Führung mißliebige Urteil über eine Weisung an die Oberreichsanwälte zu Fall gebracht werden. Schließlich wäre die Erweiterung der Wiederaufnahmemöglichkeiten zum Zwecke der Verurteilung eines Freigesprochenen oder strengerer Ahndung125 zu nennen. Das Strafverfahrensrecht 1933 bis 1945 soll sich in diesen rechtsstaatswidrigen Umgestaltungen, so gravierend sie sein mögen, indes nicht erschöpfen: Einmal bleibt der nicht geänderte Restbestand an überkommenem, rechtsstaatskonformem Strafverfahrensrecht; hinzu kommt der rechtsstaatlich "brauchbare" Teil der Neuerungen. Diejenigen Autoren, die nicht von vornherein ausschließlich auf die Erfassung der rechtsstaatswidrigen Eingriffe abzielen126, nennen zahlreiche Vorschriften und Neuerungen von bleibendem Wert, die sich als "rechtstechnische Neuerungen ohne eine besondere kriminalpolitische Grundtendenz" oder als "echte Reformvorschläge" erwiesen hätten127. Zu den rechtsstaatskonformen Neuerungen werden diejenigen Vorschriften gezählt, die eine prozessuale Ergänzung zur Einführung der Maßregeln der Sicherung und Besserung durch das Gewohnheitsverbrechergesetz bedeuten, etwa das selbständige richterliche Sicherungsverfahren gegen geisteskranke Rechtsbrecher128. Auch wesentliche Teile der Neuregelung des Jugendstrafverfahrens wären in diesem Zusammenhang zu nennen129. In die gleiche Linie fügt sich das politisch "neutrale" Adhäsionsverfahren, das unter bestimmten Voraussetzungen die Entscheidung über zivilrechtliche Ersatzansprüche des Verletzten im Strafverfahren ermöglichte130. Hierher gehören aber auch Änderungen in Bereichen, die ansonsten durch rechtsstaatswidrige Tendenzen gekennzeichnet werden. So war es nach Schäfer auf dem Gebiete des Beweisrechts ein "Schritt von bleibender Bedeutung", daß § 245 II RStPO das Beweisantragsrecht des Beschuldigten gesetzlich regelte131. Henkel würdigt ferner das "Bestreben nach Auf121 § 131, III VO v. 13.12.1944, RGBl. I, S. 339 ff. 122 A. Wagner, Umgestaltung (1968), S. 268. Vgl. auch Eb. Schmidt (1965), S. 442 ("... höchst bezeichnendes Mittel im Kampf Hitlers gegen die Idee des Rechtsstaates ... ") und Rüping, Strafrechtsgeschichte (1981), S. 99 ("Die in der Rechtskraft liegende Rechtssicherheit wird beseitigt"). 123 Ges. v. 16. 9.1939, RGBl. I, S. 1841, Art. 2, § 3; näher Schumacher (1985), S. 170 ff. S. auch unten 3. Teil D I . 124 VO v. 21.2.1940, RGBl. I, S. 405, Art. V, § 351, IV. Näher Schumacher (1985), S. 187 ff. 125 Art. 6 VO v. 29.5.1943, RGBl. I, S. 342. 126 So aberv4. Wagner, Umgestaltung (1968), S. 194. 127 Vgl. Schäfer, LR 23 (1976), Einl. Kap. 3, Rdn. 21 und dessen Auflistung; ferner Henke? (1968), S. 59; Peters3 (1981), S. 69. 128 Abschn. 3a Gewohnheitsverbrecherges. (2. Teil [Nr. 12]), §§ 429a ff. RStPO, vgl. Henkel, aaO; Schäfer, aaO. 129 Zum RJGG 1943 2. Teil [Nr. 51], 130 VO v. 29. 5.1943, RGBl. I, S. 342, §§ 403 ff. RStPO, Beispiel bei Peters3 (1981), S. 69. 131 Beispiel bei Schäfer, LR 23 (1976), Einl. Kap. 3, Rdn. 27.

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1. Teil: Einführung

lockerung zu starrer und umständlicher Verfahrensregeln" positiv, soweit es sachlich berechtigt geblieben und nicht in einen "Zerfall des Rechtsstaats" durch Zerstörung "schützender Verfahrensformen" umgeschlagen sei 132 . Als einzelne Beispiele nennt er die Einschränkung des "übertriebenen Zwanges zur Zeugenvereidigung", durch das Gesetz vom 24. November 1933, das u. a. dem Gericht in zahlreichen Fällen die Befugnis einräumte, abweichend vom bis dahin geltenden Recht von einer Zeugenvereidigung abzusehen133 und die "maßvolle weitere Auflockerung des Verfolgungszwanges der Staatsanwaltschaft"134. Gegenüber der Einordnung dieser letzteren "Auflockerungstendenz" in die allgemeine - rechtsstaatswidrige - Linie einer Stärkung der Staatsanwaltschaft gegenüber Gericht und Beschuldigten kann Henkel immerhin darauf verweisen, daß das heute geltende Recht die ab 1933 erlassenen entsprechenden Vorschriften teilweise übernommen und teilweise die Einstellungsmöglichkeiten darüber hinaus noch erheblich erweitert hat 135 . c) Weitere Anwendungsmöglichkeiten Der Maßstab "rechtsstaatliches Strafrecht" erlaubt eine Einteilung sämtlicher strafrechtlicher Entwicklungen in zwei heterogene Bereiche: So werden in Reformvorhaben wie dem Entwurf eines Strafgesetzbuchs von 1936 rechtsstaatswidrige und rechtsstaatskonforme Linien herausgearbeitet 136 , die zu unterschiedlichen Gesamtbewertungen als "im Kern" rechtsstaatlich oder nicht-rechtsstaatlich führen 137 . Die Rechtsprechung kann gleichfalls anhand des rechtsstaatlichen Maßstabs unterteilt werden: Man kann etwa fragen, ob und in welchem Umfang einzelne Entscheidungen "unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten ... bedenklich"138 sind und solche Prüfung auf bestimmte einzelne Gerichte oder auf ganze Gerichtsbarkeiten erstrekken 139 . In ähnlicher Weise kann versucht werden, die Entwicklung der Strafrechtswissenschaft zu beschreiben: Die Angriffe auf den Grundsatz nulla poena sine lege etwa wären als

132 133 134 135 136

Henkel2 (1968), S. 59. RGBl. I, S. 308, §§ 57 ff., 61 RStPO. Henkel2 (1968), S. 59. Zur Ausdehnung des Opportunitätsprinzips vgl. nur Meyer-Goßner, LR 23 (1978), § 152 Rdn. 25 ff. Vgl. etwa Jescheck, AT2 (1972), S. 82; Eb. Schmidt (1965), S. 451; Begr. E 1962, S. 94. - Zum E StVO 1939 vgl. entsprechend Schäfer, LR23 (1976), Einl. Kap. 3, Rdn. 21 ("echte Reformvorschläge"). 137 Vgl. im ersteren Sinne Jescheck, aaO und LK10 (1978 ff.), Einl. Rdn. 70; ähnlich Eb. Schmidt, aaO, der die nicht erfolgte Verabschiedung des Entwurfs als Beweis dafür ansieht, wie stark "Kohlrausch die Arbeiten der Kommission im rechtsstaatlichen Sinne gelenkt" habe. Anders die Einschätzung des E 1962, aaO: Der E 1936 habe sich "weitgehend von der liberalen und rechtsstaatlichen Haltung seiner Vorgänger" gelöst; s. auch Maurach/Zipf, AT 1 (1987), S. 52. 138 Vgl. etwa Sonnen, in: Reifner/Sonnen (1984), S. 52. 139 Vgl. etwa zur Militärgerichtsbarkeit Schweling (1977), der zum Ergebnis gelangt: "Alles in allem kann man den deutschen Kriegsgerichten nicht den Vorwurf machen, daß sie den Boden der Rechtsstaatlichkeit verlassen hätten" (S. 379). Zum Ansatz Schwelings mit Recht krit. Stolleis, GWU 1978, S. 650 ff. Zur Rspr. des RG einerseits Lengemann (1974), andererseits I. Müller (1987), S. 135 ff. und Kaul (1971). S. auch oben Fn. 101.

Α. Deutungsmuster zum Justiz-Strafrecht 1933 bis 1945

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Teil einer rechtsstaatswidrigen Entwicklung zu charakterisieren und wirklichen rechtsstaatlichen Fortschritten strafrechtlicher Dogmatik gegenüberzustellen140. Die Liste der Beispiele ließe sich beliebig verlängern: Der Maßstab "rechtsstaatliches Strafrecht" kann zur Gruppierung sämtlicher strafrechtlicher Erscheinungen herangezogen werden. d) Praktische Bedeutung des Maßstabs: Rechtsbereinigung nach 1945 Der Einteilungsmaßstab "rechtsstaatliches Strafrecht" hat nach 1945 eine herausragende rechtspraktische Bedeutung erlangt: Die Nachkriegsgesetzgeber mußten entscheiden, ob und inwieweit Vorschriften aus der Zeit von 1933 bis 1945 zu übernehmen oder für ungültig zu erklären seien. Die alliierte Gesetzgebung hatte ab 1945 zahlreiche Vorschriften aus der nationalsozialistischen Zeit aufgehoben oder in ihrer Anwendbarkeit eingeschränkt141. Dem Bundesgesetzgeber stand nach der Verabschiedung des Grundgesetzes ein konkreter rechtsstaatlicher Maßstab zur Verfügung, an dessen Elle sämtliche in Kraft gebliebenen Vorschriften aus der nationalsozialistischen Zeit zu messen waren. Das gleiche galt für Regelungen, die durch die alliierte Gesetzgebung aufgehoben waren, aber - in Anlehnung an Vorgänger aus der Zeit von 1933 bis 1945 - wieder eingeführt werden sollten142: Die "Bereinigung" der gesamten Gesetzgebung von rechtsstaatswidrigen nationalsozialistischen Bestandteilen war eine vordringliche Aufgabe143. Ein bereits 1950 verabschiedetes Änderungsgesetz144 diente der Befreiung des Strafverfahrensrechts von rechtsstaatswidrigen Bestandteilen145. Für das materielle Strafrecht bedeutete das 3. Strafrechtsänderungsgesetz 1953 ("Bereinigungsgesetz") die gesetzgeberische Lösung: Das Gesetz brachte "mit der Bereinigung des Strafgesetzbuches ... zum Ausdruck ..., daß, soweit der Entwurf nicht eingreift, Änderungen des Strafgesetzbuches durch die Gesetzgebung der nationalsozialistischen Zeit... vorbehaltlich einer eigentlichen Reform vom Gesetzgeber anerkannt werden"146. Dem Richter sollte "wieder ein voll funktionsfähiges, in seiner Gültigkeit vom Gesetzgeber bestätigtes Instrument an die Hand" gegeben werden147. Schließlich be-

140 Zur "Dogmatil· als festes Bollwerk gegen ideologische Einbrüche" Wetzet, FS Maurach (1972), S. 4; vgl. dagegen aber die eingehende Materialaufbereitung unter der Perspektive "Antiliberalismus" bei Marxen (1975), S. 167 ff. 141 Zur alliierten Gesetzgebung vgl. Göke (1948), S. 1 ff. mit Wiedergabe der einschlägigen Vorschriften S. 299 ff.; Stolleis, FS Coing (1982), S. 387 ff.; Diestelkamp, JuS 1980,405. 142 Zur Aufhebung des Staatsschutzstrafrechts vgl. KRG Nr. 11, zur Wiedereinführung zahlreicher Vorschriften aus der Verratsnovelle durch das StÄG 1951 vgl. 2. Teil [Nr. 13], bes. 1,5a. 143 Vgl. für das materielle Strafrecht Dreher, JZ 1953, 421; Begr. zum RegE eines 3. StÄG (Strafrechtsbereinigungsgesetz) BT-Dr 1/3713, S. 19. 144 145 146 147

Ges. v. 12.9.1950, BGBl. I, S. 455. Zum Gesetz vgl. Niethammer, LR 20 (1958), Einl. S. 21; Nüse, JR 1950,516 ff., 553 ff. Begr. zum RegE BT-Dr 1/3713, S. 19. Dreher, JZ 1953,421; vgl. auch Lackner, JZ 1953,428. Das Gesetz brachte auch wieder den maßgeblichen einheitlichen Gesetzestext, neu bekanntgemacht unter dem 25. 8. 1953, BGBl. I, S. 1083 ff., berichtigt S. 1954.

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reinigte der Bundesgesetzgeber, ebenfalls 1953, das Reichsjugendgerichtsgesetz 1943148, die Neukodifikation des Jugendstrafrechts durch den nationalsozialistischen Gesetzgeber: Der fortschrittliche Kern des Gesetzes, so die Sichtweise, wurde bewahrt, rechtsstaatswidrige nationalsozialistische Elemente wurden beseitigt149. Auch die Nachkriegsrechtsprechung war mit der Frage der Fortgeltung von Rechtsänderungen aus der Zeit von 1933 bis 1945 befaßt: Die ausdrückliche Aufhebung von nationalsozialistischen Vorschriften durch die alliierte Gesetzgebung wurde als nicht abschließend angesehen150. Namentlich das Militärregierungsgesetz Nr. I 151 enthielt allgemeine Regeln, an denen nicht ausdrücklich aufgehobene Gesetze zu messen waren. Das Militärregierungsgesetz verbot u. a. die Auslegung oder Anwendung deutschen Rechts nach nationalsozialistischen Lehren (Art. III Ziff. 3), die Bestrafung nach "Analogie oder nach angeblichem gesunden Volksempfinden" (Art. IV Ziff. 7) und grausame oder übermäßig hohe Strafen (Art. IV Ziff. 8). Ergänzende allgemeine Anweisungen an Richter untersagten ferner - grundsätzlich, aber nicht ausnahmslos - die Überschreitung der vor dem 30. Januar 1933 geltenden Höchststrafen bei Verschärfung der Strafrahmen in der nationalsozialistischen Zeit 152 . Rechtsstaatsverträglichkeit der Vorschriften führte in diesem Zusammenhang ohne weiteres zur Fortgeltung eben weil, so die Annahme, solche Vorschriften gerade nicht "nationalsozialistischem Gedankengut entsprossen" waren153. Der Bundesgerichtshof hat beispielsweise die Gültigkeit der §§ 240154, 253155 RStGB ungeachtet ihres Wortlauts bejaht: Daß der Richter bei der Abgrenzung strafwürdigen Unrechts nach dem Verhältnis des Mittels zum Zweck auf das Rechtsempfinden des Volkes zu achten habe, sei ein "alter Grundsatz rechtsstaatlichen Strafens". Unter rechtsstaatlichen Verhältnissen gelte der Begriff des "gesunden Volksempfindens" wieder "mit seinem wirklichen, unverfälschten Inhalt", also ohne jede nationalsozialistische Einfärbung. Überprüft wurden die Vorschriften auf ihre substantielle Rechtsstaatsverträglichkeit, mit der man zugleich ihren nicht-nationalsozialistischen Charakter begründet sah156. Aus der Sicht des Nachkriegsgesetzgebers war die Betrachtung der 1933 bis 1945 geltenden Vorschriften nach dem Schema rechtsstaatsverträglich/rechtsstaatswidrig unverzichtbar. Die Dringlichkeit des Anliegens, eine einheitliche Rechtsordnung wiederherzustellen, schuf Entscheidungszwänge. Jede Sofortlösung mußte auf eine bahnbrechende Gesamtreform verzichten und an ein bereits existierendes rechtsstaatliches Strafrechtsmodell anknüpfen. Als ein solches rechtsstaatliches Strafrechtssystem wurde das der Weimarer Republik angesehen; 148 Dazu 2. Teil [Nr. 51], 149 Dazu eingehend Dallinger/Lackner, (1987), S. 31.

JGG (1955), Einf. Rdn. 44 ff.; vgl. auch

Schaffstein/Beulte9

150 Vgl. Stolleis, FS Coing (1982), S. 402; Göke (1948), S. 2 ff. 151 Mit dem ersten Tag der Besetzung deutschen Gebietes in Kraft getreten, vgl. Göke (1948), S. 316. 152 Dazu Ziff. 8b "Allgemeine Anweisungen an Richter Nr. 1" der Militärregierung bei Göke (1948), S. 317. 153 Dazu Göke (1948), S. 3 mit Nachw. 154 Dazu 2. Teil [Nr. 49] 11 und BGHSt. 1,84. 155 Dazu 2. Teil [Nr. 49] 13 und dazu BGHSt. 1,13. 156 BGHSt. 1,13,19; 84, 87 und soeben Fn. 154 f.; zu § 49a RStGB 1943 (2. Tei] [Nr. 49] 2) vgl. BGHSt. 1,59,60 f. (kein "nationalsozialistisches Gedankengut, das der heutigen Rechtsauffassung" widerspreche); BGHSt. 1, 80 (zu § 175 RStGB 1935, vgl. 2. Teil [Nr. 16] 8) und 1, 124 (§ 330a RStGB 1933, dazu 2. Teil [Nr. 12] 5b) mit dem Hinweis auf Übereinstimmung mit früheren Reformvorschlägen.

Α. Deutungsmuster zum Justiz-Strafrecht 1933 bis 1945

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gangbare Wege einer Fortbildung dieses Systems waren in den Entwürfen der Weimarer Zeit vorgezeichnet. Vor diesem Hintergrund bewertete man die ab 1933 erfolgten Änderungen unter dem Gesichtspunkt ihrer Rechtsstaatsverträglichkeit und eliminierte, was in Verruf geraten war. Beibehalten wurden namentlich solche Neuerungen, die sich an frühere Entwürfe anlehnten. Aus dem rechtsstaatlichen Kontext ergab sich zudem die Möglichkeit, auch solche Begriffe, die dem Transport nationalsozialistischer Vorstellungen gedient hatten, in den veränderten Auslegungshorizont zu übernehmen, gegebenenfalls mit symbolischen sprachlichen Korrekturen (ζ. B. "Verwerflichkeit" statt "gesundes Volksempfinden"). Ob der Bundesgesetzgeber im ganzen die richtigen Konsequenzen gezogen hat und ob alle übernommenen Vorschriften tatsächlich rechtsstaatlich unbedenklich waren, ist eine hier nicht zu beantwortende Frage. e) Zusammenfassung und Kritik Eine an der Perspektive rechtsstaatskonformes/rechtsstaatswidriges Strafrecht orientierte Betrachtung setzt feststehende Anforderungen an rechtsstaatliches Strafrecht voraus und gruppiert nach diesem Maßstab Entwicklungen in Gesetzgebung, Rechtsprechung und Wissenschaft. Ein solches Verfahren entsprach insbesondere den Bedürfnissen der bundesdeutschen Nachkriegsgesetzgebung. Angesichts der rechtspraktischen Bedeutung des Maßstabs liegt ein möglicher Einwand auf der Hand: Es handle sich, ähnlich wie bei der Anwendung eines naturrechtlichen Maßstabs, um eine an den Bedürfnissen der Praxis orientierte normative Betrachtung des Strafrechts 1933 bis 1945 anhand systemfremder Maßstäbe: Das rechtsstaatliche Strafrecht sei nicht die Elle, an der man die Strafrechtsentwicklung 1933 bis 1945 sinnvoll messen könne 157 . Der Maßstab "rechtsstaatliches Strafrecht" ist freilich nicht ohne weiteres als "normativ" und "ahistorisch" zu erweisen. Die grundlegende These lautet, es gebe innerhalb des geltenden und praktizierten Strafrechts 1933 bis 1945 rechtsstaatskonforme und rechtsstaatswidrige Teile. Die Herausbildung heterogener Bereiche wird als Beschreibung der tatsächlichen strafrechtlichen Entwicklung im nationalsozialistischen Staat begriffen. Zwiespältigkeit soll real in der historischen Situation bestehen, nicht erst nach Maßgabe einer ex-post erfolgenden Deutung im Rahmen eines andersartigen Bezugssystems. Die Anhänger dieser These können beispielsweise auf das äußere Erscheinungsbild der strafrechtlichen Regelsetzung 1933 bis 1945 verweisen: Die bis 1933 entwickelte Strafgesetzgebung wird nach 1933 niemals im ganzen formell suspendiert. Eine vollständige gesetzliche Neuordnung des materiellen oder formellen Strafrechts erfolgt nicht, entsprechende Entwürfe zum RStGB und zur RStPO werden zumindest nicht im ganzen verabschiedet. Der nationalsozialistische Gesetzgeber begnügt sich jedenfalls äußerlich mit Änderungen des überkommenen Gesetzesgebäudes, ohne dieses im ganzen formell zu ersetzen. Die Neuerungen selbst gehen ihrerseits teilweise eindeutig auf frühere, vornationalsozialistische Entwürfe zurück. Die Interpretation anhand des Maßstabes "rechtsstaatliches Strafrecht" erhebt also (auch) einen explikativen Anspruch und kann sich u. a. auf die äußere Entwicklung der gesetzgeberischen Lage stützen. Für die immanente Kritik dieses Ansatzes sind drei Gesichtspunkte wesentlich. 157 Vgl. Stolleis, Vorurteile und Werturteile I (1981), S. 26.

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1. Teil: Einführung

Erstens: Die Wahl der Perspektive "rechtsstaatliches Strafrecht" begrenzt notwendig den Blickwinkel und damit den Erklärungshorizont. Nationalsozialistisches Strafrecht kann bei ausschließlichem Messen am Rechtsstaat nur negativ als Abweichung von rechtsstaatlichen Grundsätzen, als "Willkür" gekennzeichnet werden. Eine eigenständige inhaltliche Bestimmung nationalsozialistischen Strafrechts wird nicht ins Auge gefaßt. Allerdings ist die Richtigkeit einer solchen Deutung nicht von vornherein auszuschließen: Wer den Nationalsozialismus durch "nihilistische Rechtsfeindschaft" gekennzeichnet sieht, kann nationalsozialistisches Strafrecht in Ermangelung anderer positiver Bestimmungsgründe nur negativ als Abkehr von rechtsstaatlichen Prinzipien beschreiben158. Zweitens: Das Gliederungsschema rechtsstaatswidrig/rechtsstaatskonform ermöglicht nur scheinbar eine durchgängig klare Zuordnung. Einteilungsprobleme werden unvermeidlich, wenn strafrechtliche Begriffe in hohem Maße kontextabhängig sind wie etwa die "guten Sitten"159 oder das "gesunde Volksempfinden"160. Der Maßstab der inhaltlichen Ausfüllung ist dem jeweiligen Tatbestand nicht zu entnehmen, der gerade auf allgemeinere Prinzipien der Strafrechts- oder Gesamtrechtsordnung oder des "Sittlichkeitsempfindens" verweist. Im Schrifttum ab 1933 werden solche Generalklauseln oder andere, die in dem schon vor 1933 geltenden Recht enthalten sind, als "Einbruchstellen" für das neue Rechtsdenken gefeiert, die Notwendigkeit einer Auslegung alter wie neuer Generalklauseln nach nationalsozialistischen Grundsätzen hervorgehoben161. Die damit (möglicherweise) verbundenen Konsequenzen für den Inhalt "nationalsozialistischen Strafrechts" illustriert eine Stellungnahme Dahms: Alle Wertbegriffe des Strafrechts seien, so Dahm 1934, im Einklang mit der neuen Wertordnung auszulegen, enthielten eine "doppelte Verweisung auf Volksanschauung, nationalsozialistische Rechtsidee und den Willen der politischen Führung", in dem sich der Volkswille authentisch darstelle162. Was beispielsweise gute Sitten seien, bemesse sich "nach den strengen Anforderungen der nationalsozialistischen Weltanschauung"163, als "gesund" könne nur die Volksanschauung gelten, die der "deutschen und nationalsozialistischen Rechtsidee" entspreche164. Von diesem Ausgangspunkt hätte auch die Ersetzung des Maßstabs "gesundes Volksempfinden" durch Begriffe wie "verwerflich"165 oder "zumutbar"166 keine sachliche Änderung bewirkt. Zur etwaigen künftigen Verwendung des Merkmals "Zumutbarkeit" durch den nationalsozialistischen Gesetzgeber bemerkt Dahm, ein solcher oder ein entsprechender Begriff sei nach Maßgabe der neuen nationalsozialistischen Wertungen auszulegen, jede andere inhaltliche Ausfüllung sei juristisch falsch167. Umgekehrt sind die Generalklauseln selbstverständlich 158 Vgl. in diesem Zusammenhang unten A II 2b. 159 Vgl. § 226a RStGB 1933 (2. Teil [Nr. 8]). 160 Vgl. §§ 2, 330c RStGB 1935, §§ 240 II, 253 II RStGB 1943 und dazu 2. Teil [Nr. 16] 4, 8; [Nr. 49] 11, 13. 161 Vgl. aus dem fast unübersehbaren Schrifttum nur Carl Schmitt, JW 1933, 2793 f. (Leitsatz 4); JW 1934, 713, 717; Staat, Bewegung, Volk (1933), S. 43 f.; Über die drei Arten (1934), S. 59; Lorenz (1938), S. 10 ff., 14. Zusf. Rüthers (1968), bes. S. 213 ff. 162 Dahm, DStR 1934,87,90 f. 163 AaO, 93. 164 AaO, 91. 165 §§ 240 II, 253 II i. d. F. des 3. StÄG. 166 § 330c i. d. F. des 3. StÄG. 167 DStR 1934, 93.

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auch für andere als nationalsozialistische Inhalte offen, wie etwa der Bundesgerichtshof168 für das Maßprinzip des "gesunden Volksempfinden" angenommen hat: Die Substanz der Generalklauseln hängt von den Wertmaßstäben ab, die praktische Strafrechtsanwendung leiten. Die Beurteilung des Sachgehalts der 1933 bis 1945 geltenden strafrechtlichen Regeln kann also in diesem Bereich nicht allein anhand der tatbestandlichen Textfassung erfolgen, sondern setzt nähere Bestimmungen der relevanten Maßstäbe voraus169. Eine vergleichbare Problematik ergibt sich bei allen Gesetzen, die Gesinnungsmerkmale wie "böswillig", "gewissenlos", "aus niedrigen Beweggründen" oder überhaupt wertausfüllungsbedürftige Begriffe verwenden. Mit der Wertausfüllungsbedürftigkeit wächst die Kontextabhängigkeit der strafrechtlichen Regeln. Die Frage, ob und inwieweit der stille Inhaltswandel170 ohne Gesetzesänderung zu einer Umwertung von Strafgesetzen aus der Zeit vor 1933 führt, wird bei den Anwendern eines rechtsstaatlichen Maßstabs weder gestellt noch beantwortet. Das gleiche gilt im Hinblick auf die umfängliche Gesetzgebung ab 1933: In dem Maße, in dem die neuen Strafvorschriften Anwendungsspielräume eröffnen, verweisen sie aus sich heraus auf den Kontext, in dem sie stehen und der die materialen Auslegungskriterien festlegt. Dieser Kontext wird nicht problematisiert, vielmehr ein fortbestehender rechtsstaatlicher Bezugsrahmen unterstellt. Drittens: Die an einem rechtsstaatlichen Maßstab orientierte Trennungsthese setzt eine nicht näher problematisierte Gültigkeit des Gesetzesbindungspostulats im Sinne einer Gesetzesherrschaft voraus. Neben dem Inhaltswandel gesetzlicher Begriffe ist jedoch auch der Stellenwert des Gesetzes selbst ins Auge zu fassen, der den Angelpunkt rechtsstaatlicher deutscher Strafrechtstradition bildet: Falls das Strafgesetz nicht nur an innerer Erosion leidet, sondern, wie etwa Naucke behauptet171, seine Grenzfunktion verliert - müßte das nicht eine Trennung rechtsstaatskonformer und rechtsstaatswidriger Systemteile ausschließen? Kann vom Fortbestand rechtsstaatlichen Strafrechts ausgegangen werden, falls sein zentrales Bauelement zerstört ist? Die dritte Überlegung führt geradewegs zum gemeinsamen Kern der angesprochenen Einwände: Die Interpretationsleitlinie "rechtsstaatliches/nichtrechtsstaatliches Strafrecht" setzt die Fortexistenz rechtsstaatlichen Strafrechts im Strafrecht 1933 bis 1945 stillschweigend voraus. Die Weitergeltung bestimmter strafrechtlicher Vorschriften nach 1933 und nach 1945 beweist diese Fortexistenz noch nicht: Neues Strafrecht kann auf dem Wege einer inneren Umwertung der Strafgesetze und insbesondere eines Funktionswandels der Strafgesetze auch ohne ein neues Strafgesetzbuch entstanden sein172. Es gibt 1933 bis 1945 möglicherweise nur eine Teilidentität von strafrechtlichen Normtextmassen, aber keine Kontinuität rechtsstaatskonformer Strafrechtsteile, die sich von rechtsstaatswidrigen Teilen abheben. Die in der Sache unumgängliche Auseinandersetzung mit den angeführten Gesichtspunkten, insbesondere

168 Vgl. B G H wie Fn. 154 f. 169 Zum Verhältnis Normtext/Norminhalt etwa 2. Teil [Nr. 13] 5; [Nr. 16] 5; [Nr. 51] 3 und öfters sowie den Ausblick. 170 Dazu für das Zivilrecht Rüthers (1968). 171 Dazu unten II 1. 172 Zu diesen Erwägungen Carl Schmitt, DJZ1935, Sp. 923, näher 2. Teil [Nr. 16] 10.

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1. Teil: Einführung

mit der Frage der Fortgeltung rechtsstaatlichen Strafrechts, erfolgt bei der beschriebenen Variante der "Trennungsthese" nicht, die insofern an einer empfindlichen Begründungslücke leidet. 4. Die nationalsozialistische Weltanschauung als Maßstab Eine dritte Variante der Trennungsthese will im Unterschied zu den beiden skizzierten Ansätzen unmittelbar an ein spezifisch nationalsozialistisches Kriterium anknüpfen: Die nationalsozialistische Weltanschauung, zur Kennzeichnung ihrer Unwahrheit vielfach Ideologie genannt, dient als Gradmesser für den nationalsozialistischen oder nicht-nationalsozialistischen Charakter strafrechtlicher Phänomene. Bei der Verwendung dieses Gruppierungsprinzips lassen sich zwei Linien unterscheiden: Eine erste Linie stellt Recht und Ideologie als Gegenwelten einander gegenüber, so daß, ähnlich wie bei dem naturrechtlichen Ansatz, Sphären von Recht und Nicht-Recht entstehen (dazu a). Eine zweite Linie setzt, ähnlich wie der Maßstab Rechtsstaatswidrigkeit, eine Stufe tiefer an und begnügt sich mit der Markierung ideologisierter nationalsozialistischer und ideologiefreier, nicht-nationalsozialistischer Zonen des Strafrechts (dazu b). a) (Straf-)Recht

und Ideologie

- zwei

Welten

Die These von den zwei Welten Recht und Ideologie hat Buchheim in zwei für den Frankfurter Auschwitz-Prozeß 1964 erstellten Gutachten besonders klar und pointiert formuliert173. Er unterscheidet eine Sphäre der "Normativität" und eine Sphäre, die nicht "normiert" sei, sondern in der ausschließlich ideologische Prinzipien vorherrschten. Dieses Modell entwickelt Buchheim anhand des Unterschieds von Befehlen in "Dienstsachen" und "Weltanschauungssachen". Befehle in Dienstsachen würden, so Buchheim, durch behördliche Organe ausgeführt, Befehle in Weltanschauungssachen im Rahmen der (außernormativen) Führergewalt erteilt und von deren Organen ausgeführt. Diese Führergewalt steht für Buchheim grundsätzlich außerhalb der "normativen Ordnung" und ist daher prinzipiell ungesetzlich: "Legitimiert wurde die Befehlsgewalt des Führers letztlich aus der geschichtlichen Sendung, die er für sich in Anspruch nahm ... Alle Bindungen gesetzlicher, sittlicher oder sachlicher Art besaßen dem 'Gesetz der Geschichte', dem 'Lebensrecht des Volkes' gegenüber nur noch relative Geltung. Sie konnten beachtet werden und wurden tatsächlich weitgehend beachtet. Wo sie aber dem angeblichen geschichtlichen Auftrag bzw. den tatsächlichen politischen Zwecken Hitlers im Wege standen, wurden sie suspendiert. Dann galt der Fememord als rechtmäßiger Vollzug und die Tötung politischer Gegner nicht ids Mord, sondern als Tötung des Feindes im Kampf um das Reich ... Der Führerbefehl... war aus jeder normativen Bindung herausgenommen und setzte gewissermaßen die Entschlüsse der Geschichte in die Tat um"174. 173 Die SS - Das Herrschaftsinstrument (1964/1982), S. 15 ff.; Befehl und Gehorsam (1964/1982), S. 216 ff. Die Verwendung des Terminus "Staat" lehnt Buchheim im Hinblick auf die von Fraenkel mit "Maßnahmestaat" bezeichneten Erscheinungsweisen der Führergewalt (dazu unten Β I) ab, vgl. Die SS - Das Herrschaftsinstrument (1964/1982), S. 21 f. Krit. zum Ansatz Buchheims Kirschenmann (1970), S. 133 f. Fn. 160; B. Koch (1985), S. 45 f.; Schünemann, FS Bruns (1978), S. 230 ff. ("... ein die wirkliche Sachlage verzerrendes, nachträgliches Konstrukt... ", S. 230). 174 Befehl und Gehorsam (1982), S. 219 f.

Α. Deutungsmuster zum Justiz-Strafrecht 1933 bis 1945

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Dem Vollzug von Befehlen in Weltanschauungssachen diente nach Buchheim die nationalsozialistische Bewegung, namentlich die SS. Übergreifende Bedeutung erlangt Buchheims These dadurch, daß er die Verschmelzung von SS und Polizei175 als Herauslösung der Polizei aus dem staatlich-normativen Bereich ansieht: Die Polizei wird für Buchheim "als ein in sich normativ funktionierender Apparat in toto zum Instrument nicht-normativer bzw. anti-normativer Maßnahmen, also zum ausführenden Organ von Befehlen in Weltanschauungssachen"176. In der Politischen Polizei (Gestapo) sieht Buchheim den "Aufbau der Führerexekutive" am ehesten begonnen und am konsequentesten verwirklicht: Die Politische Polizei des Dritten Reiches ist zuerst, nämlich "vom ersten Tage an", kein "defensives Instrument" des Staatsschutzes, sondern ein "offensives Instrument der Führergewalt gegen alles, was dem Führerwillen nicht konform war", weshalb die Bezeichnung Staatspolizei falsch sei177. In den Bereich der "Weltanschauungssachen" im Sinne Buchheims fallen damit nicht nur die Tötungsbefehle Hitlers, sondern alle polizeilichen Maßnahmen, die sich "nicht aus einzelnen Gesetzen oder Verordnungen herleiten", sondern aus ihrem "politischen Gesamtauftrag"178. In innerer Verwandtschaft mit dem Ansatz Buchheims betont auch Jäger in seiner strafrechtlich-kriminologischen Untersuchung über "Verbrechen unter totalitärer Herrschaft" im Sachzusammenhang des Unrechtsbewußtseins totalitärer Täter den "Dualismus" von Recht und Ideologie: "Zwei verschiedene Normbereiche standen sich gegenüber: Staat und Bewegung, Gesetzesordnung und politische Doktrin ... Rechtsbefolgung und ideologische Linientreue"179. Jäger gelangt auf dieser Grundlage zu Ergebnissen, die denen Buchheims vergleichbar sind und die für ihn eine geeignete Ausgangslage schaffen, das Unrechtsbewußtsein nationalsozialistischer Gewaltverbrecher ohne Rückgriff auf naturrechtliche Konstruktionen zu bejahen180. Kennzeichnend für diese Deutungen ist die strikte Trennung ideologischer und gesetzlicher Wertungen. Auf dieser Basis können Recht und Strafrecht als von der nationalsozialistischen Ideologie völlig unabhängig gedacht werden: Gerade das spezifisch "Juristische" erscheint als ideologisch neutral, ja ideologiefeindlich. Der Schritt zur Annahme, daß sich Dogmatik "als festes Bollwerk gegen ideologische Einbrüche" erweist, "in einem optimalen Maße den ideologisch sehr anfälligen Bereich des Rechts, speziell des Strafrechts, zu neutralisieren" vermag181, ist von diesem Ausgangspunkt nicht weit. Freilich hat die Zwei-Welten-Theorie ihre Schwierigkeiten mit den Übergangszonen, in denen Recht und Ideologie miteinander Verbindungen eingehen: Buchheim, der normative und nicht-normative Sphären gegenüberstellt, beobachtet in der nach seiner Auffassung eigentlich ja "normativen" Gesetzeswelt einen "Prozeß der Relativierung und allmählichen Auflösung von Normen", etwa in Gestalt einer Gesetzesauslegung nach "weltanschaulich-na175 176 177 178

Dazu 3. Teil A. Befehl und Gehorsam (1982), S. 226. Die SS - Das Herrschaftsinstrument (1982), S. 33,100 f. Befehl und Gehorsam (1982), S. 272; vgl. auch Die SS - das Herrschaftsinstrument (1982), S. 97 ff. Zu den Tötungsbefehlen ζ. B. Befehl und Gehorsam (1982), S. 227-Jäger (1982), S. 179 f. mit Nachw. Zu Exekutionsbefehlen Hitlers in seiner Eigenschaft als "Oberster Gerichtsherr" vgl. 3. Teil D I . 179 Jäger (1982), S. 197. 180 AaO, S. 201 ("... Terrorapparat... aus der Gesamtordnung herausgelöst... "), 199, 325. 181 Welzel, FS Maurach (1972), S. 4 f.

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1. Teil: Einführung

tionalsozialistischen Gesichtspunkten" oder Generalklauseln in neuen Gesetzen u. a. m. Umgekehrt konstatiert Buchheim "mannigfache normative Regelungen" im eigentlich "nicht-normativen Bereich", denen er eine tendenzielle Zunahme bescheinigt182. Angesprochen sind mit dieser eigentümlichen Tendenz zur Normativierung eines eigentlich nicht-normativen Bereichs die polizeiinternen Erlasse, die in der Tat anschwellen183. Buchheim ist nun allerdings nicht der Auffassung, daß in den von ihm beobachteten Entwicklungen die tendenzielle Einheit von "normativem" und "nicht-normativem" Bereich angelegt sein könnte. Buchheim sieht vielmehr einen Konflikt, den er durch eine materielle Interpretation löst: Nicht-normatives Denken habe sich häufig normativ "drapiert", entscheidend sei darauf abzuheben, ob "die nicht-normative Komponente letztlich die primäre und maßgebende" war184, d. h. ob "ideologisch-politische Argumente" letztlich im Vordergrund gestanden hätten oder nicht185. In die gleiche Richtung argumentiert Jäger. Er räumt zunächst ein - ohne das Gegensatzpaar normativ/nicht-normativ zu gebrauchen -, daß die Bereiche von Recht und Ideologie "oft unlöslich miteinander verflochten waren, und zwar vor allem dort, wo dem Regime die Legalisierung seiner zumeist nicht ganz extremen ideologischen Absichten gelang". Indes dürfte "die Rechtsordnung nicht insgesamt als ideologisch pervertiert" betrachtet werden; zwar sei die Situation oft nicht eindeutig, doch trete der "Dualismus von Ideologie und Recht... immer wieder zutage"186. Die Pole Recht und Ideologie seien, so die Quintessenz, zum Verständnis des nationalsozialistischen Systems unerläßlich187, wenn auch nicht in jedem Einzelfall klar zu unterscheiden. Die Zwei-Welten-These nimmt für sich in Anspruch, historische Realität zu beschreiben und meint, "Recht" und "Ideologie" als real existierende Gegenwelten abgrenzen zu können. Für den Bereich des Strafrechts ist, wie die Anhänger jener These selbst einräumen, eine solche Abgrenzung "nicht immer" durchführbar, wenn nämlich Recht und Ideologie unlösliche Verbindungen eingehen. Wie häufig und wie typisch solche Verbindungen sind, ist die entscheidende Frage, die nicht ausreichend problematisiert wird: Die Interpretationen werden auf Erscheinungen wie Hitlers Tötungsbefehle zugespitzt, das "normale" Strafrecht gerät kaum in den Blickpunkt. Schon dadurch hat die Zwei-Welten-These im Hinblick auf das justizielle Strafrecht einen schwachen Unterbau. Die Fragen nach der Kontextabhängigkeit strafrechtlicher Begriffe und nach einem Funktionswandel des "Gesetzes" werden nicht gestellt; insoweit ist auf die bereits zu 3 e offengelegten Schwachstellen der Begründungen zu verweisen. Auch die weitere zentrale These vom "außernormativen" Charakter der Führergewalt und dem daraus abgeleiteten "außernormativen" Charakter polizeilicher Maßnahmen wird näherer Prüfung bedürfen 188 . Klärungsbedürftig ist, ob es sich um eine Beschreibung anhand von ex-post Kriterien handelt, oder, wie Buchheim selbst behauptet, eine mit den innerstaat-

182 183 184 185 186 187

Befehl und Gehorsam (1982), S. 263 f. Dazu das Material 3. Teil B-E. Befehl und Gehorsam (1982), S. 271. AaO,S. 273. Jäger (1982), S. 198. Vgl. Jäger (1982), S. 197: Anders sei beispielsweise die "rechtspsychologische Situation" der Reichskristallnacht-Täter unerklärlich. 188 Dazu sogleich B.

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lieh etablierten Geltungskriterien für Recht übereinstimmende Beschreibung des zeitgenössischen (Straf-)Rechtssystems. b) Ideologisierte und neutrale Zonen des Strafrechts Die Darstellung der These von den Gegenwelten Recht und Ideologie hat bereits gezeigt, daß auch ihre Vertreter die Existenz von Bereichen anerkennen müssen, in denen Strafrecht und Ideologie ineinander übergehen: Daß etwa das Blutschutzgesetz189 spezifischer Ausdruck nationalsozialistischer Vorstellungen ist, bedarf keiner näheren Diskussion. Nationalsozialistisches Gedankengut dringt insoweit offenkundig in die - in der Terminologie Buchheims "normative" Sphäre des Gesetzesrechts ein, die Vollzugszuständigkeit liegt unbestreitbar nicht bei einer "außernormativen Führerexekutive", sondern bei "ordentlichen" Gerichten 190 , also bei Organen des "Normenstaates". Die Perspektive "Verwirklichung nationalsozialistischer Weltanschauung" führt also auch in die Welt des Rechts: Sie kann dort zur Scheidung weltanschaulich "infizierter" und neutraler Bereiche dienen. Die Struktur einer derartigen Argumentation und ihrer systematischen Konsequenzen seien exemplarisch am Beispiel eines Beitrags von Peters verdeutlicht. Peters hat unter Anwendung des Maßstabs "politische und weltanschauliche Ideologie" die "Gestaltung des Strafrechts in der nationalsozialistischen Zeit" mit Blick auf die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht folgendermaßen umschrieben: Diese Gesetzgebung habe "auf der einen Seite echte strafrechtliche und soziale Fortschritte gebracht" und "Vorstellungen verwirklicht, die wenigstens im Sinn einer alten Tradition verstanden werden konnten 191 ..., andererseits aber auch ihre politische und weltanschauliche Ideologie zur Grundlage des Strafrechts gemacht"192. Der Gehalt dieser Ideologie wird bei Peters nicht explizit und zusammenhängend beschrieben; aus seinen Darlegungen geht allerdings hervor, daß er jedenfalls den "Rassengedanken" zum Kernbestand nationalsozialistischer Ideologie rechnet 193 . Viele Entwicklungen, namentlich in der Anfangsphase, hätten "allgemeinen Strafreformvorstellungen" entsprochen, wie etwa das Gewohnheitsverbrechergesetz. Aber auch in der Folgezeit habe sich noch vielfach Fortschrittliches gezeigt, wie beispielsweise das RJGG 1943 und "viele Änderungen", die "heute noch" Gültigkeit hätten 194 . Den Gegenpol zu diesem nicht-nationalsozialistischen "fortschrittlichen" Strafrecht bildet für Peters das Sonderstraf189 190 191 192 193

Dazu 2. Teil [Nr. 17], Zur Bildung von Blutschutzkammern aaO, Fn. 102. Damit deutet Peters die Kontextabhängigkeit strafrechtlicher Begriffe an. Peters, Umgestaltung (1965), S. 163. Uber weitere Inhalte der nationalsozialistischen Ideologie spricht sich Peters nicht aus, so daß er den Rassengedanken möglicherweise als erschöpfende Charakterisierung ansieht. Einleitend nimmt Peters auf eine programmatische Äußerung Gleispachs zur Strafrechtsreform im nationalsozialistischen Sinne Bezug (" ... Strafrecht nur Mittel zur Förderung und Hochzüchtung der deutschen Volksgemeinschaft ... ", aaO, S. 160). Ferner wird auf die Schrift von Dohm/ Schaffstein, Liberales oder autoritäres Strafrecht, 1933 (aaO, S. 161) verwiesen, die wohl aber "unmittelbar mit nationalsozialistischem Denken noch nichts zu tun" haben soll (aaO, S. 163). 194 AaO, S. 166. - Damit nimmt Peters die Rechtsstaatsverträglichkeit nationalsozialistischer Gesetzgebung als Beweis ihres nicht-nationalsozialistischen Charakters und verbindet die Maßstäbe rechtsstaatliches Strafrecht/weltanschaulich-nationalsozialistisches Strafrecht.

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1. Teil: Einführung

recht, d. h. "das Strafrecht, das der Festigung und Erhaltung des politischen Systems, der Durchsetzung der ideologischen Grundlagen mit den Mitteln des Strafrechts und der Vernichtung der Systemgegner galt"195. Peters führt in diesem Zusammenhang die "lange Reihe der politischen Straftatbestände" auf, u. a. das Heimtückegesetz und die Verratsnovelle196 und nennt ferner mehrere Kriegsverordnungen, die dem "politischen oder kriegswirtschaftlichen Schutz" gedient hätten197. Die herausragenden Beispiele sind für Peters die "Rassengesetzgebung und die Polengesetzgebung", die für ihn den Inbegriff typisch nationalsozialistischen, nämlich "politisch und weltanschaulich terrorisierenden" Strafrechts bilden198. Zwischen diesen Polen fortschrittlicher und nationalsozialistischer Strafgesetzgebung ordnet Peters einen 1933 einsetzenden, in seinen Augen "neuen Zug" ein, der "durch einen gewissen Ambivalenzcharakter" gekennzeichnet sei, nämlich die Auflockerung der Tatbestandsmäßigkeit durch Generalklauseln und die Ausweitung der Strafrahmen: Dieser Entwicklungszug könne einerseits als "Überwindung des Formalismus" und "Fortschritt zu einem gerechten Strafrecht" gewürdigt und als Ausdruck vornationalsozialistischer Gerechtigkeitsbestrebungen begriffen werden. Auf der anderen Seite habe diese Tendenz eine Öffnung des Strafrechts für nationalsozialistische Bestrebungen bewirkt. Die Subjektivierung und Auflockerung der Tatbestände habe, so Peters, also "zum Guten wie zum Schlechten" wirken können199. Die "politischen Stellen" seien indes mit dem Ziel einer "offiziellen Einflußnahme auf die Praxis" auf den Plan getreten200; entscheidend für die praktischen Auswirkungen sei letztlich "das Verantwortungsbewußtsein der Wissenschaftler und der Praktiker" gewesen201. Peters gelangt damit bei der Betrachtung der Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht zur Bildung ideologisch geprägter und ideologiefreier Zonen. In einem Zwischenbereich entzieht sich die Gesetzgebung als solche einer eindeutigen Zuordnung, weil die praktische Handhabung für entscheidend erklärt wird. Die von Peters exemplarisch formulierte Perspektive "ideologisiertes/ideologiefreies Strafrecht"202 erlaubt, entsprechend ihrem übergreifenden Charakter, eine Einordnung sämtlicher Entwicklungen im Bereich von Gesetzgebung203, Rechtsprechung204 und Strafrechtswis-

195 196 197 198 199 200 201

AaO,S. 169. Dazu 2. Teil [Nrn. 13,15]; weit. Beispiele aaO, S. 169 f. AaO, S. 169 mit den Beispielen KSStVO, RundfunkVO, KWVO, dazu 2. Teil [Nrn. 26-28]. AaO, S. 170,172. AaO, S. 166 f. AaO, S. 168 f. mit Bezug auf die Lenkungsmaßnahmen. AaO, S. 168: Unbestimmte Gesetze ermöglichten "Ausweichen ... aber auch ... rigorose Handhabung". 202 Zu ähnlichen Konsequenzen wie Peters gelangt Majer (1981, 1987) von anderen Ausgangspunkten. Den nationalsozialistischen Rechtsprinzipien (Führerprinzip, Sonderrecht, Einheitspartei) stellt sie "aus der rechtsstaatlichen Zeit stammende Begriffe und Einrichtungen" gegenüber, die man "beibehalten und mit demselben Inhalt fortgeführt" habe, so zuletzt Majer (1987), S. 23; s. schon 1981 und dazu unten 2. Teil [Nr. 40] 6b bb. 203 Zu spezifisch nationalsozialistischen Entwicklungen etwa Schorn (1963), Kap. Di (Gesetzgebung und Judentum), Kap. XI (Rassengesetzgebung). Zu den Entwürfen einer StVO unter der Perspektive der Verwirklichung nationalsozialistischer Ideologie Sellert, in: Justiz und Nationalsozialismus (1985), S. 61 ff.; W. P. Koch (1972), S. 3,245.

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senschaft 205 . Die Ergebnisse solcher Zuordnung fallen bereichsspezifisch ganz unterschiedlich aus: Für das Strafprozeßrecht 1933 bis 1945 reichen sie etwa von der erstaunlichen Behauptung, dieses sei überhaupt nicht "nationalsozialistisch" gewesen, sondern lediglich "extrem autoritär" und vollständig illiberal206, bis hin zur These, der Nationalsozialismus habe ein "neues Modell des Strafverfahrens" entsprechend ideologischen Prinzipien geschaffen 207 . Das Deutungsmuster "Verwirklichung nationalsozialistischer Weltanschauung" wird charakteristischerweise mit den bereits besprochenen Maßstäben Naturrecht oder/und rechtsstaatliches Strafrecht verbunden 208 . Naturrechtswidrige Erscheinungen in Gesetzgebung oder Rechtsprechung werden als Ausprägungen typisch nationalsozialistischen Gedankenguts begriffen, wie etwa die Rassengesetzgebung. Von besonderer Bedeutung ist die Kombination mit dem Maßstab "rechtsstaatliches Strafrecht": Werden vor einer Hintergrundfolie fortexistierenden rechtsstaatlichen Strafrechts die ideologisch infizierten strafrechtlichen Systemteile oder Teilsysteme identifiziert, ergeben sich innerhalb des 1933 bis 1945 geltenden Strafrechts heterogene Sphären. Dabei kann auch der Inhalt rechtsstaatswidrigen nationalsozialistischen Strafrechts nicht nur negativ durch die Abweichung von rechtsstaatlichen Prinzipien beschrieben, sondern positiv als Verwirklichung nationalsozialistischer Ideologie charakterisiert werden.

204 Zur Alternative Urteilen "im Sinne des NS-Geistes" oder "streng nach dem Recht" etwa Spendet, FS Jescheck (1985), S. 181 und ff.; vgl. auch die Nachw. bei Fn. 139. 205 Zur Strafrechtsdogmatik als "festes Bollwerk gegen ideologische Einbrüche" Welzel, FS Maurach (1972), S. 4 f. 206 Vgl. I. Müller, in: Reifner/Sonnen (1984), S. 74,63. Die Schwierigkeit einer Klassifizierung als "nationalsozialistisch" liegt für Müller auf dem "Gebiet des Strafprozeßrechts" darin begründet, daß "dieses im Gegensatz zu anderen [Rechtsgebieten?], ζ. B. dem materiellen Strafrecht, so unprätentiös und technizistisch ist und sich damit scheinbar gegen jeden ideologischen Einfluß sperrt. Im einzelnen strafprozessualen Detail sind Rassendenken und Führerwahn nur schwer unterzubringen" (S. 59). zu Müllers Gleichung "konsequent autoritäres Strafprozeßrecht = Abschaffung des Strafprozeßrechts" Meinck, ZfNR 1986,104). - Sellen ist in seiner Untersuchung zum Zusammenhang von nationalsozialistischer Ideologie und dem Versuch zu einer Reform des Strafprozeßrechts im Dritten Reich zum Ergebnis gelangt, die in den Reformplänen "auszumachenden Niederschläge typisch nationalsozialistischen Gedankenguts" seien "relativ begrenzt und so eigentlich mehr Farbtupfer" gewesen, vgl. in: Justiz und Nationalsozialismus (1985), S. 74. Vgl. auch W. P. Koch (1972), S. 245. 207 Vgl. Rüping, ARSP Beiheft 18 (1983), S. 66. 208 Exemplarisch für ein solches Vorgehen ist die Untersuchung Schorns (1963). Schorn will die typisch nationalsozialistischen Vorschriften aufführen, nämlich jene Gesetzgebung, welche dazu bestimmt war, "den Staat in allen seinen Bereichen nach nationalsozialistischen Vorstellungen auszurichten und den Zielen der Partei zu unterwerfen" (S. 171). Er weist darauf hin, viele Gesetze, "wenn nicht die meisten" seien naturrechtswidrig (S. 17), diese Gesetze werden vor dem Hintergrund eines rechtsstaatlichen Maßstabs (vgl. S. 21, 72, 75, 121, 131) - vielfach unter dem Aspekt "Zerfall der Rechtsidee" - als Verwirklichung nationalsozialistischen Gedankenguts charakterisiert (S. 65 f., 68, 76 f., 113). Vgl. auch Eb. Schmidt (1965), S. 430 (Gesetzgebung habe "aus spezifischen nationalsozialistischen Machtinteressen heraus der Strafrechtspflege ihren Stempel aufgedrückt", wobei sich das "politische Wollen des Nationalsozialismus ... vielfach in brutalster Offenheit" gezeigt habe); Weinkauff, Justiz und Nationalsozialismus (1968): Die nationalsozialistische Rechtslehre war "im Grunde" auf Rechtsabbau gerichtet (S. 39); soweit dieser Abbau nicht erfolgte, blieben "Inseln des Rechtsstaats" erhalten, vgl. A Wagner, Umgestaltung (1968), S. 192.

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1. Teil: Einführung

Diese Kombinationsmethode muß sich, was die Fortexistenz rechtsstaatlichen Strafrechts angeht, die schon angesprochenen Einwände gefallen lassen209. Sie sind bislang nicht ausgeräumt. Ein Vorzug der Kombinationsmethode scheint darin zu liegen, daß sie eine positive inhaltliche Beschreibung der nationalsozialistischen Strafrechtsteile erlaubt. Damit wird aber in Wahrheit eine neue, grundlegende und schwierige Frage aufgeworfen, nämlich die nach dem Inhalt spezifisch nationalsozialistischer Weltanschauung. Von der Antwort auf diese Frage hängt alles ab: Ais "spezifisch nationalsozialistisch" kann nur erfaßt werden, was als solches definiert wird. Ist die "Weltanschauung" des Nationalsozialismus ein zusammenhangloses Konglomerat von inhaltsleeren Schlagworten, wird "spezifisch nationalsozialistisches" Strafrecht anders zu bestimmen sein, als bei Existenz eines in sich zusammenhängenden weltanschaulichen Programms. Auf diese Schwierigkeiten ist zurückzukommen: Mit ihnen wird verschärft konfrontiert, wer das Strafrecht 1933 bis 1945 im ganzen als Verwirklichung nationalsozialistischen Gedankenguts zu begreifen sucht210. II. Das Strafrecht 1933 bis 1945 als Einheit Die vorstehend beschriebenen Deutungsmuster unterscheiden innerhalb des Strafrechts 1933 bis 1945 heterogene Teile. Die Fortexistenz eines "normalen" (rechtsstaatlichen) Strafrechts wird vorausgesetzt, dessen Durchbrechung und stückweiser Abbau beschrieben. Diese "Aufspaltungsmodelle" haben namentlich in jüngerer Zeit entschiedenen Widerspruch gefunden. Im folgenden sollen Deutungsmuster vorgestellt werden, die in bewußtem Gegensatz zu den verschiedenen Varianten der "Aufspaltungs-" oder "Trennungsthese" das Strafrecht 1933 bis 1945 als innere Einheit begreifen. Naucke hat die Einheitsthese besonders pointiert vorgetragen und die strukturelle "politische Gleichstimmigkeit" des Strafrechts 1933 bis 1945 behauptet (dazu 1). Die politisch-iu/wte/ifte/fe Einheit des Strafrechts wird namentlich in der Ausrichtung auf nationalsozialistische Vorstellungen gesucht (dazu 2). 1. Die "politische Gleichstimmigkeit" des Strafrechts 1933 bis 1945 (Naucke) "Die Aufhebung des Analogieverbots 1935" - unter dieser zurückhaltenden Ankündigung hat Naucke einen richtungweisenden Beitrag zur Interpretation des Strafjustiz systems 1933 bis 1945 geleistet1. Naucke unternimmt in seinem Aufsatz einen Zugriff auf das gesamte Strafrechtssystem 1933 bis 1945 und zugleich den Versuch, die Grundlage für eine Einordnung in den strafrechtshistorischen Zusammenhang zu schaffen. Naucke hat der Unterscheidung von nationalsozialistischem und nicht-nationalsozialistischem Strafrecht die These von der politischen Einheit des Strafrechtssystems 1933 bis 1945 entgegengesetzt. Naucke geht davon aus, "daß es von 1933-1945 ein einheitliches Strafjustizsystem oder Strafrechtssystem gegeben hat" und versucht, "unter Vermeidung der Einteilung

209 Dazu 3e. 210 Dazu unten II 2b. l

Vgl. auch die Würdigung bei Schubert, ADR-Protokolle (1986), S. XVIII; Hattenhauer, Jura 1984, 281.

Α. Deutungsmuster zum Justiz-Strafrecht 1933 bis 1945

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nationalsozialistisches/nicht-nationalsozialistisches Strafrecht, das rechtspolitische Ziel dieses Systems einheitlich zu kennzeichnen", seine "Neigung zur politischen Gleichstimmigkeit" zu verdeutlichen2. Dieses einheitliche rechtspolitische Ziel sieht Naucke in der Umformung der Strafrechtspflege "in eine Bürokratie, die eine unabgeleitete, ständig wandelbare Sozialmoral übersetzt". Ziel strafrechtlicher Regelsetzung sei es, "das schnelle und unmittelbare Durchschlagen politischen Wandels in das Alltagsleben möglich zu machen", der "politische Wandel wird zur Rechtsquelle, die Bestrafungen werden ununterscheidbarer Teil einer erfolgsorientierten Staatsverwaltung mit schnell wechselnden Zielen". Das "Strafgesetz, die strafrechtliche Regel überhaupt, sei nur noch Informationsmittel; nicht das einzige und nicht das wichtigste über Recht, das anderswo undeutlich entstanden ist". Sinn der gesamten Entwicklung sei es, "den absoluten Vorrang des sozialen Wandels vor dem Strafgesetz zu organisieren"3. Mit dieser Interpretation faßt Naucke seine Skizze der "tragenden Teile des Strafjustizsystems 1933-1945" zusammen. Die Überlegungen Nauckes zu den tragenden Systemteilen, in denen jene Entwicklungen des Strafrechtssystems zum Ausdruck kommen, haben im wesentlichen folgenden Inhalt: Die strafrechtliche Regelsetzung selbst sei unklar organisiert, verschiedene Instanzen hätten Zugriff, die Form der Gesetzgebung folge keinen einheitlichen Regeln. Die in Gesetzen, Verordnungen oder Erlassen enthaltenen Regeln seien "vage, meist generalklauselartig"; abwertende politisierende Regelüberschriften und politisierende Beschreibungen der zu bestrafenden Personen seien mit Lesen und Interpretieren allein - also ohne Rückgriff auf jene zu übersetzende Sozialmoral - nicht handhabbar gewesen4. Als Beispiele werden u. a. die "Verordnung gegen Volksschädlinge", die "Verordnung gegen Gewaltverbrecher"5 und die Polenstrafrechtsverordnung genannt6. Gezielt werde "auf das Akzeptieren und Umsetzen einer verachtenden Gefühlswelt, auf die die zitierten Vorschriften sich zurückführen"7. Der Richter sei in einem solchen System nicht mehr "Ausleger oder allenfalls analoger Anwender strafrechtlicher Regeln"8, er werde vielmehr "der verständnisvolle Verbündete des Gesetzgebers"9. In dieser Entwicklung habe die Aufhebung des Analogieverbots "nichts Auffälliges"10, sie sei "eine mühelos gezogene Konsequenz in der politischen Gleichstimmung des praktizierten Bestrafungssystems der Zeit", dem entgegen einer verbreiteten Einschätzung "keine hervorragende Bedeutung für die Entwicklung des Strafrechts 1933-1945 zukomme"11. 2 3

4 5 6 7 8 9

10 11

Vgl. Naucke, Analogieverbot (1981), S. 76. AaO, S. 92. - Zum Abbau formaler Grenzen des Strafrechtssystems in den im Dritten Reich vertretenen Straftatlehren zugunsten einer "Öffnung für politische Zwecke" Marxen, ARSP Beiheft 18 (1983), 62 f.; zur Auflösung des 7afprinzips · und damit der vertatbestandlichten Handlungsbeschreibungen zugunsten einer direkten Verkoppelung von Täter und Strafe den., in: Reifner/Sonnen (1984), S. 79 f. Zur Orientierung der Strafjustiz auf die Zurechnung von Tätern zu - nach Maßgabe innerstaatlicher Feinderklärungen - feindlichen Gruppen an Stelle von Tatzurechnungen Meinck, ZfNR 1981,40,43. Naucke, Analogieverbot (1981), S. 80 f. AaO, S. 81 vgl. die weit. Beispiele S. 81 f. AaO, S. 83. AaO, S. 84. AaO, S. 83. Zitat aaO aus der Amtlichen Begründung zum Ges. v. 28.6.1935 (dazu 2. Teil [Nr. 16]). AaO, S. 82. AaO, S. 91.

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1. Teil: Einführung

Das Rückwirkungsverbot sei nicht "durchbrochen", sondern gegenstandslos geworden. Es sei zwar im Text des RStGB und der Weimarer Reichsverfassung erhalten geblieben, "aber wohl nur, weil man es nicht der Mühe wert findet, die einschlägigen Texte förmlich zu streichen"12. Naucke kann dabei auf die von ihm im einzelnen aufgelisteten offenen Mißachtungen des Rückwirkungsverbots durch den nationalsozialistischen Gesetzgeber verweisen13. Dieser habe die Rückwirkung ausschließlich "nach Opportunität bei prinzipieller Gleichgültigkeit gegenüber dem Rückwirkungsverbot eingesetzt"14. Auch diese Entwicklung zur Verwaltung der Rückwirkung ordne sich zwanglos in das Gesamtbild ein, sei doch das "Rückwirkungsverbot eines jener Institute, die sich spürbar zwischen Bestrafungswünsche und Bestrafung" stellen15. Wandlungen des Gerichtsverfassungsrechts, die vor einer rechtsstaatlichen Hintergrundfolie als "Durchbrechungen" rechtsstaatlicher Grundsätze begriffen werden, ordnet Naucke gleichfalls in den von ihm behaupteten Kontext ein: Die Richterbriefe etwa zögen "nur selbstverständliche Folgerungen aus abgelaufenen Entwicklungen". Die im einschlägigen Einführungserlaß verwendete Formulierung, die Richterbriefe sollten "dem Richter die innere Sicherheit und Freiheit geben, die richtige Entscheidung zu finden", sei "von Ironie oder Zynismus weit entfernt". Sie ziehe "bieder die Folgerungen aus den Begründungen, die die 'Aufhebung des Analogieverbots' tragen"16, wolle also, so die Sicht Nauckes, den Richter als "verständnisvollen Verbündeten des Gesetzgebers"17 über dessen Absichten unterrichten. Dem gleichen Zweck, wandelbare Sozialmoral umzusetzen, dienten die bereits angesprochenen weiteren Lenkungsmaßnahmen, ζ. B. Vor- und Nachschau, ebenso wie die Nichtigkeitsbeschwerde oder (Auslegungs-)Richtlinien zur Bestimmung von Einzelergebnissen18. Die Prinzipien der richterlichen Unabhängigkeit und Unabsetzbarkeit und des gesetzlichen Richters19 würden behandelt wie das Rückwirkungsverbot: "Die einschlägigen Gesetzestexte (§§ 1, 8, 16 GVG) bleiben erhalten, die juristische Sache verschwindet"20. Der durchgängigen Verfügbarkeit des Strafrechts hätten ferner der Abbau und schließlich die förmliche Streichung des Legalitätsprinzips gedient21. Schließlich trage auch das Strafprozeßrecht die Züge einer Entwicklung zum "Recht zur Verwaltung von Kriminalität", wenn es parallel zum materiellen Strafrecht entformalisiert werde22. Kristallisationspunkt aller von ihm beschriebenen Entwicklungen ist für Naucke die Wendung "gegen das überkommene Verständnis vom Strafgesetz, von der strafrechtlichen Regel überhaupt... gegen ein Strafgesetz als eigenständigen Faktor im Verhältnis Bürger - Justiz Staat". Diese Auffassung vom Gesetz entziehe den zusammengestellten "Grundbegriffen ... gleichmäßig ihren Inhalt. Analogieverbot, Rückwirkungsverbot, Legalitätsprinzip usw. verste12 13 14 15 16 17

18 19 20 21 22

AaO, S. 86. AaO, S. 87 und eingehend Naucke, FS Coing (1982), S. 225 ff. FS Coing (1982), S. 237. Naucke, Analogieverbot (1981), S. 86. AaO, S. 84 f. und Zitat aaO aus dem Erlaß v. 7.9.1942, bei Boberach (1975), S. 2. Wie Fn. 9. Naucke, Analogieverbot (1981), S. 84. Dazu oben 13b. Naucke, Analogieverbot (1981), S. 88 AaO, S. 89 f. mit Nachw. AaO, mit Nachw. Beachte die Hinweise oben 13b.

Α. Deutungsmuster zum Justiz-Strafrecht 1933 bis 1945

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hen sich von einem klugen, grenzziehenden Strafgesetz her. Diese Grundbegriffe fallen stützenlos in sich zusammen, sobald jener Gesetzesbegriff aufgegeben wird"23. Naucke formuliert eine klare Alternative zu den Deutungsmustern, die nationalsozialistisches Strafrecht in heterogene Bereiche aufteilen wollen: Die Hintergrundfolie rechtsstaatliches Strafrecht wird für untauglich erklärt, weil der Maßstab Rechtsstaat "nach 1933 überhaupt nicht vorhanden" ist und der "Bau des Rechtsstaats ... durch einen Neubau 'zweckmäßige Strafrechtspflege...' ersetzt" wird24. Die von Naucke behauptete Einheit des Strafrechts 1933 bis 1945 ist eine strukturelle. Kennzeichnend sollen die durchgehende Anbindung des Strafrechts an politischen Wandel und eine entsprechende Ausformung der strafrechtlichen Grundbegriffe sein. Nauckes Thesen sind in sich schlüssig. Sein Vorgehen, die Entwicklung bestimmter strafrechtlicher Grundbegriffe zu beschreiben und daraus ein Systemziel zu entwickeln, ist richtungweisend. Vorbehalte ergeben sich zunächst in dreifacher Hinsicht: Naucke hat erstens seine Thesen jeweils nur stichprobenhaft abgestützt, was freilich im Rahmen seines hier referierten Beitrags nicht gut anders möglich war. Zweitens kommen bei Naucke die von anderer Seite als "rechtsstaatskonform" behaupteten Strafrechtsteile nicht ins Blickfeld; herangezogen wird nur das Material, das unmittelbar zum Beleg für die aufgestellten Thesen dienen kann. Schließlich bezieht Naucke die polizeiliche Verbrechensbekämpfung in seine Interpretationen nicht ein. Um Nauckes These von der strukturellen Einheit des Strafrechtssystems 1933 bis 1945 zu bestätigen, müßten diese Lücken geschlossen werden. Ein grundlegender Vorbehalt ergibt sich aus Nauckes Abstinenz gegenüber einer Beschreibung der politischen Substanz des Strafrechts 1933 bis 1945, die mit der strukturellen Betrachtung einhergeht. Sollte es sich bei dem Strafrecht 1933 bis 1945 tatsächlich, wie Naucke meint, um einen "Neubau 'zweckmäßige Strafrechtspflege'" handeln, müßten Zwecke und Baupläne vorhanden sein und genannt werden können. Naucke entwickelt jedoch nur eine - in sich überzeugende Zerfallslogik rechtsstaatlicher Grundbegriffe. Die neuen Strukturen werden nur angedeutet, die spezifischen Zwecke und Inhalte des Strafrechtssystem 1933 bis 1945 überhaupt nicht mehr behandelt. Naucke äußert sich nicht zum Inhalt der das Strafrecht 1933 bis 1945 nach seiner Meinung durchgängig prägenden rechtspolitischen Ziele. Er verweist nur allgemein auf eine "ständig wandelbare Sozialmoral"25, eine "mediokre kleinbürgerliche Moral"26, eine "verachtende Gefühlswelt"27, das vorherrschende "politische Klima"28. Von welcher Art und Bekömmlichkeit das politische Klima ist, ob es eine spezifisch nationalsozialistische Variante kleinbürgerlicher Mediokrität gibt, ob im Wandel der Sozialmoral konstante inhaltliche Züge auszumachen sind, teilt Naucke nicht mit. Er entwickelt allein die durchgehende Ausrichtung des Strafrechts auf die Verwirklichung politischer Zwecke, nicht aber deren - durch Bestra-

23 24 25 26 27 28

AaO, S. 92. FS Coing (1982), S. 238, dort mit Begrenzung der Aussage auf die Gültigkeit des Rückwirkungsverbots. Die Verallgemeinerung drängt sich freilich auf. So Naucke, Analogieverbot (1981), S. 93. AaO, S. 93 Fn. 98. AaO, S. 84. AaO, S. 76.

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1. Teil: Einführung

fungen verwirklichte - Substanz. Naucke beschreibt also nicht substantielle "politische Gleichstimmigkeit"29, sondern die gleichstimmige Politisierung der Strafrechtssubstanz. Die politischen Inhalte selbst werden nicht benannt. Naucke ist sich seiner Abstinenz bewußt. Ihm geht es darum, die Mechanismen zu kennzeichnen, die eine Anbindung des Strafrechtssystems an politische Bedürfnisse und damit an politischen Wandel bewirken. Auf dieser Basis wird nach Kontinuitätslinien zum Strafrecht vor 1933 und nach 1945 gefragt30. Naucke sieht dabei durchaus, daß es möglich sein könnte, "bei der Formulierung einer durchgehenden Entwicklung der Hauptbegriffe des Strafjustizsystems Unterschiede im Inhalt der an einem Strafeweck orientierten Parteilichkeit" zu machen, "also zwischen einer Benutzung des Strafrechts zu nationalsozialistischen und zu demokratischen Zwecken" zu unterscheiden. Er ist indes skeptisch, daß "es gelänge, die Zielsetzungen des Nationalsozialismus als schlechte Ideologie, der das Strafrecht niemals dienen dürfe, zu beschreiben, und andere Zielsetzungen als nicht-ideologische Erkenntnisse, die das Strafrecht abrufen dürfe, dagegenzusetzen": Selbst wenn es "gute" Motive gäbe, könnten diese - wie nach Nauckes Ansicht geschehen - "allemal den 'schlechten' Motiven in die Hände arbeiten (Übergang 1933) oder aber jenen 'schlechten' Motiven für die Vorarbeit sich verbunden fühlen müssen (Übergang 1945/49)"31. Nauckes Gründe verdienen Respekt. Aber sie ändern nichts daran, daß nur eine Seite der Entwicklung ins Auge gefaßt wird: Falls ein etwaiger "Neubau 'zweckmäßige Strafrechtspflege'"32 existieren sollte, dann hat er nicht nur Strukturen, sondern möglicherweise auch eine unverwechselbare Gestalt, die durch seine politische Substanz geprägt ist. Es mag zutreffen, daß gerade (vielleicht auch: nur) eine strukturelle Analyse des Strafrechtssystems 1933 bis 1945 Kontinuitätslinien sichtbar macht, und es mag auch richtig sein, daß eine inhaltliche Betrachtung diese Kontinuitäten eher verdecken könnte. Dadurch werden die historischen Norminhalte aber nicht eliminiert: Sie sind Teil der Strafrechtsrealität 1933 bis 1945. Eine vollständige Beschreibung dieser Realität muß auf Strukturen und Substanzen zielen, d. h. auch den besonderen Charakter der 1933 bis 1945 maßgeblichen "Parteilichkeit" im Sinne Nauckes33 zu ermitteln suchen. Bezieht man die Art der "Parteilichkeit" nicht ein, werden die konkreten Strafrechtsinhalte zur marginalen Größe: Die Strukturen verschlingen gewissermaßen die Substanz und eliminieren damit ein Stück historische Realität. 2. Strafrecht als Verwirklichung "nationalsozialistischer Weltanschauung" Die nationalsozialistische Weltanschauung wurde unter A 1 4 in ihrer Funktion im Kontext eines Aufspaltungsmodells angesprochen. In nationalsozialistischen Gesetzen und im damaligen Schrifttum wird die nationalsozialistische Weltanschauung als Leitlinie der Gesetzesauslegung bezeichnet34; weitergehend ist von der Identität von Recht und Weltanschauung die

29 30 31 32 33 34

AaO. AaO, S. 96 ff. AaO, S. 105 f. Wie Fn. 24. Naucke, Analogieverbot (1981), S. 106. Vgl. nur die Nachw. bei A I Fn. 161.

Α. Deutungsmuster zum Justiz-Strafrecht 1933 bis 1945

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Rede 35 . An diesen Zusammenhang können Deutungen anknüpfen, die nationalsozialistisches Strafrecht im ganzen als Verwirklichung nationalsozialistischer Weltanschauung, zur Kennzeichnung ihrer inneren Unwahrheit auch als nationalsozialistische Ideologie bezeichnet, zu begreifen suchen. Im folgenden ist exemplarisch die Interpretation Rüpings zu skizzieren, der in verschiedenen Beiträgen die hier interessierende Einheitsthese vertreten hat (dazu a). Anschließend sind die Schwierigkeiten der Grundfrage zu erörtern: Was ist "nationalsozialistische Weltanschauung"? (dazu b). a) Das Strafrecht "im Bann der neuen Ideologie" (Riiping) Naucke beschreibt eindringlich den Zerfallsprozeß des Gesetzes "im überkommenen Sinne", liefert aber nur eine Beschreibung der Struktur des von ihm behaupteten "Neubaus". Rüping hat dagegen eine These aufgestellt, die erwarten läßt, er habe eine genaue Rekonstruktion des Neubaus anhand der von ihm aufgefundenen Baupläne erstellt: Die Grundlagen der "Strafjustiz im Führerstaat" sind für Rüping geklärt, wie die einleitende Bemerkung seines Beitrags zu diesem Thema dokumentiert: "Die inzwischen weitgehend aufgearbeitete Theorie zeigt, wie Recht und Rechtsanwendung im Bann der neuen Ideologie stehen und sich dadurch auch die methodische Grundlegung entscheidend verändert" 36 . Den Grundriß des nationalsozialistischen Strafrechtssystems liefert nach Rüping die "'völkische' Ideologie". Der Nationalsozialismus, so Rüping, "unternimmt bewußt, von einer gezielt antiliberalistischen 'völkischen' Ideologie aus, das gesamte Rechtswesen neu zu ordnen"37. In der Praxis der Strafjustiz erkennt Rüping eine "in Schüben" erfolgende Umsetzung der "neuen Inhalte" wie der veränderten Methode 38 . Er beschreibt schon in seinem "Grundriß der Strafrechtsgeschichte" die "Auswirkungen" der neuen Vorstellungen im Strafrecht und im Strafverfahren 39 , charakterisiert die "Durchsetzung der neuen Ideen" 40 über Personalpolitik, Kompetenzverlagerungen und Rechtsprechungslenkung, betrachtet die Sondergerichtsbarkeiten als modellhafte Verwirklichung der "neuen Vorstellungen"41. In späteren Beiträgen Rüpings wird die Umsetzung nationalsozialistischer Vorstellungen teils im wesentlichen wiederholend, teils für bestimmte Bereiche vertiefend umschrieben 42 .

35

Dazu 2. Teil [Nr. 16] 2.

36 37 38 39

GA1984,297. ARSP Beiheft 18 (1983), 73. GA 1984,298. Überschrift Kap. 2, aaO, S. % ff. Vgl. auch GA 1984, 299 zu den "normativen Grundlagen" von Strafrecht und Strafprozeßrecht; zur Aufhebung des Analogieverbots FS Oehler (1985), S. 27 ff.; zum Strafprozeßrecht den Beitrag in: ARSP Beiheft 18 (1983), S. 65 ff. Überschrift Kap. 3, aaO, S. 100 ff. Vgl. auch GA 1984,299 (Lenkung), 301 (Kompetenzverlagerungen zugunsten der Polizei). Dazu Kap. 4, aaO, S. 103 ff. Vgl. auch GA 1984, 303 (Modellcharakter der Sondergerichte), 304 f. (Volksgerichtshof), 306 (SS- und Polizeigerichte, Parteigerichte); zum ausgeprägtesten Modell SSund Polizeigerichte NStZ 1983,112 ff.; zum Volksgerichtshof JZ1984,815 ff. Vgl. Fn. 39-41.

40 41

42

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1. Teil: Einführung

Riipings Einheitsthese setzt zweierlei voraus: Erstens: Es gibt ein nationalsozialistisches "theoretisches Programm"43 der Strafrechtsumwandlung, also innerlich zusammenhängende "neue Vorstellungen", die mehr sind als nur "Schlagworte oder politische Rhetorik"44. Zweitens: Dieses Programm wird in die Praxis umgesetzt und führt zur gleichgerichteten Neuordnung des Strafrechts in allen Bereichen. Von grundlegender Bedeutung ist zunächst die Prämissenbildung. Die gesamte Interpretation hängt an der Frage, was als spezifisch nationalsozialistisches Programm anzusehen ist. 1981 spricht Rüping insoweit von "Grundlagen", zu denen er die "Rassenlehre, die von Hegel beeinflußte Staatsphilosophie und die neue 'ganzheitliche' Methode der Rechtsfindung" rechnet45. In einem späteren Beitrag wird ausdrücklich der Zusammenhang "Recht und völkische Ideologie" beschrieben46. Diese fortgeschrittenere Fassung diene als Grundlage einer näheren Betrachtung. Der einleitende Kernsatz Rüpings lautet: "Nationalsozialistisches Denken kreist um den zentralen Begriff der 'organischen Volksgemeinschaft'". Dessen "vielfältige Erscheinungsformen" erschöpfen sich nach Rüping "nicht in unverbindlichen Programmsätzen", sondern "schaffen grundsätzliche inhaltliche Veränderungen". Diese beträfen "einmal 'intern' die völlige Instrumentalisierung des Rechts, d. h. die Ausrichtung des Rechts wie der Rechtsprechung am Nutzen für die Gemeinschaft Artgleicher". Zweck der Justiz sei es, nach einem Hitler-Ausspruch, das "im Sinne der nationalsozialistischen Idee sich vollziehende Gemeinschaftsleben unseres Volkes vor ... destruktiven Erscheinungen zu schützen". Der Gedanke des Vorrangs der Volksgemeinschaft werde, so Rüping, "häufig variiert", doch "ohne den Gehalt zu ändern". Zum anderen verweist Rüping darauf, da nur Artgleiche gemeinsames Recht hätten, habe für Artungleiche, wie Polen und Juden, "besonderes Recht" zu gelten; die Gleichheit vor dem Gesetz habe man zugunsten eines Rechtsdualismus aufgegeben. Letzteres gelte "in einer zweiten, bisher kaum in diesem Zusammenhang gewürdigten, aber ebenfalls verhängnisvollen Bedeutung" auch innerhalb der artgleichen Volksgemeinschaft für den, der sich durch Verrat lossage: Hier heiße "Strafe 'einfach Aussonderung fremder Typen und artfremden Wesens'"47. Der von Rüping präsentierte Zusammenhang von Recht und völkischer Ideologie wurde hier nahezu vollständig zitiert. Von den "vielfältigen Erscheinungsformen" der organischen Volksgemeinschaft nennt Rüping zwei: den Nutzen für die Volksgemeinschaft Artgleicher (Instrumentalisierung) und die Art(un)gleichheit als Ausgangspunkt eines Rechtsdualismus. Rüping spricht sich zum ersten Gesichtspunkt nicht darüber aus, ob denn die abstrakte Kategorie "Nutzen" mit inhaltlichen Zielen ausgefüllt war und bejahendenfalls mit welchen. So bleiben mögliche praktische Implikationen offen; ein inhaltliches "Programm" bedeutet eine solche Bestimmung jedenfalls nicht. Konkreter ist der zweite Gesichtspunkt. Er soll Sonder-

43 44

Vgl. Rüping, ARSP Beiheft 18 (1983), S. 73. Vgl. Rüping, FS Oehler (1985), S. 27.

45

Strafrechtsgeschichte (1981), S. 94 ff., Hervorhebung aaO.

46

G A 1984, 297.

47

Alle Zitate aaO, 297 f.

Α. Deutungsmuster zum Justiz-Strafrecht 1933 bis 1945

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recht für Artungleiche und Ausscheidung wesensfremder "Volksgenossen" als Strafeweck implizieren. Ergänzt werden die Ausführungen Rüpings zu Recht und Ideologie durch eine Beschreibung eines "Systems des Dezisionismus": Die "aus Instrumentalisierung und Dualismus des Rechts folgenden [?]48 Inhalte" seien nämlich in einem solchen System verwirklicht worden: "Völkisches Rechtsdenken" befreie den Richter zwar von "formallogischen Fesseln der Subsumtion", berufe ihn "stattdessen dazu ... durch Konkretisierung des Gemeinschaftswillens das Recht schöpferisch zu gestalten", gebe ihm aber "nur scheinbar größere Macht". In Wirklichkeit werde der Richter zum "Werkzeug der politischen Führung", denn der "Wille der Volksgemeinschaft" erschöpfe sich in "mythischer Beschwörung". Er bezeichne nämlich keinen "soziologisch bestimmbaren realen Willen der Mehrheit", sondern offenbare sich "fortgesetzt im Willen des Führers", dessen "historische Größe" die Garantie bilden solle, "den 'wirklichen' Willen des Volkes zu finden"49. Rüping stellt dieses System des Dezisionismus unverbunden neben den Zusammenhang von Recht und Ideologie. Die Frage, wie sich die Maßgeblichkeit des Führerwillens, auf die jenes dezisionistische System wohl hinauslaufen soll, zur Ideologie verhält, wird nicht gestellt. Das erstaunt, wird doch das Führerprinzip zum Inventar nationalsozialistischer Weltanschauung gerechnet50. Rüping meint aber offenbar, der "Wille der Volksgemeinschaft" löse sich durch die Maßgeblichkeit eines dezisionistischen Systems auf. Solche Auflösung müßte dann wohl auch den "Nutzen für die Volksgemeinschaft", der ebenfalls im dezisionistischen System im Sinne Rüpings verwirklicht wird, erfassen. Vom ideologischen Programm bleibt, wenn man alles zusammennimmt, als inhaltlich bestimmter Kern nur die Verwirklichung der Art(un)gleichheit übrig. Rüpings Prämissen sind somit in sich alles andere als klar: Sie lassen schon kein "Programm" erkennen. Vor allem aber legt Rüping mit keinem Wort dar, was er unter "der" nationalsozialistischen Ideologie versteht. Angesichts der zeitgeschichtlichen Kontroversen um Inhalt und Bedeutung der nationalsozialistischen Weltanschauung51 besteht hier für den Strafrechtshistoriker die Notwendigkeit einer näheren Begründung, welche mit der unbefangenen Rede von "der" nationalsozialistischen Ideologie und der Benennung einiger allgemeiner Gesichtspunkte nicht eingelöst wird. So hängen Rüpings Interpretationen, soweit sie Programmverwirklichung behaupten, gewissermaßen in der Luft: Rüping bewegt sich auf einer zweiten Etage, deren Unterbau fehlt. Läßt man diesen grundlegenden Einwand beiseite und blickt man auf die Durchführung des Rüpingschen Ansatzes, so ist auch diese in sich nicht überzeugend und teilweise widersprüchlich. Für das materielle Strafrecht ist die Materialbasis überaus schmal. Rüping verweist auf die Aufhebung des Analogieverbots und den neuen Satz "nullum crimen sine lege", der dem totalen Staat gemäß gewesen sei. Er spricht die Rückwirkung an, vermerkt mit Blick auf das Ge-

48 49

Im ersten längeren Zitat (GA 1984, 297 f.) erscheinen Instrumentalisierung und Rechtsdualismus als Konsequenzen der neuen Inhalte; jetzt (aaO, 298) wird ein umgekehrter Zusammenhang nahegelegt. AaO, 298.

50

Vgl. nur Anderbrügge (1977), S. 58 ff.

51

Dazu sogleich 2b.

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1. Teil: Einführung

setz über Staatsnotwehr, der "Inhalt der Norm" unterliege "keinen Schranken", und behauptet, "am Ende dieser Entwicklung" (welcher?) stehe die Polenstrafrechtsverordnung mit ihren unbestimmten Strafbarkeitsvoraussetzungen. Schließlich gibt Rüping Hinweise auf das "täterorientierte Willensstrafrecht", auf die in der Literatur geforderte "ganzheitliche Gesetzesauslegung" und ein Reformprojekt von Goebbels52. Alle diese Gesichtspunkte mögen mit der "neuen Ideologie" im Zusammenhang stehen: Sie ergeben aber noch kein geschlossenes Bild von einem neuen Strafrecht. Rüping greift auffällige Entwicklungen heraus, die natürlich auch von denjenigen gesehen und negativ bewertet werden, die den Maßstab rechtsstaatliches Strafrecht verwenden. Auf alle diejenigen Phänomene, die aus jener Perspektive der Trennungsthese als rechtsstaatskonform beurteilt werden - Fortgeltung von Strafrecht vor 1933, Fortführung rechtsstaatskonformer Linien in der Regelsetzung - geht Rüping gar nicht erst ein. So ist, jedenfalls für das materielle Strafrecht, die Einheitsthese Rüpings schon aufgrund der Materialarmut nicht abgesichert. In den verschiedenen Beiträgen Rüpings lassen sich ferner Widersprüche ausmachen, die möglicherweise auf einer inneren Unklarheit der Prämissenbildung beruhen. Wenn man, wie Rüping, davon ausgeht, das Recht werde für die nationalsozialistische Weltanschauung umfassend geöffnet, liegt es auf der Hand, daß die Stellung des Richters zum Gesetz nach nationalsozialistischer Auffassung eine andere werden muß als im Rechtsstaat. Modellhaft erscheinen Rüping insoweit die SS- und Polizeigerichte, weil sich dort, was einleuchtet, das "neue Denken" ungehindert von überkommenen Organisationsstrukturen habe entfalten können53. Rüping führt aus, die Rechtsprechung sei dort "nur im Rahmen der alles beherrschenden Weltanschauung unabhängig" gewesen. Der dem Führerstaat "inhärente Dezisionismus" führe aber zu folgenden Grundsätzen: "Die Rechtsprechung ist nur im Rahmen der alles beherrschenden Weltanschauung unabhängig. Doch bleibt die Interpretation ideologischer Programme und die Scheidung des wirklichen Volksgeistes vom irrenden nicht dem Ermessen des einzelnen Rechtsanwenders überlassen. Der dem Führerstaat inhärente Dezisionismus ist für die SS in selten klarer Form ausgesprochen: 'Der SS-Richter dient der Gerechtigkeit. Gerecht ist allein diejenige Entscheidung, die den Willen der völkischen Gemeinschaft ausspricht. Der Wille der Volksgemeinschaft aber ist der Wille [ihres] besten Mannes, des Führers'"54.

Nimmt man den Modellcharakter dieser Grundsätze ernst, ist der Grad ihrer Verwirklichung in anderen Gerichtsbarkeiten Indiz für die fortschreitende Umsetzung nationalsozialistischer Vorstellungen. Wenn also Freister bei seinem Amtsantritt als Präsident des Volksgerichtshofs Hitler in einer Ergebenheitsadresse versichert, sein Bestreben sei es, so zu richten, "wie Sie, mein Führer, den Fall selbst beurteilen würden"55, ist das folgerichtige Modellverwirklichung. Wenn dann Freister später über Leben und Tod danach entscheidet, ob dem Angeklagten nach seiner Persönlichkeit die Tat "zuzutrauen"56 ist, entspricht dies durchaus dem

52 53 54 55 56

Vgl. die ausführlichste Darstellung in Strafrechtsgeschichte (1981), S. 97 f. S. auch GA 1984, 299 mit Kurzversion; zur Aufhebung des Analogieverbots FS Oehler (1985), S. 27 ff. Dazu NStZ 1983,112 und schon Strafrechtsgeschichte (1981), S. 106 ("... verwirklichen das Charakteristische nationalsozialistischer Rechtsfindung am deutlichsten... ") und wieder GA 1984, 306 f. NStZ 1983,114 mit Zitat aus den Hinweisen für SS-Richter. Vgl. die Hitler erstattete Meldung des Dienstantritts durch Freister bei Buchheit (1968), S. 108 f. ( = NDok NG-176). Vgl. Rüping, GA 1984,305.

Α. Deutungsmuster zum Justiz-Strafrecht 1933 bis 1945

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von Rüping selbst genannten "Strafziel" der "Aussonderung artfremder Typen": Der auszusondernde Typ kann unabhängig vom Vorliegen einer Straftat bestimmt werden; "Artfremdheit" ist nicht an Straftatbestandsverwirklichung gebunden57. Die hier angesprochenen Folgerungen aus den von Rüping behaupteten Prämissen gehören also, wenn die Prämissen stimmen, zur Essenz nationalsozialistischen Strafrechts: Was aus rechtsstaatlicher Sicht brutaler Exzeß ist, enthüllt dann das Wesen nationalsozialistischen Strafrechts. Anders Rüping: Freislers erwähntes Bekenntnis soll - auch nach damaligen Maßstäben! - die fehlende Gerichtsqualität des Volksgerichtshofs indizieren58, der Durchgriff auf den Täter" mit "Rechtsfindung nichts mehr zu tun" haben59. Nun sind diese Bewertungen aus rechtsstaatlicher Sicht selbstverständlich: Das "Essentiale ... richterlicher Tätigkeit, ... im Rahmen der gesetzlichen Normen und nach dem Ergebnis eines justizförmigen Verfahrens über Schuld- und Straffrage zu entscheiden"60, wird offenkundig verlassen. Aber Rüping will doch gerade nationalsozialistisches Recht als Verwirklichung nationalsozialistischer Programmatik beschreiben: Wenn die SS- und Polizeigerichte "Modellcharakter" haben, wenn der Richter an den Führerwillen gebunden ist, wenn Strafe Aussonderung Artfremder heißt, dann zeigt dies nur, daß nationalsozialistische Programmverwirklichung ein anderes Essentiale richterlicher Tätigkeit produzieren muß, das mit rechtsstaatlichem Richten nur noch den Namen gemein hat. Hier liegen dann in der Tat "Ansätze zu einer gänzlichen Veränderung von Rechtspflege"61, die gerade im menschenrechtswidrigen Exzeß verkörpert sind: Was gemessen an Menschenrechten und rechtsstaatlichen Verfahrensgrundsätzen Justizmord ist, erscheint als konsequente Programmverwirklichung mit Mitteln spezifisch nationalsozialistischen "Rechts" und "Richtertums". Die Frage lautet dann, ob konsequent weltanschauliche Ausrichtung nicht Rechtsauflösung impliziert. Wird die Frage bejaht, hebt sich der Ansatz: "Nationalsozialistisches Recht ist Verwirklichung eines ideologischen Programms" von selbst auf. Im Ergebnis werden die von Rüping erhobenen Ansprüche - ganz unabhängig von solchen Widersprüchen - nicht eingelöst. Der Ansatz selbst ist damit nicht widerlegt: Er bedarf freilich zu seiner Durchführung einer gründlicheren und präziseren Formulierung als sie bei Rüping erfolgt. Der vielleicht neuralgischste Punkt, der Inhalt "nationalsozialistischer Weltanschauung" und die Möglichkeit einer Ableitung der "nationalsozialistischen Rechtsauffassung" aus dieser Weltanschauung ist jetzt näher zu betrachten. b) Was ist "nationalsozialistische Weltanschauung"? Wer wie Rüping das Strafrecht 1933 bis 1945 als Verwirklichung eines weltanschaulichen Programms beschreiben will, muß dieses formulieren und mit der Strafrechtsentwicklung verbinden. Schon der erste Schritt eines solchen Unterfangens ist außerordentlich schwierig: Die Existenz einer inhaltlich bestimmbaren "nationalsozialistischen Weltanschauung" wird nach57 58 59 60 61

Zu entsprechenden Tenorierungsschemata das Beispiel bei Hillermeier (1981), S. 103 f. und 2. Teil [Nr. 13] Fn. 206. JZ1984,819,818. GA 1984,306. JZ 1984,820. NStZ 1983,114.

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1. Teil: Einführung

haltig in Frage gestellt. Für Broszat etwa hat man "mit Recht... von einem Mischkessel, einem Konglomerat, einem Ideenbrei gesprochen". Mit den "üblichen geistesgeschichtlichen Maßstäben an die nationalsozialistische Ideologie heranzugehen", sei "nur unter großen Vorbehalten" möglich62. Noch schärfer wird von Autoren so unterschiedlicher Provenienz wie Franz Neumann oder Rauschning der nationalsozialistischen Weltanschauung jede innere Konsistenz abgesprochen: Ihre Konstruktionen seien "wirr, eine Konsistenz ... nicht vorhanden", jede Äußerung entspringe einer "unmittelbaren Situation" und werde "verworfen, sobald die Situation sich ändert"63; der Nationalsozialismus habe eine "doktrinlose oder nihilistische Revolution" gemacht64. Von solchen Ausgangspunkten ist "nationalsozialistisches Rechtsdenken" als inhaltlich zusammenhängender Entwurf schwerlich aus der Weltanschauung ableitbar. Nationalsozialistische Rechtslehre muß dann mit Notwendigkeit "unbestimmt und unklar" bleiben65. Nimmt man hinzu, daß, dem Zeitgeist entsprechend, vielfältige und heterogene Reformvorstellungen ab 1933 unter der Flagge "nationalsozialistische Auffassung" segeln, wird die Lage noch weiter kompliziert. Das Bemühen, Leitprinzipien einer nationalsozialistischen Rechtslehre herauszuarbeiten, hat Stolleis deshalb nicht von ungefähr als "außerordentlich schwierig" bezeichnet. Die Menge des Materials sei "erdrückend", schon weil sich "besonders viele Autoren zur Niederschrift 'grundlegenden' Tiefsinns berufen" gefühlt hätten; die Gleichförmigkeit des "irrationalen Jargons" mache Differenzierungen schwierig, "Dynamik und Intensität des Bekenntnisses" hätten vor der "Rationalität und logischen Kontingenz der Aussagen" rangiert. So sei "der heutige Betrachter in der Lage des Fotografen, der einen Nebel auf die Platte bannen will"66, um anschließend - so wäre mit Blick auf den hier interessierenden Gegenstand hinzuzufügen - Strafrechtsentwicklung als Entsprechung dieses Nebelbildes zu interpretieren. Die Schwierigkeiten sind offenbar: Wenn die Inhalte "nationalsozialistischer Weltanschauung" und eines daraus abgeleiteten Rechtsprogramms verwickelte Probleme aufwerfen, wie sehen dann "die" nationalsozialistischen Strafrechtsvorstellungen aus, und wer hat sie formuliert? Soll man auf die Beiträge von Strafrechtswissenschaftlern abstellen und etwa die Schrift von Gemmingens "Strafrecht im Geiste Adolf Hitlers"67 zugrunde legen? Sind die Vorstellungen eines Freisler68 oder Nicolai69 repräsentativ? Wird das Modell nationalsozialistischen Strafrechts in der Denkschrift des preußischen Justizministers Hanns Kerrl sichtbar, in den von Hans Frank (Reichsrechtsamt der NSDAP) herausgegebenen "Nationalsozialistischen Leitsätzen" oder ist der Entwurf 1936 der amtlichen Strafrechtskommission richtungweisend 62 63 64 65 66 67 68

69

Broszat (1960), S. 16. Franz Neumann (1944/1977), S. 65. Rauschning (1938), S. 87; vgl. auch Laufs3 (1984), S. 326: "nihilistische Rechtsfeindschaft". Weinkauff, Justiz und Nationalsozialismus (1968), S. 39. Stolleis, ZfNR 1979,100. Erschienen 1933. Die dort mitgeteilten "Richtlinien" werden aus der "Grundhaltung" der nationalsozialistischen Bewegung "im Zusammenhalt mit dem Willen ihres Führers" destilliert (aaO, S. 25). Vgl. das Schriftenverzeichnis. Zur Forderung nach einem Zentraltatbestand mit dem Inhalt, daß "der Strafwürdige strafbar" sei, als Bekenntnis zur "völkischen Sittlichkeit als der Grundlage des Rechts" DStR 1935,29. Vgl. Nicolais "Rasse und Recht" (1933) und dort S. 56 ff. zum "Segen eines strengen Auslesestrafrechts" mit dem Ziel einer volksbiologischen Rassenverbesserung; s. auch DR 1933, 4 zur "Ausmerzung" von Schädlingen und Die rassengesetzliche Rechtslehre (1932).

Α. Deutungsmuster zum Justiz-Strafrecht 1933 bis 1945

47

usw.? Wer "das" nationalsozialistische Strafrechtsprogramm ausmachen und seine Leitprinzipien aus der nationalsozialistischen Weltanschauung herleiten will, tappt im Nebel, verliert im "Dampf der Phrasen" 70 die Orientierung, solange nicht feststeht, ob eine nationalsozialistische Weltanschauung mit bestimmten Inhalten existiert. Nun wird aber auch behauptet, daß es einen festen Kernbestand nationalsozialistischer Weltanschauung und nationalsozialistischen Rechtsdenkens gebe 71 . Vor allem wird die These vertreten, jedenfalls die Weltanschauung Hitlers bilde "zur Ganzheit zusammengefaßt ... ein Ideengebäude, dessen Folgerichtigkeit und Konsistenz den Atem verschlägt"72. Was Hitler als seine Weltanschauung ausgibt, ist leicht zugänglich und, so jedenfalls Hitlers Anspruch, in "Mein Kampf" zusammengefaßt 73 . Mit der Orientierung an Hitler würde das Problem der Zuständigkeit für authentische Weltanschauungsformulierung eliminiert. Es wäre immerhin denkbar, den Extrakt Hitlerscher Weltanschauung versuchsweise zu formulieren mit dem Ziel, daraus Grundlinien eines Strafrechtsprogramms zu entwickeln, die mit der Strafrechtsentwicklung zu konfrontieren wären. Ein solcher Versuch wurde bislang nicht unternommen. Er müßte wiederum in äußerst unsicheres Gelände vorstoßen. Ob sich aus Hitlers "Mein Kampf' wirklich ein konsistentes Gedankengebäude entwickeln läßt, ist umstritten 74 , so daß auch der Versuch, daraus Leitprinzipien nationalsozialistischen Strafrechts herzuleiten, von vornherein mit erheblichen Schwierigkeiten belastet wäre: Vielleicht handelt es sich ja auch und gerade bei Hitlers Weltanschauung um Äußerungen eines "Fanatismus purer Aggressivität", der sich in zusammenhanglosen "kläglichen Phrasen" erschöpft 75 . Und selbst wenn eine einheitliche Weltanschauung in Grundzügen ausgemacht werden könnte, wäre sie für die rechtspolitischen Leitlinien vielleicht ohne jede Bedeutung. Diese Auffassung hat etwa Majer vertreten. Bei ihr wird "mit Absicht kaum je vom Willen Hitlers gesprochen, da dieser ... für Rechts- und Verwaltungsfragen überhaupt kein Interesse hatte und sich daher hierzu nur selten und dann nur beiläufig äußerte" 76 . Die angesprochenen Fragen führen geradewegs in das Problemzentrum der Hitler-Interpretation: Verfügte Hitler über eine in sich schlüssige "Weltanschauung" und war seine Politik Programmverwirklichung? Oder war seine "Weltanschauung" Phraseologie, bestenfalls Metaphorik, und Hitler ein prinzipienfreier Gelegenheitspolitiker? War Hitler die planvoll vorgehende beherrschende Figur, die alle wesentlichen Entscheidungen traf? Ergaben sich Hitlers Entscheidungen aus den Bedingungen oder wurden sie ihm sogar von diesen aufgezwungen? War Hitler vielleicht nur ein Notar, der die Kompromisse einer Vielzahl von konkurrierenden

70 71

Weinkauff, Justiz und Nationalsozialismus (1968), S. 39. Vgl. etwa Anderbrügge (1977), bes. S. 58 ff.; B. Koch (1985), S. 80 ff.; Schild, GedSchr für Marcio (1983), S. 437 ff. Die jeweiligen Auswahlkriterien werden nicht klar: zu Anderbrügge vgl. Stolleis, ZfNR 1979, 99 ff.; Schild zieht für die "Philosophie des NS'... seine 'besten' Vertreter" heran, nämlich "die vielen Wissenschaftler, Philosophen und Theologen, die in ihren Schriften Baustein um Baustein für das System dieser Ideologie legten", Einzelbelege fehlen.

72 73 74 75

Nolte5 (1979), S. 55; vgl. namentlich auch Jacke? (1983). Dazu Jäckel2 (1983), S. 11 ff. Zusf. zu den Hitler-Interpretationen 1923-1983 G. Schreiber (1984), S. 17 ff. und S. 264 ff. zu den "Aspekten einer Herrschaft". Vgl. Broszat (1960), S. 27,29.

76

Majer (1981), S. 23.

48

1. Teil: Einführung

Herrschaftsträgern nur noch beurkundete?77 Die Klärung solcher "Vorfragen" würde zur Auseinandersetzung mit grundlegenden und umstrittenen Positionen der Geschichtswissenschaft zwingen. Der Strafrechtshistoriker könnte dabei zwischen den Fronten von "Programmologen" auf der einen und "Funktionalisten" auf der anderen Seite78 leicht seinen Gegenstand, das Strafrecht, aus den Augen verlieren. Er würde am Ende vielleicht als angelernter "Programmologe" oder "Funktionalist" versuchen, ein Stück Strafrechtsgeschichte des Dritten Reiches zu schreiben und seinen Gegenstand nur noch durch die ausgewählte Brille wahrnehmen. Solchen Gefahren ist am leichtesten zu entgehen, indem unbelastet von solchen, vielleicht gar nicht zu leistenden79, "Vorentscheidungen" die wirklichen Ereignisse auf dem Gebiete des Strafrechts und der Verbrechensbekämpfung vergegenwärtigt werden. Als Fazit bleibt, daß der Versuch, die Strafrechtsentwicklung 1933 bis 1945 als Verwirklichung eines weltanschaulichen nationalsozialistischen Programms zu beschreiben, bisher nicht gelungen ist. Die entscheidende Schwierigkeit ergibt sich dabei schon im Vorfeld bei der inhaltlichen Bestimmung nationalsozialistischer Weltanschauung, deren Fehlen die Formulierung "des" - oder auch nur "eines" - authentischen nationalsozialistischen Strafrechtsprogramms hindert. Die Frage nach der "nationalsozialistischen Weltanschauung" führt auf schwankenden Untergrund. Sie ist beim derzeitigen Diskussionsstand nicht "vorab" beantwortbar. B. DIE ANSÄTZE ZUR WÜRDIGUNG DES VERHÄLTNISSES VON JUSTIZSTRAFRECHT UND POLIZEILICHER VERBRECHENSBEKÄMPFUNG Die nationalsozialistische Polizei wird in umfassender Weise zum Zwecke der Verbrechensbekämpfung tätig: Sie verhängt unabhängig vom Vorliegen straftatbestandlicher Verhaltensweisen "vorbeugend" Freiheitsentziehungen. Sie ahndet reaktiv Straftaten und "korrigiert" die Justiz. Zur vorläufigen Orientierung1 ist auf folgende wesentliche Entwicklungen zu verweisen: Vorbeugende polizeiliche Freiheitsentziehungen ohne vorangegangenes oder nachfolgendes gerichtliches Verfahren finden sich bereits ab 1933 in der Form der Vorbeugungshaft (nicht-politische Verbrechen)2 und der Schutzhaft (politische Verbrechen)3, die in Konzentra77

Vgl. aus der sehr umfangreichen Literatur nur einerseits Jäckel, Hitlers Weltanschauung2 (1983) und Hitlers Herrschaft (1986), der Hitlers Weltanschauung als in sich geschlossenes Gedankengebäude, seine Herrschaft als Vollzug der Weltanschauung begreift, andererseits etwa Broszat, Der Staat Hitlers10 (1983) und Fn. 75; pointiert zur "Notar-These" für bestimmte Bereiche Hüttenberger, Geschichte und Gesellschaft 2 (1976), S. 417 ff., 431, 433, 442. Zum Diskussionsstand vgl. mit ausf. Nachw. G. Schreiber (1983), S. 17 ff., 264 ff.; s. auch die Beiträge von Mason, Mommsen und Hildebrand in: Hirschfeld/Kettenacker (1981).

78 79

Zu diesen "Kampfbegriffen" (der jeweiligen Gegenseite) vgl. Jäckel (1986), S. 163 Fn. 55. Zur Gegenüberstellung von "Traditionalisten" und "Revisionisten" G. Schreiber (1983), S. 300. Dazu G. Schreiber (1983), S. 301: "... beim gegenwärtigen Forschungsstand zwar möglich, Stellung zu beziehen, aber nicht, objektiv eine Entscheidung pro oder contra die eine oder die andere Richtung zu fällen".

1 2 3

Zum ganzen 3. Teil. Dazu 3. Teil Β I V . Dazu 3. Teil C I .

Β. Justiz-Strafrecht und polizeiliche Verbrechensbekämpfung

49

tionslagern vollstreckt werden. Daneben setzt mit Kriegsausbruch die Ahndung von Straftaten außerhalb der Strafjustiz ein4: Exekutionen werden ohne gerichtliches Verfahren durchgeführt, teilweise auf unmittelbare Anordnung Hitlers5. Von "ahndender" polizeilicher Freiheitsentziehung und Todesstrafe sind namentlich ausländische "fremdvölkische" Zivilarbeiter betroffen6. Polizeiliche Maßnahmen erfolgen auch während schwebender oder nach Abschluß gerichtlicher Verfahren. Schutzhaft und Vorbeugungshaft werden insbesondere nach Verbüßung von Freiheitsstrafen angeordnet, aber auch nach Verfahrenseinstellungen oder Freisprüchen7. Die augenfälligsten Beispiele polizeilicher "Urteilskorrekturen" bilden die mit Kriegsbeginn einsetzenden polizeilichen Exekutionen, die im Anschluß an "zu milde", d. h. "nur" auf Freiheitsentziehung lautende Gerichtsurteile erfolgen8. Daß sämtliche hier angesprochenen Vorgehensweisen der Polizei rechtsstaatswidrig sind, bedarf keiner näheren Begründung. Deshalb gibt es im Hinblick auf die polizeiliche Verbrechensbekämpfung keine wie auch immer nach heterogenen Entwicklungslinien unterscheidenden Interpretationen: Sie verbieten sich schon wegen der Aushebelung des Justizprinzips. Die entscheidende Frage lautet, ob die vorbeugenden und ahndenden Maßnahmen überhaupt Äectecharakter haben oder nicht. Vorbeugungshaft, Schutzhaft, polizeiliche Exekutionen und Strafmaßnahmen gegen ausländische Zivilarbeiter sind in polizeiinternen Erlassen geregelt. Diese sind, anders als die Vorschriften des justiziellen Strafrechts, nicht verkündet, also nicht gesetzesförmig. So ist es nicht verwunderlich, wenn die Polizeimaßnahmen in der strafrechtsgeschichtlichen Literatur überwiegend als Nicht-Recht und lediglich faktische rechtswidrige Unterminierung der justizförmigen Strafrechtspflege angesehen werden (dazu I). Beim Anknüpfen an zeitgenössische Einschätzungen kommt aber - nach Maßgabe der damaligen innerstaatlichen Geltungskriterien - eine Einordnung zumindest eines Teils der polizeilichen Verbrechensbekämpfungsmaßnahmen als Polizei-"Recht" in Betracht (dazu II). I. Die polizeilichen Maßnahmen als rechtswidrige Einbrüche in den Bereich der Justiz Die skizzierten polizeilichen Maßnahmen, namentlich die Verhängung von Schutz- und Vorbeugungshaft, werden bei Weinkauff als "systematische Eingriffe von SS und Gestapo in die Justiz" beschrieben1. Wagner spricht von "Eigenmächtigkeiten der Polizei" gegenüber der Justiz2. Beiden Autoren erscheinen die Maßnahmen der Polizei als "Einbrüche" in die Justizzuständigkeit, kurz: als "gesetzwidriges Tun und Unterlassen"3. Diese Sichtweise wird überwiegend geteilt4. Die zusammenfassende Beschreibung der Polizeimaßnahmen erfolgt aus 4 5 6 7 8 1 2 3 4

Dazu 3. Teil D, E. Dazu 3. Teil D I. Dazu 3. Teil E. Dazu 3. Teil Β I V 3a cc; C V 1, 2b. Dazu 3. Teil D I , III. Weinkauff, Justiz und Nationalsozialismus (1968), S. 124. A. Wagner, Umgestaltung (1968), S. 290,301, zum ganzen S. 286 ff. AaO, S. 290. Vgl. etwa Rüping, Strafrechtsgeschichte (1981), S. 102 ("umfassende Eingriffe"); Kem (1954), S. 278 ("positive Eingriffe"); Majer (1981), S. 638 ff. ("Übergriffe", S. 654) und die folgenden Nachw.

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1. Teil: Einführung

dem Blickwinkel der Justiz und setzt eine ausschließliche Justizkompetenz für die Verhängung von Freiheitsentziehungen oder von Todesurteilen voraus. Die Folie der Beschreibung bildet eine rechtsstaatliche Kompetenzordnung, in der freiheitsentziehende staatliche Akte auf gesetzlicher Grundlage vom Richter verhängt werden oder doch innerhalb enger Fristen richterlicher Kontrolle unterliegen. Zur Rechtswidrigkeit der Polizeimaßnahmen gelangt man auch auf der Basis des bereits beschriebenen Ansatzes von Buchheim, der die Polizei in toto als Instrument der außernormativen Führergewalt begreift: Konsequenz dieser Sichtweise ist die Einordnung sämtlicher Polizeimaßnahmen als rechtswidrige Anmaßungen auf weltanschaulicher Grundlage5. Buchheims Zwei-Welten-These ist auf die Frage einer Rechtfertigung von Massentötungen durch Führerbefehl zugeschnitten6. Broszat hat von einem verwandten Ausgangspunkt, nämlich vor dem Hintergrund der Doppelstaatsthese Fraenkels7, speziell die "von Anfang an ... konkurrierende Zuständigkeit von Justiz und Polizei", "die im Dritten Reich herrschende dualistische Strafjustiz" betrachtet. Für ihn spiegelt jener Dualismus "den ganzen inneren Antagonismus der Verfassung des nationalsozialistischen Staates", womit Broszat den in seinen Augen für das Dritte Reich charakteristischen "Widerstreit zwischen der Gesetzlosigkeit polizeistaatlichen Zugriffs und noch bestehender Geltung rechtsstaatlicher Normen" bezeichnet8. Die Justiz tritt in dieser Gegensatzbildung als Repräsentantin des "Rechts", die Polizei als Vertreterin der "Gesetzlosigkeit", der "Macht" auf, wobei Broszat den Gegensatz auf die höhere Ebene eines "Verfassungsantagonismus" hebt. Ähnlich wie Broszat interpretiert Johe in seiner Untersuchung über die "gleichgeschaltete Justiz" im Bezirk des Oberlandesgerichts Hamburg, das von ihm eingehend behandelte Verhältnis von Justiz und Polizei: Für ihn beruhen die im einzelnen ausgearbeiteten "Differenzen zwischen Justiz und Polizei auf grundsätzlichen ideologischen Gegensätzen". Auf der einen Seite habe "die politisch weisungsgebundene Verwaltungseinrichtung" gestanden, "auf der anderen die Justiz, die nach wie vor den Anspruch erhob, dem Recht und nicht der Macht zu dienen. Zwischen diesen Positionen gab es keine Annäherung"9. In den Zuordnungen Weinkauffs und A. Wagners, deutlicher in denen Broszats und Johes, spiegelt sich die schon 1940 von Ernst Fraenkel formulierte - und in der Folgezeit in verschiedenen Varianten vertretene - These vom nationalsozialistischen "Doppelstaat", derzufolge zwei Systeme nebeneinander existiert hätten, nämlich der "Maßnahmenstaat" und der "Normenstaat". Unter "Maßnahmenstaat" versteht Fraenkel "das Herrschaftssystem der unbeschränkten Willkür und Gewalt, das durch keinerlei rechtliche Garantien eingeschränkt ist", unter "Normenstaat" das "Regierungssystem, das mit weitgehenden Herrschaftsbefugnissen zwecks Aufrechterhaltung der Rechtsordnung ausgestattet ist, wie sie in Gesetzen, Gerichtsentscheidungen und Verwaltungsakten der Exekutive zum Ausdruck gelangen". Der Maßnahmenstaat habe "den politischen Sektor des deutschen öffentlichen Lebens der Herrschaft des Rechts" entzogen10. Das hier interessierende polizeiliche Vorgehen wäre innerhalb dieses 5 6 7 8 9 10

Vgl. oben A 1 4 a . A I bei Fn. 173 und a. E. Dazu unten bei Fn. 10. Vgl. Broszat, VjZ 1958,390 f. Johe (196η, S. 148. E. Fraenkel (1940/1974), S. 21, 26. - Zur Position Buchheims und Jägers vgl. oben A 1 4 a .

Β. Justiz-Strafrecht und polizeiliche Verbrechensbekämpfung

51

Bezugssystems im wesentlichen dem Maßnahmenstaat zuzuordnen, der Sektor justizförmiger Strafrechtspflege dem Normenstaat. In die Vorstellungen einer "dualistischen Strafjustiz" und des "Doppelstaats" ist die faktische Gleichrangigkeit von Polizei und Strafjustiz aufgenommen. In rechtlicher Hinsicht wird eine scharfe Grenzlinie zwischen diesen Institutionen sowie der Art und Berechtigung ihrer Entscheidungen und Maßnahmen gezogen. II. Die polizeilichen Maßnahmen als Ausfluß eines polizeilichen Verbrechensbekämpfungsrechts Im juristischen Schrifttum ab 1933 ist vom "Recht der Schutzhaft"1 und vom "Recht der Vorbeugungshaft"2 die Rede. Die Verkörperung polizeilichen "Rechts" in internen Verwaltungsvorschriften, in Einzelanordnungen oder sogar in Geheimbefehlen wird für möglich gehalten3: Es wird ein Polizei-"Recht" behauptet, aus dem die polizeilichen Anordnungen erwachsen sollen. In den Anfangsjahren des Dritten Reiches wird das polizeiliche Vorgehen auf die Verordnung zum Schutz von Volk und Staat vom 28. Februar 1933 gestützt, welche die Kernfreiheitsrechte der Weimarer Reichsverfassung außer Kraft setzte4. Da die Verordnung als eine Notverordnung des Reichspräsidenten nach Art. 48 II der Weimarer Reichsverfassung ausgewiesen war, wurde versucht, die aufgrund der Verordnung zugelassenen Maßnahmen in den Legalisierungsbahnen der Weimarer Reichsverfassung gesetzlich zu begründen. Daneben wurde in wachsendem Maße eine andersartige Rechtsgrundlage behauptet, die mit der Weimarer Reichsverfassung nicht mehr in Verbindung zu bringen war: Die Zulässigkeit polizeilicher Maßnahmen wurde unmittelbar auf den Führerwillen gestützt, und zwar gerade auch dann, wenn eine gesetzliche Verkörperung des Führerwillens fehlte. Zeitgenössische Polizeirechtler sprachen insoweit von der "institutionellen Ermächtigung" der Polizei, nämlich vom "allgemeinen Auftrag des Führers an die Polizei, Staatsschutzkorps zu sein". Dieser Führerauftrag ermächtige die zentrale Polizeiführung und bilde die Rechtsgrundlage für weiteres Handeln. Neben ein "gesetzesförmiges Gebäude des Polizeirechts" trat damit die "Gründung des polizeilichen Wirkens auf den Willen der im Rahmen der völkischen Ordnung handelnden Reichsführung"5. Entsprechend geht Terhorst in einer neueren Arbeit über polizeiliche Vorbeugungshaft und polizeiliche planmäßige Überwachung davon aus, "daß die Erlasse, Richtlinien und Anordnungen, auf die die Kriminalpolizei die Maßnahmen der planmäßigen Überwachung und Vorbeugungshaft stützte, Ausfluß der institutionellen Ermächtigung des Führers waren. Sie reichten als alleinige Rechtsgrundlage polizeilichen Einschreitens aus"6.

X 2 3 4 5 6

Vgl. ζ. B. den Titel des Buches von Spohr (1937) und ders. schon in DJ 1934,58. Vgl. ζ. B. Maunz (1943), S. 43 ff. Dazu ζ. B. Maunz (1943), S. 26 ff.; Best (1941), S. 26; zum ganzen 3. Teil, zusf. 5. Teil A I . RGBl. I, S. 83. Näher 3. Teil Β II 2; C11, 2a, 3b; s. auch 2. Teil [Nr. 2]; zusf. 5. Teil A I . Vgl. Maunz (1943), S. 25 ff. Terhorst (1985), S. 59. Vgl. zum Ergebnis dieser Untersuchung 5. Teil A I .

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1. Teil: Einführung

III. Zusammenfassung Zur polizeilichen Verbrechensbekämpfung stehen sich zwei klare Einordnungsalternativen gegenüber: Die eine Auffassung betrachtet die wesentlichen Maßnahmen polizeilicher Verbrechensbekämpfung als rechtswidrige Einbrüche in Justizzuständigkeiten, folglich, auch nach Maßgabe der Kriterien des zeitgenössischen Rechtssystems, als Nicht-Recht. Die Fortexistenz einer rechtsstaatlichen Kompetenzordnung wird dabei vorausgesetzt. Die andere Auffassung sieht in den polizeilichen Maßnahmen jedenfalls zu einem erheblichen Teil den Ausdruck eines polizeilichen Verbrechensbekämpfungsrechts, das die Justizzuständigkeiten überlagern oder sogar verdrängen könnte. Welche Auffassung das zeitgenössische Rechtssystem zutreffend beschreibt, kann nur eine nähere Befassung mit den polizeilichen Maßnahmen erweisen. C. ZWISCHENBILANZ Zu den bisherigen Deutungsmustern zur Strafrechtsentwicklung 1933 bis 1945 ist folgendes zusammenzufassen: Der naturrechtliche Maßstab führt, wenn seine inhaltlich bestimmte Formulierung überhaupt gelingt, zu einer ahistorischen Verengung des Gegenstandes (dazu A I 2c). Die strikte Trennung der Bereiche "Recht" und "Ideologie" ist für den Bereich des (justiziellen) Strafrechts nicht annähernd ausformuliert und nicht durchführbar (dazu A I 4a). Derzeit stehen sich in verschiedenen Varianten zwei Hauptthesen gegenüber: Das traditionellere Deutungsmuster unterscheidet eine rechtsstaatliche und eine rechtsstaatswidrige teilweise als Verwirklichung nationalsozialistischer Ideologie näher bestimmte - Entwicklungslinie. Die Möglichkeit einer Veränderung des Gesamtrahmens des Strafrechts wird nicht problematisiert. So kommen etwaige Rückwirkungen auf textlich unverändert gebliebene vornationalsozialistische Strafgesetze oder auf neue, scheinbar rechtsstaatskonforme nationalsozialistische Strafgesetze nicht ins Blickfeld. Die Möglichkeiten stillen Wandels durch Auslegung, namentlich aber der Veränderung der Gesetzesfunktion selbst, bleiben unbeachtet. Die Fortexistenz eines rechtsstaatlichen Strafrechts wird von den Vertretern dieses Ansatzes ohne nähere Begründung unterstellt. Der Trennungsthese stehen zwei Varianten einer Einheitsthese gegenüber: Rüping behauptet die substantielle Einheit des Strafrechts 1933 bis 1945, die er in der "völkischen Ideologie" vermittelt sieht. Ideologie und Umsetzungsprozeß werden aber nicht hinreichend klar herausgearbeitet, eine Auseinandersetzung mit den von anderen Autoren behaupteten rechtsstaatlichen Kontinuitäten fehlt (dazu A II 2a). Der Versuch, die Strafrechtsentwicklung 1933 bis 1945 als Verwirklichung eines weltanschaulichen Programms zu beschreiben, konnte bislang u. a. schon deshalb nicht gelingen, weil die entscheidende Vorfrage nach dem Inhalt "nationalsozialistischer Weltanschauung" nicht beantwortet ist (dazu A II 2b). Naucke hat die These von der strukturellen Einheit des Strafrechts 1933 bis 1945 formuliert, die er in der durchgängigen Öffnung des Strafrechts für die Verwirklichung politischer Ziele vermittelt sieht. Nauckes Ansatz ist in sich klar und folgerichtig. Er ist freilich nur stichprobenhaft aus dem Gesetzgebungsmaterial 1933 bis 1945 abgestützt. Zudem befaßt sich Naucke nur mit den Strukturen eines nach seiner Auffassung durchgehend politisierten Strafrechts 1933 bis 1945 und geht auf die politische Substanz dieses Strafrechts nicht ein (dazu A III).

C. Zwischenbilanz

53

Ungeachtet der höchst unterschiedlichen Grade innerer Folgerichtigkeit leiden sämtliche Ansätze daran, daß sie auf einer zu schmalen Materialbasis beruhen: Eine umfassende Bestandsaufnahme der Strafrechtsentwicklung 1933 bis 1945 fehlt durchgängig, und zwar sowohl für den Bereich der Strafgesetzgebung wie auch der Rechtsprechung. So besteht die Gefahr, vor dem Hintergrund eines bestimmten Deutungsmusters aus der vorhandenen Stoffmasse selektiv Belege zu sammeln und als Beweis für die Richtigkeit der Ausgangsthese zu verwerten. Die polizeiliche Verbrechensbekämpfung wird von den Vertretern der Trennungs- wie der Einheitsthese gleichermaßen nur ungenügend oder gar nicht berücksichtigt: Die polizeilichen Maßnahmen werden entweder als "faktische Einschränkung" der Strafrechtspflege und NichtRecht dargestellt oder aber mit der Interpretation des justiziellen Strafrechts nicht verbunden. Die Frage, ob das justizielle Strafrecht vielleicht in ein umfassenderes Verbrechensbekämpfungsrecht eingebettet ist, kann so gar nicht erst aufgeworfen werden. Schließlich ist auf einen bislang noch nicht erörterten Aspekt hinzuweisen, mit dem Trennungs- wie Einheitsthese zu konfrontieren sind: Die Entwicklung von Justiz-Strafrecht wie polizeilicher Verbrechensbekämpfung ist ab 1933 bis zum Ende des Dritten Reiches im Fluß. Der strafrechtliche Ist-Zustand des Jahres 1934 ist ein anderer als der des Jahres 1944. Daraus ergibt sich die prinzipielle Möglichkeit, daß Trennungs- und Einheitsthese jeweils unterschiedliche Entwicklungsstadien zutreffend beschreiben: Vielleicht erfaßt etwa die Trennungsthese, soweit sie rechtsstaatskonforme und rechtsstaatswidrige Bereiche unterscheidet, den Entwicklungsstand des Jahres 1934 im wesentlichen richtig, ohne daß dies auch für das Jahr 1944 gelten müßte. Umgekehrt ist nicht auszuschließen, daß die Einheitsthese in einer ihrer Varianten für das Jahr 1944 zutrifft, nicht aber für das Jahr 1933. Die Anhänger der Einheits- wie der Trennungsthese verzichten indes auf zeitliche Differenzierungen: Das Entwicklungsmoment wird nicht oder nur unzulänglich thematisiert. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, daß die zeitgenössischen Akteure noch 1944 davon ausgehen, der Aufbau einer nationalsozialistischen Strafrechtspflege sei nicht abgeschlossen, sondern eine Zukunftsaufgabe. So betont der in der Literatur bis heute unbeachtet gebliebene Entwurf eines RStGB 1944 - trotz der dort vorgesehenen grundlegenden Umgestaltung des Allgemeinen Teils des RStGB - er wolle nur die "mit den strafrechtlichen Grundauffassungen des nationalsozialistischen Staates" unvereinbaren Erscheinungen beseitigen, nicht aber die "Umgestaltung des geltenden Strafrechts in ein strafrechtliches Grundgesetz des Dritten Reiches" vorwegnehmen1. "Das" nationalsozialistische Strafrecht ist nach dieser Einschätzung noch im Werden, "veraltete", zu beseitigende Restbestände sollen offenbar noch vorhanden sein. Auf dieser Basis liegt es nahe, die Strafrechtsentwicklung 1933 bis 1945 als dynamischen Prozeß zu begreifen, der nicht zum Abschluß gelangt ist. Die strafrechtlichen Ist-Zustände ab 1933 würden dann nur Momentaufnahmen einer fortschreitenden Entwicklung zu einem neuen nationalsozialistischen Strafrecht und - gegebenenfalls - polizeilichen Verbrechensbekämpfungsrecht bilden. Legt man das Modell einer solchen unfertig gebliebenen Entwicklung zugrunde, lauten die entscheidenden Fragen: Welches sind die wirkungsmächtigen Tendenzen, welches die retardierenden Momente? Gibt es Zielpunkte? Trennungs- wie Einheitsthese könnten dabei unterschiedliche Entwicklungsstadien oder Entwicklungsaspekte beschreiben und sich sogar ergänzen: Vielleicht gibt es tatsächlich, wie die 1

E RStGB 1944, Slg. Schumacher 233, S. 2 f. und dazu unten 4. Teil Β I.

54

1. Teil: Einführung

Trennungsthese behauptet, eine rechtsstaatskonforme Entwicklungslinie, die indes im Absterben begriffen ist. Die Einheitsthese kann möglicherweise beanspruchen, die wirkungsmächtigen Tendenzen zu beschreiben, d. h. die Entwicklungsrichtung zu erfassen, in der sich das Strafrechtssystem bewegt.

D. WEITERES VORGEHEN Die bisherige Darstellung hat gezeigt, daß eine hinreichend abgesicherte Interpretation des Strafrechts 1933 bis 1945 noch nicht gelungen ist. Die skizzierten Deutungsmuster leiden in unterschiedlichem Umfang - an gemeinsamen Mängeln: Materialarmut, Vernachlässigung der polizeilichen Verbrechensbekämpfung und des Entwicklungsaspekts. Die weitere Untersuchung verzichtet deshalb darauf, auf der Basis eines der bisherigen Standpunkte zu operieren. Geboten ist eine möglichst umfassende Bestandsaufnahme, die nicht auf das justizförmige Strafrecht beschränkt bleiben darf, sondern die polizeiliche Verbrechensbekämpfung einbeziehen muß: Das Verhältnis von Justiz-Strafrecht und polizeilicher Verbrechensbekämpfung ist klärungsbedürftig. Die Bestandsaufnahme muß also zwei Schwerpunkte bilden: JustizStrafrecht (2. Teil) und polizeiliche Verbrechensbekämpfung (3. Teil). Dem Justiz-Strafrecht gilt der zweite und umfangreichste Teil der Arbeit. Hier ist eine Konzentration auf Materialschwerpunkte unvermeidlich. Eine Gesamtdarstellung des materiellen und formellen Justiz-Strafrechts unter Einschluß von Rechtsprechung und praxisrelevanter Literatur übersteigt ersichtlich die Kräfte eines einzelnen Bearbeiters. Der Verfasser hat sich entschieden, das Schwergewicht auf das materielle Strafrecht und dort auf die Regelsetzung von 1933 bis 1945 zu legen, dabei aber die einschlägige Strafrechtspraxis einzubeziehen. Maßgeblich sind folgende Erwägungen: Die Untersuchung soll Entwicklungslinien sichtbar machen und gleichzeitig die Gefahr zu selektiver und damit verfälschender Materialauswahl gering halten. Der Verfasser glaubt, dies durch Konzentration auf die materiell-strafrechtliche Regelsetzung und deren möglichst vollständige Erfassung erreichen zu können. Falls der Nationalsozialismus ein einheitliches "neues" Strafrecht hervorgebracht hat, ist zu vermuten, daß dieses jedenfalls auch in der strafrechtlichen Regelsetzung Gestalt annimmt. Es mag sogar regelrechte "Umwandlungsgesetze" geben, die zwar kein neues Strafgesetzbuch, aber ein neues Strafrecht schaffen, indem sie strafrechtliche Grundbegriffe global umwerten. Würden umgekehrt heterogene Entwicklungslinien - und das wird ja behauptet - selbst die "neue" Regelsetzung durchziehen und aufspalten, könnte dies ein Beweis für die Richtigkeit einer "Trennungsthese" sein. Die Ausgangsüberlegung lautet also: Ein etwaiger Wandel strafrechtlicher Grundbegriffe ist - zwar nicht notwendig nur, aber jedenfalls auch - aus der Regelsetzung ablesbar. Die maßgebliche Einbeziehung der einschlägigen Strafrechtspraxis wird realitätsfernen Konstruktionen vorbeugen und dogmatische Verfeinerungen von ausschließlich theoretischer Bedeutung fernhalten. Die Inhalte der neuen Regeln könnten zeigen, was als Verbrechen kriminalisiert und welches Gedankengut dabei wirksam wird, könnten Rückschlüsse auf die maßgeblichen Strafzwecke zulassen. Namentlich ist die Darstellung der neuen materiell-strafrechtlichen Regeln geeignet, die Gesetzesfunktion selbst offenbar zu machen: Schon die formelle Seite der Regelsetzung könnte Hinweise enthalten. Vor allem aber wird sich zeigen, ob und inwieweit die Gesetzgebungstechnik auf eine Ausfüllung anhand politisch-weltanschaulicher Maßstäbe an-

D. Weiteres Vorgehen

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gelegt ist. Die Analyse des Gesetzgebungsmaterials läßt also Auskünfte über strafrechtliche Grundbegriffe wie "Strafeweck", "Verbrechen" und "Strafgesetz" erwarten und damit Antworten auf die Fragen: "Wozu wird bestraft? Was wird bestraft? Welche Funktion haben gesetzliche Beschreibungen strafbaren Verhaltens?" Die Fragen "Wer straft?" und "Wie wird Strafbarkeit festgestellt?" lassen sich aus einer Darstellung der materiell-strafrechtlichen Regeln nicht unmittelbar beantworten. Gleichwohl ist der Verzicht auf eine umfassende Darstellung der Änderungen des Gerichtsverfassungsrechts und des Stralprozeßrechts vertretbar: Zwischen den Norminhalten und Normstrukturen des materiellen Strafrechts, der institutionellen Zuständigkeit für die Strafrechtsanwendung und den Formen des Erkenntnisverfahrens besteht ein innerer Zusammenhang. Ein Strafrecht etwa, das allein und schrankenlos auf die Erfassung von "Gefährlichen" oder "Schädlingen" abzielt, arbeitet zwangsläufig mit einem anderen Typ von "Strafnormen", setzt einen anderen Typ des Normanwenders und einen anderen Typ des Erkenntnisverfahrens voraus als ein strikt verhaltensgebundenes vergeltendes Tatstrafrecht. Diesen Kontext wird die Materialvorführung an zahlreichen Stellen belegen, diesen Zusammenhang wird der 5. Teil zu verdeutlichen versuchen. Hinweise zur Entwicklung des Strafverfahrensrechts finden sich unter A I 3b, ferner bezieht die weitere Untersuchung das Verfahrensrecht in verschiedenen Zusammenhängen ein1. Vor allem aber betrifft der gesamte 3. Teil (Polizeiliche Verbrechensbekämpfung) die Frage des "Quis iudicabit?" in zugespitzter Form, weil die Zuständigkeitsabgrenzung zwischen Justiz und Polizei ein durchgehendes Thema bildet. Die Gesamtdarstellung der Regelsetzung zum materiellen Strafrecht soll im übrigen ganz unabhängig von den weiter gesteckten Zielen der Arbeit eine empfindliche Lücke in der bisherigen Literatur schließen. Eine übergreifende Bestandsaufnahme zur Strafgesetzgebung fehlt, ist aber für ein abgesichertes Urteil über die nationalsozialistische Strafrechtsentwicklung unerläßlich. Die nach wie vor vollständigste Zusammenstellung der nationalsozialistischen Strafgesetzgebung findet sich bei Schorn, der aber nur die als rechtsstaatswidrig erachteten strafrechtlichen Regeln mitteilt, weitgehend auf jede nähere Erörterung verzichtet und die praktische Handhabung ausklammert2. Das Material zu dem dunkelsten, vielleicht aber aufschlußreichsten Kapitel "Polizeiliche Verbrechensbekämpfung" wird im 3. Teil unter Einbeziehung aller präventiven und repressiven polizeilichen Maßnahmentypen vorgeführt. Einen Überblick zum Aufbau und zur, überwiegend unveröffentlichten, Materialbasis gibt die Einleitung zum 3. Teil. Der 4. Teil der Arbeit ist dem Projekt eines Gemeinschaftsfremdengesetzes und dem daraus hervorgegangenen Entwurf eines neuen Allgemeinen Teils des RStGB (E 1944) gewidmet. Die entsprechenden, nicht veröffentlichten Entwürfe sollten nach jahrelangen Vorarbeiten 1945 in Kraft treten. Ihre Entstehungsgeschichte und ihr Inhalt illustrieren das Verhältnis von Justiz und Polizei und geben wesentliche Hinweise für die Entwicklungsrichtung des Justiz-Strafrechts und der polizeilichen Verbrechensbekämpfung.

1 2

Vgl. etwa 2. Teil [Nr. 13] 5b; [Nr. 14]; [Nr. 16] 2,5,9; [Nr. 26] 2; [Nr. 28] 3; [Nr. 29] 10; [Nr. 33] 7 und bes. [Nr. 40] 2c, 3d, 4b. Vgl. Schorn (1963) und dazu Eb. Schmidt (1965), S. 433 sowie A I Fn. 208.

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1. Teil: Einführung

Der 5. Teil versucht auf der Basis des vorgeführten Materials eine zusammenfassende Interpretation, deren Ausgangspunkt die Verhältnisbestimmung von Justiz-Strafrecht und polizeilicher Verbrechensbekämpfung bildet.

Zweiter Teil

DIE GESETZGEBUNG ZUM MATERIELLEN STRAFRECHT Im folgenden werden die von 1933 bis 1945 im Reichsgesetzblatt veröffentlichten Vorschriften zum materiellen Strafrecht unter Einbeziehung von Schrifttum, Rechtsprechung und etwaigen Richtlinien dargestellt. Der zusammenfassende Ausdruck Strafgesetzgebung könnte ohne nähere Erläuterung in die Irre leiten und ein unproblematisches Bild der Geschlossenheit von Formen und Institutionen suggerieren: Die strafrechtlichen Regeln werden nur teilweise unter dem Namen "Gesetz" erlassen; sie ergehen auch als "Verordnungen" oder "Erlasse" und sie stammen, besonders ab 1939, von wechselnden Instanzen. In Betracht zu ziehen ist ferner, daß es möglicherweise strafrechtliche Regeln gibt, die nicht im Reichsgesetzblatt verkündet, aber gleichwohl von den sanktionszuständigen Instanzen ebenso vollzogen werden wie "Gesetze", "Verordnungen" oder "Erlasse". Die Ausdrücke "Gesetzgebung" und "Gesetzgeber" werden aus Gründen der sprachlichen Vereinfachung verwendet: Sie bilden die Oberbegriffe für die im Reichsgesetzblatt verkündeten Gesetze und Verordnungen bzw. die erlassenden Instanzen. Die nachfolgende Darstellung erfaßt die Änderungen des RStGB und bezieht darüber hinaus alle neuen Strafbarerklärungen in sonstigen Gesetzen und Verordnungen ein, soweit sie Kriminalstrafen von Gewicht androhen oder aus anderen Gründen für das Kernstrafrecht von Bedeutung sind. Eine vollständige Erfassung des Nebenstrafrechts wird nicht angestrebt. Die Amnestiegesetzgebung bleibt außer Betracht1. Die einzelnen Änderungen werden im wesentlichen nach zeitlich-chronologischer Abfolge dargestellt. Auf eine Gruppierung nach systematischen Gesichtspunkten wird bewußt verzichtet. Leitend ist einmal das Bestreben den Entwicklungsaspekt nicht zu verflüchtigen: Entscheidend könnte nicht nur sein, was geregelt wurde, sondern auch wann dies geschah. Zum anderen erhöht jede Systematisierung nach Sachgesichtspunkten die Selektivität der Darstellung und damit die Gefahr, ein falsches Bild monolithischer Geschlossenheit zu erzeugen. Eine sich bestätigende "Ordnung" geriete leicht in den Verdacht, konstruiert zu sein. Wenn aber durchgehende Entwicklungslinien tatsächlich vorhanden sein sollten, werden sie von einer chronologischen Darstellung nicht verschüttet, sondern als verbindende Gemeinsamkeiten sichtbar2: Das im 2. Teil befolgte Vorgehen schließt eine systematisierende Interpretation nicht aus, sondern bereitet sie - mit Zwischenbilanzen bei allen wichtigeren Stationen - vor.

1

2

Vgl. etwa VO v. 21. 3. 1933, RGBl. I. S. 134; Ges. v. 7. 8. 1934, RGBl. I, S. 769; Ges. v. 28. 2. 1935, RGBl. I, S. 309 (Saarland); Ges. v. 23. 4. 1936, RGBl. I, S. 378; Ges. v. 30. 4. 1938, RGBl. I, S. 433; Gnadenerlasse v. 1. 9. 1939, RGBl. I, S. 1549 und v. 9. 9. 1939, RGBl. I, S. 1753. Dazu Pfundtner/Neubert (1933 ff.), II c 13. In einer neueren philosophischen Untersuchung zum Begriff der Ordnung hat Waldenfels (1987) gezeigt, daß der Begriff der Ordnung sich in zwei unterscheidbaren, aber nicht trennbaren Aspekten entfaltet, nämlich im diachronischen Aspekt von Abfolgen und im synchronischen Aspekt von übergreifenden Zusammenhängen, bes. S. 52 ff.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

Die zeitlich-chronologische Darstellung verschafft überdies dem Leser eine Tatsachengrundlage, die Überzeugungskraft der abschließenden Interpretation (5. Teil) nicht nur selbst zu beurteilen, sondern gegebenenfalls auch zu korrigieren. Die unvermeidliche Einbeziehung "nebensächlicher" Regelungen schließlich ist nur scheinbar ein Nachteil: Das Allgemeine bestätigt sich auch im Detail. Grundlage der Darstellung sind neben den Normtexten die amtlichen Gesetzesmaterialien unter Einschluß früherer Entwürfe, soweit diese als Vorlage gedient haben, ferner die Veröffentlichungen der am Gesetzgebungsverfahren Beteiligten. Der 2. Teil hat die Strafgesetzgebung in ihren praktischen Wirkungen im Auge: Die Rechtsprechung ist nicht durchweg vollständig, aber exemplarisch bei allen wichtigeren Gesetzen und Verordnungen einbezogen. Die Äußerungen von Vertretern der Strafrechtswissenschaft sind berücksichtigt, soweit sie zu den "neuen" Regelungen oder der einschlägigen Judikatur speziell oder aus einer allgemeineren Sicht Stellung genommen haben. Das veröffentlichte Material allein ist schon geradezu erdrückend und für die Zwecke einer ersten Gesamtdarstellung hinreichend ergiebig; die Bearbeitung unveröffentlichten Materials muß Spezialuntersuchungen vorbehalten bleiben. Innerhalb der Strafgesetzgebung sind drei Phasen zu unterscheiden: Eine erste Phase gesetzgeberischer Aktivitäten wird 1935 mit dem Blutschutzgesetz und dem Ehegesundheitsgesetz abgeschlossen (dazu A). In der Zwischenphase von 1936 bis Kriegsausbruch sind nur einige wenige Gesetze und Verordnungen zu vermerken (dazu B). Überaus zahlreich sind die im Krieg erlassenen Vorschriften (dazu C). Die Darstellung des Kriegsstrafrechts wird nicht nur aus diesen äußerlichen Gründen den breitesten Raum einnehmen: Das Kriegsstrafrecht ist von besonderem Interesse, weil es auffällige Neuerungen enthält und fraglich ist, ob diese kriegsbedingt sind oder Schrittmacher eines künftigen Strafrechts. A. DIE ERSTE PHASE: 1933 BIS 1935 In der ersten Phase der Gesetzgebung ergehen Notverordnungen nach Artikel 48 II WRV, Regierungsgesetze und ein Reichstagsgesetz (dazu I). Der erste inhaltliche Schwerpunkt liegt im Schutz des neuen Staates und seiner Organe sowie im Schutz der nationalsozialistischen Bewegung1. Es geht um unmittelbar politisches Strafrecht. Die Gesetzgebung läßt dabei von Anfang an auch Konturen eines neuen, entschieden entformalisierten allgemeinen Strafrechts erkennen. Zur grundlegenden Umgestaltung des Gesamtstrafrechts führt im November 1933 das Gewohnheitsverbrechergesetz2, das auf langjährige Vorarbeiten zurückgreifen kann. 1934 runden die Verratsnovelle und das Heimtückegesetz3 das politische Strafrecht ab: Sie ersetzen und erweitern die zuvor im Verordnungswege erlassenen entsprechenden Vorschriften. Das Gesetz über Maßnahmen der Staatsnotwehr läßt unmißverständlich neue Sinngehalte und Funktionsbestimmungen von "Gesetz" und "Richtertum" erkennen, die jedenfalls Ausnahmelagen beherrschen sollen4.

1 2 3 4

Vgl. [Nrn. 2 , 3 , 4 , 6 , 7 , 9 , 1 0 , 1 1 ] für das Jahr 1933. Vgl. [Nr. 12], Vgl. [Nr. 13], [Nr. 15]. Vgl. [Nr. 14],

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Die erste Phase: 1933 bis 1935

Das Jahr 1935 bringt mit den Novellen vom 28. Juni neben anderen wichtigen Änderungen die Aufhebung des Analogieverbots. Die Novellen zielen auf einen Umbau des gesamten überkommenen Strafrechts5. Am Ende der ersten Gesetzgebungsphase steht der plakative Schutz der "völkischen Substanz" vor "Rassenvermischung" durch das berüchtigte Blutschutzgesetz6. I. Zur formellen Seite der Gesetzgebung 1. Die Notverordnungen (Art. 48 II WRV) Die ersten Änderungen im Bereich des Strafrechts erfolgen im Gewände von Verordnungen aufgrund des Notverordnungsrechtes des Reichspräsidenten nach Artikel 48 II WRV1. Es ist der "außerordentliche Gesetzgeber ratione necessitatis"2 der Weimarer Reichsverfassung, der hier in vier strafrechtlichen Verordnungen auf den Plan tritt, um sich nach Erlaß des Ermächtigungsgesetzes3 aus der Strafgesetzgebung zu verabschieden. 2. Die Reichsregierungsgesetze In der Folge ergehen bis Ende 1935 - mit einer Ausnahme 4 - Gesetze der Reichsregierung. Das "Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich" (Ermächtigungsgesetz)5 sieht in Artikel 1 vor, daß Reichsgesetze "außer in dem in der Reichsverfassung vorgesehenen Verfahren auch durch die Reichsregierung beschlossen werden" können. Die beschlossenen Reichsgesetze können nach Artikel 2 von der Reichsverfassung abweichen, soweit sie nicht die Einrichtung des Reichstags und des Reichsrats als solche zum Gegenstand haben"6. Auf der Grundlage des Ermächtigungsgesetzes werden die nachfolgenden Strafgesetze erlassen. Wenn die Texte des Ermächtigungsgesetzes und der einschlägigen Strafgesetze von Gesetzen der "Reichsregierung" sprechen, bedarf dies einer näheren Erläuterung: Die Gesetze der nationalsozialistischen Reichsregierung kommen - ganz unabhängig von der grundsätzlichen

5

Vgl. [Nr. 16].

6

Vgl. [Nr. 17],

1 2

Vgl. [Nr. l]-[Nr. 4], Carl Schmitt (1932), S. 319., Hervorhebung aaO.

3 4 5

Vgl. unten Fn. 5. Dazu 13, [Nr. 17], Vom 24. 3. 1933, RGBl. I, S. 141. Zur zeitgenössischen Würdigung des Ermächtigungsgesetzes Carl Schmitt, Staat, Bewegung, Volk (1933), S. 7 ("Vorläufiges Verfassungsges. des neuen Deutschland") und DJZ 1933, Sp. 455; Meukel, in: H. Frank, NS-Handb2 (1935), S. 320 ff.; Huber* (1939), S. 48 f. ("Kernstück einer neuen werdenden Verfassung des Dritten Reiches", die richtige Bezeichnung sei nicht Ermächtigungsgesetz, sondern Reichsführungsgesetz) mwN. Zum Zustandekommen des Ermächtigungsgesetzes vgl. Bracher/Sauer/ Schulz (1960), S. 152 ff.; H. Schneider (1961); vgl. auch die Dokumentation báHirsch/Majer/Meinck (1984), S. 92 ff.

6

Formell beseitigt wird diese Beschränkung durch Art. 4 des Neuaufbauges. v. 30.1.1934, RGBl. I, S. 75: "Die Reichsregierung kann neues Verfassungsrecht setzen". Näher Medicus, in: H. Frank, NSHandb 2 (1935), S. 336 ff., 344.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

Frage einer Fortgeltung der Weimarer Reichsverfassung7 - von Anfang an nicht durch "Beschlüsse mit Stimmenmehrheit" (Art. 58 WRV) zustande. Das erste Kabinett Hitler hebt bereits im April 1933 diese Bestimmung "wegen der Unvereinbarkeit mit dem Führergrundsatz" auf 8 . Abstimmungen finden im Kabinett Hitler von Anfang an nicht mehr statt9. Die Beschlußfassung über die Reichsgesetze erfolgt durch Entscheidung Hitlers, der bis zum Tode Hindenburgs als Reichskanzler auftritt, nach der Vereinigung der Ämter und Befugnisse des Reichspräsidenten und des Reichskanzlers als "Der Führer und Reichskanzler"10: Nach "Beratung und Aussprache entscheidet", so heißt es bei Hoche, "der Führer und Reichskanzler über etwa noch bestehende Meinungsverschiedenheiten und stellt den Beschluß der Reichsregierung fest". Die Reichsregierung wird zum "Führerrat, der den Führer und Reichskanzler bei den von ihm zu treffenden Entscheidungen berät und unterstützt"11. Wenn Artikel 3 des Ermächtigungsgesetzes von der "Ausfertigung" der beschlossenen Reichsgesetze durch den Reichskanzler spricht, so bedeutet dies in der Praxis die Feststellung eines verbindlichen Gesetzesbeschlusses durch die Unterschrift des Reichskanzlers bzw. des Führers und Reichskanzlers Hitler. Es ist "der Führer, dem die letzte verantwortliche Entscheidung zukommt"12. Die "Ausfertigung" der Regierungsgesetze durch den Führer und Reichskanzler hat also keine bloß formale Bedeutung: Das "Gesetz" ist "der in die äußere Form der Gesetzgebung gekleidete rechtsetzende Führerwille"13, es wird auf einen Entscheid Hitlers zurückgeführt: Das Gesetz ist (eine) Äußerungsform des Führerwillens14, die Gesetzgebungsbefugnis Teil einer einheitlichen Führergewalt15. Die Reichsregierung bildet "nur noch den Rahmen, innerhalb dessen der Führer seine Entscheidungen fällt... Der Gesetzesbefehl liegt in jedem Falle beim

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Zusf. Hübet1 (1939), S. 46 ff. Vgl. aus dem Jahre 1933 Carl Schmitt, Staat, Bewegung, Volk, S. 5 ff., der die Beseitigung der Fundamentalsätze der WRV betont und feststellt: "Die Weimarer Verfassung gilt nicht mehr", das gesamte öffentliche Recht stehe "auf eigenem Boden"; ähnlich Huber, ZStaatW 95 (1935), 206 ff.

8

Vgl. Poetzsch-Heffter, JöR Bd. 22 (1935), 70 mit Nachw. Diese Änderung geschah ohne aufhebendes Ges., vgl. auch Kirschenmann (1970), S. 102; Rapsch, in: Salje (Hrsg, 1985), S. 148. Vgl. Gruchmann, FS Fraenkel (1973), S. 189 mit Nachw.; zur Stellung Hitlers im Kabinett aaO, S. 190 ff.

9 10 11 12

Ges. über das Staatsoberhaupt des Deutschen Reiches v. 1. 8. 1934, RGBl. I, S. 747 und dazu Huber, ZStaatW 95 (1935), S. 202 ff.; Lammers, DJ 1934,1298 ff. Vgl. Hoche, Reich und Länder 1936, S. 66. Huber1 (1939), S. 223; vgl. auch Kirschenmann (1970), S. 106 ff.; Rapsch, in: Salje (Hrsg, 1985), S. 141 ff.

13 14

Vgl. Hoche, Reich und Länder 1936, S. 65. Zum Gesetz als (einer) Ausdrucksform des Führerwillens vgl. Huber2 (1939), S. 240 ("Das Gesetz ist Entfaltung der völkischen Lebensordnung gemäß dem Plan und durch den Entscheid des Führers"); Carl Schmitt, ZAkDR 1935, 439 ("Gesetz ist Plan und Wille des Führers"); Bossung, Verwaltungsarchiv Bd. 42 (1937), 1 ff., 10; Dieckmann (1937), S. 28 ff., 32 ff.; Höhn, DR 1934, 434; Koellreutter, VerfR (1935), S. 56; Röttgen, JöR 24 (1937), 145 ff.; Maunz (1943), S. 27. Zum ganzen vgl. Kirschenmann (1970), S. 53 ff. mwN; s. auch Rapsch, in: Salje (Hrsg, 1985), S. 139 ff.; Schulte, JA 1985,331 ff. Zusf. zur Gesetzesfunktion 5. Teil A I, II; Β 13; Β III 3.

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Zur Führergewalt vgl. etwa Hube? (1939), S. 230 ff. und ZStaatW 101 (1941), 539 ff.; Röttgen, JöR 24 (1937), 63 ff., 70; s. auch Kirschenmann (1970), S. 53 ff. mwN. Vgl. auch 3. Teil D I Fn. 15, D II Fn. 13.

Die erste Phase: 1933 bis 1935

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Führer"16. Die Gesetze der Reichsregierung sind also zwar nicht ihrer Bezeichnung, aber ihrem Wesen nach Führer-Gesetze: Der Führer und Reichskanzler erteilt den Gesetzesbefehl durch die Reichsregierung, weshalb Kirschenmann von "medialer", d. h. durch das Medium Reichsregierung vermittelter, Führer-Gesetzgebung spricht17. Den äußeren Ablauf des Gesetzgebungsprozesses hat Hoche auf dem Stand von 1936 im einzelnen dargestellt18: Die Gesetzesinitiative lag zunächst bei Hitler. Er konnte das zuständige Ressort mit der Vorlage eines Entwurfs beauftragen 19 . Die Gesetzesinitiative wurde auch den Reichsministern zugebilligt20, freilich mit dem Vorbehalt, der Führer könne Vorarbeiten jederzeit abbrechen und bei "wichtigeren Fragen" müsse sein vorheriges Einverständnis vorliegen21. Ein solcher Führervorbehalt ergab sich im übrigen ohne weiteres aus dem Gesetz über den Eid der Reichsminister vom 16. Oktober 1934: Der zu leistende Eid verpflichtete die Reichsminister zum persönlichen Gehorsam gegenüber dem "Führer" Adolf Hitler22. Im Gesetzgebungsverfahren ist die Vorbereitung und Aufstellung eines Gesetzesentwurfs Sache des zuständigen Reichsministers. Welche Ressorts beim Zustandekommen eines Gesetzes mitgewirkt haben, ist aus der Zeichnung ersichtlich. Die das Strafrecht betreffenden Regierungsgesetze bis 1935 werden regelmäßig vom Reichsjustizminister mitgezeichnet23, es treten aber auch andere Ressorts und Minister auf, die bei sie berührenden Fragen beteiligt werden24. Der Stellvertreter des Führers hat bei allen Gesetzgebungsvorhaben die Stellung eines beteiligten Reichsministers. Zwischen den beteiligten Ministerien finden gegebenenfalls mündliche Verhandlungen in Form von Referentenbesprechungen statt; strittige Punkte werden im Bedarfsfall in sog. Chefbesprechungen zwischen den Ressortchefs (Ministern) erörtert, die sich "über die noch offengebliebenen Fragen aussprechen und in der Regel verständigen"25. Der fertige Gesetzesentwurf wird nebst Begründung vom federführenden Ministerium an die Reichskanzlei übersandt; etwaige strittige Punkte werden in der Vorlage bezeichnet.

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Vgl. Köngen, JöR 24 (1937), 145. Vgl. Kirschenmann (1970), S. 98 ff., 104 ff. Reich und Länder 1936, S. 65 ff.; s. auch Köngen, JöR 24 (1937), 145 f. Zusf. Kirschenmann (1970), S. 106 ff. Zur späteren Entwicklung Β I, C I und zum Verlauf eines Gesetzgebungsprozesses exemplarisch 4. Teil A. Vgl. etwa Röttgen, aaO; Huber* (1939), S. 241 (zum Reichstagsgesetz S. 207 f.). Vgl. Huber, aaO, S. 241. Vgl. Köngen, JöR 24 (1937), 145. Vgl. § 1 Ges. v. 16.10.1934, RGBl. I, S. 973. - Der Eid wurde nicht dem "Führer und Reichskanzler", also einem Amtsträger, sondern "dem Führer des Deutschen Reiches und Volkes Adolf Hitler" persönlich geleistet. Ausnahme: Ges. v. 19.5.1933 [Nr. 7], Vgl. etwa die Zeichnung durch den RMdl Frick [Nrn. 1-4, 7,10-12, 15,17], den StVdF Heß [Nrn. 15, 17,18], den Reichspropagandaminister Goebbels [Nr. 7], den Reichswehrminister von Blomberg [Nrn. 8,13], den Reichswirtschafts- und den Reichsfinanzminister [Nr. 9], Hoche, Reich und Länder 1936, S. 66. Exemplarisch zum Ablauf eines Verständigungsprozesses 4. Teil A.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

Es gibt im weiterem zwei Wege der Verabschiedung von Gesetzen: Kabinettsbeschluß oder Umlauf6. Die Vorlage spricht sich über das angestrebte Verfahren aus, die Reichskanzlei entscheidet über die weitere Behandlung. Wird Verabschiedung durch Kabinettsbeschluß angestrebt, erhalten sämtliche Reichsminister regelmäßig mit der Vorlage an die Reichskanzlei die Entwürfe. Die Reichskanzlei setzt die Vorlage, falls nicht der Umlaufweg beschritten wird, auf die Tagesordnung einer Kabinettssitzung, die regelmäßig nicht vor Ablauf von zehn Tagen seit Verteilung der Entwürfe an die Minister stattfindet. Die Beschlußfassung erfolgt nach Beratung und Aussprache durch den Führer und Reichskanzler. Im Umlaufverfahren, das zunehmend und namentlich während des Krieges Bedeutung erlangt27, wird der Kabinettsbeschluß auf schriftlichem Wege herbeigeführt. Die Reichskanzlei übersendet den Entwurf den Mitgliedern der Reichsregierung mit dem Vermerk, daß Einverständnis angenommen werde, wenn nicht binnen einer bezeichneten Frist Widerspruch eingehe. Bleibt ein Widerspruch aus, gilt das Gesetz als beschlossen. Andernfalls wird zwischen dem widersprechenden und dem federführenden Ministerium "über den Widerspruch verhandelt", und, falls eine Einigung nicht zustande kommt, der Entwurf auf die Tagesordnung einer Kabinettssitzung gesetzt28. Die beschlossenen Gesetze werden vom Führer und Reichskanzler durch Unterschrift ausgefertigt. Die Gegenzeichnungen von Ministern, genauer: Mitzeichnungen29, haben den Sinn, "gegenüber dem Führer und Reichskanzler die Verantwortlichkeit für die sachliche und formale Richtigkeit und Ordnungsmäßigkeit der beurkundeten Bestimmung" zu übernehmen30. Es zeichnen der federführende Minister sowie gegebenenfalls diejenigen Minister, welche die Vorlage miteingebracht haben. Gesetze von besonderer politischer Tragweite werden von weiteren, gegebenenfalls allen Reichsministern gezeichnet31. Die Mitzeichnungen sind von doppeltem Interesse: Sie gestatten Rückschlüsse auf die den einzelnen Gesetzen beigelegte Bedeutung und lassen insbesondere Verantwortlichkeit gegenüber Hitler, d. h.: Einflußnahmen im Gesetzgebungsprozeß erkennen32. Die Zeichnung der einzelnen Gesetze und Verordnungen wird deshalb in den Anmerkungen zur folgenden Darstellung jeweils mitgeteilt. 26 27 28 29

30 31 32

Vgl. Hoche, aaO; s. auch Gmchmann, FS Fraenkel (1973), S. 192 ff. Zur zunehmenden Bedeutung des Umlaufverfahrens Gmchmann, aaO; zur Entwicklung im Krieg unten CI. Vgl. Hoche, Reich und Länder 1936, S. 67. Die Gegenzeichnung von Anordnungen des Reichspräsidenten durch den Reichskanzler oder den zuständigen Reichsminister war nach Art. 50 WRV Gültigkeitsvoraussetzung und Verantwortungsübernahme gegenüber dem Reichstag. Die sachlichen Grundlagen der Gegenzeichnung nach Art. 50 WRV entfallen mit der Beseitigung des parlamentarischen Systems, vgl. näher Hübet* (1939), S. 228 f.; Weber, JAkDR 1937, 184 ff. Der eingetretene Sinnwandel der Mitunterzeichnung wird durch den Ausdruck "Mitzeichnung" verdeutlicht, vgl. Hoche, Reich und Länder 1936, S. 67; Pfundtner, in: H. Frank, NS-Handb2 (1935), S. 317; Röttgen, JöR 24 (1937), 73; Weber, aaO, 184 f. Hitler zeichnet allein, wenn er ohne Ressortbeteiligung entscheidet, vgl. Röttgen, aaO mit Nachw. Vgl. Hoche, aaO; s. auch Huber, aaO, S. 229. Vgl. ζ. B. das Ges. für den Aufbau der Wehrmacht v. 16. 3. 1935, RGBl. I, S. 375, das von allen Reichsministern unterzeichnet ist. Zu diesem Aspekt der Mitzeichnung Carl Schmitt, Der Zugang zum Machthaber (1947), S. 435.

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Die erste Phase: 1933 bis 1935

Die beschlossenen und gezeichneten Gesetze und Verordnungen werden schließlich im Reichsgesetzblatt verkündet33. 3. Das Reichstagsgesetz Eine dritte äußere Form der Gesetzgebung war das Reichstagsgesetz. In diese Form war das Blutschutzgesetz34 eingekleidet. Die nach 1933 formell beibehaltene Gesetzgebungsbefugnis des Reichstags änderte, wie der Reichstag selbst, ihre Funktion: Der Reichstag wurde vom Parlament zum Akklamationsorgan, das von Hitler auf den Plan gerufen wurde, wenn es galt, in Grundfragen "die politische Übereinstimmung von Volk und Regierung ... die Einheit von Führer und Volk" zu dokumentieren35. Während des Dritten Reiches sind insgesamt acht Gesetzesbeschlüsse in Form solcher "Gefolgschaftsbekundungen" des Reichstags zu verzeichnen, u. a. zwei Verlängerungen des Ermächtigungsgesetzes und die Nürnberger Rassengesetze36. Neben dem Blutschutzgesetz ist dabei der Beschluß des Großdeutschen Reichstags von 194237 für das Strafrecht von Bedeutung. Entsprechend der Funktion des Reichstags wurde in seinen Gesetzgebungsbeschlüssen ein "öffentliches Bekenntnis zum Willen des Führers" gesehen, die "eigentliche Gesetzesinitiative"38 lag beim Führer. Wenn ein Gesetzesbeschluß ohne Initiative oder vorherige Billigung des Führers für "unmöglich"39 erklärt wurde, war dies in einem juristischen Sinne gemeint: Das Wesen von Gesetzesbeschlüssen des Reichstags sollte im Führerstaat gerade in der Erklärung der "Übereinstimmung mit dem Willen des Führers, der der Gesetzgeber des deutschen Volkes ist"40, liegen, also auch das Reichstagsgesetz ein "Akt des Führers" sein41. Zusammenfassend ist festzuhalten, daß in der ersten Phase der Strafgesetzgebung drei Wege beschritten werden. Die vier Notverordnungen von 1933 bewegen sich in den Bahnen des Artikel 48 II der Weimarer Reichsverfassung. Nach Erlaß des Ermächtigungsgesetzes ist das Regierungsgesetz die übliche Form; ein Reichstagsgesetz ergeht nur einmal 1935. Regierungs- wie Reichstagsgesetzgebung werden als Äußerungsformen des Führerwillens begriffen: Die Entscheidung soll allein beim Führer liegen, das Gesetz eine förmliche Verkörperung des Führerwillens sein. Äußerlich wird der Gesetzesbefehl freilich (noch) nicht direkt von Hitler im eigenen Namen erteilt, sondern im Rahmen von Reichsregierung oder Reichstag. Diese Institutionen firmieren als Gesetzgeber. Der Funktionswandel von Reichsregierung und

33 34 35 36 37 38 39 40 41

Zur Verkündung durch Rundfunk [Nr. 41], [Nr. 54]; zu einem nicht verkündeten "Gesetz" C12. Dazu [Nr. 17]. So Hube? (1939), S. 209. Zum akklamativen Charakter ferner Pfundtner, in: H. Frank, NS-Handb2 (1935), S. 318; Koellreutter, VerfR (1935), S. 145; Köttgen, JöR 24 (1937), 77 f. Vgl. die Zusammenstellung bei Kirschenmann (1970), S. 109 Fn. 59. Dazu unten 3. Teil D I. Vgl. Hube/ (1939), S. 207. Deutlicher Köttgen, JöR 24 (1937), 145: "Die Gesetzesinitiative liegt heute allein beim Führer... ". Vgl. Huber, aaO. Huber, aaO, S. 208. So Dieckmann (1937), S. 33. Vgl. auch Köttgen, JöR 24 (1937), 145.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

Reichstag ist mitgedacht, wenn das Gesetz als Äußerungsform des Führerwillens, als "Akt des Führers" aufgefaßt wird. II. Die einzelnen Gesetze und Verordnungen [Nr. 1] Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze des deutschen Volkes vom 4. Februar 1933 Die erste Verordnung strafrechtlichen Inhalts erging fünf Tage nach Bildung der Regierung Hitler1. Die Verordnung stellte u. a. die öffentliche Aufforderung oder Anreizung zu Gewalttätigkeiten gegen eine bestimmte Person oder allgemein gegen Personen oder Sachen unter Strafe2, ferner das Sich-nicht-Entfernen aus einer für aufgelöst erklärten Versammlung sowie Verstöße gegen die Anmeldepflichten für Versammlungen3 und gegen das Verbot der Herausgabe periodischer Druckschriften4. Strafe drohte auch für die Herstellung oder Verbreitung von Ersatzzeitschriften für verbotene Druckschriften5 sowie für die Herstellung oder Verbreitung von Druckschriften ohne die erforderliche presserechtliche Genehmigung, falls der Inhalt der Schrift bestimmte politische Straftatbestände erfüllte6. Die Verordnung bewegte sich nicht nur im Hinblick auf die autoritäre Form ihres Erlasses in vertrauten Bahnen: Sie folgte auch mit ihren Tatbeständen fast durchweg Vorbildern aus der Weimarer Notverordnungspraxis der Jahre 1931/19327. Über die politische Stoßrichtung der Verordnung ließen die amtlichen Erläuterungen des preußischen Innenministers keine Zweifel aufkommen: Getroffen werden sollten ausschließlich politische Gegner des Nationalsozialismus. Die Verordnung diene dazu, die "Arbeit des Wiederaufbaus gegen Störungen durch staatsfeindliche Kräfte zu sichern", sei aber "nicht dazu geschaffen, die hinter der Regierung der nationalen Erhebung stehenden Volkskreise in ihrer willkommenen und notwendigen Mitarbeit ... zu behindern". Bei der Anwendung der Verordnung hätten sich Behörden und Beamte dieser "Aufgabe und Bedeutung der Verordnung ... stets voll bewußt zu sein" und daher bei "der Anwendung der Vorschriften ... Motive und Zweck von Verstößen weitgehend zu berücksichtigen"8.

1

VO v. 4.2.1933, RGBl. I, S. 35. Zeichnung: Reichspräsident von Hindenburg, Rk Hitler, RMdl Frick, RMdJ Gärtner ; zur Behandlung im Kabinett vgl. Minuth (1983), Dok. Nr. 9, S. 29 f.; Dok. Nr. 11, S. 34 f. - Strafbestimmungen aufgehoben durch Art. I Nr. 1KRG Nr. 55.

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§ 15. Strafdrohung: Gefängnis nicht unter drei Monaten, bei mildernden Umständen nicht unter einem Monat, vgl. § 151, II. Höchststrafe: 5 Jahre Gefängnis, § 161 RStGB. Vgl. § 17 Nr. 3 und §§ 16,17 Nr. 1. Strafdrohungen: Gefängnis (§ 16), Geldstrafe (§ 17). §§ 18,9. Strafe: Gefängnis nicht unter drei Monaten. §§ 18,11. Strafe: wie Fn. 4. § 20 I Nr. 1-3. Strafe: Gefängnis bis zu einem Jahr, bei Vorliegen einer einschlägigen Vorverurteilung: Gefängnis nicht unter drei Monaten (§ 20 II). Zur Nichtanzeige von Vorräten solcher Schriften §21.

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Dazu Schroetter (1970), S. 150 f. mit Nachw. Vgl. Erlaß des preußischen Mdl v. 10. 2.1933, MBliV 19331, S. 147.

Die erste Phase: 1933 bis 1935

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[Nr. 2] Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat vom 28. Februar 1933 Der Verordnung zum Schutze des deutschen Volkes konzediert Schorn, sie möge vielleicht "in der politischen Erregung dieser Zeit noch das Wohl des Staates im Auge gehabt haben". Die Verordnung zum Schutz von Volk und Staat (SchutzVO)1 habe dagegen "schon ein anderes Gesicht" gezeigt und "sichtbar nur dem Schutze des nat.-soz. Staates" gegolten2. An erster Stelle ist auf § 1 der SchutzVO hinzuweisen, der die Kernfreiheitsrechte der Weimarer Reichsverfassung "bis auf weiteres" außer Kraft setzte. Diese Vorschrift, die bis zum Ende des Dritten Reiches galt, wurde insbesondere für justizfreie polizeiliche Freiheitsentziehungen in Anspruch genommen: Die "politische" Schutzhaft, aber auch - ungeachtet der Präambel - die "unpolitische" Vorbeugungshaft wurden auf § 1 SchutzVO gestützt3. Die an dieser Stelle interessierenden Strafvorschriften der Verordnung formulierten die §§ 4 und 5. § 5 führte für bestimmte Delikte die obligatorische Todesstrafe ein und enthielt Sondertatbestände. Der Sicherung der nationalsozialistischen Staatsführung diente nach Schorn4 namentlich die Androhung der Todesstrafe oder Zuchthausstrafe für das Unternehmen der Tötung des Reichspräsidenten oder eines Mitglieds oder Kommissars der Reichsregierung oder einer Landesregierung (§ 5 II Nr. 1). Die gleiche Strafdrohung wurde auch für mit Waffen begangene Delikte des schweren Aufruhrs5 oder des schweren Landfriedensbruchs6 sowie für die Freiheitsberaubung zum Zwecke der Verwendung des Opfers als Geisel im politischen Kampf (§ 5 II Nr. 3) vorgesehen. Für Hochverrat, Giftbeibringung, Brandstiftung, Herbeiführen einer Explosion oder einer Überschwemmung, Beschädigung von Eisenbahnanlagen und gemeingefährliche Vergiftung drohte die Verordnung an Stelle von lebenslänglichem Zuchthaus die Todesstrafe an. § 5 I wurde teilweise schon kurze Zeit später durch das Gesetz zur Abwehr politischer Gewalttaten gegenstandslos und 1935 formell aufgehoben7; § 5 II blieb bis Kriegsende in Kraft. Einschneidender als die Strafschärfungen des § 5 war die im praktischen Ergebnis unbegrenzte Ermächtigung der Exekutive zum Erlaß strafbewehrter Anordnungen8. Mit §4 1 SchutzVO wurde eine Blankettnorm geschaffen, die mit Sofortwirkung eine umfassende "Bekämpfung staatsfeindlicher Umtriebe"9 ermöglichte und als Anknüpfung für Strafschärfungen diente. § 4 I stellte die Zuwiderhandlung gegen zur Durchführung der SchutzVO erlassene Anordnungen der Landesbehörden oder der Reichsregierung sowie die Aufforderung oder 1 2 3 4 5 6 7 8 9

SchutzVO v. 28. 2. 1933, RGBl. I, S. 83. Zeichnung: Wie [Nr. 1] Fn. 1. § 5 SchutzVO aufgehoben durch Art. I Nr. 3 KRG Nr. 55, vgl. auch Fn. 7. So Schorn (1963), S. 2. Vgl. 3. Teil Β II 2; C11,2a, aber auch 3b; zusf. 5. Teil A I, II. 1963, S. 116; vgl. auch S. 19,29. § 5 II Nr. 2 VO i. V. m. 115 II RStGB. § 5 II Nr. 2 VO i. V. m. 125 II RStGB. Zu § 5 1 VO vgl. §§ 81, 229, 307,311, 312,315 II, 324 RStGB sowie das Abwehrges. [Nr. 6] bei Fn. 4, 7. Die Strafschärfung für Hochverrat wurde in § 80 RStGB 1934 [Nr. 13] übernommen. VgL Schroetter (1970), S. 151. Vgl. Dalcke™ (1943), S. 454.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

Anreizung hierzu unter Strafe. Dem Täter drohte Gefängnis nicht unter einem Monat oder Geldstrafe. Gegenüber Strafvorschriften, die schwerere Strafe vorsahen, war § 4 I subsidiär. Wurde durch eine Zuwiderhandlung nach Absatz 1 eine "gemeine Gefahr für Menschenleben" herbeigeführt, drohte Zuchthausstrafe, bei mildernden Umständen Gefängnisstrafe nicht unter sechs Monaten; verursachte die Zuwiderhandlung den Tod eines Menschen war Todesstrafe, bei mildernden Umständen Zuchthaus nicht unter zwei Jahren vorgesehen (§ 4 II). Die Aufforderung oder Anreizung zu einer gefährlichen Zuwiderhandlung im Sinne des § 4 Π wurde als Sonderdelikt10 mit Zuchthaus, bei mildernden Umständen mit Gefängnis nicht unter drei Monaten bestraft (§ 4 III). Die Reichweite des § 4 SchutzVO hing vom Umfang der in den §§ 1, 2 der Exekutive erteilten Ermächtigung ab. § 1 ließ polizeiliche "Beschränkungen der persönlichen Freiheit, des Rechts der freien Meinungsäußerung, einschließlich der Pressefreiheit, des Vereins- und Versammlungsrechts, Eingriffe in das Brief-, Post-, Telegrafen- und Fernsprechgeheimnis, Anordnungen von Haussuchungen und von Beschlagnahmen sowie Beschränkungen des Eigentums auch außerhalb der sonst hierfür zu bestimmten gesetzlichen Grenzen" zu und setzte die entsprechenden Bestimmungen der Weimarer Reichsverfassung außer Kraft. § 2 sah die Übernahme von Befugnissen der Landesbehörden durch die Reichsregierung vor, falls "die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen nicht getroffen" wurden. Durch Artikel 2 1 des Gesetzes über den Neuaufbau des Reiches vom 30. Januar 1934 gingen die Hoheitsrechte der Länder auf das Reich über. Die Ausübung dieser Hoheitsrechte wurde den Landesbehörden übertragen, soweit nicht das Reich allgemein oder im Einzelfall von seinen Hoheitsbefugnissen Gebrauch machte11. Damit konnten ab 1934 die Anordnungen nach der SchutzVO in vollem Umfang durch die Reichsregierung oder die zuständigen Reichsminister für das ganze Reich oder für einen bestimmten Teil getroffen werden; den Landesbehörden verblieb die subsidiäre Zuständigkeit12. Nach der Präambel diente die Verordnung "zur Abwehr kommunistischer staatsgefährdender Gewaltakte", doch bedeutete dies in der Praxis keine Beschränkung ihres sachlichen Anwendungsbereiches. Eine erste Auffassung, die sich im Schrifttum zunehmend durchsetzte und die Polizeipraxis leitete, schrieb der Präambel nur die Funktion zu, ihren Anlaß, den Reichstagsbrand zu beschreiben. Der eigentliche Sinn und Zweck der Verordnung wurde in der "Sicherung des inneren und äußeren Bestandes des nationalsozialistischen Staates" gesehen, die Verordnung als Übertragung politischer Vollmachten "in weitem Sinne" verstanden13. Soweit der Präambel eine bestimmte Anwendungsrichtung, d. h. eine Beschränkung auf Maßnahmen zur Abwehr kommunistischer staatsgefährdender Gewaltakte entnommen wurde14, verstand man diese kommunistische Betätigung im weitesten Sinne, so daß letztlich bei jeder 10 11 12 13

14

Vgl. Schwarz7 (1939), S. 636. Vgl. Art. 2 des Ges. v. 30. 1. 1934, RGBl. I, S. 75 und Art. 5 dieses Ges. i. V. m. § 1 der 1. VO des RMdl über den Neuaufbau des Reiches vom 2.2.1934, RGBl. I, S. 81. Vgl. etwa OLG München, EntschKG, Bd. 17, S. 273, 275 (Urt. v. 4.11.1937). E. Schäfer/v. Dohnanyi (1936), S. 252. Vgl. etwa auch RG JW 1934, 76717, vgl. auch bei Fn. 17 ff.; Meukel, in: H. Frank, NS-Handb2 (1935), S. 386; Hoche, DJZ 1933, Sp. 395,1491; Dalcke33 (1943), S. 453; weit. Nachw. bei E. Schäfer/v. Dohnanyi, aaO; Fraenkel (1940/1974), S. 41 ff. Vgl. etwa Schwarz1 (1939), Anh. Nr. 5 Vorb. 2, S. 634; Boehr, JW 1933,2499; vgl. auch 3. Teil Β II 2.

Die erste Phase: 1933 bis 1935

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"destruktiven" Tätigkeit die Anwendbarkeit der Verordnung bejaht werden konnte. Schon in einem Erlaß des preußischen Ministers des Inneren vom 3. März 193315 wurde die Präambel dahin erläutert, die Verordnung wende sich zwar "in erster Linie gegen die Kommunisten, dann aber auch gegen diejenigen ..., die mit den Kommunisten zusammenarbeiten und deren verbrecherische Ziele, wenn auch nur mittelbar, unterstützen oder fördern". "Anarchistische oder sozialdemokratische Parteien oder Organisationen" seien dabei ohne weiteres in den Anwendungsbereich der Verordnung eingeschlossen. In dieser weiten Auslegung des Begriffs der "kommunistischen Umtriebe" war die Erstreckung der Verordnung auf "Staatsfeinde aller Richtungen" angelegt: Alle "gegen die nationalsozialistische Volksordnung und den nationalsozialistischen Staat arbeitenden Kräfte" konnten erfaßt werden, weil sie durch die beabsichtigte Schwächung nationalsozialistischer Einrichtungen "die Stoßkraft des Kommunismus zu stärken und damit, ob gewollt oder ungewollt, jedenfalls mittelbar, die kommunistische Gefahr zu vergrößern geeignet" waren 16 . Auf der Grundlage eines derartigen Verständnisses ("Alles, was dem nationalsozialistischen Staat oder der Partei schadet, nutzt dem Kommunismus") spielte die Frage nach der rechtlichen Bedeutung der Zweckangabe der Verordnung im praktischen Ergebnis keine Rolle. Das Reichsgericht hat dann auch im 69. Band 17 nach Darstellung des Streitstandes in einem einschlägigen Urteil von einer "abschließenden Klärung der erörterten Zweifelsfragen" abgesehen und seine Antwort offen gelassen: Auf der Basis der "engeren" Auslegung, die eine Begrenzung der Verordnung auf die Abwehr kommunistischer Gewaltakte bejahte, wird nämlich für die Anwendbarkeit der Verordnung nicht der Nachweis verlangt, daß kommunistische Gewaltakte den Staatsbestand bereits ernstlich gefährdeten oder gar erschütterten. Denn es liege, so das Reichsgericht, "in der Natur der Staatsgewalt, daß sie vor einem Eingreifen nicht erst den Eintritt eines Unheils abzuwarten hat, sondern berechtigt ist, seinem Eintreten vorzubeugen". Dabei setze die Rechtmäßigkeit einer solchen Maßnahme nicht den sicheren Nachweis einer näheren oder ferneren Gefahr voraus, sondern lediglich, daß "die Behörde nach ihrer pflichtgemäßen Beurteilung der Lage eine solche Gefahr für gegeben" hielt 18 . Das Reichsgericht hat deshalb das Verbot der Vereinigung der Ernsten Bibelforscher durch den Badischen Minister der Justiz für rechtens erachtet, weil diesen die Ansicht geleitet habe, "er müsse gegen die Vereinigung einschreiten, weil sie... staatsgefährdende Gewaltakte fördere oder ihnen die Wege bereite" 19 . Wenn man zwar eine Beschränkung des Anwendungsbereiches der Verordnung bejahte, aber gleichzeitig eine der kommunistischen Richtung förderliche oder ähnliche Bestrebung schon darin erblickte, daß etwa die Bibelforscher "gegen die Erfüllung der Eidespflicht, die aus der Rassegesetzgebung folgenden Pflichten, gegen die Wehrpflicht und gegen das nationale Zusammengehörigkeitsgefühl" ankämpften 20 ,

15 16 17 18 19 20

MBliV 19331, Sp. 233. Vgl. auch 3. Teil C 1 1 bei Fn. 14 ff. Vgl. Geigenmüller (1937), S. 28. RGSt. 69,341 (Urt. v. 24.9.1935). AaO, 343. AaO, 344. Vgl. Crohne, DJ 1935, 1144, der zwar die engere Auffassung (beschränkter Anwendungsbereich der VO) ablehnt, aber in sich folgerichtig betont, die engere Auffassung führe zu keinem abweichenden Ergebnis.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

war im praktischen Ergebnis jede Anordnung gegen politische Gegner des Nationalsozialismus zulässig. So hielt das Kammergericht zum Einschreiten aufgrund der Verordnung die mittelbare Gefahr für ausreichend, die für den Staat durch Verbreitung von Meinungen entstehe, die sich als Ausdruck der Unzufriedenheit mit der neuen Ordnung der Dinge kennzeichneten und damit dem Wiederauftauchen kommunistischer Bestrebungen den Boden bereiteten. Deshalb könnten von Anordnungen nach der SchutzVO auch kirchliche Organisationen betroffen werden, die als solche mit dem Kommunismus in keiner Beziehung stünden21. Eine effektive strafgerichtliche Kontrolle der (strafbewehrten) Anordnungen der Exekutive fand folglich nicht statt, so daß die Verwaltungs- und Polizeibehörden insoweit in praxi den Vorrang gegenüber der Justiz hatten. In konsequenter Durchsetzung dieser Linie, nämlich des Vorrangs der Exekutive gegenüber der Justiz, wurde die verwaltungsgerichtliche Überprüfbarkeit von politischen Maßnahmen zurückgedrängt und für "Verfügungen" in Angelegenheiten der "Geheimen Staatspolizei" durch das preußische Gesetz über die Geheime Staatspolizei vom 10. Februar 1936 formell beseitigt22. Die zuständigen Behörden konnten also ihre Anordnungen mit strafrechtlichem Schutz ausstatten, indem sie "mit verbindlicher Wirkung für die Allgemeinheit" ihren Willen dahin erklärten, daß gewisse Handlungen oder Unterlassungen nach § 4 der SchutzVO strafbar sein sollten23. Das geschah etwa durch die Verbote zahlreicher Vereinigungen und die Strafbarerklärung ihrer Fortführung oder Aufrechterhaltung, beispielsweise die Verbote des Reichsbanners und der Eisernen Front, der Sozialistischen Arbeiterjugend, des Sozialistischen Ärztebundes, der Ernsten Bibelfreunde usw., aber etwa auch durch das Verbot des unbefugten Tragens von Abzeichen nationaler Verbände24. § 4 der SchutzVO hatte subsidiäre Bedeutung; der Anwendungsbereich der Vorschrift wurde deshalb in dem Maße eingeschränkt, in dem nachfolgende Strafgesetze oder Verordnungen bestimmte Materien regelten, die zuvor durch § 4 in Verbindung mit Anordnungen der Exekutive erfaßt waren. Als Beispiele für derartige Strafvorschriften werden in den zeitgenössischen Kommentierungen etwa das Gesetz gegen die Neubildung von Parteien vom 14. Juli 1933 oder die Verratsnovelle vom 24. April 193425 genannt26. Durch Rundverfügung des Reichsjustizministers wurden deshalb 1937 zahlreiche außerhalb Preußens ergangene Anord21

Vgl. KG DJ 1935, 1831 (Ls.) und 1832. Vgl. auch OLG München, EntschKG, Bd. 17, S. 273 ff., wo das Verbot der öffentlichen Bekanntgabe von Kirchenaustritten durch einen Ministerialerlaß und die Verurteilung eines Geistlichen wegen Verstoßes hiergegen aufrechterhalten wird. Die öffentliche Bekanntgabe sei geeignet "Unruhe hervorzurufen, zu einer Mißstimmung, zur Unzufriedenheit gegen den Staat, der einen solchen Druck auf die Gewissensfreiheit entgegen der RVerf. zuläßt [!] ... zu führen", so daß die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet werden könnten (Urt. v. 4. 11. 1937). Hierzu Fraenkel (1940/ 1974), S. 60.

22

PrGS 1936, S. 21, 28 und dazu unten 3. Teil, C I 3b. Auf den Zusammenhang mit dem Gestapo-Ges. weisen auch E. Schäfer/v. Dohnanyi (1936), S. 254 hin: Verfügungen der Gestapo seien nur mit der Dienstaufsichtsbeschwerde anfechtbar; vgl. auch Dalcke33 (1942), S. 453. RG JW1934,770 20 . Vgl. die Zusammenstellung in RG JW 1934, 77020 und die weit. Nachw. bei Dalcke33 (1942), S. 454; E. Schäfer/v. Dohnanyi (1936), S. 253 f. sowie die Beispiele im Text. [Nr. 10], [Nr. 13], E. Schäfer/v. Dohnanyi (1936), S. 454.

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nungen nach §§ 1, 4 der SchutzVO aufgehoben, für deren Beibehaltung "im Hinblick auf die erweiterten Möglichkeiten einer strafgerichtlichen Verfolgung nach den allgemeinen Strafvorschriften kein Bedürfnis mehr" bestand27. § 4 der SchutzVO behielt gleichwohl eine gewisse Bedeutung, wie ein Erlaß Himmlers aus dem Jahre 1940 zeigt: Dort wird die SchutzVO als Rechtsgrundlage staatspolizeilichen Einschreitens für entbehrlich erklärt, ihre Heranziehung aber dann empfohlen, wenn strafrechtlicher Schutz der getroffenen Anordnung "erwünscht erscheint"28. Auch die SchutzVO vom 28. Februar, nach Fraenkel die "Verfassungsurkunde"29 des nationalsozialistischen Maßnahmestaates, war keine eigenständige Leistung des nationalsozialistischen Regimes: Ihr Vorbild war eine Notverordnung des Reichspräsidenten vom 20. Juli 1932, betreffend die Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in GroßBerlin und der Provinz Brandenburg30. Diese Notverordnung, zur Durchführung des "Preußenschlags"31 mit gebietsbeschränkter Wirkung ergangen, diente insbesondere für die §§ 1, 4 und 5 I, II Nr. 2 der SchutzVO als Vorlage32. Neu waren in der SchutzVO die Tatbestände des § 5 Π Nr. 1 und 3. Zuständig für die Aburteilung von Verstößen gegen die SchutzVO wurden mit der Verordnung vom 21. März 1933 die Sondergerichte33, für Verstöße gegen § 5 II Nr. 1 ab 1934 der Volksgerichtshof34. [Nr. 3] Verordnung des Reichspräsidenten gegen Verrat am deutschen Volke und hochverräterische Umtriebe vom 28. Februar 1933 Die Verordnung gegen Verrat am deutschen Volk und hochverräterische Umtriebe (VerratsVO)1 brachte ohne formelle Änderung des RStGB in einem ersten Zugriff Strafschärfungen und neue Tatbestände auf dem Gebiet des Hoch- und Landesverrats. Die VerratsVO ging alsbald in das Änderungsgesetz vom 24. April 1934 (Verratsnovelle) ein, das eingehend zu besprechen sein wird2.

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RV v. 13.5.1937, bei Krug/Schäfer/Stolzenburg* (1943), S. 457. Vgl. RE des RSHA v. 15.4.1940, AE RSHA Bl. 193; s. auch unten 3. Teil C 1 3 b bei Fn. 63. 1940/1974, S. 26.

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VO v. 20. 7.1932, RGBl. I, S. 377. Dazu und zum Verhältnis zur SchutzVO vgl. Schroeder (1970), S. 146,151; zur VO 1932 s. auch Huber, Verfassungsgeschichte VII (1984), S. 227. Zum Preußenschlag Huber, aaO, S. 1015 ff. Vgl. §§ 1, 3, 4 der VO v. 20. 7. 1932 (Fn. 30). Neu war in der SchutzVO ferner die Erstreckung der Todesstrafe auf Giftbeibringung und gemeingefährliche Vergiftung (§ 51); die nach Schroeder (1970), S. 151 "überraschende" Aussparung des Landesverrats (vgl. § 4 der VO v. 20. 7. 1932) erklärt sich daraus, daß insoweit § 1 der VerratsVO vom gleichen Tage [Nr. 3] die Todesstrafe ermöglichte.

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33 34 1

2

RGBl. I, S. 136 (§ 2). Die VO stützt sich auf die in der NotVO des Reichspräsidenten v. 6.10.1931 (RGBl. I, S. 537,565) enthaltene Ermächtigung (Kap. II). Sie führt die Sondergerichte ein (§ 1). Art. III § 1 Verratsnovelle [Nr. 13], RGBl. I, S. 85. - Zeichnung: Wie [Nr. 1] Fn. 1. Zur Behandlung im Kabinett vgl. Minuth (1983), Dok. Nr. 30, S. 123 f. - Außer Kraft mit der Verratsnovelle [Nr. 13], Aufhebung auch durch KRG Nr. 55 Art. I Nr. 4. Schorn (1963), S. 9 charakterisiert die VO als "rechtsstaatswidrig"; zur Bewertungsfrage [Nr. 13] lb, 5a. Vgl. [Nr. 13].

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

Im 1. Abschnitt mit der Überschrift "Verschärfung der Vorschriften gegen Landesverrat und Verrat militärischer Geheimnisse" erhöhte die VerratsVO in § 1 die Strafdrohungen für den schweren Verrat militärischer Geheimnisse (Todesstrafe) 3 , für (diplomatischen) Landesverrat (§ 92 I RStGB) und den Verrat militärischer Geheimnisse (Todesstrafe oder lebenslanges Zuchthaus) 4 sowie für die Ausspähung militärischer Geheimnisse (Todesstrafe oder lebenslanges Zuchthaus oder Zuchthaus bis zu 15 Jahren) 5 . Daneben führte die Verordnung in § 2 den Tatbestand der landesverräterischen Fälschung ein, der schon bei früheren Reformarbeiten gefordert wurde und etwa im E 1927 enthalten war 6 und stellte in § 3 die öffentliche Mitteilung früherer Staatsgeheimnisse unter Strafe 7 . Der 2. Abschnitt der Verordnung bezweckte die "Bekämpfung hochverräterischer Umtriebe"8. § 5 führte für hochverräterisches Unternehmen und für hochverräterische Vorbereitung 9 die obligatorische Zuchthausstrafe ein, sofern die Tat darauf gerichtet war, "die Reichswehr oder die Polizei zur Erfüllung ihrer Pflichten untauglich zu machen, das Deutsche Reich und seine Länder gegen Angriffe auf ihren äußeren oder inneren Bestand zu schützen" (sog. Zersetzungshochverrat). Die Begriffe stammten teilweise aus dem Gesetz über Straffreiheit vom 20. Dezember 193210, und wurden 1934 von der Verratsnovelle als § 83 III Nr. 2 RStGB übernommen. Der Zersetzungshochverrat wird in diesem Zusammenhang näher dargestellt11. § 6 der VerratsVO stellte die fahrlässige Herstellung, Verbreitung usw. von Druckschriften hochverräterischen Inhalts unter Strafe (Gefängnis von einem Monat bis zu drei Jahren). Als benannte Fälle hochverräterischen Inhalts galten die "Aufforderung oder Anreizung zum gewaltsamen Kampf gegen die Staatsgewalt oder ... zu einem hochverräterischen Bestrebungen dienenden Streik in einem lebenswichtigen Betrieb, Generalstreik oder anderen Massenstreik"12.

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§ 1 Nr. 1. Vgl. § 1 III des Ges. gegen den Verrat militärischer Geheimnisse v. 3. 6. 1914, RGBl. I, S. 195. § 1 Nr. 2. - § 92 RStGB: Zuchthaus nicht unter zwei Jahren (Abs. 1), bei mildernden Umständen Festungshaft nicht unter sechs Monaten (Abs. 2). § 1 des Ges. gegen den Verrat militärischer Geheimnisse (Fn. 3): Zuchthaus nicht unter zwei Jahren, bei mildernden Umständen Gefängnis nicht unter einem Jahr (Abs. 1,2). Vgl. § 3 des Ges. gegen den Verrat militärischer Geheimnisse (Fn. 3): Zuchthaus bis zu zehn Jahren als Regelstrafe (Abs. 1,2), bis zu 15 Jahren bei Amtsträgern (Abs. 3). Vgl. § 94 E 1927 und näher hierzu Schroeder (1970), S. 152. Vgl. auch § 90a RStGB 1934 [Nr. 13], Zu dieser "recht dubiosen" Neuerung Schroeder, aaO; vgl. auch § 90b RStGB 1934 [Nr. 13] und die Amtl. Begr. hierzu (DJ 1934,596). So die Überschrift, RGBl. I, S. 86. Vgl. §§81-86 RStGB. RGBl. I, S. 559, § 8 Nr. 5. Näher zur Entstehungsgeschichte des Zersetzungshochverrats Olshausen12 (1942), § 83 Anm. 5b; Schroeder (1970), S. 153. Vgl. [Nr. 13] 2b. § 6 I, näher Schroeder (1970), S. 152 f. Die Vorschrift wurde unter Wegfall der benannten Beispiele durch die Verratsnovelle in das RStGB übernommen, vgl. [Nr. 13] 2a.

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[Nr. 4] Verordnung des Reichspräsidenten zur Abwehr heimtückischer Angriffe gegen die Regierung der nationalen Erhebung vom 21. März 1933 Die Verordnung zur Abwehr heimtückischer Angriffe usw. (HeimtückeVO)1 war die letzte der vier strafrechtlichen Notverordnungen und wurde drei Tage vor dem Inkrafttreten des Ermächtigungsgesetzes2 erlassen. Sie bezweckte unmittelbar den Schutz der Regierung Hitler und der hinter ihr stehenden Verbände, d. h. namentlich der NSDAP und ihrer Gliederungen. § 1 der HeimtückeVO stellte den unbefugten Besitz und das Tragen einer Uniform oder kennzeichnender Abzeichen solcher Verbände durch Nichtmitglieder unter Strafe (Gefängnis bis zu zwei Jahren)3. § 2 I drohte für strafbare Handlungen gegen Personen oder Sachen, bei denen der Täter unbefugt eine Uniform, Kennzeichen oder Abzeichen dieser Verbände trug, Zuchthausstrafe an, bei mildernden Umständen Gefängnis nicht unter sechs Monaten. Einen überaus unbestimmten, ausschließlich subjektiv gefaßten Strafschärfungsgrund mit gravierenden Strafrahmenänderungen brachte § 2 II S. 1: Wurde die Tat "in der Absicht begangen, einen Aufruhr oder in der Bevölkerung Angst oder Schrecken zu erregen [!] oder dem Deutschen Reich außenpolitische Schwierigkeiten [!] zu bereiten", drohte Zuchthaus nicht unter drei Jahren oder lebenslanges Zuchthaus4. § 2 II S. 2 ließ zudem für besonders schwere Fälle des Absatzes 2 S. 1 die Verhängung der Todesstrafe (!) zu. Die Bedeutung der Vorschrift wurde noch dadurch unterstrichen, daß § 2 III - abweichend von dem das RStGB (noch) beherrschenden Territorialitätsprinzip - die Verfolgung von Auslandstaten Deutscher vorsah5. "Am gravierendsten" war jedoch, so Schroeder6, der Tatbestand der sog. Greuelpropaganda (§ 3). Er komponierte aus einer Reihe von unbestimmten Merkmalen einen bemerkenswerten "Tatbestand. Strafbar war nach dieser Vorschrift, wer "vorsätzlich eine unwahre oder gröblich entstellte [!] Behauptung tatsächlicher Art aufstellt oder verbreitet, die geeignet [!] ist, das Wohl [!] des Reiches oder eines Landes oder das Ansehen [!] der Reichsregierung oder einer Landesregierung oder der hinter diesen Regierungen stehenden Parteien oder Verbände schwer zu schädigen" (§ 3 I). Die Regelstrafe war Gefängnis bis zu zwei Jahren, bei öffentlicher Aufstellung oder Verbreitung Gefängnis nicht unter drei Monaten (§ 3 I), bei Entstehung eines "schweren Schadens" für das Reich oder ein Land konnte Zuchthausstrafe

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VO v. 21. 3. 1933, RGBl. I, S. 135. Zeichnung: Wie [Nr. 1] Fn. 1, jedoch an Stelle Gärtners für den RMdJ der stellvertretende Reichskanzler von Papen-, zur Behandlung im Kabinett vgl. Minuth (1983), Dok. Nr. 70 S. 244. Aufgehoben durch Art. 3 § 9 Heimtückeges. [Nr. 15] und nochmals durch KRG Nr. 55 Art. I Nr. 5. Dazu oben A 1 2 . Vgl. § 5 Heimtückeges. [Nr. 15], Zu den Vorbildern des Absichtsmerkmals der "Erregung von Angst und Schrecken" in vorausgegangenen Entwürfen (vgl. § 179 E 1927) Schroeder (1970), S. 154. § 2 Heimtücke VO wurde durch § 3 Heimtückeges. [Nr. 15] abgelöst. 1970, S. 154.

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verhängt werden (§ 3 II). Nach § 3 III war selbst die grob fahrlässige Begehung der Tat mit Gefängnis bis zu drei Monaten oder Geldstrafe bedroht (§ 3 III)7. § 3 der HeimtückeVO hatte die wohl größte Breitenwirkung: Die Vorschrift sollte verhindern, daß das "Gift der Lügenmeldungen in das Volk dringt"8. § 3 bildete das erste markante Beispiel für den Schutz des Vertrauens in die nationalsozialistische Führung mit strafrechtlichen Mitteln. In der Praxis war die Vorschrift ein Instrument zur Bekämpfung oppositioneller Äußerungen und griff weit in den Alltagsbereich hinein. Strafrechtlich erfaßt wurden etwa Bemerkungen über einzelne Vorgänge bei der Machtergreifung, der Niederschlagung des sog. Röhm-Putsches oder in Konzentrationslagern9. Aber auch Äußerungen wie: "Der Reichskanzler fliegt von Stadt zu Stadt und wird von der Partei unterhalten" erwiesen sich als subsumtionsfähig: In ihr stecke, so das Sondergericht München, die selbstverständlich unwahre Behauptung, daß der Reichskanzler nicht arbeite, sondern spazierenfliege10. Die Eignung, das Wohl des Reiches oder das Ansehen der Regierung oder der hinter ihr stehenden Parteien zu schädigen, bildete dabei jedenfalls keine wesentliche Einschränkung des Bereichs der Strafbarkeit bei kritischen politischen Äußerungen11. Eine Begrenzung des § 3 Heimtücke VO ergab sich allerdings daraus, daß die Vorschrift - entsprechend § 186 RStGB - nur die Aufstellungen von Tatsachenbehauptungen, nicht von Werturteilen unter Strafe stellte. Dabei konnten sich tragikomische Begründungslagen ergeben: Wenn der Inhalt einer Behauptung so "unsinnig" war, daß er "den Eindruck des Wirklichen, des Tatsächlichen, überhaupt nicht hervorrufen" konnte, es also an dem - wie in § 186 RStGB - vorausgesetzten Tatsachenkern fehlte, war der Tatbestand nicht erfüllt. Mit dieser Begründung verneinte das Reichsgericht beispielsweise den Heimtückecharakter der Behauptung, in SS und SA seien "lauter Lumpen"12. Das Heimtückegesetz von 1934 Schloß dann diese "Lücke": Es erstreckte die Heimtückestrafbarkeit unter gewissen Voraussetzungen auch auf die Abgabe von Werturteilen13. Abgerundet wurde die HeimtückeVO von einer Vorschrift, die "in raffinierter Weise die Partei vor unerwünschten Elementen"14 strafrechtlich schützte: § 4 dehnte den Anwendungsbereich der Verordnung auf die "erschlichene" Mitgliedschaft aus. Ein solches Mitglied machte sich trotz formell bestehender Mitgliedschaft strafbar, wenn es die Uniformen, Abzeichen usw. eines der geschützten Verbände, insbesondere der NSDAP, trug.

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Zu §§ 3 I, III HeimtückeVO vgl. § 1 I, II Heimtückeges. [Nr. 15], Erschwerte Fälle der Greuelpropaganda (§ 3 II VO) fanden mit der Verratsnovelle als § 90f Eingang in das RStGB [Nr. 13] 3a. So Dreher, JW 1934, 899. Vgl. im einzelnen die Beispiele aus der Praxis des SG München bei Hiittenberger, Heimtückefälle (1981), S. 435 ff., 455, 473 ff.; vgl. auch die Rechtsprechungsübersicht bei Dreher, JW 1934,899 f. Hiittenberger, aaO, S. 452. Vgl. die Beispiele bei Hiittenberger, aaO, S. 455 zum parallelen Merkmal des § 2 Heimtückeges. [Nr. 15] "Eignung zur Untergrabung des Vertrauens des Volkes zur politischen Führung"; vgl. auch Dreher, JW 1934, 899, der auf die (abstrakte) Gefährlichkeit der Behauptung selbst abstellt; ihm folgend E. Schäfer/ v. Dohnanyi (1936), S. 289 zum entsprechenden § 1 Heimtückeges. RGSt. 68,120,123 (Urt. v. 17.4.1934). Zu § 2 Heimtückeges. [Nr. 15], So Schroeder (1970), S. 154. Entspr. § 6 Heimtückeges. [Nr. 151.

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Zuständig für die Aburteilung der Heimtückevergehen wurden die durch eine Verordnung vom gleichen Tag gebildeten Sondergerichtels: Damit schuf der Verordnungsgeber eine wesentliche Voraussetzung für die politisch einfühlsame Beurteilung der Heimtückefälle. [Nr. 5] Gesetz über die Verhängung und den Vollzug der Todesstrafe vom 29. März 1933 Das Gesetz1, in der zeitgenössischen Presse als "lex van der Lübbe" bezeichnet2, ordnete in § 1 die Rückwirkung des § 5 der SchutzVO vom 28. Februar 1933 auf Taten zwischen dem 31. Januar und dem 28. Februar 1933 an. Es wollte damit die Verhängung der Todesstrafe gegen den angeblichen Reichstagsbrandstifter3 van der Lübbe und die Mitbeschuldigten ermöglichen. Das im Tatzeitpunkt geltende Recht hätte nur die Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafe zugelassen4. Durch das Urteil des Reichsgerichts vom 23. Dezember 1933 wurde der später hingerichtete Marinus van der Lübbe wegen Hochverrats in Tateinheit mit aufrührerischer Brandstiftung und versuchter einfacher Brandstiftung zum Tode verurteilt; die vier Mitangeklagten wurden freigesprochen5. Die Dauer der Verhandlung und die Freisprüche stießen auf heftigste Kritik von nationalsozialistischer Seite6, die nicht ohne Folgen blieb: Am 24. April 1934 wurde die Zuständigkeit zur erstinstanzlichen Aburteilung von Hoch- und Landesverratssachen dem Volksgerichtshof übertragen7. Das Gesetz vom 29. März 1933 hat für die weitere Entwicklung der Strafgesetzgebung richtungweisende Bedeutung. Es zieht erstmals die Konsequenzen aus dem Ermächtigungsgesetz: Es demonstriert, daß ein Grundsatz des liberalen Rechtsstaats verabschiedet ist: "Lex" steht nicht mehr "gegen Rex und Dux"8. Das Gesetz wird zum Instrument, den Bestrafungswillen der politischen Führung durchzusetzen. Dux bedient sich der Lex. Vorspiel und Erlaß der "lex van der Lübbe" illustrieren das Verhältnis von Dux und Lex: Am 23. März 1933 wendet sich Hitler im Reichstag anläßlich der Vorlage des Ermächtigungsgesetzes gegen den Versuch einer "bestimmten Presse" insbesondere außerhalb Deutschlands, "die nationale Erhebung Deutschlands mit dieser Schandtat zu identifizieren". Hitler spricht damit Vorwürfe an, die Nationalsozialisten hätten den Brand selbst gelegt9 und fährt fort, ihn könnten solche Vorgänge "nur in meinem Beschlüsse bestärken, nichts unversucht zu lassen, um in kürzester Zeit

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§ 2 VO v. 21.3.1933, RGBl. I, S. 136; vgl. schon [Nr. 2] Fn. 33. Zum Heimtückeges. [Nr. 15] Fn. 32 f. RGBl. I, S. 151. Reichsregierungsges. Zeichnung: Rk Adolf Hitler, für den RMdJ der Stellvertreter des Rk von Papen. Zur Behandlung im Kabinett vgl. Minuth (1983), Dok. Nr. 73, S. 253, zum "Vorspiel" Dok. Nr. 44, S. 163 ff. und Dok. Nr. 60, S. 217 f. - Ges. aufgehoben durch KRG Nr. 11 Art. II la. Vgl. Pfundtner/Neubert/Hauptvogel (1933 ff.), II c 1, S. 1 mit Nachw. Zum Reichstagsbrand vgl. Bracher/Sauer/Schulz (1960), S. 75 ff. Vgl. Pfundtner/Neubert/Hauptvogel (1933 ff.), II c 1, S. 1. Das Urteil ist auszugsweise abgedruckt bei Kau! (1971), S. 341 ff. Zum Prozeßverlauf ders., S. 87 ff.; / . Müller (1987), S. 36 ff.

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Vgl. VB Berlin v. 24.12.1933 bei Kaul (1971), S. 111; s. auch Carl Schmitt, JW1934,713.

7 8 9

Vgl. [Nr. 13]. So Carl Schmitt, JW 1934,715 in polemischer Umkehrung einer Formulierung yon Anschätz. Dazu z. B. Bracher/Sauer/Schulz (1960), S. 75 ff.

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dieses Verbrechen durch die öffentliche Hinrichtung des schuldigen Brandstifters und seiner Komplicen zu sühnen"10. Nach der Kommentierung des Gesetzes bei Pfundtner/Neubert sah deshalb "die Öffentlichkeit in dem Erlaß des Gesetzes über Verhängung und Vollzug der Todesstrafe vom 29. 3. 1933 wohl nicht mit Unrecht die der Ankündigung des Reichskanzlers entsprechende Eröffnung der Möglichkeit, jenes Verbrechen mit der Todesstrafe zu vergelten"11. Das "gesetzliche" Vorgehen hat also den Sinn, den erklärten Willen des "Dux" auf die gesetzesstaatliche Ebene zu transportieren und die Justiz zur Verhängung der Todesstrafe zu veranlassen. Es liegt auf der Hand, daß ein solcher Vorgang nicht eine bloße "Ausnahme" vom Satz des nulla poena sine lege und eine einmalige "Durchbrechung" des Rückwirkungsverbots darstellt: Das Gesetz vom 29. März 1933 wendet sich grundsätzlich gegen das liberal-rechtsstaatliche Strafrecht. Der Grundsatz "Keine Strafe ohne Gesetz" wird durch den Gegen-Satz: "Kein Verbrechen ohne gerechte Strafe" beiseite geschoben. Das Gesetz macht klar, daß der nationalsozialistische Staat mit dem liberalen Rechtsstaat nichts mehr gemein haben will: Wird der Begriff "Rechtsstaat" in der Literatur noch verwendet 12 , so legt man ihm einen veränderten Sinn bei, in dem der "Rechtsstaat" als im nationalsozialistischen Verständnis unmittelbar gerechter Staat dem liberalen Rechtsstaat in polemischer Wendung gegenübersteht. Die lex van der Lübbe demonstriert, wie der "deutsche Rechtsstaat Adolf Hitlers" 13 oder "nationalsozialistische deutsche Rechtsstaat" 14 die "offenkundige substantielle Gerechtigkeit der Sache"15 sieht und zu verwirklichen gedenkt: Das Rückwirkungsverbot kann die Verwirklichung "gerechter Sühne" nicht hindern; nullum crimen sine poena steht gegen nulla poena sine lege; "Dux" ist Wahrer des "Rechts" und bedient sich des "Gesetzes". § 2 des Gesetzes gab der Reichsregierung oder der Regierung des für die Strafvollstrekkung jeweils zuständigen Landes die Möglichkeit, bei "gegen die öffentliche Sicherheit gerichteten" Verbrechen die Todesstrafe durch Erhängen zu vollstrecken, um das Verwerfliche solcher Taten zu betonen 16 .

10 11

12

Die Rede ist abgedruckt bei Domarus I (1965), S. 229 ff., 230 nach VB (Berlin) v. 24.3.1933, S. 1 ff. Pfundtner/Neubert/Hauptvogel (1933 ff.), II c 1, S. 1. - Zu den Vorspielen im Kabinett vgl. Akten der Reichskanzlei (Fn. 1). Hitler hält von vornherein die Verhängung der Todesstrafe gegen van der Lübbe für "dringend geboten" (aaO, S. 164, 7. 3. 1933), die vom Reichsjustizministerium erhobenen und von Hindenburg geteilten Einwände (aaO, S. 218,15.3.1933) können Hitler nicht aufhalten. Dazu Carl Schmitt, ZStaatW 95 (1935), 198 ff., der den Begriff für die Übergangsphase (198 f.) beizubehalten empfiehlt, ihn aber längerfristig wegen der Anklänge an das bürgerlich-liberale Zeitalter aufgeben will. Carl Schmitt hofft, der Begriff werde einmal nur noch "Trophäe eines geistesgeschichtlichen Sieges über den bürgerlichen Individualismus und seine Entstellungen des Rechtsbegriffs" betrachtet werden (201). Vgl. auch JW 1934, 714, wo es Carl Schmitt noch verstärkt darum geht, den Begriff "Rechtsstaat" zu besetzen.

13

H. Frank, DR 1934,121.

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Carl Schmitt, JW 1934, 713 f.; s. etwa auch H. tange (1934), S. 3 ("nationalsozialistischer Rechtsstaat"), zu den Konzentrationslagern als "Formier Rechtswahrung" S. 30. Carl Schmitt, JW 1934,714. Pfundtner/Neubert/Hauptvogel (1933 ff.), II c 1, S. 2. Die von Hitler geforderte öffentliche Hinrichtung wurde durch das Ges. jedenfalls nicht ausdrücklich vorgesehen; vgl. aber Schwarz1 (1939), Anh. Nr. 8 § 2 Anm. 2 S. 649. Van der Lübbe wurde unter Ausschluß der Öffentlichkeit hingerichtet, vgl. Bracher/Sauer/Schulz (1960), S. 81 mit Nachw.

15 16

Die erste Phase: 1933 bis 1935

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Im Dezember 1933 wird van der Lübbe zum Tode verurteilt. Das Reichsgericht setzt sich in der Urteilsbegründung mit der Gültigkeit der lex van der Lübbe auseinander. Die Gültigkeit des Ermächtigungsgesetzes wird bejaht: Es habe "einen nach keiner hier interessierenden Richtung eingeschränkten neuen Weg der Gesetzgebung geschaffen"17. Im Hinblick auf das Rückwirkungsverbot des Artikel 116 WRV berief sich das Reichsgericht darauf, dort sei nur von der gesetzlichen Bestimmung der Strafirarte'f18 die Rede, Artikel 116 WRV gelte somit für die bloße Strafänderung nicht. § 2 I RStGB aber könne ohnehin jederzeit durch einfaches Gesetz geändert werden. Die Distinktion des Reichsgerichts ist hier nicht näher zu erörtern. Selbst wenn es Artikel 116 WRV für betroffen erklärt hätte, wäre dies im Ergebnis folgenlos geblieben: Artikel 2 des Gesetzes vom 24. März 1933 ermächtigte zur Abweichung von der Weimarer Reichsverfassung19. [Nr. 6] Gesetz zur Abwehr politischer Gewalttaten vom 4. April 1933 Das Gesetz1 wendete sich aus angeblich aktuellem Anlaß gegen 'Terrorverbrechen"2. Es drohte für bestimmte Verstöße gegen das Sprengstoffgesetz (§ 1 Nr. 1), für Brandstiftungen oder Sprengungen an "öffentlichen Zwecken" dienenden Bauwerken sowie für Sprengungen oder Brandstiftungen in der Absicht, "in der Bevölkerung Angst oder Schrecken zu erregen"3 (§ 1 Nr. 2) und schließlich - in Anknüpfung an § 5 I SchutzVO4 - für Giftbeibringung, Überschwemmung, Beschädigung von Eisenbahnanlagen und gemeingefährliche Vergiftungen (§ 1 Nr. 3) die Todesstrafe, lebenslanges Zuchthaus oder Zuchthaus bis zu 15 Jahren ans. Der Anwendungsbereich der Todesstrafe wurde damit gegenüber § 5 SchutzVO6 erheblich erweitert: Namentlich für die Verstöße gegen das Sprengstoffgesetz (§ 1 Nr. 1) sowie für Brandstiftungen oder Sprengungen (§ 1 Nr. 2) bewirkte das Gesetz eine erheblich zu Buche 17 18

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2

3 4 5 6

RG bei Kail (1971), S. 344; zum Reichstagsbrandprozeß vgl. etwa Raul (1971), S. 87 ff.; /. Müller (198η, S. 36 ff. Vgl. aaO, S. 345 f. - Es war umstritten, ob Art. 116 WRV den § 2 RStGB ("eine Handlung kann nur dann mit einer Strafe belegt werden, wenn diese Strafe gesetzlich bestimmt war, bevor die Handlung begangen wurde") in vollem Umfang oder nur teilweise (Strafvoraussetzungen) verfassungsrechtlich garantiert habe. Das RG bezog im Ergebnis den Standpunkt, den die Strafrechtsprofessoren Nagler, von Weber und Oelker in ihrem "auf Veranlassung des Herrn Reichskanzlers" erstatteten Gutachten vertreten hatten, vgl. dazu Minuth (1983), S. 164 bes. Fn. 19. Zum Streitstand vor 1933 Frank™ (1931), § 2 Anm. I; RGSt. 57,404 neigte der ersten Deutung zu (Urt. v. 8.11.1923). Vgl. RGBl. I, S. 141. RGBl. I, S. 162, Reichsregierungsges. Zeichnung: Rk Adolf Hitler, für den RMdJ der Stellvertreter des Rk von Papen. Zur Behandlung im Kabinett Minuth (1983), Dok. Nr. 86, S. 290 (4. 4. 1933).Gesetz aufgehoben durch KRG Nr. 55 Art. I Nr. 7. Zur Entstehungsgeschichte (Anschläge in Hamburg) Pfundtner/Neubert/Schäfer (1933 ff.), II c 2, S. 1. Zur Bezeichnung Terrorverbrechen Schwarz7 (1939), Anh. Nr. 9, S. 650. Zur Entwurfsbegündung vgl. Minuth (1983), S. 290 Anm. 1 mit Nachw. Vorbild: § 2 II S. 1 HeimtückeVO, dazu [Nr. 4], Dazu [Nr. 2] bei Fn. 5 ff. Die Analogienovelle hat § 315 II aus dem Katalog des § 1 Abwehrges. gestrichen und § 315 RStGB entsprechend geändert, vgl. Art. 4 Nrn. 1,5 und [Nr. 16] 8. Wie Fn. 4.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

schlagende Strafschärfung. § 5 I SchutzVO wurde weitgehend gegenstandslos, aber erst 1935 durch die Analogienovelle förmlich aufgehoben7. Bemerkenswert ist die Flexibilisierung der Strafrahmen durch das Abwehrgesetz. § 5 I SchutzVO hatte sich noch damit begnügt, an die Stelle lebenslangen Zuchthauses die Todesstrafe zu setzen. Die Strafdrohung des § 1 des Abwehrgesetzes hat dagegen fakultativen Charakter im Verhältnis zu den Grundstrafen und reicht von einem Jahr Zuchthaus bis zur Todesstrafe. Diese Strafdrohung wird überall dort maßgeblich, wo die Strafuntergrenze des Grunddelikts nicht ohnehin schon höher liegt. Die größte Spannweite richterlichen Ermessens ergibt sich bei der einfachen Brandstiftung (§ 308 RStGB) bzw. der Herbeiführung einer Explosion (§§ 311 i. V. m. 308 RStGB): Unter Einbeziehung der "mildernden Umstände" des § 308 II RStGB reicht die Strafdrohung von sechs Monaten Gefängnis bis zur Todesstrafe8. In prozessualer Hinsicht erklärt das Gesetz die Sondergerichte für zuständig (§ 2)9, vorbehaltlich der reichsgerichtlichen Zuständigkeit für Hoch- und Landesverrat10. [Nr. 7] Gesetz zum Schutze der nationalen Symbole vom 19. Mai 1933 Dieses Gesetz1 verbot, "die Symbole der deutschen Geschichte, des deutschen Staates und der nationalen Erhebung in Deutschland öffentlich in einer Weise zu verwenden, die geeignet ist, das Empfinden von der Würde dieser Symbole zu verletzen" (§ 1). Als Symbole der nationalen Erhebung galten dabei diejenigen der nationalsozialistischen Bewegung, etwa Bilder und Namen ihrer Führer, das Hakenkreuz oder das Horst-Wessel-Lied2. Bei Zuwiderhandlung gegen eine entsprechende behördliche Verbotsverfügung drohte Geldstrafe bis zu 150 Reichsmark oder Haft 3 . Bemerkenswert ist dieses Gesetz nicht wegen der Höhe der angedrohten Übertretungsstrafen. Vielmehr gibt es Aufschluß, welche Bedeutung der "Würde" der Bewegung beigemessen wurde: Die nationale Erhebung sei, so die Kommentierung bei Pfundtner/Neubert, eine "seelische Bewegung", die "durch äußere Sinnbilder faßbar und anschaulich" werde. Jeder Mißbrauch sei geeignet, die Bewegung, die sich im Symbol darstelle, "zu verfälschen und zu

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2

3

Art. 4 Nr. 4 [Nr. 16]. Vgl. zum ganzen die eingehende Aufschlüsselung der Strafrahmen bei (1933 ff.), II c 2, S. 2 ff. Ab 1934: Volksgerichtshof, vgl. Art. III § 1 der Verratsnovelle [Nr. 13]. Ab 1934: Volksgerichtshof, vgl. Fn. 9.

Pfundtner/Neubert/Schäfer

RGBl. I, S. 163. Reichsregierungsges. Zeichnung: Rk Adolf Hitler, RM für Volksaufklärung und Propaganda Goebbels, RMdl Frick. Zur Behandlung im Kabinett vgl. Minuth (1983), Dok. Nr. 134, S. 467. - Aufgehoben durch MRG Nr. 1 Art. I Nr. la. Näher Pfundtner/Neubert/Medicus (1933 ff.), I a 8, S. 1 ff.; Schock, in: H. Frank, NS-Handb 2 (1935), S. 395 ff. Zum Spielen und Singen bestimmter Lieder ließ § 8 des Ges. Polizeiverordnungen zu, vgl. etwa VO v. 17.5.1939, RGBl. I, S. 921 ("Badenweiler Marsch") und VO v. 5.1.1940, RGBl. I, S. 131 zum Schutze der nationalen Symbole und Lieder. §§ 9 , 8 , 2 , 4 VO.

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Die erste Phase: 1933 bis 1935

trüben"4. Auch weit unterhalb der Schwelle der HeimtückeVO wurde deshalb Ehrenschutz im Vorfeld für erforderlich erachtet. [Nr. 8] Gesetz zur Abänderung strafrechtlicher Vorschriften vom 26. Mai 1933 Die erste Novelle zum RStGB vom 26. Mai 19331 betraf, anders als die bis dahin vorgenommenen Änderungen, nur zum geringeren Teil das politische Strafrecht. Das Gesetz brachte eine Reihe von Neuerungen, die sich zu einem erheblichen Teil an frühere Entwürfe, insbesondere den E 1927, anlehnten2, die teilweise aber auch neue Wege beschritten. Der Anspruch der Novelle war bescheiden: Sie hatte das Ziel "einige wenige besonders aktuelle Fragen, deren Regelung ohne größere organisatorische Maßnahmen durchführbar ist" in Vorwegnahme der beabsichtigten allgemeinen Strafrechtsreform zu regeln3. Die Novelle wurde als "Vorläufer" der allgemeinen Strafrechtsreform angesehen, als "Vorfrucht"4, der die damals noch alsbald erwartete "Haupternte" in Form einer geschlossenen Gesamtkodifikation des Strafrechts freilich nicht folgen sollte. Im Rückblick erweist sich das Gesetz vom 26. Mai 1933 als das erste in einer Reihe von mehr oder weniger bedeutsamen Änderungsgesetzen zum RStGB. Die Novelle enthielt entsprechend ihrer Zielsetzung Regelungen, die ganz unterschiedliche Bereiche betrafen. Aus vornationalsozialistischen Entwürfen stammten namentlich die Bestimmungen über die Reichsverweisung von Ausländern5, die Ausspähung von Staatsgeheimnissen6, die Tierquälerei7, die Straflosigkeit des Zweikampfes8, die öffentliche Ankündigung oder Anpreisung von Abtreibungsmitteln und das Erbieten zur Abtreibung9, die Mißhandlung von Schutzbefohlenen10 und den Rechtfertigungsgrund der Einwilligung bei Körperverletzun-

(1933 ff.), I a 8, S. 1; ähnlich Schock, in H. Frank, NS-Handb2 (1935), S.

4

Pfiindtner/Neubert/Medicus 395.

1

RGBl. I, S. 295. Reichsregjerungsges. Zeichnung: Rk Adolf Hitler, RMdJ Gürtner, RMdl Frick, Reichswehrminister von Blomberg. Zur Behandlung im Kabinett vgl. Minuth (1983), Dok. Nr. 125, S. 444 und Dok. Nr. 134, S. 471. - Zum Ges. im ganzen vgl. L. Schäfer/Richter/Schafheutle (1934), S. 11 ff.; E. Schäfer/v. Dohnanyi (1936), S. 24 ff.; E. Schäfer, DJZ 1933, Sp. 789 ff.; Pfundtner/Neubert/L. Schäfer (1933 ff.), II c 6, S. 1 ff.

2

Vgl. E. Schäfer, DJZ 1933, Sp. 789 ff. - Der E 1930 (Kahl) stimmte mit dem E 1927 sachlich weitgehend überein und wird deshalb nicht fortlaufend zitiert. Zum Verhältnis E 1927/E 1930 Marxen (1975), S. 78 f.; Eb. Schmidt (1965), S. 406 f. Vgl. E. Schäfer (Ministerialdirektor im RJM), DJZ 1933, Sp. 789. Zum Entwurf vgl. die Hinweise bei Minuth (1983), S. 444 Anm. 4.

3 4

L. Schäfer/Richter/Schafheutle

5 6 7 8

§ 39a. Vgl. § 67 E 1927 sowie [Nr. 12] 4f. § 92a. Vgl. § 92 E 1927. § 92a ersetzt durch § 90 RStGB 1934 [Nr. 13]. § 145b. Vgl. § 366 E 1927. § 145b ersetzt durch § 9 1 Tierschutzges. v. 24.11.1933 (RGBl. I, S. 987). § 210a. Vgl. § 300 KE 1913; anders §§ 270 ff. E 1927; unrichtig E. Schäfer, DJZ 1933, Sp. 791, der sich auf das Vorbild des E 1927 beruft. §§ 219, 220. Vgl. §§ 255, 256 E 1927; s. auch §§ 218, 219 StGB 1953 und § 219b I Nrn. 1, 2 geltendes StGB. Zur Änderung des Jahres 1943 vgl. [Nr. 48] 2. § 223b. Ähnlich § 265 E 1927; vgl. § 223b geltendes Recht.

9 10

(1934), S. 11.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

gen (§ 226a)11. Der neu eingefügte § 226a entschied eine Reihe von Streitfragen, die sich an der rechtlichen Bedeutung der Einwilligung des Verletzten entzündet hatten 12 . Klarheit sollte damit - abgesehen von der Bedeutung für Heilbehandlungen und Sportverletzungen - u. a. auch über die als rechtspolitisch dringlich empfundenen Fragen der eugenisch indizierten Sterilisation oder der Kastration von Sittlichkeitsverbrechern geschaffen werden13: Diese Fragen gewannen unter nationalsozialistischen Vorzeichen an Bedeutung, ging es doch darum, daß "strafrechtlich der Weg für die Gesunderhaltung eines kräftigen und leistungsfähigen Volkes freigemacht" werden sollte14. Bei der Festungshaft, dem Landesverrat, der falschen Anschuldigung und bei der Untreue beschritt die Novelle in unterschiedlichem Ausmaß neue Wege. Die Festungshaft war nur noch zulässig, wenn die 'Tat sich nicht gegen das Wohl des Volkes gerichtet und der Täter ausschließlich aus ehrenhaften Beweggründen gehandelt hat" (§ 20). Die Ausfüllung dieser Volkswohlklausel im nationalsozialistischen Sinne wurde dabei als selbstverständlich vorausgesetzt15. Der Totalitätsanspruch des nationalsozialistischen Staates fand seinen deutlichen Ausdruck darin, daß bei den Landesverratsdelikten die Festungshaft durchgehend beseitigt wurde16. Anders als etwa der E 1925 hielt der nationalsozialistische Gesetzgeber ein Handeln aus ehrenhaften Motiven und damit eine "custodia honesta" bei politischen Verfehlungen gegen den neuen Staat für ausgeschlossen17. Im Bereich des Landesverrats stellte ferner ein gegenüber den früheren Entwürfen neuer § 92b das Anknüpfen oder Unterhalten von Beziehungen zu ausländischen Agenten unter Strafe, wenn die Mitteilung von Staatsgeheimnissen bezweckt wurde18. Die falsche Anschuldigung wurde völlig umgestaltet und verschärft, um den "Kampf... gegen das üble Denunziantentum" erfolgreich zu führen 19 . Solche Denunziationen nahmen, so eine zeitgenössische Erläuterung zur Novelle, nach der Machtergreifung überhand: Falsche Anschuldigungen behaupteten u. a. kommunistische Betätigung oder richteten sich gegen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens20. Der neue § 164 erweiterte den vergleichsweise einfach gebauten § 164 a. F. Absatz 1 n. F. lehnte sich dabei an § 192 E 1927 an, bezog aber die öffentliche Falschverdächtigung ein. 11 12 13 14 15

Vgl. § 264 E 1927 und das geltende Recht. Dazu Frank1* (1931), Vor 4. Abschn. Anm. III, S. 141. E. Schäfer/v. Dohnanyi (1936), S. 46; Pfundtner/Neubert/L. Schäfer (1933 ff.), II c 6 , 1 zu § 226a, S. 10. E. Schäfer, DJZ1933, Sp. 792. Zum "Wohl des Volkes" vgl. E. Schäfer/v. Dohnanyi (1936), S. 27; zur Ausfüllung der Volks- und Reichswohlformel durch nationalsozialistische Vorstellungen Stolleis (1974), S. 266 ff.

16 17

Vgl. Art. I Nr. 5 ff. (§§ 87 ff. RStGB). Der E 1925 setzte an die Stelle der Festungshaft die Einschließung, vgl. §§ 30, 71, und wollte deren Anwendungsbereich ausdehnen, vgl. Begr. S. 50 f. Vgl. § 47 E 1919 und Denkschrift zum E 1919, S. 55 f. ("in erster Reihe ein Strafmittel für politische Verfehlungen"); restriktiver als der E 1925 §§ 34, 72 E 1927 und Begr. S. 54 f.

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Vgl. § 90c RStGB 1934 [Nr. 13] bei Fn. 109. Vgl. E. Schäfer, DJZ 1933, Sp. 794.

20

Vgl. E. Schäfer, aaO; E. Schäfer/v. Dohnanyi (1936), S. 29 f.; Pfundtner/Neubert/L. II c 6 Anm. 1 zu Ziff. 12, S. 4.

Schäfer (1933 ff.),

Die erste Phase: 1933 bis 1935

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Weitergehend erfaßte der neue Absatz 2 das Aufstellen von Behauptungen tatsächlicher Art, wenn diese geeignet waren, ein behördliches Verfahren oder andere behördliche Maßnahmen herbeizuführen oder fortdauern zu lassen. Vorteilsabsicht führte nach Absatz 3 n. F. zur Strafschärfung, nach Absatz 4 n. F. konnte sogar auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden. Vor allem aber wurden die bedingt vorsätzliche und die leichtfertige falsche Anschuldigung pönalisiert (Abs. 5 n. F.). Die wichtigste21 Änderung der Novelle betraf den Untreuetatbestand, der durchgreifend umgestaltet wurde. Die Novelle gab unter Abkehr von der alten Kasuistik dem § 266 im Wege einer Kombination von Mißbrauchs- und Treubruchstheorie seine heute noch geltende Fassung. Die vorangegangenen Entwürfe hatten den Standpunkt der Mißbrauchstheorie bezogen22. Die Novelle verzichtete demgegenüber ganz "untheoretisch" auf eine Stellungnahme in dem Streit um das "Wesen der Untreue"23: Sie erfaßte den Mißbrauch der rechtlichen Befugnis, über fremdes Vermögen zu verfügen oder einen anderen zu verpflichten ebenso wie die Verletzung einer rechtlich oder kraft eines Treuverhältnisses bestehenden Vermögensfürsorgepflicht (Treubruch). Erklärtes Ziel der Neufassung war es, jenseits theoretischer Überlegungen, durch Kombination von Mißbrauchs- und Treubruchstheorie ein flexibles Instrument zur Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität zu schaffen. Dieses Ziel wurde erreicht: Der Gesetzeswortlaut war außerordentlich weit und namentlich die Treubruchsvariante ermöglichte es, nahezu jede Vertragsverletzung zu bestrafen 24 . Die "außerordentlich weite Fassung des Tatbestandes"25 war das Mittel der Wahl, "um das Schiebertum und die Korruption mit dem gebotenen Nachdruck bekämpfen"26 und schlechthin "alle strafwürdigen Fälle lückenlos erfassen zu können"27. In der Neufassung des § 266 brach sich damit, so jedenfalls das zeitgenössische Verständnis, längst vor der Analogienovelle der Gedanke des "nullum crimen sine poena" im Bereich der Vermögensdelikte Bahn: Dahm bezeichnete 1935 den § 266 in seiner Anerkennung des Treubruchgedankens als "einen revolutionären Einbruch neuer Rechtsgedanken in das alte Tatbestandsdenken". § 266 verdeutliche die neue Funktion des "Tatbestandes als Leitsatz und Richtlinie für die Rechtsprechung, nicht als Mittel zur Begrenzung der Strafgewalt"28. Eine weitere richtungweisende Änderung der Novelle lag in ihrer Strafrahmentechnik. Das Gesetz führte in den §§ 223b II, 263 IV und 266 II besonders schwere Fälle in das RStGB ein. 21 22

23

24 25 26 27 28

Vgl. Mezger (1936), S. 18: "Untreuenovelle". Vgl. §§ 348 E 1930 {Kahl) und E 1927,314 E 1925, 377 E 1919. Der E 1927 hatte freilich einen weitgefaßten Tatbestand der Veruntreuung anvertrauten Geldes oder Gutes vorgesehen (§ 348 II E 1927/E 1930). Zur Treubruchstheorie bekannte sich dann der E 1936, vgl. § 445 und Begr. S. 273 ff. sowie Dahm, in: Gürtner, BT2 (1936), S. 445 ff. Vgl. E. Schäfer, DJZ 1933, Sp. 794; E. Schäfer/v. Dohnanyi (1936), S. 52. Gemeint war also eine "echte" Kombination zweier Tatbestände, vgl. auch Heimann-Trosien, JZ 1976, 550 f.; a. M. Hübner, LK (1978 ff.), § 266 Rdn. 2 ff., der aus der Entstehungsgeschichte des § 266 eine Anerkennung der Treubruchstheorie ableiten will. Zum Streitstand etwa Frank18 (1931), § 266 Anm. I. Vgl. Begr. E 1962, S. 434. Zu den bestehenden Auslegungsschwierigkeiten vgl. nur LacknerχΊ (1987), §266 Anm. 2b, 4. E. Schäfer/v. Dohnanyi (1936), S. 53. E. Schäfer, DJZ 1933, Sp. 795. E. Schäfer/v. Dohnanyi (1936), S. 53. ZStaatW 95 (1935), 290.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

Die besonders schweren Fälle wurden in der Folgezeit zu einem wichtigen Bestandteil der Gesetzgebungstechnik. Die Technik als solche war nicht neu: Die besonders schweren Fälle tauchen seit 1919 in strafrechtlichen Nebengesetzen auf, erstmals in der Wuchergerichtsverordnung29, dann in zahlreichen wirtschaftsstrafrechtlichen Nebengesetzen und in den Republikschutzgesetzen30. Im RStGB finden sie sich erstmals 1926 im Abschnitt über den Zweikampf als zwingender Grund für die Anordnung einer sonst nur fakultativen Nebenstrafe (Verlust öffentlicher Ämter) 31 . Durch die Notverordnung vom 19. Dezember 1932 werden die besonders schweren Fälle in § 49b II RStGB (Mordverbindung) zur Anknüpfung für eine Änderung der Strafart. Das RStGB übernimmt dabei eine entsprechende Vorschrift aus dem Republikschutzgesetz32. Die Novelle verhalf also einer in der Gesetzgebung eingeleiteten Entwicklung zum endgültigen Durchbruch im RStGB und konnte dabei auf die vorangegangenen Entwürfe verweisen: Sämtliche Entwürfe, beginnend mit dem Vorentwurf von 190933, sahen besonders schwere Fälle vor, mochte auch ihre Häufigkeit und Einzelausgestaltung variieren. Zuletzt hatte die Regierungsvorlage von 1927 in weit über 50 Tatbeständen besonders schwere Fälle eingefügt und diese im Allgemeinen Teil näher zu charakterisieren versucht34. Während § 223b n. F. einen unbenannten besonders schweren Fall erhielt, wurden die besonders schweren Fälle der §§ 263 IV und 266 II näher erläutert. Die gleichlautenden Vorschriften bestimmten: "In besonders schweren Fällen tritt an die Stelle der Gefängnisstrafe Zuchthaus bis zu zehn Jahren. Ein besonders schwerer Fall liegt insbesondere dann vor, wenn die Tat das Wohl des Volkes geschädigt oder einen anderen besonders großen Schaden zur Folge gehabt oder der Täter besonders arglistig gehandelt hat".

Dieser Strafschärfungsgrund wurde in zahlreichen wirtschaftsstrafrechtlichen Nebengesetzen übernommen, namentlich für spezielle Untreuebestimmungen 35 . Die Technik der besonders schweren Fälle ist bemerkenswert und aufschlußreich: Die Novelle verzichtet auf eine allgemeine Bestimmung der besonders schweren Fälle36. Sie hebt zwingende Beispiele heraus, die nicht als abschliessend gedacht sind. Gleichzeitig werden die Beispiele sehr allgemein gehalten ("Volkswohl", "besonders großer Schaden"). Die gleichzeitige Einführung eines unbenannten und auch nicht beispielhaft erläuterten besonders schwe29

Vgl. erstmals Art. II, §§ 2 , 3 1 der WuchergerichtsVO v. 27.11.1919, RGBl. I, S. 1909.

30

§ 7 II RepSchG v. 21. 7. 1922, RGBl. I, S. 585; § 1 II RepSchG v. 25. 3. 1930, RGBl. I, S. 91. Weit. Beispiele bei Spohr, DJ 1934,1051; E. Schäfer/v. Dohnanyi (1936), S. 8. § 210a RStGB i. d. F. des Ges. v. 30.4.1926, RGBl. I, S. 201. Vgl. § 49b RStGB i. d. F. des Abschn. IV, § 9 Nr. 1 VO v. 19.12.1932, RGBl. I, S. 548 und dazu § 1 II RepSchG 1930 (Fn. 30), sowie E. Schäfer/v. Dohnanyi (1936), S. 3 f. § 84 VE 1909 und dazu Begr. S. 323. Weitergehend § 89 Gegenentwurf 1911 und dazu Begr. S. 118 ff. Vgl. ferner § 117 E 1919, § 76 E 1925 und Begr. S. 54. Vgl. § 77 E 1927 und Begr. S. 57 f. und die Zusammenstellung S. 58 Fn. 1; übereinstimmend § 77 E 1930 (Kahl). Der E 1936 verwendet in weitem Umfang (überwiegend unbenannte) besonders schwere Fälle, vgl. Begr. S. 49; vgl. auch § 62 E 1962 Begr. S. 183 f. Vgl. Art. III (§ 81a II GmbHGes.); Art. IV (u. a. §§ 95 II Börsenges., 312 III HGB) und Art. V; dazu etwa Spohr, DJ 1934,1051. Anders die vorangegangenen Entwürfe, vgl. Fn. 38.

31 32 33 34

35 36

Die erste Phase: 1933 bis 1935

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ren Falles in § 223b II η. F. verdeutlicht die Tendenz zur Freisetzung des richterlichen Ermessens von gesetzlichen Bindungen: Die Beispiele in §§ 263 IV, 266 II tragen nur instruktionellen Charakter 37 . Sie weisen dem Richter den Weg, ohne ihn festlegen zu wollen. Inhaltlich verdeutlichen die Beispiele, daß sowohl äußerlich-tatbezogene (besonders großer Schaden) Umstände als auch die innere Tatseite (besondere Arglist) je für sich allein zum Verlassen des Regelstrafrahmens führen können. Im ganzen geht damit das Änderungsgesetz für den betroffenen Bereich erheblich weiter als zuletzt der E 1927. Dieser hatte, ähnlich wie schon der Vorentwurf 1909, eine allgemeine Charakterisierung der im Besonderen Teil verwendeten Strafschärfungen für besonders schwere Fälle versucht. § 77 E 1927 forderte, daß "der verbrecherische Wille des Täters ungewöhnlich stark und verwerflich und die Tat wegen der besonderen Umstände ihrer Begehung oder wegen ihrer verschuldeten Folgen besonders strafwürdig sein" müsse 38 . Von dieser vergleichsweisen restriktiven Tendenz ist die Novelle weit entfernt. Sie läßt die Bereitschaft erkennen, die nähere Ausformung des besonders schweren Falles dem richterlichen Ermessen zu überlassen. Zum "benannten" Beispiel der Volkswohlklausel (§§ 263 IV, 266 II) entwickelte sich eine reichhaltige Kasuistik 39 . Der "besonders große Schaden" wurde insbesondere bei Schädigungen nationalsozialistischer Wohlfahrtseinrichtungen bejaht und konnte auch ideeller Art sein 40 . Ideelle Schädigungen sollten, eine bezeichnende "Vergeistigung" des Schadensbegriffs, namentlich in der Gefährdung des Vertrauens in nationalsozialistische Einrichtungen (Volkswohlfahrt) liegen 41 . Obwohl die Novelle, wie eingangs hervorgehoben, nur "einige wenige besonders aktuelle Fragen" regeln wollte und ganz verschiedene Sachbereiche betraf, läßt sich in ihr ein bestimmender Grundzug ausmachen: Es ist die Tendenz zur Auflockerung der Gesetzesbindung des Richters. Die Änderungen der Strafvoraussetzungen werden in den verschiedensten Bereichen von ausfüllungsbedürftigen Wertbegriffen durchzogen: Beim Staatsschutz geht es um das "Wohl des Reichs" (§ 92a) und die Tätigkeit "im Interesse einer ausländischen Regierung" (§ 92b), wegen Tierquälerei wird bestraft, wer ein Tier "roh mißhandelt oder absichtlich quält" (§ 145b), wegen Mißhandlung Schutzbefohlener (§ 223b) wer diese "quält oder roh mißhandelt" oder sie durch "böswillige Vernachlässigung" seiner Sorgepflicht gesundheitlich schädigt. Für die Einwilligung kommt es auf die "guten Sitten" (§ 226a) an; die außerordentliche Weite des Untreuetatbestandes (§ 266) wurde bereits betont. Auf der Rechtsfolgenseite wird die gleiche Tendenz wirksam: Bei der Bemessung der Rechtsfolgen taucht das "Wohl des Volkes" (§§ 20, 37

38

Vgl. dazu VE 1909, Begr. S. XI, wonach das Bestreben nach größerer Elastizität des Strafrechts Vorschriften mit Weisungscharakter ("instruktionellem Charakter") nicht nur ermögliche, sondern "manchmal geradezu unentbehrlich" machen könne. Dazu Begr. S. 57 f., Hervorhebung aaO. Vgl. auch § 84 VE 1909 und Begr. S. 323; § 118 KE 1913 und übereinstimmend § 117 E 1919, § 76 E 1922 (Radbruch), § 76 E 1925. Der Gegenentwurf 1911 ging erheblich weiter: Er sah einen allgemeinen Strafschärfungsgrund für besonders schwere Fälle vor und ließ alternativ verschuldete bedeutende Tatfolgen oder einen besonders starken und verwerflichen verbrecherischen Willen genügen, vgl. § 89 und dazu Begr. S. 118 ff. - Zur Regelbeispielstechnik als Kompromiß zwischen Einzelfallgerechtigkeit und Rechtssicherheit E 1962, Begr. S. 184 f.

39

Vgl. etwa Kohlrausch /Lange3* (1943), § 263 Anm. 8; E. Schäfer/v. Dohnanyi (1936), S. 48 f.; Schwarz9

40 41

(1940), § 266 Anm. 6 und namentlich die Darstellung bei Stolleis (1974), S. 274 ff. mit ausf. Nachw. Vgl. RGSt. 73,172 ff.; Kohlrausch/Lange1* (1943), aaO. So RGSt. 73,172,175.

82

2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

263 IV, 266 II) auf, das Strafzumessungsrecht wird durch die Einführung der besonders schweren Fälle (§§ 223b II, 263 IV, 266 II u. a. m.) dynamisiert. Die im politischen Strafrecht der Notverordnungen hervorgetretene Tendenz zur Auflockerung der Tatbestände und zur Ausweitung der Strafrahmen wird also in das RStGB und in den nicht-politischen Teil des Strafrechts hinein verlängert. Das eingängigste Beispiel bietet die Neufassung des § 266, in der sich elastische Tatbestandsformulierung und unbestimmte Strafänderung zu einem flexiblen Instrument der Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität verbinden. In diesen Änderungen wird eine Veränderung der Gesetzesfunktion vom Mittel zur Begrenzung der Strafgewalt zur Richtlinie für die Rechtsprechung sichtbar. Es mag sich dabei, wie Dahm zu § 266 meinte, in der Tat um einen "revolutionären Einbruch" in das toibestandsgebundene Strafrecht handeln42. Dieser "Einbruch" kann sich freilich in weiten Bereichen, wie die Darstellung gezeigt hat, auf der Basis geleisteter Vorarbeiten vollziehen. Dabei zeigt sich der nationalsozialistische Gesetzgeber entschlossen, gebahnte Wege weiter zu beschreiten. In diesem Sinne wird sich die Novelle als "Vorfrucht" der späteren Gesetzgebung erweisen: Die veränderte Gesetzesfunktion wird in der späteren Gesetzgebung nachhaltig bestätigt. [Nr. 9] Gesetz gegen Verrat der Deutschen Volkswirtschaft vom 12. Juni 1933 Das Gesetz1 wurde "geboren in dem Gedanken der Volksgesamtheit2: Es übertrug mit der plakativen Bezeichnung "Verrat der Deutschen Volkswirtschaft" Kategorien des nationalsozialistischen Staatsschutzstrafrechts ("Volksverrat") auf das Verschweigen von ausländischen Vermögenswerten oder Devisenbeständen3. Die vergleichsweise schärferen und drakonischen Strafdrohungen für deutsche Staatsangehörige (Treupflichtverletzung!) unterstreichen den Verratscharakter, dem auch die Zuständigkeit der Sondergerichte (§ 9) für die Aburteilung von Verstößen gegen das Gesetz entspricht. Den Anknüpfungspunkt für die Strafdrohungen des Gesetzes bildete eine in den §§ 1 bis 4 statuierte Anzeigepflicht. Die anzeigepflichtigen Personen (§ 4) hatten den Finanzbehörden bislang unbekannt gebliebenes Vermögen mit Auslandsbezug anzuzeigen. Die Anzeigepflicht galt für alle im Ausland befindlichen Vermögensstücke im Gesamtwert von mehr als 1000,-Reichsmark oder von Devisen im Wert von mehr als 200,-- Reichsmark (§ 11). Die Anzeigefrist wurde zunächst auf den 31. August 1933 festgesetzt (§ 2). Bei Nichterfüllung der Anzeigepflicht drohte deutschen Staatsangehörigen wegen Verrats der Deutschen Volkswirtschaft bei Vorsatz regelmäßig Zuchthaus nicht unter drei Jahren, bei mildernden Umständen Zuchthaus von einem bis zu zehn Jahren (§ 8 I S. 1). Nach § 8 I S. 2 war neben Zuchthausstrafe zwingend auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte zu erkennen. Die fahrlässige Zuwiderhandlung war mit Gefängnis nicht unter einem Jahr zu bestrafen (§ 8 II). Anzeigepflichti-

42 1

2 3

Vgl. oben Fn. 28. RGBl. I, S. 360. Reichsregierungsges. Zeichnung: Rk Adolf Hitler, Reichsfinanzminister Graf Schwerin von Krosigk, Reichswirtschaftsminister Hilgenberg, RMdJ Gärtner. Zu den Kabinettsberatungen vgl. Minuth (1983), Dok. Nr. 127, S. 449 ff. und Dok. Nr. 156, S. 551 ff. So Staatssekretär Reinhardt (Finanzministerium) bei Pfundtner/Neubert/Herting (1933 ff.), V a 5, S. 1 ff. Vgl. Schroeder (1970), S. 156 und § 90f RStGB 1934: Volksverrat, vgl. [Nr. 13] 3a.

Die erste Phase: 1933 bis 1935

83

gen Ausländern drohte bei vorsätzlicher oder fahrlässiger Verletzung der Anzeigepflicht Gefängnisstrafe (§ 8 III). Das Gesetz diente der Durchsetzung fiskalischer Interessen, die als Interessen des Volksganzen geschützt wurden und deren Verletzung einen "Verrat" bedeuten sollte. Bemerkenswert ist nicht nur diese Einkleidung des Gesetzes, aufschlußreich ist vor allem auch, wie über das nach den gesetzlichen Wertungen hochgradig strafwürdige Delikt disponiert wurde: Zunächst verlängerte eine Verordnung der zuständigen Ressortminister, zu deren Erlaß § 10 des Gesetzes ermächtigte, die Anzeigefrist bis zum 31. Oktober 19334. Ein strafjuristisches Kunststück vollbrachte dann das Steueranpassungsgesetz vom 16. Oktober 19345: Die Anzeigefrist wurde rückwirkend zum Ablauf des 31. Oktober 1933 bis zum 31. Dezember 1934 verlängert (§ 22). Anhängige Verfahren wurden eingestellt (§§ 28 I, 29 I), noch nicht verbüßte Strafen erlassen (§§ 28 II, 29 II), erlassene oder bereits verbüßte Strafen getilgt (§ 33). Der Gesetzgeber traf diese Dispositionen aus offenbar verschiedenartigen Zweckmäßigkeitsüberlegungen: Zwar habe das Gesetz die Erwartungen im allgemeinen erfüllt und Steueraufkommen wie Devisenbestände vermehrt6. Andererseits sei das Gesetz "nicht in allen Volkskreisen"7 bekannt und die "Zahl der Zuwiderhandlungen größer ... als erwartet". So habe sich die Reichsregierung entschlossen, "erneut die Möglichkeit zu geben", die Anzeigepflicht zu erfüllen8 und, so wäre zu ergänzen, das Staatsvermögen zu mehren. Aus diesem Ablauf wird deutlich, daß selbst schwerste Strafdrohungen als flexible Instrumente zur Erreichung bestimmter Ziele der "Volksgesamtheit" - selbstverständlich konkretisiert durch die politische Führung - dienen: Strafrecht wird nach finanzpolitischer Opportunität verwaltet. [Nr. 10] Gesetz gegen die Neubildung von Parteien vom 14. Juli 1933 Das Parteienneubildungsgesetz1 anerkannte die NSDAP als einzige politische Partei Deutschlands (§ 1) und stellte das Unternehmen, den organisatorischen Zusammenhang einer anderen Partei aufrechtzuerhalten oder eine neue Partei zu gründen, unter Strafe (§ 2, Zuchthaus bis zu drei Jahren). Die Bedeutung des Gesetzes für das Strafrecht wurde namentlich in der mittelbaren Änderung des Verfassungs- und Hochverratsbegriffs gesehen2. Definitiv bestätigt wurde diese Änderung durch das Gesetz zur Sicherung der Einheit von Partei und Staat vom 1. Dezember 4 5

6 7 8 1

2

Vgl. VO v. 26.8.1933, RGBl. I, S. 596. RGBl. I, S. 925. Reichsregierungsges. Zeichnung: Wie Fn. 1, jedoch an Stelle Hilgenbergs der (geschäftsführende) Reichswirtschaftsminister Schacht. Näher zur Änderung des Volksverratsges. durch das Steueranpassungsges. Turowski, DJ 1934, 1465 ff.; Pfundtner/Neubert/Herting/Turowski (1933 ff.), V a 5, S. 27 ff. Turowski, DJ 1934,1465; Pfundtner/Neubert/Herting/ Turowski (1933 ff.), V a 5, S. 28. Pfundtner/Neubert/Herting/Turowski (1933 ff.), V a 5, S. 28. AaO, S. 27. RGBl. I, S. 479. Reichsregierungsges. Zeichnung: Rk Adolf Hitler, RMdl Frick, RMdJ Gärtner, Behandlung im Kabinett vgl. Minuth (1983), Dok. Nr. 193, S. 661 ff. - Aufgehoben durch MRG Nr. 1, Art. I lb. Vgl. Schroeder (1970), S. 155 unter Hinweis auf v. Weber, GS 104 (1934), 229. Der Vortrag v. Webers stammt freilich aus der Zeit nach dem Einheitsges.

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2. Teil: D i e Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

19333, das im Schrifttum als Staatsgrundgesetz bezeichnet wurde4. Die Strafvorschrift des § 2 hatte vor diesem Hintergrund nur geringe Bedeutung5: In der Aufrechterhaltung anderer Parteien sah die Rechtsprechung nämlich einen Angriff auf die Verfassung des nationalsozialistischen Staates und damit die Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens nach § 83 II RStGB 19346. Damit wurde der gegenüber schwereren Strafvorschriften subsidiäre § 2 Parteienneubildungsgesetz zur bloßen Auffangvorschrift für Fälle fehlenden hochverräterischen Vorsatzes7. [Nr. 11] Gesetz zur Gewährleistung des Rechtsfriedens vom 13. Oktober 1933 Das Gesetz1 ging auf eine Initiative des Preußischen Ministerpräsidenten Göring zurück2. Es erweiterte namentlich den Organschutz mit der Begründung, daß Träger der nationalsozialistischen Bewegung und die Strafverfolgungsorgane "immer noch fast täglich das Opfer politischer Überfälle" würden. Ferner richtete sich das Gesetz gegen staatsgefährdende Bestrebungen bestimmter "Emigrantenkreise"3. § 11 drohte mit Todesstrafe, lebenslangem oder Zuchthaus bis zu 15 Jahren; der Anwendungsbereich der Todesstrafe wurde durch die Vorschrift erheblich erweitert. Dem Organschutz diente § 1 I Nr. 1, der den Personenkreis des § 5 II Nr. 1 SchutzVO4 stark erweiterte: § 11 Nr. 1 erfaßte das Unternehmen der Tötung von Richtern, Staatsanwälten und Polizeibeamten, Wehrmachtsangehörigen oder Angehörigen der SA oder SS oder von Amtsträgern der NSDAP "aus politischen Beweggründen oder wegen ihrer amtlichen oder dienstlichen Tätigkeit", das Auffordern und das Erbieten hierzu, die Annahme eines solchen Erbietens oder sonst die Verabredung zu einer solchen Tötung. Der "ins Unermeßliche"5 gesteigerte Organschutz war zunächst offenbar als Notmaßnahme gedacht6, wurde aber zum Dauerrecht. Mit der Gleichstellung von Amtswaltern des Staates und der Partei leistete das Gesetz im übrigen auf seine Weise einen Beitrag zur Herstellung der Einheit von Partei und

3

RGBl. I, S. 1016.

4

Vgl. etwa Hube? (1939), S. 55, 289; Koellreutter (1935), S. 19; Frick, in: H. Frank, NS-Handb 2 (1935), S. 346 (mit der Tendenz, schon dem Parteienneubildungsges. diese Bedeutung beizulegen); E. Schäfer/v. Dohnanyi (1936), S. 131. Vgl. aber die einschlägige Entscheidung RGSt. 6 8 , 1 5 (Urt. v. 22. 1.1934), aber auch dort schon den Hinweis auf § 6 VerratsVO (später § 85 RStGB 1934), vgl. [Nr. 3], [Nr. 13],

5 6

Eingehende Nachw. bei Parrisius, LK 6 (1944), § 83 Anm. II; zu § 83 II RStGB 1934 vgl. [Nr. 13] 2b.

7

Vgl. Parrisius, LK 6 (1944), § 83 Anm. VII.

1

RGBl. I, S. 723. Reichsregierungsges. Zeichnung: Wie [Nr. 10] Fn. 1, jedoch Gilrtner vor Frick·, zur Behandlung im Kabinett vgl. Minuth (1983), Dok. Nr. 224, S. 883 f. - Aufgehoben durch KRG Nr. 11 Art. II lb.

2

Vgl. Pfundtner/Neubert/v.

Dohnanyi (1933 ff.), II c 8, S. 1; Minuth (1983), S. 883 Anm. 18 mit Nachw.

3

Vgl. Pfundtner/Neubert/v.

Dohnanyi,

4

Dazu oben [Nr. 2],

5

Vgl. Schroeder (1970), S. 156.

6

Vgl. Kerrl, Denkschrift (1933), S. 35 f.; Ritter, JW1933,2626.

aaO.

Die erste Phase: 1933 bis 1935

85

Staat7. Parallel zu § 11 Nr. 1 schützte § 11 Nr. 2 Schöffen oder Geschworene gegen Angriffe wegen ihrer Tätigkeit und Zeugen sowie Sachverständige gegen Angriffe wegen einer in Erfüllung ihrer prozessualen Pflicht gemachten Bekundung. Gegen Bestrebungen von "Emigrantenkreisen" richtete sich das Gesetz im übrigen. § 1 1 Nr. 3 bestrafte denjenigen, der Schriften hochverräterischen Inhalts im Ausland herstellte, verbreitete oder zur Verbreitung bereithielt, § 11 Nr. 4 erfaßte das Unternehmen der Einfuhr solcher Schriften und ihre Verbreitung im Inland. Die verschärfte Strafe war ferner für sonstige im Ausland begangene Hochverratsverbrechen ( § 1 1 Nr. 3) und die im Inland begangene Förderung einer solchen Tat ( § 1 1 Nr. 4) vorgesehen. Die Tatbestände des § 1 I Nr. 3 und 4 wurden durch die Verratsnovelle in das RStGB eingearbeitet8. § 2 stellte ergänzend das Unternehmen der Einfuhr von Schriften unter Zuchthausstrafe bis zu fünf Jahren, wenn deren Inhalt gegen das Gesetz gegen die Neubildung von Parteien (Nr. I)9, die §§ 110 bis 112 RStGB (Nr. 2) oder gegen § 3 der HeimtückeVO (Nr. 3)10 verstieß, sofern die Tat "in der Absicht der Verbreitung zu staatsgefährdenden Zwecken erfolgte". Unter Staatsgefährdung verstand man dabei die Eignung zur Infragestellung der inneren staatlichen Ordnung wie der äußeren Machtstellung des Reiches11. § 3 erklärte die Sondergerichte für zuständig12, vorbehaltlich einer anderweitig begründeten Zuständigkeit des Reichsgerichts13 oder der Oberlandesgerichte.

7

8 9 10

11 12 13

Vgl. Pfundtner/Neubert/v. Dohnanyi (1933 ff.), II c 8, S. 2. - Der nationalsozialistische Kern dieses Gesetzes bestand nach Schorn (1963) gerade darin, daß Parteiangehörige "eines besonderen, nicht jedem Staatsbürger zugebilligten Rechtsschutzes gewürdigt wurden" (S. 119). Vgl. § 83 ΠΙ Nr. 4 RStGB 1934, näher [Nr. 13] 2b cc. Vgl. oben [Nr. 10]. Vgl. zur HeimtückeVO [Nr. 4], An die Stelle des § 3 HeimtückeVO trat ab 30.12. 1934 im Wege der "Rechtsanalogie" die entsprechende Vorschrift des § 1 Heimtückeges. [Nr. 15], dazu Schwarz1 (1939), Anh. Nr. 11, § 2 Anm. 2; E. Schäfer/v. Dohnanyi (1936), S. 277 Fn. 4; Pfundtner/Neubert/v. Dohnanyi (1933 ff.), II c 8, S. 12. Α. M Schänke2 (1944), S. 787: § 2 Nr. 3 sei "gegenstandslos geworden". Vgl. E. Schäfer/v. Dohnanyi (1936), S. 278. Aufgehoben durch § 21 II Nr. 12 VO v. 13. 3. 1940, RGBl. I, S. 493; ab 1940 war die ZuständigkeitsVO v. 21.2.1940, RGBl. I, S. 405 maßgebüch (§ 11). Zur Zuständigkeit des Volksgerichtshofs (Hoch- und Landesverrat) Art. III § 3 Verratsnovelle [Nr. 13]·

86

2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

[Nr. 12] Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung vom 24. November 1933 Das sog. Gewohnheitsverbrechergesetz1 brachte eine grundlegende Neugestaltung des strafrechtlichen Sanktionensystems. Es ermöglichte, so die Würdigung Eberhard Schmidts, "nach den Grundsätzen der bisherigen Entwürfe ein kriminalpolitisch zielbewußtes Vorgehen gegen den Zustandsverbrecher auf der Grundlage eines zweispurigen Systems der strafrechtlichen Unrechtsfolgen"2. Eberhard Schmidt rechnet das Gesetz deshalb zum rechtsstaatlichen Teil der Strafrechtsentwicklung3. Der Nachkriegsgesetzgeber hat das Gewohnheitsverbrechergesetz als rechtsstaatsverträglich anerkannt und im StGB 1953 die Bestimmungen der Novelle im wesentlichen übernommen4. Eine tiefgreifende Umgestaltung erfolgte erst 1969 durch das 1. und 2. Strafrechtsreformgesetz5. 1. Grundlagen Das Gewohnheitsverbrechergesetz wurde in der amtlichen Begründung - ähnlich wie die Novelle vom 26. Mai 1933 - als Sofortmaßnahme in Vorwegnahme der eigentlichen Strafrechtsreform ausgewiesen: Es gelte, "fühlbare Lücken des geltenden Rechts zu schließen und vordringlichen Forderungen auf Schaffung gesetzlicher Grundlagen für eine wirksame Verbrechensbekämpfung nachzukommen, deren Erfüllung bis zum Inkrafttreten eines neuen deutschen Strafgesetzbuchs nicht mehr hinausgeschoben werden kann". Ziel des Gesetzes war es, "die Autorität des Staates gegenüber dem Rechtsbrecher zu steigern und der Strafrechtspflege stärkere und wirksamere Waffen als bisher gegen das gemeinschädliche Verbrechertum zur Verfügung zu stellen". Im Vordergrund sollte der "Schutz der Volksgemeinschaft gegen verbrecherische Schädlinge" stehen6. Dementsprechend traten als "liberalistisch" abqualifizierte Hemmungen vor "kraftvollen Eingriffen der Staatsgewalt" gegenüber dem "verbrecherischen oder minderwertigen Rechtsbrecher" als überholt zurück7. Diese Leitgedanken bestimmten das Verhältnis des Gewohnheitsverbrechergesetzes zu den vorangegangenen Entwürfen: Das Gesetz wollte einerseits auf der bisherigen Reformar1 2 3 4

RGBl. I, S. 995. Reichsregierungsges. Zeichnung: Rk Adolf Hitler, RMdJ Gürtner, RMdl Frick; zur Behandlung im Kabinett Minuth (1983), Dok. Nr. 244, S. 946 f. 1965, S. 431. 1965, S. 430 f. und schon oben 1. Teil A 1 3 a . Zum 3. StÄG (Bereinigungsges.) schon 1. Teil A I 3d bei Fn. 146. Nicht übernommen wurde § 42k (Entmannung - dazu 3e -, aufgehoben durch Art. I KRG Nr. 11).

5

Dazu Lackner/Maassen5 (1969), Vor § 1 Anm. 3f. Beseitigt wurden durch das 1. StrRG: § 20a (dazu 2) durch Nr. 6 und dazu BT-Dr V/4094, S. 8 f.; § 42d (Arbeitshaus, dazu 4c) durch Nr. 17 und dazu BT-Dr V/4094, S. 17 f.; § 245a (Besitz von Diebeswerkzeugen, dazu 5c) durch Nr. 67 und dazu BTDr V/4094, S. 36 i. V. m. Begr. E 1962, S. 400. Die Sicherungsverwahrung (dazu 3) wurde erheblich eingeschränkt, vgl. die Neufassung des § 42e durch Nr. 18 und dazu BT-Dr V/4094, S. 18 ff.

6

Alle Zitate Amtl. Begr., Deutscher Reichsanzeiger Nr. 277 v. 27.11.1933, S. 2. Zu den Leitgedanken vgl. etwa auch L. Schäfer/Wagner/Schafheutle (1934), S. 35 f.; Pfundtner/Neubert/Rietzsch (1933 ff.), II c 10, S. 1 f.; Schafheutie, JW 1933,2795 f.; E. Schäfer/v. Dohnanyi (1936), S. 66 ff. und E. Schäfer, in: H. Frank, NS-Handb 2 (1935), S. 1367.

7

Vgl. Pfundtner/Neubert/Rietzsch,

aaO, S. 1.

Die erste Phase: 1933 bis 1935

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beit, die als "wertvoll"8 anerkannt wurde, aufbauen. Als Vorlage dienten namentlich die Entwürfe von 1927 und 1925, auf deren Begründung zu den übernommenen Vorschriften die Motive zur Novelle ausdrücklich verwiesen. Andererseits führten der vorrangige "Schutz der Volksgemeinschaft" und das "Ziel einer wirksamen Verbrechensbekämpfung", dazu, daß das Gewohnheitsverbrechergesetz, so die Einschätzung der amtlichen Begründung, wesentlich über die früheren Entwürfe hinausging9. Die allgemeine Zielrichtung des Gesetzes lautete also: Verwertung und Umbau der früheren Entwürfe entsprechend den Erfordernissen einer wirksamen Verbrechensbekämpfung, die den "Schutz der Volksgemeinschaft" über die Individualinteressen des "Verbrechers" stellt10. Im Zentrum des Gesetzes stand der Kampf gegen "gefährliche Gewohnheitsverbrecher", wie der Gesetzestitel plakativ zum Ausdruck brachte. Das Gesetz enthielt einmal Strafvorschriften, namentlich eine Strafschärfung für den "gefährlichen Gewohnheitsverbrecher" (Art. 1). Es stellte zum zweiten den Gerichten "Maßregeln der Sicherung und Besserung" zur Verfügung, insbesondere die Sicherungsverwahrung für "gefährliche Gewohnheitsverbrecher" (Art. 2). Ein dritter Teil (Art. 3) brachte durch die Neuregelung erforderliche Anpassungen, aber auch Regelungen von selbständiger Bedeutung. Flankiert wurde das Gewohnheitsverbrechergesetz von einem Ausführungsgesetz11, das die Konsequenzen für das Verfahrensrecht zog und hier nicht näher zu behandeln ist. Im Zentrum der folgenden Ausführungen stehen die Strafschärfung (dazu 2) und die Sicherungsverwahrung (dazu 3) gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher. Die weiteren Maßregeln der Sicherung und Besserung (dazu 4) sowie die neu eingefügten Vorschriften im übrigen (dazu 5) werden vorgestellt. Die Schlußbetrachtung versucht das kriminalpolitische Gesamtergebnis der Novelle zu würdigen (dazu 6). 2. Die Strafschärfung für gefährliche Gewohnheitsverbrecher (§ 20a) § 20a12 brachte eine empfindliche Strafschärfung für "gefährliche Gewohnheitsverbrecher": Ihnen drohte beim Vorliegen bestimmter objektiver Voraussetzungen (Vorverurteilungen oder Vortaten) Zuchthausstrafe bis zu fünf, und, wenn die neu abzuurteilende Tat Verbrechen war, Zuchthausstrafe bis zu 15 Jahren 13 . Eine für die Tat angedrohte schwerere Strafe hatte Vorrang. § 20a war dabei nur ein Mittel des "Kampfes" gegen Gewohnheitsverbrecher: Neben die Strafschärfung trat die Sicherungsverwahrung, die eine Verurteilung nach § 20a voraussetzte. § 20a hatte damit eine Doppelfunktion als Strafschärfungsregel und als Maßregelvoraussetzung: Auch der Anwendungsbereich der Sicherungsverwahrung wurde von der Auslegung und Anwendung des § 20a begrenzt. 8

9 10 11 12 13

Vgl. E. Schäfer, in: H. Frank, NS-Handb2 (1935), S. 1367; vgl. aber auch Rietzsch, DJ 1938, 136 ff., 140 f., der die "Fehler" der Entwürfe eingehend darstellt und die Eigenständigkeit des GewVerbrG scharf akzentuiert, damit freilich das Vorhandensein von Vorarbeiten nicht bestreitet. Amtl. Begr. (Fn. 6), S. 2. Zur Entwicklung der Reformarbeiten etwa Kestel (1935), S. 55 ff. Wie Fn. 6. Ges. v. 24.11.1933, RGBl. I, S. 1000 und dazu L. Schäfer/fVagner/Schafheutle (1934), S. 232 ff. Aufgehoben durch 1. StrRG (Fn. 5). An Stelle des § 20a sah das 1. StrRG eine allgemeine Rückfallschärfung vor (§ 17, vgl. jetzt § 48; zur Begr. vgl. BT-Dr V/4094, S. 7). Ebenso die Strafdrohungen in §§ 78 E 1927,76 E 1925.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

a) Zur Systematik Die spätere ständige Rechtsprechung sah in § 20a keinen selbständigen Tatbestand. Das Reichsgericht legte der Vorschrift den Charakter einer Strafzumessungsregel bei und sah die Verurteilung nach § 20a als nicht zur Schuldfrage gehörig an14. Folgerungen für die Verbrechenseinteilung wurden dementsprechend abgelehnt: Der Deliktscharakter sollte sich nach dem Tatbestand der in Frage kommenden Straftat bestimmen15. b) Objektive Voraussetzungen a a ) § 20a I § 20a I brachte eine zwingende16 Strafschärfung. In objektiver Hinsicht wurden, übereinstimmend mit den früheren Entwürfen, zwei rechtskräftige Vorverurteilungen und eine neue Vorsatztat gefordert. Die Vorverurteilungen waren im Gesetz näher qualifiziert. Sie mußten wegen eines Verbechens oder vorsätzlichen Vergehens ergangen sein und jeweils auf eine Mindeststrafe von sechs Monaten Gefängnis lauten17. Gesamtstrafen wertete die Rechtsprechung als eine Vorverurteilung18. Die neue Tat mußte nach dem zweiten rechtskräftigen Urteil liegen und nach der Rechtsprechung Verbrechen oder vorsätzliches Vergehen sein19. bb) § 20a II Die fakultative Strafschärfung des Absatzes 2 sah vom Erfordernis bestimmter Vorverurteilungen ab. Zur Verurteilung nach § 20a II reichte es in objektiver Hinsicht aus, wenn mindestens drei vorsätzliche Taten begangen waren: Das Gericht konnte unter dieser Voraussetzung, falls es sich um einen "gefährlichen Gewohnheitsverbrecher" handelte, für jede Einzeltat die Strafe ebenso verschärfen wie in den Fällen des Absatzes 1; entsprechend war dann auch der Weg zur Anordnung der Sicherungsverwahrung frei. Das Gewohnheitsverbrechergesetz ging mit dieser Auflockerung der objektiven Voraussetzungen der Strafschärfung und der Sicherungsverwahrung entschieden weiter als die vorangegangenen Entwürfe. Der E 1927 hatte noch geglaubt, um "die Gewohnheitsverbrechereigenschaft ohne die Stütze früherer Verurteilungen festzustellen", reichten "die gegenwärtig zur Verfügung stehenden Mittel psychologischer Erkenntnis in der Regel schwerlich aus"20. Im Gegensatz dazu stellte die amtliche Be14 15 16 " 18

Vgl. RGSt. 68, 385, 389 ff. und dazu Olshausen12 (1942), § 20a Anm. A 2a, c; Nagler, LK6 (1944), § 20a Anm. 12f. jeweils mwN. Vgl. RGSt. 70, 289; 73, 111, 113 sowie Olshausen12 (1942), § 20 Anm. A 2d mwN zur Rspr. und zur Gegenmeinung. Anders § 78 E 1927: fakultativ, ebenso § 76 E 1925. Vgl. §§ 78 E 1927,76 E 1925. Grundlegend RGSt. 68,149. Weit. Nachw. bei Topp (1940), S. 17; Nagler, LK6 (1944), § 20a Anm. III

Al. 19

Näher Nagler, LK6 (1944), § 20a Anm. III A 2 mit Nachw.; vgl. auch Topp, aaO.

20

Begr. S. 58. Ebenso Begr. E 1925, S. 55. Vgl. auch die in objektiver Hinsicht engeren - fünf Vorverurteilungen - §§ 120 (Strafschärfung), 100 (Sicherungsverwahrung) E 1919, §§ 121,106 KE 1913 und dazu Denkschrift E 1919, S. 106. Vgl. auch § 89 V E 1909, der gegen gewerbs- und gewohn-

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gründung zum Gewohnheitsverbrechergesetz die praktische Erfahrung heraus, wonach es Gewohnheitsverbrechern gelingen könne, über Jahre hinaus unentdeckt zu bleiben. Mit der "Sicherheit des Staates" sei es unvereinbar, hier von den "Mitteln der Unschädlichmachung" allein wegen fehlender Vorverurteilungen abzusehen21. Der Vorrang staatlicher Interessen, des "Schutzes der Volksgemeinschaft", führte hier also zu einer erheblichen Verschärfung. Nach dem weiten Wortlaut des § 20a II hätten sogar vorsätzliche Übertretungen als objektive Voraussetzungen der Strafschärfung genügt. Die Rechtsprechung forderte jedoch in Anlehnung an die Voraussetzungen des Absatzes 1 das Vorliegen dreier vorsätzlicher Verbrechen oder Vergehen22. Von wesentlicher Bedeutung für die Anwendungsbreite des § 20a II war die Behandlung gewerbsmäßig begangener und fortgesetzter Taten. Das Reichsgericht behandelte die sog. Sammelstraftaten (Gewerbsmäßigkeit der Begehung als Strafschärfungsgrund) ebenso wie die Fortsetzungstat zunächst als eine Tat im Sinne des § 20a II23. Damit war es auch bei jahrelangen Serientaten "nicht möglich, Sicherungsverwahrung anzuordnen ... wenn die Gefahr der Wiederholung ... auch noch so nahe liegt und wenn die Gefahr für die Volksgemeinschaft noch so groß ist", wie Rietzsch 1935 kritisierte24. Die Wende wurde 1938 eingeleitet, in dem Jahr also, in dem das Reichsjustizministerium als Reaktion auf vorbeugende Verbrechensbekämpfungsmaßnahmen der Polizei die Anordnung der Sicherungsverwahrung zu forcieren suchte25. Zunächst entschied sich am 21. April 1938 der Große Strafsenat für eine Aufspaltung der Sammelstraftat (gewerbsmäßige Abtreibung). Die prozessualen Folgen ihrer strafrechtlichen Einheit wie die Folgen für § 20a II seien "nicht mehr mit einer dem gesunden Volksempfinden entsprechenden Rechtspflege vereinbar"26. Für die Fortsetzungstat ließen spätere Urteile die Frage wegen mangelnder Entscheidungserheblichkeit verschiedentlich offen27, bis dann 1943 im Einklang mit der im Schrifttum vordringenden Tendenz 28 auch die Fortsetzungstat aufgespalten wurde: Als Vorsatztaten nach § 20a II sollten Einzelakte einer fortgesetzten Tat genügen29.

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heitsmäßige Verbrecher (nur) Zuchthausstrafe zuließ und mit Rücksicht auf Beweisschwierigkeiten die von den späteren Entwürfen übernommenen engen Voraussetzungen - fünf Vorverurteilungen aufstellte, vgl. Begr. S. 343. Vgl. auch den (weiten) § 97 (Strafschärfung ohne Vorverurteilung) und den (engen) § 98 (Sicherungsverwahrung) Gegenentwurf 1911 und Begr. S. 130 f. Amtl. Begr. (Fn. 6), S. 2; vgl. auch Begr. E 1936, S. 51. Grundlegend RGSt. 73,321. Vgl. auch Nagler, LK6 (1944), § 20a Anm. III A 3. RGSt. 68, 297 (Urt. v. 23. 8. 1934); zust. etwa E. Schäfer/v. Dohnanyi (1936), S. 72 mwN. Vgl. zur Rspr. bis 1939 Topp (1940), S. 21 ff. mit Nachw. zum Streitstand. JDR 1935, S. 65. Dazu 3. Teil Β IV 3a dd. Dazu 3. Teil Β IV 3a dd bei Fn. 116 ff. Vgl. RGSt. 72,164,167,169. Vgl. RG DJ 1938,1157 (Urt. v. 16. 5.1938). Vgl. etwa Rietzsch, DJ 1938, 180 f. und JDR 1935, 65; Preiser, ZStW 58 (1939), 743 ff.; Kohlrausch, ZAkDR 1938, 473 ff. und Topp (1940), S. 21 ff. mwN. Zum Bestreben, die Reichweite der Fortsetzungstat einzuschränken, vgl. auch AV des RJM v. 3. 3. 1938, DJ 1938, 324 und dazu unten 3. Teil Β IV 3a dd. RG DR 1943, 8891 (Beschl. v. 20. 4. 1943) und dazu Schmidt-Leichner, DR 1943, 882 ff. (zum Stand vor dem Beschluß v. 20.4.1943.) Vgl. auch die ausdrückliche Regelung der Frage durch § 49 II S. 3 E 1936 (Aufspaltung). - BGHSt. 1,313 (Ls.) kehrte zur älteren Rspr. des RG zurück.

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cc) Die Rückfallverjährung Die sog. Rückfallverjährung (§ 20a III) schränkte die Berücksichtigung von Vorverurteilungen und Vortaten ein: Lagen zwischen einer Vorverurteilung und einer späteren Tat (Abs. 1) oder zwischen den Taten (Abs. 2) mehr als volle fünf Jahre straffreier Führung in Freiheit, blieben die entsprechenden Vorverurteilungen oder Vortaten außer Betracht. Das Gesetz wertete eine solche längere Zeit straffreier Führung als unwiderlegliche Vermutung, der Täter habe nicht aus verbrecherischem Hang gehandelt 30 . c) Der gefährliche Gewohnheitsverbrecher Die objektiven Voraussetzungen des § 20a bildeten nicht das Wertungszentrum der Vorschrift. Sie schränkten vielmehr den Zugang zu diesem Wertungszentrum ein und sollten sich deshalb zunehmend als "unzeitgemäß" erweisen 31 . Im Mittelpunkt des § 20a stand ein Täter bestimmter Artung, der gefährliche Gewohnheitsverbrecher. Erst die Tätereinordnung entschied über die Anwendbarkeit des § 20a und damit auch über die Möglichkeit der Anordnung von Sicherungsverwahrung. Die Tätereinordnung sollte im Wege einer "Gesamtwürdigung der Taten" erfolgen. So sind drei Begriffe von Bedeutung: der Gewohnheitsverbrecher (aa), seine Gefährlichkeit (bb) und die Gesamtwürdigung der Taten (cc). aa) Der Gewohnheitsverbrecher Nach der amtlichen Begründung des Gesetzes war der Gewohnheitsverbrecher "negativ durch den Gegensatz zu den sogenannten Zufalls- und Gelegenheitsverbrechern bestimmt", positiv durch den "Hang zum Verbrechen" gekennzeichnet. Auch die Berufsverbrecher seien zu den Gewohnheitsverbrechern zu rechnen 32 . Damit wurde das gesamte "chronische Verbrechertum" einbezogen 33 . Eine Unterscheidung von Besserungsfähigen und Unverbesserlichen traf das Gesetz dabei nicht. In enger Anlehnung an die gesetzgeberischen Motive definierte dann das Reichsgericht den Gewohnheitsverbrecher: "Gewohnheitsverbrecher ist also eine Persönlichkeit, die infolge eines auf Grund charakterlicher Veranlagung bestehenden oder durch Übung erworbenen inneren Hanges wiederholt Rechtsbrüche begeht und zur Wiederholung von Rechtsbrüchen neigt". Für entscheidend erklärt wurde also das Vorhandensein eines Hanges, nicht die Art und Weise seines Zustandekommens: Worin diese Seelenverfassung ihren Grund habe, ob in

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Näher L. Schäfer/Wagner/Schafieutle (1934), Anm. 75 ff.; Pfundtner/Neubert/Rietzsch (1933 ff.), II c 10, § 20a Anm. 15. Dazu 3. Teil Β IV 3a und 4. Teil bes. A II 2, IV 4 und Β I. Amtl. Begr. (Fn. 6), S. 2. In der Gegensatzbildung der Begr. klingt deutlich v. Liszls Verbrechereinteilung an, vgl. v. Liszt21/* (1919), S. 11 (Zustands- und Gelegenheitsverbrecher) und Zweckgedanke (1882), S. 170 ff. Näher zu dem gemeinten Gegensatz chronischer (Zustands-)Verbrecher/Gelegenheitsverbrecher Hartmann (1941), S. 13 ff.; Mezger, DStR 1934, 150; L. Schäfer/Wagner/Schafieutle (1934), § 20a Anm. 3 ff., 35; Pfundtner/Neubert/ Rietzsch (1933 ff.), II c 10, § 20a Vorb. S. 4.- Zu den kriminalbiologischen Grundlagen des Ges. Rietzsch, aaO, S. 3 f.; vgl. auch Begr. E 1927, S. 58.

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einer ererbten oder durch Erziehung oder in anderer Weise erworbenen Veranlagung des Charakters oder in der durch häufige Wiederholung geübten Zurückdrängung entgegenstehender Vorstellungen, sei für die Anwendung der Vorschrift gleichgültig34. Diese Begriffsbestimmung bewegte sich auf der Linie der Motive und wurde später auch vom Bundesgerichtshof übernommen 35 . bb) Die Gefährlichkeit Wenn das Gesetz vom "gefährlichen" Gewohnheitsverbrecher sprach, mußte es mehr meinen als die schon im Begriff der Gewohnheit gegebene Wiederholungsgefahr und die darin liegende Gefährdung des allgemeinen Rechtsfriedens36. Das Reichsgericht verlangte deshalb folgerichtig, vom "gefährlichen" Gewohnheitsverbrecher müsse eine besondere Gefahr ausgehen. Diese sah es dann gegeben, wenn "einerseits die Gefahr des Rückfalls besonders nahe" lag und wenn andererseits eine "erhebliche Störung des Rechtsfriedens" zu erwarten war37. Das Erfordernis der Erheblichkeit hinderte freilich nicht die Einbeziehung von kleineren Diebstahlstaten oder (Zech-)Betrügereien38. Es ging vielmehr ausschließlich darum, die mehr "lästigen" denn "gefährlichen" Gewohnheitsverbrecher auszugrenzen39. Das Reichsgericht stellte also für die Gefährlichkeit auf eine Rückfallprognose ab. Als maßgeblichen Zeitpunkt sah es die Hauptverhandlung an40. Nach dieser Auffassung war etwa, ein in der Literatur beliebtes Beispiel, der bei Begehung seiner letzten Tat lahmgeschossene Fassadenkletterer 41 nicht mehr "gefährlich" und schied somit aus dem Anwendungsbereich des § 20a aus. Die nach der Rechtsprechung erforderliche Prognose stimmte inhaltlich mit der für die Anordnung der Sicherungsverwahrung anzustellenden überein: Lediglich der maßgebliche Prognosezeitpunkt verschob sich.

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RGSt. 68, 149, 155 (Urt. v. 19. 4. 1934). Ähnlich etwa Nagler, LK6 (1944), § 20a Anm. I la; Kohlrausch/Lange^ (1943), § 20a Anm. IV 2a; Pfundtner/Neubert/Rietzsch (1933 ff.), II c 10, § 20a Anm. 1 S. 5; Hartmann (1941), S. 13 ff.; E. Schäfer/v. Dohnanyi (1936), S. 70; L. Schäfer/Wagtier/Schaflieutle (1934), § 20a Anm. 3 ff., 12. Zur Rspr. vgl. die jeweiligen Nachw., insbesondere Rietzsch, aaO, Anm. 2 S. 6 f. sowie Topp (1940), S. 6 ff.

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Vgl. BGHSt. 1,94,100. Zum ganzen B. Müller (1981), S. 50; Jagusch, LK8 (1957/58), § 20a Anm. II 1. Vgl. RGSt. 68,149,157. Zur Gefährlichkeitsfrage vgl. die prägnante Darstellung bei B. Müller (1981), S. 50f. Vgl. RG, aaO., 155 f., Hervorhebung aaO. Vgl. ζ. B. RGSt. 68, 98; RG DJ 1938, 1156 (kleine Betrügereien); RG DJ 1938, 1597 (kleiner Dieb) und Nagler, LK6 (1944), § 20a Anm. II 2 a. E.; Pfundtner/Neubert/Rietzsch (1933 ff.), § 20a Anm. 3b, S. 8; L. Schäfer/Wagner/Schajheutle (1934), § 20a Anm. 28; Olshausena (1942), § 20a Anm. 7b. Vgl. Rietzsch, aaO. Vgl. RGSt. 72, 356, 357; 74, 217, 218. Ebenso ein Teil des Schrifttums, vgl. etwa Exner, ZStW 53 (1934), 654; E. Schäfer/v. Dohnanyi (1936), S. 71; Kohlrausch/Lange3* (1943), § 20a Anm. IV 2b; Schwarz9 (1940), § 20a Anm. 1 B a; weit. Nachw. bei B. Müller (1981), S. 52. Ein in der Literatur viel diskutierter Beispielsfall, vgl. etwa Bockelmann, Täterstrafrecht II (1940), S. 56 Fn. 1; Dahm, DR 1942,402 Fn. 3.

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Demgegenüber wurde im Schrifttum für die Gefährlichkeit vielfach auf den Tatzeitpunkt abgestellt, so daß die Strafschärfung auch denjenigen treffen sollte, der im Urteilszeitpunkt nicht mehr gefährlich war42, etwa den lahmgeschossenen Fassadenkletterer. cc) Die Gesamtwürdigung der Taten Die Einordnung als gefährlicher Gewohnheitsverbrecher sollte sich nach dem Gesetzeswortlaut aus einer "Gesamtwürdigung der Taten" ergeben. Diese Formulierung ließ es zu, das Tatsachenmaterial für die Tätereinordnung auf die begangenen Taten zu beschränken. Die Begründung zur Novelle hob indes hervor, jede Tat müsse "ein Symptom für den Hang des Verurteilten zum Verbrechen und für seine Gefährlichkeit sein"43. So entsprach es den Absichten des Gesetzes, wenn das Reichsgericht die innere Beziehung zwischen Hang und Straftaten für entscheidend erklärte, zur Feststellung des Hanges aber "alle erreichbaren Erkenntnisquellen"44 erschlossen wissen wollte. Das Material für die Tätereinordnung wurde also nicht begrenzt, die ermittelte Tätereigenschaft mußte freilich in den Taten zum Ausdruck kommen45. d) Täterpersönlichkeit, Schuld und Strafe Den Ausschlag für die Strafschärfung nach § 20a gab eine Täterwertung: "Die Täterpersönlichkeit und ihre Gefährlichkeit sind es, die den Grund der Strafschärfung abgeben"46. § 20a statuierte damit eine Haftung für bösen Charakter: Das Gesetz verlangte die Feststellung, daß der Täter gefährlicher Gewohnheitsverbrecher sei, nicht aber eine Feststellung der Gründe 47 . Der Haftungsgrund war für die Anwendung des § 20a in der Praxis belanglos. Das Reichsgericht verzichtete dementsprechend bis 1943 auf eine ausdrückliche Stellungnahme zu dem § 20a zugrunde liegenden Strafeweck48. Im Schrifttum entwickelte sich dagegen um die Bedeutung des § 20a - und entsprechend des durch die Novelle ebenfalls neu gefaßten § 51 II - eine lebhafte Diskussion, welche die Begründung der durch die Tätereigenschaft als gefährlicher Gewohnheitsverbrecher ausgelö-

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Vgl. etwa Bockelmann, aaO; Dohm, aaO; L. Schäfer/Wagner/Schaßeutle (1934), § 20a Anm. 58; Pfundtner/Neubert/Rietzsch (1933 ff.), II c 10, § 20a Anm. 3b, S. 8. Dazu auch B. Müller (1981), S. 52 mwN. Vgl. Amtl. Begr. (Fn. 6), 1. Beilage, S. 2 zu Art. 5. So besonders deutlich RG DR 1938, 28903; vgl. dazu Nagler, LK6 (1944), § 20a Anm. III A 3; L. Schäfer/Wagner/Schaßeutle (1934), § 20a Anm. 32 ff. Dazu Nagler, aaO. RGSt. 68,385,390. Vgl. treffend Dohm, DR 1942,402; DR 1944,2 f. Vgl. dann aber RGSt. 76, 323 (unten Fn. 66).

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sten Strafschärfung betraf 49 . Diese Diskussion kann hier nicht insgesamt entfaltet werden; ihre Ausgangspunkte sind jedoch zu markieren. Das Gewohnheitsverbrechergesetz entschied sich für ein zweispuriges System von Strafen und Maßregeln. Die Reaktion gegen die kriminelle Persönlichkeit als solche wurde den Maßregeln zugewiesen, die Reaktion auf Taten der Strafe. Die innere Rechtfertigung der Strafe erblickte man zum Zeitpunkt des Erlasses des Gewohnheitsverbrechergesetzes in der Vergeltung für Schuld und zwar für Tatschuld: Das Gewohnheitsverbrechergesetz fußte auf dem Gedanken, die Strafe diene der "Sühne für die begangene Tat"493. Indem § 20a eine Strafschärfung anordnete, war die Frage nach der Rechtfertigung der Mehr-Strafe gestellt. Mit der Gefährlichkeit kam dabei in § 20a - so jedenfalls das Verständnis der Rechtsprechung - ein in die Zukunft weisendes Moment ins Spiel. Damit lag die Möglichkeit nahe, den tragenden Strafgrund in der Verhütung künftiger Verbrechen zu sehen, § 20a eine spezialpräventive Funktion zuzuschreiben und als Sicherungsstrafe genauer: Sicherungsstrafschärfung zu verstehen. Diese pragmatische Deutung hätte indes den Gegensatz von Strafe und Maßregeln, von Strafschärfung und Sicherungsverwahrung verwischt. Deshalb wurde im Schrifttum versucht, auch die Strafe nach § 20a als Sühnestrafe zu verstehen und über die Schuldlehre eine Brücke vom Täter zur Strafe zu schlagen. Nagler wollte dieses Ergebnis ohne Erweiterung des Schuldbegriffs auf konstruktivem Weg erzielen: § 20a sei ein besonderer persönlicher Strafschärfungsgrund und als solcher mit dem Tatschuld- und Vergeltungsgedanken vereinbar: Die Tätereigenschaft steigere die Empfindlichkeit der Rechtsordnung gegen Rechtsbrüche und verschiebe "die Wertrelation ... zuungunsten des Rechtsbrechers", den eine gesteigerte Strafe auf höherer Wertstufe treffe 50 . Diese Verweisung des Problems in die Strafzumessung vermochte freilich die innere Rechtfertigung der Mehr-Strafe aus einer Mehr-Schuld des Täters nicht zu leisten. Neue Bahnen beschritt dagegen die Lehre von der Lebensführungs-51, Lebensentscheidungs-52 oder Lebensgestaltungsschuld53. Ihren Kern bildete die These, den gefährlichen Ge49

Vgl. Bockelmann, Täterstrafrecht II (1940), S. 9 ff. mit eingehender Darstellung der Fragen des § 20a (S. 9 ff., 36 ff.) und der Problematik der Täterstrafe (S. 84 ff.); s. auch ders., ZAkDR 1942, 293 Anm. 2; Dohm, DStR 1934, 87 ff., 96, FS Siber (1941), S. 9 ff., DR 1942, 401 ff. und DR 1944, 2 ff.; Gallas, ZStW 60 (1941), 374 ff.; Hartmann (1941), S. 55 ff.; Kestel (1935), S. 23 ff.; Klee, DStR 1942,72, Kohlrausch/Lange (1941), Vor § 13 Anm. I Β a einerseits (Kohlrausch) und § 20a Anm. II 2 (Lange) andererseits; Lange, ZStW 62 (1944), 175 ff., 192 ff.; Mezger, ZStW 57 (1937), 688 ff.; Mezger' (1943), S. 168; Olshausen (1942), § 20a Anm. 2a; Rietzsch, DJ 1938,183 und Pfundtner/Neubert/Rietzsch (1933 ff.), II c 10, § 20a Anm. 3 S. 8 f.; L. Schäfer/Wagner/Schaflieutle (1934), § 20a Anm. 56; Nagler, LK6 (1944), § 20a Anm. 11; Schänke2 (1944), § 20a Anm. I.

49a Amtl. Begr. (Fn. 6), S. 3 r. Sp. 50 Vgl. Nagler, LK6 (1944), aaO; ebenso Schwarz' (1940), § 20a Anm. 1 A (Vergeltung für begangenes Unrecht). 51 So zuerst Mezger, ZStW 57 (1937), 688 und dazu Bockelmann, Täterstrafrecht II (1940), S. 128 ff.; vgl. auch Dahm, FS Siber (1941), S. 10; Lange, ZStW 62 (1944), 192 ff. 52 Bockelmann, aaO, S. 153. 53 Dahm, FS Siber (1941), S. 12, als (klarstellende) "Vereinigungsformel" für Lebensführungs- und Lebensentscheidungsschuld. 54 Vgl. Mezge? (1943), S. 168; ZStW 57 (193η, 689 f. (Mehrdimensionalität); ebenso Dahm, FS Siber (1941), S. 15.

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wohnheitsverbrecher des § 20a treffe ein Verschulden an seinem bösen Charakter, § 20a sühne also eine Charakterschuld des Täters. Mezger wollte dabei unter dem Gesichtspunkt der Lebensführungsschuld die erworbene kriminelle Veranlagung erfassen; für ihn blieb in § 20a damit bei ererbten Anlagen ein Bereich, in dem die Strafe Sicherungsfunktion übernahm 5 Den vielleicht interessantesten Begründungsversuch unternahm Bockelmann55 in seinen durch Scharfsinn und verblüffende Wendungen beeindruckenden Studien zum Täterstrafrecht: Er parallelisierte Tatschuld und Täterschuld und gründete sie, anknüpfend an Gedankengänge Kohlrauschs56, auf eine staatsnotwendige Freiheitsfiktion, der gegenüber der auf die Empirie gegründete Determinismuseinwand unerheblich sei: Heiße es bei der Tatschuld: "Du kannst, denn du sollst" so gelte bei der Täterschuld: "Wohl kannst du anders sein, denn du sollst es!"57. So konnte Bockelmann den gewordenen wie den geborenen gefährlichen Gewohnheitsverbrecher erfassen, wenn er nur schuldfähig war58 - womit Bockelmann § 20a in vollem Umfang aus dem Täterschuldgedanken rechtfertigte. Freilich nahm Bockelmann dabei die Existenz des § 20a zum Beweis für die Notwendigkeit der Annahme von Täterschuld59. Andere Autoren anerkannten den spezialpräventiven Einschlag des § 20a60. Das gilt auch für Anhänger des Täterschuldgedankens, wie etwa Mezger oder Dahm61: Für sie verblieb in § 20a jedenfalls ein bestimmter Bereich, innerhalb dessen allein das Sicherungsbedürfnis zur Strafschärfung führte: Hier "tritt das Sicherungsrecht über seine Ufer und dringt in beschränktem Umfange bis in das Gebiet der Strafzumessung vor"62. Die Lehren von der Charakterschuld betrafen die Rechtfertigung der Strafschärfung nach § 20a. Die Anhänger der Charakterschuldthese beurteilten die Konsequenzen für die Anwendung des § 20a uneinheitlich: Während etwa Bockelmann darauf beharrte, das Ziel der Sühne 55 56 57 58 59

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Täterstrafrecht II (1940), bes. S. 148 ff. Sollen und Können als Grundlagen der strafrechtlichen Zurechnung, in: Festgabe für Güterbock, Berlin 1910, S. 1 ff. Bockelmann, Täterstrafrecht II (1940), S. 150. AaO, S. 154. Vgl. Bockelmann 1956 in der Sitzung der Großen Strafrechtskommission: Der gefährliche Gewohnheitsverbrecher sei immer so beschaffen, daß er für seine Entwicklung nichts könne. Dieser Auffassung stehe die Theorie von der Lebensführungsschuld nicht entgegen, "die ja aus der Notwendigkeit geboren sei, dem § 20a eine plausible Deutung zu geben" (Ndschr. Bd. 1, S. 56). Vgl. schon Dahm, FS Siber (1941), S. 12 Fn. 16: "Vielleicht hegt eine gewisse Schwäche der Bockelmannschen Arbeit darin, daß Bockelmann im Grunde an ein wirkliches Verschulden nicht zu glauben scheint". Vgl. Kohlrausch bei Kohlrausch /Lange* (1943), Vor § 13 Anm. I Β a; zum Verständnis des § 20a als Zweckstrafe später Jagusch, LK8 (1957), § 20a Anm. I 1 und B. Müller (1981), S. 51 mwN. Als reine Zweckstrafe wurde in der zeitgenössischen Literatur § 20a ganz überwiegend nicht verstanden: Die Tendenz ging eindeutig zur Annahme einer Täterschuld und Täterstrafe, mindestens als Schwerpunkt des § 20a, vgl. Bockelmann, Dahm (zunehmend zurückhaltend, vgl. DR 1942, 401 f. und DR 1944, 2 ff. sowie - zu § 51 II - DR 1942,330 f.), Hartmann, Kestel, Lange, Mezger, Niethammer bei Olshausen, Rietzsch, L. Schäfer/Wagner/Schafheutle, Schänke (bei Fn. 49). Daß der überwiegende Teil der Lehre in § 20a einen "Fremdkörper im Organismus des StGB" sah, weil eine Eingliederung in das System des Schuldstrafrechts scheiterte - vgl. B. Müller (1981), S. 51 - gilt also erst für das Nachkriegsschrifttum. Wie Fn. 54. Dahm, FS Siber (1941), S. 15.

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für Täterschuld zwinge dazu, auf die Gefährlichkeit des Täters zur Tatzeit abzustellen63, also auf das Gefährlichgewesewsein, bewegte sich beispielsweise Lange auf der Linie der Rechtsprechung 64 (Gefährlichkeitsprognose im Urteilszeitpunkt). Die praktisch wichtigste Forderung, zu der die Charakterschuldthese hätte vorangetrieben werden können, wurde von ihren Anhängern nicht gezogen: Die Forderung nach einem Nachweis der verschuldeten Lebensführung im Einzelfall. Gegen die Erfüllung dieser Forderung stand schon der zwingende Charakter des § 20a I. Die Rechtsprechung ließ sich aus naheliegenden prozessualen Gründen auf einen Nachweis von Lebensführungsschuld nicht ein. Zudem enthob gerade die "fortgeschrittenste" Variante der Täterschuldlehre, die Lebensentscheidungsschuldthese Bockelmanns, von der Notwendigkeit des Verschuldensnachweises im Einzelfall ("Wohl kannst du anders sein, denn du sollst es!"). Auch wenn keine unmittelbaren Auswirkungen auf die Strafrechtsanwendung auszumachen sind, wäre es voreilig, die Täterschuldlehre als belanglos abzutun: Sie wurde nicht nur aus § 20a gespeist, sie erhielt namentlich im Kriegsstrafrecht durch die Zunahme der tätertypisierenden Strafvorschriften neues Material 65 . Die Täterschuldlehren haben eine symptomatische Bedeutung: Sie sind Ausdruck und Begleiter einer Umorientierung des Strafrechts von der Tat auf den Täter. Ihre Funktion liegt darin, die dem Täter geltende Strafe mit dem Schuldprinzip zu verbinden. Was auf der Grundlage eines vergeltenden Tatstrafrechts als Einbruch des Sicherungsgedankens in den Bereich der Strafe erscheint, wird als im Schuldgedanken ethisch begründet dargestellt. Damit ist der äußerste Schritt, die Gleichsetzung von Gefährlichkeit und (Täter-)Schuld, angebahnt. Jenseits aller Verfeinerungen der Schuldlehre hatte §20a einen klaren und von der Rechtsprechung folgerichtig verwirklichten Inhalt: Die Strafschärfung gilt nicht der Tat, sie gilt dem Täter. Nach dem Erlaß des Änderungsgesetzes vom 4. September 1941 nahm die Rechtsprechung dann auch zur Frage nach den Grundlagen des § 20a Stellung: Wie nach § 1 des Änderungsgesetzes könnten in § 20a der Schutz der Volksgemeinschaft oder das Sühnebedürfnis die Strafhöhe bestimmen 66 . 3. Die Sicherungsverwahrung (§ 42e) Neben der Strafschärfung für gefährliche Gewohnheitsverbrecher stellte das Gesetz, übereinstimmend mit den früheren Entwürfen 67 , dem Richter die Möglichkeit zur Verfügung, auf zeitlich unbegrenzte Sicherungsverwahrung zu erkennen: Da auch die geschärfte Strafe eine zeitige bleibe, genüge sie dem Sicherungsbedürfnis gegenüber ungebesserten gefährlichen Gewohnheitsverbrechern nicht. Der Verzicht, diesen "Übelstand ... durch die Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafen" zu steuern, sei durch den Sühnegedanken bedingt, erheische aber 63 64 65 66 67

Bockelmann, Täterstrafrecht II (1940), S. 56. Kohlrausch ¡Lang?* (1943), § 20a Anm. IV 2b, S. 103; ZStW 62 (1944), S. 205 ff., 207. Vgl. 2. Teil [Nrn. 29,31,33,39] und zusf. 5. Teil Β III 2. RGSt. 76,323 (Urt. v. 7.1.1943) und 2. Teil [Nr. 39] 2b. Vgl. §§ 59 E 1930 und E 1927; § 45 E 1925; § 45 E 1922 (Radbruch); § 100 E 1919; § 106 KE 1913 und § 98 Gegenentwurf 1911. Im VE 1909 fehlte die Verwahrungsmöglichkeit, vgl. aber § 89 (Strafschärfung). Vgl. dazu auch Begr. E 1927, S. 43 ff., 59; Denkschrift E 1919, S. 84 ff., 87; Begr. Gegenentwurf 1911, S. 128 ff., 133.

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die Möglichkeit der "Verwahrung eines Verbrechers über eine zeitlich begrenzte Freiheitsstrafe hinaus ... um die Allgemeinheit vor weiteren Verbrechen zu sichern"68. Kennzeichnend für den Geist des Gesetzes, die "Forderung eines wirksamen Schutzes der Allgemeinheit gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher"69 ohne Berücksichtigung von Individualbelangen durchzusetzen, war die allgemeine Rückwirkung des Maßregelrechts (§ 2a), die für die Sicherungsverwahrung wegen der Anknüpfung an § 20a (keine Rückwirkung, da Strafe) einer besonderen Durchführung bedurfte. Der Gesetzgeber hielt es für unerläßlich, die Sicherungsverwahrung nicht nur auf vor dem Inkrafttreten des Gesetzes begangene und später abzuurteilende Taten zu erstrecken (Art. 5 Nr. 1), er bezog vielmehr auch die in den Strafanstalten befindliche "große Zahl von Verbrechern" ein, "deren Gefährlichkeit bekannt ist und die nach ihrer Rückkehr in die Freiheit mit großer Wahrscheinlichkeit wieder rückfällig werden"70: Artikel 5 Nr. 2 ließ die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung gegen rechtskräftig verurteilte gefährliche Gewohnheitsverbrecher in Strafhaft zu71. Von einer Erstreckung auf bereits Haftentlassene wurde abgesehen: Hier begann das ausschließliche "Arbeitsgebiet" der Polizei, die schon vor Erlaß des Gesetzes ihrerseits Verbrechensbekämpfungsmaßnahmen (Vorbeugungshaft) ergriff72. Die Vorschrift über die Sicherungsverwahrung baute auf § 20a auf: § 42e setzte eine Verurteilung73 als gefährlicher Gewohnheitsverbrecher nach § 20a voraus. Hinzukommen mußte, daß die "öffentliche Sicherheit" die Anordnung der Sicherungsverwahrung erforderte. Beim Vorliegen dieser Voraussetzung war der Richter zur Anordnung nach § 42e verpflichtet, womit das Gesetz über den E 1927 und dessen Vorläufer (fakultative Anordnung) hinausging. Das Gesetz verzichtete ferner auf das zusätzliche Erfordernis einer vorangegangenen Verurteilung zur Todesstrafe oder zu Zuchthaus74. Eine Abschichtung des § 42e von § 20a ergab sich einmal im Hinblick auf den maßgeblichen Prognosezeitpunkt: Für die Rückfallprognose des § 42e konnte auf die Feststellungen zu § 20a zurückgegriffen werden, doch war für das Gefährlichkeitsurteil auf den Zeitpunkt der Entlassung aus der Strafhaft abzustellen. Bei langdauernden Freiheitsstrafen war etwa ein altersbedingter Wegfall der Gefährlichkeit am Ende der Strafverbüßung beachtlich75, wobei das Reichsgericht von Anfang an vor einem "Überspannen" der Voraussetzungen der Gefahrprognose warnte76. 68 69

Amtl. Begr. (Fn. 6), S. 3. Vgl. dort auch die Hinweise zur entsprechenden Differenzierung im Vollzug. AaO.

70

AaO. Zur Rückwirkung des Maßregelrechts (Entscheidungszeitpunkt) vgl. auch §§ 4 E 1930, 4 E 1927,3 E 1925.

71

Zu Einzelfragen der Rückwirkung vgl. L. Schäfer/Wagner/Schaßeutle (1934), S. 218 ff.; Pfundtner/Neubert/Rietzsch (1933 ff.), S. 44a ff.; E. Schäfer/v. Dohnanyi (1936), S. 124 ff. Dazu 3. Teil Β I, im einzelnen Β IV. Zu Einzelfragen den Begriff der Verurteilung betreffend (tatsächliche Strafschärfung - § 20a II! erforderlich?) Nagler, LK6 (1944), § 42e Anm. II 1 und Olshousen12 (1942), § 42e Anm. 2. Vgl. § 59 E 1927. § 45 E 1925 war fakultativ, verzichtete aber auf das Erfordernis zusätzlicher qualifizierter Vorverurteilungen. Amtl. Begr. (Fn. 6), S. 3; vgl. auch RG JW 1934, 205718. Vgl. RG, aaO und Bruns, ZAkDR 1939,456 mwN.

72 73 74 75 76

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Zum anderen konnten mildere Mittel, insbesondere polizeiliche Maßnahmen wie ζ. B. die Überwachung, die der öffentlichen Sicherheit drohenden Gefahren beseitigen 77 . Die spätere Rechtsprechung des Reichsgerichts tendierte zu einer "scharfen" Auslegung des § 42e: Sie sah einmal mit der Verurteilung nach § 20a "ohne weiteres die Annahme" künftiger Gefährlichkeit nach Strafentlassung als gegeben an 78 . Zum anderen erklärte das Reichsgericht ab 1938, polizeiliche Maßnahmen seien grundsätzlich nicht geeignet, als mildere Mittel die Erforderlichkeit einer an sich gebotenen Sicherungsverwahrung zu beseitigen 79 . Diese Entwicklung ist im Zusammenhang mit der Ausweitung der vorbeugenden polizeilichen Verbrechensbekämpfung zu sehen und wird dort näher behandelt 80 . Die Sicherungsverwahrung dauerte unbestimmte Zeit, nämlich "solange ihr Zweck" es erforderte (§ 42f I). Nach Ablauf von drei Jahren schrieb das Gesetz eine richterliche Prüfung vor (§ 42f III S. 3). Die Entlassung galt als bedingte Aussetzung der Sicherungsverwahrung und konnte unter Auflagen erfolgen (§ 42h I S. 1, 2). In der Praxis erlangte die Sicherungsverwahrung erhebliche Bedeutung, wie einige Zahlenangaben verdeutlichen mögen 81 : Die höchste Anordnungszahl wird für 1934 genannt (3723 Fälle); offenbar wurde hier ein "Nachholbedarf' durch rückwirkende Anwendung des § 42e befriedigt. Die Anordnungszahlen gingen bis 1937 auf 765 Fälle zurück, um ab 1939 wieder merklich anzusteigen (1940: 1916). Ab 1943 liegen keine Zahlen mehr vor; vermutlich waren auch durch den forcierten Einsatz der Todesstrafe - die Anordnungen wieder rückläufig82. Bei der Bewertung der Justizmaßregel Sicherungsverwahrung ist zudem zu beachten, daß sie nur einen Teil der staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung des "gefährlichen Gewohnheitsverbrechertums" ausmachte: Die Sicherungsverwahrung muß in ständiger Verbindung zur polizeilichen Verbrechensbekämpfung insbesondere zur Vorbeugungshaft als "polizeilicher Sicherungsverwahrung" gesehen werden. Die entsprechenden polizeilichen Maßnahmen setzten schon Ende 1933 ein83. Die konkrete Gestalt der staatlichen Bekämpfung des "chronischen Verbrechertums" zeichnet sich im Zusammenspiel und in der Kollision von justizieller und polizeilicher Verbrechensbekämpfung ab84. 4. Die Maßregeln der Sicherung und Besserung im übrigen (§§ 42a ff.) Neben der Sicherungsverwahrung als wichtigster Neuerung führte das Gesetz eine Reihe von weiteren Maßregeln ein, die überwiegend den früheren Entwürfen entlehnt waren.

77

Vgl. Nagler, LK6 (1944), § 42e Anm. II 2 mit ausf. Nachw. und unten Β III 3b, Β IV 3a dd.

78 79 80 81

Vgl. RGSt. 73,303,305 (Urt. v. 5. 9.1939). Vgl. RG DStR 1941,167 (Urt. v. 30.6.1941). Dazu 3. Teil Β IV 3a dd. Zur Anordnung der Sicherungsverwahrung vgl. das von 1934 bis zum III. Quartal 1942 reichende Zahlenmaterial bei Hellmer (1961), S. 16; s. auch Freister, DJ 1938, 626 (bis 1937) und Terhorst (1985), S. 167 (1937,1939-1941).

82

Hellmer (1961) schätzt für das IV. Quartal 1942 bis Kriegsende etwa 1700 Anordnungen, vgl. aaO, S. 16 i. V. m. S. 17.

83 84

Dazu 3. Teil Β I, auch Β I V 3. Vgl. dazu 3. Teil Β und 4. Teil.

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a) Heil- oder Pflegeanstalt (§ 42b) Gegen Zurechnungsunfähige sowie vermindert zurechnungsfähige Geisteskranke sah § 42b beim Verstoß gegen ein Strafgesetz die Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt vor85. Die Dauer der Unterbringung war unbeschränkt, eine gerichtliche Kontrolle im Abstand von drei Jahren vorgeschrieben (§ 42f I, III). Das Ausführungsgesetz zum Gewohnheitsverbrechergesetz erweiterte die strafrichterliche Zuständigkeit, indem es ein selbständiges Sicherungsverfahren schuf86. b) Trinkerheil- oder Entziehungsanstalt (§ 42c) Gegen "Trunkenbolde und Gewohnheitstrinker" 87 und überhaupt gegen alle, die "gewohnheitsmäßig im Übermaß geistige Getränke oder andere berauschende Mittel" zu sich nehmen, richtete sich die Unterbringung in einer Trinkerheilanstalt oder Entziehungsanstalt 88 . Bezweckt war eine umfassende "Sicherung der Volksgemeinschaft gegen künftige kriminelle Exzesse"89, die durch Strafe und Heilung angestrebt wurde: Die Unterbringung war nur neben einer Strafe zulässig, die für eine mit der Gewöhnung im ursächlichen Zusammenhang stehenden Tat verwirkt war. Dabei genügte als Anknüpfungstat auch der durch die Novelle neu geschaffene Tatbestand der Volltrunkenheit (§ 330a)90. Die Unterbringung war ferner nur zulässig, wenn sie "erforderlich" war, um den betroffenen Trinker oder Abhängigen "an ein gesetzmäßiges und geordnetes Leben zu gewöhnen". c) Arbeitshaus (§ 42d) Die Arbeitshausunterbringung löste die im bis dahin geltenden Recht vorgesehene richterliche Überweisung an die Landespolizeibehörde ab. Diese Überweisung stellte es in das polizeiliche Ermessen, die verurteilte Person bis zu zwei Jahren im Arbeitshaus unterzubringen oder sonst zu gemeinnützigen Arbeiten zu verwenden (sog. korrektionelle Nachhaft 91 ). § 42d gestaltete nach dem Vorbild des E 1927 die Arbeitshausunterbringung als strafrechtliche Maßregel aus, die neben Strafe verhängt wurde92; bei Arbeitsunfähigkeit erfolgte Asylunter-

85 86 87 88

Vgl. §§ 56 E 1927,43 E 1925. Neugestaltung durch das 2. StrRG, vgl. jetzt § 63 geltendes StGB. Vgl. Amtl. Begr. (Fn. 6), S. 3 und § 429a ff. RStPO i. d. F. des Ausführungsges. v. 24.11.1933 (RGBl. I, S. 1000). So Begr. E 1927, S. 46. Zur Sprachregelung des E GFrG 1943 vgl. 4. Teil A III. Vgl. § 57 E 1927; s. auch § 44 E 1925 (Trinkerheilanstalt).

89 E. Schäfer/v. Dohnanyi (1936), S. 84. 90 91

Näher 5b. Vgl. §§ 362,181a (Zuhälterei), 285a (Glücksspiel) RStGB 1932. Näher dazu Frank18 (1931), Anm. zu § 362. Der Charakter der "korrektionellen Nachhaft" als polizeiliche Maßregel oder Nebenstrafe war str.

92

Vgl. §§ 58, 60 und 370-374 E 1927. Gewisse Abweichungen ergaben sich für die Anknüpfungstaten (§§ 370-374 E 1927/§ 361 Nr. 3-8 RStGB); neu war das Asyl. Zur Aufhebung durch das 1. StrRG Fn. 5. - Der E 1925 hatte auf Strafen für gemeinschädliches Verhalten ganz verzichtet und allein Arbeitshausunterbringung vorgesehen, vgl. §§ 378 ff. und Begr. S. 187 ff.

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bringung (§ 42d IV) 93 . Die Maßregel richtete sich gegen Asoziale*. Sie verfolgte den Zweck, "Menschen zur Arbeit und geordneten Lebensführung anzuhalten, die infolge widriger Lebensschicksale oder ihrer Anlage haltlos und unfähig geworden sind, sich durch eigene Kraft aus geistiger, sittlicher oder körperlicher Verwahrlosung herauszureißen, in der sie zu versinken drohen"95. § 42d baute auf dem Vorliegen einer Übertretung nach § 361 Nrn. 3 bis 8 % auf: Nur bei Verurteilung zu einer Haftstrafe nach diesen Vorschriften - die Haft reichte bis höchstens sechs Wochen 97 - kam die Maßregel in Betracht: Die Anknüpfungstatbestände waren äußerst weit gefaßt und beschrieben, jedenfalls teilweise, eher Existenzformen als strafrechtliche Tatbestände 98 : Nach Nummer 3 war strafbar, "wer als Landstreicher umherzieht", nach Nummer 4, wer "bettelt", nach Nummer 5, wer "sich dem Spiel, dem Trunk oder Müßiggang dergestalt hingibt", daß er zu seinem eigenen Unterhalt oder zur Erfüllung einer Unterhaltsverpflichtung fremde Hilfe in Anspruch nehmen mußte. Nummer 6 stellte öffentlich belästigendes Auffordern oder Anbieten zur Unzucht unter Strafe, die Nummern 6a bis 6c setzten voraus, daß jemand "gewohnheitsmäßig zum Erwerbe Unzucht treibt" und erfaßten Verstöße gegen bestimmte Vorschriften zur Bekämpfung gewerbsmäßiger Unzucht 99 . Die Nummer 7 betraf denjenigen, der "aus öffentlichen Armenmitteln eine Unterstützung empfängt", sich aber "aus Arbeitsscheu" weigert, behördlich zugewiesene Arbeiten zu verrichten. Nummer 8 schließlich erklärte denjenigen für strafbar, der nach "Verlust seines bisherigen Unterkommens" sich binnen einer behördlich bestimmten Frist kein anderes Unterkommen verschafft. Der gesetzlichen Wortwahl nach handelte es sich um verhaltensgebundene Delikte: Der Gesetzgeber stellte nicht den "Landstreicher" (Nr. 3), den "Bettler" (Nr. 4), den unterstützungsbedürftigen "Trinker", "Spieler" oder "Müßiggänger" (Nr. 5) oder den "Arbeitsscheuen" (Nr. 7) unter Strafe, sondern Verhaltensweisen 100 . Die "Tat"bestandlichkeit trat freilich namentlich in den Nummern 3 und 4 stark zurück: Der "Tat"-Bestand war eine Umformulierung des "Täter"-BeZu den ζ. T. umstrittenen Voraussetzungen Nagler, LK6 (1944), § 42d Anm. III. Nach den Motiven (Fn. 6), S. 3 war die Asylunterbringung für Fälle einer im Arbeitshaus eingetretenen Arbeitsunfähigkeit bestimmt, also nicht für Arbeitsunfähige schlechthin. 94 Vgl. L. Schäfer/Wagner/Schafheutle (1934), S. 44; Pfundtner/Neubert/Rietzsch (1933 ff.), S. 30. 95 Amtl. Begr. (Fn. 6), S. 3. 96 Zuhälter und Spieler wurden, da sie zu "den übrigen Elementen" nicht paßten, der Strafhaft bzw. (Zuhälter) der Sicherungsverwahrung überlassen, vgl. Amtl. Begr. (Fn. 6), S. 3 und zum RStGB 1932 Fn. 91. 97 Vgl. § 181 RStGB. 98 So wurde denn auch kritisiert, die Vorschriften gegen Bettelei und Vagabundieren enthielten in Wahrheit keine Tatbestände, vgl. etwa Loewenthal, Die Justiz, Bd. VI (1930/31), 438 ff. und die Nachw. bei W. K. Schmidt (1937), S. 126 ff. Der E 1925 wollte aus diesen Gründen auf Strafe für gemeinschädliches Verhalten verzichten (vgl. Fn. 92) und führte aus, die entsprechenden Vorschriften hätten "nicht die Natur strafrechtlicher Tatbestände; sie bezeichnen nur die Symptome, welche den Schluß rechtfertigen, daß jemand ein asozialer Mensch sei" (Begr. E 1925, S. 187). Zum täterrechtlichen Zug des § 361 RStGB Bockelmann, Täterstrafrecht I (1940), S. 52 ff. und Täterstrafrecht II (1940), S. 64 ff. 99 § 361 Nr. 6 neu gefaßt und Nrn. 6a-c eingefügt durch Art. I ÄndG 1933 [Nr. 8], 100 Anders die Polizeierlasse zur vorbeugenden Verbrechensbekämpfung, die von vornherein mit einem weiten Asozialenbegriff arbeiteten und direkt auf Personen zielten, dazu 3. Teil Β IV, s. auch Β V und die Entwürfe zum GFrG sowie zum RStGB 1944,4. Teil. 93

100

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standes: Hier seien, so heißt es bei Bockelmann, wirklich "Kategorien von Personen gebildet". Das Gesetz wolle "den ganzen Menschen ändern, damit er nicht zum Verbrecher werde. An seinen Taten weniger als an seinem Wesen nimmt es Anstoß"101. Für die Zwecke der Arbeitshausunterbringung modifizierte § 42d den skizzierten Unterbau insofern, als § 361 Nr. 6 nur bei gewerbsmäßigem Unzuchttreiben zum Zuge kommen sollte. Beim Betteln (§ 361 Nr. 4) wurde zusätzlich vorausgesetzt, daß dieses aus "Arbeitsscheu oder Liederlichkeit oder gewerbsmäßig" erfolgt sei (§ 42d III). Die weitere, allgemeine Voraussetzung des § 42d ging dahin, daß die Unterbringung "erforderlich" sein müsse, um die verurteilte Person "zur Arbeit anzuhalten und an ein gesetzmäßiges und geordnetes Leben zu gewöhnen" (§ 42d I). Die wohl einschneidendste Neuerung gegenüber dem bis dahin geltenden Recht betraf die Dauer der Unterbringung: Die erste Unterbringung im Arbeitshaus oder Asyl war auf zwei Jahre begrenzt (§ 42f II), die zweite dauerte solange, wie ihr Zweck es erforderte; vorgeschrieben war insoweit lediglich eine richterliche Nachprüfung der Unterbringungsvoraussetzungen im Abstand von zwei Jahren (§§ 42f I, III). Die Arbeitshausunterbringung war die justizielle Form der Asozialenbekämpfung; auch in diesem Zusammenhang ist die vorbeugende Verbrechensbekämpfung durch die Polizei zu beachten: Die "Asozialen" waren eine bevorzugte Zielgruppe; die faktische Bedeutung der Polizeimaßnahmen sollte die der strafrechtlichen bald übertreffen 102 . d) Allgemeine Grundsätze für die freiheitsentziehenden Maßregeln (§§ 42fbis 42i) Auf die grundsätzlich unbestimmte Dauer der Unterbringung und die Prüfungspflicht des Richters (§ 42f) wurde bei den einzelnen Maßregeln hingewiesen103. Die Entlassung des Untergebrachten galt nur als bedingte Aussetzung der Unterbringung und konnte mit Auflagen verbunden werden (§ 42h). Eine wesentliche Änderung erfolgte hinsichtlich der Entlassungszuständigkeit 1941: Die Entscheidung über Entlassung und Widerruf wurde der höheren Vollzugsbehörde, d. h. den Generalstaatsanwaltschaften übertragen104. e) Die Entmannung gefährlicher Sittlichkeitsverbrecher (§ 42k) Mit der Maßregel der Entmannung (Kastration)105 wurde für das deutsche Strafrecht 106 "gesetzgeberisches Neuland" betreten. Leitend war dabei der "Zweck, die Allgemeinheit vor weiteren Sittlichkeitstaten des Täters durch Vernichtung oder Schwächung seines entarteten Triebes zu sichern"107. Es wurden also, anders als mit dem Gesetz zur Verhütung erbkranken

101 102 103 104 105 106 107

Bockelmann, Täterstrafrecht I (1940), S. 54 f. Dazu 3. Teil Β IV lb dd und (vergleichend) Β IV 3b. Vgl. 3,4a-c. Dazu [Nr. 39] 5a. Zur Aufhebung vgl. Fn. 5. Vgl. die Hinweise der Begr. (Fn. 6), S. 4. AaO.

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Nachwuchses108, nicht unmittelbar eugenische Zwecke verfolgt, deren Erreichung man freilich als willkommener Nebeneffekt begrüßte109. Die schwerwiegenden Folgen des Eingriffs für den Betroffenen wurden klar gesehen und in der amtlichen Begründung herausgestellt. Um der "höherwertigen Interessen der Allgemeinheit willen", könnten Individualinteressen jedoch für den Gesetzgeber "kein Hindernis" sein110. Es müsse, mit anderen Worten, das "Gemeinwohl dem Wohl des verbrecherischen Schädlings" vorgehen111. Die Anordnung der Entmannung war nur neben Strafe zulässig. § 42k hatte fakultativen Charakter, um den Richter, so die amtliche Begründung, in die Lage zu versetzen, "jedem Einzelfall" Rechnung zu tragen und namentlich bei einem zu erwartenden Mißerfolg der Maßnahme von ihrer Anwendung abzusehen112. Die Berücksichtigung der einhellig anerkannten, vom Gesetz aber nicht aufgenommenen Voraussetzung der Erforderlichkeit des Eingriffs für die öffentliche Sicherheit113 wurde damit von den Motiven in die pflichtgemäße Ermessensausübung des Richters verlagert114. In objektiver Hinsicht setzte § 42k mindestens zwei einschlägige Vortaten voraus: Absatz 1 Nr. 1 verlangte eine Vorverurteilung zu Freiheitsstrafe wegen bestimmter Sittlichkeitsdelikte im engeren technischen Sinne (Nötigung zur Unzucht, Schändung, Unzucht mit Kindern, Notzucht) oder wegen eines zur Erregung oder Befriedigung des Geschlechtstriebs begangenen Delikts der öffentlichen Vornahme unzüchtiger Handlungen (§ 183) oder der Körperverletzung (§§ 223 bis 226). Mit der zweiten Hauptalternative wurde der Kreis der Vortaten weit gezogen, so daß etwa auch Exhibitionisten erfaßt waren115. Für eine neue Tat der gleichen Art mußte Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten verwirkt sein. § 42k II Nr. 2 sah - ähnlich wie § 20a II - vom Erfordernis einer Vorverurteilung ab und ließ es genügen, daß für mindestens zwei der in Absatz 1 näher beschriebenen Taten mindestens ein Jahr Freiheitsstrafe verwirkt war. Das gemeinsame subjektive Erfordernis der Absätze 1 und 2 zielte auf den bestimmt gearteten Täter: Die "Gesamtwürdigung der Taten" mußte ergeben, daß es sich bei dem Täter um einen "gefährlichen Sittlichkeitsverbrecher" handelte, d. h. einen Täter, bei dem nach Wiedererlangung der Freiheit ein einschlägiger Rückfall zu erwarten war116. 108 Ges. v. 14.7.1933, RGBl. I, S. 529; zum Zusammenhang Begr. (Fn. 6), S. 2. 109 E. Schäfer/v. Dohnanyi (1936), S. 96; Pfundtner/Neubert/Rietzsch (1933 ff.), II c 10, § 42k Anm. 1, S. 44a. 110 Amtl. Begr. (Fn. 6), S. 4. 111 Vgl. L. Schäfer/Richter/Schafheutle Anm. 1, S. 44a.

(1934), S. 51; Pfundtner/Neubert/Rietzsch

(1933 ff.), II c 10, § 42k

112 Vgl. Amtl. Begr. (Fn. 6), S. 4. Umgekehrt wird eine sichere Erfolgserwartung nicht verlangt, indem auch bei "Unsicherheit des Erfolges" eine Entmannung für zulässig erachtet wird. Das RG schloß die Anordnung der Entmannung nur bei sicherem Mißerfolg aus, vgl. RGSt. 68,194,197. 113 Vgl. etwa RGSt. 68, 230, 231; 69,150, 151; 69,153 sowie Kohlrausch/Lange31 (1941), § 42k Anm. II 3; Olshausenn (1942), § 42k Anm. 3. 114 So auch Pfundtner/Neubert/Rietzsch (1933 ff.), II c 10, § 42k Anm. 2, S. 41a f. 115 Vgl. RGSt. 68,230. Näher zum Vortatenerfordernis Nagler, LK6 (1944), § 42k Anm. II 3; Olshausen12 (1942), § 42k Anm. 4; Kohlrausch/Lange37 (1941), § 42k Anm. II 2; E. Schäfer/v. Dohnanyi (1936), S. 97 ff.; L. Schäfer/Wagner/Schafheutie (1934), § 42k Anm. 8 jeweils mwN. 116 Vgl. RGSt. 68,165,167 (Urt. v. 26. 4.1934); Nagler, LK6 (1944), § 42k Anm. II 1; Kohlrausch /Lange37 (1941), § 42k Anm. II 5; E. Schäfer/v. Dohnanyi (1936), S. 98; L. Schäfer/Wagner/Schafheutle (1934),

102

2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

§ 42k I Nr. 3 erfaßte unter Verzicht auf ein Vortatenerfordernis den zur Befriedigung des Geschlechtstriebes begangenen Mord oder Totschlag. Auf eine zusätzliche Gesamtwürdigung des Täters wurde dabei verzichtet, da sich die Eigenschaft als gefährlicher Sittlichkeitsverbrecher "aus der Tat von selbst" ergebe117. § 42k übernahm die Regelung des § 20a über die Rückfallverjährung (§§ 42k II i. V. m. 20a III)118. Die Entmannung konnte neben anderen Maßregeln, insbesondere neben Sicherungsverwahrung119, angeordnet werden120. f ) Sonstige

Regelungen

Neu gegenüber den vorangegangenen Entwürfen war die Maßregel der Untersagung der Berufsausübung bei Mißbrauch eines Berufs oder Gewerbes zur Begehung von Verbrechen oder Vergehen (§ 421)121. Die Bestimmung über die Reichsverweisung von Ausländern wurde aus dem Änderungsgesetz vom 26. Mai 1933122 in das Maßregelrecht übernommen (§ 42m) und wenig später durch das Reichsverweisungsgesetz123 abgelöst. § 42n ließ allgemein eine Kumulierung von Maßregeln mit Rücksicht auf deren verschiedene Zweckrichtung zu. 5. Die neu eingefügten Vorschriften im übrigen Artikel 3 des Gesetzes brachte eine Reihe von Neuerungen, die der Anpassung an das Maßregelrecht dienten124 und hier nicht im einzelnen darzustellen sind. Hervorzuheben ist, daß den Maßregeln im ganzen Rückwirkung beigelegt wurde (§ 2a)125. Eigenständige Bedeutung hatten - über ihren inneren Zusammenhang mit den Leitgedanken des Maßregelrechts die Neuregelung der Zurechnungsunfähigkeit und der verminderten Zurechnungsfähigkeit (§§ 51, 58126; zu § 51 sogleich a) sowie der neue Tatbestand der Volltrunkenheit (§ 330a; dazu

117 118 119 120 121 122 123 124

§ 42k Anm. 9. Zum Verhältnis gefährlicher Gewohnheitsverbrecher /gefährlicher Sittlichkeitsverbrecher Pfundtner/Neubert/Rietzsch (1933 ff.), II c 10, § 42k Anm. 11, S. 44a. Vgl. Begr. (Fn. 6), S. 4 und L. Schäfer/Wagner/Schafheutle (1934), § 42k Anm. 14. Dazu oben 2 b cc. Vgl. RGSt. 69,31,32 (Urt. v. 7.1.1935). Vgl. § 42n und Begr. (Fn. 6), S. 4 (zu § 42n). Zum Zweck und zu ausländischen Vorbildern aaO. Dazu [Nr. 8] bei Fn. 5. Vgl. §§ 1,2 Nrn. 1,2, § 7 Nr. 2 , 3 Ges. v. 23.3.1934, RGBl. I, S. 213. Vgl. die Nrn. 2 (§ 36, Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte), 3 (Streichung § 39a, Reichsverweisung), 6 (§ 60, Anrechnung von Freiheitsentziehungen), 7-10 (§§ 67, 70, 71, 72, Verjährung), 11 (§ 76, Gesamtstrafe), 12 (§§ 122a, b, Gefangenenbegriff, Befreiung von Untergebrachten, 13 (§ 145c, Zuwiderhandlung gegen das Berufsverbot), 14 (§ 181a, Zuhälter: Streichung der Arbeitshausunterbringung, stattdessen Strafschärfung), 15 (§ 257a, Vereitelung einer Maßregel), 16 (§ 285a, Spieler: kein Arbeitshaus), 17 (§ 330b, Abgabe berauschender Getränke an untergebrachte Trinker), 18-20 (§§ 345-347, Anpassung der Amtsdelikte: unzulässige Vollstreckung, Begünstigung im Amt, Entweichenlassen von Untergebrachten), 21 (Streichung § 362 II-IV, korrektioneile Nachhaft). Das Ges. folgte dabei dem E 1927.

125 Dazu (Durchführung für die Sicherungsverwahrung) oben 3 bei Fn. 69 ff. 126 Betreffend Taubstumme, im wesentlichen dem E 1927 (§ 14) entlehnt.

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b). In innerer Verbindung mit § 20a stand die Verdachtsstrafe für den Besitz von Diebeswerkzeugen (§ 245a; dazu c). a) Die (verminderte) Zurechnungsfähigkeit (§ 51) § 5 1 1 regelte unter Beibehaltung der sog. biologisch-psychologischen Methode und in Anlehnung an die vorangegangenen Entwürfe 127 die Zurechnungsunfähigkeit neu, brachte freilich in der Sache keine "wesentliche Verschiedenheit gegenüber dem bisherigen Rechtszustand"128. Die Ersetzung der "Bewußtlosigkeit" durch die "Bewußtseinsstörung" sanktionierte lediglich die ausdehnende Rechtsprechung zu § 51 a. F. Die Aufnahme der Geistesschwäche neben der krankhaften Störung der Geistestätigkeit hatte nur den Sinn, Grenzfälle krankhafter Störungen zu erfassen und brachte in der Sache gleichfalls keine nennenswerte Ausweitung129. Programmatische Bedeutung hatte es, wenn § 51 I, anders als die Entwürfe, auf die Unfähigkeit des Täters abstellte, das "Unerlaubte" (nicht: "Unrechtmäßige" 130 ) seiner Tat einzusehen: "Recht" und "Sittengesetz" sollten damit auf eine Ebene gestellt werden 131 . Die wesentliche Neuerung gegenüber dem bis dahin geltenden Recht enthielt § 51 II mit der Regelung der verminderten Zurechnungsfähigkeit. Die Vorschrift hatte eine Doppelfunktion: Sie diente einmal als Grundlage für die Unterbringung in einer Heil- und Pflegeanstalt (§ 42b), zum anderen führte sie eine fakultative Strafmilderung ein 132 . In dieser zweiten Funktion warf § 51 Π, ähnlich wie § 20a, die Fragen nach dem verfolgten Strafzweck und nach der Schuldgrundlage auf: Wie erklärt es sich, daß den vermindert Zurechnungsfähigen die volle Strafe treffen kann? Den nur fakultativen Charakter der Strafmilderung rechtfertigte die Begründung mit dem Verweis auf die "ärztliche Erfahrung": Nach dieser sei es "verfehlt..., Psychopathen durchweg milder zu behandeln als gesunde" und es könne "auf die abgeschwächte seelische Widerstandskraft des Psychopathen durch ernste Strafen vielfach nachhaltiger eingewirkt werden ... als durch allzu große Milde". Zum Schuldzusammenhang dieser Erwägungen äußerte sich die Begründung nicht. Einerseits konnte man in der Betonung der Zweispurigkeit ein Indiz dafür sehen, das Gesetz lege § 51 II eine Schuldgrundlage bei133. Andererseits verwies die Begründung auf die Entwürfe von 1925 und 1927. Als Ergänzung kam nur die Begründung des

127 Vgl. §§ 131 E 1930 (Kahl); 13 I E 1927; 17 I E 1925; 17 I E 1922 (Radbruch)·, 18 I E 1919; 20 I KE 1913; ζ. T. abw. §§ 131 Gegenentwurf 1911,63 KE 1909. 128 Vgl. Mezger, DStR 1934, 129, der damit die allgemeine Einschätzung zum Ausdruck brachte, so Bockelmann, Täterstrafrecht II (1940), S. 22. 129 Vgl. Nagler, LK6 (1944), § 51 Anm. III 2 A c; Mezger, DStR 1934,130 und schon Begr. E 1927, S. 14. 130 Vgl. § 13 I E 1927, aber auch § 17 E 1925 ("Unerlaubte") und Begr. S. 17, 15 (Gleichsetzung von Recht und Sittengesetz). Dagegen Begr. E 1927, S. 19: "Was unmoralisch ist, darüber sind die Anschauungen vielfach schwankend und verschieden". Das gilt nach der Auffassung des nationalsozialistischen Gesetzgebers auf der Basis der neuen Weltanschauung nicht mehr. 131 Vgl. Begr. (Fn. 6), 1. Beil., S. 1 und Schafteutie, JW 1933,2798. 132 Diese Doppelfunktion entsprach den früheren Entwürfen, vgl. §§ 13 II, 56 E 1930 (Kahl)·, §§ 13 II, 56

E 1927; §§ 17 II, 43 E 1925; §§ 17 II, 43 E 1922 (Radbruch)·, §§ 18 II, 88 E 1919; §§ 20 II, 100 KE 1913. 133 So etwa Bockelmann, Täterstrafrecht II (1940), S. 31.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

E 1927 in Betracht, da nur dieser, im Gegensatz zu fast allen anderen Entwürfen, die Strafmilderung in das richterliche Ermessen gestellt und nicht zwingend vorgeschrieben hatte134. Im E 1927 aber hieß es, in den Fällen verminderter Zurechnungsfähigkeit sei von einer "geringeren Schuld" des Täters auszugehen; zur Begründung für die gleichwohl nur fakultative Strafmilderung wurde auf einen "von ärztlicher Seite vielfach geäußerten Wunsch" und, wie in der Begründung zum Gewohnheitsverbrechergesetz, auf die Strafempfindlichkeit "gerade mit Rücksicht auf die abgeschwächte Widerstandskraft des Täters" verwiesen135. Klar war danach allein, daß die Novelle die Täterpersönlichkeit in das Zentrum der richterlichen Ermessensentscheidung rücken wollte; offen blieb, aus welchen Gründen den vermindert Zurechnungsfähigen die Vollstrafe treffen konnte. Das Reichsgericht neigte zunächst zu einer spezialpräventiven Deutung der Vorschrift. Es nahm an, § 51 II vermindere "rechtsnotwendig den Schuldgehalt und damit die Strafwürdigkeit der Tat" und verneinte gleichzeitig eine Pflicht zur entsprechenden Herabsetzung der Strafe, "wenn etwa eine dem verminderten Schuldgehalt entsprechend herabgesetzte Strafe nicht mehr wirksam genug sein würde"136. Später vollzog das Reichsgericht dann einen "Stellungswechsel"137, indem es betonte, von dem mit einer minderwertigen Anlage behafteten Täter müsse die "Volksgemeinschaft verlangen, daß er durch erhöhte Kraftanstrengung"138 seine "gemeinschaftsgefährlichen Anlagen"139 ausgleiche140. Besondere Feststellungen zu wirklichem Verschulden des Täters wurden dabei nicht verlangt, dem Hinweis auf die Schwäche des vermindert Zurechnungsfähigen vielmehr entgegengehalten: "Du sollst um so mehr, je weniger Du kannst!"141. Im Schrifttum ergaben sich bei der Deutung des § 51 II Frontstellungen, die parallel zu denen bei § 20a verliefen142. Auf der einen Seite wurde behauptet, § 51 II sei mit dem Tatschuldprinzip ohne weiteres vereinbar143, andererseits wurde der (auch) spezialpräventive

134 Zwingende Milderung (mit Ausnahme bei selbstverschuldetem Rauschzustand): §§ 13 II E 1930 (Kahl), 17 II E 1925,17 II E 1922 (Radbruch), 18 II E 1919,20 II KE 1913,63 II VE 1909. Fakultative Milderung jedoch im Gegenentwurf 1913, allerdings unter Ausschluß der Todes- und lebenslangen Zuchthausstrafe (§ 13 II). 135 Vgl. Begr. E 1927, S. 15. Dagegen Begr. E 1925: zwingende Milderung als notwendige Folgerung daraus, daß "der Entwurf überhaupt der Persönlichkeit des Täters insbesondere dem Maße seiner Einsicht und dem Einfluß krankhafter Störungen auf seinen Willen, entscheidende Bedeutung einräumt" (S. 18) und Verweis auf die "heute fast allgemein erhobene Forderung" (S. 17). 136 RGSt. 69,314, 317 f. (Urt. v. 23.9.1935). 137 So Nagler, LK6 (1944), § 51 Anm. V 4, S. 409. 138 RGSt. 71, 179,182 (Urt. v. 16. 4. 1937) für den äußersten Fall: Todesstrafe kann auch bei Vorliegen des § 51 II verhängt werden! Vgl. auch [Nr. 39] 2b cc zu § 1 ÄndG betr. RG HRR 1942, Nr. 671. 139 DR 1942,329 1 (Urt. v. 25.11.1941) mit Anm. Dohm, der die Begr. kritisiert (aaO, 330 f.). 140 Vgl. außer den zitierten Entscheidungen (Fn. 138,139) auch RGSt. 74, 217,218 (Urt. v. 6. 6.1940) = DR 1940,1277 1 mit Anm. Mezger, der die Begr. kritisiert (aaO, 1278). 141 Vgl. Bockelmann, Täterstrafrecht II (1940), S. 35. Krit. gegen erhöhte Anforderungen an den vermindert Zurechnungsfähigen ohne Rücksicht auf das wirkliche Können Dahm, aaO; Mezger, aaO. 142 Vgl. oben 2d. 143 Vgl. Nagler, LK6 (1944), § 51 Anm. V 1 f.; s. auch oben Fn. 50.

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Die erste Phase: 1933 bis 1935

Zug des § 51 II betont 144 . Die Charakterschuldlehre 145 galt entsprechend auch dem § 51 II. Den in sich geschlossensten Versuch einer Deutung der Vorschrift als Ausdruck von Täterschuld präsentierte wiederum Bockelmann: "Nicht die Schädlichkeit, sondern die Schlechtigkeit des Täters ist maßgebend. Nicht nur, was er beginnt, wird ihm zur Schuld zugerechnet, sondern daß er 'so einer ist', das macht ihn schuldig"146. Die staatsnotwendige "Erweiterung der Könnensfiktion" ("Wohl kannst du anders sein, denn du sollst es!"147) rechtfertigte für Bockelmann auch die volle Strafe für den vermindert Zurechnungsfähigen aus Täter-Schuldgesichtspunkten. Freilich wurden damit, Zurechnungsfähigkeit vorausgesetzt, "Schädlichkeit" und "Schlechtigkeit" gleichsinnig, "Gefährlichkeit" und "Täterschuld" ununterscheidbar. So begann Dahm 1942 grundsätzlich zu zweifeln, ob der Gedanke der Lebensführungsschuld einen "wirklichen Fortschritt" bedeute, ob er nicht zumindest unpraktikabel sei und gerade weil er den Schuldgedanken zu sehr kompliziere und verfeinere, "die Strafrechtspflege einerseits auf den Weg einer zwar gröberen, aber praktischeren Täterbekämpfung spezialpräventiven Charakters drängt und andererseits auch die Idee von der Tatschuld gefährdet" 148 . b) Volltrunkenheit (§ 330a) Der "wirksamen Bekämpfung des Mißbrauchs von Rauschgiften" 149 diente § 330a. Der Tatbestand der Volltrunkenheit war aus dem E 1927 übernommen 150 und erfüllte eine doppelte Funktion: Die Vorschrift Schloß einerseits eine schon länger empfundene Strafbarkeitslücke und diente zum anderen als Anknüpfung für die als zweckmäßig angesehene Ausdehnung der Unterbringung in einer Trinkerheilanstalt (§ 42c)151. c) Der Besitz von Diebes werkzeug (§ 245a) Im Kontext der Gewohnheitsverbrecherbekämpfung stand der gegenüber den Entwürfen neue Tatbestand gegen den Besitz von Diebeswerkzeug. Die Vorschrift diente der vorbeugenden Bekämpfung von Eigentumsdelikten und richtete sich, so die Begründung zur Novelle, gegen "berufsmäßige Eigentumsverbrecher". Vorbestrafte, nach Verbüßung längerer Frei144 Zum Vorrang des Schutzgedankens Klee, DStR 1943, 79 f.; Freister, DStR 1939, 338: Bei Schwerkriminalität und bei erhöhtem Schutzbedürfnis (Krieg) müsse "auch bei § 51 II der Schutzgedanke sich so weit in den Vordergrund schieben, daß ohne zwingenden Grund eine Milderung nicht eintritt"; zu Freislers Gleichrichtung von Schutz und Sühne bes. [Nr. 39] 2a. Zur "Mehrdimensionalität" des § 51 II vom Ausgangspunkt einer Lebensführungs- oder Lebensgestaltungsschuld bei Anerkennung eines allein von spezialpräventiven Erwägungen beherrschten Bereichs Mezger1 (1943), S. 85 f., 169 f. 145 146 147 148 149

Zur Charakter- (Täter-)Schuld oben 2d Fn. 51 ff. Täterstrafrecht II, S. 34. AaO, S. 152,150. Vgl. Dahm, DR 1942,331. Vgl. Pfundtner/Neubert/Rietzsch (1933 ff.), II c 10, § 330a Anm. 1, S. 44a27; ähnlich L. Schäfer/Wagner/ Schafheutie (1934), § 330a Anm. 1. 150 Vgl. § 367 E 1927 und schon §§ 335 E 1925, 327 E 1922 (Radbmch) und § 274 E 1919 mwN zu den Vorläufern.

151 So auch die Entwürfe aaO.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

heitsstrafen entlassene Einbrecher würden "nicht selten im Besitz von Diebeswerkzeugen betroffen, ohne daß die Polizei mit den Waffen des Strafrechts gegen den als gefährlich erkannten Verbrecher vorgehen könnte". Das Zuwarten, "bis neue Diebstähle nachgewiesen werden" könnten, wollte das Gesetz künftig vermeiden, indem es schon den Besitz von Diebeswerkzeugen in der Hand "von Verbrechern und ihrem Anhang" mit Strafe bedrohte"152. § 245a I galt unmittelbar dem "Eigentumsverbrecher". Absatz 1 setzte eine Vorverurteilung wegen bestimmter erschwerter Diebstahls- oder Hehlereitaten oder wegen Raubes voraus und drohte dem Vorverurteilten mit Gefängnisstrafe nicht unter drei Monaten, wenn er "Diebeswerkzeug in Besitz oder Gewahrsam hat oder von einem anderen für sich verwahren läßt ... sofern sich nicht aus den Umständen ergibt, daß das Werkzeug nicht zur Verwendung bei strafbaren Handlungen bestimmt ist".

Im Ergebnis wurde damit eine vermutete Vorbereitungshandlung zu irgendwelchen, bestimmten oder unbestimmten, Delikten unter Strafe gestellt153. Zum Begriff des Diebeswerkzeugs gehörten an sich die Eignung und die Bestimmung zur Begehung von Diebstahlstaten. Einen positiven Nachweis der Zweckbestimmung verlangte § 245a nicht: Das Zulassen des "Entlastungsbeweises"154 verdeutlichte den Willen des Gesetzgebers, Beweisschwierigkeiten auszuräumen und schon dann zu strafen, "wenn jemand einen Gegenstand, der seiner Beschaffenheit nach als Diebeswerkzeug geeignet ist, in Kenntnis dieser äußeren - 'objektiven' - Eignung in Besitz oder Gewahrsam hat"155. Nur wenn sich das Gericht bei objektiv als Diebeswerkzeug geeigneten Gegenständen nach "den Umständen" von der fehlenden Zweckbestimmung zu Diebstahlstaten positiv überzeugen konnte, sollte Straflosigkeit eintreten156. Dem "Anhang" der Eigentumsverbrecher, den "Kaschemmenwirten und ähnlichen Personen"157, galt § 245a II, der die Inverwahrungnahme und Überlassung von Diebeswerkzeug unabhängig von irgendwelchen Vorstrafen oder Vortaten unter Strafe stellte. Auch hier brachte das Gesetz eine Beweiserleichterung, indem es die Kenntnis des Verwendungszwecks des zur Begehung einer Diebestat geeigneten Werkzeugs beim Verwahrer oder Überlassenden widerleglich vermutete 158 . Mit dieser eigentümlichen Vorschrift wurde die Strafbarkeit der Vorbereitung fremden Tuns äußerst weit ausgedehnt und seltsamerweise über die strafbare Vorbereitung eigenen Tuns hinaus erstreckt159.

152 Begr. (Fn. 6), S. 3 unter Hinweis auf italienische und englische Vorbilder. Zusf. zur Entstehungsgeschichte BGHSt. 8,110,111. 153 154 155 156 157 158 159

Vgl. Begr. E 1962, S. 400 ("rechtsstaatlich nicht unbedenklich") und Fn. 5. Vgl. Begr., aaO. RGSt. 69,80,81 (Urt. v. 8.1.1935). Vgl. Begr. (Fn. 6), S. 3 und RG, aaO, 82. Vgl. Begr., aaO. AaO. Vgl. Kohlrausch/Lange* (1943), § 245a Anm. 2.

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Die erste Phase: 1933 bis 1935

6. Schlußbetrachtung Die vorangegangene Darstellung hat neben den Gesetzgebungsmaterialien die praktische Handhabung des Gesetzes darzustellen versucht und namentlich auch die straftheoretische Diskussion angesprochen, die um bestimmte Vorschriften der Novelle (§§ 20a, 51 II) kreiste. Versucht man jenseits strafrechtsdogmatischer Einzelfragen und Verästelungen aus dem Horizont der Jahreswende 1933/34 die Neuerungen auf ihren allgemeinsten Nenner zu bringen, so erscheint die Charakterisierung Rietzschs in einer der ersten Stellungnahmen zum Gewohnheitsverbrechergesetz treffend: "In der Bestrafung schuldhaften Verhaltens kann und wird sich ... künftig die Aufgabe des Strafrechts nicht erschöpfen". Bezeichnet wird damit der Gegensatz zur bisherigen "Aufgabe der Strafgerichte ... bei Feststellung einer Straftat die gerechte Strafe zu finden"160. Lange vor der Kreation von Täterschuldlehren markiert Rietzsch mit dem Blick für das praktische Wesentliche eine mit dem Gewohnheitsverbrechergesetz bereichsweise vollzogene Wende zu einem "Täterstrafrecht", wie Mezger 1934 seinen Übersichtsbeitrag zum Gesetz betitelte161: Das Gewohnheitsverbrechergesetz richtet den Blick auf den Täter und seine Gefährlichkeit. Neben die rückschauende Beurteilung der Tat tritt die in die Zukunft schauende Betrachtung des Täters162. Das ist, jenseits der Entscheidung für ein zweispuriges Geleis zum angestrebten Ziel, der wesentliche Inhalt des Gesetzes: Der Richter übernimmt, vornehmlich unter dem Etikett der Maßregel, den "Schutz der Volksgemeinschaft" vor gefährlichen Tätern. Ihn, den Richter, gilt es künftig "zu der ihm bisweilen noch fremden Aufgabe der Ausscheidung volks- und rasseschädlicher Bestandteile aus der Volksgemeinschaft mit den Mitteln des Strafrechts erfolgreich zu erziehen"163. Die künftige Verarbeitung der Täterorientierung durch das Strafrechtssystem ist noch offen; klar ist, daß die Umorientierung auf die Täterpersönlichkeit auch vor der Strafe nicht halt machen wird, wie namentlich der § 20a beweist: § 20a gibt die tatstrafrechtlichen Bindungen zwar nicht auf, lokkert sie aber im Vergleich etwa zum E 1927 deutlich: Die Mindestvoraussetzungen der (fakultativen) Strafschärfung werden Grundlage einer zwingenden Strafschärfung (§ 20a I); § 20a II bleibt bei einer Tatenhäufung, sieht aber von Vorverurteilungen ab und rückt den Täter ins Zentrum 164 . Der Kompromißcharakter der Vorschrift legt die Frage nahe, ob die formellen Vortatvoraussetzungen vielleicht bloße Übergangsbestimmungen auf dem Weg zur Täterstrafe sind und ob nicht bald solch "formale Krücken"165 überhaupt beiseite zu legen sein werden zugunsten einer direkten Täterwertung166. In § 20a ist die direkte Verbindung von Täter und Strafe angelegt. Die Nähe der Voraussetzungen von Strafschärfung und Sicherungsverwahrung unterscheidet die Regelung im Ergebnis (Freiheitsentzug) kaum von der unbestimmten Strafe, also von der einspurigen Lösung. Die Täterschuldlehren versuchen später,

160 DJ v. 1.12.1933,745; als "kurz und treffend" zitiert bei Mezger, DStR 1934,125. 161 DStR 1934,125. 162 Vgl. Rietzsch, DJ 1933,746. 163 Mezger, DStR 1934,127. 164 Vgl. Exner, ZStW 53 (1934), 652 für den die Voraussetzungen des § 20a II "keine ins Gewicht fallende Einschränkung des richterlichen Ermessens" bedeuten; freilich bezieht Exner - nach dem Gesetzeswortlaut möglich - anders als die spätere Rspr. Übertretungen ein, vgl. aaO und oben 2b bb Fn. 22. 165 AaO, 152 f. 166 Dazu vor allem 4. Teil bes. A II 2, IV; Β I mit Stellungnahmen Mezgers und Exners.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

durch eine Erweiterung des Schuldbegriffs die Brücke vom Täter zur Strafe zu errichten, ebnen damit aber zugleich den Unterschied von Schuld und Gefährlichkeit ein. So ist im Gewohnheitsverbrechergesetz die Möglichkeit eines weiteren Vordringens des Sicherungsgedankens in das Gebiet der Strafe angelegt; als möglicher Weg zeichnet sich die Gleichrichtung von Schuld und Gefährlichkeit ab. Die Übernahme von Sicherungsaufgaben durch die Justiz wirkt nicht nur im Verhältnis von Strafe und Maßregel. Sie ist auch in ihren potentiellen Fernwirkungen auf die Zuständigkeitsfrage beachtlich. Die Justiz übernimmt mit dem Gewohnheitsverbrechergesetz Präventivaufgaben, d. h. Aufgaben, die bei materieller Betrachtung polizeilichen Charakter tragen. So gesehen faßt die Justiz im Gebiet der Polizei Fuß. Wie aber verhält es sich umgekehrt? Die parallel zum Ausbau des Justizstrafrechts sich entwickelnde vorbeugende polizeiliche Verbrechensbekämpfung wird noch zu behandeln sein. Sie beweist, daß die Justiz mit dem Gewohnheitsverbrechergesetz kein Alleinrecht auf dem Gebiet der Prävention erlangte. Falls aber die Übernahme von Sicherungsaufgaben durch die Justiz die Strafzwecke miterfassen sollte - konnte dann nicht die Polizei eines Tages ihrerseits im eigentlichen Gebiet der Justiz, bei der Verhängung der Strafe, wohlbegründete Ansprüche erheben? [Nr. 13] Gesetz zur Änderung von Vorschriften des Strafrechts und des Strafverfahrens vom 24. April 1934 (Verratsnovelle) 1. Einführung Die Novelle1 brachte die dritte Teilreform des RStGB seit 1933 und betraf den Hoch- und Landesverrat (Verratsnovelle). In ihrem materiellrechtlichen Teil diente die Novelle der Zusammenfassung, Ergänzung und wesentlichen Verschärfung des bis dahin geltenden Rechts2. Gekoppelt waren diese Neuerungen mit der Errichtung des Volksgerichtshofs, dem in einem entformalisierten Verfahrensgang die einziginstanzliche Anwendung des Gesetzes überlassen wurde3. Im folgenden wird der materiellrechtliche Teil der Novelle näher behandelt (dazu 2 bis 4), die Verbindung mit der anwendungszuständigen Institution ist zu würdigen (dazu 5). a) Die Ziele der Novelle Die amtliche Begründung zur Verratsnovelle hob einleitend die Notwendigkeit einer Zusammenfassung des unübersichtlich gewordenen geltenden Strafrechts hervor: Die SchutzVO und die VerratsVO, beide vom 28. Februar 19334, das Gesetz zur Gewährleistung des Rechtsfriedens vom 13. Oktober 19335, das Gesetz gegen den Verrat militärischer Geheim1

2 3 4 5

RGBl. I, S. 341. Reichsregierungsges. Zeichnung: Rk Adolf Hitler, RMdJ zugleich für den RMdl Gärtner, Reichswehrminister von Blomberg; zur Behandlung im Kabinett vgl. Minuth (1983), Dok. Nr. 314, S. 1176 ff. (Begr.), Dok. Nr. 323, S. 1216 f. und Dok. Nr. 324, S. 1221. Vgl. zusf. die Würdigung Mezgers, in: H. Frank, NS-Handb2 (1935), S. 1386. Vgl. Art. III des Ges. Zum Verfahrensgang vgl. die Hinw. oben 1. Teil A 1 3 b bes. bei Fn. 100 ff. Vgl. [Nr. 2] bei Fn. 7, [Nr. 3], Die VerratsVO wurde durch die Verratsnovelle aufgehoben, Art. VII Nr. 4. Vgl. [Nr. 11] bei Fn. 8.

Α. Die erste Phase: 1933 bis 1935

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nisse6 und namentlich das RStGB auf dem Stand des Änderungsgesetzes vom 26. Mai 19337 enthielten einschlägige Regelungen. Die so entstandene Unübersichtlichkeit bedürfe "schon mit Rücksicht auf die praktische Handhabung der Vorschriften durch die zahlreichen, mit der Abwehr von Hochverrat und Landesverrat betrauten Behörden der Abhilfe". Aufgabe des Änderungsgesetzes sei es deshalb, "das neue Recht den gegenwärtigen praktischen Bedürfnissen anzupassen"; der allgemeinen Reform solle "nicht vorgegriffen" werden8. Die wesentlichen inhaltlichen Änderungen sah die amtliche Begründung "namentlich" in der "Verschärfung der Strafdrohungen bei besonders wichtigen Tatbeständen", sowie in der Gleichstellung von Versuch und Vollendung durch die Strafbarkeit des "Unternehmens" nicht nur des Hochverrats9, sondern auch des Landesverrats10. Die Ausgestaltung der Tatbestände wird noch im einzelnen zu erörtern sein. Die massiven Strafschärfungen bestanden insbesondere in der Häufung der Todesstrafe, die in den §§ 80 I, 81 I, 82 I, II, 83 III, 89 I, 90 I, 90g, 91a, 91b teils zwingend, teils fakultativ angedroht wurde. Das RStGB hatte demgegenüber in der vor 1933 maßgeblichen Fassung die Todesstrafe nur für den Mordversuch am Kaiser oder dem Landesherrn (§ 80 a. F.) gekannt. Die Strafrahmentechnik der Novelle war beweglich: Die Hochverratstatbestände (§§ 80 bis 83) wurden von unbenannten fakultativen Strafänderungen ergänzt (§ 84). Auch beim Landesverrat findet sich eine Reihe von fakultativen oder unbenannten Strafänderungen (§§ 89, 90, 90a, 90g, 90h, 91b). Ferner ließ die Verratsnovelle bei Verbrechen kumulativ Geldstrafe oder Vermögenskonfiskation zu sowie neben jeder Freiheitsstrafe Polizeiaufsicht (§§ 86, 93). Für die Sicherungsverwahrung dispensierte das Gesetz - erstaunlicherweise nur für den Landesverrat11 - von den Voraussetzungen der §§ 42e, 20a12 und schrieb die Anordnung der Sicherungsverwahrung neben Zuchthausstrafe vor, "wenn die öffentliche Sicherheit es erfordert" (§ 93). In den Strafschärfungen kam die von der amtlichen Begründung angesprochene neue Wertung zum Ausdruck, die Hoch- und Landesverrat als "schwere Vergehen gegen die Volksgemeinschaft" finden müßten13. In den offiziösen Kommentierungen und Stellungnahmen von Mitarbeitern des Reichsjustizministeriums wurde diese neue Wertigkeit besonders betont: Indem Hoch- und Landesverrat nunmehr zu den "denkbar schwersten Verbrechen gegen die 6

Ges. v. 3. 6. 1914, RGBl. I, S. 195, aufgehoben durch Art. VIII Nr. 1 der Verratsnovelle. Näher zu den Vorbildern der Verratsnovelle Schroetter (1970), S. 157 ff. und Amtl. Begr. zu §§ 89, 90, 90c-90e, 92,92b-92f, 93,93a.

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Vgl. [Nr. 8] und dort Fn. 6,18,16 (betr. Festungshaft). Amtl. Begr., DJ 1934, 595., Hervorhebung aaO. - Der E 1936 bescheinigte der Gesetzgebung seit 1933, also auch der Verratsnovelle, ein "wirksamens und geschlossenes Verteidigungsnetz gegen den Verräter" geschaffen zu haben, das als Vorbild für die einzelnen Tatbestände des E 1936 dienen könne (Begr. S. 82).

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Vgl. für den Hochverrat § 81 a. F. DJ 1934,595.

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Anders § 121 E 1936 und dazu Begr. S. 94. Für ein Teilgebiet waren damit die einschränkenden Kautelen der §§ 20a, 42e schon vier Monate nach Erlaß des Gewohnheitsverbrecherges. - und zwar mit unbegrenzter Rückwirkung auf noch zu verbüßende Strafen, Art. XIII - beseitigt! Vgl. soeben [Nr. 12], 6. - Amtl. Begr., DJ 1934, 597: Schon durch "diese eine Tat" könne das Fehlen sittlicher Hemmungen bewiesen sein, deren Vorhandensein die Voraussetzung für die Eingliederung in die Volksgemeinschaft sei. DJ 1934,595.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

Volksgemeinschaft" gestempelt würden, atme die Novelle "ganz den Geist der neuen Volksbewegung"14. Die Wahl scharfer Strafrahmen wurde vielfach als Ausdruck einer andersartigen Unrechtsbegründung, des Treubruchs gegenüber der Volksgemeinschaft, gedeutet15. b) Die Bewertung im Nachkriegsschrifttum Im Nachkriegsschrifttum wird die Verratsnovelle unterschiedlich bewertet. Als typisch nationalsozialistisch und rechtsstaatswidrig hat Eberhard Schmidt das "starke Anwachsen des Anwendungsgebietes der Todesstrafe" gekennzeichnet, die insbesondere durch die "außerordentliche Erweiterung der Bestimmungen über Hoch- und Landesverrat" bewirkt worden sei16. In ähnlicher Weise hat W. Wagner die Verratsnovelle als rechtsstaatswidrigen Ausdruck nationalsozialistischer Auffassungen charakterisiert17. Schorn erwähnt den materiellrechtlichen Teil der Novelle dagegen nicht als eines der "Mittel zur Festigung der Machtstellung Hitlers", sondern hebt nur die Errichtung des Volksgerichtshofs hervor18. Schroeder wiederum hat, nach eingehender Erörterung der einzelnen Vorschriften, dem materiellrechtlichen Teil der Novelle eine "überraschend konservative" Gesamtausrichtung bescheinigt, jedenfalls im Vergleich "zu der nationalsozialistischen Polemik gegen das überkommene Recht"19. Schroeders Bewertung mag zunächst überraschen oder befremden. Sie wird nachvollziehbar, wenn man von den Strafschärfungen absieht und prüft, inwieweit die Tatbestände der Novelle vom RStGB in der vor 1933 maßgeblichen Fassung oder von vornationalsozialistischen Entwürfen abweichen. Dann zeigt sich nämlich, daß zahlreiche Vorschriften der Novelle sich entweder an das bis dahin geltende Recht anlehnen oder Regelungen aus vorangegangenen Entwürfen übernehmen20. Soweit daneben Vorschriften aus den 1933 erlassenen Gesetzen und Verordnungen übernommen werden, hat die Verratsnovelle jedenfalls keine eigenständige innovative Bedeutung. Schroeders Urteil, durch eingehende Nachweise aus der Reformgeschichte abgestützt, kann ferner auch auf die bundesdeutsche Nachkriegsgesetzgebung verweisen. Die alliierte Gesetzgebung hob die Novelle von 1934 im Kontrollratsgesetz Nr. 1 (Art. I lc) auf und bezog später weitere staatsschutzrechtliche Strafvorschriften ein, so daß der Bundesgesetzgeber eine "tabula rasa" vorfand. Er hatte damit "die große Chance, ohne Rücksicht auf Überkommenes" ein neues Staatsschutzrecht zu schaffen21. Gleichwohl erließ der Nachkriegsgesetzgeber - un-

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L. Schäfer, DJZ 1934, Sp. 632. Vgl. auch L. Schäfer/Richter/Schafheutle (1934), S. 133; H. Richter, RVerwBl 1934,493 f. und DJ 1934,605. S. auch Freister, DJZ 1935, Sp. 910. Mit der Qualifikation als "Vergehen gegen die Volksgemeinschaft" (nicht: den Staat) wies die Amtl. Begr. selbst die Richtung. Zum "Treubruch" L. Schäfer, DJZ 1934, Sp. 632; allg. namentlich Dohm, ZStaatW 95 (1935), 283 ff.; s. auch Freister, DJZ 1935, Sp. 908,910. 1965, S. 433., Hervorhebung aaO. Für den Landesverrat ähnlich Kohlmann (1969), S. 53, 55 (rechtsstaatswidrige Gleichstellung von Versuch und Vollendung beim Landesverrat, "Bruch" mit der Entwicklung). W. Wagner (1974), S. 55 ff. Schorn (1963), S. 114 ff., 78; zu Schorns Methode vgl. 1. Teil A I Fn. 208. Schroeder (1970), S. 195. Dazu eingehend aaO, S. 157 ff. sowie die Amtl. Begr., DJ 1934,595 zu den einzelnen Vorschriften. Vgl. Schroeder (1970), S. 176 mit Nachw.

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ter Herabsetzung der Strafdrohungen - zahlreiche Vorschriften, deren Formulierungen sich offenkundig an die Verratsnovelle anlehnten. Schroeder konstatiert deshalb eine "ζ. T. verblüffende Kontinuität"22 zwischen der Novelle und späteren Regelungen. Falls eine sachliche Kontinuität zwischen der Verratsnovelle und dem bundesdeutschen Staatsschutzstrafrecht bestünde, wäre dies in der Tat ein höchst bemerkenswertes Phänomen: Erweist sich der "jeweilige strafrechtliche Staatsschutz ... als eine Funktion der Staatsauffassung" und hat sich die maßgebliche Staatsauffassung grundlegend gewandelt, so erscheint es naheliegend, eine entsprechende Gestaltveränderung des strafrechtlichen Staatsschutzes zu erwarten. Das gilt zumal im Verhältnis zwischen dem Dritten Reich und der Bundesrepublik Deutschland, sieht doch der "Schutz, den ein totalitärer Staat sich zulegt und zu seiner Erhaltung benötigt" anders aus als der Schutz des demokratisch verfaßten Staates23. Was also gilt, falls tatsächlich in weiten Bereichen eine Kontinuität der gesetzlichen Strafvoraussetzungen besteht? Beweist solche Kontinuität einen in die Bundesrepublik hinein fortgeführten rechtsstaatswidrigen Zug des Strafrechts? Oder belegt sie umgekehrt einen "konservativen", rechtsstaatlich erträglichen Charakter der Tatbestände der Verratsnovelle? War vielleicht nur die Handhabung der Novelle durch die falsche Stelle, den Volksgerichtshof, "nationalsozialistisches Unrecht"? Oder ist die Novelle in sich zwiespältig und beweist sich gerade und ausgerechnet im Staatsschutzstrafrecht die Richtigkeit und Notwendigkeit einer Unterscheidung von rechtsstaatswidrigen und rechtsstaatskonformen Elementen in der Strafrechtsentwicklung ab 1933? Diese Fragen führen geradewegs in das Problemzentrum der Einordnung und Bewertung der Strafrechtsentwicklung im Dritten Reich. Ob sie sich allerdings überhaupt und in dieser Schärfe stellen, hängt davon ab, ob und in welchem Sinne tatsächlich "Kontinuität" in der Entwicklung des strafrechtlichen Staatsschutzes anzunehmen ist. Das wird abschließend zu klären sein (dazu 5), soweit das ohne Vorgriffe auf die weitere Darstellung möglich ist. Die folgende Bestandsaufnahme wird zunächst eine Materialgrundlage schaffen. Der Inhalt der Novelle ist im Überblick darzustellen (dazu 2a, 3a, 4). Dabei ist, um jene Bewertungsfragen aufgreifen zu können, auf vornationalsozialistische "Vorfahren", seien sie in Gesetzen oder Entwürfen enthalten, hinzuweisen. Auch die bundesdeutschen "Nachfahren" sind zu benennen; insoweit wird auf das StÄG 1951 abgestellt: Den dort aufgestellten Tatbeständen wurde vom Bundesgesetzgeber rechtsstaatliche Vertretbarkeit bescheinigt. Auf die Frontenbildungen im Streit um Grundkonzept und einzelne Vorschriften des StÄG 1951 sowie auf die weitere Entwicklung ist hier nicht einzugehen. Dieser Aufgabe hat sich bereits Schroeder gewidmet24, auf dessen Darstellung im übrigen auch zum Inhalt der Verratsnovelle ergänzend zu verweisen ist25. Im folgenden wird die Entwicklung der Gesetzeslage beim Hochverrat (2a) und Landesverrat (3a) skizziert. Die praktische Handhabung zweier überaus wichtiger Vorschriften, der Vorbereitung zum Hochverrat und der Feindbegünstigung, wird exemplarisch dargestellt (2b, 3b). Den Hinweisen zu den Vorschriften über den Geltungsbereich (4) folgt die Erörterung 22 23 24 25

So Schroeder (1970), S. 183 mit Blick auf das Verhältnis der Verratsnovelle zum RegE StÄG 1950 (BT-Dr 1/1307). So v. Weber, Verhandlungen des 38. DJT (1951), S. E 5,12. Dazu eingehend Schroeder (1970), S. 176 ff. Zum StÄG 1951 vgl. auch den RegE mit Begr. (BT-Dr 1/1307); zu den Abweichungen Schroeder, S. 185 ff. Schroeder (1970), S. 157 ff.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

der "Kontinuität" des Staatsschutzstrafrechts (dazu 5), der sich eine Zusammenfassung der Ergebnisse (dazu 6) anschließt. 2. Hochverrat a) Die einzelnen Regelungen (§§ 80 bis 87) Die Novelle stellte den Hochverrat als 1. Abschnitt an die Spitze des Besonderen Teils des RStGB. Die einleitende Bestimmung (§ 80) betraf den Gebiets- und Verfassungshochverrat. Dieser blieb in Übereinstimmung mit dem bis dahin geltenden Recht 26 , aber im Gegensatz etwa zum E 192727 Unternehmensdelikt. Der Gebietshochverrat (§ 80 I) rückte dabei vor den Verfassungshochverrat (§ 80 II) 28 , die Todesstrafe war für beide Hochverratsfälle zwingend vorgeschrieben. Das StÄG 1951 beließ - anders als der Regierungsentwurf 29 - den Unternehmenscharakter des Hochverrats und regelte den Verfassungshochverrat wieder vor dem Gebietshochverrat 30 . Entsprechend der veränderten verfassungsrechtlichen Lage wurde der Gebietshochverrat gegen ein Land einbezogen 31 . Das Unternehmensdelikt des hochverräterischen Zwanges gegen den Reichspräsidenten, den Reichskanzler oder ein Mitglied der Reichsregierung erfaßte nötigende Angriffe mit Bezug auf die Amtsausübung (§ 81). Der Tatbestand lehnte sich namentlich an den E 192732 an und wurde vom StÄG 1951 - unter Beschränkung auf den Bundespräsidenten - übernommen 33 . Die Strafdrohung des § 81 lautete auf Todesstrafe oder lebenslange oder zeitige Zuchthausstrafe nicht unter fünf Jahren. Vergleichsweise kompliziert war die Vorbereitung hochverräterischen Unternehmens geregelt. Zunächst wurden - entsprechend den bisherigen §§ 83, 84 - aus der Gruppe der Vorbereitungshandlungen einige besonders schwere Verstöße herausgehoben. Die Verabredung eines hochverräterischen Unternehmens (§ 82 I) sowie u. a. das In-Beziehung-Treten zu ausländischen Regierungen zu hochverräterischen Zwecken (§ 82 II) 34 wurden mit der Strafe des § 81 bedroht, also mit Zuchthaus von mindestens fünf Jahren bis zur Todesstrafe. Die schärfste Strafdrohung der §§ 83, 84 a. F., die zeitige Zuchthausstrafe, gab damit künftig den mildesten Strafrahmen ab. Die praktisch wichtigste Vorschrift enthielt der erheblich verschärfte § 83, der in einer Generalklausel jede Vorbereitung hochverräterischen Unternehmens unter Strafe stellte und

26 27 28 29 30 31 32 33 34

§ 811 Nr. 2-4 RStGB a. F. Vgl. § 861 E 1927. Schroetter (1970), S. 158, sieht darin u. a. einen Ausdruck nationalsozialistischer Ideologie ("Blut und Boden"). Vgl. aber § 81 des geltenden Rechts. Vgl. § 87 E StÄG 1950, BT-Dr 1/1307; zu den Gründen die Amtl. Begr., BT-Dr 1/1307, S. 33. Vgl. § 801 Nrn. 1 und 2 StÄG 1951; anders wieder das geltende Recht (§ 811). § 801 Nrn. 1-3 StÄG 1951 und § 82 geltendes Recht. Vgl. § 86 II E 1927 (Unterschied: Erfolgsdelikt, Beschränkung auf Reichspräsidenten); näher dazu Schroetter (1970), S. 158 mwN. Vgl. § 83 II StÄG 1951. Zum geltenden Recht § 1061. Vgl. §§ 83, 84 a. F.

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Α. Die erste Phase: 1933 bis 1935

bestimmte Erschwerungsgründe hinzufügte. § 83 wird wegen seiner überragenden praktischen Bedeutung unter Einbeziehung der Rechtsprechung besonders behandelt (dazu b). § 84 ließ, als Gegengewicht zu den drakonischen Regelstrafdrohungen der §§81 ff., in "minder schweren Fällen" erhebliche Milderungen zu. Die Spannweite der Strafrahmen reichte dadurch von zwei Jahren Zuchthaus (§§ 81, 82) oder einem Jahr Gefängnis (§ 83) bis zur Todesstrafe. Die Festungshaft war nunmehr auch für den Hochverrat abgeschafft. § 85 betraf - in Anlehnung an § 6 VerratsVO 35 - die fahrlässige Verbreitung hochverräterischer Schriften36. § 86 ließ Nebenstrafen, u. a. Geldstrafe in unbegrenzter Höhe und in bestimmten Fällen die Vermögenseinziehung, sowie Polizeiaufsicht zu37, § 86a die Einziehung von Tatmitteln. § 87 brachte eine Legaldefinition des "Unternehmens" als Vollendung und Versuch. b) Die Vorbereitung zum Hochverrat (§ 83) aa) Überblick § 83 bedrohte in Absatz 1 zunächst - in Anlehnung an § 85 a. F.38 und übereinstimmend mit den früheren Entwürfen 39 - die öffentliche Aufforderung zu einem hochverräterischen Unternehmen mit Zuchthausstrafe bis zu zehn Jahren, erweiterte den Tatbestand jedoch um das Merkmal der öffentlichen "Anreizung" zu einem hochverräterischen Unternehmen. Von wesentlicher, in der amtlichen Begründung besonders hervorgehobener Bedeutung war die Generalklausel des Absatzes 2, die alle sonstigen Vorbereitungshandlungen der Aufforderung oder Anreizung zu einem hochverräterischen Unternehmen gleichstellte und damit eine wesentliche Strafschärfung gegenüber dem vornationalsozialistischen Recht bewirkte, das für nicht-qualifizierte Vorbereitungshandlungen lediglich Zuchthausstrafe bis zu drei Jahren vorgesehen hatte40: Mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren wurde nach § 83 II bestraft, "wer ein hochverräterisches Unternehmen in anderer Weise vorbereitet". Damit sollte die "große Masse der dem Umsturz dienenden Betätigungen" erfaßt werden, die nach Auffassung der amtlichen Begründung "in ihrer Gefährlichkeit der Aufforderung zum Hochverrat nicht nachstanden"41. Für hochverräterische Handlungen im Sinne der Absätze 1 und 2 enthielt Absatz 3 Strafschärfungsgründe, bei deren Vorliegen auf Todesstrafe oder auf lebenslanges Zuchthaus oder auf Zuchthaus nicht unter zwei Jahren zu erkennen war. Dabei entsprach Absatz 3 Nr. 2 (Zersetzungshochverrat) unter Schärfung der angedrohten Strafe dem § 5 der VerratsVO vom 28. Februar 193342. § 83 III Nr. 4 übernahm § 1 Nrn. 3 und 4 des Gesetzes zur Gewähr-

35

36

37 38 39 40

41 42

Vgl. [Nr. 3] bei Fn. 12. Ähnlich, wenn auch enger, § 85 a. F. § 84 diente dem StÄG 1951 als Vorbild für den fahrlässigen Hochverrat durch Druck oder Rundfunk (§ 84), der teilweise erweitert wurde, vgl. Begr. zu § 89 E StÄG 1950, BT-Dr 1/1307, S. 34. Vgl. oben 1 vor Fn. 11. Dort wurde die · einengend beschriebene - öffentliche Aufforderung erfaßt. Vgl. §§ 86 E 1925,87 E 1927. Vgl. § 8 6 a. F. DJ 1934,595. Dazu oben [Nr. 3],

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

leistung des Rechtsfriedens 43 und erfaßte neben der Vorbereitung hochverräterischer Unternehmen im Ausland das Unternehmen der Einfuhr von Darstellungen hochverräterischen Inhalts. Schutzobjekte waren dabei neben hochverräterischen Schriften auch Schallplatten oder bildliche Darstellungen. Nach § 83 III Nr. 1 war die Strafe ferner zu schärfen, wenn "die Tat darauf gerichtet war, zur Vorbereitung des Hochverrats einen organisatorischen Zusammenhang herzustellen oder aufrechtzuerhalten". Dieser Tatbestand war als solcher neu, die Formulierungen teilweise vornationalsozialistischen Vorschriften entlehnt44. Vollständig neu war der Tatbestand der sog. hochverräterischen Massenpropaganda, bei dem die strafbare Handlung "auf Beeinflussung der Massen durch Herstellung oder Verbreitung von Schriften, Schallplatten oder durch Verwendung von Einrichtungen der Funkentelegraphie oder Funkentelephonie" gerichtet sein mußte (§ 83 III Nr. 3). Das StÄG 1951 begnügte sich damit, die Vorbereitung zum Hochverrat als solche selbständig unter Strafe zu stellen und verzichtete auf die Scheidung verschiedener Typen von Vorbereitungshandlungen45. Die tatbestandlichen Voraussetzungen, die nach § 83 III i. d. F. der Verratsnovelle zur Annahme einer qualifizierten Vorbereitungshandlung zum Hochverrat führten, fanden allerdings teilweise in einem anderen systematischen Zusammenhang Eingang in das Nachkriegsstrafrecht46. bb) Die Grundtatbestände, insbesondere die Generalklausel des § 83 Π in der Praxis des Volksgerichtshofs § 83 ermöglichte in seiner Handhabung durch den Volksgerichtshof entsprechend der Zielsetzung des nationalsozialistischen Gesetzgebers47 eine umfassende Bekämpfung "umstürzlerischer Tendenzen". Für das "öffentliche" Auffordern oder Anreizen zum hochverräterischen Unternehmen (Abs. 1) sollten die vom Reichsgericht aufgestellten Grundsätze maßgeblich sein. Danach war eine Handlung schon dann "öffentlich", wenn sie von einem zahlenmäßig begrenzten, aber

43 44

Dazu [Nr. 11] Fn. 8. Näher Schroetter (1970), S. 159 mit Nachw.

45

Vgl. § 8 1 1 (Bund) und II (Länder) StÄG 1951 und § 83 des geltenden Rechts. Der RegE StÄG 1950 hatte demgegenüber eine besondere Bestimmung über die Strafbarkeit von Vorbereitungshandlungen für überflüssig erachtet; zu den Gründen BT-Dr 1/1307, S. 33. Elemente des Zersetzungshochverrats (§ 83 III Nr. 2) finden sich im Tatbestand der Zersetzung (§ 91 StÄG 1951) wieder, der dem "Umsturz auf kaltem Wege" (Staatsgefährdung) entgegenwirken sollte vgl. Schwarz" (1954), Vor § 88 Anm. 2; Jagusch, LK7 (1954), Vor § 80 Anm. 4 - und den Personenkreis des § 83 III Nr. 2 RStGB 1934 erweiterte, vgl. v. Weber, MDR 1951, 521: § 91 StGB 1951 "erinnert" an den Zersetzungshochverrat. - Der Qualifikationstatbestand der hochverräterischen Massenpropaganda (§ 83 III Nr. 3 RStGB 1934) verschwand als solcher. Das StÄG 1951 stellte aber, im Abschnitt über die Staatsgefährdung, die Einfuhr von Schriften hochverräterischen Inhalts unter Strafe (§ 93). Das 3. StÄG erweiterte den Tatbestand gravierend, indem es auch die Herstellung, Vervielfältigung und Verbreitung der genannten Schriften erfaßte, vgl. näher Schroetter (1970), S. 199. Wesentlich enger § 86 des geltenden Rechts.

46

47

Vgl. Amtl. Begr., DJ 1934,595.

Α. Die erste Phase: 1933 bis 1935

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durch persönliche Beziehungen nicht zusammengehaltenen Personenkreis wahrgenommen werden konnte48. Von besonderer Bedeutung war die Auslegung des Absatzes 2, die jede entfernteste Vorbereitungshandlung eines hochverräterischen Unternehmens erfaßte. Das ungeschriebene Erfordernis eines "konkret bestimmten hochverräterischen Unternehmens" 49 hatte nur scheinbar eine tatbestandsbegrenzende Wirkung. Feststehen mußte nämlich - insoweit im Ausgangspunkt mit der vornationalsozialistischen Rechtsprechung des Reichsgerichts übereinstimmend - nur das Angriffsobjekt des Unternehmens, die Ausführung, mußte als Endziel ins Auge gefaßt sein50. Die Ziele und Bestrebungen der Kommunisten und der Sozialdemokraten wie ihrer Parteien galten generell als hochverräterisch und auf den Sturz des nationalsozialistischen Staates gerichtet. Daneben wurde der hochverräterische Charakter zahlreicher anderer Organisationen vom Volksgerichtshof bejaht, ζ. B. auch der "Schwarzen Front" Otto Strassers51 wegen ihrer "rechtshochverräterischen"52 Bestrebungen; auch die Gruppierung der Nationalbolschewisten um Ernst Niekisch wurde als verbotene Partei bewertet53. Überwiegend waren freilich kommunistische Gruppierungen oder solche der demokratischen Linken betroffen. Eine Auflistung der einzelnen betroffenen Organisationen findet sich bei Parrisius54, eine zusammenfassende und eingehende Darstellung der einschlägigen Rechtsprechung des Volksgerichtshofs bei Wagner55. Die Richtung der Auslegung des Begriffs hochverräterisches Unternehmen läßt sich zusammenfassend so beschreiben: Jede Unterstützung oder Förderung kommunistischer, sozialistischer, überhaupt antinationalsozialistischer Organisationen sowie jede Betätigung im kommunistischen, sozialistischen oder schlechthin: im antinationalsozialistischen Sinne wurden als Vorbereitung zum Hochverrat beurteilt. Im einzelnen wertete der Volksgerichtshof die materielle Unterstützung von Gefangenen, die wegen Vorbereitung zum Hochverrat inhaftiert waren 56 und sogar die Bestärkung der eigenen (!) kommunistischen Gesinnung durch schriftliche Aufzeichnung als Vorbereitung zum Hochverrat57. Auch die Förderung antinationalsozialistischer Bestrebungen im Ausland galt regelmäßig als Vorbereitung zum Hochverrat, insbesondere soweit es um als kommunistisch angesehene Bestrebungen ging: Da der Kommunismus die Weltrevolution anstrebe und durch Wühlarbeit im Ausland letztlich auch günstigere Bedingungen für eine kommunistische Revolution in Deutschland schaffe, bedeute jede Unterstützung ausländischer Organisationen objektiv eine Förderung auch der illegalen KPD58. So hat der Volksgerichtshof die Teilnahme an einem 48

Vgl. RGSt. 72, 67 mit Rechtsprechungsübersicht sowie Parrisius, LK6 (1944), § 83 Anm. I 4; ob die Rspr. zum Merkmal "öffentlich" in § 5 I Nr. 1 KSStVO [Nr. 26] auf § 83 I zu übertragen sei, läßt Parrisius, aaO, ausdrücklich offen, da ohnehin § 83 II eingreife.

49 50

Vgl. Parrisius, LK4 (1944), § 83 Anm. II 1. Vgl. Parrisius, aaO; W. Wagner (1974), S. 90 jeweils mit Nachw.

51

W. Wagtier (1974), S. 164 ff.; Parrisius, LK6 (1944), § 83 Anm. II 4.

52 53 54 55 56 57 58

Parrisius, aaO. Näher W. Wagner (1974), S. 168 ff. LK4 (1944), § 83 Anm. II 1 f. W. Wagner (1974), S. 107 ff. Vgl. Parrisius, LK6 (1944), § 83 Anm. III 2. VGH Bes. Sen. 1.43 ν. 5.4.1943 bei Parrisius, aaO, § 83 Anm. III 2. VGH 1 H. 22/37 v. 26. 7.1937; 1 H . 5/38 v. 15. 2.1938 und 1 H. 2/38 v. 8. 3.1938 bei Parrisius, aaO, § 8 3 Anm. III 2.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

kommunistischen Schulungslehrgang im Ausland als Vorbereitung zum Hochverrat qualifiziert 59 . Namentlich wurde jede dem sowjetischen Staat günstige Betätigung eines Reichsdeutschen in der Sowjetunion objektiv als Vorbereitung zum Hochverrat angesehen, weil dadurch mittelbar den Zielen der Weltrevolution gedient werde 60 . Allein die innere Tatseite konnte von diesem Ausgangspunkt bei der Förderung kommunistischer oder überhaupt antinationalsozialistischer Organisationen problematisch sein. Namentlich bei Betätigungen Reichsdeutscher im Ausland im Rahmen der dort maßgeblichen rechtlichen und politischen Ordnung sollte der Vorsatz besonderer Prüfung bedürfen. Der hochverräterische Vorsatz entfiel danach bei unpolitischen Tätigkeiten Reichsdeutscher in der Sowjetunion, etwa in Verwaltung oder Wissenschaft, selbst wenn diese den "Bolschewismus" objektiv förderten. In solchen Fällen glaubte man aus der Tätigkeit als solcher keinen Rückschluß auf den hochverräterischen Vorsatz ziehen zu können. Auch die Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei der Sowjetunion sollte als solche noch kein Indiz für hochverräterische Absichten bilden, wohl aber die aktive Mitarbeit 61 . Tatbestandlich erfaßt wurde, praktisch bedeutsam, auch die sog. hochverräterische Mundpropaganda, die immer dann vorlag, wenn der Täter einen anderen zu einer - im beschriebenen Sinne - hochverräterischen Einstellung (!) oder Betätigung veranlassen oder eine bereits vorhandene hochverräterische Einstellung bestärken wollte. Vorsatz sollte hier bei systematischem Vorgehen anzunehmen sein, ferner in aller Regel bei gegenwärtigen oder früheren Mitgliedern und Sympathisanten hochverräterischer Organisationen, namentlich bei überzeugten Kommunisten 62 . Vorsatzausschluß kam bei gelegentlichen "einmaligen Entgleisungen" in Betracht, die nicht als "Ausdruck einer beharrlichen staatsfeindlichen Gesinnung" zu bewerten waren. Dies sollte etwa für Äußerungen Angetrunkener gelten, die "sich zwanglos aus reinem Widerspruchsgeist, aus Eigendünkel, Großsprecherei oder Rechthaberei heraus erklären" ließen, ohne daß die betreffende Person mit der Möglichkeit rechnete, hierdurch den "gewaltsamen Sturz der Reichsverfassung vorzubereiten" 63 . Auch Übertragungen sowjetrussischer Sender dienten nach der Rechtsprechung des Volksgerichtshofs allgemein - "gerichtsbekannt" - unabhängig von ihrem konkreten Inhalt der Unterstützung hochverräterischer Bestrebungen im Deutschen Reich, da die Sendungen auf "geistige Beeinflussung der Massen im Sinne der kommunistischen Irrlehre" zur Vorbereitung des bolschewistischen Umsturzes abzielten. Das Anhören solcher Sendungen war als Vorbereitung zum Hochverrat strafbar, wenn der Vorsatz des Täters darauf gerichtet war, andere Mithörer oder auch nur sich selbst in der "kommunistischen Gesinnung" zu festigen, die "Kenntnis zur Umsturztaktik der KPD" zu erweitern und damit "ihre revolutionäre Stoßkraft" zu stärken 64 . Ob diese subjektiven Voraussetzungen erfüllt waren, mußte "im Einzelfall unter

59

VGH 1 H. 2 1 / 3 7 v. 1 6 . 8 . 1 9 3 7 bei Pamsius, aaO, Anm. III 2.

60

Parrisius, aaO, Anm. II 3.

61

Im einzelnen Pamsius, aaO, § 83 Anm. II 3.

62

Vgl. VGH 1 H 2 5 / 3 6 ν. 1 0 . 7 . 1 9 3 6 bei Parrisius, aaO, § 83 Anm. II 5 und W. Wagner (1974), S. 91 Fn. 54 mwN.

63

Vgl. VGH DJ 1937,198.

64

VGH DJ 1938,828.

Α. Die erste Phase: 1933 bis 1935

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Berücksichtigung der Persönlichkeit des Hörers, seiner politischen Stellung und seines gesamten sonstigen Verhaltens sorgfältig" geprüft werden65. cc) Die Erschwerungsgründe (§ 83 III) in der Praxis des Volksgerichtshofs Von den Erschwerungsgründen des Absatzes 3 erfaßte die Nummer 1 (Aufbau hochverräterischer Organisationen) die Aufrechterhaltung aller verbotenen Parteien oder Zusammenschlüsse66 sowie die Bildung neuer politischer Zellen und Gruppen. Unter "politisch" wurde dabei im weitesten Sinne alles verstanden, "was das innere und äußere Geschehen eines Volkes zu beeinflussen geeignet ist"67. Damit begründete nach der Auslegung des Volksgerichtshofs jede politische Gemeinschaftsbildung außerhalb des Gefüges der NSDAP und ihrer Gliederungen den Hochverratsverdacht68. Als tatbestandliche Handlungen wurden u. a. das Abhalten von Mitgliedersitzungen, die Bereitstellung illegaler Unterkünfte, die Verbreitung von Flugblättern oder Geldsammlungen für politische Gefangene angesehen69. Der Zersetzungshochverrat (§ 83 III Nr. 2) wurde bereits im Zusammenhang der VerratsVO angesprochen70. Die Vorbereitung hochverräterischen Unternehmens mußte darauf gerichtet sein "die Reichswehr oder die Polizei zur Erfüllung ihrer Pflicht untauglich zu machen, das Deutsche Reich gegen Angriffe auf seinen äußeren oder inneren Bestand zu schützen"71. Erfaßt wurde als Zersetzungshochverrat namentlich die "ideologische Beeinflussung der Wehrmacht und Polizei im hochverräterischen Sinn", d. h. "Angriffe gegen ihren Geist"72 zur Verminderung ihrer Schlagkraft. Dabei sollte die Einwirkung auf einzelne Wehrmachtsoder Polizeiangehörige bereits zur Tatbestandserfüllung genügen, "da schon durch ein einziges unzuverlässiges Mitglied der Truppe ihre Schlagkraft gefährdet werden" könne73. Bei der Verbreitung illegaler Schriften mit Zersetzungsmaterial sollte auch die Zweckbestimmung einer mittelbaren Kenntnisnahme ihres Inhalts - vermittelt über "Mundpropaganda" - durch Wehrmachts- oder Polizeiangehörige genügen74. Darüber hinaus wurde die Vorschrift auf schlechthin jede tatsächliche, irgendwie gegen die Schlagkraft von Wehrmacht oder Polizei gerichtete Handlung erstreckt, wie etwa das Ausspähen von Rüstungsbetrieben75, das Ausspähen von polizeilichen Fahndungsmaßnahmen und deren Preisgabe an die KPD76, die Auf-

65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76

VGH DJ 1938,828 f. Zum Ges. gegen die Neubildung von Parteien v. 14.7.1933 vgl. [Nr. 10], VGH DJ 1939,479; weit. Nachw. bei W. Wagner (1974), S. 88. Vgl. aaO. Vgl. die Aufzählung bei Pamsius, LK6 (1944), § 83 Anm. III 1. Oben [Nr. 3]. Die Länder waren entsprechend dem eingetretenen staatsrechtlichen Wandel nicht mehr aufgeführt. Vgl. Pamsius, LK6 (1944), § 83 Anm. III 2; E. Schäfer/v. Dohnanyi (1936), S. 137. So Pamsius, aaO, § 83 Anm. III 2; E. Schäfer/v. Dohnanyi (1936), S. 137. Pamsius, aaO, § 83 Anm. III 2 mit Nachw. VGH DJ 1938,114. VGH DJ 1938,113.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

forderung zu einem Sabotageakt in einem Rüstungsbetrieb77, Waffendiebstahl, die Anfertigung von Skizzen von Polizeiwachen u. a. m.78. Als hochverräterische Massenpropaganda nach § 83 III Nr. 3 wurde jede auf eine geistige Beeinflussung der Bevölkerung im hochverräterischen Sinne gerichtete Verbreitung von Schriften usw. erfaßt 79 . Unter "Masse" verstand der Volksgerichtshof jede Personenmehrheit, die dem Bestand des Staates gefährlich werden konnte80. Daß die Tat nur auf eine Massenbeeinflussung "gerichtet" sein mußte, wurde zum Ausgangspunkt unbegrenzter Ausdehnung der Vorschrift: Auch die Einwirkung auf einzelne Personen oder kleinere Personengruppen wurde als tatbestandsmäßig erfaßt, wenn die Adressaten ihrerseits die Massen im hochverräterischen Sinne beeinflussen sollten81, oder wenn der Handelnde mit dieser Möglichkeit zumindest rechnete 82 . So war etwa die Herstellung oder Verbreitung von hochverräterischen Schriften, die sich an örtliche Studentengruppen wandten, nach der Rechtsprechung des Volksgerichtshofs tatbestandsmäßig, wenn die Tat "im Rahmen der hochverräterischen Gesamtbestrebungen der KPD" verübt wurde. Dabei genügte es, daß sich die Angeklagten bewußt waren, daß die "geistige Beeinflussung der breitesten Bevölkerungsmassen eines der Hauptmittel der KPD zur Vorbereitung des Umsturzes" bildete83. Die Weitergabe von Schriften hochverräterischen Inhalts an einzelne Personen war tatbestandsmäßig, wenn der Täter nur mit der Möglichkeit rechnete, einer der Empfänger werde seinerseits die Schrift weiteren Personen zugänglich machen84. Das Abhören sowjetischer Rundfunksender fiel unter den Erschwerungstatbestand, wenn der Täter - sei es auch nur kleine - Hörergemeinschaften bildete und sich dabei bewußt war, daß der Sender eines der Hauptmittel der kommunistischen Massenpropaganda darstelle: Dann ordne sich nämlich seine Tätigkeit in den Rahmen der hochverräterischen Gesamtbestrebungen der KPD ein, so daß der Beitrag des Täters hierzu auf die ideologische Beeinflussung der Massen gerichtet sei, ganz unabhängig von der Anzahl der Zuhörer 85 . § 83 III Nr. 4 betraf u. a. jede Einfuhr hochverräterischer Schriften usw. Im Verbund mit § 83 III Nr. 3 erfolgte ein umfassender Ideologieschutz: Im Ergebnis konnte, so das Urteil Wagners, über § 83 "die Herstellung oder Verbreitung aller irgendwie staatsfeindlichen Schriften" als Hochverrat erfaßt und damit auf die Heranziehung anderer einschlägiger Vorschriften verzichtet werden86.

77 78 79 80 81 82 83 84 85 86

VGH DJ 1938,114. Vgl. E. Schäfer/v. Dohnanyi (1936), S. 137; Pamsius, LK6 (1944), § 83 Anm. III 2; W. Wagner (1974), S. 93 f. jeweils mwN. Vgl. Pamsius, aaO, § 83 Anm. III 3. VGH 1 H 16.35 ν. 7.5.1935 bei Pamsius, aaO. Vgl. Pamsius, aaO, § 83 Anm. III 3; E. Schäfer/v. Dohnanyi (1936), S. 137 f. Vgl. Pamsius, aaO, Anm. III 3a, IV; E. Schäfer/v. Dohnanyi (1936), S. 139. Vgl. VGH ZAkDR 1937,570 mit Anm. H. Schneider. Vgl. Pamsius, LK6 (1944), § 83 Anm. III 3a. Vgl. VGH DJ 1938,828; Pamsius, aaO, § 83 Anm. Π 6. W. Wagner (1974), S. 94 f. mit Nachw. zur Rspr. zu § 83 III Nr. 4. Zu Einzelheiten zu § 83 III Nr. 4 vgl. die ausf. Kommentierung bei Pamsius, aaO, § 83 Anm. III 4.

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Α. Die erste Phase: 1933 bis 1935 3. Landesverrat a) Die einzelnen Regelungen (§§ 80 bis 93a)

Der neue "1. a. Abschnitt" 87 über den Landesverrat brachte eine grundlegende Neuordnung der Tatbestände: Es faßte die bis dahin im RStGB, im Spionagegesetz und in der VerratsVO 88 enthaltenen Vorschriften zusammen. Die Strafdrohungen des RStGB und des Spionagegesetzes wurden, insbesondere durch vermehrte Androhung der Todesstrafe und den Wegfall mildernder Umstände, verschärft. Die Tatbestände wurden vielfach ergänzt und erweitert, vereinzelt neue Tatbestände, insbesondere § 90f, eingefügt. Eine wesentliche, den gesamten Abschnitt übergreifende Änderung lag in der grundsätzlichen Gleichbehandlung militärischer und diplomatischer Geheimnisse. Dabei wurden zugleich, anders als im Spionagegesetz, geheime Gegenstände und Nachrichten einheitlich geschützt89. So konnte - entsprechend dem E 1930 (Kahl) 90 - der gegenüber dem RStGB a. F. inhaltlich unveränderte 91 Begriff des Staatsgeheimnisses in § 881 gesetzlich definiert und dem gesamten Abschnitt vorangestellt werden: Staatsgeheimnisse waren "Schriften, Zeichnungen, Tatsachen oder Nachrichten darüber, deren Geheimhaltung vor einer ausländischen Regierung für das Wohl des Reichs, insbesondere im Interesse der Landesverteidigung, erforderlich ist". Während Absatz 1 den bisherigen militärischen Geheimnisbegriff erweiterte und einheitlich faßte, "militarisierte"92 Absatz 2 den Verratsbegriff: In Anlehnung an § 1 Spionagegesetz beging jeder Verrat, der ein "Staatsgeheimnis an einen anderen gelangen läßt". Die Mitteilung mußte also nicht mehr an eine Regierung oder öffentlich erfolgen 93 . Das Gelangenlassen an eine ausländische Regierung oder eine in deren Interesse tätigen Person 94 oder die öffentliche Mitteilung wurden lediglich als gesetzliche Beispiele in Zusammenfassung der bisherigen Regelungen des RStGB und des Spionagegesetzes erwähnt 95 . In subjektiver Hinsicht forderte § 88 II den "Vorsatz, das Wohl des Reiches zu gefährden". Mit § 88 wurden der Geheimnis- und Verratsbegriff des RStGB und des Spionagegesetzes also unter wechselseitiger Erweiterung angeglichen mit der Folge einer einheitlichen und weiterreichenden Ausdehnung der Einzeltatbestände, die an § 88 anknüpften 96 . Das StÄG 1951 folgte dem Modell

87 88 89 90 91 92 93 94 95

96

Grund für dieses "groteske Gebilde" (Schroeder [1970], S. 157) war die bessere Übersichtlichkeit, vgl. L. Schäfer, DJZ1934, Sp. 433. Dazu oben Fn. 4, 6, 7 und L. Schäfer/Richter/Schafheutle (1934), S. 144; E. Schäfer/v. Dohnanyi (1936), S. 146; Schroeder (1970), S. 159. Vgl. aaO. Ausnahme: § 90a (landesverräterische Fälschung, die "Gegenstände" betraf). § 91a E 1930 (Kahl), der wörtlich übernommen, aber um die Einbeziehung von militärischen Geheimnissen erweitert wurde. Vgl. zum (diplomatischen) Landesverrat § 92 a. F. und Frank1' (1931), Anm. II. Vgl. Schroeder (1970), S. 160. Vgl. § 92 RStGB a. F. (diplomatischer Landesverrat). So § 1 II SpionG für Nachrichten. Vgl. Fn. 93, 94. - Zur entsprechenden Ausdehnung des Verratsbegriffs schon § 108 VE 1909 und dazu die Begr.: § 92 RStGB sei "zu eng" (S. 441); "jede unbefugte Vermehrung der Mitwisser" gefährlich (S. 439); dazu Schroeder (1970), S. 159,107. Vgl. Schroeder (1970), S. 159 f.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

der Verratsnovelle und stellte die mit geringen Abänderungen übernommenen Definitionen von "Geheimnis" und "Verrat" an die Spitze97. § 89 der Novelle über den Verrat von Staatsgeheimnissen vereinigte den bisherigen § 92 I Nr. 1 RStGB, der die diplomatische landesverräterische Geheimnisverletzung betraf, und § 1 Nr. 1 Spionagegesetz, der die entsprechende Vorschrift über die militärische Geheimnisverletzung enthielt. Die §§ 92 I Nr. 1 RStGB und § 1 Nr. 1 Spionagegesetz hatte bereits die VerratsVO verschärft (§ 1 Nr. 2, fakultative Todesstrafe) 98 . Die Strafbarkeit wurde jetzt zusätzlich erweitert, indem das "Unternehmen" des Verrats von Staatsgeheimnissen Versuch und Vollendung gleichstellte99. Auch die Strafdrohung wurde weiter verschärft, da § 89 I die Verhängung der Todesstrafe bei Taten Deutscher für den Regelfall zwingend vorschrieb (§ 89 I). In diesen Verschärfungen kam die neue Wertigkeit des Landesverrats zum Ausdruck. Der völkische Treubruchsgedanke fand zudem seinen Niederschlag darin, daß die Todesstrafe nur für den Verrat des Deutschen "am eigenen Vaterland"100 angedroht wurde: Der "Ausländer"101, dem keine solche Treupflicht oblag, konnte mit lebenslangem Zuchthaus belegt werden (§ 89 II). Eine allgemeine Milderung auf lebenslange Zuchthausstrafe oder eine solche von nicht unter fünf Jahren ließ § 89 III nur zu, wenn die Tat ungeeignet war, eine "Gefahr für das Wohl des Reichs" herbeizuführen; diese Milderungsmöglichkeit wurde 1939 beseitigt102. Ebenso wie der Verrat von Staatsgeheimnissen wurde auch die Ausspähung von Staatsgeheimnissen (§ 90, zuletzt § 92a RStGB i. d. F. vom 26. Mai 1933), als Unternehmensdelikt ausgestaltet, die Strafdrohung von Zuchthaus bis zu zehn Jahren auf Todes- oder lebenslange Zuchthausstrafe verschärft (§ 90 I)103. Zeitige Zuchthausstrafe wurde unter den gleichen Voraussetzungen wie im neuen § 89 III zugelassen (§ 90 II)104. Die Gleichstellung von Versuch und Vollendung beim Landesverrat, die in den früheren Entwürfen kein Vorbild hatte, wird in der Nachkriegsliteratur als "Bruch" mit der Entwicklung des Landesverrats gewürdigt, der "kaum" rechtsstaatlichen Grundsätzen entsprochen habe . Der Entwurf eines StÄG 1951 sah zu einer "solchen Ausweitung der vollendeten Tat" keinen Anlaß, da "der Versuch ... ohnehin mit schwerer Strafe" (fakultative Strafmilderung) belegt werden könne und übernahm den Verrat von Staatsgeheimnissen und die Ausspähung mit herabgesetzten Strafdrohungen als Erfolgsdelikte106.

97

98 99 100 ιοί

102 103 104 105 106

§ 99 i. d. F. des StÄG 1951. § 88 I RStGB 1934 (Staatgeheimnis) wurde erweitert um das Merkmal "Erkenntnisse" und § 88 II (Verrat), eingeschränkt durch das Gelangenlassen an "Unbefugte" (statt "an einen anderen"), vgl. dazu v. Weber. MDR 1951,519; Schafheutie, JZ1951,616. Vgl. oben [Nr. 3] bei Fn. 4. Dazu oben 1 und für § 89 L. Schäfer/Wagner/Schafheutle (1934), S. 146. Amtl. Begr., DJ 1934, S. 596. Der Begriff wurde hier auf die Staatsangehörigkeit bezogen, nicht, wie in den diskriminierenden Rassengesetzen, auf die Volkszugehörigkeit. Vgl. L. Schäfer/Waener/Schaflieutte (1934), S. 146. Zur späteren Erstreckung auf Protektoratsangehörige Panisius, LK(1944), § 89 Anm. VII. § 89 III 1939 aufgehoben, vgl. [Nr. 30], Vgl. oben [Nr. 8] Fn. 6 und, für militärische Geheimnisse, § 3 SpionG, der eingearbeitet wurde. Zusammen mit § 89 III 1939 gestrichen, vgl. [Nr. 30], Vgl. Kohlmann (1969), S. 55. - Zur Vollendungsstrafe §§ 93 E 1927,92 E 1930 (Kahl). Vgl. RegE BT-Dr 1/1307, S. 36 und § 100 I, II StÄG 1951. S. auch §§ 90d RStGB 1934 und 100c StÄG 1951.

Α. Die erste Phase: 1933 bis 1935

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Die §§ 90a bis 90e lehnten sich durchweg an Vorbilder an. Die Tatbestände fanden mit Ausnahme von § 90b Eingang in das StÄG 1951. Die mit Zuchthaus bedrohte landesverräterische Fälschung (§ 90a) stammte aus der VerratsVO, die ihrerseits auf § 94 E 1927 zurückgegriffen hatte107. In besonders schweren Fällen (§ 90a V) drohte lebenslanges Zuchthaus. Für die öffentliche Mitteilung früherer Staatsgeheimnisse (§ 90b, früher § 3 Verrats VO) drohte Gefängnisstrafe nicht unter drei Monaten108. § 90c erfaßte unter Vereinigung und Erweiterung der §§ 92b a. F.109, 6 Spionagegesetz auf gefälschte Staatsgeheimnisse das Anknüpfen oder Unterhalten von Beziehungen im Hinblick auf Staatsgeheimnisse und drohte mit Gefängnisstrafe110. Im Anschluß an das Spionagegesetz, aber als Unternehmensdelikt ausgestaltet, erfaßte § 90d die Preisgabe von Staatsgeheimnissen unter fahrlässiger Gefährdung des "Wohls des Reiches" und drohte mit Gefängnisstrafe111. § 90e schließlich betraf, ebenfalls im Anschluß an das Spionagegesetz, die fahrlässige Preisgabe von Staatsgeheimnissen, deren Kenntnis kraft Amtes oder amtlichen Auftrags erlangt wurde112. Den "neuartigsten Tatbestand, insbesondere in seiner Einordnung in den Landesverrat", enthielt nach Schroeder113 § 90f. Diese Vorschrift wurde in der amtlichen Begründung als "Volksverrat" bezeichnet. Diese Bezeichnung ist freilich insofern mißverständlich, als § 90f nicht die später in der Literatur geforderte Zentralvorschrift des "Volksverrats" zur Erfassung jeden Treubruchs gegenüber der Volksgemeinschaft enthielt114. § 90f erfaßte nur eine bestimmte Form des "Volksverrats", nämlich, wie es in der Literatur genauer hieß, den "Volksverrat durch Lügenhetze"115. § 90f war also insofern "vergleichsweise harmlos"116, die Vorschrift als solche nicht einmal neu: § 90f griff lediglich aus § 3 Heimtücke VO "zwei besonders gefährliche Anwendungsfälle heraus" und stempelte sie "dem gesunden Volksempfinden entsprechend zum Verbrechen"117, indem Zuchthausstrafe angedroht wurde118. § 90f lautete: "Wer öffentlich oder als Deutscher i n Ausland durch eine unwahre oder gröblich entstellte Behauptung tatsächlicher Art eine schwere Gefahr für das Ansehen des deutschen Volkes herbeiführt, wird mit Zuchthaus bestraft"119.

107 Vgl. § 2 VerratsVO und oben [Nr. 3] Fn. 6. Entsprechend: § 100a StÄG 1951. 108 Vgl. § 3 VerratsVO, aaO, Fn. 7, weggefallen im StÄG 1951. § 90b II bezog auch gefälschte Staatsgeheimnisse ein. 109 Vgl. [Nr. 8] bei Fn. 18. 110 Vgl. § 100e StÄG 1951 (ohne Einbeziehung gefälschter Geheimnisse). 111 Vgl. §§ 2,4 SpionG. Nachfolgeregelung: § 100c I StÄG 1951 (Erfolgsdelikt). 112 Gefängnis bis zu drei Jahren. Vorbild: § 8 SpionG. Nachfolger: § 100c II StÄG 1951. 113 Schroeder (1970), S. 160. 114 Vgl. Dohm, ZStaatW 95 (1935), 283 ff., 307; s. auch Freister, DJZ 1935, Sp. 905 ff. und zusf. Schroeder (1970), S. 148 ff., 168 ff. Zum "Volksverrat" als Oberbegriff für Hoch- und Landesverrat vgl. Überschrift zum 1. Abschnitt des E 1936 und Begr. S. 81 ff., aber dazu auch Schroeder, der darin "einen rein terminologischen Trick" sieht (S. 170). 115 Vgl. den Titel des § 90f bei Schwarz9 (1940). 116 Schroeder (1970), S. 160. 117 L. Schäfer/Wagner/Schafheutle (1934), S. 155. Vgl. auch L. Schäfer, DJZ 1934, Sp. 935 f. 118 § 3 HeimtückeVO [Nr. 4]: Gefängnis nicht unter drei Monaten. 119 Vgl. § 3 HeimtückeVO [Nr. 4] und den späteren § 1 Heimtückeges. [Nr. 15],

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

"Lügenhetze dieser Art" sei, so hieß es in der amtlichen Begründung, "Verrat am Volk selbst" und deshalb ein Landesverratsdelikt120. Die praktische Bedeutung der Einstellung der Vorschrift in den Landesverrat lag namentlich in der Erstreckung der Strafbarkeit auf die Verabredung (§ 92 n. F.) und die öffentliche Begehung durch einen Ausländer im Ausland (dazu 4). In der Praxis des Volksgerichtshofs wurde das Merkmal "öffentlich" weit ausgedehnt und übereinstimmend mit der Rechtsprechung zur KriegssonderstrafrechtsVO121 selbst auf die Mitteilung an eine Einzelperson erstreckt, wenn der Mitteilende mit der Weitergabe an Dritte rechnete 122 . "Im Ausland" war die Tat auch dann begangen, wenn ein Deutscher eine "Greuelmeldung" vom Inland ins Ausland gelangen ließ123 Die verbotenen Behauptungen mußten eine "schwere Gefahr" für das deutsche Volk in politischer, wirtschaftlicher oder ideeller Hinsicht herbeiführen, die auch vorliegen konnte, wenn sich die Tat gegen das Ansehen des Staates oder der Partei richtete124. Diese Gefahr konnte für die äußere oder innere Sicherheit herbeigeführt werden, nachdem der Volksgerichtshof die im Schrifttum kritisierte Beschränkung auf eine Gefährdung der äußeren Sicherheit125 aufgegeben hatte 126 . Bemerkenswert ist, daß auch Formulierungen aus diesem zweifellos "typisch nationalsozialistischen" § 90f Eingang in das StÄG 1951 fanden. Der verwickelt aufgebaute § lOOd StGB 1951127 erfaßte die landesverräterische Konspiration in Form der Friedens- (Abs. 1), der Bestands- oder Sicherheitsgefährdung sowie der Gefährdung der verfassungsmäßigen Grundordnung (Abs. 2) durch Anknüpfen oder Unterhalten landesverräterischer Beziehungen. § lOOd III betraf verselbständigte (mögliche) Vorbereitungshandlungen zu diesen Taten, nämlich die Aufstellung oder Verbreitung unwahrer oder gröblich entstellter Behauptungen tatsächlicher Art in der Absicht, "Maßnahmen oder Bestrebungen" nach § lOOd I oder II herbeizuführen oder zu fördern. Diese Formel entsprach § 90f der Novelle von 1934128. Zwar wurde auf das Vorbild des schweizerischen StGB hingewiesen129, doch hatte dieses seinerseits Formulierungen des nationalsozialistischen Strafgesetzgebers übernommen 130 . Im geltenden Recht taucht die Formel bei der Störpropaganda gegen die Bundeswehr (§ 109d) auf131. 120 121 122 123 124 125 126 127 128 129 130 131

DJ 1934,596. Dazu [Nr. 26] 1. Dazu Pamsius, LK6 (1944), § 90f Anm. II 4 mit Nachw. VGH DJ 1937,123. Zusf. Pamsius, LK6 (1944), § 90f Anm. II 3.- Vgl. auch Begr. E 1936, S. 195 ff. (zu §§ 123 ff.). DJ 1936, 1438 mit krit. Anm. Schmidt. Krit. auch Olshausenn (1942), § 90f Anm. 2; Pamsius, aaO, § 90f Anm. II 3; Dalcke33 (1942), S. 89 Fn. 28. Zust. Schwarz7 (1939), § 90f Anm. 2 B. Vgl. Pamsius, aaO. Näher Jagusch, LK7 (1954). Vgl. v. Weber, MDR 1951,519, der von einem "Anklang" des § 90f in § lOOd III StÄG 1951 spricht. Vgl. Schafheutle (Sachbearbeiter des Ges. im BJM), JZ 1951,617. Dazu Schroeder (1970), S. 262,266. Diese Vorschrift ist wegen strenger subjektiver Voraussetzungen ("wider besseres Wissen") "kaum praktisch" geworden, Lackner17 (1987), § 109d Anm. 1. § 109d ist aus dem im Gesetzgebungsverfahren besonders umstrittenen (dazu Lackner, JZ 1957, 404) § lOOd i. d. F. des 4. StÄG hervorgegangen. Die in der damaligen Kritik behauptete Parallele besteht zu §90f RStGB 1934 und zur Heimtückegesetzgebung, nicht zu § 5 KSStVO [Nr. 26], vgl. Schroeder (1970), S. 200 f. unter Hinweis auf rechtsstaatliche Vorbilder (§ 181 E 1913).

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Den diplomatischen Landesverrat betrafen die §§ 90g, 90h. § 90g stellte die landesverräterische Untreue unter Strafe. Der Tatbestand entsprach, unter Anpassung an die neuen staatsrechtlichen Verhältnisse, dem § 92 I Nr. 3 a. F.; statt Zuchthaus nicht unter zwei Jahren drohte nunmehr die Todesstrafe (Abs. I)132. Die landesverräterische Beweismittelfälschung (§ 92 I Nr. 2 a. F.) stellte § 90h unter Zuchthausstrafe und drohte in besonders schweren Fällen mit lebenslangem Zuchthaus133. Neu war die landesverräterische Bestechlichkeit, d. h. die Annahme usw. eine Entgelts von einer ausländischen Regierung oder ihren Beauftragten für eine das Reichswohl gefährdende Handlung (§ 90i, Zuchthaus bis zu zehn Jahren). Diese Vorschrift knüpfte, wie die §§ 89 und 90f, auch äußerlich erkennbar an die Treupflicht als Volksgenosse" an: Den in § 90i erfaßten "Verrat am Vaterlande"134 konnte nur ein Deutscher begehen. Die "klassischen Tatbestände" des militärischen Landesverrats wurden in den §§ 89 bis 91b unter Erweiterungen und Strafschärfungen (Todesstrafe) übernommen 135 . Die praktische Handhabung des mit Kriegsausbruch überaus wichtigen § 91b (Feindbegünstigung) wird sogleich exemplarisch skizziert (dazu b). Von übergreifender Bedeutung für den gesamten Abschnitt war die Androhung von Zuchthausstrafe für die Verabredung (§ 92 I), die Aufforderung, das Sich-Erbieten oder die Annahme einer solchen Aufforderung oder eines solchen Erbietens (§ 92 II), ein Verbrechen des Landesverrats zu begehen (§§ 92 i. V. m. 89 - 90a, 90f - 91b). Damit wurde der beim Hochverrat (§ 83 a. F., Verabredung) maßgebliche und im Spionagegesetz für militärische Geheimnisse (§ 5, Verabredung) schon verwirklichte Gedanke unter Erweiterung des Tatbestandes mit massiv geschärfter Strafe 136 auf den diplomatischen Landesverrat erstreckt. Die übrigen Straftatbestände (§§ 92a - 92f) dienten unter Einarbeitung des § 329 a. F. und des Spionagegesetzes dem Schutz der Landesverteidigung137. § 93 regelte die Nebenstrafen und Sicherungsmaßnahmen und ließ, wie schon erwähnt, u. a. die Geldstrafe in unbegrenzter Höhe neben Freiheitsstrafe zu, ferner die Vermögenseinziehung und, unter Abweichung von den Voraussetzungen der §§ 20a, 42e, die Sicherungsverwahrung138. § 93a betraf, parallel zu § 86a n. F. in Anlehnung an § 15 Spionagegesetz, die Einziehung von Tatmitteln.

132 Eine Milderungsmöglichkeit bei Herbeiführung eines unbedeutenden Nachteils und geringer Gefährlichkeit der Tat eröffnete § 90g II. Nachfahre: § lOOf StÄG 1951. 133 § 92 Nr. 2 a. F.: Zuchthaus nicht unter 2 Jahren. - Nachfahre: § 100b StÄG 1951. 134 Vgl. Amtl. Begr., DJ 1934,596. Aufgegangen in § 100e StÄG 1951, vgl. bei Fn. 110. 135 Näher Amtl. Begr., DJ 1934, 597; L. Schäfer/Wagner/Schafheutle (1934), S. 158 f.; Schmeder (1970), S. 161. Nachfahren: Zu § 91 vgl. § lOOd I, II StÄG 1951 (Fn. 131); zu § 91b Fn. 139. 136 § 5 SpionG: Gefängnis nicht unter einem Jahr. Vgl. auch § 49a RStGB i. d. F. v. 26.2.1876, RGBl. I, S. 25, freilich auf schriftliche oder mit der Zusage von Vorteilen verbundene Verabredungen beschränkt (§ 49a ΙΠ). 137 Näher Amtl. Begr., DJ 1934,597; L. Schäfer/Wagner/Schafheutle (1934), S. 160 ff. 138 Vgl. oben 1 bei Fn. 11 f.

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b) Die Feindbegünstigung (§ 91b) in der Praxis des Volksgerichtshofs § 91b lehnte sich an § 89 a. F. an, bedrohte aber schon das Unternehmen der Feindbegünstigung mit Vollendungsstrafe, ließ die Beziehung auf einen "drohenden" Krieg ausreichen und verschärfte die Strafdrohung massiv139. Mit dem Tode oder lebenslangem Zuchthaus wurde bestraft, wer "im Inland oder als Deutscher im Ausland es unternimmt, während eines Krieges gegen das Reich oder in Beziehung auf einen drohenden Krieg der feindlichen Macht Vorschub zu leisten oder der Kriegsmacht des Reichs oder seiner Bundesgenossen einen Nachteil zuzufügen".

Nach Absatz 2 konnte auf Zuchthaus nicht unter zwei Jahren erkannt werden, wenn die Tat nur "unbedeutende" Nachteile für das Reich oder Vorteile für den Feind herbeiführte und schwerere Folgen nicht herbeiführen konnte. Die Vorschrift über die Feindbegünstigung verdient nähere Erörterung, weil sie mit Kriegsausbruch namentlich in der Praxis des Volksgerichtshofs erhebliche Bedeutung erlangte und einen ausgedehnten Anwendungsbereich hatte. Dem Volksgerichtshof kam nach Schroeder die weite Auslegung, die der Tatbestand im Ersten Weltkrieg durch das Reichsgericht erfahren hatte, "sehr entgegen"140. Unter "Vorschubleisten" gegenüber einer feindlichen Macht wurde jede Tätigkeit verstanden, welche deren Lage günstiger gestaltete; mit jeder Schaffung ungünstigerer Verhältnisse wurde umgekehrt der Kriegsmacht des Reiches oder seiner Bundesgenossen im Sinne des § 91b ein Nachteil zugefügt. Da der "moderne (totale) Krieg nicht nur mit Waffen", so Parrisius 1944 im Leipziger Kommentar, sondern auch "wirtschaftlich und ideologisch geführt" werde, könne "insbesondere auch eine Unterstützung der wirtschaftlichen oder seelischen Widerstandskraft des Feindes oder eine Minderung der wirtschaftlichen oder seelischen Widerstandskraft des deutschen Volkes oder Heeres den Tatbestand des Gesetzes erfüllen"141. Überdies hatte § 91b einen erweiterten räumlichen Geltungsbereich, da unter "Inland" in diesem Zusammenhang nicht das Reichsgebiet im staatsrechtlichen Sinne, sondern darüber hinaus jedes Territorium verstanden wurde, über welches das Reich die Herrschaftsgewalt ausübte, im Kriege also auch das von der Wehrmacht besetzte ausländische Gebiet 142 . Im einzelnen wurden alle im § 90 a. F. genannten Fälle der schweren Feindbegünstigung erfaßt 143 , darüber hinaus beispielsweise die Leistung jeglicher Art von Arbeiten in einer 139 § 89 a. F.: Zuchthaus bis zehn Jahre. Das StÄG 1951 enthielt keine Bestimmungen über die Feindbegünstigung. 140 Schroeder (1970), S. 163, 97 mit Nachw. Vgl. etwa die Kommentierung zu § 89 a. F. bei Frank™ (1931) und Ebermayer, LK4 (1929), insbesondere Anm. 4f: "Das Anwendungsgebiet des § 89 ist sonach ein sehr weites und muß es im Interesse des Reiches sein". Eine Mindermeinung in der Lit. nahm schon während des Ersten Weltkriegs - in Vorwegnahme der Neufassung durch die Verratsnovelle - Vollendung an, wenn die Tat auf eine Besserimg der feindlichen Lage gerichtet war (vgl. Frank18 (1931), § 89 Anm. II 1 mit Nachw.). Ob eine Hebung der kriegerischen Stimmung beim Feind zur Tatbestandserfüllung ausreichte, war für § 89 a. F. umstritten, vgl. Frank18 (1931), § 89 Anm. II 1 mit Nachw. 141 LK6 (1944), § 83 Anm. II, S. 628. 142 Vgl. RKG 2, 93 (Feldurteil v. 6. 5. 1941); Parrisius, LK6 (1944), § 83 Anm. 4 mit Nachw. zur Rspr. des Volksgerichtshofs. 143 Vgl. § 901 Nr. 1-6 a. F.

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feindlichen Fabrik144, die Befreiung - auch einzelner - Kriegsgefangener oder die Unterstützung ihrer Flucht, sofern der Täter damit rechnete, der Befreite werde dem Feind nützen145 oder wenn er sich des Verlusts einer Arbeitskraft für das Reich bewußt war146, jedes Schwarzsenden147, die Lieferung von militärischen Nachrichten, auch solcher, die keine Staatsgeheimnisse enthielten148, die Verminderung des Nahrungsmittelstandes durch Zerstörung von Nahrungs- und Genußmitteln, die Verbreitung feindlicher Flugblätter149 oder die Verwendung vom Feinde abgeworfener Lebensmittelkarten, mit denen dieser Unruhe in Volk und Kriegswirtschaft hineintragen und die deutsche Widerstandskraft lähmen wolle150. Generell wurde die Stärkung des feindlichen Widerstandswillens und die Erweckung von deutscher Kriegsmüdigkeit durch "tendenziöse Nachrichten" als Feindbegünstigung erfaßt151. Namentlich die Rundfunksender der Feindstaaten setzten, so der Volksgerichtshof, Propaganda als "Mittel der Kriegsführung" ein, die Sendungen seien Kriegshandlungen und zur Untergrabung der inneren Front im Reich bestimmt. Wer im Inland andere zum Anhören dieser Sendungen anstifte, setze sie der Feindpropaganda aus, nehme damit selbst an feindlichen Kriegshandlungen teil und fördere sie - und habe damit den Tod verdient152. Aufgrund seines "sehr weiten" Anwendungsbereiches153 traf § 91b typischerweise mit anderen Vorschriften zusammen, so mit der Vorbereitung zum Hochverrat, mit der Wehrkraftzersetzung154, mit den anderen Landesverratsdelikten u. a. m.155. Nach Wagner, der zahlreiche Urteile des Volksgerichtshofs ausgewertet hat, sah dieser in § 91b eine "Globalmöglichkeit" nicht nur zum Vorgehen gegen "wirkliche Begünstigung" des Feindes, sondern auch "gegen die illegale Opposition, gegen regimefeindliche Äußerungen und Propaganda, ja Gesinnung, gegen unerwünschte Utopisten, gegen Arbeitsbummler und Wehrdienstverweigerer". In Wahrheit sei, so Wagner in nachträglicher korrigierender Subsumtion, das Verhalten vieler Angeklagter "teils nach Spezialvorschriften, teils gar nicht strafbar" gewesen. Dies habe "in der Praxis eine starke Verengung der Gesetzesanwendung, aber eine im Grunde unbeschränkte Ausdehnung der Strafbarkeit" bedeutet 156 .

144 VGH 1 Η 225/40 ν. 14.12.1940 bei Pamsius, LK6 (1944), § 91b Anm. II. 145 RKG 2,80,83 (Feldurteil v. 24. 2.1941). 146 Vgl. Parrisius, LK4 (1944), Anm. IIa mit ausf. Nachw. zur Beurteilung der Befreiung von Kriegsgefangenen. S. auch W. Wagner (1974), S. 255 f. mit Mitteilung von Fallbeispielen. 147 Parrisius, aaO, § 91b Anm. IIb. 148 VGH 1 Η 57/42 ν. 29.4.1942 bei Pamsius, aaO, § 91b Anm. II. 149 Vgl. schon RGSt. 51,282; ferner Parrisius, aaO, § 91b Anm. Hg. 150 VGH 2 Η 122/41 ν. 5.12.1941 und 1 Η 234/42 v. 15.10.1942 bei Pamsius, aaO, § 91b Anm. Ilk. 151 Vgl. Pamsius, aaO, § 91b Anm. Ile. 152 VGH v. 21. 7. 1942 - 8 J 120/42g = 2 Η 111/42 bei W. Wagner (1974), S. 252. Zahlreiche weit. Beispiele bei Pamsius, aaO, § 91b Anm. II, W. Wagner, S. 246 ff. 153 Parrisius, aaO. 154 Zu § 5 KSStVO [Nr. 26], 155 Vgl. etwa auch §§ 2,4 WehrkraftschutzVO [Nr. 32], 156 W. Wagner (1974), S. 262.

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4. Geltungsbereich (Art. II) Artikel II der Novelle faßte u. a. § 4 II Nr. 2 neu und unterstellte den Landesverrat ebenso wie das bis dahin geltende Recht den Hochverrat - in vollem Umfang, d. h. für Deutsche und Ausländer, dem Schutzprinzip157. Zugleich wurde die Anklageerhebung für die Verfolgung von Auslandstaten von Ausländern an die Zustimmung des Reichsjustizministers gebunden (§ 4 I V n. F.). 5. Zur "Kontinuität" des Staatsschutzstrafrechts Die bisherige Darstellung könnte als Beweis für die innere Zwiespältigkeit der Novelle genommen werden: Einerseits bestätigt die dramatische Häufung der Todesstrafdrohungen im Verbund mit einer weiten Ausdehnung der Strafbarkeitszonen, insbesondere bei den §§ 83, 89 und 91b, das Urteil Eberhard Schmidts und Wagners158. Andererseits gibt es eine Vielzahl von Tatbeständen, die ihre Formulierungen vornationalsozialistischem Recht entlehnen und später dem StÄG 1951 als Vorlage dienen. Sieht man von bestimmten Problemfällen ab159, deren Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz zweifelhaft ist, erweist sich jedenfalls die Mehrzahl der Tatbestandsformulierungen der Verratsnovelle als rechtsstaatsverträglich. Dieser Befund scheint Schroeders Bewertung der Novelle zu stützen160. Gibt es also eine "verblüffende Kontinuität"161 zwischen dem Staatsschutzstrafrecht 1933 bis 1945 und dem früheren und späteren? Es gibt, wie die Darstellung gezeigt hat, in erheblichem Umfang Übereinstimmungen im äußeren Aufbau und in den Texten der einzelnen Vorschriften. Das ist aber zunächst nur eine Kontinuität der äußeren Erscheinung des Staatsschutzstrafrechts, eine Kontinuität seiner "formalen Außenstruktur", um mit Rüthers162 zu sprechen. "Verblüffend" wäre diese Kontinuität nur dann, wenn sie auch die Wertgrundlagen des Staatsschutzstrafrechts beträfe, wenn der Kontinuität formaler Außenstruktur also eine solche der Norminhalte entspräche163. Gerade das trifft aber nicht zu. Die Novelle nimmt zwar Vorbilder in weitem Umfang auf, stellt sie aber in einen andersartigen Wertungszusammenhang. Die Novelle ist in dem 1934 maßgeblichen Wertungszusammenhang keineswegs innerlich zwiespältig; sie wird bei ihrem Erlaß als Gesetz mit einheitlicher Wertgrundlage und Stoßrichtung begriffen. In Zusammenfassung der bisherigen Darstellung ist auf folgendes zu verweisen: Die Todesstrafenhäufung kann von den Strafvoraussetzungen nicht isoliert und abgespalten werden. Sie bringt eine neue Unrechtswertung zum Ausdruck, wie die Motive klar dokumentieren: Hoch- und Landesverrat erscheinen als "Verrat an der Volksgemeinschaft"164. Diese Umwertung der Staatsschutzdelikte in einen "Volksverrat" liefert die Begründung für die Schärfungen. Der Volksverratsge157 Vgl. Amtl. Begr., DJ 1934, 597. 158 Vgl. bei Fn. 16,17. 159 Vgl. etwa zu § lOOd i. d. F. des StÄG 1951 oben Fn. 131. 160 Vgl. oben bei Fn. 19. 161 Schroetter (1970), S. 183 und oben Fn. 22. 162 Rüthers (1968), S. 431 mit Blick auf die Privatrechtsordnung. 163 Dazu für das Privatrecht Rüthers (1968), S. 431 ff., 111 ff., 210 ff., 261 ff. 164 Vgl. oben l a .

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danke kommt in der Privilegierung von Ausländern beim Landesverrat (§ 89 II), im "Volksverrat durch Lügenhetze" (§ 90f) und in dem ansonsten eher nebensächlichen § 90i zum Ausdruck165. Im E 1936, der sich im übrigen weitgehend an die Verratsnovelle anlehnt, wird der Treubruchcharakter von Hoch- und Landesverrat ausdrücklich und nachhaltig betont und tritt in der zusammenfassenden Bezeichnung "Volksverrat" hervor 166 . Die Orientierung an "Treubruch", "Verrat" und "Verräter" liefert der Verratsnovelle die Legitimation für die "wirksame Bekämpfung" von Hoch- und Landesverrat, indem das strafrechtliche Vorgehen nunmehr "aus einer einheitlichen Grundhaltung heraus und nicht mehr nur kasuistisch erfolgen kann": Die Verratsnovelle schafft aufs Ganze betrachtet ein "geschlossenes Verteidigungsnetz", indem sie ausgreifende Strafvorschriften aufnimmt 167 . Der Charakter eines "lückenlosen Netzes" wird u. a. in der praktischen Handhabung der Vorbereitung zum Hochverrat und der Feindbegünstigung bestätigt 168 . Wer aus diesem "lückenlosen Netz" einzelne Teile herausschneidet, isoliert analysiert und sein Analyseergebnis zum Ausgangspunkt von Systemvergleichen macht, verfehlt die historischen Sinnzusammenhänge, hat es bei der Verratsnovelle nicht mehr mit jenem "lückenlosen Netz", sondern nur noch mit einzelnen Fäden zu tun, mit Rohmaterial, dessen Verwendbarkeit für andere Zwecke nichts beweist. Schon diese Überlegungen zeigen, daß die Verratsnovelle als Gesamtgefüge zu begreifen ist und nicht anhand der Betrachtung von Einzelvorschriften in heterogene Teile zerlegt werden kann, ohne daß der konkrete historische Sinnzusammenhang verloren geht. Das gilt natürlich erst recht für das Auseinanderdividieren von Strafdrohungen und Tatbeständen oder gar von einzelnen Tatbestandsteilen. Zwei wesentliche Aspekte zur Bewertung und Einordnung der Novelle sind freilich erst noch einzuführen: Der Wandel des "Verfassungs"-Begriffs dokumentiert die Umkehrung der Norminhalte beim Hochverrat trotz im wesentlichen gleichlautender Normtexte (dazu a). Die Verkoppelung des materiellen Staatsschutzstrafrechts mit der Errichtung des Volksgerichtshofs aber beweist am schlagendsten die innere Einheit nicht nur des materiellen Strafrechts, sondern auch die von materiellem Strafrecht und Zuständigkeit (dazu b). a) Normtext und Rechtsnorm, insbesondere am Beispiel der "Verfassung" Gegenstand und Angelpunkt des Verfassungshochverrats ist die "Verfassung" oder die "verfassungsmäßige Ordnung". Die "Verfassung" ist dabei stets eine konkrete, etwa die Verfassung des Kaiserreichs, der Weimarer Republik, des Dritten Reichs oder der Bundesrepublik Deutschland. Es ist offenkundig, daß die Begriffe "Verfassung" oder "verfassungsmäßige Ordnung" in den verschiedenen Perioden einen anderen Inhalt haben: Sie meinen die jeweils bestehende Verfassung mit ihren Einrichtungen. Im Frankschen Kommentar von 1908 und von 1931 werden unter Verfassung die "fundamentalen Staatseinrichtungen" verstanden, auf denen das

165 166 167 168

Vgl. oben 3a bei Fn. 100,119,134. Näher Begr. E 1936, S. 81 ff. Vgl. aber Schroeder (1970), S. 170: "rein terminologischer 'Trick'". Vgl. Begr. E 1936, S. 82 zu den leitenden Erwägungen für die Anlehnung an die Verratsnovelle. Dazu 2b, 3b.

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staatliche Leben beruht, ohne daß diese Einrichtungen notwendig in der Verfassungsurkunde oder in den Verfassungsgesetzen genannt sein müßten169. Die "Verfassung" ist "ein von den Gesetzen unausgefülltes Blankett"170. Geschützt wurden danach im Kaiserreich die monarchische Staatsform und ihre wesentlichen Einrichtungen171. An die Stelle dieser Schutzobjekte und der Bismarckschen Reichsverfassung von 1871 traten nach dem Ersten Weltkrieg die neue republikanische Verfassung und die neuen republikanischen "fundamentalen Staatseinrichtungen": § 811 Nr. 2 RStGB wurde mit dem Sturz der monarchischen Staatsordnung nicht außer Kraft gesetzt, wie in einschlägigen politischen Prozessen eingewandt wurde, sondern galt mit neuem Inhalt weiter172. In dem Hochverratsprozeß im Zusammenhang mit dem sog. Kapp-Putsch vom März 1920 führte das Reichsgericht aus: "Die strafgesetzlichen Bestimmungen über Hochverrat schützen die Verfassung in ihrer jeweils bestehenden Form, keineswegs nur in der Gestalt, wie sie gerade zur Zeit des Erlasses des Strafgesetzbuchs bestand"173. Welcher Kreis von Einrichtungen mit dem Begriff "Verfassung" im einzelnen umschrieben sein sollte, wurde dabei, jedenfalls in der Rechtsprechung des Reichsgerichts, für das Kaiserreich wie für die Weimarer Republik nicht abschließend geklärt174. In der nationalsozialistischen Zeit erfuhr der Begriff "Verfassung" einen weiteren grundlegenden Inhaltswandel. Einigkeit bestand im einschlägigen Schrifttum darüber, daß "Verfassung" jedenfalls nicht die Weimarer Reichsverfassung meinen könne, auch wenn diese nicht formell aufgehoben worden sei175. Dies wurde unabhängig von der Frage bejaht, ob die Weimarer Reichsverfassung überhaupt noch in Kraft sei176. Außer Zweifel stand ferner, daß eine Reihe von "Staatsgrundgesetzen" des nationalsozialistischen Gesetzgebers die Verfassung des nationalsozialistischen Staates näher ausgestaltete. Dies anerkannte auch, wer die "Verfassung" mit der "ungeschriebenen Grundordnung des völkischen Reiches" gleichsetzte, weil unter dieser Perspektive die geschriebenen Verfassungsgesetze Ausdruck der ungeschriebenen Grundordnung waren177. Als "Staatsgrundgesetze" wurden u. a. das Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich (Ermächtigungsgesetz) vom 24. März 1933178, das Gesetz zur Sicherung der Einheit von Partei und Staat vom 1. Dezember 1933179, das Gesetz über den Neuaufbau des Reiches vom 30. Januar 1934180, das Gesetz über das Staatsoberhaupt des Deutschen Reiches vom 1. August 1935181, das Reichsstatthaltergesetz vom 30. Januar 1935182, das 169 Vgl. Frank3"5 (1908), § 82 Anm. I 2; 18. Aufl. (1931), § 82 Anm. II; ebenso E. Schäfer/v. Dohnanyi (1936), S. 130. S. auch Olshausen11 (1927), § 81 Anm. 6. 170 Binding, BT 2.2. (1905), S. 435. 171 Dazu ζ. B. Binding, BT 2.2. (1905), S. 435 ff. 172 Vgl. namentlich RGSt. 56, 259, 261; ferner RGSt. 53, 65, 66; 56,173,174. Näher etwa Stange (1968), S. 84. 173 RGSt. 56, 259,261., Hervorhebung aaO. 174 Dazu und zum "Verfassungs"-Begriff Graf zu Dohna, Frank-Festgabe II (1930), S. 231 ff. 175 Vgl. E. Schäfer/v. Dohnanyi (1936), S. 130 f.; Schwan9 (1940), § 134a Anm. 1 B; Pamsius, LK6 (1944), §80 Anm. II 1. 176 Mezger, in: H. Frank, NS-Handb2 (1935), S. 1387. 177 Ζ. B. Hube? (1939), S. 55. 178 RGBl. I, S. 141. 179 RGBl. I, S. 479. 180 RGBl. I, S. 75. 181 RGBl. I, S. 747.

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Gesetz über den Aufbau der Wehrmacht vom 16. März 1935183 und die Nürnberger Gesetze vom 15. September 1935184 angesehen. Ausgestaltet wurden in diesen Staatsgrundgesetzen mit den Worten Hubers - als Staatsorganisationsprinzipien "das Prinzip der Führung an Stelle des Gewaltenteilungssystems, das Prinzip der Bewegung an Stelle des parlamentarischen Parteienstaates, das Prinzip der Reichseinheit an Stelle des föderalistischen Gedankens, das Prinzip des Volksheeres an Stelle der Berufsarmee, der rassische Gedanke an Stelle des formellen Gleichheitsprinzips". Das "Prinzip des Volkstums" aber wurde "zum alles bestimmenden und durchdringenden Grundsatz der neuen Verfassung erhoben"185. Die Begründung zum E 1936 sprach im Hinblick auf die Staatsorganisation kurz vom Einheitsstaat, Führerstaat und Einparteienstaat und betonte namentlich die Bedeutung des Rassegedankens186. Dieser unstreitige Kern der Verfassung des Dritten Reiches verdeutlicht schon hinlänglich den ab 1933 eingetretenen Inhaltswandel. Der E 1936 wollte die neuen Grundauffassungen auch in einer sprachlichen Neugestaltung des Hochverrats ausdrücken. Der Entwurf verwendete im Anschluß an die Denkschrift des Preußischen Justizministers187 den Begriff "Verfassung" nicht. § 90 E 1936 sprach unter der Überschrift "Verrat an den Lebensgrundlagen des Deutschen Volkes" vom Unternehmen, "das Leben des Deutschen Volkes in seinen Grundlagen zu erschüttern"188. Damit sollte verdeutlicht werden, daß es nicht auf die "Verletzung der äußeren Staatsapparatur", sondern den Verstoß gegen die "innere Lebensordnung" des deutschen Volkes, wie sie von der nationalsozialistischen Führung verstanden und praktiziert wurde, ankommen solle. Der E 1936 suchte auf diese Weise der Bedeutung des "Volkstumsgedankens" Rechnung zu tragen: Für den E 1936 war "das Volk als organische Lebenseinheit Ausgangspunkt der Betrachtung auch des Staates". Einerseits träfen zwar Angriffe auf den Bestand des Staates als des "lebenswichtigen Organs des Volkes" auch das Volk; umgekehrt träfen aber auch "Angriffe auf den Bestand der Lebensgrundlagen des Volkes auch den Staat". Deshalb wurde nach § 90 des E 1936 als Hochverräter erfaßt, wer, so die Begründung, die Grundlagen des Deutschen Volkes, die Grundlagen seiner nationalsozialistischen Weltanschauung zu erschüttern unternimmt"189. Die Auffassung des E 1936 entsprach dem im staatsrechtlichen Schrifttum etwa von Huber vertretenen Verfassungsbegriff, wonach unter Verfassung die "ungeschriebene politische Grundordnung des Reiches" zu verstehen sei und die "ungeschriebene lebendige Ordnung, in der die politische Gemeinschaft des Deutschen Volkes ihre Einheit und Ganzheit" finde, den

182 RGBl. I, S. 65. 183 RGBl. I, S. 375. 184 Das Reichsflaggenges., das Reichsbiirgerges. und das Blutschutzges., RGBl. I, S. 1145 f. Vgl. zu den einzelnen "Staatsgrundgesetzen" die Aufzählungen bei Hübet* (1939), S. 56; Koellreutter3 (1938), S. 19; Mezger, in: H. Frank, NS-Handb2 (1935), S. 1387; Pamsius, LK6 (1944), Anm. II 1 und E. Schäfer/v. Dohnanyi (1936), S. 130 f. 185 Vgl. Huber* (1939), S. 56. 186 Vgl. Begr. E 1936, S. 83. 187 Kerrt, Denkschrift (1933), S. 31. 188 Vgl. § 90 E 1936 und Begr. E 1936, S. 83. 189 Vgl. Begr. E 1936, S. 83.

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"Kern der Verfassung" bilde190. Die Definition des Begriffs "Verfassung" als "rechtliche" (statt: ungeschriebene) Grundordnung bedeutete demgegenüber keine Einschränkung: Ganz überwiegend wurde es als selbstverständlich angesehen, ungeschriebenes "Recht" einzubeziehen191. Einen vollständig anderen Gehalt hatte der Begriff der "verfassungsmäßigen Ordnung" in der Zwischenregelung des Artikel 143 I GG: Er meinte die neuen fundamentalen Grundlagen des politischen Lebens der Bundesrepublik Deutschland, die freiheitlich-demokratische Grundordnung im Sinne der Artikel 18,21 GG in ihren konkreten Ausprägungen192. Bei der Neufassung durch das StÄG 1951 wurde dann der Begriff der verfassungsmäßigen Ordnung durch den Hinweis auf das Grundgesetz als normative Basis der geschützten Ordnung konkretisiert193. Eine ausdrückliche Benennung der Schutzobjekte im Grundgesetz soll dabei allerdings nicht erforderlich sein194. Unter den Schutz des § 81 fallen ζ. B. die Gewaltenteilung, das Mehrparteiensystem und die Rechtsgleichheit195; die Einführung der Grundsätze des "Führerstaats", des "Einparteienstaats" oder des "Rasseprinzips" wäre also hochverräterisch, wie umgekehrt diese Grundsätze im Dritten Reich als Schutzobjekte des Verfassungshochverrats angesehen wurden. Der skizzierte, ebenso grundlegende wie evidente Inhaltswandel des Begriffs "Verfassung" als Gegenstand des Hochverrats wird in den Texten der Hochverratsbestimmungen nicht sichtbar. Die gesetzessystematische Auslegung hilft nur mit Einschränkungen weiter, da nicht alle in der Verfassungsurkunde genannten Grundsätze geschützt werden, sondern nur solche, die als "Grundlagen" der Verfassung anzusehen sind. Zum anderen müssen die fundamentalen Einrichtungen in der Verfassungsurkunde selbst nicht benannt sein. Im Dritten Reich treten weitere Besonderheiten hinzu: Die nicht formell aufgehobene Weimarer Reichsverfassung ist, jedenfalls in ihren zentralen und wesensbestimmenden Teilen, ein "geltungsloser Text"196; maßgeblich sind bestimmte "Verfassungsgesetze", die sich formell von anderen Gesetzen allerdings nicht abheben und nach verbreiteter Ansicht nur Ausdruck der "ungeschriebenen völkischen Lebensordnung" sind, die ihrerseits den Kern des Verfassungsbegriffs ausmachen soll. Bezeichnet man trotz der offenkundigen und weitreichenden Bedeutungsverschiebungen § 80 II RStGB i. d. F. der Verratsnovelle als "vergleichsweise konservativ" und rechtsstaatlich vertretbar, wird der im Normtext verwendete Begriff "Verfassung" von dem Inhalt, für den er steht, abgespalten und isoliert betrachtet, um alsdann zu entscheiden, ob der Gesetzestext rechtsstaatskonformer Auslegung zugänglich ist. Dieses Verfahren mag ge-

190 Vgl. Hube? (1939), S. 55. S. auch Best, DR 1939, 1202: Verfassung ist die "arteigene Ordnung des Volksorganismus". 191 Vgl. Kohlrausch /Lange3* (1943), § 80 Anm. II; Olshausenn (1942), § 80 Anm. 9; E. Schäfer/v. Dohnanyi (1936), S. 130 f.; Panisius, LK6 (1944), § 80 Anm. II 1. - Mezger, in: H. Frank, NS-Handb2 (1935), S. 1387,3. Abs. zu b ließe sich - für sich betrachtet - i. S. einer Begrenzung auf geschriebenes Verfassungsrecht deuten. Dagegen spricht, daß die vorangehende Textpasssage betont, "schon" die bisherige Lehre habe als Grundlagen des politischen Staatslebens auch solche gelten lassen, die nicht in geschriebenen Verfassungsgesetzen enthalten gewesen seien. 192 Zum Begriff der verfassungsmäßigen Ordnung BGHSt. 7, 222,226 f. 193 Vgl. Willms, LK10 (1978 ff.), § 81 Rdn. 3; zur Entstehungsgeschichte Stange (1968), S. 109 ff. 194 Vgl. z. B. Schönke/Schröder/Streea (1988), § 81 Rdn. 8; Lacknet3·1 (1987), § 81 Anm. 3a. 195 Vgl. etwa Schroetter (1970), S. 434. 196 Carl Schmitt, Staat, Bewegung, Volk (1933), S. 7.

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eignet, vielleicht sogar notwendig gewesen sein, um nach 1945 gesetzgeberische Entscheidungen zur Übernahme oder Änderung des Aufbaus und der Normtexte der Hochverratsbestimmungen vorzubereiten. Aber dieses Verfahren gibt keine Auskunft über den Inhalt der Vorschriften im Dritten Reich. Eine Aussage darüber setzt zwingend die Kenntnisnahme des maßgeblichen Verfassungsbegriffs in seinen für den Hochverrat wesentlichen Elementen voraus. Der Wandel des Verfassungsbegriffs schlägt ohne Normtextänderung auf den Hochverrat durch, die Begriffsinhalte verschieben oder verkehren sich aufgrund solchen Wandels ohne weiteres. Es gibt beim Hochverrat also eine Kontinuität von Normtexten, aber keine Kontinuität des Anwendungsbereichs - und damit keine Kontinuität des geltenden Strafrechts. Die Bedeutung dieser Feststellungen beschränkt sich nicht auf den Begriff der "Verfassung" und den Verfassungshochverrat, auch wenn die Unbestimmtheit gerade dieses Tatbestandes in der Vergangenheit scharf kritisiert wurde 197 . Der Befund, daß sich Begriffsinhalte entscheidend verschieben oder in ihr Gegenteil verkehren können, folgt für andere Tatbestände des Staatsschutzstrafrechts schon aus den Ausstrahlungen, die der Zentralbegriff "Verfassung" und die damit bezeichneten Elemente in den anderen Hochverratstatbeständen entfalten. Aber auch Merkmale wie die "unwahre oder gröblich entstellte Behauptung tatsächlicher Art" 198 sind weder ihrem Gegenstand noch ihrem Inhalt nach festgelegt. Auslegung und Inhalt hängen vom Wertungszusammenhang ab, in dem die Begriffe verwendet werden. Das wird durch die Übernahme dieser Formel in das schweizerische und das bundesdeutsche Staatsschutzstrafrecht bewiesen: So bedarf es keiner näheren Ausführungen, daß regimekritische Äußerungen im Dritten Reich - etwa: "Die Partei unterdrückt die Freiheit des Volkes" -, die von der damaligen Justiz durchgängig als tatbestandliche Handlungen, ζ. B. als unwahre oder gröblich entstellte Tatsachenbehauptung erfaßt wurden, trotz gleichlautender Tatbestandsfassungen unter anderen Rahmenbedingungen nicht als tatbestandliches Unrecht behandelt worden wären.

b) Die Einheit von materiellem und formellem Strafrecht Die Betrachtungen wurden bislang auf das materielle Strafrecht beschränkt. Schon dabei hat sich gezeigt, daß die Verratsnovelle in ihrem konkreten historischen Kontext nicht in Sphären von "Licht" und "Schatten" aufgeteilt werden kann. Nur die isolierte Normtextbetrachtung kann zu einem solchen Ergebnis führen. Normtextbetrachtung betrifft aber nicht das geltende Strafrecht, sondern eben nur Normtexte. Ein weiterer wesentlicher Aspekt, der die innere Einheit des Staatsschutzstrafrechts im Dritten Reich vermittelt, ist die Anwendungszuständigkeit des Volksgerichtshofs. Für den nationalsozialistischen Gesetzgeber ist die Frage "Was soll wie bestraft werden?" natürlich von zentraler Bedeutung, und die aus dem materiellen Teil der Novelle ersichtlichen Antworten sind aufschlußreich. Mindestens ebenso wichtig ist freilich die Zuständigkeit: "Quis iudicabit?". Das gilt um so mehr, als das materielle Staatsschutzstrafrecht ersichtlich weite Anwendungsspielräume eröffnet und das richterliche Strafzumessungsermessen durch Strafrahmen von einem Jahr Gefängnis bis zur Todesstrafe freisetzt, wie beispielsweise bei 197 So bezeichnete Graf zu Dohna 1930 den Hochverratstatbestand wegen seiner unscharfen Konturen als "unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten kaum erträglich" (Frank-Festgabe II, S. 235). 198 Vgl. oben 3a zu § 90f.

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der Vorbereitung zum Hochverrat (§§ 83, 84 n. F.). Der Volksgerichtshof wird als anwendungszuständige Instanz, zunächst als Sondergericht, dann als ordentliches Gericht, etabliert199. Die Art und Weise der Richterauswahl200 ermöglicht es, "besondere Sachkunde auf dem Gebiet der Abwehr staatsfeindlicher Bestrebungen und besondere Vertrauensverbundenheit mit den politischen Lebenskräften des Volkes ins Gewicht fallen zu lassen"201. Daß gerade dieses Gericht und diese Richter Hoch- und Landesverrat aburteilen sollen, rückt erst das materielle Recht in das richtige Licht: Der Volksgerichtshof soll bei der Handhabung der Vorschriften als einziginstanzliches Gericht das erste und das letzte Wort haben. Schon die Rechtsmittelfreiheit des Verfahrens allein würde genügen, eine etwaige, der "gerechten" Beurteilung des Einzelfalls hinderliche Gesetzesbindung zu relativieren, ja auszuhebeln: In der Hand des einziginstanzlichen Tribunals wird das Strafgesetz von selbst zur bloßen Richtlinie. Das gilt um so mehr, wenn die Strafvorschriften selbst bewußt weit gefaßt und auf "lückenlosen Schutz" angelegt sind. Im Verbund mit der Anwendungszuständigkeit sind Hoch- und Landesverrat jener Generalklausel, die im Schrifttum namentlich von Dahm gefordert wurde, im praktischen Ergebnis stark angenähert. Die von Dahm befürwortete Generalklausel sollte, gelöst von "abstrakter Normierung", unmittelbar "Treulosigkeit und Verräterei, ein bestimmtes menschliches Sein" erfassen, "eine Haltung, die aus sich heraus verstanden werden muß, aber nicht auf Tatbestände bezogen ... werden kann". Der Verratsgedanke sollte, so Dahm, bei konsequenter Durchführung zur Überwindung des Tatbestandsdenkens zwingen. Keinesfalls dürfe der Richter nämlich "den wirklichen Verrat... unbestraft lassen, weil der untaugliche Versuch abstrakter Normierung gescheitert ist". Das Gesetz habe, so Dahm für das 1935 geltende Recht, ganz allgemein nicht "die Aufgabe der Begrenzung" zu erfüllen, sondern solle nur "eine Richtlinie für die Praxis ... geben". Künftig sei deshalb im Bereich des Volksverrats eine zentrale Generalklausel vorzusehen und gegebenenfalls durch Einzelbestimmungen zu ergänzen und zu verdeutlichen202. Dieses "zweifellos bestechende Gedankengebäude"203, das auf die umfassende Sicherung des Systems durch Ausscheidung aller "Verräter" zielte, war in den Texten der Verratsnovelle nicht verwirklicht. Aber: Namentlich die Vorbereitung zum Hochverrat und die Feindbegünstigung wurden zu Globalmöglichkeiten strafrechtlicher Verfolgung. Die Verratsnovelle bildete insgesamt ein lückenloses "Verteidigungsnetz gegen den Verräter"204. Die Bestimmungen wurden vom einziginstanzlichen Tribunal angewendet. Es ging, in weitgefaßtem gesetzlichen Rahmen, um die Bekämpfung von "Verräterei" und "Verrätern". Die strafbarkeitskonstitutive Bedeutung des Tatbestands trat zurück, der Tatbestand konnte bedarfsweise auch ganz verschwinden. In zugespitzter Form kommt die Zielsetzung der Bekämpfung von "Verrat" und "Verrätern" in einem Urteil des Volksgerichtshofs unter dem Vorsitz Freislers aus dem Jahre 1944 zum Ausdruck. Das Urteil handelt vom "Verrat

199 Näher W. Wagner (1974), S. 17 ff. Ordentliches Gericht durch Ges. v. 18.4.1936, RGBl. I, S. 369. 200 Ernennung durch Hitler auf Vorschlag des RMdJ, vgl. Art. III § 2 Verratsnovelle. 201 Vgl. H. Richter, RVerwBl 1934, S. 497. 202 Dahm, ZStaatW 95 (1935), 288 f., 307; ihm im wesentlichen folgend Freister, DJZ 1935, Sp. 905 ff., 912; vgl. auch Begr. E 1936, S. 81 f. 203 Schroeder (1970), S. 168. 204 Begr. E 1936, S. 82.

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Α. Die erste Phase: 1933 bis 1935

schlechthin"205, genauer: vom "Verräter" als solchem. Der Tenor ordnet ohne Berufung auf zwischen Tat und Täter geschobene "abstrakte Normierungen" die Todesstrafe für die "Verräter" an: "Ehrgeizzerfressene, ehrlose, feige Verräter sind Karl Goerdeler, Wilhelm Leuschner, Josef Wirmer und Ulrich von Hassell. Sie verschworen sich - Goerdeler sogar als politischer Kriegsspion für unsere Feinde - mit einer Gruppe eidbrüchiger Offiziere, die unseren Führer ermorden wollte, als Minister einer feindhörigen Verräterregierung unser Volk in dunkler Reaktion zu knechten und unseren Feinden auf Gnade und Ungnade auszuliefern ... Statt mannhaft wie das ganze deutsche Volk, dem Führer folgend, unseren Sieg zu erkämpfen, verrieten sie - wie niemand je in unserer Geschichte - mitten im Daseinskampf das Opfer unserer Krieger, Volk, Führer und Reich; alles, wofür wir leben und kämpfen. Sie werden mit dem Tode bestraft. Ihr Vermögen verfällt dem Reich .

Daß im Tenor des Urteils keine Hinweise auf gesetzliche Vorschriften auftauchen, daß der Tenor diffamierend, erniedrigend und beschimpfend nur die Täter kennzeichnet, ohne den Tatvorwurf zu erläutern 207 , ist beabsichtigt: Dieser Verrat, so heißt es in den Gründen, sprenge "die Engen vorher ausdenkbarer Straftaten der Gesetze", erfülle "mehrere, viele zugleich", sei nicht nur "Hochverrat, Defaitismus und Hilfe für unsere Kriegsfeinde", sei "der Verrat schlechthin"208. Diesem Urteil des Volksgerichtshofs geht es darum, den "Verräter" zu brandmarken, das "menschliche Sein", eine "Haltung"209 zu kennzeichnen. Gerade weil eine Vielzahl von Tatbeständen zur Verfügung steht, ist der Verzicht auf ihre Benennung so aufschlußreich. Vom Abschluß einer "polizeilichen Aktion zur Ausrottung von Schädlingen" ist ein solcher Spruch nicht zu unterscheiden 210 . Das mag daran liegen, daß Strafrechtspflege und polizeiliche Schädlingsbekämpfung nach ihrer Zweckrichtung im Dritten Reich überhaupt ununterscheidbar werden, wenn es um "Volksverrat" geht: Wenn Dahm 1935 "Verräterei" damit kennzeichnet, sie sei "eben ... ein bestimmtes menschliches Sein, in den schwersten Fällen eine Entartung des ganzen Menschen ... eine Haltung", die tatbestandlich nicht erfaßt werden könne 211 , so genügt das zitierte Urteil des Volksgerichtshofs diesen Anforderungen. Das Urteil mag man als Extremfall ansehen. Aber in diesem Extrem tritt das Wesen des "Volksverrats" ungeschminkt hervor. Und daß ein solches Urteil möglich ist, beweist die Notwendigkeit, die anwendungszuständige Instanz ins Auge zu fassen, wenn es um die Bewertung des materiellen Staatsschutzstrafrechts geht. c) Ergebnis Als Ergebnis ist festzuhalten: Die Verratsnovelle kann nicht in heterogene, konservativrechtsstaatliche und nationalsozialistisch-rechtsstaatswidrige Teile zerlegt werden. Die veränderten Wertungsgrundlagen erfassen das gesamte Staatsschutzstrafrecht, auch die textlich gleichgebliebene Vorschrift erfährt eine Mutation. Der Wandel der Verfassung schlägt direkt 205 206 207 208 209 210

Vgl. die Urteilsgründe bei Hillermeier (1981), S. 105. AaO, S. 103 f. Vgl. Marxen, in: Reifner/Sonnen (1984), S. 79. Bei Hillermeier (1981), S. 105. Vgl. Dahm, ZStaatW 95 (1935), 288 f. Vgl. Marxen (Fn. 207).

211 ZStaatW 95 (1935), 288 f. und schon oben Fn. 202.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

auf den Anwendungsbereich der Strafvorschriften durch; Strafdrohungen und Tatbestände, Strafnormen und Anwendungszuständigkeit bilden eine Einheit und dienen als solche der Bekämpfung von "Verrat" und "Verrätern". 6. Zusammenfassung Die Verratsnovelle stellt den "Schutz der Volksgemeinschaft durchweg in den Vordergrund und nimmt auf Individualinteressen keine Rücksicht. Hoch- und Landesverrat werden als Treubruch des deutschen Täters gegenüber seinem Volk gewertet. Von diesen Ausgangspunkten entsteht die Verratsnovelle in Zusammenfassung, Ergänzung und Verschärfung des bis dahin geltenden Rechts: Die Verratsnovelle ist als Instrument zur umfassenden Bekämpfung von volks- und staatsfeindlichen Bestrebungen konzipiert, als "lückenloses Netz", in dem sich Volks- und Staatsfeinde verfangen sollen. Charakteristisch für den Geist der Novelle ist die entschiedene Ausdehnung der Vorbereitungsstrafbarkeit beim Hoch- und Landesverrat und die weitgehende Gleichstellung von Versuch und Vollendung durch die Anknüpfung an das "Unternehmen". Die Novelle ist damit Vorbote des nationalsozialistischen Willensstrafrechts, dessen folgenträchtigste Konsequenz, die Vorverlegung der Strafbarkeit, für Hoch- und Landesverrat verwirklicht wird212. Die Novelle enthält insbesondere in den Bestimmungen über die Vorbereitung zum Hochverrat (§ 83) und die Feindbegünstigung (§ 91b) weit gefaßte Unternehmenstatbestände, die auf umfassende Bekämpfung aller "volks- und staatsfeindlichen" Bestrebungen zielen. Jede Art von "Zersetzung", kurz: jede Art anti-nationalsozialistischer Betätigung ist im Frieden über § 83 II, im Krieg auch als Feindbegünstigung (§ 91b) erfaßbar. Dabei wendet sich die Novelle namentlich auch gegen "geistige Zersetzung": Jeder Versuch einer anti-nationalsozialistischen Beeinflussung der Wehrmacht oder Polizei (§ 83 III Nr. 2) wie der Bevölkerung überhaupt (§ 83 III Nrn. 3, 4) soll unterbunden werden; der Volksverrat durch Lügenhetze (§ 90f) unterstreicht die der geistigen Beeinflussung beigelegte herausragende Bedeutung, die sich namentlich auch in der kriegsstrafrechtlichen Praxis zur Feindbegünstigung spiegelt (§ 91b). Die Strafvoraussetzungen werden von Strafdrohungen begleitet, die dem Richter in den wesentlichen Bereichen einen weiten Ermessensraum verschaffen. Die Ausfüllung der Ermessensspielräume auf Tatbestands- und Rechtsfolgenebene durch einen im Sinne des Nationalsozialismus sachkundigen Richter wird in der Novelle vorausgesetzt: Der Volksgerichtshof soll als einziginstanzliches Tribunal die Staats- und Volksfeinde nach Maßgabe der in der Novelle gesetzesförmig erteilten Richtlinien aburteilen. Die Verratsnovelle machte die Bekämpfung von Volks- und Staatsfeinden freilich nicht zu einer exklusiv justiziellen Tätigkeit: Die Strafjustiz ist "bei der Abwehr von Staatsverbrechen neben der Verwaltung und der Polizei nur eines der verschiedenen, einem gemeinsamen Ziel dienenden Glieder"213. Neben der Justiz wird namentlich die Geheime Staatspolizei als Organ zur Bekämpfung politischer Verbrechen tätig. Auf das Nebeneinander und die Überschneidungen von justizförmiger und staatspolizeilicher Bekämpfung "politischer" Verbrechen wird einzugehen sein214. 212 Dazu zusf. unten [Nr. 49] lb; s. auch [Nr. 49] 2,13; 4. Teil Β 1 1 1 . 213 Η. Richter, RVerwBl 1934,493. 214 Dazu 3. TeilC.

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[Nr. 14] Gesetz über Maßnahmen der Staatsnotwehr vom 3. Juli 1934 Das Gesetz über Maßnahmen der Staatsnotwehr1 erging im unmittelbaren Anschluß an die Niederschlagung der sog. Röhm-Revolte, die mit der Erschießung Röhms und anderer SA-Führer und weiterer angeblicher Verschwörer endete2. Der Befehl zur Tötungsaktion war von Hitler ausgegangen, der die "Maßnahmen zur Niederschlagung der Röhm-Revolte" mit dem 1. Juli 1934 auch für abgeschlossen erklärte und ankündigte, wer sich nunmehr "auf eigene Faust, gleich aus welcher Absicht in Verfolg dieser Aktion eine Gewalttat zuschulden kommen läßt, wird der normalen Justiz zur Verurteilung übergeben"3. Keine Sache der normalen Justiz war die Aburteilung der von Hitler befohlenen Erschießungen. Diese Angelegenheit wurde per Reichsregierungsgesetz geregelt, gezeichnet vom Herausgeber der Exekutionsbefehle, dem Reichskanzler Hitler, sowie von Frick und Gürtner4. Das Gesetz lautete: "Einziger Artikel: Die zur Niederschlagung hoch- und landesverräterischer Angriffe am 30. Juni, 1. und 2. Juli 1934 vollzogenen Maßnahmen sind als Staatsnotwehr rechtens".

Das Gesetz gilt als Prototyp "nationalsozialistischen"Unrechts" und exemplarisch rechtsstaatswidrig5, erhob sich doch "die Regierung zum Richter in eigener Sache, dekretierte die Rechtmäßigkeit ihres Vorgehens und verlieh diesem Machtspruch die Würde eines gesetzgeberischen Aktes"6. Für die Grundbegriffe des zeitgenössischen (Straf-)Rechtssystems ist das Staatsnotwehrgesetz freilich von einer kaum zu unterschätzenden, exemplarischen Bedeutung7. Naucke hat das Gesetz als "Form der direkten Rechtsanwendung durch Gesetz" charakterisiert: "Irgendjemand hat Strafrecht ohne Verfahren angewandt und teilt das Ergebnis der Rechtsanwendung in Gesetzesform mit"8. Diese Beschreibung ist richtig, der "Rechtsanwender" mit "irgendjemand" freilich zu blaß bezeichnet: Der "Rechtsanwender" ist eine bestimmte Person, der Reichskanzler Hitler. Reichsinnen- und Reichsjustizminister zeichnen als mitverantwortlich, das Kabinett hat das Vorgehen Hitlers gebilligt9. Das Gesetz dokumentiert in aller Schärfe das Verhältnis von "Dux" und "Lex", das schon bei der Behandlung der lex van der Lübbe10 zur Sprache kam: Dux bedient sich der Lex, um seinen Willen auf die gesetzesstaatliche Ebene zu transportieren. Das Gesetz über Staatsnotwehr geht freilich einen Schritt weiter als das frühere über Verhängung und Vollzug der Todesstrafe: Jenes Gesetz hatte nur die Rückwirkung der Todesstrafe verfügt, der Justiz dagegen die Normanwendung überlassen. Das Gesetz über Staatsnotwehr dagegen liefert bereits das fertige Ergebnis nebst Begründung: Die "Maßnahmen sind als Staatsnotwehr rechtens". Die Verfügbarkeit des Gesetzes als 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10

RGBl. I, S. 529. Reichsregierungsges. Zeichnung: Rk Adolf Hitler, RMdl Frick, RMdJ Gürtner. Zu den Vorgängen vgl. Bracher/Sauer/Schulz (1960), S. 897 ff., 955 ff.; Broszat10 (1983), S. 269 ff. So jedenfalls die im VB v. 4. 7. 1934 veröffentlichte Anordnung, abgedruckt bei Pfundtner/Neubert/Medicus (1933 ff.), I a 17, S. 1. Vgl. Fn. 1. Vgl. etwa Schorn (1963), S. 79 f. Bracher/Sauer/Schulz (1960), S. 963. Vgl. Naucke, Analogieverbot (1981), S. 86. AaO. Vgl. Pfundtner/Neubert/Medicus (1933 ff.), I a 17, S. 1 zum Verlauf der Kabinettssitzung. Vgl. oben [Nr. 5].

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

Mittel der politischen Führung und der Vorrang der politischen Führung bei der Gesetzeshandhabung werden durch das Staatsnotwehrgesetz dokumentiert. Insofern hat das Staatsnotwehrgesetz Modellcharakter und ist, als Modell, noch "viel aussagekräftiger als die 'Aufhebung des Analogieverbots' 1935 oder die Richterbriefe ab 1942"11. Dem Gesetz wurde im übrigen, was die Rechtmäßigkeit von Hitlers Vorgehen betrifft, von vornherein nur deklaratorische Bedeutung beigelegt. Gürtner betonte in der Kabinettssitzung, in welcher der Entwurf verabschiedet wurde, Hitlers Vorgehen habe "nicht nur als Recht, sondern auch als staatsmännische Pflicht" zu gelten12. Das Vorgehen Hitlers mochte man auf dem Stand des Jahres 1934 als "Ausnahme", als ein Auftreten im vorübergehenden "Ausnahmezustand" begreifen. Hitler selbst freilich zeigte in seiner Rede vor dem Reichstag am 13. Juli 1934, daß er seine Maßnahmen nicht als Ausübung von Diktaturgewalt im Ausnahmezustand ansah: Er bezeichnete sich als "des deutschen Volkes oberster Gerichtsherr" und gab damit die dem "Führerstaat" gemäße Deutung seines Verhaltens. In seiner Reichstagsrede vom 13. Juli 1934 führte Hitler u. a. aus: "Wenn mir jemand den Vorwurf entgegenhält, weshalb wir nicht die ordentlichen Gerichte zur Aburteilung herangezogen hätten, dann kann ich ihm nur sagen: In dieser Stunde war ich verantwortlich für das Schicksal der deutschen Nation und damit 13 des deutschen Volkes oberster Gerichtsherr ... Wenn mir die Meinung entgegengehalten wird, daß nur ein gerichtliches Verfahren ein genaues Abwägen von Schuld und Sühne hätte ergeben können, so lege ich gegen diese Auffassung feierlich Protest ein. Wer sich gegen Deutschland erhebt, treibt Landesverrat. Wer Landesverrat übt, soll nicht bestraft werden nach dem Umfang und Ausmaß seiner Tat, sondern nach seiner zutage getretenen Gesinnung. Wer sich untersteht, im Innern unter Bruch von Treue und Glauben und heiligen Versprechen eine Meuterei anzuzetteln, kann nichts anderes erwarten, als daß er selbst das erste Opfer sein wird"14.

Der Reichstag billigte die Erklärung Hitlers und dankte ihm ausdrücklich für die Rettung vor Bürgerkrieg und Chaos15. In Anknüpfung an die Hitler-Rede rechtfertigte dann wenig später Carl Schmitt in seinem bekannten Aufsatz in der Deutschen Juristen-Zeitung vom 1. August 1934 die Tötungsbefehle Hitlers als Akte echter Gerichtsbarkeit: "Der Führer schützt das Recht vor dem schlimmsten Mißbrauch, wenn er im Augenblick der Gefahr kraft seines Führertums als oberster Gerichtsherr unmittelbar Recht schafft... Der wahre Führer ist immer auch Richter. Aus dem Führertum fließt das Richtertum."

Das Vorgehen Hitlers sei nicht "die Aktion eines republikanischen Diktators" im "rechtsleeren Raum" des Ausnahmezustandes gewesen, nach dessen Beendigung die "Fiktionen" der "lückenlosen Legalität wieder Platz greifen" könnten. Vielmehr sei das Geschehen Ausdruck eines fundamentalen nationalsozialistischen Verfassungsrechtssatzes, des "Vorranges der politischen Führung": "In Wahrheit war die Tat des Führers echte Gerichtsbarkeit. Sie untersteht nicht der Justiz, sondern war selbst höchste Justiz ... Das Richtertum des Führers entspringt derselben Rechtsquelle, der alles Recht jedes Volkes entspringt. In der höchsten Not bewährt sich das höchste Recht und erscheint der 11 12 13 14 15

Naucke, Analogieverbot (1981), S. 86. Vgl. Pfundtner/Neubert/Medicus (1933 ff.), I a 17, S. 2; Freister, DJ 1934,850 (v. 6.7.1934). In DR 1934, 321 zitiert mit dem Zusatz: "... und damit war ich selbst in diesen 24 Stunden ... oberster Gerichtsherr". Anders Medicus, aaO; Domarus I (1965), S. 422; Carl Schmitt, DJZ 1934, Sp. 946. Bei Medicus, aaO; Domarus, aaO, S. 422. Bei Medicus, aaO.

Α. Die erste Phase: 1933 bis 1935

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höchste Grad richterlich rächender Verwirklichung dieses Rechts. Alles Recht stammt aus dem Lebensrecht des Volkes"16.

War das Vorgehen Hitlers unmittelbar Verwirklichung des "(Lebens-) Rechts" und "echte Gerichtsbarkeit", ja "höchste Justiz", bedurfte es keiner gesetzlichen Rechtfertigung des Führerhandelns: "Dux" war ja "Judex", der unmittelbar "Recht" verwirklichte, ohne einer geschriebenen "Lex" zu,bedürfen. Das Staatsnotwehrgesetz hatte auf der Basis dieser Voraussetzungen nur den Sinn, "den zeitlichen und sachlichen Umfang des Führerhandelns" zu bezeichnen und den Handlungsbereich der Justiz abzugrenzen17. Über die "Richtigkeit" der einen oder der anderen Interpretation auf dem Stand von 1934 ^ist hier nicht zu befinden. Tatsache ist, daß sich mit der Annahme ungeteilter Führergewalt im staatsrechtlichen Schrifttum die Auffassung von der Gerichtsherrlichkeit Hitlers durchsetzte18. Bis Kriegsbeginn trat Hitler freilich nicht mehr als unmittelbar tätiger "Richter" auf; die Frage der Gerichtsherrenschaft Hitlers wird erst im Zusammenhang mit den noch zu erörternden Exekutionsbefehlen (Urteilskorrekturen) aufzugreifen sein19. [Nr. 15] Gesetz gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei und zum Schutz der Parteiuniformen vom 20. Dezember 1934 Das Gesetz1 ersetzte die HeimtückeVO vom 21. März 1933 und erweiterte ihre Tatbestände. § 1 des Heimtückegesetzes übernahm inhaltlich § 3 der HeimtückeVO wobei § 3 II HeimtückeVO, der erschwerte Fälle der Greuelpropaganda betraf, entfiel, da inzwischen § 90f der Verratsnovelle vom 24. April 1934 die damit getroffenen Sachverhalte erfaßte2. Neu eingefügt wurde § 1 III, wonach eine Tat, die sich ausschließlich gegen das Ansehen der NSDAP oder ihrer Gliederungen richtete, nur mit Zustimmung des Stellvertreters des Führers oder der von ihm bestimmten Stellen verfolgbar war. Durch diese "auf besonderen Wünschen der Partei" beruhende Vorschrift sollten "leichtere Fälle, an deren Verfolgung der Partei nichts gelegen" war, straflos bleiben und ferner die Durchführung von Strafverfahren vermieden werden, "die dem Ansehen der Partei nicht nützen"3. Die Parteiführung konnte damit den § 1 Heimtückegesetz nach ihren Vorstellungen einsetzen. Die Koordination mit der Par-



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DJZ 1934, Sp. 946 f., Hervorhebung aaO.; ähnlich schon Freister, DJ v. 6. 7.1934, 850, der bereits vor der Führerrede vom "Gericht" des Führers spricht, das "aus dem klaren und tiefen Quell unserer Sittenordnung geschöpft... Recht im höchsten Sinne verwirklichte ... ". So in sich folgerichtig Carl Schmitt, DJZ 1934, Sp. 948. Zur Überflüssigkeit des Gesetzes auf der Basis der Lehre vom Führertum als Rechtsquelle vgl. auch Rüthers (1968), S. 131. Dazu unten 3. Teil D I . AaO. RGBl. I, S. 1269. Reichsregierungsges. Zeichnung: FuRk Adolf Hitler, RMdJ Gärtner, StVdF Reichsminister ohne Geschäftsbereich Heß, RMdl Frick zugleich für den Reichsminister der Luftfahrt. - Heimtückeges. aufgehoben durch MRG Nr. 1, Art. I ld. Vgl. [Nr. 13] unter 3a. Vgl. Amtl. Begr., DJ 1935,42. Zur Handhabung Crohne, DJ 1935,1406.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

tei erfolgte über das Reichsjustizministerium, dem von den Staatsanwaltschaften in allen einschlägigen Fällen zu berichten war4. Hatte die HeimtückeVO lediglich entsprechend § 1 Heimtückegesetz falsche Tatsachenbehauptungen betroffen, so stellte § 2 Heimtückegesetz auch die Abgabe von Werturteilen unter Strafe und beseitigte damit nach der amtlichen Begründung den Mangel, daß böswillige Schmähungen gegen Persönlichkeiten und Einrichtungen des Staates und der Partei lediglich als Beleidigungen "mit unzulänglicher Strafe geahndet werden konnten, obwohl sie an gefährlicher Wirkung hinter strafbaren Behauptungen tatsächlicher Art nicht zurückblieben"5. § 2 Heimtückegesetz kombinierte gesinnungstypisierende Merkmale und den Schutz des Vertrauens des Volkes in die politische Führung zu einem bemerkenswerten "Tatbestand: "Wer öffentlich gehässige, hetzerische oder von niedriger Gesinnung zeugende Äußerungen über leitende Persönlichkeiten des Staates oder der NSDAP, über ihre Anordnungen oder die von ihnen geschaffenen Einrichtungen macht, die geeignet sind, das Vertrauen des Volkes zur politischen Führung zu untergraben, wird mit Gefängnis bestraft"6.

Während es bei § 1, der zum Schutze von Staat und Bewegung eine "Vergiftung der Öffentlichkeit durch falsche Gerüchte und Lügennachrichten"7 verhindern sollte, maßgeblich auf die Gefährlichkeit der Behauptung selbst, nicht auf die innere Einstellung des Täters ankam8, mußten die nach § 2 strafbaren Äußerungen gehässig oder hetzerisch sein oder sonst von niedriger Gesinnung "zeugen". Es sollte ein "durch seine Gesinnung qualifizierter Täter getroffen" werden9. Kannte der Täter das Hetzerische usw. seiner Äußerung, wendete die Praxis der Sondergerichte § 2 regelmäßig an. Umstritten war, ob die Anwendung der Vorschrift darüber hinaus ein Urteil über die Gesamtpersönlichkeit des Täters voraussetzte10 - etwa in dem Sinne, daß der Täter gegen das Dritte Reich feindlich eingestellt sei und dem Typ des "Hetzers" entspreche 11 -, oder ob es genüge, daß die Äußerung an sich, losgelöst von der Sinnesart des Täters, nach Form oder Gehalt von solcher Gesinnung zeuge. Der Große Senat des Reichsgerichts hat diese Frage 1941 im letzteren Sinne entschieden. Danach konnte auch derjenige gemäß § 2 Heimtückegesetz bestraft werden, der unwiderlegbar behauptete, er habe lediglich eine von dritter Seite aufgestellte Behauptung wiedergegeben, um ihr entgegenzutreten, sofern der Täter nur den Charakter der Behauptung erkannte und mit der Möglichkeit rechnete, sie könne das Ver-

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Vgl. Art. 395 RiLi für das Strafverfahren i. d. F. v. 13. 4.1935 (Amtl. Sonderveröffentlichung der DJ Nr. η . Amtl. Begr., DJ 1935,42. Die 2. DVO zum Heimtückeges. v. 22. 2. 1935 (RGBl. I, S. 276; vgl. die Ermächtigung in § 7 Heimtückeges.) bestimmte die "leitenden Persönlichkeiten" näher und zwar als leitende Persönlichkeiten des Staates u. a. die Reichsminister, die Reichsstatthalter, die Vorsitzenden und Mitglieder der Landesregierungen, die Staatssekretäre des Reiches und der Länder und als leitende Persönlichkeiten der NSDAP die Reichs- und Gauleiter. Dreher, DJ 1940,1190. Vgl. Dreher, JW 1935,899; Kohlrausch /Lange38 (1943), Anh. Nr. 19, § 1 Anm. 5. Vgl. Dreher, DJ 1940,1189 f. So Kohlrausch /Lange3* (1943), Anh. Nr. 19, § 2 Anm. 3; Dohm, DR 1942,267. Vgl. Dohm, aaO; Kohlrausch /Lange3*, aaO. Zur Tätertypenlehre bes. [Nr. 29] 5.

Α. Die erste Phase: 1933 bis 1935

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trauen des Volkes zur politischen Führung untergraben 12 . In der Praxis gewann § 2, obwohl nach h. M. gegenüber § 1 subsidiär13, die größere Bedeutung, da die Vorschrift nicht nur Meinungsäußerungen, sondern auch wahre Tatsachenbehauptungen in gehässiger Form erfaßte 14 . Aus der Rechtsprechung wären Äußerungen zu nennen wie "Hitler ist ein Bazi", "Der Stürmer ist eine Kulturschande", "Hitler arbeitet für seinen persönlichen Ruhm" 15 oder der Rat eines Priesters im Beichtstuhl, ein Kind nicht in das Landjahr, eine "Einrichtung" im Sinne des § 2 I, zu schicken, weil es dort seinen Glauben verliere 16 . Auch durch schlüssiges Verhalten, etwa das Zerschmettern eines Bildes einer leitenden Persönlichkeit des Staates oder der NSDAP konnten "Äußerungen" erfolgen 17 . Im Kriege bildete § 2 eine "wichtige Waffe der politischen Rspr. im Kampf gegen jede Untergrabung der inneren Front" weshalb eine Auslegung nach Kriegsbedürfnissen für maßgeblich erklärt wurde 18 . Den "öffentlichen" Äußerungen (§ 21) stellte § 2 II nicht-öffentliche, "böswillige" Äußerungen gleich, wenn der "Täter damit rechnet oder damit rechnen muß, daß die Äußerung in die Öffentlichkeit dringen werde". "Böswilligkeit" erforderte nach der Rechtsprechung des Reichsgerichts, daß der Wille des Täters darauf gerichtet war, das Vertrauen des Volkes zur politischen Führung zu untergraben, während bei der Tat nach § 2 I hinsichtlich dieses Merkmals bedingter Vorsatz genügen sollte19. Bei der Annahme einer mittelbaren Öffentlichkeit ging die Rechtsprechung weit. Bejaht wurden die Voraussetzungen des § 2 II etwa für die Äußerung eines Geistlichen im Beichtstuhl20, oder wenn der Täter bei zerrütteter Ehe damit rechnen mußte, seine Frau werde seine Äußerungen weitertragen 21 . Verneint wurde die mittelbare Öffentlichkeit im allgemeinen nur bei Gesprächen im engsten Familienkreis oder bei Angaben gegenüber zur Amtsverschwiegenheit verpflichteten Personen 22 . § 2 III bestimmte, daß die Tat nur auf Anordnung des Reichsministers der Justiz verfolgbar war; falls sich die Tat gegen eine leitende Persönlichkeit der NSDAP richtete, war das Einverständnis mit dem Stellvertreter des Führers erforderlich. Die besondere Anordnung der Strafverfolgung wurde eingeführt, um "die neue Waffe nicht abzustumpfen", sondern die Strafbarkeit auf Taten zu beschränken, deren "Straflosigkeit... im Interesse des Gemeinwohls und des Ansehens von Staat und Partei nicht tragbar wäre". Die Einschaltung des Reichsministers der Justiz und gegebenenfalls des Stellvertreters des Führers sollte die "einheitliche und

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RG-GS-St. 75,250,251 (Beschl. v. 25. 6.1941). Vgl. Crohne, DJ 1935,1406 f.; Pfundtner/Neubert/ Schäfer (1933 ff.), II c 15, S. 6. So Dreher, DJ 1940.1189. Vgl. Hilttenberger, Heimtückefälle (1981), S. 454 f. und dort die weit. Beispiele aus der Praxis des SG München.Vgl. auch die Fallschilderungen bei E. Müller, FS 150 Jahre LG Saarbrücken, S. 169 ff., 176 ff. (LG Saarbrücken); Schimmler (1984), S. 59 ff., s. auch S. 32 ff. (SG Berlin).

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SG Breslau, DRiZ 1935,570 Nr. 554. SG Hamburg, JW 1938,1884 16 . Vgl. SG Hamburg, DR 1942, 2662 unter Hinweis auf die eigene st. Rspr. und die des RG zur VolksschädlingsVO [Nr. 29], RG-GS-St. 75, 250,251. Wie Fn. 16. SG Hamburg, JW 1938,1884 16 . Vgl. Pfundtner/Neubert/Schäfer (1933 ff.), II c 15, S. 9; Hennerici, GS 112 (1939), S. 15 f.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

zentrale Beurteilung" dieser Voraussetzungen sicherstellen23 und einerseits verhindern, daß sich durch uferlose Verfolgung "entgegen dem ausdrücklichen Willen des Führers ... auf dem Boden des § 2 Abs. 1 ein verächtliches Angebertum entwickelt"24. In den ersten acht Monaten nach Einführung des § 2 Heimtückegesetz hatte der Reichsjustizminister in etwa 50 % der mitgeteilten Fälle eine Strafverfolgung abgelehnt, in weiteren etwa 15 % der Stellvertreter des Führers die Zustimmung versagt25. § 3 entsprach im wesentlichen § 2 HeimtückeVO26. Ein neuer § 4 I bedrohte die Vorspiegelung der Mitgliedschaft in der NSDAP mit Gefängnis bis zu einem Jahr, falls der Täter bei der Tat "seines Vorteils wegen oder in der Absicht, einen politischen Zweck zu erreichen", handelte. Unter "Vorteil" wurde dabei auch ein ideeller Vorteil verstanden27. Über die Strafverfolgung disponierten Parteistellen28. § 5 I bedrohte weitergehend als § 1 Heimtücke VO29 auch das unbefugte, gewerbsmäßige Herstellen, Vorrätighalten, Feilhaken und sonstige Inverkehrbringen von Parteiuniformen der NSDAP mit Gefängnis bis zu zwei Jahren. Neben Uniformen wurden auch Uniformteile, Gewebe, Fahnen oder Abzeichen der NSDAP, ihrer Gliederungen oder der angeschlossenen Verbände geschützt30 (§ 5 I) und in § 5 III auch solche Uniformen, Uniformteile und Abzeichen in den Strafschutz einbezogen, die den parteiamtlichen Gegenständen "zum Verwechseln ähnlich sind". Die Strafverfolgung nach dieser Vorschrift setzte die Zustimmung des Stellvertreters des Führers oder der von ihm bestimmten Stelle voraus (§ 5 VI). Die übrigen Bestimmungen des Heimtückegesetzes entsprachen im wesentlichen der HeimtückeVO31.

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Amtl. Begr. zum Heimtückeges., DJ 1935, 42. Vgl. auch die RiLi für das Strafverfahren v. 13. 4. 1935 Nr. 395 i. d. F. der AV v. 14. 11. 1935, DJ 1935, 1688 und v. 6. 8. 1939, DJ 1939, 1364 (auch bei Krug/Schäfer/Stolzenburf? (1943), S. 244 ff.). Vgl. auch Hennerici, aaO, 16: "Die Beteiligung dieser beiden Stellen bietet die beste Gewähr dafür, daß nicht uferlos vefolgt, andererseits aber auch den Belangen des Staates und der Partei die notwendige Rechnung getragen wird". Vgl. auch Haidn, JW 1935, 897: "Die Notwendigkeit der Verfolgung von Hetzangriffen ist eine Frage der politischen Führung selbst".

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Vgl. RiLi für das Strafverfahren (Fn. 23) Nr. 3951 c Nr. 1.

25

Vgl. den Bericht von Crohne, DJ 1935, 1406. Näher zur Ausgestaltung der Berichtspflicht gegenüber dem RJM RiLi für das Strafverfahren (Fn. 23), Nr. 3951 c Nr. 3 i. V. m. I a Nrn. 2-4. Vgl. dazu [Nr. 4] bei Fn. 4 ff. Kohlrausch /Lange* (1943), Anh. Nr. 19, § 4 Anm. 1 mit Nachw. Vgl. § 4 II Heimtückeges.

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Vgl. [Nr. 4] bei Fn. 3. Zu den Begriffen und den damit erfaßten Gegenständen vgl. Bekanntmachung gem. Art. I § 5 Heimtückeges. v. 16.1.1935 (RGBl. I, S. 70). Vgl. § 5 II Heimtückeges. und § 1 1 HeimtückeVO, § 6 Heimtückeges. und § 4 HeimtückeVO. - Zu weiteren Einzelheiten des Heimtückeges. vgl. die Kommentierungen bei Pfundtner/Neubert/Schäfer (1933 ff.), II c 15; E. Schäfer/v. Dohnanyi (1936), S. 288 ff.; Schwarz9 (1943), Anh. Nr. 7; Kohlrausch ¡Lange™ (1943), Anh. Nr. 19; s. auch Hennerici, GS 112 (1939), S. 12 f. und zusf. Brezina (1987), S. 61 ff.

Α. Die erste Phase: 1933 bis 1935

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Die Aburteilung der Heimtückedelikte oblag zunächst nur teilweise32, später wieder im ganzen den Sondergerichten33. Zusammenfassend ist festzuhalten, daß das Heimtückegesetz die HeimtückeVO ausbaute und wie diese den Schutz des Vertrauens zur nationalsozialistischen Führung bezweckte; dieses Schutzgut anerkannte § 2 Heimtückegesetz ausdrücklich. Die bemerkenswerteste Neuerung liegt darin, daß die Handhabung der zentralen Strafvorschriften in weitem Umfang Stellen des Staates und/oder der Partei überlassen wird34: Mit politischem Fingerspitzengefühl sollen diese Stellen den Einsatz des Heimtückestrafrechts verwalten. [Nr. 16] Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuchs vom 28. Juni 1935 (Analogienovelle) und Gesetz zur Änderung von Vorschriften des Strafverfahrens und des Gerichtsverfassungsgesetzes vom 28. Juni 1935 1. Übersicht und Einführung in den Grundlagenteil der Novellen Die vierte Strafgesetznovelle1 seit der Machtübernahme verfolgte zwei Ziele: Einmal diente sie der "Abstellung bestimmter Einzelmißstände"2, der Befriedigung einer Reihe "vordringlich gewordener praktischer Bedürfnisse auf Einzelgebieten des Strafrechts"3. Die entsprechenden Vorschriften nahmen den größten Umfang ein (Art. 3 -13). Den Kern der Novelle bildete jedoch der zweite Teil der Änderungen. Dieser sollte in "vorsichtiger Vorwegnähme einiger Gedanken der Gesamtreform, die schon heute als geklärt und gesichert gelten können, die Umstellung des Strafrechts auf den Geist des neuen Staates ... um ein weiteres Stück vorwärtstreiben und so der in Gang befindlichen Gesamtreform den Weg bereiten und sie entlasten". Diesem Zweck dienten nach der amtlichen Begründung insbesondere "die das allgemeine Ziel der Auflockerung der Strafrechtspflege, der Durchsetzung der materiellen Gerechtigkeit und einer stärkeren Sicherung der Volksgemeinschaft verfolgenden Vorschläge in Art. 1 u. 2"4. Gemeint waren damit die "Rechtsschöpfung durch entsprechende Anwendung der Strafgesetze" (Art. 1) und die "Verhütung ungerechter Freisprechungen durch Zulassung der Wahlfeststellung" (Art. 2). In diesen beiden Artikeln lag das "grundsätzlich Neue, das, was die Novelle zu einer Art Wendepunkt für die gesamte Straf32

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Vgl. VO der Reichsregierung über die Zuständigkeit der Sondergerichte v. 20. 12. 1934 (RGBl. 1935 I , S. 4), die mit dem Heimtiickeges. erlassen wird. Sie stützt sich - zur Ergänzung der SondergerichtsVO v. 21.3. 1933 - nicht auf das Ermächtigungsges., sondern auf die in der VO v. 6. 10. 1931 (RGBl. I, S. 537,565) enthaltene Ermächtigung, vgl. oben [Nr. 2] Fn. 33. Vgl. ZuständigkeitsVO v. 21. 2. 1940, RGBl. I, S. 405, Art. II § 13 Nr. 1; so schon die VO v. 21. 3. 1933, vgl. [Nr. 4] bei Fn. 15. Vgl. §§ 1 III, 2 III, 4 II, 5 VI Heimtiickeges. RGBl. I, S. 839. Es zeichnen: FuRk Adolf Hitler, RMdJ Dr. Gürtner. - §§ 2,2b, 140-143a (Verletzung der Wehrpflicht und der Wehrkraft), 134b aufgehoben durch Art. 1 KRG Nr. 11; § 2a geändert durch "Bereinigungsgesetz" (StÄG 1953, § 2). - Zu den Änderungen im Dritten Reich vgl. zu § 143a [Nr. 20], [Nr. 32] bei Fn. 2, [Nr. 39] Fn. 184. An die Stelle der §§ 142, 143 (Selbstverstümmelung, Wehrbetrug) trat 1939 § 5 Ziff. 3 KSStVO [Nr. 26]. Amtl. Begr., S. 27. L. Schäfer/Lehmann/Dörffler (1935), S. 11. Amtl. Begr., S. 27.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

rechtspflege macht"5. Das "grundsätzlich Neue" war am sinnfälligsten in dem Bruch mit dem Grundsatz "nulla poena sine lege" verkörpert, den der neue § 2 RStGB durch die Zulassung der Bestrafung "nach dem Grundgedanken eines Strafgesetzes und nach gesundem Volksempfinden" dokumentierte. Gleichzeitig mit der Novelle zum Strafgesetzbuch wurde die Verfahrensnovelle6 erlassen. Die Artikel 1 und 2 der materiell-rechtlichen Novelle verlangten "notwendig auch ergänzende neue Verfahrensvorschriften, um ihnen vollen Erfolg zu sichern"7. Über diesen technischen Zusammenhang hinaus erhellen die prozessualen Vorschriften aber auch den Sinn der materiell-rechtlichen Änderungen durchaus eigenständig, wenn sie u. a. den Zweck des neuen § 2 RStGB darin sehen, der "Gerechtigkeit zum Siege" zu verhelfen8. Die Grundgedanken der freieren Stellung des Richters zum Gesetz ("Auflockerung") und der Durchsetzung der materiellen Gerechtigkeit, die den materiell-rechtlichen Änderungen zugrunde liegen, werden im und durch Verfahrensrecht verwirklicht9. Wie eine "ständige Mahnung des Gesetzgebers"10 zieht sich das Wort "frei" durch die Verfahrensnovelle: "Freiere Stellung des Richters", "Freieres Ermessen des Gerichts bei Beweiserhebungen", "Befreiung des Reichsgerichts von Bindungen an alte Urteile", oder "Freiere Stellung der Staatsanwaltschaft" lauten die programmatischen Überschriften zu den Prozeßrechtsänderungen11. Das Ergänzungsverhältnis der beiden Novellen macht es unerläßlich, die Strafgesetznovelle in ständiger Verbindung mit der Verfahrensnovelle zu sehen und zu erläutern. Vor allem aber enthält die Verfahrensnovelle im Gewände der "Befreiung des Reichsgerichts von Bindungen an alte Urteile" (Art. 2) eine das gesamte materielle Strafrecht betreffende Auslegungsrichtlinie. Im zeitgenössischen Schrifttum fanden die Novellen höchste Aufmerksamkeit 12 . Das herausragende Interesse galt dabei der grundsätzlichen Zielrichtung auf Verwirklichung materieller Gerechtigkeit, die man insbesondere im neuen § 2 RStGB verkörpert sah13. Mit der Aufgabe des "Nulla poena sine lege"-Satzes - die übrigens vielfach schon vor Erlaß der Novelle als geltendes Recht behauptet wurde14 - sah man das "Feldzeichen des Gegners"15 end5 6 7 8 9 10 11 12

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E. Schäfer/v. Dohnanyi (1936), S. 183. RGBl. I, S. 844. Zeichnung: wie Fn. 1. Amtl. Begr., S. 50. Vgl. Art. 1 Nr. l a (§§ 170a, 267a RStPO). Vgl. Amtl. Begr. (Verfahrensnovelle), S. 50. Vgl. Cari Schmitt, DJZ1935, Sp. 919. Vgl. Überschriften zu Art. 1; Art. 1 Nr. 3,4; Art. 2,4. Zu den Novellen im ganzen etwa L. Schäfer, RVerwBl 1935, 869 ff.; Carl Schmitt, DJZ 1935 Sp. 919 ff.; Freister, JDR 1935, 520 ff.; E. Schäfer, DJ 1935, 991 ff.; Schwarz, ZAkDR 1936, 116 ff. und GS 106 (1935), S. 243 ff. Zum Änderungsgesetz zum Strafgesetzbuch L. Schäfer, DJ 1935, 994 ff.; Κ Schäfer, JW 1935, 2323 ff.; L. Schäfer¡Lehmann,/Dörffler (1935), S. 11 ff.; E. Schäfer/v. Dohnanyi (1936), S. 183 ff. Zur VerfahrensnoveUe etwa Lehmann, DJ 1935,999 ff.; Schwan, DJZ 1935,925 ff. Vgl. die Nachw. Fn. 12, welche die Novellen im ganzen und die Strafgesetznovelle betreffen. - Die Spezialliteratur zur Analogie ist kaum überschaubar. Vgl. dazu die Bibliographie von Rüping (1985), S. 74 ff. und die aus dem nachfolgenden Text ersichtlichen Nachw. Vgl. etwa Peters, JW 1933,1564; Siegert, DStR 1934, 381 und Nagler, LK6 (1944), § 2 Anm. 11 jeweils mwN. Vgl. auch Henkel, Strafrichter und Gesetz (1934), S. 54 f., der den Satz jedenfalls als verfassungsrechtlichen mit dem Ermächtigungsgesetz verabschiedet sieht.

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gültig erbeutet, den Vorrang der materiellen Gerechtigkeit für das gesamte Strafrecht anerkannt16. Im Nachkriegsschrifttum wird die Aufhebung des Analogieverbots als Vorgang von herausragender Bedeutung, als "Bruch" in der Rechtsentwicklung, gewürdigt. § 2 RStGB n. F. ist eine der am eingehendsten erörterten Vorschriften aus der nationalsozialistischen Zeit17. Naucke hat freilich davor gewarnt, die Bedeutung der "Aufhebung des Analogieverbots" für das zeitgenössische Strafrechtssystem zu überschätzen18. § 2 der Novelle hafte nämlich im Gesamtkontext "nichts Auffälliges" an. Der Ausdruck "Aufhebung eines Verbots" sei irreführend, weil das "Ende eines Verbots ... etwas Positives sei. Vor allem aber bezeichne der Ausdruck "die juristische Sache" falsch. Es gehe "nicht um Fragen der juristischen Methodenlehre ... sondern um handfeste unwissenschaftliche Probleme alltäglicher Staatsorganisation". Die Stellung des Regelbenutzers verändere sich bei rasch wechselnden und vagen Regeln. Er sei nicht mehr "Ausleger oder allenfalls analoger Anwender strafrechtlicher Regeln", er werde vielmehr der "verständnisvolle Verbündete des Gesetzgebers"19. Für Naucke ist die "Aufhebung des Analogieverbots" nur Ausdruck eines veränderten Grundverhältnisses von Gesetz und Richter. Freilich betrachtet Naucke eine abgeschlossene Entwicklungsreihe, die bis 1944/45 reicht. Die Novellen stehen aber nur am Ende einer ersten gesetzgeberischen Phase und werden zunächst in ihrer Bedeutung auf dem Stande des Jahres 1935 zu würdigen sein. Schon ein flüchtiger Blick in das zeitgenössische Schrifttum belehrt, daß mit dem neuen § 2 RStGB in der Tat mehr verbunden wird als die "Aufhebung eines Verbots". Die "Aufhebung" hat zunächst und vor allem symbolische Bedeutung, eben die der Erbeutung eines "Feldzeichens des Gegners"20: Der Nulla-poena-Satz wird zur "Trophäe" eines Sieges über das rechtsstaatlich-liberale Strafrecht21. Die Aufhebung beseitigt nach zeitgenössischem Verständnis ferner eine Schranke, die eine Verwirklichung der "materiellen Gerechtigkeit" hindert. Der symbolische Sieg wie die Schrankenbeseitigung erschöpfen den Sinn der Novellen jedoch nicht. Sie wenden sich polemisch gegen die Vergangenheit; tiefgreifender und zukunftsträchtig ist, daß die Novellen das Verhältnis von "Recht", "Gesetz", "Richter" und politischer Führung im Strafrecht betreffen, daß sie den Vorrang einer bestimmt gearteten "Gerechtigkeit" voraussetzen. Welche Antworten die Novellen auf diese Grundfragen geben, ist im folgenden zu ermitteln. Im Zentrum der weiteren Darstellung wird deshalb der Grundlagenteil der Novellen ste-

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17 18 19 20 21

Vgl. Schaffstein, DR 1934, 350; zu den Fernwirkungen des Satzes auch Henkel, Strafrichter und Gesetz (1934), S. 8. Zusf. zum "Kampf gegen das Analogieverbot" Marxen (1975), S. 192 ff. Vgl. die einschlägigen Nachw. bei Fn. 12, etwa E. Schäfer, DJ 1935, 991 ("Überordnung der materiellen Gerechtigkeit über die formale Gerechtigkeit"); Freisler, JDR 1935, 521 ("Überwindung der Formalgerechtigkeit zu Gunsten materieller Gerechtigkeit"); L. Schäfer/Lehmann/Dörffler (1936), S. 11 ("Durchsetzung der materiellen Gerechtigkeit") oder Carl Schmitt, DJZ 1935, Sp. 919 ("innere Gerechtigkeit statt äußere Gesetzlichkeit"). Dazu oben 1. Teil, A 1 3 a Fn. 58 ff. Analogieverbot (1981), S. 74 f.; zu Nauckes Konzeption schon eingehend 1. Teil A II 1. Analogieverbot (1981), S. 82 f. Schaffstein, DR 1934,350. Vgl. zu diesem Ausdruck ("Trophäe eines geistesgeschichtlichen Sieges") Carl Schmitt, ZStaatW 95 (1935), 201, gemünzt auf den (noch nicht entbehrlichen) Begriff "Rechtsstaat".

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

hen. Das Hauptinteresse gilt einmal der Rechtsschöpfung durch entsprechende Anwendung der Strafgesetze, wobei aus den dargelegten Gründen die prozessualen Vorschriften einzubeziehen sind (dazu 4). Von ebenbürtiger Bedeutung sind die mittelbar in den Regeln der Rechtsschöpfung und unmittelbar in Artikel 2 der Verfahrensnovelle enthaltenen Auslegungsrichtlinien (dazu 5). Die Vorschriften über die Rückwirkung (dazu 6) und die Wahlfeststellung (dazu 7) sowie die neuen Strafvorschriften im übrigen (dazu 8) werden behandelt. Der Kernteil der Novellen wurde nicht voraussetzungslos geschaffen. Die Novellen stehen im Kontext der 1933 einsetzenden Bemühungen um eine nationalsozialistische (Straf-) Rechtserneuerung; ihr Sinn zeichnet sich erst vor diesem Hintergrund in voller Deutlichkeit ab. Deshalb ist die vorbereitende und begleitende (straf-)rechtswissenschaftliche Diskussion um das Verhältnis von Recht, Gesetz, Richter und politischer Führung in ihren Umrissen zu skizzieren (dazu 2). Für das Verständnis der Novellen wie der weiteren Entwicklung sind namentlich auch die ab 1933 unterbreiteten Reformvorschläge heranzuziehen (dazu 3). Der Grundlagenteil der Novellen wollte sich nicht in bekenntnishafter Symbolik erschöpfen, sondern zielte auf praktische Wirkung. Deshalb ist die Handhabung des neuen § 2 RStGB im Anschluß an die Darstellung der Novellen ins Auge zu fassen (dazu 9). 2. Die Grundlagendiskussion im (straf-)rechtswissenschaftlichen Schrifttum 1933 bis 1935: Recht, Gesetz, Richter und politische Führung Die 1933 einsetzende Diskussion um die Grundbegriffe nationalsozialistischen Rechts und Strafrechts ist hier nicht in ihren Einzelheiten darzustellen. Eine Kanalisierung der Literaturflut haben andere schon geleistet22. Vor allem aber sind die Inhalte der Diskussion hier nicht um ihrer selbst willen zu berücksichtigen, sondern allein zu dem Zweck, das Umfeld der Novellen zu erhellen und ihr Verständnis zu erleichtern. a) Die Rechtsquellenlehre: Recht und Gesetz In der zeitgenössischen Diskussion ab 1933 findet sich durchgehend eine Unterscheidung von "höherem Recht", "Rechtsurquelle", "völkischen Lebensgesetzen" usw. einerseits und Gesetzesrecht andererseits. Die Ausdrücke wechseln, der Inhalt bleibt: Das Recht ist dem Gesetz übergeordnet; das Gesetz ist zwar Recht, erschöpft es aber nicht23. Das Recht soll vorgegeben und rassisch-völkischen Urspungs sein. Die Parallelen zu naturrechtlichen Argumentationsmustern sind unverkennbar 24 , aber hier nicht zu verfolgen. Die zeitgenössischen Ansätze und die Terminologie sind unterschiedlich. Karriere macht u. a. das "konkrete Ordnungsdenken": Nach Carl Schmitt ist das Recht in den konkreten völkischen Lebensordnungen vorgegeben. Diese haben "eine eigene rechtliche Substanz, die wohl auch

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23 24

Vgl. dazu Gemhuber, FS Kern (1968), S. 167 ff.; Rüthers (1968), bes. S. 121 ff.; Kirschenmann (1970), S. 69 ff.; Kim (1972), S. 63 ff.; Anderbrügge (1978), S. 19 ff., 132 ff. jeweils mwN. Für das Strafrecht besonders Marxen (1975), S. 67 ff.; B. Koch (1985), S. 98 ff., 110 ff. Treffend B. Koch (1985), S. 100. Vgl. zu einem nationalsozialistischen Naturrecht Dietze (1939), S. 109 ff. Zur Strukturparallelität etwa Rüthers (1968), S. 123 f. und schon Forsthoff (1947/48), in: Maihofer (Hrsg.), S. 78 f.

Α. Die erste Phase: 1933 bis 1935

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generelle Regeln und Regelmäßigkeiten kennt, aber nur als Ausfluß dieser Substanz, nur aus ihrer konkreten eigenen, inneren Ordnung heraus, die nicht die Summe jener Regeln und Funktionen ist"25. Die Kernthese dieser Lehre, daß die Lebenswirklichkeit ihre Ordnung in sich trage, war zeitgemäß. Larenz etwa bezeichnete Recht als die "konkrete Lebensform der völkischen Gemeinschaft"26. Dahm bestimmte "Deutsches Recht" als die "Lebensordnung des Deutschen Volkes: Die Gemeinschaft wird nicht von außen geordnet, sondern sie trägt ihr Gesetz in sich"27. Neben den "konkreten Ordnungen" wurde insbesondere das Rechtsbewußtsein des Volkes als Quelle allen Rechts bezeichnet. Die Rede war u. a. vom "Volksgewissen"28, vom "Rechtsgewissen des Volkes", seinem "lebendigen Rechtsbewußtsein", vom "gesunden Volksempfinden", der "gesunden Volksanschauung" oder ähnlichem29. Die Formeln sind vermehrbar und austauschbar. Der Sache nach wird immer die Existenz eines vorpositiven "Rechts" anerkannt. Entscheidend ist die wirkungsträchtige Zielrichtung der "konkreten Ordnungen" oder des "Volksgewissens", denen das Recht entspringen soll: Gemeint sind nicht empirische Ordnungen und faktische Rechtsüberzeugungen. Es geht um die sinnvolle innere Ordnung, um die gesunde Rechtsüberzeugung. Alle Figuren und Formeln sind auf die inhaltliche Ausfüllung mit nationalsozialistischen Wertungen ausgerichtet. Die materiellen Werte, die das Recht bestimmen, sollen sich aus der nationalsozialistischen Weltanschauung und ihren "völkischen Lebensgesetzen" ergeben30: Die "materiellen Inhalte der Gerechtigkeit im Raum des deutschen Rechts der Gegenwart sind durch den Nationalsozialismus vorgegeben. Von seiner Idee her bestimmen sich alle einzelnen Rechtsideale, auch die des Strafrechts"31. b) Der materielle Verbrechensbegriff: Verbrechen als Verstoß gegen die völkische Sittenordnung Die neue Rechtsquellenlehre findet im Strafrecht ihren Ausdruck in einem materiellen Verbrechensbegriff, der unterschiedlich formuliert wird, in seinem Kern aber auf dem Gesetz vorgegebene inhaltliche Bestimmungen verweist. Die Lehren vom Verbrechen als Pflichtverletzung (Schaffstein), als Verrat (Dahm) oder als Ausdruck einer niedrigen Gesinnung32 begegnen sich in diesem zentralen Punkt: Das Wesen des Verbrechens ist seine "Gemein-

25

26 27 28 29 30 31 32

Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens (1934), S. 20. Zum konkreten Ordnungsdenken in unserem Kontext vgl. Rüthers (1968), S. 277 ff.; Kirschenmann (1970), S. 29 ff.; Kim (1972), S. 67 f. ZfDKPh, Bd. 1 (1934), 40; vgl. auch Gegenstand und Methode (1938) S. 27 ff. Verbrechen und Tatbestand (1935), S. 85. Zur Übernahme der Kernthese des konkreten Ordnungsdenkens in den einzelnen Rechtsgebieten Rüthers (1968), S. 293 f. mwN. Ein von Freister favorisierter Ausdruck, vgl. JDR 1935,522. Vgl. die Zusammenstellungen bei Anderbrügge (1978), S. 135 f. und H. Großmann (1941), S. 97 ff.; R. Bartsch (1940), S. 29 f. Dazu namentlich B. Koch (1985), S. 110 ff. mit Nachw. Erik Wolf, DRWis 1939, 177; vgl. etwa auch Larenz, Deutsche Rechtserneuerung und Rechtsphilosophie (1934), S. 38 ff. Dazu eingehend Marxen (1975), S. 182 ff.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

schaftswidrigkeit"33, auch als "Verstoß gegen die völkische Sittenordnung"34 definiert. Der formelle Verbrechensbegriff wird für überwunden erklärt, weil das Recht in der "Volksanschauung" wurzelt, weil Verbrechen der Verstoß gegen das "innere Gesetz der Gemeinschaft" ist 35 . Was das Verbrechen ausmachen soll, faßt Mezger auf der Strafrechtslehrertagung Anfang 1935 lapidar zusammen: "Materiell rechtswidriges Handeln ist Handeln gegen die deutsche nationalsozialistische Weltanschauung". In der nationalsozialistischen Weltanschauung also soll die "gesunde Volksanschauung über Recht und Unrecht", die "Urquelle" nationalsozialistischen Rechts, "inhaltlich und konkret bestimmt" sein 36 . Die Orientierung an nationalsozialistischen Werten übergreift auch den späteren Methodenstreit zwischen Kieler und Marburger Schule 37 . Schwinge und Zimmerl, die am Verbrechen als Rechtsgutsverletzung festhalten, bemühen sich durchgehend um den Nachweis, daß die nationalsozialistischen Ideen auch im Rahmen der herkömmlichen, freilich weiter zu entwickelnden Methoden, Eingang in das Strafrecht finden könnten 38 . Der "Bestand und das Wohl des deutschen Volkes" geben auch für Schwinge und Zimmerl den "letzten inhaltlichen Maßstab ab für die Frage, was Recht und Unrecht ist". Konkretisiert sehen sie diesen Maßstab in der "nat.-soz. Weltanschauung"39. c) Der Führer als

Rechtsquelle

Die materiellen Wertungen verweisen auf die "nationalsozialistische Weltanschauung" und scheinen damit in das Dickicht ideologischer Ableitungen zu führen. Die Wertungen verweisen aber, praktisch bedeutsamer, auch auf eine Zuständigkeit: Offenbar wird der Volkswille im Führer. Der völkische Gemeinwille, die "Rechtsurquelle", ist im Führer verkörpert. Er aktualisiert kraft seines Führertums den Inhalt völkischen Rechts: Dem Führer gegenüber "bedarf es keiner Garantie für die Wahrung der Gerechtigkeit, da er kraft seines Führertums der 'Hüter der Verfassung' und d. h. hier: der ungeschriebenen konkreten Rechtsidee seines Volkes ist"40. Der Führer ist die "real-präsente"41 Rechtsidee. 33 34 35 36 37 38 39

40

Vgl. Lorenz, ZfDKPh, Bd. 2 (1935), 33; Schaffstein, Das Verbrechen als Pflichtwidrigkeit (1935), S. 109 f.; Dohm, Gemeinschaft und Strafrecht (1935), S. 12; Gallas, FS Gleispach (1936), S. 67. Schaffstein, Das Verbrechen als Pflichtwidrigkeit (1935), S. 123. Dohm, Verbrechen und Tatbestand (1935), S. 88. Mezger, ZStW 55 (1936), 9. Vgl. die Streitschrift von Schwinge/Zimmert, Wesensschau und konkretes Ordnungsdenken (1937) und die Erwiderung von Dohm, ZStW 57 (1937), 225 ff. Zusf. Bock, ZfNR 1984,142 ff. Schwinge/Zimmert, aaO, S. 57 ff., 72 ff. (Rechtsgut), 92 ff. (Tatbestand). Vgl. aaO, S. 58. Ahnlich aaO, S. 92 zu den Aufgaben der Tatbestandslehre: "... Umbau nicht nur der Tatbestände, sondern überhaupt der gesetzlichen Typen ... Der richtige Weg zum Neuaufbau des Deutschen Rechts führt vom Formalismus zur Rechtsinhaltsbetrachtung ... Höchster und letzter Wert... ist... die inhaltserfüllte Idee der Blutsgemeinschaft des deutschen Volkes ... Hervorhebung aaO. Vgl. Lorenz, Deutsche Rechtserneuerung und Rechtsphilosophie (1934), S. 34, Hervorhebungen aaO. Auch Verweisungen auf das Parteiprogramm als Rechtsquelle (dazu etwa Koellreutter, RVerwBl. 1935, 445 f.) enden bei der Aktualisierungszuständigkeit des Führers: Natürlich ist der Führer auch Hüter des Parteiprogramms.

Α. Die erste Phase: 1933 bis 1935

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Die einzelnen Rechtfertigungsstrategien zur Realverkörperung der deutschen Rechtsidee im Führer sind hier nicht nachzuvollziehen. Klar und anerkannt ist, daß alle rechtlich-weltanschaulichen Ableitungen beim Führer enden, weil sich in ihm der "Volkswille "darstellt42. Die praktischen Konsequenzen führen u. a. die Leitsätze über Stellung und Aufgaben des Richters vor, die Dahm, Eckhardt, Höhn, Ritterbusch und Siebert 1936 im Auftrag Hans Franks, Reichsminister und Präsident der Akademie für Deutsches Recht43, formulierten: "Gegenüber Führerentscheidungen, die in die Form eines Gesetzes oder einer Verordnung gekleidet sind, steht dem Richter kein Prüfungsrecht zu".

Und: "Auch an sonstige Entscheidungen des Führers ist der Richter gebunden, sofern in ihnen der Wille, Recht zu setzen, unzweideutig zum Ausdruck kommt"44.

Der Führerwille ist also die real existierende Rechtsquelle. "Volksanschauung" und "Rechtsidee" werden nur in ihrer Verkörperung durch den Führer relevant. Die Bindung an das Gesetz verwandelt sich in eine Bindung an den Führerwillen. Das Gesetz bindet, aber in seiner Eigenschaft als "Akt der Führung"45, als "Plan und Wille des Führers"46. Das Gesetz ist ein Mittel des Führers, neben dem es auch andere Mittel der Recht-Setzung und Führung gibt: Der Führer bedient sich der Lex, ist aber nicht auf sie angewiesen und, weil er über die Lex disponiert, auch nicht an sie gebunden. d) Strafrichter und Gesetz am Beispiel der Arbeiten Henkels (1934), insbesondere die Kritik des Nulla-poena-sine-lege-Satzes Mit der neuen Verhältnisbestimmung von Recht und Gesetz war die strenge Bindung des Strafrichters an das Gesetz in Frage gestellt. Klar war, daß mit dem Funktionswandel des Gesetzes zum Erkenntnismittel von "Recht" und zum Transportmittel des Führerwillens47 sich jedenfalls der Charakter dieser Bindung ändern mußte. Dem Grundsatz "nulla poena sine lege" wurden zugleich die - zumindest: die bisherigen - Grundlagen entzogen. Die vielleicht geistreichste Kritik des Grundsatzes lieferte im Januar 1934 Henkel in seiner Schrift über "Strafrichter und Gesetz im neuen Staat", der im selben Jahr der Versuch einer positiven Beschreibung der neuen Art der Bindung des Richters folgte. Die zweite Abhandlung trug den Titel: "Die Unabhängigkeit des Richters in ihrem neuen Sinngehalt". Die Grundgedanken beider Schriften seien als Exempel für die Hauptrichtung der Diskussion um das Jahr 1934 skizziert. 41

42 43 44 45 46 47

Vgl. Carl Schmitt, Staat, Bewegung, Volk (1933), S. 36 ff., wo der unbedingte Vorrang der politischen Führung aus der Artgleichheit gerechtfertigt wird. Ergebnis: Führung "ist ein Begriff unmittelbarer Gegenwart und realer Präsenz" (S. 42). Vgl. dazu die Darstellungen bei Rüthers (1968), S. 127 ff.; Marxen (1975), S. 212 ff.; B. Koch (1985), S. 103 ff.; Kirschenmann (1970), S. 53 ff. jeweils mit Nachw. Vgl. Rüthers (1968), S. 131. DRWis 1936,123,124. Höhn, DR 1934,433. Cari Schmitt, DJZ1935, Sp. 924; ZAkDR 1935,439. Vgl. Freister, DJ 1936,155: "Formenübertragungsmittel des Führerbefehls".

2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

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Der Grundsatz "nulla poena sine lege" wird von Henkel bestimmten geistesgeschichtlichen Ausgangspunkten zugeordnet. Den Ursprung sieht Henkel im Freiheitsgedanken der Aufklärung. Das politische Wollen habe dem Staat die Funktion der Sicherung individueller Freiheit zugesprochen. Dieser politische Wert sei zugleich mit dem Rechtswert verschmolzen. Damit hätten Rechtsordnung wie politische Staatsmacht die gleiche Funktion erlangt: Sicherung individueller Freiheit. Wegen der Deckungsgleichheit von Rechtswert und politischem Substanzwert spricht Henkel in diesem Zusammenhang vom "materiellen Rechtsstaatsgedanken"48. Im materiellen Rechtsstaat habe das Gesetz das "beste und einzige Mittel zur größtmöglichen Wahrung der Individualsphäre" dargestellt: Es sei zwar "Eingriff in die Freiheit" gewesen, aber auch "Schutz dieser Freiheit" durch Bindung des Richters49. Geschwächt sieht Henkel den Grundsatz "nulla poena sine lege" in der Folgezeit durch den Übergang zu einem "formellen Rechtsstaatsbegriff, den Henkel als Reduktion von Rechtsstaatlichkeit auf die Festlegung der Form und des Verfahrens begreift50. Damit seien Rechtswert und politischer Substanzwert zunehmend auseinandergefallen. Die nationalsozialistische Strafrechtserneuerung gehe, ganz im Gegensatz zu dem formellen Rechtsstaatsbegriff, "bewußt und mit Nachdruck von der Einheit des politischen und des rechtlichen Wertes" aus. Diese Einheit werde auf "völlig neuer Grundlage" hergestellt, nämlich vom "Ideengut der staatstragenden nationalsozialistischen Bewegung her". Dieses aber sei dem Denken der Aufklärung "auf der ganzen Linie" vollständig entgegengesetzt51. Damit entfalle die bisherige Basis für den Satz "nulla poena sine lege". Im Nulla-poena-Satz sieht Henkel auch das "bedeutendste Bindemittel" im Streit der Strafrechtsschulen: Die klassische Schule habe, was Henkel mit scharfsinnigen Argumenten im einzelnen belegt, "trotz ihres autoritären Strafrechtsprogramms den Zusammenhang mit dem strafrechtlichen Gedankengut der Aufklärung in hohem Maße gewahrt"52: Strafe als Gesetzesbewährung und Vergeltung seien ohne "nulla poena sine lege" nicht denkbar53. Der modernen Schule sei der Grundsatz in ihrem Ausgangspunkt fremd gewesen: Der Täterorientierung sei das "im Gesetz enthaltene objektive Maßprinzip" eher hinderlich54. Die moderne Schule habe freilich zunehmend Verständnis für den Nulla-poena-Satz gezeigt und um den Preis seiner Anerkennung eine Verständigung mit dem Klassizismus erreicht55. So hätten sich beide Schulen auf einem "gemeinsamen weltanschaulichen Untergrund", dem der Aufklärung, getroffen. Mit dem "Durchbruch der nationalsozialistischen Weltanschauung" sei die "Preisgabe der geistigen Grundlagen" der Aufklärung vollzogen. "Sämtliche Bedeutungsinhalte" des Nullapoena-Satzes seien damit in Frage gestellt und könnten gegebenenfalls nur "von gänzlich

48 49 50 51 52 53 54 55

Strafrichter und Gesetz (1934), S. 14. AaO, S. 17. AaO, S. 19 f. AaO, S. 23. AaO, S. 24 und näher S. 24 ff. AaO, S. 27. AaO, S. 30. AaO, S. 32.

Α. Die erste Phase: 1933 bis 1935

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neuen Voraussetzungen aus in diesem oder jenem Umfang für das künftige Strafrecht maßgeblich werden"56. Die Ausgangspunkte des neuen Verhältnisses von Strafrichter und Gesetz markiert Henkel schon in seiner ersten Schrift vor dem Hintergrund einer Staatstypen-57 und Staatszweckbetrachtung. Zweck des neuen Staates sei nicht mehr die Wahrung individueller Freiheit. Der nationalsozialistische Staat erfahre seine transpersonale Rechtfertigung im Zweck der "Zusammenfassung und Förderung der Volkskräfte". Der Schwerpunkt der strafrechtlichen Grundlagen verschiebe sich damit von der Garantie formaler Sicherungen nach dem "Substanzhaften, Lebendig-Werthaften". Das Ideal der Gesetzesbestimmtheit werde von dem der "Bestimmtheit der Rechtsverwirklichung im Sinne der Übereinstimmung ... mit dem Rechtsgewissen der Allgemeinheit" abgelöst. Die Strafrechtsordnung werde "in Umkehrung des bisher gebrauchten Schlagwortes" zur "Magna Charta der Volks- und Staatsinteressen"58. Der Rechtssicherheitsbegriff werde damit grundlegend umgewandelt. Er bedeute nunmehr: "Gewißheit der Durchsetzung des Rechtes im Sinne des Rechtsdenkens der Volksgesamtheit". Damit sei der bisherige Zwiespalt vom Rechtssicherheit und Gerechtigkeit verschwunden59. Die andersartige Grundorientierung zwinge zu einer neuen Strafrechtsgestaltung: Freiere Tatbestandsbildung, weitgehende Berücksichtigung des "lebendigen ungeschriebenen Rechts", Verweis des Richters auf die Wertvorstellungen der Volksgemeinschaft, Bindung nicht an den Buchstaben, sondern das Ziel der Gesetze, Gebrauch aller Hilfsmittel, die eine der Rechtsüberzeugung der Allgemeinheit entsprechende Entscheidung ermöglichten60. Seine Rechtfertigung empfange das Strafrecht aus seiner inneren Übereinstimmung mit der Idee der materiellen Gerechtigkeit, aus der Gewißheit, daß strafwürdiges Verhalten angemessene Strafe nach sich ziehe61. Der Satz "nulla poena sine lege" ist damit natürlich aufzugeben. Mit der Loslösung vom Nulla-poena-Gedanken ist die Frage nach der Bindung des Richters neu gestellt: Die Bindung wird bezogen auf den Zweck von Staat und Recht, nämlich auf die "Zusammenfassung und Förderung der Volkskräfte"62. Der Richter neuen Typs steht im "Dienste der völkischen Idee" oder der "völkischen Rechtsidee", Formeln, mit denen auf das vorgegebene "Recht" Bezug genommen wird. Diese Bindung an die völkische Idee sieht Henkel, ganz im Sinne der bereits skizzierten Bedeutung des Führertums, durch den "Führungsgedanken" ergänzt: Die politische Führung ist zur Konkretisierung der völkischen Rechtsidee berufen 63 . Der Führungsanspruch der Staatsführung äußert sich einmal im Gesetz, wo der Gesetzgeber "im Rahmen des Möglichen den Wertanschauungen der Volksgemeinschaft Ausdruck"

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AaO, S. 34 f. Die Staatstypenbetrachtung (Gesetzgebungs-, Jurisdiktions- und Regierungsstaat) lehnt sich an Carl Schmitt an und bezieht den Satz "nulla poena sine lege" auf diese Staatstypen, vgl. aaO, S. 43 ff. AaO, S. 47 f. AaO, S. 66 f. AaO, S. 48,52. AaO, S. 63,69. AaO, S. 47. Vgl. Unabhängigkeit des Richters (1934), S. 21 f., 28f., 33.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

verleiht. Das Gesetz wird damit als "Formulierung bereits bestehenden, lebenden Rechts zur Rechtserkenntnisquelle"64. Mit der Gesetzesbindung sieht Henkel im Führerstaat "infolge der Identität der Regierung mit dem Gesetzgeber zugleich die Bindung an die leitenden Grundsätze der Staatsführung"65 ausgesprochen: Alle Ermessensspielräume sind nach Maßgabe "der staatspolitischen Anschauungen der Staatsführung" auszufüllen. Das soll namentlich auch für Verweisungen auf die "gesunde Volksanschauung" gelten66. Richterliche Unabhängigkeit ist damit im Führerstaat allein "in der Verbundenheit mit der Staatsführung" möglich. Dabei wendet sich Henkel gegen eine befehlsförmige oder verwaltungsmäßige Durchführung dieser "Verbundenheit" und sieht in der "freien Hingabe des Richtertums an die Ziele der Staatsführung" die Gewähr für völkische Rechtsverwirklichung aber auch die "grundlegende Voraussetzung für die richterliche Unabhängigkeit"67. e) Die Auslegung nach "nationalsozialistischer Weltanschauung" und Führerwille Die strafrechtliche Auslegungsmethode war "Gegenstand eifriger Erörterungen"68. Die strafrechtliche Methodendiskussion hat Marxen im einzelnen dargestellt69. Hier geht es allein um die Zielpunkte der Auslegung. Diese zeichnen sich in der bisherigen Darstellung schon klar ab: Die Gesetzesauslegung hatte sich an der "völkischen Gerechtigkeit" am "Volkgewissen" usw. zu orientieren. Diese Formeln verwiesen auf die "nationalsozialistische Weltanschauung". So formulierte Carl Schmitt 1933 den bekannten Leitsatz: "Für die Anwendung und Handhabung der Generalklauseln durch den Richter, Anwalt, Rechtspfleger oder Rechtslehrer sind die Grundsätze des Nationalsozialismus unmittelbar und ausschließlich maßgebend"70.

1934 hieß es dann allgemeiner zum "ersten Auslegungsprinzip": "Jede Auslegung muß eine Auslegung im nationalsozialistischen Sinne sein"71.

Zuständig für authentische Interpretationen nationalsozialistischen Geistes war die politische Führung. "Völkische Rechtsidee", "nationalsozialistische Weltanschauung" oder auch das Parteiprogramm als Ausdruck nationalsozialistischen Geistes verwiesen nach Auffassung des Schrifttums auf ein Deutungsmonopol der politischen Führung, das die Vagheit gewisser "weltanschaulicher" Grundlagen kompensierte und eine Zersplitterung in Nationalsozialismen 64 65

66 67 68 69 70 71

AaO, S. 28. A a O , S. 29. AaO, S. 22,29,33 (Hervorhebung G. W.). AaO, S. 34. So Rüthers (1968) zur juristischen Methodendiskussion im Nationalsozialismus (S. 175). Marxen (1975), S. 1% ff.; zur Kontroverse Kieler/Marburger Schule vgl. auch Bock, ZfNR 1984,142 ff. JW 1933,2794. JW 1934, 713, 717. Vgl. auch Dohm/Eckhardt/Höhn/Ritterbusch/Siebert, Leitsatz Nr. 2, DRWis 1936,123. Zur gesetzlichen Anerkennung vgl. Steueranpassungsgesetz v. 16.10. 1934, RGBl. I, S. 925. § 1 I: "Die Steuergesetze sind nach nationalsozialistischer Weltanschauung auszulegen". Entsprechendes sollte für die Beurteilung von Tatbeständen (§ 1 III), ähnliches für die Ermessensausübung (§ 2 III) gelten. - Zur Theoriediskussion vgl. Rüthers (1968), S. 175 ff. mit Nachw.

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verhindern sollte. Die "Führung bestimmt, was grundsätzlich und im Einzelfall der politischen Weltanschauung entspricht, da sie eben der Träger der Weltanschauung ist"72. Der Richter soll nicht eigenständig aus der "Weltanschauung" ableiten, seine praktische Richtschnur ist der Führerwille: Der Richter ist "Garant der Beachtung des Führerwillens im Volke"73. "Wegweiser der Rechtsfindung" sind also die "Kundmachungen des Führers"74 - oder seiner "Delegatare" - die allein die völkische Rechtsidee unanfechtbar konkretisieren. Somit wirkte, wie Dahm 1934 formulierte, der "Wille der politischen Führung über die Grenzen des formellen Gesetzes hinaus in den Ermessens- und Bewertungsraum hinüber". Es war in sich konsequent, wenn Dahm weiter auch "außerjuristische Äußerungen des Führerwillens, maßgebende literarische Auslassungen, programmatische Erklärungen der dazu Berufenen" für ausschlaggebend erklärte, auch wenn sie "nicht in juristische Formen gekleidet sind"75. Der Ausgangspunkt: Bindung an nationalsozialistische Wertvorstellungen, verbindlich konkretisiert im Willen der politischen Führung, wurde in der zeitgenössischen Literatur nicht bestritten. Daß alte Gesetze "durch den veränderten Richtungsmaßstab des Nationalsozialismus ohne äußere Änderung eine innere Wandlung"76 erfahren könnten, war Gemeingut. Unterstrichen wird namentlich auch die "Entdeckung" der wertausfüllungsbedürftigen Begriffe im Strafrecht, die wichtige Ansatzpunkte einer "völkisch-nationalsozialistischen Wertung" im Strafrecht seien77. Das nationalsozialistische Gesetz soll von den neuen Richtpunkten der Auslegung selbstverständlich nicht gegen die gesetzgeberische Absicht der Führung umgedeutet werden: Es ist Ausdruck des Willens der Volksführung, ja "besonders feierliche Form des Führerbefehls"78. Hier kommt es darauf an, daß der Richter aus einer übereinstimmenden "inneren Einstellung", die von der Führung gemeinte Auslegungsrichtung erfaßt 79 . Als Fazit bleibt: Der Richter soll den ihm überlassenen Wertungsspielraum in mitdenkendem Gehorsam nach Maßgabe der Leitlinien der Führung ausfüllen. Der Führer "führt" auch bei der Konkretisierung der "völkischen Rechtsidee" und weist der Auslegung die Richtung. 3. Straf-Recht, Straf-Gesetz und Strafrichter, insbesondere "nulla poena sine lege", in den Reformarbeiten bis 1935 Der genaue Umfang künftiger Loslösung praktizierten Strafrechts vom Gesetz war 1933/34 nicht ausgemacht. Daß die Sicherung des einzelnen durch bestimmte Strafgesetze 72

73 74 75 76 77 78 79

Huber, Neue Grundbegriffe des hoheitlichen Rechts (1935), S. 187. Vgl. später auch Huber, FS Siber (1941), 307, 311 zur Ermessenbindung des Beamtentums. Vgl. für das Strafrecht etwa Krüger, ZStW 55 (1935), 115 f.; Dahm, DStR 1934,91 f. Vgl. Freister, DJ 1935,1163. So § 1 E 1936. DStR 1934,91. Freister, DJ 1935,1163. Schaffstein, Politische Strafrechtswissenschaft (1934), S. 11,25. Vgl. Freister, DJ 1935, 1163. Vgl. auch Freister, DJ 1934, 1334; Schaffstein, DR 1934, 352; Krüger, ZStW 55 (1935), 116 ff. Vgl. Freister, DJ 1934, 1334; zum "Methodendualismus" bei der Auslegung alter und neuer Gesetze Rüthers (1968), S. 176 ff.; für das Strafrecht vgl. auch die Hinweise bei Marxen (1975), S. 212 ff.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

künftig gegenüber den "Belangen der Volksgemeinschaft" zurücktreten müsse, war klar. Gesicherte Auffassung war bald auch der Vorrang des Führerwillens bei der Aktualisierung von "Recht" und der Charakter des Gesetzes als Ausdruck des Führerwillens. Die bisherigen Grundlagen des Satzes "nulla poena sine lege" entfielen damit. Trotzdem war es denkbar, die Gesetzesbindung auf andersartiger Grundlage zu legitimieren: Immerhin war das Gesetz "Akt der zentralen und obersten Volksführung" und forderte deshalb natürlich Beachtung. In welchem Umfang sich der neue Gesetzgeber Dux des "Gesetzes" als "Führungsmittel" bedienen wollte, ob er die Richter an einer langen oder kurzen Kette "Gesetz" führen und inwieweit er auf andere "Führungsmittel" vertrauen würde, war noch unklar. Für die Gesamtreform des Strafrechts stand die Gesetzesbindung von Strafrecht und Strafrichter als Bindung an nationalsozialistische Gesetze in Frage; die Umdeutung alter Gesetze spielte aus der Perspektive der Gesamtreform keine Rolle. Die theoretischen Möglichkeiten reichten von der Bindung des Richters an den "buchstabenmäßig ... zu verstehenden Wortlaut" des Gesetzes bis zur "vollkommenen Freistellung des Richters vom und gegenüber dem Gesetz". Für das zweite Extrem wurde auf das sowjetrussische Strafrecht hingewiesen, dessen allgemeine Grundsätze von 1919 keinerlei gesetzliche Straftatbestände enthielten80. Die Begrenzung auf eine grammatische Auslegung wurde in der Reformdiskussion angesichts der Bedeutung materieller völkischer Gerechtigkeit nicht gefordert. Wohl aber wurde die Einführung der Analogie gelegentlich abgelehnt; dabei war der Hinweis auf das Führerprinzip (Bindung an den Führerwillen) eine denkbare und herangezogene Begründung81. Die weitestgehende Lockerung der Gesetzesbindung forderte Freisler: Er wollte 1935 keine bloße Analogie mehr, sondern eine jedes strafwürdige Verhalten erfassende Zentralvorschrift82 (dazu d). Die ab 1933 vom preußischen Justizminister Hanns Kerrl (dazu a), von der amtlichen Strafrechtskommission in erster und zweiter Lesung (dazu b, e) und vom Akademieausschuß (dazu c) unterbreiteten Vorschläge blieben hinter Freislers Vorstellungen - verschieden weit - zurück und befürworteten die Zulassung der Analogie.

a) Die Denkschrift des preußischen Justizministers

Hanns Kerrl (1933)

Die Denkschrift 83 unternahm im Herbst 1933 den ersten größeren Vorstoß zur Strafrechtsreform. Sie ging davon aus, "daß die Rechtsüberzeugung des Volkes die wahre Quelle allen Rechts" sei und daher auch "die Bedeutung des geschriebenen Gesetzes als Grundlage 80

81

82 83

Vgl. etwa Freisler, DStR 1935, S. 20 ff.; Schäfer, in: Gärtner, AT1 (1934), S. 128 f.; Kerrl, Denkschrift (1933), S. 116 und zu den strafrechtlichen "Grundsätzen" v. 12. 12.1919 den Text bei Freund (1928), S. 89 ff.; s. auch Maurach, System des Russischen Strafrechts (1928), S. 43 ff. Vgl. die Hinweise auf den "autoritären Gedanken" bei Gerland, DJ 1933, 226 f.; Sauer, DJZ 1933, Sp. 1465; s. auch Ostwald, DJZ 1934, Sp. 441 ff. Exemplarisch zum Argumentationsmuster etwa Klee, DJZ 1934, Sp. 642: "Blankostrafermächtigung" widerspricht Führerprinzip. Klee bejaht freilich den Kompromiß der Preußischen Denkschrift als maßgeblich Mitwirkender (Leitung Hauptarbeitsgruppe I, Grundlagen, vgl. Kerrl, Denkschrift (1933), S. 11, näher sogleich a). DStR 1935,1 ff., 29 und sogleich d. Die Gesamtleitung hatte Hanns Kerrl·, Freisler wirkte maßgeblich mit, vgl. Kerrl, Denkschrift (1933), S. 3, 6, 10. Zur Denkschrift Gerland, DJ 1934, 224 ff.; Schaffstein, ZStW 53 (1934), 603 ff.; weit. Nachw. bei Rüping, Bibliographie (1985), S. 86.

Α. Die erste Phase: 1933 bis 1935

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des staatlichen Strafrechts zurücktreten" müsse. Die Denkschrift wollte aber - entgegen der "in einem großen östlichen Gebiet" getroffenen Regelung - die "Schaffung eines notwendig zur Rechtsunsicherheit führenden allgemeinen Tatbestandes volksschädlichen Verhaltens" vermeiden 84 . Von diesen Ausgangspunkten gelangte man zu folgenden Lösungen: Die dem "Gedanken des Rechtsstaats, des Schutzes des einzelnen vor richterlicher Willkür" dienende Vorschrift des § 2 I RStGB sollte beibehalten werden. Die Denkschrift befürwortete aber eine Ergänzung, weil der alte § 2 "aus dem individualistischen römisch-rechtlichen Grundsatz 'nulla poena sine lege' hervorgegangen" sei. Dem Richter müsse, um den "Einklang der Rechtspflege mit dem Rechtsgefühl des Volkes wieder herzustellen ... in gewissem Umfange die Möglichkeit gegeben werden, etwaige Lücken des Strafgesetzes ... so zu ergänzen, als wenn er zum Gesetzgeber im einzelnen Falle erhoben wäre". § 2 I RStGB sollte deshalb "folgenden Zusatz" erhalten: "Ist aber eine nicht ausdrücklich für strafbar erklärte Handlung nach gesunder Volksanschauung sittlich verwerflich und wird ihre Bestrafung von dem einem bestimmten Strafgesetz zugrunde liegenden Rechtsgedanken gefordert, so hat der Richter für die Tat eine Strafe innerhalb des Rahmens des entsprechend angewendeten Strafgesetzes festzusetzen"85.

Die Denkschrift anerkannte auf diese Weise die "Rechtsüberzeugung des Volkes"86 als Rechtsquelle, freilich nur in Verbindung mit dem "Rechtsgedanken" eines bestimmten Strafgesetzes. Die Begründung der Denkschrift stieß noch nicht zu dem neuen Begriff der "Rechtssicherheit" vor, den Henkel wenig später entwickelte ("Gewißheit der Durchsetzung des Rechts")87. Die Folgerungen für das Rückwirkungsverbot sind einschneidender: Es soll vorbehaltlos fallen. Neue Strafvorschriften sind immer dann anwendbar, wenn die Tat zur Zeit ihrer Begehung "nach allgemeiner Überzeugung strafwürdig und sittlich verwerflich war oder bereits die neu bestimmte Strafe verdient hätte"88. Hier kommt der Vorrang des Straf-Rechts, wurzelnd in der "Rechtsüberzeugung des Volkes", für die Strafbegründung in aller Deutlichkeit zum Ausdruck. b) Die Auffassung der amtlichen Strafrechtskommission (1. Lesung 1933/34) Die amtliche Strafrechtskommission befaßte sich, der "Bedeutung des Themas" entsprechend, bereits in ihrem ersten Tagungsabschnitt Ende November/Anfang Dezember mit dem Grundsatz "nullum crimen sine lege, nulla poena sine lege"89. Die Leitgedanken werden im Bericht Karl Schäfers zusammengefaßt. Das Verhältnis von "Recht" und "Gesetz" wird dort bemerkenswerterweise nicht als entscheidender Ausgangs84 85 86

Kerrl, Denkschrift (1933), S. 115 f. AaO, S. 127. Zur verfehlten Ableitung aus dem römischen Recht Schaffstein, ZStW 53 (1934), 607; Klee, DJZ1934, Sp. 639 ff.; Henkel, Strafrichter und Gesetz (1934), S. 12 ff. AaO, S. 115.

87 88 89

Dazu 2d. Kerrl, Denkschrift (1933), S. 128. Gärtner A 7 1 (1934), S. 6,128.

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punkt herausgestellt. Die Kommission ging zwar von einem neuen Rechtsideal aus, der grundsätzlichen Deckung von "Recht und Sitte" 90 , und sah die materielle Rechtswidrigkeit "ihrem Wesen nach" als "Angriff auf die Lebensbedingungen der Volksgemeinschaft" 91 . "Grundlage und Ausgangspunkt der Erörterungen" zu dem hier interessierenden Thema war aber die Feststellung, "daß der deutsche Strafgesetzgeber von heute ein Strafrecht nur in der Weise schaffen will und kann, daß er bestimmte Tatbestände aufstellt, deren Verwirklichung allein strafbar macht". Eine sowjetrussischem Vorbild entsprechende "mehr oder weniger bestimmte generelle Ermächtigung", alle strafwürdigen Verhaltensweisen unter Strafe zu stellen, widerspreche "deutschem Rechtsempfinden". Die Forderung nach "Bindung und Unterwerfung des Richters unter das Gesetz" wird dann aus dem Vorrang der politischen Führung ("Wesen des autoritären Führerstaates") und, wie schon in der Denkschrift, aus dem Gedanken der "Rechtssicherheit" hergeleitet92. An die Spitze der Vorschriften des Strafgesetzbuches sollte deshalb ein "Bekenntnis zum Rechtsstaate" gestellt werden, nämlich der Bestimmtheitsgrundsatz in einer mit § 2 I RStGB a. F. inhaltlich übereinstimmenden Vorschrift! In diesem Sinne sollte der Nulla-poena-Satz bestehen bleiben - er müsse sich aber eine "wesentliche Einengung", eine "Durchbrechung" durch die Zulassung der Analogie gefallen lassen 93 . Die Analogie wird damit als Ausnahme zum Grundsatz der Gesetzesbindung aufgefaßt. Die insoweit im Bericht mitgeteilte Begründung stimmt weitgehend mit Henkels Kritik am Nulla-poena-Satz überein94. Am gesetzgeberischen Ziel, "Rechtsgewißheit zu schaffen" im Sinne einer Gewährleistung von Berechenbarkeit, wird freilich festgehalten, so daß der Bericht im Ergebnis in eine, undeutlich durchgeführte, Abwägung zwischen "Rechtsgewißheit" und Verwirklichung materieller Gerechtigkeit mündet. Im Ergebnis wird folgende "Durchbrechung" des § 1 im Wege der Zulassung der Analogie (§ 2) empfohlen: "Ist die Tat nicht ausdrücklich für strafbar erklärt, aber eine ähnliche Tat in einem Gesetz mit Strafe bedroht, so ist dieses Gesetz anzuwenden, wenn der ihm zugrunde liegende Rechtsgedanke und die gesunde Volksanschauung Bestrafung erfordern"95. Die Anwendung der Vorschrift soll in drei Schritten erfolgen: Feststellung der Ähnlichkeit der Tat mit einer für strafbar erklärten Tat; Prüfung der Strafbarkeit anhand des Grundgedankens jener Vorschrift und schließlich Feststellung des Strafbedürfnisses nach gesunder Volksanschauung. Der Bericht empfiehlt schließlich zur Wahrung der Rechtseinheit noch eine besondere verfahrensmäßige Kontrolle der Bestrafung nach Analogie. Die in der Denkschrift vorgesehene grundsätzliche Rückwirkung von Verbotsnormen wird von der Kommission abgelehnt, weil sie eine "ungeheure Rechtsunsicherheit" und eine "Fülle von Denunziationen" befürchtet. Auch insoweit wird wieder eine Legitimation auf der Grundlage des Führerstaats bemüht: Die "innere Verbundenheit von Volk und Staat" werde gewährleisten, daß die politische Führung jeweils rechtzeitig einschreite 96 . 90 91 92 93 94

Schäfer, aaO, S. 134. Vgl. Klee, zu "Rechtswidrigkeit ist nicht = Gesetzwidrigkeit", aaO, S. 57. Schäfer, aaO, S. 128 f. AaO, S. 129. AaO, S. 129 ff. S. 129 wird in der Fn. ausdrücklich auf Henkels "Strafrichter und Gesetz im neuen Staat" hingewiesen.

95 96

AaO, S. 132; zur "Durchbrechung" aaO, S. 129.

AaO, S. 136.

Α. Die erste Phase: 1933 bis 1935

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Die Ablehnung genereller Rückwirkung soll freilich keine Bindung des Gesetzgebers bedeuten. Dessen Befugnis, Rückwirkung anzuordnen, wird als selbstverständlich vorausgesetzt. Die einzelnen Strafgesetze könnten sich, so der Kommissionsbericht, Rückwirkung beilegen, wenn der "Gesetzgeber im Einzelfall eine solche Rückwirkung für angebracht hält". Die Kommission will also keineswegs ein den Gesetzgeber selbst bindendes "Rückwirkungsverbot" anerkennen. Sie befürwortet lediglich eine bestimmte Handhabung der Rückwirkung, nämlich durch gesetzgeberische Anordnung im Einzelfall. Aus Zweckmäßigkeitsgründen wird schließlich auch die generelle Rückwirkung der Strafandrohungen abgelehnt und auf die Möglichkeit anderweitiger Anordnung im Einzelfall verwiesen, wobei die "sog. Lex van der Lübbe" als Beispiel genannt wird97. Im ganzen betont der Bericht die Gesetzesbindung des Richters auch unter den veränderten Voraussetzungen98. Zum einen wird dabei auf den Rechtssicherheitsgedanken - im "alten" Sinne verstanden! - verwiesen, zum anderen auf die "Führungs"-Funktion des Gesetzes. Die Begründungen bleiben innerlich zwiespältig, weil sie "altes" und "neues" Strafrechtsdenken zu harmonisieren suchen. Die Betonung des "Nulla-poena-Satzes" als vorgebliches "Grundprinzip" wird schon durch die "Ausnahme" widerlegt; die entsprechenden Begründungspartien des Kommissionsberichts stehen nicht nur verbindungslos nebeneinander, sondern in einem offenkundigen Widerspruch. c) Die Denkschrift des Zentralausschusses ¿1er Akademie für Deutsches Recht (1934) Die Denkschrift des Zentralausschusses der Akademie für Deutsches Recht entstand aus Beratungen99, die zeitlich später stattfanden als die entsprechenden Sitzungen der amtlichen Strafrechtskommission. Der Zentralausschuß tagte unter der Leitung Freislers, durch dessen Mitgliedschaft in der amtlichen Strafrechtskommission deren Beratungsergebnisse dem Ausschuß vorlagen100. Die Denkschrift ging davon aus, daß "Rechtsnorm... nicht allein das gesetzte Recht, sondern das Rechtsbewußtsein des Volkes überhaupt" sei. Der Nulla-poena-Satz wurde allein "aus dem durch den Nationalsozialismus überwundenen Denken der Aufklärungszeit" verstanden und für überholt erklärt. Vom "nationalsozialistischen Standpunkt" sei "nicht einzusehen, warum nicht durch Gesetzes- und Rechtsanalogie Strafrecht geschaffen werden soll... Volksschädliches Verhalten, dem im Wege der Auslegung und Gesetzesanalogie nicht beizukommen ist, darf der Bestrafung nicht entgehen". Die Denkschrift empfahl deshalb die Zulassung der Rechtsanalogie, d. h die, so die Formulierung Freislers, "Entscheidung nach dem richtig erfaßten Geiste nationalsozialistischen Strafrechts, durch Findung eines allgemeinen Rechtsgedankens aus der Grundhaltung der Strafsatzung". Das Gericht sollte "auf der Grundlage der nationalsozialistischen Anschauung im Wege der Rechtsangleichung den anzuwendenden Strafrechtssatz bestimmen"101. Der unterbreitete Gesetzesvorschlag lautete:

97 98 99 100 101

AaO, S. 136 f. Vgl. die hier ansetzende scharfe Kritik Freislers, DStR 1935, S. 23 f. Zur Arbeit der Akademie vgl. zusf. Schubert, ADR-Protokolle I (1986), S. VII ff. Vgl. Gärtner, in: Gûrtner AT1 (1934), S. 7. Freister war Mitglied der amtlichen Strafrechtskommission. Denkschrift ADR, S. 10 f.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

"Wer gegen ein Strafgesetz verstößt, wird nach der Strafandrohung des Gesetzes bestraft. Strafgesetz ist der vom Gesetzgeber gesetzte oder aus der deutschen nationalsozialistischen Volksanschauung geborene und durch Gesetzes- und Rechtsanalogie gefundene strafrechtliche Rechtssatz"102.

Der Akademieausschuß entfernte sich weit entschiedener als die amtliche Strafrechtskommission vom Grundsatz der Gesetzesbindung des Strafrechts. Der Ausgangspunkt im "Recht" wurde klar herausgestellt, auf den Grundsatz "nulla poena sine lege" vollständig verzichtet, die vorgesetzliche Rechtsquelle im "Rechtsbewußtsein des Volkes" gesehen, das in der nationalsozialistischen Auffassung verkörpert sein sollte. Einen Widerspruch zum "Prinzip des autoritären Staates" sah die Denkschrift dabei nicht. Der autoritäre Staat wolle "nichts anderes sein als die Funktion, die Lebensäußerung der Volksanschauung". Mit anderen Worten: Ein Widerspruch zwischen dem "Rechtsbewußtsein des Volkes" und der Auffassung der nationalsozialistischen politischen Führung wurde für ausgeschlossen erklärt. Der Grad der Lösung vom Gesetz war in der theoretischen Konzeption höher, weil die Rechtsanalogie, anders als die Gesetzesanalogie, nicht an bestimmte einzelne Straftatbestände anknüpfen mußte, sondern nur an irgendwo im Gesetz angesprochene Grundsätze. Vom Strafrahmen bestimmter einzelner Strafvorschriften wurde der Richter völlig suspendiert 103 . Darin lag der wesentliche Unterschied zur Gesetzesanalogie; ob "Rechtsanalogie" und "Gesetzesanalogie" angesichts der flüssigen Übergänge in der Praxis zu einer unterschiedlichen Ausweitung der Strafbarkeitszonen geführt hätten, ist Spekulation 104 . Der Akademieausschuß wollte die Rechtsanalogie in prozessualer Hinsicht durch die Schaffung einer zentralen Kontrollinstanz zur Wahrung einheitlicher Handhabung ergänzen. Dabei dachte man, außer an das Reichsgericht, auch an den "Führer der Akademie für Deutsches Recht" als zuständiges Organ 105 . Das Rückwirkungsverbot sollte fallen, grundsätzlich das zur Zeit der Entscheidung maßgebliche Gesetz anwendbar sein. Die einschränkenden Kautelen der Denkschrift des preußischen Justizministers wurden als überspitzt beiseite gelassen 106 . Freilich konnte auch nach dem Konzept der Denkschrift der Gesetzgeber Rückwirkung nach seinem Ermessen handhaben und gegebenenfalls durch besondere Anordnung ausschließen. d) Der Vorschlag Freislers (1935) Anfang 1935 unterbreitete Freisler seinen schon erwähnten Vorschlag, eine umfassende Zentralvorschrift einzuführen, die alle Diskussionen um Gesetzes- oder Rechtsanalogie erübrigt hätte 107 . Der Vorschlag ist wegen Freislers Stellung bei den Arbeiten zur Strafrechtsreform besonders bemerkenswert: Freisler wirkte bei der Denkschrift Hanns Kerrls maßgeblich 102 Luetgebrune, Denkschrift ADR, S. 43, zit. nach Schreiber, Gesetz und Richter (1976), S. 194 Fn. 23. 103 Vgl. Freisler, DStR 1935,9. 104 Einen "rein theoretische Frage ..., allenfalls eine Gradfrage ohne praktische Bedeutung sehen E. Schäfer/v. Dohnanyi (1936), S. 188. Ähnlich Freisler, aaO. 105 Denkschrift ADR, S. 12. 106 Näher Schreiber, Gesetz und Richter (1976), S. 194. 107 DStR 1935, 1 ff. Zust. Krug, ZAkDR 1935, 99 ff.; positive Würdigung ohne abschließende Stellungnahme bei Dohm, Nationalsozialistisches und faschistisches Strafrecht (1935), S. 12 ff., 14. Zu Freislers Vorschlag vgl. auch Schreiber, Gesetz und Richter (1976), S. 195.

Α. Die erste Phase: 1933 bis 1935

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mit, war Mitglied der amtlichen Strafrechtskommission, Vorsitzender des Zentralausschusses der Akademie für Deutsches Recht und auch Mitglied des Strafrechtsausschusses des Reichsrechtsamts der NSDAP, das im Mai 1935 Leitsätze zur Strafrechtsreform herausgab108. Freisler unterzog in seinem Beitrag die bisherigen Reformvorstellungen einer umfassenden Kritik und hatte insbesondere den Bericht der amtlichen Strafrechtskommission im Visier109. Seine Leitfrage lautete: Wird "die Zulassung der Gesetzes- oder Rechtsanalogie ... tatsächlich und wirklich dem Grundsatz der materiellen Gerechtigkeit zum Siege ... verhelfen"110? Freislers Ziel war es, die Einheit von völkischer Sittlichkeit und staatlichem Recht, für ihn verkörpert im "Volksgewissen", in der "künftigen Strafrechtspflege zum Richtung weisenden tatsächlich herrschenden Faktor" zu machen111. Grundtenor von Freislers Kritik war die Befürchtung, die Zulassung der Analogie werde in der Praxis nicht zu der erstrebten Loslösung von gesetzlichen "Fesseln der materiellen Gerechtigkeit" führen 112 . Dabei waren für ihn nicht rechtstheoretische Erwägungen zur strafrechtlichen Methode wesentlich, sondern Erwägungen zur Richterpsychologie, so die Vermutung, eine Einführung der Analogie als "Ausnahme" werde auf die Richter "eine zu geringe psychologisch-suggestive Kraft"113 auf dem Weg zu inhaltlicher völkischer Gerechtigkeit ausüben. Den Kern seiner Kritik bildeten interessanterweise verfahrensrechtliche Überlegungen: Wenn die Mehrheitsabstimmung bei den Spruchkörpern nicht abgeschafft sei und wenn gleichzeitig Urteile, die mit dem Mittel der Analogie arbeiteten, von besonderen Garantien umgeben würden, dann müsse "schon das bloße Vorhandensein solcher besonderer 'Sicherheitsgarantien' ... abkühlend wirken". Die generelle Zulassung einer Revision bei Bestrafung nach Analogie etwa sei geradezu ein "warnend erhobener Finger des Gesetzgebers, der dem Richter sagen will: 'Sparsam, vorsichtig, gerade hier besonders sparsam, besonders vorsichtig!'"114. Selbst eine Begutachtung durch die Akademie für Deutsches Recht, wie in der Denkschrift der Akademie vorgeschlagen, erscheint Freisler jetzt bedenklich: Zwar sei dort immerhin das Führerprinzip praktisch verwirklicht, die Existenz einer "Sonderaufsichtsinstanz", die "Barrikade einer Sondernachprüfung von Analogieurteilen" bleibe115. Zur gründlichen Beseitigung solcher "Barrikaden" auf dem Weg zur nationalsozialistischen Einzelfallgerechtigkeit forderte Freisler eine Zentralvorschrift mit einem Bekenntnis "zur völkischen Sittlichkeit als der Grundlage des Rechts". Diese Vorschrift solle "klipp und klar" erklären, Maß der Strafwürdige strafbar ist, und daß die Strafwürdigkeit des Verhaltens sich danach richtet, ob die Willensrichtung des vor dem Richter Stehenden schuldhaft dem entgegengesetzt war und dem sich entgegengesetzt betätigt hat, was die Volksgemeinschaft von einem ordentlichen Volksgenossen verlangt". 108 Hans Frank (Hrsg), Nationalsozialistische Leitsätze, 1. Teil, 2. Aufl. (1935); vgl. zur Mitwirkung Freislers aaO, S. 8 f. 109 Vgl. Freisler, DStR 1935,23 f. und soeben c bei Fn. 98. 110 AaO, S. 24. 111 AaO, S. 32 (Hervorhebung G. W.). 112 AaO, S. 25. 113 AaO, S. 24. 114 AaO, S. 25 f. 115 AaO, S. 26 f.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

Durch eine solche Vorschrift werde "zunächst einmal klargestellt", daß nicht die "Aufnahme eines Tatbestandes in ein Gesetzbuch, sondern die verwerfliche Volkswidrigkeit des Verhaltens des betreffenden Volksgenossen" die Grundlage für die "Strafreaktion des Staates gegenüber dem Verhalten eines Volksgenossen" bilde116. Freisler wollte also im Strafgesetzbuch selbst eine Umschaltstelle für die Gleichrichtung von "Gesetz" und "völkischer Sittlichkeit" schaffen, die "Krücke der Analogie" mit Hilfe der Zentralvorschrift und zugeordneter "Schlüsselstraftatbestände" zu den einzelnen Sachbereichen wegwerfen 117 . Straftatbestände im übrigen sollten freilich nicht überflüssig werden und den Richter auch binden, sie sollten aber ihre Funktion der "Abgrenzung der Sphäre des Strafbaren überhaupt" 118 einbüßen. Die "Sondertatbestände" hätten danach den Charakter von nicht abschließenden Beispielen strafbaren Verhaltens angenommen und die Erledigung der Masse der Straftaten erlaubt. Nach Freislers Vorstellungen wäre in der richterlichen Praxis beim Fehlen eines Gesetzesverstoßes die Tat unmittelbar an der Zentralvorschrift und damit an der "völkischen Sittenordnung" zu messen gewesen. Die "wichtigsten Anhaltspunkte" sollten sich - ein "ganz leiser Anklang" an die Analogie - dabei aus den Tatbeständen ergeben, welche die "ähnlichsten" Fälle betrafen 119 . Von diesem "aufrichtigen" und "gesunden" Weg 120 einer unmittelbaren Orientierung an "völkischer Sittlichkeit" versprach sich Freisler einen besseren Beitrag zur Erreichung materieller Gerechtigkeit als über den Analogieschluß. Die Kehrseite des von ihm empfohlenen Modells behandelte Freisler nicht: Er ließ offen, ob die Sondertatbestände beim Vorliegen ihrer Voraussetzungen zwingend oder nur regelmäßig zur Annahme von Strafbarkeit führen sollten. Freisler favorisierte freilich die zweite Alternative, wenn er es für denkbar hielt, daß die Tat ausnahmsweise trotz Vorliegens aller gesetzlichen Strafbarkeitsvoraussetzungen gleichwohl "nicht als Verstoß gegen die Forderungen der völkischen Sittenordnung angesehen werden kann". Die Logik seiner Argumentation mußte zur Verneinung von Strafbarkeit führen, wenn ein Verstoß gegen die Sittenordnung konkretisiert nach dem Willen der politischen Führung! - nicht vorlag. Die Tatbestände hätten danach den Charakter von nicht abschließenden und nicht zwingenden Beispielen strafbaren Verhaltens angenommen, wären, so die Charakterisierung Dahms, zu bloßen "Richtlinien" geworden, einer "Erläuterung allgemeiner Grundsätze und Sammeltatbestände durch Einzelbeispiele"121. Freislers Modell setzte sich in der Novelle von 1935 als solches nicht durch. Freislers Überlegungen enthalten aber einen wichtigen Hinweis auf die Gesetzgebungstechnik, von der es abhängt, ob es der Analogie überhaupt bedarf. Die Gesetzgebungstechnik, insbesondere des Kriegsstrafrechts, wird an Freislers Vorschlag erinnern.

AaO, S. 29. 117 AaO, S. 31,29. Iis AaO, S. 30. 119 AaO, S. 31. 120 AaO, S. 32. 121 Nationalsozialistisches und faschistisches Strafrecht (1935), S. 12. - Vgl. später die Kontroverse Freister/Klee, DStR 1941,65 ff. (dazu auch unten 9a bei Fn. 187). 116

Α. Die erste Phase: 1933 bis 1935

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e) Die Auffassung der amtlichen Strafrechtskommission (2. Lesung 1935) "Nullum crimen sine poena" war am 22./23. März in der Strafrechtskommission Gegenstand der zweiten Lesung. Die Kommission hielt "grundsätzlich" an den Ergebnissen der ersten Lesung fest122. Für die Gesetzesbindung des Strafrechts ergaben sich jedoch wesentliche Akzentverschiebungen. Zwar wurden weder die "Rechtsanalogie" noch Freislers Zentralvorschrift empfohlen, doch sah die jetzt vorgeschlagene Vorschrift schon äußerlich anders aus als die in der ersten Lesung aufgestellte. Das "Bekenntnis zum Rechtsstaat" in Gestalt des Nullapoena-Satzes wurde nicht mehr als einleitende Vorschrift an die Spitze des RStGB gestellt123, vielmehr mit der Zulassung der entsprechenden Gesetzesanwendung zusammengefaßt. Der Vorschlag lautete: 'Bestraft wird, wer eine Tat begeht, die das Gesetz für strafbar erklärt oder die nach dem Grundgedanken eines Strafgesetzes und nach gesunder Volksanschauung Bestrafung verdient. Findet auf die Tat kein bestimmtes Strafgesetz unmittelbar Anwendung, so wird die Tat nach dem Gesetz bestraft, dessen Grundgedanke auf sie am besten zutrifft"124.

Ein Regel-Ausnahme-Verhältnis von direkter Gesetzesanwendung und Analogie war damit äußerlich nicht mehr erkennbar. Das 'ausdrücklich für strafbar erklärt" fehlte ebenso wie der Hinweis auf die zeitliche Geltung des Strafgesetzes ("bevor* die Tat begangen wurde). Schließlich entfiel das im Kommissionsvorschlag für die analoge Gesetzesanwendung aufgestellte Erfordernis der "ähnlichen Tat"125. Die Begründung des Kommissionsberichts sah gleichwohl "keinen Anlaß zu einer sachlichen Änderung des bisherigen Standpunkts" und bemühte sich um eine bruchlose Anknüpfung an die Ergebnisse erster Lesung. Der bisherige Standpunkt wurde als Übergang von einer formellen zu einer materiellen Unrechtsauffassung beschrieben, der in der zunächst empfohlenen Vorschrift aber "noch keinen vollkommenen Ausdruck gefunden habe". Man betrachtete also die Neufassung als deklaratorische Verdeutlichung bisher gehegter Absichten, die nunmehr in einer ergänzenden Begründung beschrieben wurden: "Quelle und Grundlage des Rechts" sei "das Sittengebot der völkischen Gemeinschaftsordnung". Das Gesetz wurde als "die äußere und praktisch regelmäßige Erkenntnisquelle des Rechts" bezeichnet, das "als Menschenwerk notwendigerweise nicht vollkommen und ... deshalb nicht die ausschließliche Rechtserkenntnisquelle" sein könne. Deshalb sei als "weitere Rechtser&enninwquelle" der Grundgedanke eines Strafgesetzes heranzuziehen. Dieser sei Grundlage der Bestrafung, "wenn die gesunde Volksanschauung Bestrafung erfordert". "So betrachtet" stehe die zweite Rechtserkenntnisquelle zur ersten "nicht, wie es nach der Fassung erster Lesung den Anschein gewinnen konnte, im Verhältnis der Ausnahme zur Regel". Vielmehr seien "beide Rechtserkenntnisquellen gleichwertig und gleichrangig", was in der Gesetzesfassung "klar zum Ausdruck gebracht werden" müsse. Die Gesetzesfassung müsse dahin gehen, daß "jeder, der dem erkennbaren Willen des Gesetzes zuwider gehandelt hat, der verdienten Strafe zugeführt werden kann,... daß auch der darunter fällt, der - im Widerspruch mit der gesunden Volksan122 123 124 125

Vgl. den Bericht von K. Schäfer, Gärtner AT 2 (1935), S. 211 ff. Vgl. K. Schäfer, Gärtner AT1 (1934), S. 129. K. Schäfer, Gärtner AT 2 (1935), S. 213 f. Vgl. die Fassung der 1. Lesung, K. Schäfer, Gärtner AT 1 (1934), S. 129, 132; AT 2 (1935), S. 201, 204 und oben b.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

schauung und entgegen dem erkennbaren Willen des Gesetzes - sich straflos an der Grenze der Strafbarkeit vorbeiwinden möchte"126. Die als ergänzend ausgegebene Begründung enthielt ein klares Bekenntnis zur nationalsozialistischen Rechtsquellenlehre und eine Reduktion des Gesetzes auf eine Rechtserkenntnisquelle. Neu war die Annahme einer Gleichrangigkeit von Gesetzesanwendung und Analogieverfahren, die in der ersten Lesung eindeutig als "Grundsatz" und "Durchbrechung" aufgefaßt wurden. Die Orientierung am Grundgedanken sollte offenbar zum Zuge kommen, wenn die "gesunde Volksanschauung" Strafe forderte. Mit diesen Begründungen waren die Fassungen der ersten Lesung, gedacht als "Bekenntnis zum Rechtsstaat"127, kaum vereinbar, auch wenn der Bericht über die Ergebnisse der ersten Lesung zur Wahrung einer äußerlichen Kontinuität dem zweiten Bericht vorangestellt wurde. Die Stellung des Strafrichters zum Gesetz wollte die Kommission durch die Aufnahme einer gesetzlichen Auslegungsregel "nach dem Vorbild mehrerer Gesetze der jüngsten Zeit" näher konkretisieren. Verwiesen wurde u. a. auf das Vorbild der §§ 1 und 2 des Steueranpassungsgesetzes 1934, die eine Auslegung "nach nationalsozialistischer Weltanschauung" vorsahen 1 . Die Vorschrift sollte lauten: "Der Richter darf nicht am Wortlaut des Gesetzes haften, sondern muß nach dessen Sinn und Zweck entscheiden, die er aus dem ihm zugrunde liegenden Rechtsgedanken, der gesunden Volksanschauung und den Kundmachungen des Führers ermitteln muß".

Dem Richter wurde damit eine teleologische Auslegung aufgegeben, deren Telos nicht nur aus dem gesetzlichen Grundgedanken, sondern auch anhand der vorgesetzlichen "gesunden Volksanschauung" und des Führerwillens zu ermitteln sein sollte. Dieser Vorschrift wurde freilich nur deklaratorische Bedeutung beigelegt: Die formulierten Richtlinien würden "schon jetzt allgemein gehandhabt". Die gesetzliche Regelung wolle nur "dem Richter immer wieder den Blick für die rechte Art der Gesetzesauslegung schärfen"129. Die Regelung über die zeitliche Geltung wurde aus der ersten Lesung übernommen, allerdings mit der bedeutsamen Abweichung einer nur fakultativen Rückwirkung des milderen Gesetzes. Schließlich wurde die Einführung der Wahlfeststellung empfohlen130. 4. Die Rechtsschöpfung durch entsprechende Anwendung der Strafgesetze (§ 2 RStGB n. F., §§ 170a, 267a RStPO n. F.) Der Kern der Neuerungen der Novelle, der neue § 2 RStGB, wurde in sachlicher Übereinstimmung mit dem Vorschlag der Strafrechtskommission (2. Lesung) formuliert: 126 Vgl. K. Schäfer, Gärtner AT 2 (1935), S. 211 f. 127 Vgl. K. Schäfer, Gärtner AT 1 (1934), S. 129; AT 2 (1935), S. 201 und dazu oben b) bei Fn. 93. 128 Vgl. Fn. 71; s. ferner Reichserbhofgesetz v. 29.9.1933, RGBl. I, S. 685, § 56 i. V. m. dem Vorspruch (Auslegungsrichtung u. a.: "... unter Sicherung alter deutscher Erbsitte das Bauerntum als Blutquelle des deutschen Volkes erhalten"). 129 Vgl. Schäfer, Gärtner AT 2 (1935), S. 214 und dazu RG DJ 1935, 1100, Urt. v. 17. 6. 1935, betr. Beamteneigenschaft von SA-Führern, wo u. a. Hitlers "Mein Kampf herangezogen wird. Auf diese Entscheidung verweist Schäfers Bericht, aaO. 130 Vgl. Κ Schäfer, Gärtner AT 2 (1935), S. 214 ff.

Α. Die erste Phase: 1933 bis 1935

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"Bestraft wird, wer eine Tat begeht, die das Gesetz für strafbar erklärt oder die nach dem Grundgedanken eines Strafgesetzes und nach gesundem Volksempfinden Bestrafung verdient. Findet auf die Tat kein bestimmtes Strafgesetz unmittelbar Anwendung, so wird die Tat nach dem Gesetz bestraft, dessen Grundgedanke auf sie am besten zutrifft".

Die einzige Abweichung lag im Ersetzen der "gesunden Volksanschauung" durch das "gesunde Volksempfinden". Die amtliche Begründung formulierte die Ausgangspunkte für den neuen § 2 in weitgehender inhaltlicher Übereinstimmung mit der ergänzenden Begründung der amtlichen Strafrechtskommission (2. Lesung). Die im Bericht Schäfers über die zweite Lesung noch nebeneinander gestellten Begründungsteile wurden unter Ausscheidung der überholten Gedankengänge von 1934 (1. Lesung) zusammengefaßt und ergaben insoweit ein klareres Bild. Die amtliche Begründung bekannte sich zu einem vorpositiven Strafrechtsbegriff: Die einheitliche "Quelle und Grundlage des Strafrechts wie des Rechts überhaupt" sei "die völkische Rechts- und Friedensordnung"131. Materielles Unrecht war also jeder Verstoß gegen diese vorpositive Ordnung. Entsprechend bezeichnete § 2a I RStGB n. F. das "Recht" - nicht: das "Gesetz" - als Grundlage der Bestrafung. Der Nulla-poena-Satz wird mit Hinweis auf seine "liberalistische" Herkunft ausdrücklich für überholt erklärt, der liberal-rechtsstaatliche Grundsatz durch das Streben nach "wahrer", eben nationalsozialistischer "Gerechtigkeit" abgelöst: Jedes "der Volksgemeinschaft zugefügte Unrecht" müsse "die ihm zukommende Ahndung erfahren". Nicht "die Sicherheit des Verbrechers vor verdienter Strafe, sondern die Sicherung der Volksgemeinschaft gegen jeden verbrecherischen Angriff muß das Ziel der Strafrechtspflege sein"132. Damit wird der "Gerechtigkeitssatz 'nullum crimen sine poena'", den Carl Schmitt dem "nulla poena sine lege" polemisch entgegengesetzt hatte, zum neuen Leitprinzip erklärt133. Das Gesetz soll freilich "Rechtserkenntnisquelle" bleiben, sogar "erste und vornehmste". Es sei jedoch eine notwendig "unvollkommene Aufzählung der gegen die völkische Rechts- und Friedensordnung verstoßenden Handlungen". Daneben trete als "weitere Rechtsquelle" (Rechtserfcennfrusquelle?) der Grundgedanke eines Strafgesetzes in Verbindung mit dem gesunden Volksempfinden. Von dieser Lockerung der Gesetzesbindung befürchtet die Begründung keine "Willkür des Richters": Der Richter werde bei der Rechtsschöpfung der "verständnisvolle Verbündete des Gesetzgebers". Die "heute gegebene Einheit der Weltanschauung" liefere dem Richter die "sichere Richtschnur für den Geist..., in dem er die ihm zugewiesene neue Machtbefugnis anzuwenden hat". Diese "Einheit der Weltanschauung" ermögliche es dem Richter auch, die "einheitliche Quelle ... des Strafrechts" - und das gesunde Volksempfinden - zu erkennen134. Hier kehren zusammengefaßt zentrale Erwägungen wieder, die auch die rechtstheoretische Diskussion ab 1933 bestimmten: Vorgegebenes Recht ist substantiell bestimmt durch die nationalsozialistische Weltanschauung. Der Vorrang der politischen Führung bei der Aktuali131 Amtl. Begr., S. 28. 132 AaO, S. 27 f. 133 Vgl. Carl Schmitt, JW 1934, 714. - Plaktiver als die Amtl. Begr. der Novelle Begr. E 1936: "Damit weicht... der Satz 'keine Strafe ohne Gesetz' ... der neuen Forderung "kein Verbrechen ohne Strafe" (S.9). 134 Amtl. Begr., S. 28.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

sierung dieser Weltanschauung wird vorausgesetzt135. Die Auffassung der Führung wird damit zur praktischen Richt-Schnur des völkischen Richters. Neben diesen allgemeinen Richtungsangaben enthält die Begründung Einzelerläuterungen zum neuen § 2: Zunächst müsse feststehen, daß die unmittelbare Anwendung eines Strafgesetzes ausscheide136. Unter dieser Voraussetzung gestatte § 2 die Überschreitung gesetzlicher Grenzen, wenn erstens der "einem Strafgesetz zugrunde liegende Rechtsgedanke" und zweitens das gesunde Volksempfinden im Einzelfall Strafe forderten. Für die Beurteilung aus dem gesetzlichen Grundgedanken wurde besonders auf das Lückenproblem hingewiesen: Eine Anwendung des § 2 scheide aus, wenn das nicht direkt anwendbare Strafgesetz eine "gewollte Begrenzung" enthalte. Eine solche Begrenzung liege vor, wenn die Beschränkung eines Tatbestandes ihren Grund darin habe, daß der Gesetzgeber "aus staats- oder kriminalpolitischen Gründen den gesetzlichen Tatbestand bewußt eng begrenzt hat". Zum "gesunden Volksempfinden" hieß es, daß es sich "nicht unbedingt mit dem Empfinden der großen Mehrheit der Volksgenossen" zu decken brauche, vielmehr eine "wertende Feststellung" enthalte. Damit verwies die Begründung auf die "Richtschnur" der Gesetzesanwendung, also auf ein nationalsozialistisch-gesundes Volksempfinden137. Die Begründung zu § 2 im übrigen war lückenhaft und zwiespältig. Zunächst wurde auf eine Verhältnisbestimmung von "gesundem Volksempfinden" und der Rechtsquelle "völkische Rechts- und Friedensordnung" verzichtet: Sollte die "völkische Rechtsordnung" im "gesunden Volksempfinden" verkörpert sein oder gab es hier Differenzen? Die übliche Gleichrichtung von "völkischer Rechtsordnung" und "Volksgewissen/gesundem Volksempfinden" wurde zumindest nicht ausdrücklich bestätigt. Ferner weckte die Begründung Zweifel, ob das "gesunde Volksempfinden" unmittelbar "Rechtserkenntnisquelle" und Ausgangspunkt der Rechtsschöpfung sein sollte oder aber nur ein Regulativ zu dem aus einem gesetzlichen "Grundgedanken" zu entwickelnden Strafbedürfnis 138 . Die amtliche Begründung faßte zunächst Grundgedanke und gesundes Volksempfinden als eine "Rechtserkenntnisquelle" zusammen. Dem Richter legte sie sodann nahe, vom Grundgedanken auszugehen und das Ergebnis "zur Sicherung gegen mißbräuchliche Anwendung" am gesunden Volksempfinden zu messen, das gesunde Volksempfinden also nur als Regulativ einzusetzen. Ferner sollte das Gesetz "vornehmste" und nicht nur praktisch häufigste - Rechtserkenntnisquelle bleiben. Diese Ausführungen konnten dahin ausgelegt werden, das Gesetz solle auch diese Rechtserkenntnisquelle beherrschen. Andererseits war mit Blick auf Grundgedanken und gesundes Volksempfinden von einer "weiteren" Rechtserkenntnisquelle neben dem Gesetz die Rede139. Wenn indes der gesetzliche Grundgedanke führend bleiben sollte, wo war dann die "weitere Quelle"? Vor allem aber: Wenn das "gesunde Volksempfinden" wirklich die Quelle des Strafrechts bezeichnete, wie konnte es dann nur ein "Korrektiv" gesetzlicher Grundgedanken bilden, die ihrerseits aus dem Erkenntnismittel völkischen Rechts, dem Gesetz, zu entwickeln waren? In zeitgenössischem Schrifttum wurden Verhältnis und Rangfolge von gesundem Volksempfinden und gesetzlichem Grundgedanken alsbald diskutiert, weil man diesen Fragen sym135 136 137 138 139

Vgl. die Auslegungsvorschrift der 1. Lesung (§ 2) und Begr. E 1936, S. 8 sowie sogleich 5. Dabei blieb offen, ob irgendein oder ein passendes Strafgesetz anwendbar sein müsse, dazu unten 9. Amtl. Begr., S. 28 f. Vgl. namentlich Zimmert, FS Gleispach (1934), S. 175 ff. Vgl. Amtl. Begr., S. 28 f.

Α. Die erste Phase: 1933 bis 1935

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bolische und praktische Bedeutung für den Durchbruch neuen Rechtsdenkens beilegte. Im Vorrang des gesunden Volksempfindens vor dem gesetzlichen Grundgedanken sah man den Wendepunkt verkörpert, in der umgekehrten Reihung eine letztlich doch aufrechterhaltene Gesetzesbindung140. Der Ausrichtung der Rechtsschöpfung auf materielle "völkische Gerechtigkeit" entsprach allein die vorrangige Orientierung am "gesunden Volksempfinden" und dessen Verständnis als Rechtsquelle. Daß diese Orientierung in der Novelle nicht durchweg klar zum Ausdruck kam, hat in der neueren Literatur Schreiber als Kompromiß zwischen verschieden weit gehenden Auffassungen zur Lockerung der Gesetzesbindung gedeutet141. Diese Deutung betrachtet indes die materiell-rechtliche Novelle isoliert und sieht diese zudem gewissermaßen als "Endstation" einer Entwicklung. Der "Kompromiß" war allenfalls vorläufiger Natur; es ist genauer, von noch nicht völlig verflüchtigten Restbeständen des überkommenen Gesetzesverständnisses zu sprechen. Bezeichnenderweise bezieht der E 1936 wenig später ganz klar die "zeitgemäße" Position: Er verändert im § 1 des Entwurfs die Reihenfolge der beiden Voraussetzungen des § 2 der Novelle (Strafwürdigkeit "nach gesundem Volksempfinden in Übereinstimmung mit dem Grundgedanken eines Strafgesetzes"). Die amtliche Begründung bestimmt das Verhältnis von "Recht", "Gesetz", gesetzlichem Grundgedanken und gesundem Volksempfinden: Sie bezeichnet § 1 des Entwurfs als "gesetzliche Anerkennung des gesunden Volksempfindens als Rechtsquelle"; im "Volksgewissen" oder "gesunden Volksempfinden" allein sieht der Entwurf die "Quelle allen Rechts"142. Dieses Recht finde im Gesetz "als der vornehmsten Form des Führerbefehls" seinen Ausdruck; das Gesetz sei "Mittel zur Erkenntnis des Rechts". Gebe "das Gesetz auf die Frage, ob Recht oder Unrecht ausnahmsweise keine Antwort", werde der Richter ermächtigt, "unmittelbar aus dem Volksgewissen" gleichbedeutend: "aus dem gesunden Volksempfinden" - "Recht zu schöpfen". Das Ergebnis sei auf seine Übereinstimmung mit dem Grundgedanken eines Strafgesetzes zu überprüfen 143 . An dieser Stelle sind dann auch die Erwägungen zum Lückenproblem angesiedelt. Rechtssicherheit erwartet der E 1936 aus der "einheitlichen Grund- und Weltanschauung des Nationalsozialismus", die den Inhalt gesunden Volksempfindens bestimmen soll, wobei die "Kundmachungen des Führers und ... Grundforderungen des Parteiprogramms" richtungweisend sein sollen144. Das im E 1936 formulierte Grundverständnis der Rechtsschöpfung herrscht denn auch in der Literatur zum neuen § 2 RStGB eindeutig vor14S. Insbesondere die Kommentare und Er140 Vgl. etwa Freister, JDR 1935, 523 f.; besonders klar werden die Alternativen bei E. Schäfer/v. Dohnanyi (1936) entwickelt (S. 185 f). Im übrigen vgl. die Nachw. bei Fn. 145. 141 Gesetz und Richter (1976), S. 198 f. 142 Begr. E 1936, S. 2. Der wesentliche Inhalt des Β 1936, der nicht veröffentlicht wurde, ist für die hier erörterten Fragen bei Freister, in: Gürtner/Freisler (1936), S. 73 ff. mitgeteilt; s. auch Gärtner, aaO, S. 24 f. 143 Begr. E 1936, S. 8,2; vgl. auch Freister, aaO, S. 76 f. 144 Begr. E 1936, S. 9; vgl. auch Freister, aaO, S. 77 f. 145 Vgl. E. Schäfer/v. Dohnanyi (1936), S. 185 f.; Freister, JDR 1935, S. 523 f.; Mezger, ZAkDR 1938,117; Niethammer, ZStW 55 (1936), 755; Schwarz9 (1940), § 2 Anm. 1 f.; Wetzet, AT 3 (1944), S. 21, 23 f.; Gärtner, DJ 1935,1243; Kohlrausch/Lange3* (1943), Einl. § 2 Anm. II f, S. 38 f.; Schänke2 (1944), § 2 Anm. III 1; Boldt, Richterliche Rechtsschöpfung (1939), S. 64; Kutzner (1939), S. 25 f. Aus der Reihe der Dissertationen vgl. etwa H. R. Fischer (1937), S. 45 f.; Rejewski (193η, S. 42 ff.; Steinte (1938), S. 55 ff.; Wilke (1938), S. 9 ff.; Bartsch (1940) S. 10 f., 28 ff.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

läuterungen von Mitarbeitern des Reichsjustizministeriums bezeichnen das "gesunde Volksempfinden" als Rechtsquelle und halten den unmittelbaren Durchgriff auf die Rechtsquelle für zulässig; das gefundene Ergebnis soll am gesetzlichen Grundgedanken überprüft werden146. Der Standpunkt Zimmerls, der das Gesetz nach wie vor als alleinige Rechtserkenntnisquelle (und Rechtsquelle) betrachten will, bleibt vereinzelt147. Die vorherrschende Deutung des § 2 RStGB n. F. muß sich aber nicht einmal auf vorauseilendes Verständnis berufen. Sie wird durch die Verfahrensnovelle entscheidend gestützt, die, frei von liberal-gesetzesstaatlichen Restbeständen, die Anweisungen zur Durchführung der Rechtsschöpfung durch entsprechende Gesetzesanwendung enthält. In den ergänzenden prozessualen Vorschriften für Staatsanwalt und Richter steht die Strafwürdigkeit nach gesundem Volksempfinden im Zentrum. Der neue § 267a RStPO lautete: "Ergibt die Hauptverhandlung, daß der Angeklagte eine Tat begangen hat, die nach gesundem Volksempfinden Bestrafung verdient, die aber im Gesetz nicht für strafbar erklärt ist, so hat das Gericht zu prüfen, ob auf die Tat der Grundgedanke eines Strafgesetzes zutrifft und ob durch entsprechende Anwendung dieses Strafgesetzes der Gerechtigkeit zum Siege verholfen werden kann (§ 2 des Strafgesetzbuchs)".

An erster Stelle soll also nach dieser Vorschrift - und dem neuen § 170a RStPO - die Strafwürdigkeitsprüfung nach gesundem Volksempfinden stehen, an zweiter die Überprüfung des Ergebnisses nach dem gesetzlichen Grundgedanken. Ziel der Operation ist es, der "Gerechtigkeit zum Siege" zu verhelfen. Die amtliche Begründung zur Verfahrensnovelle ist von Zwiespalt frei. Sie erklärt: "Diese neu eingeführte zweite Rechtserkenntnisquelle ist dem Strafgesetz im engeren Sinne völlig gleichwertig"148. Für die Gleichwertigkeit unmittelbarer Gesetzesanwendung und richterlicher Rechtsschöpfung spricht schließlich auch, daß sich Freislers Widerstand gegen eine "Sonderaufsicht" bei entsprechender Gesetzesanwendung durchsetzt149: Die Revisionsmöglichkeit wird insoweit zwar erweitert, aber nur für die Staatsanwaltschaft und gleichermaßen für die Fälle erfolgter wie nicht erfolgter entsprechender Gesetzesanwendung150. Der vorpositive Strafrechtsbegriff, die Bindung an Weltanschauung und Führerwille sind den Novellen selbstverständlich. Beide Novellen zusammengenommen ergeben das Bild, das der E 1936 wenig später genauer nachzeichnete.

146 Vgl. E. Schäfer/v. Dohnanyi (1936), S. 185 f.; Freister, JDR 1935,523 f. 147 FS Gleispach (1936), S. 175 ff. Zimmerl zieht u. a. maßgeblich den Gesetzeswortlaut heran (S. 176), ein kaum "zeitgemäßes" Argument, sondern eine Operation von einem verlorenen Posten. Vgl. auch Nagler, LK6 (1944), § 2 Anm. IV C, III 3, der ein unmittelbares Zurückgehen auf "die tiefere und eigentliche Rechtsquelle nämlich das Volksgewissen oder das Volksempfinden" ablehnt und die Abfolge 1) Grundgedanke, 2) Volksempfinden empfiehlt. 148 Amtl. Begr., S. 51. 149 Vgl. oben 3d bei Fn. 114 f. 150 Vgl. Art. 1, l b Verfahrensnovelle zur Ergänzung des Art. 2 § 1 VO v. 14. 6. 1932, RGBl. I, S. 285 (betr. WfaA/rechtsmittel bei Anfechtung amtsgerichtlicher Urteile) und die Würdigung Freislers, JDR 1935,324.

Α. Die erste Phase: 1933 bis 1935

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5. Die Auslegung (§ 2 RStGB n. F., Art. 2 Verfahrensnovelle) Die Auslegung gewann in der Strafrechtsentwicklung ab 1933 mit der Veränderung der Gesetzestechnik zunehmend an Bedeutung. Die entscheidende Auflockerung der Tatbestände durch den Einbau wertender Begriffe und Generalklauseln, das Streben nach einer "inhaltlichen Ausrichtung der Tatbestände nach ihrem sittlichen Unrechtsgehalt"151 erweiterten notwendig den richterlichen Wertungsspielraum. Im Hinblick auf "alte" Gesetze konnte die Auslegung unmittelbar zum Inhaltswandel des Strafrechts beitragen. Die Novellen brachten die gesetzliche Aufforderung zur Auslegung nach "nationalsozialistischer Weltanschauung" und Führerwille, mittelbar durch § 2 RStGB n. F. und unmittelbar durch Artikel 2 der Verfahrensnovelle. Das "gesunde Volksempfinden" des § 2 setzte die "Einheit der Weltanschauung" und ihre authentische Aktualisierung durch den Führer voraus. Der Richter wurde als der "verständnisvolle Verbündete" des Führer-Gesetzgebers angesprochen. Bündnisfähig war nur der Richter, der sich "als Teil der nationalsozialistischen deutschen Volksgemeinschaft" fühlte und deren "Lebensgesetze", im Zweifelsfall "authentisch und endgültig interpretiert" durch den dazu berufenen Führer 152 , erfaßte 153 . Gesundes Volksempfinden und verständnisvolles Bündnis mußten, wenn sie bei der Rechtsschöpfung vorausgesetzt waren, auch und gerade die "normale" Auslegung leiten. Die erstrebte Tendenz auf "materielle Gerechtigkeit" kehrte notwendig den Telos der Gesetze hervor, der, wie die amtliche Strafrechtskommission in zweiter Lesung dokumentierte, mit Hilfe des gesunden Volksempfindens und der Kundmachungen des Führers zu ermitteln war. Das Fehlen einer besonderen Auslegungsgregel in der materiell-rechtlichen Novelle beweist keineswegs das Gegenteil: In diesen Annahmen lag nur der selbstverständliche Nachvollzug einer stattgefundenen Umwertung, die in § 2 mittelbar ihren Ausdruck fand154. Die Verpflichtung des Richters auf die neuen nationalsozialistischen Wertmaßstäbe wurde aber auch ausdrücklich anerkannt. Dies geschah im prozessualen Gewände der Befreiung des Reichsgerichts von Bindungen an alte Urteile. Artikel 2 der Verfahrensnovelle erklärte: "Das Reichsgericht als höchster deutscher Gerichtshof ist berufen, darauf hinzuwirken, daß bei der Auslegung des Gesetzes dem durch die Staatserneuerung eingetretenen Wandel der Lebens- und Rechtsanschauung Rechnung getragen wird. Damit es diese Aufgabe ungehindert durch die Rücksichtnahme auf die aus einer anderen Lebens- und Rechtsanschauung erwachsene Rechtsprechung der Vergangenheit erfüllen kann, wird folgendes bestimmt: Bei der Entscheidung über eine Rechtsfrage kann das Reichsgericht von einer Entscheidung abweichen, die vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes ergangen ist".

151 Vgl. Freister, in: Gärtner/Freisler (1936), S. 83. 152 Vgl. Nagler, LK6 (1944), § 2 Anm. 13, S. 82 und II 3, S. 83. 153 Vgl. Kohlrausch /Lange3* (1943), Einl. § 2 Anm. III, S. 39. Zum vorausgesetzten neuen Richtertyp namentlich Cart Schmitt, DJZ1935, Sp. 920,924 f. 154 Vgl. Κ Schäfer, Gärtner AT 2 (1935); S. 214 und dazu oben 3e bei Fn. 129. Vgl. auch E. Schäfer/v. Dohnanyi (1936), S. 185; Mezger, Leitfaden (1936), S. 36. - Zu den Fernwirkungen des neuen § 2 für die Auslegung vgl. L. Schäfer/Lehmann/Dörffler (1936), S. 14; 01shausenn (1942), § 2 Anm. 2; Freister, JDR 1935,531.

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Das war, so Eberhard Schmidt, der "dezidierte Auftrag ... die Rechtsprechung im Auslegungswege der nationalsozialistischen Staatsräson zu öffnen, die eben für jeden, ob er wollte oder nicht, 'neue' Lebens- und Rechtsanschauung zu sein hatte"155. Artikel 2 enthielt einen Umwandlungsauftrag an das Reichsgericht. Daß die Reichsrichter "in innerer Verbundenheit mit den Zielen der neuen Staatsführung bereit sind, nach ihren Kräften zur Erneuerung des Rechts beizutragen" (verständnisvolle Verbündete!), setzte die amtliche Begründung voraus. Der Auftrag war dem Reichsgericht stellvertretend für die gesamte ordentliche Gerichtsbarkeit erteilt, der das oberste Gericht "den Weg zur eigenen Umbildung und Fortentwicklung des Rechtes weisen" sollte156. Bezweckt wurde damit freilich nicht ein Aufgreifen "innerlich unverändert" fortbestehender Rechtsfragen157, "ausgetragener Zweifelsfragen"158 oder eine "leichtfertige Umstoßung und Aufgabe erprobter Erkenntnisse"159. Ziel war die Umwertung "grundsatzbedingter"160, d. h. "weltanschaulich" eingefärbter Fragen. Gedacht war insbesondere an "normative Elemente" in den Strafgesetzen, da diese "den ihnen eigenen Gradmesser unmittelbar aus einer Grundanschauung" bezögen, also bei "veränderter Grundanschauung" ihren Inhalt ohne Textänderung wechseln könnten161. Daß neue Strafgesetze nach den maßgeblichen "neuen Grundanschauungen" auszulegen seien, setzte Artikel 2, der sich auf alte Strafgesetze bezog, als selbstverständlich voraus. Der E 1936 brachte die neuen Auslegungsgrundsätze dann bündig zusammengefaßt zum Ausdruck: Nach dem Vorspruch von 1936 bestimmte das "gesunde Empfinden des Volkes für Recht und Unrecht... Inhalt und Anwendung des Strafrechts"162. Der Entwurf setzte die "feste Verwurzelung des Richters in der das Volksleben tragenden nationalsozialistischen Grundanschauung" voraus163. Das "gesunde Volksempfinden" oder "Volksgewissen" ist autoritativ in den "Kundmachungen des Führers" verkörpert. Praktisch relevante Pflicht des Richters ist es, die "Strafgesetze nach dem Willen der Volksführung auszulegen"164, der eben nicht nur im Gesetz, sondern auch fortlaufend in sonstigen Äußerungen seinen Ausdruck findet. § 2 des E 1936 lautete: "Wegweiser der Rechtsfindung sind die Kundmachungen des Führers. Jedes Strafgesetz ist nach seinem Grundgedanken sinngemäß auszulegen".

Wieweit die gerichtliche Auslegung alter Strafgesetze "wesentlicher Faktor der Erneuerung der Rechtspflege"165 wurde, kann hier nicht systematisch verfolgt werden. Die Auslegung des im nächsten Kapitel zu behandelnden Blutschutzgesetzes vom September 1935 bietet ein markantes Beispiel dafür, wie ein nationalsozialistisch-einfühlsamer Richter auch ohne die 155 156 157 158 159 160 161 162 163 164 165

Vgl. Eb. Schmidt, Strafrechtspflege (1965), S. 435. Vgl. Amtl. Begr., S. 57. AaO, S. 58. Vgl. Freister, JDR 1935,532. Vgl. E. Schäfer, DJ 1935, 993. Vgl. L. Schäfer/Lehmann /Dörffler (1936), S. 49. Vgl. Freister, JDR 1935,532. Bei Gärtner¡Freister (1936), S. 32. Begr. E 1936, S. 7. Begr. E 1936, S. 8,10. Zu dieser Möglichkeit Freister, JDR 1935, 532.

Α. Die erste Phase: 1933 bis 1935

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"Krücke" der Analogie über den Wortlaut alter Gesetze (räumlicher Geltungsbereich des Strafgesetzes) hinwegzusteigen vermag. Die Entwicklung der Rechtsprechung zu den "alten" Gesetzen zu verfolgen, wäre gewiß ein interessantes Unterfangen. Eine solche Analyse ist aber zum Verständnis und zur Einordnung der Strafrechtspflege 1933 bis 1945 nicht unerläßlich. Die Auslegung der neuen Strafgesetze bietet reichhaltiges Anschauungsmaterial. Die zahlreichen neuen Regeln, insbesondere auch des Kriegsstrafrechts, eröffnen dem verständnisvoll mit dem Führer-Gesetzgeber verbündeten Richter ein weites Operationsgebiet, in dessen kritischen Zonen freilich auch andere, verständnisvollere "Verbündete" des GesetzgeberFührers arbeiten. 6. Die Rückwirkung (§ 2a RStGB n. F.) Der neue § 2a RStGB folgte mit den Bestimmungen über die zeitliche Geltung der Strafgesetze den Kommissionsvorschlägen. Die Vorschrift sprach allerdings nicht mehr von dem zur Tatzeit geltenden "Gesetz", sondern vom maßgeblichen "Recht", um den Anschluß an § 2 RStGB n. F. zu wahren. Besonderes Augenmerk verdient die Regelung der Rückwirkung. § 2a I ging von der Maßgeblichkeit des zur Tatzeit geltenden Rechts aus. Die amtliche Begründung sprach von einem Festhalten "an der grundsätzlichen Nichtrückwirkung der Strafgesetze". Damit war aber keineswegs ein den Führer-Gesetzgeber bindendes Rückwirkungsverbot gemeint, sondern nur eine technische Regel zur Handhabung von Rückwirkung; insoweit ist auf die maßgeblichen Beratungen der Strafrechtskommission in erster Lesung zu verweisen. Wenn spätere Gesetze verstärkt Rückwirkung anordnen, ist das also keineswegs die "Durchbrechung"166 eines "Grundsatzes" oder "grundsätzlichen Verbots", sondern der Gebrauch von einer Gestaltungsmöglichkeit, die einem vorgesetzlichen Strafrechtsbegriff selbstverständlich ist167. 7. Verhütung ungerechter Freisprechungen durch Zulassung der Wahlfeststellung (§§ 2d RStGB n. F., 267b RStPO n. F.) Im Verbot wahldeutiger Feststellung findet strikte richterliche Gesetzesbindung einen scharfen Ausdruck. Das Reichsgericht hatte in seiner vornationalsozialistischen Rechtsprechung der Wahlfeststellung enge Grenzen gezogen. Die Vereinigten Strafsenate ließen in einem Beschluß vom 2. Mai 1934 die Wahlfeststellung zwischen Diebstahl und Hehlerei zu, lehnten jedoch eine schrankenlose Wahlfeststellung ab168. Mit dem Vorrang der materiellen

166 So aber Schreiber, Gesetz und Richter (1976), S. 197, 199, der Entstehungsgeschichte und Kontext nicht beachtet. 167 Im Grandsatz treffend Naucke, Analogieverbot (1981), S. 86 f., FS Coing (1982), S. 227 ff., 238. Ungenau ist es freilich, wenn Naucke meint, man habe es nur nicht der "Mühe wert" gefunden, die einschlägigen Texte zu streichen (Analogieverbot, S. 86): § 2a I wurde ja neu eingefügt, hatte aber gerade nicht den Sinn eines "Verbots". 168 RGSt. 68, 257 ff. und dort auch zur früheren Rspr. Für schrankenlose Wahlfeststellung der vorlegende 1. Senat in JW 1934,2$4 ff., 300, dessen Urteilsentwurf versehentlich veröffentlicht wurde.

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Gerechtigkeit169 fiel das Verbot wahldeutiger Feststellung ohne Einschränkung. § 2b RStGB sah nunmehr vor: "Steht fest, daß jemand gegen eines von mehreren Strafgesetzen verstoßen hat, ist aber eine Tatfeststellung nur wahlweise möglich, so ist der Täter aus dem mildesten Gesetz zu bestrafen".

Auf die rechtsethische und psychologische Vergleichbarkeit der mehreren in Betracht kommenden Strafgesetze wurde verzichtet (Abtreibung und Betrug!170); Wahlfeststellung sollte auch bei Alternativität von selbständigen Taten im prozessualen Sinne möglich sein171. Im Urteilstenor hatte - eine Folgerung aus der möglichen Unwertdifferenz der in Betracht kommenden Strafgesetze - nur die anzuwendende Strafvorschrift zu erscheinen172. 8. Die neuen Strafvorschriften im übrigen Die Vorschriften der materiell-rechtlichen Novelle im übrigen betrafen die verschiedensten Sachgebiete. Sie reichten von der durch die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht bedingten Neuordnung der Strafvorschriften zum Schutze der Wehrmacht (Art. 3, §§ 140 143a) über die Gefährdung des Eisenbahnverkehrs, der Schiffahrt oder der Luftfahrt (Art. 4, §§ 315, 316), die Beschimpfung der NSDAP (Art. 5, § 134b), die Unzucht zwischen Männern (Art. 6, §§ 175, 175a), den Schutz vor Waldbränden (Art. 7, §310a), den Automatenmißbrauch und die Erschleichung freien Eintritts (Art. 8, § 265a), die unterlassene Hilfeleistung (Art. 9, § 330c), den verstärkten Schutz der Jagd und Fischerei (Art. 10, §§ 292 - 296) bis hin zum unbefugten Uniformtragen und zur falschen Namensangabe (Art. 11, §§ 132a, 360 I Nr. 8). Schließlich ließ Artikel 12 die nachträgliche Wiederaufhebung der Berufsausübung zu (§ 421IV) und Artikel 13 dehnte die Verjährungsfrist bei Pressedelikten aus. Die Lockerung der Gesetzesbindung schlägt sich in verschiedenen Zusammenhängen in der Verwendung von wertorientierten Begriffen und Generalklauseln nieder, etwa Verstoß gegen das "Gemeinwohl" (Art. 4, § 315 III), "böswillig und mit Überlegung" die NSDAP "verächtlich machen" (Art. 5, § 134b) oder Nichterfüllung einer aus "gesundem Volksempfinden" erwachsenden Hilfspflicht (Art. 9, § 330c). Der Tatbestand über die unterlassene Hilfeleistung war vor allem deshalb bemerkenswert, weil er das "gesunde Volksempfinden" unmittelbar zum strafbarkeitsbegründenden Merkmal erhob und dadurch ein "Bekenntnis" zum Geist des nationalsozialistischen Strafrechts ablegte, wie Freisler meinte173. Die Lockerung der Gesetzesbindung tritt auch in der Verwendung teils unbenannter, teils beispielhaft erläuterter besonders schwerer Fälle hervor174. Markantes Beispiel der Strafrahmenausweitung ist die Wehrmittelsabotage (Art. 3, § 143a), deren Strafrahmen unter Einbeziehung der besonders schweren Fälle von einem Monat Gefängnis bis zur Todesstrafe reicht!

169 170 171 172 173 174

Amtl. Begr., S. 31, vgl. E. Schäfer, JW 1935,2326. Beispiel RGSt. 69,369. Näher Amtl. Begr., S. 31 f.; E. Schäfer, JW 1935,2326. Zur späteren Praxis Schänke2 (1944) zu § 2b. § 267b RStPO 1935. Vgl. Freisler, JDR 1935,537. Vgl. §§ 141 III, 141a III, 143a III (Art. 3), 315 I S. 2, 315 II S. 2 (Art. 4), 293 II (Art. 10). Zum Absehen von Strafe in einem "besonders leichten Fall" § 175 II (Art. 6).

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Die Auflockerungstendenz wird im übrigen auch in der Verfahrensnovelle augenfällig: Die Befreiung von Gericht und Staatsanwaltschaft von gesetzlichen Bindungen ist ihr durchgehendes TTiema175. Daß die Auflockerung der Gesetzesbindung durch Bindungen anderer Art, nämlich durch die Bindung an "nationalsozialistische Weltanschauung" und politische Führung, abgelöst und ausgeglichen werden sollte, ist schon deutlich geworden. Eine prozessuale Ausformung dieser Bindung durch unmittelbare Einschaltung politischer Stellen brachte § 134b, der die Beschimpfung der NSDAP betraf. Der weitgefaßte Tatbestand war, so die amtliche Begründung, nicht dazu gedacht, "jedes törichte Wirtshausgespräch über die Partei usw." strafrechtlich zu verfolgen; vielmehr sollte nur "wirklich böswilliges und gehässiges Verhalten ... getroffen" werden 176 . Um "die Anwendung der Vorschrift auf solche Fälle zu beschränken" wurde, in Anlehnung an das Vorbild des § 1 Heimtückegesetz, bestimmt, daß die Tat nur auf Anordnung des Reichsjustizministers im Einvernehmen mit dem Stellvertreter des Führers zu verfolgen sei. Die Information des Reichsjustizministers wurde, wie beim Heimtückegesetz, durch Berichtspflichten der Staatsanwaltschaften sichergestellt177. 9. Die Rechtsschöpfung durch entsprechende Gesetzesanwendung in der Rechtsprechung des Reichsgerichts Das Reichsgericht legte "den Grundgedanken der Strafgesetze und dem gesunden Volksempfinden" die Bedeutung von "beherrschenden Richtlinien der gesamten Strafrechtspflege" bei, die insgesamt nach der "wahren Gerechtigkeit" streben müsse178. Die mit § 2 RStGB n. F. verbundenen Fernwirkungen für die gesamte Auslegung wurden bereits angesprochen. Im folgenden geht es um die unmittelbare Bedeutung des § 2 für die Ausdehnung der Strafbarkeitszonen. Eine Aufarbeitung der gesamten Rechtsprechung 179 würde den Rahmen der Darstellung sprengen. Die Bestandsaufnahme konzentriert sich deshalb auf die Judikatur des Reichsgerichts. Sie versucht, Leitlinien und Entwicklungsrichtung zu erfassen und gibt ergänzende Hinweise zur Kasuistik. a) Der Anwendungsbereich Der Zugang zu § 2 setzte ein Abschreiten der Auslegungsmöglichkeiten voraus. In zahlreichen Fällen verneinte das Reichsgericht wegen des Vorrangs der Auslegung die Anwendbar-

175 Vgl. oben 1 bei Fn. 9 ff. 176 Vgl. Amtl. Begr., S. 38 und § 134b II (Art. 5). Zum Heimtückeges. vgl. [Nr. 15] bei Fn. 4. 177 Vgl. Art. 395 Id der RiLi für das Strafverfahren i. d. F. der AV v. 14.11.1935, DJ 1935, 1688 und bei Krug/Schäfer/Stolzenburg (1943), S. 244. 178 RGSt. 70,58,63 (Urt. v. 17.12.1935) und dazu Boldt, Richterliche Rechtsschöpfung (1939), S. 42 ff. 179 Vgl. namentlich Schwarz, Gerichtssaal 110 (1938), 369 ff.; Goedel, DJ 1938, 587 ff.; Bepler, JW 1938, 1553 ff. und JW 1939,257 ff.; Boldt, Richterüche Rechtsschöpfung (1939), S. 41 ff.; Kutzner (1939), S. 17 ff.; Mittelbach, DR 1942, 407 ff. und DR 1943, 735 ff. Die Übersichten von Bepler und Mittelbach ergeben ein annähernd vollständiges Bild (bis 1943). Vgl. ferner die Kommentierungen bei Kohlrausch/Lange3* (1943) und Olshausen12 (1942) (Niethammer).

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

keit des § 2 180 . Die Flüssigkeit der Grenzen zwischen Auslegung und Analogie wird deutlich, wenn etwa ein zunächst über § 2 erzieltes Ergebnis später im Wege einer Auslegung gefunden wird, die "den Belangen der Allgemeinheit und dem gesunden Volksempfinden entspricht"181. Bedeutsam für den Anwendungsbereich des § 2 war die in der amtlichen Begründung nicht gestellte und nicht geklärte Frage, ob die Anwendbarkeit irgendeines oder nur die eines "passenden" Strafgesetzes § 2 ausschließe. Das Reichsgericht entschied sich zunächst für die erste Alternative 182 , von der es aber alsbald abging. Die ständige Rechtsprechung Schloß dann eine entsprechende Anwendung unter der Voraussetzung aus, daß die unmittelbare Anwendung eines Strafgesetzes eine angemessene, d. h. dem gesunden Volksempfinden entsprechende, Bestrafung ermöglichte 183 . Im Schrifttum wurde demgegenüber eine Erweiterung auf alle Fälle verlangt, in denen die richtige Kennzeichnung von Tat und Täter die Heranziehung eines weiteren Strafgesetzes über § 2 erfordere 184 . Die Anwendbarkeit des § 2 auf nationalsozialistische Gesetze wurde bejaht 185 . Offen ließ das Reichsgericht die Möglichkeit einer entsprechenden Anwendung von Vorschriften des Allgemeinen Teils 186 ; ebenso ließ es dahingestellt, ob § 2 zugunsten des Täters eine gesetzlich begründete Strafbarkeit ausschließen könne 187 . Eine Rückwirkung des § 2 schließlich wurde, da eine gesetzliche RUckwirkungsanordnung fehlte, mit Hinweis auf § 2a I n. F. verneint 188 .

180 Vgl. etwa RGSt. 72,1 ff. (Urt. v. 12. 1. 1937, § 304); -GS-72, 91 (Beschl. v. 23. 2. 1938, Blutschutzgesetz/§ 3); 73, 9 (Urt. v. 20. 10. 1938, § 250 I Nr. 4); 73, 217, 224 f. (Urt. v. 23. 5. 1939, § 2 TarnungsVO); 74, 6,8 (Urt. v. 7.11. 1939, versuchtes Devisenvergehen); 74, 79 (Urt. v. 13. 2.1940, Umgehung von Devisenstrafvorschriften); 74, 26 (Urt. v. 2. 4. 1940, § 271); 76, 31 (Urt. v. 15. 1.1942, § 257); 76, 129, 131 (Urt. v. 23. 4. 42, Verkehr mit Edelmetallen); 76, 371, 373 f. (Urt. v. 11. 3. 1943, § 223b); 77,371 (Urt. v. 24.3.1944, § 372). 181 Vgl. RGSt. 72, 67 (Urt. v. 27. 1. 1938, 5. StS) einerseits (Analogie) und die Aufgabe dieser Rspr. in RGSt. 73, 90 (Urt. v. 31. 1. 1939, 1. StS, Auslegung) andererseits. Zur Flüssigkeit der Grenzziehung etwa Boidt, Richterliche Rechtsschöpfung (1939), S. 58 ff.; Kutaner (1939), S. 19 ff. 182 Vgl. RG DJ 1936,609 (Urt. v. 18. 2.1936) und RGSt. 70,218,220 (Urt. v. 25.5.1936). 183 Vgl. zunächst RGSt. 70, 360, 363 (Urt. v. 23. 11. 1936), dann etwa RGSt. 71, 200, 202 (Urt. v. 26. 4. 1937); 75, 25,29 (Urt. v. 28.11. 1940); 76, 398,399 (Urt. v. 2.4. 1943) und 77,350, 356 (Urt. v. 10. 3. 1944). 184 Vgl. etwa Kohlrausch/Lange3* (1943), IV 6 vor § 2, S. 44; Schmidt-Leichner, DR 1942, 1759. In diesem Sinne RGSt. 76, 398, 399 (Urt. v. 2. 4. 1943) ohne die Abweichung von der st. Rspr. zu verdeutlichen. Zu entsprechenden Tendenzen der Rspr. auch schon Boldt, Richterliche Rechtsschöpfung (1939), S. 61 f. 185 Vgl. RGSt. 71, 385, 388 (Urt. v. 8.11. 1937, aber: "besondere Vorsicht"!) und Nagler, LK6 (1944), § 2 Anm. IV A I S . 94. 186 Vgl. RGSt. 75, 334, 335 (Urt. v. 22. 9. 1941). Der Eintritt verschiedener Entscheidungen in Sacherörterungen zu Einzelfragen läßt sich als mittelbare Anerkennung der Anwendbarkeit des § 2 deuten, vgl. Olshausenn (1942), § 2 Anm. 2c mit Nachw. Das Schrifttum bejahte überwiegend die Anwendbarkeit des § 2 im AT, vgl. die Nachw. bei Nagler, LK6 (1944), § 2 Anm. III 4 B, S. 90. Differenzierend Kohlrausch/ Lange (1943), Anm. IV 8 vor § 2. 187 RGSt. 74, 44 (Urt. v. 26. 1. 1940). Zur entsprechenden Ausdehnung von Strafantragserfordernissen (§§ 247 I, 263 V auf § 266) zugunsten des Täters RGSt. 70, 205, 209 (Urt. v. 2. 5.1936) und Olshausen12 (1942), § 2 Anm. 5a mwN. Dazu die Kontroverse Freister/Klee, DStR 1941,65 ff. 188 Vgl. etwa aus dem Jahre 1936 RGSt. 70,130,134; 173,175; 277,280.

Α. Die erste Phase: 1933 bis 1935

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Systematisch betrachtet konnte dem § 2 noch die Frage vorgeschaltet werden, ob die gesetzliche Regelung eine "Lücke" offenließ oder vielmehr eine bewußte Begrenzung enthielt189. Die Feststellung einer "Lücke" war indes mit der Ermittlung des gesetzlichen Grundgedankens verwoben und hing entscheidend davon ab, ob der Standpunkt des historischen Gesetzgebers einzunehmen oder ob nach "gegenwärtigem Rechtsbewußtsein" zu urteilen sei. Diese Frage ist nunmehr bei der Betrachtung des Verhältnisses von gesundem Volksempfinden und gesetzlichem Grundgedanken zu erörtern. b) Die Straf würdigkeit nach gesundem Volksempfinden und der gesetzliche Grundgedanke Für die Anwendung des § 2 anerkannte das Reichsgericht die im § 267a RStPO vorgeschriebene Methode, wonach "zunächst zu prüfen" sei, "ob das gesunde Volksempfinden und die Gerechtigkeit verletzt werden, wenn das Gericht nicht im Wege der Rechtsschöpfung nach dem § 2 eingreift"191. Der Ausgangspunkt sei "in erster Linie" im Strafbedürfnis nach gesundem Volksempfinden zu suchen192, was natürlich eine Umkehrung der Prüfungsreihenfolge in den Urteilsgründen nicht ausschloß, wenn dies zweckmäßig erschien193. Sachlich entscheidend war das Verhältnis von Strafbedürfnis aus gesundem Volksempfinden und gesetzlichen Fixierungen. Diese standen bei der Lückenfeststellung und der Ermittlung des Grundgedankens in Frage. Eine wirksame gesetzliche Überformung des Strafbedürfnisses war jedenfalls denkbar, wenn der gesetzliche Grundgedanke und das Vorhandensein einer Lücke aus der Sicht des historischen Gesetzgebers bestimmt wurden: Dann konnten sich Lückenfeststellung und gesetzlicher Grundgedanke zumindest in bestimmten Fallgruppen zu Gegengewichten aktueller Strafbedürfnisse entwickeln. Die Orientierung am historischen Gesetzgeber konnte etwa den Ausschlag geben, die Bestrafung der Ersatzhehlerei über § 2 unter Berufung auf die Perpetuierungstheorie abzulehnen oder die Eltern nicht in den Täterkreis der Unzucht mit Abhängigen einzubeziehen194. Eine zweite Methode "dynamisierte" Lückenproblem und Grundgedanken durch die Anknüpfung an den "gegenwärtigen Rechtswillen der Volksgemeinschaft" unter "voller Auswertung der den schöpferischen Lebenskräften entsprechenden, zeitgemäßen Grundanschauung". Danach war gerade das "gesunde Volksempfinden" bestimmende "Bewertungsinstanz und Beurteilungsmaßstab"195, d. h. 189 Zur Behandlung der Lückenfrage im Zusammenhang mit dem "Grundgedanken". Vgl. nur Amtl. Begr., S. 28 und Begr. E 1936, S. 9; Kutzner (1939), S. 27. 190 Das RG fragte zunächst ungenau, ob eine vom Gesetzgeber "nicht beabsichtigte Lücke" vorliege (RGSt. 70, 367, 369) dann präziser, ob es sich um eine Grenze handle, die der "Gesetzgeber dem Strafrichter bewußt gesetzt hat" (RGSt. 72,187,189). Näher zur Rspr. Nagler, LK6, § 2 Anm. IV A, S. 93; zur Bedeutung der Prüfungsabfolge Boldt, Richterliche Rechtsschöpfung (1939), S. 64 ff. 191 Vgl. RGSt. 70,360,363, Urt. v. 23.11.1936 (2. StS). 192 Vgl. RG HRR 1942, Nr. 251 (2. StS). Vgl. ferner RGSt. 71, 341; 72, 1, 4; 146; 201; 204; 73, 271, 274 und die Beschreibung des Standpunkts der Rspr. bei Goedel, DJ 1938,590; Bepler, JW 1938,1553. 193 Beispiele aus der Rspr.: RGSt. 71,196; 72,66,70; 158,160; 73,151,153 f.; 75,43,44 ff.; 75,60. 194 Vgl. zu diesem Standpunkt namentlich Kohlrausch /Lange3* (1943) IV 2, IV 5b, c Vor § 2; § 2 Anm. 24 (Ersatzhehlerei); Kohlrausch37 (1941), § 2 Anm. 16e (Unzucht mit Abhängigen) und Kohlrausch, DStR 1939,122 ff. 195 Vgl. Nagler, LK6 (1944), § 2 Anm. 4 A, S. 93; 4 B, S. 98. Zu dieser in der Literatur sich durchsetzenden Auffassung vgl. z. B. Bepler, DR 1938,1554; Boldt, Richterliche Rechtsschöpfung (1939), S. 79 f.;

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

Lückenfeststellung und Grundgedanke wurden nach "gesundem Volksempfinden" ausgerichtet; sämtliche Erfordernisse konvergierten letztlich im aktuellen Strafbedürfnis. Die Bindung des Richters war dann eine Bindung an die aktuelle Auffassung der politischen Führung von Strafwürdigkeit. Die Rechtsprechung des Reichsgerichts tendierte zunächst dazu, die Auffassung des historischen Gesetzgebers zugrunde zu legen. Ein Beispiel hierfür bietet die Stellungnahme zur entsprechenden Anwendung des § 174 I Nr. 1 RStGB auf die Eltern. Die Vorschrift umschrieb kasuistisch den Täterkreis der Unzucht mit Abhängigen. Genannt wurden u. a. Vormünder, Pflegeeltern und Erzieher, nicht aber die leiblichen Eltern. Das Reichsgericht nahm mit Hinweis auf die Entstehungsgeschichte des RStGB 1871 eine bewußte Ausgrenzung der leiblichen Eltern durch den Gesetzgeber an und verneinte eine Strafbarkeit des Vaters nach § 174 I Nr. 1. Die Strafwürdigkeit nach gesundem Volksempfinden vermöge an diesem Ergebnis ebensowenig etwas zu ändern, wie die de lege ferenda vorgesehene Strafbarkeitserweiterung: "Denn der Richter ist nicht dazu berufen, dem Gesetzgeber hinsichtlich des Zeitpunktes des Inkrafttretens einer gesetzlichen Neuregelung vorzugreifen..."196. Mit ähnlichen Erwägungen wurde eine entsprechende Anwendung des 1933 neugefaßten § 164 (falsche Verdächtigung) auf die Vortäuschung einer Straftat verneint: Angesichts des bei Erlaß des Gesetzes bekannten Problemstandes könne die Nichterfassung durch § 164 "nur mit Vorbedacht geschehen"197 sein. Die Orientierung am Willen des vornationalsozialistischen Gesetzgebers sah sich dem Einwand ausgesetzt, "aus zwei Weltanschauungen Recht zu suchen"198, konnte aber darauf hinweisen, das Dritte Reich habe nun einmal "eine große Anzahl von Vorschriften einstweilen aus der Vergangenheit übernehmen müssen"199. Das Reichsgericht anerkannte zwar, daß "selbstverständlich jedes ältere Gesetz vom Standpunkte der nationalsozialistischen Weltanschauung aus verstanden werden muß" und hielt abweichende Ergebnisse für möglich, lehnte aber eine Erstreckung übernommener Tatbestände auf solche Handlungen ab, die "nach dem Willen des [damaligen!] Gesetzgebers nicht strafbar sein sollten"200. Die Orientierung am (historischen) nationalsozialistischen Gesetzgeber bei neuen Strafgesetzen war gegen den genannten Einwand gefeit. Hier stellte sich aber eine prinzipielle Frage, die für "alte" wie "neue" Gesetze von Bedeutung war: Wenn der Gesetzgeber nicht mehr ein Organ mit wechselnder personeller Besetzung war, sondern eine physisch-reale Größe, eben der "Führer Adolf Hitler", mußte dann nicht nach fortlaufenden Aktualisierungen gefragt,

Großmann (1941), S. 85 ff., 148; Klee, ZAkDR 1937, 696 f.; Mezger, DRWis 1939, 259 ff., ZStW 59 (1939), 572 Fn. 36 und Deutsches Strafrecht (1943), S. 30 ff.; Schmidt-Leichner, DR 1942, 1758; Schänke2 (1944), § 2 Anm. III 2 mwN. 1% Vgl. RG DJ 1936, 609 (Urt. v. 18. 2.1936) und noch RG ZAkDR 1940,180 (Urt. v. 23. 1.1940) mit zust. Anm. Bruns. 197 Vgl. RGSt. 70,367,369, Urt. v. 8.12.1936. 198 Vgl. Leppin, JW1938,104; Bepler, JW1938,1554; JW 1939,258. S. auch die Nachw. zu Fn. 195. 199 Vgl. RG-GS-St. 72, 91, 93 (Beschl. v. 23. 2. 1938), ein Urteil, das in concreto demonstriert, wie gleichwohl Vorschriften (§ 3 RStGB a. F.) ausgehebelt werden konnten. 200 Vgl. RGSt. 70,277,279 f. (Urt. v. 6.6.1936).

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mußte nicht die "Dynamik des Führerwillens"201 beachtet und mußte dann nicht nach dem gegenwärtigen Willen der Volksführung = gegenwärtiges Rechtsbewußtsein entschieden werden? Vielleicht sind solche Fragen überspitzt, wenn es um Fallgestaltungen geht, die "weltanschaulich" nicht so brisant sind wie etwa die Erstreckung des Blutschutzgesetzes auf Auslandstaten 202 . Um so aufschlußreicher ist es, daß sich die spätere Rechtsprechung des Reichsgerichts eindeutig auf den Boden der oben angesprochenen zweiten Alternative stellt und dezidiert von einer "statischen" zu einer "dynamischen Betrachtungsweise" von Lückenfrage und gesetzlichem Grundgedanken übergeht. Als "Durchbruch der dynamischen Rechtsauffassung" hat Schmidt-Leichner 203 , damals Landgerichtsrat im Reichsjustizministerium und mit der Materialsammlung für die Richterbriefe betraut 204 , eine Entscheidung im 76. Band bezeichnet. Das Urteil vom 8. Oktober 1942 betraf die schon erwähnte Frage einer entsprechenden Anwendbarkeit des § 174 I Nr. 1 auf unzüchtige Handlungen eines ehelichen Vaters mit seiner mindeij ährigen leiblichen Tochter. Das Urteil kam im Gegensatz zu den früheren Entscheidungen zu einer Bestrafung nach §§ 1741 Nr. 1 i. V. m. 2 RStGB. Der Kernsatz der Entscheidungsbegründung lautet, es seien unzüchtige Handlungen festgestellt, "die nach gesundem Volksempfinden Bestrafung verdienen und denen daher [!] nach heutiger Rechtsauffassung [!] mit den Mitteln des Strafrechts entgegengetreten werden muß [Î]"205. Die im Entwurf eines künftigen Strafgesetzbuches vorgesehene Strafbarkeit des fraglichen Verhaltens, so die weiteren Ausführungen, beweise den eingetretenen Auffassungswandel: Die früher maßgebliche Scheu vor dem Eindringen in das Familienleben 206 trete hinter den "Mißbrauch der Stellung der Eltern und die Zerstörung der Grundlagen der Familie" zurück. Aus der bisherigen Untätigkeit des mit den Verbrechen wider die Sittlichkeit bereits mehrfach befaßten nationalsozialistischen Gesetzgebers sei nicht zu schließen, daß er solche Verhaltensweisen "unter keinen Umständen [!] bestraft wissen will". Einschränkungen der so begründeten Strafbarkeit ergäben sich freilich aus den "besonders gearteten Beziehungen" zwischen Eltern und Kindern. Nicht "jede selbst unbedeutende auf Sinnenlust beruhende oder darauf gerichetete Berührung" sei als Verbrechen zu erfassen; ferner müsse stets, auch bei äußerem Anschein der Wollüstigkeit, "wollüstige", nicht bloß zärtliche Absicht vorliegen. Abschließend wird nochmals auf das gesunde Volksempfinden verwiesen: "Es kommt in jedem Fall entscheidend darauf an, ob die Tat nach gesundem Volksempfinden Strafe verdient"207. Zentrum der Entscheidungsbegründung ist die Strafwürdigkeitsbeurteilung aus gesundem Volksempfinden. Das Strafwürdigkeitsurteil wird allein am Entwurf eines neuen RStGB überprüft, in dem das Reichsgericht die gegenwärtig maßgebliche Strafwürdigkeitsbeurteilung verkörpert sieht, den aktuellen Willen des Gesetzgebers also, der nur vorhanden, nicht gesetzesförmig erklärt sein muß. In der Strafwürdigkeit nach "gesundem Volksempfinden" im Sinne der politisch maßgeblichen Auffassung empfängt Strafe ihren Grund und ihre Grenze. Das Vorgehen dürfte den Vorstellungen entsprechen, die Freisler mit seiner Zentralvor201 202 203 204 205 206 207

Dazu Großmann (1941), S. 90 ff., 138. Dazu [Nr. 17] 4. DR 1942,1759; zu "statischer" und "dynamischer" Betrachtung aaO, 1758. Vgl. Boberach, Richterbriefe (1975), S. XX. RGSt. 76,242,243 (Urt. v. 8.10.1942). Vgl. RGSt. 68,365,366 (Urt. v. 25.10.1934) und Bruns, ZAkDR 1940,181. RGSt. 76,242,245.

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schrift verknüpft hatte208, nur daß in Freislers Modell auch noch der Hinweis auf die "Krücke" des § 2 entfallen wäre. Vom "gesetzlichen Grundgedanken" und von der "Lückenfrage" ist in der Entscheidungsbegründung auch ohne "Zentralvorschrift" nicht mehr die Rede und das ist konsequent: Gesetzlicher Grundgedanke und Lückenfrage treten in ein Ableitungsverhältnis zum "gesunden Volksempfinden". Die Entscheidung ist symptomatisch. Sie steht nicht allein und sie setzt auch nur eine in der Rechtsprechung längst angebahnte Linie fort. Kadeçka hat, in kritischer Absicht, in einer Analyse einschlägiger Entscheidungen den Gerichten bescheinigt, der Grundgedanke erhalte "vielfach die Gestalt, die er haben muß, um die vom Rechtsgefühl geforderte Entscheidung zu treffen"209. Das geschieht freilich, - jedenfalls ab 1942 - keineswegs "unbewußt", wie Kadeçka meint, oder methodisch naiv: Die Strafwürdigkeit nach "gesundem Volksempfinden" wird bewußt zum Angelpunkt gemacht. Diese Grundhaltung kennzeichnet etwa auch das Urteil in RGSt. 76, 165, das ebenfalls § 174 I Nr. 1 betrifft und die Vorschrift über § 2 auf unzüchtige Reden (§ 174: "unzüchtige Handlungen") erstreckt. In der Begründung heißt es nach Verneinung einer unmittelbaren Anwendung des § 174: "Gleichwohl verdient das schamlose und in jeder Beziehung verwerfliche Verhalten des Angeklagten nach gesundem Volksempfinden eine Bestrafung". Und: "Der Tatbestand des § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB ist das Gesetz, dessen Grundgedanke [!] auf die Tat des Angeklagten am besten [!] zutrifft"210. Der Grundgedanke hat hier keine begrenzende Funktion, er dient nur zur Auswahl des auf das strafwürdige Verhalten am ehesten "passenden" Tatbestandes. In einer Entscheidung zum Nebenstrafrecht (Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb) bejaht der erkennende Senat die entsprechende Anwendung der Strafvorschrift, "weil er, zumal in der heutigen Zeit, in der an so vielen Betriebsmitteln Mangel herrscht, einen strafrechtlichen Schutz anständiger Betriebe gegenüber den unlauteren Machenschaften von Mitbewerbern auch insoweit für notwendig erachtet"211. Lückenfrage und gesetzlicher Grundgedanke tauchen nicht auf. Die Beleidigung Gefallener erfaßt RGSt. 77, 53 in entsprechender Anwendung des § 185. Zwar habe der historische Gesetzgeber "den § 185 bewußt auf den Schutz der Ehre Lebender beschränkt", doch habe sich im Krieg "mehr und mehr die Überzeugung befestigt, daß das Andenken derer, die für das Vaterland ihr Leben hingegeben haben, eines weitergehenden Schutzes bedarf. Wer "im Schicksalskampf des deutschen Volkes" gefallen sei, lebe im Andenken fort und könne noch durch Ordensverleihung geehrt werden. Der Gefallene müsse deshalb gegen jede Ehrverletzung geschützt sein, "nicht anders als der Lebende". Die abschließende Begründung aus § 2 ist lapidar: "Das allein wird dem gesunden Volksempfinden gerecht; es entspricht aber weiterhin dem Grundgedanken der Strafgesetze, die dem Schutze der Ehre dienen". Folglich sei § 185 entsprechend anzuwenden212. Eine weitere Entscheidung, die einen Tag später erging, erklärte mit Hinweis auf die Notwendigkeit umfassenden Strafschutzes bei der Beleidigung Gefallener auch einen Strafantrag der Angehörigen für überflüs208 209 210 211 212

Dazu oben 3d. Vgl. ZStW 62 (1942/44), 10. RGSt. 76,165,166 (Urt. v. 18.5.1942). RGSt. 76,108,110 (Urt. v. 13.4.1942). Vgl. RGSt. 77,53,54 f. (Urt. v. 13. 5.1943,2. StS).

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sig und ein Einschreiten von Amts wegen für zulässig213. Beide Entscheidungen erwähnen zwar den "Grundgedanken", leiten ihn aber aus dem Strafbedürfnis ab: "Aus dieser Empfindung heraus entspricht es dem Grundgedanken der §§ 185 flg. StGB., der Ehre des Gefallenen denselben Schutz zuzubilligen wie der eines Lebenden ... . Damit ist natürlich auch das "Lückenproblem" gelöst. Beide Entscheidungen eilen übrigens dem nationalsozialistischen Gesetzgeber voraus, der wenige Tage später eine entsprechende Neuregelung in Kraft setzt215. Auch in weiteren, hier nicht mehr näher darzustellenden Entscheidungen orientiert sich das Reichsgericht ausschließlich an der Strafwürdigkeit nach "gesundem Volksempfinden" 216 . Daneben gibt es freilich nach wie vor eine Rechtsprechungslinie, die mit der Gesetzesanalogie arbeitet, etwa wenn die Schwangerschaft wegen der gemeinsamen "Folge einer erheblichen Behinderung der Beweglichkeit des Körpers", der Krankheit oder Gebrechlichkeit gleichgestellt und § 223b entsprechend angewandt wird217. Solche gesetzesanalogische Verfahrensweisen, die der "einfachen" Auslegung nahestehen, ändern freilich nichts an der Tatsache des Durchbruchs einer an der Strafwürdigkeit orientierten "Rechtsschöpfung durch entsprechende Anwendung der Strafgesetze", wie sie Artikel 1 der materiell-rechtlichen Novelle forderte. c) Hinweise zur Kasuistik In der ersten Zeit nach Inkrafttreten des neuen § 2 RStGB war das Reichsgericht bestrebt, rechtsschöpferischem Übereifer von Instanzgerichten entgegenzuwirken 218 und mußte etwa darauf hinweisen, § 2 gestatte bei unklarer Beweislage kein Abweichen vom Schuldgrundsatz219. Es erging eine große Anzahl von Entscheidungen, die eine entsprechende Gesetzesanwendung ablehnten 220 , was dem Reichsgericht in der Anfangsphase teilweise den Vorwurf allzu großer Zurückhaltung einbrachte 221 . Diesen "Vorwürfen" wurde im Maße des Durchbruchs unmittelbarer Strafwürdigkeitsbetrachtung der Boden entzogen.

213 Vgl. 77,56,58 f. (Beschl. v. 14.5.1943,1. StS). 214 AaO, 58 (Hervorhebung G. W). Vgl. auch noch RGSt. 77, 379 (Urt. v. 31. 3. 1944), wo aus dem Strafbedürfnis heraus bei Beleidigung vermißter Frontsoldaten in entsprechender Anwendung des neuen § 189ΙΠ (Fn. 215) ein Strafantrag für entbehrlich erklärt wird. 215 Vgl. § 1891, ΠΙ RStGB 1943 vgl. [Nr. 49] 10. 216 Vgl. etwa RGSt. 77, 59,61 (Urt. v. 21. 5.1943); 225, 226 (Urt. v. 13. 10.1943). S. auch RGSt. 75, 65, 67 (Urt. v. 17.12.1940) und zum ganzen Kadeçka, ZStW 62 (1942/44), 9 ff. 217 RGSt. 77,68,70 (Urt. v. 25.5.1943). S. etwa auch RGSt. 77,81 (Urt. v. 4.6.1943, verneinend). 218 Dazu Goedel, DJ 1938,587 f., 590 ff. S. auch Schwarz, GS 110 (1938), 369 f.; Kutzner (1939), S. 40 f. 219 Vgl. RGSt. 71,193,195 (Urt. ν. 22.4.1937). 220 Zusammenstellung bei Goedel, DJ 1938,590 ff. 221 Zur Ablehnung einer entsprechenden Anwendung des § 164 auf die Vortäuschung einer Straftat durch das RG - im Gegensatz zu zahlreichen Instanzgerichten - und zur Kritik hieran zusf. Bepler, JW 1938, 1558ff.;Rietzsch, DJ 1943,100 ff.; Olshausenu (1942), § 164 Anm. 2; Streit bereinigt durch § 145d RStGB 1943 vgl. [Nr. 49] 7.

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Die Rechtsprechung war naturgemäß breit gefächert; für die hier nicht mitzuteilenden Einzelheiten ist auf die einschlägigen Rechtsprechungsübersichten zu verweisen222. Hervorzuheben ist, daß über § 2 die Gleichstellung von Partei und Staat durch entsprechende Anwendung einschlägiger Tatbestände verwirklicht wurde, etwa durch die Erstreckung des § 164 (falsche Anschuldigung) auf Parteidienststellen ("Behörde"), parteiinterne Verfahren ("behördliches Verfahren") und Maßnahmen ("behördliche Maßnahmen")223. Einen zahlenmäßigen Schwerpunkt bildeten die Tatbestände des Sexualstrafrechts, wobei ein erheblicher Teil der Entscheidungen eine Tatbestandsausdehnung ablehnte224. Die Kasuistik betraf in weitem Umfang auch das Nebenstrafrecht 225 . Für das Strafgesetzbuch waren periphere Tatbestände wie der beschimpfende Unfug in Leichenhallen226 ebenso betroffen wie erschwerte Diebstahlsfälle227. § 265 wurde auf den "wahren Herrn" einer in Brand gesetzten Sache erstreckt228, § 267 sollte in entsprechender Anwendung ineinander gefügte Schriftstücke als zusammengesetzte Urkunde erfassen229. Einen "unerfreulichen Papierkrieg"230 entfachten im Schrifttum namentlich die Entscheidungen zur Ersatzhehlerei, die unter Festhalten an der Perpetuierungstheorie - und daher mit anfechtbarer Begründung - eine Strafbarkeit bejahten231. Aus dem Kriegsstrafrecht wurden namentlich die Rundfunk-, die Kriegswirtschafts- und die VerbrauchsregelungsstrafVO entsprechend angewandt232, während für die Volksschädlingsverordnung eine Ausdehnung mit Hilfe des § 2 durchaus entbehrlich war. 10. Schlußbetrachtung Das Verhältnis von Führer und Gesetz illustrierten bereits die Lex van der Lübbe und, schärfer, das Staatsnotwehrgesetz: "Lex" schützt nicht vor "Dux", "Lex" ist Instrument des "Dux": Das Gesetz ist Führungsmitte/. Die Beziehung "Dux"/"Judex" kam ebenfalls schon im Staatsnotwehrgesetz zum Ausdruck233. Wer die Aussagekraft jener Gesetze mit dem Hinweis auf ihre Situationsgebundenheit, ihren "Ausnahmecharakter", bezweifeln will, wird durch die Novellen belehrt. Sie ziehen übereinstimmende gesetzliche Folgerungen aus den dort vorausgesetzten Grundverhältnissen für die "Normallage" der gesamten Strafrechtspflege. Sie erfassen das Strafrecht in seinen Grundlagen und in seiner vollen Breite. 222 223 224 225 226 227 228 229 230

Dazu oben Fn. 179. Vgl. etwa RGSt. 71,221; 77,23. Dazu die Übersicht Niethammers bei Olshausena (1942), § 2 Anm. 9, S. 33 f. Vgl. nur aaO, S. 40 ff. RGSt. 71,323. RGSt. 75, 43 (Erbrechen eines Behältnisses unmittelbar nach Verlassen des Gebäudes, § 2431 Nr. 2). RGSt. 75,60. RGSt. 76,79. Kohlrausch, DStR 1939, 125. - Im Hintergrund stand die Frage nach der Wandelbarkeit des gesetzlichen Grundgedankens, vgl. einerseits Kohlrausch, aaO, 122 ff., andererseits Mezger, ZStW 59 (1940), 572 f. und DRWis 1939, 259 ff. 231 Vgl. RGSt. 71,341,342 und 72,146. 232 Näher Mittelbach, DR 1942,418 f., DR 1943, 738 f. 233 Dazu oben [Nrn. 5,14],

Α. Die erste Phase: 1933 bis 1935

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Die veränderten Grundlagen lauten: Dem Gesetzesrecht ist ein "höheres Recht" vorgegeben. Einheitliche "Quelle und Grundlage des Strafrechts wie des Rechts überhaupt" ist ein vorpositives völkisches "Recht" (Wortlaut § 2 RStGB!), das in unterschiedlicher Weise bezeichnet wird234. Wesentlich ist: Es gibt keinen Zwiespalt von völkischer Rechtsordnung und völkischer Sittenordnung. Recht und Sitte sind substantiell bestimmt durch die nationalsozialistische Weltanschauung235: "Die materiellen Inhalte der Gerechtigkeit... sind durch den Nationalsozialismus vorgegeben"236. "Verbrechen" ist der Verstoß gegen eine vorpositive "völkische Rechts- und Friedensordnung"237, materiell rechtswidriges Handeln ist "Handeln gegen die deutsche nationalsozialistische Weltanschauung"238. Das Gesetz erfährt einen notwendigen Funktionswandel: Es wird zum Erkenntnis- und Durchsetzungsmittel vorgegebenen Rechts239. Das Gesetz schützt nicht mehr individuelle Freiheit; seine den staatlichen Zugriff begrenzende Funktion entfällt. Es verwandelt sich von der Magna Charta des Bürgers zur Magna Charta der "Staats-", besser: "Gemeinschaftsinteressen"240. Rechtssicherheit ist nicht mehr Sicherheit des Bürgers ("Volksgenossen") vor dem Recht, sondern Rechtssicherheit ist die Sicherheit der Durchsetzung des vorgegebenen Rechts241. "Nulla poena sine lege" verliert mit der freiheitsschützenden Funktion des Gesetzes seinen historischen Sinn und wird abgelöst vom nationalsozialistischen Gerechtigkeitssatz "nullum crimen sine poena"242. Vor allem aber: Die politische Führung aktualisiert "Recht". "Recht" wird durchgehend in Verbindung mit einem Erkenntnismonopol der politischen Führung gedacht243. Das Gesetz wird zum Transportmittel des Führerbefehls. Die politische Führung bedient sich des Gesetzes, weil und soweit sie auf dieses Steuerungsmittel nicht verzichten will. Die Bindung des Richters an das Gesetz erlangt den Sinn einer Bindung an die politische Führung. Die Auslegung und die Ausfüllung von Ermessensspielräumen hat den Richtlinien der politischen Führung zu folgen, insbesondere die Kundmachungen des Führers werden zu "Wegweisern der Rechtsfindung" (§ 2 I E 1936)244. Die Auffassung der politischen Führung wird zur Richtschnur des völkischen Richters. Das Gesetz nimmt als Transportmittel des Führerwillens, als "Wille und Plan des Führers"245, notwendig Richtliniencharakter an. Das beweist § 2 RStGB n. F., indem er jeden Tatbestand mit einer "Gefahrenzone" umgibt und mit der Strafbarkeitsbegründung aus gesundem Volksempfinden droht. Der Richter wird von den Novellen als "verständnisvoller Verbündeter" des Gesetzgebers, d. h. der politischen Führung, vorausgesetzt. Die "feste Verwurzelung des Richters in der ... 234 235 236 237 238 239 240 241 242 243 244 245

Vgl. 4 und schon 3 bes. c (2. Lesung); zur Theoriediskussion 2a, b. Vgl. 4 bes. Fn. 134 und schon 3 bes. e; zur Theoriediskussion 2a, b. E. Wolf, DRWis 1939,177 (vgl. Fn. 31). Vgl. 4 bei Fn. 131. Mezger, ZStW 55 (1936), 9 (vgl. Fn. 36). Dazu 4; zur Theoriediskussion 2a, d. Dazu 4 bei Fn. 132 ff.; zur Theoriediskussion 2d. Besonders klar Henkel (2d) Fn. 58 f. Dazu 4 bei Fn. 132 f. Dazu 4; zur Theoriediskussion 2c. Dazu 4 bei Fn. 144, 5; aus den Vorarbeiten bes. 3e, zur Theoriediskussion 2d bei Fn. 65 ff., 2e. Carl Schmitt, DJZ1935, Sp. 924 (Fn. 46), näher oben 2c.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

nationalsozialistischen Grundanschauung" bildet die neue Basis der richterlichen Unabhängigkeit. Diesem Richtertyp gilt der von Artikel 2 der Verfahrensnovelle erteilte Umwandlungsauftrag246. Carl Schmitt faßt 1935 zusammen: Die Novellen sind "Gesetze, die sich zwar äußerlich als bloße 'Änderungen' geben, in der Sache aber das geänderte Gesetz im Ganzen umwandeln, indem sie tragende Bestimmungen des alten Gesetzes durch neue ersetzen ... Sie schaffen kein neues Strafgesetzbuch, wohl aber ein neues Strafrecht, indem sie das Analogieverbot aufheben, durch ein Analogiegebot ersetzen und eine rechtsschöpferische Mitarbeit des Richters erwarten ... Auch die mit unverändertem Wortlaut weiter geführten Regelungen stehen jetzt auf einer anderen Grundlage und in einem anderen juristischen Gesamtrahmen und erhalten dadurch einen neuen Inhalt"247. Die Novellen wollen den Richter "in Marsch" setzen "zu neuen Ufern" und sie eröffnen ihm die Möglichkeit, das noch belastende "Gepäck des alten Gesetzes"248 bei Bedarf abzuwerfen. Soweit zur Prograirimatik der Novellen vom 28. Juni 1935. Über die tatsächlichen Fernwirkungen der Novellen in der richterlichen Praxis ist hier nicht zu befinden. Eine Beurteilung setzt Bereichsanalysen voraus, die teilweise in dieser Arbeit noch erfolgen und auf die zu ver• . JjtQ weisen ist . Die Anwendung des § 2 leistete zur Ausweitung der Strafbarkeitsvoraussetzungen im ganzen - gemessen etwa am Kriegsstrafrecht - sicher nur einen vergleichsweise bescheidenen Beitrag. Das Ziel der Vorschrift wurde damit aber nicht verfehlt: Eine Breitenwirkung im gesamten Strafrecht wurde erreicht, wie die reichhaltige Kasuistik beweist. Mit der unmittelbaren Orientierung am Strafbedürfnis aber war der Durchbruch der völkischen "materiellen Gerechtigkeit" endgültig vollzogen250.

246 Vgl. 5; zur Theoriediskussion 2d. 247 DJZ 1935, Sp. 923., Hervorhebung aaO. Dieser scharfsichtige und überaus erhellende Beitrag wurde bislang kaum beachtet. Zum Mechanismus namentlich auch Rüthers (1968), zusf. S. 436 f: "Wenn an mehreren Stellen der positiven Rechtsordnung grundsätzlich neue Wertmaßstäbe und Gerechtigkeitsvorstellungen normiert werden, ist das Wertungsgefüge der Gesamtordnung verändert... Ist die Änderung einschneidend, betrifft sie leitende Wertideen und Grundsätze, so kann sich der materielle Gehalt ganzer Normenkomplexe, sogar einer ganzen Privatrechtsordnung ändern". 248 Vgl. Boldt, Richterliche Rechtsschöpfung (1939), S. 87. 249 Vgl. schon [Nr. 13] 5b und namentlich [Nr. 28] zusf. 3, [Nr. 29] zusf. 10, [Nr. 39] bes. 2e, [Nr. 40] zusf. 6a. 250 Dazu 9.

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Α. Die erste Phase: 1933 bis 1935

[Nr. 17] Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre vom 15. September 1935 (Blutschutzgesetz) 1. Einfuhrung "Die Lösung der Judenfrage ist eine der Grundvoraussetzungen für den Bestand des neuen Reiches". So lautet, stellvertretend für zahllose andere Äußerungen, der einleitende Satz der Kommentierung des Blutschutzgesetzes bei Lösener in der Sammlung von Pfundtner/Neubert1. Die "kompromißlose Dissimilation"2 der Juden setzte unmittelbar nach der Machtergreifung ein. Vielfältige einzelne Diskriminierungsgesetze zielten auf Absonderung und Aussonderung der Juden. Auf dieser Grundlage entwickelt sich ab 1933 ein "Judenstrafrecht": Es entsteht überwiegend akzessorisch durch die Strafbewehrung bestimmter sonderrechtlicher Verbote. Hierauf wird vom Endpunkt der Entwicklung her noch einzugehen sein3. Eine markante Zäsur in der Judengesetzgebung des Dritten Reiches bilden die sog. Nürnberger Gesetze. Sie versuchen, "allgemein und grundsätzlich" die Trennung von Deutschen und Juden zu vollziehen4. Das Reichsbürgergesetz und das Blutschutzgesetz wurden am 15. September 1935 auf dem "Reichsparteitag der Freiheit" vom Reichstag, den Hitler zum Tagungsort des Reichsparteitags nach Nürnberg einberufen hatte, einstimmig verabschiedet5. Diese beiden Gesetze bildeten den Kern der nationalsozialistischen Rassengesetzgebung. Das "Reichsbürgergesetz" unterschied in § 2 entsprechend den in "Mein Kampf' geäußerten Vorstellungen Hitlers zwischen deutschen Staatsangehörigen und Reichsbürgern6. Reichsbürger und damit 'Träger der vollen politischen Rechte" (§ 2 III) konnten nur "Staatsangehörige deutschen oder artverwandten Blutes" sein (§ 2 I). Von zentraler Bedeutung für das Strafrecht war das Blutschutzgesetz. Die Verbote der Ehe (§ 1) sowie des außerehelichen Geschlechtsverkehrs (§ 2) zwischen Deutschen und Juden dienten unmittelbar dem Schutz vor "Rassenvermischung". Die gesetzlich vorgesehene Zuchthausstrafe (§ 5 I, II) drohte Deutschen wie Juden. Das Blutschutzgesetz gilt in der Nachkriegsliteratur als herausragendes Beispiel naturrechtswidriger Gesetzgebung7. Die Rechtsstaatswidrigkeit des Gesetzes ist evident und bedarf keiner näheren Begründung. Stellvertretend für viele andere Autoren sei Eberhard Schmidt zitiert, der das Blutschutzgesetz als "das traurige Produkt einer ethisch völlig entseelten Rassentheorie" gebrandmarkt hat, das einen "noch heute brennenden Schlag ins Antlitz der deut-

1 2 3 4

I a 24, S. 1. Lösener, aaO. Dazu [Nr. 50], Vgl. Ffiindtner/Neubert/Lösener

5

RGBl. I, S. 1146 f. Es handelte sich um ein Initiativgesetz des Reichstags, vgl. Lösener, aaO, S. 2. Das Blutschutzges. zeichnen: FuRk Adolf Hitler, RMdl Frick, RMdJ Dr. Gürtner, StVdF R. Heß, Minister ohne Geschäftsbereich. - Bis 1935 konnten sich die beteiligten Ministerien und Parteistellen über den Inhalt einer strafrechtlichen Regelung nicht einigen. Das Blutschutzges. kam aufgrund einer von Hitler während des Reichsparteitags ergriffenen Initiative im Eilverfahren zustande. Zur Entstehungsgeschichte eingehend Gruchmann, VjZ 1983,418 ff., 431 f. Hitler, Mein Kampf, Teil II, Kap. 3 "Staatsangehöriger und Staatsbürger", S. 488 ff. Dazu 1. Teil A 1 2 a bei Fn. 12.

6 7

(1933 ff.), I a 24, S. 1.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

sehen Ehre" darstelle8. In der zeitgenössischen juristischen Literatur wurde diese natur- und rechtsstaatswidrige Rassengesetzgebung als "Ausgangspunkt des gesamten deutschen Rechts" angesehen9. "Volk und Rasse" sollten den Grundbegriff der nationalsozialistischen Verfassung10, die Rassengesetze die "Grundgesetze" des neuen Staates bilden und an die Stelle der bisherigen Gleichheit aller Staatsangehörigen "die grundlegende Erkenntnis von der Ungleichheit der Menschenrassen setzen"11. Nach Carl Schmitt konnte ohne den Gedanken der Rasse, den "Grundsatz der Artgleichheit der nationalsozialistische Staat nicht bestehen ... wäre sein Rechtsleben nicht denkbar"12. Das "Blutschutzrecht des deutschen Volkes" wurde als der "Kern seines Grundrechtes" bezeichnet13. Für das Reichsgericht war das Blutschutzgesetz "eines der Grundgesetze des nationalsozialistischen Staates"14; in zahlreichen Begründungen erstinstanzlicher strafrechtlicher Entscheidungen wurde dementsprechend bei Verurteilungen wegen Rassenschande die Formel gebraucht, der Verurteilte habe gegen "ein Grundgesetz des Deutschen Volkes" verstoßen15. Dieser "grundgesetzliche" Charakter wurde dem Blutschutzgesetz in der zeitgenössischen Literatur oder Rechtsprechung nicht von ungefähr beigelegt. Der Vorspruch zum Blutschutzgesetz brachte die grundlegende Bedeutung der "Blutsreinheit" für den nationalsozialistischen Staat unmißverständlich zum Ausdruck, wenn es dort hieß: "Durchdrungen von der Erkenntnis, daß die Reinheit des deutschen Blutes die Voraussetzung für den Fortbestand des Deutschen Volkes ist, und beseelt von dem unbeugsamen Willen, die Deutsche Nation für alle Zukunft zu sichern, hat der Reichstag einstimmig das folgende Gesetz beschlossen ,.."16.

Dieser Vorspruch hatte nach zeitgenössischer Auffassung eine das gesamte Blutschutzgesetz übergreifende Bedeutung. Die Präambel wurde in Verbindung mit dem Gesetzestitel als "Richtschnur für die Auslegung der einzelnen Vorschriften" angesehen, weil sie "programmatisch Sinn und Ziel des Gesetzes" aufzeige17. Der im Vorspruch und im Titel ausgedrückte 8 9 10 11 12

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Strafrechtspflege (1965), S. 434. Deisz, Recht der Rasse (1938), S. 12. Vgl. Stuckart/Globke (1936), S. 1 ff., 12 f.; s. auch Dohm, Deutsches Recht (1944), S. 205 ff. und oben [Nr. 13] 5a bei Fn. 184. Vgl. Lösener/Knost1 (1936), S. 1, 18. Vgl. auch Begr. E 1936, S. 101, die von "den Nürnberger Grundgesetzen" spricht. Staat, Bewegung, Volk (1933), S. 42. Nach Walz (1938) bildete die Reinhaltung der Art den obersten rechtlichen Grundsatz (S. 35), diente das Strafrecht allein der Sicherung und Erhaltung der Art (S. 43). S. auch Hube? (1939), S. 150 ff., 153. Vgl. auch die Darstellung bei Hill, Gleichheit und Artgleichheit (1966), S. 244 ff., 263 ff. Vgl. Freister, DStR 1936, 389. RG-GS-St. 72,91,96 (Beschl. v. 23.2.1938). Vgl. Robinsohn (1977), S. 143 für die Rassenschanderechtsprechung des LG Hamburg. Die Nachw. aus der Literatur verdeutlichen, daß die Rspr. die Figur eines "Grundgesetzes des Deutschen Volkes" wohl kaum erfunden haben dürfte, wie Robinsohn wohl annimmt, wenn er gerade im Hinblick auf den Gebrauch dieser Formel der zuständigen Kammer des LG Hamburg bescheinigt: "Allein schon damit identifizierte sich die Kammer mit der nationalsozialistischen 'Weltanschauung', denn das Wort 'Grundgesetz' war bis dahin kein juristischer Begriff, weder in strafrechtlicher noch in staatsrechtlicher Bedeutung" (Hervorhebung G. W.). RGBl. 19351, S. 1146. Lösener/Knosf (1942), S. 126 Anm. 3.

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Α. Die erste Phase: 1933 bis 1935

Gesetzeszweck, das "deutsche Blut" und die "deutsche Ehre" zu sichern, spielte deshalb für die praktische Handhabung des Blutschutzgesetzes eine erhebliche Rolle und lieferte namentlich bei Sachverhalten, deren Strafbarkeit nach dem Gesetzeswortlaut zweifelhaft oder ausgeschlossen war, ein zentrales Begründungselement zur Ausdehnung der Verbotszonen. Das gilt sowohl hinsichtlich spezieller Merkmale, wie ζ. B. des außerehelichen Verkehrs bzw. Geschlechtsverkehrs (§ 2)18, wie auch für die Anwendung von Vorschriften des Allgemeinen Teils des Strafrechts19. Gesetzestechnisch ist außer der Verwendung des Vorspruchs auch die Ergänzung des Blutschutzgesetzes durch die "Ausführungsverordnung" vom 14. November 193520 bemerkenswert, die trotz ihrer Bezeichnung nicht lediglich Ausführungsvorschriften im Sinne von Präzisierungen, sondern auch Erweiterungen wie Einschränkungen des Blutschutzgesetzes enthielt21. Das Blutschutzgesetz bildete deshalb mit der ausführenden Verordnung eine Einheit mit den entsprechenden dogmatischen Konsequenzen, etwa für die Behandlung von Irrtumsfragen22. Die besondere Bedeutung der 1. Ausführungsverordnung ist auch daraus ersichtlich, daß sie in gleicher Weise wie das Blutschutzgesetz selbst gezeichnet war23. 2. Der Begriff "Jude" Angelpunkt des Blutschutzgesetzes wie der gesamten antijüdischen Rassengesetzgebung war der Begriff "Jude". Im Blutschutzgesetz selbst wurden den "Juden" die Staatsangehörigen "deutschen oder artverwandten Blutes" gegenübergestellt (§§ 1 - 3); das Gesetz traf damit eine "rassenbiologische" Unterscheidung. Es bedurfte freilich zu seiner praktischen Handhabung einer näheren Definition: Eine unmittelbare "rassenbiologische" Einordnung durch die anwendungszuständigen Instanzen war freilich offenkundig ausgeschlossen, eine "klare Begriffsbestimmung"24 anhand tatsächlich feststellbarer Merkmale daher unerläßlich. Eine solche Begriffsbestimmung, die alle vorangegangenen Definitionen ablöste, traf die 1. Verordnung zum Reichsbürgergesetz, auf welche die erwähnte 1. Ausführungsverordnung zum Blutschutzgesetz verwies25.

18 19 20 21 22 23

24 25

Dazu sogleich unten 4. Auf den Gesetzeszweck berufen sich in diesem Zusammenhang u. a. RG-GSSt. 75,375, 376 f.; RG JW 1937,178111,178313, 237123; RG HRR 1940, Nr. 475. Für den Versuchsbeginn vgl. u. a. RGSt. 71, 4, 6; 73, 76, 78; für die Strafbarkeit von Auslandstaten RG-GS-St. 72,91,96; RGSt. 72,171; RG DJ 1940,486. Näher dazu unten 4. RGBl. I, S. 1334. Kohlrausch /Lange3* (1943), S. 757 Anm. 3; vgl. auch Maßfeiler, JW 1935, 3421; Kuhn, DJ 1936,1004 sowie den nachstehenden Text. Vgl. die Darstellung bei Fenigstein-Sigg (1949), S. 56; ferner Schwarz9 (1940), S. 604 Anm. 4B mit Nachw. Vgl. Fn. 5 und RGBl. I, S. 1334. Die Gleichrangigkeit von Blutschutzges. und 1. AVO wird ζ. B. auch daran deutlich, daß die AVO die Bewilligung von Ausnahmen von den Bestimmungen des Blutschutzges. durch den Führer und Reichskanzler vorsah (§ 161). Vgl. PJundtner/Neubert/Hoffmann, Ia 23, S. 2. Vgl. dazu auch Majer, Fremdvölkische (1981), S. 202 mwN. Vgl. § 1 AVO zum Blutschutzges. (Fn. 20) i. V. m. 1. VO zum RBG v. 14.11.1935, RGBl. I, S. 1333.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

Die "rassische Einordnung" als jüdisch oder deutschblütig erfolgte grundsätzlich nach den Großeltern. Ein nach nationalsozialistischen Rassevorstellungen an sich konsequentes Zurückgehen auf frühere Generationen wurde mit Rücksicht auf die damit regelmäßig verbundenen schwierigen Feststellungen vermieden. Die "in dieser Lösung liegenden Nachteile" glaubte man in Kauf nehmen zu müssen, "um eine praktische, schnelle und sichere Handhabung der Vorschriften" zu ermöglichen26. Als Jude wurde jeder angesehen ("Jude ist"), der von mindestens "drei der Rasse nach volljüdischen Großelternteilen abstammte"27. Die "rassische Einordnung" der Großeltern wiederum erfolgte nach einer unwiderleglichen gesetzlichen Vermutung28, derzufolge ein Großelternteil "ohne weiteres" als "volljüdisch" galt, "wenn er der jüdischen Religionsgemeinschaft angehört hat"29. Diese Regelung diente der "klaren und einwandfreien Scheidung"30 von Juden und Deutschblütigen, nachdem bis dahin unterschiedliche Anforderungen an die "Blutsreinheit" gestellt worden waren31. Zugleich sollte der Praxis die ansonsten unvermeidliche Prüfung der "Rasse der Urgroßeltern" oder "von noch ferneren Generationen" erspart bleiben und auch "den vielen erdichteten oder kaum jemals nachprüfbaren Behauptungen von Abstammungsprüflingen" vorgebeugt werden, ein Großelternteil sei zwar jüdischer Religion, nicht aber jüdischen Blutes gewesen32. Zu den Kriterien für die Zugehörigkeit zur jüdischen Religionsgemeinschaft zählten namentlich die Aufnahme unter den üblichen rituellen Zeremonien, die Führung in der Liste der jüdischen Synagogengemeinde oder die Zahlung von jüdischen Kultussteuern33. Als Juden konnten aber auch "jüdische Mischlinge", d. h. "von einem oder zwei der Rasse nach volljüdischen Großelternteilen" abstammende Deutsche oder Ausländer angesehen werden34, wenn zusätzliche Voraussetzungen erfüllt waren. § 5 II der 1. Verordnung zum Reichsbürgergesetz bestimmte, daß als Jude "galt", wer beim Erlaß des Reichsbürgergesetzes oder später entweder der jüdischen Religionsgemeinschaft angehörte (Buchst, a) oder mit einem Juden verheiratet war (Buchst, b) oder aus einer nach Inkrafttreten des Blutschutzgesetzes geschlossenen Ehe mit einem Juden im Sinne des § 5 II der Verordnung geschlossenen Ehe (Buchst, c) oder aus dem außerehelichen Verkehr mit einem solchen Juden stammte und nach dem 31. Juli 1936 außerehelich geboren wurde (Buchst, d). Diese Personengruppe wurde nicht mehr den "jüdischen Mischlingen" zugerechnet, die grundsätzlich als Reichsbürger galten35, sondern, so der Sprachgebrauch, als "Geltungsjuden" den "Volljuden" und "Drei-

26 27 28 29 30 31 32 33 34 35

So Stuckart/Globke (1936), S. 63 Anm. 6; vgl. ferner Lösener/Knost (1942), S. 51 f. Anm. 4f.; Deisz (1938), S. 53 f. Vgl. § 1 III 1. AVO zum Blutschutzges. (Fn. 20) i. V. m. § 5 1 1 . VO zum RBG (Fn. 23). Vgl. Pfundtner/Neubert/Hoffmann, Ia 23, S. 8 Anm. 4; Stuckart/Globke (1936), S. 64. § 1 III 1. AVO zum Blutschutzges. (Fn. 20) i. V. m. §§ 5 1 S . 2 , 2 II S. 2 der 1. VO zum RBG (Fn. 23). Vgl. H. Becker, Die Rassenschande (1937), S. 44. Vgl. z. B. Lösener/Knost1 (1936), S. 19 ff. Lösener/Knos? (1942), S. 52 Anm. 5. Vgl. auch Pfundtner/Neubert/Hoffmann, Ia 23, S. 8 Anm. 4; Stuckart/Globke (1936), S. 64. Stuckart/Globke (1936), S. 64; Kohlrausch/Lange3* (1943), S. 759 Anm. 1 mit Nachw. zur Rspr. Vgl. § 2 II 1. VO zum RBG (Fn. 23). Vgl. § 2 1 i. V. m. 11 der 1. VO zum RBG (Fn. 23).

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Α. Die erste Phase: 1933 bis 1935

viertelnden" 36 mit den entsprechenden Konsequenzen für die Anwendbarkeit des Blutschutzgesetzes gleichgestellt. Von sämtlichen Vorschriften der 1. Verordnung zum Reichsbürgergesetz konnte der Führer und Reichskanzler "Befreiungen" erteilen37, d. h. er konnte die "rassische Einordnung" und damit die Tatbestandsmäßigkeit nach dem Blutschutzgesetz modifizieren; ebenso konnte der Führer und Reichskanzler Befreiungen von den Vorschriften des Blutschutzgesetzes und der Ausführungsverordnungen erteilen38. 3. Das Eheverbot § 1 des Blutschutzgesetzes verbot Ehen zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes und erklärte trotzdem geschlossene Ehen für nichtig (§ 1 I), und zwar auch dann, wenn sie zur Umgehung des Gesetzes im Ausland geschlossen waren ( § 1 1 S. 2). Der Verstoß gegen § 1 war mit Zuchthausstrafe bis zu 15 Jahren bedroht. Den Anwendungsbereich des Eheverbots nach § 1 Blutschutzgesetz erweiterte § 2 der 1. Ausführungsverordnung zum Blutschutzgesetz39 auf Eheschließungen zwischen Juden und jüdischen Mischlingen mit nur einem volljüdischen Großelternteil. Im übrigen bedurften Ehen "jüdischer Mischlinge" "ersten" und "zweiten Grades"40, der Genehmigung, doch war die Zuwiderhandlung gegen das Genehmigungserfordernis nicht strafbar 41 . In der strafrechtlichen Praxis spielte der Verstoß gegen § 1 I S. 1 Blutschutzgesetz, soweit ersichtlich, keine maßgebliche Rolle42, was sich schon aus der Prüfung der Ehehindernisse durch die zuständigen Standesbeamten erklärt43. Eine gewisse Bedeutung hatte die Eheschließung im Ausland zum Zwecke der Umgehung des Blutschutzgesetzes (§ 11 S. 2)44. Die

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Vgl. die charakteristische Terminologie bei Pfundtner/Neubert /Hoffmann, Ia 23 Anm. 4. Zum Begriff "Jude" zusf. Fenigstein-Sigg (1949), S. 33 ff.; Lösener/Knosr5 (1942), S. 58 ff.; Stuckart/Globke (1936), S. 73 ff.; Majer (1981), S. 202 ff. Vgl. § 7 der 1. VO zum RBG (Fn. 23).

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Vgl. § 16 11. AVO zum Blutschutzges. (Fn. 20). Näher zu den Ausnahmeregelungen und ihren Begründungen sowie zum Verfahren H. Becker, Die Rassenschande (1937), S. 19 f. Fn. 20. Bei zwei volljüdischen Großelternteilen lautete die amtliche Sprachregelung "Mischlinge ersten Grades", bei einem volljüdischen Großelternteil "Mischlinge zweiten Grades", vgl. RE des RuPrMdl v. 23.12.1935, MBliV 1936, S. 11 bei Pfundtner-Neubert 124 (Erg. der 1. AVO zum Blutschutzges.). Vgl. §§ 3 I, 8 II 1. AVO zum Blutschutzges. (Fn. 20). Bei der Erteilung der Genehmigung waren nicht-biologische Momente wie die "seelischen und charakterlichen Eigenschaften" des Antragstellers oder "seine oder seines Vaters Teilnahme am Weltkrieg und seine sonstige Familiengeschichte" zu berücksichtigen, vgl. § 3 II AVO. Diese nicht-biologischen Elemente bildeten Indizien für das "Überwiegen rassischer Eigenschaften nach der einen oder anderen Seite", vgl. Kohlrausch /Lange3* (1943), S. 757 f.; vgl. auch § 4 AVO. Die Verstöße gegen §§ 4, 6 AVO wurden nicht nach dem Blutschutzges. geahndet (§ 8 II). Zum System zulässiger und unzulässiger Ehen vgl. den Überblick bei Lösener/Knos? (1942), S. 129 f.; Maßfeiler, JW1935,3418 ff.; Stuckart/Globke (1936), S. 99 f.

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Leppin, JW 1937, 3076: bis 1937 kein einziger Fall bekannt; vgl. auch Freister, DStR 1936,386. Vgl. Freister, aaO; Stuckart/Globke (1936), S. 100 Anm. 7; Kuhn, DJ 1936,1004. Vgl. RGSt. 73,142,143; 74,397.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

Strafbarkeit dieser sog. Umgehungsehe 45 war insofern zweifelhaft, als § 5 II sich nach seinem Wortlaut lediglich auf die nach § 1 "verbotene" Eheschließung bezog und nach § 11 S. 2 nach seinem Wortlaut nur die (zivilrechtliche) Nichtigkeitsfolge der Umgehungsehe aussprach 46 . In der Praxis bestand indes über die Strafbarkeit der Umgehungsehe völlige Einigkeit47. Umgehungsa/wicAf nahm das Reichsgericht an, wenn es dem Brautpaar darum ging, eine Bestrafung im Inland zu vermeiden 48 , ein strafbarer Versuch wurde bejaht, wenn das Brautpaar eine "Reise ins Ausland zum Abschluß einer rassenschänderischen Ehe" unternahm 49 . 4. Der "rassenschänderische" außereheliche Verkehr Das praktisch bedeutsamste Delikt des Blutschutzgesetzes war der sog. rassenschänderische außereheliche Verkehr 50 . Nach § 2 war außerehelicher Verkehr zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes" verboten. Der Mann, der gegen dieses Verbot verstieß, war nach § 5 II mit Gefängnis oder Zuchthaus bis zu fünfzehn Jahren zu bestrafen 51 . § 11 der 1. Ausführungsverordnung zum Blutschutzgesetz erstreckte den Tatbestand auf den Verkehr zwischen Juden und "Staatsangehörigen jüdischen Mischlingen" mit nur einem "volljüdischen Großelternteil", die insoweit Staatsangehörigen deutschen Blutes gleichgestellt wurden 52 . Für die Strafbarkeit waren ausschließlich die "rassischen Voraussetzungen" der Beteiligten entscheidend 53 . Unter dem Gesichtspunkt des mit dem Gesetz bezweckten "gesamtvölkischen Blut- und Ehrenschutzes" 54 spielte namentlich die konkrete Schutzwürdigkeit der beteiligten Frau keine Rolle. Ein "Angriff auf das deutsche Blut und die deutsche Ehre" konnte deshalb auch dann vorliegen, wenn die deutschblütige Staatsangehörige "selbst unwürdig, artvergessen"55 oder durch die Ehe mit einem anderen jüdischen Mann "entehrt" war 56 oder wenn es 45 46 47

Zum Ausdruck Kohlrausch /Lange3* (1943), S. 761. Vgl. aaO mit Nachw. und Kohlrausch, ZAkDR 1941,186 f. Vgl. RGSt. 73, 142, 143; 74, 197 jeweils ohne nähere Begr. Vgl. auch die RV des RJM v. 2. 4. 1936, die weitergehend bei Umgehungsabsicht auch Auslandstaten nach § 2 Blutschutzges. für strafbar hielt, obwohl dort eine dem § 1 I S. 2 entspr. Bestimmung fehlte; Stuckart/Globke (1936), S. 121; Lösener/Knos? (1943), S. 143, Anm. 2 zu § 5. Krit., im Ergebnis aber zust. Kohlrausch /Lange3* (1943), S. 761 (Lange); für Straflosigkeit aber Kohlrausch, ZAkDR 1941,185 ff.

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RGSt. 74, 397, 398; krit. Kohlrausch/Lange3* (1943), S. 760 Anm. 6. Zur Umgehung und Umgehungsabsicht v. Weber, GS 114 (1940), 267 ff., 274 f. RGSt. 73,142 f. - Vgl. auch Fn. 96. Vgl. die Ausdrucksweise bei Freister, DStR 1936, 386. Bis November 1936 betrafen die (insgesamt 299) rechtskräftigen Urteile wegen Verstößen gegen das Blutschutzges. ausschließlich die §§ 2, 5 II vgl. Freister, DStR 1936, 392. Nach den Angaben von Kuhn, DJ 1936, 1005 (Juli 1936) waren von den verurteilten Angeklagten 17,8 % "deutschblütig" und 82,2 % Juden. Den Sinn dieser gesetzestechnischen Trennung von Verbots- und Strafnorm sahen Kohlrausch/Lange3* (1943), S. 757 Anm. 1 in der sichtbaren Aufstellung eines neuen Rechtswerts. Vgl. auch § 2 1. AVO, der § 1 Blutschutzges. erweiterte. Vgl. Leppin, JW 1937,3077 f. mit Nachw.; Kuhn, DJ 1936,1008. Kohlrausch/Lange3* (1943), S. 763 Anm. 1. RGSt. 71,4,5. RG DJ 1936,517.

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Α. Die erste Phase: 1933 bis 1935

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sich um eine Dirne handelte57. Auch wenn "der früher mit einer deutschblütigen Frau verehelichte Jude nach der Scheidung die geschlechtlichen Beziehungen zu ihr wieder aufnahm", bejahte das Reichsgericht einen Angriff auf die "Rassenehre des deutschen Volkes", und zwar unabhängig davon, ob eine Wiederverheiratung beabsichtigt war und Aussichten auf die Erlangung einer Befreiung von den Vorschriften des Blutschutzgesetzes bestand58. Der Begriff des "außerehelichen Verkehrs", den § 11 der 1. Ausführungsverordnung zum Blutschutzgesetz näher als "Geschlechtsverkehr" bestimmte, war in Rechtsprechung und Schrifttum zunächst stark umstritten. Die engste Auffassung verstand hierunter nur den Beischlaf als solchenS9, eine weiteste jede geschlechtliche Betätigung60, eine Mittelmeinung bezog "beischlafähnliche Handlungen, ζ. B. gegenseitige Onanie"61 ein62. Der Große Senat des Reichsgerichts lehnte in seiner grundlegenden Entscheidung vom 9. Dezember 1936 eine Gleichsetzung mit unzüchtigen Handlungen, aber auch eine Beschränkung auf den Beischlaf ab. Maßgeblich stützte sich die Entscheidung auf den mit dem Blutschutzgesetz verfolgten doppelten Zweck des "Schutzes des deutschen Blutes und der deutschen Ehre". Dies erfordere, neben dem Beischlaf "auch solche geschlechtlichen Betätigungen - Handlungen und Duldungen -" zu erfassen, "durch die der eine Teil seinen Geschlechtstrieb auf einem anderen Weg als durch Vollziehung des Beischlafs befriedigen will"63. Damit wurde jede auf die Befriedigung des Geschlechtstriebs mindestens eines Teils zielende Handlung erfaßt, so daß RGSt. 71, 7 f. auf der Grundlage der Entscheidung des Großen Senats das Erfordernis einer "beischlafähnlichen Handlung" verwarf. Nach dieser Rechtsprechung konnte auch eine Handlung, die sich in ihrem äußeren Erscheinungsbild als Versuchs- oder Vorbereitungshandlung gegenüber dem Beischlaf darstellte, als vollendete Rassenschande gewertet werden, wenn der Täter schon durch die Handlung eine sexuelle Befriedigung erstrebte. Eine genaue Begrenzung der Tatbestandshandlung der Rassenschande, namentlich auch eine exakte Scheidung von Vollendung und Versuch, war auf dieser Basis nicht möglich64. So kam nach RG HRR 1939 Nr. 1326 vollendete (!) Rassenschande schon dann in Betracht, wenn eine Prostituierte sich vor dem Mann entkleidete, und "unter Hin- und Herbiegen ihres Körpers"

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RG HRR 1940, Nr. 1326.

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RG JW 1937,1781 11 ; vgl. § 16 der 1. AVO zum Blutschutzges. (Fn. 20). Vgl. Lösener/Knost1 (1936), S. 53: "coniunctio membrorum"; LG Nürnberg-Fürth, JW 1936,1397. Vgl. H. Becker, Die Rassenschande (1937), S. 23 mit Nachw. S. 23 f. Vgl. auch LG Augsburg, JW 1936,750 35 . Stuckart/Globke (1936), S. 112.

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Zusf. H. Becker, Die Rassenschande (1937), S. 21 ff. mit Nachw.; Fenigstein-Sigg (1949), S. 52 ff.; Gruchmann, VjZ 1983,435 f.; Kau! (1971), S. 13; Lengemann (1974), S. 78 ff.; Leppin, JW 1937, 3078 jeweils mit Nachw. - H. Becker, aaO, S. 24, bewertet die einzelnen Meinungen am Maßstab der nationalsozialistischen Weltanschauung und räumt ein, diesem Maßstab entspreche die weite Auslegung zwar auch nicht vollständig, aber am ehesten. Offenbar sei aber eine "sukzessive" Lösung des Judenproblems beabsichtigt und es sollten zunächst nur die gröbsten Verstöße verfolgt werden, um später "einem verfeinerten rassischen Empfinden Platz zu machen". - Zum E 1936 unten 7.

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RG-GS-St. 70, 375, 376 f. Die Rspr. ist beschämend genug, wählte freilich nicht "die extremste damals vertretene Position", so aber I. Müller (1987), S. 108. Vgl. Kohlrausch/Lange3* (1943), S. 763 f.

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vor ihm auf- und abging65. Im Ergebnis wurden danach einverständliche sexuelle Kontakte in einem weiten Umfang erfaßt66; ausgeschieden wurden lediglich Liebeswerbungen wie Küsse 67 , Umarmungen 68 oder Spaziergänge 69 . Versuch sollte nach der Rechtsprechung des Reichsgerichts bei einer Handlung vorliegen, die wegen ihrer unmittelbaren Zusammengehörigkeit mit einer geschlechtlichen Handlung im Sinne des § 2 Blutschutzgesetz nach natürlicher Auffassung als deren Bestandteil erschien 70 . Die Grundlage der Beurteilung bildete der Täterplan, auf dessen Basis die objektive oder wenigstens nach dem Täterplan gegebene unmittelbare Rechtsgutsgefährdung zu beurteilen war71. Entscheidend wurde damit neben dem Täterplan der Bezug zu den Rechtsgütern der "Rassenreinheit und Rassenehre des deutschen Volkes"72, d. h. zu den in der Präambel näher erläuterten Zwecken des Gesetzes. Es verwundert angesichts dieser besonderen Zwecksetzungen nicht, daß ihre Heranziehung, die schon den Begriff der vollendeten Tat ausweitete, auch zu einer starken Ausdehnung der Versuchsstrafbarkeit und einer Zurückdrängung des Bereichs strafloser Vorbereitungshandlungen führte 73 . Im einzelnen wurden das Auskleiden im Schlafzimmer 74 , der Austausch von Zärtlichkeiten während der Autofahrt zum Hotelzimmer 75 , die Duldung von Umarmungen 76 , der durch Drohung, eine Scheibe einzuschlagen, begangene Versuch, in die Wohnung der Frau einzudringen 77 sowie die mündliche Aufforderung zum alsbaldigen Geschlechtsverkehr 78 erfaßt.

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Charakteristisch RG HRR 1940, Nr. 272, wonach versuchte oder vollendete (!) Rassenschande vorliegen konnte, wenn ein impotenter Mann, "steif wie ein Stock" im Bett liegend, Umarmungen duldete. Charakteristisch auch RG HRR 1938, Nr. 267. Zur Rspr. vgl. auch/. Müller, aaO, S. 108 ff. Vgl. u. a. RG JW 1937, 178313 und 237123 (jede Art Beischlafersatz); JW 1937, 133844 (gegenseitige Onanie); RG JW 1937, 942" (Duldung als geschlechtliche Betätigung); RG 5 D 891/36 v. 7.1. 1937 bei Leppin, JW 1937, 3079 (Lecken am Geschlechtsteil); RG 4 D 584/36 v. 26. 1 1937, aaO (jeder widernatürliche Verkehr). RG 1 D 373/36 v. 15. 1. 1937 bei Leppin JW 1937, 3078 (insoweit in JW 1937, 753 u nicht abgedruckt); RG JW 1938,233915. OLG Dresden, JW 1937, 18455. RG JW 1938, 233915 mit zust. Anm. Leppin. RGSt. 73, 76,77 in Anlehnung an die Franksche Formel, vgl. Frank™ (1931), § 43 Anm. II 2b, der sich das RG schon 1917 angeschlossen hatte, vgl. RGSt 51, 342. S. ferner RGSt. 71, 4, 6; RG JW 1938, 2 3 3 9 V g l . dazu I. Müller (1987), S. 117 ff. RGSt. 71,4,6. Deutlich ζ. B. RGSt. 71, 4,6; 73, 76, 78; RG JW 1937,2371. Vgl. zur Berufung auf die Zwecke des Blutschutzges. bei der Frage des Versuchsbeginns RGSt. 71,4; 73, 76; RG HRR 1940, Nr. 475. Zur Bewertung der Judikatur Lengemann (1974): Wenn man die herrschende Auslegung des Begriffs Geschlechtsverkehr akzeptiere und die Franksche Formel verwende, sei die Rspr. des RG nicht "überspannt", da die Formel eben einen weiten Ermessensspielraum eröffne (S. 91 ff., 93); umgekehrt/. Müller (1987), S. 117. RGSt. 71,4; RG DJ 1937,284. RG HRR 1938, Nr. 267. RG HRR 1940, Nr. 475, vgl. auch oben Fn. 65. RGSt. 74,86,87. RGSt. 73, 76. Zu weiteren Beispielen Fenigstein-Sigg (1949), S. 61 ff.; Kohlrausch /Lange3* (1943), S. 764; Lengemann (1974), S. 92 f.; Leppin, JW 1937, 3079; Sandrock DR 1940, 261 ff.; Schwarz9 (1940),

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Auslandstaten nach §§ 2, 5 II Blutschutzgesetz waren nach dem insoweit eindeutigen Gesetzeswortlaut nicht strafbar, da in § 2 eine dem § 1 I S. 2 (Umgehungsehe) entsprechende Bestimmung über die Folgen einer Umgehung des Verbots des § 2 fehlte. Nach §§ 3 ff. RStGB in der bis 1940 geltenden Fassung waren aber Auslandstaten wegen der Maßgeblichkeit des Territorialprinzips nur unter bestimmten, im Falle des § 2 nicht gegebenen Voraussetzungen strafbar. In einer Rundverfügung des Reichsjustizministers wurde bereits 1936 die Auffassung vertreten, eine Umgehung des § 2 Blutschutzgesetz durch eine Reise ins Ausland, um dort miteinander geschlechtlich zu verkehren, sei strafbar. Bei einer bewußten Umgehung deutscher Gesetze durch eine Reise ins Ausland handle es sich generell um "typische Versuche, durch die Maschen des Gesetzes zu schlüpfen", die der neu gefaßte § 2 RStGB habe treffen wollen. Es stehe außer Zweifel, daß in solchen Fällen das gesunde Volksempfinden Strafe fordere 79 . Das zeitgenössische Schrifttum Schloß sich dieser Auffassung weitgehend an, ohne die näheren Voraussetzungen der "Umgehungstat" abschließend zu klären80. Zur Entscheidung über die Strafbarkeit von Umgehungstaten wurde auf Antrag des Oberreichsanwalts vom erkennenden Senat des Reichsgerichts der Große Senat angerufen81. Dieser erklärte im Beschluß vom 23. Februar 1938 einen deutschen Juden, der mit einer Staatsangehörigen deutschen Blutes im Ausland verkehre, für strafbar, "wenn er die deutsche Staatsangehörige veranlaßt hat, zu diesem Zweck vorübergehend ins Ausland zu kommen"82. Eine Stellungnahme zu der - vom Oberreichsanwalt im Verfahren aufgeworfenen - Frage der generellen Strafbarkeit von Auslandstaten unter Umgehung der deutschen Gesetzgebung lehnte das Reichsgericht ab: Insoweit müsse der Gesetzgeber selbst tätig werden. Deshalb ließ der Große Senat offen, ob in § 3 RStGB 1871 der Begriff "Gebiet" neu, d. h. anders als im geographischen Sinne - etwa als "Gebotsbereich" -, auszulegen sei83 oder ob § 2 RStGB n. F.84 eine Gleichstellung von Umgehungshandlungen im Ausland mit Inlandstaten rechtfertige85. Sein Ergebnis leitete der Große Senat vielmehr "aus dem Blutschutzgesetz selbst" ab, und zwar, da eine entsprechende ausdrückliche Vorschrift fehle, aus seiner Zielsetzung. Die Begründung ist aufschlußreich, weil sie dokumentiert, daß das Reichsgericht sich als der "verständnisvolle Verbündete"86 des nationalsozialistischen Gesetzgebers begreift. Der Große Senat hebt einleitend die fortbestehende Bindung an das Gesetz hervor: Maßgebend bleibe auch nach § 2 n. F. "immer das Gesetz". Bestraft werde nur, "wer eine Tat begeht, die das Gesetz für strafbar erklärt oder die nach dem Grundgedanken eines Strafgesetzes und nach gesundem

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S. 605. Zum untauglichen Versuch bei Irrtum über die rassische Einordnung der eigenen Person oder des Partners zusf. Fenigstein-Sigg (1949), S. 64 ff. RV v. 2.4.1936 bei Krug/Schäfer/Stolzenburg1 (1943), S. 463 f. Vgl. Ammon, JW 1936, 2963 ff.; Leppin, JW 1937, 3079 jeweils mit Nachw.; für Straflosigkeit Stuckart/Globke (1936), S. 123 Anm. 9. Nach H. Becker, Die Rassenschande (1937), war die analoge Bestrafung von Umgehungstaten "unbestritten" (S. 45). Zum zeitgenössischen Meinungsstand und zur Rspr. vgl. auch Fenigstein-Sigg (1949), S. 68 ff. Vgl. § 137 II GVG i. d. F. des Ges. v. 28.6.1935, RGBl. I, S. 844. RG-GS-St. 72,91. Vgl. dann RGSt. 72,385 (bei Fn. 90). Dazu [Nr. 16] 4. Vgl. RG-GS-St. 72,91 ff. Dazu Kohlrausch, ZAkDR 1938, 336 f., der - anders als RGSt. 72, 385 (bei Fn. 90) - aus der Begr. des RG eine Verneinung beider Fragen herausliest. Dazu soeben [Nr. 16] 4 bei Fn. 134.

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Volksempfinden Strafe verdient". Der Grundgedanke, wenn auch nicht der Wortlaut eines Strafgesetzes, müsse also zutreffen. Dann betont der Große Senat, der Aufgabe, die das Dritte Reich der Rechtsprechung stelle, könne diese nur gerecht werden, "wenn sie bei der Auslegung der Gesetze nicht an dem Wortlaut haftet, sondern in ihr innerstes Wesen eindringt und zu ihrem Teile dazu mitzuhelfen versucht, daß die Ziele des Gesetzgebers verwirklicht werden". Dazu gehöre auch, "daß die Auslegung nicht auf die einzelnen Vorschriften eines Gesetzes beschränkt, sondern daß das Gesetz als ein Ganzes erfaßt wird". Ergebe sich hierbei, daß der Gesetzgeber bestimmte Fragen nicht ausdrücklich geordnet habe, so sei es "Recht und Pflicht der Rechtsprechung, aus der Gesamtheit der gesetzlichen Bestimmungen zu entnehmen, welche Lösung dem Willen des Gesetzgebers und dem gesunden Volksempfinden entspricht"87. In diesem Sinne fühlt sich der Große Senat in die gesetzgeberischen Absichten ein - und gelangt zu dem "richtigen", d. h. dem Willen des Gesetzgebers ( = politische Führung) entsprechenden Ergebnis: Das Blutschutzgesetz solle als "eines der Grundgesetze des nationalsozialistischen Staates ... die Reinheit des deutschen Blutes als Voraussetzung für den Fortbestand des deutschen Volkes für alle Zukunft sichern". Die "Erreichung dieses Ziels würde auf das äußerste gefährdet sein", wenn nicht die Möglichkeit bestünde, bestimmte Umgehungshandlungen zu bestrafen. Ohne weitere Zwischenschritte gelangte der Große Senat von der Bejahung des Strafbedürfnisses zur Sachentscheidung und vermied es ausdrücklich, zu anderen Fällen Stellung zu nehmen oder allgemeine Regeln aufzustellen88. Damit wurde es den einzelnen Senaten und den Untergerichten überlassen, entsprechende Sachverhalte unmittelbar nach Maßgabe des Gesetzeszweckes und ohne den "Umweg" über § 2 n. F. zu entscheiden89. Alsbald ging die Entscheidung in RGSt. 72, 385 unter Berufung auf "die Entwicklungsrichtung des Beschlusses des Großen Senats"90 noch einen Schritt weiter und sah bei außerehelichem Verkehr deutscher Staatsangehöriger mit Juden im Ausland die Voraussetzungen des § 3 RStGB a. F. (inländische Straftat) regelmäßig als gegeben an, da der rassenschänderische Erfolg im Gebiete des Deutschen Reiches eintrete91. - Im Schrifttum wurde die Rechtsprechung des Reichsgerichts jedenfalls im Ergebnis gebilligt92. Auch Kohlrausch, der die Begründung der Entscheidung des Großen Senats scharf kritisierte93, hob hervor, daß im Ergebnis das gesunde Rechtsempfinden und die Notwendigkeit, den Gesetzen Achtung zu verschaffen, eine Verurteilung erfordert hätten, und wies dem Reichsgericht den Weg zu einer in seinen Augen "natürlicheren" und "haltbareren" Begründung. Der Beschluß zeige allerdings "auf alle Fälle" die Notwendigkeit eines baldigen Eingreifens des Gesetzgebers, um den Richter in die Lage zu versetzen, "sachlich gebotene Ergebnisse auf einfachen Wegen zu erreichen und verständlich zu begründen"94. Die Verordnung über den Geltungsbereich des 87 88 89 90 91

RG-GS-St. 72,91,93 f. RG-GS-St. 72, 91,96. Vgl. RGSt. 72,171; RG DJ 1940, 486 (Auslandstat eines Ausländers strafbar). AaO, 386. RGSt. 72, 385, 386 f. Zu Einschränkungen RG, aaO und v. Weber, GS 114 (1940), 268 f. Zur Rspr. des RG zu Auslandstaten vgl. auch Gruchmann, VjZ 1983, 436 f.; Kaul (1971), 140 f., 142, 153 ff.; Lengemann (1974), S. 89 ff.

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Eingehend v. Weber, GS 114 (1940), 267 ff. "Dem Beschluß fehlt eine Begründung", ZAkDR 1938,335. ZAkDR 1938, 337 f.; Kohlrausch/Lange37 (1941), S. 725 Anm. VIII (Lange). Die zitierte Passage ist Lengemann (1974), S. 90 offenbar entgangen, wenn er Kohlrausch und v. Weber als "Antipoden" sieht

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Strafrechts vom 6. Mai 194095 erledigte dann den Streit um Voraussetzungen und Begründung der Strafbarkeit von Auslandstaten weitgehend, da der neue § 3 RStGB das Personalitätsprinzip einführte und damit die Erfassung aller Taten deutscher 96 Staatsangehöriger im Ausland ermöglichte. Um den Rahmen der Darstellung nicht zu sprengen, sei zur Behandlung weiterer Einzelfragen im Zusammenhang mit § 2 Blutschutzgesetz auf die einschlägigen Darstellungen verwiesen 97 . 5. Die weiteren StrafVorschriflen (§§ 3 , 4 ) Die §§ 3 und 4 erklärten ausschließlich Juden für strafbar. § 3 verbot es Juden, "weibliche Staatsangehörige deutschen oder artverwandten Blutes unter 45 Jahren in ihrem Haushalt zu beschäftigen". Bezweckt war der Schutz dieses Personenkreises vor "rasseverderblichen ge-

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und meint, Kohlrausch habe sich "entschieden gegen die Ausdehnung der Strafbarkeit der Rassenschande auf Auslandstaten erklärt", während v. Weber (Fn. 92) ebenso entschieden für den Standpunkt des RG eingetreten sei. [Nr. 3η 2. Zur Strafbarkeit der Auslandstat eines Ausländers (vgl. DJ 1940, 486, oben Fn. 89) nach Erlaß der GeltungsVO [Nr. 37] vgl. Kohlrausch/Lange37 (1941), S. 726 Anm. VII (Lange); Kohlrausch, ZAkDR 1941, 185 ff, die Straflosigkeit annehmen. Nach der Rspr. war hier trotz § 4 III i. d. F. der GeltungsVO mit Rücksicht auf die vorrangigen Schutzzwecke des Blutschutzges. Strafbarkeit zu bejahen, vgl. RGSt. 74, 397,400 ff. (keine Einschränkung der Strafbarkeit von Umgehungstaten nach §§ 1,2 Blutschutzges. durch die GeltungsVO). Zu den materiellen und prozessualen Gründen für die Straflosigkeit der beteiligten Frau (Typus des "angreifenden Mannes" und Erleichterung des Tatnachweises durch Aussage der nicht strafbaren und damit nicht zeugnisverweigerungsberechtigten Frau) Stuckart/Globke (1936), S. 122 f. Anm. 7; Gleispach, DR 1936,258 ff.; s. auch Begr. E 1936, S. 100 und Fenigstein-Sigg (1947), S. 58 f. Krit. zur Straflosigkeit der anstiftenden Frau Gleispach, aaO, 259 f.; vgl. auch H. Becker, Die Rassenschande (1937), S. 42 ff. Die VO zur Ergänzung der 1. VO zum Blutschutzges. v. 16. 2. 1940 (RGBl. I, S. 394) stellte die Straflosigkeit der beteiligten Frau wegen Teilnahme oder Begünstigung klar-, näher zur Entstehungsgeschichte dieser VO Gruchmann, VjZ 1983, 439 ff. - Zur Strafzumessung vgl. RV des RJM v. 2. 4. 1936, II, wo u. a. Zuchthausstrafe als Regelstrafe für Durchschnittsfälle gefordert wird, bei Kmg/Schäfer/Stolzenburg3 (1943), S. 464 II 1. Zur Praxis des LG Hamburg vgl. Robinsohn (1977), S. 142, 51 ff. wonach hinsichtlich jüdischer Angeklagter im "einfachen Fall" anfänglich die Durchschnittsstrafe bei zwei, 1938/39 bei vier Jahren Zuchthaus lag; zur Verhängung eines Todesurteils in Anwendung des § 1 ÄndG 1941 [Nr. 39] Schimmler (1984), S. 92, 96 ff. (SG Berlin). - § 133 E 1936 drohte in § 133 II für den Rasseverrat Zuchthaus als Regelstrafe an, in minder schweren Fällen Gefängnis nicht unter drei Monaten. Freister forderte mit Rücksicht auf die "Wesensverschiedenheit" der Taten von Juden und Deutschen eine Strafschärfung für jüdische Täler. Der deutsche Mann verdiene harte Strafe, weil er Verrat am deutschen Blut begehe (Rasseverrat); schwerer wiege aber der rasseschändende Angriff auf die deutsche Frau, weil dieser für die deutsche Blutsreinheit gefährlicher sei (Rasseschändung). Diese Tat könne nur der jüdische Mann begehen, so daß in der höheren Bestrafung keine strafrechtliche Ausnahmebehandlung zu sehen sei, sondern die Konsequenz aus unterschiedlichen Sachgestaltungen (DStR 1936, 392 f.); zu den unterschiedlichen Strafhöhen für Deutsche und Juden vgl. auch Robinsohn (1974), S. 142, 51 ff. (betr. LG Hamburg). Zusf. zur Rspr. zu Strafzumessungsfragen RG DR 1940, 152213. Vgl. ferner Kohlrausch/LangeÄ (1943), S. 767 Anm. VII; Leppin, JW 1937,3080 f; /. Müller (1987), S. 97 ff.

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schlechtlichen Gefährdungen"98. § 4 I untersagte Juden das "Hissen der Reichs- und Nationalflagge und das Zeigen der Reichsfarben"99; der zynische § 4 II gestattete Juden "das Zeigen der jüdischen Farben" und stellte die "Ausübung dieser Befugnis" auch noch "unter staatlichen Schutz". Verstöße gegen die §§ 3, 4 waren nach § 5 III mit Gefängnis bis zu einem Jahr oder Geldstrafen zu ahnden. 6. Verfahrensbestimmungen In prozessualer Hinsicht ist bemerkenswert, daß die Verfolgung ausländischer Staatsangehöriger der Zustimmung des Reichsjustizministers und des Reichsinnenministers bedurfte 100 , um in solchen Fällen "jeweils der besonderen Lage des Einzelfalles Rechnung zu tragen"101. Die einheitliche und "richtige" Handhabung des Blutschutzgesetzes sollte einmal durch die Bildung spezieller Blutschutzkammern bei den zur Aburteilung von Rassenschandefällen zuständigen Landgerichten (Große Strafkammer) 102 sichergestellt werden, die der Reichsjustizminister im September 1936 veranlaßte103. Zum anderen bestand seit Ende 1935 in allen Blutschutzsachen eine Berichtspflicht der Staatsanwaltschaften, die Anklageschrift und Urteile mit Gründen dem Reichsjustizminister mitzuteilen hatten104. Diese Maßnahme ermöglichte es, die Entwicklung der Rechtsprechung von zentraler Stelle zu verfolgen. Schließlich war eine Information der Gestapo über den Verfahrensabschluß und die bevorstehende Strafentlassung in Rasseschandesachen vorgesehen, die durch Übersendung des Urteils mit Gründen zu erfolgen hatte105. Im Falle der Verurteilung war der Tag der Entlassung sechs Wochen zuvor mitzuteilen, so daß die Gestapo die faktische Möglichkeit hatte, den Freigesprochenen oder Entlassenen zu beobachten oder in Schutzhaft zu nehmen106. 7. Die "Angriffe auf die Rasse" im E1936 Das Blutschutzgesetz erging in der Form eines strafrechtlichen Nebengesetzes, betraf aber eine Materie des nationalsozialistischen Kernstrafrechts. Das zeigte der E 1936: Er stellte die 98

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Vgl. Stuckart/Globke (1936), S. 113 Anm. 1. Näher zu dieser Vorschrift Fenigstein-Sigg (1949), S. 86 ff.; H. Becker, Die Rassenschande (1937), S. 47 f.; Leppin, JW 1938, 1863 ff.; Lösener/Knosi5 (1942), S. 118 ff. Näher zu dieser - in der Strafrechtspraxis völlig bedeutungslosen - Vorschrift Fenigstein-Sigg (1949), S. 93 f.; Lösener/Knos? (1942), S. 141 ff. Vgl. § 16 II 1. AVO zum Blutschutzges. (Fn. 20). Vgl. Stuckart/Globke (1936), S. 146 Anm. 6. Vgl. §§ 1,2,51, II Blutschutzges. - § 141. AVO zum Blutschutzges. Vgl. Freister, DStR 1936,387; Robtnsohn (1977), S. 124, für Hamburg vgl. S. 123. Vgl. RiLi für das Strafverfahren Nr. 398a eingefügt durch AV v. 17. 12. 1935 (DJ 1935, 1854) bei Kmg/Schäfer/Stolzenburg* (1943), S. 247. Während des Krieges war nur zum Zweck der Einholung von Weisungen und in besonders wichtigen Strafsachen zu berichten, vgl. RV des RJM v. 29. 8.1939 Ziff. 6c, aaO, S. 243 f. Anm. 1. Vgl. § 9 der "Mitteilungen in Strafsachen", RV des RJM v. 21. 5. 1935 bei Krug/Schäfer/Stolzenburtf (1943), S. 549 ff. und dazu RV des RJM zu § 9 v. 8.3.1938, aaO, S. 556. Dazu 3. Teil C I .

Α. Die erste Phase: 1933 bis 1935

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Rasseschutzvorschriften an die Spitze der zweiten Vorschriftengruppe des Besonderen Teils ("Schutz der Volkskraft" - Erster Teil: "Angriffe auf die Lebenskraft des Volkes") in unmittelbarem Anschluß an die erste Vorschriftengruppe zum "Schutz des Volkes" ("Volksverrat")107. Diese systematische Stellung der Strafbestimmungen gegen "Angriffe auf Rasse und Erbgut", sollte ihre Bedeutung unterstreichen und "den weltanschaulichen Gehalt des neuen Strafrechts zur Geltung bringen"108. § 133 E 1936 faßte die §§ 1, 2, 5 I, II Blutschutzgesetz als "Rasseverrat" zusammen und drohte für den rassenschänderischen außerehelichen Geschlechtsverkehr Zuchthaus als Regelstrafe an (§ 130 Π S. 1). In bestimmten Fällen war die Anordnung von Sicherungsverwahrung zur "Sicherung der Blutsreinheit" vorgesehen (§ 133 II S. 2). Der Rasseschutz wurde darüber hinaus erheblich erweitert. § 134 ("Verletzung der Rassenehre") bedrohte deutschblütige Staatsangehörige und Juden, die "öffentlich in einer gegen das geschlechtliche Schamgefühl gröblich verstoßenden Weise Umgang miteinander" pflegten und dadurch den deutschen "Rassestolz" verletzten, mit Gefängnisstrafe109. Flankierend schützte der Entwurf auch die nationalsozialistischen Maßnahmen zur Erb- und Rassenpflege gegen "zersetzende geistige Propaganda"110 durch das öffentliche Verächtlichmachen solcher Maßnahmen oder durch die öffentliche Aufforderung oder Anreizung zur Auflehnung gegen sie. Die nationalsozialistischen Rassevorstellungen wurden auch unmittelbar als solche geschützt, indem jedem Strafe drohte, der öffentlich "den Grundgedanken der staatlichen Erb- und Rassenpflege böswillig entgegenwirkt". Als Regelstrafe drohte Gefängnis und, "wegen der Gefährlichkeit der Handlungsweise", in besonders schweren Fällen Zuchthaus (§ 136 II)111. [Nr. 18] Gesetz zum Schutz der Erbgesundheit des deutschen Volkes vom 18. Oktober 1935 (Ehegesundheitsgesetz) Den Schlußpunkt der ersten gesetzgeberischen Phase setzte das Ehegesundheitsgesetz1 Es ergänzte das "rassenbiologische 'Blutschutzgesetz' ... nach der erbhygienischen Seite"2 und führte dabei die Grundgedanken des Erbgesundheitsgesetzes von 1933 fort3. Auch das Ehegesundheitsgesetz stand also im "Dienste der Verwirklichung der Hitlerschen Pläne über den deutschen und arteigenen Menschen"4. Es verbot Eheschließungen, wenn einer der Verlobten 107 Vgl. E1936,1. und 2. Gruppe des 2. Buches, §§ 89 ff. 108 Vgl. die Überschrift des 4. Abschnitts E 1936 vor §§ 133 ff. und Begr. E 1936, S. 98. Dieser Gedanke leitet die Entwurfsbegründung zu den einzelnen Vorschriften (S. 98 ff.). 109 Zu den Motiven - "gewisse Schranken" für den "sonstigen", d. h. nicht nach § 133 E 1936 (Rasseverrat) tatbestandsmäßigen, "Verkehr" zwischen Deutschen und Juden - Begr. E 1936, S. 101 f. 110 Vgl. Begr. E 1936, S. 101. 111 Vgl. Begr. E 1936, S. 101 f.; s. auch die parallele Vorschrift gegen "Vereitelung einer Maßnahme der Erb- und Rassenpflege" (§ 137) und dazu aaO. 1 RGBl. I, S. 1246. Es zeichnen: FuRk Adolf Hitler, RMdl Frick, StVdF und RM ohne Geschäftsbereich Heß, RMdJ Dr. Gärtner. Schorn (1963), S. 112 spricht entgegen der amtlichen Bezeichnung vom Erbgesundheitsgesetz (Fn. 3). Eingehend zum Ges. Ganssmüller (1987), S. 133 ff.; Stuckart/Globke (1936), S. 164 ff. 2 Vgl. Pfundtner/Neubert/Linden/Maßfeller (1933 ff.), IV d 13 (1940), S. 2. 3 Ges. v. 14.7.1933, RGBl. I, S. 529. 4 Schorn (1963), S. 112.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

an einer ansteckenden oder vererbbaren Krankheit5 litt (§ 1 Ia, d), entmündigt war (§ 1 Ib) oder an einer "geistigen Störung" litt, "die die Ehe für die Volksgesundheit unerwünscht erscheinen" ließ (§ 1 Ic). Das NichtVorliegen eines solchen Ehehindernisses war durch ein Ehetauglichkeitszeugnis nachzuweisen (§ 2). Das "Erschleichen" einer nach dem Ehegesundheitsgesetz verbotenen Eheschließung war mit Gefängnisstrafe nicht unter drei Monaten bedroht ( § 4 1). Unter Erschleichen war dabei die Herbeiführung der Ausstellung des Ehetauglichkeitszeugnisses oder die Mitwirkung des Standesbeamten bei der Eheschließung durch wissentlich falsche Angaben zu verstehen (§ 3 I S. 1). Auch die zum Zwecke der Gesetzesumgehung im Ausland geschlossene Ehe wurde als "erschlichen" erfaßt und mit Strafe bedroht (§ 4 I i. V. m. § 31 S. I)6. Der E 1936 übernahm die Strafbestimmungen des Ehegesundheitsgesetzes sachlich unverändert und bejahte nachdrücklich dessen Zielsetzung, die "Gesundung der Ehe und Familie". In Anbetracht der "hohen Bedeutung der Ziele" des Ehegesundheitsgesetzes war eine höhere Mindeststrafe (sechs Monate Gefängnis) vorgesehen7.

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Vgl. § 1 II Erbgesundheitsges. (Fn. 3). Näher zur Strafvorschrift (§ 4) Stuckart/Globke (1936), S. 182 ff. Vgl. § 135 E 1936, Begr. S. 101: "Erschleichen einer rasseschädigenden Ehe". Vgl. auch §§ 136,137 E 1936 (Auflehnung gegen und Vereitelung von Maßnahmen zur Erb- und Rassenpflege) und Begr. S. 101.

Β. Die Zwischenphase: 1936 bis 1938

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Β. DIE ZWISCHENPHASE: 1936 BIS 1938 Die Zeit von 1936 bis Kriegsausbruch bildete eine Zwischenphase, eine Atempause der Strafgesetzgebung. Unsere Darstellung verzeichnet nur sieben Gesetze und Verordnungen. Am bekanntesten dürften die rückwirkenden Gesetze gegen erpresserischen Kindesraub und gegen Straßenraub mittels Autofallen sein1. Für die Strafrechtspraxis bedeutsamer waren andere Neuerungen, namentlich die beiden gegen die deutschen Juden gerichteten Verordnungen Görings und das Gesetz gegen Wirtschaftssabotage2. I. Zur formellen Seite der Gesetzgebung Die Mehrzahl der im folgenden mitgeteilten strafrechtlichen Regeln ergingen als Reichsregierungsgesetze1. Die beiden Ausnahmen interessieren an dieser Stelle: Zwei Verordnungen wurden von Göring in seiner Eigenschaft als Beauftragter für den Vierjahresplan herausgegeben2. Damit war ein neuer Weg der Gesetzgebung beschritten, der die bisherigen Bahnen verließ und mit der Weimarer Reichsverfassung offenkundig nicht mehr in Verbindung zu bringen war. Die beiden strafrechtlichen Verordnungen Görings beruhten auf einer unmittelbaren Ermächtigung durch den "Führer und Reichskanzler" Hitler, die in der "Verordnung zur Durchführung des Vierjahresplans" vom 18. Oktober 1936 enthalten war. Die Planverwirklichung erfordere, so die Verordnung, die "einheitliche Lenkung aller Kräfte des Deutschen Volkes und die straffe Zusammenfassung aller einschlägigen Zuständigkeiten in Partei und Staat". Mit der Durchführung des Plans wurde der "Ministerpräsident Generaloberst Göring" betraut, der "die zur Erfüllung der ihm gestellten Aufgaben erforderlichen Maßnahmen treffen" sollte. Göring erhielt nicht nur die "Befugnis zum Erlaß von Rechtsverordnungen und allgemeinen Verwaltungsvorschriften", sondern auch ein Weisungsrecht gegenüber allen Behörden, einschließlich der obersten Reichsbehörden, und allen Dienststellen der Partei3. Damit wurde Göring mit einer alle Instanzenzüge und Zuständigkeitsgrenzen übergreifenden übergeordneten Zuständigkeit ausgestattet. In dieser Super-Zuständigkeit war die materielle Gesetzgebungsbefugnis eingeschlossen4. Die Reichweite der Zuständigkeit Görings legte die Verordnung nicht abschließend fest: Die Grenzziehung blieb Görings Praxis überlassen5. Die Verordnung Hitlers und die darin ausgesprochene Delegation waren nur als Ausdruck von "Führergewalt" begreiflich: Der Rahmen des dem Reichspräsidenten früher zustehenden Behördenorganisationsrechts wurde offenkundig gesprengt6. Es wurden Partei- und Behör1 2 1 2 3 4 5 6

[Nrn. 19,25]. [Nrn. 21,23,24]. [Nrn. 19-22,25], [Nrn. 23,24], Zur Mitzeichnung des Wirtschañssabotageges. [Nr. 21], Fn. 1. RGBl. I, S. 887. Zur Organisation des Vieijahresplans Broszat10 (1983), S. 370 ff. Näher Zinser, AöR Bd. 29 N. F. (1938), 204 ff., 212. Vgl. auch Rozycki, RVerwBl 1941, 205; Kirschenmann (1970), S. 113 f.; Schulte, JA 1985,332; Rapsch, in: Salje (Hrsg, 1985), S. 144. Vgl. Zinser, aaO, 212; Kirschenmann (1970), S. 213. Boßung, RVerwBl 1937, 119 spricht von einem "Rahmengesetz". Vgl. Boßung, aaO, 118; Zinser, aaO, 209.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

denzuständigkeiten, über die allein Hitler disponieren konnte, übertragen. Auch die Zeichnung der Verordnung allein durch Hitler bestätigte die Ausübung von "Führergewalt". Ihr Inhalt und ihre Form wiesen die Verordnung als Übertragung eines Teils von "Führergewalt" aus7. Diese Übertragung hatte den Charakter einer persönlichen Delegation: Hitler schuf kein neues "Amt", sondern bevollmächtigte Göring persönlich, der sich dann selbst die Bezeichnung Beauftragter für den Vierjahresplan beilegte8. Göring wurde also im Rahmen seines Aufgabenbereichs zum Führer-Delegatar, zum "alter ego Adolf Hitlers", der sich der "umfassenden Befugnisse" des Führers bedienen konnte9. Die in der Nachkriegsliteratur anzutreffende Beschreibung, Hitler habe einen Gesetzgeber "neben sich" gestellt10, ist deshalb undeutlich: Görings Gesetzgebungsbefugnis war eine abgeleitete, stellvertretende, eben eine delegierte - und damit widerrufliche. Für den hier interessierenden Zusammenhang bleibt festzuhalten, daß mit Göring ein neuer Inhaber von Gesetzgebungsbefugnis auf den Plan trat. Auf den Führer-Delegatar Göring wird namentlich bei der Ausübung von Strafgewalt durch die Polizei während des Krieges zurückzukommen sein11. II. Die einzelnen Gesetze und Verordnungen [Nr. 19] Gesetz gegen erpresserischen Kindesraub vom 22. Juni 1936 Das Gesetz1 fügte aus aktuellem Anlaß einen neuen § 239a in das RStGB ein: "Wer in Erpressungsabsicht ein fremdes Kind durch List, Drohung oder Gewalt entführt oder sonst der Freiheit beraubt, wird mit dem Tode bestraft".

Das Gesetz rühmte Freisler als beispielhaft für die nationalsozialistische Gesetzgebung: Der "Wortlaut" sei "kantig, klar und kompromißlos wie der Inhalt und der Abwehrwille des Staates"2. Noch aufschlußreicher als der lapidare Wortlaut sind freilich die Entstehungsgeschichte des Gesetzes, die dem Tatbestand beigelegte Rückwirkung und die erstmalige Anwendung des Gesetzes durch das Schwurgericht Bonn acht Tage nach der Verkündung: Das vom "Führer und Reichskanzler" Hitler und dem Reichsjustizminister Gürtner gezeichnete Reichsregierungsgesetz exemplifiziert und illustriert die jederzeitige Verfügbarkeit des Strafgesetzes als "Führungsmittel": 7

Vgl. zur zeitgenössischen Sicht namentlich Zinser, aaO, 211 f.: Übertragung eines Teil der Führerbefugnisse "für einen sachlichen Bereich, ohne daß organisatorische Grenzen gezogen sind". Vgl. ferner Boßung, aaO, 115 ff., 118, 120 sowie im Hinblick auf die Gesetzgebungsbefugnis auch Kirschenmann (1970), S. 113 f., der von einer "Ausgrenzung aus der allumfassenden Gesetzgebungsgewalt des Führers" spricht.

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Dazu Zinser, aaO, 216 mit Nachw. AaO, 211 f. Vgl. Kirschenmann (1970), S. 113; Schulte, JA 1985, 332. Treffender Rapsch, in: Salje (Hrsg, 1985), S. 144: "Gesetzgebungspaladin".

11 1

Dazu 3. Teil E II. RGBl. I, S. 493. Tatbestand neu gefaßt durch 3. StÄG (Bereinigungsgesetz); dazu Meurer-Meichsner (1974), S. 132; Maurach, JZ 1962,560 ff. JDR 1937,277.

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Β. Die Zwischenphase: 1936 bis 1938

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Am 16. Juni 1936 wurde in Bonn von einem mehrfach und einschlägig vorbestraften Täter ein zwölfjähriges Kind durch List entführt; der Vater sollte durch Androhung der Tötung des Kindes zur Zahlung von 1800,- Reichsmark gegen Herausgabe des Kindes veranlaßt werden3. Dem Täter drohte nach dem zur Tatzeit geltenden Recht wegen Freiheitsberaubung, Muntbruch und versuchter räuberischer Erpressung zeitige Zuchthausstrafe4. Diese Strafmöglichkeiten wurden als nicht ausreichend empfunden. Der Fall gab vielmehr, so die amtliche Begründung zum Gesetz, "Anlaß mit energischen gesetzgeberischen Maßnahmen vorzugehen". Um "das Übel an der Wurzel auszurotten" werde zwingend die Todesstrafe angedroht5. Das Gesetz wurde sechs Tage nach der Tat verkündet und legte sich Rückwirkung bis zum 1. Juni 1936 bei (Art. 2). Die den Anlaß des Gesetzes bildende Tat war damit einbezogen. Der Täter wurde bereits am 30. Juni 1936 aufgrund des neuen Gesetzes vom Schwurgericht Bonn zum Tode verurteilt6! Diese Vorgänge zeigen: Das Gesetz ist "Wille des Führers"; nicht: "nulla poena sine lege" gilt, sondern: "nullum crimen sine poena". Und: der Richter ist der "verständnisvolle Verbündete" des Führer-Gesetzgebers und Vollstrecker des Führerwillens. Das Gesetz gegen erpresserischen Kindesraub war in der Folge für die Praxis wenig bedeutsam7. In der Literatur veranlaßte es Bemühungen zu restriktiver Auslegung8. Die lapidare Tatbestandsfassung ist freilich keineswegs der Übereile eines "Gelegenheitsgesetzes" zuzuschreiben9. Sie ist vielmehr richtungweisend: § 193 E 1936 formulierte im Anschluß an § 239a RStGB noch "kantiger"10 und ließ die einschränkenden Tatmodalitäten "durch List, Drohung oder Gewalt" unter Beibehaltung der absoluten Strafdrohung entfallen.11 [Nr. 20] Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuchs vom 2. Juli 1936 Das Änderungsgesetz1 betraf namentlich die Beschädigung von Wehrmitteln (§ 143a) und die unterlassene Verbrechensanzeige (§ 139).

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Vgl. dazu Pfundtner/Neubert/Ficker (1933 ff.), II c 6, S. 99. Dazu RG JW 1936, 12961; zur Möglichkeit lebenslanger Zuchthausstrafe §§ 251, 255 RStGB (Marterung, Todesfolge). Vgl. Amtl. Begr. zit. bei Pjundtner/Neubert/Ficker (1933 ff.), II c 6, S. 99. Vgl. aaO. Der Täter wurde alsbald hingerichtet, vgl. Maurach, JZ 1962, 559 Fn. 3. In den Kommentierungen von Kohlrausch/Lange1* (1943) und Schänkt (1944) finden sich keine Rechtsprechungsnachweise. Vgl. namentlich Kohlrausch/Lange3* (1943). Zusf. Maurach, JZ 1962, 559 f.; Meurer-Meichsner (1974), S. 131 f. So aber wohl Meurer-Meichsner (1974), S. 123,131,140. Vgl. bei Fn. 2. Näher Begr. E 1936, S. 139. RGBl. I, S. 532. Reichsregierungsges. Zeichnung: FuRk Hitler, RMdJ Gürtner. § 143a aufgehoben durch KRG Nr. 11, vgl. auch unten [Nr. 31] Fn. 1. Zu § 139 vgl. die Schärfung des § 94 StGB i. d. F. des StÄG 1951; Neufassung des § 139 durch das 3. StÄG (§§ 138,139), das die §§ 353b, c unverändert ließ.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

Die Wehrmittelbeschädigung war erst durch die Novelle vom 28. Juni 1935 neu geregelt worden2. Der Tatbestand des § 143a I wurde jetzt auf jede "Einrichtung, die der deutschen Landesverteidigung dient", also auch auf zivile Betriebe, erstreckt. Bagatellverstöße (ζ. B. Beschädigung einer Patrone) sollten durch das Erfordernis einer "Gefährdung der Schlagfertigkeit der deutschen Wehrmacht" ausgeschieden werden. Die wesentliche Neuerung bestand in der Vorverlegung des Strafschutzes: § 143a II erfaßte nunmehr auch die wissentlich fehlerhafte Herstellung oder Lieferung von Wehrmitteln oder der Landesverteidigung dienenden Einrichtungen3. Die Neuregelung der unterlassenen Verbrechensanzeige stand einmal mit dem verstärkten Schutz vor Wehrmittelbeschädigung in Zusammenhang: Die Nichtanzeige eines Vorhabens nach § 143a wurde in Erweiterung des bisherigen § 139 für strafbar erklärt. Zum anderen brachte der neue § 139 vorweggenommene Strafrechtsreform: Die Nichtanzeige wurde unabhängig von der vollendeten oder versuchten Begehung der geplanten Tat für strafbar erklärt: Die abweichende Regelung des bis dahin geltenden Rechts, das eine entsprechende objektive Strafbarkeitsbedingung vorgesehen hatte, sei, so die amtliche Begründung, mit dem neuen "Willensstrafrecht" unvereinbar4. Zum Ausgleich eröffnete § 139 IS. 2 bei fehlendem Versuch der geplanten Tat die Möglichkeit des Absehens von Strafe. § 139 II brachte eine empfindliche (fakultative) Strafschärfung, indem in "besonders schweren Fällen" die Zuchthausstrafe- und sogar die Todesstrafe zugelassen wurden, letztere freilich nur, wenn auch für die geplante Tat Todesstrafe angedroht war5. Der Gesamtstrafrahmen reichte in diesem Fall von einem Tag Gefängnis (Abs. 1, § 161) bis zur Todesstrafe! Artikel 2 des Gesetzes stellte aufgrund "gewisser Vorkommnisse der jüngsten Zeit" den Bruch der Amtsverschwiegenheit in Vorwegnahme der Strafrechtsreform unter Strafe 6 (§§353b, 353c). Auf Einzelheiten ist hier nicht einzugehen. Bemerkenswert ist, daß die Dehnbarkeit der Tatbestandsmerkmale ("Gefährdung wichtiger öffentlicher Interessen") durch die Einschaltung vorgesetzter Behörden (§ 353b IV) bzw. des Reichsjustizministers in die Strafverfolgung (§ 353b IV S. 2, 353c VI) ausgeglichen werden sollte. Die entsprechenden Zustimmungs- oder Anordnungserfordernisse dienten zugleich der Verhinderung der Strafverfolgung in Fällen, in denen "weiteres Bekanntwerden" der preisgegebenen Geheimnisse "unerwünscht" ist7. Auch für dieses Änderungsgesetz ist die Verwendung flexibler Begriffe (ζ. B. die Gefährdung der "Schlagfertigkeit der deutschen Wehrmacht" oder "wichtiger öffentlicher Interessen") auf Tatbestandsebene kennzeichnend. Auf der Rechtsfolgenseite besteht nicht nur bei § 139 ein weiter richterlicher Ermessensraum: Kein Tatbestand kommt ohne unbenannte besonders schwere Fälle aus, wobei in § 143a IV n. F. das bisherige Beispiel der "Herbeiführung einer Gemeingefahr"8 als "überflüssig" entfällt.

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Vgl. oben [Nr. 16] unter 8. Näher Amtl. Begr., DJ 1936,996 und Grau, DJ 1936,1002 f. DJ 1936,996. Vgl. auch Grau, aaO; Freister, JDR 1937,278; zum Willensstrafrecht zusf. [Nr. 49] lb. Zu näheren Einzelheiten des § 139 n. F. Köhler, DStR 1936,397 ff.; Grau, DJ 1936,1003 ff.

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Vgl. Amtl. Begr., DJ 1936,997. AaO, 997 f. Vgl. [Nr. 16] 8 bei Fn. 174.

Β. Die Zwischenphase: 1936 bis 1938

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[Nr. 21] Gesetz gegen Wirtschaftssabotage vom 1. Dezember 1936 Das Gesetz1 richtete sich gegen das Verbringen von Vermögenswerten in das Ausland und das Belassen von Vermögenswerten im Ausland. Sein § 1 lautete: "(1) Ein deutscher Staatsangehöriger, der wissentlich und gewissenlos aus grobem Eigennutz oder aus anderen niederen Beweggründen den gesetzlichen Bestimmungen zuwider Vermögen nach dem Auslande verschiebt oder im Ausland stehenläßt und damit der deutschen Wirtschaft schweren Schaden zufügt, wird mit dem Tode bestraft. Sein Vermögen wird eingezogen. Der Täter ist auch strafbar, wenn er die Tat im Auslande begangen hat. (2) Für die Aburteilung ist der Volksgerichtshof zuständig".

Die Strafvorschrift hob aus dem Gesetz über die Devisenbewirtschaftung die gekennzeichneten Fälle heraus2. Ähnlich wie schon im Gesetz gegen Verrat der deutschen Volkswirtschaft3 wurde der Verratsgedanke ("Volksverrat") auf das Wirtschaftsstrafrecht ausgedehnt: Die Begrenzung des Täterkreises auf deutsche Staatsangehörige, die Erfassung von Auslandstaten, die drakonische Strafdrohung, die Zulässigkeit der Vermögenseinziehung und nicht zuletzt die Zuständigkeit des Volksgerichtshofs sind Ausdruck des der Tat beigelegten "Verratscharakters"4. Bezeichnungen wie "Verrat der Volkswirtschaft" oder "Wirtschaftsverrat" werden nur deshalb nicht gewählt, weil sie schon anderweitig vergeben sind5. Die Gesetzgebungstechnik setzt den Richter am Volksgerichtshof als "verständnisvollen Verbündeten" des Führer-Gesetzgebers voraus: Die gesinnungstypisierenden Merkmale, die Tathandlungen und der "schwere Schaden" für die deutsche Wirtschaft eröffnen einen weiten Ermessensspielraum. Den Instrumentalcharakter des Wirtschaftssabotagegesetzes verdeutlicht der innere und zeitliche Zusammenhang mit einem Straffreiheitsgesetz6. Dieses soll die Durchsetzung des verfolgten fiskalischen Zieles, Heranziehung von ins Ausland verbrachten Vermögen, befördern. Für bereits im Ausland befindliche Vermögen wird eine bis 31. Januar 1937 befristete Gelegenheit gegeben, sie der Reichsbank anzubieten. Diese Möglichkeit wird auch den "kleinen Devisensündern" eingeräumt, die nicht unter das Sabotagegesetz fallen. In beiden Fällen bietet der nationalsozialistische Gesetzgeber für alle bisher verwirkten Strafen Straffreiheit an; anhängige Verfahren stellt das Gesetz selbst ein7. Ab 1. Februar 1937 soll dann aber jeden Wirtschaftssaboteur "verdientermaßen die volle Schärfe des Gesetzes vom 1. 12. 1936" treffen8.

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RGBl. I, S. 999. Reichsregierungsges. Zeichnung: FuRk Hitler, der BfdVj Goring i. V. des Reichswirtschaftsministers Posse, RMdJ Gärtner. - Aufgehoben durch Art. I Nr. 9 KRG Nr. 55. Näher Rietzsch, DJ 1937,31 f.; Pfundtner/Neubert/Schäfer (1933 ff.), II c 18, S. 4 ff. Dazu oben [Nr. 9], Vgl. dazu Rietzsch, DJ 1937,30; Freister, JDR 1937, 279; s. auch Schroetter (1970), S. 156: sachwidrige Ausdehnung des Staatsschutzstrafrechts. Vgl. Rietzsch, DJ 1937,30 f. Ges. v. 15.12.1936, RGBl. I, S. 1015 und dazu Κ Schäfer, DJ 1937,33 ff.; Pfundtner/Neubert/Schäfer (1933 ff.), II c 18, S. 9 ff. Vgl. § 1 Abs. 1-3, aaO. Vgl. K. Schäfer, DJ 1937,33.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

Der Einsatz des Strafrechts folgt also, wie schon beim Gesetz gegen den Verrat der deutschen Volkswirtschaft, finanzpolitischer Opportunität9. [Nr. 22] Die Gesetzgebung des Jahres 1937, insbesondere das Gesetz gegen die Schwarzsender vom 24. November 1937 Die Gesetzgebung des Jahres 1937 bringt für das RStGB nur eine marginale Änderung der Vorschrift über die Verletzung des Berufsgeheimnisses1. Immerhin war die neue Sondervorschrift für die Geheimnisverletzung durch Apotheker insofern von symptomatischer Bedeutung, als sie bestimmte, daß die Offenbarungsbefugnis aus einer Rechtspflicht oder einer sittlichen Pflicht2 oder aber sonst aus "einem nach gesundem Volksempfinden berechtigten Zweck" erwachsen könne3: Damit wurde auch in diesem Zusammenhang die Unrechtsbegründung durch "gesundes Volksempfinden" anerkannt. Von größerer Tragweite war das Gesetz gegen die Schwarzsender4. Dieses sollte der "Verbreitung staatsgefährdender Nachrichten" entgegenwirken5 und damit das Vorfeld der Vorbereitung zum hochverräterischen Unternehmen abdecken6. Die bisherigen Straftatbestände des Gesetzes über das Fernmeldewesen hatten im Kern nur das unerlaubte Errichten oder Betreiben von Fernmeldeanlagen mit Gefängnis- oder Geldstrafe bedroht, eine Regelung die der "außerordentlichen Gefährlichkeit" des Schwarzsendens für die nationalsozialistische Volksgemeinschaft nicht gerecht wurde7. Das Schwarzsendergesetz erweiterte und verschärfte die bisherigen Regelungen massiv. Es erfaßte, um den Nachweis wirklichen Errichtens oder Betreibens von Fernmeldeanlagen zu ersparen und Schutzbehauptungen abzuschneiden, namentlich auch jeden Besitz von betriebsfähigen Funksendeanlagen und drohte mit Zuchthausstrafe. Die Gesetzgebungstechnik des Schwarzsendergesetzes hat Modellcharakter. Das Gesetz richtet sich nicht schlicht gegen Verstöße gegen das Fernmelderecht. Es will nach seinem Wortlaut Personen treffen, eben "die Schwarzsender". Daß die programmatische Gesetzesüberschrift nicht die Sendeanlagen, sondern die handelnden Personen meint, zeigt unmißverständlich § 1 des Gesetzes. Er lautet: "Der Schwarzsender wird mit Zuchthaus bestraft. In minder schweren Fällen ist die Strafe Gefängnis". 9 1

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Vgl. schon [Nr. 9], Reichsapothekerordnung v. 18. 4. 1937, RGBl. I, S. 457. Reichsregierungsges. Zeichnung: FuRk Hitler, RMdl Frick. Vgl. §§ 24, 27 (Außerkraftsetzung des § 300 RStGB für Apotheker). Vgl. schon § 13 Reichsärzteordnung v. 13.121935, RGBl. I, S. 1433. Zum Streit um den Charakter der "Befugnis" (Rechtspflicht/sittliche Pflicht) auf dem Stand 1931 Frank1*, § 300 Anm. III 2b S. 700 f. Vgl. § 24 III Reichsapothekerordnung (Fn. 1). RGBl. I, S. 1298. Reichsregierungsges. Zeichnimg: FuRk Hitler, Reichspostminister Ohnesorge; RMdJ Gärtner. Zur Geltungslosigkeit nach 1945 Dalcke35 (1935), S. 609 § 1 Anm. 1. Vgl. Amtl. Begr., DJ 1938, 171. S. auch Schorn (1963), S. 119: "Übermittlung von Nachrichten nach dem Ausland" verhindern. Vgl. § 83 RStGB und dazu oben [Nr. 13] 2b. Vgl. § 15 Ges. über Fernmeldeanlagen i. d. F. v. 14. 1. 1928, RGBl. I, S. 8 und dazu Amtl. Begr., DJ 1938,171.

Β. Die Zwischenphase: 1936 bis 1938

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Das Gesetz verzichtet bewußt darauf, zunächst, wie im Nebenstrafrecht üblich, die Verbotsmaterie zu beschreiben und die Strafdrohung anzuschließen. Es stellt die Strafdrohung "mit Absicht an die Spitze"8, spricht "den Schwarzsender" an, der demonstrativ abgewertet werden soll. Es folgt dann eine Legaldefinition des "Schwarzsenders" (§ 2), der eine die Gleichstellung fingierende Vorschrift (§ 4) folgt. Das Gesetz beläßt es also nicht bei der bloßen Typenbezeichnung: Es gibt offenkundig keinen "vorjuristischen" Begriff des "Schwarzsenders". Um so aufschlußreicher ist es, wenn der Gesetzgeber keinen Blankettatbestand verwendet, sondern demonstrativ Personen, nicht Handlungen für strafbar erklärt. Handgreiflichere Typenbezeichnungen werden im Kriegsstrafrecht Karriere machen. Die Schärfe des Gesetzes veranlaßte im übrigen das Reichsjustizministerium zur begleitenden Instruktion der Staatsanwaltschaften. Diese wurden ausdrücklich auf den Regelcharakter der Zuchthausstrafe des § 1 hingewiesen und aufgefordert, den drohenden schweren Gefahren bei den "Anträgen zum Strafmaß Rechnung zu tragen"9. [Nr. 23] Die Verordnung gegen die Unterstützung der Tarnung jüdischer Gewerbebetriebe vom 22. April 1938 Die Verordnung gegen die Unterstützung der Tarnung jüdischer Gewerbebetriebe (TarnungsVO), herausgegeben von Göring in seiner Eigenschaft als Beauftragter für die Durchführung des Vierjahresplans1, war Teil der Maßnahmen zur "Entjudung der deutschen Wirtschaft"2. Mit "teuflischer Findigkeit wußte das Gesetz", so im Rückblick Schorn, "auch Tarnungen jüdischer Gewerbebetriebe zu begegnen"3. Mit Zuchthaus, in weniger schweren Fällen mit Gefängnis nicht unter einem Jahr, und mit Geldstrafe bedrohte § 1 TarnungsVO jeden deutschen Staatsangehörigen, also auch jeden deutschen Juden, 'der aus eigennützigen Beweggründen dabei mitwirkt, den jüdischen Charakter eines Gewerbebetriebes zur Irreführung der Bevölkerung oder der Behörden bewußt zu verschleiern".

Die gleiche Strafe drohte demjenigen, der "für einen Juden ein Rechtsgeschäft" Schloß4 und dabei "unter Irreführung des anderen Teils die Tatsache, daß er für einen Juden tätig ist, verschweigt" (§ 2)5. Die "für die Praxis dringend erforderliche Feststellung"6, unter welchen Voraussetzungen ein Gewerbebetrieb als jüdisch galt, brachte dann die 3. Verordnung zum Reichsbürgergesetz7, die u. a. auf Inhaberschaft oder Beteiligung (§ 1) und hilfsweise auf den "tatsächlich ... 8 9 1 2 3 4 5 6 7

Amtl. Begr., aaO. AVd.RJMv. 28.1.1938 in DJ 1938,171. RGBl. I, S. 404. Zeichnung: BfdVj Göring. Aufgehoben durch KRG Nr. 1, Art. I Nr. lp. Zusf. auf dem Stand von 1938 Hefermehl, DJ 1938,1981 ff. Schorn (1963), S. 91. Dazu RGSt. 73, 217, 224 f. (Urt. v. 23. 3. 1939) betr. Aufrechterhaltung von Dauerschuldverhältnissen. Näher zur TarnungsVO Fenigstein-Sigg (1949), S. 95 ff. Vgl. Hoche, JDR 1938,663. VO v. 14. 6.1938, RGBl. I, S. 627.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

beherrschenden Einfluß von Juden" (§ 3) abstellte. Die behördliche listenmäßige Erfassung (§ 7) lieferte für die Praxis zur TarnungsVO die entscheidende Anknüpfung. [Nr. 24] Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden vom 26. April 1938 Diese zweite strafrechtliche Verordnung zur Durchführung des Vierjahresplans1 bedrohte in § 8 I vorsätzliche oder fahrlässige Zuwiderhandlungen gegen Anmelde-, Bewertungs- oder Anzeigepflichten im Hinblick auf das inländische oder ausländische Vermögen von Juden kumulativ oder wahlweise mit Geld- und Gefängnisstrafe; in besonders schweren Fällen vorsätzlicher Zuwiderhandlung konnte auf Zuchthaus bis zu zehn Jahren erkannt werden. Die Tatbegehung im Ausland wurde einbezogen (§ 8 I S. 2), der Versuch war strafbar (§ 8 II), neben der Strafe konnte auf Einziehung des betroffenen Vermögens erkannt werden; bei Verhängung der Zuchthausstrafe war die Einziehung obligatorisch (§ 8 III S. I)2. Der eigentliche Sinn der Anmeldeverordnung bestand darin, durch die Meldepflichten den "Einsatz des anmeldepflichtigen Vermögens im Einklang mit den Belangen der deutschen Wirtschaft" vorzubereiten, sprich: die Basis für zwangsweise "Arisierung" zu schaffen3. [Nr. 25] Gesetz gegen Straßenraub mittels Autofallen vom 28. Juni 1938 Das letzte hier zu besprechende Vorkriegsgesetz, das sog. Autofallengesetz1, war von markanter Kürze. Das Gesetz bestand "in schlichter Einfachheit und strenger Eindeutigkeit"2 aus einem Satz: "Wer in räuberischer Absicht eine Autofalle stellt, wird mit dem Tode bestraft".

Die Entstehungsgeschichte des Gesetzes weist deutliche Parallelen zu der des Gesetzes gegen erpresserischen Kindesraub auf: Das Autofallengesetz erging ad hoc, gerichtet auf die Verhängung der Todesstrafe in einem bestimmten Einzelfall. Dem Gesetz wurde deshalb Rückwirkung zum 1. Januar 1936 (!) beigelegt. Die unmittelbar Betroffenen, die Brüder Götze, wurden zwei Tage nach Erlaß des Gesetzes vom Sondergericht Berlin zum Tode verurteilt. Die Eiligkeit des Gesetzes wird durch die Ausfertigung in Hitlers Sommerresidenz Berchtesgaden unterstrichen. Das Autofallengesetz illustriert in gleicher Weise wie das Gesetz gegen erpresserischen Kindesraub die veränderte Funktion des Strafgesetzes, nämlich die Verhältnisse Lex/Dux, Gesetz/Recht sowie die andersartige Stellung des Richters3. 1 2 3 1

2 3

RGBl. I, S. 414. Die VO stützt sich auf die VO v. 18. 10.1936 (oben Β I). Zeichnung: BfdVj Göring, RMdl Frick. Aufgehoben durch KRG Nr. 1 Art. I Nr. lp. Näher Fenigstein-Sigg (1949), S. 99 ff. Vgl. § 7 AnmeldeVO und zusf. Hefermehl, DJ 1938,1983 f. RGBl. I, S. 651. Reichsregierungsges. Zeichnung: FuRk Hitler, RMdJ Gärtner. Aufgehoben durch KRG Nr. 55 Art. I Nr. 11. - Zur weiteren Gesetzgebungsgeschichte (§ 316a) eingehend MeurerMeichsner (1974), S. 34 ff. Zum (beibehaltenen) Vorverlagerungscharakter des heutigen § 316a namentlich Günther, JZ1987,16 ff. Vgl. Freister, DJ 1939,35. Zum Ges. gegen erpresserischen Kindesraub [Nr. 19],

Β. Die Zwischenphase: 1936 bis 1938

201

Zum Inhalt des Gesetzes ist die dem Willensstrafrecht entsprechende 4 weite Ausdehnung in das Vorfeld des Raubes5 hervorzuheben. Bemerkenswert ist ferner die Verwendung des der Gesetzessprache bisher unbekannten Begriffs "Autofalle". Er war, so Rietzsch, "dem Leben entnommen und nach dem Sprachgebrauch des Lebens" auszulegen6. Das Gesetz eröffnete damit auf Tatbestandsebene einen weiten richterlichen Ermessensspielraum7. Das Gesetz war zwar "im Zorn"8 erlassen, aber gleichwohl vorweggenommene Strafrechtsreform: Die Strafvorschrift war dem Strafgesetzentwurf entlehnt9. Damit erweist sich die lapidare Tatbestandsfassung auch dieses "Gelegenheitsgesetzes" nicht als "Fehlleistung" infolge gesetzgeberischer Übereile: Die Formulierungen sind bewußt gewählt und keineswegs Zufallsprodukte, sondern symptomatisch für die neue Gesetzestechnik10.

4 5 6 7 8 9

10

Dazu [Nr. 49] lb. So die gesetzgeberische Absicht, vgl. Pfundtner/Neubert/Rietzsch (1933 ff.), II c 6, S. 118 und MeurerMeichsner (1974), S. 25 f. mwN. Pfundtner/Neubert/Rietzsch (1933 ff.), II c 6, S. 118; s. auch Freister, DJ 1939,35 f. Vgl. etwa v. Gemmingen, DStR 1939,20 ff. Zur Rspr. Meurer-Meichsner (1974), S. 27 ff. Vgl. v. Gemmingen, DStR 1939,7. Im E 1936 war die Vorschrift noch nicht enthalten, offenbar wurde sie später eingearbeitet, vgl. dazu Pfundtner/Neubert/Rietzsch (1933 ff.), II c 6, S. 117 f.; zu den Motiven aaO sowie bei MeurerMeichsner (1974), S. 21 ff. Anders die Schlußfolgerungen von Meurer-Meichsner (1974), S. 123, die zwar die Existenz eines entsprechenden Entwurfs erwähnt (S. 30 Fn. 75 unter Berufung auf Rietzsch, aaO), aber bei ihrer Interpretation beiseite läßt.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

C. DIE ZWEITE PHASE: 1939 bis 1945 Die Strafgesetzgebung im Krieg war überaus umfangreich. Sie beschränkte sich nicht auf zeitbedingtes Notrecht. Das zeigen allein schon die mannigfachen Änderungen des RStGB durch vier Reichsregierungsgesetze und zahlreiche Verordnungen. Unter anderem wurden die Vorschriften über den Geltungsbereich des Strafrechts, über Versuch, Teilnahme und Verbrechensvorbereitung geändert. Der Landesverrat, die Abtreibung, die Unterhaltspflichtverletzung, die Aussagedelikte, Mord, Nötigung, Erpressung und zahlreiche andere Delikte waren Gegenstand einer Strafrechtsreform, die in erheblichen Umfang den Krieg überdauerte 1 . Das Jugendstrafrecht schließlich wurde 1943 durch das Reichsjugendgerichtsgesetz im ganzen novelliert2. Diejenigen Verordnungen, die das RStGB nicht ändern, beweisen damit noch nicht ihren ausschließlich kriegsbedingten Charakter. Die Wehrkraftzersetzung des § 5 KriegssonderstrafrechtsVO 3 oder die Verordnung zum Schutze des Reichsarbeitsdienstes4 beispielsweise waren dem Strafgesetzentwurf von 1936 entlehnt und dokumentierten schon durch diese Verwandtschaft ihren Geltungsanspruch für Friedenszeiten. In anderen Verordnungen brechen sich Tendenzen Bahn, die für das künftige Friedensstrafrecht richtungweisend sein konnten. Das gilt etwa für die Verordnung gegen Volksschädlinge, wenn ihr eine Stoßrichtung gegen bestimmte Tätergruppen beigelegt wurde5 oder für die berüchtigte PolenstrafrechtsVO als Modell eines nationalsozialistischen Fremdvolkstrafrechts6. Auch bei den Neuregelungen außerhalb des RStGB fragt sich also stets, ob es sich um "Notrecht" oder um Vorboten und Schrittmacher eines künftigen Strafrechts handelt. Selbst das Kriegsrecht im engeren Sinne, das den Kriegszustand tatbestandlich voraussetzt, muß kein "Recht des Tages für den Ausnahmefall" sein, das sich "vom Friedensrecht auch innerlich" unterscheidet: Es kann ebenso gut auch "den eigentlichen Gehalt und die inneren Kräfte der Rechtsordnung, von allen Rücksichten und Nebenerwägungen befreit hervortreten lassen", also das Friedensstrafrecht "in seinem Kern und eigentlichen Wesen" besonders scharf umreißen7. Die formelle Seite der Regelsetzung ist zunächst zu umschreiben (dazu I); die wesentlichen Inhalte der Verordnungen und Gesetze werden dargestellt (dazu II).

1 2 3 4 5 6 7

Vgl. [Nr. 3η, [Nr. 49] und [Nr. 33], [Nr. 48], [Nr. 39]. S. etwa auch [Nr. 30], [Nr. 36], [Nr. 44], [Nr. 46], [Nr. 47], [Nr. 48] und dort die Nachw. zur Fortgeltung. Vgl. [Nr. 51]. Dazu [Nr. 26], Dazu [Nr. 34], Dazu [Nr. 29], Dazu [Nr. 40], 4. Vgl. Dohm, FS Siber (1941), S. 187 Fn. 4.

C. Die zweite Phase: 1939 bis 1945

203

I. Zur formellen Seite der Gesetzgebung Bis Kriegsausbruch sind die Zuständigkeiten für die strafrechtliche Regelsetzung vergleichsweise übersichtlich: Das Notverordnungrecht des Reichspräsidenten1 hat schon länger ausgedient. Das Reichstagsgesetz2 spielt in der alltäglichen Gesetzgebungsarbeit keine Rolle. Das Reichsregierungsgesetz3 ist die regelmäßige Form der Gesetzgebung. Neben sie ist für die Strafgesetzgebung bis dahin nur das gesetzesmächtige Verordnungsrecht des Beauftragten für den Vieijahresplan Göring getreten4. Das Notverordnungsrecht wird in der Kriegsgesetzgebung nicht wieder belebt. Das Reichstagsgesetz spielt im folgenden keine Rolle; auf den Beschluß des Großdeutschen Reichstags vom 26. April 1942 wird im 3. Teil zurückzukommen sein5. Auch auf Görings Verordnungsrecht in seiner Eigenschaft als Beauftragter für den Vierjahresplan beruht keine der nachstehend behandelten Verordnungen. Dieses Verordnungsrecht sollte aber den rechtlichen Ausgangspunkt der polizeilichen Ahndung von Straftaten ausländischer Zivilarbeiter bilden6. Das Reichsregierungsgesetz taucht im folgenden verschiedentlich auf. Dreimal sind die Vorschriften über den Landesverrat betroffen, zuletzt 1944; ferner wird das wichtige Änderungsgesetz vom 4. September 1941 in diesem Gewände erlassen7. Vom Reichsregierungsgesetz wird also selten Gebrauch gemacht, es hat aber nicht ausgedient. So sollte etwa auch das überaus weitreichende Gemeinschaftsfremdengesetz auf dieser Bahn in Kraft gesetzt werden8. Neben den Reichsregierungsgesetzen ergehen ab 1939 "Verordnungen", die ungeachtet ihrer Bezeichnung gesetzesgleiche Wirkungen entfalten. Die Ranggleichheit zeigt sich u. a. daran, daß im "Verordnungs"-Weg das RStGB mehrfach geändert wird9. Auch ein "Erlaß" mit gesetzesgleichen Wirkungen, ja sogar mit der Bedeutung eines Verfassungsgesetzes ist 1939 zu verzeichnen10. Im folgenden werden die Herausgeber der Gesetze und Verordnungen, die "Gesetzgeber", vorgestellt. Es treten auf: Der Ministerrat für die Reichsverteidigung (dazu 1); er beherrscht namentlich in den ersten Kriegsjahren die Gesetzgebung. Als zweites Gremium arbeitet, freilich nur vereinzelt, ein "Dreierkollegium" (dazu 2). Später erscheint "Der Führer" selbst und erläßt führerunmittelbar einige wenige Führerverordnungen strafrechtlichen Inhalts (dazu 3). Ab 1942 fächern sich die Zuständigkeiten weiter auf: Verschiedene Stellen und Personen setzen aufgrund besonderer Führervollmachten oder aufgrund besonderer Ermächtigungen in Gesetzen oder Verordnungen Strafrecht (dazu 4, 5).

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10

Dazu 2. Teil A I und [Nrn. 1-4], Dazu 2. Teil A I und [Nr. 17], Dazu 2. Teil A I und die einzelnen Gesetze [Nr. 5] ff. Dazu 2. Teil Β I und [Nrn. 23-24], RGBl. I, S. 247 und unten 3. Teil DI; s. auch schon [Nr. 14], Dazu 3. Teil E. Vgl. [Nrn. 30,39,46,53]. Dazu 4. Teil. Vgl. nur [Nrn. 37,38,49] und besonders deutlich [Nr. 51], vgl. dort la. Vgl. Führererlaß v. 8.10.1939 die eingegliederten Ostgebiete betreffend [Nr. 40] 2a.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

1. Der Ministerrat für die Reichsverteidigung Unmittelbar vor Kriegsausbruch setzte Hitler in einem Führererlaß "für die Zeit der gegenwärtigen Spannung... zur einheitlichen Lenkung der Verwaltung und Wirtschaft" den "Ministerrat für die Reichsverteidigung" ein11. Er wurde aus dem Reichsverteidigungsrat als "ständiger Ausschuß" gebildet. Dem Ministerrat gehörten als ständige Mitglieder der als Person besonders genannte Generalfeldmarschall Göring als Vorsitzender an, ferner fünf Amtsinhaber, nämlich der Stellvertreter des Führers (Heß), der Generalbevollmächtigte für die Reichsverwaltung (Reichsinnenminister Frick), der Generalbevollmächtigte für die Wirtschaft (Reichswirtschaftsminister Funk), der Reichsminister und Chef der Reichskanzlei (Lammers) und der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht (Keitel). Bei der Einsetzung des Ministerrats ging es Hitler, der im Krieg den "feldgrauen Rock" anziehen wollte, darum, sich zu entlasten und gleichzeitig die "einheitliche Leitung der Verwaltung und der Wirtschaft... nach den Erfordernissen der Reichsverteidigung" sicherzustellen12. Der Ministerrat traf seine Entscheidungen ohne Hitler, blieb aber "selbstverständlich dem Führer unterstellt"13: Der Ministerrat war ja von Hitler eingesetzt und damit von ihm natürlich auch absetzbar. Die Verbindung zum Führer hielt namentlich der Reichsminister und Chef der Reichskanzlei, Lammers. Dem Ministerrat war für die Kriegszeit die Rolle einer zivilen Kriegsregierung zugedacht, der die Kriegsgesetzgebung und die Leitung der Kriegsverwaltung obliegen sollte. Nach den Worten Fricks (1940) war der Ministerrat für die Kriegsdauer "das höchste, nur dem Führer verantwortliche, ständig tätige und mit umfassender Zuständigkeit ausgestattete Organ des Reiches"14. Die personelle Zusammensetzung des Ministerrates entsprach diesen Zielen: Der Vorsitzende Göring war schon in seiner Eigenschaft als Beauftragter für den Vierjahresplan mit umfassenden Vollmachten ausgestattet, die von der neuen Funktion ausdrücklich unberührt blieben (Ziff. III des Erlasses). Sie wurden alsbald zu Lasten des Generalbevollmächtigten für die Wirtschaft auf die gesamte Kriegswirtschaft erweitert15. Dem Generalbevollmächtigten für die Reichsverwaltung wurden das Innenressort, dem Frick ohnehin vorstand, und neben drei weiteren Ministerien das Justizressort unterstellt. Die Justiz wurde also bemerkenswerterweise als Teil der Reichsverwaltung angesehen. Der Generalbevollmächtigte für die Wirtschaft wurde Anfang 1940 auf die Wirtschaftspolitik und die Kriegsfinanzierung beschränkt, die Oberleitung der Kriegswirtschaft Göring übertragen16. Die Verbindung zur Partei wurde durch die Person des Führerstellvertreters, später des Leiters der Partei-Kanzlei (Bormann), hergestellt; die Koordination mit der Wehrmacht sollte der Chef ihres Oberkommandos gewährleisten. Dem Reichsminister und Chef der Reichskanzlei oblag nach Zif-

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Führererlaß v. 30.8.1939, RGBl. I, S. 1539. Vgl. Frick, RVerwBl 1940, 126; s. ferner Huber, ZStaatW 101 (1941), 568 f.; v. Stutterheim (1940), S. 30; Ipsen, RVerwBl 1940, 23; Scheuner, DRWis 1940, 23 ff.; zusf. zum MfdRV Kirschenmann (1970), S. 114 ff. und in Anlehnung an Kirschenmann Schulte, JA 1985,332 f., Rapsch, in: Salje (Hrsg, 1985), S. 144 f.

13 14 15 16

Huber, aaO, 568; vgl. auch Ipsen, aaO. Frick, RVerwBl 1940,23. Vgl. auch Huber, aaO, 569; Ipsen, aaO. Dazu Frick, aaO. Zusf. Huber, ZStaatW 101 (1941), 572 f.

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C. Die zweite Phase: 1939 bis 1945

fer IV des Erlasses die "Geschäftsführung", die er auch für die Reichsregierung wahrnahm. Der Ministerrat konnte als solcher zwar keine Einzelweisungen an Partei oder Wehrmacht ausgeben, aber in gemeinsamen Anordnungen der jeweils zuständigen Mitglieder einheitliche Bestimmungen für Staat und Partei treffen 17 . Besonders hervorgehoben wurde im Führererlaß der spätere praktische Schwerpunkt der Ministerratstätigkeit, die auch für die Strafgesetzgebung wichtige Verordnungsgewalt der Ziffer II: "Der Ministerrat für die Reichsverteidigung kann Verordnungen mit Gesetzeskraft erlassen, falls ich nicht die Verabschiedung eines Gesetzes durch die Reichsregierung anordne".

Damit kam erstens zum Ausdruck, daß die Verordnungen des Ministerrats den Gesetzen gleichgestellt waren, diese also auch ändern konnten. Zweitens bestätigte die Ziffer II, daß dem Ministerrat die Rolle eines Kriegskabinetts zugedacht war, indem die Ministerratsverordnung als die gegenüber dem Reichsregierungsgesetz regelmäßige Form der Rechtsetzung bezeichnet wurde. Die Unterstellung unter den Führer kam im Vorrang einer Führeranordnung, natürlich nur "deklaratorisch", zum Ausdruck. Für den Bereich der Strafgesetzgebung wurde der Ministerrat seiner Rolle als Kriegskabinett in den ersten Kriegsjahren gerecht, namentlich 1939/1940 mit dem Erlaß von zehn Verordnungen gegenüber einem Reichsregierungsgesetz und einer Verordnung des Dreierkollegiums18. Die letzte strafrechtliche Verordnung des Ministerrats erging 194319; der Ministerrat hatte inzwischen auch auf anderen Gebieten erheblich an Bedeutung eingebüßt, was u. a. mit dem schwindenden Einfluß Görings zusammenhing20. Die Ministerratsverordnungen wurden zunächst offenbar auf dazu einberufenen Sitzungen beraten; ab Dezember 1939 ergingen sie nur noch im Umlaufweg, da der Ministerrat von diesem Zeitpunkt an nicht mehr tagte21. Die Zeichnung der Verordnungen erfolgte nur in zwei Fällen durch alle Mitglieder des Ministerrates22. Im übrigen zeichneten stets der Vorsitzende Göring und sein Geschäftsführer Lammers, meist kamen der Generalbevollmächtigte für die Reichsverwaltung oder sein Vertreter (für die Justiz!) hinzu23. 2. Das "Dreierkollegium" Als weiteres Organ mit der Kompetenz zum Erlaß von Verordnungen mit Gesetzeskraft ist das sog. Dreierkollegium zu nennen24. Ihm gehörten zunächst der Generalbevollmächtigte für die Reichsverwaltung (Frick), der Generalbevollmächtigte für die Wirtschaft (Funk) und der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht (Keitel) an. Die Generalbevollmächtigten hatten 17 18 19

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24

Dazu Huber, aaO, 569. Vgl. [Nrn. 27] ff. [Nr. 48], Dazu zusf. Broszal10 (1983), S. 382 ff. Vgl. Gruchmann, FS Fraenkel (1973), 201 f. Vgl. [Nr. 28], [Nr. 43], Vgl. [Nrn. 29] ff. Vgl. die Bezeichnungen bei Frick, RVerwBl 1940, 126; Huber, ZStaatW 101 (1941), 573. Zusf. Kirschenmann (1970), S. 116 f.; s. auch Rapsch und Schulte, wie Fn. 12.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

nach Frick "die Befugnis in wechselseitigem Einvernehmen und mit Zustimmung des Oberkommandos der Wehrmacht Rechtsverordnungen zu erlassen, die von den bestehenden Gesetzen abweichen", also eine gesetzesvertretende Verordnungsgewalt jeweils für ihren Bereich25. Eine veröffentlichte Ermächtigung des Führers fehlte. Die zeitgenössische Literatur nahm deshalb an, die Verordnungsgewalt beruhe auf einer "nicht veröffentlichten gesetzlichen [!] Ermächtigung" und Schloß dies aus den Einleitungsformeln der entsprechenden Verordnung des Dreierkollegiums26. Das Dreierkollegium ist also schon deshalb bemerkenswert, weil es die Existenz einer nicht veröffentlichten Führervollmacht zur Gesetzgebung voraussetzt und deren Wirksamkeit durch anhaltenden Vollzug beweist. In dieses Kollegium trat Anfang 1940 an Stelle Funks der Beauftragte für den Vierjahresplan Göring ein27. Damit war die Verordnungsgewalt des Dreierkollegiums nur noch für den Generalbevollmächtigten für die Reichsverwaltung interessant: Göring war in seiner Eigenschaft als Beauftragter für den Vierjahresplan ja ohnehin mit exekutivischer Befehlsgewalt und Rechtssetzungsbefugnis ausgestattet28. Der nach Kirschenmann "unbegreifliche"29 Sinn und Zweck des Dreierkollegiums bestand darin, die Generalbevollmächtigten und später den Generalbevollmächtigten für die Reichsverwaltung allein mit einer eigenen Rechtssetzungsbefugnis auszustatten und ihre Stellung derjenigen Görings in seinem Zuständigkeitsbereich als Beauftragter für den Vierjahresplan anzunähern. Wegen der Zustimmungserfordernisse blieb die Verschmelzung von Exekutivgewalt und Rechtsetzungsbefugnis freilich unvollständig; die Generalbevollmächtigten waren nicht, jeder für sich, "alter ego" des Führers30, sondern gewissermaßen Inhaber einer "hinkenden" Führergewalt: Sie konnten nicht kraft eigener Zuständigkeitsvollkommenheit handeln, sondern nur, wenn die Zustimmungen der beiden anderen Herren bei ihnen eingingen. Immerhin konnte so Frick ab 1940 ohne Bindung an die Zustimmung der übrigen drei Mitglieder des Ministerrats auf seinem Arbeitsgebiet eine Reihe von Verordnungen erlassen31. Der von Frick behauptete Zweck der Einsetzung des Dreierkollegiums, nämlich eine "vereinfachte Rechtsetzung", wurde also durchaus erreicht32. Für das im folgenden näher interessierende materielle Strafrecht sind nur zwei einschlägige Verordnungen Fricks auszumachen; von erheblicher Bedeutung für das Verfahrensrecht war u. a. die Verordnung Fricks vom 21. Februar 194033.

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Vgl. Frick, aaO. Vgl. Huber, ZStaatW 101 (1941), 573. Hervorhebung G. W. Vgl. Frick, RVerwBl 1940,126; Huber, aaO, 572 f. Dazu 2. Teil Β I. Kirschenmann (1970), S. 117. Vgl. oben ΒI zur Stellung des BfdVj Göring. Vgl. die Nachw. bei Huber, ZStaatW 101 (1941), S. 574 Fn. 3; s. auch Kirschenmann (1970), S. 117. Vgl. Frick, RVerwBl 1940,126. Vgl. [Nrn. 34, 471 und VO 1940, RGBl. I, S. 405.

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C. Die zweite Phase: 1939 bis 1945

3. Direkte Führergesetzgebung Der "oberste Gesetzgeber" Hitler hatte mit der Einsetzung des Ministerrats seine nicht abgeleitete Führergewalt erneut bewiesen und wohl nicht ganz zufällig erstmals als "Der Führer" gezeichnet34, also nicht mehr mit der in ihrem zweiten Teil nach Weimar zurückweisenden Amtsbezeichnung "Der Führer und Reichskanzler". Hitler hatte schon seit 1934 Erlasse und Verordnungen herausgegeben und, was das Strafrecht angeht, seit 1939 auch Amnestien durch Führererlaß verfügt; die Bezeichnung Führer"Gesetz" wurde dabei und in der Folge stets vermieden35. Die erste allgemeine Strafbarerklärung im Gewände einer Führerverordnung ließ lange auf sich warten: Die KriegssonderstrafrechtsVO 36 war Ausfluß des militärischen Verordnungsrechts; der Erlaß über die Gliederung und Verwaltung der Ostgebiete hatte seinen Schwerpunkt im Staats- und Verwaltungsrecht und betraf das Strafrecht überdies nur territorial beschränkt37. Ende 1941 erging dann eine Führerverordnung zum Schutze der Wintersachensammlung für die Front, der sich 1942 und 1945 zwei weitere Führerverordnungen strafrechtlichen Inhalts anschlossen38. Diese Führerverordnungen ergingen aus besonderem Anlaß oder hatten den Charakter eines persönlichen Appells des Führers; ihre Hauptbedeutung lag in der unmittelbaren Verkörperung der Gesetzgebungsgewalt des Führers39. 4. Zuständigkeiten durch besondere Fiihrervollmachten (ab 1942), insbesondere für den Reichsjustizminister Am 20. August 1942 ernannte Hitler den bisherigen Präsidenten des Volksgerichtshofes Thierack zum neuen Reichsjustizminister. Thierack löste den seit dem Tode Gürtners geschäftsführenden Reichsjustizminister Schlegelberger ab, der in den Ruhestand ging. Rothenberger, der Hitler durch seine Vorstellungen zur Justizreform aufgefallen war40, wurde Staatssekretär, der bisherige Staatssekretär im Reichsjustizministerium Freisler Präsident des Volksgerichtshofs41. Hitlers Vertrauen zum neuen Reichsjustizminister wurde durch die Erteilung besonderer Vollmachten im Führererlaß vom 20. August 1942 dokumentiert 42 . Der "Erlaß des Führers

34 35 36 37 38 39 40 41 42

RGBl. I, S. 1539. Zum Ratespiel um den Sinn der Zeichnung vgl. Scheuner, DRWis 1940, 35; Weber, ZStaatW 102 (1942), 126; Wacke, ZStaatW 104 (1944), 291 f. Dazu Weber, aaO, 101 ff. [Nr. 26], Vgl. [Nr. 40] 2a. Vgl. [Nr. 41], [Nr. 42] und [Nr. 54], Zu FührerVO und -erlaß zusf. Kirschenmann (1970), S. 109 ff. Dazu Weinkauff, Justiz und Nationalsozialismus (1968), S. 150 ff. Vgl. zu den Lebensläufen dieser Herren DJ 1942, 551; zur Ära Schlegelberger (30.1.1941-20.8.1942) Weinkauff, aaO, S. 141 ff. RGBl. I, S. 535 und dazu DJ 1942, 549 f. - Weit zurückhaltender noch der Führererlaß v. 21. 3 1942, der die Grundzüge der Vereinfachung der Rechtspflege selbst festlegte und dem RMdJ, einvernehmlich mit dem RMuChdRk und dem Leiter der PK, die Durchführung überließ (RGBl. I, S. 140);

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

über besondere Vollmachten des Reichsministers der Justiz" hatte den Charakter eines persönlichen Auftrags und einer persönlichen Ermächtigung ("Ich beauftrage und ermächtige"). Der Auftrag Hitlers ging dahin "nach meinen Richtlinien und Weisungen ... eine nationalsozialistische Rechtspflege aufzubauen". "Aufbauen" - das hieß, daß nach Auffassung des Führers, hinlänglich dargelegt in der Führerrede vom 26. April 1942 vor dem Großdeutschen Reichstag, die existierende Rechtspflege das Attribut "nationalsozialistisch" jedenfalls nicht im ganzen verdiene. Die Vollmacht für Thierack war weitreichend: Der Justizminister konnte, nach Maßgabe der Richtlinien und Weisungen des Führers, "alle ... erforderlichen Maßnahmen treffen" und, so hieß es lapidar: "Er kann hierbei vom bestehenden Recht abweichen". Damit war dem Reichsjustizminister der unmittelbare Zugriff auf die strafrechtliche Regelsetzung eröffnet: Er war in seinem Bereich nicht nur Inhaber der Exekutivgewalt, sondern auch "Gesetzgeber". Zweifellos wurde damit die Stellung des Reichsjustizministers innerhalb der Reichsregierung und gegenüber dem Ministerrat für die Reichsverteidigung sowie dem Dreierkollegium gestärkt: Der Reichsjustizminister war bis dahin Vollzugsorgan des Ministerrats und des Dreierkollegiums, deren Verordnungen dem Reichsjustizminister ihre "Durchführung" oder allenfalls "Ergänzung" überließen43. Allerdings wurde Thierack mit seinen besonderen Führervollmachten bei Erfüllung der ihm gestellten Aufgabe keineswegs zum "alter ego" des Führers wie 1936 Göring: Nicht die "Richtlinien und Weisungen" des Führers, wohl aber die ausdrückliche Bindung aller Maßnahmen an das "Einvernehmen mit dem Reichsminister und Chef der Reichskanzlei und dem Leiter der Partei-Kanzlei" zeigten, daß Thierack allenfalls eine "hinkende" Führergewalt erlangte, ähnlich wie 1939 der Generalbevollmächtigte für die Reichsverwaltung Frick44. Wie Frick auf die Zustimmung Keitels und Görings blieb Thierack auf Einvernehmen mit Lammers und Bormann angewiesen, die im Korridor des Führers Partei und Staat vertraten 45 . Darüber hinaus besagten die besonderen Führervollmachten natürlich nichts über das Verhältnis von Justiz und Polizei; dessen Klärung hing von Thieracks Verhandlungen mit Himmler, dem Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei, ab46. Thierack machte 1943 für den Bereich des materiellen Strafrechts mit der StrafrechtsangleichungsVO vom 29. Mai 1943 von seinen Vollmachten Gebrauch und erließ Ende 1943 das RJGG 47 . Für das Verfahrensrecht war die 3. Verordnung zur Vereinfachung des Strafverfahrens, ebenfalls vom 29. Mai 1943, bedeutsam48. Die besonderen Vollmachten wurden durch den Erlaß des Führers über den totalen Kriegseinsatz vom 25. Juli 194449 insoweit modifiziert, als nach Ziffer I Abs. 2 jenes Erlasses

43

vgl. auch die Ermächtigung im Führererlaß v. 8. 10. 1939 (betr. eingegliederte Ostgebiete) und dazu [Nr. 40] 2. Vgl. etwa § 7 VolksschädlingsVO [Nr. 29], § 6 GewaltverbrecherVO [Nr. 33], Art. III Abs. 4 GeltungsVO [Nr. 3 η und zuletzt VO v. 9.3.1943 [Nr. 48] 4.

44

Vgl. soeben 2.

45

Dazu und zum Verhältnis Bormann/Lammers Broszat10 (1983), S. 389 ff., 394; Gruchmann, FS Fraenkel (1973), S. 209 ff. Dazu bes. 3. Teil Β IV 3a cc und dd; 4. Teil A II 2. Vgl. [Nrn. 49,51].

46 47 48

R G B l . I, S. 342.

49

RGBl. I, S. 161. Zeichnung: Der Führer Adolf Hitler, RMuChdRk Lammers und Leiter der PK Bormann.

C. Die zweite Phase: 1939 bis 1945

209

das "Einvernehmen" nunmehr auch mit dem Generalbevollmächtigten für die Reichsverwaltung hergestellt werden mußte. Die ministeriellen Verordnungen ergingen fortan aufgrund des Führererlasses über besondere Vollmachten "in Verbindung" mit dem Erlaß vom 25. Juli 194450. Gegen Kriegsende traten weitere Vollmachten des Führers hinzu oder zumindest beriefen sich die Herausgeber verschiedener Verordnungen auf solche Ermächtigungen: Eine Verordnung unter Federführung des "Reichsbevollmächtigten für den Kriegseinsatz" Goebbels verwies auf einen "Führerbefehl" und eine nicht näher bezeichnete "besondere gesetzliche Ermächtigung"51. Andere Regelsetzungen beriefen sich schlicht auf einen "Befehl des Führers"52 oder einen "Auftrag des Führers"53 und betonten das "Einvernehmen" mit bestimmten anderen Stellen. Diese Entwicklung stand im Zeichen des unmittelbar bevorstehenden Zusammenbruchs. Es ist aber nicht ohne Interesse, daß die "Gesetzgeber" sich nicht aus dem Füllhorn geschriebener Ermächtigungen bedienen, sondern auf den "Führerwillen" verweisen54: Dieser Verweis, mag er im Einzelfall zutreffen oder nicht, enthüllt vielleicht gerade im Todeskampf des Dritten Reiches den "Kern" und das "eigentliche Wesen" seines Rechtssystems, nachdem Anfang 1945 nun wirklich alle "Rücksichten und Nebenerwägungen" bedeutungslos waren55. 5. Zuständigkeiten kraft Sub-Delegation Strafrechtliche Regelsetzung, Änderungen des RStGB eingeschlossen, erfolgte vielfach auch aufgrund von Sub-Delegationen, die nicht unmittelbar von Hitler erteilt waren. Solche Sub-Delegationen enthielten Reichsregierungs-56 und Reichstagsgesetze57 ebenso wie Verordnungen des Ministerrats58, des Dreierkollegiums59 oder Verordnungen, die Thierack aufgrund seiner besonderen Vollmachten erließ60. Sub-Delegationen sind der Gesetzgebung im allgemeinen schon längst vertraut 61 und erlangen in der strafrechtlichen Regelsetzung ab 1939 zunehmende Bedeutung. Die entsprechenden, von einer speziellen Sub-Delegation abhängigen Verordnungen ergänzten das ermächtigende Regelwerk, führten es aus oder erläuterten es authentisch. Scharfe Grenzen sind hier nicht zu ziehen; die folgende Darstellung wird auf die einzelnen Fälle zu sprechen kommen. Vorweg ist nur hervorzuheben, daß den "ergänzen50 51 52 53

54 55 56

57 58 59 60 61

Vgl. [Nr. 52] und für das Verfahrensrecht 4. VereinfachungsVO v. 13.12.1944, RGBl. I, S. 339. Vgl. [Nr. 55]. StandgerichtsVO v. 15.2.1945, RGBl. I, S. 30. Zeichnung: RMdJ Thierack. [Nr. 56], Besonders symptomatisch angesichts der "besonderen Vollmachten" und des Einvernehmens mit dem RMuChdRk, dem Leiter der PK und dem RMdl Thieracks StandgerichtsVO (Fn. 52). Vgl. Dohm, FS Siber (1941), S. 187 Fn. 4 und soeben bei C Fn. 1. Vgl. z. B. [Nr. 39] 6. Dazu bei [Nr. 50]. Vgl. Fn. 43. Vgl. § 411 VO v. 21.2.1940, RGBl. I, S. 405. Dazu [Nr. 49] 13,14. Vgl. den Systematisierungsversuch bei Hübet* (1939), S. 254 ff.; s. auch Dohm, Deutsches Recht (1944), S. 233 ff.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

den" oder "durchführenden" Verordnungen vielfach eigenständige Bedeutung zukommt: Verwiesen sei etwa auf die 13. Verordnung zum Reichsbürgergesetz62 oder auf die Einfügung neuer Tatbestände in das RStGB im Wege einer Durchführungsverordnung63. Auf Voraussetzungen, Implikationen und Weiterungen der darin ausgedrückten Einebnung von Normenhierarchien ist jeweils aus gegebenem Anlaß und in der zusammenfassenden Interpretation einzugehen64. II. Die einzelnen Verordnungen und Gesetze [Nr. 26] Verordnung über das Sonderstrafrecht im Kriege und bei besonderem Einsatz (Kriegssonderstrafrechtsverordnung) vom 17. August 1938 /26. August 1939. Die KriegssonderstrafrechtsVO1 (KSStVO) hatte den Zweck, "einige bedenkliche Lükken"2 des Militärstrafgesetzbuches für die Dauer des Krieges zu schließen. Die Sondertatbestände über Spionage (§ 2), Freischärlerei (§ 3) oder Fahnenflucht (§ 6) werden im folgenden nicht weiter interessieren. Näher betrachtet werden soll § 5 (dazu 1, 2); die wenig später ergangene 1. Ergänzungsverordnung ist anzusprechen (dazu 3). 1. Die Wehrkraftzersetzung (§ 5) § 5 bedrohte die wichtigsten Fälle der Wehrkraftzersetzung mit der Todesstrafe, in minder schweren Fällen mit Zuchthaus oder Gefängnis. Die Vorschrift ersetzte zu einem erheblichen Teil die dem Schutz der Wehrkraft dienenden Bestimmungen des Reichs- und Militärstrafgesetzbuches3. Die Nummern 2 und 3 des § 5 I lagen auf der Entwicklungslinie der Hoch- und Landesverratstatbestände und entsprachen dem "Willensstrafrecht": § 5 I Nr. 2 stellte das "Unternehmen" des Verleitens von Soldaten zur Fahnenflucht oder des sonstigen "Untergrabens der Manneszucht" unter verschärfte Strafe. § 5 I Nr. 3 erfaßte das "Unternehmen" der Wehrpflichtentziehung. Für beide Tatbestände diente der E 1936 als Vorlage4. Als Paradebeispiel einer rechtswidrigen nationalsozialistischen Vorschrift gilt § 5 I Nr. I s , der die öffentliche Zersetzung des Wehrwillens erfaßte und von den Vorschriften der KriegssonderstrafrechtsVO die größte praktische Bedeutung erlangte. Mit der Todesstrafe wurde danach bedroht, "wer öffentlich dazu auffordert oder anreizt, die Erfüllung der Dienstpflicht in der deutschen oder einer verbündeten Wehrmacht zu verweigern, oder sonst öffentlich den Willen des deutschen oder verbündeten Volkes zur wehrhaften Selbstbehauptung zu lahmen oder zu zersetzen sucht". 62 63 64 1 2 3 4 5

[Nr. 50]. [Nr. 49] 13,14. Zusf. 5. Teil Β 13, s. auch Α, Β III 3. RGBl. I, S. 1455. Es zeichnen: Der FuRk Hitler und der ChdOKW Keitel. Aufgehoben durch KRG Nr. 11, Art. II lc. Vgl. Freisler/Grau/Krug/Rietzsch (1941), S. 159. Im einzelnen aaO, S. 160 mit Nachw. Vgl. § 51 Nr. 2 KSStVO und §§ 146,147 E 1936 sowie § 51 Nr. 3 KSStVO und §§ 152,153 E 1936. Vgl. ζ. B. Eb. Schmidt (1965), S. 434; Schorn (1963), S. 119.

C. Die zweite Phase: 1939 bis 1945

211

Namentlich diese Vorschrift habe "die Diktatur Hitlers schützen und festigen" sollen, ihre "weite Fassung ... zu Todesurteilen geführt, die als grausam und unbarmherzig und reiner staatspolitischer Willkür dienend bezeichnet werden" müßten6. Die Vorschrift war trotz ihrer politisch-weltanschaulich aufgeladenen Begriffsbildung und ihrer Plazierung im Kriegssonderstrafrecht keine spezifisch kriegsbedingte "Perversionserscheinung": Sie entsprach auch den Grundgedanken nationalsozialistischen "Friedens"Strafrechts. Der Tatbestand des § 5 I Nr. 1 war nahezu wörtlich dem § 144 E 1936 entlehnt. Die KriegssonderstrafrechtsVO beschränkte sich darauf, die Strafe zu schärfen und die Verbündeten einzubeziehen7. Die Begründung des E 1936 erhellt die Gründe für den unerbittlichen "Klimaschutz": Die Erfahrungen des Weltkrieges hätten gezeigt, wie wichtig "die Erhaltung unerschüttlicher Geschlossenheit des hinter dem Heere stehenden Volkes" für die "Verteidigung des Vaterlandes" sei. Alle "pazifistischen Bestrebungen", die darauf abzielten, die "soldatische Haltung des Volkes zu schwächen oder allgemein die Disziplin zu unterhöhlen" seien zu erfassen. Der "völkische Wehrwille" dürfe weder "aus Feigheit noch aus weltanschaulicher Überzeugung gelähmt werden"8. Diese Begründung knüpfte unverkennbar an Hitlers Erwägungen über die Bedeutung des "völkischen Selbsterhaltungstriebes" an: Hitler betrachtete diesen "Selbsterhaltungstrieb" als wesentlichen Faktor für die effektive äußere Macht eines Volkes9. Die Rechtsprechung stellte die Weichen für die breite Anwendung des § 5 I Nr. 1 KSStVO, indem sie das einzige Merkmal von potentiell einschränkender Kraft, den Begriff "öffentlich", weit ausdehnte. "Öffentlich" handelte nicht nur derjenige, dessen Äußerung von einem unbestimmten größeren Personenkreis wahrgenommen werden konnte, sondern auch, wer "nach und nach gegenüber einer unbestimmten Anzahl von Personen Äußerungen" machte, oder "wer sich zwar an bestimmte Personen" wandte, aber damit rechnete, "daß seine Äußerungen durch diese in weitere Kreise und damit in die Öffentlichkeit gelangen"10. Nach einer - allerdings umstrittenen - Entscheidung des Reichskriegsgerichts sollte es sogar genügen, wenn der Täter mit einer Weiterverbreitung hatte rechnen müssen11. Als "nicht-öffentlich" waren danach nur Äußerungen im engsten Kreis anzusehen, wenn Gewähr dafür be-

6 7 8 9 10

Schorn, aaO. § 144 E 1936; Gefängnis nicht unter drei Monaten, in besonders schweren Fällen Zuchthaus. Vgl. Begr. E 1936, S. 106 f. und die Bezeichnung des § 144: "Zersetzung des völkischen Wehrwillens". Vgl. Mein Kampf, S. 148,166,365 f., 371,775 und zusf. Zweites Buch, S. 68. Vgl. RGSt. 76,118,119 im Anschluß an RKG 2, 60, 61, 62 (Entscheidungen des 2., 3. und 1. Senats). S. auch die amtlichen Erläuterungen zu § 5 KSStVO, abgedruckt bei Dombrowski4 (1941), S. 18 f.; die Rspr. des RKG wurde in der Amtl. Begr. zur VO v. 18. 5. 1940 (Übergang der Verfahren nach § 5 KSStVO an die allgemeine Gerichtsbarkeit) als "den Belangen der Wehrmacht gerecht" werdend gebilligt. Diese Begr. ist abgedruckt bei Grau/Krug/Rietzsch2 (1943), S. 5. Vgl. auch die Grundsätze der Reichskriegsanwaltschaft zu § 5 KSStVO, a), abgedruckt bei Dombrowski4 (1941), S. 19: "Die Flüsterpropaganda des Zersetzers, der über totsichere Informationen verfügt, ist unter Umständen gefährlicher als das Biertischgeschwätz in der öffentlichen Wirtschaft". - Zur Rspr. des RKG zur Wehrkraftzersetzung Messerschmidt/Wüllner (1987), S. 132 ff., zum Merkmal "öffentlich" S. 154 ff. - Die Arbeit von Messerschmidt/Wüllner ist als "Gegenbuch" zur methodisch äußerst anfechtbaren ("Rechtfertigungs"-)Schrift von Schweling (1977) konzipiert ("Zerstörung einer Legende", vgl. Messerschmidt/Wüllner, S. 9 ff.) und vor dem Hintergrund des Gegen-Bildes zu lesen. Zu Fallbeispielen aus der Praxis des SG Berlin Schimmler (1984), S. 77 ff.

11

RKG 2,62,63. Krit. z. B. Grau/Krug/Rietzsch2 (1943), S. 15 mit Nachw.; Schwinge5 (1943), S. 405 f.

212

2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

stand, daß diese nicht darüber hinaus dringen konnten 12 . Ein solches "tatkräftiges Durchgreifen" hielt das Reichskriegsgericht 13 nach "Sinn und Zweck" des § 5 I Nr. 1 KSStVO für erforderlich, da dieser die Zersetzung des Wehrwillens durch jede bewußte Einwirkung auf einen größeren Personenkreis verhindern wolle14. Die "vor allem gegen pazifistische Bestrebungen" gerichtete Vorschrift 15 erfaßte als "sonstige" Lähmung oder Zersetzung des Wehrwillens jede Art "wehrfeindlicher" Äußerungen im weitesten Sinne. Dazu gehörten u. a. die Verbreitung mutlos machender Nachrichten, die Weitergabe ausländischer Rundfunknachrichten oder von Nachrichten, die geeignet waren, das Vertrauen zu Staats- oder Wehrmachtführung zu erschüttern u. a. m.16. Entsprechend dieser Zweckrichtung wurden alle irgendwie "defätistischen" Äußerungen mit zunehmender Schärfe nach § 5 I Nr. 1 KSStVO bestraft 17 . 2. Strafvorschrift und Zuständigkeit § 5 hatte schon angesichts des von einem Tag Gefängnis in minder schweren Fällen bis zur Todesstrafe reichenden Gesamtstrafrahmens nur den Charakter einer Rahmenvorschrift. Zudem setzten auch die Tatbestände selbst angesichts ihrer weiten Fassung den politisch "einfühlsamen", den "verständnisvoll verbündeten" Richter 18 voraus. Das gilt namentlich für die öffentliche Wehrkraftzersetzung des § 5 I Nr. 1 2. Alt. So war die Anwendungszuständigkeit von überragender Bedeutung. Die Verfahren wegen Wehrkraftzersetzung gehörten ursprünglich in die ausschließliche Zuständigkeit der Wehrmachtsgerichtsbarkeit 19 . Sie gingen dann zum 1. Juni 1940 in die Zuständigkeit der allgemeinen Gerichtsbarkeit über 20 , wobei die Staatsanwaltschaften bei öffentlicher Wehrkraftzersetzung ( § 5 1 Nr. 1) und sonst "in allen bedeutsamen Fällen" zur Anklageerhebung vor den Sondergerichten ("Standgerichte der inneren Front") angewiesen waren 21 . Anfang 1943 wurde für die öffentliche Wehrkraftzersetzung (§ 5 I Nrn. 1, 2 KSStVO) die Zuständigkeit des Volksgerichtshofs begründet 22 . Die zahlenmäßige Bedeutung der Verfahren wegen Wehrkraftzersetzung war beträchtlich und stieg im Verlauf des Krieges erheb12 13 14 15 16 17

18 19 20 21 22

RKG aaO, und Grau/Kmg/Rietzsch2 (1943), S. 14. RKG, aaO. RKG 2,61. Rittau3 (1941), S. 34 und Begr. E 1936, S. 107 (Fn. 8). Vgl. Schwinge5 (1943), S. 402 f. Eingehende Schilderung dieser Rspr. unter Betonung ihrer terroristischen Aspekte bei W. Wagner (1974), S. 278 ff. Zur Rspr. des SG Berlin vgl. Schimmler (1984), S. 76 ff. und noch S. 26 f., zur Wehrmachtsgerichtsbarkeit Messerschmidt/Wiillner und Schweling (vgl. Fn. 10). Dazu oben [Nr. 16] 2d, 2e, 4, 5,10. - Zum Verhältnis Richter/Gerichtsherr in der Wehrmachtsjustiz vgl. Messerschmidt/Wüllner (198η, S. 278 ff. § 2 Ziff. 4 der KriegsstrafverfahrensO v. 17. 8.1938, RGBl. 11939, S. 1457. Art. I Ziff. 1 und Art. VIII der 7. VO zur Durchführung und Ergänzung der KriegsstrafverfahrensO (Fn. 19) v. 8. 5.1940, RGBl. I, S. 787. AV des RJM v. 27. 5 1940 bei Krug/Schäfer/Stolzenburtf (1943), S. 20 f. Vgl. § 14 der ZuständigkeitsVO v. 21.2 1940, RGBl. I, S. 405 (Zuständigkeitsbegründung durch die Anklagebehörde). VO zur Ergänzung und Änderung der ZuständigkeitsVO v. 29.1.1943, RGBl. I, S. 76.

C. Die zweite Phase: 1939 bis 1945

213

lich an. 1943 waren rund 2500 Verfahren bei der Reichsanwaltschaft anhängig23. Der Tagesanfall betrug nach einem Bericht des Oberreichsanwalts vom 19. Februar 1944 durchschnittlich 25 Sachen, beim Kammergericht waren von Januar bis 9. November 1944 allein 893 vom Volksgerichtshof abgegebene Verfahren eingegangen24. Der Volksgerichtshof hat nach dem Urteil Wagners unter dem Einfluß Freislers den Anwendungsbereich des § 5 I Nr. 1 KSStVO in terroristischer Weise überspannt: Nur selten sei eine der abgeurteilten Äußerungen wirklich tatbestandsmäßig gewesen, nämlich wirklich geeignet, den Wehrwillen zu lähmen oder zu zersetzen. Als "ungeheuerlich" bezeichnet Wagner die trotz der bestehenden Milderungsmöglichkeit regelmäßig verhängten Todesstrafen25. Im Ergebnis bestrafte der Volksgerichtshof nach dem Urteil Wagners nicht nur "die das Regime gezielt angreifenden Äußerungen", sondern "alle Meinungsäußerungen, die der nationalsozialistischen Führung unerwünscht waren". Das "eigentliche Objekt" der Rechtsprechung des Volksgerichtshofs sei in diesem Bereich nicht die "wirkliche Staatsfeindschaft", sondern "die Mißstimmung der Bevölkerung" gewesen26. Die von ihm beobachte Häufigkeit von Denunziationsfällen, welche vielfach erst die Strafverfolgung auslösten, wertet Wagner dabei als Zeichen der "Entartung und Verwirrung der Moralbegriffe jener Zeit"27. Wagners Werturteile sind hier nicht zu kritisieren. Die Kritik an "Subsumtion" und Strafzumessung des Volksgerichtshof geht freilich von systemfremden Maßstäben aus. Die Zuständigkeitserklärung des Volksgerichtshofes hat angesichts der politisch-weltanschaulich aufgeladenen Vorschrift einen bestimmten Sinn: Sie soll die Umsetzung des Willens der politischen Führung gewährleisten, dessen Transport auch das "Gesetz" dient. Was aber bedeutet unter solchen Voraussetzungen "gesetzliche Tatbestandsmäßigkeit"? Kann sie überhaupt noch in kritischer Funktion gedacht werden, solange der Richter den verständnisvoll erkannten Willen der politischen Instanzen vollzieht? Diese aus systemimmanter Sicht entscheidenden Fragen werden von Wagner nicht gestellt.

3. Erste Ergänzungsverordnung vom 1. November 1939 Die "gleiche unmenschliche Härte" wie die KriegssonderstrafrechtsVO selbst brachte nach Schorn28 auch die Ergänzungsverordnung vom 1. November 193929. Diese ermöglichte eine Überschreitung des regelmäßigen Strafrahmens bei allen Straftaten von Personen, die dem Kriegsverfahren unterstanden, also nicht nur für Soldaten und Wehrmachtsbeamte, sondern ζ. B. auch für Wehrpflichtige des Beurlaubtenstandes oder Personen im Operationsgebiet der Wehrmacht30. § 5a KSStVO setzte voraus, daß die strafbaren Handlungen "gegen Mannes23

Urteil des NMG III, S. 222 der deutschen Übersetzung Anm. 11 zu Abschn. B, zitiert bei W. Wagner (1974), S. 280 Fn. 15.

24

Vgl. W. Wagner (1974), S. 280 f. mit Nachw. Zur Abgabe durch den Volksgerichtshof (mit Zustimmung des Oberreichsanwalts) § 5 III ZuständigkeitsVO v. 21.2 1940, RGBl. I, S. 405. W. Wagner (1974), S. 394 f. W. Wagner (1974), S. 392 f. Eingehende Schilderung der Rspr. des Volksgerichtshofs aaO, S. 278 ff. Vgl. auch Gribbohm, JuS 1969,109 ff. sowie die bei Hillermeier (1981), S. 44 ff., 51 ff. abgedruckten Urteile.

25 26

27

W. Wagner (1974), aaO.

28 29 30

Schorn (1963), S. 119. RGBl. I, S. 2131. Vgl. §§ 2 , 3 KriegsstrafverfahrensO v. 17.8.1938, ausgegeben am 26.8.1939, RGBl. I, S. 1458.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

zucht oder das Gebot soldatischen Mutes" verstießen und die "Aufrechterhaltung der Manneszucht oder die Sicherheit der Truppe" eine Strafschärfung erforderten. Für diese Fälle war Zuchthaus bis zu 15 Jahren, lebenslanges Zuchthaus oder die Todesstrafe vorgesehen. Die Strafschärfung sollte der Bekämpfung von Straftaten dienen, die "dem inneren Zusammenhalt und der Schlagkraft der Wehrmacht gefährlich werden" konnten31. Nach den amtlichen Erläuterungen brachte § 5a als Übergangsvorschrift eine Anpassung an die Strafrahmen des Entwurfs eines Wehrmachtstrafgesetzbuchs und ergänzte bis zu dessen Inkrafttreten zur wirksamen "Bekämpfung von Schädlingen" die allgemeinen Vorschriften32. Nach Schweling haben die deutschen Kriegsgerichte "bei Anwendung dieser weit gespannten Ermächtigung in aller Regel Vorsicht und Zurückhaltung geübt und sie auf Ausnahmefälle beschränkt"33, ein Befund, den zuletzt Messerschmidt und Wüllner nachhaltig in Frage gestellt haben34. [Nr. 27] Verordnung über außerordentliche Rundfunkmaßnahmen vom 1. September 1939 1. Der Zweck der Verordnung Die vom Ministerrat für die Reichsverteidigung erlassene Verordnung über außerordentliche Rundfunkmaßnahmen (RundfunkVO)1bezweckte den "Schutz der seelischen Einheit" und der "geistigen und willensmäßigen Geschlossenheit" des deutschen Volkes2 hatte also, parallel zu § 5 I Nr. 1 KSStVO, den "völkischen Selbsterhaltungstrieb" im Auge. Dieser sollte vor "zersetzenden" Einwirkungen der Kriegsgegner geschützt werden. Mit den Worten des Reichsgerichts sollte das "Gift, das insbesondere in den Nachrichten des Feindes enthalten ist", vom deutschen Volk ferngehalten werden, um ihm "auch auf diese Weise das seelische Durchhal-

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33 34

1

2

Vgl. Schwinge5 (1943), § 5a KSStVO Anm. I, S. 418. Erläuterungen zu § 5a KSStVO, abgedruckt bei Dombrowski4, S. 25. Zum Verhältnis zur VolksschädlingsVO (unten Nr. 24) vgl. Schwinge5 (1943), § 5a KSStVO Anm. III, S. 419 und die amtlichen Erläuterungen aaO. Zum Verhältnis zur GewaltverbrecherVO vgl. den bei Schwingt (1943), Anm. IV zitierten Erlaß des OKH. Schweling (1977), S. 300. Vgl. Messerschmidt/Wüllner (1987), S.120 ff. mit dem einschlägigen "GegenmateriaT (vgl. schon oben Fn. 10). Zur Arbeit Schweiings vgl. schon Stolleis, GWU 1978, 650 ff: Aus einer dreifachen Befangenheit als Beteiligter, Soldat und Jurist erwachse die schiefe Optik der Arbeit, die als wissenschaftliche Untersuchung unbrauchbar sei (S. 653). RGBl. I, S. 1683. Es zeichnen: Vors. des MfdRV Coring, StVdF Heß, GBV Frick, RMuChdRk Lammers·, aufgehoben durch KRG Nr. 11 Art. II le. - Zur Einordnung als rechtsstaatswidrig vgl. Schorn (1963), S. 119; Eb. Schmidt (1965), S. 435; s. auch Schroeder (1970), S. 173; Peters, Umgestaltung (1965), S. 25 ff. Vgl. Freister, DJ 1940, 107; s. ferner Gleispach I (1940), S. 40 ("seelische Haltung"); Grau/Krug/ Rietzsch2 (1943), Einf. zur RFVO, S. 25. Nütz (1940), S. 55 ff. will den "destruktiven Außenseiter" kennzeichnen, den es zu erfassen gelte.

C. Die zweite Phase: 1939 bis 1945

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ten in seinem Daseinskampfe zu erleichtern"3. Die "politische Propaganda" wurde "neben Heer, Marine und Luftwaffe als die vierte Waffe des Feindes angesehen4, mit dem dieser versuche, "von innen her die völkische Einheit und Kraft zu zerstören"5. Der Bekämpfung dieser "inneren Offensive"6 des Feindes diente die RundfunkVO, die ihren für die Auslegung der Einzeltatbestände bedeutsamen Zweck7 "markant in der Präambel ... zum Ausdruck" brachte8. Der bemerkenswerte Gesetzesvorspruch verdeutlichte die Zielrichtung der RundfunkVO folgendermaßen: "Im modernen Krieg kämpft der Gegner nicht nur mit militärischen Waffen, sondern auch mit Mitteln, die das Volk seelisch beeinflussen und zermürben sollen. Eines dieser Mittel ist der Rundfunk. Jedes Wort, das der Gegner herübersendet, ist selbstverständlich verlogen und dazu bestimmt, dem deutschen Volke Schaden zuzufügen. Die Reichsregierung weiß, daß das deutsche Volk diese Gefahr kennt, und erwartet daher, daß jeder Deutsche aus Verantwortungsbewußtsein heraus es zur Anstandspflicht erhebt, grundsätzlich das Abhören ausländischer Sender zu unterlassen. Für diejenigen Volksgenossen, denen dieses Verantwortungsbewußtsein fehlt, hat der Ministerrat für die Reichsverteidigung die nachfolgende Verordnung erlassen".

Überragende praktische Bedeutung hatte der im ersten Teil der Präambel erläuterte Schutzzweck, das Einbringen und die Wirkung von Mitteln seelischer Beeinflußung und Zermürbung zu verhindern. Die Strafbestimmungen galten deshalb nicht nur für die im zweiten Teil der Präambel angesprochenen "deutschen Volksgenossen"9; vielmehr wurde dieser Passus lediglich als "besondere Mahnung" an das deutsche Volk interpretiert 10 , so daß als Täter auch alle in Deutschland lebenden Ausländer in Betracht kamen. Andernfalls, so die maßgebliche Erwägung, könne nämlich über diese Ausländer "die feindliche Propaganda doch in das deutsche Volk eindringen"11. Die 3. Durchführungsverordnung zur RundfunkVO verdeutlichte die Erfassung auch von Ausländern, indem sie für das Abhören italienischer Sender durch italienische Staatsangehörige eine Ausnahmeregelung vorsah12.

3

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RGSt. 75, 197, 199. Die Ausdrucksweise entsprach der gängigen Diktion, vgl. die Nachw. bei Fn. 2 oder beispielsweise Dreher, DJ 1940, 1419: "Die VO soll das Eindringen des Giftes der feindlichen Lügenpropaganda in den Körper des Volkes verhindern". Vgl. Pfundtner/Neubert/Hilleke (1933 ff.), RV 1, Einf. S. 1. Best, DR 1939,1697. Best, aaO. Vgl. RGSt. 75,197,198. Grau/Krug/Rietzsch2 (1943), Einf. zur RFVO, S. 28. Grau/Krug/Rietzsch2 (1943), § 1 Anm. II 4, S. 31. AaO; vgl. auch RGSt. 75,197,202. Grau/Krug/Rietzsch2, aaO. Die VO v. 20.9.1940, RGBl. I, S. 1255 gestattete das Abhören italienischer Sender durch italienische Staatsangehörige und die Mitteilung der abgehörten Nachrichten durch sie an andere italienische Staatsangehörige.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht 2. D i e StrafVorschriften

a) Das Abhören ausländischer Sender (§ 1) § 1 RundfunkVO verbot das "absichtliche Abhören ausländischer Sender" und drohte mit Zuchthaus-, in "leichteren Fällen" mit Gefängnisstrafe. Damit sollte eine allgemeine "Sperre gegen das Eindringen" feindlicher Nachrichten "überhaupt" errichtet13 und zugleich die "seelische Selbstvergiftung"14 oder "seelische Selbstverstümmelung"15 von "deutschen Volksgenossen" getroffen werden. Erfaßt wurden damit nicht nur feindliche, sondern alle nichtdeutschen Sender, also etwa auch italienische16. Zur Klärung von Zweifelsfragen veröffentlichte das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda eine fortlaufend ergänzte "Gesamtaufstellung aller Rundfunksender, die zur Zeit abgehört werden dürfen"17. Auf inländische Schwarzsender war die RundfunkVO entsprechend anwendbar (§ 2 RStGB), doch erlangte diese Frage nur vereinzelt praktische Bedeutung18. Das Abhörverbot bezog sich auf alle Sender schlechthin, also nicht etwa nur auf Nachrichten oder politische Beiträge, sondern beispielsweise auch auf kulturelle oder musikalische Darbietungen19. Als Sachgrund wurde die im Einzelfall nicht vorhersehbare Möglichkeit der Einstreuung "einzelner politischer Werbemittel" genannt20. Vor allem standen Praktikabilitätserwägungen im Vordergrund: Den Gerichten sollten Zweifelsfragen hinsichtlich der Tatbestandsabgrenzung erspart, dem Täter die Berufung auf Irrtümer ("bequeme Ausreden"21) abgeschnitten werden22. Für die Ausscheidung nicht strafwürdiger Fälle sollte insoweit die "sachgemäße Handhabung" des erforderlichen Antrags (§ 5) durch die Gestapostellen sorgen23. Entsprechend der Zwecksetzung, das Eindringen feindlicher Propaganda zu verhindern, wurde auch das mittelbare Abhören ausländischer Sender, d. h. die Kenntnisnahme ihres Inhalts durch Mittelspersonen, die ihrerseits abredegemäß unmittelbar abhörten, einbezogen, und zwar entweder schon in unmittelbarer Anwendung des § l 24 oder doch im Wege der Analogie25. Auf der subjektiven Seite war hinsichtlich des Abhörens "Absicht" gefordert. Nicht

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Vgl. Grau/Krug/Rietzsch2 (1943), § 1 Anm. II, S. 27; vgl. ferner Gleispach I (1940), S. 40. So Preiser, DJ 1940,1415.

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So Freister, DJ 1940,107. Vgl. Fn. 12. Die Liste i. d. F. v. 27.10.1941 ist bei Grau/Krug/Rietzsch2 (1943), § 1 Anm. II 3, S. 30 abgedruckt. Vgl. SG Berlin HRR 1942, Nr. 328 und aaO. Zu Musiksendungen vgl. RGSt. 74,271,272. RG aaO; Pfundtner/Neubert/Hilleke (1933 ff.), RV 1, § 2 Anm. 1, S. 2; Grau/Kmg/Rietzsch2 (1943), § 1 Anm. II, S. 28. RGSt. 74,271,272. Vgl. RG aaO; Best, DR 1939, 1697 f.; Grau/Krug/Rietzsch1 (1943), § 1 Anm. II, S. 27 (ausführlich); Gleispach I (1940), S. 40. Vgl. RGSt. 74, 271,272 sowie unten 4. So OLG Breslau, DJ 1942,513. Vgl. SG Leipzig HRR 1942, Nr. 665 und SG Posen HRR 1942, Nr. 666; ferner Grau/Krug/Rietzsch2 (1943), § 1 Anm. II, S. 28 unter Berufung auf diese Entscheidungen gegen unmittelbare Anwendung

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C. Die zweite Phase: 1939 bis 1945

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absichtlich handelte etwa, wer beim Suchen eines Senders "über ausländische Sender hinweggleitet, so daß diese vielleicht für eine Sekunde mithörbar werden"26. Bezüglich des Merkmals ausländischer Sender sollte bedingter Vorsatz ausreichen27. b) Das Verbreiten von Nachrichten ausländischer Sender (§2) § 2 erfaßte die vorsätzliche Verbreitung von "Nachrichten ausländischer Sender, die geeignet sind, die Widerstandskraft des deutschen Volks zu gefährden" und drohte mit Zuchthaus, in besonders schweren Fällen mit der Todesstrafe. Während § 1 schon das Einbringen "gefährlicher ausländischer Nachrichten" verhindern sollte, richtete sich § 2 gegen die Breitenwirkung bereits eingedrungener Meldungen, gegen die "seelische Vergiftung" anderer28, und sagte der "zersetzenden Flüsterpropaganda schärfsten Kampf an29. Unter "Nachrichten" wurden Mitteilungen aller Art, also nicht nur Tatsachenmitteilungen, sondern ζ. B. auch Wertungen oder Mutmaßungen und dergleichen mehr30, verstanden, so daß die Geeignetheit zur Gefährdung der deutschen Widerstandskraft insoweit den entscheidenden Auslegungsmaßstab bildete. Dabei sollte jede irgendwie geartete, wenn auch nur entfernte Gefährdungseignung genügen31, etwa den "Glauben an den Sieg zu beeinträchtigen oder auch nur die Einsatzbereitschaft zu verringern", wie überhaupt jedes "Absinken der Stimmung" eine Gefährdung der deutschen Widerstandskraft bedeuten sollte32. Grundsätzlich wurden alle Nachrichten ausländischer Sender ohne Rücksicht auf ihren Wahrheitsgehalt erfaßt, die "ihrem Inhalte nach dem deutschen Volke in seinem Lebenskampf abträglich" sein konnten33. Erstrebt wurde die vollständige Abschirmung der deutschen Bevölkerung von allen irgendwie ungünstigen Nachrichten: Allein die zuständigen Stellen sollten über Zeit und Form der Bekanntgabe von Nachrichten entscheiden34. Ausländische Meldungen, die von deutschen Nachrichten abwichen - etwa Verlustmeldungen - waren schon deshalb in den

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(vgl. OLG Breslau, aaO): Eine direkte Anwendung des § 1 RFVO sei wegen des Wortlauts ("abhören") nicht möglich. Beispiel bei Freister, DJ 1940,106. Vgl. Kohlrausch/Lange3* (1943), Anh. Nr. 34, § 1 Anm. II. Preiser, DJ 1940,1415. Vgl. Grau/Kmg/Rietzsch2 (1943), § 1 Anm. II, S. 27 und § 2 Anm. 1, S. 34. Grau/Kmg/Rietzsch1 (1943), § 2 Anm. 3, S. 35. Dreher, DJ 1940, 1419 zieht eine Parallele zu § 2 Heimtückeges. [Nr. 15] und befürwortet - unter Berufung auf die "politische Zwecksetzung" der RFVO - die Einbeziehung von Hetzreden, Schmähungen usw. VGH DJ 1940,1115,1116. Grau/Kmg/Rietzsch2 (1943), § 2 Anm. 4, S. 35 f. Vgl. RG HRR 1942, Nr. 593 im Anschluß an RGSt. 75,197, 201. Bezeichnend RG HRR 1942, Nr. 593: Der Angeklagte hatte am 27. 3. 1941 nachmittags die über einen Berner Sender gehörte Nachricht vom Sturz der jugoslawischen Regierung verbreitet, die am 25. 3. 1941 dem Dreimächtepakt beigetreten war. Diese Nachricht wurde in der deutschen Morgenpresse vom 28. 3. 1941 mitgeteilt; Teile der Auflage wurden bereits am Abend des 27. 3. 1941, also wenige Stunden nach der Verbreitung der Nachricht durch den Angeklagten, verkauft. Das zuständige SG hatte deshalb freigesprochen. Das RG hob das Urteil auf: Zeit und Form der Bekanntgabe müssen den leitenden Stellen überlassen bleiben, spätere Bekanntgabe könne die bereits entstandene Strafbarkeit nicht beseitigen, vgl. RG aaO.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

Normbereich einzubeziehen, weil sie Zweifel an der Zuverlässigkeit des deutschen Nachrichtendienstes wecken könnten und damit, so das Reichsgericht, eine Gefahr für die seelische Widerstandskraft des deutschen Volkes bedeuteten 3 5 . Als generell ungefährlich wurden deshalb im Ergebnis nur solche Nachrichten angesehen, die mit den deutschen Nachrichten übereinstimmten, der "deutschen Sache günstig" waren oder den deutschen "Lebenskampf' nicht berühren konnten 3 6 . Im Prozeß war die Feststellung des konkreten Inhalts einer verbreiteten Nachricht zwar in der Regel, aber, namentlich zur Erfassung gerade der "gefährlichsten Elemente", nicht ausnahmslos erforderlich 37 . Als Verbreitung wurde einmal die Mitteilung des Gehörten an andere, und sei es auch nur an eine Einzelperson, erfaßt 3 8 . Nach anfänglichen Schwankungen qualifizierte die Rechtsprechung auch das "Mithörenlassen" - ζ. B. durch lauteres Einstellen des Empfängers - als tatbestandsmäßiges "Verbreiten" 39 . D e r innere Tatbestand des § 2 setzte (bedingten) Vorsatz voraus, der auf Verbreitung gerichtet sein und das Bewußtsein einschließen mußte, die Nachricht eines Auslandssenders zu verbreiten. Nach überwiegender Auffassung war auch die Eignung der Nachrichtenverbreitung, die Widerstandskraft des deutschen Volkes zu gefährden, Tatbestandsmerkmal und damit Gegenstand des Vorsatzes 40 . Taten nach §§ 1, 2 RundfunkVO konnten untereinander sowie u. a. mit Äußerungsdelikten nach dem Heimtückegesetz 4 1 und, insbesondere beim Abhören russischer Sender, mit Hochverrat 4 2 zusammentreffen 4 3 .

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RGSt. 75,197,201. Die Entscheidung zieht eine Parallele zu § 51 Nr. 1 KSStVO [Nr. 26]; zust. Kohlrausch/Lange3* (1943), Anh. Nr. 34, § 2 Anm. I; Grau/Kmg/Rietzsch2 (1943), § 2 Anm. 4, S. 36. RGSt. 75, 199, 200. Zusf. Grau/Kiug/Rietzsch2 (1943), § 2 Anm. 4; Preiser, DJ 1940, 1417 f. Preiser nennt Beispiele für ausnahmsweise fehlende Gefährdungseignung, etwa bei offensichtlicher Unrichtigkeit und sofortiger Erkennbarkeit des mangelnden Wahrheitsgehalts einer Nachricht. Zust. Grau/Kmg/Rietzsch, aaO, wo aber insoweit sichere Feststellbarkeit im Verfahren verlangt wird. Näher am Beispiel der Urteilsfeststellungen eines nicht benannten Sondergerichts Preiser, DJ 1940, 1418; zust. Grau/Kmg/Rietzsch2 (1943), § 2 Anm. 4, S. 37. Allg. Meinung vgl. Grau/Kmg/Rietzsch2 (1943), § 2 Anm. 4, S. 38; Preiser, DJ 1940,1415. RG DJ 1941,69. Zust. die Lit., ζ. Β. Grau/Kmg/Rietzsch2 (1943), § 2 Anm. 4, S. 39 mit Nachw.; Kohlrausch/Lange3* (1943), Anh. Nr. 34, § 2 Anm. I. Preiser, DJ 1940,1415 f. befaßt sich näher mit der auf der Basis dieser Auffassung sich ergebenden Problematik einer Abgrenzung der Verbreitung nach § 2 und der mittäterschaftlichen Begehung einer (leichteren) Tat nach § 1. Vgl. auch Dreher, DJ 1940, 1419. RG DJ 1940, 69; RGSt. 75, 197, 201 und Grau/Kmg/Rietzsch2 (1943), § 2 Anm. 6, S. 40 f.; zu den maßgeblichen Indizien für die Vorsatzfeststellung, die nur "in seltenen Zweifelsfällen" gesonderte Feststellungen erfordern sollte, Preiser, DJ 1940, 1418. Α. M. (objektive Strafbarkeitsbedingung) Gleispach I (1940), S. 41. §§ 1,2, näher oben [Nr. 15]. Dazu oben [Nr. 13] 2b bei Fn. 64. Zu den Konkurrenzen und zu weiteren Einzelfragen der Tatbestandsauslegung vgl. die Kommentierung von Grau/Kmg/Rietzsch1 (1943).

C. Die zweite Phase: 1939 bis 1945

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3. Die Zuständigkeit der Sondergerichte (§ 4) Für die Aburteilung von Verstößen gegen die RundfunkVO waren - im zivilen Bereich 44 die Sondergerichte zuständig (§ 4), da bei "diesen politisch so gefährlichen Verbrechen" eine "eindrucksvolle schnelle und einziginstanzliche Aburteilung" geboten erschien 45 . 4. Die Einschaltung der Geheimen Staatspolizei (§ 5) Von besonderer praktischer Bedeutung war das in § 5 geregelte Antragserfordernis: Eine Verfolgung von Verstößen gegen die RundfunkVO fand nur auf Antrag der Staatspolizeistellen statt. Dieses Antragserfordernis sollte die "wirksame Durchführung" der Verordnung und "die richtige Betrachtung des Einzelfalls" sichern46, sowie zur Ausscheidung von Bagatellfällen dienen . In letzterem Sinne verwies auch das Reichsgericht im Hinblick auf den weiten Anwendungsbereich des § 1 auf die durch das Antragserfordernis eröffnete verfahrensrechtliche Korrekturmöglichkeit 48 . Bemerkenswert bleibt allerdings, daß die Durchführung dieser "Korrekturen" nicht der Justiz, sondern der Staatspolizei überlassen wurde. Die für die Entscheidung über die Antragstellung maßgeblichen Gesichtspunkte erläuterte unmittelbar nach Erlaß der RundfunkVO Best aus der Sicht der Gestapo. In Fällen des § 2 werde in der Regel "scharf vorgegangen und meist Strafantrag gestellt werden". Bei Verstößen gegen § 1 seien die Gesamtumstände maßgeblich, wie etwa "die Art des Senders und der Sendung, eine fremde Staatsangehörigkeit oder Volkszugehörigkeit des Täters, das Motiv oder der Zweck des Abhörens usw.". Namentlich werde auch die "Kampflage", nämlich die Intensität der Feindpropaganda sowie die "Art und Weise" der Reaktion der Volksgenossen auf diese Zersetzungsversuche, für das Ausmaß der Antragstellungen maßgeblich sein. Zu berücksichtigen sei stets, daß die Verordnung nicht "Selbstzweck" sei, sondern nur ein ergänzendes Mittel zum Zwecke der Selbstbehauptung des deutschen Volkes auf dem 'inneren Kriegsschauplatz'", wobei diese Selbstbehauptung "in erster Linie durch die Einsicht, Aufmerksamkeit und Willenskraft aller Volksgenossen" verwirklicht werden müsse 49 . Diesen dezidiert politischen und flexiblen Maßstäben entspricht die allgemeine Bestimmung der Funktion der Rundfunkverordnung, die Best mit dem Antragserfordernis in Zusammenhang bringt: Das Antragserfordernis beweise den Charakter der RundfunkVO als eines "Abwehrmittels gegen diejenigen Elemente, die sich zu Werkzeugen der Feinde des Volkes und des Reiches" machen ließen. Die "gesamte Wirkung der Verordnung" werde hierdurch "eingegliedert in den umfassenden und vielfältigen Abwehrkampf der Reichssicherheitsorgane gegen die 'inneren Offensiven' der Feinde"50.

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Die Zuständigkeit der Wehrmachtsgerichtsbarkeit blieb unberührt, vgl. 1. DVO v. 11. 9.1939, RGBl. I, S. 1746 zu § 4. Vgl. Grau/Krug/Rietzsch2 (1943), § 1 Anm. 10, S. 33.

46 Pfundtner/Neubert/HiUeke (1933 ff.), RV 1, Anm. 1 zu § 5 S. 2. 47 48 49 50

Grau/Krug/Rietzsch2 (1943), § 5 Anm. 1, S. 45. RGSt. 74,271,272. DR 1939,1698. AaO.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

Dem von Best behaupteten politischen Charakter der Antragsbefugnis entspricht ihre einhellige strafrechtliche Einordnung durch Rechtsprechung und Literatur: Der "Antrag" im Sinne des § 5 wurde als "politische Willenserklärung" begriffen, die mit dem Antrag im Sinne des § 61 RStGB nur den Namen gemein habe und für die folglich die in den §§ 61 f. vorgesehenen Bindungen, namentlich die dreimonatige Antragsfrist nach § 61 RStGB, nicht gelten könnten. Der Antrag sei "eine nach staatspolitischen und staatspolizeilichen Gesichtspunkten ausgerichtete behördliche Maßnahme"51, für deren prozessuale Behandlung nur ihre Zweckbestimmung maßgeblich sei52. Im Zuständigkeitsbereich der Wehrmachtsgerichte galt § 5 nicht. Die Wehrmachtsgerichtsbarkeit verfuhr nach eigenen Richtlinien, die eine Verfolgung von Verstößen gegen die RundfunkVO bei "staatsfeindlicher Einstellung", bei Wiederholungsgefahr oder aufgrund besonderer Belange der Wehrmacht vorsahen53. [Nr. 28] Kriegswirtschaftsverordnung vom 4 September 1939 1. Einführung Die Strafvorschrift der KriegswirtschaftsVO (KWVO)1 wird von Peters zur Gruppe der durch "Dehnbarkeit und Unbestimmtheit" gekennzeichneten Tatbestände gerechnet und in einem Atemzug mit der RundfunkVO und der KriegssonderstrafrechtsVO als "scharfe Waffe" des nationalsozialistischen Systems bezeichnet2. Die alliierte Nachkriegsgesetzgebung dagegen hielt § 1 KWVO offenbar für "unverdächtig": Die Vorschrift blieb, abgesehen von der Todesstrafdrohung, in den ersten Nachkriegsjahren in Kraft3. Um so interessanter wird es sein, die Wirkungsweise des Tatbestandes im zeitgenössischen Kontext zu betrachten. § 11 KWVO lautete: "Wer Rohstoffe oder Erzeugnisse, die zum lebenswichtigen Bedarf der Bevölkerung gehören, vernichtet, beiseiteschafft oder zurückhält und dadurch böswillig die Deckung dieses Bedarfs gefährdet, wird... bestraft".

Die Regelstrafe war Zuchthaus oder Gefängnis, in "besonders schweren Fällen" konnte auf Todesstrafe erkannt werden (§ 11 S. 1). Der Gesamtstrafrahmen reicht damit von einem Tag Gefängnis bis zur Todesstrafe. § 1 KWVO gewann in der strafgerichtlichen Praxis erhebliche

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VGH DJ 1940,1115,1116. VGH aaO; Dreher, DJ 1940,1420; Freister, DJ 1939,1849; Grau/Krug/Rietzsch1 (1943), § 5 Anm. 2 S. 46 mit Nachw. Schranken der Verfügungsmacht der Gestapo über den Prozeßstoff und hinsichtlich der anzuwendenden Vorschriften diskutiert Dreher, aaO. Gegen Dreher und für unbeschränkte Dispositionsbefugnis der Gestapo Grau/Krug/Rietzsch2, aaO. Zur Mitwirkung politischer Instanzen nach dem Heimtückeges. vgl. oben [Nr. 15]; s. auch §§ 90b, 134b RStGB 1934 [Nr. 13].

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Vgl. Erlaß des ChdOKW v. 12.9.1939, abgedruckt bei Dombrowski4 (1941), S. 30 Fn. 4.

1

RGBl. I, S. 1609. Verordnungsgeber: MfdRV. Es zeichnen: Vors. des MfdRV Göring, StVdF Heß, GBV Frick, GBW Funk, RMuChdRk Lammers, ChdOKW Keitel. Umgestaltung (1965), S. 170 f. Schorn (1963) erwähnt dagegen nur die Sondergerichtszuständigkeit für die Verstöße gegen die KWVO als rechtsstaatswidrig (S. 81). Näher Dalcke35 (1950), S. 480.

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C. Die zweite Phase: 1939 bis 1945

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Bedeutung, der Anwendungsbereich der Vorschrift erfuhr, jedenfalls in den ersten Kriegsjahren, eine "ständige Erweiterung"4. Hiervon zeugen die zahlreichen Entscheidungen zu § 1 I KWVO, namentlich auch die - größtenteils auf Nichtigkeitsbeschwerde ergangenen - des Reichsgerichts5. § 1 II KWVO, der das Zurückhalten von Geldzeichen, die "Geldhortung", bestrafte, war demgegenüber von erheblich geringerer praktischer Relevanz und bleibt deshalb im folgenden außer Betracht6. Maßgeblich für die Auslegung aller einzelnen Tatbestandsmerkmale des § 1 I wurden die Überschrift zu § 1 ("Kriegsschädliches Verhalten") und die Präambel der Verordnung. Der in Formulierung und Inhalt aufschlußreiche, bemerkenswert ausführliche Gesetzesvorspruch lautete: "Die Sicherung der Grenzen unseres Vaterlandes erfordert höchste Opfer von jedem deutschen Volksgenossen. Der Soldat schützt mit der Waffe unter Einsatz seines Lebens die Heimat. Angesichts der Größe dieses Einsatzes ist es selbstverständliche Pflicht jedes Volksgenossen in der Heimat, alle seine Kräfte und Mittel Volk und Reich zur Verfügung zu stellen und dadurch die Fortführung eines geregelten Wirtschaftslebens zu gewährleisten. Dazu gehört vor allem auch, daß jeder Volksgenosse sich die notwendigen Einschränkungen in der Lebensführung und Lebenshaltung auferlegt".

Überragender Zweck der Verordnung war die "Fortführung eines geregelten Wirtschaftlebens"7: Die Sicherung des lebenswichtigen Bedarfs und die gerechte Verteilung der vorhandenen knappen Güter wurden zur Stabilisierung der inneren Widerstandskraft des deutschen Volkes, zur Festigung der "inneren Front" für erforderlich gehalten. Eine gängige Erwägung lautete dem Sinn nach, der Erste Weltkrieg sei u. a. auch deshalb verloren worden, weil Mangelversorgung als Folge der Wirtschaftsblockade das deutsche Volk zermürbt und dadurch zur Kapitulation beigetragen habe8. Die Zuwiderhandlung gegen die Verordnung wurde deshalb nicht nur als "Sabotage" an der kriegsverpflichteten Wirtschaft, sondern am "kämpfenden deutschen Volk" im ganzen angesehen9. So stand § 1 KWVO nicht nur im Dienst objektiver wirtschaftlicher Kriegsnotwendigkeiten; vielmehr bestand auch, wie bei der KriegssonderstrafrechtsVO und der RundfunkVO, ein innerer Zusammenhang mit dem "völkischen Selbsterhaltungswillen". Dieser Zusammenhang manifestierte sich namentlich bei der Auslegung des Merkmals Bedarfsgefährdung (dazu 2 c). Die "Pflicht" des einzelnen Volksgenossen, seine Kräfte der Kriegswirtschaft zur Verfügung zu stellen, sollte sich schon aus den Zwecksetzungen ergeben und wurde durch die Parallele zum Einsatz des Soldaten mit moralischem Anspruch untermauert. So zitieren Rietzsch/Peren/Schneider in diesem Zusammenhang folgende "Führerworte": "Wenn der Soldat an der Front kämpft, soll niemand am Krieg gewinnen. Wenn ein Soldat an der Front 4 5

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So aus der Sicht des Justizpraktikers Mittelbach, DR 1941,1238. Vgl. den Überblick über die Rspr. bei Mittelbach, DR 1941, 1238 ff. sowie die Nachw. bei Kohlrausch/Lange^ (1943), Anh. Nr. 35, S. 806 ff. und Rietzsch/Peren/Schneider (1942), S. 206 ff. sowie die nachfolgende Darstellung. Vgl. später § ld KWVO i. d. F. v. 25. 3.1942, RGBl. I, S. 147, näher unter Nr. 43. Zu § 1 II bzw. ld vgl. z. B. Kohlrausch/Lange* (1943), Anh. Nr. 35 (§ ld KWVO). Vgl. namentlich RGSt. 75, 129 ff. Diese für das Verständnis der KWVO zentrale Entscheidung (Kohlrausch/Langex [1943]: "wichtig und eingehend", Anh. Nr. 35, § 1 Anm. II; "sehr förderlich", § 1 Anm. III 2) führt diese "teleologische Methode" eindringlich vor. Zur Bedeutung der Präambel s. auch RGSt. 74,359; 75,30,32; Mittelbach, DR 1941,1238. Vgl. Rietzsch/Peren/Schneider (1942), S. 208 f.; allg. Nagler, GS 114 (1940), S. 133 ff. Vgl. Rietzsch/Peren/Schneider (1942), S. 212; Nagler, GS 114 (1940), S. 172; Freister, DJ 1940,1229.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

kämpft, soll sich niemand in der Heimat seiner Pflicht entziehen"10. Wer sich dieser Pflicht entzog, war zum "Schädling" gestempelt: Die KriegswirtschaftsVO wendete sich nach Auffassung von Rechtsprechung und Literatur gegen alle "Schädlinge" an der Kriegswirtschaft, nämlich gegen den "Wirtschaftsschädling"11 oder "Wirtschaftsparasiten"12, den "gemeinschaftsschädlichen Egoisten und Verräter"13. Namentlich sollten durch die Verordnung auch die "Kriegsschieber"14, die "Kriegswucherer"15, die "Schleichhändler"16, überhaupt alle "gewissenlosen Geschäftemacher"17 getroffen werden. Trotz des offenkundigen Kriegsbezugs war § 1 1 KWVO keine Erfindung des Kriegsverordnungsgebers. Die Vorschrift lehnte sich an den für Friedenszeiten gedachten § 240 E 1936 an, der die "Gefährdung des notwendigen Lebensbedarfs des Volkes" mit Zuchthaus oder mit Gefängnis nicht unter sechs Monaten bedrohte. § 240 E 1936 setzte allerdings im Gegensatz zu § 1 I KWVO nicht eine bloße Lebensbedarfsgefährdung, sondern eine Schädigung der deutschen Wirtschaft und. die Herbeiführung eines allgemeinen Mangels voraus. Nach der Entwurfsbegründung lag dieser Vorschrift der Gedanke zugrunde, daß der Täter sich "in schwerster Weise an der Gemeinschaft" versündige und "gegen die elementarsten Grundsätze der nationalsozialistischen Lebensordnung" handle18. Die KriegswirtschaftsVO griff die Grundgedanken unter "zeitgemäßer" Tatbestandserweiterung und Strafschärfung auf. 2. Die Voraussetzungen des § 11 Mit der dem § 1 beigelegten Zielrichtung auf "Kriegsschädlinge" war die Frage nach einem besonderen "Tätertypen"-Erfordernis gestellt. Die Rechtsprechung war anfangs uneinheitlich; teilweise hielten die Sondergerichte die Feststellung eines Tätertyps für erforderlich, etwa daß es sich um einen "typischen Kriegsparasiten" handeln müsse. Auf dieser Grundlage wurde gelegentlich eine Strafbarkeit aus § 11 KWVO trotz Bejahung aller Tatbestandsmerkmale abgelehnt19. Das Reichsgericht erklärte dann die Tatbestandsverwirklichung zur hinreichenden Strafbarkeitsvoraussetzung und verneinte ausdrücklich die Notwendigkeit, einen besonderen

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Vgl. Rietzsch/Peren/Schneider (1942), S. 208. RGSt. 74,359,364. mtz (1940), S. 21. Freister, DJ 1940,1230. RGSt. 74,359,364; Freister, DJ 1940,1230; Mittelbach, DR 1941,1238; Nüse, DJ 1941,360. Mittelbach, aaO. RGSt. 74,359,364; Nüse, DJ 1941,360; Mittelbach, DR 1941,1238. RG DJ 1940,1170; Freister, DJ 1940,1234. Begr. E 1936, S. 161. Zur Praxis des SG Wien vgl. Nüse, DJ 1941, 358 f. - RG DJ 1940,1170 hatte im Zusammenhang mit dem Merkmal "böswillig" vom "Tätertyp" gesprochen und dadurch diese restriktive Tendenz wohl begünstigt, vgl. Nüse, aaO.

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C. Die zweite Phase: 1939 bis 1945

Tätertyp" festzustellen20. Damit hatten die oben erwähnten "Tätertypen" nur illustrative, keine tatbestandsbeschränkende Funktion21. Die einzelnen Tatbestandsvoraussetzungen sind nunmehr zu erörtern. a) Die Tatobjekte Einigkeit bestand in Rechtsprechung und Literatur, daß angesichts des Schutzzweckes der Verordnung der Ausdruck "Rohstoffe oder Erzeugnisse, die zum lebenswichtigen Bedarf gehören" in einem umfassenden Sinne zu verstehen sei. Dazu sollten nicht nur lebensnotwendige Gegenstände gehören, wie etwa Grundnahrungsmittel oder Brennstoffe, sondern ζ. B. auch Genußmittel 22 wie Kaffee23, Tee, Schokolade oder Tabak24. Erfaßt wurden namentlich alle bezugsbeschränkten Erzeugnisse25, aber auch solche, die nicht dem Kartenzwang unterlagen, wie ζ. B. Weckeruhren 26 . Auch eine Einbeziehung von Lesematerial, selbst von Gütern des Filmwesens, des Theater- und Kunstlebens wurde befürwortet: Alles was die "geistige Haltung" und die "Siegeszuversicht" des Volkes beeinflussen könne, gehöre zum lebenswichtigen Bedarf 27 ; nur "weniges" sollte ausgenommen sein, wie etwa "ausgesprochene Kunst- und Luxusgegenstände"28. b) Die Tathandlungen Entsprechend dem Schutzzweck der KriegswirtschaftsVO, die ordnungsgemäße Fortführung des Wirtschaftslebens zu gewährleisten, sah das Reichsgericht die Gemeinsamkeit der tatbestandlichen Handlungen darin, daß Rohstoffe oder Erzeugnisse dem geregelten Verkehr und Verbrauch entzogen würden29. Als "Vernichten" von lebenswichtigen Rohstoffen oder Erzeugnissen - im weiteren Text wird zur Vereinfachung auch von "Waren" oder "Gütern" gesprochen - wurde nicht nur die Zerstörung von Gütern, sondern auch das Unbrauchbarmachen zur bestimmungsgemäßen

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So ausdrücklich RG HRR 1941, Nr. 400. Zust. ζ. B. Kohlrausch/Lange3* (1943), Anh. Nr. 35, § 1 Anm. VIII; Nüse, DJ 1940, 360; Rietzsch/Peren/Schneider (1942), S. 232 f. mit ausf. Nachw.; Freister, DJ 1940, 1234. A. M. Boldt, DR 1941, 578; Dahm, ZAkDR 1940, 394. - Kohlrausch/Lange3* (1943) bringen die Lösung der h. M. auf die Formel: "Wer 'böswillig' i. S. des § 1 handelt, ist ein solcher Schädling", vgl. aaO. Vgl. Freister, DJ 1941,1234; Rietzsch/Peren/Schneider (1942), S. 232. Vgl. Mittelbach, DR 1941,1239 mit Nachw. zur Rspr.; Nüse (1940), S. 16 f.; Nagler, GS 114 (1940), S. 174; Rietzsch/Peren/Schneider (1942), S. 215. RGSt. 77,5. RGSt. 77,306. Im einzelnen Rietzsch/Peren/Schneider (1942), S. 26 ff. RGSt. 75,89. Vgl. Rietzsch/Peren/Schneider (1942), S. 215. Vgl. Nüse (1940), S. 16. RGSt. 75,129,134.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

Verwendung erfaßt 30 . Unter "Beiseiteschaffen" wurde der dauernde Entzug von Waren aus dem ordnungsgemäßen oder geregelten Verkehr verstanden31, "jedes Herausnehmen" von Waren "aus dem für die Deckung des Bedarfes der Bevölkerung vorgesehenen Verteilungsgang"32. Einschlägig waren daher u. a. Diebes- oder Hehlereitaten, das Hamstern von Mangelware33, sowie jede vorschriftswidrige Verwertung eines Gutes, ζ. B. durch - praktisch bedeutsam - Schwarzschlachtung34 oder Bezug oder Abgabe von Waren ohne den erforderlichen Bezugsschein35. Als "Zurückhalten" kamen die Ablehnung von Verkäufen oder Lieferungen 36 oder das Abhängigmachen von Tauschgeschäften37 oder Schmiergeldern in Betracht38. Schwierigkeiten bereitete die Beurteilung der Einlagerung von Waren, da diese auch im Rahmen ordnungsgemäßer Wirtschaft erfolgen konnte, um die künftige Bedarfsdeckung sicherzustellen. Das Reichsgericht hob zur Bewältigung der damit verbundenen Abgrenzungsschwierigkeiten auf den Schutzzweck der Verordnung ab: Bei wirtschaftlich berechtigter Einlagerung sei der Tatbestand nicht erfüllt. Da man es dem Lager "nicht ansehen" könne, zu welchem Zweck es gehalten werde, sei auf den Willen des Handelnden abzustellen und entsprechend der Überschrift zu § 1 KWVO auf die "Kriegsschädlichkeit" der subjektiven Zweckrichtung. Zurückhalten im Sinne des § 1 I bedeute "Zurückhalten mit dem Vorsatze kriegsschädlichen Verhaltens"; Lagern zum Zwecke der späteren Bedarfssicherung sei deshalb nicht tatbestandsmäßig. Die objektive Angemessenheit des Umfanges des Warenlagers könne dabei ein wesentliches Indiz für die Willensrichtung des Täters bilden39. c) Die Bedarfsgefährdung Ein zentrales Tatbestandselement bildete die "Gefährdung der Deckung des lebenswichtigen Bedarfs der Bevölkerung". Einigkeit bestand, daß entsprechend dem Gesetzeswortlaut eine effektive Bedarfsbeeinträchtigung nicht erforderlich war40. Die Rechtsprechung stellte für die Bedarfsgefährdung anfänglich - jedenfalls "vor allem" - auf die Menge der Güter ab, die entzogen wurden oder deren Entziehung drohte41, wobei der Mangel nicht dem ganzen Volke 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39

40 41

Vgl. RGSt. 75, 129, 134; ζ. B. das Ausschütten von Benzin, RG DJ 1940, 939, 940; eingehend Rietzsch/Peren/Schneider (1942), S. 216 f. RGSt. 75,129,134. RGSt. 75,25,26; s. auch RGSt. 75,30; 74,287,289. Beispiele bei Klütz (1940), S. 26 ff. Eingehend dazu Nüse, DJ 1940,958 ff.; Rietzsch/Peren/Schneider (1942), S. 228 ff. RGSt. 74,287, 289; zusf. Rietzsch/Peren/Schneider (1942), S. 217 ff.; Mittelbach, DR 1941,1240. Ζ. B. Ablehnung einen Uhrenwecker zu verkaufen, RGSt. 75, 89. Zum Verkauf von Mangelware ausschließlich an Stammkunden Rietzsch/Peren/Schneider (1942), S. 222. Tausch von Zement gegen Wurst, Speck und Eier, SG Schwerin, HRR 1942, Nr. 227. Näher Rietzsch/Peren/Schneider (1942), S. 222. RGSt. 75,129,134 ff. S. auch Rietzsch/Peren/Schneider (1942), S. 220 f. Zur Beurteilung der Einlagerung von Waren durch Gewerbetreibende vor Kriegsausbruch Rietzsch, ZAkDR 1942, 154; Mittelbach, DR 1943,738. Anders § 240 E 1936, oben bei Fn. 18. Vgl. RGSt. 74,287,288.

C. Die zweite Phase: 1939 bis 1945

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oder der Bevölkerung einer ganzen Stadt drohen mußte, sondern die Bedarfsgefährdung eines örtlich begrenzten Verbraucherkreises genügen sollte42. Nach der Rechtsprechung der Berliner Sondergerichte reichte ζ. B. ein Zentner Fleisch aus43. Eine deutliche Zäsur bildete das Urteil des Reichsgerichts vom 18. November 1940. Nachdem das erwähnte Urteil vom 19. September 194044 maßgeblich den objektiven Maßstab der Bedarfsgefährdung betont hatte, griff Freisler in der Deutschen Justiz vom 8. November 1940 die ausschließlich objektive Betrachtung scharf an: Beginne man - etwa beim Entzug von einem Zentner Fleisch in einer Großstadt - zu "rechnen", d. h. die Warenmengen auf Kopfzahlen umzulegen, komme man unwillkürlich "zu solch mikroskopischen Einzelquoten, daß diese Deduktion der Kritik des einfachen Mannes" nicht standhalte. Der objektive Maßstab hänge von der Begrenzung des Verbraucherkreises ab; auch die Beschränkung auf örtliche Verbraucherkreise, etwa auf die Bevölkerung eines Straßenzuges oder die Kundschaft eines einzelnen Ladengeschäfts, sei nur ein "unzulängliches Hilfsmittel", das zudem nur für den täglichen Bedarf privater Endverbraucher passe. Der "Hauptschaden", der durch Verstöße gegen § 1 KWVO drohe, sei in Wahrheit nicht materieller, sondern "ideeller" Natur. Der ideelle Schaden bestehe einmal "in dem schlechten Beispiel", das solche Taten gäben, in der ihnen innewohnenden "Tendenz zum Epidemischen"45. Lobend verwies Freisler dabei auf ein Urteil des Sondergerichts Essen, das bei der Bedarfsgefährdung auf die "Ansteckungsgefahr" von Taten nach § 11 abgehoben hatte46; die Entscheidung in RGSt. 74, 287, 289 mit der dort maßgeblichen objektiven Betrachtung erwähnte Freisler nicht, obwohl er in anderem Zusammenhang in seinem Aufsatz auf diese Entscheidung einging47. Zum anderen bestehe der ideelle Schaden "in dem Nagen an dem allgemeinen Vertrauen zueinander und zur Führung, dessen ein kämpfendes Volk" bedürfe. Das Vertrauen zur Führung beschreibt Freisler näher als ein solches "in das gute Funktionieren der Bedarfsgüter und in die Macht des Reiches, diese gerechte Verteilung tatsächlich durchzusetzen"48. Die Begründung zu dem wenige Tage nach Erscheinen des Freisler-Aufsatzes verkündeten Reichsgerichtsurteil hebt in Übereinstimmung mit dieser "Subjektivierung" der Bedarfsgefährdung hervor, das Maß der beiseitegeschafften Ware sei "nicht allein" entscheidend, vielmehr seien auch der (mögliche) Nachahmungseffekt und die "Erschütterung des Vertrauens in die gerechte Verteilung" der Güter von ausschlaggebender Bedeutung, da hierdurch "Trotz- und Angsteindeckungen" hervorgerufen werden könnten. Deshalb erfordere die Beurteilung des Vorliegens einer Bedarfsgefährdung eine "Gesamtwürdigung" aller "unmittelbaren und mittelbaren Wirkungen" der Tat49. RGSt. 75, 129 präzisierte dann den Standpunkt der Rechtsprechung nochmals und wohl abschließend: Die Entscheidung bejaht die von RGSt. 74, 359 und von Freisler angeführten Zweckgesichtspunkte, zieht sie aber nur zur teleologischen Reduktion des Tatbestandes heran. Dieser erfasse nämlich nach seinem Wortlaut schon jedes Aus-dem-Verkehr-Ziehen

42 43 44 45 4« 47 48 49

Vgl. RG DJ 1940,1170,1171; 939; Nüse, DJ 1940,958 und 1940, S. 18. Vgl. Nüse, DJ 1940,959. RGSt. 74,287, 288. DJ 1940,1230. DJ 1940,573. Bei Behandlung des Merkmals 'böswillig', vgl. DJ 1940,1233. DJ 1940,1230,1232. RGSt. 74,359,364.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

von Mangelware, da jede Vorenthaltung knapper Ware ("eines Eies, eines Brötchens") die Bedarfsdeckung erschwere und damit gefährde50. Die Schwere des Delikts erfordere aber eine Beschränkung auf "erhebliche" Verstöße, zumal bei uneingeschränkter Auslegung die VerbrauchsregelungsstrafVO51 leerlaufe und überflüssig sei52. "Richtschnur und Maß" der erforderlichen "Einschränkung des Wortlauts" sucht das Reichsgericht aus dem Gesetzesvorspruch in Zusammenhang mit der Überschrift zu § 1 KWVO - "Kriegsschädliches Verhalten" - herzuleiten53. Zur Beurteilung der für einen Verstoß gegen die KriegswirtschaftsVO entscheidenden kriegsschädlichen Bedarfsgefährdung seien nicht nur Einwirkungen auf die vorhandene Vorratsmenge, sondern auch die "seelischen Wirkungen der Tat" zu berücksichtigen, "vor allem die Frage, ob sie die Opferwilligkeit der Bevölkerung54 beeinträchtigen oder zur Nachahmung verleiten kann und ob sie dadurch eine Gefahr für die Bedarfsdeckung schafft"55. Die Feststellung solcher Kriegsschädlichkeit liege "ausschließlich in dem pflichtmäßigen Ermessen des Richters", lasse sich nicht "mit rechnerischer Sicherheit" und "nicht zahlenmäßig erfassen", hänge von den "Umständen und Zeitverhältnissen" ab und sei "mit den gewohnten Mitteln", nämlich "den Tatbestand einem gesetzlichen Begriffsmerkmal unterzuordnen", nicht lösbar. Der Richter sei durch den "lockeren Tatbestand" gefordert und in die Lage versetzt, "allen kriegsschädlichen Einflüssen ... sofort und mit Nachdruck entgegenzutreten und alle Wechselfälle des Wirtschaftslebens während des Krieges zu berücksichtigen". Bewußt habe der Gesetzgeber "davon abgesehen, die Strafbarkeit von genau umgrenzten Tatbestandsmerkmalen abhängig zu machen". Deshalb dürfe der Richter nicht auf dem gewohnten Wege der Subsumtion vorgehen, er müsse seine "Aufgabe vielmehr auf Grund seiner Kenntnis der Volksseele, auf Grund des richtigen Verständnisses für den Sinn und für die Erfordernisse des gegenwärtigen Krieges und auf Grund eines Überblickes über die wirtschaftliche Lage auf dem in betracht kommenden Gebiete" lösen56. Die Weite des damit gesteckten Rahmens verdeutlicht das in der besprochenen Entscheidung zustimmend zitierte Urteil in RGSt. 75, 89, das bei der Ablehnung des Verkaufs einer einzelnen Weckeruhr durch einen Händler mit Rücksicht auf einen etwaigen Nachahmungseffekt eine Bedarfsgefährdung für möglich hält57. Und das ist in sich konsequent: Wenn es auf die seelischen Fernwirkungen ankommt, kann selbst die Weigerung, eine Zahnbürste 58 oder eine Zwiebel zu verkaufen, gefahrenträchtige Folgen auslösen: Die Weigerung könnte ja

50 51 52 53 54 55 56 57

58

RGSt. 75,129,139 (Urt. v. 14.2.1941), Hervorhebungen aaO. VO v. 6.4.1940, RGBl. I, S. 610 näher unten 2e. RGSt. 75,129,140. AaO, S. 141 f. Vgl. den Gesetzesvorspruch. AaO, S. 142. AaO, S. 143; näher zu den einzelnen Kriterien aaO, S. 143 f. Vgl. auch Freister. Die Anwendung der KWVO sei eine Frage der Richterpsyche, DJ 1940,1230 f.; vgl. auch unten 3. RGSt. 75, 89, 90 (Urt. v. 6.1. 1941). Krit. dazu Mittelbach, DR 1941, 1238, 1241, der sich gegen den Umfang der Einbeziehung immaterieller Wirkungen wendet; zust. zur Einbeziehung des "intellektuellen Verbrechensschadens" ζ. B. Boldt, DR 1941, 577; Rietzsch/Peren/Schneider (1942), S. 224 f. mit Nachw. Zu diesen die "Grenze des Lächerlichen" erreichenden Konsequenzen Mittelbach, DR 1941, 1238 Fn. 19.

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Schule machen und ein Volk ohne Zahnbürsten das Vertrauen zum Führer verlieren. Der intellektuelle Verbrechensschaden59 ist nicht an materielle Größen gebunden. d) Die subjektive Tatseite, insbesondere die "Böswilligkeit" Auf der subjektiven Tatseite sollte (bedingter) Vorsatz hinsichtlich aller Tatbestandsmerkmale, also der Tathandlung wie der Zugehörigkeit der Güter zum lebenswichtigen Bedarf und der Bedarfsgefährdung erforderlich sein60. Das Reichsgericht nahm an, die Vorsatzfeststellung werde im Hinblick auf die anzunehmende allgemeine Kenntnis der kriegswirtschaftlichen Lage "dem Tatrichter keine besonderen Schwierigkeiten machen"61. Problematisch und umstritten war die Auslegung des potentiell einschränkenden Merkmals "böswillig". Zunächst hatte man im Schrifttum teilweise ein enges Verständnis entwickelt und verlangt, der Täter müsse "zumindest auch" um der Bedarfsgefährdung willen handeln und "ihretwegen Freude oder Befriedigung empfinden"62. Dagegen ließ etwa das Sondergericht Essen das Wissen um die Bedarfsgefährdung ausreichen63. Zwischen diesen beiden Polen bewegten sich die im zeitgenössischen Schrifttum und in der Rechtsprechung vertretenen Auslegungsvarianten64. Das Reichsgericht verwarf schon in einer der ersten einschlägigen Entscheidungen die Beschränkung der "Böswilligkeit" auf eine Absicht feindseliger Schädigung oder Gefährdung der Kriegswirtschaft, ohne allerdings die Begriffskonturen positiv zu umschreiben65. Wenig später forderte es eine "Gesinnung von ausgesprochener Verwerflichkeit" und für "böswillige" Gewinnsucht eine "besonders verwerfliche und schädliche Gewinnsucht", die dazu berechtige, den Täter als "Typ eines Kriegsschädlings" einzureihen66. Dieses Urteil blieb vereinzelt und ohne Wirkung auf die spätere Rechtsprechung67. Das enge Verständnis der Böswilligkeit stand wohl in Zusammenhang mit dem in den Entscheidungsgründen anklingenden Tätertypgedanken, der für § 1 KWVO in der Folge keine eigenständige, tatbestandseinschränkende Bedeutung erlangte68. RGSt. 74, 287 verlangte dann zwar einen besonderen "inneren Vorgang", der "noch über die Absicht" hinausgehen müsse, formte allerdings schon ein wesentliches Element der später 59 60 61 62

63 64 65 66 67 68

Boldt, DR 1941,577. Vgl. z. B. RGSt. 75,30,31; Rietzsch/Peren/Schneider (1942), S. 226 mit Nachw. RGSt. 75, 129, 145. Zum Fall eines unbeachtlichen Strafrechtsirrtums bei irriger Annahme, einem kriegswichtigen Betrieb ohne die erforderliche Befugnis Waren liefern zu dürfen, RG DJ 1942,427. Gleispach I (1940), S. 53. Mit restriktiver Tendenz wohl auch Nagler, GS 114 (1940), S. 175: "besonders verwerflicher rechtsfeindlicher Wille", beispielsweise "Gewissenlosigkeit", "rücksichtslose Raffgier". DJ 1940,573. Näher dazu Rietzsch/Peren/Schneider (1942), S. 226 ff. mit Nachw. Vgl. auch Freister, DJ 1940, 1232 ff. RG DJ 1940,939,940 (Urt. v. 2.7.1940). RG DJ 1940,1170 (Urt. v. 27.8.1940). Vgl. Rietzsch/Peren/Schneider (1942), S. 227: Der in RG DJ 1940, 1170 vertretene Standpunkt "ist heute aufgegeben". Vgl. oben Nachw. bei Fn. 20; zu dieser Deutung Mittelbach, DR 1941,1242.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

ständig vertretenen Auffassung: Der Täter müsse sich der Bedarfsgefährdung bewußt gewesen sein und dennoch "aus einem verwerflichen Beweggrunde" die Tat ausgeführt haben. Einen solchen verwerflichen Beweggrund sah das Reichsgericht darin, daß nach dem entschiedenen Sachverhalt die Täterin dem "lästigen Drängen" einer "auf Unrechten Gewinn unter Ausnutzung der Kriegsverhältnisse ausgehenden" Verkäuferin nachgegeben und Waren ohne Bezugsschein angekauft habe69. Eine bestimmte Richtung der "Böswilligkeit", etwa im Hinblick gerade auf die Bedarfsgefährdung, wurde damit nicht verlangt, sondern nur eine "irgendwie" geartete Verwerflichkeit70. Angesichts der hohen Bedeutung, die das Reichsgericht der Sicherung der Kriegswirtschaft beimaß, mußte damit bei vorsätzlicher Bedarfsgefährdung regelmäßig ein "verwerflicher" Beweggrund anzunehmen sein und konnte nur ausnahmsweise ein "ehrenwerter" Beweggrund die Böswilligkeit ausschließen. In dieser Richtung jedenfalls interpretierte Freisler die Entscheidung; seine Deutung wurde durch die weitere Entwicklung bestätigt71. In seinem bald nach dem soeben besprochenen Urteil erschienenen Aufsatz72 entwickelte Freisler die Grundlinien, die kurze Zeit später durch die Rechtsprechung für maßgeblich erklärt wurden. Seinen Ausgangspunkt bildete die Überlegung, es gebe "nur zwei Methoden", sich über den Inhalt des Begriffes "Böswilligkeit" klar zu werden. Die eine Methode schöpfe ihre "Erkenntnis aus den Forderungen, die die jetzige Kriegslage an das einzelne Volksglied stellt, und somit aus dem Zwecke der Strafbestimmungen des § 1", wie sie sich in der "gemeinschaftssittlichen Grundauffassung im allgemeinen" und "besonders konkretisiert im Vorspruch zur Kriegswirtschaftsverordnung" ergäben. Die andere Auslegungsmethode suche den "Anschluß an die sonstige Sprechweise des Strafgesetzgebers", gehe also von der Ansicht aus, "der Gesetzgeber gebrauche einen Ausdruck, den er einmal in einem anderen Gesetz benutzt hat, in späteren Gesetzen ... immer wieder in demselben Sinne"73. Zu dieser zweiten Ansicht führte Freisler "einiges Grundsätzliche" aus: Man könne vom Gesetzgeber nicht verlangen, daß er "den Sinn von ihm künftig zu gebrauchender Worte einem Inhalt" entnehme, den das an anderer Stelle im Gesetz gebrauchte Wort durch Rechtspflege und Wissenschaft erhalten habe. Worte könnten ihren Sinn ändern, vor allem dann, wenn sie "sittliche Wertungen" enthielten, und dies gelte besonders in Zeiten des Umbruchs der "gemeinschaftlichen Grundauffassung" des Volkes. Man trage "Eulen nach Athen", wenn man nochmals hervorhebe, daß der "Verstoß gegen die guten Sitten" heute "etwas anderes" sei, "als vor zehn oder zwanzig Jahren". Das gelte auch für Wertungen wie Böswilligkeit. Schließlich erhielten Worte "ihren lebendigen Sinn" erst aus dem Zusammenhang, in dem sie stünden. Ihr "zusammenhangloser, losgelöster Sinn" werde nur "ein blasses Spiegelbild ihres charaktervollen Sinnes sein können", den das Wort "in Reih und Glied, nämlich innerhalb des Satzes und seines Sinnes und des zugrundeliegenden Gedankenganges" erhalte. Der heutige Gesetzgeber gebrauche Worte in ihrem volkstümlichen Sinne. Er empfinde es "nicht einmal als erstrebenswertes Ziel, Worte in ihrem festgelegten, angeblichen Rechtssinn" zu gebrauchen. Das Strafgesetz wende sich "nicht an eine bestimmte Berufsgruppe, sondern an das Volksganze". Aus all diesen Gründen sei es gewagt, die zweite der oben genannten Methoden zur

69 70 71 72 73

200 Strickjacken für 2000 Reichsmark, vgl. RG, aaO, S. 288. Vgl. die weit. Beispiele bei Rietzsch/Peren/Schneider (1942), S. 227. DJ 1940,1233 f. DJ Nr. 45 v. 8.11.1940. AaO, 1232.

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"Ergründung des Sinnes der Böswilligkeit ... anzuwenden". Allenfalls zu Vergleichszwecken könne man deshalb auf den Sprachgebrauch anderer Strafgesetze verweisen. Für "besonders bedenklich" hält Freisler es schließlich, das Vorstellungsbild der "Böswilligkeit" auf der "Absicht" aufzubauen. Der Begriff Absicht sei seinerseits selbst unklar und werde im Gesetz in verschiedenem Sinne gebraucht. Vor allem sei die Absicht aber kein "sittlich wertender" Ausdruck, sondern weise im natürlichen Sprachgebrauch nur auf den Zweck eines Handelns hin, der seinerseits erst "sittlicher Wertung" zugänglich werde. Deshalb sei es "bedenklich", sich über einen "sittlichen Wertausdruck", wie den der Böswilligkeit durch "Aufbau einer Begriffspagode" Klarheit schaffen zu wollen, was zumal dann gelte, wenn die "unterbauende Pagodenetage keine sittliche Wertung" sei, sondern aus einem ganz anderen Gebiet stamme. Nach alledem könne der Begriff der Böswilligkeit nicht anders als entsprechend dem Zwecke der KriegswirtschaftsVO und den im Vorspruch ausgedrückten Verhaltensanforderungen an das "kämpfende eigene Volk" ausgelegt werden74. Der Begriff "böswillig" sei nicht "verstandesmäßig abstrakt, sondern gemeinschaftssittlich wertend aus dem Sinn der Lebensvorgänge heraus" zu verstehen, "deren Störung die KWVO ... bekämpfen wolle. Die Böswilligkeit sei als eine irgendwie geartete "besonders verwerfliche" Gesinnung charakterisiert, ohne sich "auf eine bestimmte Richtung der Verwerflichkeit" zu beschränken75. Die Böswilligkeit sei aus der "inneren Haltung des Handelnden und ihrer gemeinschaftssittlichen Wertung" zu gewinnen. Da die Forderungen an den einzelnen höher seien als im Frieden, sei ein Verhalten, dessen "Schlechtigkeit dem Handelnden bewußt ist (oder, wenn er eine normale Einstellung zur Gemeinschaft nicht hat, doch bewußt sein müßte), im Sinne des § 1 KWVO u.U. schon böswillig, auch wenn es das in anderem Zusammenhang noch nicht wäre"76. Im praktischen Ergebnis läuft Freislers Auffassung darauf hinaus, eine bewußte Zuwiderhandlung gegen die von der KriegswirtschaftsVO formulierten Anforderungen in aller Regel schon als "böswillig" zu bewerten. Dies verdeutlicht sein Hinweis auf die Entscheidung des Sondergerichts Essen77, das direkten Bedarfsgefährdungsvorsatz als "böswillig" bewertete. Im ganzen billigt Freisler den Standpunkt des Sondergerichts Essen. Er räumt zwar ein, das Sondergericht habe "etwas zu geringe Anforderungen" gestellt, hebt aber das "Richtige" hervor, nämlich nicht über ein besonderes Maß der Verwerflichkeit hinaus eine bestimmte Richtung dieser Verwerflichkeit zu verlangen. Die "besonders geartete Verwerflichkeit" des Handelns konnte sich danach gerade aus der Zuwiderhandlung gegen die von der KriegswirtschaftsVO formulierten Pflichten ergeben, wie auch die weiteren Ausführungen Freislers verdeutlichen78. Mit dem Verständnis der "Böswilligkeit" befaßte sich dann wenige Tage nach Erscheinen des Freisler-Aufsatzes die in diesem Zusammenhang grundlegende Entscheidung des Reichsgerichts im 74. Band79. Das Reichsgericht stellte zunächst fest, bei der Auslegung des Merkmals böswillig seien die in anderem Zusammenhang gewonnenen Erkenntnisse "verwertbar". Doch sei für § 1 KWVO die "besondere Zwecksetzung" der Vorschrift "im Auge zu behalten". 74 75 76 77 78 79

AaO, 1232 f. AaO, 1234. AaO, 1233. DJ 1940,573. DJ 1940,1233 f. RGSt. 74,359 (Urt. v. 18.11.1940).

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

Maßgeblich sei danach eine Betrachtung "vom Standpunkte der Volksgemeinschaft..., die sich in einem Kampf um ihr Leben und ihre Zukunft" befinde und deshalb "bedingungslose Unterordnung" des einzelnen fordern müsse 80 . Die Entscheidung lehnte es sodann zunächst ausdrücklich ab, die "Böswilligkeit" dem Vorsatz gleichzusetzen: Es müsse "etwas vorhanden sein", was darüber hinausgehe. Dieses "Etwas" werde "in der Regel in dem Beweggrunde des Täters zu finden sein und in der Verwerflichkeit seiner Gesinnung zutage treten". Dabei gemeint ist: bei der Bewertung der Gesinnung als verwerflich - sei von der "sittlichen Auffassung der Volksgemeinschaft" auszugehen, ihre "allgemeinen sittlichen Maßstäbe" seien anzulegen, "in welcher Richtung die Gesinnung als verwerflich" erscheine, sei "belanglos". Als verwerflich habe es aber "insbesondere zu gelten ..., wenn der Täter die jedem Volksgenossen durch den Vorspruch zur KriegswirtschaftsVO auferlegten Pflichten erheblich" verletze. Das ergebe sich "aus der Bedeutung des Vorspruches und dem Zwecke des Gesetzes ohne weiteres". Im Ergebnis konnten danach bei Vorliegen der objektiven und der (übrigen) subjektiven Voraussetzungen des § 1 KWVO nur besondere Umstände die Böswilligkeit ausschließen. Das verdeutlicht die Bemerkung des Reichsgerichts, der Täter selbst werde sich "angesichts der Haltung der pflichtbewußten Volksgenossen" der Verwerflichkeit seines Handelns nur bei "besonderen Umständen" nicht bewußt sein. Dieses Bewußtsein der Verwerflichkeit wurde im übrigen nicht zwingend vorausgesetzt: Es sollte zur Anwendung des § 1 KWVO genügen, daß der Täter "nach seinen persönlichen Verhältnissen fähig" war, die (objektive) Verwerflichkeit seines Verhaltens zu erkennen. In diesem Punkt wich das Reichsgericht von der Freislerschen Position ab: Für das Erkennen-Müssen des Täters stellte Freisler nicht auf dessen persönliche Fähigkeiten, sondern auf die "normale Einstellung zur Gemeinschaft" ab 81 . RGSt. 75, 30 befaßte sich nochmals zusammenfassend mit dem Begriff der "Böswilligkeit". Zunächst wurde lapidar festgestellt, der Sinngehalt des Begriffes sei dem im Vorspruch niedergelegten Gesetzeszweck zu entnehmen. Sodann erfolgte ohne weitere Begründungsarbeit die - wohl abschließende - Definition des Begriffes "böswillig": "Böswillig handelt, wer sich dessen bewußt ist, daß sein Verhalten bei einer Beurteilung unter den im Vorspruche zur KWVO bezeichneten Gesichtspunkten besonders verwerflich ist, oder wer sich dieser Verwerflichkeit nur deshalb nicht bewußt ist, weil seine üble Gesinnung oder die rücksichtslose Verfolgung eines aus irgendeinem Grunde verwerflichen Zieles bei ihm den Gedanken an die allen Volksgenossen durch den Vorspruch zur KWVO eingeschärften Pflichten gegenüber der im Kampfe stehenden Volksgemeinschaft nicht aufkommen läßt"82. Diese Definition ging gegenüber RGSt. 74, 359 insofern noch einen Schritt weiter, als es für die Erkennbarkeit der "Verwerflichkeit" nicht mehr auf die persönlichen Fähigkeiten des Täters, sondern auf einen objektiven Wertmaßstab ankommen sollte. Mittelbach brachte deshalb die Rechtsprechung des Reichsgerichts auf den Generalnenner, Verwerflichkeit und damit Böswilligkeit im Sinne des § 1 KWVO seien zu bejahen, wenn der Täter eine "negative Einstellung zum Gemeinwohl" offenbare, "was nach objektiven Maßstäben zu entscheiden" sei. Beim Täter werde zwar

80 81 82

AaO, 365 f. DJ 1940,1233. RGSt. 75, 30,32 (Urt. v. 29.11.1940). Vgl. auch die nachfolgenden Judikate RG HRR 1941, Nr. 400; DR 1941, 1277, 1282 (Urt. v. 14. 2. 1941) - insoweit in RGSt. 75, 129 nicht mit abgedruckt - und RGSt. 76,46 f.; 77,5,8.

C. Die zweite Phase: 1939 bis 1945

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"in aller Regel" das Bewußtsein der Verwerflichkeit vorliegen, doch sei dies keine notwendige Voraussetzung 83 . e) Strafzumessung, Verhältnis zu anderen Strafgesetzen

Die KriegswirtschaftsVO richtete sich nach zeitgenössischem Verständnis zwar gegen einen bestimmten Täterkreis, doch erlangte die Tätertypenfrage keine eigenständige tatbestandseinschränkende Bedeutung 84 . Gewicht hatte die Feststellung, der Täter entspreche dem "Typ des Saboteurs" oder "Kriegsschiebers" allerdings für die Strafbemessung: In solchen Fällen sollte jedenfalls Zuchthausstrafe geboten sein85. Im Verhältnis zu anderen Strafvorschriften war die Abgrenzung zur VerbrauchsregelungsStrafverordnung 86 von besonderer Bedeutung. Diese Verordnung sollte die weniger schweren Verstöße gegen die Kriegswirtschaft erfassen und drohte Lieferern, Erzeugern usw. von Gütern bei Verstößen gegen Bewirtschaftungsvorschriften Gefängnis- und Geldstrafe an (§ 1, Lieferdelikt), den Verbrauchern andererseits Geldstrafe oder Haft, in "schweren Fällen" Gefängnis (Verbraucherdelikt, § 2) 87 . Die notwendige Abgrenzung der Tat nach § 1 KWVO sollten in erster Linie die Merkmale der "Bedarfsgefährdung" und der "Böswilligkeit" ermöglichen 88 . Ein Verstoß gegen § 1 KWVO konnte auch nach § 4 VolksschädlingsVO 89 erfaßt werden 90 , da Verstöße mit und ohne Ausnutzung der Kriegsverhältnisse für denkbar gehalten wurden 91

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DR 1941,1243; vgl. Freister, DJ 1940,1233 f. - Rietzsch/Peren/Schneider (1942) entnehmen der Rspr. des RG zwei Aspekte: Sie unterscheiden eine täterpsychologische ("Bewußtsein der Verwerflichkeit") Betrachtung und eine "von außen her an den Täter" herangetragene "sittliche Wertung" seiner Gesinnung als verwerflich, die "vom Standpunkt der kriegsverpflichteten Volkswirtschaft" zu erfolgen habe (S. 227 f.). Vgl. bei Fn. 20. Vgl. RG DR 1941, 4891 und Mittelbach, DR 1941,1243 mit Nachw.; Rietzsch/Peren/Schneider (1942), S. 236. Zur Strafzumessungspraxis Beispiele bei Klütz (1940), S. 21 ff.; zum besonders schweren Fall Rietzsch/Peren/Schneider (1942), aaO, allg. RG DJ 1939,1905,1906; DJ 1940,101,102. VO v. 6. 4. 1940, RGBl. I, S. 610 neu gefaßt und bekanntgemacht durch VO v. 26.11. 1941, RGBl. I, S. 734. Zum "schweren Fall" § 2IV; sogar die versuchte Übertretung (!) war nach § 2 1 strafbar (Abs. III). Zum ganzen vgl. die Kommentierung bei Rietzsch/Peren/Schneider (1942), S. 17 ff. Zur VO v. 6. 4. 1940 Überblick bei Nagler, GS 114 (1940), S. 177 ff. Dazu Rietzsch/Peren/Schneider (1942), S. 212 mit Nachw. Dazu sogleich [Nr. 29]. Vgl. RG DJ 1940,289,290 (zu § 1 II KWVO). Rietzsch/Peren/Schneider (1942), S. 234 f. mit Nachw. zum Streitstand; dort zu weiteren Konkurrenzfragen. Beispiele für ein Zusammentreffen von § 1 KWVO und § 4 VolkschädlingsVO aus der Sondergerichtspraxis bei Nütz (1940), S. 24.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht f)

Zuständigkeit

Ausschließlich zuständig für die Aburteilung von Verstößen gegen die KriegswirtschaftsVO wurden 1940 die Sondergerichte92. 3. Gesetz und Richter Bemerkenswert ist, daß § 1 KWVO dem Richter auf verschiedenen Ebenen einen bedeutenden Ermessensspielraum gab. Das Reichsgericht selbst betonte, wie oben näher ausgeführt, die Beurteilung des zentralen Merkmals der Bedarfsgefährdung stehe im "pflichtmäßigen Ermessen" des Richters93, die "Böswilligkeit" erfordere eine wertende Betrachtung vom Standpunkt der Volksgemeinschaft94. Die für die Ermessensausübung aufgestellten, am Gesetzeszweck orientierten Leitlinien wurden bereits erläutert. Die "Lockerheit" des § 1 KWVO wurde auch im zeitgenössischen Schrifttum betont und ihr Sinn darin gesehen, "den Richter nicht einzuengen" und ihn in die Lage zu versetzen, "jede mögliche Art von Verstößen" ahnden zu können95. Die Gesetzessprache sollte, so Nagler allgemein zur Kriegsstrafgesetzgebung, "die elastische Angleichung an rasch sich ändernde Lagen" ermöglichen und damit die "möglichste Vollständigkeit der Zielerreichung ... gewährleisten"96. Die Rechtsfolgenregelung entspricht dieser Tendenz der Tatbestandsbeschreibung: Der Strafrahmen reicht von einem Tag Gefängnis bis zur Todesstrafe. Diese Spannweite des Strafrahmens erweist schon für sich allein § 1 I KWVO als Rahmenvorschrift. Die Verordnung legt den Richter nicht abschließend fest, und der Gesetzgeber beabsichtigt das auch gar nicht. Entscheidende Bedeutung hatte damit die Handhabung der Verordnung durch den Richter. So lautete auch das Resumé Freislers in seinem Aufsatz zur KriegswirtschaftsVO, "besonders schwer zu lösende sogenannte juristische Fragen" habe die Praxis zu § 1 KWVO nicht ergeben. Die "wichtigste Frage", von deren "richtiger Lösung Bewährung und Versagen der Rechtspflege" abhänge, sei "eine solche der Richterpsyche". Diese sei bei der inhaltlichen Ausfüllung der wertenden Merkmale des § 1 KWVO und beim Auswerfen der Strafen in erster Linie gefordert 97 . Der Richter müsse die richtige Einstellung zu den "charakterisierenden und abgrenzenden wertungsbedürftigen Tatbestandsmerkmalen haben"98: Der Richter "muß, wenn er an die Entscheidung herangeht, vom Wesen und von den Erfordernissen des totalen Kriegs erfüllt sein"99.

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§ 13 Nr. 4 ZuständigkeitsVO v. 21.2.1940, RGBl. I, S. 405. RGSt. 75,129,143. RGSt. 74,359,365 f. Mittelbach, DR 1941,1239. Nagler, GS 114 (1940), S. 138 Fn. 6.

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DJ 1940,1230. DJ 1940,1234. DJ 1940,1231.

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C. Die zweite Phase: 1939 bis 1945 [Nr. 29] Verordnung gegen Volksschädlinge vom 5. September 1939 1. Einführung

Die Verordnung gegen Volksschädlinge (VolksschädlingsVO), die dritte Kriegsstrafrechtsverordnung des Ministerrats für die Reichsverteidigung1, bildete das "Kernstück"2 des Kriegsstrafrechts. Freisler bezeichnete sie als den "Mittelpunkt des Kerngebietes des allgemeinen Kriegsstrafrechts", wobei zu diesem Kerngebiet auch die bereits besprochene KriegswirtschaftsVO und die RundfunkVO rechneten 3 . Die VolksschädlingsVO hatte unter den kriegsstrafrechtlichen Vorschriften in der Praxis jedenfalls der ersten Kriegsjahre die "weitaus größte Bedeutung" 4 . Entsprechend dieser Bedeutung soll sie im folgenden eingehend behandelt werden. Zur ersten Orientierung mag ein Überblick über die einzelnen Vorschriften dienen: § 1 VolksschädlingsVO drohte für die "Plünderung im freigemachten Gebiet" die Todesstrafe an (Abs. 1), die durch Erhängen vollzogen werden konnte (Abs. 3). "Verbrechen bei Fliegergefahr" erfaßte § 2, der jedes - nach anderen Vorschriften strafbare - Verbrechen oder Vergehen gegen Leib, Leben oder Eigentum, begangen "unter Ausnutzung der zur Abwehr von Fliegergefahr getroffenen Maßnahmen" mit Zuchthaus bis zu 15 Jahren oder mit lebenslangem Zuchthaus bedrohte, in besonders schweren Fällen mit dem Tode. Die Überschrift "gemeingefährliche Verbrechen" trug § 3, der für "eine Brandstiftung oder ein sonstiges gemeingefährliches Verbrechen" die Todesstrafe vorsah, wenn durch die Tat "die Widerstandskraft des deutschen Volkes" geschädigt wurde. Neben diese Gruppe von Strafvorschriften stellte § 4 unter dem Titel "Ausnutzung des Kriegszustandes als Strafschärfung" einen umfassenden Auffangtatbestand 5 , den "großen Auffangtatbestand" des allgmeinen Kriegsstrafrechts 6 . § 4 erfaßte denjenigen, der "vorsätzlich unter Ausnutzung der durch den Kriegszustand verursachten außergewöhnlichen Verhältnisse eine sonstige Straftat" beging und drohte "unter Überschreitung des regelmäßigen Strafrahmens" mit Zuchthaus bis zu 15 Jahren, mit lebenslangem Zuchthaus oder mit der Todesstrafe, wenn "dies das gesunde Volksempfinden wegen der besonderen Verwerflichkeit der Straftat" erforderte. In der Praxis der ersten Kriegsjahre bildeten die §§ 2 und 4 die Schwerpunkte; auf diese Vorschriften bezieht sich die bei weitem überwiegende Zahl der Entscheidungen des Reichsgerichts und der Untergerichte 7 . Dementsprechend werden die §§ 2 und 4 auch hier im

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7

RGBl. I, S. 1679. Zeichnung: Vors. des MfdRV Goring, GBV Frick, RMuChdRk Lammers. - Aufgehoben durch KRG Nr. 11 Art. II Nr. lf. Mittelbach, DR 1942,13. Freisler/Grau/Krug/Rietzsch (1941), S. 7. Schwarz, ZAkDR 1941,106. Vgl. auch Mittelbach, ZAkDR 1943,110: 250 Urteile im 1. Halbjahr 1942 beim SG Berlin. Vgl. Freisler, DJ 1939, 1452; Kohlrausch/Lange39 (1943), Anh. Nr. 36, § 4 Aura. II; Schwarza (1943), Sonderteil Nr. 5, § 4 Anm. 1; Pfundtner/Neubert/Schäfer (1933 ff.), II c 19, S. 4. Freisler/Grau/Krug/Rietzsch (1941), S. 106, s. auch S. 43. - Nach Bischoff (1942), S. V ff. enthielt § 4 den Grundgedanken der VolksschädlingsVO, ja des Kriegsstrafrechts schlechthin (Ausnutzung der Kriegsverhältnisse). Vgl. die Rechtsprechungsübersichten bei Niederreuther, DJ 1941, 385 ff.; Mittelbach, DR 1942,13 ff.; Schwarz, ZAkDR 1941,106.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

Vordergrund stehen. Die von der alliierten Gesetzgebung aufgehobene 8 VolksschädlingsVO wird zur Reihe der rechtsstaatswidrigen Strafgesetze gerechnet. Eberhard Schmidt hat die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe als rechtsstaatswidrig gekennzeichnet und namentlich § 4 VolksschädlingsVO wegen seiner unbestimmten Voraussetzungen und Rechtsfolgen als "das endgültige Grab des 'nulla poena sine lege'" angesehen9. Die weitere Darstellung gilt den Zwecken der Verordnung (dazu 2) und ihrer Deliktssystematik (dazu 3). Die einzelnen Tatbestände sind zu erörtern und zwar aus den oben genannten Gründen zunächst das Verbrechen bei Fliegergefahr (§ 2, dazu 4, 5) und die Ausnutzung der Kriegsverhältnisse (§ 4, dazu 6). Die im Kriegsverlauf zunehmend bedeutsame Plünderung im frei gemachten Gebiet (§ 1) wird einbezogen (dazu 7), auf eine nähere Darstellung der "gemeingefährlichen Verbrechen" (§ 3) dagegen verzichtet, weil diese Vorschrift ein Schattendasein führte. Die Tätertypenfrage, welche die gesamte Verordnung übergreift, wird im jeweiligen Sachzusammenhang erörtert (vor allem 2, 5; ferner 6d, 7c). Die Grundzüge der Strafzumessung (dazu 8) und des Strafverfahrens (dazu 9) sind darzustellen. Abschließend wird das Verhältnis von Gesetz und Richter (dazu 10) zusammenfassend aufgegriffen. 2. Die Zwecke der Verordnung Überragender Zweck der Verordnung war die "Sicherung der inneren Front" im Kriege10, die Bekämpfung der "Sabotage des nationalen Abwehrkampfes"11 durch Schutz gegen Zersetzungserscheinungen aller Art"12. Entgegengewirkt werden sollte mit der VolksschädlingsVO namentlich Taten, die geeignet waren, "den Abwehrwillen der Volksgemeinschaft im Kriege zu schädigen und das Vertrauen der kämpfenden Front oder der Heimatfront zu schwächen"13. Die Verordnung diente der "Erhaltung des Rechtsfriedens in der Heimat und des Sicherheitsgefühls der zum Heeresdienst einberufenen Volksgenossen hinsichtlich ihrer Belange in der Heimat"14, um auf diese Weise die "deutsche Siegeszuversicht" zu erhalten und zu stärken. Aus dem Schutzzweck der VolksschädlingsVO wurde vom Reichsgericht u. a. abgeleitet, daß das "Vertrauen zur Sicherheit und Zuverlässigkeit der öffentlichen Verkehrsbetriebe oder der öffentlichen Wirtschaft oder zu der Unantastbarkeit und Ehrlichkeit der in ihr tätigen Personen" zu schützen sei15. Der Schutzzweck wurde für die Anwendung der einzelnen Tatbestände herangezogen, da die gesamte Verordnung nach der Rechtsprechung des

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Vgl. Fn. 1. 1965, S. 435. Vgl. auch Peters, Umgestaltung (1965), S. 167 ("Vage Tatbestände und vage Strafdrohungen"), und aaO, S. 168 f. zur Rolle der Rspr. Zurückhaltender Schorn (1963), für den die Tatbestände (in Kriegszeiten) der "Grundidee nach" berechtigt waren, in der Praxis jedoch "zu schweren Fehlurteilen geführt" hätten (S. 119 f.). Vgl. RGSt. 76, 385, 386; Freisler/Grau/Krug/Rietzsch (1941), S. 7; Pfundtner/Neubert/Schäfer (1933 ff.), II c 19, S. 1. Bockelmann, ZAkDR 1942,295. Gallas, ZStW 60 (1941), 399. RGSt. 76, 111, 112; ähnlich 77, 34, 41; s. auch RGSt. 76, 78, 79, wo von der "inneren Haltung" der Front die Rede ist. R G DR 1940,12311. RGSt. 76,111,112 zum Diebstahl von (normalen) Postsendungen; vgl. auch RGSt. 76, 62, 385.

C. Die zweite Phase: 1939 bis 1945

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Reichsgerichts nicht nach "theoretischen Bewertungen und Erwägungen", sondern entsprechend "den Kriegsverhältnissen und dem Geiste und dem Ziele ihrer Gesetzgebung" 16 oder kurz nach den "Kriegsbedürfnissen" 17 auszulegen war. Die VolksschädlingsVO zielte einmal darauf ab, Taten mit dem beschriebenen "kriegs-" oder "volksschädlichen" Charakter durch wirksame A bschreckung zu unterbinden 18 . Daneben wurde ein "ethischer" Aspekt herausgearbeitet 19 : Wer in der Kriegszeit "der um ihre Existenz kämpfenden Gemeinschaft durch Sabotage dieses Abwehrkampfes oder durch Ausbeutung der Notlage für eigennützige Zwecke in den Rücken" falle 20 , offenbare in besonderem Maße "niedrige Gesinnung" 21 , begehe einen "Treuebruch" und eine "Gemeinheit" 22 , ja einen "Dolchstoß in den Rücken des Volkes" 23 und verdiene deshalb "schwerste Sühne"24. Ein solcher Täter "versündigte" sich nach einer Rundverfügung des Reichsjustizministers am deutschen Volk und hatte "keinen Platz mehr" in der "Gemeinschaft" 25 . Auch dieser "ethische" Aspekt ist Gemeingut der zeitgenössischen Auffassung, der weder eines Schrifttums- noch eines Rechtsprechungsnachweises bedurfte 26 . Von zentraler Bedeutung ist schließlich, daß sich die Verordnung nicht ausschließlich in den Bahnen von Abschreckung und Sühne bewegte. Sie richtete sich nämlich nach einer im Schrifttum überwiegenden - dort allerdings nicht ganz unbestrittenen - Auffassung sowie nach der Rechtsprechung gegen eine bestimmte Klasse von Tätern, eben gegen "Volksschädlinge"27. Dies wurde der Überschrift des Gesetzes selbst28 und den darin zum Ausdruck kommenden "Absichten der politischen Führung"29 entnommen. Diese Absichten der politischen Führung hatte Freisler als Staatssekretär im Reichsjustizministerium unmittelbar nach Erlaß der VolksschädlingsVO in der "Deutschen Justiz" dargelegt und von "gewissenlosen Schädlingen" gesprochen, die im Kriege Gelegenheit zu "verbrecherisch-eigennützigen Angriffen" 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29

RGSt. 74, 113, 114; s. auch RG DJ 1940, 1195, wo auch "formalen Erwägungen" mit dem gleichen Worten entgegengetreten wird. Krit. zu den "abwegigen Ausführungen" über (angebliche) Unterschiede zwischen Theorie und Praxis Kohlrausch/Lange38 (1943), Anh. Nr. 36, § 2 Anm. II, S. 824. U. a. RGSt. 74.358; 76,88,89. In diesem Zusammenhang vgl. etwa auch RGSt. 76,78; 76,62,88,111; betr. Verhängung der Todesstrafe RGSt. 77,34. Zu diesem generalpräventiven Aspekt ζ. B. Best, DR 1939,1698; Gallas, ZStW 60 (1941), 399; Mezger, ZStW 60 (1941), 366; Nüse (1940), S. 11. Gallas, ZStW 60 (1941), 400. AaO. Nüse (1940), S. 11. Freister, DJ 1939,1450. Freister/Grau/Krug/Rietzsch (1941), S. 17. Gallas (Fn. 19). RV des RJM v. 12. 9. 1939 zur Einführung der VolksschädlingsVO, abgedruckt bei Krug/ Schäfer/Stolzenburg* (1943), S. 536. Siehe ζ. B. die Feststellungen Bockelmanns, ZAkDR 1942,295. Zur Rspr. vgl. RGSt. 74, 199; 74, 321, 322; 76, 111. Aus dem Schrifttum Freisler/Grau/Krug/Rietzsch (1941), S. 9 ff.; DJ 1939, 1451 ff.; Dohm, DR 1940, 1421; Kohlrausch/Lange™ (1943), Anh. Nr. 36, Vor § 1 Anm. III; Mezger, ZStW 60 (1941), 367. Vgl. auch die Nachw. bei Gallas sowie unten 5. Vgl. ζ. B. RGSt. 74,199 und 321, näher unten 5. Vgl. auch Gallas, ZStW 60 (1941), 398; Dohm, DR 1940,1422. Dohm, aaO.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

suchten oder gar "die Widerstandskraft unseres Volkes schädigen" wollten. Solche Schädlinge gelte es auszuschließen und "wenn nötig auszurotten"30. Im einzelnen nennt Freisler als "Volksschädlingstypen" den "Plünderer" (§ 1), den "feigen Meintäter" (§ 2) und den "gemeingefährlichen Saboteur" (§ 3)31. Im Kommentar der Mitarbeiter des Reichsjustizministeriums breitete Freisler diese Auffassung von der "Richtung" der VolksschädlingsVO nochmals eingehend aus: Zwar enthalte die Verordnung nur in den §§ 1 bis 3 "drei plastische Verbrechensbilder", doch verdeutliche die Gesetzesüberschrift, daß die VolksschädlingsVO nur "einen Typ von Menschen: die Volksschädlinge der Kriegszeit" treffen wolle. Die Generalklausel des § 4 überwinde "das Einengende der seelisch und daher volkserzieherisch wirkenden Kasuistik" der §§ 1 bis 3 und spreche ebenfalls das "Verdammungsurteil 'Volksschädling'"32 aus. Die VolksschädlingsVO mache damit zum Objekt ihrer Strafnormen bewußt einen bestimmten Tätertyp33; nicht die Tat werde bestraft, sondern ein bestimmt gearteter Täter, ein bestimmter "Lebenstyp", wegen seiner Tat 34 . Die Tat selbst bildete nach dieser Auffassung nur den Anlaß für den Zugriff auf den "Täter", die Tatschwere ein Indiz für die "Artung" der Täterpersönlichkeit. Die Einordnung als "Volksschädling" hing davon ab, ob die "festzustellende Tat allein oder im Zusammenhang mit anderem früheren oder jetztzeitigem Verhalten des Täters in der Gemeinschaft eine solche Brüchigkeit oder Gemeinschaftswidrigkeit seiner Persönlichkeit ergibt, daß der Täter als 'Volksschädling' anzusprechen ist. Dabei kann die einzelne Tat so ungeheuerlich sein, daß sie schon für sich allein den Täter als Volksschädling kennzeichnet; und andererseits kann eine verhältnismäßig nicht sehr schwere Einzeltat ausreichen, einen allgemein gemeinschaft[s]fremden oder gar gemeinschaft[s]feindlichen Mann als Volksschädling zu kennzeichen".

Die Verurteilung nach der VolksschädlingsVO könne nur und müsse andererseits erfolgen, wenn der Täter als "Volksschädling" stigmatisiert werden könne35. Die Bewertung als "Volksschädling" bedeutet nach diesem Verständnis etwas anderes als nur die Feststellung besonderer individueller Schuld oder gar nur der "Volksschädlichkeit" der Tat selbst. Der Begriff "Volksschädling" läßt schon sprachlich anklingen, daß es um die "Ausscheidung"36, die "Ausmerzung"37 oder die "Ausrottung" von "Krankheitserregern" geht oder, mit den Worten Gleispachs, um eine "Entlastung und Reinigung des Volkskörpers" durch das "Ausschalten oder Vernichten der Volksschädlinge"38. Die "gemeinschaftssittliche Abwertung des Täters", die das Rückgrat der ganzen Verordnung" bildet39, kann dadurch nicht nur aus Tatschwere und Tatschuld erwachsen, die nur Indizien für die "Gemeinschaftswidrigkeit" des 30 31 32 33 34 35 36 37 38

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DJ 1939,1450. AaO, 1450 ff. Freisler/Grau/Krug/Rietzsch (1941), S. 14 f. Freisler, DJ 1940,918. Freisler/Grau/Krug/Rietzsch (1941), S. 19, 21. Freisler/Grau/Krug/Rietzsch (1941), S. 20. Hervorhebung im Original. AaO, S. 22. Nüse (1940), S. 11. So Gleispach auf der Münchner Tagung der Strafrechtsgruppe und der Arbeitsgemeinschaft für internationales und ausländisches Strafrecht anläßlich der Jahrestagung der ADR v. 22. bis 24. 11. 1940, DStR 1941,4. Freisler/Grau/Krug/Rietzsch (1941), S. 15.

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C. Die zweite Phase: 1939 bis 1945

Täters bilden. Zwar kann der Schluß auf die "Gemeinschaftswidrigkeit" häufig zwingend sein; ausschlaggebend ist aber diese "Gemeinschaftswidrigkeit" als solche, die sich eben nicht nur aus Tatschwere und Tatschuld ergeben kann, sondern aus der "Gesamtpersönlichkeit", dem "Gesamtverhalten", der "Artung" usw. des Täters. Treffend erscheint insoweit die Formulierung, die Mezger in seinem Vortrag auf der Strafrechtslehrertagung 1940 - mit Blick auf das Kriegsstrafrecht insgesamt - fand: "Durch alle diese Maßnahmen [l]40 geht ein totalitärer Zug, der auf die Persönlichkeit dessen gerichtet ist, dem sie gelten"41. Dem Gesetzgeber habe beim Erlaß der - im Hinblick auf den Gedanken der "Täterstrafe" insgesamt - "besonders lehrreichen" Bestimmungen des Kriegsstrafrechts das "Gesamt-Bild von Personen vorgeschwebt ..., die in der Zeit eines Krieges ... für das Volksganze eine Gefahr bilden"42. Das Reichsgericht anerkannte, daß sich die VolksschädlingsVO gerade gegen den Tätertyp des Volksschädlings richte und vertrat diese Auffassung in ständiger Rechtsprechung 43 . Diese Rechtsprechung soll im Sachzusammenhang des § 2 der Volksschädlings VO näher dargestellt werden. Die Kennzeichnung als "Volksschädling" selbst verstand das Reichsgericht als "Brandmarkung" des Täters und sah in dieser Wertung eines der wesentlichen Ziele der VolksschädlingsVO 44 . 3. Die Deliktssystematik § 1 VolksschädlingsVO schuf nach einhelliger Auffassung einen neuen selbständigen Straftatbestand 45 . Der Deliktscharakter der §§ 2 bis 4 war dagegen umstritten. Der Gesetzeswortlaut legte dabei die Annahme von Straferhöhungsgründen nahe: Das Verbrechen bei Fliegergefahr (§ 2) und das gemeingefährliche Verbrechen (§ 3) setzten die Begehung bestimmter Delikte voraus und schärften unter bestimmten Voraussetzungen die Strafe. Aus dieser Struktur leitete man ab, die §§ 2 und 3 bildeten tatbestandliche Qualifikationen zu den vorausgesetzten Grunddelikten 46 . Die Überschrift zu § 4 sprach eindeutig für die Annahme eines Straferhöhungsgrundes, wenn von der Ausnutzung des Kriegszustandes als "Strafschärfung" die Rede war und wies nach dem Wortlaut in Richtung einer bloßen Strafzumessungsregel. Die zuletzt angesprochene Folgerung wurde allerdings nicht gezogen, da man eine systematische Gleichbehandlung des Auffangtatbestandes des § 4 insbesondere mit § 2 für zwingend erachtete, so daß § 4 entweder als Qualifikation zu den jeweiligen Grunddelikten 47 oder als Sonderdelikt 48 behandelt wurde. Die praktischen Konsequenzen, die sich aus der unterschiedlichen deliktsystematischen Einordnung ableiteten, waren zwar nicht ganz unerheblich, aber nicht durchgehend zwingend 40 41 42 43 44 45 46 47 48

Gemeint sind die Strafvorschriften des "besonders lehrreichen Kriegsstrafrechts". ZStW 60 (1941), S. 366. Auf diesen Befund stützte Mezger die Annahme, der von ihm nachhaltig befürwortete "tatbestandliche Tätertyp" sei gesetzlich anerkannt; Hervorhebungen aaO. AaO, 366 f. Vgl. RGSt. 74,199,321. RG-GS-St. 75,210,211; s. auch SG Essen, DJ 1940,1196. Vgl. nur Kohlrausch/Lange38 (1943), Anh. Nr. 36, II Vor § 1, S. 816. AaO, S. 816 f.; Nagler, ZAkDR 1940,383 ff. Kohlrausch /Lange3* (1943), Anh. Nr. 36, II Vor § 1, § 4 Anm. I; Nagler, aaO. Vgl. den nachfolgenden Text.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

und jedenfalls überschaubar. Sie betrafen in erster Linie die Behandlung des versuchten Grunddelikts und das Strafantragserfordernis 49 . Eine eingehendere Behandlung verdient der Streit um den Deliktscharakter aber vor allem deshalb, weil er nach zeitgenössischer Auffassung das "Grundverständnis" der VolksschädlingsVO im ganzen berühren sollte und als Kampf gegensätzlicher strafrechtsmethodischer Prinzipien geführt wurde 50 . Das Reichsgericht vertrat in ständiger - wenn auch zuweilen undeutlicher - Rechtsprechung den Standpunkt, die §§ 2 bis 4 bildeten eigenständige Delikte 51 . Schon bald nach Erlaß der VolksschädlingsVO bezeichnete eine Entscheidung vom 18. Dezember 1939 ihren § 2 als "neues Strafgesetz mit selbständiger Strafbestimmung". Diese Annahme entspreche dem Zweck der Verordnung, die "jeden Angriff gegen die geschützten Rechtsgüter, der in der bezeichneten Weise erfolgt, gleichmäßig treffen" wolle. Zur Absicherung des Ergebnisses wird allerdings ergänzend noch auf einen Umkehrschluß aus § 4 verwiesen, den der Gesetzgeber ausdrücklich auf die Bedeutung einer Strafschärfung beschränkt habe 52 . Wenig später entschied das Reichsgericht auch für § 4, dieser enthalte "trotz seiner Überschrift und seines Wortlauts keine bloße Strafschärfungsvorschrift wie der § 20a RStGB", sondern "einen besonderen Straftatbestand". Die Fassung der Urteilsformel - Verurteilung "nach dem § 4 VO. gegen Volksschädlinge"53 - sei "hiernach nicht zu beanstanden". Der "Einheitlichkeit wegen" empfehle es sich jedoch, den Tenor dahin zu fassen, der Angeklagte sei wegen der Grundtat "in Verbindung mit dem § 4 der VO. gegen Volksschädlinge" zu verurteilen 54 . - Dieselbe Entscheidung bejahte die Verhängung von Vollendungsstrafe unter den Voraussetzungen des § 4 VolksschädlingsVO auch beim Versuch des Grunddelikts, leitete dieses Ergebnis aber nicht aus dem Sonderdeliktscharakter des § 4, sondern aus dem Gesetzeswortlaut ab, der ohne Unterschied zwischen Versuch und Vollendung auf das Vorliegen einer "sonstigen Straftat" abhebe und damit eine Strafmilderung auch bei nur versuchtem Grunddelikt ausschließe55. Mittelbar zeigt diese Annahme, daß das Reichsgericht den Ausdruck "Sonderdelikt" jedenfalls in dieser Entscheidung nicht synonym mit "Qualifikation" verwendete, weil dann das Ergebnis, Vollendungsstrafe beim Versuch der "Grundtat", nicht haltbar gewesen wäre. Eine inhaltliche Begründung für den Sonderdeliktscharakter des § 2 gab dann ein Reichsgerichtsurteil vom 31. Mai 1940: Durch die "besonderen Voraussetzungen" des § 2 erhalte das Grunddelikt eine "andere Angriffsrichtung". So seien bei Eigentumsdelikten "nicht mehr allein oder auch nur in erster Linie das Privateigentum" geschützt, sondern "die Belange der Allgemeinheit, nämlich die Erhaltung des Rechtsfriedens in der Heimat und des Sicherheitsgefühls" der Soldaten hinsichtlich "ihrer Belange in der Heimat" 56 . Das besondere Unrecht der Volksschädlingstat sollte also offenbar das Diebstahlsunrecht "überdecken", den "Haupt-

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Überblick bei Kohlrausch /Lange3* (1943), Anh. Nr. 36, § 2 Anm. VI 1, S. 825 f. Dazu sogleich bei Fn. 75 ff. Vgl. etwa RG DR 1940, 3182 = HRR 1940, Nr. 460; RGSt. 74, 98; 74, 199, 203; DR 1940, 12311; RGSt. 74, 358; 375, 377; 377; RGSt. 75, 210, 211; 76, 385, 386. S. ferner zur Rspr. Niederreuther, DJ 1941,392; Mittelbach, DR 1942,14 f. jeweils mit Nachw. RG DR 1940,318 2 = HRR 1940, Nr. 460. RGSt. 74,98. AaO, 101 f. AaO, 101. DR 1940,1231 1 ; s. in diesem Zusammenhang auch Freister, DJ 1940, 888 f. und oben 2.

C. Die zweite Phase: 1939 bis 1945

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unrechtsgehalt" der Tat ausmachen57 und damit den "Sonderdeliktscharakter" der Tat rechtfertigen. Aus dem so verstandenen "Sinn und Zweck" der Vorschrift leitete das Reichsgericht für § 2 die zuvor - im Zusammenhang des § 4 - auf den Gesetzeswortlaut gestützte Annahme ab, auch wenn die "Grundtat" nur versucht sei, liege eine vollendete Tat nach § 2 vor. Die Rechtsprechung des Reichsgerichts bejahte hinsichtlich der §§ 2 und 4 durchweg die Annahme eines "Sonderverbrechens" oder eines "selbständigen Tatbestandes". Einzelne Entscheidungen lassen allerdings Zweifel zu, ob diese Ausdrücke im herkömmlichen technischen Sinne verwendet werden und auch einen Unterschied zur tatbestandlichen Qualifikation herausstellen sollen. So hat Kohlrausch darauf hingewiesen, die Rechtsprechung gebrauche die Ausdrücke gelegentlich gerade nicht im technischen Sinne, sondern meine der Sache nach eine tatbestandliche Qualifikation, wie insbesondere die gelegentliche Parallele zum Aufbau der §§ 242 und 243 zeige58. Ferner wird der Ausdruck "besonderer" oder "selbständiger" Straftatbestand gelegentlich nur als Gegenbegriff zur Strafzumessungsregel verwendet59 und konnte insoweit ohne inneren Widerspruch auch im Sinne einer tatbestandlichen Qualifikation verstanden werden60. In allen diesen Fällen war die Unterscheidung "Sonderdelikt" oder "Qualifikation" aber nicht entscheidungserheblich. Zum anderen hat, wie gezeigt, die Rechtsprechung das versuchte Grunddelikt als vollendete Volksschädlingstat bewertet. Ferner hat sie gerade aus der auf "Sinn und Zweck" der Verordnung basierenden Annahme eines Sonderdelikts abgeleitet, bei Antragsdelikten könne unter den Voraussetzungen des § 4 die "Grundtat" auch ohne Strafantrag als Volksschädlingsdelikt verfolgt werden61. Beide Ergebnisse sind bei einer Deutung der §§ 2 und 4 als Qualifikation nicht haltbar62, oder sie hätten doch zumindest zusätzlicher Begründungsschritte bedurft 63 . Das Schrifttum bejahte überwiegend den Sonderdeliktscharakter der Volksschädlingstaten 64 . Die Frage wurde in dem dort ausgetragenen Streit über die vergleichsweise begrenzte Sachproblematik hinaus als bedeutsam für die "Grundeinstellung zum Volksschädlingsverbre-

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Freister, aaO. Vgl. RGSt. 74, 375 (zu § 4); 74,199, 203 und Kohlrausch/Lange* (1943), Anh. Nr. 36, Anm. II Vor § 1, S. 816 f.; Nagler, ZAkDR 1940,226 zu RGSt. 74,199. RGSt. 74,210,211; 113,114; 358. Vgl. Kohlrausch /Lange3* (1943), Anh. Nr. 36, Anm. II Vor § 1, S. 817. Vgl. unten Fn. 171. So Kohlrausch/Lange38 (1943), Anh. Nr. 36, § 1 Anm. II, VI 5 und § 4 Anm. IV. Vgl. insoweit Nagler, ZAkDR 1940, 385 und Fn. 58, der unter Berufung auf eine Übertragung der Auflockerung des Antragserfordernisses bei Körperverletzungen (VO v. 2. 4. 1940, RGBl. I 606, § 232) auf die VolksschädlingsVO die Stellung des Strafantrags für entbehrlich hält; anders noch ZAkDR 1940,221. A. M. - Antrag muß gestellt werden - Kohlrausch/Lange* (1943), Anh. Nr. 36, § 4 Anm. IV. Freisler/Grau/Kmg/Rietzsch (1941), S. 44 ff. und DJ 1940, 885 ff. jeweils mit eingehender Begr.; Mittelbach, DR 1942,14 ff.; Niederreuther, DJ 1941, 392 und aaO, Fn. 24; Nüse (1940), § 4 Anm. 7, S. 26; Pfundtner/Neubert/Schäfer (1933 ff.), II c 19, § 4 Anm. 1, S. 4; Schwarz12 (1943), Sonderteil Nr. 5, § 4 Anm. 2 und ZAkDR 1941,108; Dalcke33 (1942), § 2 Anm. 11, S. 1771 (spricht aber einerseits von einem "neuen gesetzlichen Tatbestand", zieht andererseits eine Parallele zu §§ 242/243). Zusf. Bischoff (1942), S. 97 ff. mit weit. Nachw.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

chen"65 oder sogar als "Kernfrage" der Bestimmungen angesehen66, weil von ihr das Finden der richtigen Bewertungsebene und Strafhöhe abhänge: Der Anschluß an das Grunddelikt schaffe die Gefahr, daß "die strafrechtliche Würdigung sich in gewisser Abhängigkeit von der strafrechtlichen Wertstufe der Grundstraftat vollziehe", ein "Abgleiten in die Grundstraftat" stattfinde und die 'Tat in ihrer Angriffsrichtung gegen die innere Front" nicht klar genug hervortrete 67 . Die andere "Ausgangsebene für die Beurteilung" von Volksschädlingstaten müsse durch die Annahme eines Sonderdelikts verdeutlicht werden68, andernfalls werde die "erforderliche Strafmaßhärte" nicht erreicht69. Für den Sonderdeliktscharakter wurden neben diesen Erwägungen namentlich die "andersartige Unrechtswertung" der Taten nach der VolksschädlingsVO ins Feld geführt, die Ausnutzung der Kriegsverhältnisse und der "Dolchstoß gegen den Soldaten an der äußeren Front"70, die "eine Metamorphose der Grundtat zum Volksschädlingsverbrechen" bewirke71. Diese materiellen kriminalpolitischen Erwägungen wurden von den Befürwortern einer tatbestandlichen Qualifikation nun allerdings nicht bestritten72. Nagler, der wohl am nachhaltigsten die Annahme eines "herausgehobenen" Verbrechens, d. h. einer Qualifikation, befürwortete, wendete sich nicht gegen die Ausgangsposition Freislers, sondern betonte sachlich übereinstimmend die Notwendigkeit harter Strafe und die Unzulänglichkeit eines bloßen "Kriegsaufschlags", der "ein unverzeihliches Mißverständnis des Gesetzes" bedeuten würde. Strafwürdigkeit und Strafhöhe seien aber von der Deliktskonstruktion unabhängig, so daß Freislers Kritik ins Leere gehe. Auch die veränderte Unrechtsqualität und den Verbrechenscharakter der zum Volksschädlingsdelikt aufgerückten Vergehen oder Übertretungen bestritt Nagler nicht: Die Taten hätten ihren ursprünglichen Charakter völlig abgestreift73. Der von Freisler behaupteten Wertsynthese, wonach das Unrecht der Volksschädlingstat "ganz anders geartet" sei, setzt Nagler im Ergebnis die Annahme einer "Wertkombination" entgegen74. Die Ablehnung eines Sonderdeliktscharakters der §§ 2 bis 4 beruhte also im Ergebnis auf dogmatisch-konstruktiven Erwägungen, nicht auf sachlichen Differenzen über die praktische Handhabung der VolksschädlingsVO75. Die scharfe Tonart der Kontroverse zwischen Freisler und Nagler dürfte sich deshalb daraus erklären, daß zwei Arten des Strafrechtsdenkens miteinander in Konflikt gerieten. Diesen Sinn interpretierte jedenfalls Freisler selbst in den Streit um den Deliktscharakter hinein: Im "Ringen" der Auffassungen sei "zugleich ein solches 65 66 67 68 69 70 71 72

73 74 75

Mittelbach, DR 1942,14. Freisler/Grau/Krug/Rietzsch (1941), S. 44. Mittelbach, DR 1942,14. Freisler/Grau/Krug/Rietzsch (1941), S.45. Freisler, DJ 1940,887 ff. Freisler/Grau/Krug/Rietzsch (1941), S. 44 f.; DJ 1940,887 ff. Freisler/Grau/Krug/Rietzsch (1941), S. 106. Vgl. Kohlrausch/Lange1" (1941), Anh. Nr. 36, § 2 Anm. I, S. 776 f., wo Kohlrausch "weniger einen sachlichen Gegensatz" sieht als vielmehr "zwei Aspekte der Betrachtung", einen mehr kriminologischen (Freisler) und einen mehr systematischen (Nagler). Gegen Kohlrauschs Syntheseversuch Freisler/Grau/Krug/Rietzsch (1941), S. 45. Nagler, ZAkDR 1940,386. AaO, 384. Vgl. aber Kohlrausch/Lange* (1943), Anh. Nr. 36, zur Behandlung des Versuchs der Grundtat (§ 2 Anm. VI) und zur Antragsstellung bei Antragsdelikten (§ 4 Anm. IV).

C. Die zweite Phase: 1939 bis 1945

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zwischen einem abstrakt-begrifflich systematischen und einem volksbiologisch-organischen Strafrecht" zu sehen76. Es gehe darum, ob man "eine überkommene Strafrechtstechnik und zur Strafrechtsdogmatik emporgesteigerte gewohnte Strafrechtssystematik von vornherein zum Herrn unserer modernen Strafgesetze machen" wolle, oder ob nicht vielmehr die "gemeinschaftssittliche Unrechtswertung" den Vorrang haben müsse77. Die Annahme eines Sonderdelikts verdeutliche dem Richter die richtige Bewertungs- und Strafmaßebene; zugleich ermögliche sie die Verurteilung des Täters "als Volksschädling" und nicht etwa wegen "versuchten Betruges, geschärft nach § 4 W O " und verdeutliche dadurch der Allgemeinheit die "gemeinschaftssittliche Verdammung des Täters". Schon diese "höchste psychisch-erzieherische Wirkung" allein rechtfertige die Annahme eines Sonderdelikts. Hiergegen sei man "freilich mit Mitteln gründlichster, ihre inhaltlose Rabulistik ohne Feigenblatt zeigenden Scheinargumentation zum Kampfe angetreten" - gemeint sind "rein konstruktive" Erwägungen - da man fälschlich meine, "das Recht sei eine tote, durch sich ohne Männer von Fleisch und Blut wirkende Apparatur"78. Im Gegensatz zu Freisler legt Nagler das Schwergewicht seiner Argumentation auf die Auslegung der "(in der Regel schon ausschlaggebenden) positiv-rechtlichen Fassung des Tatbestands . Zugleich sucht er Freislers Beweisführung aus der "Gemeinschaftssittlichkeit" oder dem "gesunden Volksempfinden" als sachlich unrichtig und methodisch unzulänglich zu erweisen80. Freisler könne die Beweisführung aus dem Gesetzeswortlaut nicht mit dem Hinweis entkräften, der Gesetzgeber bediene sich bewußt der "Sprache des Lebens", die der Strafschärfung nicht den zugespitzten strafrechtswissenschaftlichen Sinn beilege. Gegen diese Erwägung gibt Nagler zunächst zu bedenken, "ob nicht jede Gesetzesfassung unbeschadet ihres volkstümlichen Gewandes mit rechtlichen Begriffen" arbeite, läßt diese Frage aber offen. Sicher aber müßten "Wissenschaft wie Praxis für ihre spezifisch-rechtlichen Aufgaben stets den rechtlichen Feingehalt des Gesetzes auswerten, mithin die "Lebenssprache" nicht nur verstehen, sondern vor allem in Rechtsbegriffe, falls sie solche nicht schon verwenden sollte, überführen"81. Dabei gehe es, so ließe sich die Argumentation um ein Zitat aus einem vorangegangenen Beitrag Naglers ergänzen, im allgemeinen und auch im Hinblick auf den Deliktscharakter der §§ 2 bis 4 VolksschädlingsVO keineswegs nur um "scholastische Distinktionen": "Rechtliche Grundauffassungen verbürgen mit der Präzision ihrer Folgerungen immer Rechtseinheit und Rechtssicherheit"82. Freilich steht dieser Rechtssicherheitsbegriff Naglers, der Vorausberechenbarkeit meint, inzwischen in Opposition zum neuen Begriff der Rechtssicherheit als "Sicherheit der Rechtsverwirklichung"83 - und so führte, wie es scheint, Nagler in der Auseinandersetzung mit Freisler Rückzugsgefechte um längst verlorene Positionen.

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Freisler/Grau/Krug/Rietzsch (1941), S. 45. AaO, S. 44 f. AaO, S. 55 f. ZAkDR 1940,383. S. schon ZAkDR 1940, 220 ff. ZAkDR 1940,384. AaO, 383. AaO, 220; zu den einzelnen Ableitungen aaO, 220 f. Dazu oben [Nr. 16] 2d.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

4. Das "Verbrechen bei Fliegergefahr" (§ 2) § 2 VolksschädlingsVO hatte folgenden Wortlaut: "Wer unter Ausnutzung der zur Abwehr von Fliegergefahr getroffenen Maßnahmen ein Verbrechen oder Vergehen gegen Leib, Leben oder Eigentum begeht, wird mit Zuchthaus bis zu 15 Jahren oder mit lebenslangem Zuchthaus, in besonders schweren Fällen mit dem Tode bestraft".

a) Die

Anknüpfungstat

§ 2 setzte die Begehung eines Verbrechens oder Vergehens gegen Leib, Leben oder Eigentum voraus. Ausgeschieden wurden damit aus dem Anwendungsbereich der Vorschrift Übertretungen, so daß namentlich die Abgrenzung von Diebstahl und Mundraub erhebliche Bedeutung für die Anwendbarkeit des § 2 hatte84. Nach § 2 der DurchführungsVO zur VolksschädlingsVO vom 7. September 193985 war § 2 auch bei Antragsdelikten nicht anwendbar. Allerdings konnten Antragsdelikte wie Übertretungen nach § 4 VolksschädlingsVO erfaßt werden, falls dessen Voraussetzungen vorlagen86. Die in § 2 vorausgesetzte Angriffsrichtung diente namentlich der Einbeziehung von Delikten wie Diebstahl, Raub oder Körperverletzung, war aber nach einhelliger Auffassung nicht im strengen deliktssystematischen Sinne zu verstehen87. Das Reichsgericht wollte unter Berufung auf die "Kriegsverhältnisse" sowie "den Geist und die Ziele ihrer Gesetzgebung" etwa auch Angriffe auf die Willensfreiheit (Nötigung) erfassen88. Es hielt ferner bei nicht einverständlichen Sittlichkeitsdelikten89, bei Widerstand gegen die Staatsgewalt90 oder bei unterlassener Hilfeleistung nach § 330c RStGB91 die Erfüllung der Voraussetzungen des § 2 für möglich92. Sachlich ausschlaggebendes Kriterium bildete nach diesen Entscheidungen nicht die deliktssystematische Einordnung der Tat, sondern ihre im konkreten Verlauf gegebene An-

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§§ 242, 370 Nr. 5 RStGB. Zur "wertbezogenen" Auslegung der Begriffe "geringe Menge" und "unbedeutender Wert" nach "gesundem Volksempfinden" und zur Anwendbarkeit des § 2 VolksschädlingsVO vgl. aber SG CeUe, HRR 1940, Nr. 522. Lobend Freisler/Grau/Krug/Rietzsch (1941), S. 61 f. Zust. wohl auch Kohlrausch/Lange3* (1943), § 370 Anm. 12. RGBl. I, S. 1700. Im einzelnen dazu Freisler/Grau/Krug/Rietzsch (1941), S. 63 ff. Dazu Freisler/Grau/Krug/Rietzsch (1941), S. 65; Kohlrausch/Lange* (1943), Anh. Nr. 36, § 4 Anm. II, IV. Zusf. Freister, DJ 1939, 1450 ff. und in: Freisler/Grau/Krug/Rietzsch (1941), S. 57 ff.; Kohlrausch/Lange3* (1943), Anh. Nr. 36, § 2 Anm. II mit Nachw. RGSt. 74, 113, 114. Nach dem Sachverhalt lag zumindest eine konkrete Leibesgefährdung vor, vgl. aaO. S. dazu auch Mittelbach, DR 1942,15. Vgl. RG-BS-DJ 1939, 1095 = DR 1940, 317; bei Einverständnis konnte § 4 anwendbar sein, vgl. RGSt. 74,375 (Urt. v. 18.11.1940) und HRR 1940, Nr. 1139 (Urt. v. 17.6.1940). DJ 1940,629. RGSt. 74, 199; DJ 1940, 1195. Abi. gegen die Begr. Dohm, DR 1940, 1421, 1422, der eine analoge Anwendung des § 2 befürwortete und Nagler, ZAkDR 1940,226, der § 4 heranziehen wollte. Vgl. Kohlrausch/Lange3* (1943), Anh. Nr. 36, § 2 Anm. II mit Nachw. Zusf. zur Rspr. Niederreuther, DJ 1941, 386; Mittelbach, DR 1942,15 f.

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griffsrichtung gegen Leib oder Leben 93 , wobei ganz unerhebliche körperliche Beeinträchtigungen außer Betracht bleiben sollten94. Der Versuch der "Grundtat" wurde für die Annahme eines vollendeten Verstoßes gegen § 2 für ausreichend erachtet, und zwar ohne Zulassung einer fakultativen Strafmilderung 95 . b) Die Ausnutzung der Fliegerabwehrmaßnahmen Als Maßnahmen zur Fliegerabwehr kamen ζ. B. das Verlassen von Wohnungen und das Aufsuchen von Luftschutzräumen bei Fliegeralarm in Betracht, so daß etwa der Diebstahl aus einer vorübergehend verlassenen Wohnung als typisches Beispiel einer Tat nach § 2 angesehen wurde 96 . Herausragende praktische Bedeutung hatte indes die Ausnutzung von Verdunkelungsmaßnahmen 97 , die im größten Teil des Reichsgebietes jede Nacht durchzuführen waren 98 . Die "Verdunkelungsverbrechen" bildeten deshalb den Gegenstand zahlreicher Entscheidungen und Äußerungen des Schrifttums. Die bloße Begehung einer Tat unter Ausnutzung natürlicher Dunkelheit reichte nach einhelliger und unbestreitbarer Auffassung nicht aus. Für die Konkretisierung der näheren Tatbestandsvoraussetzungen ist ein in der Deutschen Justiz veröffentlichter Aufsatz Freislers vom November 1939 von Bedeutung, der sich programmatisch mit "Verdunkelung und Dunkelheit" befaßte. In diesem Beitrag führte Freister u. a. aus: "Unter Ausnutzung der Verdunkelung geschieht die Tat objektiv immer dann, wenn die (künstlich gegenüber dem Normalzustand herbeigeführte) Verdunkelung die Tat irgendwie erleichtert" 99 . Das Reichsgericht führte dann im Februar 1940 in diesem Sinne aus, zur Ausnutzung von Verdunkelungsmaßnahmen sei es einerseits nicht erforderlich, daß die Tat "ohne die Verdunkelung nicht ausgeführt worden wäre"100. Es genüge aber auch nicht, daß die Tat lediglich "im Wirkungsbereiche"101 der Fliegerabwehrmaßnahmen, "also während der infolge der Verdunkelung herrschenden Dunkelheit verübt worden" sei. Es sei vielmehr nur "soviel erforderlich, andererseits jedoch auch ausreichend, daß die Ausführung der Tat durch die Verdunkelung irgendwie er-

Auf diese Formel bringen Kohlrausch /Lange1* (1943), § 2 Anm. II die Rspr. Vorbehalte bei Freisler/Grau/Kmg/Rietzsch (1941), S. 59 f., wo Freisler aber einräumt, man gelange damit in allen entschiedenen Sachverhalten zum gleichen Ergebnis. Freisler billigt aaO die Rspr., die ihre Ergebnisse unmittelbar aus dem Schutzzweck der VolksschädlingsVO herleiten will. Nicht wenige Entscheidungen differenzieren aber ausdrücklich nach dem konkreten Tatverlauf, z. B. RG DJ 1940, 629 sowie die Entscheidungen zu den Sittlichkeitsdelikten, oben Fn. 89. 94 RGSt. 74,375,376. 95 RGSt. 74, 98, 101; DR 1940, 1231, oben Fn. 55 f. Krit. Kohlrausch /Lange3* (1943), Anh. Nr. 36, § 2 Anm. II. 96 Vgl. Freister, DJ 1939,1450; Pfundtner/Neubert/Schäfer (1933 ff.), II c 19, § 2 Anm. 3; s. auch Niederreuther, DJ 1941,386. 97 Vgl. die Rechtsprechungsübersichten bei Niederreuther, aaO; Mittelbach, DR 1942,16. 98 Dazu Freisler/Grau/Krug/Rietzsch (1941), 66 f. 99 DJ 1939,1706. 100 In diese Richtung aber - Dezember 1939 - z. B. Gleispach I (1940), S. 17. 101 So aber SG Hamburg, DJ 1939, 1835 (Urt. v. 10. 10. 1939). Die Ablehnung der zuerst genannten engen Interpretationen führte das SG zu seiner weiten Auslegung. 93

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

leichtert worden" sei102. Diese Rechtsprechung des Reichsgerichts wurde im Schrifttum gebilligt103· Nach der Rechtsprechung des Reichsgerichts genügte es, wenn die Kriegsverhältnisse in irgendeinem Stadium zwischen Vorbereitung und Beendigung der Tat ausgenutzt wurden. Unter "Begehung" der Tat wurde der "gesamte Geschehensablauf', "also nicht nur bereits etwaige Vorbereitungshandlungen, sondern auch noch der Rückweg vom Tatorte sowie die Wegschaffung und Sicherung der Beute"104, verstanden. Subjektiv mußte der Täter im Bewußtsein der Begünstigung seiner Tat durch die Kriegsverhältnisse gehandelt haben105. Dabei sollte Handeln in Wut oder Erregung106 oder im Affekt 107 die Ausnutzung der Verdunkelung nicht ausschließen, aber eine sorgfältige Vorsatzprüfung erfordern 108 . Falls die "Ausnutzung" erst im Beendigungsstadium erfolgte, mußte sich der Täter der Taterleichterung durch die Verdunkelung spätestens während der Tatausführung bewußt geworden sein109. 5. Das Tätertypenerfordernis als ungeschriebene Voraussetzung des § 2 Auf der Basis der bisher besprochenen gesetzlichen Voraussetzungen des § 2 VolksschädlingsVO ergab sich eine außerordentliche Weite des Tatbestands: Jede Prügelei, die unter Ausnutzung der allnächtlichen Straßenverdunkelung stattfand, jeder kleine Diebstahl (ζ. B. einer 10-Pfennig-Münze) in einer halbdunklen Straßenbahn, waren nach § 2 tatbestandsmäßig und mit Zuchthausstrafe bedroht, deren Mindestmaß ein Jahr betrug (§ 14 II RStGB)110. Ein im Schrifttum beliebtes Beispiel war insoweit auch die Kirmesschlägerei auf dem zur Kriegszeit verdunkelten Dorfplatz, den die Beteiligten gerade deshalb aufsuchten, weil gemäß den Verdunkelungsbestimmungen die einzige Laterne nicht brannte111. Die Weite des Tatbestandes mußte bei ausschließlich wortlautorientierter Auslegung in solchen Fällen nach allgemeiner Ansicht zu ungerechten und letztlich auch der Wirksamkeit der VolksschädlingsVO abträglichen Strafen führen.

102 RGSt. 74, 62, 63 (Urt. v. 16. 2.1940). Vgl. auch RGSt. 74, 137 (Urt. v. 19. 3. 1940); 74,321, 322 (Urt. v. 30. 5.1940) sowie die weit. Nachw. bei Niederreuther, DJ 1941,387. 103 Vgl. Kohlrausch/Lange3* (1943), Anh. Nr. 36, § 2 Anm. III; Niederreuther, DJ 1941, 386 f.; Mittelbach, DR 1942, 16. Freister deutet das "irgendwie fördern" im Sinne einer "Förderungse/gnung"; das RG hatte, soweit ersichtlich, diese Frage nicht zu entscheiden. 104 RGSt. 74, 299 = DR 1941, 411 mit zust. Anm. Boldt; vgl. dort die weit. Nachw. zur Rspr., ferner Niederreuther, DJ 1941, 387; Kohlrausch/Lange* (1943), Anh. Nr. 36, § 2 Anm. III; Mittelbach, DR 1942,16 Fn. 45 jeweils mwN. S. auch insoweit schon (vgl. bei Fn. 99) Freister, DJ 1939,1706. 105 RGSt. 74,137,138. 106 RG DJ 1940,1248. 107 RG DJ 1940,1169. ιοβ RG aaO. 109 RGSt. 74,246,247 und 74,299. HO Beispiele bei Kohlrausch/Lange3* (1943), Anh. Nr. 36, Vor S 1 Anm. III. 111 Vgl. Freister/Grau/Krug/Rietzsch (1941), S. 76.

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a) Die Judikatur des Reichsgerichts Das Reichsgericht suchte eine sinnvolle Begrenzung des § 2 durch das zusätzliche Erfordernis zu erreichen, der Täter müsse dem Typ des "Volksschädlings" entsprechen. Damit verwandelte sich die Zielrichtung der Verordnung, eine "bestimmte Klasse von Tätern", nämlich "Volksschädlinge" zu treffen, auf Tatbestandsebene in ein "Korrektiv", eine Art "Sicherheitsventil"112 zur Vermeidung materiell ungerechter Ergebnisse. Das Tätertypenerfordernis wurde für den Bereich der VolksschädlingsVO vom Reichsgericht erstmals durch das Urteil des II. Strafsenats vom 20. Mai 1940 anerkannt. Das Reichsgericht führte aus, wenn der Tatbestand des § 2 festgestellt sei, so werde "in der Regel das Gesetz auch dann anzuwenden sein", wenn der Täter "im übrigen keine Verbrecherpersönlichkeit" sei. Aus der Tatbestandsverwirklichung ergebe sich nämlich regelmäßig, "daß der Täter, auch wenn er unbestraft ist, doch durch die Tat eine Gesinnung gegenüber der vom Kriege betroffenen Volksgemeinschaft an den Tag gelegt hat, die zeigt, daß er ihr feindlich gegenübersteht, die Kriegsverhältnisse selbstsüchtig ausnützt und als Volksschädling anzusehen ist". Doch folge daraus "andererseits", daß nicht jede Tatbestandsfeststellung ausnahmslos die Anwendung des § 2 zur Folge haben müsse: Ergebe sich aus dem "sonstigen Verhalten" des Täters, "insbesondere aber aus den Umständen der Tat", daß dieser kein "Volksschädling" sei, so dürften ihn die Strafen des § 2 nicht treffen. So wie § 181a RStGB nur den "Tätertyp" des Zuhälters 113 im Auge habe, gelte die VolksschädlingsVO nur dem Volksschädling. Verwiesen wird daneben auch auf den "'Verbrechertyp' des gefährlichen Gewohnheitsverbrechers ... und des gefährlichen Sittlichkeitsverbrechers"114. Im Ergebnis habe der Tatrichter die Pflicht, einerseits den Tatbestand des § 2 "besonders sorgfältig" festzustellen, "andererseits aber über die Feststellung der Tatbestandsmerkmale hinaus zu prüfen, ob sich aus dem ganzen Sachverhalt, insbesondere aber aus der Tat selbst, eine Täterpersönlichkeit erkennen läßt, die als Volksschädling angesehen werden muß". Die Begründung des Reichsgerichts bestand aus einem einzigen Satz: "Daß die VO. geg. Volksschädlinge von dieser Auffassung ausgeht, ergibt sich schon aus der Überschrift" 115 . Das Reichsgericht verhalf damit jedenfalls verbal für den Bereich der VolksschädlingsVO der im Schrifttum vertretenen "Tätertypenlehre" zum Durchbruch. Für eine gewisse Unklarheit sorgte dabei allerdings die Parallele zu den im Urteil angesprochenen Tätertypen des gefährlichen Gewohnheitsverbrechers und des gefährlichen Sittlichkeitsverbrechers, da für § 2 VolksschädlingsVO ausdrücklich anerkannt wurde, schon die einmalige Tat könne eine "an sich" nicht verbrecherische Persönlichkeit als Volksschädling erweisen 116 . Ein krimineller Hang oder eine asoziale Täterpersönlichkeit wurden damit, anders als bei den "kriminologischen" Tätertypen des gefährlichen Gewohnheitsverbrechers oder Sittlichkeitsverbrechers, bei dem Tätertyp des "Volksschädlings" im Sinne des § 2 nicht zwingend vorausgesetzt. Da schon die einmalige Tat den Täter als Volksschädling sollte kennzeichnen können, konnte deshalb nur die im Schrifttum entwickelte Figur des "normativen Tätertyps" angesprochen sein. Unter 112 113 114 115 116

Freister, aaO, S. 81 f. Dazu RGSt. 73,183,184. Dazu oben [Nr. 12] 2c, 3. Vgl. RGSt. 74,199,202 f. Dazu Dohm, DR 1940,1421.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

dieser wurde, grob gesprochen, das Bild des Täters verstanden, das sich der Gesetzgeber beim Erlaß des einzelnen Strafgesetzes vorgestellt habe117. Man bezeichnete deshalb den "normativen Tätertyp" auch als "Schatten"118 oder sogar "Seele"119 des Tatbestandes. Das Urteil desselben Senats vom 30. Mai 1940 bekräftigte das Erfordernis einer besonderen Tätertypenfeststellung: "Die VO. richtet sich, wie schon ihre Überschrift zeigt, ausdrücklich gegen Volksschädlinge, also gegen eine bestimmte Art von Tätern. Unter die Strafbestimmungen fällt daher nur, wer sich als Täter von der Wesensart des 'Volksschädlings' erweist, d. h. mit solcher verbrecherischer Tatkraft oder mit solcher Verwerflichkeit des Handelns den Rechtsfrieden der Volksgemeinschaft stört, daß er nach gesundem Volksempfinden mindestens eine Zuchthausstrafe verdient"120. Das Reichsgericht brachte hier zwar, anders als in der vorangegangenen Entscheidung, in deutlicher Anlehnung an § 4 auch das "gesunde Volksempfinden" als Beurteilungsmaßstab für die "Wesensart" des "Volksschädlings" ins Spiel. Eine sachliche Abweichung von der früheren Entscheidung war damit jedoch nicht beabsichtigt. Das zeigt die vom Reichsgericht aufgestellte Formel zur Feststellung der "Volksschädlings"Eigenschaft, welche die früheren Erwägungen bündelte und für die spätere Rechtsprechung maßgeblich blieb: "Ob sich ein Täter ... als Volksschädling" darstelle, könne sich "aus der Art der Straftat oder aus einer Würdigung der Persönlichkeit des Täters ergeben, besonders aus seinem Vorleben, seinen Vorstrafen, seiner verbrecherischen, gemeinschaftsfeindlichen Gesinnung oder auch aus der Art und Weise, wie er die Tat begangen, oder aus den Umständen, unter denen er gehandelt hat"121. Die Handhabung der Formel wurde im Anschluß an die frühere Entscheidung dahin erläutert, schon die Verwirklichung des Tatbestandes des § 2 werde "in der Regel" den Täter als "Volksschädling" erweisen, auch wenn dieser "im übrigen keine Verbrecherpersönlichkeit" sei122. Diese Ausführungen dokumentieren eindeutig, daß dem Reichsgericht keinesfalls eine Beschränkung auf den sog. kriminologischen Tätertyp vorschwebte, da schon die einzelne Tat den Täter zum Volksschädling stempeln konnte. Bezeichnenderweise fehlt auch der in der vorangegangenen Entscheidung noch gegebene Hinweis auf den gefährlichen Gewohnheits- oder Sittlichkeitsverbrecher. Dahm begrüßte diese Position der Rechtsprechung und suchte sie mit der Erwägung zu stützen, eine Begrenzung auf den "kriminologischen" Tätertyp würde zu einer Einschränkung der Volksschädlings V O führen, "die ihrem Sinn und den Absichten der politischen Führung nicht entspräche"123. Andererseits Schloß die Entscheidung nicht aus, daß gerade auch die "kriminelle" oder "asoziale" Persönlichkeit des Täters für die Anwendung oder Nichtanwendung der Verordnung den Ausschlag geben könne. Eingehende Persönlichkeitswürdigungen in späteren Urteilen zeigen 117 Zum kriminologischen - auch "individuellen" oder "kriminellen" - und zum "normativen" - auch "strafrechtlichen", "tatbestandlichen", "generellen" oder "personalen" - Tätertyp vgl. etwa Gallas, ZStW 60 (1941), 374 ff.; Dahm, FS Siber (1941), S. 209 f.; Mezger, ZStW 60 (1941), 354 ff.; Kohlrausch/Lange3* (1943), Anh. Nr. 36, Vor § 1 Anm. III, S. 821 jeweils mit Nachw. Vgl. auch Schqjfstein, DStR 1942, 33 ff. Zur Terminologie Mezger, aaO. 118 Dahm, FS Siber (1941), 219. 119 Mezger, ZStW 60 (1941), 360. 120 RGSt. 74,321,322 (Hervorhebungen im Original). 121 AaO. Vgl. RGSt. 74, 239, 240 (Urt. v. 27. 6. 1940); RG-GS-St. 75, 210, 211 (Beschl. v. 7. 5. 1941); RGSt. 76,120,121 (Urt. v. 20.4.1942). 122 RGSt. 74,321,322 f. 123 DR 1940,1422 (Anm. zu RGSt. 74,199).

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die Bedeutung dieses Aspektes. Die in RGSt. 74, 321 aufgestellte Formel ermöglichte es der Rechtsprechung, je nach Sachlage Elemente der "kriminologischen" wie der "normativen" Tätertypologien zu verwenden 124 , ohne diese Gesichtspunkte systematisch trennen zu müssen 125 . In der Begründung verwies RGSt. 74, 321 wie die frühere Entscheidung auf die Überschrift der VolksschädlingsVO, aber anders als jene auch auf die damit repräsentierte Zielrichtung der Verordnung: Diese richte sich "gegen eine bestimmte Art von Tätern" und erfasse deshalb nur "Volksschädlinge"126. Im einzelnen durchgeführt wurde diese Herleitung aus dem Gesetzeszweck im Anschluß an Freisler 127 etwa in einer Entscheidung des Landgerichts Mainz aus dem Jahre 1940: Der Begründungskern lautete auch hier, die VolksschädlingsVO solle "gewissenlose Schädlinge" und "Kriegsparasiten" streng und rücksichtslos treffen, aber nur solche. Dies folge u. a. aus verschiedenen Tatbestandsbeschränkungen der VolksschädlingsVO - bei § 2 aus der Begrenzung auf bestimmte Deliktsarten und der Herausnahme von Antragsdelikten, bei § 4 aus der Verwerflichkeitsklausel -, die zeigten, daß nicht jeder Gesetzesbrecher, der Kriegsverhältnisse ausnutze, "Volksschädling" sei. "Im Regelfall" folge dies zwar aus der Tatbestandsverwirklichung, doch seien Fälle denkbar, in denen eine besondere Prüfung in dieser Richtung erforderlich sei128. Das Reichsgericht zog zur Begründung seiner Auffassung ferner eine Parallele zu § 4 und suchte nicht nur den Inhalt des Tätertypenerfordernisses 129 , sondern auch seine Herleitung auf das "gesunde Volksempfinden" zu stützen: Das Reichsgericht unterstellt, in der Verwerflichkeitsklausel des § 4 finde das Tätertypenerfordernis seinen gesetzlichen Ausdruck 130 . Über die juristische Qualität der einzelnen Ableitungen ist hier nicht zu befinden. Zutreffend dürfte aber die Annahme gewesen sein, der nationalsozialistische Gesetzgeber habe mit der VolksschädlingsVO eine "bestimmte Klasse von Tätern", eben "Volksschädlinge", treffen wollen 131 . Der Streit, ob damit zugleich eine gesetzliche Anerkennung der Lehre gerade vom "normativen" Tätertyp verbunden war, wie dies die überwiegende Auffassung im Schrifttum annahm 132 , wird im folgenden nicht näher untersucht. Es soll vielmehr darum gehen, den praktischen Bedeutungskern des "Tätertypenerfordernisses", insbesondere auf der Basis der reichsgerichtlichen Rechtsprechung, herauszuschälen. Betrachtet man die Definition des "Tätertyps" auf dem Stand von RGSt. 74, 321, so fällt sofort auf, daß sich die "Tätertypenfeststellung" nicht isoliert von der Tat selbst vollzieht, etwa in dem Sinne, daß neben die Tatbetrachtung eine Täterbetrachtung tritt und die Gesetzesan124 Vgl. Schänke1 (1944), Anm. II 2c Vor § 1; Gallas, ZStW 60 (1941), 392 Fn. 26,407 Fn. 53 jeweils mit Nachw. - Zur Bedeutung von Tat- und Täterelementen in der Rspr. des SG Berlin Mittelbach, ZAkDR 1943,112 f., der allerdings den Tätertypgedanken für entbehrlich hält. 125 Krit. insoweit Gleispach, der eine schärfere Trennung empfiehlt: Die den kriminologischen Typus begründenden Umstände dürften beim normativen Tätertyp des § 2 VolksschädlingsVO nur als Indizien verwertet werden (DStR 1941,3). 126 RGSt. 74,321,322. 127 DJ 1939,1405 und 1705. 128 DJ 1940,1149 (Urt. v. 12. 7.1940). 129 Oben Fn. 120. 130 Vgl. RGSt. 74,321,322; s. auch RGSt. 75,202,205 sowie unten 6d. 131 Vgl. oben 2 bei Fn. 27 ff. 132 Zum Streitstand Gallas, ZStW 60 (1941), 399 f.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

Wendung gewissermaßen in zwei Vorgänge aufgespalten wird. Diese Konsequenz wurde im übrigen von den Anhängern des "normativen" Tätertyps im allgemeinen nicht gezogen133. Die Tat selbst sollte also bei der Feststellung der "Volksschädlingseigenschaft" eine bedeutende Rolle spielen, ja die Tatsache ihrer Begehung regelmäßig den Ausschlag geben. In zahlreichen Entscheidungen steht dementsprechend die Tat im Vordergrund, etwa wenn diese "als so schwer angesehen" wird, daß sie es "trotz der Jugend des Angeklagten nötig" macht, ihn als Volksschädling zu bestrafen134. Charakteristisch sind für dieses Gewicht der Einzeltat Urteile im Zusammenhang des § 4. So wurde bei der Entwendung von Feldpostpäckchen135, aber auch von einfachen Postsendungen, die Tat als "besonders verwerflich" angesehen, so daß nur "ganz besondere Umstände" eine Verurteilung als "Volksschädlinge" ausschließen konnten136. Die Verwendung vom Feind abgeworfener Kleiderkarten sollte schon wegen der Schwere der Tat den Täter als einen Volksschädling kennzeichnen137, an anderer Stelle hieß es, "schon eine einzige Straftat" könne durch "ihre Art und Schwere und die dadurch bedingte Verwerflichkeit" die Verurteilung als Volksschädling erfordern 138 . Umgekehrt konnte, auch wenn die Tat besonders verwerflich erschien, die "Täterwertung" den Ausschlag für die Nichtanwendung der VolksschädlingsVO ergeben, etwa wenn, wie in RGSt. 74, 239 der Angeklagte noch nicht vorbestraft war, sich im Weltkrieg als Soldat so bewährt hatte, daß er mit dem Eisernen Kreuz I und II ausgezeichnet worden war und aufgrund einer Kriegsverletzung eine Erwerbsbeeinträchtigung erlitten hatte139. Beim Diebstahl von Wi 1 "Kroatzbeere" unter Ausnutzung der Verdunkelung hob das Reichsgericht die Verurteilung des Angeklagten als Volksschädling auf, weil Weltkriegsteilnahme und 22-jährige Pflichterfüllung bei der Reichsbahn nicht gewürdigt worden seien140. Die "Täterwertung" erstreckte sich auf die gesamte Täterpersönlichkeit, seinen Lebensweg, ζ. B. Schulbesuch, ständige Arbeit, Berufswahl u. a. m.141. Selbstverständlich war es auf der Basis der "Täterwertung", daß eine von einer "an sich" "kriminellen" Täterpersönlichkeit begangene geringfügige Tat zur Verurteilung als Volksschädling führen konnte. So wies Freisler, der durch die zentrale Auswertung der Urteile gegen "Volksschädlinge" im Reichsjustizministerium über einen umfassenden Überblick über die strafgerichtliche Praxis verfügte, darauf hin, "der Einbau der Persönlichkeitswertung" habe "in sehr vielen Fällen zur Verurteilung des Täters als Volksschädling geführt, in denen die

133 134 135 136 137

138 139 140 141

Vgl. etwa Schaffstein, DStR 1942,33. RGSt. 75,202, 205 (Urt. v. 2.5.1941). Vgl. ζ. B. RGSt. 76,78. RGSt. 76,111,112. RGSt. 76, 120, 121 im Hinblick auf einen nicht vorbestraften, bisher "pflichttreuen" Deutschen; vgl. auch - mit dem gleichen Ergebnis - RGSt. 76, 79: Dort war der Täter bei gleichem äußeren Sachverhalt nicht vorbestraft. Zu den beiden Urteilen Bockelmann, ZAkDR 1942, 293; Kohlrausch/Lange^ (1943), Anh. Nr. 36, Vor § 1 Anm. III 3. RGSt. 77,34, 40. RGSt. 74,239,240. RG v. 27.8.1940 bei Freisler/Grau/Krug/Rietzsch (1941), S. 77. Vgl. LG Mainz, DJ 1940,1149. Weitere Beispiele bei Freisler, aaO, S. 77 f.

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Wertung der Tat allein nie dazu geführt hätte; mir scheint aufgrund meines Überblicks über die gesamte deutsche Kriegsstrafrechtspflege: in mehr Fällen als umgekehrt"142. Alle diese Ergebnisse sind mit der oben wiedergegebenen Formel vereinbar, die den Charakter eines Täters als "Volksschädling" aus der Tat oder der Täterpersönlickeit herleitete: Das Tätertypenerfordernis bezeichnete eine "Relation von Täterpersönlichkeit und Tatschwere in ihrem Zusammenwirken zur Feststellung, daß es sich um einen Volksschädling handelt"143. Deshalb sollte sich schon aus der Verwerflichkeit der Tat die Bewertung als Volksschädling ergeben können144. Umgekehrt sollte die hohe oder erhebliche "Gemeinschaftswidrigkeit" der Täterpersönlichkeit auch bei an sich leichteren Taten die Beurteilung als Volksschädling erfordern 145 . Das "Minus" an Tatgewicht konnte also durch ein "Plus" persönlicher Gemeinschaftswidrigkeit wettgemacht werden, wie umgekehrt das "Plus" an Tatgewicht so groß sein konnte, daß keine "Ergänzung aus der sonstigen Lebenserscheinung des Täters hinzukommen"146 mußte. b) Deutungen

der Rechtsprechung

zum Tätertyp im

Schriftum

aa) "Vikariieren" von Tat- und Täterelementen (Gallas, Schaffstein) Gallas kennzeichnete 1940 vor der Strafrechtslehrertagung das Verhältnis von Tat und Täter nach § 2 VolksschädlingsVO aus seiner Sicht147 so: Das Erfordernis einer "materiell volksschädlichen" Tat gelte "nicht unbeschränkt", sondern könne "in gewissem Umfang durch die kriminelle Artung des Täters ersetzt werden". Bei der Begriffsbestimmung des "Volksschädlings" könnten - jedenfalls im Rahmen des § 2 - "Tat- und echte Täterelemente Vikariieren', in einem Austauschverhältnis zueinander stehen"148. Diese Beschreibung von Gallas dürfte die Essenz der "Täterwertung" und ihren praktischen Stellenwert unabhängig vom Streit um den (tatbestandlichen) Tätertyp genau getroffen haben. Das wird u. a. dadurch bestätigt, daß der Befund von Gallas, der die Lehre vom (tatbestandlichen) Tätertyp ablehnte, als zutreffende Kennzeichnung der Praxis und der zu beachtenden Methode in seiner Kernaussage nirgends ernstlich bestritten wurde149. So griff beispielsweise Schaffstein, Anhänger des "tatbestandlichen Tätertyps", den Gedanken von Gallas auf - und kehrte dessen Schlußfolgerung (Überflüssigkeit des tatbestandlichen Tätertyps) ge-

142 Freister, aaO, S. 83. 143 Freister, aaO, S. 133 in Anlehnung an Gleispach I (1940), S. 17, der diese Relation allerdings auf die Ausnutzung der Kriegsverhältnisse (§ 4) münzte. 144 Vgl. nur Kohlrausch/Lange3* (1943), Anh. Nr. 36, Vor § 1 Anm. III 3. 145 Vgl. Freisler/Grau/Kmg/Rietzsch (1941), S. 133. 146 AaO; s. auch Niise (1940), S. 10. 147 Gallas lehnte die Lehre vom "normativen Tätertyp" ab, vgl. ZStW 60 (1941), 375 ff. Es handle sich nicht um eine eigenständige Täterfigur, sondern in Wahrheit um einen Tätertyp unter Täterbezeichnung (S. 397). Es gebe nur einen "echten" Tätertyp, den kriminologischen des Täterstrafrechts (AaO). 148 Gallas, a a 0 , s . 4 0 6 . 149 Zust. z. B. Bmns, ZAkDR 1941, 399. Zur Bedeutung des "Vikariierens" in der Praxis des SG Berlin Mittelbach, ZAkDR 1943,112 unter ausdrücklichem Hinweis auf Gallas.

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rade um: Für Schaffstein war das "Austauschverhältnis von Tat- und Persönlichkeitselementen", ihre "Verschmelzung ... zu einem einheitlichen Ganzen", "besonders kennzeichnend für das Wesen der tatbestandlichen Tätertypen". Die "Ermöglichung" eines solchen Austauschverfahrens sei "ein wesentlicher Vorzug des Tätertypgedankens". Die Konsequenzen für die praktische Anwendung der VolksschädlingsVO charakterisierte Schaffstein folgendermaßen: Zwischen "den beiden Grenzfällen, in denen der Volksschädling ohne Rücksicht auf seinen Persönlichkeitstyp durch die besonders schwere Einzeltat oder ohne Rücksicht auf die relativ leichte Einzeltat durch seine Zugehörigkeit zu dem entsprechenden kriminellen Persönlichkeitstyp charakterisiert" werde, liege "eine unendliche Skala von Zwischenstufen, in denen erst das Zusammentreffen beider Gesichtspunkte den Täter als Volksschädling erscheinen läßt und jeweils ein Minus auf der Tatseite durch ein Plus auf der Seite der persönlichen Asozialität und umgekehrt ausgeglichen wird"150. Diese Problematik glaubte Gallas bei weitgehender sachlicher Übereinstimmung mit Schaffstein im Rahmen eines personalen Unrechtsverständnisses bewältigen zu können, ohne des tatbestandlichen Tätertyps zu bedürfen. Die Kontroverse betraf also nicht die Berücksichtigung "personaler" Elemente als solcher, sondern kreiste einerseits um den strafrechtssystematischen und methodischen Wert der Lehre vom tatbestandlichen Tätertyp und andererseits um die Möglichkeit, die unter dem Sammelbegriff "normativer Tätertyp" bezeichneten Sachfragen im Rahmen eines personalen Unrechtsverständnisses mit den überkommenen methodischen Mitteln zu bewältigen. So faßte Bruns 1943 zusammen, "nicht ohne Berechtigung" glaube "eine weitverbreitete Meinung, auch ohne die Tätertypen und die damit verbundenen Gefahren oder Unklarheiten sachlich dasselbe Ergebnis durch vernünftige, d. h. auch die Täterpersönlichkeit berücksichtigende Auslegung des Tatbestandes erreichen zu können"151. Der starke "personale" Zug der nationalsozialistischen Gesetzgebung wurde von den Vertretern beider Auffassungen als das treibende Entwicklungsmoment anerkannt, um dessen zutreffende strafrechtsdogmatische Erfassung man sich bemühte.

bb) Die Verschmelzung von Tatbestand und Strafzumessung in der Strafwürdigkeit (Zawar) Bemerkenswerte Überlegungen zur dogmatisch stimmigen Begründung der "nirgendwo ernstlich beanstandeten Ergebnisse der reichsgerichtlichen Rechtsprechung"152 stellte der Justizpraktiker Zawar 1943 in seinem Aufsatz "Volksschädlingstat oder Volksschädlingstyp?" a n 1 . Zawar lehnte im Ergebnis das Tätertypenerfordernis als "zusätzliches", noch nicht im Tatbestand selbst enthaltenes ungeschriebenes Merkmal ab, berief sich aber zugleich darauf, das Reichsgericht judiziere jedenfalls im praktischen Ergebnis in seinem, Zawars, Sinne. Zawar billigte im Anschluß an Gallas und Schaffstein die Vorstellung eines Vikariierens von Tat- und Täterelementen bei der Anwendung der VolksschädlingsVO, kritisierte aber, mit dieser Erkenntnis sei "noch nichts Entscheidendes gewonnen", solange eine klare inhaltliche 150 Schaffstein, DStR 1942,35. 151 Bruns, ZAkDR 1943, 55; ähnlich Welzel, ZStW 60 (1941), 462. Vgl. zum Beleg einerseits Schaffstein, DStR 1942, 1 f.; andererseits Gallas, ZStW 60 (1941), 375 ff., 391, 399. S. auch den Diskussionsbericht von der Strafrechtslehrertagung 1940 (Bockelmann), ZStW 60 (1941), 417 ff., 420,423. 152 DStR 1943,45. 153 A a O , 42.

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Leitlinie für die praktische Handhabung der VolksschädlingsVO nicht formuliert werde154. Diese Leitlinie wollte Zawar dadurch gewinnen, daß er den materiellen Kern des Problems als ein solches der (spezifischen) Strafwürdigkeit unter dem Gesichtspunkt der VolksschädlingsVO formulierte: Das Reichsgericht selbst verwende "Strafzumessungsgründe allgemeinster Art", um die Volksschädlingstat bzw. Volksschädlingseigenschaft begründen zu können, wenn es auf die Schwere der Tat, die Art und Weise der Tatausführung, die Beweggründe und Gesinnungstendenzen sowie die Eigenart der Täterpersönlichkeit abstelle. Das Reichsgericht könne nun allerdings nicht erklären, wie die "spezifische Beziehung der tat- und täterschaftlichen Einzelmomente zur Volksschädlingstat hergestellt werde". Diese spezifische Beziehung vermittelte nach Zawar die Strafwürdigkeit: Bei der Volksschädlingstat würden "die ihrem spezifischen Sinngehalt entsprechenden Tätermerkmale aus den allgemeinen Strafzumessungsgriinden herausgelöst, verselbständigt und formal durch die Einheit der gesetzlichen Straf drohung (mindestens: Zuchthauswürdigkeit) mit den Tatelementen verschmolzen". Die Tat müsse sich als Sabotage des nationalen Abwehrkampfes oder als eigensüchtige Ausbeutung der Kriegslage darstellen, der Täter müsse korrelierend volksschädliche Wesenszüge aufweisen. Der Persönlichkeitsunwert des Täters, der sonst erst bei der Strafzumessung ins Spiel komme, werde dadurch Tatbestandselement, was in der tat- und täterzusammenfassenden Bezeichnung "Volksschädling" zum Ausdruck komme. Freilich sollten nicht schlechthin alle tat- und täterbezogenen Strafzumessungserwägungen zum Tragen kommen, sondern nur ausschnittsweise diejenigen Wesenszüge von Tat und Täter, die die Eigenschaft der Tat als volksschädlich und des Täters als Volksschädling begründeten155. Ergebe sich aus dem Gesamterscheinungsbild von Tat und Täter die Notwendigkeit, (mindestens) Zuchthausstrafe zu verhängen, sei die Tat volksschädlich und der Täter Volksschädling156. Damit werde die "spezifische Strafwürdigkeit" nach der VolksschädlingsVO zum (korrektiven) Element des Tatbestandes. Alle sonstigen tat- und täterschaftlichen Momente, die zur Begründung der Volksschädlichkeit von Tat und Täter keine Bedeutung hätten, seien ausschließlich in den Bereich der Strafzumessung zu verweisen157. Die strafbarkeitsbegründenden Strafwürdigkeitskriterien, namentlich die einschlägigen subjektiv-täterschaftlichen Kriterien, dürften bei der Strafzumessung nicht nochmals als Strafschärfungsmomente wiederholt werden, doch seien der "besondere Grad der volksschädlichen Gesinnung des Täters, das Ausmaß seiner sozialen Gefährlichkeit, die Intensität und der Umfang seines Handlungs- und Persönlichkeitsunwertes ... strafabwägenden Erörterungen zugänglich"158. Interesse verdienen diese Erwägungen, weil sie darauf hinauslaufen, die Unterscheidung von Tatbestandsanwendung und konkreter Strafzumessung bereichsweise einzuebnen und weil sie eine am Ergebnis orientierte "Ganzheitsbetrachtung" schon auf Tatbestandsebene als die dogmatisch richtige und praktisch weiterführende Methode zur Anwendung der VolksschädlingsVO zu erweisen suchen. Der Praktiker soll also fragen: Ist die Tat volksschädlich? Weist der Täter volksschädliche Züge auf? Er soll dann anhand des gewonnenen "Materials"

154 A a O , 45.

155 AaO, 46 f. und 50 f. Hervorhebungen im Original. 156 AaO, 45 f. Vgl. RGSt. 74, 321, 322, wonach die Bejahung der Volksschädlingseigenschaft u. a. voraussetzte, daß der Täter "mindestens eine Zuchthausstrafe" verdient. 157 AaO, 50. 158 AaO, 45.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

die "Leitfrage" beantworten: "Verdient dieser Täter für seine Tat mindestens Zuchthaus?" und entsprechend der auf diese Frage gegebenen Antwort über die Erfüllung der Tatbestands(!)voraussetzungen entscheiden. Die Tatbestandserfüllung soll also Resultante der vom Täter für seine Tat verdienten Strafe sein. Ein immanenter Einwand gegen Zawars Lösungsansatz liegt allerdings auf der Hand: Das Modell ist ersichtlich auf die "unteren Grenzfälle" der VolksschädlingsVO zugeschnitten, da bei einer schon für die Grundtat als solche drohenden Zuchthausstrafe eine Abgrenzung von "Volksschädlings"- und allgemeinen Straftaten anhand der Zuchthauswürdigkeit ausscheidet. Die Beobachtung einer Verschmelzung von Strafzumessungserwägungen und (im herkömmlichen Sinne verstandenen) Tatbestandselementen ist aber davon unabhängig und mindestens im Sinne einer Tendenzbeschreibung richtig. Das weite Feld der beim "Vikariieren" von Tatund Täterelementen maßgeblichen Gesichtspunkte wird systematisch umrissen. Aufmerksamkeit wird Zawars Ansatz daneben auch als Beschreibung der bei der Bejahung eines Tatbestandes mit absoluter Strafdrohung zu beachtenden Methode beanspruchen können: Auf der Linie von Zawars Argumentation liegt nämlich die in diesem Falle besonders interessierende Möglichkeit einer "Tatbestandskorrektur" von der Rechtsfolgeseite her, die vor allem bei der GewaltverbrecherVO ins Blickfeld rückte 159 . c) Die Ablehnung des Tätertypenerfordernisses Soweit im Schrifttum das Tätertypenerfordernis im Zusammenhang der §§ 2, 4 Volksschädlings VO kritisiert wurde, ergaben sich für § 2 dann keine zwingenden Unterschiede in der praktischen Handhabung, wenn zugleich die Verwerflichkeitsklausel' des § 4 auf § 2 erstreckt wurde 160 : Die Klausel ermöglichte die Berücksichtigung tatbezogener und täterschaftlicher Elemente, so daß eine Gleichsinnigkeit von Verwerflichkeitsklausel und Tätertypenerfordernis angenommen werden konnte 161 . Eine grundsätzliche Kritik' mußte also von einer Erstreckung der Verwerflichkeitsklausel absehen und § 2 als abschließende Regelung ohne zusätzliches "Korrektiv" begreifen. Mit dieser Konsequenz lehnte Nagler das Tätertypenerfordernis des Reichsgerichts ab: Naglers grundsätzliches Argument lautete, die Gesetzesfassung des § 2 gebe für den "Tätertyp" nichts her. Er blieb damit auf einer textorientierten Interpretationslinie, die auch seine Ablehnung des "Sonderdeliktscharakters" der §§ 2 bis 4 prägte 162 . Im übrigen stellte Nagler aber eine immanente Kritik der Rechtsprechung in den Vordergrund: Das Reichsgericht erkenne selbst an, daß schon die - auch gelegentliche - einzelne Tat selbst "in der Regel" den Täter zum Volksschädling stempeln könne, ohne daß dieser im übrigen eine Verbrecherpersönlichkeit sein müsse 163 . Damit falle das Reichsgericht entgegen seinem eigenen Ausgangspunkt auf eine "reine Tattypik" zurück 164 . Die Charakterisierung des Volksschädlings münde notwendig in einem "Leerlauf*, da es einen "solchen selb-

159 160 161 162

Dazu [Nr. 33], So Schwarz, ZAkDR 1941,108; Mittelbach, DR 1943,110 ff., 113. Dazu unten 6d. Dazu oben 3 bei Fn. 73.

163

Z A k D R 1940, 226.

164

AaO, 227.

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ständigen Tätertyp" nicht gebe165. Nagler stützte seine Kritik zusätzlich auf den kriminalpolitischen Gesichtspunkt, das Tätertypenerfordernis könne zu einer umfassenden und zu weit gehenden Einbeziehung der Persönlichkeitswertung in die Tatbestandsbeurteilung führen und damit den "Aktionsradius der VO. ganz unzulässig und zugleich ganz ungerechtfertigt" verkürzen, wodurch die "Schlagkraft der gegen diese spezifischen Kriegsverbrechen geübten Repression ... eine fühlbare Lähmung erfahren" würde166. Ob damit letztlich in der Sache selbst abweichende Ergebnisse anvisiert wurden - so billigte etwa Nagler im Ergebnis RGSt. 74, 199 -, erscheint offen, zumal die Gegner des "tatbestandlichen Tätertyps" die Möglichkeit einer Tatbestandsbegrenzung durch "sachgemäße Berücksichtigung der verschiedenen 'personalen Tendenzen'" schon im Wege der Auslegung des § 2 betonten167. Zusammenfassend ist zum "Tätertypenerfordernis" folgendes festzustellen: Sobald die gesetzlichen Mindestvoraussetzungen vorliegen, also Erfüllung einer "Grundtat" und Ausnutzung der Fliegerabwehrmaßnahmen, stehen Tat- und Täterwertung gleichberechtigt nebeneinander. Da Voraussetzungen wie Strafdrohung des § 2 ihrerseits weit gespannt sind, wird der "vikariierenden" Betrachtung von Tat und Täter breiter Raum eröffnet. 6. Die "Ausnutzung des Kriegszustandes als Strafschärfung" (§ 4) § 4 hatte folgenden Wortlaut: "Wer vorsätzlich unter Ausnutzung der durch den Kriegszustand verursachten außergewöhnlichen Verhältnisse eine sonstige Straftat begeht, wird unter Überschreitung des regelmäßigen Strafrahmens mit Zuchthaus bis zu 15 Jahren, mit lebenslangem Zuchthaus oder mit dem Tode bestraft, wenn dies das gesunde Volksempfinden wegen der besonderen Verwerflichkeit der Straftat erfordert".

a) Die "sonstige

Straftat"

Der Auffangtatbestand des § 4 erfaßte als "sonstige Straftat" jede an sich strafbare vorsätzliche Handlung (oder Unterlassung), für die nicht schon die §§ 1 bis 3 einschlägig waren. In Betracht kamen damit alle vorsätzlichen Straftaten, die im RStGB oder in strafrechtlichen Nebengesetzen geregelt waren oder deren Strafbarkeit sich aus § 2 RStGB ergab, gleichgültig, ob es sich um Verbrechen, Vergehen oder Übertretungen handelte168; selbst die Einbeziehung von "bloßen Ordnungswidrigkeiten" wurde befürwortet 169 . Nach der Gesetzeskonstruktion konnte damit also eine mit Haft bis zu sechs Wochen oder mit Geldstrafe bis zu 150 Reichsmark bedrohte Übertretung eine "Metamorphose" zum Volksschädlingsverbrechen erfahren und mit Zuchthaus- oder Todesstrafe geahndet werden. 165 AaO, 226. 166 AaO, 227 f. Zu kriminalpolitischen Bedenken vgl. auch Bruns, ZAkDR 1941,398 f.; Schwarz12 (1943), Sonderteil Nr. 5, Vor § 1 Anm. 1 und ders., ZAkDR 1942,209. 167 Vgl. etwa Bruns, ZAkDR 1941,399 und ZAkDR 1943,55 f. zur parallelen Problematik des § 1 ÄndG v. 4. 9. 1941, vgl. [Nr. 39] 2. Bruns klagt, der Tätertyp" sei als "Modethema 'zerredet'" worden (ZAkDR 1943,55). 168 Vgl. etwa Nagler, GS 114 (1940), 216; Freisler/Grau/Krug/Rietzsch (1941), S. 120. 169 Nagler, aaO.

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Freilich bot die Verwerflichkeitsklausel ein Korrektiv, das bei Übertretungen in der Regel die Anwendung des § 4 ausschloß170. Im Gegensatz zu § 2 wurden auch alle Antragsdelikte erfaßt 171 ; sämtliche Kriegsstraftaten fielen grundsätzlich unter § 4 VolksschädlingsVO, so ζ. B. Verstöße gegen die VerbrauchsregelungsstrafVO 172 - ohne Rücksicht darauf, daß diese Tatbestände den Kriegszustand voraussetzten. Eine Einschränkung wurde insoweit über das Merkmal der "Ausnutzung" erreicht: Es wurde vorausgesetzt, daß besondere Umstände, die in den Tatbestandsmerkmalen der Kriegsstraftat noch nicht berücksichtigt waren, die Tat erleichterten 173 . Der Ehebruch mit Soldatenfrauen wurde aufgrund einer im Kriegsverlauf getroffenen justizinternen Regelung nur mit Zustimmung des Reichsjustizministers als Volksschädlingstat verfolgt 174 . Entsprechend dem von der Rechtsprechung angenommenen eigenständigen Schutzzweck und Sonderdeliktscharakter des § 4 genügte - wie bei § 2 - der Versuch der Grundtat zur Annahme eines vollendeten Delikts 175 . Die Stellung des Strafantrags bei Antragsdelikten wurde nach dem Schutzzweck der VolksschädlingsVO für überflüssig erachtet: Bei zu bejahender Verwerflichkeit der Tat müsse das Einzelinteresse des Verletzten angesichts der Kriegsnotwendigkeiten zurückstehen und könne nicht zur Straffreiheit führen 176 . b) Die "Ausnutzung der durch den Kriegszustand geschaffenen außergewöhnlichen Verhältnisse" Das Ausnutzungserfordernis brachte in allgemeinster Form einen Gedanken zum Ausdruck, auf dem auch die §§ 1, 2 der VolksschädlingsVO beruhten und der darüber hinaus für das gesamte Kriegsstrafrecht von zentraler Bedeutung war 177 . Die kriegsbedingte tatsächliche "Lage" wurde damit zum Tatbestandsmerkmal: § 4 sprach ja nicht von der Ausnutzung des "Kriegszustands", sondern ausdrücklich von den dadurch verursachten "Verhältnissen". Der Tatbestand erhielt auf diese Weise einen umfassenden Anwendungsbereich; zugleich entzog er sich schon im Hinblick auf mögliche Wandlungen der kriegsbedingten "Lagen" einer abschließenden abstrakten Definition. Das verdeutlicht die ebenso umfängliche wie konturlose Umschreibung, mit der Leopold Schäfer die Absichten des Gesetzgebers wiedergeben wollte. Danach hatte man sich unter den "außergewöhnlichen Verhältnissen" u. a. folgendes vorzustellen:

170 RG DJ 1940,1195; zum ganzen vgl. Bischoff (1942), S. 6 ff. mit Nachw. 171 Kohlrausch /Lange3* (1943), Anh. Nr. 36, § 4 Anm. IV mit Nachw. 172 V g l . [ N r . 28] 2e. 173 Vgl. RGSt. 74, 290, 295 (Bezugskartenerschleichung), wobei freilich der - im Krieg regelmäßig bestehende - "Mangel an eingearbeiteten Kräften" bei der Bezugsscheinstelle ein solcher Umstand sein sollte. 174 Freisler/Grau/Krug/Rietzsch (1941), S. 123 ff. 175 RGSt. 74, 98,137; DR 1940,12311, 14226; Freisler/Grau/Krug/Rietzsch (1941), S. 120 f. mit Nachw.; DJ 1939, 1451; Schwarz™ (1943), Sonderteil Nr. 5, § 4 Anm. 3. Α. M. Kohlrausch/ Lange38 (1943), Anh. Nr. 36, § 4 Anm. 4; Nagler, GS 114 (1940), 212 f. Eingehend zum ganzen Bischoff (1942), S. 8 ff. mit Nachw. Vgl. auch schon oben 3. 176 Vgl. RGSt. 74,358 f., 377. 177 Vgl. Bischoff (1942), S. V ff., der allerdings zu weitgehend von "der" Grundlage des Kriegsstrafrechts spricht.

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"Die Tatsache, daß viele Familien ohne den ins Feld gerückten Vater, Ernährer und Beschützer leben müssen, daß die Zurückgebliebenen ... um das Leben ihrer ... Angehörigen bangen und für jede Nachricht dankbar sind, daß Betriebe infolge des Krieges geschlossen, eingeschränkt, umgestellt oder ungenügend bewacht oder beaufsichtigt sind, daß in der öffentlichen Verwaltung vielfach Personalmangel besteht und nicht eingearbeitete oder nicht ausreichend kontrollierte Kräfte am Werk sind, daß vielfach Frauen die Posten der eingerückten Männer versehen, daß die wesentlichen Nahrungsmittel und Verbrauchsgüter rationiert sind, ... daß über die Vorschriften der Bewirtschaftung von Bedarfsgegenständen, insbesondere die jeweiligen Abänderungen manche Volksgenossen, besonders Frauen - wenigstens vorläuGg - nicht ausreichend unterrichtet sind, ... daß die öffentlichen Verkehrsmittel beschränkt sind und zum Teil unregelmäßig verkehren"178. Eine Ausnutzung solcher Kriegsverhältnisse wurde - wie im Fall des § 2 - bejaht, wenn sie "irgendwie" die Tatbegehung, d. h. die Vorbereitung, Ausführung und Beendigung der Tat erleichterten oder begünstigten 179 . Die Kasuistik zu § 4 VolksschädlingsVO ist weit gefächert und verdeutlicht, daß auch im Alltagsbereich vielfach kriegsbedingte "außergewöhnliche Verhältnisse" angenommen wurden, die dementsprechend Alltagsdelikte in Volksschädlingstaten verwandeln konnten: So nutzte die Abwesenheit des Kriegsteilnehmers volkschädlich aus, wer dessen (schutzlose) Frau beleidigte 180 , wer ihre Geschäftsunerfahrenheit ausnutzte, um ihr Waren aus ihrem Geschäft abzuschwindeln 181 oder um als Prokurist Waren und Geld beiseite zu schaffen 182 . Bei der Bezugskartenerschleichung konnte der "Mangel an eingearbeiteten Kräften" bei der zuständigen Behörde 183 , beim Diebstahl von Postsendungen der Mangel an Aufsichtspersonal 184 ausschlaggebend sein, beim Betrug ein "Ausnutzen der Kriegsverhältnisse" in der Vorspiegelung liegen, für einen - in Wahrheit gefallenen - Soldaten Wehrsteuer zahlen zu sollen oder im Ausnutzen der infolge des Krieges erhöhten Opfer- und Sparbereitschaft 186 . Der starke Andrang der Hausfrauen zu den Verkaufsständen in Kaufhäusern und Wochenmärkten 187 , der Verkehrsrückgang188, die Neigung der Arbeitgeber, bei Straftaten von Anzeigeerstattung abzusehen, um die benötigte Arbeitskraft nicht zu verlieren 189 , ja selbst die "kurz nach Kriegsausbruch herrschende Erregung und Nervenanspannung der Bevölkerung"190 wurden als

178 In: "Die Arbeit der Sondergerichte in der Kriegszeit", S. 29 nach Freisler/Grau/Krug/Rietzsch (1941), S. 127. Die amtliche Presseverlautbarung zur VolksschädlingsVO nannte als Beispiel u. a. den "Betrug an der Familie eines Kriegsteilnehmers", der darauf aufgebaut sei, daß "ihr natürlicher Beschützer, der Ehemann und Vater im Felde" stehe (zit. nach Pfundtner/Neubert/Schäfer [1933 ff.], II c 19, § 4 Anm. 4; vgl. daneben die Beispiele aus dem Kriegswirtschaftsstrafrecht). 179 RG DJ 1940,708; RG DR 1944, 2348. 180 Vgl. ζ. B. RGSt. 76,381. 181 RGSt. 74,98. 182 RGSt. 77,34. 183 RGSt. 74,290,295. 184 RGSt. 76,111. 185 DR 1940,10974. 186 RGSt. 76,49,53; vgl. auch Freisler/Grau/Krug/Rietzsch (1941), S. 127 f. 187 RG 5 C 343/40 v. 13. 2.1941 bei Brettle, DJ 1942,435. 188 SG Breslau, DJ 1940,247. 189 RG 1 C 371/42 v. 19. 5.1942 bei Brettle, DJ 1942,435. 190 SG Hamburg - unveröffentlicht - bei Freisler/Grau/Krug/Rietzsch (1941), S. 128 f.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

kriegsbedingte außergewöhnliche Verhältnisse angesehen. Erfaßt wurden Diebstahl, Unterschlagung oder Veruntreuung von Soldatengut 191 , namentlich von Feldpostsendungen 192 , wie die Benutzung vom Feinde abgeworfener Lebensmittel- oder Kleiderkarten 193 oder das Unterlassen der Aufnahme von Bombengeschädigten 194 . Das breite Anwendungsspektrum des § 4 dürfte damit hinreichend verdeutlicht sein, so daß auf weitere Einzelbeispiele verzichtet werden kann. Aus zeitgenössischer Sicht ist dieses Ausgreifen des § 4 eine geradezu zwangsläufige Folge der Gesetzestechnik: Der "totale Krieg beeinflußt schlechthin jedes Lebensverhältnis. Jedes Verbrechen wird somit von seinem Einfluß berührt" 195 - und damit als Volksschädlingstat nach § 4 erfaßbar-, weil sich "in der Regel irgendwelche begünstigenden Momente ... feststellen lassen"196. Auf der anderen Seite konnte nicht "jedes Delikt als Volksschädlingstat" gestraft werden, weil sonst das Gesetz seinen "spezifischen Sinn verloren hätte"197. Auch hier war also "das richtige Maßhalten" durch die Rechtsprechung 198 , "die Blickrichtung auf das Ganze"199, für die Anwendung und die "praktische Bewährung" der Verordnung unerläßlich 200 . c) Die "Überschreitung des regelmäßigen Strafrahmens" Der I. Strafsenat des Reichsgerichts lehnte anfänglich eine Anwendung des § 4 ab, wenn der Strafrahmen der "sonstigen Straftat" ausreichte, den Täter angemessen zu bestrafen und verwies auf den Gesetzeswortlaut 201 . Unter Berufung auf die Kritik Freislers 202 lehnte das Sondergericht Elbing diese Auffassung ab: Sinn und Zweck der Verordnung sei es unter anderem, "gewisse Verbrecher als Volksschädlinge" zu kennzeichnen. Diese Kennzeichnung könne nicht vom Strafrahmen der Grundtat abhängen; andernfalls müßten häufig gerade bei weniger schweren Straftaten die Täter als Volksschädlinge angesehen werden, bei schwereren Delikten mit entsprechend weiterem Strafrahmen jedoch nicht. Dieses Ergebnis sei untragbar. Schließlich widerspreche die Auffassung des Reichsgerichts dem aus Sinn und Zweck der 191 Vgl. Freisler/Grau/Krug/Rietzsch (1941), S. 128 mit Nachw. - Zur Rechtsprechung der Wehrmachtgerichte betr. Feldpostpäckchen-Diebstahl eingehend Messerschmidt/Wüllner (1987), S. 169 ff. 192 Vgl. nur RGSt. 76,78; Freister, aaO, 128 f. 193 RGSt. 76, 78; 76,120. Zu den Kleiderkartenfällen Richterbriefe, bei Boberach (1975), S. 101 f., 108 ff. mit Fallbeispielen und "Hinweisen" des RJM. 194 § 330c RStGB, vgl. die Fälle in Richterbrief Nr. 11, bei Boberach (1975), S. 158 ff. 195 Bockelmann, ZAkDR 1942,295 (Hervorhebung G. W.). 196 So Mittelbach, DR 1942, 16, womit er seine eigene Kritik, das RG bejahe beim Diebstahl von Feldpostpäckchen pauschal § 4 VolksschädlingsVO, ohne gerade das Ausnutzungsmoment zu erörtern, entkräftet. Vgl. aus der Rspr. noch RG DJ 1941, 1126 (Hühnerdiebstahl aus Kleingärten), HRR 1941, Nr. 783 (Milchfälschung-Möglichkeit wegen kriegsbedingt geringer Überwachung). Zur Gefahr der Ausdehnung des § 4 "ins Unendliche" Bischoff (1942), S. 25 ff. 197 Bockelmann, ZAkDR 1942,295. 198 Freisler/Grau/Krug/Rietzsch (1941), S. 130. Vgl. ζ. B. die von Freister lobend erwähnte Entscheidung RG DR 1940,19371 mit Anm. Bruns. 199 Freister, aaO, S. 8. 200 Zur "Ausnutzung" zusf. Bischoff (1942), S. 15 ff., ζ. T. krit. zur Rspr. (S. 26 ff.). 201 RGSt. 74,226,227 (Urt. v. 18.6.1940); 261,262 (Urt. v. 5. 7.1940). 202 Vgl. DJ 1940,922 f. (DJ v. 16.8.1940).

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VolksschädlingsVO abgeleiteten und vom Reichsgericht selbst bejahten Sonderdeliktscharakter des § 4203. Mit ähnlicher Begründung wandte sich der II. Strafsenat des Reichsgerichts gegen die früheren Entscheidungen des I. Senats und Schloß sich der von den Sondergerichten vertretenen Auffassung an204, so daß schließlich der III. Strafsenat den Großen Senat anrief. Dieser stellte in seinem Beschluß das Ziel der VolksschädlingsVO in den Vordergrund, gerade "die schwereren Rechtsbrecher als Volksschädlinge zu brandmarken", und verwarf die Auffassung des I. Senats. Der Gesetzeswortlaut stehe der Anwendbarkeit des § 4 bei einer konkreten Strafe, die sich im Rahmen der Grundtat bewege, nicht entgegen. Der Gesetzestext erhalte "so die Bedeutung, daß der Täter bei Anwendung der Vorschrift keinesfalls günstiger gestellt werden darf, als es ohne ihre Anwendung der Fall sein würde". Die Mindeststrafe der "Grundtat" dürfe daher nicht unterschritten werden, Nebenstrafen und Nebenfolgen blieben auch für die Volksschädlingstat vorgeschrieben oder zugelassen205. Im praktischen Ergebnis bewirkte damit die Anwendung des § 4 eine Ausweitung des Strafrahmens des Grunddelikts nach oben: In allen Fällen entfaltete die Grundtat eine Sperrwirkung nach unten206. Auf der Basis dieser Rechtsprechung konnte der Wortlaut des § 4 in der Tat, wie Freister dies anregte, "ganz zwanglos" im Sinne eines "modus dicendi zur Bezeichnung des gesetzlichen Strafrahmens für das allgemeine Volksschädlingsverbrechen" verstanden werden207, ergänzt um die aus der Grundtat erwachsende Sperrwirkung208. Stellte man die "Brandmarkung" als Volksschädling als wesentlichen Zweck der VolksschädlingsVO in den Vordergrund, so lag es nahe, auch die Täter mit vergleichsweise schwererer Strafe bedrohter "Grundtaten" unter den Voraussetzungen des § 4 zusätzlich als "Volksschädlinge" zu kennzeichnen. In diesem Sinne verlangte Schwarz, auch ein Mörder sei gegebenenfalls wegen Volksschädlingsverbrechens "in Verbindung mit Mord" zum Tode zu verurteilen209.

203 DJ 1940, 1271 (Urt. v. 5. 10. 1940); ebenso SG Essen, DJ 1940, 1195 (Urt. v. 10. 10. 1940), das die Notwendigkeit der "Brandmarkung" gerade von Tätern schwerer Verbrechen in den Vordergrund stellte. Vgl. schon oben Fn. 44. 204 RG DJ 1941,289 (Urt. v. 24.10.1940); vgl. auch RG HRR 1941, Nr. 514 (3. StS). 205 RG-GS-St. 75, 210, 211 f. (Beschl. v. 7. 5. 1941). Zust. Kohlrausch/Lange* (1943), Anh. Nr. 36, § 4 Anm. V gegen 36. Aufl.; Freisler/Grau/Krug/Rietzsch (1941), S. 135 ff., 140 und schon Freister, DJ 1940, 922 f.; Schwarz, ZAkDR 1941, 107 und StGB12 (1943), Sonderteil Nr. 5, § 4 Anm. 1 C b; Mittelbach, DR 1942, 17. A. M. - vor RGSt. 75. 210 - Nagler, GS 114 (1940), 217; wohl auch Gleispach I (1940), S. 23. 206 Lag bei zeitiger Zuchthausstrafe die Obergrenze des Strafrahmens der Grundtat über 15 Jahren, war dies im Rahmen des § 4 VolksschädlingsVO ebenfalls zu beachten (bedeutsam für das österreichische StGB), RGSt. 77,144. 207 Freisler/Grau/Krug/Rietzsch (1941), S. 137. 208 Eingehend zum ganzen Bischoff (1942), S. 38 ff., der sich i. S. des 1. StS (RGSt. 74, 226) entscheidet ("wörtliche Auslegung"). 209 Schwarz, ZAkDR 1941, 107; StGB12 (1943), Sonderteil Nr. 5, § 4 Anm. 2 Β. Α. M. Freisler/Grau/Krug/Rietzsch (1941), S. 120: Gleich schwere oder schwerere Grundtaten könnten eine "Metamorphose und zugleich Steigerung zur Volksschädlingstat... nicht mehr erfahren".

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

d) Die Verwerflichkeitsklausel und das Tätertypenerfordernis Der Tatbestand des § 4 bot nach seinem Wortlaut, anders als § 2, eine Handhabe, den "spezifischen Sinn" des Tatbestandes 210 zu wahren und einem Überborden seines Anwendungsbereichs entgegenzuwirken: Mit der den gesamten Tatbestand - nicht nur die Verhängung der Todesstrafe - betreffenden Verwerflichkeitsklausel 211 erhielt der Tatrichter die Möglichkeit, § 4 trotz Ausnutzung der Kriegsverhältnisse im Einzelfall nicht anzuwenden: Einer an sich tatbestandsmäßigen "sonstigen Straftat" konnte nach gesundem Volksempfinden die "besondere Verwerflichkeit" abgesprochen werden. Im Gesetzeswortlaut war zwar der 'Täter" nicht erwähnt, doch war es naheliegend, bei der Verwerflichkeitsbetrachtung die Täterpersönlichkeit heranzuziehen, etwa mit der Erwägung, der Charakter der Tat ergebe sich aus ihren objektiven Begleiterscheinungen und aus der Würdigung der Täterpersönlichkeit 212 . Eine Rückkehr zum "reinen Tatstrafrecht" wollte jedenfalls, soweit ersichtlich, der Fassung des § 4 niemand entnehmen 213 . Es hieß nur umgekehrt, die Verwerflichkeit der Tat ergebe sich für das gesunde Volksempfinden gerade "ganz wesentlich aus dem Gemeinschaftsverhalten des Täters" 214 . Damit konnte die Verwerflichkeitsklausel den Ansatzpunkt für eine "Gesamtbetrachtung" von Tat und Täter bieten, die bei § 2 als besondere "Tätertypenfeststellung" erfolgen sollte. Das Reichsgericht sah in der oben besprochenen Entscheidung vom 30. Mai 1940215 in der Verwerflichkeitsklausel einen gesetzlichen Niederschlag des Tätertypenerfordernisses. Zugleich bestimmte es den Begriff "Volksschädling" in Anlehnung an die Verwerflichkeitsklausel. Eine spätere Entscheidung, die ausschließlich § 4 betraf, faßte diese wechselseitige Bestimmung der Begriffe nochmals knapp zusammen: "Volksschädling" sei der Täter, dessen "Straftat nach dem gesunden Volksempfinden besonders verwerflich" sei. Eine solche besondere Verwerflichkeit der Tat könne sich "aus der Tat selbst, der Art ihrer Ausführung oder der Person des Täters ergeben"216. Die Deutung der Verwerflichkeitsklausel als gesetzlicher Niederschlag des Tätertypenerfordernisses wurde im Schrifttum überwiegend gebilligt217, das Tätertypenerfordernis überwiegend bejaht 218 . Soweit das Tätertypenerfordernis - jedenfalls für § 4 - abgelehnt wurde, ergaben sich daraus keine unmittelbaren praktischen Konsequenzen. Der Gegenstandpunkt wurde nämlich vielfach u. a. damit begründet, die Verwerflichkeitsklausel ermögliche die Berücksichtigung aller "personalen" Momente, denen die Tätertypenlehre (legitimerweise) Rechnung zu tragen suche, die gesonderte Feststellung, der Täter sei ein Volksschädling, be-

210 211 212 213 214 215 216 217

Vgl. Bockelmann, ZAkDR 1942,295 und oben Fn. 197. So RGSt. 74,239, allg. Meing. Vgl. ζ. B. Schwarz, ZAkDR 1941,108,158 und StGB12 (1943), Sonderteil Nr. 5, Vor § 1 Anm. 1 B. Vgl. Freister/Grau/Krug/Rietzsch (1941), S. 131 f. Freister, aaO, S. 132. Vgl. RGSt. 74,321,322 oben bei Fn. 120. RGSt. 74,239,240; HRR 1941, Nr. 154. Vgl. Freister/Grau/Krug/Rietzsch (1941), S. 131,106 f.; Mezger, ZStW 60 (1941), 367; Niise (1940), § 4 Anm. 5; Kohlrausch/Lange™ (1943), Anh. Nr. 36, Vor § 1 Anm. III 2; Niederreuther, DJ 1941,392. 218 Vgl. 5b sowie die Nachw. bei Gallas, ZStW 60 (1941), S. 399.

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C. Die zweite Phase: 1939 bis 1945

deute eine "Tautologie"219. Die Rechtsprechung "benötige" also zur Erfassung aller tat- und täterbezogenen Elemente die Tätertypenlehre gar nicht, weil sich alle bei der "Tatfrage" anzustellenden Erwägungen "bei der Prüfung der besonderen Verwerflichkeit der Straftat vornehmen" ließen220. Auf die Gleichsinnigkeit des Tätertypenerfordernisses und der Klausel wies auch Nagler hin, der den Tätertyp als das "bloße Spiegelbild der verwerflichen Tat in der Person des Täters" bezeichnete221. Schwarz schließlich, der die Lehre vom Tätertypenerfordernis ebenfalls ablehnte, hob hervor, man könne im Einzelfall von einem Volksschädling sprechen, sobald "die Persönlichkeit des Täters (!) (und nicht die Sachumstände) den gesetzlichen Tatbestand (!)" erfülle222. So resümiert Bischoff: "Alles das, was mit Hilfe des Tätertyps erreicht werden soll, kann auch bei richtiger Anwendung der Klausel erzielt werden"223. Ein praktisch faßbarer Unterschied konnte sich allenfalls dann ergeben, wenn man annahm, die fehlende Volksschädlichkeit der Tat - z. B. geringe Schadenshöhe - schließe als solche schon eine Bestrafung nach der VolksschädlingsVO aus224. In der Sache bestand also Einigkeit, daß die Anwendung des § 4 eine Würdigung von Tat und Täterpersönlichkeit voraussetzte. Streitig waren nur die Begründung und die Namensgebung für dieses Verfahren. Die gleichen Konsequenzen ergaben sich für § 2 VolksschädlingsVO, soweit - bei Ablehnung des Tätertyps - eine Erstreckung der Verwerflichkeitsklausel des § 4 VolksschädlingsVO befürwortet wurde225. 7. Die "Plünderung im freigemachten Gebiet" (§ 1) § 1 lautete: "Wer im freigemachten Gebiet oder in freiwillig geräumten Gebäuden oder Räumen plündert, wird mit dem Tode bestraft". Die Todesstrafe konnte durch Erhängen vollzogen werden (§ 1 III). a) Die praktische

Bedeutung

der

Vorschrift

§ 1 hatte in den ersten Kriegsjahren nur ein äußerst begrenztes Anwendungsgebiet226. Zum Zuge kam dabei, soweit ersichtlich, mindestens in den beiden ersten Kriegsjahren nur die erste Alternative der Vorschrift, das Plündern "im freigemachten Gebiet". Problematisch war 219 Mittelbach, DR 1941,240; s. auch ZAkDR 1943,110,113. 220 Mittelbach, ZAkDR 1943, 113 mit zahlr. Beispielen aus der vollst, ausgewerteten Rspr. der Berliner SGe v. 1. 1.-30. 6. 1942; vgl. auch Schwarz, ZAkDR 1941, 108 und StGB 12 (1943), Sonderteil Nr. 5, Vor § 1 Anm. 1. 221 GS 114 (1940), 204 Fn. 42. 222 ZAkDR 1941,108, Hervorhebungen G. W. 223 Bischoff (1942), S. 95. Vgl. auch Freisler/Grau/Krug/Rietzsch (1941), S. 132, wo Freister in seiner Alueinandersetzung mit Mittelbach festhält, bei Gleichsinnigkeit von Tätertypenerfordernis und Verwerflichkeitsklausel könne "die ganze Prüfung und Feststellung an Hand dieses Deliktselementes erfolgen". Zum ganzen zusf. Bischoff (1942), S. 66 ff. 224 In diese Richtung Schwarz12 (1943), Sonderteil Nr. 5, Vor § 1 Anm. 1 mit Beispielen. 225 Dazu oben 5c a. E. 226 Vgl. etwa Niederreuther, DJ 1941, 385. So verzeichnet z. B. die HRR 1940-1942 nur Entscheidungen zu §§ 2-4 mit Ausnahme des Urteils des SG Trier, nächste Fn.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

der Tatbestand dabei gelegentlich bei Delikten, die in den freigemachten Gebieten vor dem "Westwall" begangen wurden 227 ; in den eingegliederten Ostgebieten hatte die Vorschrift während der Aus- und Umsiedlingsmaßnahmen Bedeutung 228 . Das Reichsgericht hatte sich offenbar in den ersten Kriegsjahren mit § 1 überhaupt nicht zu befassen 229 . Im Kriegsverlauf rückte aber mit den zunehmenden Bombenangriffen der Alliierten 230 die zweite Alternative des § 1, die Plünderung in "freiwillig geräumten Gebäuden oder Räumen" in den Blickpunkt. Auch insoweit ist das veröffentlichte Rechtsprechungsmaterial nicht sonderlich umfangreich231. Bei den verhängten Todesstrafen dürfte der Anteil der Verurteilungen nach § 1 indes beträchtlich gewesen sein: So ergingen 1943 wegen Plünderung in bombengeschädigten Häusern 182 Todesurteile 232 . Die Todesurteile waren binnen 24 Stunden nach Erhebung der Anklage zu vollstrecken233. Die praktische Bedeutung des § 1 wird auch daran deutlich, daß Urteile wegen Plünderung im Zusammenhang mit Luftangriffen in den "Richterbriefen" ausgiebig besprochen werden 234 . b) Tatbestandsfragen Als "freiwillige" Räumung waren alle diesbezüglichen vorsorglichen Maßnahmen anzusehen, etwa das völlige Verlassen von Häusern in Sorge vor ständigen Fliegerangriffen 235 . Auch wenn der Gesetzgeber beim Erlaß der Verordnung an solche vorsorgliche Räumungen gedacht hatte, sollte auch bei den durch die Kriegsereignisse erzwungenen Räumungen § 1 anwendbar sein236. § 1 wurde auch nicht auf Taten in bereits "geräumten" - so der Gesetzestext Gebäuden beschränkt: Diebstahlstaten während der Räumung wurden grundsätzlich erfaßt 237 .

227 Vgl. SG Trier, DJ 1940, 515 (Urt. v. 11. 12. 1939): "Plündern" setzt Ausnutzen der Freimachung voraus. Weitere Beispiele aus der Praxis (unveröffentlicht) bei Freisler/Grau/Kmg/Rietzsch (1941), S. 35. 228 Vgl. Freisler/Grau/Kmg/Rietzsch (1941), S. 25. 229 So erwähnen die Übersichten zur Rspr. bei Niederreuther, DJ 1941, 385 und Mittelbach, DR 1942, 14 sowie die Kommentierung von Kohlrausch/Lange* (1943), Anh. Nr. 36, Vor § 1 Anm. I und HRR 1940-1942 (Gesetzesverzeichnis) keine reichsgerichtlichen Entscheidungen zu § 1. Vgl. aber Fn. 237. 230 Das verdeutlichen die Verlustmeldungen, die den Chefpräsidenten und Oberstaatsanwälten im Juni 1944 übermittelt wurden: April 1942 492 Tote, April 1943 2727 Tote, April 1944 8789 Tote, Zahlen bei Boberach (1975), S. 293 Fn. 8. 231 Vgl. etwa RG DR 1944,44720; s. auch DR 1944,44721 und 447 a ; RG DR 1944,659u. 232 Vgl. Boberach (1975), S. 106 Fn. 13 mit Nachw. 233 AaO, s. auch unten 9. 234 Richterbrief Nr. 7 v. 1. 4. 1943 und Nr. 17 v. 1. 4. 1944, bei Boberach (1975), S. 95 ff., 280 ff., zusf. Wahl (1981), S. 28 ff. 235 Schwan12 (1943), Sonderteil Nr. 5, § 1 Anm. 1. 236 Freisler/Grau/Krug/Rietzsch (1941), S. 31: Das Wort freiwillig habe eine bloß typisierende, keine den Tatbestand begrenzende Funktion. Vgl. auch Kohlrausch/Lange* (1943), Anh. Nr. 36, § 1 Anm. I, den Sachverhalt in RG DR 1944,659 sowie die in den Richterbriefen besprochenen Fälle (Fn. 234). 237 So wohl auch RG DR 1943, 118114, das eine "Plünderung" bei Ausräumen einer Wohnung nur mit Rücksicht darauf verneint, daß die Eigentümer die Täter beaufsichtigt hätten. Zur Nichtanwendung des § 1 gelangt auch RG HRR 1942, Nr. 814, das die Vorschrift aber nicht einmal anspricht und sie offenbar während der Räumung nicht für anwendbar hält, also eine im Ausgangspunkt abw. Auffas-

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§ 1 war nach der Praxis ferner anwendbar, wenn die aus dem Gebäude herausgeschafften Sachen auf der Straße gelagert wurden, wenn also nicht "in" - so der Gesetzestext - dem Gebäude, sondern außerhalb geplündert wurde238. Zerstörte Gebäude, die bereits geräumt waren, sollten nach der Rechtsprechung des Reichsgerichts den "freiwillig geräumten Gebäuden oder Räumen" im Sinne des § 1 "gleichzustellen" sein, wenn die Räumung die Schutzlosigkeit der zurückgelassenen Habe zur Folge hatte. Diesen Schluß zog das Reichsgericht aus Sinn und Zweck des § 1, Eigentum zu schützen, das "im Drang der Not oder aus anderen Gründen ohne Aufsicht geblieben und den Plünderern schutzlos preisgegeben" war. Hatten Eigentümer oder Ordnungsorgane Schutzmaßnahmen gegen Plünderung ergriffen, so sollten diese ungeachtet ihrer vollen Wirksamkeit die Anwendung des § 1 ausschließen. Nur bei "fehlendem Sicherheitsschutz", den § 1 "durch eine außerordentliche Strafdrohung" ersetzen wolle, sei die Vorschrift anzuwenden239. c) Tätertyp und Tatbestand Das Reichsgericht forderte auch für die Verurteilung nach § 1, daß der Täter "die Wesensart eines Volksschädlings" haben müsse. Dies sei beim Plündern allerdings "fast immer zu bejahen, auch wenn der Täter im übrigen keine Verbrecherpersönlichkeit ist". Nur "ausnahmsweise" könnten "ganz besondere Umstände" die Verneinung der Volksschädlingseigenschaft rechtfertigen. Ein "besonderer Tätertyp des Plünderers" sei neben der Verwirklichung der Tatbestandsmerkmale allerdings nicht zu fordern. Nach diesen Grundsätzen verneinte das Reichsgericht die "Volksschädlingseigenschaft" eines jugendlichen Angeklagten und wendete § 1 trotz Bejahung seiner tatbestandlichen Voraussetzungen nicht an240. Das Tätertypenerfordernis war auch für § 1 umstritten. Freisler hatte im November 1939 ausgeführt, der "Plünderer" des § 1 verkörpere "das widerliche Spiegelbild des Leichenfledderers des Schlachtfeldes", den neben dem Landesverräter "verächtlichsten Verbrechertyp". Diesem Bild müsse der Täter entsprechen. Bewußt habe der Gesetzgeber das "Plündern" nicht in einzelne Begriffsmerkmale zerlegt, sondern das Bild des Plünderers "ganz einfach hingestellt", damit "der Richter ihn ansehen und sagen" könne: "Das Subjekt verdient den Strang". Falsch war es deshalb nach Freisler, dieses "Bild zergliedern und damit zerreden zu wollen"241. Der Gesetzgeber habe durch den "Einbau dieses auf die Persönlichkeit abgestellten Wertungsfaktors" mit "der Unausweichlichkeit der Androhung der schwersten Strafe versöhnt"242. Das gegebenenfalls erforderliche Tatbestandskorrektiv sah Freisler also bereits in dem Ausdruck "Plündern" verkörpert: Freisler deutete das "Plündern" im Sinne eines Tätertypenerfordernisses. Gegen Freisler und das Tätertypenerfordernis hatte sich namentlich

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sung vertritt. - Beispiele für die Erfassung von Taten während der Räumung Richterbrief Nr. 7, bei Boberach (1975), S. 95 ff. (Fälle 2,3) und Nr. 17, aaO, S. 280 ff. (Fälle 4,7,9). Vgl. Richterbriefe aaO, S. 95 ff. (Nr. 1,5) sowie Stellungnahme S. 104 f. RG DR 1944,65912. Ohne Nennung des RG entschieden gegen diese - in den mitgeteilten Fällen von den Tatrichtern vertretene - Auffassung die Empfehlungen der Richterbriefe bei Boberach (1975), S. 305. Vgl. DR 1944,44720; s. auch unten bei Fn. 253. DJ 1939,1451. Freisler/Grau/Krug/Rietzsch (1941), S. 33.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

Mittelbach gewandt: Den "Tätertyp" brauche man bei § 1 nicht; jeder Plünderer müsse der Todesstrafe verfallen, eine gesonderte Tätertypenfeststellung sei unnötig, das Wort "Plündern" biete hinreichend Spielraum für eine sachgerechte Auslegung243. Die Kontroverse um das Tätertypenerfordernis findet im Hinblick auf § 1 bemerkenswerterweise in den Richterbriefen einen Niederschlag. Dort wurden die Richter vor der Suche nach einem "Tätertyp des Plünderers" gewarnt: Eine "Aufsplitterung des absichtlich streng gehaltenen Gesetzes"244, uneinheitliche Rechtsanwendung nach "der freien Vorstellung des Richters" und zu große Milde245 seien zu befürchten. In dieser Warnung kamen Bedenken zum Ausdruck, die im Zusammenhang der §§ 2 und 4 VolksschädlingsVO gegen das Tätertypenerfordernis vorgetragen wurden246. Die Richterbriefe bewegten sich zwar insofern noch auf der Linie des Reichsgerichts, als auch dieses einen besonderen Tätertyp gerade des "Plünderers" nicht verlangte. Sie zielten aber - ganz im Sinne der im Zusammenhang der §§ 2 und 4 im Schrifttum vorgetragenen Kritik - auch darauf ab, die Tätertypenfeststellung als solche - auch die des "Volksschädlings" - auszuschalten, weil eine umfassende Persönlichkeitswürdigung im Falle des § 1 gerade zu vermeiden sei. Andererseits betonen die Richterbriefe die Notwendigkeit "personaler" Wertung nachhaltig: Es gebe "Fälle, die schon nach ihrer äußeren Begehungsart und nach den entwendeten Gegenständen nicht als 'Plündern' angesehen werden" könnten; ebenso gebe es andere Fälle, "die äußerlich als 'Plünderung' erscheinen, dies aber wegen der besonderen Verhältnisse auf Seiten des Täters, insbesondere wegen des Tatmotivs, im Ergebnis doch nicht sind"247. Die Bedeutung der personalen Elemente verdeutlicht der im Richterbrief Nr. 17 behandelte Fall eines löVi-jährigen Schlosserlehrlings, den ein Jugendgericht zu drei Monaten Gefängnis verurteilt hatte248. Der Verurteilte hatte nach einem Luftangriff aus einem geräumten zerbombten Haus zehn Bücher an sich genommen. Die Geringwertigkeit der Bücher allein konnte nach der Praxis eine Verurteilung nach § 1 nicht ausschließen, da es, ohne Rücksicht auf die Höhe des materiellen Schadens, letztlich darum ging, den "Sinn und Wert der Gemeinschaftsidee", das Vertrauen der Volksgenossen zueinander, den "Willen zur Selbstbehauptung" zu schützen249. Das Jugendgericht hatte - offenbar unter Zugrundelegung der Rechtsprechung des Reichsgerichts250 - eine Verurteilung zum Tode nach § 1 abgelehnt: Der jugendliche Täter sei weder seiner Person nach ein Volksschädling, noch stemple ihn die Tat allein zu einem solchen. In den Richterbriefen wurde diese Entscheidung im Ergebnis gebilligt, aber schon das Tatbestandsmerkmal des "Plünderns" verneint. Das Tatmotiv, das "leidenschaftliche Interesse am Lesen", habe "die Handlung von der Ebene einer Volksschädlingstat auf die einer Jugendverfehlung" verschoben und ein "Denkzettel" habe hier genügt. Der Fall zeige, so der abschließende Hinweis, "besonders eindringlich, wie wichtig neben der Würdi243 244 245 246 247 248 249

AaO, S. 34. Richterbrief Nr. 17 v. 1. 4.1944, bei Boberach (1975), S. 296. AaO, S. 297. Vgl. oben bei Fn. 166. Bei Boberach (1975), S. 296,298. Richterbrief Nr. 17, Fall 3, aaO, S. 282. AaO, S. 295 f. Auch im übrigen hätte die gleiche Tat eines Erwachsenen "durchaus den Tatbestand des 'Plünderns' erfüllen" können, so die Hinweise zu Fall 3, aaO, S. 300. 250 Vgl. RG DR 1944, 44720.

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gung der Tat die Berücksichtigung der Täterpersönlichkeit und ihrer Motive" sei: "Dieselbe Tat zweier Täter kann grundverschiedene Rechtsfolgen auslösen"251. Das Fallbeispiel verdeutlicht, daß ein wirklicher Gegensatz zwischen den verschiedenen Auffassungen nicht besteht: Der Begriff "Plündern" eröffnete einen weiten Spielraum, der es gestattete, ja gebieten sollte, die mit der Tat selbst zusammenhängenden Persönlichkeitsmerkmale zu berücksichtigen 252 . Freisler, der verbal den Anwendungsbereich des § 1 am stärksten einschränkte und verlangte, der Täter müsse dem Typ des "Plünderers" entsprechen, leitete seine Auffassung gerade aus dem Begriff "Plündern" ab und stimmte in der Sache selbst, d. h. in der Notwendigkeit und im Umfang der Berücksichtigung täterschaftlicher Elemente, mit Mittelbach und der in den Richterbriefen vertretenen Auffassung überein. Während Freisler das "Plündern" vom "Plünderertyp" her erläuterte, sah die entgegengesetzte Auffassung, jeden, der "plünderte", als "Plünderer" an. "Plündern" und "Plünderertyp" wurden also gleichsinnig verstanden. Auf der Basis der Rechtsprechung des Reichsgerichts war es allerdings denkbar, daß ein "Plündern" vorlag, den Täter aber "ganz ausnahmsweise" nicht zum Volksschädling stempelte. Der insoweit einschlägigen Entscheidung lag freilich ein Sachverhalt zugrunde, der deutliche Parallelen zu dem oben wiedergegebenen Fall aus den Richterbriefen aufwies: Das Reichsgericht verneinte die Volksschädlingseigenschaft bei einem unreifen und zur Tat verführten Jugendlichen, der sich nur geringwertige Gegenstände zugeeignet hatte 253 . Auf der in den Richterbriefen empfohlenen Grundlage wäre zwar nicht die "Volksschädlingseigenschaft" des Jugendlichen zu prüfen gewesen, doch hätte man schon das Tatbestandsmerkmal "Plündern" verneinen müssen. Der Angeklagte hätte vermutlich auch nicht dem - im Sinne Freislers "verächtlichen Bild des Plünderers" entsprochen 254 . Deutet man schließlich im Falle des § 1 den "Volksschädlings"- oder "Plünderer"-Typ ausschließlich im Sinne des "tatbestandlichen Tätertyps", werden die verschiedenen Auffassungen ebenfalls deckungsgleich: Die "Tat" stempelt dann den Täter" zum Tätertyp des Plünderers oder Volksschädlings; das Täterbild dient ausschließlich der besseren und vollständigen Erfassung des "Sinngehaltes" des Tatbestandes 255 . So weist auch Freisler ausdrücklich darauf hin, bei § 1 sei der Tätertyp des Volksschädlings "näher an die Tat geknüpft" als der (kriminologische) des Zuhälters; zum "Plündern" gehöre eben der "Plünderer"256.

251 Richterbrief Nr. 17, bei Boberach (1975), S. 300. Zum Verhältnis §§ 3 RJGG 1943 und 1 VolksschädlingsVO vgl. RG DR 1944,659". 252 Richterbrief Nr. 17, bei Boberach (1975), S. 298. Vgl. auch Mittelbach, DR 1941, 235 ff. und dazu Freisler/Grau/Krug/Rietzsch (1941), S. 34. 253 RG DR 1944,44720. 254 Vgl. Freister, DJ 1939,1451. 255 Vgl. ζ. B. Dohm, FS Siber (1941), S. 219 ff. 256 Freisler/Grau/Krug/Rietzsch (1941), S. 34.

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8. Strafzumessung a) Grundsätze Aus der veröffentlichten Rechtsprechung des Reichsgerichts ergeben sich Hinweise auf die Strafzumessungspraxis; Vollständigkeit, insbesondere genauer Aufschluß im Hinblick auf die Strafhöhen, kann insoweit nicht erwartet werden, weil die Strafzumessung Domäne des Tatrichters ist. Die Rechtsprechung des Reichsgerichts zum Vorliegen eines "besonders schweren Falles" (§§ 2, 4) und zu den Zwecken der VolksschädlingsVO gibt aber Aufschluß über die maßgeblichen rechtlichen Grundlinien. Zu berücksichtigen sind als indiziell für die praktische Handhabung ferner die amtlichen Verlautbarungen zur VolksschädlingsVO sowie die Stellungnahmen im Schrifttum, namentlich die - im Hinblick auf seine Stellung im Reichsjustizministerium bedeutsamen - Freislers, ferner die in den Richterbriefen mitgeteilten Sachverhalte und die dort empfohlenen Bewertungen. Nach übereinstimmender Auffassung erforderten die Kriegsverhältnisse ein neues Strafmaßniveau; ein bloßer "Kriegszuschlag", so hieß es, sei nicht ausreichend und verstoße gegen die mit der VolksschädlingsVO verfolgten Zwecke257. Dem Richter solle bei der Bemessung der Strafe stets der Soldat als "Vorbild der Pflichterfüllung" vor Augen stehen, "Nichtanwendung äußerster Strenge" sei "Verrat am deutschen Soldaten"258. Im Hinblick auf die Verhängung von Todesstrafe heißt es, wenn der Soldat sein Leben an der Front riskiere, müsse dies auch für den Rechtsbrecher gelten259. Ein "Volk, das täglich Opfer an seinen besten Volksgenossen" bringe, müsse sich notwendig "seiner Volksschädlinge" entledigen wollen260. Die für maßgeblich erachteten Zwecke der VolksschädlingsVO schlugen mit innerer Notwendigkeit auf die für die Strafzumessung maßgeblichen Erwägungen durch. Der überragende Gesetzeszweck des "Schutzes der inneren Front" machte die "Generalprävention zu einem die Strafvoraussetzungen und die Strafhöhe maßgeblich mitbestimmenden Strafziel"261. So könne etwa, heißt es bei Gallas, der Versuchung, die die Verdunkelung biete, nur durch drakonische Strafandrohungen entgegengewirkt werden262. In diesem Sinne forderte eine Rundverfügung des Reichsjustizministeriums solche Täter "mit äußerster Härte anzufassen", welche unter dem Schutze der Verdunkelung "die Sicherheit der Häuser und der Straße verbrecherisch" gefährdeten, "Scheu, die schwerste Strafe anzuwenden", sei hier nicht am Platze263. Entsprechend wurden beim Handtaschenraub oder bei versuchter wie vollendeter Vergewaltigung häufig Todesstrafen verhängt264. Der zeitgenössische Sprachgebrauch prägte -

257 Vgl. Freister ζ. B. in: Freisler/Grau/Krug/Rietzsch (1941), S. 48; Nagler, ZAkDR 1940, 386 ("unverzeihliches Mißverständnis des Gesetzes"). S. auch oben 3 Fn. 67 ff. 258 So RV des RJM v. 12.9.1939 bei Krug/Schäfer/Stolzenburg* (1943), S. 536. 259 Freister, DStR 1939,333. 260 Gleispach, DStR 1941,4. 261 Gallas, ZStW 60 (1941), 339 f. 262 Gallas, aaO. 263 RV v. 9.7.1941, bei Kmg/Scháfer/Stolzenbur¿ (1943), S. 536. 264 Vgl. die Beispiele in Richterbrief Nr. 1 v. 1. 10. 1942 bei Boberach (1975), S. 5 ff. und die Aufforderung zu größerer Härte.

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offenbar im Anschluß an "Führerworte" - für derartige Taten den plastischen Ausdruck der "Seuchendelikte"265. Der Sühnegedanke ließ sich aus zeitgenössischer Sicht mit den generalpräventiven Aspekten weitgehend vereinbaren, da der (objektiven) Gefährdung der inneren Front die (subjektive) "Verächtlichkeit" oder "Niedrigkeit" der Tätergesinnung entsprechen sollte266. Die Bezugnahme der Verordnung auf "Volksschädlinge" mußte sich nicht nur auf die Tatbestandsabgrenzung, sondern erst recht auf die Strafzumessung auswirken. Machte man Ernst damit, die VolksschädlingsVO richte sich gegen eine "bestimmte Klasse von Tätern", bejahte man das Austauschverhältnis von Tat- und Täterelementen, so mußten diese Inhaltsbestimmungen zwingend auch bei der Strafzumessung zum Tragen kommen: Neben der "Tat" rückte die "Täterpersönlichkeit" verstärkt ins Zentrum der Strafzumessung267, auch bei der Annahme eines besonders schweren Falles268. Die "Ausscheidung" von "Volksschädlingen" avancierte zu einem eigenständigen Strafeweck. So fällt etwa in einer einschlägigen reichsgerichtlichen Entscheidung zur Annahme eines besonders schweren Falles des § 2 die eingehende Würdigung der Gefährlichkeit des Täters auf, die dann den Grund dafür abgibt, die Tat als besonders schweren Fall zu würdigen269. Bei solchen Tätern, die sich aufgrund ihrer Gefährlichkeit als auf Dauer "gemeinschaftsuntauglich" erwiesen, sollte, so Freisler, das Schutzbedürfnis des Volkes die "Ausscheidung ... des gemeinschaftsuntauglichen Gliedes" gebieten270. In der Volksschädlings VO trat damit - so die Formulierung Gleispachs - "eine Richtung hervor, die darauf abzielt, den deutschen Volkskörper von Entarteten zu reinigen", ein auch im Frieden "unbestritten erstrebenswertes Ziel", dessen Verfolgung der Krieg erleichtere, weil er die Wertungen verschoben habe271. Diese Tendenz einer "Täterstrafe" war nicht auf die wegen ihrer Gefährlichkeit "Entarteten" begrenzt, sondern galt der Gemeinschaftsuntauglichkeit schlechthin. Sie betraf also auch die "Minderwertigen", die "Asozialen"272, die "gemeinschaftssittlich" betrachtet Schwachen, die "kranken Glieder" des Volkskörpers273. "Minderwertigkeit sollte deshalb auch bei verminderter Schuldfähigkeit274 nicht zu einem "milderen Anpacken" führen275. Vielmehr konnte gerade umgekehrt die "minderwertige Veranlagung" die "Wesensart eines Volksschädlings" ausmachen276 und dementsprechend bei der "StraP-Bemessung zu Buche schlagen, d. h. ein etwaiges

265 266 267 268 269 270 271 272 273

Vgl. Thierack, aaO, S. 451 und Richterbrief Nr. 1 aaO, S. 10. Vgl. oben 2 bei Fn. 19 ff. Vgl. Bruns, ZAkDR 1941,399. Vgl. RG-BS-DR 1940,317 1 ,318. RGaaO. Freisier/Grau/Krug/Rietzsch (1941), S. 22. DStR 1941,4. Vgl. SG Breslau, DJ 1940,248. Freisier/Grau/Krug/Rietzsch (1941), S. 22 f.; dazu Richterbrief Nr. 4 bei Boberach (1975), S. 51 ff., "große volkshygienische Aufgabe", S. 57. 274 § 51 II RStGB. Also: kein Gebrauch von der fakultativen Strafmilderung bei "Minderwertigkeit". 275 Freisier/Grau/Krug/Rietzsch (1941), S. 23; vgl. auch Richterbrief Nr. 6, Fall 2, bei Boberach (1975), S. 22,25. 276 RGSt. 76,62,64.

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Minus auf der Tatseite durch das "Plus" auf der Täterseite aufwiegen und die Verhängung einer entsprechenden "Täterstrafe" begründen 277 . Mit der "volkshygienischen" Komponente der "Strafe" entsteht ein Überschneidungsbereich von Strafrecht und Polizeirecht: Die Aufgabe "gefährliche" und "minderwertige Gemeinschaftsuntaugliche" unschädlich zu machen, bewegte sich jedenfalls nicht mehr ausschließlich im Bereich der Strafjustiz. Sie ragte mindestens auch in das Gebiet der Verwaltungszuständigkeit, des Polizeirechts, hinein. So kann man einerseits von einer sachlichen "Kompetenzerweiterung" der Justiz sprechen. Es muß aber auch umgekehrt nicht verwundern, daß in diesem Bereich die Polizei "vorbeugende", "ergänzende" und "korrigierende" Maßnahmen ergriff, wenn die Justiz entweder nicht eingreifen konnte oder aber wenn sie das zum "Volksschutz" Gebotene nicht erkannte: Es ging ja nicht mehr um Tatermittlung mit justiziellen Mitteln, sondern um "Persönlichkeitserfassung" mit welchen Mitteln auch immer - und um "angemessene", zweckorientierte, optimal "volksschützende Behandlung" der als gemeinschaftsuntauglich Erkannten 278 . Zusammenfassend ist also festzuhalten: Der Gedanke der Abschreckung zwecks Erhaltung der Standfestigkeit der inneren Front bildete einen zentralen Strafzumessungsgrund. In weiten Bereichen ergab sich aus zeitgenössischer Sicht eine Deckungsgleichheit mit dem Sühnegedanken, insofern bei den unter dem Gesichtspunkt der Abschreckung besonders strafwürdigen Taten typischerweise ein gesteigerter Schuldvorwurf gegen den Täter erhoben werden konnte. Schließlich beanspruchte der Gedanke der "Täterstrafe" einen bedeutenden Rang: Namentlich konnten die Gefährlichkeit und die Minderwertigkeit des Täters entscheidend ins Gewicht fallen. Die auf Tatbestandsebene maßgeblichen "vielfältigen" Erwägungen zur Tätertypenfeststellung 279 , erschienen danach allesamt wieder auf der Ebene der Strafzumessung, freilich mit der selbstverständlichen Notwendigkeit gradueller Abstufung. Das sollte wohl auch die Formel besagen, die bei Kohlrausch/Lange für die Annahme eines besonders schweren Falles - und damit für die Strafbemessung überhaupt - aufgestellt wurde und die nach Freister "vielleicht die treffendste Kennzeichnung"280 des besonders schweren Falles bei § 2 enthielt: "Ein besonders schwerer Fall ist hier namentlich dann anzunehmen, wenn der Typ des 'Volksschädlings' in dem Täter besonders ausgeprägt auftritt, so daß seine Ausmerzung geboten erscheint"281. b) Die "besondere Problematik" sehr langer Freiheitsstrafen: "Ausmerzung" statt "Konservierung" In einem programmatischen Aufsatz mit "Gedanken zum rechten Strafmaß" 282 hatte Freister kurz nach Kriegsbeginn u. a. die Frage "sehr langer" Freiheitsstrafen aufgeworfen und deren Verhängung im Ergebnis abgelehnt: Den Ausgangspunkt der Erörterung könnten selbstverständlich nicht mehr, wie im "liberalen Zeitalter", "Gesichtspunkte des Mitleids" bilden, sondern vielmehr die "Gliedstellung" des einzelnen in der Volksgemeinschaft, seine Einsatz277 278 279 280 281 282

Zu Schutz, Reinigung und Sühne vgl. Dahm, DR 1944,2 ff. Dazu eingehend 3. Teil. Freisler/Grau/Krug/Rietzsch (1941), S. 88. Freister, aaO. Kohlrausch/Lange3* (1943), Anh. Nr. 36, § 2 Anm. VII. So der Titel des Beitrags in DStR 1939, 329.

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pflicht für diese, die "unmittelbare Äußerung der Gliedschafteigenschaft" sei. Die "Gemeinschaftsfeindschaft" bedeute auf dieser Grundlage "vom Glied aus gesehen, die Selbstaberkennung der Lebensberechtigung; von der Gemeinschaft her gesehen die Notwendigkeit, dies Glied auszustoßen, wenn seine Heilung nicht möglich" sei. Von diesem Standpunkt der Volksgemeinschaft her müßten Sühne- und Schutzgedanken im Strafrecht ausgefüllt werden: Sühne sei schon aus der Sicht des Täters nur sinnvoll, um im Leben wieder "zum freien und wertvollen Dienst an der Gemeinschaft" kommen zu können, d. h. die Wiedereingliederungsmöglichkeit werde im Sühnebegriff insoweit vorausgesetzt. Für die Gemeinschaft habe die Sühne den Sinn einer "dauernden Selbstreinigung", durch "Säuberung" des befallenen Gliedes, damit dieses "seine Funktion in der Gemeinschaft wieder übernehmen" könne. Sei dies aber selbst nach langer Zeit voraussichtlich nicht möglich, so fordere "diese Seite der Sühne die Ausscheidung, nicht aber die jahrzehntelange Konservierung des gemeinschaftsuntauglichen Gliedes". Vom Schutzgedanken her dränge sich diese Konsequenz ohnehin auf: Wenn schon ein jahrzehntelanger sicherer Schutz der Gemeinschaft erforderlich werde, der zudem kostspielig und überdies unvollkommen sei, müsse dieser Schutz vor der Verbrecherpersönlichkeit "durch ihre Auslöschung sofort vollkommen" gestaltet werden. So gelange man also "zu dem der liberalen Zeit entgegengesetzten Ergebnis"283. Diese Position bedeutete eine Aufforderung, entweder nur kürzere Freiheitsstrafen zu verhängen oder aber zur Todesstrafe zu greifen. Im Hintergrund spielte sicher auch hier das Bild des Frontsoldaten eine Rolle: Die Erwägung, wenn der Soldat an der Front sein Leben einsetze, dürfe der "Verbrecher" nicht geschont werden, war der zeitgenössischen juristischen Literatur vertraut. Das gleiche gilt für die "volkshygienische" Erwägung, wenn die Besten an der Front fielen, müsse sich die Volksgemeinschaft von "Schädlingen" durch deren "Ausmerzung" reinigen284. Die in den Richterbriefen besprochenen "Volksschädlingsfälle" entsprechen der Maßgabe Freislers: Die Zuchthausstrafen lauteten einmal auf zehn, zweimal auf acht, im übrigen auf zwei bis sechs Jahre 285 . Die Obergrenze möglicher "Konservierungsdauer" für Verbrecher, bedeutsam jedenfalls für die Kriegszeit, verdeutlichte die Vereinbarung zwischen Himmler in seiner Eigenschaft als Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei und dem Reichsjustizminister Thierack, die u. a. die Auslieferung "asozialer Elemente" aus dem Strafvollzug an die Gestapo zur "Vernichtung durch Arbeit" vorsah und dabei bezeichnenderweise nach dem "völkischen Wert" der Betroffenen und der Haftdauer differenzierte: "Es werden restlos ausgeliefert die Sicherungsverwahrten, Juden, Zigeuner, Russen und Ukrainer, Polen über 3 Jahre Strafe, Tschechen oder Deutsche über acht Jahre Strafe nach Entscheidung des Reichsjustizministers"286. Die Strafmaßalternativen reduzierten sich damit außerhalb des Bagatellbereichs faktisch auf zeitliche Zuchthausstrafe bis zu acht Jahren oder Todesstrafe, da auch die Verhängung einer mehr als achtjährigen Zuchthausstrafe die "Vernichtung durch Arbeit" und damit den Tod nach sich zog.

283 AaO, 329 ff.; vgl. auch Freisler/Grau/Kmg/Rietzsch (1941), S. 21 f. Zum Verhältnis Schutz/Sühne aus Freislers Sicht eingehend [Nr. 39] 2a. 284 Vgl. ζ. B. Gleispach, DStR 1941,4. 285 Vgl. Richterbriefe Nr. 1, Fälle 1, 2,4; Nr. 17 Fälle 2, 5, 15, 17, 20, 21, 22, 25. S. auch Nr. 7 alle bei Boberach (1975), S. 7 ff., 280 ff., 26 ff. 286 Besprechung v. 18.9. 1942, vgl. BA R 22/4062 = NDok 654-PS; vgl. dazu auch 3. Teil Β IV bei Fn. 92,105 mit weit. Hinw.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht 9. Verfahren

§ 5 enthielt eine verfahrensrechtliche Regelung über die "Beschleunigung des sondergerichtlichen Verfahrens". Danach mußte in "allen Verfahren vor den Sondergerichten die Aburteilung sofort ohne Einhaltung von Fristen erfolgen, wenn der Täter auf frischer Tat betroffen ist oder sonst seine Schuld offen zutage liegt". Nach dem Stand von 1938 hatte die Ladungsfrist bei den Sondergerichten 24 Stunden betragen 2 8 7 . Zwischen dieser Beschleunigungsvorschrift und den materiellen Zielsetzungen der VolksschädlingsVO, insbesondere ihrem Abschreckungszweck, bestand ein enger Zusammenhang: Die Wirkung der scharfen Strafdrohungen hänge, so Schäfer, wesentlich davon ab, daß "Aburteilung und Vollstreckung der Strafe der Tat auf dem Fuße" folgten 288 . Die "standgerichtliche Beschleunigung" des Verfahrens wurde deshalb "neben den verhängten Strafen als ein wesentliches Mittel zur Verwirklichung des erstrebten Abschreckungszwecks" angesehen 2 8 9 . Auch insoweit wurde das Leitbild des Soldaten herangezogen: Wenn an der äußeren Front "Tat auf Tat" folge, müsse auch an der "inneren Front" die "Abwehr gegen Angriffe blitzartig sein", dem "Schlage des Volksschädlings" müsse "der Gegenschlag des Staates sofort folgen" 290 . In diesem Sinne mahnte auch eine Rundverfügung des Reichsjustizministers Richter und Staatsanwälte: "Alle Beteiligten müssen zudem mitwirken, daß Tat, Anklage, Hauptverhandlung, Urteil und Vollstreckung einander auf dem Fuße folgen" 291 . D e r Anwendungsbereich des § 5 hing vom Umfang der sondergerichtlichen Zuständigkeit für Verstöße gegen die VolksschädlingsVO ab. Für § 1 war die Aburteilung durch die Sondergerichte zwingend vorgeschrieben, soweit nicht - im Operationsgebiet der Wehrmacht - die Feldkriegsgerichte zuständig waren 292 . Für Taten nach §§ 2 bis 4 VolksschädlingsV O bestand zwar keine ausschließliche Zuständigkeit der Sondergerichte, doch konnte die Staatsanwaltschaft nach den bei Erlaß der VolksschädlingsV O maßgeblichen Verfahrensvorschriften alle Taten vor die Sondergerichte bringen, wenn sie der Auffassung war, "daß mit Rücksicht auf die Schwere oder die Verwerflichkeit der Tat, wegen der in der Öffentlichkeit hervorgerufenen Erregung die sofortige Aburteilung durch das Sondergericht geboten ist" 293 oder "daß durch die Tat die öffentliche Ordnung und Sicherheit besonders schwer gefährdet wurde" 294 . Die Zuständigkeitsverordnung vom 13. Februar 1940 faßte diese Bestimmungen als § 14 zusammen und ließ statt einer "besonders schweren" eine "ernste" Gefährdung der öffentlichen

287 VO v. 29.11.1938, RGBl. 1,1632. 288 Bei Pfundtner/Neubert (1933 ff.), II c 19, Vorb. zur VolksschädlingsVO; s. auch Näse (1940), S. 9: "Schnelligkeit und Härte"; Freisler/Grau/Krug/Rietzsch (1941), S. 11. 289 Best, DR 1939,1699; Freisler/Grau/Krug/Rietzsch (1941), S. 12; Gleispach I (1940), S. 24. 290 Freister, aaO, S. 11 (Hervorhebung im Original). 291 RV v. 12.9.1939, Krug/Schäfer/Stolzenburg* (1943), S. 536. 292 § 1 II VolksschädlingsVO; ersetzt durch § 13 Nr. 5 ZuständigkeitsVO v. 13. 2. 1940, RGBl. I, S. 405. Zur Zuständigkeit der Feldkriegsgerichte vgl. § 1 KriegsstrafverfahrensO v. 17. 8. 1938, RGBl. I, 2132. 293 Art. I VO v. 20.11.1938, RGBl. I, S. 1632. 294 VO v. 1.9.1939, RGBl. I, S. 1658, § 19.

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Sicherheit und Ordnung genügen295. Schon aus Zweck und Strafmaß der VolksschädlingsVO war ersichtlich, daß alle Zuwiderhandlungen als "ernste" Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung anzusehen waren. Der Reichsminister der Justiz unterstrich dies, indem er für Kriegsverbrechen u. a. nach der VolksschädlingsVO, "grundsätzlich" Anklage vor den Sondergerichten vorschrieb296 und damit zugleich mittelbar zum Ausdruck brachte, daß die nach § 24 ZuständigkeitsVO grundsätzlich mögliche Abgabe in das ordentliche Verfahren auch bei Plünderungen (§ 1) unterbleiben solle. Die "Beschleunigung", mit der die Praxis in Volksschädlingssachen arbeiten konnte, läßt sich an den Verfahren wegen Plünderung nach § 1 exemplarisch zeigen: Eine Rundverfügung des Reichsjustizministers vom 12. September 1939 sah die sofortige fernmündliche Mitteilung des Inhalts von Anklagen und Urteilen an das Reichsjustizministerium durch die zuständigen Oberstaatsanwälte rund um die Uhr vor. Das Verfahren war detailliert geregelt: Von 8.00 bis 20.00 Uhr mußte fernmündliche Mitteilung bei der Diktataufnahme erfolgen, von 20.00 bis 8.00 Uhr mündliche Durchsage an die Geheime Kanzlei des Reichsjustizministeriums. Zur Entgegennahme der Entscheidungen des Reichsjustizministers über die Vollstreckung von Todesurteilen und die Vollstreckungsart297 mußten die Staatsanwaltschaften "auch zur Nachtzeit entsprechend besetzt sein"298. In allen übrigen Volksschädlingssachen sollte entsprechend den allgemeinen Richtlinien für das Verfahren vor den Sondergerichten die Hauptverhandlung spätestens zwei Wochen nach Eingang der Anklageschrift stattfinden299; ferner mußten die Sondergerichte "jederzeit in der Lage sein, besonders wichtige Straffälle sofort nach Eingang der Anklage abzuurteilen"300. Bei Überlastung sollten sofort Abhilfemaßnahmen eingeleitet, d. h. "neue Kammern oder neue Sondergerichte" eingerichtet und entsprechende Berichte an das Reichsjustizministerium erstattet werden301. 10. Schlußbetrachtung: Gesetz und Richter Die außerordentliche Weite der Tatbestände der §§ 2 und 4 Volksschädlings VO sowie der erhebliche Spielraum, den auch § 1 eröffnete, ist aus der vorangegangenen Darstellung ersichtlich. Der Richter hatte es weitgehend in der Hand, durch "vernünftige Handhabung" die Gesetzesanwendung "richtig" zu steuern. Ihm wurde etwa im Falle des § 4 ein Strafrahmen eröffnet, der von der Mindeststrafe der "Grundtat" (Geldstrafe) bis zur Todesstrafe reichte. So bedarf es keiner zusätzlichen Begründung, daß die "Bewährung der VolksschädlingsVO"

295 RGBl. I, 405, § 14 I. - Das "Gebotensein sofortiger Aburteilung" wurde auf alle Fälle erstreckt und war in der VO v. 1. 9.1939 nicht enthalten. Es dürfte sich in der Praxis aber auch ohne ausdrückliche Erwähnung von selbst verstanden haben. 296 RV v. 25.9.1940, Kmg/Schäfer/Stolzenburg* (1943), S. 20. Anders bei jugendlichen Tätern: Anklage vor den Sondergerichten nur bei entsprechendem Reifegrad ("einer über 18 Jahre alten Person gleichzuachten"), RV v. 25.11.1940, bei Freisler/Grau/Krug/Rietzsch (1941), S. 38. 297 Zum Verfahren der Entscheidung über die Vollstreckungsart Freisler/Grau/Krug/Rietzsch (1941), S. 38 f. Vgl. § 1 III, 7 VolksschädlingsVO, dazu DVO v. 7.9.1939, RGBl. I, S. 1700. 298 Vgl. Freisler/Grau/Krug/Rietzsch (1941), S. 38. 299 RV des RJM v. 20.11.1940 und v. 13.1.1942. 300 RV v. 13.1.1942 bei Krug/Schäfer/Stolzenburf (1943), S. 19 f. 301 RV v. 13.1.1942, aaO, und v. 25.9.1940, aaO, S. 37.

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entscheidend von der Richterschaft, nämlich von ihrem "rechten Gefühl"302 für Unrecht und Strafwürdigkeit abhing und daß der Richter in diesem Sinne zum "Träger der völkischen Selbsterhaltung"303 wurde. Insofern entspricht der Befund zur Anwendung der VolksschädlingsVO ganz dem bei der Kriegswirtschafts VO: Die Gesetzesbindung ist stark gelockert, sie allein kann jedenfalls die "einheitliche Ausrichtung" der Verordnung noch nicht gewährleisten. Offen ist allerdings die Frage, ob diese Lockerung der Gesetzesbindung einen effektiven Zuwachs an richterlicher Macht bedeutet. Hier sind zwei Aspekte zu unterscheiden: Gegenüber dem Angeklagten hat der Richter mehr Zugriffsmöglichkeiten, weil das Gesetz keinen Schutzzaun mehr bildet. Mit der Lockerung der Gesetzesbindung wird zugleich eine ihrer Funktionen, die Einheitlichkeit und Gleichmäßigkeit der Rechtsanwendung zu gewährleisten, tendenziell aufgehoben, zumal wenn, wie im Dritten Reich, die Kontrolle durch die Obergerichte durch Einschränkung und Abbau von Rechtsmitteln und die weitgehende "Verwaltung" der verbleibenden Rechtsmittel durch die Staatsanwaltschaft abgeschwächt wird304. Ein Machtzuwachs auch gegenüber der Exekutive würde die Fortgeltung des Prinzips richterlicher Unabhängigkeit in seinem liberal-rechtsstaatlichen Sinngehalt voraussetzen. Der Führerstaat ist aber kein Richterstaat: Basis der richterlichen Unabhängigkeit ist die Bindung an die politische Führung, die das durch den Verlust der Steuerungsfunktion des Gesetzes entstehende Vakuum ausfüllt. Das Kriegsstrafrecht macht Ernst mit den programmatischen Erklärungen der Analogienovelle von 1935: Aus der VolksschädlingsVO selbst und aus ihrer praktischen Handhabung werden Elemente der neuen "Basis" richterlicher Tätigkeit in Umrissen erkennbar: Die Wertung nach "gesundem Volksempfinden" - mit der das Tätertypenerfordernis gleichberechtigt ist -, nicht einzelne Tatbestandselemente, bilden in den §§ 2 und 4 das eigentliche "Gegengewicht gegen die Gefahr der Uferlosigkeit". Damit sucht der nationalsozialistische Gesetzgeber eine Begrenzung "in den gemeinschaftssittlichen Forderungen" des "gesunden Volksempfindens" und damit "in den Wurzeln des Rechts" selbst305. Die Forderungen des gesunden Volksempfindens mögen im einzelnen vage geblieben sein. Wie auch immer: Die politische Führung ist dazu berufen, das "gesunde Volksempfinden" zu kennen und in seinen Auffassungen zu verkörpern, d. h. - so Nagler im Zusammenhang mit § 4 - der Führer und seine "Delegatare" können, anders als andere Personen oder Instanzen, für sich in Anspruch nehmen, daß ihre "Beurteilung der Dinge sich schlechthin mit dem Volksempfinden decke"306. So deutet sich gerade in der Vagheit des "gesunden Volksempfindens" die Bindung an den Willen der politischen Führung an, indem dieser als verbindliche Konkretisierung des "gesunden Volksempfindens", als Emanation der "Wurzel des Rechts", verstanden wird. Die Auslegung der Verordnung nach "Kriegsnotwendigkeiten" oder "Kriegsbedürfnissen" verweist sehr viel nüchterner auf Zweckmäßigkeitserwägungen, die aus sich wandelnden Lagen erwachsen und deren Inhalt sich deshalb stets ändern kann. Die richterlichen Erkennt302 Richterbrief Nr. 17, bei Boberach (1975), S. 298. 303 RMdJ Thierack am 29. 9. 1942 auf einer Konferenz der Präsidenten des RG, des VGH und der OLGe, der Oberreichs- und Generalstaatsanwälte bei Boberach (1975), S. 450. 304 Dazu oben 1. Teil A13b. 305 Freister/Grau/Krug/Rietzsch (1941), S. 106. 306 ZAkDR 1940,383 f.; s. auch LK6 (1944), § 2 Anm. 12.

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nismittel sind auf die Beurteilung solcher komplexer militärisch-politischer "Sachlagen" nicht zugeschnitten. Die Kriegsnotwendigkeiten setzen deshalb eine Anlehnung an die politischen Instanzen voraus, die über eine "überlegene" Beurteilungskompetenz verfügen. Auch hier erscheint also die Bindung an die politische (oder militärische) Führung am Auslegungshorizont des gesetzesförmigen Strafrechts. Die substantielle Bindung der Gesetzesanwendung an den Willen der politischen Führung ist damit in der VolksschädlingsVO selbst angelegt. Die Maßnahmen zur sog. Lenkung der Rechtsprechung erweisen sich vor diesem Hintergrund als organisatorische Durchführung einer solchen Bindung. Zugleich sind die Lenkungsmaßnahmen geeignete Mittel, das durch die Lockerung der Gesetzesbindung entstandene "Vakuum" auszufüllen, d. h. eine einheitliche Handhabung der einzelnen Strafgesetze zu gewährleisten. Im Bereich der Volksschädlings VO wurde die Rechtsprechung, wie in anderen Teilen des Kriegsstrafrechts auch, von Anfang an durch das Reichsjustizministeriüm verfolgt: Die Staatsanwaltschaften waren angewiesen, von allen gegen Volksschädlinge ergangenen Urteilen zwei Ausfertigungen an das Reichsjustizministerium zu übersenden, bei Anklagen wegen Plünderung unverzüglich auch den Inhalt der Anklageschriften mitzuteilen307. Nach der Rundverfügung vom 26. August 1941 war in allen Sondergerichtssachen wegen Verstößen gegen die VolksschädlingsVO die Anklageschrift dem Sonderreferenten des Reichsjustizministeriums vorzulegen, und zwar "so rechtzeitig ..., daß der Sonderreferent in der Lage ist, vor Urteilsfällung mit dem Anklagevertreter Fühlung zu nehmen". In "besonders bedeutungsvollen Verfahren" war ein ausführlicher Bericht zu erstatten308. Die Bindung an den Willen der politischen Führung wird ferner durch die "Lenkungsmaßnahmen" der Vor- und Nachschau und der Richterbesprechungen verwirklicht309. Namentlich gehören hierher auch die Richterbriefe, in denen seit Oktober 1942 regelmäßig Fälle aus der strafrechtlichen Rechtsprechung berichtet und die einzelnen mitgeteilten Urteile besprochen, gelobt oder kritisiert wurden310. Die Richterbriefe zogen Konsequenzen aus der veränderten Stellung des Richters. Sie waren, wie die Einführung zum Richterbrief Nr. 1 erläuterte, als "Beitrag" zur Schaffung eines einheitlichen deutschen Richterkorps gedacht. Die Richterbriefe beruhten auf der Erwägung, der Richter könne den veränderten Anforderungen nur gerecht werden, "wenn er die Absichten und Ziele der Staatsführung kennt". Der Richter müsse "daher stets in enger Verbindung zur Staatsführung" stehen. Anders könne er seine "hohe Aufgabe" nicht erfüllen311. Diese Aufgabe wurde allgemein damit beschrieben, daß der Richter "Träger der völkischen Selbsterhaltung" sei, "der Schützer der Werte eines Volkes und der Vernichter der Unwerte ... der Ordner von Lebensvorgängen, die Krankheiten im Leben des Volkskörpers sind"312. Damit sei "der Richter der unmittelbare Gehilfe der Staatsführung". Diese Stellung hebe den Richter einerseits heraus, lasse ihn "aber auch die Begrenzung seiner Aufgaben erkennen". Aus der Aufgabenstellung selbst ergebe sich "Sinn und Not-

307 RV des RJM an die Generalstaatsanwälte bei Freisler/Grau/Knig/Rietzsch (1941), S. 38. 308 Krug/Schäfer/Stohenburtf (1943), S. 21. In Fällen minderer Bedeutung entfiel die Berichtspflicht, RV v. 11.2.1942, aaO bei Fn. 1. 309 Vgl. 1. Teil A 1 3 b bei Fn. 93 f. 310 Dazu namentlich Boberach (1975), S. XI ff.; Wahl (1981). 311 Bei Boberach (1975), S. 7. 312 AaO, S. 5 f.

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wendigkeit einer Führung der Rechtspflege". Damit sei nicht Weisungsgebundenheit gemeint, wohl aber könne und müsse "die Staatsführung dem Richter die allgemeine Linie geben, die eingehalten werden muß, wenn die Rechtspflege ihre Aufgabe" erfüllen solle313. Die offenbar "ganz allgemein günstige" Aufnahme der Richterbriefe in der Richterschaft bestätigt die innere Folgerichtigkeit dieser Lenkungsmaßnahmen. Die Richterbriefe wurden, so die vom Chef der Sicherheitspolizei und des SD herausgegebenen "Meldungen aus dem Reich", von der Richterschaft "als ein wertvolles und nahezu unentbehrliches Hilfsmittel für die Rechtsfindung im Kriege bezeichnet". Der Krieg habe "eine gewisse Unsicherheit der Richter gegenüber neu auftauchenden politischen Fragen" vermehrt. Die Richterbriefe seien "ein gutes Mittel, diese Unsicherheit zu beheben und jeden einzelnen Richter mit den Zielen der Staatsführung vertraut zu machen"314. Besondere Bedeutung hätten Richter und Staatsanwälte den Richterbriefen "für die Einheitlichkeit der Rechtsprechung und für das Strafmaß" beigelegt315. Ausgesprochen "dankbar" reagierten nach diesen Berichten "vor allem die mit dem Kriegsstrafrecht befaßten Richter", die im ganzen "eine ausgesprochene Lenkungsbereitschaft" zeigten. Diese Richter folgten "allgemeinen Hinweisen ... willig und begrüßten sie als wertvolle Unterstützung", namentlich bei der "Behandlung von Volksschädlingen, von Fremdvölkischen, von Feldpostmardern, von Schwarzschlächtern"316. [Nr. 30] Gesetz zur Änderung von Vorschriften des allgemeinen Strafverfahrens, des Wehrmachtstrafverfahrens und des Strafgesetzbuchs vom 16. September 1939 Die Hauptbedeutung dieses Regierungsgesetzes1 lag auf dem Gebiet des Verfahrensrechts. Das Gesetz führte den außerordentlichen Einspruch gegen rechtskräftige Urteile ein und überließ dessen Handhabung dem Oberreichsanwalt2. Dadurch wurde mittelbar die Gerichtsherrenschaft des (weisungsbefugten!) Führers und Reichskanzlers anerkannt3, ein Aspekt, auf den zurückzukommen sein wird4. Für das materielle Strafrecht brachte das Gesetz eine vergleichsweise geringfügige Änderung: Der allgemeinen Schärfungstendenz folgend wurden die Milderungsmöglichkeiten beim Landesverrat (§§ 89 III, 90 II) beseitigt und zwar mit zeitlich unbegrenzter Rückwirkung5.

313 AaO, S. 6 f.

314 Alle Zitate Meldung Nr. 382 v. 13.5.1943 abgedruckt aaO, S. 455 f. 315 AaO, S. 458. 316 Vgl. Meldung Nr. 386 v. 28. 5. 1943, aaO, S. 461. Vgl. parallel hierzu für die Wehrmachtsjustiz Messerschmidt/Wüllner (1987), S. 278 ff. ("Bindung des Richters an den Führerwillen", S. 279; Ansätze zur Lenkung u. ä.). 1 RGBl. I, S. 1841. Zeichnung: FuRk Hitler, RMdJ Gärtner und - das Wehrmachtsstrafverfahren war ebenfalls betroffen - ChdOKW Keitel. 2 Art. 2, § 3. 3 Vgl. Freister, DJ 1939,1570 ff. und schon oben [Nr. 14], 4 Dazu 3. Teil, D I . 5 3. Abschn. des Ges.; vgl. oben [Nr. 13] 3a.

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[Nr. 31] Verordnung zum Schutz gegen jugendliche Schwerverbrecher vom 4. Oktober 1939 1. Einführung Die Verordnung des Ministerrats1 zum Schutz gegen jugendliche Schwerverbrecher (SchwerverbrecherVO), nach Schorn eine weitere "Verwilderung des Rechts, die im Zuge der Machtherrschaft Hitlers" lag2, trat im prozessualen Gewand auf: Sie war eingekleidet als Erweiterung des staatsanwaltschaftlichen Ermessens bei der Anklageerhebung gegen Jugendliche über 16 Jahre: § 1 ermöglichte die Anklageerhebung vor dem zuständigen Erwachsenengericht. Den Kern der Verordnung gegen jugendliche Schwerverbrecher bildete § 1 II, der die materiellen Voraussetzungen der Erwachsenenstrafe für Jugendliche betraf und bei Anrufung des Erwachsenengerichts die Verhängung der entsprechenden Strafe und Maßregeln vorschrieb, "wenn der Täter nach seiner geistigen und sittlichen Entwicklung einer über achtzehn Jahre alten Person gleichzuachten ist und wenn die bei der Tat gezeigte, besonders verwerfliche verbrecherische Gesinnung oder der Schutz des Volkes eine solche Bestrafung erforderlich macht".

Die Bedeutung der Vorschrift lag namentlich in der Anerkennung der Schutzstrafe (dazu 1). Die Verordnung als ganze richtete sich ihrer Bezeichnung nach gegen eine bestimmte Tätergruppe (dazu 2), die "jugendlichen Schwerverbrecher". Von diesen Ausgangspunkten bestimmte sich die Auslegung der materiellen Voraussetzungen des § 1 II (dazu 3), die vom Richter aber nur bei Anrufung des Erwachsenengerichts durch die Staatsanwaltschaft (dazu 4) zu prüfen waren. 2. Schutzstrafe § 1 II hatte eine über das Jugendstrafrecht weit hinausragende allgemeine Bedeutung für das gesamte materielle Strafrecht: Die Vorschrift anerkannte den schon im Gesetzestitel herausgestellten Schutzgedanken ausdrücklich als eigenständigen Strafzweck und stellte ihn gleichrangig neben den Vergeltungsgedanken3. Es war, wie Exner zu Recht bemerkte, gewiß "nicht nebensächlich, wenn ausschließlich aus Gründen des Schutzes ein Jugendlicher zum Tode verurteilt" werden konnte, zumal es Todesurteile gegen Jugendliche "in Deutschland seit vielen Jahrzehnten - auch in der Blütezeit der Vergeltungsidee - nicht gegeben" hatte4. Die Bedeutung des Schutzgedankens als gleichrangiger Strafeweck neben der Vergeltung konnte kaum plakativer verdeutlicht werden als am Beispiel jugendlicher Täter: Wenn schon der 16jährige "Schwerverbrecher" aus Gründen des Volksschutzes mit der für Erwachsene gelten1 2

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RGBl. I, S. 2000. Es zeichnen: Vors. des MfdRV Göring, GBV Frick, RMuChdRk Lammers, - Abgelöst durch § 20 RJGG, vgl. [Nr. 51] 3a. Schorn (1963), S. 120. Zum rechtsstaatswidrigen Charakter der Schutzstrafe des § 1 II Eb. Schmidt (1965), S. 436 ff., 438; vgl. auch Schaffstein/Beulke9 (1987), S. 31; Dailinger/Lackner, JGG (1955), Einf. Rdn. 35. Vgl. Kohlrausch/Lange3* (1943), Anh. Nr. 37, § 1 Anm. I; Exner, ZStW 60 (1941), 342 f.; Schwarzu (1943), Sonderteil Nr. 6, § 1 Anm. 2 B; Sommer, in: Freisler/Grau/Kmg/Rietzsch (1941), S. 262 f. Exner, aaO, S. 342.

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den Höchststrafe belegt werden konnte, mußte der Schutzzweck auch im Erwachsenenstrafrecht neben den Vergeltungsgedanken treten. Insoweit erbrachte die Verordnung geradezu einen Beweis für die allgemeine Bedeutung des Schutzgedankens, so daß Exner in sich folgerichtig die Verordnung "der Aufmerksamkeit derer" empfehlen konnte, "die immer noch meinen, der Schutzgedanke spiele im Strafrechtsdenken der neuen Zeit eine untergeordnete Rolle"5. Daß es sich um eine Regelung von allgemeiner und nicht nur auf die Kriegszeit beschränkter Bedeutung handeln sollte, zeigte schon die in § 4 vorgesehene unbeschränkte Rückwirkung der Verordnung 6 und wurde durch spätere Vorschriften, namentlich im Strafrechtsänderungsgesetz vom 4. September 19417 und im RJGG von 19438 bestätigt. 3. Die Zielgruppe: Der "jugendliche Schwerverbrecher" In einem sachlichen Zusammenhang mit dem Inhalt des erstrebten Volksschutzes stand die Zielrichtung der Verordnung: Sie diente ausweislich der Überschrift dem Schutz "gegen jugendliche Schwerverbrecher", wendete sich also, nimmt man die Überschrift beim Wort, gegen bestimmte Täter, verknüpfte insofern den Schutzgedanken mit der "Täterstrafe"9. "Getroffen werden", sollte, so Freisler bald nach Erlaß der Verordnung, "derjenige frühreife Schwerverbrecher, dessen Persönlichkeit, die sich insbesondere in seinen Taten spiegelt, bereits auf der Stime geschrieben ist, daß er doch zu einem ausgewachsenen Asozialen werden wird"10. Dabei dachte Freisler an Täter, "deren Erbgut ihnen schon den Weg nach abwärts ... vorzeichnet" oder die den "erfolglosen Weg" durch Fürsorgeerziehung und Strafvollzug schon gegangen seien11. In dieser Begriffsbestimmung Freislers stand offenkundig die "Gemeinschaftswidrigkeit" und "Gemeinschaftsuntauglichkeit", die biologische oder soziale "Minderwertigkeit" des Täters im Vordergrund, für welche ("insbesondere") die begangene Tat ein Indiz bilden sollte. Freislers Definitionsversuch ging in eine Stellungnahme des Oberreichsanwalts im Rahmen einer Nichtigkeitsbeschwerde ein, der sich das Reichsgericht ausdrücklich anschloß. Danach bildete den Grundgedanken der Verordnung nicht die allgemeine Herabsetzung der Altersgrenze, sondern die "Heraushebung eines Tätertyps', nämlich des frühreifen jugendlichen Verbrechers, den eine besonders verwerfliche Gesinnung kennzeichne, 'dem auf die Stirn geschrieben sei, daß er zu einem ausgewachsenen Asozialen werde'"12. Die in § 1 II im Hinblick auf die Gesinnungswertung bedeutsame Beschränkung auf die "bei der Tat gezeigte" beson-

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AaO. Vgl. diese treffende Erwägung Naglers, GS 115 (1941), 1. Dazu [Nr. 39] 2. Dort §§ 3 II, 4 II und 20 II vgl. [Nr. 51] 3a. Dazu Dohm, DR 1944, 2. Freilich hinderte das Erfordernis der "Begehung einer Straftat" (§ 11) eine "echte Täterstrafe", nämlich die Bestrafung "krimineller Frühreife" als solcher, vgl. Bockelmann, Täterstrafrecht II (1940), S. 77 Fn. 1.

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DJ v. 15.1.1940,53. DJ 1939,1850. RGSt. 74, 307,308 unter Verweis auf Freisler, DJ 1940,53 und Gleispach, DR 1939,1964, Gleispach I (1940), S. 48, 51, bei dem sich diese Formulierung aber nicht findet.

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ders verwerfliche Gesinnung wurde dabei nicht erwähnt13. Eine spätere Entscheidung betonte, daß bei der SchwerverbrecherVO eine "besondere Art der Täterpersönlichkeit" im Zentrum stehe. Es komme - anders als bei § 2 VolksschädlingsVO - "nicht entscheidend auf die Eigenart der Tat, sondern auf die Täterpersönlichkeit als solche an"14. Auch im Schrifttum bestand weitgehende Einigkeit, daß "personale" Elemente bei der SchwerverbrecherVO noch weit stärker im Vordergrund zu stehen hätten als bei der VolksschädlingsVO, daß also der "Täterpersönlichkeit als solcher" maßgebliche Bedeutung zukomme15. Überwiegend wurde dabei bejaht, daß die SchwerverbrecherVO, wie die VolksschädlingsVO, einen bestimmten "Tätertyp" treffen wolle16. Ob damit freilich ein "krimineller" oder "tatbestandlicher" Tätertyp gemeint sein sollte wurde nicht abschließend geklärt. Das Reichsgericht schien mit der "Täterpersönlichkeit als solcher" eher dem "kriminologischen" Typus zuzuneigen17, vermied aber bekanntlich ohnehin eine abschließende Festlegung18. Im Schrifttum deutete man den Tätertyp teilweise normativ19. Mezger dagegen entdeckte eine "ganze Fülle tätertypischer Voraussetzungen" und zwar "kriminologische", wie die Frühreife, und tatbestandliche, wie die besonders verwerfliche verbrecherische Gesinnung20. Einige Autoren, beispielsweise Nagler21, lehnten, ähnlich wie bei der VolksschädlingsVO, ein besonderes Tätertypenerfordernis ab und hielten die Berücksichtigung der tätertypisierenden Merkmale bei der Auslegung des § 1 II für ausreichend22. Letztlich spiegeln sich in den Deutungen des Schrifttums verschiedene Grundauffassungen über den Stellenwert und den Inhalt der Figur des Tätertyps: Es ging nicht darum, den entschieden personalèn, auf bestimmte Täter gerichteten Zug der SchwerverbrecherVO zu bestreiten, sondern nur darum, ihn dogmatisch zutreffend umzusetzen. Die Orientierung am "Täter" ist der entscheidende Entwicklungszug, der den Rahmen der theoretischen Debatten und Scharmützel vorgibt.

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Vgl. aber den in der Entscheidung zitierten Gleispach, I (1940), S. 49. RGSt. 75,202,204 f. Schwarzn{V)4i), Sonderteü Nr. 6, § 1 Anm. 3; Freister, DJ 1940, 53; JDR 1940, 520; Nüse, DJ 1941, 360; Exner, ZStW 60 (1941), 344; Kohlrausch/Lange™ (1943), Anh. Nr. 37, Vor § 1 Anm. I; Gleispach I (1940), S. 48; Der "junge Schwerverbrecher" soll erfaßt werden. S. aber Nagler, GS 115 (1941), 17: "Es geht um die Akt- und nicht um die Täterstruktur, um die Tat- und nicht um die Persönlichkeitswertung". Im Hintergrund steht auch hier u. a. die Befürchtung einer "Einengung" der VO, vgl. aaO und schon [Nr. 29] 5c. Freister, JDR 1940, 520; Exner, aaO; Nüse, aaO; Gleispach, aaO; Kohlrausch/Lange3* (1943), aaO; Mezger, ZStW 60 (1941), 369; Schaffstein, DStR 1942,37. RGSt. 75,202,204 f.; dazu Kohlrausch/Lange™ (1943), Vor § 1 Anm. III. Vgl. zur VolksschädlingsVO [Nr. 29] bei 5a. Vgl. ζ. B. Nüse, DJ 1941,359 f. Mezger, ZStW 60 (1941), 369. Nagler, GS 115 (1941) 13. Vgl. Zawar, DStR 1943,49 f. sowie oben [Nr. 29] 5b bb, 5c.

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4. Die Voraussetzungen der Erwachsenenstrafe für Jugendliche a) Die Neuregelung als Ausdruck des Vorrangs "materieller Gerechtigkeit" Das RJGG von 1923 hatte jegliche strafrechtliche Verantwortlichkeit eines noch nicht 14 Jahre alten Täters ausgeschlossen und den Eintritt der vollen Strafmündigkeit an die Vollendung des 18. Lebensjahres geknüpft23. Die mit § 1 II SchwerverbrecherVO bewirkte "Auflokkerung" der Altersgrenze zum Erwachsenenstrafrecht hin diente nach zeitgenössischer Auffassung der "materiell gerechten und richtigen Entscheidung des Einzelfalles", indem sie "die tatsächliche Reife", nicht den "Geburtsschein", für die Verhängung von Erwachsenenstrafe für maßgebend erklärte24. Insoweit machte sich nach Exner die "für den Zug der neuen deutschen Rechtsentwicklung überhaupt" kennzeichnende Tendenz geltend, nämlich die Auflockerung der "festen Gesetzesgrenzen ... auch dann, wenn dies auf Kosten der Rechtssicherheit und Rechtsgleichheit geht"25. b) Die "Begehung einer Straftat" (§ 11) Die SchwerverbrecherVO setzte in § 1 I die "Begehung einer Straftat" voraus, d. h. nach dem Gesetzeswortlaut irgendeine strafbare Handlung, nicht etwa ein Verbrechen bestimmten Schweregrades. Begrenzungen konnten sich insoweit allenfalls aus § 1 II oder unmittelbar aus der Zielrichtung der Verordnung ("jugendlicher Schwerverbrecher") ergeben. c) Die Frühreife (§ 1 II) Erste Voraussetzung des § 1 II war die sog. Frühreife, die Feststellung, ob "der Täter nach seiner geistigen und sittlichen Entwicklung einer über 18 Jahre alten Person gleichzuachten" war. Die entwicklungspsychologischen Beurteilungsschwierigkeiten, die damit im Einzelfall verbunden sein konnten, sind hier nicht zu entfalten26. Von entscheidender praktischer Bedeutung war aber der bei der Beurteilung der "Frühreife" anzulegende Maßstab. Die Ausgangsfragen konnten nämlich entweder lauten: Ist der Täter ein frühreifer Mensch? Hat er trotz seiner Jugend die Reife eines durchschnittlichen Erwachsenen? Oder aber: Ist der Täter ein frühreifer Verbrecher? Ist seine persönliche Entwicklung abgeschlossen, so daß weitere Reife nicht zu erwarten ist?27. Im ersten Fall bildete ein Durchschnittserwachsener den Maßstab für die Beurteilung des konkreten Täters. Das bedeutete, daß geistig und/oder sittlich zurückgebliebene Jugendliche nicht als "frühreif im Sinne der SchwerverbrecherVO anzusehen waren. Bei der zweiten Frageweise kam es nicht auf den Vergleich mit einem Durch-

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Ges. v. 16.2.1923, RGBl. I, S. 135, § 1. Vgl. Exner, ZStW 60 (1941), S. 337 f.; Sommer, in: Freisler/Grau/Kmg/Rietzsch (1941), S. 257; Nagler, GS 115 (1941), 3; Freister, JDR 1940,520. AaO, 337. Dazu ζ. B. Exner, ZStW 60 (1941), 338 ff. Zu den möglichen Fragestellungen besonders klar Kohlrausch/Lange38 (1943), Anh. Nr. 37, § 1 Anm. I. Plastisch illustriert wird diese Problematik bei Exner, ZStW 60 (1941), 338 ff. anhand forensischer Beispiele.

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schnittstyp an, sondern nur darauf, ob der Täter zur Zeit der Tat jene Reife hatte, die er mit 19 Jahren voraussichtlich haben würde, ob er also eine schon "völlig ausgefaltete Persönlichkeit" war. Nach Exner war im Sinne dieser zweiten Alternative die Frage zu stellen: "Wie wird dieser Bursche mit 19 Jahren aussehen?"28. Die Rechtsprechung erklärte die zweite Fragestellung für maßgeblich, indem sie eine "allgemeine verbrecherische Frühreife des Jugendlichen" verlangte 29 . Allgemeine Frühreife war danach zur Anwendbarkeit der Verordnung weder notwendig noch ausreichend 30 . Das Schrifttum teilte ganz überwiegend diese Auffassung31. Die h. M. konnte sich zur Begründung ihrer mit dem Text des § 1 II schwerlich zu vereinbarenden Auffassung 32 auf den Gesetzeszweck berufen: Wenn es wirklich darum ging, frühreife Schwerverbrecher "auszuschalten", also solche Täter, deren Weg im Sinne Freislers vorgezeichnet war, dann war "in der Tat der Gedanke einleuchtend, daß ein Gesetz, welches schon den frühreifen Verbrecher strenger straft, erst recht den treffen muß, der schlechthin verdorben ist"33. Gerade "der gefährlichste Fall", der Täter, dem das Erwachsenenniveau "überhaupt unerreichbar ist", "gerade der psychopathische Jugendliche, der ... minderwertig bleibt... der Hauptfall des frühkriminellen angehenden Gewohnheitsverbrechers" 34 , der "charakterologisch Abartige", der "unveränderliche Primitive"35, mußte dann erfaßt werden 36 . Im Ergebnis wurde also die "Frühreife" entsprechend dem Schutzweck der Verordnung ausgelegt, um auch und gerade "minderwertige" Täter erfassen zu können und eine "Reinigung" des Volkskörpers von diesen zu ermöglichen37. Das RJGG 1943 zeigte, daß diese Auslegung den Vorstellungen des nationalsozialistischen Gesetzgebers entsprach, indem es - in deutlicher Parallele zu dem von Exner unterbreiteten Formulierungsvorschlag - bei "charakterlich abartigen Schwerverbrechern" die Reife eines Erwachsenen nicht forderte und dadurch eine Auslegung gegen den Gesetzeswortlaut überflüssig machte 38 . d) Das erhöhte Strafbedürfiiis (§ 1 II) Neben der Frühreife verlangte § 1 II, daß die "bei der Tat gezeigte, besonders verwerfliche Gesinnung" oder der Volksschutz Erwachsenenstrafe erforderlich machten. Das Gesin28 29 30 31

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Exner, ZStW 60 (1941), 341. RGSt. 75,202,205 (Hervorhebung G. W.)\ ebenso schon RGSt. 74,307,309. Vgl. RGSt. 74,307,309 und die Anm. des Praktikers Keßler, ZAkDR 1941, 87. Vgl. Exner, ZStW 60 (1941), 341; Freister, DJ 1939, 1850 und 1940, 53; Nagler, GS 115 (1941), 5 f.: Das Erreichen der "endgültigen Lebensform" sei entscheidend; Sommer, in: Freister/ Grau/Krug/Rietzsch (1941), S. 262; Keßler, ZAkDR 1941, 87; Boldt, DR 1941, 45; Mezger, ZStW 60 (1941), 369; Bockelmann, ZStW 60 (1941), 351 (Diskussionsbericht Strafrechtslehrertagung 1940). A. M. Kohlrausch/Lange38 (1943), Anh. Nr. 37, § 1 Anm. 11; Gteispach I (1940), S. 47. Das räumen ζ. B. Exner, aaO und Bockelmann, aaO selbst ein. Bockelmann, aaO. Exner, ZStW 60 (1941), 341. Bockelmann, ZStW 60 (1941), 351. Vgl. auch Keßler, ZAkDR 1941,87.

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Vgl. soeben [Nr. 29] 8b.

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§ 20 II RJGG 1943 [Nr. 51] 3a und §§ I, II bei Exner, ZStW 60 (1941), 350.

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nungsmerkmal der ersten Alternative brachte nach zeitgenössischem Verständnis den Grundsatz: "Ungeminderte Sühne bei ungeminderter Schuld" zum Ausdruck39. Einigkeit bestand, daß die besonders verwerfliche Gesinnung in der Tat selbst zum Ausdruck kommen mußte. Streitig war, ob eine dauernde, für die Täterpersönlichkeit bezeichnende "antisoziale Einstellung"40 oder ob nur erhöhte Tatschuld zu fordern sei und eine einmalige Entgleisung genügen könne41. Das Schutzbedürfnis sollte sich einmal aus objektiven Notwendigkeiten der "Abschreckung" bei besonders gefährlichen42 oder um sich greifenden ("seuchenhaften"43) Delikten, also aus der Art der Tat selbst ergeben können. Damit wurde "sozusagen die kriminalpolitische Lage" Bestandteil dieses gesetzlichen Merkmals44. Das Schutzbedürfnis konnte aber - entsprechend der Zielrichtung der Verordnung - selbstverständlich auch "täterrechtlich"45, spezialpräventiv, bestimmt sein und sich aus den Charaktereigenschaften des Täters ergeben, die ihn zum "minderwertigen", "asozialen", "kriminellen" "Verbrechertyp" stempelten46. Die Bedenken, die sich aus dem Schuldprinzip gegen diese als zwingend erachteten Konsequenzen ergaben, wurden in der zeitgenössischen wissenschaftlichen Diskussion durchaus gesehen, wie Bockelmanns Bericht über die bei der Strafrechtslehrertagung 1940 geführte Diskussion verdeutlicht. Für die forensische Praxis sah man allerdings "meist keine Schwierigkeiten" erwachsen, weil man glaubte, innerhalb eines bestimmten Rahmens eine tendenzielle Gleichsinnigkeit von Volksschutz und Sühne annehmen zu können: "Es sei das existenziell Böse das einem in dem jugendlichen Verbrecher entgegentrete, demgegenüber das Rechtsgefühl die Schuldfrage ohne weiteres bejahe"47. Freilich könne man das Gesetz nicht auf alle "von Kindheit an entarteten Jugendlichen" anwenden, so beispielsweise nicht auf Schwachsinnige. Die "ideale Lösung" erblickte man deshalb in einem "Bewahrungsgesetz"48. e) Die Beschränkung auf "jugendliche Schwerverbrecher" Die Anwendbarkeit der Verordnung war entsprechend dem Gesetzeszweck - jedenfalls nach überwiegender Auffassung - auf "jugendliche Schwerverbrecher" begrenzt. Die erforderliche Beschränkung konnte entweder durch die entsprechende Auslegung der "verbrecherischen" Frühreife erreicht werden49 oder im Wege der ergänzenden "Tätertypenfeststellung". 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49

Exner, ZStW 60 (1941), 342, Vgl. auch Sommer, in: Freisler/Grau/Krug/Rietzsch (1941), S. 263; Nagler, GS 115 (1941), 16 ff. Exner, aaO; Sommer, aaO. So Nagler, GS 115 (1941), S. 18: Erhöhte Tatschuld bei vereinzelter Entgleisung genügt, "antisoziale Wertrichtung" nicht erforderlich. Exner, ZStW 60 (1941), 343. Vgl. auch oben [Nr. 29] 6b (kriegsbedingte Verhältnisse). Vgl. Gleispach I (1940), S. 49. Bockelmann, Täterstrafrecht II (1940), S. 77 Fn. 1. Dazu Exner, ZStW 60 (1941), 343. Vgl. den Diskussionsbericht von Bockelmann, ZStW 60 (1941), 351; vgl. auch Kohlrausch/Lange* (1943), Anh. Nr. 37, § 1 Anm. 12, S. 836: Meist würden Schutz und Sühne "ihr Recht fordern". Bockelmann, aaO. In diese Richtung RGSt. 75, 202, 205.

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Sachlicher Kern der Problematik war insoweit, ähnlich wie bei der VolksschädlingsVO, das Verhältnis von Tatschwere und Täterpersönlichkeit. Im Schrifttum wurde dazu der Standpunkt vertreten, nur das objektiv schwere Verbrechen könne die Anwendung der SchwerverbrecherVO rechtfertigen, ein für sich betrachtet leicht wiegender Verstoß reiche ungeachtet der "Artung" der Täterpersönlichkeit nicht aus50. Das Reichsgericht hat diesen Standpunkt in seiner Ausschließlichkeit nicht gebilligt, wenn es (auch) auf die "Asozialität" des Täters abstellte, nicht aber (allein) auf die Tatschwere51. Die Beispiele Exners aus der Rechtsprechung der Untergerichte zeigen, daß zwar häufig schwerste Delikte wie Raub, Mord oder Notzucht vorlagen, doch wurde § 1 II auch bei (einfachem) Diebstahl, Betrug oder Unterschlagung angewendet52. Auf der Linie der Praxis und der - vom Reichsgericht und der überwiegenden Auffassung anerkannten - Zweckbestimmung der Verordnung dürfte es deshalb gelegen haben, zwar "in der Regel" nur bei objektiv "schweren" Verstößen 53 § 1 II anzuwenden, umgekehrt aber auch keine feste Schweregrenze mit "Sperrwirkung" anzuerkennen: Der "Täterpersönlichkeit als solcher" wurde ja für die Handhabung der SchwerverbrecherVO, maßgebliches - und im Vergleich zur Bestrafung von Verstößen gegen die VolksschädlingsVO ausdrücklich größeres - Gewicht beigemessen. Diesem Ausgangspunkt entsprach es, wie bei der Anwendung der VolksschädlingsVO ein Austauschverhältnis ("Vikariieren") von Tat- und Täterelementen anzunehmen, die Bestrafung als jugendlicher Schwerverbrecher also aus einer "Gesamtwürdigung" von Tat und Täter zu entwikkeln54. 5. Die prozessuale Anwendbarkeitsvoraussetzung Die Anwendbarkeit der SchwerverbrecherVO, setzte auch bei Vorliegen aller materiellen Voraussetzungen des § 1 II eine Anklageerhebung der Staatsanwaltschaft beim zuständigen Erwachsenengericht voraus; in allen anderen Fällen waren dem Richter die Hände gebunden. Das galt auch dann, wenn der Amtsrichter oder die Strafkammer in ihrer Eigenschaft als Jugendrichter angerufen wurden55; hier setzte die Verurteilung unter Anwendung des § 1 II eine entsprechende Erklärung der Staatsanwaltschaft voraus, das Gericht werde "als" Erwachsenengericht im Sinne der SchwerverbrecherVO angerufen56. Das Erwachsenengericht hatte dann die Voraussetzungen des § 1 II selbständig zu prüfen, wurde aber unabhängig von deren Vorliegen mit der Klageerhebung sachlich zuständig57. Die 50 51 52 53 54 55 56 57

Exner, ZStW 60 (1941), 344 f.; Nagler, GS 115 (1941), 18. RGSt. 74,307,308 im Anschluß an Freister, DJ 1940,53, vgl. bei Fn. 12 ff. Vgl. Exner, ZStW 60 (1941), 348 f.; s. auch die Beispiele aus der Rspr. bei Sommer, in: Freisler/Grau/ Kmg/Rietzsch (1941), S. 263, bei denen die "Asozialität" des Täters im Vordergrund steht. So Sommer, aaO, S. 262. Keßler, ZAkDR 1941, 87; s. auch Boldt, DR 1941, 45. Zur Gleichheit der Sachlagen bei VolksschädlingsVO und SchwerverbrecherVO Zawar, DStR 1943,48, 50. § 31 ZuständigkeitsVO v. 21.2.1940, RGBl. I, S. 405. Vgl. Exner, ZStW 60 (1941), 346. H. M. vgl. Sommer, in: Freisler/Grau/Krug/Rietzsch (1941), S. 260 mit Nachw.; a. M. Kohlrausch/Lange^ (1943), Anh. Nr. 37, § 1 Anm. II. Zu den einzelnen, ζ. T. komplizierten verfahrensrechtlichen Fragen Sommer, aaO, S. 259 ff.

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Anklageerhebung führte also "konstitutiv einen Auftrags-Gerichtsstand"58 herbei. Im Ergebnis bewirkte diese "merkwürdige prozessuale Einkleidung"59 der Verordnung zweierlei: Die Staatsanwaltschaft "verwaltete" nach pflichtgemäßem Ermessen60 die Anwendbarkeit des materiellen Erwachsenenstrafrechts. Insoweit enthielt § 1 I eine Art "Ermächtigungsvorbehalt" zugunsten der Staatsanwaltschaft61. Und: Die Staatsanwaltschaft entschied über die Gerichtszuständigkeit und damit auch über das anwendbare Verfahrensrecht, da sich dieses nach der Art des angerufenen Spruchkörpers richtete. Das RJGG 1943 beseitigte die Bindung des Jugendgerichts an den Antrag der Staatsanwaltschaft62. Die Staatsanwaltschaft konnte aber die Sondergerichtszuständigkeit in der praktischen Konsequenz nach ihrem "pflichtgemäßen Ermessen" begründen63. 6. Gesetz und Richter Dem Ermessen des Richters war bei der Anwendung der Verordnung, hatte die Staatsanwaltschaft ihn erst einmal "ermächtigt", ein erheblicher Spielraum eröffnet, wie die Ausführungen zur Feststellung des Reifegrades und zu den Voraussetzungen erhöhter Strafwürdigkeit zeigen64. Wesentlich war nach Freisler deshalb auch für die praktische Bewährung der SchwerverbrecherVO ihre Anwendung "mit Vernunft, also mit Maß und Kraft"65 durch den "verständnisvollen" Richter. [Nr. 32] Verordnung zur Ergänzung der Strafvorschriften zum Schutz der Wehrkraft des Deutschen Volkes vom 25. November 1939 Die Ministerratsverordnung1 ersetzte und erweiterte in ihrem § 1 die erst 1936 neu gefaßte Vorschrift über die Wehrmittelbeschädigung (§ 143d RStGB)2. Die Tatbestandshandlungen wurden auf das "Preisgeben" und "Beiseiteschaffen" von Wehrmitteln erstreckt und die fahrlässige Gefährdung der Schlagkraft der deutschen Wehrmacht für ausreichend erklärt. Neu

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Nagler, GS 115 (1941), 20. Nagler, aaO, 1. Schwarz12 (1943), Sonderteil Nr. 6, § 1 Anm. 1A. Dazu und zu einzelnen Zuständigkeitsfragen Sommer, in: Freisler/Grau/Krug/Rietzsch (1941), S. 259 f. Vgl. §§ 20,26 II. S. aber § 30 (Absehen von der Verfolgung durch die Staatsanwaltschaft, namentlich unter Auflagen, Abs. 2). § 76 II RJGG 1943 i. V. m. §§ 13, 14 ZuständigkeitsVO v. 21. 2. 1940, RGBl. I, S. 405. Die Zuständigkeit des RG, des VGH und der OLGe blieb unberührt, § 761 RJGG 1943. Vgl. auch insoweit die in den Richterbriefen gegebenen Richtlinien bei Boberach (1975), S. 28 ff., 203 ff., 223. JDR, 521; vgl. auch Sommer, in: Freisler/Grau/Krug/Rietzsch (1941), S. 262. RGBl. I, S. 2319. Zeichnung: Vors. d. MfdRV Goring, GBV i. V. Himmler, RMuChdRK Lammers·, VO aufgehoben durch Art. II Nr. lg KRG Nr. 11. Nachfolgevorschrift des § 1 WkSchVO: § 109e StGB, eingeführt durch 4. StÄG. Dazu oben [Nr. 20] Fn. 2f.

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war die Strafbarkeit "leichtfertigen" Handelns (§ 1 IV). Daß die Strafdrohung weiter verschärft wurde, bedarf kaum der Erwähnung3. Neu war der äußerst weite § 2, der die "Störung eines wichtigen Betriebs" betraf und dem das "Friedensstrafrecht" des § 314 E 1936 als Vorlage diente4. Der Tatbestand erfaßte die Störung oder Gefährdung des "ordnungsgemäßen Arbeitens" für die Reichsverteidigung oder für die Versorgung der Bevölkerung "wichtiger" Betriebe durch Sabotage an einer dem Betrieb dienenden "Sache" (Schraube? Hammer?) 5 . Der Gesamtstrafrahmen des § 2 reichte von einem Tag Gefängnis im "minder schweren Fall" (§ 2 II) über die Regelstrafe des Zuchthauses bis zur Todesstrafe in "besonders schweren Fällen" (§ 21) 6 . Eine gesetzliche Unrechtstypisierung war im Verbund des weiten Tatbestandes und der nur die Geldstrafe ausschließenden Strafdrohung schwerlich auszumachen. Den rechtsstaatswidrigen Kern der Verordnung bildete nach Schorn § 4. Dessen Auslegung, bei der sich "das gesunde Volksempfinden mit dem das Gebot der Nächstenliebe mißachtenden nat.-soz. Denken identifizierte", habe "zu manchen Unrecht geführt, das nur wieder in der Machtherrschaft der nat.-soz. Staatsführung begründet war"7. Die Vorschrift bedrohte jeden, der "vorsätzlich gegen eine zur Regelung des Umgangs mit Kriegsgefangenen erlassene Vorschrift verstößt oder sonst mit einem Kriegsgefangenen in einer Weise Umgang pflegt, die das gesunde Volksempfinden gröblich verletzt"

mit Gefängnis-, in "schweren Fällen" mit Zuchthausstrafe. Der fahrlässige Verstoß war mit Haft oder Geldstrafe zu ahnden (§ 4 II). Der Blankett-Teil des § 4 I wurde durch die Verordnung über den Umgang mit Kriegsgefangenen vom 11. Mai 1940 ausgefüllt, die jedermann jeglichen Umgang mit Kriegsgefangenen und jede Beziehung zu ihnen untersagte, sofern nicht der Umgang durch die Ausübung einer Dienst- oder Berufspflicht oder ein Arbeitsverhältnis der Kriegsgefangenen "zwangsläufig bedingt" war. Auch der danach zulässige Umgang war "auf das notwendigste Maß" zu beschränken8. Der Zusammenhang mit dem "Schutz der Wehrkraft", den die Verordnung nach ihrem Titel bezweckte, ist anders als bei den §§ 1 und 2 nicht ohne weiteres erkennbar. Dieser Zweckzusammenhang wurde aus zeitgenössischer Sicht auf zwei verschiedenen Ebenen vermittelt: Zum einen bleibe der Kriegsgefangene als "ehemaliger" Soldat der feindlichen Macht objektiv gefährlich. Er könne namentlich als Kundschafter oder Saboteur tätig werden, ein nä3

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Neue Mindeststrafe: sechs (statt drei) Monate Gefängnis, statt "besonders schwerer" nur noch "schwerer" Fall. Näher zu den Änderungen gegenüber § 143a RStGB Rietzsch, DJ 1940, 77 f. und in: Pfundtner/ Neubert (1933 ff.), II c 22, S. 1 ff.; Gallas, ZStW 59 (1940), 729 f. Strafdrohung dort: Zuchthaus, in minder schweren Fällen Gefängnis. Zu den einzelnen Merkmalen Grau/Krug/Rietzsch2 (1943), S. 164 ff. Vgl. auch § 314 E 1936 und Begr. 203 f. und Thierack, in: Gärtner, B r (1936), S. 305 f., 313. Lebenslanges Zuchthaus wird in § 1 II nicht erwähnt, so daß zwischen der zeitigen Zuchthausstrafe und der Todesstrafe ein "Sanktionssprung" erfolgt, der vielleicht schon eine "Frucht" der Bedenken gegen die lange zeitliche Freiheitsstrafen ist, vgl. oben [Nr. 29] 8b. 1963, S. 120. RGBl. I, S. 769, § 11, II.

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herer Umgang mit der deutschen Zivilbevölkerung verstärke diese Gefahr 9 . Insbesondere könnten im totalen Krieg Nachrichten aus fast allen Lebensgebieten für den Feind von Wert sein. Die Verordnung wendete sich deshalb nach allgemeiner Auffassung gegen Spionage und Sabotage10 und suchte auch der Fluchtgefahr11 sowie jeglicher Art von Zersetzungsversuchen12 durch Kontaktbeschneidung schon im Vorfeld zu begegnen. Zum anderen bezweckte § 4 einen Schutz "ideeller" oder "geistiger" Werte, der von manchen Autoren in den Vordergrund gestellt wurde13. Verschiedentlich wird insoweit pauschal von der "nationalen Würde" oder dem "nationalen Stolz" gesprochen, die durch die unwürdige Haltung einzelner gegenüber Kriegsgefangenen gefährdet würden14. Hier ergibt sich ein Bezug zur Wehrkraft insofern, als die gebotene Zurückhaltung gegenüber Kriegsgefangenen "zur richtigen Einstellung eines wehrfreudigen, stolzen Volkes" gehören sollte15. Im Kern ging es um den Schutz des als kriegswichtig erachteten deutschen Widerstandswillens16. Entgegenkommen gegenüber Kriegsgefangenen oder gar freundschaftlicher Umgang mit ihnen könnten das Verständnis der Bevölkerung für die den Krieg auslösenden und bestimmenden Gegensätze beeinträchtigen17, insbesondere aber eine "Gefährdung des Vertrauens der Front auf die richtige Haltung der Heimat" bewirken18: Es könne nämlich die "Gefühle der Kämpfer verletzen und ungünstig beeinflussen, wenn sie sehen oder davon hören, daß Volksgenossen mit Kriegsgefangenen verkehren, als ob sie nicht als Feind der Wehrmacht gegenübergestanden wären"19. Bis zum Inkrafttreten der oben erwähnten blankettausfüllenden Umgangsregelung war für die Strafbarkeit des Umgangs mit Kriegsgefangenen allein die zweite Alternative des § 4 I maßgeblich und somit ein "gröblicher" Verstoß des Umgangs gegen "gesundes Volksempfinden" vorausgesetzt, das strafbarkeitsbegründende Bedeutung hatte. Sachliche Abweichungen der Ergebnisse im Verhältnis zur später erlassenen Umgangsregelung ergaben sich daraus, soweit ersichtlich, nicht. Nach Sinn und Zweck der Verordnung mußte, so daß Reichsgericht, die zweite Alternative "scharf ausgelegt" werden20. Erfaßt wurden etwa das Tanzen mit

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Freisler/Grau/Krug/Rietzsch (1941), S. 274. Vgl. RG HRR 1941, Nr. 515. Rietzsch, in: Grau/Krug/Rietzsch2 (1943), S. 174; Gleispach I (1940), S. 34; Kohlrausch/Lange3* (1943), Anh. Nr. 39, § 4 Anm. zu a; Gallas, ZStW 59 (1940), 732; Nagler, GS 114 (1940), 202; Kallfelz, DR 1940, 1811; Waltzog, DR 1942, 946. S. auch die Empfehlungen in Richterbrief Nr. 7, bei Boberach (1975), S. 87. Vgl. Kallfelz, aaO; s. auch Richterbrief Nr. 7, aaO, S. 85 f., 94 f. Vgl. Waltzog, DR 1942,946. Vgl. Gleispach I (1940), S. 34; s. auch Freister, JDR 1940,513. Vgl. Kallfelz, DR 1940, 1811; Gallas, ZStW 59 (1940), 732; Kohlrausch/Lange3* (1943), Anh. Nr. 39, § 4 Anm. zu a. S. auch Richterbrief Nr. 7, bei Boberach (1975), S. 87, der den Vorrang des Schutzes vor Spionage-, Sabotage- und Fluchtgefahr betont. Gleispach I (1940), 34. Freister, JDR 1940, 513; Grau/Krug/Rietzsch2 (1943), S. 174; Nagler, GS 114 (1940), 201; Gleispach I (1940), 34. Grau/Krug/Rietzsch2 (1943), S. 174. RG HRR 1941, Nr. 515. Gleispach I (1940), S. 34. RG HRR 1941, Nr. 515.

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Kriegsgefangenen und das gemeinsame Aufspielen zum Tanz21 oder jede irgendwie geartete, nicht nur die "unzüchtige", körperliche Berührung zwischen einer deutschen Frau und einem Kriegsgefangenen22. Ein Verstoß gegen gesundes Volksempfinden wurde auch darin erblickt, daß eine Frau einen Gefangenen aus ihrer Flasche Bier trinken ließ23, wie überhaupt jede Art geselligen Verkehrs strafbar war24. Mit dem Erlaß der Umgangsverordnung trat die Bedeutung der zweiten Alternative weitgehend zurück25. Der dort vorausgesetzte "gröbliche Verstoß gegen gesundes Volksempfinden" erlangte aber für die Auslegung der Umgangsverordnung Bedeutung. Nachdem das Reichsgericht zunächst ohne Rücksicht auf das gesunde Volksempfinden jeden Verstoß gegen die Umgangsverordnung für strafbar erklärt hatte 26 , zog es in späteren Entscheidungen in besonders gelagerten Fällen die Verwerflichkeitsklausel der zweiten Alternative zur Strafbarkeitseinschränkung heran27. - Als schwerer zuchthauswürdiger Fall des § 4 wurde namentlich der Geschlechtsverkehr mit Kriegsgefangenen angesehen28. Praktisch bedeutsam war, daß auch die Taten von Ausländern erfaßt wurden29, vermutlich weil auch diese im räumlichen Geltungsbereich des deutschen Strafrechts der Spionage und Sabotage Vorschub leisten konnten. Die "richtige Handhabung" des § 4 wurde weitgehend dem richterlichen Ermessen überlassen. Schon die Spannweite des Strafrahmens von einem Tag Gefängnis bis zu 15 Jahren Zuchthaus machte die Verschiedenartigkeit der einbezogenen Sachverhalte deutlich. Richterliches "Fingerspitzengefühl" war unerläßlich, weil der "objektiv gefährliche" Umgang häufig aus "normalen" menschlichen "Versuchungen" erwachsen konnte und weil sich vielfältige Kontakte schon wegen der engen Zusammenarbeit der Zivilbevölkerung mit den im Arbeitseinsatz befindlichen Kriegsgefangenen - vor allem auf dem Land - ergaben. Der Richterbrief Nr. 6 vom 1. März 1943 hob die "besondere Schwierigkeit" der richterlichen Aufgaben hervor, betonte die besonders hohe Verantwortung" der Praxis und verwies den Richter auf den "besonderen kriegspolitischen Sinngehalt" der Vorschrift "in seiner jeweils gültigen, oft wechselnden Form": Der Maßstab für die Wertung von Unrecht und Schuld liege letztlich "in den politischen Notwendigkeiten, die damit auch den Sinn und Zweck des Gesetzes" bestimmten

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RG, aaO. RG HRR 1941, Nr. 614. Das aaO genannte Urteilsdatum - 25.11. 1939 - beruht offenkundig auf einem Druckfehler. RG DJ 1940,875. Zusf. Grau/Krug/Rietzsch2 (1943), S. 178; Kallfelz, DR 1940,1812 f.; Waltzog, DR 1942,948. Walbog, DR 1942,248. RG HRR 1942, Nr. 123 (Urt. v. 12.6.1941): Geschenke an Kriegsgefangene. RG DR 1943, 445* (Urt. v. 4. 1. 1943): Zurückweisung eines Liebesbriefs nicht strafbar. Die Entscheidung wird in Richterbrief Nr. 7 - ohne genaue Benennung - zustimmend besprochen, bei Boberach (1975), S. 82 und 89; s. auch DR 1943, 58421 (Urt. v. 4. 2. 1943). Zur Bedeutung des gesunden Volksempfindens vgl. auch Grau/Krug/Rietzsch2 (1943), S. 177 f. Vgl. Waltzog, DR 1942, 948; Kallfelz, DR 1940, 1813 m. Nachw.; Rietzsch, aaO, S. 180. Fallbeispiele und Straftaxen in Richterbrief Nr. 6, bei Boberach (1975), S. 83 ff., Hinweise aaO, S. 92 ff.; zu zwei Fallbeispielen aus der Praxis des SG Berlin Schimmler (1984), S. 85 ff. Rietzsch, aaO, S. 179. Zur Bestrafung (polnischer) Frauen im Generalgouvernement wegen Geschlechtsverkehr und zu den dabei verhängten hohen Zuchthausstrafen Majer (1981), S. 784 Fn. 334.

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und zu deren besserem Verständnis die Hinweise des Reichsjustizministers beitragen sollten30. § 4 WehrkraftschutzVO wurde von den Strafgerichten nach anfänglichen Zweifeln ausschließlich auf Kriegsgefangene, d. h. im Krieg gefangengenommene Soldaten angewendet. Eine im Schrifttum zunächst befürwortete analoge Erstreckung auf Zivilgefangene oder ausländische (polnische) Zivilarbeiter lehnte das Reichsgericht ab31. Das hieß freilich nur, daß entsprechende Verhaltensweisen ohne strafgerichtliche Sanktion blieben: Jenseits des § 4 WehrkraftschutzVO begann das Operationsgebiet der nationalsozialistischen Polizei, die in eigener Regie Umgangsverbote erließ und gegen ausländische Zivilarbeiter, aber auch gegen Deutsche, mit drastischen Mitteln vorging32. [Nr. 33] Verordnung gegen Gewaltverbrecher vom 5. Dezember 1939 1. Einführung Die Ministerratsverordnung1 richtete sich nach ihrem Titel gegen "Gewaltverbrecher" (GewaltverbrecherVO). Sie sah in § 1 für "Gewalttaten mit der Waffe" zwingend die Todesstrafe vor. § 2 erweiterte den "Schutz für Helfer bei der Verfolgung von Verbrechern" auf den Polizei- und Justizbeamten zukommenden Schutz2. § 4 ließ für das gesamte Strafrecht bei Versuch und Beihilfe die Vollstrafe zu. § 5 legte der Verordnung eine zeitlich unbegrenzte Rückwirkung bei, und § 3 sah die ausschließliche Zuständigkeit der Sondergerichte für Taten nach §§ 1, 2 GewaltverbrecherVO vor. Als rechtsstaatswidrig werden namentlich die - gerade auch für die Verhängung von Todesstrafe - vorgesehene Rückwirkung3 und die "willkürliche Auslegung" des § 1 durch die Rechtsprechung4 angesehen. Im folgenden sind zunächst die Zwecke der Verordnung zu skizzieren (dazu 2). Im Zentrum der Darstellung wird § 1 stehen, dessen Absatz 1 den Kern der Verordnung bildete (dazu 3, 4). Die Strafschärfung für Versuch und Beihilfe ist näher zu erörtern (dazu 5), das Verfahren, insbesondere zur Handhabung der Rückwirkung, einzubeziehen (dazu 6). Eine zu-

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Vgl. bei Boberach (1975), S. 87 und 87 ff. Für Analogie Freisler/Grau/Krug/Rietzsch (1941), S. 291 (für polnische Arbeitskräfte) und die in RG DR 1940,1836 , Urt. v. 18. 7.1940, zitierte Instanzentscheidung. Anders dann RG, aaO. Zust. Kohlrausch/Lange^ (1943), Anh. Nr. 39, zu § 4 WkSchVO S. 841 mit Nachw.; Grau/Kmg/Rietzsch2 (1943), S. 176 f.; eingehend Kallfelz, DR 1940,1812 mwN. Dazu 3. Teil E. RGBl. I, S. 2378. Zeichnung: Vors. des MfdRV Goring, GBV Frick, RMuChdRk Lammers (DreierKollegium). - Zur Todesstrafdrohung beachte MRG Nr. 1 Art. IV Ziff. 8: Damit wurde § 1 VO ungültig. Zur Fortgeltung des § 4 unten 5 bei Fn. 132,137. Vgl. § 113 III RStGB und § 1 des Ges. zur Gewährleistung des Rechtsfriedens v. 13. 10.1933 [Nr. 11] i. d. F. des Ges. v. 24. 4. 1934, RGBl. I, S. 341 (oben [Nr. 13], Art. VIII). Ein Verbrechen im technischen Sinne mußte der verfolgte "Verbrecher" nicht begangen haben; lediglich Fälle der "leichteren Kriminalität" sollten ausscheiden. Näher Schmidt-Leichner, in: Grau/Krug/Rietzsch1 (1943), S. 199 f.; Kohlrausch/Lange7* (1943), Anh. Nr. 40, § 2 Anm. II. Vgl. Eb. Schmidt (1965), S. 436; Schorn (1963), S. 73. Vgl. Majer (1981), S. 615 ff., 782; Kaul (1971), S. 171.

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sammenfassende Bemerkung zum Verhältnis von Gesetz und Richter schließt die Darstellung ab (dazu 7). 2. Die Zwecke der Gewaltverbrecherverordnung Die GewaltverbrecherVO sollte zur wirksamen Verbrechensbekämpfung die nach Erlaß der kriegsstrafrechtlichen Verordnungen noch verbliebenen strafrechtlichen Lücken schließen . Die VolksschädlingsVO wurde zur Bekämpfung schwerer Gewalttaten nicht für ausreichend erachtet, weil sie die Ausnutzung von Kriegsverhältnissen voraussetzte und somit nicht schlechthin jede während der Kriegszeit begangene Tat erfassen konnte. Wegen der generell "erhöhten Strafwürdigkeit jeder verbrecherischen Betätigung im Kriege" wollte man aber, so Gleispach, bei allen schweren Verbrechen "die Todesstrafe verfügbar haben"6. a) Generalprävention Den allgemeinen kriminalpolitischen Hintergrund der Verordnung faßte Gallas dahin zusammen, es solle "ein Ansteigen der Gewaltkriminalität" verhindert werden, die "erfahrungsgemäß in der Atmosphäre und den besonderen sozialen Bedingungen des Krieges einen günstigen Nährboden finde"7. Verwiesen wurde u. a. auf die kriegsbedingte Abwesenheit vieler einberufener Männer, "die sonst für die Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung im Innern des Reiches in der Lage sind"8. Der Kriegsbezug der GewaltverbrecherVO erschöpfte sich indes nicht in dieser Anknüpfung an die veränderte tatsächliche Lage. Ein engerer sachlicher Zusammenhang mit der Kriegsführung ergab sich aus der Erwägung, im Kriege sei eine Zunahme von Gewalttaten besonders gefährlich: Gewalttaten wirkten sich, so hieß es, "auf die allgemeine Rechtssicherheit und auf das Vertrauen in den Schutz der Rechtsordnung aus"9 und bedrohten damit die "Standfestigkeit der inneren Front"10. Diesen Schutz der inneren Front erklärte der Besondere Senat des Reichsgerichts in einer bereits 13 Tage nach Erlaß der Verordnung ergangenen Entscheidung zu einem für die Auslegung des § 1 maßgeblichen Leitgesichtspunkt 11 , den auch spätere Entscheidungen deutlich ansprechen, wenn sie die Auslegung der Verordnung an den "Kriegsbedürfnissen" orientieren 12 . Von diesen Ausgangspunkten war klar, daß die 5 6 7 8 9 10

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Vgl. Sommer, in: Freisler/Grau/Krug/Rietzsch (1941), S. 298; Pfimdtner/Neubert/Schäfer (1933 ff.), II c 23, Einf. zur VO und die parallelen Zwecke der VolksschädlingsVO [Nr. 29] 2. Gleispach I (1940), S. 25. Gallas, ZStW 60 (1941), 413; vgl. dazu auch Nagler, GS 114 (1949), 218; Gleispach I (1940), S. 25 und allg. S. 7 ff. RG DJ 1940, 69, 70 Urt. v. 18. 12. 1939. Vgl. ζ. B. auch Sommer, in: Freisler/Grau/Krug/Rietzsch (1941), S. 298; Kayser, DR 1940,345. Mittelbach, DR 1942,113. Gallas, ZStW 60 (1941), 413. Vgl. aus dem Schrifttum, dessen Tenor Gallas prägnant zusammenfaßt, ζ. B. Kayser, DR 1940, 345; Schmidt-Leichner, in: Grau/Kmg/Rietzsch2 (1943), S. 186; Pfundtner/Neubert/Schäfer (1933 ff.), II c 23, § 1 Anm. lf.; Nüse (1940), S. 9 ff.; Mittelbach, aaO. RG-BS-DJ 1940,69,70 (Urt. v. 18.12.1939). RG DJ 1941,996 ("schwere Gewalttat"). S. auch RGSt. 76,88.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

Verordnung einem erhöhten generalpräventiven Bedürfnis Rechnung tragen und mit der "drakonischen Härte ihrer Strafdrohungen"13 den beschriebenen Gefahren durch Abschrekkung entgegenwirken sollte14. Zum anderen wurde Generalprävention auch in dem positiven Sinne einer Stärkung des Sicherheitsgefühls der Allgemeinheit - und damit der Festigung der inneren Front - angestrebt15. b) Sühne Parallel hierzu wurde auf ein gegenüber Friedenszeiten erhöhtes Sühnebedürfnis verwiesen, wofür etwa folgende Erwägungen typisch waren: Die Volksgemeinschaft ringe um ihre Existenz und schließe sich zusammen, um alle Kräfte auf die Niederringung des äußeren Feindes zu konzentrieren; der Soldat setze an der Front sein Leben für die Volksgemeinschaft ein. Wer sich in dieser Lage seinen Pflichten entziehe und gar seinem Volk mit schweren Gewalttaten in den Rücken falle, "versündige" sich in besonderem Maße und verdiene härteste Strafe16. c) Die "Gewaltverbrecher" als Zielgruppe - "Reinigung" und "Ausmerzung" Die auf bestimmte Taten bezogenen Aspekte der Sühne und Generalprävention würden den der Verordnung beigelegten Sinn nur unvollständig beschreiben und eine ihrer wesentlichen Bestimmungen verfehlen: Die GewaltverbrecherVO richtete sich, wie Freisler unmittelbar nach ihrem Erlaß erläuterte, gegen "einen bestimmten Verbrechertyp, eben ... den Gewaltverbrecher7, also wie die VolksschädlingsVO gegen eine bestimmte Klasse von Menschen. Diese Zielrichtung der Verordnung komme u. a. in ihrer Überschrift und in § 1 Π in der Bezeichnung des Täters als "Verbrecher" zum Ausdruck18. In einem "modernen Gesetz" wie der GewaltverbrecherVO sei die Strafandrohung mehr "als die Mitteilung der Folge, die eine Tat haben soll". Sie trage darüber hinaus "wesentlich dazu bei, zu zeigen, welche Tätergruppen der Gesetzgeber" habe, "treffen" wollen19. Diese Zielrichtung wurde von der Rechtsprechung in ausdrücklicher Parallele zur VolksschädlingsVO anerkannt und ein bestimmter "Tätertyp", eben der "Gewaltverbrecher", als "Zielobjekt" der Verordnung angesehen20. Das Schrifttum teilte diese Auffassung ganz überwiegend. Bestritten wurde nicht der auf bestimmte Personengruppen gerichtete Zug der GewaltverbrecherVO, sondern seine dogmatische Einkleidung in die Tätertypenlehre und die daraus hergeleiteten Konsequenzen für die Anwendbar13 14 15 16 17 18 19 20

Gallas, ZStW 60 (1941), 413. In diesem Sinne ζ. B. Nagler, GS 114 (1941), 218; Nüse (1940), S. 11; Dohm, FS Siber (1941), S. 220 f.; Gallas, aaO. Dazu Gallas, aaO. Nagler, GS 114 (1941), 134. S. auch Nüse (1940), S. 11; Mittelbach, DR 1942,113; Gleispach I (1940), S. 7 f.; Pfundtner/Neubert/Schäfer (1933 ff.), II c 23, Einf. Freisler, DJ 1939,1852.; Hervorhebungen aaO. Freisler, aaO; s. auch Mezger, ZStW 60 (1941), 365,368. Freister, aaO. Vgl. RGSt. 75,110,111 mit Verweis auf RGSt. 74,199 und 239, dazu oben [Nr. 29] 2, 5a; 75, 292. S. ferner RG DJ 1941,996; DR 1943,4443; RGSt. 77,243 und 254 sowie unten 3c.

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keit der Verordnung21. Auch die in der Minderheit befindlichen Gegner des von der Rechtsprechung und der im Schrifttum h. M. anerkannten besonderen Tätertypenerfordernisses bezweifelten nicht, daß als "Träger" der mit der GewaltverbrecherVO bekämpften Gefahren in erster Linie bestimmte Personengruppen anzusehen seien, nämlich "vornehmlich die 'aktiv-gewalttätigen' Elemente des Gewohnheitsverbrechertums"22. Die Minderheitsauffassung stellte lediglich in Frage, daß sich die Verordnung die "Ausmerzung dieses kriminellen Tätertyps zur alleinigen Aufgabe gesetzt"23 habe oder daß es zur Verwirklichung der Verordnungszwecke der Heranziehung des tatbestandlichen Tätertyps bedürfe24. Nach einhelligem zeitgenössischem Verständnis klang also der Gedanke "der Ausmerzung und der Befreiung der Volksgemeinschaft von entarteten verbrecherischen Elementen" in der Verordnung "gegen Gewaltverbrecher" deutlich an25, auch wenn die strafrechtsdogmatische Relevanz und Verarbeitung dieser "Reinigung" offengelassen wurde. d) Dauerrecht oder Kriegsrecht?

Trotz ihrer kriegsrechtlichen Einkleidung enthielt die Verordnung mit der Strafschärfung für Versuch und Beihilfe zweifellos Dauerrecht. Fraglich war der Stellenwert des § 1. Die referierten Begründungen aus den Kriegsnotwendigkeiten (a, b) sprechen für einen kriegsrechtlichen Charakter. Der Zweck der "Ausmerzung" von "Gewaltverbrechern" (c) war dagegen von der Kriegslage durchaus unabhängig. Die zeitlich unbegrenzte Rückwirkung (§ 5) war ein weiteres Indiz, ja geradezu der Beweis für die friedensstrafrechtliche Eignung der Verordnung. So bezeichnete Freisler es als "offen", inwieweit die GewaltverbrecherVO Eingang in ein künftiges Friedensstrafrecht finden werde: Die Antwort hänge "ganz wesentlich von dem Maß ihrer Bewährung im Kriege ab". Wie die Antwort vermutlich ausgefallen wäre, wird der Entwurf eines RStGB 1944 zu erkennen geben26. 3. Die Voraussetzungen des § 11 Die Systematik des § 11 weist deutliche Parallelen zu den §§ 2 und 4 VolksschädlingsVO auf: Die Vorschrift setzte eine nach anderen Bestimmungen strafbare Grundtat voraus, die es beim Vorliegen bestimmter Voraussetzungen zur Gewaltverbrechertat mit der Folge zwingender Strafschärfung "aufstockte". Die Vorschrift lautete: "Wer bei einer Notzucht, einem Straßenraub, Bankraub oder einer anderen schweren Gewalttat Schuß-, Hieb- oder Stoßwaffen oder andere gleich gefährliche Mittel anwendet oder mit einer solchen Waffe einen anderen an Leib oder Leben bedroht, wird mit dem Tode bestraft". 21 Näher unten 3c. 22 So Gallas, ZStW 60 (1941), 413 in Anspielung auf die Formulierung Welzeis ("aktiv-gewalttätige Asoziale"), vgl. Gallas, aaO, 411 Fn. 56. 23 So Gallas, aaO. 24 Vgl. ζ. B. Klee, DStR 1943,14. 25 Vgl. Tegtmeyer (Reichsstellenleiter im Reichsrechtsamt der NSDAP), der insoweit von der "vielleicht wertvollsten Aufgabe" der GewaltverbrecherVO spricht. Zu Reinigung und Auslese vgl. schon oben im Zusammenhang der Volksschädlings VO [Nr. 29] 2,8,10. 26 Vgl. Freisler, JDR 1940,519; zum E RStGB 1944 4. Teil Β und zum E GFrG 1944 4. Teil AIV.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

Die Rechtsprechung und die wohl h. M. im Schrifttum nahmen - ähnlich wie bei der Volksschädlings VO - an, § 1 I bilde ein "Sonderdelikt", u. a. weil die Verurteilung nach dieser Vorschrift ihren Eigenwert im Abstempeln zum "Gewaltverbrecher" habe. Die Verurteilung sollte wegen Gewaltverbrechens oder als Gewaltverbrecher in Verbindung mit der Grundtat erfol-

a) Die "schwere Gewalttat" Den gesetzlichen Beispielen der Notzucht, des Straßenraubs und des Bankraubs wurde die "andere schwere Gewalttat" gleichgestellt. Damit erhielt § 1 I ein weites Anwendungsgebiet: Als Gewalttat sah man jede irgendwie unter Anwendung von Gewalt begangene Straftat an, ohne Rücksicht auf ihr strafrechtliches Gewicht. Die Gewalt konnte dabei schon gesetzliches Tatbestandsmerkmal der Grundtat sein, wie ζ. B. bei der Körperverletzung28, es genügte aber auch, wenn der Tatbestand in konkreter Ausführung unter Gewaltanwendung erfüllt wurde (konkrete Betrachtungsweise)29, was sogar schon bei der Androhung von Schlägen bei Begehung einer Tat ("psychischer Zwang"!) zutreffen sollte30. Die Grundtat brauchte zur Anwendbarkeit des § 11 nur versucht zu sein31. Einen Ansatzpunkt zur Ausscheidung weniger schwerer und nicht "todeswürdiger" Verstöße bot das "Schwere"-Erfordernis. Angesichts der in § 1 I genannten Beispiele schwerer Gewalttaten lag aufgrund der absoluten Todesstrafdrohung der Gedanke nahe, das Schweremerkmal am strafrechtlichen Gewicht der Notzucht sowie des Straßen- und Bankraubs zu orientieren32. Eine solche, den gesetzlichen Beispielen "ähnliche Artung" der Tat lehnte der Besondere Senat des Reichsgerichts früh ab und definierte als schwere Gewalttat "jede unter Anwendung von Gewalt verübte Tat, die nach den ganzen Umständen als verabscheuungswürdiger als sonstige Straftaten gleicher Art" anzusehen sei33. Eine spätere Entscheidung übernahm diese Begriffsbestimmung und fügte hinzu: "Das entscheidende Begriffsmerkmal ist das, ob nach den Bedürfnissen der Kriegszeit die Gewalttat als eine solche anzusehen ist, daß sie nach dem Willen des Gesetzgebers den Tod verdient"34. Der Begriff der "Schwere" und die erhöhte "Verabscheuungswürdigkeit" sollten anhand der nach "Kriegsbedürfnissen" zu bemessenden Todeswürdigkeit der Tat bestimmt werden. Dieser Ansatz bestimmte "die Auslegung des Gesetzes zwar vom Ergebnis her", sollte aber "einer teleologischen strafrechtlichen

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Vgl. Mittelbach, DR 1940, 1496; s. auch Mittelbach, DR 1942, 118; Schmidt-Leichner, in: Grau/Krug/ Rietzsch2 (1943), S. 198 jeweils mit Nachw. zur Rspr. und Lit. sowie zu den einzelnen Konkurrenzund den damit zusammenhängenden Tenorierungsfragen. Vgl. RG DJ 1941,9%. Allg. Meinung, vgl. zuerst Freister, DJ 1939, 1851 f. S. ferner Schmidt-Leichner, in: Grau/Krug/Rietzscfr (1943), S. 190; Klee, DR 1940,350; Nagler, GS 114 (1941), 224. Beispiel bei Schmidt-Leichner, aaO, S. 191. Vgl. RG DR 1940,12323; Schmidt-Leichner, aaO, S. 190 mit Nachw.; Schwarz12 (1943), Sonderteil Nr. 7, § 1 Anm. 1A (allg. Meinung). So ζ. B. Nagler, GS 114 (1940), 225. DJ 1940,69 f. (Urt. v. 18.12.1939). RG DJ 1941, 996 (Urt. v. 9. 5. 1941); s. auch RGSt. 76, 88. RGSt. 77, 243 scheint die Täterpersönlichkeit umfassend einbeziehen zu wollen, vgl. unten bei Fn. 40.

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Denkweise entsprechen"35. Einer solchen, an der Strafwürdigkeit orientierten Auslegung entsprach es, bei der Betrachtung der "Schwere" nicht nur objektive Tatmerkmale, wie die "Heftigkeit oder Rohheit der Gewalt" einzubeziehen, sondern auch "andere Umstände", wie ζ. B. den "Beweggrund" des Täters36, soweit sie die subjektive Tatseite kennzeichneten37. Für eine ergänzende Tätertypenfeststellung verblieben danach im wesentlichen nur diejenigen Umstände, die den "Täter als solchen" ohne unmittelbaren Tatbezug charakterisierten. RG DJ 1941, 996 rechnete hierher ζ. B. das Alter des Täters und etwaige Vorstrafen 38 . In dieser Entscheidung war aber mit dem Bezug auf die Rechtsfolge eine Konvergenz von Schwereerfordernis und Tätertypenbetrachtung angelegt, auch wenn die Rechtsprechung im ganzen am "zusätzlichen" Erfordernis der Tätertypenprüfung festhielt. In einem Urteil aus dem Jahre 1943 wird eine solche Gleichrichtung von Schwere- und Tätertypenerfordernis angedeutet, die der wechselseitigen Bestimmung der Verwerflichkeitsklausel bei § 4 VolksschädlingsVO durch das Tätertypenerfordernis - und umgekehrt - entspricht39: In RGSt. 77, 243, 244 heißt es, für das Vorliegen einer "schweren Gewalttat" sei die "Stärke der angewandten Gewalt ... nicht unbedingt entscheidend"; unter Umständen könne nämlich "schon bei nur verhältnismäßig geringer Gewaltanwendung ein 'Gewaltverbrechen' im Sinne des § 1 VO. vorliegen". Übergangslos heißt es dann weiter: "Es kommt auf den Plan, die Art und Weise der Ausführung der Tat, ihre Folgen und auf die Persönlichkeit der Täterin an". Sodann wird darauf hingewiesen, die "Wesensart eines Gewaltverbrechers" könne sich aus den Vortaten und der "brutalen Veranlagung" der Angeklagten ergeben40. Im Schrifttum wurde, teilweise im Anschluß an RG DJ 1940, 6941 und DJ 1941, 99642, teilweise im Zusammenhang einer Ablehnung des Tätertypenerfordernisses43, für die "Schwere"Beurteilung eine abschließende Gesamtwürdigung von Tatumständen und Täterpersönlichkeit befürwortet. Damit wurden alle Umstände, die üblicherweise bei der Bemessung einer konkreten Strafe innerhalb des vorgegebenen Strafrahmens maßgeblich waren, schon auf Tatbestandsebene berücksichtigungsfähig. "Tat und Täter" waren "ins Auge zu fassen"44. Dieser Ansatz ermöglichte eine an objektiven Erfordernissen ("Kriegsbedürfnissen") wie an Einzelfall und Einzelpersönlichkeit orientierte "flexible" Handhabung des § 1 I GewaltverbrecherVO und erlaubte ein "Vikariieren" von Tat- und Täterelementen innerhalb der erforderlichen Gesamtwürdigung, wie die Ausführungen Klees verdeutlichen: Das "auf der objektiven Seite Fehlende kann so ergänzt, ausgeglichen werden durch die subjektive Seite und umgekehrt kann die in die äußere Erscheinung tretende Schwere der Tat abgemildert werden

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Schmidt-Leichner, in: Grau/Krug/Rietzsch2 (1943), S. 186. RG DJ 1941,996. Nach Schmidt-Leichner, in: Grau/Krug/Rietzsch2 (1943), S. 191 sollte es sich bei den "anderen Umständen" um die "persönlichen Täterelemente" handeln. AaO. Auch der Alkoholeinfluß bei der Tat wird hierher gerechnet. Dazu [Nr. 29] 6d. Urt. v. 29.10.1943. So Klee, DStR 1943,15. So Schmidt-Leichner, in: Grau/Krug/Rietzsch2 (1943), S. 191. Vgl. Klee, DR 1943,14; s. schon DR 1940, 350 ff.; Schwank (1943), Sonderteil Nr. 7, § 1 Anm. 2 und ZAkDR 1941,108. Klee, DR 1940,352.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

durch Unreife und verhältnismäßig geringere Gefährlichkeit des Täters"45. Auf dieser Grundlage wollte man auch beim Vorliegen der als gesetzliche Beispiele genannten schweren Gewalttaten nur regelmäßig die GewaltverbrecherVO anwenden, im Einzelfall aber eine Verneinung der "schweren" Gewalttat zulassen46. So gesehen wurden also gegen den Gesetzeswortlaut nicht die ausdrücklich genannten Delikte richtungsweisend für die "andere schwere Straftat", sondern umgekehrt dominierte das Merkmal "schwere" die gesetzlichen Beispiele47. Die breite "Materialbasis" und den Wertungsspielraum des Richters bei der Schwere-Beurteilung hielt man für erforderlich, um die Leitfrage beantworten zu können, ob sich nämlich "der Täter ... als das Objekt darstellt, auf dessen Leib die Todesstrafdrohung zugeschnitten erscheint"48, ob "der betreffende Täter jetzt durch den Tod aus der Volksgemeinschaft ausgeschieden werden muß"49. b) Die Modalitäten der Tatausführung aa) Der "Waffen"-Begriff Der Begriff Waffen wurde von der Rechtsprechung im technischen Sinne des Waffengesetzes verstanden50. Das Waffengesetz behandelte als "Schußwaffen" u. a. Schreckschuß-, Gasund Betäubungspistolen und erfaßte auch die ungeladene Schußwaffe51. Das Reichsgericht schränkte diesen weiten (Schuß-)Waffenbegriff zunächst ein. Es leitete "aus dem Zweck der VO." und aus der Gleichstellung mit anderen "gleich gefährlichen Mitteln" das zusätzliche Erfordernis der Gefährlichkeit für Leib oder Leben im Einzelfall ab. Den Zweck der GewaltverbrecherVO erläuterte das Reichsgericht dahin, die Verordnung wolle vor besonders schweren Gewalttaten unter Benutzung besonders gefährlicher Mittel schützen. Angesichts der zwingend angeordneten Todesstrafe müsse eine sichere Beurteilungsgrundlage gefunden werden, die in der objektiven Gefährlichkeit der Waffe zu sehen sei52. Eine Schreckschußpistole53 oder eine ungeladene Pistole54 waren danach keine (Schuß-)"Waffen" und konnten allenfalls "gleich gefährliche Mittel" sein.

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Klee, DR 1940, 352; s. auch aaO, 353 und DStR 1943,14 f. Schmidt-Leichner, in: Grau/Krug/Rietzsch2 (1943), S. 192. Zur gleichen Einschränkungsmöglichkeit gelangte man im Ergebnis auch über das Tätertypenerfordernis, vgl. RGSt. 75,292 ff. und unten 3c, d. Klee, DR 1940,353. Schmidt-Leichner, in: Grau/Kiug/Rietzsch2 (1943), S. 188. RGSt. 74,281 ff. Vgl. im einzelnen dazu Sommer, DStR 1942,77. RGSt. 75, 243, 245 ff. (Hervorhebung G. W.); vgl. auch schon - obiter dictum - RGSt. 74, 281, 282.RGSt. 75, 243 betraf § 1 II, dessen Merkmal "mit Waffengewalt" aber i. S. der Tatmodalitäten des Abs. 1 interpretiert wurde, vgl. auch unten 4. RGSt. 75,243. So ein Urt. v. 10. 3.1942 (unveröffentlicht), zitiert in RGSt. 76,239,241.

C. Die zweite Phase: 1939 bis 1945

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Diese Rechtsprechung hatte keinen Bestand5S. RGSt. 76, 239 sah auch die nicht geladene Pistole als Schußwaffe an und berief sich ebenfalls auf den Gesetzeswortlaut, der zum Begriff der Schußwaffe gegenüber dem Waffengesetz keine Einschränkung im Sinne einer konkreten Gefährlichkeit enthalte. § 11 stelle nicht die Waffe den "anderen Mitteln", sondern diese für den Fall ihrer konkreten Gefährlichkeit der Waffe gleich56. Danach wurde auch die Drohung mit einer ungeladenen Schußwaffe als tatbestandsmäßig erfaßt. Eine nähere sachliche Begründung dafür gab die Entscheidung nicht57. Sie teilte lediglich mit, der dritte 58 und sechste59 Strafsenat hätten auf Anfrage erklärt, sie hielten an ihrer abweichenden Ansicht nicht fest. Interessant ist in diesem Zusammenhang eine Vermutung Schmidt-Leichners, wonach zwischen der Tatbestandsauslegung und dem Tätertypenerfordernis eine "Wechselbezüglichkeit" bestehen könne: Möglicherweise ging es dem Reichsgericht darum, im Sinne eines umfassenden Strafschutzes die tatbestandliche Umgrenzung weit zu halten, um alle "letztlich todeswürdigen Gewaltverbrecher" treffen zu können. Die erforderlichen "Korrekturen" konnten dann bei der "Tätertypenwertung" (oder, von einem abweichenden Ausgangspunkt, bei der Gesamtwürdigung von Tat und Täter im Rahmen des "Schwere"-Erfordernisses) erfolgen60. Die Ausweitung des Waffenbegriffs trug zweifellos zur Verwischung der Tatbestandsgrenzen bei, hatte umgekehrt aber den offenbar erwünschten Effekt, das Feld der "materiellen Gesamtbetrachtung" von Tat und Täter zu erweitern. bb) Die "gleich gefährlichen Mittel" Als gleich gefährliche Mittel wurden alle gefährlichen Werkzeuge im Sinne des § 223 a RStGB angesehen61, d. h. auf der Basis der damaligen Rechtsprechung zur gefährlichen Körperverletzung alle Gegenstände, mit denen durch mechanische Einwirkung auf den Körper eines anderen erhebliche Körperverletzungen zugefügt werden konnten62. Nach einhelliger Ansicht waren als "Mittel" im Sinne des § 1 I weitergehend auch chemisch wirkende Mittel, wie ζ. B. ätzende Flüssigkeiten oder Gase63, einzubeziehen. Gleiche "Gefährlichkeit" war nach allgemeiner Ansicht bei jeder Gefahr des Todes oder schwerer oder dauernder Körperverlet-

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Vgl. schon die eingehende Kritik bei Sommer, DStR 1942, 76 ff. und die Gegenkritik SchmidtLeichners, DStR 1942,83 ff. AaO, 241 f. Auch diese Entscheidung betraf § 1 II, dazu soeben Fn. 52. Die Entscheidung lehnte sich wohl an Sommer, aaO, an. Krit. Schmidt-Leichner, DR 1942,1791; Kohlrausch/Lange* (1943), Anh. Nr. 40, § 1 Anm. II. Vgl. insoweit die scharfe Kritik Schmidt-Leichners, aaO. RGSt. 75,243. Urt. v. 10.3.1942 (unveröffentlicht), zitiert bei RGSt. 76,239,241. Dazu Schmidt-Leichner, DR 1942, 1791 f. RGSt. 76, 239 verneinte bezeichnenderweise die Gewaltverbrechereigenschaft des Täters, vgl. DR 1942,179022 (insoweit in der amtl. Slg. nicht abgedruckt). Vgl. Schmidt-Leichner, in: Grau/Krug/Rietzsch2 (1943), S. 194 f. mit Nachw. Zum gefährlichen Werkzeug ζ. B. Schwarz12 (1943), § 223a Anm. 1; Kohlrausch /Lange3* (1943), § 223a Anm. 3. Vgl. Schmidt-Leichner, in: Grau/Krug/Rietzsch2 (1943), S. 194 mit Nachw.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

zungen anzunehmen64, doch sollte nach h. M. auch die Herbeiführung einer vorübergehenden Kampfunfähigkeit des Opfers genügen, ζ. B. bei der Verwendung von Betäubungsmitteln65. Von großer Bedeutung war die extensive Auslegung des Begriffs "Mittel" durch das Reichsgericht, die dazu beitrug, den Anwendungsbereich der GewaltverbrecherVO weit auszudehnen. Die Weichen stellte bereits die schon erwähnte, früh ergangene Entscheidung des Besonderen Senats des Reichsgerichts: Unter Berufung auf den Gesetzeszweck, eine Gefährdung der inneren Front durch Gewaltverbrecher zu verhindern, wurde eine Beschränkung auf "bestimmte Gegenstände oder Werkzeuge nach Art einer Waffe" abgelehnt und eine Tatbestandserfüllung schon dann bejaht, wenn "der Gewaltverbrecher ... in einer Art und Weise vorgeht und in diesem Sinne 'Mittel anwendet', die gleich gefährlich sind wie die Anwendung von Schuß-, Hieb- oder Stoßwaffen". Als entscheidendes Begriffsmerkmal hebt diese sprachlich etwas unglückliche Formulierung unzweideutig die gleiche Gefährlichkeit der Vorgehensweise hervor, die Art des Mittels spielt in der Definition keine Rolle. Immerhin werden in dem vom Besonderen Senat entschiedenen Sachverhalt - Aufschlagen des Kopfes auf ein senkrecht stehendes Brett, Schlagen mit einer Maurergießkanne, wahlloses Treten mit beschuhten Füßen - zur Unterstützung der bloßen Körperkraft noch gegenständliche Mittel eingesetzt66. Schon wenig später bezog das Reichsgericht jedoch das Würgen am Hals mit den bloßen Händen ein67 und erklärte bald ausdrücklich, eine Begrenzung des Tatbestandes auf "Mittel... die außerhalb des Körpers des Angreifers liegen ... würde dem Zweck der VO. zuwiderlaufen", die "bloße Anwendung der eigenen Körperkraft des Täters" könne als gleich gefährliches Mittel genügen68. Jede irgendwie geartete gefährliche Behandlung des Opfers durch den Täter wurde damit ohne Rücksicht auf den Einsatz gegenständlicher Hilfsmittel erfaßt, so ζ. B. das Greifen in die Augen69, der Faustschlag oder der Stoß mit der Faust70 ins Gesicht71 oder auf den Kopf72. Eine Entscheidung des Sondergerichts Klagenfurt, wonach der Gebrauch der bloßen Hand kein Mittel im Sinne des § 1 I GewaltverbrecherVO darstelle, blieb vereinzelt73.

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Vgl. Pfundtner/Neubert/Schäfer (1933 ff.), II c 23, § 1 Anm. 5; Schmidt-Leichner, aaO. So zuerst Freister, DJ 1939, 1852 f. Vgl. auch Schmidt-Leichner, aaO, S. 194 mit Nachw. Eingehend mit Nachw. auch Sommer, DStR 1942, 77 ff., der im Anschluß an Freister, aaO, jedes Mittel mit der Eignung, das Gelingen der Straftat zu fördern, regelmäßig für ausreichend erachtete, vgl. aaO mit Nachw. Nach Sommer, vertrat auch das RG implizit in zwei unveröffentlichten Entscheidungen diese Auffassung. Für Begrenzung auf Leibes- oder Lebensgefährdung jedoch RGSt. 75, 243, 245 (zum Waffenbegriff, "Schreckschußpistole"). Vgl. auch unten dd zur Drohung, für die eine wirkliche Gefahr nicht gefordert wurde (RGSt. 76, 239).

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Vgl. RG-BS-DJ 1940, 69, 70 (Urt. v. 18. 12. 1939); vgl. auch Boldt, DR 1941, 581, der die Verwendung von Hilfsmitteln körperlicher Gewalt für ausreichend erachtet.

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RG DJ 1940, 598 (Urt. v. 29.3.1940). RGSt. 74,281,283 (Urt. v. 12.9.1940). RG DJ 1941,996 (Urt. v. 9. 5.1941). RG DR 1943, 7914 (Leitsatz). SG Stuttgart, DR 1940, 4411; RG DR 1943,444 3 . SG Breslau, HRR 1942, Nr. 330. DR 1941, 579 (Urt. v. 5.11. 1940). Dazu Boldt, DR 1941, 581. - Keinesfalls kann aus dieser Entscheidung ein Gegensatz zwischen der Rspr. des RG und der Sondergerichte hergeleitet werden, vgl. aber - ohne weitere Belege - Majer (1981): Die Rspr. des RG soll "im Gegensatz zu der [!] Rechtspre-

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Es verwundert nicht, daß im Rückblick die Auslegung des Reichsgerichts als "über jede Gebühr" extensiv74 oder "willkürlich"75 bewertet wird. Freilich entging dem Reichsgericht vermutlich ebensowenig wie der zeitgenössischen Literatur, daß die Tatbestandsgrenzen im Hinblick auf die Tatmodalitäten "sehr weit gezogen" wurden76. Nur hielt man gerade diese Ausdehnung in Anbetracht des unterstellten Gesetzeszwecks zur Erfassung aller strafwürdigen Fälle für geboten77. Eine etwaige Überschreitung der Wortlautgrenze, die allerdings nach der Einschätzung des Reichsgerichts gewahrt wurde, hätte selbst bei Anerkennung ihres Vorliegens die zeitgenössische h. M. vermutlich wenig beeindruckt. Die Wortlautgrenze hatte als solche mit der Aufhebung des Analogieverbotes ihre Würde und Bedeutung sichtbar eingebüßt und konnte eine nach "Sinn und Zweck", verstanden wohlgemerkt im Sinne des nationalsozialistischen Gesetzgebers, erforderliche Auslegung nicht hindern. Die teleologische Auslegung konnte jederzeit im Ergebnis das Wortlautargument überspielen; Zweifel ergaben sich allenfalls im Hinblick auf die "Notwendigkeit" einer Anwendung des § 2 RStGB. Der Wortlaut ist nur als Indiz für den "materiellen Gehalt" des Gesetzes bedeutsam und hat keinen Eigenwert. Das beweist für den hier interessierenden Zusammenhang die zeitgenössische Kritik an der Rechtsprechung zum Begriff der Waffe und des gleich gefährlichen Mittels. Diese Kritik schiebt das naheliegende Wortlautargument nicht in den Vordergrund, sondern verwendet es nur als Stütze für die abweichende und als maßgeblich erachtete Deutung des Sinngehaltes des § 1 I GewaltverbrecherVO78. Als Gegengewicht gegen eine übermäßige Anwendung der Todesstrafe wurde für Fälle einfacher körperlicher Gewalt die "besonders sorgfältige" Prüfung des Charakters der Tat als "schwere Gewalttat" empfohlen79; gegebenenfalls konnte eine erforderliche Begrenzung auch durch die Verneinung der Tätertypeneigenschaft erreicht werden80.

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chung von Instanzgerichten [?]" gestanden haben (S. 616, Hervorhebungen G. W.). Vgl. nur die Sondergerichte Stuttgart und Breslau, Fn. 71 f. - Die wohl h. M. billigte die Rspr. des RG, vgl. Dalcke33 (1942), § 1 Anm. 7, S. 1776; Schmidt-Leichner, in: Grau/Kmg/Rietzsch2 (1943), S. 194 f.; Schwarz*2 (1943), Sonderteil Nr. 7, § 1 Anm. 1A a; Sommer, in: Freisler/Grau/Kmg/Rietzsch (1941), S. 303 und DStR 1942, 81 mwN; Nüse (1940), S. 35 f.; wohl mài Mittelbach, DR 1942, 116. Einschr. Boldt, DR 1941, 581 f., der das zutr. Auslegungsergebnis u. a. aus einer "Zusammenschau" von Tat und Täter gewönnen und nur besonders gefährliche, für "Gewaltverbrecher" bezeichnende Techniken ("erlernte Griffe", "Jiu-Jitsu"-Technik oder "amerikanische Krawatte") erfassen will. Gegen die Rspr. Kohlrausch/Lange3* (1943), § 1 Anm. II a. E. Kaul (1971), S. 171. Majer (1981), S. 782. So Schmidt-Leichner, in: Grau/Kmg/Rietzsch2 (1943), S. 195. Zur vergleichbaren Problematik beim Begriff der Schußwaffe vgl. schon oben bei Fn. 60; zur "Drohung" vgl. unten dd. Vgl. z. B. Kohlrausch/Lange3* (1943), Anh. Nr. 40, § 1 Anm. II; Boldt, DR 1941, 581 f. Bezeichnend Boldt, aaO, 582: Grundsätzlich soll der Körperteil keine Waffe sein; wenn aber ein Täter der in § 11 "vorausgesetzten Artung" handle, könne "umgekehrt ausnahmsweise eine weite Auslegung gerechtfertigt sein". Im parallelen Zusammenhang mit dem Waffenbegriff ("Schreckschußpistole") vgl. Schmidt-Leichner, DStR 1942, 83 ff., bes. 84 f. gegen Sommer, DStR 1942, 76 ff. und SchmidtLeichner, DR 1942,1790 gegen RGSt. 76,239.

79

Vgl. R G DJ 1941,996; Schmidt-Leichner,

SO

Dazu unten 3c.

in: Grau/Kmg/Rietzsch2

(1943), S. 195.

294

2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

cc) Die "Anwendungs"-Alternative Die Anwendung der Waffen setzte eine physische Benutzung voraus, bei Schußwaffen also ζ. B. die Abgabe eines Schusses81, um auf den Körper eines Menschen einzuwirken82. Entsprechendes galt für die "Anwendung" der gleich gefährlichen Mittel. Im Ergebnis war die Abgrenzung der "Anwendungs"-Alternative regelmäßig ohne Bedeutung, weil in allen zweifelhaften Fällen jedenfalls eine "Drohung" anzunehmen war83. dd) Die "Bedrohungs"-Alternative Die Bedrohungsalternative war einmal zur Erfassung der Sachverhalte bedeutsam, in denen es zur physischen Anwendung der Waffe oder des gleich gefährlichen Mittels nicht kam84. Umstritten war, ob der Täter die Drohung ernst meinen, d. h. zur Anwendung der Waffe oder des gleich gefährlichen Mittels entschlossen sein mußte, oder ob, wie bei den §§ 240, 241 RStGB, die Vorstellung des Täters ausreichte, das Opfer werde die Drohung ernst nehmen und ihre Verwirklichung fürchten. Das Reichsgericht schien zunächst der weiten Auslegung zu folgen, wenn es, wie der Zusammenhang der insoweit einschlägigen Entscheidung ergibt, den Willen des Täters, die ausgesprochene Drohung zu verwirklichen, für belanglos erklärte85. RGSt. 75, 243 hatte dann die Nichteinbeziehung von Schreckschußwaffen in den Waffenbegriff auf das Fehlen der für Schußwaffen charakteristischen Gefährlichkeit für Leib oder Leben gestützt und dementsprechend mangels einer wirklichen - oder wenigstens in der Tätervorstellung bestehenden - Gefahr für Leib oder Leben eine Drohung verneint86. Darin kam der allgemeinere Gedanke zum Ausdruck, der Täter müsse mit seiner Drohung Ernst machen wollen und - wenigstens nach seiner Annahme - können87. RGSt. 76, 239 verband das Absehen vom Erfordernis konkreter Gefährlichkeit für Leib oder Leben bei der Behandlung der ungeladenen Pistole als "Waffe" mit einer Auslegung der "Drohung" im Sinne der weiteren Auffassung: Danach genügte es, daß sich der Täter "bewußt gewesen ist, seine Drohung könne den Eindruck einer ernstlich gemeinten machen und daß er den Willen gehabt hat", in dem Opfer "Furcht vor der Verwirklichung der Drohung hervorzurufen"88. Das

81 82 83

84 85

86 87 88

RGSt. 76, 239,242 gegen Freister, DJ 1939,1853. RG DR 1940,12323. Vgl. RG aaO; Klee, DR 1940, 350; Schmidt-Leichner, in: Gmu/Krug/Rietzsch2 (1943), S. 195 f. Zum "Anwendungs'zeitraum, nämlich Ende der Vorbereitungsphase bis Tatbeendigung, ζ. B. SchmidtLeichner, aaO, S. 196; Pfiindtner/Neubert/Schäfer (1933 ff.), II c 23, § 1 Anm. 7 im Anschluß an Freister, DJ 1939,1852. Dazu soeben bei bb. Vgl. RG DR 1940, 12323 = DJ 1940, 536 (insoweit unvollst.) und dazu Sommer, DStR 1942, 82, ferner die bei Sommer zitierten (unveröffentlichten) Entscheidungen des RG v. 4. 4.1941 und 18.12. 1941. RGSt. 75,243,245. Vgl. Klee, ZAkDR 1942, 20. RGSt. 76, 239, 242. Vgl. schon Freister, DJ 1939, 1853 r. Spalte, 2. Abs.; Sommer, DStR 1942, 82; ebenso, aber für engen Waffenbegriff, Schmidt-Leichner, in: Grau/Krug/Rietzsch2 (1943), S. 196. Vgl. ferner Schwarz12 (1943), § 1 Anm. 1; Pfundtner/Neubert/Schäfer (1933 ff.), II c 23, § 1 Anm. 9;

295

C. Die zweite Phase: 1939 bis 1945

bedeutete: "Gewaltverbrecher" konnte auch sein, wer bei der zur Last gelegten Tat Leib oder Leben nicht wirklich angreifen oder gefährden wollte, sondern lediglich auf "Einschüchterung und Willensvergewaltigung" ausgingt. Der "Gewaltverbrecher" wurde in diesen Fällen also unabhängig vom Vorliegen eines Verbrechens mit konkret gewalttätiger Tendenz gedacht. Diese Konsequenz entsprach den gesetzgeberischen Absichten, wie Freisler sie erläutert hatte: Die Verordnung wolle "in erster Linie den Gewaltverbrecher treffen und vernichten", gehe also "über den Individualschutz des Opfers der Gewaltanwendung hinaus" und sei deshalb auch anwendbar, wenn dies unter dem Gesichtspunkt des Individualschutzes nicht erforderlich sei, sofern es sich eben bei dem Täter um die Persönlichkeit eines Gewaltverbrechers handle 90 . "Mißgriffe" konnten, so die ergänzende Argumentation Sommers, auch hier durch das Erfordernis abschließender "Tätertypenprüfung", die in solchen Fällen besondere Aufmerksamkeit erfordern sollte, vermieden werden 91 . c) Das Tätertypenerfordernis Die GewaltverbrecherVO stellte die Auslegung vor vergleichbare praktische und konstruktive Probleme wie die VolksschädlingsVO: Der Begriff der Gewalttat und die Modalitäten der Tatausführung begrenzten - jedenfalls in ihrer Handhabung durch die Rechtsprechung den Anwendungsbereich des § 1 I nicht annähernd auf die für todeswürdig erachteten Fälle. Das Merkmal "schwere" Gewalttat bot einen möglichen Ansatzpunkt für erforderliche Korrekturen, ähnlich wie die Verwerflichkeitsklausel bei § 4 VolksschädlingsVO. Die überwiegende Auffassung sah das erforderliche Korrektiv aber nicht - mindestens nicht in erster Linie - in dem "Schwere"-Merkmal, sondern vor allem in dem Erfordernis, der Täter müsse dem Typ des "Gewaltverbrechers" entsprechen. Die h. M. konnte sich dabei namentlich auf die Gesetzesüberschrift, den in § 1 II angesprochenen "Verbrecher" 92 und den Willen des Gesetzgebers berufen, wie Freisler ihn erläutert hatte 93 . Freisler führte aus, es sei nicht anzunehmen, der Gesetzgeber habe schlechterdings jede Gewalttat mit dem Tode bestrafen wollen; so sei insbesondere keine generelle Gleichstellung des Totschlags mit dem Mord beabsichtigt gewesen. Vielmehr sei in allen Fällen schwerer Gewalttaten regelmäßig zu prüfen, ob sich der "Täter durch die Tat als 'Gewaltverbrecher' erwiesen" habe, den Freisler auch als den typischen "Gangster" bezeichnete und dem die GewaltverbrecherVO gelte94. Als ein solcher Gewaltverbrecher könne sich der Täter allerdings sehr wohl auch allein durch die Tat erweisen. Dies gelte im Falle der gesetzlichen Beispiele, Notzucht sowie Straßen- und Bankraub, zwingend und ebenso bei gleichgearteten und gleich schweren Gewalttaten. Nur in diesen

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Mittelbach, DR 1942, 116; Kayser, DR 1940, 347. A. M. Kohlrausch /Lange* (1943), Anh. Nr. 40, § 1 Anm. II. So Kohlrausch /Langex, aaO, in krit. Absicht. Freisler, DJ 1939,1853; vgl. im Anschluß an Freisler Sommer, DStR 1942, 79. DStR 1942,83. Zu den einzelnen Argumenten vgl. Mezger, ZStW 60 (1941), 365,368. DJ 1939,1852. Vgl. schon oben 2c. Die Ausdrücke "Gangster" oder "gangsterartig" "geisterten" in der Folgezeit durch die Literatur, so Schwarz, ZAkDR 1941, 108. Vgl. ζ. B. Kayser, DR 1940, 345 oder SG Stuttgart, DJ 1940, 441 ("typische Gangstermethode").

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

Fällen erübrige sich eine besondere Prüfung der Gewaltverbrechereigenschaft95. Die von Freisler dargelegte Anerkennung eines "Tätertyps" setzte sich in der Folge in der Praxis durch. aa) Die Rechtsprechung des Reichsgerichts Die Rechtsprechung des Reichsgerichts konnte in den ersten Entscheidungen zur GewaltverbrecherVO die Tätertypenfrage ausdrücklich offenlassen, da die Angeklagten nach den Entscheidungsgründen ohnehin als Gewaltverbrecher anzusehen waren96. RGSt. 75, 110,III 97 anerkannte dann ausdrücklich, die Verordnung finde nur auf "Gewaltverbrecher" Anwendung. Die Richtigkeit dieser Ansicht ergebe sich aus "denselben Erwägungen", die dazu geführt hätten, "die Anwendung der Strafvorschriften der VolksschädlingsVO. auf den Täter zu beschränken, der nach seiner Persönlichkeit und dem ganzen Sachverhalt als 'Volksschädling' anzusehen" sei. Verwiesen wurde dabei auf RGSt. 74, 199 und 239^ und betont, die "Eigenschaft eines Gewaltverbrechers" werde sich in Fällen des § 1 I "meist schon aus der Art und der Richtung der schweren Gewalttat ergeben". Daneben seien aber auch die "sonstigen Umstände, ζ. B. die Person und das Vorleben des Täters, zu berücksichtigen"99. RGSt. 75, 292 faßte wenig später die Rechtsprechung zum Tätertyp des Gewaltverbrechers zusammen100 und bezog namentlich den in RGSt. 75, 110 enthaltenen Verweis auf die Rechtsprechung zur VolksschädlingsVO ein. Zur Begründung heißt es ergänzend, die Notwendigkeit des zusätzlichen Tätertypenerfordernisses erwachse daraus, daß nicht jede Tatbestandsverwirklichung zur Verurteilung als Gewaltverbrecher führen dürfe. So sei es offenkundig, daß ζ. B. "ein Totschlag, den ein überraschend von der Front auf Urlaub heimkommender, nicht bestrafter und als Soldat mehrfach ausgezeichneter Ehemann in der Empörung darüber 'versucht', daß er einen daheimgebliebenen Mann beim Ehebruche mit seiner Frau überrascht", nicht "ohne weiteres dem Morde gleichzustellen und mit dem Tode zu bestrafen" sei. Da auch bei den ausdrücklich im Gesetz genannten Beispielsfällen "besondere Umstände" des Einzelfalles vorliegen könnten, gelte das Tätertypenerfordernis für alle Fälle des § 1 I101. Zusammenfassend heißt es, die Tatbestandsverwirklichung allein führe noch nicht zur Verurteilung als Gewaltverbrecher, vielmehr komme es "stets darauf" an, "ob sich aus der Tat, insbesondere aus der Art und Weise ihrer Ausführung, und ihren Folgen oder aus der Persönlichkeit des Täters 95 96

Vgl. Freisler, DJ 1939,1852. RG-BS-DJ 1940,69,70 (Urt. v. 18.12.1939); DJ 1940,598 (Urt. v. 29.3.1940); DR 1940,1232 3 = DJ 1940, 736 (Urt. v. 6. 5. 1940); vgl. auch die eingehende Täterwürdigung" bei SG Stuttgart, DJ 1940, 441. Für Tätertypenerfordernis schon SG Klagenfurt, DR 1941, 579 (Urt. v. 5.11.1940) unter Berufung auf Freisler, DJ 1939, 1852 (wohl i. S. d. "kriminellen" Tätertyps: "Veranlagung", "Vorleben", "Charakter" sollen entscheidend sein). S. auch SG Breslau, DJ 1940, 247 (Urt. v. 16.1.1940). 97 Urt. v. 3. 2.1941. 98 Vgl. [Nr. 29] 5a bei Fn. 115 f. 99 RGSt. 75, 110, 111. Der zuletzt zitierte Satz bezieht sich auf § 1 II, der aber wie § 1 I denselben Tätertyp des "Gewaltverbrechers" voraussetzen sollte. 100 AaO, 293. Vgl. neben den zitierten Entscheidungen die dort erwähnte unveröffentlichte Entscheidung des RG v. 4. 4. 1941, C 13/41 (4 StS 4/41), die bereits das Tätertypenerfordernis aufgestellt habe. 101 Α. M. Freisler, DJ 1939,1852.

C. Die zweite Phase: 1939 bis 1945

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ergibt, daß er ein 'Gewaltverbrecher' ist". Diese Formel lehnte sich deutlich an die zur VolksschädlingsVO entwickelte an102, bezog aber ausdrücklich auch die Folgen der Tat als Indiz für die Gewaltverbrechereigenschaft ein. Einen Widerspruch zur Rechtsprechung zur VolksschädlingsVO bedeutete dies allerdings nicht, da man ohnehin die sachlichen und persönlichen "Gesamtumstände" der Tat, zu denen auch die Tatfolgen gehören, als Grundlage für die Tätertypenwertung ansah. Das Erfordernis der Gewaltverbrechereigenschaft des Täters wurde in ständiger Rechtsprechung vom Reichsgericht beibehalten103. Ähnlich wie hinsichtlich der VolksschädlingsVO nahm das Reichsgericht an, schon die Tat allein104, und sei es auch die erste105, könne den Täter als Gewaltverbrecher kennzeichnen, d. h. eine Beschränkung auf den "kriminologischen" Tätertyp erfolgte nicht. Ebensowenig wurde eine Begrenzung auf ausschließlich tatbestandliche Tätertypenelemente vorgenommen, wie sich daran zeigt, daß eine "Gesamtwürdigung" aller Umstände erfolgen sollte. Unter dem "Sammelbegriff 106 Tätertyp firmierte also, wie bei der VolksschädlingsVO, eine "vikariierende" Betrachtung von Tat und Täter in dem Sinne, daß ein "Plus" auf der einen Seite jeweils ein "Minus" auf der anderen ausgleichen konnte107. bb) Stellungnahme des Schrifttums Das Schrifttum billigte das Tätertypenerfordernis ganz überwiegend108, wobei der 'Tätertyp" teilweise in einem durchaus unterschiedlichen Sinne verstanden wurde. Die strikte Begrenzung auf einen "tatbestandlichen" Tätertyp beispielsweise109 kennzeichnete die Vorgehensweise der Rechtsprechung nur unzulänglich. Soweit ein besonderes Tätertypenerfordernis abgelehnt wurde, sind zwei Tendenzen zu unterscheiden. Die eine ablehnende Richtung verstand § 1 GewaltverbrecherVO im Sinne einer Tattypik und konzidierte zwar personale Züge, lehnte aber ein "Austauschverhältnis" von Tat- und Täterelementen ab110. Immerhin wurde auch hier die personale Seite der Tat betont und gefordert, die Tat selbst müsse "zugleich als Ausdruck einer besonders gewalttätigen, brutalen, rohen Willenshaltung" erscheinen111. Die andere Richtung suchte das Tätertypenerfor102 Vgl. RGSt. 74,321 [Nr. 29] 5a Fn. 121. 103 Vgl. z. B. RG DJ 1941,996; DR 1942,1790 22 (in RGSt. 76,239 insoweit nicht abgedruckt); RGSt. 77, 254; DR 1943,444 3 . Zusf. zur Rspr. Mittelbach, DR 1942,116 ff. mwN. 104 RG DJ 1941,996. 105 RGSt. 77,254; s. schon Freister, DJ 1939,1852. 106 Vgl. Schmidt-Leichner, DStR 1942,85: "Sammelkorrektiv". 107 Vgl. Schaffstein, DStR 1942,39. 108 Vgl. Schaffstein, DStR 1942, 34 f.; Freister, DJ 1939, 1852 und JDR 1940, 520; Pfundtner/Neubert/ Schäfer (1933 ff.), II c 19, § 1 Anm. 1, 2; Nüse (1940), S. 35 und ders., DJ 1941, 359 f.; Gleispach I (1940), S. 25 f. und ders., DStR 1941,2; Mezger, ZStW 60 (1941), 368; Schickert, DR 1940,122; Kayser, DR 1940, 345; Boldt, DR 1940, 582; Sommer, in: Freister/ Grau/Krug/Rietzsch (1941), S. 298 f.; Schmidt-Leichner, in: Grau/Krug/Rietzsch2 (1943), S. 186 f. (zurückhaltend). S. auch Wetzet ("aktivgewalttätige Asoziale") und dazu Gallas, ZStW 60 (1941), S. 411 Fn. 56; Mittelbach, DR 1942, 113 und DR 1941,242 f. 109 Vgl. etwa Nüse, DJ 1941,359 f. 110 So Gallas, ZStW 60 (1941), 410 ff.; s. auch Nagler, GS 114 (1941), 222 ff. 111 Gallas, aaO, 415 f.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

demis letztlich als "überflüssig" zu erweisen und verlagerte bei weitgehender sachlicher Übereinstimmung die mit dem "Tätertyp" bezeichneten Erwägungen in das Merkmal der "Schwere" der Gewalttat. So betonen Klee und Schwarz übereinstimmend, die Gesamtumstände, d. h. Sachumstände und Täterpersönlichkeit, müßten über die Anwendbarkeit des § 1 I entscheiden112. Klee hebt hervor, die "schwere Gewalttat hänge von der Strafwürdigkeit der Täterpersönlichkeit ab"113 und befürwortet ein "Austauschverhältnis" von Tat- und Täterelementen 114 . d) Tat, Täter und Todesstrafe Die Kontroversen um den Tätertyp kreisten um das Verhältnis von Tat, Täter und Todesstrafe. Für die praktischen Konsequenzen, die ohnehin von der Rechtsprechung und nicht in der akademischen Diskussion gezogen wurden, war die Wahl des dogmatischen Ansatzpunktes - Schwere der Gewalttat oder Tätertyp - im Ergebnis belanglos: Es gab gewisse objektive Mindestvoraussetzungen, die erfüllt sein mußten, damit § 1 I GewaltverbrecherVO anwendbar wurde. Diese Voraussetzungen waren im Begriff "Gewalttat" und in den Ausführungsmodalitäten enthalten. Dieser erste, in den Tatbestand eingebaute "Filter" war sehr durchlässig, wie die bisherigen Darlegungen gezeigt haben. Bei Erfüllung dieser vergleichsweise niedrig angesetzten Mindestvoraussetzungen trat die Täterpersönlichkeit ins Blickfeld: Sie spielte schon beim "Schwere"-Erfordernis eine bedeutende oder sogar, je nach Ausgangspunkt und Sachlage, bestimmende Rolle und forderte namentlich bei der Tätertypenbetrachtung ihr Recht. Tatelemente und Täterelemente waren innerhalb des durch die Tatbestandsfassung gezogenen weiten Rahmens im Wege einer Gesamtbetrachtung zu werten und traten in ein Austauschverhältnis115. Ob die vikariierende Gesamtwertung bei der Tatschwere oder beim "Tätertyp" erfolgte oder ob man sie auf beide Merkmale verteilte116, war ohne durchgreifende sachliche Bedeutung und allenfalls Indiz einer Akzentsetzung mehr auf die Tat oder mehr auf den Täter. Der Sache nach wurden alle im üblichen Sinne strafzumessungsrelevanten Umstände berücksichtigungsfähig. Die Leitfrage, um deren Beantwortung es der "Gesamtbetrachtung" ging und die ihr einheitsstiftendes Moment ausmachte, wurde von der Rechtsfolge der absoluten Todesstrafe vorgegeben: Der Richter mußte in jedem Einzelfall entscheiden, ob "dieser Täter nach den besonderen Umständen, die in der Person und in der Sache liegen ... zu dem Kreise von Verbrechern" gehörte, "die nach ihrer Persönlichkeit allein der Todesstrafe würdig sind". Das Reichsgericht stellte diese Frage ausdrücklich in den Zusammenhang der Tätertypenwertung117. Für die Schwere der Gewalttat sollte ebenfalls die nach Kriegsbedürfnissen zu bemessende Todeswürdigkeit das entscheidende Kriterium liefern118. Die einheitliche Strafdrohung und die Handhabung der GewaltverbrecherVO nach dem Gesichtspunkt der Strafwürdigkeit des konkreten Einzelfalls und Täters bildeten den in112 Schwarz12 (1943), Sonderteil Nr. 7, § 1 Anm. 2 und ZAkDR 1941,108; Klee, DStR 1943,14 f. und DR 1940,353. 113 DStR 1943,15. 114 DR 1940,352. Vgl. auch Zawar, DStR 1943,42 ff. und dazu oben [Nr. 29] 5b bb. 115 Pointiert Schaffstein, DStR 1942,39. 116 Vgl. z. B. RG DJ 1941,996. 117 RGSt. 75,110,112. 118 RG DJ 1941, 996.

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neren Grund für die (mögliche) Gleichrichtung von Tatschwere und Tätertypenerfordernis: Die "Schwere" der Tat erforderte eine Berücksichtigung der Täterpersönlichkeit; die Tätertypenfeststellung war ohne eine Einbeziehung der Tatschwere nicht möglich119. Diesen Befund hat Schmidt-Leichner im Ministerialkommentar eingehend demonstriert und deshalb von beiden Ausgangspunkten eine zutreffende richterliche Entscheidung für möglich erklärt. Jede Methode berge andererseits gewisse Gefahren: Das Ausgehen vom Tätertypgedanken könne eher allzu große Milde begünstigen, die Tatwertung umgekehrt leichter zu einer zu weiten Ausdehnung der Verordnung führen. Die jeweils möglichen Fehlerquellen könne der Richter ausschalten, indem er sich "in jedem Einzelfall" frage, "ob der betreffende Täter jetzt durch den Tod aus der Volksgemeinschaft ausgeschieden werden" müsse120. Diese Erwägungen zeigen, daß bei der GewaltverbrecherVO, deutlicher als bei der VolksschädlingsVO, die (in jedem Einzelfall anhand aller einschlägigen Strafzumessungsgründe festzustellende) Strafwürdigkeit den Ausschlag für die Tatbestandsanwendung geben sollte. Die im Zusammenhang der VolksschädlingsVO mitgeteilten konstruktiven Erwägungen Zawars, die spezifische Strafwürdigkeit der Tat als "schwere Gewalttat" und des Täters als "Gewaltverbrecher" sei (korrektives) Element des Tatbestandes, beanspruchen also Aufmerksamkeit. Die von Zawar befürwortete Begrenzung auf "spezifische" Strafwürdigkeitserwägungen ist allerdings aus dem Ansatz der Rechtsprechung nicht ersichtlich, die vielmehr gerade auf eine umfassende Gesamtbetrachtung ausgeht. Wollte man die Kriterien der Rechtsprechung in Zawars Konstruktionsmodell übersetzen, müßte der Inbegriff der "Gesamtumstände" von Tat und Täter als "Tatbestandsmerkmal" angesehen werden. Ob eine solche Begriffsbildung überhaupt einen strafrechtsdogmatischen Sinn ergäbe, ist hier nicht zu erörtern. Unsere hypothetische Erwägung verdeutlicht aber, wie sich angesichts der erforderlichen Gesamtabwägung die Tatbestandsgrenzen auflösen: Tatbestand und Rechtsfolge verschmelzen. Eine Verweisung der "Gesamtbetrachtung" aus dem Tatbestand in das (zusätzliche) Tätertypenerfordernis bedeutete demgegenüber nur eine terminologische Kosmetik, keine Festigung der Tatbestandsgrenzen als abschließender Unrechtstypisierung. Zugespitzt formuliert: Auf der Basis der praxisleitenden "Gesamtbetrachtung" ist die Tatbestandserfüllung Resultante der verdienten Strafe 121 . Verdient der Täter für diese Gewalttat als Gewaltverbrecher jetzt den Tod? Das war die entscheidende Frage.

4. Die Voraussetzungen des § 1 II § 1 II bestimmte lapidar: "Ebenso" - nämlich wie nach § 11 der Verordnung mit dem Tode - "wird der Verbrecher bestraft, der Verfolger mit Waffengewalt angreift oder abwehrt". Die äußeren Voraussetzungen des § 1 II bildeten ebenfalls nur einen äußerst groben Filter: § 1 II sprach vom verfolgten "Verbrecher", doch wurde daraus nicht die Konsequenz abgeleitet, der Täter müsse etwa eine schwere Gewalttat im Sinne des § 11 oder auch nur ein Verbrechen im technischen Sinne begangen haben. Vielmehr sollte "jede andere Straftat" als Strafbarkeits-

119 Vgl. RGSt. 77,243 (bei Fn. 40). 120 Schmidt-Leichner, in: Grau/Krug/Rietzsch2 (1943), S. 187 f. 121 Zu Zawars Ansatz [Nr. 29] 5b bb.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

Voraussetzung genügen122. Gleichgültig war auch, wann die Straftat begangen worden war, so daß nicht nur der auf frischer Tat ertappte, sondern beispielsweise auch der aus dem Strafvollzug geflüchtete "Verbrecher" erfaßt wurde123: Das "Todeswürdige" erblickte § 1 II nicht in der vorangegangenen Straftat, sondern in dem mit Waffengewalt begangenen Angreifen oder Abwehren des Verfolgers124. Das Merkmal "Waffengewalt" wurde im Sinne der Ausführungsmodalitäten des Absatz 1 verstanden, also unter Einbeziehung der gleich gefährlichen Mittel und der Bedrohungsalternative125. Auf dieser Basis hatte § 1 II ein äußerst weites Anwendungsfeld, so daß sich sogar Ungereimtheiten im Blick auf Absatz 1 ergeben konnten, der immerhin eine "schwere" Gewalttat voraussetzte126. Ein Gegengewicht wurde einmal dadurch geschaffen, daß man eine "erhebliche" Straftat verlangte127. Insbesondere aber konnte die Prüfung der "Verbrecher"-Eigenschaft, nämlich die Einordnung des Täters als Gewaltverbrecher, die notwendigen Einschränkungen gewährleisten: Die unerläßliche Qualifizierung des Täters als "Gewaltverbrecher" richtete sich "in erster Linie nach der Ausführung der Tat, durch die der Täter seine Verfolger abwehrt, insbesondere nach der Schwere des Angriffs", daneben aber auch nach der "Täterpersönlichkeit"128. Zur näheren Ausfüllung dieses Tätertypenerfordernisses kann auf die entsprechenden Darlegungen zu § 11 verwiesen werden129. 5. Die Strafschärfung für Versuch und Beihilfe Im Gewände der GewaltverbrecherVO130 brachte § 4 mit der Strafschärfung für Versuch und Beihilfe vorweggenommene Strafrechtsreform: Anstelle der bis dahin obligatorischen Strafmilderung für Versuch und Beihilfe sollte "allgemein die Strafe zulässig" sein, "die für die vollendete Tat vorgesehen ist". Diese nur fakultative Strafmilderung galt für das gesamte Strafrecht ("allgemein")131, so daß die nicht formell geänderten §§ 44 I, 49 II RStGB sich insoweit in geltungslose Texte verwandelten. § 4 GewaltverbrecherVO wurde dann 1943 in das RStGB eingearbeitet132.

122 So RGSt. 75, 110, 111; vgl. auch Freister, DJ 1939, 1853; Schmidt-Leichner, in: Grau/Krug/Rietzsch2 (1943), S. 197. 123 Vgl. Freister, aaO; Schmidt-Leichner, aaO. 124 Vgl. Freister, aaO; Sommer, in: Freister/Grau/Krug/Rietzsch (1941), S. 305; Schmidt-Leichner, aaO. 125 RGSt. 76,239,240 f.; Schmidt-Leichner, aaO, S. 198. 126 Zu möglichen Friktionen Kohlrausch/Lange3* (1943), Anh. Nr. 40, § 1 Anm. IV und SchmidtLeichner, in: Grau/Krug/Rietzsch1 (1943), S. 197. 127 So RGSt. 76,239,240. 128 RGSt. 75,110,111. 129 Vgl. soeben 3c, d. Zusf. zu § 1 II vgl. auch Kohlrausch/Lange™ (1943), Anh. Nr. 40, § 1 Anm. IV mit krit. Tendenz gegenüber der h. M. 130 Krit. zur dadurch bedingten Unübersichtlichkeit Gleispach I (1940), S. 44. 131 Einhellige Meinung, vgl. nur RG DJ 1940, 156; Gleispach, aaO; Sommer, in: Freisler/Grau/Krug/ Rietzsch (1941), S. 308; Freister, DJ 1939,1856; Pfundtner/Neubert/Schäfer (1933 ff.), II c 23, S. 5 f. 132 [Nr. 49] 13.

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C. Die zweite Phase: 1939 bis 1945

Die wesentliche praktische Bedeutung der Neuregelung lag darin, daß sie bei Versuch und Beihilfe die Verhängung der Vollstrafe, also namentlich der Todesstrafe, ermöglichte133. Die wesentliche Aussage des § 4 war das Bekenntnis zum "Willensstrafrecht", dessen Programmatik für einen wesentlichen Teilbereich verwirklicht wurde: § 4 ermöglichte es dem Richter, künftig die Strafe "nach dem Maß der Willensschuld zu bestimmen; auf den vielfach von Zufälligkeiten abhängigen Eintritt des Erfolges soll es künftig nicht mehr ankommen"134. Das Strafrecht konnte nunmehr, wie die Begründung zum E 1936 ausgeführt hatte, "den eigentlichen Friedensstörer, den Feind, der mit den Waffen des Strafrechts zu bekämpfen ist", nämlich den "betätigten bösen Willen" mit voller Schärfe treffen 135 . Die gesetzliche Privilegierung des "aus grobem Unverstand" untauglichen Versuchs, die § 7 III S. 2 E 1936 noch vorgesehen hatte, erschien der GewaltverbrecherVO als filigranes Detail, das übergangen wurde: Der Verordnung kam es darauf an, den Richter freizustellen und ihm den Griff nach der Höchststrafe zu ermöglichen136. Die Regelungen des § 4 GewaltverbrecherVO überdauerten wegen ihres "nicht typisch nationalsozialistischen"137 Charakters die Entnazifizierung des Strafrechts der Westzonen und der Bundesrepublik und wurden auch vom "Bereinigungsgesetz" 1953 beibehalten. Der amtliche Entwurf äußert sich nicht zu den Gründen. Nach einer Bemerkung des Referenten durfte das Verbleiben der Kann-Milderung beim Versuch jedoch "von der Seite der Bundesregierung her als Neigung zu einem wenn auch gemäßigten Täterstrafrecht gesehen werden"138. 6. Verfahren Die zwingend vorgesehene Sondergerichtszuständigkeit für Straftaten nach § 1 der Verordnung (§ 3) bezweckte eine effektive Verbrechensbekämpfung durch "blitzartige Aburteilung" und Vollstreckung139 und lag damit auf der Linie der materiellen Zwecke. Die Handhabung der zeitlich unbegrenzten Rückwirkung (§ 5) wurde für Straftaten vor dem 1. September 1939 Richter und Staatsanwaltschaft überlassen140: Die rückwirkende Anwendung der Verordnung durch das Gericht setzte in diesen Fällen die Zustimmung der Staatsanwaltschaft voraus, die nur ausnahmsweise und nur nach vorherigem Bericht an das Reichsjustizministerium erteilt werden sollte141. Die Strafmöglichkeiten für "Gewaltverbrecher" (§ 1) und für Versuch und Beihilfe (§ 4) wurden also nach Zweckmäßigkeit verwaltet. 133 134 135 136 137 138 139

140 141

Vgl. Freister, DJ 1939,1856. So die bei Freister, aaO, auszugsweise zitierte unveröffentlichte Amtl. Begr. Begr. E1936, S. 4. Näher [Nr. 49] lb. Vgl. Freister, DJ 1939, 1856; Sommer, in: Freisler/Grau/Kmg/Rietzsch (1941), S. 308; Pfundtner/Neubert/Schäfer (1933 ff.), II c 23, S. 6. Vgl. etwa Kohlrausch/Lange^40 (1950), § 44 Anm. III, § 49 Anm. I. Vgl. Dreher, JZ1953,425. Vgl. Pfundtner/Neubert/Schäfer (1933 ff.), II c 23, § 3 Anm. 1; Kayser, DR 1940,349. S. auch Sommer, in: Freisler/Grau/Krug/Rietzsch (1941), S. 298. - § 3 GewaltverbrecherVO ersetzt durch § 13 Nr. 6 ZuständigkeitsVO v. 21. 2.1940, RGBl. I, S. 405. § 1 der 1. DVO v. 28.12.1939, RGBl. I, S. 17. RV des RJM v. 13. 1. 1940 bei Krug/Schäfer/Stolzenburg* (1943), S. 540. Zu einem Beispiel rückwirkender Anwendung des § 4 Ktütz (1940), S. 52 f.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

7. Gesetz und Richter Daß die GewaltverbrecherVO dem richterlichen Ermessen einen weiten Spielraum eröffnete, ist bei der Darstellung ihrer einzelnen Voraussetzungen deutlich geworden. Die Gerichte sollten die Verordnung mit "Vernunft, Maß und doch auch Kraft" anwenden. Von der "richtigen" Handhabung hing es nach Freisler wesentlich ab, ob sich die Verordnung über den Krieg hinaus "als Dauerrecht qualifiziert oder nicht"142. [Nr. 34] Verordnung zum Schutze des Reichsarbeitsdienstes vom 12. März 1940 Die erste strafrechtliche Verordnung des "Dreierkollegiums"1 erweiterte den strafrechtlichen Schutz des Reichsarbeitsdienstes2 entsprechend den zum Schutze der Wehrmacht erlassenen Vorschriften und sollte damit eine Lücke schließen3. Den aktuellen Anstoß gaben die dem Reichsarbeitsdienst zugedachten Kriegsaufgaben4; gleichwohl handelte es sich nicht um zeitbedingtes Notrecht, sondern um vorweggenommene Strafrechtsreform5. Das zeigt sich u. a. daran, daß die Bestimmungen im wesentlichen dem E 1936 entnommen waren, dessen Tatbestände sogar weiter reichten: Während der Entwurf den völkischen Arbeitswillen als solchen schützte, betraf die Verordnung allein die institutionelle Verkörperung dieses Arbeitswillens in Gestalt des Reichsarbeitsdienstes6. An der Spitze der Verordnung standen Strafvorschriften, die deutliche Strukturparallelen zu den Bestimmungen zum Schutze des "völkischen Wehrwillens" durch § 5 I Nrn. 1 und 2 KriegssonderstrafrechtsVO aufwiesen7. § 1 stellte das öffentliche Anreizen oder Auffordern zum Verweigern der Reichsarbeitsdienstpflicht unter Strafe8. Dafür sollte es genügen, daß einzelne Pflichten betroffen waren, etwa durch Aufforderung zur Nichterfüllung der Handarbeitspflicht9, der Pflicht zum Waffendienst oder zu Ordnungsübungen10.

142 Vgl. Freisler, JDR 1940,520. 1 RGBl. I, S. 485. Zeichnung: GBV Frick. Die VO erging laut Einleitungsformel "aufgrund gesetzlicher Ermächtigung" mit Zustimmung des BfdVj und des OKW; zum "Dreier-Kollegium" oben C I 2. VO aufgehoben durch KRG Nr. 11 Art. II Nr. lh. 2 Zum bis dahin maßgeblichen Umfang strafrechtlichen Schutzes Grau/Krug/Rietzsch2 (1943), S. 208; zur staatsrechtlichen Bedeutung des RAD Hübet* (1939), S. 424 ff. 3 Eine analoge Anwendung der die Wehrmacht betreffenden Vorschriften wurden in der untergerichtlichen Praxis z. T. befürwortet (vgl. Philippi, DJ 1940, 541), vom RG aber abgelehnt, vgl. RGSt. 70,260 zu §§ 140,143 RStGB (Wehrpflichtverletzung). 4 Grau/Krug/Rietzsch2 (1943), S. 207. 5 Näher Philippi, DJ 1940, 541; vgl. auch Pfundtner/Neubert/Stamm (1933 ff.), IV f 11, S. 1 (Ergänzung des RStGB). Wenn Grau, in: Freisler/Grau/Krug/Rietzsch (1941), S. 314, von "ausgesprochenem Kriegsrecht" spricht, ist das auf die gegenüber §§ 159 ff. E 1936 verschärften Strafdrohungen gemünzt. 6 Vgl. §§ 159 ff. E 1936 und Begr. S. 114 ff. sowie Gleispach III (1941), S. 21 f.; ferner Grau, in: Gärtner, BT2 (1936), S. 137 ff. 7 Dazu Gleispach, aaO; Philippi, DJ 1940,542. 8 Vgl. § 5 1 Nr. 11. Teil KSStVO und § 159 E 1936. 9 Vgl. § 1 III RADGes. v. 9.9.1939, RGBl. I, S. 1747.

C. Die zweite Phase: 1939 bis 1945

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§ 2 betraf die "Aufwiegelung von Angehörigen des Reichsarbeitsdienstes" und bestrafte denjenigen, der "gegenüber einem Angehörigen des Reichsarbeitsdienstes die Gemeinschaft im Reichsarbeitsdienst zu zersetzen oder die Dienstfreudigkeit zu untergraben sucht"11. Mit dem Tatbestandsmerkmal der "Gemeinschaft" wurde unmittelbar auf diesen "nationalsozialistischen Rechtsbegriff und dessen "Grundpfeiler" Treue, Gehorsam und Kameradschaft Bezug genommen12. Als Beispiele tatbestandlicher Zersetzungshandlungen wurden in der Literatur die Verleitung zum Ungehorsam oder zu Tätlichkeiten und, allgemeiner, herabwürdigende Äußerungen über Aufgaben und Einrichtung des Reichsarbeitsdienstes oder über den sittlichen Wert der Arbeit überhaupt genannt13. Die Dienstfreudigkeit konnte ebenso auf "mannigfache Art" untergraben werden, beispielsweise durch die Veranlassung zu Straftaten oder sonst zu "unwürdigen" Handlungen. Jedes Verhalten mit einer der Dienstfreude (möglicherweise) irgendwie abträglichen Tendenz war erfaßt 14 . Auf "unverbesserliche bösartige Meckerer, die durch ihr stetes Nörgeln den guten Geist der Gemeinschaft gefährden", wurde besonders hingewiesen; "bloßes Schimpfen ohne Zersetzungswillen" sollte jedoch im allgemeinen nicht genügen15. Angesichts der Konturlosigkeit der Tathandlung, (mögliches) Verursachen von Arbeitsunlust16, wurde der vorausgesetzte "böse" Wille der Zersetzung zum entscheidenden Begriffsmerkmal, das § 2 als Gesinnungsdelikt auswies. Der Täterkreis der §§ 1 und 2 war unbeschränkt. Die Regelstrafe war Zuchthaus bis zu 15 Jahren, in minder schweren Fällen drohte Gefängnisstrafe, im Mindestmaß ein Tag17. Die übrigen Vorschriften der Verordnung betrafen die Reichsarbeitsdienst-Entziehung (§ 3)18, die Fahnenflucht 19 männlicher (§ 4) und die Dienstflucht weiblicher Angehöriger (§ 5)20. Bedeutsam war die prozessuale Ergänzung durch die Verordnung vom 16. November 1940: Leichtere Straftaten von Angehörigen des Reichsarbeitsdienstes, u. a. auch die minder schweren Verstöße gegen die Schutzverordnung, konnten danach auf (alleinige) Entscheidung der Staatsanwaltschaft ausschließlich im Dienststrafverfahren geahndet werden21.

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18 19 20 21

Philippi, DJ 1940,542; Grau/Krug/Rietzsch2 (1943), S. 210. Zum Merkmal "öffentlich" vgl. Grau, aaO; vgl. auch [Nr. 26] 1. § 51 Nr. 12. Teil und Nr. 2 KSStVO [Nr. 26] und § 159 E 1936. Philippi, DJ 1940,542; zu den Einzelausprägungen auch Grau/Krug/Rietzsch2 (1943), S. 212. Beispiele aaO; vgl. auch Begr. E 1936, S. 117. Vgl. Grau/Krug/Rietzsch2 (1943), S. 212. Philippi, DJ 1940,542. Vgl. auch Begr. E 1936, S. 117. §§ 1, 2 aaO und §§ 14, 16 RStGB; vgl. auch § 159 E 1936: Regelstrafe Gefängnis, mindestens drei Monate; in besonders schweren Fällen drohte Zuchthaus (§ 159 II E 1936). Für Aufwiegelung (§ 160 E 1936) drohte Gefängnis. Vgl. § 51 Nr. 3 KSStVO [Nr. 26] und § 161E 1936. Vgl. § 69 MStGB. Zur Milderbehandlung der Frau vgl. § 3 S. 2 und § 5 VO sowie Gleispach III (1941), S. 23 f. Vgl. § 2 II 3. DVO zum RADGes. v. 16. 11. 1940, RGBl. I, S. 1513. Dazu Schorn (1963), S. 83: "Eingriff in den Zuständigkeitsbereich der ordentlichen Gerichtsbarkeit".

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[Nr. 35] Verordnung zum Schutz der Metallsammlung des Deutschen Volkes vom 29. März 1940 Die Ministerratsverordnung1 diente ausweislich ihres Titels dem Schutze der Metallsammlung, die angesichts der Wirtschaftsblockade zur Bildung einer Reserve an kriegswichtigen Metallen durchgeführt wurde. Den Feindstaaten sollte damit die "innere Geschlossenheit" des deutschen Volkes demonstriert und ihren Hoffnungen auf Rohstoffmangel die "rechte Antwort" erteilt werden2. Nach dem Gesetzesvorspruch war die Metallsammlung ein "Opfer des deutschen Volkes für das Durchhalten in dem ihm aufgezwungenen Lebenskampf; die gespendeten Metalle wurden als "Geschenk der deutschen Nation" zum "Führergeburtstag" am 20. April 1940 überreicht. Um allen Spendern die "absolute Gewißheit" zu geben, ihr Opfer werde keinesfalls vergeblich sein und niemand werde sich auf ihre Kosten bereichern3, wurde die Metallsammlung von einer drastischen Strafdrohung flankiert: "Wer sich an gesammeltem oder vom Verfügungsberechtigten zur Sammlung bestimmten Metall bereichert oder solches Metall sonst seiner Verwendung entzieht, schädigt den großdeutschen Freiheitskampf und wird daher mit dem Tode bestraft".

Die Verordnung war mit dieser Strafdrohung, so Schorn, von "unverantwortlicher Härte"4; aus zeitgenössischer Sicht wird berichtet, die absolute Strafdrohung sei "da und dort auf Mangel an Verständnis" gestoßen5. Diese Bedenken rührten aus der Verknüpfung einer wertfrei generalisierenden ("oder sonst entzieht") Tatbeschreibung ohne normative Merkmale mit der absoluten Todesstrafe: Diese erfaßte, so Gleispach, einerseits todeswürdige Fälle, indem sie "geheiligtes" Gut schützte und sich gegen Taten aus "besonders gemeiner, schmutziger Gesinnung" richtete. Andererseits verdiene etwa der Einsammler, der einen zufällig aus einem Paket herausgefallenen Zinnsoldaten für seine Kinder einstecke, nicht den Tod. Gleispach suchte deshalb aus dem "wahrlich berechtigten Pathos" der Verordnung und dem Zusammenhang mit einer Schädigung des "großdeutschen Freiheitskampfes" eine Beschränkung auf den "wirklich todeswürdigen Schänder der Metallspende" herzuleiten, also ähnlich wie bei der VolksschädlingsVO ein zusätzliches Tätertypenerfordernis aufzustellen6. Diese Frage sowie einzelne Tatbestandsprobleme erlangten jedenfalls für die höchstrichterliche Praxis, soweit ersichtlich, keine Entscheidungserheblichkeit7.

1 2 3 4

5 6 7

RGBl. I, S. 565. Zeichnung: Vors. des MfdRV Göring, RMuChdRk Lammers; aufgehoben durch KRG Nr. 11 Art. II Ziff. Ii. Vgl. den Aufruf Görings v. 14. 3. 1940, abgedruckt bei Pfundmer/Neubert/Rietzsch (1933 ff.), II RV 16, S. 1. Vgl. aaO. - Zu den angeblichen Mißbräuchen im Zusammenhang mit einer Metallsammlung während des Ersten Weltkriegs vgl. Nütz (1940), S. 33; Gleispach, DStR 1941, S. 2 f. 1963, S. 121. Gleispach III (1941), S. 37; vgl. aber Klütz (1940), S. 33. Gleispach III (1941), S. 37 ff., s. auch ders., DStR 1941, 2 f.; ohne solche Begrenzungen Pfundtner/Neubert/Rietzsch (1933 ff.), II RV 16, S. 4 Anm. 9. Zum ganzen Rietzsch, aaO, S. 2 ff. - Zu einem Fallbeispiel aus der Praxis des SG Berlin Schimmler (1984), S. 145 ff. Der wegen Entwendung geringwertiger Gegenstände zum Tode verurteilte Angeklagte wurde später zu fünf Jahren Zuchthausstrafe begnadigt.

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Die Bedeutung der Verordnung dürfte aus heutiger Sicht darin liegen, daß sie symptomatische Veränderungen in der Strafgesetzgebung gebündelt signalisiert: Es handelt sich um ausgesprochenes "Gelegenheitsgesetz"8 zum Schutze einer einmalig durchgeführten Sammlung, das drei Wochen vor Beendigung dieser Sammlung erlassen wurde9. Die Verordnung wurde vom Ministerrat für die Reichsverteidigung10 "verabschiedet" und trat am 29. März 1940 mit der Verkündung durch Rundfunk (!) um 20 Uhr in Kraft11, so daß die Veröffentlichung im Reichsgesetzblatt vom folgenden Tag nur noch "deklaratorische" Bedeutung hatte. Gesetzesüberschrift und Vorspruch erläuterten Anlaß und Zweck der Verordnung, in die Tatbestandsbeschreibung selbst wird eine weitere "Erklärung" - "schädigt den großdeutschen Freiheitskampf" - eingeschaltet, welche erst die Strafdrohung ("daher") begründen soll12. Die Verordnung gibt aber auch ein Beispiel für den Beitrag der Strafgesetzgebung zum "Durchhalten" im "Lebenskampf des deutschen Volkes. Aus strafrechtstechnischer Sicht war eine Erfassung der anvisierten Verbrechen über § 4 der VolksschädlingsVO möglich, zumal die Annahme eines besonders schweren Falles und damit die Verhängung der Todesstrafe durch entsprechende "Lenkungsmaßnahmen" und Hinweise der politischen Führung sichergestellt werden konnte; andererseits wäre die Ausscheidung von nicht "todeswürdigen" Fällen ohne gewundene Interpretationen möglich gewesen. Die Verordnung hatte aber eine besondere Aufgabe, die über die Schließung einer "Strafbarkeitslücke" hinausreichte: Sie sollte den Charakter der Metallsammlung als eines Opfers pathetisch unterstreichen, dadurch die innere Geschlossenheit, die Opferbereitschaft und den Siegeswillen des deutschen Volkes betonen und stärken und, besonders wichtig, den Willen zur Vernichtung des "Entarteten", des egoistischen "Volksfeindes", der sich an "geheiligtem Gut" bereichern will, ausdrücken. So berichtet Gleispach, Goebbels habe in einer Rede im Berliner Sportpalast im Zusammenhang mit der Metallsammlung den Tätertyp, der den Tod verdiene, in besonders krasser Form herausgestellt. Dem "Hinweis auf die angedrohte Todesstrafe" sei "brausender Beifall der Tausende von Zuhörern" gefolgt13 - ein Indiz für die Wirksamkeit von Kriegspropaganda mit den Mitteln der Strafgesetzgebung. [Nr. 36] Verordnung zur Änderung der Strafvorschriften über fahrlässige Tötung, Körperverletzung und Flucht bei Verkehrsunfällen vom 2. April 1940 Im Gewände einer Kriegsverordnung des Ministerrats für die Reichsverteidigung1 wurden "einige besonders dringliche Änderungen strafrechtlicher Vorschriften" vorgenommen, deren "Notwendigkeit sich aus der fortschreitenden Entwicklung des Straßenverkehrs ergeben"

8 9 10 11 12 13 1

So Gleispach III (1941), S. 36, freilich ohne erkennbar krit. Absicht im Sinne einer beschreibenden Feststellung; vgl. auch ders., DStR 1941,2 ff. Der Schutz wirkte freilich fort, solange die Gegenstände unterscheidbar vorhanden blieben, vgl. Pfundtner/Neubert/Rietzsch (1933 ff.), II RV 16, S. 4 Anm. 8. Dazu Fn. 1 und C11. Vgl. Pfundtner/Neubert/Rietzsch (1933 ff.), II RV 16, S. 4 Anm. 13; vgl. auch den Text der VO. Zur Gesetzestechnik Gleispach III (1941), S. 36. DStR 1941,2. RGBl. I, S. 606. Zeichnung: Vors. des MfdRV Göring, GBV Frick, RMuChdRk Lammers.

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hatte 2 . Anders als bei der Strafschärfung für Versuch und Beihilfe durch die GewaltverbrecherVO machte sich der Verordnungsgeber die Mühe, das RStGB förmlich abzuändern und dokumentierte schon dadurch den auf Dauer berechneten Charakter der Änderungen. Der erste Komplex betraf die fahrlässige Tötung und die Körperverletzung. Die Verordnung beseitigte die §§ 222 II, 230 II RStGB, die als Fälle qualifizierter Fahrlässigkeit die Verletzung von Amts-, Berufs- oder Gewerbepflichten herausgehoben und zum Ausgangspunkt einer (fakultativen) Strafschärfung gemacht hatten 3 . Die amtliche Begründung der Verordnung erblickte in diesen Vorschriften eine infolge der Zunahme des Straßenverkehrs notwendige "Sondermaßnahme ... gegen den Berufsfahrer"4. Diese wurde für sachlich unbegründet erklärt: "Berufsfahrer" wie "Herrenfahrer", so eine erläuternde Allgemeinverfügung des Reichsjustizministers, trügen "die gleiche Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft"5. Die amtliche Begründung verwies ferner auf die uneinheitliche Auslegung des Begriffs "Berufskraftfahrer" in der Rechtsprechung. So wurden die qualifizierten Fahrlässigkeitsfälle gestrichen, zugleich aber die allgemeine Strafdrohung entsprechend erhöht, "um so dem Richter eine Handhabe zu geben, die Umstände des Einzelfalles bei der Feststellung des Grades der Fahrlässigkeit im Strafmaß angemessen zu berücksichtigen"6. An die qualifizierten Fahrlässigkeitsfälle knüpfte auch § 232 I a. F. an, der insoweit den bei leichten Körperverletzungen (§ 223) und bei fahrlässigen Körperverletzungen im allgemeinen erforderlichen Strafantrag für überflüssig erklärte. Hier beschritt die Verordnung einen "völlig neuen Weg"7: Sie behielt das Antragserfordernis zwar im Grundsatz bei, ermächtigte aber die Staatsanwaltschaft allgemein, bei "besonderem öffentlichen Interesse" an der Strafverfolgung zum Einschreiten von Amts wegen. Ein solches Einschreiten sollte nach der amtlichen Begründung "insbesondere geboten sein" bei einschlägigen Vorstrafen, "niedriger Gesinnung", Trunkenheit oder bei schweren Unfallfolgen und dadurch bedingter Erregung in der Öffentlichkeit8. Die zweite Neuerung war die Einfügung einer Strafbestimmung über die Unfallflucht (§ 139a) in das RStGB9. Die Unfallflucht war bis dahin im Gesetz über den Verkehr mit Kraftfahrzeugen geregelt10, dessen Höchststrafe das Gesetz vom 7. November 1939 von zwei Monaten auf zwei Jahre Gefängnis heraufgesetzt hatte11. Die Verordnung brachte im Anschluß an § 355 E 1936 eine grundsätzliche Neuregelung. Sie erfaßte nicht nur Kraftfahrzeugführer, sondern alle Verkehrsteilnehmer und ließ es wahlweise genügen, daß der Täter sich der "Feststellung seiner Person, seines Fahrzeugs oder der Art seiner Beteiligung an dem Unfall"

2 3 4 s 6 7 8 9 10 u

Amtl. Begr. zur VO, DJ 1940,508. §§ 222 II, 230 II a. F., dazu Frank1* (1931). DJ 1940,508. AV v. 23.4.1940, DJ 1940,509. DJ 1940,508. - Zur uneinheitlichen Rspr. zu §§ 222 II, 230 II Rietzsch, DJ 1940,533. Rietzsch, DJ 1940,534. Amtl. Begr., DJ 1940,508; s. auch AV des RJM (Fn. 5). Art.INr.4VO. § 22 Ges. v. 3. 5.1909, RGBl. I, S. 437. Zum Stand 1938 Dalcke30 (1938), S. 891 ff. Vgl. Art. II Nr. 7b Ges. v. 7.11.1939, RGBl. I, S. 2223.

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entzog12. Die Möglichkeit, durch Anzeigeerstattung am nächstfolgenden Tage Straffreiheit zu erlangen, wurde beseitigt13. Die vielleicht einschneidendste Änderung war die drastische Ausweitung des Strafrahmens. Sie brachte den der Unfallflucht beigelegten Charakter des schwersten Verstoßes gegen die "Gemeinschaftspflichten der Verkehrsteilnehmer"14 zum Ausdruck: An die Stelle der in sich weiter aufgefächerten Regelstrafe (Höchstmaß: 2 Jahre Gefängnis), trat in "besonders schweren Fällen" Gefängnisstrafe nicht unter sechs Monaten oder Zuchthaus. Damit reichte der Gesamtstrafrahmen des § 139a von drei Mark Geldstrafe bis zu 15 Jahren Zuchthaus15. Die durch die Verordnung erfolgten Änderungen fanden in vollem Umfang Eingang in das bundesdeutsche Strafrecht; Tatbestand und Rechtsfolgen der Unfallflucht wurden erst 1975 durchgreifend geändert16. Diese Kontinuität ist nicht verwunderlich: Die Sachgesetzlichkeiten modernen Straßenverkehrs scheinen systemübergreifend zu sein. Bei der Bewertung der Verordnung ist gleichwohl Vorsicht angebracht: Auch ihre Vorschriften sind in einem bestimmten Systemzusammenhang eingebettet, der den Normtexten ihren Stellenwert zuweist. Bezeichnend für den veränderten Kontext sind in unserem Fall schon Herkunft und Form des Erlasses der neuen Vorschriften. Ein Ministerrat für die Reichsverteidigung ändert im Wege einer "mit Gesetzeskraft" ausgestatteten Verordnung das Reichsstrafgesetzbuch ab. Nun mag man diesen Hinweis als Äußerlichkeit abtun, die von der sachlogischen Substanz des Gegenstandes aufgesogen werde. Aber auch die Neuregelungen selbst sind von Wesenszügen geprägt, die auch "terroristische" Regelungen, wie etwa die GewaltverbrecherVO, kennzeichnen: Im Hintergrund wirkt der Vorrang der "Volksgemeinschaft", der zur Legitimation der drastischen Strafschärfung für die Unfallflucht herangezogen wird. Das könnte natürlich Wortgeklingel sein. Unbestreitbar wird jedoch das richterliche Ermessen erweitert, wie der Verbund von Beseitigung gesetzlicher Umschreibungen und Strafrahmenerweiterung (§ 222, 230 n. F.) sowie der Strafrahmen des § 139a n. F. zeigen. Der Einsatz der Strafgewalt wird nach dem Wegfall gesetzlicher Fixierungen von der Staatsanwaltschaft verwaltet (§ 232 n. F.). Die Ermessenserweiterung wird von Richtlinien des Reichsjustizministers an die Staatsanwaltschaften flankiert, die eine einheitliche Vorgehensweise sichern sollen17, hier werden die Grundlinien sichtbar, die für die gesamte Entwicklung der nationalsozialistischen Strafgesetzgebung kennzeichnend sind. Schließlich ist von entscheidender Bedeutung, daß das Strafrecht selbst auf dem scheinbar technisch neutralen Gebiet des Straßenverkehrs nicht das einzige Mittel ist, die (Verkehrs-) Disziplin der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft durch Einsatz von staatlich organisiertem Zwang sicherzustellen: Neben die justizförmig verhängten strafrechtlichen Sanktio12

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Anders § 22 KFZ-Ges. (Fn. 10): Täter konnte nur der KFZ-Führer sein, beim Mitfahrer kam Beihilfe in Betracht, vgl. RGSt. 69, 349; Dalcke30 (1938), S. 892. § 22 I S. 1 KFZ-Ges. 1909 setzte ferner die Vereitelung von Personen- und Fahrzeugfeststellung voraus, insoweit geändert ("oder') 1939 (Art. II Nr. 7a, aaO). § 221S. 2 KFZ-Ges. 1909 (Fn. 10), aber auch § 355 II E 1936. Freister, DJ 1940,527; vgl. auch Rietzsch, DJ 1940, 535; Krug, in: Freisler/Grau/Krug/RieUsch (1941), S. 328 f. §§ 14,27 RStGB. Nach oben und unten enger § 355 E 1936: Haft oder Gefängnis bis zwei Jahre. 13. StÄG 1975, vgl. Lochtet*1 (1977), § 142 Vor 1. DJ 1940, 509 f.

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nen treten bei Bedarf "erzieherische" wie abschreckende polizeiliche Maßnahmen, etwa die Vorbeugungshaft zur Unterbindung von Alkoholfahrten18. [Nr. 37] Verordnung über den Geltungsbereich des Strafrechts vom 6. Mai 1940 1. Einführung Wo, von wem, gegen wen oder wogegen muß eine Tat begangen sein, damit deutsches Strafrecht auf sie anwendbar ist?1 Mit dem durch diese Fragen umrissenen Strafrechtsanwendungsrecht, dem sog. internationalen Strafrecht, befaßte sich die zweite Ministerratsverordnung (GeltungsVO)2, die das Reichsstrafgesetzbuch auch technisch änderte (§§ 3 bis 5 RStGB), den Personalgrundsatz einführte (dazu 2) und auch im übrigen den Geltungsbereich des deutschen Strafrechts erweiterte (dazu 3). Das bis dahin geltende Recht ging vom Gebietsgrundsatz aus (wo?): Die deutschen Strafgesetze sollten auf alle im Gebiet des Deutschen Reiches begangenen strafbaren Handlungen Anwendung finden, unabhängig von der Staatsangehörigkeit des Täters (§ 3). Konsequenz war "in der Regel" die Unanwendbarkeit deutscher Strafgesetze auf Auslandstaten (§ 4 I). Der Gebietsgrundsatz wurde jedoch in der gesetzestechnischen Form von Ausnahmeregelungen durch das Schutzprinzip (wogegen?) ergänzt, namentlich für den Hochverrat (§ 4 II Nr. 1). Die Erfassung des Landesverrats war dagegen bis 1934 auf Deutsche beschränkt (von wem?, § 4 II Nr. 2)3. Das Weltrechtsprinzip galt für Münzverbrechen (§ 4 II Nr. 1), das Prinzip stellvertretender Strafrechtspflege bei Begehung am Tatort strafbarer Handlungen durch Deutsche (von wem?) im Ausland (§ 4 II Nr. 3). Das Personalprinzip sah man im RStGB von 1871 in der Erfassung des Landesverrats Deutscher im Ausland verkörpert, während die stellvertretende Strafrechtspflege Konsequenz des Auslieferungsverbots, nicht einer besonderen "Treupflicht" des Deutschen gegenüber dem Deutschen Reich war: Das Reich handelte insoweit als "Geschäftsführer des Auslands"4. Den unmittelbaren Anstoß zur grundlegenden Änderung der §§ 3 ff. RStGB gab die mit Kriegsbeginn einsetzende Erweiterung des deutschen Herrschaftsbereichs: Die Begehung von Auslandstaten durch Deutsche, vor allem aber gegen Deutsche und gegen "deutsche Interessen" sollten eine entschiedene Ausdehnung des Geltungsbereichs des deutschen Strafrechts auch für den zivilen Bereich erfordern. Die aus dieser Situation heraus erlassene Neuregelung war aber mitnichten zeitbedingtes Kriegsrecht: Die Verordnung verwirklichte eine als längst überfällig empfundene Reform. Der nationalsozialistische Gesetzgeber war mit punktuellen oder gebietsbeschränkten Erweiterungen des Geltungsbereichs vorangegangen5, die

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Dazu unten 3. Teil Β IV Fn. 51 ff. Vgl. die Fragestellung bei Kohlrausch/Lange31 (1941), Anm. I Vor § 3. RGBl. I, S. 754. Zeichnung: Vors. des MfdRV Goring, GBV Frick, RMuChdRk Lammers. Geändert durch Ges. v. 24.4.1934, vgl. [Nr. 13] 4 (Schutzprinzip). Frank18 (1931), §§ 4, 5, Anm. III 3b, S. 35; näher zum ganzen vgl. die Kommentierung zu §§ 3 ff., aaO. - Zur hier gebrauchten Terminologie Lackner17 (1987), 2 Vor § 3. Vgl. § 2 III HeimtückeVO [Nr. 12], bei Fn. 5 und § 3 III Heimtückeges. [Nr. 15]; Verratsnovelle [Nr. 13], soeben bei Fn. 3; §§ 1,5 Blutschutzges., [Nr. 17] 3 a. E.

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Rechtsprechung hatte ihrerseits das Blutschutzgesetz (§ 2) auf Auslandstaten ausgedehnt6, der E 1936 enthielt eine komplette Neuregelung, die im wesentlichen als Vorlage für die Verordnung diente7. So brachte der Ministerrat nur die Ernte ein, eine "sorgfältig begründete Frucht nationalsozialistischer Gesetzgebungsarbeit"8. 2. Der Personalgrundsatz (§ 3 RStGB n. F.) Ausgangspunkt der Reform war die Überzeugung, daß die Treupflicht gegenüber dem deutschen Volk jeden Deutschen an das deutsche Recht binde: "Der Deutsche schuldet seiner Volksgemeinschaft Treue und ihren Geboten Achtung, wo immer er sich befindet. Straftaten die er im Ausland begeht, sind Verletzungen der Treupflicht gegen die Heimat"9. Diese Treupflicht gegenüber dem deutschen Volk könne man "nicht abstreifen", indem man die Grenze überschreite10, das deutsche Recht sei dem Deutschen mit seiner Volkszugehörigkeit "angeboren"11, er trage es "gewissermaßen auf dem Rücken mit sich"12. Kurzum: "Jus ossibus inhaeret!"13. Nur ergänzende Bedeutung hatte der Hinweis, jeder Deutsche sei Repräsentant seines Volkes und schädige mit der Begehung von Straftaten dessen Ansehen 14 . Bei der Einführung des Personalgrundsatzes ging es also aus zeitgenössischer Sicht nicht um eine "juristisch-technische Frage, sondern um ein Bekenntnis, das durch die Eigenart... völkischen Rechtsdenkens anschauungsmäßig bedingt" war15. Die juristisch-technische Ausführung brachte § 3 I n. F.: "Das deutsche Strafrecht gilt für die Tat eines deutschen Staatsangehörigen, einerlei, ob er sie im Inland oder im Ausland begeht"16.

Diese Regelung war insofern inkonsequent, als sie an die Staatsangehörigkeit anknüpfte: Nach ihrer weltanschaulichen Herleitung beruhte die Treupflicht ja "auf der blutsmäßigen Zugehörigkeit zum deutschen Volke", hätte also "in positiver wie in negativer Hinsicht... ohne

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Dazu [Nr. 17] 4. §§ 81 ff. E 1936 und Begr. S. 75 ff.; s. auch Reimer, in: Gärtner AT 2 (1935), S. 219 ff. Bruns, ZAkDR 1940,204. Rietzsch, DJ 1940, 564 und bei Pfiindtner/Neubert (1933 ff.), II c 6, S. 156 sowie in: Freisler/Grau/ Kmg/Rietzsch (1941), S. 464. Vgl. namentlich Begr. E 1936, S. 75; Reimer, in: Gärtner AT 2 (1935), S. 221; Freister, DJ 1940, 638 und JDR 1940, 522 f.; Gleispach III (1941), S. 9; Mezger, DR 1940, 1077, DStR 1941, 20 und Mezger2 (1943), S. 41; Lange, DStR 1941, 6 f.; Bruns, ZAkDR 1940, 204; Kohlrausch/Lange^ (1941), III Vor § 3, S. 58; Schönke2 (1944), § 3 Anm. I.

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Freister, DJ 1940,638.

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Bruns, ZAkDR 1940,204. Reimer, in: Gärtner AT 2 (1935), S. 221. Freister, JDR 1940, 522, der, zur Unterstreichung des völkischen Rechtsbegriffs, "lex" durch "ius" ersetzt. Zu "Lex ossibus inhaeret" etwa Kohlrausch/Lange™ (1941), III Vor § 3, S. 58; Reimer, aaO. Vgl. etwa Bruns, ZAkDR 1940, 204; Pfundtner/Neubert/Rietzsch (1933 ff.), II c 6, S. 156 und Rietzsch, DJ 1940, 564; Mezger, DR 1940, 1077. - Die Begr. E 1936 stützte sich ausschließlich auf die Treupflicht. Bruns, ZAkDR 1940,204. Textgleich § 8 1 E 1936.

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Rücksicht auf die Staatsangehörigkeit gelten" müssen17, mit den entsprechenden Konsequenzen etwa für deutschstämmige Ausländer oder deutsche Juden. Der Verzicht auf eine solche rassenbiologische Abgrenzung wurde mit pragmatischen Erwägungen - Abgrenzungsschwierigkeiten, unerwünschte Kollisionen - begründet18 und die "volksgrundrechtliche Bedeutung" der Geltung für Deutsche in den Vordergrund gestellt19. Diese "volksgrundrechtliche Bedeutung" lag in der ausnahmslosen Verbindlichkeit deutschen Strafrecto (nicht: Strafgesetze20), für "deutschblütige" Staatsangehörige. § 3 II n. F. enthielt keine Ausnahme, sondern eine Bestätigung dieses Grundsatzes, wenn er deutsches Strafrecht unter der Voraussetzung für unanwendbar erklärte, daß "die Tat nach dem gesunden Empfinden des deutschen Volkes wegen der besonderen Verhältnisse am Tatort kein strafwürdiges Unrecht ist". Das deutsche "gesunde Volksempfinden"21 blieb auch hier Richtmaß der Strafwürdigkeit, die strafrechtlichen Wertungen des Tatortes hatten als solche keine einschränkende Kraft. § 3 II sollte lediglich dem Umstand Rechnung tragen, daß die besonderen Verhältnisse des Tatortes der Tat "auch für das deutsche Rechtsbewußtsein die Strafwürdigkeit" nehmen konnten 22 . Der E 1936 nannte als (angezweifeltes23) Beispiel die Üblichkeit erlaubten gewerbsmäßigen Glücksspiels am Tatort 24 . In der Literatur verwies man namentlich auf eine Herabsetzung des Schutzalters gegen Verführung eines Mädchens im Tatortrecht, wenn diese, "in einem südlichen Lande", auf dem früheren Eintritt der Geschlechtsreife beruhe 25 . Die Auslegung des § 3 II, die Hauptschwierigkeit bei der Durchführung des Personalgrundsatzes, mußte bei der Unbestimmtheit des Maßstabs notwendig eine Fülle von Zweifelsfragen aufwerfen. So war beispielsweise die Maßgeblichkeit und Durchführbarkeit einer Unterscheidung von tatsächlichen und rechtlichen "besonderen Verhältnissen" ein Streitpunkt26. Klar war freilich, daß alle Verstöße gegen die "unveräußerlichen Grundlagen der deutschen Sittenordnung"27 erfaßt werden müßten, wie beispielsweise Rassenschande, Abtreibung oder Unzucht zwischen Männern 28 . Anzumerken bleibt zur persönlichen Geltung des Strafrechts, daß der Führer ausgenommen sein sollte: Er sei "legibus solutus"29, oder, eine andere Variante, zwar dem Recht der 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29

Vgl. Mezger, DR 1940,1077; vgl. auch Freister, DJ 1940,639. Vgl. Mezger, aaO. Vgl. Freister, DJ 1940,639. Vgl. § 2a RStGB 1935 und oben [Nr. 16] 4. Näher aaO. Vgl. Begr. E 1936, S. 75. Α. M. Kohlrausch/Lange" (1941), § 3 zu Abs. II, S. 60; zust. Pfundtner/Neubert/Rietzsch (1933 ff.), II c 6, S. 159; Schänke2 (1944), § 3 Anm. II. Vgl. Begr. E 1936, S. 75. Schulbeispiel; vgl. Kohlrausch/Lange" (1941), §3 zu Abs. II, S. 60; Lange, DStR 1940, 10; Freisler/Grau/Kmg/Rietzsch (1941), S. 473 (Rietzsch), sofern es sich (Gesichtspunkt der Rassenschande!) um ein arisches Mädchen ("arische Inderin", Rietzsch aaO) handelte (vgl. Mezger, DR 1940,1077 f.). Dazu Lange, DStR 1940,10 ff.; Mezger, aaO; Rietzsch, aaO, S. 473 f. Rietzsch, aaO, S. 473. Wie Fn. 26; ferner Kohlrausch/Lange37 (1941), § 3 zu Abs. II, S. 60; Schänke2 (1944), § 3 Anm. Π. Zur Abtreibung RG HRR 1940, Nr. 1141; zur Rassenschande RGSt. 74,397,400. Pfundtner/Neubert/Rietzsch (1933 ff.), II c 6, § 3 Anm. 10, S. 159.

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Volksgemeinschaft unterworfen, aber zugleich zu dessen Gestaltung berufen: Damit sei die "Nichtanwendung einer Rechtsregelung" durch den Führer "nicht Verletzung der Botmäßigkeit, sondern ein Rechtsgestaltungsakt, über dessen Berechtigung zu entscheiden er allein berufen ist"30. Für weitere Einzelheiten zum neuen § 3 und für die verwickelten Fragen des interlokalen reichsdeutschen Strafrechts ist auf die einschlägigen Kommentierungen zu verweisen31. 3. Die Regelungen im übrigen Die weiteren Regelungen der GeltungsVO betrafen ausschließlich von Ausländern begangene Taten. Im Inland waren Ausländer wie bisher dem deutschen Strafrecht unterworfen (§ 41), eine selbstverständliche Konsequenz staatlicher Gebietshoheit. Insoweit blieb also der Gebietsgrundsatz maßgeblich32. Für Auslandstaten wurde das Schutzprinzip namentlich auf Taten gegen Träger von deutschen Staats- oder Parteiämtern sowie auf den Verrat von Betriebs· und Geschäftsgeheimnissen ausgedehnt33. Der Weltrechtsgrundsatz erfuhr ebenfalls Erweiterungen, die aber nur bisherige Regelungen und Abkommen in das RStGB einarbeiteten34. Folgerungen aus generellen oder einzelfallabhängigen Auslieferungsverboten zog § 4 Π η. F.: Nummer 1 erklärte deutsches Strafrecht beim Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit nach der Tat für anwendbar35, Nummer 3 bei Verweigerung einer nach der Art der Straftat an sich zulässigen Auslieferung ausländischer Täter. Die Vorschriften wurden überwiegend als Ausdruck des Grundsatzes der stellvertretenden Strafrechtspflege gedeutet, was herkömmlichem Verständnis entsprach. Rietzsch stellte dagegen den Schutz vor unerwünschten Neubürgern im Falle des § 4 II Nr. 1 und gegen ausländische Verbrecher im Falle des § 4 Π Nr. 3 in den Vordergrund36. Nähere Betrachtung verdient der neue § 4 II Nr. 2. Die Vorschrift erfaßte die Auslandstat eines Ausländers, wenn sie "gegen das deutsche Volk oder gegen einen deutschen Staatsangehörigen gerichtet ist". Die Ausdehnung auf Taten "gegen das deutsche Volk" war für den als Vorbild dienenden E 1936 ein "Gebot der Selbstachtung und Selbsterhaltung", während die Einbeziehung von Taten gegen deutsche Staatsangehörige als Korrelat der Treupflicht ange-

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Schinnerer, LK6 (1944), § 3 Anm. 5, S. 122. Vgl. oben [Nr. 14], [Nr. 16] 2c, e. Vgl. namentlich Kohlrausch/Lange 37. (1941) und 38. (1943) Aufl. sowie Freisler/Grau/Krug/Rietzsch (1941), S. 462 ff. Vgl. Begr. E 1936, S. 75; Kohlrausch/Lange" (1941), III Vor § 3, S. 58; Bruns, ZAkDR 1940, 204. Einen (untauglichen) Umdeutungsversuch (Ableitung aus der "Gastpflicht") unternimmt Rietzsch, in: Pfundtner/Neubert (1933 ff. .), II c 6, § 4 Anm. 1, S. 161 und in: Freisler/Grau/Krug/Rietzsch (1941), S. ATI. Hier geht es um Weltanschauungsübungen (Überwindimg des "liberalen" Gebietsgrundsatzes). Vgl. § 4 III Nrn. 1,5 sowie 2,6. Zum Treupflichtaspekt des § 4 III Nr. 1 Lange, DStR 1940,15. Vgl. § 4 m Nrn. 3 , 4 , 5 , 8 , 9 und näher Freisler/Grau/Krug/Rietzsch (1941), S. 482 f. Auslieferungsverbot: § 9 RStGB. Vgl. Kohlrausch/Lange" (1941), § 4 zu Abs. II, S. 62 und Lange, DStR 1940, 14 einerseits, Grau/Krug/Rietzsch2 (1943), S. 267, 269 andererseits; in die Richtung Rietzschs für § 4 II Nr. 3 Begr. E 1936, S. 76.

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sehen wurde37. § 4 II Nr. 2 war so im ganzen als Ausdruck des Schutzprinzips zu verstehen, wobei für Straftaten gegen einzelne die Treupflicht den inneren Grund für die Ausdehnung des Schutzprinzips bildete38. Bei den Straftaten gegen das deutsche Volk war offenbar in erster Linie an "politische Hetzdelikte" gedacht, die nicht schon als Hoch- oder Landesverrat erfaßt waren39. Die Einschränkung des Schutzgedankens durch die Bindung an die Lex loci40 sah man dabei schon dann beseitigt, wenn nach Tatortrecht "die Tat irgendwie mit Strafe belegt" war41, also etwa als Beleidigung oder Sachbeschädigung. Freilich mußte die Maßgeblichkeit der Lex loci gerade bei den Delikten "gegen das deutsche Volk" zu "Lücken" führen: Die Strafbarkeit der Rassenschande etwa war eine exklusiv nationalsozialistische Errungenschaft und mangels entsprechender ausländischer Strafgesetze von § 4 II Nr. 2 nicht erfaßt 42 . Die Rechtsprechung vermied jedoch eine "Strafbarkeitslücke", indem sie die Strafbarkeit der Rassenschande von Ausländern im Ausland weiterhin unabhängig von der Neufassung der §§ 3 ff. RStGB unmittelbar auf das Blutschutzgesetz stützte43. Die GeltungsVO legte sich eine zeitlich unbegrenzte (fakultative) Rückwirkung bei (Art. III, Abs. 3). Ergänzt wurde die Verordnung durch eine Bestimmung zur staatsanwaltschaftlichen Einstellungsbefugnis, wenn die Verfolgung von Auslandstaten Deutscher "vom Standpunkt der Volksgemeinschaft aus nicht geboten oder unverhältnismäßig schwierig" war (§ 153a I RStPO n. F.). Bemerkenswert ist die in dieser Vorschrift enthaltene Anerkennung "des Standpunkts der Volksgemeinschaft" als entscheidendes Strafwürdigkeitskriterium44. Auslandstaten von Ausländern waren nunmehr allgemein45 nur auf Anordnung des Reichsjustizministers zu verfolgen (§ 153a II RStPO n. F.). 4. Schlußbemerkung Die Einführung des Personalgrundsatzes war ein Bekenntnis zur Treupflicht als (jedenfalls: einer) Grundlage des nationalsozialistischen Strafrechts. Der Personalgrundsatz ist als Rechtsprinzip des internationalen Strafrechts zwar nicht aus nationalsozialistischen Lehren von der "Blutsgebundenheit" rechtlicher Pflichten abgeleitet, aber umgekehrt entsprach allein

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Begr. E 1936, S. 76 zu § 831 Nr. 2. Vgl. Freister/Grau/Krug/Rietzsch (1941), S. 480, der die Charakterisierung Langes (DStR 1940, S. 13): "passives Personalprinzip" damit einfangen will. Für Schutzprinzip auch Kohlrausch/Lange*1 (1941), § 4 zu Abs. II, S. 62; Schinnerer, LK6 (1944), § 4 Anm. 2. Vgl. Pfundtner/Neubert/Rietzsch (1933 ff.), II c 6, S. 163. Dazu Lange, DStR 1940, 13 Fn. 17, der von einer Verbindung des Grundsatzes stellvertretender Strafrechtspflege mit dem Schutzprinzip spricht. RG DJ 1940, 515 (Urt. v. 5. 2. 1940) in parallelem Zusammenhang. Vgl. zu § 4 II Nr. 2 Rietzsch, wie Fn. 39; 01shausenù (1942), § 4 Anm. 7; Bruns, ZAkDR 1940,205. Dazu und zur Konsequenz einer Unanwendbarkeit des § 2 Blutschutzges. in solchen Fällen Mezger, DStR 1940,24; Lange, DStR 1940,16 ff. A. M. Freisler/Grau/Krug/Rietzsch (1941), S. 483 f. Vgl. RGSt. 74, 397, 400 ff., 402 (Urt. v. 5. 12. 1940) und schon oben [Nr. 17] 3 Fn. 96 zur Umgehungsehe. Zu § 153a I RStPO näher Schumacher (1985), S. 110 ff. Vgl. für Hoch- und Landesverrat schon oben [Nr. 13] 4.

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der Personalgrundsatz dem völkischen Treupflichtgedanken46. Die GeltungsVO anerkannte ferner das gesunde Volksempfinden in seiner strafbarkeitsbegründenden Funktion (§ 3 II RStGB n. F.) und den "Standpunkt der Volksgemeinschaft" als entscheidendes Strafwürdigkeitskriterium bei der Verfolgung von Auslandstaten Deutscher (§ 153a I RStPO n. F.). Darin lag zugleich eine entschiedene Lockerung der Gesetzesbindung von Richter und Staatsanwalt47, die vom Erfordernis einer reichsministeriellen Anordnung bei Auslandstaten von Ausländern ergänzt wurde (§ 153a II RStPO n. F.). Die Bestimmungen der GeltungsVO wurden vom "Bereinigungsgesetz" 1953 (3. StÄG) "in Übereinstimmung mit der überwiegenden Auffassung in Wissenschaft und Praxis" als rechtsstaatlich vertretbar beibehalten48. Es erfolgten lediglich "technische Bereinigungen" in denen u. a. das "gesunde Volksempfinden" als Strafwürdigkeitsmaßstab bei Auslandstaten (§ 3 II) gestrichen wurde49. Das 2. Strafrechtsreformgesetz gestaltete 1975 die §§ 3 ff. StGB grundlegend um, gab den Personalgrundsatz auf und kehrte zum alten Ausgangspunkt, dem Gebietsgrundsatz, zurück50. [Nr. 38] Verordnung über die Vollstreckung von Freiheitsstrafen wegen einer während des Krieges begangenen Tat vom 11. Juni 1940 Die Ministerratsverordnung1 führte in ihrem Anwendungsbereich zur Doppelverbüßung von Freiheitsstrafen. Nach Schorn widersprach die Verordnung deshalb "allen rechtsstaatlichen Grundsätzen"2. Aus zeitgenössischer Sicht diente sie der "wehrpolitischen Generalprävention"3 und zugleich der Gerechtigkeit, indem sie eine Privilegierung von Straftätern, namentlich bei Verurteilung zu Zuchthausstrafen, gegenüber Soldaten und Wehrpflichtigen verhindern sollte4. Der Verordnung wurde erhebliche praktische Bedeutung beigelegt, die freilich mit der deutschen Kapitulation entfiel5. Die Essenz der Verordnung bildete die regelmäßige Nichtanrechnung der in die Zeit des Krieges fallenden Vollzugszeit für während des Krieges begangene Straftaten bei Verhängung von Zuchthausstrafen durch Wehrmacht- oder SS- und Polizeigerichte (§ 11) oder durch die 46 47 48 49 50 1

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Vgl. auch Begr. E 1962, S. 105. Zur Begr. des aktiven Personalitätsprinzips aus der Solidarität der Staaten Oehle/ (1983), Rdn. 140 ff. Mit der Einführung des Personalgrundsatzes entfiel die Grundlage für die Ennessensfreiheit der Staatsanwaltschaft (vgl. § 4 RStGB a. F.). Vgl. aber § 153c I StPO. Vgl. Begr. RegE BT-Dr 1/3713, S. 20 und dazu die scharfe Kritik von H. Mayer, JZ 1952,610. Vgl. Dreher, JZ 1953,423 sowie §§ 4, 7 i. d. F. des 3. StÄG. Zu den Gründen Begr. E 1962, S. 105. RGBl. I, S. 877. - Zeichnung: Vors. des MfdRV Göring, GBV Frick, ChdOKW Keitel, RMuChdRk Lammers. - Zwei zwischenzeitlich ergangene Verordnungen strafrechtlichen Inhalts werden an anderer Stelle behandelt: zur VerbrauchsregelungsstrafVO [Nr. 28] bei 2e, zur VO v. 6. 6.1940 (Sonderstrafvorschriften für die eingegliederten Ostgebiete) [Nr. 40] 3. 1963, S. 121. Pfundtner/Neubert/DaUinger (1933 ff.), II RV 18, S. 1; vgl. auch Dallinger, in: Freisler/Grau/Krug/ Rietzsch (1941), S. 713 ff. Dallinger, in: Freisler/Grau/Krug/Rietzsch (1941), S. 714 f. Pfundtner/Neubert/DaUinger (1933 fï.), II RV 18, S. 10.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

ordentliche Gerichtsbarkeit (§ 1 II). Für den Anwendungsbereich des § 1 I wurden Gefängnisstrafen unter Aberkennung der Wehrwürdigkeit oder der bürgerlichen Ehrenrechte einbezogen6. Soweit Wehrmachtsangehörige betroffen waren, wurde die Notwendigkeit der getroffenen Regelung damit begründet, bei leichteren Taten werde die verbüßte Strafe unter Umständen nicht auf die Strafzeit angerechnet, so etwa bei Überweisung in ein Straflager der Wehrmacht. Zuchthausstrafe war jedoch mit dem Verlust der Wehrwürdigkeit und der Überstellung an die Reichsjustizverwaltung verbunden, mit der Konsequenz einer vollen Anrechnung der verbüßten Strafzeit7. Die Wehrunwürdigkeit wäre danach, so Dallinger, geradezu mit einer "Prämie" verbunden gewesen8. Allgemeinere Begründungen der Verordnung betrafen die Wirkung des Strafübels im Kriege: Dem zu Zuchthaus Verurteilten bleibe der Frontdienst erspart. Das "Gefühl, im Strafvollzug in Sicherheit zu sein", beeinträchtige "wesentlich die Schwere der Strafwirkung". Die vorgesehene Nichtanrechnung der Vollzugszeit schaffe "demgegenüber einen Ausgleich". Die "Hemmungen gegenüber dem Anreiz, etwa aus Drückebergerei vor dem Frontdienst Straftaten zu begehen", würden durch die Verordnung verstärkt9. Zusätzlich sah § 1 IV der Verordnung für Freiheitsstrafen, die unter die Nichteinrechnung fielen, einen Vollzug "unter verschärften Bedingungen" vor10. [Nr. 39] Gesetz zur Änderung des Reichsstrafgesetzbuchs vom 4. September 1941 1. Einführung Das Regierungsgesetz1 brachte in § 1 eine Strafschärfung (Todesstrafe) für "gefährliche Gewohnheitsverbrecher" und "Sittlichkeitsverbrecher", die sich aus Schutz- oder Sühnegesichtspunkten ergeben konnte. Die Vorschrift war im Hinblick auf die Ausweitung der Todesstrafe und wegen der gesetzlichen Behandlung der Strafewecke von großer praktischer wie theoretischer Bedeutung. Während § 1 das RStGB ohne Textänderung ergänzte, wurde eine Reihe von Tatbeständen formell geändert oder neu eingestellt. Diese Vorschriften waren förmlich als "vorweggenommene Strafrechtsreform"2 ausgewiesen. Das gilt namentlich für die "Erneuerung des - man möchte fast sagen - repräsentativsten Tatbestandes im Strafrecht ... 6 7

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Zu § 1 II vgl. DVO v. 27. 6. 1940, RGBl. I, S. 942 und Dallinger, in: Freisler/Grau/Kmg/Rietzsch (1941), S. 739 f. Vgl. §§ 104,106 KStVO i. d. F. v. 18. 5.1940, RGBl. I, S. 787; zum Verlust der Wehrwürdigkeit §§ 30, 31 MStGB i. d. F. v. 10. 10. 1940, RGBl. I, S. 1347 und §§ 33, 34 RStGB; zum Übergang der Strafvollstreckung auf die allgemeinen Behörden § 102IV, I Nr. 1 KStVO 1940. Zusf. Dallinger, aaO, S. 713 f. Dallinger, aaO, S. 714. Dallinger, aaO, S. 714 f. Dazu Dallinger, aaO, S. 736. RGBl. I, S. 549. Zeichnung: FuRk Hitler, Vors. des MfdRV Göring, RMdJ (geschäftsführend) Schlegelberger, RMdl Frick, RMuChdRk Lammers. - § 1 gegenstandslos durch Art. IV Nr. 8 MRG Nr. 1; §§ 3,8 aufgehoben durch KRG Nr. 55, Nr. 12. Vgl. aber § 302d II StGB i. d. F. des 4. StÄG. Schmidt-Leichner, DStR 1941, 2145; s. auch Pßndtner/Neubert/Rietzsch (1933 ff.), II c 6, S. 169; Freister, DJ 1941,930.

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des Mordes"3 (§ 2 des Gesetzes, §§211, 212 RStGB). Die weiteren neuen Strafvorschriften waren auf verschiedene Sachgebiete verstreut. Das Gesetz brachte ferner, praktisch bedeutsam, eine Änderung der Zuständigkeit für die Entlassung aus der Sicherungsverwahrung (§ 8) und legte sich im übrigen zeitlich unbegrenzte Rückwirkung bei (§ 10 II). Den ersten Schwerpunkt der folgenden Darstellung bildet § 1 des Gesetzes (dazu 2). Der Reform der Tötungsdelikte wird, entsprechend ihrer Bedeutung, ein besonderer Abschnitt gewidmet (dazu 3), die Strafvorschriften im übrigen (dazu 4) und die Verfahrensbestimmungen (dazu 5) sind einbezogen. 2. Die Todesstrafe für gefährliche Gewohnheitsverbrecher und Sittlichkeitsverbrecher (§ 1) Die Strafschärfungsvorschrift des § 1 lautete: "Der gefährliche Gewohnheitsverbrecher (§ 20a des Strafgesetzbuchs) und der Sittlichkeitsverbrecher (§§ 176 bis 178 des Strafgesetzbuchs) verfallen der Todesstrafe, wenn der Schutz der Volksgemeinschaft oder das Bedürfnis nach gerechter Sühne es erfordern".

In der Nachkriegsliteratur wird nicht nur die Todesstrafdrohung, sondern auch der Tatbestand als rechtsstaatswidrig angesehen. Dessen Rechtsstaatswidrigkeit folgt für Eberhard Schmidt aus der Betonung des Schutzzwecks der Strafe und der Herausstellung seines Vorrangs gegenüber dem Sühnegedanken: Man sehe deutlich, wie die Gerechtigkeit ("gerechte Sühne") hinter den Zweckmäßigkeitsgesichtspunkt des "Schutzes der Volksgemeinschaft" zurückgestellt werde. § 1 sei "ein um so interessanteres Dokument", als die Verordnung gegen jugendliche Schwerverbrecher vom 4. Oktober 1939 "Schutz- und Sühnegedanken noch in umgekehrter Reihenfolge gebracht hatte", während schließlich das RJGG von 1943 die Behandlung eines zwölfjährigen Kindes als Jugendlicher nur noch vom Volksschutz abhängig gemacht habe4. § 1 ist also nach Eberhard Schmidt ein Markstein für das Vordringen des Schutzgedankens im Strafrecht. In ähnlicher Weise charakterisieren Bruns und Lange - im Rückblick den § 1 des Gesetzes5. § 1 war sicher kein Zufallsprodukt des Kriegsstrafrechts, mochte auch der Dauercharakter der Vorschrift 1941 noch zweifelhaft sein: Der Vorspruch des Entwurfs eines nationalsozialistischen Strafgesetzbuches charakterisierte seit 1937 den "Sinn und Zweck des Strafrechts" als "Schutz des Volkes, Sühne für Unrecht, Festigung des Willens zur Gemeinschaft", während im Vorspruch von 1936 die Sühne noch geführt hatte 6 . Nach Freisler soll Hitler selbst dem Schutz des Volkes den ersten Rang gegeben haben7. Die Verordnung gegen jugendliche Schwerverbrecher war die erste gesetzliche Anerkennung des Schutzgedankens als eigenständiger Strafeweck. Zuvor war der Schutzgedanke schon in verschiedenen anderen Zusammenhängen hervorgetreten: Er hatte 1935 in § 154b RStPO (Verfahrenseinstellung gegenüber den Opfern einer Erpressung) gleichen Rang neben der Sühne gefunden, der "Standpunkt der 3 4 5 6 7

Freister, DJ 1941,930. Eb. Schmidt (1965), S. 437 f. sowie SchwerverbrecherVO [Nr. 31], § 3 RJGG 1943 [Nr. 51] 3a. Bruns (1967), S. 140 ff.; Kohlmusch/Lange39/40 (1950), S. 43. Vgl. Gürtner/Freisler, Das neue Strafrecht (1936), S. 32 und Freisler, DStR 1939, 332 zum Stand 1937. - Die Richterbriefe bestätigen den Dauercharakter des § 1, vgl. unten 2c. DStR 1939,332.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

Volksgemeinschaft" war seit 1940 Leitlinie des staatsanwaltschaftlichen Einstellungsermessens bei Auslandstaten Deutscher (§ 153a RStPO). Schließlich bestimmte Nummer 46 der Strafvollzugsordnung von 1940 die Aufgabe des Strafvollzugs im Anschluß an den revidierten Vorspruch zum Strafgesetzentwurf 8 . Nachdem in der Strafrechtsreformdiskussion zu Beginn des Dritten Reiches der Sühnegedanke im Zeichen eines ethisierenden Willensstrafrechts in den Vordergrund gerückt worden war, sah man in jenen Entwicklungen einen neuerlichen "Sinnwandel" der Strafe angelegt9. So mußte § 1 Änderungsgesetz als möglicher Ausdruck solchen Sinnwandels im zeitgenössischen Schrifttum höchste Aufmerksamkeit finden: Die Vorschrift rückte das Verhältnis der Strafzwecke möglicherweise in ein neues Licht. Die Interpretation des § 1, das Verhältnis von Schutz und Sühne in § 1 und im allgemeinen sowie der Inhalt der Begriffe Schutz und Sühne wurden lebhaft diskutiert 10 . Im folgenden sind die einzelnen Deutungsmöglichkeiten im Hinblick auf § 1 anzusprechen (dazu a). Das Schwergewicht wird auf die Darstellung der Rechtsprechung gelegt, um die praktisch maßgebliche Interpretation der Strafzwecke und ihres Verhältnisses untereinander zu ermitteln (dazu b). Die materiell- und prozeßrechtlichen Einzelfragen, die sich im Zusammenhang des § 1 ergaben, sind hier nicht zu erörtern 11 . a) Deutungsmöglichkeiten zum Verhältnis von Schutz und Sühne Bei unbefangener Lektüre des Gesetzeswortlauts, der den Schutzgedanken durch ein "oder" mit dem Sühnegedanken verband, genügte eine dieser beiden Voraussetzungen zur Verhängung der Todesstrafe gegen den gefährlichen Gewohnheitsverbrecher oder den Sittlichkeitsverbrecher. Schutz und Sühne standen also als (mindestens) gleichberechtigte Strafzwecke nebeneinander 12 ; aus der Voranstellung des Schutzes konnte man allenfalls auf eine Hervorhebung dieses Aspekts 13 schließen, nicht aber umgekehrt auf einen Vorrang des Süh-

8

9 10

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12

13

Vgl. oben [Nr. 31]; zur StVollzO Pfundtner/Neubert/Eichler/Schmidt/Dallinger (1933 ff.), II c 14 zu Nr. 48 StVollzO v. 22. 7.1940, Anm. 1 (S. 42); § 154b RStPO i. d. F. des ÄndG v. 28.6.1935, RGBl. I, S. 844, Art. 4. § 153a RStPO i. d. F. der GeltungsVO [Nr. 3η 3,4. Vgl. namentlich Exner, FS Kohlrausch (1944), S. 24 ff. Vgl. etwa Bockelmann, ZAkDR 1942, 293 Fn. 2; Dohm, DR 1942, 401 ff. und FS Kohlrausch (1944), S. 4 ff. und DR 1944, 2 ff.; Exner, FS Kohlrausch (1944), S. 24 ff., 31, 34; Freister, DJ 1941, 929 ff.; Grau/Krug/Rietzsch2 (1943), S. 287 ff.; Klee, DStR 1942, 68 ff., 72; Kohlrausch/Lange™ (1943), § 20a Anm. V; Lange, ZStW 62 (1944), 175 ff.; Nagler, LK6 (1944), § 20a Anm. 1, S. 190 f.; Schänke1 (1944), § 20a Anm. XII; Thiemann, DR 1941, 2651. Vgl. ferner zusf. Bnms (1967), S. 143 ff. Zur Anwendbarkeit des § 1 auf vermindert Zurechnungsfähige unten 2c cc; zur Revisibilität der Anwendung des § 1 und zur Verhängung der Todesstrafe durch das Revisionsgericht RGSt. 76, 313, 316; zur Hinweispflicht nach § 265 StPO bei Anwendung des § 1 RG DR 1943, 589-". Zusf. Grau/Krug/Rietzsch2 (1943), S. 289 ff. Für Gleichstellung vgl. RGSt. 76, 313; RG-BS-DR 1942, 4291 = DJ 1942, 265 sowie Dohm, DR 1942, 401; Schwarz, ZAkDR 1941, 309 ("wahlweise" Schutz oder Sühne); Nagler, LK6 (1944), § 20a Anm. 1 I, S. 191 oben; Bockelmann, ZAkDR 1942, 293 Fn. 3, freilich mit der Konsequenz, die Todesstrafe zu Schutzzwecken den Sicherungsmaßregeln zuzuordnen und von einer Erweiterung des Maßnahmenkatalogs zu sprechen. Vgl. RGSt. 76, 92; HRR 1942, Nr. 743; DR 1942, 16953; RGSt. 77, 24, 27; RG DR 1943, 104317 (verallgemeinernd).

C. Die zweite Phase: 1939 bis 1945

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negedankens. Die Anerkennung des Schutzgedankens als eigenständiger Strafzweck war für den Bereich des § 1 nach dem Gesetzeswortlaut evident. Auch der Zeitgenosse, der, wie etwa Nagler, am Vergeltungsgedanken und an der Schuldgrundlage des Strafrechts im Ausgangspunkt konsequent festhalten wollte, mußte einräumen, daß § 1 die Strafhöhe "ohne jede Schuldvertiefung spezialpräventiv und damit nach Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten" ausrichtete: Lediglich für das Ob der Strafe werde am Schuldgrundsatz festgehalten - die Anwendbarkeit des § 1 setzte Schuldfähigkeit voraus -, so daß der gefährliche Schuldunfähige nicht erfaßt werde. § 1 schlage "aber bei relativ geringer Schuld ein, die nicht zur Ausgleichung durch Tod" ausreiche14. Die von § 1 gestellten Alternativen konnten also nur lauten: Gleichberechtigung von Schutz und Sühne oder bewußte Voranstellung des Schutzgedankens. Trotzdem entwickelte sich um § 1 geradezu ein "Schulenstreit": Zur dogmatischen Einordnung des § 1 wurden zahlreiche Varianten vertreten, die von der Annahme einer Erweiterung des Maßnahmenkatalogs15 durch die Schutzstrafe bis zur Einbettung des § 1 in ein erweitertes Schuldprinzip reichten16. Die dem Gesetzeswortlaut am nächsten liegende Deutung gab Dahm in seiner ersten Stellungnahme zum § 1 Änderungsgesetz. Er betrachtete die Vorschrift als bereichsweise Einführung der Zweckstrafe, als ein "sichtbares Zeichen für das Vordringen des rationalen Zweckmäßigkeitsdenkens auf Kosten einer ethischen Strafrechtsbetrachtung"17. Noch weiter ging Klee, der § 1 den Sinn einer allgemeinen Wendung zur Sicherungsstrafe beilegte18. Dahm modifizierte später seine anfängliche Position und sah in § 1 einen neuen Typ der Strafe verkörpert; nämlich die "Reinigungsstrafe", die auf die Reinigung der Gemeinschaft von minderwertigen Menschen ziele. Diese Reinigungsstrafe sollte als "Zwischengebilde zwischen Schuld und Gefährlichkeit" stehen. Zwischen die Begriffspaare Schuld und Sühnestrafe sowie Gefährlichkeit und Maßnahme schiebe sich das neue Begriffspaar Minderwertigkeit und Reinigungsstrafe. Bei der Reinigungsstrafe mischten sich, so Dahm, ethische und zweckorientierte Momente: Minderwertigkeit sei mehr als bloße Gefährlichkeit, die etwa allein auf Krankheit beruhen könne. Gefordert sei "sozialethische Minderwertigkeit". Anderseits müsse der minderwertige "böse Charakter" nicht verschuldet sein, weshalb die Basis der Sühnestrafe verlassen werde. Freilich sei damit die Zweckstrafe nicht installiert, weil nicht nur Schuldfähigkeit, sondern auch ein ethisch eingefärbtes Unwerturteil vorausgesetzt blieben19: Die Ausmerzung des sozialethisch minderwertigen Verbrechers befriedige ein "sittliches [!] und biologisches Reinigungsbedürfnis [!] der Gemeinschaft"20.

14

Vgl. Nagler, LK6 (1944), § 20a Anm. 11, S. 190 f. S. auch Freister, DJ 1941,931 sowie die Rspr.

15

Bockelmann, ZAkDR 1942, 293 Fn. 3.

16 17

Vgl. Lange, ZStW 62 (1944), 186 ff. Zum neuen "Schulenstreit", aaO, 182 f. Dahm, DR 1942, 401; vgl. auch Klee, DStR 1942, 72; Zawar, DStR 1943, 48; Schwarz12 (1943), § 1 Anm. 2 (es komme beim Volksschutz "weniger auf die Schuld an"). Gegen Dahm Rietzsch, in: Grau/Kmg/Rietzsch2 (1943), S. 282.

18 19

Vgl. Klee, aaO. Vgl. Dahm, FS Kohlrausch (1944), S. 10 ff., 13 f.; s. auch schon DR 1942,403 f., wo dieser Standpunkt bereits angedeutet ist.

20

Dahm, DR 1944,3 f. Vgl. auch die nachfolgende Darstellung der Rspr.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

Kohlrausch unternahm im Schrifttum den bekanntesten Versuch, dem Schutzprinzip Grenzen zu setzen, indem er den Wortlaut des § 1 umdeutete: Er interpretierte Schutz "oder" Sühne nicht alternativ im Sinne des lateinischen "aut", sondern kumulativ im Sinne des "sive". Auf dieser Grundlage ergab sich die Annahme einer wechselseitigen Ergänzung und Beschränkung beider Strafewecke in dem Sinne, daß zwar Schutz oder Sühne im Vordergrund stehen konnten, aber die Schutzstrafe auch vom Sühnestandpunkt "gerecht", die Sühnestrafe umgekehrt vom Schutzstandpunkt "zweckmäßig" sein mußte21. Die Gegenüberstellung von Schutz und Sühne und die Frage nach dem Vorrang des einen oder des anderen Prinzips bezeichnen die Problemstellung jedoch nur unzulänglich, weil sie über den vorausgesetzten Inhalt von Schutz und Sühne noch nichts besagen22. Ein "reiner" Gegensatz ergab sich nur dann, wenn man Sühne ausschließlich mit Tatschuldvergeltung identifizierte und ihr die präventiven Schutzzwecke entgegenstellte23. Ein solcher Gegensatz war zeitgenössischem Verständnis um 1941 aber keineswegs selbstverständlich, sondern wurde verbreitet als altmodisches Überbleibsel eines überwunden geglaubten bürgerlichen Zeitalters angesehen. Die Anhänger des Vergeltungsgedankens führten Rückzugsgefechte, weil die Entwicklung offensichtlich von der (ausschließlichen) Maßgeblichkeit des Vergeltungsgedankens wegführte24. Den Inhalt des Sw/inebegriffs suchte man im Zuge dieser Entwicklung auf der "weltanschaulichen Grundlage" des Nationalsozialismus neu zu bestimmen, der "liberalistische" Gerechtigkeitsbegriff verwandelte sich in den der "völkischen" Gerechtigkeit. Diese Ansätze zur Neubestimmung überlagerten sich mit dem herkömmlichen Gegensatz von Sühne- und Schutzstrafe; die Tendenz war auf eine mehr oder weniger weitgehende Einebnung des Unterschiedes von Schutz und Sühne gerichtet. Hierher gehört etwa Langes Versuch, § 1 Änderungsgesetz über die Brücke einer Lebensführungsschuld mit dem Schuldprinzip zu verbinden. Diese Konstruktion verläßt offenkundig den Ausgangspunkt im Tatschuldprinzip und stellt Tätersühne neben Tatsühne. Die "Vereinbarkeit" von spezialpräventiven Bedürfnissen mit Schuldgesichtspunkten ergibt sich einfach deshalb, weil die "Lebensführungsschuld" im Ergebnis zu einer Haftung jedes Schuldfähigen für seinen minderwertigen Charakter führt 25 . Gegenüber solchen "Rettungsversuchen" zugunsten des Schuldprinzips wurde etwa auch die These aufgestellt, der Sühnegedanke neuerer Prägung gehe im Schutzzweck auf - und beweise gerade dadurch seine Überflüssigkeit26. Von Art und Ausmaß des Funktionswandels der Strafzwecke hing es also ab, ob nicht die früher als Gegenpole konzipierten Begriffe von "Schutz" und "Sühne" konvergierten, ob nicht "völkische" Zweckmäßigkeit und "völkische" Gerechtigkeit eine Einheit bildeten, wie etwa die Formel "Gerecht ist, was 21 22 23 24

25 26

Kohlrausch /Lange3" (1943), § 20a Anm. V. Eb. Schmidt (1965), S. 438, der die entscheidende Entwicklung in der Einebnung des Unterschiedes von Schutz und Sühne sieht. Vgl. ζ. B. die Darstellung Dohms, DR 1941, 401; zu Syntheseversuchen den., aaO, 403 und DR 1944, 2 ff.; s. auch Bockelmann, ZAkDR 1942,294 Fn. 2. Vgl. dazu etwa Bruns, ZAkDR 1943, 53 ff. (§ 1 der Novelle enthalte unverkennbar eine stärkere Betonung des Schutzgedankens, setze Gerechtigkeit und Zweckmäßigkeit aber "noch nicht [!] in ein schroffes Alternatiwerhältnis"); Dohm, DR 1944, 2 ff.; v. Gemmingen, ZStW 62 (1944), 272; Exner, FS Kohlrausch (1944), 25 ff., 31 ff.; Klee, DStR 1942,68 ff.; Schmidt-Leichner, DR 1943,884. Vgl. Lange, ZStW 62 (1944), 175 ff., 209 ff., 216,221. Zur Lebensführungsschuld schon [Nr. 12] 2d. Klee, DStR 1942, 68 ff., 70. Zum ganzen Exner, FS Kohlrausch (1944), S. 25 ff, 34 ff.; Dohm, DR 1944,2 ff.

C. Die zweite Phase: 1939 bis 1945

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dem Volke nützt" nahelegte. Exemplarisch sei ein solcher (möglicher) Inhaltswandel am Beispiel der Sichtweise Freislers verdeutlicht. 1941 formulierte Freisler mit Blick auf § 1 des Änderungsgesetzes, das Sühneerfordernis werde weder "aus einem primitiven Auge-um-Auge, Zahn-um-Zahn-Grundsatz der Talion entnommen, noch aber - was hervorzuheben praktisch bedeutungsvoller ist - aus der Tat an sich und einem gedachten, angeblich zu erstrebenden Gleichgewicht zwischen Tat und der Strafe". Die Sühne sei auch nicht das Produkt "einer mystisch transzendentalen Vorstellung". Das Sühneerfordernis sei vielmehr "eine natürliche Funktion des Volksorganismus", nämlich "sein gesundes Reinigungsbedürfnis". Sühne wurde also "gemeinschaftssittlich" von der als Organismus gedachten Volksgemeinschaft her verstanden: Sühne zielte auf die "Säuberung" des Täters und seine anschließende Wiedereingliederung oder, falls eine "Reinigung" des Täters selbst aussichtslos erschien, auf Ausstoßung des "Entarteten" durch den Tod. Diese Begriffsbestimmung Freislers ist uns schon in ähnlicher Form als Leitprinzip der Strafzumessung begegnet; erinnert sei an die Ausführungen im Zusammenhang mit der Volksschädlings V O . Der vorgestellte Vorgang volksbiologischer Reinigung erscheint bei Freisler, was von grundlegender Bedeutung ist, nicht als Frage bloßer Zweckmäßigkeit, sondern als Gebot der (völkischen) "Gerechtigkeit": Die innere (Natur-)Gesetzlichkeit der Volksgemeinschaft soll eine solche Reinigung erfordern28. Die "Formalgerechtigkeit einer falsch verstandenen Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt", werde durch eine "höhere Gemeinschaftsgerechtigkeit" abgelöst, deren Maxime lautet: "Jedem das Seine"29. Diese Inhaltsbestimmungen von "Sühne" und "Gerechtigkeit" wollen wir zunächst einmal zur Kenntnis nehmen, ohne nach weiteren "weltanschaulichen" Fundierungen oder Ableitungszusammenhängen zu suchen. Es geht hier zunächst um die unmittelbaren Folgerungen für Inhalt und Verhältnis der Strafewecke: Klar ist, daß auf der Basis der Freislerschen Setzungen - Verständnis der Sühne mit Blick auf die Volksgemeinschaft, nämlich auf ihre "sittliche Gerechtigkeit" und die Notwendigkeit ihrer "Wohlfahrt" - das "Sühneerfordernis ideell und praktisch auf einer Ebene mit dem Schutzbedürfnis" steht, daß sich beide ergänzen30. Die "Wohlfahrt" der deutschen Volksgemeinschaft ist der höchste Gerechtigkeitswert. Die "innere Gesetzlichkeit" der Volksgemeinschaft erfordert ihre "Selbstreinigung" von "Entarteten". Darin liegt der gemeinschaftssittliche Sinn der Ent-"Sühnung". Der Schutz der Volksgemeinschaft kann seinerseits nichts anderes als ihre "Wohlfahrt" und damit u. a. ihre "Selbstreinigung" bezwecken. Die Frage, "ob die sittliche Sauberkeit, Integrität, Selbstachtung der Volksgemeinschaft" die "dauernde Ausschließung" - nämlich Tötung - des Täters verlangen, stellt sich also vom Ausgangspunkt des "Sühne"- wie des "Schutz"gedankens, beiden Blickrichtungen rückt "der Entartete", d. h. der Täter, nicht die Tat, ins Zentrum der Betrachtung. "Schutz"und "Sühne"strafe setzen die Schuldfähigkeit des Täters voraus; Schutzbedürfnis ohne Schuldfähigkeit wird nämlich "von der Öffentlichkeit (!) auf andere Weise als durch die Strafrechtspflege hergestellt", nämlich im "Sicherheits"- und "Polizeirecht"31.

27

28 29

Vgl. oben [Nr. 29], 8b.

DJ 1941,930 re. Sp., 931. AaO, 932. 30 AaO, 930 f. 31 AaO, 931 f.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

Auf der Basis einer solchen "gemeinschaftssittlichen" Betrachtung war es allenfalls eine Frage der Nuancierung, wenn nicht sogar ganz gleichgültig, ob man von Sühne und Schutz, Sühne oder Schutz oder aber nur von einem dieser Strafewecke sprach. Es war letztlich ein terminologisches Problem, ob man eine "Krise der Sühnetheorie" konstatieren und den Begriff der Sühne ganz verabschieden wollte32, ob man die Sühne als Teil des Volksschutzes betrachtete 33 oder den Sühnegedanken mit dem beschriebenen neuen Inhalt beibehielt. So bezeichnete etwa Schmidt-Leichner das Erfordernis "gerechter Sühne" in § 1 der Novelle als "entweder überflüssig" oder als "sprachliche Ornamentik des Gesetzes, das sich von überkommenen Auffassungen noch nicht lösen konnte34. Die Darstellung der Rechtsprechung wird zeigen, daß die von Freisler umrissenen Positionen nicht lediglich als weltanschauliche Postulate im politischen Raum bedeutsam waren, sondern auch für die praktische Rechtsanwendung und ihre dogmatische Begrifflichkeit. b) Schutz und Sühne in der Rechtsprechung des Reichsgerichts Das Reichsgericht hat § 1 teilweise eine bewußte Voranstellung des Schutzgedankens gegenüber dem Erfordernis gerechter Sühne entnommen35; andere Entscheidungen sprechen lediglich von einer Gleichstellung, lassen also die Todesstrafe jedenfalls wahlweise aus Gründen des Volksschutzes zu36. Danach konnte die Todesstrafe jeweils allein aus Gründen der Abschreckung, der Spezialprävention oder der Sühne verhängt werden. Die Einzelauswertung zeigt unterschiedliche Akzentsetzungen auf den Schutz- und/oder den Sühnegedanken; zugleich sind Tendenzen zur Gleichrichtung des Sühneerfordernisses mit dem Schutzprinzip unverkennbar (dazu cc). Vorrangig gegenüber der Detailanalyse zum Inhalt und Verhältnis von Schutz und Sühne ist aber für die Anwendung des § 1, daß Schutz- und Sühnegedanken in einer übergreifenden "Vereinigungsformel" (dazu aa) und im Gedanken der "Persönlichkeitswertung" (dazu bb) verbunden wurden: Selbst wer eine fortdauernde "Antinomie" der Strafzwecke annahm und die dargestellte Konvergenz von Schutz und Sühne, von "völkischer" Gerechtigkeit und "völkischer" Zweckmäßigkeit, bestritt, fand in der Praxis "Schutz" und "Sühne" unter einem gemeinsamen Dach. aa) Die "Vereinigungsformel": Das Sittlichkeits- und Gerechtigkeitsempfinden der volkstumsbewußten Volksgemeinschaft Die erste veröffentlichte Entscheidung des Reichsgerichts zu § 1 fällte der Besondere Strafsenat am 20. November 194137; sie hatte für die spätere Rechtsprechung richtungweisende Bedeutung und ist deshalb näher darzustellen. - Das Urteil betraf nach den Feststellungen ein Sittlichkeitsverbrechen dreier polnischer Landarbeiter, das am 9. Februar 1941 be32 33 34

Vgl. Titel und Inhalt des Aufsatzes von Klee, DStR 1942, S. 68 ff. So Schmidt-Leichner, DR 1943,884. AaO; vgl. auch DStR 1942,96.

35 36 37

Vgl. Nachw. bei Fn. 13. Vgl. Nachw. bei Fn. 12. DR 1942, 4291 = DJ 1942,265 mit ausf. Sachverhalt (BStS 2/41; Hauptverhandlung laut Kaul [1971], S. 192 am 20.11.1941); zum Fall näher Kaul (1971), S. 187 ff.

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gangen worden war. Das Landgericht Hirschberg hatte die drei Angeklagten am 12. Juni 1941 zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt, der IV. Strafsenat des Reichsgerichts der erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde nicht stattgegeben. Daraufhin wurde mit dem "außerordentlichen Einspruch" die Sache vor den Besonderen Strafsenat gebracht. Das Verfahren endete in zwei Fällen mit einem Todesurteil 38 . Der Besondere Strafsenat prägte in der Urteilsbegründung eine "Vereinigungsformel", die den Schutz der Volksgemeinschaft und das Bedürfnis nach gerechter Sühne gleichermaßen umfaßte: "Entscheidend für die Verhängung der Todesstrafe ist die Feststellung, daß das Sittlichkeitsempfinden und das Gerechtigkeitsgefühl der ihres Volkstums bewußten Volksgemeinschaft die Unschädlichmachung des Täters aus den Notwendigkeiten verlangt, die die Wohlfahrt des deutschen Volkes bedingen". Diese Formulierung verbindet Gerechtigkeitsgesichtspunkte und die scheinbar "zweckrationalen" Aspekte der "Unschädlichmachung" und der deutschen "Wohlfahrt". Man könnte mit dem Hinweis auf die Verfahrensgeschichte diese Kombinatorik als verbale Verhüllung terroristischer Absichten abtun und den Versuch eines "gedanklichen" Nachvollziehens für sinnlos erklären. Die Formel setzte sich aber in der späteren Rechtsprechung als Leitlinie durch, war also im zeitgenössischen Kontext durchaus juristisch ernst gemeint. Wir wollen uns deshalb dem Inhalt der Formel zu nähern versuchen und ihre einzelnen Elemente unterscheiden. Der Beurteiler soll, so lautet die erste Anweisung, den Standpunkt der "Volksgemeinschaft" einnehmen, nicht also die "Auffassung der unmittelbar Beteiligten oder gewisser Volkskreise in bestimmten Gegenden" zugrunde legen, sondern die Sichtweise der "Volksgemeinschaft" im ganzen. Die Existenz einer solchen verbindlichen "gemeinschaftssittlichen" Wertungsbasis wird damit, soll die Formel einen Sinn ergeben, vorausgesetzt. Einen deutlichen inhaltlichen Hinweis gibt der Zusatz, wonach es auf die Auffassung "der ihres Volkstums bewußten" Volksgemeinschaft ankomme. Wir dürften nicht fehlgehen in der Annahme, damit seien nationalsozialistische Rassengedanken zu Wertungsrichtlinien erklärt. Diese Rassengedanken werden also offenbar in das völkische "Sittlichkeits"- und "Gerechtigkeits"-Empfinden einbezogen. Was "Sittlichkeit" und "Gerechtigkeit" bedeuten, hängt danach u. a. vom Gehalt der nationalsozialistischen Rassenlehre ab. Wir wollen unterstellen, daß dazu jedenfalls die Vorstellung von der Höher- und Minderwertigkeit der "Rassen" und entsprechend von der unterschiedlichen Wertigkeit auch der "Einzelmenschen" gehört. Vom Standpunkt eines solchermaßen aufgeladenen "Gerechtigkeits"-Empfindens soll nunmehr entschieden werden, ob die "Unschädlichmachung" des Täters aus Gründen deutscher "Wohlfahrt" geboten ist. Daß das Ziel der Wertung, die "Unschädlichmachung", die offenbar im Sinne der "Ausmerzung" von "Schädlingen" und "Minderwertigen" gemeint ist, überhaupt als "sittlich" und "gerecht" geboten sein kann, wird damit vorausgesetzt; es besteht offenbar eine enge Verbindung von Sittlichkeit, Gerechtigkeit und Rassengedanken. Ebenso wird vom Besonderen Strafsenat vorausgesetzt, daß die Notwendigkeiten deutscher "Wohlfahrt" Elemente (volkstumsbewußten) Gerechtigkeits- und Sittlichkeitsempfindens sein können. Volksschutz und Sühne sind also offenbar Gerechtigkeitsgebote, wobei die Vereinigungsformel eher den Schutzaspekt in den Vordergrund stellt. Im Ergebnis kann die "Ausmerzung" untauglicher Gemeinschaftsmitglieder ebenso wie die Sühne schwerer Schuld als gerecht geboten sein, so daß wir die bereits dargestellte Auffassung Freislers im Kern in der Formel wiederfinden: Schutz wie 38

Verfahrensgeschichte nach Kaul, aaO.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

Sühne, Tätergefährlichkeit wie Täterverschulden können zu "gerechter Ausscheidung" führen und stehen insofern - unbeschadet ihres näheren Verhältnisses - auf derselben Wertungsebene. Wir haben bei diesen Überlegungen freilich die Vereinigungsformel des Besonderen Strafsenats vorausgesetzt, ohne nach ihrem Fundament zu fragen, das in der Entscheidung unausgesprochen geblieben ist39. Die Konturen einer Schutz und Sühne übergreifenden Funktionsbestimmung der "Strafe" haben sich allerdings abgezeichnet; gewiß ist, daß ein solches Strafkonzept mit Tatschuldvergeltung nichts gemein hat. Bruns hat 1943 - im Anschluß an Dahm einen auf die Vereinigungsformel des Besonderen Strafsenats zugeschnittenen Befund formuliert, der die hier vorgeführten Konsequenzen auf einen straftheoretischen Nenner zu bringen sucht: "Es spricht viel dafür, die Todesstrafe aus § 1 als ein 'Reinigungsmittel der Gemeinschaft, als ein Instrument zur Auslese Entarteter' aufzufassen und ihren Anknüpfungspunkt nicht so sehr in der Gefährlichkeit oder dem Verschulden des Täters für sich, als vielmehr in der für die Gemeinschaft unerträglichen und ethisch verwerflichen Minderwertigkeit des Täters als solcher zu suchen"40. Die Leitformel des Besonderen Strafsenats wurde in der späteren Rechtsprechung aufgegriffen und unabhängig von der Akzentuierung des Schutz- oder des Sühnegedankens als maßgeblich und übergreifend zugrunde gelegt41. Ergänzt wurde die Formel teilweise durch eine nähere Erläuterung des Gesichtspunktes deutscher Wohlfahrt, bei dessen Konkretisierung "insbesondere auch" die "durch die Kriegsverhältnisse gegebenen" Notwendigkeiten zu beachten seien42. In verschiedenen Entscheidungen des IV. Strafsenats findet sich der erläuternde Zusatz, maßgebend seien "die objektiven Notwendigkeiten", dessen Bedeutung sich aber in der Ablehnung eines "besonderen" Tätertypenerfordernisses erschöpfte43. Entscheidend ist, daß in der Vereinigungsformel Schutz- und Sühnegesichtspunkte verschmolzen waren. bb) Der "Wert oder Unwert der Täterpersönlichkeit" als Maßstab Die Vereinigungsformel wurde auch im Urteil des I. Strafsenats vom 24. März 1942 aufgegriffen, dort aber durch den im Leitsatz herausgehobenen Grundsatz ergänzt, entscheidend sei "der Wert oder Unwert der Persönlichkeit des Täters"44. Die Notwendigkeit einer Persönlichkeitswertung hatte der Besondere Strafsenat zwar nicht ausdrücklich hervorgehoben, sie ergab sich freilich aus der Zielrichtung auf die "Unschädlichmachung" des Täters, deren Erforderlichkeit aus "Gründen der Wohlfahrt des deutschen Volkes" eine "Täterwertung" vor39 40 41

42 43 44

Dazu 5. Teil. Vgl. ZAkDR 1943, 54 f. im Anschluß an Dahm, DR 1942, 403. Vgl. auch Dahm, DR 1944, 3: "Reinigungs- oder Ausmerzungsstrafe" und oben bei Fn. 19 f. Zur Verwendung der Formel vgl. ZAkDR 1942,189 (4. StS); RGSt. 76, 91 (1. StS); DR 1942, 13211 (4. StS); DR 1943, 331 (4. StS); DR 1943,759 a (3. StS); RGSt. 77, 24, 27 (4. StS); DR 1943,118113 (3. StS). Vgl. RG ZAkDR 1942, 189 (4. StS); DR 1942,13211 (3. StS); DR 1943, 33 l (4. StS); RGSt. 77, 24, 27 (4. StS). Vgl. RG ZAkDR 1942,189; DR 1942,13211; DR 1943,331 und dazu Bruns, ZAkDR 1943,55. RGSt. 76,91.

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aussetzte. Der I. Strafsenat verband in der für notwendig, aber auch für entscheidend erklärten "Persönlichkeitswertung" wiederum Schutz- und Sühnegedanken und verdeutlichte den Bezug zur "Reinigung" der Volksgemeinschaft: Das Reichsgericht billigte die in den Urteilsgründen wiedergegebene Auffassung des Instanzgerichts, "ein Mann von der gemeinschaftswidrigen Gesinnung des Angeklagten habe in einem gesunden Volkskörper keine Daseinsberechtigung; er habe sich durch seine Taten und seine Gesinnung selbst aus der Volksgemeinschaft ausgeschlossen". Damit, so das Reichsgericht, habe der Tatrichter "mit Recht vor allem die Persönlichkeit des Täters berücksichtigt". Der "Wille des Gesetzgebers" gehe nämlich "erkennbar dahin, daß der gefährliche Gewohnheitsverbrecher und der Sittlichkeitsverbrecher aus der Volksgemeinschaft ausscheiden sollen, deren gemeinschaftsschädliche Gesinnung so gefährlich ist oder deren Taten sie so schwer mit Schuld beladen, daß ihr Fortleben für die Volksgemeinschaft unerträglich ist"45. Diese "Unerträglichkeit" wird damit gleichgesetzt, daß sich der Täter selbst "außerhalb der Volksgemeinschaft gestellt" habe, sei es durch seine "gemeinschaftsschädliche Gesinnung", sei es durch die Schwere der zu sühnenden Schuld. Der "Wert oder Unwert der Persönlichkeit des Täters ... vor dem die Allgemeinheit geschützt [!] werden soll", sei schlechterdings entscheidend, also für Schutz- wie Sühneerfordernis 46 . Diese Persönlichkeitswertung wurde in der Folge namentlich in Entscheidungen des III. Senats aufgegriffen. So heißt es etwa, maßgebend sei "nicht die Schwere der Tat allein", sondern "vielmehr ... ob nach der Auffassung der Volksgemeinschaft der Täter seiner ganzen Persönlichkeit nach keinen Anspruch mehr darauf haben soll, weiter innerhalb der Volksgemeinschaft zu leben"47, ob er "nach seiner ganzen Persönlichkeit für die Volksgemeinschaft so wertlos ist, daß er für immer aus ihr ausgeschlossen werden muß"48. Die Erforderlichkeit einer Persönlichkeitswertung wurde für Schutz- wie Sühnebedürfnis bejaht und durchgeführt; in beiden Fällen sollte "nicht die Schwere der Tat allein"49 entscheiden. Das verstand sich für die Gefährlichkeitsbetrachtung unter dem Schutzaspekt von selbst, rückte sie doch gerade den Täter ins Zentrum 50 ; es galt aber auch für das Erfordernis gerechter Sühne: Das Sühnebedürfnis mache sogar "noch mehr die Verwirkung der Todesstrafe von der Persönlichkeit des Täters abhängig". Die Tat werde hier zwar "in der Regel ein wichtiges Anzeichen dafür sein, ob das Sühnebedürfnis den Tod erfordert", dürfe aber "nicht für sich allein und losgelöst von der Persönlichkeit des Täters bewertet werden"51. Auch eine Entscheidung des I. Senats aus dem Jahr 1944 verdeutlichte die Notwendigkeit einer Täterwertung auch unter Sühnegesichtspunkten: Sie erklärte das "Außerhalb-Stellen" im Verhältnis zur Volksgemeinschaft für entscheidend; wie eng der Bezug zu spezialpräventiven Erwägungen dabei wird, zeigt sich daran, daß die fehlende Hoffnung, der Täter könne "wieder ein brauch-

45 46 47 48

49 50 51

AaO, 92; Hervorhebungen aaO. AaO, 93. RG HRR 1942, Nr. 743. HRR 1942, Nr. 671. Vgl. ferner HRR 1942, Nr. 507 (3. StS) = DStR 1942, 95 mit Anm. SchmidtLeichner, DR 1943, 759 a (3. StS); DR 1943, 118113 (3. StS) und RGSt. 77, 243, 245 f. (1. StS). Vgl. aber DR 1943, 331 (4. StS): Nicht nur der Persönlichkeitsunwert, sondern auch "objektive Bedürfnisse" könnten den Ausschlag geben. RG HRR 1942, Nr. 743. Vgl. z. B. HRR 1942, Nr. 507. HRR 1942, Nr. 743.

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bares Glied der menschlichen Gesellschaft" - gemeint ist die völkische "Volksgemeinschaft" werden, bei der Frage nach der gerechten Sühne (!) zu Buche schlägt und die Verhängung der Todesstrafe (mit-)begründet, während umgekehrt das Schutzbedürfnis in concreto verneint wird52. Im Erfordernis der Persönlichkeitswertung werden also Schutz und Sühne, sollten sie Gegensätze bilden, ebenfalls verbunden. Gemeinsamer Bezugspunkt ist jeweils die Frage, ob der Täter weiterhin der Volksgemeinschaft zugehören soll oder auszuscheiden ist. Schutz und Sühne bezeichnen allenfalls verschiedene Aspekte zur Beantwortung dieser Frage, nämlich einmal die "gemeinschaftsschädliche Gesinnung", die Gefährlichkeit oder Minderwertigkeit, zum anderen die Schuldschwere, die aber nicht isoliert im Sinne einer Tatschuld zu verstehen ist, sondern ebenfalls eine umfassende Gesamtwürdigung der Tat und des "Täterwertes" voraussetzen soll. Plakativ ausgedrückt: Beim Schutzbedürfnis liegt der Akzent auf der angeborenen oder erworbenen "Minderwertigkeit" des Täters, beim Sühneaspekt auf seiner "Verkommenheit"53. Tat und Täter werden, ähnlich wie bei der VolksschädlingsVO, Gegenstand einer "vikariierenden" Gesamtbetrachtung. cc) Die Gleichrichtung von Schutz und Sühne Nicht alle Entscheidungen des Reichsgerichts verwenden die Vereinigungsformel. Einzelne Urteile stützen sich ausschließlich auf die Notwendigkeiten des Volksschutzes und verwenden generalpräventive54 oder spezialpräventive55 Gesichtspunkte. Diese Entscheidungen dokumentieren, daß der Schutzgedanke gegenüber dem Sühneerfordernis mindestens den gleichen Rang einnahm. Andere Judikate, stützen sich allein auf den Gedanken "gerechter Sühne"56. Eine dritte Gruppe von Entscheidungen bejaht jeweils beide Erfordernisse und ist deshalb mit der von Kohlrausch empfohlenen Interpretation des "oder" im § 1 im Sinne eines "sive"57 vereinbar. Auch soweit die Vereinigungsformel nicht verwendet wird, sind Tendenzen zur Austauschbarkeit von Schutz und Sühne unverkennbar. Das gilt natürlich besonders für die Entscheidungen der dritten Gruppe. So vermeidet beispielsweise RG HRR 1942, Nr. 671 im Falle eines vielfach vorbestraften, vermindert zurechnungsfähigen Täters einen Gegensatz von Schutz- und Sühnebedürfnis: Die Schwere und besondere Verwerflichkeit der neu abzuurteilenden Tat zeige, "daß die verbrecherische Tatkraft des Angkl. ungebrochen", daß er "unrett-

52 53 54

55 56 57

DR 1944,44415. RGSt. 77,24,27 f. Allein auf Abschreckungsgesichtspunkte stützten sich namentlich Entscheidungen des 4. StS, nämlich RG DR 1943, 2366, bestätigt in RGSt. 77, 24, 28; s. auch RG HRR 1942, Nr. 456a, wonach es bei Bejahung des Schutzerfordernisses auf den Persönlichkeitsunwert nicht mehr ankomme. Die Entscheidung will aber in erster Linie ein besonderes Tätertypenerfordernis verneinen. Zur Rspr. vgl. auch Lange, ZStW 62 (1944), 178; Bruns (1967), S. 151. Vgl. RG HRR 1942, Nr. 507 (3. StS). Zur Abgrenzungsproblematik im Verhältnis zur Sicherungsverwahrung bei ausschließlich spezialpräventiver Argumentation Bruns, aaO, S. 151. HRR 1942, Nr. 743 (3. StS); DR 1942,17812 (4. StS); vgl. auch DR 1944,44416 (1. StS). Vgl. oben 2a sowie RG HRR 1942, Nr. 671; RGSt. 76, 313, 315 (2. StS); DR 1942, 4291 (BS); DR 1943,1396 (2. StS); vgl. auch ZAkDR 1942,189 (4. StS).

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bar dem Verbrechen verfallen" sei und "keine Art der Freiheitsentziehung die Volksgemeinschaft vor ihm sichern" könne. Unter solchen Umständen sei eine Strafmilderung nach § 51 II RStGB zu versagen, die besonderen Voraussetzungen des § 1 dagegen seien zu bejahen. Abschließend heißt es zur Strafbarkeit des Angeklagten: "Das Bedürfnis nach gerechter Sühne seiner Taten ist so groß, daß es durch seine geistige Abartigkeit nicht aufgehoben wird. Das Bedürfnis aber, die Volksgemeinschaft vor ihm zu schützen, wird durch die Besonderheit seiner geistigen Entartung nicht gemindert, sondern nur noch gesteigert... Hiernach ist auf Todesstrafe zu erkennen". Trotz verminderter Schuldfähigkeit sollen also (spezialpräventives) Schutzbedürfnis und Sühne den Tod des Angeklagten erfordern. Die Gleichrichtungstendenz ist aber auch aus den Entscheidungen belegbar, die ausschließlich speziai- oder generalpräventive Gesichtspunkte verwenden: Die Gefährlichkeit des Schuldfähigen kann unter Sühnegesichtspunkten als "verwerfliche Minderwertigkeit" angesprochen werden. Darin liegt der Sinn der Vereinigungsformel, wenn sie an den "Wert oder Unwert der Täterpersönlichkeit" anknüpft58; der Begründung dieser Konvergenz gilt etwa auch die "Lebensführungsschuld" Langes 59 . Selbst die reichsgerichtliche Entscheidung, die sich zentral und ausschließlich auf Abschreckung stützt, ist aus einem mit bestimmten Inhalten aufgeladenen Sühnebegriff begründbar, wie das Reichsgericht demonstriert. In D R 1943, 243 Nr. 6 lieferte die Zugehörigkeit des Angeklagten zum polnischen Volk den Anknüpfungspunkt für die Verhängung der Todesstrafe zu Schutzzwecken. Nach dem Leitsatz der Entscheidung war "auf Sittlichkeitsverbrechen eines Polen gegenüber einer Deutschen ... im allgemeinen die Todesstrafe auszusprechen". Die Anwesenheit einer großen Zahl polnischer Arbeitskräfte in Deutschland stelle, so der IV. Strafsenat in den Gründen, "eine große rassische Gefahr" dar. Die Landwirtschaft sei aber infolge kriegsbedingten Arbeitskräftemangels zum Einsatz der Polen gezwungen; Straftaten würden wegen der Gefahr des Verlustes der Arbeitskraft von den Arbeitgebern häufig nicht angezeigt. Dem "Schutzbedürfnis des deutschen Volkes" könne aber "bei diesen Verhältnissen nur durch die Todesstrafe genügt werden", weil diese allein "die erforderliche Abschreckung vor ähnlichen Taten" gewährleiste. Diese Grundsätze finden sich bereits in der schon erwähnten früheren Entscheidung des Besonderen Strafsenats, der das erhöhte Schutzbedürfnis ergänzend auch noch damit begründet hatte, das Sicherheitsgefühl der Heimat wie der Front werde durch Sittlichkeitsdelikte "landund volksfremder Arbeiter" empfindlich beeinträchtigt, so daß eine Gefahr für die Festigkeit der "Front daheim und draußen" bestehe 60 . Insoweit decken sich beide Entscheidungen, und man könnte sie allein als Exempel für die rücksichtslose Durchsetzung des ScAuizgedankens in der Behandlung "Fremdvölkischer" entsprechend dem Geiste der PolenstrafrechtsVO werten 61 . Die Poleneigenschaft steigerte aber nach der Rechtsprechung des Reichsgerichts auch das Bedürfnis nach "gerechter"(!) Sühne62, wie die vorausgegangene Entscheidung des Besonderen Strafsenats verdeutlichte: Die Polen gehörten nämlich, so das Reichsgericht, einem Volk an, "das nicht nur bei Kriegsbeginn und im Kriege, sondern schon im Frieden, insbeson-

58

Vgl. soeben bb.

59 60 61 62

Vgl. soeben a bei Fn. 25 Vgl. RG DR 1942,4291 (BS). Vgl. auch Majer (1981), S. 615 ff. Dieser Aspekt bleibt bei Majer, aaO, unerwähnt, die lediglich das Urt. v. 4.12.1942 = DR 1943, 2366 auswertet und darauf ihre Schlußfolgerungen stützt, vgl. aaO, S. 617.

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dere bei der Verfolgung der Volksdeutschen, seine Gehässigkeit gegen das Deutschtum und eine maßlose Grausamkeit gezeigt und dem deutschen Volk schweres Leid bereitet hat". Das habe man die "Angeklagten nicht entgelten lassen", sie hätten "vielmehr Gelegenheit zur Arbeit und zu einem Leben in Ordnung und Sicherheit in Deutschland erhalten". Man sei "ihnen freundlich entgegengekommen", habe sie "gut behandelt und teilweise an der häuslichen Gemeinschaft teilnehmen lassen", so daß die Angeklagten "allen Anlaß zu einem anständigen und gesetzmäßigen Verhalten gehabt hätten". Die Angeklagten hätten aber "im Gegenteil die Großmut des deutschen Volkes mißachtet, das Vertrauen der Arbeitgeber und ihrer Mitarbeiter mißbraucht und deren Hausfrieden gestört". Sie hätten sich "als Sittlichkeitsverbrecher in verabscheuungswürdiger Weise an einem deutschen Kinde vergangen, die Ruhe und Sicherheit der deutschen Volksgemeinschaft stark gefährdet und die Ehre des deutschen Volkes frech verhöhnt, und dadurch die gerechte Empörung und Erbitterung der volksbewußten Volksgemeinschaft in solchem Grade hervorgerufen, daß ihre Unschädlichmachung geboten" sei. Danach erforderten sowohl der Schutz der Volksgemeinschaft wie das Bedürfnis nach gerechter Sühne die schwerste Strafe63. Diese Auffassung blieb nicht vereinzelt; sie kehrte etwa in einer Entscheidung des II. Strafsenats wieder64. Die Judikate zeigen, daß "gerechte Sühne" vom Standpunkt der "volkstumsbewußten Volksgemeinschaft" den Rassengedanken einbezieht und im Falle der Polen nicht nur für "Schutz" oder "Ausmerzung" ins Gewicht fallen, sondern auch zu einer Art Haftung für die Volkszugehörigkeit führen sollte, der schuldsteigernde Wirkung beigemessen wurde. Offenbar fanden damit "weltanschauliche" und "geschichtliche" "Wahrheiten", wie sie die nationalsozialistische Führung formulierte, auf der Ebene strafrechtlicher Schuldzuschreibung Berücksichtigung. Im Ergebnis hatte damit die Poleneigenschaft unter Schutz- wie unter Sühnegesichtspunkten Bedeutung und führte zur partiellen Einebnung von Unterschieden: Einerseits waren die Polen Träger "rassischer Gefahr" und bildeten als Straftäter zudem aufgrund der Kriegsverhältnisse eine besondere Gefahr für die "Standfestigkeit der Front". Zugleich sollte die Poleneigenschaft aus den genannten Gründen eine gesteigerte Wohlverhaltenspflicht zur Folge haben, der Verstoß dagegen besonders vorwerfbar sein. Die Konvergenz von Schutz und Sühne bildete aber kein Sonderphänomen, das nur Fremdvölkische betroffen hätte. Bezugspunkt auch des Sühnegedankens war entsprechend der vom Besonderen Strafsenat aufgestellten Formel das "Außerhalb-Stellen" im Verhältnis zur Volksgemeinschaft. Der Richter hatte sich dabei die Frage vorzulegen, ob der Täter der Volksgemeinschaft weiterhin, und sei es auch nur im Zuchthaus, angehören solle oder endgültig auszuschalten sei. Damit rückte die Täterpersönlichkeit ins Blickfeld. Deshalb verwundert es nicht, wenn unter Sühnegesichtspunkten die mangelnde Aussicht auf Besserung beachtlich sein sollte65. Selbst die Arbeitskraft des Täters konnte für die Möglichkeiten gerechter Sühne zu Buche schlagen: Das Außerhalb-Stellen war vom Standpunkt der Volksgemeinschaft unter Einbeziehung der Notwendigkeiten ihrer Wohlfahrt zu beurteilen, die durch "schwerste Arbeiten in der Strafanstalt" gefördert werden konnte, während dem Täter seinerseits durch die Schwerstarbeit eine Möglichkeit der Sühne eröffnet würde - so der IV. Strafsenat des Reichs63 64 65

Vgl. RG-BS-DR 1942, 4291. Zu einem Sondergerichtsverfahren gegen einen jugendlichen polnischen Zivilarbeiter vgl. die Fallstudie von Schminck-Gustavus (1986). Vgl. RGSt. 76,313, 315 f. Zu § 1 KWVO vgl. ζ. B. auch RG DR 1943,2355 (2. StS). Vgl. bei Fn. 52.

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gerichts 194266. Eine andere Entscheidung des IV. Strafsenats gibt einen Hinweis auf die Gleichrichtung von Schutz und Sühne, indem sie auf die unter Schutzgesichtspunkten angestellte Persönlichkeitswertung des Landgerichts zur Feststellung "gemeinschaftsschädlicher Gesinnung" (Arbeitsscheu, familiäre Zerwürfnisse, Vernachlässigung eines Kindes, Verhalten gegenüber Frauen, Verhinderung der Wehrerfassung) den Schluß stützt, die gerechte Sühne erfordere die Todesstrafe 67 . Die Gleichrichtungstendenz soll schließlich noch anhand der einzigen Entscheidung dokumentiert werden, die bestrebt ist, die maßgeblichen Sühne- und Schutzgesichtspunkte, "die die Praxis der Gerichte bisher nicht scharf voneinander geschieden" habe, systematisch zu trennen. Zum Schutzerfordernis heißt es, dafür komme es "weniger auf die Schuld als auf die Minderwertigkeit des Täters und die Belastung an, die der Volksgemeinschaft (vor allem im Kriege) durch das Weiterleben des Täters erwächst". Im einzelnen wurden unter Auswertung der bisherigen Rechtsprechung folgende Beispiele genannt: Die Gefährlichkeit des Täters, insbesondere wegen seiner gemeinschädlichen Gesinnung, die Unverbesserlichkeit und die geistige Minderwertigkeit, die trotz Schuldminderung das Schutzbedürfnis noch steigern könne. Dem (spezialpräventiven) Schutzbedürfnis werde hier "nicht immer schon" durch Einschließung in Strafhaft oder Sicherungsverwahrung genügt, namentlich nicht bei Ausbruchsgefahr 68 . Ferner könne unter Schutzgesichtspunkten das Abschreckungsbedürfnis zur Todesstrafe führen, wenn andere "durch die härteste Strafe von ähnlichen, der Volksgemeinschaft gefährlichen Ausschreitungen zurückgehalten" werden müßten. Schließlich wird noch das "Sicherungsbedürfnis der Heimat" angeführt: Der "Rechtsfrieden der Heimat" dürfe nicht durch Untaten gestört werden, die geeignet seien "das Vertrauen des Volkes zu erschüttern", nämlich die Gewißheit des Volkes, "daß der Staat in solchen Fällen, um sich zu schützen, den Übeltäter ausmerzt". Zum Bedürfnis nach gerechter Sühne dagegen gehöre, so die Entscheidung weiter, "daß die Würdigung der Tat und der Gesamtpersönlichkeit aus Gründen der Selbstachtung der Volksgemeinschaft eine Ausmerzung des Täters" fordere. Das sei "dann der Fall, wenn sich der Täter durch den Wert oder Unwert seiner verkommenen Persönlichkeit außerhalb der Volksgemeinschaft gestellt" habe. Dabei sei "sein Verhalten der treuen Pflichterfüllung der Mehrzahl der anderen Volksgenossen an der Front und in der Heimat gegenüberzustellen". Beim Sühneerfordernis spiele die Schuld des Täters, die gesühnt werden solle, die ausschlaggebende Rolle69. Wir wollen mit unseren Überlegungen zunächst beim Sühnebedürfnis ansetzen. Das "Außerhalb-Stellen" im Verhältnis zur Volksgemeinschaft macht die Täterpersönlichkeit zum Gegenstand einer an der "Selbstachtung der Volksgemeinschaft" ausgerichteten Wertung. Was diese "Selbstachtung" ausmachen soll, wird nicht gesagt und bedarf der substantiellen Ausfüllung anhand vorausgesetzter inhaltlicher Bestimmungen, die hier noch nicht näher zu 66

67 68 φ

DR 1943, 331. Zur Bedeutung der Arbeitskraft unter Schutzgesichtspunkten DR 1943,104216 (3. StS); anders DR 1943,759s2 (3. StS). Gegen das "nackte Nützlichkeitsdenken" von DR 1943,104216 Dohm, DR 1944, 3: Diese "Art der Betrachtung verletzt in ihren letzten Folgerungen die Würde des Rechts und des Menschen". DR 1942,17812. Dazu DR 1942,16953. Vgl. RGSt. 77, 24 f. (4. StS).

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charakterisieren sind. Deutlich wird jedenfalls wiederum der Bezug zu den "Belangen der Volksgemeinschaft", als deren Teil wir auf der Basis des bisher referierten Materials jedenfalls ihr "Reinigungsbedürfnis" ansehen müssen, das unter dem Sühnegesichtspunkt die "verkommenen" Persönlichkeiten treffen soll. Maßfigur für das Urteil der "Verkommenheit" ist der "pflichtgetreue Volksgenosse". Die Schuld ist danach die persönliche Verantwortlichkeit für das Abweichen von dieser Maßfigur, die bei Schuldfähigkeit unterstellt wird. Wie die Pflichten des Volksgenossen im einzelnen beschaffen sind, führt das Reichsgericht nicht aus. Gemeint ist vermutlich u. a., daß der "Volksgenosse" den deutschen "Lebenskampf an der äußeren oder inneren Front im Rahmen seiner "Aufgaben" mit ausfechten solle und nicht umgekehrt der Volksgemeinschaft durch Straftaten in den Rücken fallen dürfe. Die Belange der Volksgemeinschaft bilden auch den allgemeinsten Nenner der einzelnen Schutzaspekte. Alle spezialpräventiven Gesichtspunkte wie Gefährlichkeit, Unverbesserlichkeit und Minderwertigkeit sprechen wiederum das "Reinigungsbedürfnis" an, das als natürliche Funktion des "Volksorganismus" gedacht wird und unter Schutzaspekten die "Minderwertigen" treffen soll. Wertmaßstab für die Verhängung der Todesstrafe ist die "Belastung" der Volksgemeinschaft durch die physische Existenz der Minderwertigen. Im "Reinigungsbedürfnis" treffen sich (spezialpräventiver) Schutz- und Sühneaspekt. Der "Schutz" legt dabei den Akzent auf die "Minderwertigkeit", die Sühne auf die "Verkommenheit" der Täterpersönlichkeit. Schutz und Sühne bezeichnen also verschiedene Facetten des "Persönlichkeitsunwertes", der den entscheidenden Anknüpfungspunkt bildet. Die auffälligste Entwicklung ist der Wandel des Sühnebegriffs: Er erschöpft sich keineswegs in der "Vergeltung", die Tatschuld hat keine limitierende Bedeutung. Schmidt-Leichner etwa stellte 1943 zutreffend fest, die Gesamtwürdigung, ob die Selbstachtung der Volksgemeinschaft die Ausmerzung des Täters erfordere, habe mit "dem klassischen, dem Vergeltungsgedanken verwandten Sühnebegriff nichts mehr gemein" und fügte hinzu, dieser Ansatz passe "ebenso gut auch für die Begründung des Schutzgedankens". Der Sühnegedanke neuerer Prägung könne ohne weiteres "in den Schutzgedanken eingegliedert werden"; es ließen sich jedenfalls kaum Fälle denken, die nicht auch ohne die Sühne-Alternative über den Schutzgedanken ebenso "gerecht" zu lösen seien70. Dieses Bild vom "Aufgehen" des Sühneerfordernisses im Schutzprinzip ist als Tendenzbeschreibung richtig. Zu ergänzen wäre freilich, daß mehr geschieht als nur die Eingliederung des Sühneerfordernisses in den Schutzgedanken: Der Schutzgedanke selbst erfährt ebenso wie die Sühne eine spezifische Zurichtung auf die "Reinigung" der Volksgemeinschaft von "Entarteten". Für die Verhängung der Todesstrafe nach § 1 verschmelzen Schutz und Sühne zur "Reinigungsstrafe", die den unwerten Täter um der Wohlfahrt der deutschen Volksgemeinschaft willen ausscheidet. Zu diesem Ergebnis gelangt man also von der übergreifenden Vereinigungsformel des Besonderen Strafsenats und vom Gedanken der Persönlichkeitswertung ebenso wie von der angeblich differenzierenden Inhaltsbestimmung von Schutz und Sühne, die der IV. Strafsenat vornehmen will. Die weiteren Schutzaspekte der Abschreckung und des Sicherungsbedürfnisses der Heimat scheinen sich auf den ersten Blick nicht in das Konzept einer Reinigungsstrafe zu fügen; sie verkörpern allerdings ebenso wie diese Belange der Volksgemeinschaft. Der IV. Strafsenat setzte offenbar die Nichtintegrierbarkeit von Abschreckung und Sicherungsbedürfnis in die übergreifende Persönlichkeitswertung voraus; an anderer Stelle hat dieser Senat ausdrücklich 70

DR 1943,884.

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gesagt, "nicht nur" der Persönlichkeitsunwert, sondern auch andere, objektive Belange der Volksgemeinschaft könnten zur Verhängung der Todesstrafe führen71. Die Senate, welche die Persönlichkeitswertung für entscheidend erklären 72 , verengen demgegenüber entweder den Anwendungsbereich des § 1 oder aber sie setzen die Möglichkeit einer Befriedigung von Abschreckungs- und Sicherungsbedürfnis im Rahmen des Unwerturteils voraus. Die erste Interpretation wäre kaum "zeitgemäß" gewesen; für die zweite Deutung spricht zudem, daß Praxis und Schrifttum aus dem erhöhten "Sicherungsbedürfnis der Heimat" die Notwendigkeit scharfer Abschreckung, die erhöhte Verwerflichkeit einschlägig gefährlicher Taten sowie eine entsprechend erhöhte Schuld des Täters und damit das "Verdienen" schwerster Strafe ableiteten, wie sich etwa im Zusammenhang der VolksschädlingsVO gezeigt hat 73 . Im praktischen Ergebnis dürften sich die angesprochenen Differenzen also kaum ausgewirkt haben. Offen bleibt nur, wieweit das Abschreckungs- und Sicherungsbedürfnis neben der ihrerseits an den objektiven Belangen ausgerichteten Täterwertung eigenständige Bedeutung behalten sollte. Die Beantwortung dieser Frage aber ist von untergeordnetem Interesse: Klar ist nämlich, daß die "Belange der Volksgemeinschaft" die Handhabung des § 1 bestimmen. Die Reinigungsaufgabe ist eine spezifische Erscheinungsform dieser "Belange"; Abschreckung und Sicherung sind mitgemeint, unabhängig von ihrer strafrechtssystematischen Einordnung. c) Schutz und Sühne (§ 1) in den Richterbriefen Der Richterbrief 74 Nr. 4 vom 1. Januar 1943 belegt, daß der Todesstrafe nach § 1 der Charakter einer "Reinigungsstrafe" zugedacht war. Der Brief befaßt sich mit dem "Kampf gegen die gefährlichen Gewohnheitsverbrecher" und erläutert die neuen Mittel, die § 1 dem Richter "in die Hand gegeben" habe, damit dieser "den Kampf gegen den unverbesserlichen Gewohnheitsverbrecher nunmehr bis zur Vernichtung dieser Fremdkörper der Gemeinschaft fortführen" könne 75 . Dabei wird die grundsätzliche Bedeutung des § 1 als "Höhepunkt und Abschluß" in der Gesetzgebung zur "Bekämpfung des schweren Gewohnheitsverbrechertums" betont, womit jedenfalls 1943 der § 1 zugedachte Charakter bestätigt ist. Zugleich stelle § 1 dem Richter "eine neue Aufgabe", die nur aus der "veränderten Natur unseres gesamten Strafrechts und seiner Stellung und Zielsetzung in dem Gesamtgefüge der nationalsozialistischen Rechtsordnung richtig verstanden und gelöst werden" könne. Der Strafrechtswandel wird damit charakterisiert, daß der bürgerliche Maßstab individueller Schuld und Sühne keine Bedeutung mehr habe, sondern der Schutz der Volksgemeinschaft im Zentrum stehe. Damit sei dem Strafrecht neben der "Ahndung einzelner Rechtsbrüche", neben Abschreckung und Besserung die neue, die "große ... Aufgabe" der "fortgesetzten volkshygienischen Reinigung" durch die "organische Ausschließung des unverbesserlichen asozialen Verbrechers" gestellt. Diese Aufgabe stehe "im engen organischen Zusammenhang mit den großen grundlegenden Gesetzen des nationalsozialistischen Staates, die der Auslese, Reinigung und Gesunderhaltung unseres Volkes" dienten. Der gesetzliche Schutz vor Rassenvermischung und erbkran71 72 73

74 75

Vgl. DR 1943,331. Vgl. oben Fn. 44-48. Vgl. [Nr. 29] 2. Zu den Richterbriefen vgl. schon [Nr. 29] 10. Boberach (1975), S. 55.

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kem Nachwuchs, die "sorgfältige Gesundheitsauslese bei den Eheschließungen" genügten allein noch nicht: Angriffe "entarteter Verbrecher", die den "gesunden Aufbau" störten, die "der Gemeinschaft nichts nützen, sondern schaden", müßten unterbunden werden. Die Auslese und Reinigung dürfte aber nicht nur durch zukunftsgerichtete Maßnahmen durchgeführt werden, es gelte auch, "die Fehler ... der Vergangenheit" wieder gutzumachen, d. h. die in vornationalsozialistischer Zeit unterlassene "Reinigung" nachzuholen - und eben die "asozialen Verbrecher" auszuscheiden. Die vom Führer geforderte "rücksichtslose Härte" gegenüber solchen "Verbrechertypen" sei "ein Gebot der Selbsterhaltung unseres Volkes und damit [!] ein Gebot der Gerechtigkeit". Danach seien alle unverbesserlichen Verbrecher "für immer" auszustoßen, d. h. zu töten 76 . Die neue Tat des "Asozialen", die den Anstoß zur "Ausscheidung" gebe, brauche "für sich betrachtet" nicht besonders schwer zu sein, auch eine leichtere Tat könne genügen, "um das Maß voll zu machen und den Verbrecher ... zu beseitigen". Entscheidend sei, "daß der Verbrecher sich durch seine fortgesetzten Rechtsbrüche seiner ganzen Persönlichkeit nach als gemeinschaftsgefährlich erwiesen" habe. Wann dies zutreffe, lasse sich "nicht allgemein sagen" und weder durch eine bestimmte Anzahl von Vorstrafen noch auf bestimmte Verbrechensgruppen festlegen. Der Richterbrief mündet deshalb in einen Appell an den Richter, der dessen Ermessen und Verantwortung betont: "Der Richter, der jedoch die neuen volksbiologischen und hygienischen Aufgaben des Strafrechts erfaßt hat, wird selbst am besten entscheiden können, wann es an der Zeit ist, den unverbesserlichen, asozialen, lebensunwerten Verbrecher endgültig im Interesse der Gesunderhaltung unseres Volkes zu vernichten". Die Anwendung eines strengen Maßstabs sei "Gebot der Stunde": Der Krieg, der "soviel des besten Blutes" vernichte, dürfe am "asozialen Verbrecher nicht spurlos vorübergehen", damit nach Kriegsende "ein gesundes und starkes Führungsvolk ... seine geschichtliche Mission" ohne Störung durch "asoziale Verbrecher" erfüllen könne77. d) Die Tätertypenfrage § 1 verwendete die Täterbezeichnungen "gefährlicher Gewohnheitsverbrecher" und "Sittlichkeitsverbrecher". Damit war im Gesetzestext selbst die Frage nach der Relevanz des "Tätertyps" angesprochen. Es verwundert nicht, daß die Begriffswahl von den Anhängern einer "Tätertypenlehre" als gesetzliche Anerkennung des tatbestandlichen78 oder kriminologischen79 Tätertyps 80 gedeutet wurde. Zum Verständnis des Standpunktes der Praxis ist zunächst die Unterscheidung zwischen dem "gefährlichen Gewohnheitsverbrecher" und dem "Sittlichkeitsverbrecher" beachtlich. Daß es sich bei dem ersteren um einen "kriminologischen Tätertyp" handeln mußte, ergab sich für die Praxis daraus, daß sie den Gewohnheitsverbrecher- wie den Gefährlichkeitsbegriff in

76 77 78

AaO, S. 56 f. AaO, S. 58. Vgl. ζ. B. Schaffstein, DStR 1942, 40 mit Hinweis auf die Beratungen der amtlichen Strafrechtskommission; Dohm, DStR 1942,403. 79 Grau/Kmg/Rietzsch2 (1943), S. 286 f. 80. Vgl. Freister, DJ 1941,931 ohne Unterscheidung tatbestandlicher /kriminologischer Tätertyp.

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§ 20a RStGB rein kriminologisch auffaßte 81 . Da der "gefährliche Gewohnheitsverbrecher" als Tatbestandsmerkmal verwendet wurde, deckten sich insoweit auch kriminologischer und tatbestandlicher oder normativer Tätertyp. Ein zusätzliches besonderes Tätertypenerfordernis zur Anwendbarkeit des § 1 hat das Reichsgericht abgelehnt: Einen "besonderen Tätertyp des Schwerverbrechers" setze § 1 nicht voraus; ein solches Erfordernis bedeute eine vom Gesetzgeber nicht gewollte "Milderung der Gesetzesstrenge"82. Beim Sittlichkeitsverbrecher hielt sich die Rechtsprechung ebenfalls an den Gesetzeswortlaut: Sie sah jeden als Sittlichkeitsverbrecher an, der eines der in §§ 176 bis 178 bezeichneten Verbrechen begangen hatte und prüfte als weitere Voraussetzung der Todesstrafe allein das Schutz- und Sühnebedürfnis83. Ein besonderes Tätertypenerfordernis verwarf das Reichsgericht also. Demgegenüber beharrte im Schrifttum Dahm auf einer zusätzlichen Tätertypenprüfung, bei der in Grenzfällen auch kriminologische Elemente wie Vorleben und Vorstrafen heranzuziehen seien84. In der Sache selbst waren diese Meinungsverschiedenheiten belanglos: Einerseits konzedierte Dahm, auch eine einzige Tat könne den Täter zum Sittlichkeitsverbrecher stempeln und erklärte in ausdrücklicher Anlehnung an Gallas ein "Vikariieren" von Tat- und Täterelementen für maßgeblich85. Auf der anderen Seite anerkannte das Reichsgericht ausdrücklich die Notwendigkeit einer Bewertung der Täterpersönlichkeit86. Zudem hatte die Rechtsprechung in allen milderen Fällen auch "ohne die einschränkende Funktion des ... Tätertyps" die Möglichkeit, "dadurch zu vernünftigen Ergebnissen" zu gelangen, daß sie "die Notwendigkeit der Todesstrafe vom Schutz- und Sühnestandpunkt" verneinte87. Eine Gesamtwertung von Tat und Täter, ein "Vikariieren" von Tat und Täterelementen 88 , war also unbeschadet der Ablehnung eines besonderen Tätertyps notwendig, der Streit um den Tätertyp auch für § 1 eher terminologischer Natur. Den Beweis erbrachte Dahm selbst in seiner einschlägigen Entscheidungsanmerkung. Das Reichsgericht hatte bei verbotenen sexuellen Handlungen eines polnischen Landarbeiters mit Rücksicht auf die Volkszugehörigkeit des Angeklagten die Verhängung der Todesstrafe aus Gründen des Volksschutzes wie gerechter Sühne als in der Regel geboten bezeichnet89. Dahm stimmte der Entscheidung im Ergebnis zu: Das Urteil "Sittlichkeitsverbrecher" könne auch darauf gestützt werden, daß der Täter "besonderen Pflichten zuwidergehandelt und dadurch das Rechtsgefühl des deutschen Volkes im besonderen Maße beleidigt habe". Unter diesem Gesichtspunkt sei die Poleneigenschaft des Täters beachtlich: 81 82 83 84 85 86 87 88 89

Vgl. RGSt. 72,295 und oben [Nr. 12] 2c. RG HRR 1942, Nr. 456a (4. StS). Zust. Bruns, ZAkDR 1943, 55; Schwarz (Mitglied des 4. Senats), ZAkDR 1942,210; Grau/Krug/Rietzsch2 (1943), S. 287. Ebenso insoweit Dahm, DR 1942,403. Vgl. RG ZAkDR 1942,188 (4. StS) mit abl. Anm. Dahm ; zust. Schwan, aaO und Bruns, aaO. Dahm, DR 1942, 403; s. auch ZAkDR 1942, 189; vgl. auch Freister, DJ 1941, 931; für kriminologischen Tätertyp Grau/Krug/Rietzsch2 (1943), S. 287. Dahm, DR 1942,403; vgl. Gallas, ZStW 60 (1941), 374 ff., 406 f. und dazu [Nr. 29] 5b aa. Vgl. soeben b aa, b bb. Bruns, ZAkDR 1942,55 f. Für § 1 vgl. v. Gemmingen, ZStW 62 (1944), 273; Schmidt-Leichner, DR 1941, 2146. S. ferner [Nr. 29] 5,6d, 7c. RG ZAkDR 1942, 188 (4. StS). Sachverhalt: Anfassen der Brust von Mädchen trotz Gegenwehr, Fassen unter den Rock in Höhe des Geschlechtsteils, gewürdigt als Taten nach § 176 Abs. 1 Nr. 1 und 3 RStGB.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

"Eine Tat, die, von einem Deutschen begangen, ihren Urheber noch nicht als Sittlichkeitsverbrecher erkennen läßt, kann dies, wenn sie von Polen begangen wird, zweifellos tun"90. e) Zusammenfassung und Schlußbetrachtung Die Deutung des § 1 hängt zunächst vom Inhalt der Begriffe Schutz und Sühne ab (dazu 2a). Versteht man "Sühne" im herkömmlichen Sinne der Schuldvergeltung, so betont § 1 demgegenüber unverkennbar die Bedeutung des Schutzes - im Sinne von Unschädlichmachung und Abschreckung - als eines eigenständigen Strafewecks. Dieser Gegensatz verliert aber in der Praxis seinen früheren Sinn: Die Rechtsprechung (dazu 2b) verbindet in der Vereinigungsformel Gerechtigkeit und Zweckmäßigkeit ununterscheidbar. ("Verlangt das Gerechtigkeitsgefühl der volkstumsbewußten Volksgemeinschaft aus den Notwendigkeiten deutscher Wohlfahrt die Unschädlichmachung des Täters?"). Auch soweit der "Wert oder Unwert der Täterpersönlichkeit" für entscheidend erklärt wird, ist diese innere Verbindung von Gerechtigkeit und Zweckmäßigkeit, von Sühne und Schutz der Volksgemeinschaft, vorausgesetzt ("Ist der Täter nach seiner ganzen Persönlichkeit für die volkstumsbewußte Volksgemeinschaft so wertlos, daß er für immer aus ihr ausgeschlossen werden muß?"). Die Tendenz zur Gleichrichtung von Schutz und Sühne ist selbst in den wenigen um Differenzierung bemühten Entscheidungen unverkennbar (dazu 2a, cc). Spezialpräventives Schutzbedürfnis und gerechtes Sühneverlangen der volkstumsbewußten, d. h. vom Rassengedanken erfüllten, Volksgemeinschaft verschmelzen in der Reinigungsstrafe. Gerechtigkeit und Zweckmäßigkeit, so der allgemeinste Nenner, konvergieren im Schutz der "Belange der Volksgemeinschaft", die den höchsten Gerechtigkeitswert bilden sollen. Alle herkömmlichen Strafewecke finden ihre Einheit in den "Belangen der Volksgemeinschaft", sind "gemeinschaftsorientiert" auszurichten und werden dadurch in spezifischer Weise inhaltlich bestimmt: Was die zu schützenden Belange sind, legt die politische Führung fest. Dem einschneidendsten Wandel ist der Sühnebegriff unterworfen, weil Sühne zur "Funktion des Volksorganismus" wird, zur Entsühnung der Volksgemeinschaft durch "Selbstreinigung"91: Der Unverbesserliche soll getötet werden. Die Richterbriefe formulieren das Programm zusammenhängend (dazu 2c): Die "Ahndung einzelner Rechtsbrüche" - als Restbestand der herkömmlichen Sühnestrafe -, die Abschreckung, Besserung und Reinigung sind die Zwecke nationalsozialistischen Strafrechts, das im ganzen auf den "Schutz der Volksgemeinschaft" ausgerichtet ist92. Auch die "Sühne" wird zur Untergliederung der "Belange der Volksgemeinschaft". Der Begriff "Schutz" wird doppelsinnig: Er kann als überkommene Kategorie den Gegensatz zur Sühne, verstanden als Vergeltung, bezeichnen und den Oberbegriff für speziai- und generalpräventive Erfordernisse bilden. Wenn dagegen vom "Schutz der Belange der Volksgemeinschaft" die Rede ist, greift der Begriff weiter und schließt das Bedürfnis nach "gerechter Sühne" ein. Ein Gegensatz von Schutz und Sühne besteht bei dieser inhaltlichen Bedeutung des Schutzbegriffs nicht mehr, weil die herkömmlichen Begriffe von Schutz und Sühne darin aufgehen 93 . Der Sühnebegriff kann dann auch terminologisch verschwinden. Die VereinfachungsVO vom 29. Mai 1943 machte bei-

90 91 92 93

ZAkDR 1942,189. Vgl. Freister, DJ 1941,930 f. und oben 2a. Vgl. bei Boberach (1975), S. 56 und oben 2c. Dazu auch Exner, FS Kohlrausch (1944), S. 39 ff., bes. S. 43 a. E.

C. Die zweite Phase: 1939 bis 1945

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spielsweise die Zulässigkeit der Wiederaufnahme zuungunsten des Angeklagten ausschließlich davon abhängig, daß die neue Verfolgung "zum Schutze des Volkes notwendig ist"94. Wird der Sühnegedanke neben dem Schutzprinzip erwähnt 95 , bedeutet dies auf der Basis des umfassenderen Schutzbegriffs bestenfalls eine Akzentsetzung, vielleicht sogar nur "sprachliche Ornamentik" 9 6 . Diese Erwägungen weisen über den engen Rahmen des § 1 hinaus. Die Zeitgenossen erkannten mit zunehmender Schärfe, daß die in § 1 erkennbaren Grundgedanken das bisherige Strafrechtssystem sprengen könnten 9 7 . So legte man sich folgende Fragen vor: Hat § 1 eine Vorreiterfunktion für das gesamte Strafrecht 9 8 ? Oder hat § 1 nur eine eng begrenzte sektorale Bedeutung und ist die Vorschrift zudem, obgleich im Gewände eines Änderungsgesetzes zum RStGB, reine Kriegsmaßnahme, zeitbedingtes Notrecht ohne richtungsweisende Bedeutung 9 9 ? Ist die dem Täter geltende Schutzstrafe des § 1 nur ein "willkommener Anbau" zum vergeltenden Tatstrafrecht oder enthält § 1 den Bauplan für das kommende Strafrecht 1 0 0 ? Und falls § 1 eine Wende zur Schutzstrafe bedeutet: Bewirkt der Wandel der Strafe zur Zweckmaßnahme, zur zukunftsgerichteten sozialen Schadensverhütung, nicht eine Annäherung an Verwaltungstätigkeit? Muß nicht dieser Wandel in der Konsequenz das Alleinrecht der Justiz gefährden und die Verwaltungsorgane, namentlich die Polizei, auf den Plan rufen 1 0 1 ? Oder ist eine Entwicklung zur einspurigen Zweckstrafe gerade im Interesse der Justiz erwünscht, weil eine den Volksschutz vernachlässigende Justiz "reif zur Abdankung" wäre 1 0 2 ? Die erste Fragengruppe betrifft das materielle Strafrecht. Hier weisen namentlich die GewaltverbrecherVO 1 0 3 und die Verordnung gegen jugendliche Schwerverbrecher 104 , aber auch die VolksschädlingsVO 105 die Richtung: Sie haben "Täter" im Visier. Die Notwendigkeit der "Ausscheidung" des Täters bildet jedenfalls ein Richtmaß der Todesstrafe. Und: Die Richterbriefe anerkennen den Dauercharakter des § 1; sie enthalten darüber hinaus eine Program-

94

95 96 97

98 99 100 101 102 103 104 105

RGBl. I, S. 342 (§ 359 StPO) und dazu Schmidt-Leichner, DR 1943, 884; ebenso Art. 2 § 8 VO v. 13. 12.1944, RGBl. I, S. 339 (betr. Einstellung); s. ferner zum RJGG 1943 [Nr. 51] 3; vgl. auch 5. Teil Β IUI. Vgl. etwa § 4 II RJGG 1943 [Nr. 51]; zur Entwicklung zusf. Dohm, DR 1944, 2 ff. und 5. Teil Β III 1. Schmidt-Leichner, DR 1943,884. Vgl. bes. die Beiträge von Dohm, DR 1942, 401 ff.; FS Kohlrausch (1944), S. 1 ff. und DR 1944, 2 ff. Zu Richtermacht und Gerichtsverfassung schon ZStaatW 101 (1941), 287 ff.; s. auch Welzel, FS Kohlrausch (1944), 101 ff. Vgl. etwa Klee, DStR 1942,71; ferner Exner, FS Kohlrausch (1944). S. 32; Dohm, DR 1942,401. In diese Richtung wohl Pfundtner/Neubert/Rietzsch (1933 ff.), II c 6, § 1 Anm. 1, S. 170 und Grmi/Krug/Rietzsch2 (1943), S. 279. Vgl. Dohm, DR 1944,4. Vgl. Dohm, DR 1942, 406, FS Kohlrausch (1944), S. 5, 22 f., DR 1944, 2 ff. und schon DRWis 1938, 148 ff., 154; ZStaatW 101 (1941), 287 ff., 295,301,305; Welzel, FS Kohlrausch (1944), S. 118. So Klee, DStR 1942,74; vgl. auch Exner, FS Kohlrausch (1944), S. 43 Fn. 17. [Nr. 33] bes. 3d. [Nr. 31] bes. 2,3. [Nr. 29] bes. 2,8; s. auch 5,6d, 7c.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

matik, die ihrer inneren Logik nach nicht auf § 1 Änderungsgesetz begrenzbar ist. Der E 1944 wird hier weitere Aufschlüsse geben 106 . Die zweite Fragengruppe hat die Strafkompetenzen im Auge. Insoweit liegt es auf der Hand, daß die Übernahme "volkshygienischer Reinigungsaufgaben" 107 durch den Richter anderes erfordert als die bloße subsumtive Zuordnung von Normen und Sachverhalten. Das Erkennen von "Schädlingen" ist keine notwendig richterliche Aufgabe; sie kann ebensogut von weisungsgebundenen Verwaltungsbeamten , von "Reinigungsfachleuten" der Polizei etwa, gelöst werden 108 . Für die Zuständigkeitsfrage wird die Arbeit noch wesentliches Material liefern 109 . 3. Mord und Totschlag (§§ 211,212 RStGB n. F.) a) Einführung Die Tötungstatbestände des Änderungsgesetzes haben bekanntlich im wesentlichen die Rechtsbereinigung nach 1945 überdauert 110 ; ihre Reformbedürftigkeit steht heute außer Streit 111 . Die Unzulänglichkeiten des geltenden Rechts haben gerade in jüngerer Zeit eine kritische Bearbeitung der Reformgeschichte der Tötungsdelikte veranlaßt 112 , deren Ergebnisse freilich nicht durchweg zutreffen. Im folgenden geht es darum, den Sinn der Reform der Tötungsdelikte im historischen Kontext herauszuarbeiten und auf die daraus resultiernden Schwierigkeiten für das geltende Recht hinzuweisen. Die Erneuerung der "repräsentativsten" 113 Tatbestände des Strafrechts überführte die entsprechenden Vorschriften des E 1936 in das Reichsstrafgesetzbuch 114 . Die Sondervorschriften über den Totschlag bei Unternehmung einer strafbaren Handlung (§ 214 RStGB) und den Aszendententotschlag (§ 215 RStGB) wurden beseitigt. Die Reform der Tötungsdelikte wird in der zeitgenössischen Literatur als die bedeutendste Neuerung des Änderungsgesetzes bezeichnet 115 . In der kriegsstrafrechtlichen Praxis war § 1 der Novelle allerdings bei weitem folgenreicher als die Umstellung von der alten auf die neue Abgrenzung von Mord und Totschlag. Für die Verhängung der Todesstrafe schlug § 1 der Novelle fühlbar zu Buche, während die Fragen "härter oder weicher, strenger oder milder" für das neue Tötungsstrafrecht nicht

106 107 108 109 110 111 112 113 114 115

Dazu 4. Teil Β und A I V 4. Vgl. die charakteristische Terminologie der Richterbriefe, oben 2c. Vgl. namentlich die Erwägungen Dahms (Fn. 101); zusf. 5. Teil Β III 4b, C, D, E. Dazu 3. und 4. Teil. Das 3. StA G paßte die Strafdrohungen der Abschaffung der Todesstrafe an, vgl. Eser, Gutachten (1980), 53. DJT, S. D 33 f. Vgl. Eser, aaO, D 34; LacknerX1 (1987), 6 Vor § 211 und Referat vor dem 53. DJT, M 25. Vgl. Eser, aaO, D 31 f.; Frommel, JZ 1980,559 ff.; Kemer, Heidelberg-FS (1986), S. 426,429; Thomas (1985), S. 239 ff., der in § 211 n. F. eine "Rezeption des Duellprinzips" erblickt. Freister, DJ 1941, 930. §§ 405, 406 E 1936. Zu den früheren Ergebnissen der Strafrechtskommission Gleispach, Gürtner BT2 (1936), S. 371 ff. und unten 3b aa. Vgl. Pjundtner/Neubert/Rietzsch (1933 ff.), II c 6, S. 169; ohne Abstufung Dohm, DR 1942, 401.

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"mit ja oder nein" beantwortet werden konnten116. So lag die Bedeutung der neuen §§ 211, 212 im weiteren "Übergang vom Tatstrafrecht zum Täterstrafrecht" 117 und in der Verwirklichung schon länger gehegter Reformvorstellungen von "bekenntnishaftem" Charakter, wie man sich im zeitgenössischen Schrifttum gerne ausdrückte1178. Unterstrichen wurde namentlich die Rückkehr zu "altem germanischen Rechtsdenken"118. Die neuen Tötungsdelikte des § 2 der Novelle legten mit Blick auf den erörterten § 1 zwei Fragen nahe: Was bezweckt die Todesstrafe des §211? Welchen Sinn haben die Täterbezeichnungen "Mörder" und "Totschläger"?119. Die erste Frage ist scheinbar leicht zu beantworten: §211 brachte keine (Reinigungs-)Schutzstrafe. Die Todesstrafe wollte, so Dahm, "echte SUhnestrafe" sein, ihre Anknüpfungspunkte seien "sittliche Schuld und ein ethisch gefärbter Tätertyp"120. §211 ist Ausdruck eines "ethisierenden Willensstrafrechts", will entsprechend den seit 1933 entwickelten Reformvorstellungen in "sittlicher Wertung" die "besonders gemeine Gesinnungsart" treffen 121 . Ungleich größere Schwierigkeiten wirft die zweite Frage auf: Ob die Täterbezeichnung "Mörder" im Absatz 1 des § 211 einen "tatbestandlichen" oder "normativen Tätertyp" meine, war in der zeitgenössischen Literatur umstritten122. Unter dem Stichwort "Tätertyp" ging es im konkreten Zusammenhang des Mordtatbestandes um den abschließenden und zwingenden Charakter des Absatzes 2: Wer im Absatz 1 des § 211 ein besonderes Tätertypenerfordernis verkörpert sah, verneinte damit zugleich den zwingenden Charakter des Absatzes 2 und legte Absatz 1 eine eigenständige Bedeutung und potentielle Korrektivfunktion bei. Wenn Absatz 2 aber den Absatz 1 nur erläuterte, war klar, daß die Erläuterung eine Ausdehnung des § 211 über die ausdrücklich genannten Mordmerkmale hinaus - jedenfalls im Wege der richterlichen Rechtsschöpfung (§ 2 RStGB) - nicht ausschloß. Wer einen normativen Tätertyp "Mörder" annahm, verneinte also den zwingenden wie den abschließenden Charakter des §211 II123. Die Umkehrung galt freilich nicht: Wer den "normativen Tätertyp" als unmittelbar anwendungsfähige dogmatische Figur ablehnte oder ihn jedenfalls durch § 211 nicht anerkannt sah, mußte nicht den zwingenden und - auch im Hinblick auf § 2 RStGB - abschließenden Charakter des § 211 II bejahen124. Er verneinte nur die Lebensfähigkeit einer "wissenschaftlichen Frühgeburt", die in der Übergangsphase vom Tat- zum Täterstrafrecht entstanden 116 Freister, DJ 1941,936. 117 Vgl. Grau/Krug/Rietzsch2 (1943), S. 295. 117a Vgl. etwa Freister, DJ 1941, 934. Moderner gesprochen: Es ging um eine Ausdrucksform der "kulturhistorischen Verfassung" (Hassemer, JuS 1971,627). 118 Pfundtner/Neubert/Rietzsch (1933 ff.), II c 6, S. 171. Vgl. auch Grau/Krug/Rietzsch2 (1943), S. 292 f.; Freister, DJ 1941,933. Vgl. dazu Thomas (1985), S. 30 ff., 239 ff. 119 Zur Fragestellung Dahm, DR 1942,401. 120 Vgl. Dahm, DR 1942,404; vgl. aber auch Klee, DStR 1942,73 und unten 7. 121 Vgl. Freister, DJ 1941,934 und H. Frank, Leitsätze, BT (1936), S. 118. 122 Für ein Tätertypenerfordernis: Dahm, DR 1942, 404; Freister, DJ 1941, 934 f.; Grau/Krug/Rietzsch2 (1943), S. 295 ff. und Pfundtner/Neubert/Rietzsch (1933 ff.), II c 6, S. 173 mwN; a. M. etwa SchmidtLeichner, DR 1941,2148; Schänke2 (1944), I Vor § 211; vgl. ferner schon oben [Nr. 29] 5b. 123 Vgl. Freister, Dahm, Rietzsch, aaO. 124 Vgl. ζ. B. Schänke2 (1944), I Vor § 211 und § 211 Anm. IV.

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war 125 . Welzel etwa sah im tatbestandlichen Tätertyp eine "programmatische Kennzeichnung der modernen Tendenz unseres Strafrechts", aber kein "unmittelbar anwendbares dogmatisches Einzelprinzip". Er hielt die Kennzeichnung "Tätertyp" aus mehreren Gründen für "unzweckmäßig", namentlich wegen der Gefahren einer Verwechslung mit dem "echten" kriminologischen oder charakterologischen (ζ. B. "gefährlicher Gewohnheitsverbrecher") Tätertyp und von "Zerreißungen des einheitlichen Unrechts". Schließlich verwies er auf die mangelnde Präzision des tatbestandlichen Tätertyps, der als Sammelbezeichnung ganz heterogene Elemente zusammmenfaßt 126 . Die Problemkreise Tätertyp/zwingender und abschließender Charakter des § 211 II überlagerten sich also zwar, deckten sich aber nicht. Ein notwendiger Zusammenhang bestand nur aus dem Blickwinkel der Richtung, die den "tatbestandlichen Tätertyp" bejahte. Dies vorauszuschicken ist wesentlich, weil der "tatbestandliche Tätertyp" schon in der zeitgenössischen Diskussion Verwirrung stiftete und auch heute noch manches verdunkelt. Es ging jedenfalls im konkreten Zusammenhang des § 211 bei der Anerkennung eines tatbestandlichen Tätertyps keineswegs, wie Frommel meint, um die "Aufgabe auch der letzten rechtsstaatlichen Bastion", nämlich der "herkömmlichen Methode der Subsumtion unter Tatbestände" 127 : Diese "Bastion" war anderwärts längst schon gefallen und sie konnte für § 211 auch ohne ein trojanisches Pferd namens Tätertyp eingenommen werden. Ganz abgesehen davon ist es, milde ausgedrückt, eine Überbewertung der Bedeutung juristischer Dogmatik, wenn man annimmt, die "letzten Gefechte" um rechtsstaatliche Bastionen seien gerade mit Feder und Tinte im Studierzimmer geführt worden. Der Große Senat des Bundesgerichtshofs hat sich 1956 mit der Entstehungsgeschichte des §211 befaßt 128 . Der Bundesgerichtshof ist zu dem Ergebnis gekommen, §211 sei als zwingende und abschließende Regelung gedacht gewesen; inzidenter wurde damit zugleich die Maßgeblichkeit eines 'Tätertyps" verneint. Nach Auffassung des Bundesgerichtshof war es "das rechtspolitische Anliegen des deutschen Gesetzgebers, dem Richter für die Beurteilung der Frage, ob eine Tötung Mord oder Totschlag ist, klare und fest umrissene Tatbestände an die Hand zu geben"129. Seine historische Auslegung stützte der Bundesgerichtshof auf die noch zu erörternde Änderung der von der Strafrechtskommission 1935 in zweiter Lesung gefundenen Formulierung und zog eine Parallele zu Artikel 52 des Schweizer Vorentwurfs von 1896130. Dieser hatte in einem strikt durchgeführten Drei-Stufen-Modell den Mord unter Hinzufügung erschwerender Merkmale von der einfachen vorsätzlichen Tötung abgehoben und in der anderen Richtung milder zu bewertende Fälle normiert. Stooss hatte dieses Modell u. a. mit Gründen der Gesetzesbestimmtheit gerechtfertigt und als Durchführung einer ethischen Bewertung ausgewiesen131. Gesetz wurde dann ein Artikel 112, der dem richterlichen Ermessen einen sehr viel weiteren Spielraum gewährte. Der Bundesgerichtshof sah den 125 Bruns, ZAkDR 1943,55 und schon oben [Nr. 29] bei Fn. 151. 126 Welzel, ZStW 60 (1941), 462 in Fn. 61. 127 So Frommel, JZ1980, 562, bei der die soeben getroffene Unterscheidung fehlt und die (deshalb?) die Auswirkungen des Tätertyps für § 211 überinterpretiert. 128 BGHSt. 9,385, Beschl. v. 22.9.1956. 129 AaO, 389. 130 Text aaO, 387; ebenso Art. 60 Schweizer VE 1903. 131 Vgl. Stooss, Vorentwurf (1894), S. 147 f.

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Schweizer Vorentwurf und das spätere Gesetz als die Pole an, zwischen denen sich die nationalsozialistische Gesetzgebungsarbeit bewegt habe und parallelisierte den neuen §211 mit dem Schweizer Entwurfsartikel132. Auch in der Nachkriegsliteratur wird die Anlehnung der Reform der Tötungsdelikte an das Schweizer Vorbild hervorgehoben und mit diesem Hinweis § 211 ein nicht-nationalsozialistischer Charakter bescheinigt133. Gegen die historische Auslegung des Bundesgerichtshof hat Frommel erinnert, in der "immerhin autorisierten Begründung der Novellierung durch Freister" sei vom Schweizer Vorentwurf nirgendwo die Rede134. Das gilt nicht nur für Freislers Aufsatz in der Deutschen Justiz, sondern gleichermaßen für die Begründung zum weitestgehend mit dem Änderungsgesetz übereinstimmenden § 405 E 1936. Auch in den Berichten über die Beratungen der amtlichen Strafrechtskommission wird "geradezu geflissentlich jeder Hinweis auf ausländische Vorbilder vermieden"135. Andererseits ist nicht zu übersehen, daß die Gesetz gewordene Fassung des § 211 im Absatz 2 Merkmale des Schweizer Vorentwurfs aufnimmt, so die Motivmerkmale Mordlust und Habgier, ferner die Erschwerungsmomente der Grausamkeit, Heimtücke und Verwendung gemeingefährlicher Mittel, sowie die Absicht, eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken. Verschweigt also nur nationalsozialistische Eitelkeit die Anlehnung an den "kasuistischen" Entwurf von Stooss? Hier darf spekuliert werden. Wesentliche Unterschiede zum Schweizer Entwurf sind freilich trotz der Übernahme der genannten Erschwerungsgründe schon äußerlich unverkennbar und diese Unterschiede könnten die Schweigsamkeit der Beteiligten erklären: Die Aufnahme der "sonstigen niedrigen Beweggründe" sprengt die Kasuistik der Motive, indem sie Mordlust und Habgier zu Beispielen herabstuft. Systematisch wird der Mord im E 1936 und im Änderungsgesetz 1941 an die Spitze gestellt. Vor allem aber wird der neue § 211 im Gegensatz zum Schweizer Entwurf mit einer Täterbezeichnung versehen: Der "Mörder", nicht der "Mord", soll bestraft werden. Auf diese Gesichtspunkte ging der Große Senat des Bundesgerichtshofs nicht ein, obwohl sie den Sinn der Gesamtregelung möglicherweise entscheidend verändern. Hinzu kommt eine weitere Erwägung, die von der äußeren Gestalt der Strafvorschriften unabhängig ist: Selbst die vollständige Übernahme eines Normtextes beweist noch nicht zwingend die inhaltliche Gleichsinnigkeit der betreffenden Vorschriften in verschiedenen Strafrechtssystemen. Für Blankettbegriffe wie etwa die "Verfassung" ist das offenkundig. Die Einbettung in ein andersartiges Gesamtsystem kann den Sinn von Strafvorschriften ändern oder geradezu umkehren. Das hat der bundesdeutsche Gesetzgeber durch die Übernahme bestimmter Strafvorschriften aus der nationalsozialistischen Zeit dokumentiert. Und das gilt selbstverständlich auch, wenn der nationalsozialistische Gesetzgeber ausländische Vorlagen verwendet. Im Fall des Mordes geht es indes nicht einmal um textgleiche Vorschriften, sondern nur um die Identität einzelner Textbausteine, die natürlich erst recht nicht den Beweis für die Übereinstimmung der Baupläne erbringen kann. So ist es unabdingbar, die tatsächlichen Motive des nationalsozialistischen Gesetzgebers und den tatsächlichen Stellenwert der §§ 211,212 im zeitgenössischen Strafrechtssystem zu erforschen. Wenden wir uns also der nationalsozialistischen Reformgeschichte der Tötungsdelikte zu. 132 133 134 135

BGHSt. 9,385,387 f. Vgl. etwa Eser, Gutachten (1980), 53. DJT, S. D 31 f.; Lange, Schröder GedSchr (1978), S. 218. JZ 1980,562. Eser, Gutachten (1980), 53. DJT, S. D 31.

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b) Entstehungsgeschichte und Sinn des § 211: Der "Mord" und der "Mörder" aa) Die Beratungen der amtlichen Strafrechtskommission 1934/1935 Für die Abgrenzung der Tötungsdelikte war es seit der Denkschrift des Preußischen Justizministers Hanns Kerrl ausgemacht, daß das Merkmal der Überlegung "in Wegfall zu bringen" sei136. Die preußische Denkschrift wollte die Unterscheidung von Mord und Totschlag überhaupt beseitigen und mit ihr die absolute Todesstrafe. Die amtliche Strafrechtskommission folgte diesem Vorschlag nicht und sprach sich für die Beibehaltung der Unterscheidung von Mord und Totschlag aus, weil diese im Volksbewußtsein lebendig sei. Daß ein "im sittlichen Empfinden begründetes Unwerturteil" den Ausschlag geben müsse, war unumstrittener Ausgangspunkt: Die Kommission bekannte sich von vornherein zu einer Verwerflichkeitslösung137. Gleispachs Bericht über die Ergebnisse der ersten Lesung verwies zur Begründung auf die Schwierigkeiten bei der Abgrenzung des Merkmals "Überlegung" vor allem aber auf Strafwürdigkeitserwägungen: Die Überlegung bilde "keineswegs ein durchgreifendes Merkmal höherer Strafwürdigkeit", andererseits zeige "ihr Mangel keineswegs stets oder auch nur regelmäßig geringere Schuld an". Eine Ersetzung durch das Abgrenzungsmerkmal "Vorbedacht" beseitige diese Mängel nicht; schließlich bestätigten "die neueren Gesetze und Entwürfe des Auslandes... eine fortschreitende Abkehr von diesen Methoden". Das Wesentliche sei, so die Überleitung zu den tragenden Vorstellungen der Kommission, die "Wertung der Tat und des Täters". Die Kommission entschied sich dabei für einen "Mittelweg" zwischen einer Generalklausel, die jede "besonders verwerfliche Tötung als Mord" erklärt und einer kasuistischen Durchführung dieses Grundgedankens durch "eine notwendigerweise recht lange Aufzählung symptomatischer Merkmale". Der erste Weg lasse "zuviel offen", der zweite könne "die bekannten Mängel der Kasuistik nicht vermeiden". Die kasuistische Lösung im besonderen führe zu dem am geltenden Recht oft getadelten Fehler, dem Richter "Schranken aufzuerlegen, die ihm die richtige Würdigung des einzelnen Falles unmöglich" machten. Der Gesetzgeber solle sich "davor hüten, auch noch dort zwingende Normen aufzustellen, wo die für ihn unvermeidliche Abstraktion zur Vergewaltigung der vielfältigen tatsächlichen Gegebenheiten wird". Die Strafrechtskommission nahm deshalb folgenden "Mittelweg zwischen den zwei... Methoden" in Aussicht: Der Leitgesichtspunkt, Mord als besonders verwerfliche Tötung, sollte zunächst durch den "Hinweis auf die Beweggründe des Täters, die Art der Ausführung der Tat und die verfolgten Zwecke" als maßgebliche "Umstände ... für die Bewertung des Täters [!]" ergänzt werden. Sodann erläuterte der "Entwurf seine allgemeine Richtschnur durch eine Aufzählung von einzelnen Fällen der drei Gruppen. Hier tauchten dann die im Schweizer Entwurf von 1896 enthaltenen Mordmerkmale der Mordlust, der Habgier und die qualifizierenden Tatmittel "Feuer" und "Gift" auf. Charakteristisch für die in Aussicht genommene Tatbestandskonstruktion war, daß sie den Richter nicht festlegen wollte: Die Aufzählungen seien, so heißt es, "weder abschließend, noch ist der Richter gezwungen, den Täter als Mörder oder Totschläger zu erklären, wenn auch ein Umstand vorliegt, der als regelmäßiges Kennzeichen des einen oder anderen Typus aufge136 Kerrl, Denkschrift (1933), S. 85 f. Zu den Beratungen des Akademieausschusses und den "Nationalsozialistischen Leitsätzen" von 1935 (Ziff. 58) Freister, DJ 1941,934. 137 Gleispach, Gürtner BT (1935), S. 254.

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führt ist. Denn andere Umstände können ausnahmsweise das Gesamtbild wesentlich verändern"138. Daß mit diesen "anderen Umständen" namentlich solche in der Person des Täters gemeint seien, hob der Bericht von Gleispachs nachdrücklich hervor: Wie "das Urteil des Volkes" gehe der Kommissionsvorschlag von der Tat aus "und endet bei der Bewertung des Täters": "Denn der Mörder und - wenn auch minder scharf ausgeprägt und nicht dem Sprachgebrauch nach - der Totschläger sind in der Vorstellungswelt lebendige Typen". Der Richter solle deshalb auch "die Einreihung in den Typus ausdrücklich im Urteil vollziehen". Damit wurde die Notwendigkeit einer "Täterwertung" unmißverständlich betont: Auch bei stärkster Belastung durch die Erfüllung eines oder mehrerer Mordmerkmale konnten andere Umstände, namentlich die Gesamtwertung des Täters ausnahmsweise zur Einstufung der Tat als Totschlag, des Täters als Totschläger führen. Die bewegliche Tatbestandstechnik wurde durch einen variablen Strafrahmen ergänzt, der für den Mord auf Todesstrafe oder lebenslängliches Zuchthaus lautete. Der Totschlag sollte alle Fälle vorsätzlicher Tötung im übrigen erfassen, die Strafdrohung entsprechend der Weite des Tatbestandes von sechs Monaten Gefängnis bis zur zeitigen (Zuchthaus-)Höchststrafe reichen139. In zweiter Lesung gelangte die Kommission zu folgender Mordstrafbestimmung: "Wer einen Menschen tötet, wird, wenn er besonders verwerflich gehandelt hat, als Mörder (mit dem Tode) bestraft. Besonders verwerflich handelt in der Regel, wer die Tat aus Mordlust, Habgier, zur Befriedigung des Geschlechtstriebes oder sonst aus niedrigen Beweggründen, auf hinterlistige oder grausame Weise oder mit gemeingefährlichen Mitteln, oder zum Zweck, eine andere Straftat zu ermöglichen, begeht".

Der Hinweis auf Beweggründe, Art der Ausführung und verfolgte Zwecke wurde "als überflüssig" weggelassen140. Graf von Gleispach faßte den Sinn der Vorschrift im Hinblick auf die Täterwertung wie folgt zusammen: "Es kommt jetzt noch deutlicher zum Ausdruck, daß stets eine Gesamtbewertung des Täters stattzufinden hat und erst ihr Ergebnis zum Urteil: Mörder führt; also auch stärkste Belastimg nach einer der drei Richtungen hin, ζ. B. Art der Ausführung, doch mit dem Urteil: Totschlag vereinbar ist"141.

bb) Der E 1936 (§ 405) Die in zweiter Lesung von der Strafrechtskommission verwendete Regelbeispielstechnik fand keinen Eingang in das Änderungsgesetz 1941. Darauf stützte der Bundesgerichtshof entscheidend seine historische Interpretation des Mordes als abschließende und zwingende Vorschrift und verwarf Freislers entgegengesetzte Erläuterungen zum Änderungsgesetz 1941 als "ersichtlich unrichtig"142. Wir sind nun für die Interpretation der Absichten des Änderungsgesetzes 1941 nicht allein auf Freislers offiziöse Erläuterungen angewiesen: Der Mordtatbe-

138 139 140 141 142

Alle Zitate aaO, S. 255 f. AaO, S. 256 f. Gleispach, Gürtner BT2 (1936), S. 385. AaO. BGH-GS-St. 9,385, 388; vgl. Freister, DJ 1941,934.

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stand wurde nach der zweiten Lesung der Strafrechtskommission nochmals geändert143. Für die neuen §§ 211, 212 des Änderungsgesetzes dienten die §§ 405, 406 des Entwurfs von 1936 als Vorlage; bis auf die Hinzufügung der Verdeckungsabsicht beim Mord entsprach das Änderungsgesetz dem Entwurf. Die Begründung zum E 1936 ist deshalb näher zu betrachten, um festzustellen, welchen Charakter der Entwurf dem Mordtatbestand beilegen wollte und welche Rolle dabei der Tätertyp "Mörder" spielte. Die Entwurfsbegründung wiederholte die schon in der ersten Lesung der Strafrechtskommission leitenden Bedenken gegen die Unterscheidung von Mord und Totschlag anhand der "Überlegung". Der Entwurf wollte die "Unterscheidung ... in Anlehnung an die im Volke lebendigen Rechtsvorstellungen nach dem Grad der Verwerflichkeit der Gesinnung des Täters" treffen. Mord sei die "nach Beweggrund, Mittel oder Zweck besonders verwerfliche Tötung". Der Entwurf enthalte sich bewußt einer "abschließenden Aufzählung", weil nach den Erfahrungen des Lebens eine "starre Grenze zwischen Mord und Totschlag" nicht gezogen werden könne: "Wann sonst ein niedriger Beweggrund vorliegt, der die Tötung als Mord erscheinen läßt, hat der Richter zu entscheiden"144. Damit war den niedrigen Beweggründen die Funktion zugedacht, in jedem Fall einer Tötung aus verwerflicher Gesinnung den Zugang zur Verurteilung "als Mörder" unmittelbar über § 211 und ohne den Umweg über § 2 RStGB n. F. zu eröffnen 145 . Zur zweiten Gruppe der Mordmerkmale (heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln) hieß es in der Entwurfsbegründung, hier komme die verwerfliche Gesinnung des Täters in der Art der Ausführung der Tat und in der Wahl der Mittel zum Ausdruck. Die Begehungsweise interessierte also nicht im Hinblick auf ihre Gefährlichkeit als solche, sondern als Indiz verwerflicher Gesinnung. Ebenso wurde die Absicht, eine andere Straftat zu ermöglichen, als Ausfluß verwerflicher Gesinnung begriffen. In einer alle Mordmerkmale übergreifenden Erörterung ging die Entwurfsbegründung dann auf die Bedeutung der Täterbezeichnungen "Mörder" und "Totschläger" ein. Hiermit weise der Entwurf "den Richter auf die Aufgabe hin, zur Beurteilung der Tat vor allem die Gesamtpersönlichkeit des Täters zu prüfen und zu würdigen". Der Entwurf vertraute darauf, daß der Richter "hiernach im Einklang mit den im Volke lebendigen Rechtsvorstellungen die Einordnung des Täters in den zutreffenden Typus richtig vornehmen" werde, verlangte also ausdrücklich eine Zuordnung des Täters zum betreffenden "Typus". Die Einleitung zum Entwurf macht deutlich, daß ein bestimmter 'Tätertyp" gemeint war. Sie hebt unter besonderem Hinweis auf Mord und Totschlag die sachlichen Konsequenzen hervor: Der an Tätertypen angelehnte Tatbestand erhalte "eine besondere subjektive Betonung, durch die eine ganz bestimmte Persönlichkeitsvorstellung in dem Richter geweckt wird". Die Behandlung der Täterwertung in der Entwurfsbegründung läßt nur den Schluß zu, daß in sachlicher Übereinstimmung mit den Ergebnissen zweiter Lesung die Mordmerkmale nicht abschließend, sondern einer Korrektur durch eine Täterwertung zugänglich sein sollten. Den Ansatzpunkt sah der Entwurf in den Täterbezeichnungen, womit dem Ausdruck "Mörder" ein 143 Diese Änderung wurde vermutlich bei der Abschlußtagung v. 26.-31. 10. 1936 beraten. Freister, in: Gürtner/Freisler (1936), S. 82 f. und Schäfer, DJ 1936, 1700 legen die Fassung des E 1936 zugrunde, ohne die Abweichungen von den Ergebnissen der 2. Lesung zu begründen. 144

Begr. E 1936, S. 245.

145 Vgl. die Ausführungen Esers vor dem 53. DJT (1980), Gutachten, S. D 39 ff. 43.

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selbständiger Sinn beigelegt wurde. Hätte der Entwurf in den einzelnen Mordmerkmalen seines Absatzes 2 lediglich eine "Legaldefinition" des Absatzes 1 ("Mörder") erblickt, wären die übergreifenden Ausführungen zur Täterwertung ins Leere gegangen. Daß eine solche Legaldefinition nicht beabsichtigt war, ergibt sich im übrigen schon daraus, daß der Entwurf die Motivmerkmale gerade nicht abschließend aufzählte, sondern durch die "sonstigen niedrigen Beweggründe" offen hielt. Zugleich legte das Offenhalten der Motivmerkmale die Annahme eines nicht zwingenden Charakters der Einzelbeispiele nahe: Wenn eine "starre Grenze" in der einen Richtung nicht gezogen werden konnte, mußte das nicht auch für die andere gelten? Vor allem aber entsprach allein die Annahme einer weder zwingenden noch abschließenden Aufzählung von Mordmerkmalen der ratio legis, wie sie sich in den Reformbemühungen herauskristallisiert hatte: Es ging um die Verwerflichkeit der Gesinnung des Täters. Diese sollte Ausgangs- und Endpunkt der strafrechtlichen Wertungen bilden, äußere Umstände waren nur als Erkenntnismittel bedeutsam. Nimmt man das Mißtrauen der nationalsozialistischen Strafrechtsreform gegen "abstrakte Normierungen" hinzu, wäre es geradezu widersinnig anzunehmen, der Entwurf von 1936 habe in offenkundigem Gegensatz zu den Ergebnissen erster und zweiter Lesung stillschweigend zu einer zwar nicht abschließenden, aber zwingenden Kasuistik des Mordtatbestandes zurückkehren wollen. Vielmehr ergibt der Entwurf folgendes Bild: Grundlage der Mordbestrafung ist die besonders verwerfliche Gesinnung des Täters, die den gemeinsamen Nenner aller Mordmerkmale bildet; insbesondere die Begehungsweise ist nur Symptom. Absatz 1 ("Mörder") hebt dieses täterschaftliche Moment hervor und hat deshalb einen eigenen Sinn. Absatz 2 formuliert keine abschließende Kasuistik, weil die "sonstigen niedrigen Beweggründe" den Tatbestand offen halten. Absatz 2 ist nicht zwingend, weil Absatz 1 ein Korrektiv enthält. So bleibt nur die Frage, warum der Entwurf überhaupt von der Fassung der zweiten Lesung abwich, wenn eine inhaltliche Änderung nicht gewollt war. Die Begründung spricht sich darüber nicht aus; die Antwort Freislers ist nunmehr im Zusammenhang des Änderungsgesetzes 1941 darzustellen. cc) Das Änderungsgesetz 1941 Den Sinn der Neuregelung beschrieb Freisler, dessen Beitrag wegen seiner amtlichen Stellung und als Mitglied der Strafrechtskommission besonderes Gewicht zukam, 1941 in weitgehender inhaltlicher Übereinstimmung mit dem Entwurf: Er sah die ratio legis in der Erfassung betätigter besonders verwerflicher Gesinnung und begriff den Absatz 2 des § 211 als "Veranschaulichung" des Absatzes 1, nicht als abschließende und zwingende Kasuistik146. Daß § 211 II nicht abschließend sei, ergab sich für Freisler wie schon für den E 1936 bereits aus dem Verweis auf die sonstigen niedrigen Beweggründe. § 211 II erlaube es damit, den Aszendentenmord sowie den Gatten- oder Kindesmord einzubeziehen, die das Gesetz wegen der Vielfältigkeit und Unterschiedlichkeit der Sachlagen nicht ausdrücklich behandeln wolle147. Der von Dahm für diese Fälle empfohlene Weg über § 2 RStGB erübrigte sich also, wenn der Täter "aus" niedrigen Beweggründen handelte. Die Zulässigkeit der Analogie 146 DJ 1941,934. 147 AaO, 936. Vgl. auch Begr. E 1936, S. 246. 148 Vgl. Dahm, DR 1942,405, der über seinen Tätertypen" die Weite des Motivmerkmals vergaß.

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stand nur in Frage, wenn es um die Gleichstellung von gesetzlich nicht benannten Ausführungsarten oder Zwecken mit den gesetzlichen Mordmerkmalen ging149. Da aber die äußeren Umstände als Indikatoren verwerflicher Gesinnung begriffen wurden, war auch insoweit fraglich, ob nicht regelmäßig entweder der Weg über das unbestimmte Motivmerkmal zur Verurteilung aus § 211 führen müsse oder aber überhaupt § 211 unanwendbar sei. Diese Subtilitäten mögen auf sich beruhen: Klar war, daß §211 kein abschließender Charakter zugedacht war, ging es doch in der gesamten nationalsozialistischen Reform um das Vermeiden "starrer Grenzen". Die Offenheit der Motivmerkmale ergab sich schon aus der Gesetzesfassung; für die Einbeziehung gesetzlich nicht benannter Zwecke oder Ausführungsarten - rückgebunden an die verwerfliche Gesinnung! - stand gegebenenfalls der Weg über § 2 offen. Den zwingenden Charakter der Mordmerkmale des Absatzes 2 verneinte Freisler unter Hinweis auf die eigenständige Bedeutung des Absatzes 1: Er sage "bereits alles, was zur Bestrafung des Mörders vom Gesetzgeber mindestens gesagt werden müsse"150. Daraus folge der nur veranschaulichende Charakter des Absatzes 2, der nicht abschließend, aber auch nicht zwingend sei. Den Sinn der Neuregelung sah Freisler im übrigen "viel deutlicher" als im neuen § 211 in der Fassung der zweiten Lesung der Strafrechtskommission verkörpert. Damit drängt sich natürlich die Frage auf, warum die "deutlichere" Regelung nicht vorgezogen wurde. Freisler führte zur Streichung der "besonderen Verwerflichkeit" sprachliche Gründe an: Die frühere Formulierung sage "mit dürren Worten ..., daß es auch eine 'nicht besonders verwerfliche' vorsätzliche Tötung gäbe", was "durchaus unerwünscht" sei. Die Wendung "in der Regel" im früheren Absatz 2 habe man, weil "verunklarend", ebenfalls gestrichen, damit aber keine sachliche Änderung bezweckt, sondern nur eine "straffere Fassung". Deshalb schließe auch die nicht veröffentlichte amtliche Begründung zum Änderungsgesetz 1941 mit den Worten: "Die Bezeichnung des Täters als Mörder bzw. als Totschläger weist den Richter an, die Gesamtpersönlichkeit des Täters zu prüfen und zu würdigen" . Aus diesem Hinweis gehe hervor, daß stets abschließend die "ganze Persönlichkeit" des Täters angesehen werden müsse. So sei Absatz 2 keine "Legaldefinition mit Ausschließlichkeits- und Vollständigkeitsanspruch zu Abs. 1". Allerdings komme eine Korrektur des Absatzes 2 durch Absatz 1 nur ganz ausnahmsweise in Betracht; insofern sei der Regelbeispielscharakter der Fassung zweiter Lesung eher zu schwach und Absatz 2 einer Legaldefinition immerhin "erheblich angenähert". Als mögliches Beispiel einer "Korrektur" des Absatzes 2 durch Absatz 1 führte Freisler u. a. das Zusammentreffen von Mordmerkmalen mit einer "entschuldbaren heftigen Gemütsbewegung" an152. Die Täterwertung konnte also, so das Ergebnis Freislers, ausnahmsweise zum Ausschluß des § 211 trotz Vorliegens von Mordmerkmalen führen. Die ratio legis des § 211 wurde bislang ohne Rückgriff auf die Tätertypenlehre der Kriegszeit beschrieben. Frommel hat §211 dagegen als Bekenntnis zur "normativen Tätertypenlehre" Dahms gewertet und den Grund der "ungewöhnlichen Tatbestandsformulierung" u. a. in der "im Strafrecht propagierten Lehre vom Tätertyp" erblickt153. Daß der neue § 211 nicht erst durch die Dahmsche Formulierung der Tätertypenlehre ermöglicht wurde, ist offenkun149 150 151 152 153

Treffend Pfimdtner/Neubert/Rietzsch (1933 ff.), II c 6, S. 174. Freisler, DJ 1941,934. Die Amtl. Begr. wurde nicht veröffentlicht. Vgl. auch oben bb zum E 1936 und dort Begr. S. 246. Freisler, DJ 1941,935. JZ1980, 559 ff., 560. Vgl. auch Rüping, JZ1979,618.

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dig: Zwar lag "noch vor Verabschiedung des neu gefaßten § 211 StGB ... die normative Tätertypenlehre Dahms vor", wie Frommel bemerkt 154 , aber noch vor Dahms Tätertypenlehre von 1940 wurde bereits 1936 der neue §211 formuliert. Dort wurde der "Tätertyp" unabhängig von den späteren Verfeinerungen als eine "ganz bestimmte Persönlichkeitsvorstellung" aufgefaßt und als praktisch wesentlich die Bewertung und Einordnung der Gesamtpersönlichkeit als selbständige Voraussetzung des § 211 betont 155 . Daß das Änderungsgesetz 1941 nunmehr gerade den "normativen Tätertyp" im Sinne Dahms im Auge hatte, mag zutreffen. Namentlich die Äußerungen Freislers stellen, freilich ohne besonderen Hinweis auf Dahm, den "Tätertyp" heraus und geben zu verstehen, daß ein "kriminologischer" Tätertyp nicht gemeint sei156. Die damit anvisierten Ergebnisse, insbesondere die "Verdichtung" und Einschränkung des Tatbestandes, ließen sich aber unabhängig von Dahms Konstruktion durch eine Wertung der Gesamtpersönlichkeit des Täters erzielen, wie allein schon die Kommissionsberatungen und der E 1936 beweisen. Die Lehre vom Tätertyp lieferte ein programmatisches Stichwort für die Notwendigkeit einer Täterwertung, die nach dem Willen des Gesetzgebers aber auch unabhängig von der Existenzberechtigung und Leistungsfähigkeit des "normativen Tätertyps" stattzufinden hatte. So hat auch die bisherige Darstellung überall dort, wo der Tätertyp auftauchte, bestätigt, daß es bei den Kontroversen nicht um die praktischen Konsequenzen (Täterwertung), sondern um die dogmatische Einkleidung der Täterwertung ging.

c) Die Rechtsprechung des Reichsgerichts zum neuen Mordtatbestand Das Reichsgericht sprach im Leitsatz seiner ersten veröffentlichten Entscheidung aus, zum Begriffe des Mörders gehöre nicht, "daß der Täter einem besonderen Tätertyp' entspricht"157. Unter Berufung auf diese Entscheidung heißt es in der neueren Literatur, das Tätertyperfordernis habe "keinen entscheidenden Eingang in die Praxis gefunden", das Reichsgericht habe im § 211 II vielmehr "notwendige, aber auch hinreichende Bedingungen für die Bestrafung als 'Mörder'" gesehen158. Frommel bescheinigt dem Reichsgericht, es habe die "konkret-historische Absicht des Gesetzgebers" nicht beachtet 159 . Diese Schlußfolgerungen finden schon in der angesprochenen Entscheidung selbst keine hinreichende Stütze. Zunächst sagt der Leitsatz nicht, welcher "Tätertyp" abgelehnt werde: Daß §211 keinen "kriminologischen" Tätertyp erfordere, war einhellige Auffassung160. Die Entscheidungsbegründung aber nimmt den Leitsatz zurück: Sie fordert die Berücksichtigung täterschaftlicher Elemente bei der Grausamkeit ("heftige Gemütsbewegung", "begründete Eifersucht") und hebt die Instanzentscheidung wegen Fehlens entsprechender Ausführungen auf. Dann heißt es, damit sei "nicht gesagt, daß zum Begriffe des 'Mörders' neben den Merkmalen des §211 Abs. 2 StGB ein besonderer Tätertyp' gehöre". Die Entscheidungsbegrün154 155 156 157 158

JZ1980,560. Begr. E 1936, S. 3,246 und oben bb. DJ 1941,935. RGSt. 76,297 (Urt. v. 27.2.1942,4. StS). Rüping, JZ 1979, 618, der freilich auch "weniger strenge" Entscheidungen sieht (aaO, Fn. 25), die sogleich anzusprechen sind. 159 JZ 1980,563.

160 Vgl. nur Grau/Kmg/Rietzsch2 (1943), S. 296.

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dung läßt also die Tätertypenfrage ausdrücklich offen. Zudem anerkennt das Urteil die Notwendigkeit einer besonderen Täterwertung, die es freilich in die Auslegung der Merkmale des Absatzes 2 verlagern will: O b jene Merkmale gegeben sind, ist regelmäßig nicht aus der Tat allein (d. h. nur aus den äußeren Umständen) zu entnehmen; vielmehr bedarf es dazu auch der Würdigung der Gesamtpersönlichkeit des Täters. Das gilt insbesondere für den Begriff 'grausam'" 161 . Die Entscheidung läßt somit keineswegs den Schluß zu, "die" Rechtsprechung des Reichsgerichts habe § 211 II unabhängig von einer Würdigung der Gesamtpersönlichkeit des Täters zwingenden Charakter beigelegt162. Diese Frage war im übrigen auch nicht entscheidungserheblich, da die Verurteilung aufgehoben wurde. Vor allem aber erschöpft die Entscheidung im 76. Band nicht "die" Rechtsprechung des Reichsgerichts, zumal der IV. Strafsenat dem Tätertyp" jedenfalls in den Begründungen zurückhaltender gegenüberstand als die übrigen Senate 163 . Die späteren Entscheidungen des I. Strafsenats sprechen gegen den zwingenden Charakter der einzelnen Mordmerkmale 164 . Das Urteil vom 7. Mai 1943 charakterisiert im Leitsatz den Mord als eine im Gegensatz zum Totschlag besonders verwerfliche Tötung. Damit ist eine übergreifende Gesamtwertung der Täterpersönlichkeit vorausgesetzt. In den Gründen heißt es, der Gesetzgeber erfasse Tat und Täter, er finde "das unterscheidende Merkmal zwischen den beiden Tätergruppen in der Gesamtpersönlichkeit des Täters, wie sie aus der Tat und aus sonstigen Umständen erkennbar ist". Beweggrund, Ausführung und Zweck der Tat sollten "vor allem" - also: nicht zwingend! über die Einordnung des Täters entscheiden. Die Tat selbst diene "als Spiegelbild der inneren Gesinnung des Täters". Freilich will die Entscheidung offenkundig die "Korrektur" des Absatzes 2 durch eine Gesamtwürdigung nach Absatz 1 auf Ausnahmefälle beschränken und einer "individualistischen" Betrachtung des Täters entgegenwirken: Der Schutz der Volksgemeinschaft müsse gewährleistet bleiben. Entscheidend für die Einstufung eines Täters als Mörder oder Totschläger sei deshalb nicht "seine Bewertung als Einzelpersönlichkeit", sondern vielmehr "wie Tat und Täter vom Standpunkte des gesunden Volksempfindens aus sittlich zu bewerten sind"165. Mit der Bewertung vom Standpunkt des Volksempfindens knüpfte die Entscheidung unmittelbar an die Leitgesichtspunkte der Rechtsprechung zu § 1 der Novelle ("Vereinigungsformel") an 166 . Das beweist, daß die Kasuistik des §211 nicht zwingend sein soll: Gesundes Volksempfinden ist nicht kasuistisch normierbar, es folgt den sich wandelnden Bedürfnissen der Volksgemeinschaft. Schließlich spricht auch eine spätere Entscheidung offenkundig gegen den zwingenden Charakter der einzelnen Mordmerkmale. Das einschlägige Urteil stellt lapidar fest, das Instanzgericht habe "die besondere Verwerflichkeit der Tötung einwandfrei bejaht" und sieht damit § 211 als gegeben an. Auf besondere Mordmerkmale "geht die Entscheidung nicht ein. Sie läßt damit vielleicht offen, ob die Bejahung "besonderer Verwerflichkeit" unmittelbar strafbegründend wirken soll; sie setzt aber umgekehrt voraus, daß die Tat jedenfalls auch be161 RGSt. 76, 297,299. 162 Vgl. Lange, Schröder-GedSchr (1978), 219. 163 Vgl. Kohlrausch /Lange3* (1943), Anh. Nr. 36, Vorb III, S. 820 und etwa RG ZAkDR 1941, 400 und dazu Bruns, ZAkDR 1941,398 f. 164 Vgl. zusf. Thomas (1985), S. 265 ff. 165 Vgl. RGSt. 77,41,43 f. 166 Vgl. Bruns (1967), S. 154 und oben lb.

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sonders verwerflich sein müsse und verneint damit den zwingenden Charakter der Mordmerkmale167. Nimmt man die wenigen Entscheidungen zu § 211 zusammen, so lehnen jedenfalls die späteren Urteile einen zwingenden Charakter der Mordmerkmale ab168. Ein Bekenntnis zum Tätertyp" enthalten sie nicht, lehnen ein solches Erfordernis aber auch nicht ab: Eine Stellungnahme ist in Ansehung der praktischen Konsequenzen nicht notwendig. Zum abschließenden Charakter des § 211 II äußern sich die reichsgerichtlichen Entscheidungen nicht. d) Zusammenfassung und Schlußbetrachtung Die übergreifende Bedeutung des § 211 lag im weiteren Übergang vom Tat- zum Täterstrafrecht. Indem dieser bei einem besonders "repräsentativen" Tatbestand (Freisler) vollzogen wurde, lag darin eine programmatische Erklärung, ein "Bekenntnis", wie sich die Zeitgenossen bevorzugt ausdrückten. Ratio legis des § 211 n. F. war die Erfassung von betätigter besonders verwerflicher Gesinnung als Mord, eine damals "sittlich", heute "moralisierend"169 genannte Betrachtung. Die Gefährlichkeit der Tat interessierte nicht als solche, sondern nur als Spiegelbild verwerflicher Gesinnung. § 211 II war vom Gesetzgeber weder als zwingende noch als abschließende Regelung gemeint; letzteres ergab sich aus der Offenheit der Motivmerkmale sowie über § 2 RStGB. Die Gesetzgebungsarbeiten zeigen, daß dem Gesetzgeber ein angeblich in der Volksanschauung lebendiges Leitbild des "Mörders" vorschwebte. Wesentliche praktische Konsequenz dieser Annahme war das Erfordernis einer besonderen Wertung der Täterpersönlichkeit, die sich zugunsten, aber auch zuungunsten des Täters auswirken konnte. Diese doppelte Offenheit des §211 war eine vom "normativen Tätertyp" Dahms durchaus unabhängige Konsequenz der "sittlich" wertenden Täterbetrachtung. Die Rechtsprechung des Reichsgerichts betonte die Notwendigkeit einer (übergreifenden) Persönlichkeitswertung, ohne ein zusätzliches Tätertypenerfordernis aufzustellen oder abzulehnen. Jedenfalls die späteren Entscheidungen legen § 211 II keinen zwingenden Charakter bei. Die vom Bundesgerichtshof im 9. Band vorgenommene historische Inteipretation des § 211 ("klar und fest umrissener Tatbestand"170) erweist sich damit als unrichtig . Weitere Eigentümlichkeiten der Neuregelung sind in der bisherigen Darstellung nicht angesprochen oder nur angedeutet: Positiv umschrieben wurde nur der Mörder. Der Mord sollte als Tötungsverbrechen eigener Art an der Spitze der Tötungsdelikte stehen172. Hier wirkte sich die Vorstellung eines im Volksbewußtsein vorhandenen Leitbildes "Mörder" aus, der von "grundsätzlich anderer Wesensart"173 sei als der "Totschläger". Die Bezeichnung "Totschläger" war nach der Vorstellung des Gesetzgebers weit blasser: Es handelte sich nicht um

167 168 169 170 171 172 173

RGSt. 77, 286,289. Ähnlich Thomas (1985), S. 273. Vgl. Frommel, StV 1982, 538. BGHSt. 9,385 und dazu oben a a. E. So im Ergebnis schon Frommel, JZ 1980,562 f. Vgl. Freisler, DJ 1941,934; Kohlrausch/Lange3* (1943), § 211 Anm. II 3. Vgl. Freister, aaO.

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einen eigenständigen Tätertyp, sondern um einen Sammelbegriff für alle vorsätzlich tötenden Nicht-Mörder. Der Totschlag war "negativ bestimmter Auffangtatbestand"174. Auf der ethisierenden tattäterstrafrechtlichen Grundlage bildete §211 eine in sich geschlossene Lösung mit einheitlicher ratio legis und flexiblem Tatbestand. Die Beweglichkeit wurde durch die unbenannten "besonderen Ausnahmefälle" des Absatzes 3 (lebenslanges Zuchthaus) noch gesteigert. Die Gesinnungsstrafe hat im Tatstrafrecht keinen Platz. Trotzdem wurde § 211 beibehalten, u. a. weil man jedenfalls in den Schweizer Modellen den Beweis für die Rechtsstaatsverträglichkeit des Tatbestandes sah. Mit dem Versuch, § 211 in ein Tatstrafrecht zu integrieren, mußten Friktionen entstehen. Die mit dem Integrationsversuch teilweise verknüpfte und auf den Bestimmtheitsgrundsatz gestützte Annahme eines zwingenden Charakters der Mordmerkmale sowie die 1953 erfolgte Streichung der besonderen Ausnahmefälle mußten die Schwierigkeiten verstärken. Wenn man aber schon § 211 nicht preisgab, den "Geruch seiner Herkunft" ertragen wollte, dann mußte die Einschränkung von der Täterseite her übernommen werden175. Der gänzliche Verzicht auf ein übergreifendes Korrekturinstrument war bei den als tatbezogen interpretierten Merkmalen der zweiten und dritten Gruppe ein schweres Gepäck. Der Große Senat hat es mit seiner Entscheidung im 30. Band176 zwar nicht abgeworfen, die Last im Ergebnis aber erträglicher gemacht. Der Bundesgerichtshof ist mit dem Anerkennen einer übergesetzlichen Strafmilderung nach dem Maßstab des § 49 I Nr. 1 für die Heimtücke im Grunde zu den "besonderen Ausnahmefällen" des § 211 III a. F. zurückgekehrt, die selbst der damalige Gesetzgeber trotz des in den Tatbestand eingebauten Korrektivs für notwendig hielt. 4. Die Strafvorschriften im übrigen Weniger spektakuläre Änderungen als die beiden ersten Paragraphen der Novelle brachten die §§ 3 bis 7. § 3 schärfte die Strafe für den gewerbs- oder gewohnheitsmäßigen Wucher (§ 302d) und den Sachwucher (§ 302e) "in besonders schweren Fällen" auf Zuchthaus und ließ daneben Geldstrafe in unbeschränkter Höhe zu. Die Vorschrift, die auf eine textliche Änderung des RStGB verzichtete, war insofern von symptomatischer Bedeutung, als "der Wucherer" mit der geschärften Strafe bedroht wurde. Wie der E 1936177 wählte das Änderungsgesetz eine Täterbezeichnung, um den Blick auf die Täterpersönlichkeit zu lenken und stand damit in einer Linie mit den §§ 1, 2 der Novelle. Durch die gesetzliche Anknüpfung an § 302d RStGB setzte § 3 der Novelle jedenfalls insoweit einen (kriminologischen) Tätertyp voraus, als es um den gewohnheitsmäßigen Wucherer ging178. Die Frage, ob § 3 darüber hinaus allgemein einen besonderen tatbestandlichen Tätertyp anerkannte, war parallel zu § 1 (Sittlichkeitsverbrecher)

174 Dohm, DR 1942,406; vgl. auch Freister, aaO und die Kommissionsberatungen (oben aa). 175 Insoweit treffend Lange, Schröder-GedSchr (1978), S. 218 f. Vgl. etwa auch Jescheck, JZ1957,386 f. 176 BGH-GS-St. 30,105; zum Wandel der höchstrichterlichen Rspr. Kemer, Heidelberg-FS (1986), S. 419 ff., zum Streitstand Lackner17 (1987), 4b Vor § 211. 177 Vgl. § 443 E 1936.

178 Vgl. Pfundtner/Neubert/Rietzsch (1933ff.),II c 6, S. 173.

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und § 2 (§ 211 RStGB, "Mörder") gestellt und zu beantworten179. § 3 wurde durch den alliierten Kontrollrat aufgehoben; 1953 fand aber bei § 302d ein "besonders schwerer Fall" den Weg zurück in das Strafgesetzbuch180. § 4 stellte nach seiner Einleitung "zwecks schärferer Bekämpfung des Mißbrauchs von Ausweispapieren" einen neuen § 281 in das RStGB ein. Die Vorschrift beseitigte die Privilegierung von Urkundenfälschungen, die sich auf Ausweise und andere Legitimationspapiere bezogen (Übertretung)181. Solche Fälschungen bildeten nach Rietzsch eine "schwere öffentliche Gefahr", weil sie namentlich Berufsverbrechern und gefährlichen Staatsfeinden ihre Arbeit erleichterten182. Der Mißbrauch von Ausweispapieren wurde selbständig unter Strafe gestellt und mit Gefängnis-, in besonders schweren Fällen mit Zuchthausstrafe bedroht. Die Vorschrift überdauerte trotz der drastischen Strafdrohung das Bereinigungsgesetz; das 1. Strafrechtsreformgesetz milderte die Strafdrohung durchgreifend auf bis zu ein Jahr Freiheitsstrafe183. § 5 verschob wieder einmal den Tatbestand der Wehrmittelbeschädigung (§ 1 WehrkraftschutzVO), diesmal zurück in das RStGB (§ 143a)184. Dabei wurde die Gleichstellungsklausel des Absatzes 2 (fehlerhafte Herstellung oder Lieferung) auf Unterlieferanten und Begünstiger erweitert185. § 6 faßte den durch die Analogienovelle eingefügten § 310a RStGB, der den Schutz vor (Wald-)Brandgefährdung bezweckte, neu, dehnte den Tatbestand auf feuergefährdete Betriebe und Anlagen (Rüstungsbetriebe!) aus und ließ Fahrlässigkeit genügen. Dabei wurde die Strafdrohung von bis zu drei Monaten Gefängnis auf Gefängnis bis zu 5 Jahren verschärft186. Schließlich drohte § 7 für den Vollrausch (§ 330a RStGB) im Höchstmaß statt bisher zwei nunmehr fünf Jahre Gefängnis an187. 5. Verfahren a) Die Entlassungszuständigkeit beifreiheitsentziehendenMaßregeln (§8) Von großer praktischer Tragweite war die Änderung der Zuständigkeit für die Entlassung aus der Unterbringung in Sicherungsverwahrung, in einer Heil- und Pflegeanstalt, einer Trinkerheil- oder einer Entziehungsanstalt oder in einem Arbeitshaus: Die Entscheidung über

179 Vgl. aaO, S. 187,173. 180 Vgl. oben Fn. 1. 181 Vgl. § 363 RStGB a. F.

182 Vgl. Pfundtner/Neubert/Rietzsch (1933 ff.), II c 6, S. 179, Grau/Krug/Rietzsch2 (1943), S. 311 f. und dort zu Einzelheiten. 183 Vgl. § 281 StGB in der geltenden Fassung. 184 Vgl. schon oben [Nr. 16] 8; [Nr. 20]; [Nr. 32],

185 Vgl. Kohlrausch/Lange™ (1941), Nachtr. S. 22; Pfundtner/Neubert/Rietzsch (1933 ff.), II c 6, S. 182 f. 186 Näher Rietzsch, aaO, S. 183 ff. und dort auch zur Strafschärfung bei der fahrlässigen Brandstiftung (§ 309). § 310a eingefügt durch die Analogienovelle [Nr. 16], vgl. dort 8. 187 § 330a eingefügt durch GewVerbrG [Nr. 12] und dort 5b.

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Entlassung und Widerruf wurde der "höheren Vollzugsbehörde" übertragen, d. h. dem für den Sitz der Vollzugsanstalt zuständigen Generalstaatsanwalt188. Die Gründe für diese schon 1938 u. a. von Freisler empfohlene Regelung189 faßte Rietzsch zusammen190: Zugunsten der Gerichtszuständigkeit lasse sich anführen, daß es um Freiheitsentziehung gehe. Der Gedanke sei aber nicht zwingend, schon weil die Anordnung grundsätzlich zeitlich unbegrenzt sei (§ 42f I RStGB). Für die Entlassungszuständigkeit der Justizverwaltung spreche die Notwendigkeit gleichmäßiger Praxis, die durch die Zentralisierung bei den Generalstaatsanwälten und über die damit möglichen reichsministeriellen Weisungen besser gewährleistet werden könne als bei einer großen Zahl zuständiger Gerichte. Weiter sei die Entlassungsentscheidung materiell keine richterliche Entscheidung: Es handle sich nicht "um die Subsumtion eines Rechtsfalles unter gesetzliche Normen, sondern um Zweckmäßigkeitserwägungen, über deren Richtigkeit nicht ein Revisionsrichter wachen kann, sondern lediglich der Erfolg entscheidet". Ferner stehe die Vollzugsbehörde "dem Untergebrachten näher", während der Richter "lediglich auf Grund des Akteninhalts entscheiden" könne, ein Gesichtspunkt den Freisler besonders betonte191. Schließlich sei ein formalisiertes gerichtliches Verfahren mit Zwängen zu Stellungnahmen und Begründungen für die Entscheidung über die Entlassung "wenig geeignet". Mit § 8 wurde die Entlassungsentscheidung auch formell zu einer Verwaltungsangelegenheit, die nach näherer Weisung des Reichsjustizministers im behördeninternen, form- Und rechtsmittelfreien Verfahrensgang zu erledigen war: "Der Generalstaatsanwalt entscheidet durch Aktenvermerk"192. Zugleich schuf die Verwaltungszuständigkeit die Basis für eine zentrale Koordination mit der vorbeugenden Verbrechensbekämpfung der Polizei und bereitete die spätere Überstellung von Gefangenen an die Polizei zur "Vernichtung durch Arbeit" organisatorisch vor193. b) Die Verwaltung der Rückwirkung Das Gesetz legte sich in § 10 II eine zeitlich unbegrenzte Rückwirkung bei und überließ "das Nähere" der Bestimmung des Reichsjustizministers. Dieser gab in § 6 der Durchführungsverordnung vom 24. September 1941 "das Nähere" bekannt194: Für vor dem 1. September 1941 begangene Straftaten konnte danach von einer rückwirkenden Anwendung der neuen Strafvorschriften abgesehen werden; Rückwirkung war also insoweit fakultativ. Eine Verurteilung aufgrund der neuen Vorschriften setzte die Zustimmung der Staatsanwaltschaft voraus, an die das Gericht nicht gebunden war. Für Taten nach § 1 der Novelle schrieb eine ergänzende Rundverfügung des Reichsjustizministers einen vorherigen Bericht der Staatsan188 Vgl. § 42f VI i. d. F. des § 1DVO zum ÄndG v. 24.9.1941, RGBl. I, S. 581. 189 Vgl. Freisler, DJ 1938, 628 f. und in: Freisler (Hrsg), Dringende Fragen der Sicherungsverwahrung (1938), S. 12 ff.

190 Pfundtner/Neubert/Bietzsch (1933 ff.), II c 6, S. 187 f. und Grau/Kmg/Rietzsch2 (1943), S. 322 ff. 191 DJ 1941,937 mit Zitat seiner früheren Ausführungen (Fn. 189). 192 Pfimdtner/Neubert/Rietzsch (1933 ff.), II c 6, S. 188. Zur näheren Regelung RV des RJM v. 17. 10. 1941 nebst Ergänzungserlassen bei Grau/Kntg/Rietzsch2 (1943), S. 325. 193 Vgl. dazu 3. Teil Β IV 3a cc dd. 194 RGBl. I, S. 581 und dazu Pfundtner/Neubert/Rietzsch/Hoyer (1933 ff.), II c 6, S. 191 ff.

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waltschaft an das Ministerium zur Einholung einer Ermächtigung zur Zustimmung vor195. Bei Abgabe einer derart autorisierten Zustimmungserklärung werde das Gericht, so Rietzsch 1943, "in Würdigung der Stellungnahme der Staatsführung regelmäßig § 1 des Gesetzes rückwirkend anwenden"196. 6. Die Delegationen Das Änderungsgesetz traf wesentliche Regelungen selbst, enthielt aber auch Delegationen von erheblicher Tragweite. Das gilt nicht nur für die nähere Regelung der Zuständigkeit und des Verfahrens bei Entlassung aus der Unterbringung (§ 8 S. 2) und für die Rückwirkung (§ 10 II S. 2). Der Reichsjustizminister konnte schlechthin "die zur Durchführung des Gesetzes erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften" erlassen (§ 9 II) und ihm war, im Einvernehmen mit dem Reichsinnenminister, ausdrücklich die "entsprechende Änderung" des österreichischen Strafrechts aufgetragen (§ 9 ΓΠ). Das Gesetz bildete mit den im Rahmen dieser Delegation erlassenen Bestimmungen einen Verbund. Der für das strafrechtliche Regelgefüge interessanteste Punkt ist dabei, daß es keine Hierarchie zwischen "Gesetz" und "Durchführungsverordnung" gibt: Der Reichsjustizminister ändert aufgrund der Delegation im Verordnungsweg das RStGB (§ 1 I VO und § 42f RStGB). Er begrenzt die unbefristete Rückwirkung (§ 10 Π Änderungsgesetz und § 6 VO). Die ministerielle Verordnung führt nicht nur die Vorschriften des Änderungsgesetzes in den Reichsgauen der Ostmark ein, sie paßt diese inhaltlich an (§ 3 VO). Die Durchführungsverordnung setzt auch andere, nicht im Änderungsgesetz enthaltene Vorschriften, in Österreich in Kraft, so § 20a RStGB, und ändert österreichische Gesetze ab. Für den Rang der strafrechtlichen Regeln kommt es also nicht auf die Bezeichnung an und nicht auf das handelnde Organ. Es genügt das Handeln im Rahmen der Delegation der zuständigen Stelle. Zum Verbundsystem gehören aber auch die internen Verwaltungsvorschriften, zu deren Erlaß § 9 II des Gesetzes ausdrücklich ermächtigt: So bildet für das Verfahren bei Entlassung aus der Unterbringung § 8 des Gesetzes mit § 1 der Durchführungsverordnung und den Erlassen vom 17. Oktober 1941 und vom 5. Februar 1942 eine Einheit . Gemeinsames Merkmal aller Vorschriften ist: Sie gehen von einer zuständigen Stelle aus - und sie werden vollzogen. 7. Zum kriminalpolitischen Gesamtergebnis Versucht man das kriminalpolitische Ergebnis der Novelle zusammenzufassen, so ist ihr vielleicht wichtigster übergreifender Zug die Täterorientierung. Sie leitet die wichtigsten Bestimmungen der Novelle: "Gefährlicher Gewohnheitsverbrecher", "Sittlichkeitsverbrecher", "Mörder". Die Anerkennung eines "normativen Tätertyps" mag dabei beim "Sittlichkeitsverbrecher" und beim "Mörder" den gesetzgeberischen Absichten entsprochen haben, die Frage ist aber von sekundärer Bedeutung: Der "normative Tätertyp" ist ein Versuch, die Täterorientierung dogmatisch zu erfassen, ist Produkt, nicht Grund der Täterorientierung. Indem das 195 RV v. 17.10.1941 bei Rietzsch und Hoyer, aaO, S. 195. 196 Grau/Krug/Rietzsch2 (1943), S. 348. Zurückhaltender Rietzsch/Hoyer, in: Pfundtner/Neubert, II c 6, S. 195 (1942): "... wird das Gericht die Gründe der Staatsführung... zu würdigen haben". 197 Erlasse abgedruckt bei Grau/Krug/Rietzsch2 (1943), S. 325 ff.

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Reichsgericht die Notwendigkeit einer Würdigung der gesamten Täterpersönlichkeit für § 1 der Novelle, aber auch für den Mord unterstreicht, folgt es dem Willen des Änderungsgesetzes. Das Reichsgericht fragt nicht nur: "Was hat er getan?", sondern auch: "Was ist er für ein Mensch?", oder, dem Zeitgeist genauer entsprechend: "Was ist das für ein Kerl?" § 1 der Novelle vollzog, so Dahm, einen neuen "Einbruch des Zweckgedankens" im Strafrecht, der den "Abstand zwischen Maßnahme und Strafe weiter verringert" habe. Die Verordnung zum Schutze gegen jugendliche Schwerverbrecher198 und die wenige Tage nach Erlaß des Änderungsgesetzes ergangene Verordnung über die unbestimmte Verurteilung Jugendlicher199 wiesen in die gleiche Richtung200. Die von Dahm behauptete Abstandsverringerung von Strafe und Maßnahme durch § 1 der Novelle ist unbestreitbar. Die Gegenüberstellung von Zweck- und Schuld/Sühnestrafe ist allerdings angesichts der Entwicklung der Rechtsprechung zu blaß. Einschneidender ist, daß die Rechtsprechung die Todesstrafe des § 1 als "Reinigungsstrafe" begreift, in der Schutz und Sühne verschmelzen201. In der Praxis zeichnet sich eine Entwicklung ab, die den alten Sühnebegriff (Tatschuldvergeltung) gänzlich verwandelt, die Sühne, wie dargelegt, zur "Funktion des Volksorganismus" erklärt, und damit zu einem Unterbegriff der "Belange der Volksgemeinschaft"202 macht. § 2 der Novelle bildet, wie oben hervorgehoben, scheinbar ein Kontrastprogramm zu § 1. Das gilt jedenfalls, wenn man die dem neuen Mordtatbestand in der Reformgeschichte bis 1936 beigelegte Zwecksetzung zugrunde legt, die Schlechtigkeit der Gesinnung zu treffen und in diesem Sinne "echte Sühnestrafe" zu sein. Macht aber der Sinnwandel des Sühnebegriffs an den Grenzen des § 1 der Novelle halt, ja kann er das überhaupt? Und hängt bei der "ethisierenden" Verwerflichkeitsbetrachtung des § 211 n. F. nicht alles vom einzunehmenden Standpunkt ab? Die höchstrichterliche Rechtsprechung ergibt hier kein so klares Bild wie im Falle des § 1 der Novelle, schon weil die Zahl der Entscheidungen ungleich geringer ist. RGSt. 77, 41 weist aber unmißverständlich die Richtung203. Die sittliche Bewertung vom Standpunkt des gesunden Volksempfindens soll ausschlaggebend sein. "Gemeinschaftssittliche" Betrachtung aber ist im Falle der Todesstrafe "gemeinschaftshygienische" Betrachtung. Der Weg von der Minderwertigkeit des Täters zur Verwerflichkeit seiner Gesinnung ist damit ganz kurz: Betätigte Minderwertigkeit erscheint eben der "gemeinschaftssittlich"-volksbiologisch geleiteten Täterwertung als "besonders verwerflich". Die mit der zunehmenden Täterorientierung auftauchende Richterfrage wurde bereits im Zusammenhang des § 1 der Novelle gestellt204. Für die Entlassung aus der Unterbringung gibt das Änderungsgesetz eine klare Antwort: Wenn die Subsumtion bedeutungslos wird, wenn lediglich der Erfolg einer Maßnahme entscheidet, ist die Verwaltungszuständigkeit sachgerechter205. 198 Dazu oben [Nr. 31]. 199 VO v. 10. 9. 1941, RGBl. I, S. 567 und dazu Graf zu Dohna, MSchrKrimBio 1942,1 ff.; Freister, DJ 1941,949 ff., bes. 952. 200 DR 1942,406. 201 Dazu 2b. 202 Dazu zusf. 2e. 203 Dazu 3c. 204 Dazu 2e. 205 Vgl. Rietzsch (Fn. 190) und 5a.

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[Nr. 40] Das nationalsozialistische Polenstrafrecht unter besonderer Berücksichtigung der Verordnung über die Strafrechtspflege gegen Polen und Juden in den eingegliederten Ostgebieten vom 4. Dezember 1941 1. Einführung a) Polenstrafrechtsverordnung und Polenstrafrecht Die Verordnung des Ministerrats über die Strafrechtspflege gegen Polen und Juden in den eingegliederten Ostgebieten (PolenstrafrechtsVO)1, die wohl bekannteste Erscheinungsform des Polenstrafrechts, brachte ein in sich geschlossenes materielles und formelles Sonderstrafrecht "gegen" Polen und Juden in den 1939 eingegliederten Ostgebieten, also in den neugebildeten Reichsgauen "Wartheland" mit den Gebieten um Posen und Lodz und "Danzig-Westpreußen" sowie in den bei Kriegsausbruch polnischen Gebieten, die den Provinzen Schlesien und Ostpreußen zugeschlagen wurden2. Der materiellrechtliche Teil der Verordnung sowie das uneingeschränkte Opportunitätsprinzip (Ziff. IV) galten auch für Taten von Polen und Juden im Altreich, sofern es sich um ehemalige polnische Staatsangehörige handelte (Ziff. XIV). Die PolenstrafrechtsVO hat, so Broszat, den "wohlbegründeten Ruf eines Kabinettstücks gesetzlichen Rechtsabbaus im Dritten Reich erworben"3; sie bildet nach Majer das "erste und abschreckendste Beispiel eines offenen Sonderstrafrechts für Fremdvölkische" und "ein 'absolutes Novum' in der modernen Rechtsgeschichte"4, sie gilt Eberhard Schmidt als herausragendes Beispiel für die "Entfesselung nationalsozialistischer Brutalität", weil ihre gehäuften Todesstrafdrohungen "an Härte alles" überboten hätten. Eberhard Schmidt bezeichnet die PolenstrafrechtsVO auch - mit Blick auf den "furchtbaren Abschnitt II", der die "Staatsnotwendigkeit" zum strafbegründenden Merkmal machte - als das "endgültige Grab des 'nulla poena sine lege'"5. Nach Schorn eröffnete der materielle Teil der Verordnung der "Willkür in der Beurteilung von Handlungen Tür und Tor", der formelle Teil nahm Juden und Polen "die Rechtsgarantien des Strafverfahrens", so daß die Verordnung im ganzen "infernalisch" gewesen sei6. Die PolenstrafrechtsVO ist das Kapitel des nationalsozialistischen Polenstrafrechts, das die traurigste Berühmtheit erlangt hat. In der Entwicklung des Polenstrafrechts bildete die Verordnung die dritte Etappe7: Die erste Phase war durch die "sinngemäße Anwendung" des 1 2

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RGBl. I, S. 759. Zeichnung: Vors. des MfdRV Göring, GBV Frick, RMuChdRk Lammers. - Aufgehoben durch KRG Nr. 11 Art. II lj. Vgl. Erlaß v. 18.10.1939, RGBl. I, S. 2042, §§ 1, 4 und dazu Erlaß v. 2. 11. 1939 (RGBl. I, S. 2135, statt "Reichsgau Westpreußen" künftig "Reichsgau Danzig-Westpreußen"), Erlaß v. 29. 1. 1940, RGBl. I, S. 251 (statt "Reichsgau Posen" "Reichsgau Wartheland"). Zur territorialen Gliederung und zur Struktur der Exekutive Broszat (1961), S. 31 ff., 49 ff. und Karte S. 201. Broszat (1961), S. 152. Majer (1981), S. 746. Eb. Schmidt (1965), S. 433,435. 1963, S. 98 f. Zur Periodisierung Majer (1981), S. 727 ff. und schon Freister, DJ 1941, 1130 ff. sowie den nachstehenden Text (2-4).

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materiellen Deutschenstrafrechts gekennzeichnet (dazu 2). Eine besondere gesetzliche Grundlage schuf die Verordnung vom 6. Juni 1940 (dazu 3), deren zu Tage getretene "Mängel" die PolenstrafrechtsVO beseitigen sollte. In der Entwicklung des materiellen Polenstrafrechts bildete die PolenstrafrechtsVO (dazu 4) einen gewissen Abschluß, nicht freilich in der Frage der Zuständigkeit für die Strafverfolgung von Juden und Polen8. b) Polenstrafrecht, Deutschenstrafrecht, nationalsozialistisches Strafrecht Das Strafrecht gegen Polen und Juden wird hier entsprechend dem zeitgenössischen Sprachgebrauch als "Polenstrafrecht" bezeichnet, weil es vornehmlich gegen die polnische Bevölkerung der Ostgebiete und die polnischen Zivilarbeiter im Reich gerichtet war. Das Polenstrafrecht hatte, wie in der zeitgenössischen Literatur betont wird, Sonderrechtscharakter: Es richtete sich nicht an die deutsche Bevölkerung, sondern ausschließlich an die "fremdvölkischen" Polen (und Juden). Die inhaltlichen Leitprinzipien des "Polenstrafrechts" unterschieden sich, so die zeitgenössische Auffassung, grundlegend von denen des deutschen Strafrechts gegen Deutsche, also vom nationalsozialistischen "Deutschenstrafrecht". Gleichwohl wurde das Polenstrafrecht als integraler Bestandteil des nationalsozialistischen deutschen Strafrechts und der nationalsozialistischen Rechtsordnung angesehen: Das "Sonderrechtsprinzip" war von prinzipieller Bedeutung für das nationalsozialistische Rechtsdenken, indem es unmittelbar an weltanschauliche Vorstellungen des Nationalsozialismus von "Rasse" und "Volkstum" anknüpfte9. Das Polenstrafrecht hat also schon deshalb in einer Darstellung des nationalsozialistischen Strafrechts einen notwendigen Platz. Das Sonderrechtsprinzip und speziell die strafrechtliche Sonderbehandlung Fremdvölkischer hatten im Rahmen der nationalsozialistischen Rechtsordnung, nicht nur in den eingegliederten Ostgebieten, auch durchaus Zukunft: Polen war von der nationalsozialistischen Führung die Funktion einer "Arbeiterquelle" für das Großdeutsche Reich zugedacht10; insofern hatte das Polenstrafrecht einen möglichen Modellcharakter für die strafgerichtliche Behandlung "Fremdvölkischer". Polenstrafrechtsverordnung und Polenstrafrecht waren nach zeitgenössischem Verständnis "Recht", wenn auch ein "besonderes", das mit den "politischen Notwendigkeiten" des Ostens in engem unlösbaren Zusammenhang gesehen wurde. Den Vorgang der Erzeugung dieses "Rechts" gilt es zu betrachten und zu interpretieren: Es könnte sich bei dem Polenstrafrecht einmal um ein Sondergebilde handeln, das nach Inhalt und Ausgestaltung innerhalb des zeitgenössischen "Rechts" einen Fremdkörper bildete und namentlich keine Verbindungen zum Deutschenstrafrecht aufwies; das Polenstrafrecht könnte aber auch gerade umgekehrt Rückschlüsse auf wirkungsmächtige Tendenzen der allgemeinen Strafrechtsentwicklung im Dritten Reich unter Einschluß des Deutschenstrafrechts zulassen. Nach Broszat war nämlich "primäres Merkmal der Polenpolitik" unter Hitler nicht die kriegsbedingte Ausnahmesituation, sondern "der Umstand, daß Polen ... fünf Jahre lang Anwendungsgebiet und Exerzierfeld radika-

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Dazu unten 5. Zum Sonderrechtsprinzip vgl. Majer (1981), S. 82 ff. Vgl. die Aufzeichnungen über eine Besprechung Hitlers mit Keitel am 17. 10. 1939, NDok 864-PS sowie die Denkschrift Himmlers vom Mai 1940, veröffentlicht in VjZ 1957,195 ff. insbesondere a. E.: "führerloses Arbeitsvolk", "Wanderarbeiter und Arbeiter für besondere Arbeitsvorkommen".

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1er völkisch-nationalsozialistischer Weltanschauungstheorie und -politile wurde"11. Entsprechend könnten auch die Kriminalpolitik und damit das deutsche Polenstrafrecht Exerzierfeld völkisch-nationalsozialistischer Rechtsanschauung und Rechtspraxis gewesen sein und die nationalsozialistischen Vorstellungen über die Bedeutung von "Recht" und das Verhältnis von "Recht", "Weltanschauung" und "politischen Notwendigkeiten" gewissermaßen in reiner Form hervortreten lassen: Vielleicht enthüllen gerade die in den Ostgebieten herrschenden Ausnahmebedingungen wesentliche Züge spezifisch nationalsozialistischen Rechtsverständnisses und nationalsozialistischer Strafrechtspraxis besonders deutlich. Die Bindung an gewachsene Rechtstraditionen konnte in den eingegliederten Ostgebieten leichter abgestreift werden: Die staatlichen Institutionen mußten neu geschaffen, die Justiz neu organisiert werden. Nationalsozialistische Rechtspolitik konnte sich dort also von vornherein erheblich freier verwirklichen als im Altreich. Ziel der folgenden Darstellung ist es, die charakteristischen Grundpositionen des justizförmigen Polenstrafrechts zu entwickeln. Zu seiner Konzeption haben sich namentlich Freister und Praktiker der Ostgebiete ausführlich geäußert12. Zur Verordnung vom 6. Juni 1940 und zur PolenstrafrechtsVO liegen einige Entscheidungen des Reichsgerichts vor, die Taten im Altreich betreffen; daneben finden sich sondergerichtliche Entscheidungen13. Nimmt man das von Broszat14 und Majer15 vorgelegte Material hinzu, läßt sich ein hinreichend klares Bild von den Grundprinzipien des Polenstrafrechts zeichnen. Die weitere Darstellung wird wie bisher einer immanenten Betrachtungsweise folgen, die zunächst nicht auf abschließende Wertungen zielt, der es also im Rahmen analytischer Bestandsaufnahme nicht auf ein brandmarkendes Kenn-Zeichnen ankommt, sondern auf ein Nach-Zeichnen des zeitgenössischen Kontexte. Dieses methodische Prinzip sei deshalb betont, weil das Wahren der Immanenzperspektive aufgrund der Inhalte des Polenstrafrechts besonders mühsam ist: Hier wirken nationalsozialistische "Rasse"-Vorstellungen und die Ziele der nationalsozialistischen Ostpolitik unmittelbar in vielfältiger Weise ein. Um so wichtiger ist die Beachtung des methodischen Prinzips, soll der Blick auf einen etwaigen innersystematischen Zusammenhang des Polenstrafrechts und auf etwaige Gemeinsamkeiten mit dem Deutschenstrafrecht nicht von vornherein verstellt werden16. 2. Die erste Phase: Die "sinngemäße" Anwendung des Reichsstrafrechts a) Die Geltung deutschen Strafrechts, insbesondere §7 des Führererlasses vom 8. Oktober 1939 In den besetzten polnischen Gebieten wurden schon in den ersten Kriegstagen Sondergerichte17 errichtet, die nach den Verordnungen des Oberbefehlshabers des Heeres ebenso wie 11 12 13 14 15 16 17

Broszat (1961), S. 6. Vgl. bes. 2b, c; 3e; 4a hh. Vgl. die Nachw. bei 2c aa und 4. AaO, bes. S. 137 ff. Majer (1981), bes. S. 593 ff., 734 ff. Dieser Gefahr ist Majer mehrfach erlegen, zusf. unten 6b bb. Zur Errichtung des SG Bromberg am 10. 9. 1939 Freister, DJ 1940, 1125. Aufgabe diese Sondergerichts war die Aburteilung "der schrecklichen Greueltaten der Polen am Bromberger Blutsonntag",

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die Wehrmachtgerichte deutsches Strafrecht anzuwenden hatten 18 , und zwar rückwirkend auch auf vor dem 1. September 1939 begangene Taten 19 . Eine entsprechende Regelung für die Aburteilung durch die neu aufzubauende ordentliche Gerichtsbarkeit fehlte20. Es bestanden jedoch "keine Zweifel" an der grundsätzlichen Anwendbarkeit deutschen (nicht: polnischen) Strafrechts durch die "in mehreren Wellen zum Einsatz" kommenden deutschen Staatsanwälte und Richter21. "Unklarheiten" kamen auch nach Aufhebung der Militärverwaltung nicht auf. § 7 des Erlasses des Führers und Reichskanzlers über Gliederung und Verwaltung der Ostgebiete vom 8. Oktober 1939 hätte zwar nach seinem Wortlaut durchaus Zweifel am anwendbaren (deutschen oder polnischen) Recht wecken können, da die Vorschrift nur davon sprach, das "bisher geltende Recht" bleibe "bis auf weiteres in Kraft, soweit es nicht der Eingliederung in das Deutsche Reich" widerspreche22. Im Ergebnis war man sich jedoch über die ausschließliche Maßgeblichkeit deutschen Strafrechts einig23. Teilweise argumentierte man, das "bisher geltende Recht" sei das deutsche Recht, das schon von Beginn der deutschen Besetzung an mindestens für die gerichtliche Tätigkeit gegolten habe, wie die erwähnten Verordnungen des Oberbefehlshabers des Heeres zeigten24. Auf einen anderen Gesichtspunkt stützte sich -"vielleicht formal unjuristisch, aber doch der Lage allein entsprechend"-, Freisler: Der deutsche Richter könne nur das Recht anwenden, das er kenne, so daß schon unter diesem pragmatischen Gesichtspunkt von Anfang an nur die Anwendbarkeit deutschen Rechts in Frage gekommen sei25. Behauptet wurde auch, die deutschen Richter seien in einen "rechtsleeren Raum" gekommen, weil mit dem polnischen Staat auch dessen Recht zusammengebrochen sei. Der den Truppen nachrückende "deutsche Rechtswahrer" habe dieses Vakuum "naturgemäß" und "selbstverständlich" mit seinem eigenen Recht ausgefüllt26. Die Schlußfolgerung dieser Argumentationen lautete, wenn schon mit der Besetzung Polens deutsches Recht gegolten habe, sei dieses schon "bisher geltendes Recht" im Sinne des Führererlasses gewesen, der diesen Zustand nur bestätigt und "deklaratorisch" die Anwendbarkeit deutschen Rechts entsprechend den Zielen der "Eingliederung" - verfügt habe27. Wer das deutsche Recht nicht

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vgl. Freisler, aaO. Alle sog. Polenterrorsachen wurden in der ersten Zeit an das SG Bromberg gebracht, vgl. Beurmann, DR (B) 1942,78. Vgl. VO des Oberbefehlshabers des Heeres über die Einführung deutschen Strafrechts v. 5. 9. 1939, VOB1. für die besetzten Gebiete in Polen 1939,3 und dazu Thiemann, DR 1941,2473. VO des Oberbefehlshabers des Heeres v. 1.10.1939, aaO, S. 21 und dazu Thiemann, aaO. Thiemann, aaO; zu den Schwierigkeiten beim Aufbau der ordentlichen Justiz vgl. die Niederschrift des Leiters der Staatsanwaltschaft im Bezirk Zichenau bei Broszat (1961), S. 138 f. Thiemann, aaO; Tautphaeus, DR 1941, 2466; Froböß, DR 1941, 2465. Zum Zivilrecht Fechner, DR 1941,2482; Buchholz, DR 1941,2476 f. RGBl. I, S. 2042. In Kraft getreten am 26.10.1939, Führererlaß v. 20.10.1939, RGBl. I, S. 2057. Vgl. Freisler, DJ 1941, 1130; Tautphaeus, DR 1941, 2466 f.; Froböß, DR 1941, 2465; Beurmann, DR 1942 (B), 78; Thiemann, DR 1941,2473. Dazu auch Majer (1981), S. 728 ff. Vgl. Buchholz, DR 1941, 2477. Vgl. Freisler, DJ 1941, 1130, der berichtet, wie er den "ersten größeren Trupp deutscher Rechtswahrer" instruiert habe; s. auch Buchholz, aaO. Vgl. Tautphaeus, DR 1941, 2466 ("stirbt ein Staat, so stirbt sein Recht"; vgl. auch die Berufung auf "Führerworte" v. 30. 7. 1932: "Ich glaube an kein Recht in der Welt, das nicht von einer Macht beschirmt ist"); s. auch Buchholz, DR 1941,2477. Vgl. Buchholz, aaO.

C. Die zweite Phase: 1939 bis 1945

355

als schon bisher geltendes Recht bezeichnen wollte, für den ergab sich dessen ausschließliche Anwendbarkeit aus dem Ziel der "Eingliederung in das Deutsche Reich": Die erstrebte Eindeutschung der Ostgebiete verlange zwingend die Anwendung deutschen Rechts; die Geltung deutschen Strafrechts folge damit aus den Notwendigkeiten der Eingliederung28. b) Das Sonderrechtsprinzip und seine "rechtlichen " Grundlagen Mit der Einführung des deutschen Strafrechts war noch kein Sonderrecht für polnische Volksangehörige etabliert. In der Praxis wurde das Erfordernis "sinngemäßer" Anwendung des deutschen Strafrechts 29 zur Eingangspforte der sonderrechtlichen Vorstellungen: Diese "sinngemäße" Anwendung meinte die Modifikation des deutschen Strafrechts durch das Sonderrechtsprinzip, dessen konkreter Inhalt sich aus den Notwendigkeiten der Eingliederung der überwiegend von polnischen Volksangehörigen bewohnten Ostgebiete30 ergeben sollte. Die hauptsächliche - aber nicht die ausschließliche - Richtung dieser Modifikation war eine "scharfe" Tatbestandsauslegung und namentlich die Verhängung vergleichsweise härterer Strafen für Polen, also die strafschärfende Berücksichtigung der polnischen Volkszugehörigkeit, die uns bereits bei der Handhabung des § 1 des Änderungsgesetzes vom 4. September 1941 durch das Reichsgericht begegnet ist31. Zunächst sollen aber das Prinzip und seine Begründung interessieren. Nach Majer war § 7 des Führererlasses vom 8. Oktober 1939 die "Rechtsgrundlage" für die Praxis sinngemäßer Rechtsanwendung32: Das in § 7 genannte Ziel der "Eingliederung" sprach den Gesichtspunkt an, auf den nicht nur die Anwendbarkeit deutschen Strafrechts gestützt wurde, sondern der auch die Grundlage für die "sinngemäße" Anwendung deutschen Strafrechts lieferte. Zeitgenössische Praktiker berufen sich freilich in erster Linie nicht auf diesen, in gesetzliche Form gegossenen Führerbefehl, sondern auf einen von Hitler schon im September 1939 erteilten Befehl an die zivilen deutschen Staatsorgane zur "Eingliederung" und "Eindeutschung" der Ostgebiete33. Dieser Führerbefehl legte, so der Vizepräsident des Oberlandesgerichts Posen, als "oberstes Gesetz, dem sich alle Bestimmungen, Entschließungen und Maßnahmen unterzuordnen haben, auch für den als Pionier des Rechts in den Warthegau entsandten Richter das Ziel seiner richterlichen Aufbautätigkeit fest"34. Am Führerbefehl sei, so der Präsident des Oberlandesgerichts Posen, "die Anwendung aller Rechtsnormen auszurichten", wobei dem Aufbaugedanken der Vorrang gebühre. Der Richter dürfe und müsse 28 29

Vgl. Freister, DJ 1941, 1130; Tautphaeus, DR 1941, 2466; Froböß, DR 1941, 2465; Drendel, DR 1941, 2473; Buchholz, aaO. Zur "gesetzlichen" Anerkennung 3b.

30

In den eingegliederten Ostgebieten lebten 1939 rund 7,8 Millionen Polen; von den 4,2 Millionen Einwohnern des Warthegaus waren 85 % Polen (3,96 Millionen), nur 7 % Deutsche (ca. 327.000) und 8 % Juden (366.000), vgl. Broszat (1961), S. 35 und die Zahlen für die übrigen Gebiete aaO; zum Stand von 1944 aaO, S. 134.

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Vgl. oben [Nr. 39] 2b cc bei Fn. 60. Majer (1981), S. 736; zum Führererlaß bei Fn. 22. Vgl. Tautphaeus, DR 1941, 2466; s. auch Froböß, DR 1941,2465. Tautphaeus, aaO.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

deshalb auch von positiven Vorschriften abweichen, wenn der Aufbaugedanke dies erfordere 35 . Der Führerbefehl sollte also von Anfang an und unabhängig von seiner Einkleidung in eine formelle Rechtsvorschrift (§ 7 des Führererlasses) beachtlich sein und die Basis der richterlichen Tätigkeit bilden36. Der Führerbefehl enthielt, so jedenfalls die hier referierte Auffassung, die pauschale Ermächtigung an die Justiz, von positivrechtlichen Vorschriften des deutschen Strafrechts abzuweichen. Diese Deutung dürfte Hitlers eigener Auffassung sehr genau entsprochen haben, weil er selbst betonte, das im Osten notwendige Vorgehen gestatte "keine gesetzlichen Bindungen"37. Zu den "Notwendigkeiten der Eingliederung" gelangte man also über den formlos erteilten wie über den ("deklaratorisch") in ein gesetzliches Gewand gekleideten Führerbefehl. Was die "Eingliederungsnotwendigkeiten" inhaltlich ausmachen sollte, war keine im Wege juristischer Deduktion beantwortbare Frage, sondern setzte Inhaltsbestimmungen aus dem politischen Raum voraus. Dieser Sachverhalt wird in den zeitgenössischen Veröffentlichungen klar erkannt und herausgestellt. Die "politische Mission" der deutschen Rechtswahrer und entsprechend die Notwendigkeit der Kenntnis der politischen Zielsetzungen wird durchgehend betont38. Vor diesem Hintergrund wurde die aktive Mitarbeit jedes Richters in nationalsozialistischen Organisationen für unerläßlich erklärt39. Unter "Eingliederung" wurde, entsprechend den Zielen der nationalsozialistischen Führung, "Eindeutschung" verstanden, nämlich der "Sieg des Deutschtums über das feindliche Polentum"40. Die nationalsozialistische Volkstumspolitik, allgemein charakterisiert als "Schutz und Förderung des eigenen und Abwehr des fremden Volkstums", duldete nach den Vorstellungen der Führung im Falle des "Polentums" kein friedliches Nebeneinander 41 : Nach Hitlers schon 1928 geäußerten Zielsetzungen durfte der "völkische Staat... unter gar keinen Umständen Polen mit der Absicht annektieren, aus ihnen eines Tages Deutsche machen zu wollen"42. Die völkische Auffassung könne im "unterworfenen, sogenannten germanisierten ... Polen niemals eine nationale oder gar völkische Stärkung", sondern nur eine "rassische Schwächung" des Deutschtums erblicken43. Deshalb komme im Fall einer Annexion polnischer Gebiete nur der Entschluß in Frage, "entweder diese rassisch fremden Elemente abzukapseln44, um nicht das Blut des eigenen Volkes immer wieder zersetzen zu lassen, oder ... sie überhaupt kurzerhand [zu] entfernen und den dadurch freigewordenen Boden den eigenen Volksgenossen zu überweisen"45. Die "Entfernung" der 35 36 37 38

39 40 41 42 43 44 45

Froböß, DR 1941,2465; vgl. auch - für das Zivilrecht - Fechner, DR 1941,2485. Der ungeschriebene Führerbefehl war danach gegenüber positiven gesetzlichen Regelungen vorrangig, der "geschriebene" gesetzliche Führerbefehl hatte nur "deklaratorische" Bedeutung. NDok PS-864, IMG Bd. 26, S. 379, Bespr. Hitlers mit ChdOKW v. 17.10.1939. Vgl. Freister, DJ 1941,1130 und DJ 1942,46; Tautphaeus, DR 1941, 2466; Froböß, DR 1941, 2465; für das Zivilrecht vgl. Fechner, DR 1941, 485 zu § 4 OstrechtspflegeVO. Vgl. auch Drendel, DR 1941, 2471 f.; Thiemann, DR 1941, 2476. Tautphaeus, DR 1941,2467 sowie unten 4b cc. Tautphaeus, aaO, 2466. Coulon, DR 1941, 2468. Vgl. Hitlers Zweites Buch, S. 81. AaO, S. 79. Zur Notwendigkeit "scharfer Volkstumstrennung" und zu den Konsequenzen für die strafrechtliche Auslegung vgl. SG Posen, HRR 1942, Nr. 47 und SG Leslau, HRR 1942, Nr. 1071. Wie Fn. 42.

C. Die zweite Phase: 1939 bis 1945

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Polen aus den eingegliederten Ostgebieten wurde im Krieg (noch) nicht durchgeführt46, die "Abkapselung" der Polen aber energisch angestrebt: Das Sonderrecht war sichtbarer Ausdruck dieses Vorhabens. In einer Denkschrift Himmlers wird deutlich, daß der Gedanke einer "Reinigung" der eingegliederten Ostgebiete von "fremdvölkischen Elementen" keineswegs endgültig aufgegeben, sondern nur seine Verwirklichung aufgeschoben war; langfristig war den Polen nach dieser von Hitler ausdrücklich gebilligten - Denkschrift die Rolle eines Arbeitskräftereservoirs für das "rassisch höherwertige" deutsche "Herrenvolk" zugedacht47. "Eindeutschung" hatte einen eindeutig "volksbiologischen" Sinn, sollte also auf der Basis des weltanschaulich-politischen Programms keineswegs auf die Herstellung einer homogenen Rechtsordnung im Sinne einer Gleichbehandlung von Polen und Deutschen zielen, sondern einen homogenen "deutschen Volkskörper" schaffen48. Das Sonderstrafrecht gegen Polen war ein Mittel, dieses Ziel zu verwirklichen. Wieweit die Justizführung mit den Endzielen der nationalsozialistischen Führung vertraut war, ist hier nicht zu klären. Nach Broszat hat Hitler seine Zielsetzungen "in voller Deutlichkeit wohl nur seinen engsten Vertrauten gegenüber genannt"49. Der Gedanke einer "Entfernung" der Polen aus den Ostgebieten klingt aber etwa bei Drendel, Generalstaatsanwalt in Posen, deutlich an, wenn es bedauernd heißt, man sei in den eingegliederten Ostgebieten mit den Polen, den "artfremden Menschen", "vorerst wenigstens (!) zusammenzuleben genötigt"50. Mit Sicherheit vertraut war allen Praktikern der eingegliederten Ostgebiete das übergreifende Ziel der "Eindeutschung", die einen "Volkstumskampf" und die "Niederhaltung des Polentums" voraussetzte. Die veröffentlichten Stellungnahmen zum Polenstrafrecht bekennen sich - unabhängig von einer positiv-rechtlichen Basis - zu dieser Zielsetzung und weisen sie als maßgeblich für die Strafrechtspraxis wie für die gesamte Rechtspflege aus51. Der "Volkstumskampf'52 ist ein Begriff aus der weltanschaulichen Sphäre des Nationalsozialismus. Bestimmte weltanschauliche Prämissen, namentlich daß "Völker" einen bestimmten "blutsgebundenen" Charakter hätten, "Lebewesen" seien, werden im zeitgenössischen Gebrauch des Begriffs und damit in den Grundprinzipien des nationalsozialistischen Polenstraf-

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Zu Zielen und Durchführung zusf. Broszat (1961), S. 23 ff. Vgl. VjZ 1957,194 ff., 198; vgl. auch Broszat (1961), S. 23 ff. mit Nachw. Diese Zusammenhänge verkennt Majer (1981), S. 725. Majer erklärt die Politik des Sonderrechts "selbst aus nationalsozialistischer Sicht" für verfehlt, weil das Ziel der Eingliederung "gerade eine möglichst vollständige Einführung des deutschen Rechts verlangt hätte". Die von der nationalsozialistischen Führung formulierten, anderen - und von Majer selbst breit referierten (S. 317 ff., 720 ff.) Ziele werden damit plötzlich ignoriert.

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Vgl. Broszat (1961), S. 22. Drendel, DR 1941, 2472, Hervorhebung G. W.; vgl. auch den Bericht des OLG-Präsidenten und des Generalstaatsanwalts Danzigs v. 15. 10. 1942, wo es heißt: "Im ehemals polnischen Teilgebiet (Landgerichtsbezirke Bromberg, Graudenz, Könitz, Thorn), in dem noch [!] eine nicht unerhebliche Zahl von Polen wohnt... ", in: BA R 22/5013, Bl. 52 (Hervorhebung G. W.). Diese "nicht unerhebliche Zahl" betrug im Januar 1944 bei einer Gesamtbevölkerung von 1.650.000 immerhin 605.000, vgl. Broszat (1961), S. 134.

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Tautphaeus, DR 1941, 2466; Froböß, DR 1941, 2465; Drendel, DR 1941, 2472; Thiemann, DR 1941, 2476. Vgl. auch - zum Zivilrecht - Buchholz, DR 1941,2477. Vgl. nur Hitlers Besprechung mit Keitel v. 17.10.1939, NDok PS-864, IMG Bd. 26, S. 378 f.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

rechts vorausgesetzt 53 . Aus der "Artverschiedenheit" von Polen und Deutschen und aus ihrem jeweiligen "Volkscharakter" werden Konsequenzen für die Gestaltung des Strafrechts gezogen, ohne daß man eine gesetzliche Grundlage für erforderlich erachtet hätte 54 : Im "Führerbefehl" zur "Eindeutschung" war, so jedenfalls die zeitgenössische Sicht, das Gebot zur Ausrichtung am rassenideologischen Konzept der nationalsozialistischen Weltanschauung in der konkreten Gestalt der daraus hergeleiteten Ziele der politischen Führung für die Gestaltung der "Lebensordnung" des Ostens bereits enthalten. Eine "gesetzliche" Grundlage hatte danach die nur instrumentelle Funktion einheitlicher Ausrichtung 55 und die Bedeutung einer "deklaratorischen" Bestätigung der "Grundprinzipien"56. Die weltanschaulich-politische Zielsetzung, die "Eindeutschung" durch "Volkstumskampf", wurde also unabhängig von ihrer gesetzlichen Formulierung als oberstes Gebot des "Polen"-(Straf-)"Rechts" angesehen 57 . Die Strafrechtspraxis im Osten hatte so nach Freisler zwar vielleicht keine gesetzliche, aber doch eine "rechtliche" Grundlage 58 , wobei der Begriff "Recht" die Kernvorstellungen der nationalsozialistischen Weltanschauung und Politik einschließen sollte 59 . Die Vorstellung eines "Sonderrechts" als Recht konnte nur auf diesem "weltanschaulichen" Boden gedeihen: "Bürgerlichem" Gleichheitsdenken wurde das Prinzip der "Art(un)gleichheit" entgegengestellt. Dieser für das Strafrecht gegen Polen und Juden grundsätzlich bedeutsame Ausgangspunkt wird u. a. bei Freisler in charakteristischer Sprache mit aller Offenheit dargestellt. Diese Ausführungen seien deshalb stellvertretend für andere zeitgenössische Äußerungen zitiert: "Kein Zweifel: Einer liberal-individualistischen Betrachtungsweise würde das [gemeint ist das Sonderstrafrecht für Polen und Juden] als Rückschritt gegenüber dem bisherigen Maße unserer Strafrechtseinheit und als Rückschlag für die weiteren Rechtsvereinheitlichungsbestrebungen im Strafrecht erscheinen. Tatsächlich wäre aber nichts falscher als das anzunehmen; nichts läge vor allem nationalsozialistischem Denken ferner, als den Erlaß der Verordnung in diesem Sinne aufzufassen. Gewiß, wenn man von der 'Gleichheit all dessen, was Menschenantlitz trägt', ausgeht, - wenn man infolge richtiger Durchführung dieser lebensunwahren Anschauung das Vorhandensein von Völkern als blutbestimmten und in diesem Sinne physischen körperhaften Wesen leugnet, - wenn man in weiterer folgerichtiger Durchführung den Träger eines Staates nicht in einem Volk in physischem Sinne, sondern in einer der Naturgesetzlichkeit zum Hohn als biologisch-amorph betrachteten Menge von Einzelwesen sieht, - wenn infolgedessen die Staatsbürgerschaft nicht an das Blutband, sondern an einen formalen Rechtsvorgang anknüpft, - dann kann man kein Verständnis dafür aufbringen, daß das Strafrecht eines Volkes auf die Wesenhaftigkeit eben des Volkes abgestellt sein muß; daß es der Ausdruck des gemeinschaftssittlichen Gesamtbekenntnisses dieses Volkes sein muß; und daß es die Glieder dieses Volkes deshalb alle und grundsätzlich auch überall, wo in der Welt sie sich befinden und handeln, erfassen muß; daß es aber über den Rahmen dieses Volkes hinaus schon wegen seines ganz auf dieses Volk ausgerichteten Inhaltes nur Geltung haben kann für diejenigen Angehörigen anderer Völker, die in dem Staat, den das staat[s]tragende Volk sich gegeben hat und in dem sein Leben seinen wesensbe-

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Dazu ζ. B. Freisler, DJ 1940,557. Vgl. Freister, DR 1941, 2629, 2632, DJ 1942, 25, 29, 32 und DJ 1941, 1130; Drendel, DR 1941, 2471; Tautphaeus, DR 1941,2466; Coulon, DR 1941,2468 ff. Vgl. zusf. unten 6a. Charakteristisch ζ. B. Thiemann, DR 1941, 2474. Allg. zur OstrechtspflegeVO Buchholz, DR 1941, 2477; Fechner, DR 1941,2483. Vgl. Thiemann, aaO; Tautphaeus, DR 1941,2466; Froböß, DR 1941, 2465. DJ 1941,1130. Deutlich ζ. B. Coulon, DR 1941, 2470.

C. Die zweite Phase: 1939 bis 1945

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dingten Ausdruck findet, als Gäste des Volkes leben. Für dieses unser deutsches Volk erstreben wir nach wie vor in ernster Arbeit die Strafrechtseinheit ..."60.

Von diesem grundsätzlichen Ausgangspunkt ergaben sich nach Freisler für die Konzeption des Strafrechts für Deutsche und für Polen im wesentlichen folgende Konsequenzen: Erstens: Das deutsche Strafrecht für Deutsche dient der "gemeinschaftssittlichen Hygiene" des deutschen Volkes; es appelliert an die Treupflicht des Volksgenossen, die aus dem "blutsmäßigen Band" erwächst. Das deutsche Strafrecht "gegen" Polen (und Juden) kann nur dem deutschen Volk dienen, nicht der "gemeinschaftssittlichen Hygiene" dieser Völker; der Nutzen des deutschen Volkes erfordert die "Niederhaltung der Polen, das Erzwingen ihrer Gefügigkeit". Da ein "blutsmäßiges Band" mit dem Deutschtum gerade fehlt, hat der Pole gegenüber dem Deutschtum keine Treupflicht, wohl aber eine Gehorsamspflicht, an die allein das Strafrecht anknüpfen kann 61 . Zweitens: "Der" Pole ist nicht nur "andersartig", sondern auch - gegenüber dem Deutschtum - "minderwertig", was aus der "Geschichte" abgeleitet und namentlich auf die allein "kulturspendenden Leistungen" des Deutschtums im Osten gestützt wird. Es gebe, so Freisler, nur deutsche, keine polnischen Kulturleistungen. Zugleich werden "dem" Polentum aus "historischer Erfahrung" Eigenschaften wie asozial, unschöpferisch, Selbstüberschätzung, kriminelle Neigungen, kurz pathologische Züge zugeschrieben, die "den" Polen schon als solchen in die Nähe "des Verbrechers" rücken, wie Freisler deutlich anklingen läßt62. Diese negative Andersartigkeit soll "scharfes" Zupacken gegenüber dem polnischen Volk erfordern 63 . Hinzu kommt der spezielle Vorwurf von "Greueltaten" gegenüber Volksdeutschen, insbesondere nach dem ersten Weltkrieg und in den ersten Kriegstagen des Jahres 1939. Für diese Taten behauptet Freisler eine "Kollektivschuld" des Polentums. Aus diesen angeblichen Verbrechen der Polen gegenüber dem deutschen Volk leitete im übrigen auch das Reichsgericht eine besondere gesteigerte Wohlverhaltenspflicht "des" Polen gegenüber dem deutschen Volk und seinen Gesetzen ab 64 . Der erste Gesichtspunkt bildete den "teleologischen" Ausgangspunkt für die "sinngemäße" Anwendung des Reichsstrafrechts auf Delikte von Polen, die übrigen Behauptungen lieferten demgegenüber eher die "Rechtfertigung" für das strafrechtliche Vorgehen gegen die Polen und sollten wohl zu nachhaltiger "Härte" in der Strafzumessung motivieren.

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Freisler, DR 1941,2629; Hervorhebung aaO. Vgl. auch ders., DJ 1940, 557 und Coulon, aaO, 2468 ff. Zusf. Freisler, DR 1942, 25 ff. Vgl. namentlich den Aufsatz Freislers unter dem Titel: "Die psychische Grundlage der Polengreuel, dargestellt an der Entwicklung des polnischen Volksgeistes" in DJ 1940, 557 ff., bes. S. 562, wo "das Pathologische des Polentums" zusammengefaßt und sogar unter dem Aspekt der verminderten strafrechtlichen Verantwortlichkeit (!) (§ 51 RStGB) erörtert wird. Vgl. auch DJ 1940, 1126: Durchbruch des "untergründig Pathologischen" und DJ 1941,1130 sowie Drendel, DR 1941,2472. Vgl. Drendel, DR 1941, 2472. Zur Bedeutung der "wesensverschiedenen polnischen Mentalität" für die Tatbestandsauslegung ("teleologische Begriffsbildung") Klinge, DJ 1942, 326, für Auslegung und Strafhöhe Beurmann (Vizepräsident des OLG Danzig) aus der Praxis des SG Danzig, DR (B) 1942, 80 (Heimtückevergehen) und 81 f. Vgl. Freisler, DJ 1940,557 ff.

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c) Die "rechtsschöpferische" Leistung der Strafrechtspraxis aa) Das materielle Polenstrafrecht Der skizzierte Hintergrund erhellt, warum für die Praxis in den eingegliederten Ostgebieten die unmittelbare Anwendung reichsdeutschen Strafrechts nicht in Frage kommen konnte, wenn sie den ihr erteilten Führerbefehl und den nationalsozialistischen Inhalt deutschen "Rechts" ernst nahm: Das Polenstrafrecht mußte auf dieser Basis zwingend anderen Regeln folgen als das Strafrecht für Deutsche. Entsprechend stellte die Praxis den "fundamentalen Rechtssatz" auf, Maß Altreichsvorschriften nur im Sinne einer Anpassung an die besonderen Verhältnisse der eingegliederten Ostgebiete angewendet werden können, d. h. daß auf die staatlichen und völkischen Belange des Deutschen Reiches, überhaupt alle politischen Notwendigkeiten, die sich aus der Eindeutschung der rückgegliederten Gebiete ergeben, bei der Rechtsfindung Rücksicht zu nehmen ist".

Es versteht sich, daß nur der "politisch geschulte" Richter, der mit den weltanschaulichen und politischen Gegebenheiten der eingegliederten Ostgebiete vertraut war, einen derartigen "Rechtssatz" aufstellen und ausfüllen konnte: Nur ein solcher Richter war überhaupt in der Lage, die "für den Außenstehenden unvorstellbaren Schwierigkeiten, die sich aus der Anwendung des deutschen Rechts auf die neuartigen, von Altreichsverhältnissen und -Vorstellungen grundverschiedenen Ostprobleme ergaben" zu erkennen und ihrer "Herr zu werden". Die "weltanschaulich-politische" Betrachtung war ja Voraussetzung für die "richtige" Konstitution wie für die Lösung der "Probleme" in den Ostgebieten, sie bestimmte den Inhalt der "Rechts"Sätze, entsprechende "Qualifikationen" mußte der Richter aufweisen65. Die Praxis war anfänglich insbesondere mit der Ahndung der angeblichen "polnischen Greueltaten" gegen Deutsche befaßt; die Strafverfolgung oblag insoweit offenbar wesentlich dem Sondergericht Bromberg66. Die "psychischen" Eigenschaften des Polentums und seine "Verantwortlichkeit" konnten hier, wie von Freisler gefordert, unmittelbar auf die Strafbemessung durchschlagen. Auf Tatbestandsebene anerkannte das Sondergericht Bromberg nach Thiemann einen gegenüber den Altreichsvorschriften erweiterten Täterbegriff, indem es - insoweit übereinstimmend mit der subjektiven Theorie des Reichsgerichts - nicht nur die bloße Anwesenheit am Tatort als täterschaftlichen (psychischen) Tatbeitrag genügen ließ67, sondern diese psychische Tatbeteiligung auch auf andere, dem Täter in ihrem konkreten Ablauf unbekannte Vorgänge übertrug, wenn sie sich nur im Rahmen des gebilligten "blutigen Gesamtgeschehens" bewegten68. 65

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Vgl. Tautphaeus, DR 1941, 2467, zur "sinngemäßen" Anwendimg deutschen Strafrechts s. auch Froböß, DR 1941, 2465 f.; Drendel, DR 1941, 2471; Thiemann, DR 1941, 2473; Freister, DJ 1941, 1130. Vgl. auch (zum Zivilrecht) Fechner, DR 1941, 2482 (deutsches Zivilrecht "wenigstens in den Grundzügen" anwendbar) und 2485 sowie die Nachw. bei Majer (1981), S. 728 ff. Vgl. oben Fn. 17. Vgl. zum Vordringen eines extensiven Täterbegriffs, der allein dem "Willensstrafrecht" entspreche Nagler, LK6 (1944), Anm. 2 ff. Vor § 47 und dort auch die Nachw. zur Rspr. Zur Rspr. etwa auch Schwarz12 (1943), 2 Β Vor § 47. Thiemann, DR 1941, 2474. Das Beispiel wird bei Majer (1981), S. 737 f. übernommen. Die strafrechtliche Würdigung und Einordnung Majers ist freilich ungereimt: So heißt es etwa, man habe den Täterbegriff dadurch "ins Uferlose ausgedehnt", daß man "bei Beweisschwierigkeiten nicht die

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Für die allgemeine Richtung der praktischen Handhabung des Polenstrafrechts war - entsprechend den grundsätzlichen Ausgangspositionen - nach Thiemann der "Weg großzügiger Auslegung und zweckentsprechender Fortbildung" des Strafrechts kennzeichnend69. Die "sinngemäße" Anwendung verlieh dabei der Tatbestandsauslegung zusätzliche Elastizität, die eine "scharfe" Auslegung entsprechend den "staatspolitischen Notwendigkeiten" und namentlich "zum Schutz des deutschen Aufbauwerks" ermöglichte. Beispiele solcher "sinngemäßen" Strafrechtsanwendung bieten die Heimtückevergehen, die "im deutschen Osten ihre Besonderheiten"70 hatten: Viele Polen verfolgten, so Thiemann, die Kriegsereignisse und die Entwicklung in den ehemals polnischen Gebieten "ständig mit ihrer gehässigen Kritik"71, zudem neige "die polnische Bevölkerung ihrer Natur nach [!] zum Gerüchtemachen; ihre leicht erregbare Phantasie berauscht sich an diesen Gerüchten"72. Der Kampf gegen solche "Gerüchtemacher" finde im Heimtückegesetz, das "aus einer ganz anderen politischen Situation erwachsen" sei, "eine etwas schmale Basis"73. Das Heimtückegesetz sei deshalb "sehr weit ausgelegt worden", etwa um Beleidigungen der Volksdeutschen als solcher zu erfassen74 oder die Verächtlichmachung des Ehrenkreuzes der deutschen Mutter75. Im Falle einer besonders gefährlichen Flüsterpropaganda habe man zu Recht die nicht öffentliche Verbreitung unwahrer Tatsachenbehauptungen im Sinne von § 1 Heimtückegesetz in entsprechender Anwendung von dessen § 2 II der öffentlichen gleichgestellt, "um zu einer ausreichenden Strafe zu gelan-

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Vorschriften über Tötungsdelikte (Mord, Totschlag, Körperverletzung [?]) (§§ 211, 212, 223 ff. StGB), sondern die Vorschriften über Landfriedensbruch (§§ 125 ff. StGB) zur Anwendung brachte". Die weiteren strafrechtlichen Ausführungen Majers sind kaum schlüssiger; ihr Informationsgehalt führt nicht über die Darstellung Thiemann^, aaO, hinaus, die zudem teilweise falsch wiedergegeben wird.- Die anschließenden Erläuterungen Majers zur Anwendung der VO v. 28.2.1933 (zur "Abwehr kommunistischer staatsgefährdender Gewaltakte", vgl. Präambel RGBl. I, S. 83) und zum Waffenbegriff behaupten eine "verschärfte" Auslegung gegenüber dem Reichsstrafrecht. Diese Behauptung ist falsch, da auch im Altreich der Anwendungsbereich der VO in der Praxis durch die Präambel nicht beschränkt wurde (vgl. oben [Nr. 2]) und der Waffenbegriff nicht auf Waffen im technischen Sinne begrenzt war, sondern auch auf (untechnische) "Absichtswaffen" erstreckt wurde, vgl. nur E. Schäfer/v. Dohnanyi (1936), S. 255,233 mit Nachw. zur Rspr. des RG. DR 1941,2474; s. auch Beurmann, DR (B) 1942,80. Beurmann, aaO. Thiemann, DR 1941,2475. Beurmann, DR (B) 1942,80. Thiemann, DR 1941,2475. Zum Heimtückeges. [Nr. 15]. Vgl. Beurmann, DR (B) 1942, 80; insoweit wurde auch § 134a RStGB angewendet, vgl. SG Danzig, DJ 1941, 945 (Urt. v. 8. 7. 1941): Beschimpfung der Volksdeutschen in den eingegliederten Ostgebieten ist nach § 134a RStGB (in unmittelbarer Anwendung) als Beschimpfung des Reiches strafbar: Die Reichsbevölkerung sei "die menschliche Substanz des Reiches", ihre Beschimpfung treffe daher das Reich. Die "Volksdeutschen" seien ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung des Reiches, ihre Beschimpfung daher tatbestandsmäßig! Das "Reich" wird also mit seiner "völkischen Substanz" gleichgesetzt. Beispiele bei Beurmann, aaO. § 2 I Heimtückeges. erfaßte nur öffentlich geäußerte Werturteile, § 1 nur Tatsachenbehauptungen. Freilich dürfte schon die weite, wertausfüllungsbedürftige Gleichstellungsklausel des § 2 II Heimtückeges. ("böswillige" nicht-öffentliche Äußerungen) das Erzielen der "angemessenen" Ergebnisse im Wege "teleologischer" Auslegung ermöglicht haben.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

gen"76. Praktisch bedeutsam war auch das Tragen von Abzeichen, die nur für Volksdeutsche bestimmt waren, wie ζ. B. das Hakenkreuzabzeichen oder das Abzeichen der "Deutschen Arbeitsfront". § 3 Heimtückegesetz, der die Begehung von Straftaten in Uniform oder unter Mitführen parteiamtlicher Abzeichen erfaßte, war seinem Wortlaut nach nicht anwendbar77. Der Vorschrift wurde jedoch der "Grundgedanke" (§ 2 RStGB) beigelegt, die nationalsozialistischen Symbole allgemein vor dem Mißbrauch durch Angehörige fremden Volkstums zu schützen. Versuchen der Polen, sich "als Deutsche zu tarnen", sei "mit aller Schärfe" entgegenzutreten; auch erfordere die "scharf abgrenzende Trennung zwischen dem deutschen und dem polnischen Volkstum" eine Erstreckung des § 3 Heimtückegesetz auf solche Fälle78. Auch das unberechtigte Tragen des Volksdeutschen-Abzeichens wurde in entsprechender Anwendung der Strafvorschrift über das unbefugte Führen von Orden und Ehrenzeichen strafrechtlich erfaßt79. Die "sinngemäße" Anwendung des deutschen Strafrechts dürfte trotz der genannten Beispiele überwiegend im Wege "einfacher" "sinngemäß" modifizierender Auslegung möglich gewesen sein: Die Begrifflichkeit des Kriegsstrafrechts, das im Vordergrund der sondergerichtlichen Praxis stand, war ja ohnehin durch ihre "Flexibilität" gekennzeichnet und in weiten Bereichen mannigfachen Inhalten zugänglich80. Das gilt beispielsweise - wie in der zeitgenössischen Literatur hervorgehoben81 - für den "großen Auffangtatbestand" des nationalsozialistischen Kriegsstrafrechts, den § 4 VolksschädlingsVO. Die "Ausnutzung der Kriegsverhältnisse" war schon als solche ein höchst "elastisches" Merkmal, machte es doch die kriegsbedingte tatsächliche Lage zur Strafbarkeitsvoraussetzung82. Diese "Variabilität" führte aus zeitgenössischer Sicht angesichts der angenommenen Sonderlage im deutschen Osten zwingend zu einer anderen konkreten Gestalt dieses Strafgesetzes als im Altreich: Was - aus weltanschaulich-politischer Sicht - als "Sonderlage" definiert wurde, verwandelte sich in eine Strafbarkeitsvoraussetzung. Entsprechend heißt es bei Thiemann, nicht nur bestimmte Einzelerscheinungen, wie die Evakuierung polnischer Wohnungen, nicht nur der Mangel an deutschen Polizeikräften gehörten zu den kriegsbedingten außergewöhnlichen Verhältnissen; vielmehr

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Beispiel bei Thiemann, DR 1941,2475. Vgl. § 1 Heimtückeges. 1. Teil (Gefängnis bis zu zwei Jahren) und 2. Teil ("öffentliche" Behauptung, Gefängnis nicht unter drei Monaten). - Majer (1981) übernimmt dieses Beispiel, verwertet es aber auf der Basis der falschen Annahme., § 1 Heimtückeges. habe nur "öffentliche" Verbreitung für strafbar erklärt. Die Lektüre des § 11 Heimtückeges. erweist den Irrtum. Vgl. [Nr. 15]. SG Posen, HRR 1942, Nr. 47 (Urt. v. 26. 7. 1941). Vgl. auch SG Leslau, HRR 1941, Nr. 1071 (Urt. v. 10.9.1941). Vgl. SG Danzig, DJ 1941, 945 (Urt. v. 20. 6.1941). Im Warthegau wendeten die Sondergerichte nach Thiemann, DR 1941, 2476 auf Volksdeutschenabzeichen den (strengeren) § 5 II Heimtückeges. an. Näher mit weit. Nachw. Thiemann, aaO. - Aus der Rspr. vgl. ferner SG Danzig, DR (B) 1940, Beil. S. 98 (Urt. v. 8. 7.1940) zur sinngemäßen Anwendung des § 1 VolksschädlingsVO [Nr. 29] auf die besonderen Verhältnisse im Osten; zur Rspr. im ganzen Thiemann, DR 1941, 2473 ff.; Beurmann, DR 1942 (B), 77 ff. S. auch Majer (1981), S. 734 ff., wo im wesentlichen das bei Beurmann, aaO und Thiemann, aaO Mitgeteilte referiert wird und S. 774 ff. mit ζ. T. unveröffentlichtem Material. Vgl. Freister, DJ 1941,1131; dazu grundsätzlich Klinge, DJ 1942,324 ff., vgl. unten 4a hh. Vgl. Freisler, aaO. Dazu oben [Nr. 29] 6b.

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habe die Praxis generell die "Ausnutzung der eigenartigen Gesamtlage" genügen lassen83. Die Praxis der Ostgebiete konnte also im Rahmen des § 4 der VolksschädlingsVO durchaus "den dortigen Bedürfnissen Rechnung tragen"84. Verallgemeinert konnte auf der Basis der deutschen Strafgesetze den "Bedürfnissen" des Ostens überall dort ohne größere Schwierigkeiten genügt werden, wo der Gesetzeswortlaut wertausfüllungsbedürftig war. Man konnte dann den "Besonderheiten" des Ostens durch eine entsprechende Ausfüllung der gesetzlichen Begriffe "Rechnung tragen", wobei sich dann freilich abweichende Begriffsinhalte für das Deutschenstrafrecht und das Polenstrafrecht ergeben konnten und, auf der Basis der maßgeblichen "grundsätzlichen" Einordnung des Polenstrafrechts, ergeben mußten. Dieser Effekt war aber gerade erwünscht. Die vorgeblich andersartige Gesamtausrichtung des Polenstrafrechts drang damit auf breiter Front in die Begriffsbildung ein und konnte selbst "politisch farblose" Delikte, wie die Sachbeschädigung, betreffen85. Der "Aufbaugedanke" und die Ordnungsaufgabe" in den Ostgebieten - denen die "Gehorsamspflicht des Polentums" korrespondieren sollte - bildeten das Zentrum der maßgeblichen ("teleologischen") Kriterien der Begriffsausformung86. bb) Sonderverfahrensrecht Über einzelne Modifikationen des reichsdeutschen Strafprozeßrechts wird im zeitgenössischen Schrifttum nicht berichtet. Der Sonderrechtscharakter des Polenstrafrechts brach in der Praxis aber auf einem anderen Weg durch: Die Staatsanwaltschaften erhoben "kraft eigenen Entschlusses ... wie auch auf Weisung des Reichsministers der Justiz" Anklagen nur vor den Sondergerichten und Amtsgerichten87. Dadurch wurden Revisionen zum Reichsgericht gegen erstinstanzliche landgerichtliche Urteile vermieden und erreicht, daß auch die Entscheidung im letzten Rechtszug bei den besonders "sachkundigen" Gerichten der Ostgebiete verblieb: Amtsgerichtliche Urteile waren nur mit der Berufung zum Landgericht anfechtbar; Nichtigkeitsbeschwerde und außerordentlicher Einspruch gegen sondergerichtliche Urteile standen nur dem Oberreichsanwalt zu88. Die Verfahren konnten bei diesen Gerichten auch beschleunigt werden: Die erforderliche "Schnelligkeit" war durch das Verfahrensrecht der Sondergerichte gewährleistet; im amtsgerichtlichen Verfahren konnte die Staatsanwaltschaft seit 1940 generell die Aburteilung im beschleunigten Verfahren beantragen89. Eine gerichtliche Überprüfung von Verfahrensverstößen fand in Ermangelung einer Revisionsmöglichkeit in Polenstrafverfahren generell nicht mehr statt, so daß der Weg zu "freier" Verfahrensgestaltung in

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Thiemann, DR 1941,2475; ähnlich Freister, DJ 1941,1131. Vgl. Freister, aaO. Beispiel bei Klinge, DJ 1942,325 f. Das Verfahren der "Begriffsbildung im Polenstrafrecht" hat Klinge, DJ 1942, 324 ff. näher beschrieben; vgl. dazu unten 4a hh. Vgl. Freister, DJ 1941,1130 und das Material bei Majer (1981), S. 765 Fn. 229. Zum außerordentlichen Einspruch § 3 Ges. v. 16. 9. 1939, RGBl. I, S. 1841; zur Nichtigkeitsbeschwerde § 35 VO v. 21. 2.1940, RGBl. I, S. 405. Vgl. §§ 28 ff. VO v. 21. 2. 1940, RGBl. I, S. 405. Zu den Änderungen des Verfahrensrechts oben 1. Teil A I 3b.

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der Praxis schon durch die Abschaffung der Rechtsmittel für polnische Angeklagte geebnet war. 3. Die Verordnung über die Einführung des deutschen Strafrechts in den eingegliederten Ostgebieten vom 6. Juni 1940 Bis zum Erlaß der Verordnung vom 6. Juni 1940 (EinführungsVO)90 bildete der Führererlaß vom 8. Oktober 1939 die einzige "gesetzliche" Grundlage der "sinngemäßen" Anwendung des deutschen Strafrechts. Die Praxis bis zum Inkrafttreten des Führererlasses wurde unmittelbar "rechtlich" begründet. Freister kennzeichnete darüber hinaus die Phase bis zum 6. Juni 1940 insgesamt als die der "rechtlichen Anwendung" des deutschen Strafrechts, legte also den Verordnungen des Oberbefehlshabers des Heeres und dem § 7 des Führererlasses offenbar nur geringe Bedeutung als "gesetzliche" Basis bei91. § 7 des Führererlasses hatte ja ebenso wie der ungeschriebene Führerbefehl den Charakter einer pauschalen Ermächtigung der Staatsorgane; die Art und Weise der Aufgabenerfüllung sowie die Abgrenzung der Kompetenzen wurde den jeweiligen Organen überlassen. Dem Selbstverständnis der Justiz jedenfalls entsprach die Annahme einer nur "rechtlichen" Grundlage ihrer Tätigkeit, da der aktive Anteil der Justiz an der Rechtsentwicklung in den zeitgenössischen Beiträgen stolz herausgestellt wurde92. Auch angesichts der schmalen "gesetzlichen" Basis erscheint die Charakterisierung der ersten Entwicklungsphase als "gesetzesfreie", rechtliche Anwendung des (materiellen) deutschen Strafrechts zutreffend, zumal die "sinngemäße" Anwendung und ihre nähere Ausformung unbestreitbar eine "Leistung" der Praxis war. Die EinführungsVO schob sich nunmehr zwischen jenen Führerbefehl und die Einzelfallentscheidung: Sie wurde vom Reichsminister des Inneren und dem Reichsminister der Justiz aufgrund der im Führererlaß vom 8. Oktober 1939 erteilten Ermächtigung (§§ 8,12) erlassen53. Eine wesentliche Bedeutung der EinführungsVO lag darin, daß sie im materiellen Strafrecht die grundsätzliche Geltung des reichsdeutschen Strafrechts in den Ostgebieten (dazu a) ebenso wie die Notwendigkeit seiner nur "sinngemäßen" Anwendung bestätigte (dazu b). Neu war die äußerlich sichtbare Einführung von Sondervorschriften für Polen; damit wurde der bisherige Ausgangspunkt, das für Deutsche geltende Strafrecht, demonstrativ verlassen (dazu c). Neu war auch die Einführung strafverfahrensrechtlicher Sondervorschriften (dazu d). a) Die (rückwirkende) "Einführung" von Reichsstrafrecht (§§ 11, 7) Die Verordnung brachte in § 1 I die Einführung des Reichsstrafgesetzbuches und einer Reihe politisch wichtiger Strafgesetze wie etwa des Heimtückegesetzes. Daneben wurden aus dem Kriegsstrafrecht u. a. die KriegswirtschaftsVO, die VolksschädlingsVO und die Gewalt-

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RGBl. I,S. 844; Zeichnung Fn. 93.

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Freister, DJ 1941,1130. Vgl. Froböß, DR 1941,2465; Tautphaeus, DR 1941,2467.

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Dazu soeben 2a; Zeichnung der EinführungsVO: RMdl Frick, RMdJ Gärtner.

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verbrecherVO eingeführt94. §7 1 der EinfiihrungsVO legte ihr eine zeitlich unbegrenzte Rückwirkung bei und bestätigte damit auch die bisherige Praxis der grundsätzlichen (und rückwirkenden) Anwendung des deutschen Strafrechts. Nach Auffassung von Freisler schuf die Verordnung "allgemein die gesetzliche Grundlage für die schon bis dahin rechtliche Anwendung des deutschen Strafrechts"95, hatte also, was die Geltung reichsdeutschen Strafrechts anging, nur "deklaratorischen", nicht konstitutiven Charakter96. In § 7 II wurden alle Entscheidungen und Anordnungen für "rechtsgültig" erklärt, wenn sie den "Vorschriften dieser Verordnung unmittelbar oder sinngemäß entsprechen". Damit hatte die Verordnung auch, wie Thiemann betonte, die Bedeutung einer ausdrücklichen Sanktionierung der bis dahin geübten gerichtlichen Praxis97, sowohl hinsichtlich ihrer Rechtsgrundlagen wie der Einzelentscheidungen. § 7 hatte auf der Basis dieser Annahmen den Charakter einer klarstellenden pauschalen Rückwärts-Legalisierung der Justizpraxis: War diese bis dahin nur rechtlich und "gesetzesfrei" - nicht aber "rechtswidrig" -, wurde sie nunmehr durch § 7 auch, "ex tunc", gesetzlich. Die Hauptbedeutung des § 7 der EinführungsVO lag also nicht in der Herstellung eines rechtmäßigen Zustandes, sondern in dessen klarstellender Festschreibung. Damit war auch für denjenigen, der in den Bahnen des "Gesetzgebungsstaates" dachte und sich ein "Strafrec/ii" ohne "Strafgesetz* immer noch nicht vorzustellen vermochte, die bisherige Praxis "legalisiert" und vom "rechtlichen" Aggregatzustand in einen (auch) "gesetzlichen" verwandelt. Auf dem Wege "rechtlicher" wie auf dem Wege "gesetzlicher" Argumentation gelangte man also nunmehr zu den - jedenfalls im wesentlichen - gleichen Ergebnissen. So konnte das Reichsgericht etwa die Frage der Anwendung des RStGB auf Straftaten, die in den Ostgebieten vor ihrer Eingliederung begangen wurden, leicht auf der Schiene "gesetzlicher" Argumentation beantworten und alle Zweifelsfragen offenlassen, die sich einer nur "rechtlichen" Argumentation hätten stellen können: "Eine seit dem 26. Oktober 1939 (Erlaß v. 20. Oktober 1939, RGBl. I, S. 2057) nach dem polnischen Recht etwa eingetretene Verjährung der Strafverfolgung wäre aber durch den § 7 VO. v. 6. Juni 1940 ... mit rückwirkender Kraft wieder beseitigt worden"98. Vom Ausgangspunkt, die Einführung deutschen Strafrechts durch die Verordnung habe nur deklaratorischen Charakter, war die Annahme, die Verordnung enthalte keine "restlose Aufzählung" der anwendbaren deutschen Strafgesetze, mindestens naheliegend: Man erklärte damit lediglich die "rechtliche" Anwendung von Reichsstrafrecht im bisherigen Umfang für möglich. So wurde u. a. die im Katalog des § 1 EinführungsVO nicht enthaltene Verordnung zum Schutz von Volk und Staat vom 28. Februar 1933 vor und nach Erlaß der EinführungsVO angewendet: Die EinführungsVO konnte die bereits gefestigte, auf "rechtlicher" Grundlage operierende Praxis in der Weiteranwendung nicht genannter Strafvorschriften "nicht beir-

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Vgl. § 11 Nrn. 7,10,11,14; s. auch § 11 Nr. 12 (§§ 1,4 der VO gegen jugendliche Schwerverbrecher) und Nr. 13 (WehrkraftschutzVO). Vgl. Freisler, DJ 1941,1130. Vgl. Thiemann, DR 1941,2474; Beurmann DR (B) 1942,78. Dazu auch Majer (1981), 738 f. AaO. RGSt. 75,183,184 (Urt. v. 21.4.1941,5. StS).

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

ren"99. Auch diese Auffassung wurde später wiederum durch eine pauschale Rückwirkung der Ziffer II der PolenstrafrechtsVO vom nationalsozialistischen Gesetzgeber bestätigt100. b) Die "sinngemäße" Anwendung des Reichsstrafrechts Für die "inkrafttretenden Vorschriften"101 sprach § 2 der EinführungsVO aus, sie seien, soweit "nicht unmittelbar anwendbar ... sinngemäß" anzuwenden. Die Vorschrift bildete eine Parallele zur richterlichen Rechtsschöpfung durch entsprechende Gesetzesanwendung (§ 2 RStGB). Sie unterschied sich freilich von § 2 RStGB, indem "vom gesunden Volksempfinden" nicht die Rede war: Der Appell an das gesunde Volksempfinden wurde gegenüber Polen wegen der fehlenden Treupflicht gegenüljer dem deutschen Volk für unmöglich erklärt. Die Gesetzesanwendung sollte vielmehr nur "sinngemäß", d. h. entsprechend den anderen Gegebenheiten - wie sie sich aus nationalsozialistischer weltanschaulich-politischer Sicht darstellten erfolgen. Damit wurde der von der Praxis entwickelte Standpunkt voll bestätigt, daß nämlich, so Freisler, "das Gerechtigkeitsstreben der Strafrechtspflege aufbauen müsse auf der Stellung der eingegliederten Ostgebiete im Reich, auf der Stellung des Deutschtums zu und in den eingegliederten Ostgebieten und auf der daraus folgenden Stellung des Polentums in ihnen, und daß es hingerichtet sein müsse auf den Schutz und die Förderung der deutschen Aufbauarbeit"102. Mit "berechtigtem Stolz" konnte also die Praxis schon in dieser Bestimmung - und später in § 4 OstrechtspflegeVO - ihre "rechtsschöpferische Arbeit" bestätigt sehen103. c) Die "besonderen Straf vorschriften für die eingegliederten Ostgebiete" Eine "Neuerung von größter Wichtigkeit" bedeuteten nach Thiemann "die in der VO. enthaltenen besonderen Strafvorschriften für die eingegliederten Ostgebiete" (Art. II, §§ 8 bis 16)104. Die Vorschriften brachten "das besondere Polenstrafrecht"los. Dies ergab sich zwar nicht aus der Überschrift des Artikel II, aber aus § 161, wonach die Vorschriften rächt galten für deutsche Staats- und Volksangehörige, für Angehörige des Protektorats Böhmen und Mähren und der nicht gegen das Reich kriegführenden Mächte. § 16 II ermächtigte die Reichsstatthalter und die Oberpräsidenten, "auch die Angehörigen anderer Volksgruppen" von den Sondervorschriften auszunehmen. Von dieser Ermächtigung machten die Reichsstatthalter im Warthegau und in Danzig-Westpreußen Gebrauch, und zwar für Ukrainer, Russen (außer Sowjetrussen), Weißruthenen, Flüchtlinge aus den Kaukasus-Gebieten und 99 100 ιοί

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Vgl. Thiemann, DR 1941, 78. Zum Katalog anwendbarer Strafgesetze vgl. den RE des GStA Posen v. 9.1.1940 bei Majer (1981), S. 738 mit Nachw. Vgl. unten 4a ee. Diese Passage übersieht Majer (1981), S. 742, wenn sie aus dem Wortlaut des § 2 nicht nur die Möglichkeit "sinngemäßer" Anwendung eingeführten Strafrechts ableitet, sondern auch eine Kompetenz zur Einführung herausliest. Im Ergebnis sollte die Geltung nicht gesetzlich eingeführter Vorschriften freilich, wie dargelegt, "rechtlich" begründet sein. Vgl. Freisler, DJ 1941,1131. So Tautphaeus, DR 1941, 2467 zu § 4 OstrechtspflegeVO; vgl. auch Freisler, aaO. Thiemann, DR 1941,2474. Freisler, DJ 1941,1131.

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nichtdeutsche Rückwanderer aus deutschen Volksgruppengebieten106, so daß im wesentlichen nur noch Polen (und Juden) betroffen waren. Für Polen (und Juden) "aus" den eingegliederten Ostgebieten, die sich im Altreich aufhielten, galt das besondere Polenstrafrecht (noch)107 nicht. Die Geltung des gesetzesförmigen Polenstrafrechts knüpfte also zwar an die Zugehörigkeit zum polnischen Volkstum an, war aber noch territorial begrenzt auf die eingegliederten Ostgebiete. Die gesetzlichen Sondervorschriften hielten sich innerhalb des Besonderen Teils des Strafrechts; sie waren aber, wie die weitere Entwicklung zeigen sollte, nur der "erste Anfang einer gesetzlichen Festlegung des deutschen Polenstrafrechts"108. Kennzeichnend für die Gesetzestechnik der Sondervorschriften waren weite Tatbestände und überwiegend auch weitgespannte Strafrahmen, die - unter Einbeziehung der minder schweren Fälle - von Gefängnis bis zur Todesstrafe reichten109. Die Tatbestände lehnten sich weitgehend an die Vorschriften der Verordnung zur Bekämpfung von Gewalttaten im Generalgouvernement vom 31. Oktober 1939 an, die das von den Standgerichten anzuwendende materielle Strafrecht regelte110. Dem Ziel der "Niederhaltung" des Polentums korrespondierte die außerordentliche Häufung der Todesstrafdrohungen: Die Todesstrafe konnte für jedes "Polendelikt" verhängt werden111. Im einzelnen enthielt die EinführungsVO folgende besonderen Strafvorschriften: § 8 drohte für "Gewalttaten" gegen Angehörige der Wehrmacht, der Polizei, des Reichsarbeitsdienstes, einer deutschen Behörde oder der NSDAP, kurz für Taten gegen alle "Träger deutscher öffentlicher Autorität"112 die Todesstrafe an. Unter Gewalttat war dabei, so das Reichsgericht, jede unter Anwendung von Gewalt begangene Tat zu verstehen, also beispielsweise auch die nur versuchte Körperverletzung, wobei leichtere Fälle als minder schwer einzuordnen und mit Zuchthaus oder Gefängnis (Abs. 2) zu bestrafen waren113. Für die vorsätzliche 106 Vgl. VOen des Reichsstatthalters im Warthegau v. 9.8.1940 und 15.8.1941VOB1. Wartheland 1940, 630 sowie 1941,468 und des Reichsstatthalters in Danzig-Westpreußen v. 22.8.1941, VOB1. DanzigWestpreußen 1941,652 bei Majer (1981), S. 744 Fn. 131 und Thiemann, DR 1941,2474 Fn. 9. 107 Vgl. Ziff. XIV der PolenstrafrechtsVO (dazu bei 4). 108 Vgl. Freister, DJ 1941,1132 und Ziff. I ff., Ziff. IV ff. PolenstrafrechtsVO. 109 Vgl. §§ 8,9,10,13,14,15 III; absolute (Todes-)Strafdrohungen in §§ 11,12,151. 110 In Kraft getreten am 3. 11. 1939, abgedruckt bei Weh, Rechts des Generalgouvernements (1941), C 305, S. 1 f. - folgende Vorschriften der EinführungsVO, die zuerst genannt werden, und der GewalttatenVO, die an zweiter Stelle aufgeführt sind, entsprechen sich: § 8 I und § 1; § 9 und § 2; § 10 und § 3; § 11 und § 4; § 12 und § 5; § 13 und § 8; § 14 I und § 9; § 15 III und § 10 II. Die Gleichstellung von Anstiftern und Gehilfen mit dem Täter sowie der versuchten mit der vollendeten Tat (§ 6 GewalttatenVO) wurde in der EinführungsVO nicht übernommen. Der Unterschied zwischen beiden Verordnungen lag im wesentlichen bei den Strafdrohungen, da die Gewalttaten VO, anders als die EinführungsVO, durchweg die Todesstrafe androhte; zu den Strafen der EinführungsVO sogleich der Text. 111 Zur Häufigkeit der Todesstrafen vgl. Majer (1981), S. 789: Bis zum Inkrafttreten der PolenstrafrechtsVO wurden im Warthegau "nur" 45 Todesurteile vollstreckt. Für die Zeit nach Inkrafttreten der PolenstrafrechtsVO aaO, S. 789 ff. 112 Vgl. Freister, DJ 1941,1132. S. auch entspr. im Reichsstrafrecht den Sonderschutz für Träger solcher "öffentlichen Autorität" in § 1 Nr. 1 des Gesetzes zur Gewährleistung des Rechtsfriedens [Nr. 11], der nur das Unternehmen einer Tötung erfaßte. 113 Vgl. RG DR 1941, 18889 (Urt. v. 7. 7. 1941, 5. StS) unter Berufung auf RG-BS-DJ 1940, 69 (Urt. v. 18.12.1939) zu § 1 GewaltverbrecherVO. - Vgl. Ziff. I Abs. 4 Nr. 1 PolenstrafrechtsVO.

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Beschädigung von "Einrichtungen der deutschen Behörden oder Sachen, die der Arbeit der deutschen Behörden oder dem öffentlichen Nutzen dienen", war die Todesstrafe, in minder schweren Fällen Zuchthaus- oder Gefängnisstrafe vorgesehen (§ 9)114. Die gleiche Strafe drohte für die Aufforderung oder Anreizung zum "Ungehorsam gegen eine von den deutschen Behörden erlassene Verordnung oder Anordnung" (§ 10)115. Der Pole oder Jude, der gegen einen Deutschen wegen seiner Volkszugehörigkeit eine Gewalttat (§ 11) oder der eine vorsätzliche Brandstiftung beging (§ 12), war mit dem Tode zu bestrafen116. Die Verabredung eines nach den §§ 8 bis 12 strafbaren Verbrechens und die "ernsthafte Verhandlung" über eine solche Verabredung war mit Todesstrafe, in minder schweren Fällen mit Zuchthaus oder Gefängnis bedroht, ebenso das Sicherbieten zu einer Tat nach den §§ 8 bis 12 und die Annahme eines solchen Erbietens117. Die gleiche Strafe drohte für die Nichtanzeige des Vorhabens oder der Ausführung eines solchen "Polenverbrechens" (§ 14). Das Angehörigenprivileg (§ 14 II) wurde später beseitigt118. Mit dem Tode wurden der unerlaubte Waffenbesitz (§ 15 I) und die Nichtanzeige einer solchen Tat bedroht (§ 15 III), wobei die Nichtanzeige in minder schweren Fällen mit Zuchthaus oder Gefängnis bestraft werden konnte119. d) Verfahrensrecht § 1 Π sah die Geltung der RStPO vor, und zwar grundsätzlich sowohl für Polen wie für Deutsche. Ergänzend brachte die EinführungsVO Sondervorschriften von erheblicher Tragweite. aa) Das Opportunitätsprinzip Eine wesentliche Modifikation des Reichsstrafprozeßrechts bedeutete die Einführung des reinen Opportunitätsprinzips bei der Verfolgung aller Straftaten: § 1 Π Nr. 1 S. 1 der EinführungsVO erklärte § 152 II RStPO (Verfolgungszwang) und entsprechend die Vorschriften über das Klageerzwingungsverfahren für unanwendbar. Stattdessen galt folgende Regelung: "Der Staatsanwalt verfolgt Taten, deren Ahndung er im öffentlichen Interesse für geboten

114 Vgl. dazu SG Danzig, DR (B) 1941, Beil. S. 25 (Urt. v. 29.11. 1940): Landwirtschaftliche Maschinen dienen im Rahmen der Ernährungswirtschaft unmittelbar dem Nutzen des deutschen Volkes (unter Berufung auf die Rspr. des RG zu § 304 RStGB, Strafdrohung: Gefängnis bis zu drei Jahren oder Geldstrafe; zur Möglichkeit eigenständiger Auslegung des § 9 vgl. aaO). Vgl. auch Klinge, DJ 1942, 325 f. Zur entspr. Ziff. I Abs. 4 Nr. 2 PolenstrafrechtsVO. 115 § 110 I RStGB drohte für die öffentliche Aufforderung zum Ungehorsam Gefängnisstrafe bis zu 2 Jahren oder Geldstrafe an; § 4 der VO zum Schutz von Volk und Staat [Nr. 2] bedrohte die Aufforderung oder Anreizung zum Ungehorsam mit Gefängnis (Abs. 1) oder - bei Gemeingefährlichkeit mit Zuchthausstrafe (Abs. 3). Vgl. Ziff. I Abs. 4 Nr. 3 PolenstrafrechtsVO. 116 Zu § 11 vgl. Ziff. I Abs. 2 PolenstrafrechtsVO. 117 Vgl. Ziff. I Abs. 4 Nr. 4 PolenstrafrechtsVO. 118 Vgl. aaO. 119 Vgl. Ziff. I Abs. 4 Nr. 5 PolenstrafrechtsVO, wo die Sonderregelung über tätige Reue (§ 15 II) entfiel.

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hält". Damit wurden Entwicklungstendenzen im Altreich aufgegriffen und radikalisiert120: Die Einführung des Opportunitätsprinzips gegenüber Polen und Deutschen war gewissermaßen ein "Pilotprojekt", um "Erfahrungen ... für die spätere Abgrenzung ... im gesamtdeutschen Recht" zu machen121. Der Gedanke, durch die ungehinderte Ausscheidung weniger wichtiger Sachen, die "Schlagkraft" der Strafrechtspflege zu stärken, war nicht spezifisch sonderrechtlicher Natur und auf das Altreich ohne weiteres, je nach "Lage" der Strafrechtspflege, übertragbar, wie die formelle Aufhebung des Legalitätsprinzips zur "Anpassung der Strafrechtspflege an die Erfordernisse des totalen Krieges" zeigt122. Die Gefahr einer Überlastung der Strafrechtspraxis entstand im Osten namentlich durch die unbegrenzt rückwirkende Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts, seine Erstreckung also auch auf die Zeit vor der Besetzung. Vermieden werden sollte, daß sich "die Strafverfolgungsbehörden mit allen noch nicht verjährten Straftaten aus polnischer Zeit befassen mußten", zumal dies auch "praktisch unmöglich" gewesen wäre123. Die Einführung des Opportunitätsprinzips flankierte also das Bestreben, sich die Verfolgung zeitlich zurückliegender Taten durch unbegrenzte Rückwirkung offenzuhalten und schuf die Möglichkeit, die daraus erwachsende Arbeitsbelastung der Strafverfolgungsorgane auf das erwünschte Maß zu reduzieren. Die zeitlich unbegrenzte Rückwirkung und ihre "Verwaltung" durch die Strafverfolgungsorgane nach Opportunität ist als Technik auch dem zeitgenössischen Reichsstrafrecht geläufig, freilich sachgebietsbeschränkt und (noch) nicht als Instrument umfassender Strafrechts-"Verwaltung"124. Die Einführung des Opportunitätsprinzips hat aber auch spezifische Bezüge zu den Strafzwecken des Polenstrafrechts und zum - nationalsozialistisch verstandenen - "Schutz des deutschen Aufbauwerks" als oberstem Leitgesichtspunkt der gesamten Strafrechtspflege. Das Opportunitätsprinzip ermöglichte es, das Strafrecht entsprechend dem Aufbauzweck zu verwalten, über die Anwendung oder Nichtanwendung jeder Norm nach der "besonderen Lage des Einzelfalls in konkreter Schau mit Blickrichtung auf die Belange der Aufbauarbeit im eingegliederten Osten" zu entscheiden und dadurch die "Tätigkeit der Strafrechtspflege ganz auf das deutsche Interesse in jenen Gebieten abzustellen"125. Über den weisungsgebundenen Staatsanwalt sollte damit "letzten Endes der Staatsführung" die Entscheidung über das Ob der Strafverfolgung in die Hand gegeben werden126. Für die zu treffenden Ermessensentscheidungen werden in der zeitgenössischen Literatur zwei Hauptgesichtspunkte genannt: Das deutsche Polenstrafrecht solle nicht das "polnische Volkstum" schützen, sondern die "Eindeutschung" der Ostgebiete sichern helfen. Durch das Verfolgungsermessen erhalte die Staatsanwaltschaft "die gesetzliche Grundlage", Strafvorschriften nicht anzuwenden, "die nur dem Schutz des polnischen Volkes dienen würden"127. Dabei dachte man an Straftaten von 120 Zur fortschreitenden "Durchbrechung" des Legalitätsprinzips im Altreich vgl. Schumacher (1985), S. 108 ff. 121 Vgl. Freister, DJ 1940,1129. 122 § 8 VO v. 13.12.1944, RGBl. I, S. 339. 123 Drendel, DR 1941,2472. 124 Vgl. GewaltverbrecherVO [Nr. 33] 6; ÄndG 1941 [Nr. 39] 5b. 125 Vgl. Freister, DJ 1941,1131. 126 Vgl. Grau, DJ 1942,228 zur entspr. Ziff. IV PolenstrafrechtsVO. 127 Vgl. Drendel, DR 1941,2472.

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Polen gegen Polen, die keine "Ansteckungsgefahr" für Deutsche mit sich brachten128. Betroffen waren aber auch Straftaten von Deutschen gegen Polen: Das "richtig verstandene Gesamtwohl des Deutschtums" ließ es nämlich "nicht immer zweckmäßig erscheinen, in Fällen, in denen nur polnische Interessen durch die Straftat eines Deutschen berührt sind, in denen aber die Bestrafung des Deutschen unter den Polen Aufsehen erregen, Befriedigung auslösen oder gar ihren Widerstandsgeist wecken oder stärken würde, gegen diesen Anklage zu erheben". Dieser Gesichtspunkt war nach Drendel, Generalstaatsanwalt in Posen (Warthegau), für "die Ausrichtung der Strafverfolgung auf den Volkstumskampf besonders beachtlich", ihm galt "vielfach das besondere Interesse der politischen Stellen". Die darin liegenden "Gefahren für die unverrückbare Sachlichkeit der Strafverfolgungsbehörden" jeweils rechtzeitig "zu erkennen und zu überwinden", erforderte, so Drendel, "ausgesprochenes Gefühl für Recht und Gerechtigkeit bei gefestigter Weltanschauung, Charakterstärke und politisches Einfühlungsvermögen"129. bb) Gesetzliches Sonderverfahrensrecht Gesetzliches Sonderverfahrensrecht für Polen (und Juden) brachte § 1 Π Nr. 2, indem die Vorschriften über Privatklage und Nebenklage nur unter der Voraussetzung für anwendbar erklärt wurden, daß der Verletzte deutscher Staats- oder Volksangehöriger, Angehöriger des Protektorats oder eines nicht gegen das Reich kriegführenden Staates war. Bei Freisler heißt es dazu, "tatsächlich" sei es vorgekommen, daß "Polen ihre staatsrechtliche Lage in den eingegliederten Ostgebieten derart verkannten, daß sie den Weg der Privat- und Nebenklage zu beschreiten versuchten". Die Verordnung ziehe nunmehr "erstmalig gesetzgeberisch in der Rechtspflege die Rechtsfolge aus der staatsrechtlichen Stellung dieser Polen, die ja mit der Eingliederung der Ostgebiete in das Reich nicht Staatsangehörige" geworden seien130. § 1 II Nr. 2 hatte damit für die Verfahrensgesetzgebung Modellcharakter. So betonte Drendel in sich konsequent, es würde "in der gleichen Linie liegen, auch die Rechtsbehelfe und den Gang des Gnadenverfahrens entsprechend zu beschneiden" und damit den "in der Öffentlichkeit immer wieder laut werdenden vernünftigen Anregungen" durch eine gesetzliche Rechnung zu tragen131. e) Die Würdigung der Einführungsverordnung aus zeitgenössischer Sicht132 Die Bedeutung der Verordnung als "gesetzliche" Bestätigung der bis dahin geübten "rechtlichen" Praxis wurde bereits dargestellt. Hier sollen die Neuerungen der EinführungsVO und ihr Gesamtkonzept erörtert werden.

128 129 130 131 132

Vgl. Ziff. III Abs. 3 PolenstrafrechtsVO und dazu Freister, DJ 1942,31 f. sowie unten 4aff[2], DR 1941, 2472 f. DJ 1941,1131. DR 1941,2472. Zur Würdigung in (rechts-)historischer Perspektive unten 6b aa.

C. Die zweite Phase: 1939 bis 1945

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Freisler hat sich ausführlich mit der Verordnung befaßt und sie im Ergebnis als "eine wichtige Etappe" gewürdigt, welche "die weitere Entwicklung gefördert und ermöglicht" habe133; allerdings sei eine solche Weiterentwicklung auch notwendig gewesen. Freisler hat im Rückblick folgende "Mängelliste" aufgestellt: Das besondere Polenstrafrecht (Art. 2) sei äußerlich nur ein "Anhängsel" gewesen und habe seine grundsätzliche Beschränkung auf Polen und Juden nur indirekt (§ 16) ausgesprochen: Die EinführungsVO "ließ die Gesamtheit des Polenstrafrechts nicht in sich geschlossen hervortreten" und "beließ auch äußerlich gesetzgeberisch den Polen in einer Gesetzesgemeinschaft mit dem Deutschen", was der staatsrechtlichen Stellung des Polentums in den Ostgebieten nicht entsprochen habe. Dieser staatsrechtlichen Stellung habe auch die weitgehende Beschränkung auf das sachliche Strafrecht nicht Rechnung getragen. Richtig sei es dagegen, eine "mit aktiven Rechten ausgestattete Gerichtsstandschaft" grundsätzlich nur dem Reichsbürger einzuräumen, nicht aber Polen und Juden. Die materiell-rechtlichen Vorschriften seien nicht elastisch genug gewesen. § 2 habe "manches ... nicht deutlich hervorgehoben" und nur "schwach angedeutet", das "eigentliche besondere Polenstrafrecht" habe sich auf einzelne Tatbestände beschränkt. Es habe "ein allgemeiner Straftatbestand" gefehlt, "dessen Weite die erforderliche Elastizität des Polenstrafrechts auch außerhalb des Verweises auf die unmittelbare Rechtsschöpfung aus den Aufbaubedürfnissen des eingegliederten Ostens (§ 2 StGB) gewährleistete". So sei es beispielsweise schwierig gewesen, den "Ungehorsam gegen allgemeine deutsche Behördenanordnungen" als solchen zu bestrafen, da die EinführungsVO (§ 10) nur die Aufforderung dazu erfaßt habe. Schließlich habe sich für die Praxis die "Begrenzung der Strafdrohungen für die einzelnen Straftaten ... - übrigens nicht nur nach oben, sondern auch nach unten - als zu eng" erwiesen. Die Loslösung der Strafrahmen von den Einzeltatbeständen sei geboten, manche Mindeststrafdrohungen des deutschen Strafrechts seien gegenüber Polen "nicht angebracht" gewesen, insbesondere wenn Strafbestimmungen das Ziel einer "aktiven gemeinschaftssittlichen Hygiene des deutschen Volkes" verfolgten134. Diese "Mängelliste" wurde durch Erlaß der PolenstrafrechtsVO, der wir uns nunmehr zuwenden, gegenstandslos. 4. Die Polenstrafrechtsverordnung Mit der PolenstrafrechtsVO wurde das gesamte deutsche Strafrecht "gegen" Polen (und Juden) in den eingegliederten Ostgebieten und im Altreich in eine geschlossene Form gebracht. Die Verordnung regelte das gesamte materielle und formelle Polenstrafrecht, das sich nunmehr auch äußerlich von dem für Deutsche geltenden Strafrecht abhob. Majers Kennzeichnung als das "erste und abschreckendste" Beispiel "offenen Sonderrechts"135 ist freilich teils ungenau, teils unzutreffend und beschönigt die bis dahin schon stattgefundene Entwicklung: Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, daß die Strafjustiz in den Ostgebieten schon vor Erlaß der PolenstrafrechtsVO "offenes" Sonderrecht praktizierte und daß bereits die EinführungsVO "offenes" materielles und formelles Sonderstrafrecht enthielt. Evident ist ferner, daß auch das Blutschutzgesetz oder die Verordnung gegen die Unterstützung der Tar133 DJ 1941,1132. In diesem Sinne vgl. auch Drendel, DR 1941, 2472 (zum Verfahrensrecht); Thiemann, DR 1941,2476; Rosen-v. Hoewel, RVerwBl 1942,111. 134 Alle Zitate bei Freisler, aaO. Ebenso Rosen-v. Hoewel, aaO. 135 Majer (1981), S. 753.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

nung jüdischer Gewerbebetriebe einen "offenen" und nicht etwa einen nur "versteckten" sonderrechtlichen Kern hatten136. Ein "absolutes Novum"137 war die PolenstrafrechtsVO ihrem sachlichen Gehalt nach in der nationalsozialistischen Rechtsentwicklung also nicht. Sie setzte für den Bereich des materiellen Polenstrafrechts eher den Schlußstein einer schon vollzogenen Entwicklung. Neu war allerdings, daß Sonderrecht abschließend gebündelt in einem geschlossenen "Gesetzeswerk" enthalten war. Dadurch erst konnte das Polenstrafrecht - mit den Worten Freislers - die psychische Wirkung eines "Plakats" oder "Maueranschlags" erreichen138, die man "an der Tür [jeder] Bürgermeisterei für die Polen" anschlagen konnte139. Ein solcher "Plakatanschlag" war buchstäblich möglich, da die PolenstrafrechtsVO im Reichsgesetzblatt kaum mehr als zwei Seiten in Anspruch nahm. a) Das materielle Polenstrafrecht (Ziff. I bis III) aa) Die "Gehorsamspflicht" von Polen und Juden als Grundlage des Polenstrafrechts [1] Der "Verhaltenskodex" (Ziff. I Abs. 1) und seine Ausstrahlungen Als Zweck des Polenstrafrechts war schon in der Phase der "sinngemäßen" Rechtsanwendung die Sicherung der deutschen Aufbauarbeit und die Niederhaltung des Polentums behauptet worden. Diesem Zweck entsprach die Annahme einer Gehorsamspflicht, die nunmehr ausdrücklich gesetzlich anerkannt wurde. Diese Gehorsamspflicht bildete nach nationalsozialistischer Auffassung die "Rechtsbasis" des gesamten Polenstrafrechts140, kennzeichnete sozusagen den materiellen Unrechtskern aller "Polendelikte"141. Die gesetzliche Formulierung dieser Gehorsamspflicht wurde entsprechend der ihr beigelegten Bedeutung an die Spitze der Verordnung gestellt. Die Vorschrift lautete: "Polen und Juden haben sich in den eingegliederten Ostgebieten entsprechend den deutschen Gesetzen und den für sie ergangenen Anordnungen der deutschen Behörden zu verhalten. Sie haben alles zu unterlassen, was der Hoheit des Deutschen Reiches und dem Ansehen des deutschen Volkes abträglich ist".

Der Verstoß gegen die Gehorsamspflicht war in Ziffer I Abs. 1 nicht mit einer eigenständigen Sanktion bewehrt. Die "Gehorsamspflicht" hatte aber zentralen Stellenwert für die Handhabung der Verordnung im ganzen, nämlich für die Auslegung der einzelnen Strafvorschriften: Sie sollte nach Freisler - entsprechend ihrer Funktion als "Rechtsbasis" - "alle ande136 137 138 139

Dazu oben [Nr. 17], [Nr. 23]. Majer (1981), S. 753. Vgl. DJ 1941,1132. So Freister auf einer Tagung der OLG-Präsidenten und Generalstaatsanwälte in Berlin am 31. März 1942, BA R 22/4162, Bl. 57. Die Datierung ergibt sich aus dem Kurzbericht über die Tagung DJ 1942,247 (vgl. auch aaO, 221, 226) i. V. m. dem (undatierten) Protokoll BA R 22/4162, bes. Bl. 65 ff. Vgl. aber Majer (1981), S. 752 Fn. 166 ("vermutlich Mai 1942"); widersprüchlich Johe (1967): 31. März 1942 laut Text S. 129, aber 31. Mai 1942 laut Fn. 24, aaO. 140 Vgl. Freisler, DR 1941, 2632; DJ 1942, 25; Klinge, DR 1942, 325; Rosen-v. Hoewel, RVerwBl 1942, 111; Grau, DJ 1942, 227; etwas schwächer Pfundtner/Neubert/Grau (1933 ff.), Π c 25, S. 1 und 5. 141 Dazu Klinge, aaO; näher 4a hh.

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ren Straftatbestände des Polenstrafrechts" durchdringen und in zweifelhaften Einzelfragen die Lösungsrichtung weisen142. Angesichts der Weite, insbesondere der Ziffer I Abs. 3 und Ziffer II, erlangte der "Verhaltenskodex" über den Rang eines zentralen Auslegungsgesichtspunkts hinaus in diesen Vorschriften unmittelbar strafbarkeitsbegründende Bedeutung. [2] Das Polenstrafrecht als "autoritäres Tatstrafrecht" Mit Blick auf den Zweck des Schutzes deutscher Aufbauarbeit und den Zentralbegriff der "Gehorsamspflicht" hat Freisler das Polenstrafrecht insgesamt als "rein autoritäres" Strafrecht bezeichnet, um damit hervorzuheben, daß ein ethisch gefärbter Appell an die Treupflicht" keine Rolle spiele und es also, anders als im Deutschenstrafrecht, ausschließlich um "Niederhaltung" des Polentums gehe, nicht um "gemeinschaftssittliche Hygiene"143. Weiter heißt es, das Polenstrafrecht sei "viel mehr Tatstrafrecht" als das Deutschenstrafrecht. Damit soll verdeutlicht werden, daß die Persönlichkeitswertung des Täters, der starke täterstrafrechtliche Zug des (mindestens des neueren) Deutschenstrafrechts auf das Polenstrafrecht nicht übertragbar sei144. Auch diese Folgerung wird aus der unterschiedlichen Gesamtausrichtung von Deutschen- und Polenstrafrecht abgeleitet. Sie soll in einem genaueren Sinn herausstellen, daß die Beurteilungsperspektive "Wert oder Unwert der Täterpersönlichkeit für die deutsche Volksgemeinschaft", also die Frage nach dem "Reinigungsbedürfnis der Volksgemeinschaft", im Polenstrafrecht entfalle145. Der Pole wurde ja nicht als "Glied" der deutschen Volksgemeinschaft betrachtet, konnte also nicht als solches "gereinigt" oder "ausgestoßen" werden. Sein "Wert" für die polnische Volksgemeinschaft aber interessierte nicht, denn deren "Pflege" war erklärtermaßen nicht Ziel deutscher (Rechts-) Politik und deutscher Strafrechtspflege146. Politisches Ziel war vielmehr umgekehrt gerade die Schwächung des polnischen Volkes zur Erringung des Sieges im "Volkstumskampf" und zur Behauptung deutsch-völkischer Herrschaft. In diese politische Zielsetzung war die Strafrechtspflege eingespannt. Ihr Akzent lag auf der Abwehr von Angriffen gegen die deutsche Aufbauarbeit; keinesfalls sollte sie zur Stabilisierung und Verbesserung der "organischen Funktionen" des "polnischen Volkskörpers" beitragen. Die "Tat" des Polen interessierte also deshalb in erster Linie, weil man deutsche Aufbauarbeit vor Störungen durch widersetzliches Verhalten schützen wollte. Dies Schloß den Blick auf den polnischen "Täter" nicht aus, doch war die Betrachtungsperspektive - entsprechend dem Unrechtskern der "Polenstraftat" - eine grundsätzlich andere: Es ging ausschließlich darum, ob der Pole seine Gehorsamspflicht "schuldhaft" verletzt hatte; seine "innere Gesamthaltung" interessierte, aber nur unter dem Blickwinkel des Grades ihres "widersetzlichen" Charakters. Freisler spricht in diesem Zusammenhang als Maßfigur den "ordentlichen Schutzangehörigen" an, dessen prägender Persönlichkeitszug die "Botmäßigkeit" sein sollte, "die im äußeren Verhalten - Handeln und Unterlassen - ihren Ausdruck finden muß". Während vom "ordentli142 Dazu Freisler, DJ 1942, 28; Klinge, aaO; Pfundtner/Neubert/Grau (1933 ff.), II c 25, S. 5 (für Ziff. 2); zu "bedenklichen Folgerungen" aus der Gehorsamspflicht Grau, DJ 1942,227. 143 Vgl. Freister, DJ 1942,25; s. auch Grau, DJ 1942, 227; Klinge, DJ 1942,325 f. 144 Freister, aaO. 145 Dazu soeben ÄndG 1941 [Nr. 39] 2b. 146 Vgl. nur Freisler, DJ 1942,30; DR 1941,2632.

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chen Deutschen" Treue und Aufopferung verlangt wurde, erwartete man vom "ordentlichen Polen" Gehorsam und Unterwerfung gegenüber dem nationalsozialistischen "Deutschtum" und seinen Hoheitsträgern147. Den "Gesinnungsunwert" des Polendelikts sollte also die "unbotmäßige" Einstellung ausmachen. Dieser Kontext erhellt, was die Redeweise vom autoritären Tatstrafrecht für die Polen bedeuten sollte: Das (un-)botmäßige Verhalten ist Gegenstand strafrechtlicher Betrachtung. Keineswegs darf die Verwendung des Begriffs "Tatstrafrecht" aber so verstanden werden, als seien damit - etwa im Sinne der heutigen Begriffsbedeutung im Kontext eines rechtsstaatlichen Tatstrafrechts - irgendwelche Anforderungen an die Präzision von gesetzlichen Handlungsbeschreibungen verbunden gewesen148. Auch daß der "Täter" überhaupt nicht interessiert hätte, wäre ein Mißverständnis. Er trat freilich nicht als "Gesamtpersönlichkeit" ins Blickfeld, sondern nur in seiner - der relevanten Verhaltensstruktur entsprechenden "Widersetzlichkeit" gegenüber deutschen Befehlen149. Verengt auf die Perspektive der "widersetzlichen Einstellung" hat sich in der Strafrechtspraxis die "Täterbetrachtung" möglicherweise gleichrangig behaupten oder gelegentlich sogar in den Vordergrund schieben können. Während namentlich Grau, aber auch Freisler, die Verhaltensseite in den Vordergrund stellen, deutet Klinge an, der "Kern" typischen Polenunrechts solle in der Gesinnungsseite, in der widersetzlichen Einstellung liegen oder zumindest liegen können150. Eine Verbindung dieser Positionen konnte sich aus dem im deutschen Kriegsstrafrecht geläufigen "Vikariieren"151 ergeben; auch im Polenstrafrecht hat in der Praxis möglicherweise ein "Austausch" zwischen Tat- und Täterelementen stattgefunden, wie in einem Lagebericht des Generalstaatsanwalts von Kattowitz vom 2. März 1942 angedeutet ist. Das "Vikariieren" mußte sich dann freilich auf den Austausch von "Widersetzlichkeits"-Elementen in Tat und Täter beschränken152. Eine abschließende Klärung dieser Frage ist im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich und nicht erforderlich; sie würde eine Analyse des einschlägigen unveröffentlichten Materials der Rechtsprechung voraussetzen153. Der Begriff "autoritäres" Tatstrafrecht hat schließlich ebenfalls einen spezifischen Sinn, der sich nur aus seiner "weltanschaulichen" Unterlage erschließt. Die Kennzeichnung soll besagen, 147 Vgl. DJ 1942, 28. 148 Vgl. nur Grau, DJ 1942, 227 und Pfundtner/Neubert/Grau (1933 ff.), II c 25, S. 7 Anm. 5a S. 1. 149 Vgl. aber Majer (1981): Sie spricht einmal von einer "neuen Tattypik", einer "autoritären Tattypik" (S. 756 f.), dann heißt es unvermittelt, die Tat als solche" habe nicht mehr interessiert, sondern nur noch die in ihr zum Ausdruck kommende Gehorsamsmißachtung (S. 783 und schon S. 757). Der Gesamtvorgang wird als "Umwandlung des Schuldstrafrechts" - gemeint ist damit offenbar das Altreichsstrafrecht - "in ein 'objektives Tatstrafrecht" beschrieben, wofür u. a. die Nichtanwendung der Konkurrenzvorschriñen als Beispiel genannt wird (S. 757). Die Kontextabhängigkeit der Begriffe wird ignoriert; die Gegensatzbildung Schuldstrafrecht/Tatstrafrecht ist unverständlich. 150 Vgl. Grau, DJ 1942,227; Freisler, DJ 1942,25, aber auch 28; Klinge, DJ 1942,325. 151 Dazu oben 5b aa zur VolksschädlingsVO [Nr. 29]. 152 Vgl. in der hier genannten Richtung den bei Majer (1981), S. 757,783 zitierten Lagebericht des GStA Kattowitz v. 2. 3. 1942 (BA R 22/3372): Gegenstand strafrechtlicher Wertung sei "das Maß der mißachtenden Gehorsamspflicht", nicht "die Tat als solche", sondern "die in ihr zum Ausdruck gekommene Gehorsamspflichtmißachtung". 153 Majer (1981) hat das von ihr bearbeitete Material (S. 774 ff.) unter dieser, ihr nicht vertrauten, Perspektive nicht gesichtet.

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daß zwischen dem Deutschtum und dem Polentum ein Unterordnungsverhältnis ohne "blutsmäßiges Band" bestehe, daß also das Polenstrafrecht an die "Tatsache" dieser Unterordnung anknüpfe und nicht, wie das Deutschenstrafrecht, an eine "organische blutsbedingte Gliedstellung" in der deutschen Volksgemeinschaft. Es geht also bei der Verwendung des Attributs "autoritär" nicht um das Vorhandensein oder Fehlen von Befehlsstrukturen, sondern um die angeblich unterschiedliche Art dieser Befehlsstrukturen. Ihre Existenz innerhalb der staatlich organisierten deutschen Volksgemeinschaft wird nicht bestritten, sondern nur anders begründet: Der "Gehorsam" wird als Ausfluß der "völkischen Treupflicht" angesehen. Die "Gehorsamspflicht" des Polen dagegen erwächst nicht aus einer solchen Treupflicht, sondern aus der behaupteten "völkischen Unterlegenheit" des gesamten polnischen Volkstums gegenüber dem "deutschen Herrenvolk"154. bb) Der Geltungsbereich Gegenüber der EinführungsVO dehnte die PolenstrafrechtsVO den Geltungsbereich des materiellen Polenstrafrechts und die Vorschrift über das Verfolgungsermessen (Ziff. IV) auf Taten von Polen und Juden im Altreich aus, wenn diese Betroffenen am 1. September 1939 ihren ständigen Wohnsitz oder Aufenthalt im polnischen Staat hatten (Ziff. XIV). Damit wurde, "entsprechend der modernen nationalsozialistischen Strafrechtsauffassung", das Personalitätsprinizplss für entscheidend erklärt und die Konsequenz aus der "volksbiologischen" Begründung der Gehorsamspflicht gezogen. Das Polenstrafrecht sollte, so Freisler, nicht "ein Recht für frühere Staatsangehörige eines bestimmten Staates" sein, was es auch schon vor Erlaß der Polenstrafrechts VO für "Volksdeutsche" ehemalige polnische Staatsangehörige nicht war, sondern ein "Recht für polnische Volksangehörige" . Freilich konnte auch im Polenstrafrecht das volksbiologische Prinzip ebenso wie im Deutschenstrafrecht nicht in reiner Form durchgeführt werden. So wollte auch Freisler etwa für die seit Jahrzehnten in Deutschland lebenden deutschen Staatsangehörigen polnischer Abstammung eine "Ausnahme" machen157. Den praktisch maßgeblichen Begriff des "Polen" definierte Ziffer XV der Verordnung: Polen seien "Schutzangehörige" und "Staatenlose polnischen Volkstums". Da der Richter schwerlich im Einzelfall die Volkszugehörigkeit im Wege "volksbiologischer" Begutachtung ermitteln konnte, war auch hier, ähnlich wie beim Blutschutzgesetz158, eine leicht handhabbare Abgrenzung erforderlich:

154 Zum weltanschaulichen "Unterbau" Hitler, Zweites Buch, S. 53 ff., 81 f. 155 Vgl. für das Deutschenstrafrecht die GeltungsVO [Nr. 37], 156 DJ 1942, 25. 157 Zu den "Ausnahmen", beispielsweise für die vor dem 1.9.1939 im Reichsgebiet lebenden "polnischen Volksangehörigen", die auch nach dem "Versailler Diktat" im Reichsgebiet verblieben seien oder "seit ... Jahrzehnten in rheinisch-westfälischen Bergbaugebieten lebten", Freisler, aaO. Diese Menschen sollten deutsche Staatsangehörige bleiben und nicht der PolenstrafrechtsVO unterliegen. 158 Dazu [Nr. 17] 2.

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Wer Schutzangehöriger war, ergab sich aus der "Deutschen Volksliste"159, die Deutsche und Polen unterscheiden und damit den Anknüpfungspunkt für die gewünschte "völkische" Trennung schaffen sollte. Schutzangehöriger war danach jeder, der nicht nach Maßgabe der "Deutschen Volksliste" (§§ 3 f.), die von besonderen Behörden unter maßgeblicher Einschaltung des Reichsführers SS und Reichskommissars f ü r die Festigung des deutschen Volkstums Himmler, geführt wurde (§ 10), deutscher Staatsangehöriger war. Die "aktiven deutschen Volkstumskämpfer" sowie diejenigen, die sich "ihr Deutschtum bewahrt" hatten160, waren in die Abteilungen 1 und 2 der Volkstumsliste einzutragen und wurden damit automatisch deutsche Staatsangehörige. In Abteilung 3 wurden im wesentlichen deutschstämmige Personen mit gewissen Bindungen zum Polentum geführt, die aufgrund der zweiten Verordnung über die Deutsche Volksliste und die deutsche Staatsangehörigkeit in den eingegliederten Ostgebieten vom 31. Januar 1942161 ebenfalls mit der Eintragung (widerruflich) die deutsche Staatsbürgerschaft erlangten. Die "blutsmäßig durchmischten", aber "eindeutschungsfähigen" ehemals polnischen oder Danziger Staatsangehörigen wurden in Abteilung 4 geführt und erwarben erst mit ihrer Einbürgerung die deutsche Staatsangehörigkeit, waren bis dahin also nur "Schutzangehörige". Gleichwohl sollte wegen der staatlich anerkannten Einbürgerungsfähigkeit auf diesen Personenkreis das Deutschenstrafrecht Anwendung finden162. Gerichte und Staatsanwaltschaften waren grundsätzlich auf die formelle Prüfung der Eintragung in die "Deutsche Volksliste" beschränkt und an diese gebunden. Die unterschiedliche Eindeutschungspolitik im Warthegau und in Danzig-Westpreußen163 schlug damit unmittelbar auf den Geltungsbereich der PolenstrafrechtsVO durch. Die für die Führung der "Deutschen Volksliste" zuständigen Dienststellen hatten es darüber hinaus in der Hand, durch eine entsprechende Eingruppierung oder Umgruppierung einzelne Personen der PolenstrafrechtsVO - und den polizeilichen Standgerichten - zu unterstellen. Bei "Eindeutschungsfähigen" etwa führte die Begehung einer Straftat offenbar häufig zum Widerruf der Eindeutschungsfähigkeit, den sich Himmler als Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums für solche Fälle vorbehalten hatte. Mit der Deutschen Volksliste wurde also zugleich das Strafrechtsanwendungsrecht von den zuständigen Stellen nach "volkspolitischer" Zweckmäßigkeit verwaltet164. Staatenlos waren namentlich die im Generalgouvernement lebenden ehemaligen polnischen Staatsangehörigen; die "Judeneigenschaft" ergab sich aus den allgemeinen reichs-

159 1. VO über die Deutsche Volksliste und die deutsche. Staatsangehörigkeit in den eingegliederten Ostgebieten v. 4. 3. 1941, RGBl. I, S. 118 und 2. VO v. 31. 1. 1942, RGBl. I, S. 51. Zur Praxis der "Volksliste" Broszat (1961), S. 118 ff.; Majer (1981), S. 414 ff.

160 Vgl. Pfiindtner/Neubert/Globke (1933ff.),I b 10, S. 24. 161

Vgl. § 5 a. F. und n. F. (Fn. 159).

162 Vgl. Pfundtner/Neubert/Grau (1933ff.),II c 25, § 1 Anm. la, S. 3; Freister, DJ 1942,26. 163 Vgl. Broszat (1961), S. 118 ff. 164 Vgl. zu diesen Fragen Grau auf der Tagung der Chefpräsidenten und Oberstaatsanwälte v. 10. /II. 2. 1943, BA R 22/4200, S. 38; vgl. auch S. 27 f. Vgl. auch Sehr, des OLG-Präsidenten und des Generalstaatsanwalts Kattowitz v. 10.10.1942 an Thierack BA R 22/5013, Bl. 29: "Die Entscheidung über die Volkszugehörigkeit... obliegt ausschließlich den Dienststellen der Deutschen Volksliste. Diese Entscheidung ist als politischer Akt allgemein verbindlich".

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rechtlichen Vorschriften 165 . Aufgrund der 13. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 1. Juli 1943 wurden strafbare Handlungen von Juden durch die Polizei geahndet (§ 11); die PolenstrafrechtsVO galt damit für Juden nicht mehr (§ 1 Π) 166 . cc) Der Zentraltatbestand (Ziff. I Abs. 3) Die PolenstrafrechtsVO brachte den "allgemeinen Straftatbestand", dessen Fehlen Freisler als Mangel der EinführungsVO vom 6. Juni 1940 bezeichnet hatte 167 : Ziffer I Abs. 3 drohte Polen (und Juden) mit der Todesstrafe, in minder schweren Fällen mit Freiheitsstrafe, "wenn sie durch gehässige oder hetzerische Betätigung eine deutschfeindliche Gesinnung bekunden, insbesondere deutschfeindliche Äußerungen machen oder öffentliche Anschläge deutscher Behörden oder Dienststellen abreißen oder beschädigen, oder wenn sie durch ihr sonstiges Verhalten das Ansehen oder das Wohl des Deutschen Reiches oder des deutschen Volkes herabsetzen oder schädigen". Die Vorschrift enthielt damit zwei weitgespannte Teiltatbestände. Der "zentrale" und "allumfassende Tatbestand", der "Kristallisationspunkt" des gesamten Polenstrafrechts, war der zweite Teiltatbestand. Er erlaubte es, so Freisler, schlechterdings jede "aufbauwidrige Tat" zu erfassen 168 und gab, so Grau, "ein geeignetes Hilfsmittel, um jedem irgendwie gearteten strafwürdigen Verhalten angemessen begegnen zu können"169. Diese Art "Leistungsfähigkeit" und die "Elastizität" des zweiten Teiltatbestandes sind zweifelsfrei: Die Gesetzestechnik besteht darin, mit dem "Ansehen" und insbesondere mit dem "Wohl des Deutschen Reiches oder des deutschen Volkes" die materiellen Strafwürdigkeitskriterien, von denen im zeitgenössischen Kontext die Rede ist, zu Strafbarkeitsvoraussetzungen zu machen. Die Konkretisierung der "WohT-Formel setzte substantielle Bestimmungsgründe voraus und damit, innerhalb des zeitgenössischen Strafrechtssystems, die Vertrautheit mit den politisch-weltanschaulichen "Erfordernissen" aus nationalsozialistischer Sicht. Aus diesen Erfordernissen ergab sich, was das "Ansehen" oder das "Wohl" von Volk oder Reich herabsetzte oder gefährdete. "Rechtliche" und "politisch-weltanschauliche" Gesichtspunkte sind damit in der "gesetzlichen Vorschrift" der Ziffer I Abs. 3 2.Teil, so die zeitgenössische Sicht, untrennbar verschmolzen: "Richtschnur" für die Anwendung des zweiten Teiltatbestandes müßten "die in den eingegliederten Ostgebieten bestehenden staatspolitischen Notwendigkeiten sein", heißt es in der Kommentierung von Grau 170 . Der von der Verordnung "mit Offenheit" betonte "politische Charakter des Polenstrafrechts" 171 tritt also in diesem "Tatbestand" besonders augenfällig hervor. Für die Ausfüllung des zweiten Teiltatbestandes sollte namentlich die Gehorsamspflicht der Ziffer I von Bedeutung sein, so daß jeder Verstoß gegen Anordnungen deutscher "Autoritäten" als "Polendelikt" erfaßbar war. Beispielsweise sollten das verbotene Tragen des Volks165 Vgl. Pfundtner/Neubert/Grau (1933 ff.), II c 25, S. 4. Polnische Juden und Zigeuner konnten nicht Schutzangehörige sein, vgl. 2. VO über die Deutsche Volksliste v. 31.1.1942, RGBl. I, S. 51 Ziff. IV. 166 Dazu [Nr. 50]. 167 Vgl. oben 3e a. E. 168 Alle Zitate Freisler, DJ 1942,27. 169 Pfundtner/Neubert/Grau (1933ff.),II c 25, S. 1. 170 AaO, S. 7. 171 Freisler DJ 1942,29.

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deutschenabzeichens oder anderer deutscher Symbole172 ebenso wie der Verstoß gegen das bis dahin nur verwaltungsmäßige Verbot des Geschlechtsverkehrs zwischen Polen und Deutschen173 unter den Generaltatbestand fallen. In der Technik unmittelbarer Strafbewehrung behördlicher Anordnungen war die PolenstrafrechtsVO mit § 4 II der Verordnung zum Schutz von Volk und Staat vergleichbar174. Zu dem zentralen zweiten Teiltatbestand gesellte sich als "kleinerer, aber immer noch sehr bedeutsamer Bruder"175 der erste Teiltatbestand, der die Bekundung deutschfeindlicher Gesinnung unter Strafe stellte. Die Tatbestandsformulierung ("gehässige und hetzerische Betätigung") lehnte sich an § 2 Heimtückegesetz an, wobei die Begriffe entsprechend dem "polnischen Volkscharakter" mit denen des Heimtückegesetzes nicht identisch sein sollten176. Das Abreißen öffentlicher Anschläge wurde als Unterfall der deutschfeindlichen Gesinnungsbekundung gedeutet und mußte dementsprechend ebenfalls von "gehässiger" oder "hetzerischer" Betätigung zeugen177; andernfalls sollten die Sachbeschädigungstatbestände eingreifen. Der erste Teiltatbestand der Ziffer I Abs. 3 umfaßte nahezu den gesamten Einzugsbereich politischer Schutzgesetzgebung, namentlich alle im Deutschenstrafrecht nach dem Heimtückegesetz strafbaren Äußerungsdelikte. Die im Heimtückegesetz vorgeschriebenen Zustimmungsund Anordnungserfordernisse entfielen dadurch, was Freisler als "großen Gewinn" für "Schnelligkeit... und... Schlagkraft der Strafrechtspflege an Polen" verbuchte178. dd) Die Einzelvorschriften Um den doppelten Zentraltatbestand waren die Einzeltatbestände als spezifischere Formen der "Gehorsamspflichtverletzungen" gruppiert. Die Tatbestände der EinführungsVO, die ihrerseits auf die Gewalttaten VO zurückgingen, wurden dabei im wesentlichen übernommen179. Es entfielen die benannten minder schweren Fälle einer Gewalttat gegen Repräsentanten deutscher Autoritäten, die besondere Schärfung für vorsätzliche Brandstiftung, das Angehörigenprivileg bei Nichtanzeige von Verbrechen und die tätige Reue beim unerlaubten Waffenbesitz180. Der Wegfall dieser Schärfungen oder Milderungen konnte vom Tatrichter ausgeglichen werden, weil die PolenstrafrechtsVO die Strafdrohungen einheitlich für alle spezifischen "Polendelikte" auf Todesstrafe als Regelstrafe und auf Freiheitsstrafe in minder schweren Fällen festsetzte; lediglich für das Begehen einer Gewalttat gegen einen Deutschen wegen seiner Volkszugehörigkeit drohte zwingend die Todesstrafe (Ziff. I Abs. 2). 172 173 174 175 176 177 178 179 180

Vgl. Klinge, DJ 1942,325; Freisler, DJ 1942,28; Pfundtner/Neubert/Grau (1933 ff.), II c 25, S. 7. Grau, aaO. Weit. Beispiele bei Klinge, aaO, vgl. auch unten hh. Dazu oben [Nr. 2], Freisler, DJ 1942,27. Vgl. Klinge, DJ 1942,326 und oben 2c bei Fn. 71 f.; a. M. Pfundtner/Neubert/Grau (1933 ff.), Π c 25, S. 7: Die Begriffe seien durch die Rspr. zum Heimtiickeges. [Nr. 15] geklärt. Vgl. Grau, aaO. Freisler, DJ 1942, 28 (Das Heimtiickeges. werde "aufgezehrt"); vgl. auch Grau, aaO, der Tateinheit annimmt. Vgl. Ziff. I Abs. 2 und § 11, Ziff. I Abs. 4 Nr. 1 und § 8 I, Nr. 2 und § 9, Nr. 3 und § 10, Nr. 4 und §§ 13,141, Ziff. V und § 151, III (PolenstrafrechtsVO/EinführungsVO). Vgl. §§ 8 II, 12,14 II, 15 III EinführungsVO.

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ee) Die ("sinngemäße") Anwendung deutscher Strafgesetze (Ziffer II) Ziffer II der PolenstrafrechtsVO erklärte neben den Sondertatbeständen die deutschen Strafgesetze insgesamt für anwendbar und verzichtete, entsprechend der Linie der Praxis, auf eine Einzeleinführung. Bei der entsprechenden Gesetzesanwendung wurden anstelle des gesunden Volksempfindens (§ 2 RStGB) entsprechend der ständig geübten Praxis die "Staatsnotwendigkeiten" zum entscheidenden strafbarkeitsbegründenden Merkmal. Die Vorschrift lautete: "Polen und Juden werden auch bestraft, wenn sie gegen die deutschen Strafgesetze verstoßen oder eine Tat begehen, die gemäß dem Grundgedanken eines deutschen Strafgesetzes nach den in den eingegliederten Ostgebieten bestehenden Staatsnotwendigkeiten Strafe verdient".

In seinen Erläuterungen zur PolenstrafrechtsVO wies Freister nachdrücklich darauf hin, daß auch außerhalb analoger Gesetzesanwendung das deutsche Strafrecht eine "Charakteränderung" erfahre und daß die sonst geltenden allgemeinen (deutschenstrafrechtlichen) Grundsätze nicht "unbesehen" auf Polen anwendbar seien. Die Notwendigkeit "sinngemäßer" Abwandlung ziehe sich daher durch das gesamte für anwendbar erklärte deutsche Strafrecht. Freisler berief sich dabei auf die schon dargestellte andersartige Ausrichtung des Deutschenstrafrechts und des Polenstrafrechts181; sein Standpunkt war offensichtlich unbestritten und entsprach der Grundposition der bis dahin geübten Praxis182. Die "Charakteränderung" deutschen Rechts wurde auch in § 4 I der OstrechtspflegeVO anerkannt, wonach bei Auslegung und Anwendung des deutschen Zivilrechts von den "besonderen Erfordernissen" auszugehen war, "die sich aus der Eingliederung der Ostgebiete in das Deutsche Reich ergeben". § 4 Π dieser Verordnung bestimmte, daß eine Vorschrift, die "im Einzelfall" zu einem "dem Sinn der Eingliederung widersprechenden Ergebnis" führen müßte, "nicht anzuwenden" und stattdessen "so zu entscheiden" sei, wie es "dem Sinne der Eingliederung entspricht"183. ff) Die Strafen [1] Das Strafensystem Die PolenstrafrechtsVO etablierte ein eigenes Strafensystem, das Todesstrafe, Freiheitsstrafe, Geldstrafe und Vermögenseinziehung vorsah (Ziff. ΠΙ Abs. 1 S. 1 und Abs. 2 S. 1). Für die Todesstrafe galten die reichsrechtlichen Vollzugsarten. Als einzige Freiheitsstrafen kannte das Polenstrafrecht das Straflager und das verschärfte Straflager. Nach der Polenvollzugsordnung waren die Gefangenen in den Lagern unter voller Inanspruchnahme ihrer Arbeitskraft zu beschäftigen; die Arbeiten sollten möglichst "das deutsche Aufbauwerk im

181 Dazu oben 2c. 182 Vgl. Freisler, DJ 1942,29; Pfundtner/Neubert/Grau (1933 ff.), II c 25, S. 13; Klinge, DJ 1942,324 ff. 183 Vgl. VO über die bürgerliche Rechtspflege in den eingegliederten Ostgebieten v. 25. 9.1941, RGBl. I, S. 597. Zur grundsätzlichen, die bisherige Praxis bestätigenden Bedeutung des § 4 OstrechtspflegeVO Buchholz, DR 1941, 2480; Fechner, DR 1941, 2484 f.; Tautphaeus, DR 1941, 2467; Froböß, DR 1941,2465.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

Osten" fördern184. In den Rechtsfolgen wurde das Straflager im wesentlichen dem Zuchthaus gleichgestellt185. Die Geldstrafe kannte keine Höchstgrenze; Ersatzstrafe war das Straflager (Ziff. ΙΠ, Abs. 4). Die Vermögenseinziehung war gegenüber Polen und Juden ohne Einschränkung bei allen Straftaten als Hauptstrafe zugelassen186. Die in den §§ 31 ff RStGB vorgesehenen Ehrenfolgen der Zuchthausstrafe und die Ehrenstrafen entfielen: Die Nichtaufnahme der Ehrenstrafe, der Aberkennung bürgerlicher Ehrenrechte, erklärte sich ganz einfach "daraus, daß man jemandem eine politische Stellung, die er als Schutzangehöriger nicht hat, auch nicht absprechen kann"187. Das Strafensystem brachte den "sonderrechtlichen Charakter" des Polenstrafrechts zum Ausdruck. Die Einheitsfreiheitsstrafe "Straflager" ging offenbar auf Anregungen des FührerStellvertreters Bormann zurück; die ebenfalls vorgeschlagene Einführung der Prügelstrafe (!) für Polen und Juden wurde vom Reichsjustizministerium (Schlegelberger) abgelehnt188. [2] Das Strafrahmensystem Die PolenstrafrechtsVO hielt für die speziellen "Polendelikte" der Form nach an der herkömmlichen Strafandrohungstechnik fest, indem sie die jeweiligen Tatbestände mit einer Strafandrohung verknüpfte. "Unrechtsspezifische" Abstufungen zwischen den einzelnen Delikten sind - abgesehen vom Fall der Ziffer Π - aber nicht erkennbar, weil der Strafrahmen jeweils von Freiheitsstrafe, d. h. von Straflager mit mindestens drei Monaten Dauer189, bis zur Todesstrafe reichte. Die Strafrahmen waren damit außerordentlich weit und überließen das Finden der "richtigen" Strafe nahezu uneingeschränkt dem Richter. Die Verknüpfung von Strafandrohungen und Tatbeständen ist also zwar äußerlich beibehalten, die Strafrahmentechnik nähert sich aber wegen ihrer Konturlosigkeit einer vollständigen Entkoppelung von Tatbestand und Strafrahmen. Eine solche Entkoppelung führte die Verordnung für die einbezogenen deutschen Strafgesetze durch, indem sie einen einheitlichen Grundstrafrahmen aufstellte und mit einer doppelten Aufstufungsmöglichkeit ausstattete. Der Rahmen der Ziffer III Abs. 1 S. 1 reichte von Geldstrafe bis zu einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren Straflager. Die erste Aufstufungsmöglichkeit für schwere Fälle (Abs. 1 S. 2) sah verschärftes Straflager von zwei bis fünfzehn Jahren vor; die zweite Aufstufung für besonders schwere Fälle führte - auch bei jugendlichen 184 Vgl. Polenvollzugsordnung, AV des RJM v. 7.1.1942 (9170 Ost/2-IIa2 35), DJ 1942,35 und dort Ziff. 4,6; s. auch Pfundtner/Neubert/Grau (1933 ff.), II c 25, S. 14. 185 Grau, aaO; zu Differenzierungen vgl. Freister, DJ 1942,30. 186 Näher zu Geldstrafe und Vermögenseinziehung und zu den nicht anwendbaren reichsrechtlichen Vorschriften Grau, aaO. 187 Vgl. Freister, DJ 1942, 31. Zur Behandlung dieser Frage vor Erlaß der VO vgl. W. Wagner (1974), S. 636. 188 Vgl. Broszat (1961), S. 148 f. mit Nachw. 189 Auf der Tagung der Oberlandesgerichtspräsidenten und Oberstaatsanwälte v. 10. und 11. 2. 1943 wurde eine Senkung der Mindeststrafe von drei Monaten auf einen Monat Straflager befürwortet, um den Arbeitseinsatz der in leichten Fällen Verurteilten nicht unnötig lange unterbrechen zu müssen, vgl. BA R 22/4200, S. 52. Durch die 2. Durchführungs- und ErgänzungsVO v. 20. 12.1944, RGBl. I, S. 353 wurde Ziff. III Abs. 1 S. 2 der PolenstrafrechtsVO entspr. geändert (Art. 1 der VO 1944).

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Schwerverbrechern - zur Todesstrafe, "wenn die Tat von besonders niedriger Gesinnung zeugt oder aus anderen Gründen besonders schwer ist" (Ziff. III Abs. 2 S. 2). Dieser Einheitsstrafrahmen ebnete die systematische Unterscheidung der Straftaten ein und machte die Bildung von Deliktsgruppen nach Art der Rechtsgutverletzungen überflüssig: Die strafbare Handlung von Polen und Juden waren, so die in sich folgerichtige Konsequenz des Reichsgerichts, "innerhalb dieses Strafrahmens... nicht nach ihren verschiedenen Gattungen" zu unterscheiden, sondern nur nach schweren und besonders schweren Fällen. Es sei also, so das Reichsgericht, nicht zu fragen, ob sich die Tat von denen gleicher (deutschenrechtlicher) Gattung "in einer den Angeklagten belastenden Weise" abhebe; vielmehr sei zu prüfen, ob sich die "Straftat des Täters gegenüber allen nur möglichen (!) Straftaten von Polen als besonders schwer darstellt"190. Den Vergleichsmaßstab bildete auf der Basis dieser Logik gewissermaßen der "polnische Durchschnittsverbrecher", über dessen "Untat" der erfüllte (deutschenstrafrechtliche) Tatbestand noch kein abschließendes Urteil erlaubte. Erklärlich wird diese Einebnung der Strafrahmenabstufungen - und damit die Nivellierung heterogener deutschenstrafrechtlicher Unrechtsbeschreibungen - u. a. aus dem materiellen Bezugspunkt des Polenstrafrechts, der "Gehorsamspflichtverletzung": Es gibt bei Polendelikten, so die Auffassung des Verordnungsgebers, nur leichtere und schwerere Gehorsamspflichtverletzungen; die materiellen Einteilungsgesichtspunkte des Deutschenstrafrechts sind angesichts dieser grundsätzlich andersartigen Orientierung nicht übertragbar. Eine tatbestandliche Abstufung nach der Art und Schwere der "Gehorsamspflichtverletzung" und entsprechend differenzierte Strafrahmen erschienen dem Verordnungsgeber vielleicht möglich, sicher aber überflüssig und inopportun ("Keine gesetzlichen Bindungen!"): Er vertraute auf die sachgemäße Handhabung durch den von gesetzlichen Bindungen freigestellten Richter, der den "Besonderheiten jedes einzelnen Falles Rechnung zu tragen" in der Lage und aufgefordert war. Freilich wurde "die dadurch gewährte große Richtermacht" dem Richter nicht zur beliebigen Ausfüllung verliehen: Der Verordnungsgeber hatte die völkisch-rechtlichen Leitlinien der richterlichen Gestaltung in der Verordnung zum Ausdruck gebracht und wußte ihre Einhaltung sicherzustellen. Der Verordnungsgeber kannte und anerkannte die "Leistungen" der Praktiker der Ostgebiete und deren Orientierung an den "Aufbauerfordernissen". In diese Art von "Fähigkeiten und Leistungen" des deutschen Richters und damit zugleich "in dessen politisches Verständnis für die besonderen Aufgaben der Strafrechtspflege in den Ostgebieten" setzte der nationalsozialistische Gesetzgeber sein "großes Ziltrauen"191. Daß der Einheitsstrafrahmen durchgreifende Konsequenzen für die Anwendbarkeit von Vorschriften des Allgemeinen Teils des RStGB hatte, liegt auf der Hand: Die Dreiteilung der Straftaten in Verbrechen, Vergehen und Übertretungen (§ 1 RStGB) und alle an diese Einteilung anknüpfenden Vorschriften beruhten auf dem Vorhandensein abgestufter Strafandrohungen. Die "Polendelikte" wurden für das materielle Strafrecht generell als "Verbrechen" angesehen. Versuch, Beihilfe und erfolglose Anstiftung sollten deshalb grundsätzlich strafbar sein, die Strafverfolgungsverjährung sich nach den für Verbrechen maßgeblichen Vorschriften

190 Vgl. RGSt. 76,151,152 (Urt. v. 12.5.1942).

191 Vgl. die Formulierungen bei Pfundtner/Neubert/Grmi (1933 ff.), II c 25, S. 14.

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richten192. Die Notwendigkeit der Gesamtstrafenbildung entfiel, das Vorliegen oder Nichtvorliegen einer "Fortsetzungstat" spielte keine Rolle193. Der allgemeine Strafrahmen des Polenstrafrechts wurde in begrenztem Rahmen durch die Strafandrohungen des für Deutsche geltenden Strafrechts modifiziert. Die Todesstrafe war zwingend zu verhängen, wenn sie im Deutschenstrafrecht Vorgeschrieben war (Ziff. III Abs. 2 S. I)194. Nach Ziffer III Abs. 3 S. 1 durften die in deutschen Strafgesetzen bestimmte Mindestdauer einer Strafe und zwingend vorgeschriebene Strafen nicht unterschritten werden, so daß die deutschen Strafgesetze insgesamt eine "Sperrwirkung nach unten" entfalteten (Besserstellungsverbot). Diese Sperrwirkung entfiel aber (Ziff. III Abs. 3 S. 2), wenn sich die Tat "ausschließlich gegen das eigene Volkstum des Täters" richtete. Diese Unterschreitungsmöglichkeit zog die Konsequenz daraus, daß "eine aktive Pflege des polnischen Volkstums" nicht als Aufgabe des Polenstrafrechts angesehen wurde. Freisler nannte als Beispiele für die Durchbrechung der Sperrwirkung "vor allem Abtreibung, Kindestötung ... gleichgeschlechtliche Unzucht". Freilich müsse im konkreten Fall jede auch nur mittelbare Breitenwirkung auf das Deutschtum ausgeschlossen sein, weshalb beispielsweise gewerbsmäßige Abtreibung regelmäßig verfolgt werden müsse. Bei Eigentumsdelikten werde in aller Regel eine Strafverfolgung geboten sein, weil diesen gewöhnlich eine Nachahmungsgefahr innewohne195. Bei Straftaten gegen das eigene polnische Volkstum kam im Einzelfall auch die Nichtverfolgung der Tat im Rahmen des Opportunitätsprinzips in Betracht (Ziff. IV)196. Der Richter erhielt durch das Strafrahmensystem einen nahezu unbegrenzten Ermessensspielraum. Für die tatsächlich verhängten Strafen ist auf die Bemerkungen unter c zu verweisen. gg) Delegation; Rückwirkung Die PolenstrafrechtsVO sollte nach ihrer Ziffer XVIII am vierzehnten Tage nach Verkündung in Kraft treten; Ziffer XVII ermächtigte jedoch den Reichsjustizminister im Einvernehmen mit dem Reichsinnenminister, die "zur Durchführung und Ergänzung dieser Verordnung erforderlichen Rechts- und Verwaltungsbestimmungen zu erlassen und Zweifelsfragen im Verwaltungswege zu entscheiden". Damit bildete die PolenstrafrechtsVO mit den im Rahmen dieser weit gespannten Ermächtigung erlassenen Vorschriften einen Regelungsverbund. Die aufgrund der Ermächtigung erlassene Ergänzungsverordnung vom 31. Januar 1942 brachte eine Regelung der Rückwirkung. Sie legte den materiellen Strafbestimmungen der Ziffern I bis III fakultativ rückwirkende Kraft bei197. Die Handhabung der zeitlich unbegrenzten Rückwirkung wurde Gerichten und Staatsanwaltschaften überlassen. Die Staatsanwaltschaften waren angewiesen, bei Taten nach dem 1. September 1939 die erforderliche Zu192 Zusf. Grau, DJ 1942,226 f. 193 Vgl. RG DR 1943, 80l< (Urt. v. 10. 9.1942). 194 Die Todesstrafe sollte nach dem Sinn der Bestimmung auch bei der zwingenden oder neben der Todesstrafe fakultativen Androhung lebenslanger Freiheitsstrafe gelten (die VO kannte kein lebenslanges Straflager), vgl. Freisler, DJ 1942,31. 195 Freisler, aaO, 32. 196 Vgl. oben 3d aa. 197 RGBl. I, S. 52.

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Stimmung nicht zu versagen und sie für früher begangene Delikte nur zu erteilen, wenn es sich um eine schwere Gewalttat gegen einen Deutschen handelte oder wenn "andere besondere Gründe ... im Interesse der deutschen Aufbauarbeit" eine rückwirkende Anwendung der PolenstrafrechtsVO notwendig erscheinen ließen198. Die Ergänzungsverordnung bewies damit im übrigen wieder einmal, daß von einem "Rückwirkungsverbot" keine Rede mehr sein konnte, die Rückwirkung vielmehr nach Zweckmäßigkeit anzuordnen war oder eben nicht: Rückwirkung wurde verwaltet und zwar nicht einmal vom Gesetz- oder Verordnungsgeber selbst, sondern von untergeordneten Instanzen. hh) Zur Begriffsbildung im Polenstrafrecht Klinge, Oberlandesgerichtsrat in Posen, hat 1942 versucht, auf der Basis nationalsozialistischer "völkischer" Leitprinzipien ein teleologisches System der polenstrafrechtlichen Begriffsbildung zu formulieren199. Interesse verdient der Inhalt des Aufsatzes schon wegen des Versuchs einer allgemeinen Charakterisierung der zeitgenössischen Praxis. Er gibt aber möglicherweise auch eine Antwort auf die Frage, ob eine "strafrechtswissenschaftliche" Bearbeitung des von "politischen Notwendigkeiten" durchwirkten Polenstrafrechts aus zeitgenössischer Sicht möglich war200 und wie sie zu denken ist. Klinge unterschied "drei Gruppen von Fragen", deren "nähere Durcharbeitung vordringlich" erscheine. Die erste Fragengruppe betreffe "Inhalt und Umfang der Begriffe des Polenstrafrechts, insbesondere die Darstellung der leitenden Grundsätze, mit deren Hilfe die Begriffe auszuformen" seien. Der zweite Fragenkomplex beziehe sich auf die Anwendbarkeit des Allgemeinen Teils des Reichsstrafgesetzbuchs201; schließlich sei zum dritten die Strafbarkeit der Beteiligung Deutscher an spezifischen Polendelikten, d. h. solchen Delikten, die nur von Polen begangen werden könnten, klärungsbedürftig202. Klinges Interesse galt der ersten, das gesamte Polenstrafrecht übergreifenden Fragengruppe. Die Erwägungen Klinges betreffen dabei einmal die spezifischen Polendelikte und befassen sich exemplarisch mit dem Zentraltatbestand der Ziffer I Abs. 3 2.Teil. Zum anderen geht es um die nähere Inhaltsbestimmung von Tatbeständen und Begriffen, die an Vorschriften oder Merkmale des Deutschenstrafrechts anknüpfen. Diese Ausführungen waren namentlich für die Ziffer II der PolenstrafrechtsVO, für die "sinngemäße" Anwendung des Deutschenstrafrechts, von Bedeutung und damit für die gesamte deutsche Justizpraxis in den 198 RV des RJM v. 16.2.1942 bei Krug/Schäfer/Stolzenburg* (1943), S. 1122 f.; s. auch RV v. 26. 5.1942, aaO, S. 1123. 199 Vgl. Klinge, DJ 1942,324 ff. 200 Verneinend Majer (1981), S. 751 f. Dazu unten 6b cc. 201 Vgl. auch Freister, DJ 1942,29 linke Sp.; Grau, DJ 1942,226 ff. 202 Im RJM gab es den Entwurf einer "Verordnung über die Strafbarkeit der Beteiligung an strafbaren Handlungen von Polen und Juden", vgl. BA R 43 11/1512, Bl. 126 (1942); R 22/5013, Bl. 21 ff. Zu Bedenken wegen der "Verwischung der klaren Grenze zwischen Deutschen und Polen" durch akzessorische Behandlung der Deutschendelikte vgl. R 22/5013, Bl. 27, zur Alternative eines Tatbestandes "Herabsetzung des deutschen Volkstums", aaO, Bl. 103. Vgl. dazu auch Majer (1981), S. 759 ff.

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eingegliederten Ostgebieten. Klinge ging von der rechtstheoretischen Prämisse aus, daß "alle Rechtsbegriffe 'Funktionsbegriffe'" seien, die in Inhalt und Umfang nur für ein bestimmtes Beziehungssystem Gültigkeit hätten. Klinge berief sich dabei u. a. auf die Arbeiten von Schwinge, Bruns und Wolf203, die gezeigt hätten, daß "ein gleichlautendes Zeichen durchaus keine Gewähr" dafür biete, "daß man bei ihm jeweils auch den gleichen Begriff zu denken" habe, und daß "dasselbe Wort durchaus verschiedene Sachverhalte bezeichnen" könne. Dies gelte nicht nur im Verhältnis des Strafrechts zu anderen Rechtsgebieten, sondern auch innerhalb des Strafrechts, wie sich daran zeige, daß beispielsweise der Begriff der "Sache" keineswegs einheitlich sei. Die Sprache sei "eben trotz ihres Wortreichtums nicht vielgestaltig genug ... für jeden andersartigen Lebenssachverhalt auch ein besonderes Zeichen zur Verfügung zu stellen". So entspreche es durchaus "gesicherten wissenschaftlichen Ergebnissen", wenn für das deutsche Strafrecht gegenüber Polen darauf hingewiesen werde, daß es eine "Charakteränderung" gegenüber dem für Deutsche geltenden Strafrecht erfahre und von anderen Grundlagen aus zu handhaben sei: "Sinn und Zweck der Strafgesetze" bildeten das "leitende Prinzip für die Bildung der strafrechtlichen Begriffswelt", wobei es nicht nur "auf Sinn und Zweck der Einzelvorschrift" ankomme, sondern auch "auf die Strafrechtsordnung in ihrer Gesamtheit". Die Gesamtausrichtung des für Deutsche geltenden Strafrechts und des Polenstrafrechts sei aber durchaus verschieden: Während die deutsche Strafrechtsordnung gegenüber Deutschen die Aufgabe habe, die "blutbedingte sittliche Gemeinschaftsordnung des deutschen Volkes zu schützen", bestehe "Sinn und Zweck des Polenstrafrechts in erster Linie darin, die dem Deutschen Reich in den eingegliederten Ostgebieten erwachsenen Ordnungs- und Aufbauarbeiten vor Störungen oder Schädigungen zu bewahren". Daher begreife die PolenstrafrechtsVO das Verbrechen der Polen folgerichtig nicht als "Abfall von einer völkischen Sittenordnung", sondern als "Unbotmäßigkeit gegen die Autorität des Deutschen Reiches". Diese "andersartige Sinngebung" verleihe "dem Unrechtsgehalt der Polenstraftat ein besonderes Gepräge". Sie schaffe auch "den Ausgangspunkt, von dem aus die lebensechte Bestimmung des Unrechts, die Abgrenzung der strafwürdig erscheinenden von den strafrechtlich belanglosen Lebenssachverhalten und die Ermittlung von Grad und Maß der Unbotmäßigkeit in durchaus eigenständiger, auf das Polenstrafrecht beschränkter Art und Weise zu erfolgen" habe. Die "Unbotmäßigkeit" bilde damit den Unrechtskern der spezifischen Polendelikte und den Ausgangspunkt für die Konkretisierung der Strafbarkeitsgrenzen namentlich des Generaltatbestandes der Ziffer I Abs. 3 2.Teil PolenstrafrechtsVO. Als Beispiel nennt Klinge den bevorzugten Verkauf nicht bezugsbeschränkter, aber seltener Waren durch polnische Verkäuferinnen an Polen: Eine solche Tat sei als "Benachteiligung der zum Aufbau berufenen Deutschen ... und als Mißbrauch der deutschen Ordnungsarbeit" strafwürdig. Auch das Tragen deutscher Abzeichen durch Polen sei ein spezifisches Polendelikt, weil der Unrechtsgehalt ausschließlich darin zu sehen sei, daß "ein Pole sich als Deutscher zu tarnen versucht, um sich dadurch Vorteile oder eine Sonderstellung zu erschleichen"204. Ein vergleichbares Beispiel für die "Konkretisierung" der "Gehorsamspflicht" im Rahmen der Ziffer I Abs. 3 bietet eine nach 203 Klinge, DJ 1942, 324 zitiert Schwinge, Teleologische Begriffsbildung im Strafrecht, Bonn 1930; Bruns, Die Befreiung des Strafrechts vom zivilistischen Denken, Berlin 1938, bes. S. 112 ff., 167 ff.; E. Wolf, in: Die Reichsgerichtspraxis im deutschen Rechtsleben, Festgabe für das Reichsgericht, 5. Bd., Berlin/Leipzig 1929, S. 44 ff. 204 Alle Zitate Klinge, aaO, 325 (mit weit. Beispielen).

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Erscheinen des Aufsatzes von Klinge ergangene Rundverfügung des Reichsjustizministers vom 9. Juni 1942: Das Entweichen polnischer oder jüdischer Strafgefangener könne, anders als die nur disziplinarisch zu ahndende Flucht deutscher Gefangener, "auch eine kriminell strafbare Handlung bedeuten": Die gröbliche Verletzung der Gehorsamspflicht (Ziff. I Abs. 1) sei in allen Fluchtfällen evident; die Verletzung steigere sich zu einem Verbrechen nach Ziffer I Abs. 3 2.Teil, wenn es sich um einen Gefangenen handle, dessen "Aufenthalt in der Freiheit das Wohl des Deutschen Volkes" schädige, was "regelmäßig bei allen zu schwerer Freiheitsstrafe oder gar zur Todesstrafe verurteilten Gefangenen" zutreffe. J e schwerer also die verhängte Strafe war, desto intensiver sollte die "Gehorsamspflicht" des polnischen (oder jüdischen) Verurteilten sein, deren Vollzug über sich ergehen zu lassen. Ebenso wie das Entweichen, heißt es weiter, könnten sich "sonstige schwere und wiederholte Disziplinverstöße" polnischer (oder jüdischer) Gefangener "zu einem Verbrechen nach Ziffer I Abs. 3 der PolenstrafrechtsVO steigern"205. Klinge befaßt sich sodann mit der zweiten Hauptgruppe derjenigen Delikte und Begriffe, die Parallelen im deutschen Strafrecht hätten. Hier erfahre der "Unrechtsgehalt... durch die Tatsache, daß der Täter Pole ist", lediglich eine "besondere Erweiterung oder Abwandlung". Insoweit könne die "Rechtsprechung an Denkformen und Begriffe des deutschen Strafrechts anknüpfen", müsse sie jedoch den "Aufbau- und Ordnungsaufgaben gemäß" umformen. Das gelte etwa für die dem § 2 Heimtückegesetz entlehnten Worte "gehässige" und "hetzerische" Betätigung 206 , aber auch "bei politisch durchaus farblosen Tatbeständen, wie ζ. B. der Sachbeschädigung". Die "notwendige" Abwandlung "farbloser" Tatbestände erläutert Klinge anhand des folgenden Beispielsfalls: Einem Polen sei es gestattet worden, die Hausmeisterwohnung eines Neubaus zu beziehen, in dem einzubauende Türen und Fenster in einem Raum zusammengestellt worden seien. Von einigen dieser Türen und Fenster habe der Täter Schlösser und Scharniere abgeschraubt und verkauft. Die rechtliche Würdigung dieser Tat als Sachbeschädigung der Türen und Fenster 207 erschöpfe - abgesehen vom Zueignungsdelikt - den Unrechtsgehalt der Tat nicht. Es gehe nämlich weniger um die Sachbeschädigung als darum, daß "durch die Tat zugleich die deutsche Aufbauarbeit sabotiert" worden sei, für deren Fortschreiten der Wohnungsbau, die "Herstellung menschenwürdiger Wohnverhältnisse... von entscheidender Bedeutung" sei. Eine Bestrafung nach Ziffer II PolenstrafrechtsVO i. V. m. § 303 RStGB sei verfehlt, eine unmittelbare Anwendung des § 304 RStGB komme nach der Auslegung des Begriffs "dem öffentlichen Nutzen dienender Sachen" durch die Rechtsprechung nicht in Frage 208 . Der Praxis eröffneten sich aber zwei Wege, um zu einem "treffenden Ergebe nis" zu gelangen: Die Tat könne natürlich über Ziffer I Abs. 3 2.Teil Polenstrafrechts VO erfaßt werden. Von dieser Möglichkeit sei indes "sparsamer Gebrauch zu machen, damit der ursprüngliche Sinngehalt dieser Vorschrift nicht unnötig verwässert" werde. Vorzuziehen sei die eigenständige polenstrafrechtliche Begriffsbildung: In den eingegliederten Ostgebieten könnten, wie das Beispiel zeige, "Rechtsgüter, die sonst regelmäßig dem Lebenskreis des einzelnen 205 RV des RJM v. 9.6.1942 - 9170 Ost/2-IIIa2 1245/42 - bei Krug/Schäfer/Stolzenburg* (1943), S. 1123. 206 Vgl. Ziff. I Abs. 3 1. Teil PolenstrafrechtsVO; zur "eigenständigen" Ausformung dieser Begriffe vgl. oben Fn. 70 ff. 207 Zur Beschädigung zusammengesetzter Sachen durch Aufhebung der Gebrauchsfähigkeit vgl. RGSt. 74,13,14 f. (Urt. v. 18.12.1939). 208 Vgl. Schönkf? (1944), § 304 Anm. II 2c; zu landwirtschaftlichen Maschinen vgl. SG Danzig, DR (B) 1941, Beil. S. 25 (vgl. oben Fn. 114).

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zuzurechnen sind, zur Angelegenheit der Allgemeinheit werden". Daraus ergebe sich die Abwandlungsbedürftigkeit des Begriffs der "dem öffentlichen Nutzen dienenden Sachen", so daß Ziffer I Abs. 4 Nr. 2 der PolenstrafrechtsVO anwendbar sei209. Eine "wichtige Bestätigung" seiner Auffassungen sieht Klinge in der Entscheidung des Besonderen Strafsenats des Reichsgericht zur Bedeutung der Poleneigenschaft für die Strafzumessung nach § 1 des Änderungsgesetzes vom 4. September 1941210. Von den zentralen Erwägungen des Reichsgerichts sei die Strafrechtspflege des Ostens "fortlaufend maßgeblich" mitbestimmt, freilich nicht nur im Rahmen der Strafzumessung, sondern auch auf der Unrechtsbene. Die Leitgedanken des Polenstrafrechts müßten, so Klinge zur Vervollständigung seiner Erwägungen, nicht notwendig immer zu einer "Verstärkung des Unrechtskerns" führen, vielmehr könne die "Wertwidrigkeit des Verhaltens" durchaus auch gemindert erscheinen, insbesondere wenn sich die Tat nur gegen das eigene Volkstum des Täters richte (vgl. Ziff. ΠΙ Abs. 3 PolenstrafrechtsVO). Zusammenfassend meinte Klinge, "Ergebnisse der Wissenschaft wie auch Erwägungen der Rechtspraxis" zwängen zur Zurückhaltung bei der Verwendung deutscher Strafrechtsvorstellungen und -begriffe im Polenstrafrecht. Die Entwicklung einer "eigenständigen, von der deutschen Strafrechtsordnung abweichenden Begriffswelt" sei in mancherlei Hinsicht "unerläßlich"; "Aufbaugedanke und Ordnungsaufgaben in den eingegliederten Ostgebieten" seien die Leitprinzipien der "Unrechtsbestimmung und Begriffsausformung". Abschließend befaßt sich Klinge mit dem naheliegenden Einwand, die von ihm herausgestellten Leitprinzipien seien so vage, daß man sich darunter "zunächst nicht viel vorstellen könne". Klinge räumt ein, die Leitprinzipien seien "recht formale Gesichtspunkte", sucht diesen Gesichtspunkt aber durch die Erwägung zu relativieren, die "Logik" lehre, daß "grundlegende Prinzipien formaler Natur" sein müßten, weil "ihr notwendig weiter Umfang durch die Dürftigkeit ihres Inhalts erkauft werden" müsse. Die Richtigkeit dieser Ausführungen kann auf sich beruhen. Weitaus aufschlußreicher ist, welches praktische Vorgehen Klinge empfiehlt: Der Strafrichter müsse zur Konkretisierung der Leitprinzipien "jeweils den weiteren Schritt tun", sich im einzelnen Klarheit zu verschaffen, wie sich Aufbaugedanke und Ordnungsaufgabe in den verschiedenen Lebensabschnitten auswirkten, welche Forderungen sie stellten und "was sie daher [!] strafwürdig und strafrechtlich belanglos erscheinen" ließen. Um dies zu erkennen, müsse der Richter aber nicht mehr tun, als das "tägliche Geschehen in den Ostgebieten mit Aufmerksamkeit zu verfolgen". Dann sehe er, "in welcher Weise sich Ordnungsaufgabe und Aufbaugedanke in die Tat" umsetzten. Das "Leben selbst" zeige also dem Richter, "nach welchen Grundsätzen die Ordnung dieses Lebensraums erreicht" werde, das "Leben selbst" gebe Aufschluß über "Art und Wichtigkeit dieser Aufbau- und Ordnungsarbeiten" und liefere die "Gesichtspunkte für die Entscheidung, ob und in welcher Weise Unbotmäßigkeiten", die den Aufbau störten, geahndet werden müßten211. Kern der Argumentation Klinges ist also die Behauptung, was Ordnungs- und Aufbauarbeit ausmache - entsprechendes müßte für die "Staatsnotwendigkeiten" und für die "Gehorsamspflicht" der Polen gelten - sei aus der "Lebenswirklichkeit", nicht aus der strafgesetzlichen Norm zu erschließen; erst in 209 Klinge, DJ 1942,326. 210 Vgl. RG-BS-DJ 1942,265 (Urt. v. 20.11.1941) und dazu schon [Nr. 39] 2b cc. 211 Klinge, DJ 1942,326.

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Verbindung mit dem "Leben selbst" gewännen die teleologischen Prinzipien des Polenstrafrechts Gestalt. Damit werden die Strafbarkeitsgrenzen an die tatsächliche Entwicklung gekoppelt, ja sie werden erst durch die Erfordernisse der jeweiligen "Lage" bestimmt. Was aber macht nun das "Leben selbst" aus, was die sich wandelnde "Lage", und worin bestehen die von der deutschen "Aufbauarbeit" geschaffenen oder zu schaffenden Ordnungen? Sie sind in den Maßnahmen und Zielen der politischen Führung verkörpert, in deren Gesamtrahmen die Strafrechtspraxis eingebettet ist212. Klinge meint also mit dem "Leben selbst" die Art und Weise, in der die politischen Instanzen den Aufbau im Osten durchführen; die maßgeblichen "Grundsätze" sind die von der nationalsozialistischen Führung verfolgten Ziele; was eine "Aufbaustörung" und was damit "strafwürdig" ist, bestimmt sich aus dieser Perspektive. Daß von diesem Ausgangspunkt gesetzlich fixierte Tatbestandsgrenzen weder wünschenswert noch überhaupt möglich sind, ist evident: "Die Regel folgt der sich wandelnden Lage, für die sie bestimmt ist"213. Die Strafrechts-"Norm" ist aber nicht ausschließlich vergangenheitsorientiert, da sie nicht nur die schon geschaffenen Ordnungen schützt; sie gestaltet auch Zukunft, soweit sie zur Errichtung deutscher "Lebensordnung" gestalterisch beitragen soll: Materieller Unrechtskern des "Polenverbrechens" ist in objektiver Hinsicht die Störung der - sei es vorhandenen, sei es zu errichtenden - deutschen "Lebensordnung", die nichts anderes meint als die Summe der politischen Ziele, welche die nationalsozialistische Führung in den eingegliederten Ostgebieten verfolgte 214 . b) Das Strafverfahren aa) Gerichtszuständigkeit Erstinstanzliche Strafgerichte gegen Polen und Juden waren in den eingegliederten Ostgebieten auch ohne besondere gesetzliche Regelung aufgrund der Praxis der Staatsanwaltschaften allein Amtsgerichte und Sondergerichte 215 . Die "gesetzliche" Regelung durch Ziffer V Abs. 1 PolenstrafrechtsVO "bestätigte" diesen "verwaltungsmäßig erreichten Vorgang"216. Vor dem Sondergericht konnte die Staatsanwaltschaft in allen Sachen anklagen, vor dem Amtsgericht, wenn keine schwerere Strafe als fünf Jahre Straflager oder drei Jahre verschärftes Straflager zu erwarten war (Ziff. V Abs. 2). Die Strafgewalt des Amtsrichters war aber ebenso wie die des Sondergerichts unbeschränkt, so daß Ziffer V Abs. 2 nur den Charakter einer Weisung an die Staatsanwaltschaft hatte und keine Bindung mit Wirkung zugunsten des 212 Vgl. oben [Nr, 16] 2a, 2c, 10. 213 Cari Schmitt, Über die drei Arten (1934), S. 29. Vgl. auch aaO, S. 18,60. Klinge lehnt sich offenbar an das "konkrete Ordnungsdenken" an. Inwieweit sich die Praxis bewußt der Methode des "konkreten Ordnungsdenkens" bediente, interessiert hier nicht. Zum konkreten Ordnungsdenken vgl. Rüthers (1968), S. 293 ff.; zum "konkret-allgemeinen Begriff, der die vergleichbare Leistung einer Öffnung zur Lebenswirklichkeit erbringen sollte, aaO, S. 305 ff. 214 Zur "Lebensordnung" als der "Summe der rechtspolitischen Grundsätze und Forderungen des Nationalsozialismus" vgl. in anderem Zusammenhang Rüthen (1968), S. 311. 215

Vgl. oben 3d bb.

216 Vgl. Freister, DJ 1941,1130.

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Angeklagten erzeugte217. Rechtsmittelgericht für die Berufung gegen Urteile des Amtsrichters war das Oberlandesgericht (Ziff. VI Abs. 1), das auch über die Nichtigkeitsbeschwerde gegen Urteile der Sondergerichte zu entscheiden hatte (Ziff. X Abs. 2)218. Der Gerichtsaufbau sollte, wie an anderer Stelle schon dargelegt219, sicherstellen, daß nur die "mit den besonderen Verhältnissen und Notwendigkeiten dieser Gebiete aus eigener Anschauung und Arbeit" vertrauten Justizorgane mit den "örtlichen Polenproblemen" befaßt wurden, indem alle Zuständigkeiten grundsätzlich in den eingegliederten Ostgebieten verblieben220. Die Zuständigkeiten der Strafkammern und - wegen Nichtgeltung des Jugendstrafrechts - der Jugendgerichte entfielen nunmehr auch kraft ausdrücklicher gesetzlicher Regelung. Mit der "gesetzlichen" Allzuständigkeit der Sondergerichte wurde deren bisherige Arbeit anerkannt und der in den Ostgebieten "ganz besonderen Staatsnotwendigkeit einer schnellen, dabei aber natürlich doch sicheren Strafrechtspflege" Rechnung getragen221. Nach Majer wurden die Sondergerichte zum "fast ausschließlichen Instrument" der Kriminalitätsbekämpfung. Die wenigen vorliegenden Zahlen, die Majer nur teilweise erschlossen hat, zeigen freilich, daß das quantitative Schwergewicht eindeutig bei den Amtsgerichten lag222. Die Zuständigkeit des Volksgerichtshofs blieb unberührt, hatte aber in der Praxis nur geringe Bedeutung, weil offenbar die mit der PolenstrafrechtsVO geschaffenen Möglichkeiten "schneller und wirksamer" Strafrechtspflege ausreichten223 - von der Möglichkeit verfahrenslosen "polizeilichen" Vorgehens einmal ganz abgesehen224. Mit der erstinstanzlichen Zuständigkeit der Strafkammern entfiel der Rechtsmittelzug zum Reichsgericht nunmehr auch "kraft Gesetzes"; die verbliebene reichsgerichtliche Zuständigkeit für den außerordentlichen Einspruch hatte "wohl nur theoretische Bedeutung"225. bb) Erkenntnisverfahren Die PolenstrafrechtsVO gestaltete das "normale" reichsrechtliche Erkenntnisverfahren entsprechend den im materiellen Strafrecht leitenden sonderrechtlichen Prinzipien um; sie griff damit die in der EinführungsVO angelegten Tendenzen auf und vollendete sie.

217 218 219 220

221 222 223

224 225

Vgl. Freister, DJ 1942,41; Pfundtner/Neubert/Grau (1933 ff.), II c 25, S. 16. Zu Beschwerde und Wiederaufnahme vgl. Ziff. VI Abs. 2 und X Abs. 1. Vgl. oben 3d bb. Vgl. Freister, DJ 1942, 41; Pfundtner/Neubert/Grau (1933 ff.), II c 25, S. 16. Grau nannte als weiteren Grund, das RG habe nicht die Aufgabe, Einheit und Weiterentwicklung des Polenstrafrechts sicherzustellen, vgl. aaO. Vgl. Freister, DJ 1942,41. Vgl. Majer (1981), S. 764; Hervorhebung aaO. Vgl. auch 4c bei Fn. 262 ff. Vgl. W. Wagner (1974), S. 632 ff., 635; s. auch Freister, DJ 1942, 41 und DR 1941, 2629: "Das höchste Gericht des Deutschen Reiches ist nicht dazu da, sich mit örtlichen Polenproblemen der eingegliederten Ostgebiete strafrechtlich zu befassen". Dazu Broszat (1961), S. 152 ff.; Majer (1981), S. 793 ff., 806 ff. und unten 5. Vgl. Freister, DJ 1942, 41; Kaut (1971), S. 181 ff. und Lengemann (1974), S. 66 ff. erwähnen keinen Fall aus dem Polenstrafrecht der eingegliederten Ostgebiete.

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Eine konkrete Wertung anhand der "Aufbaunotwendigkeiten" ermöglichte in jedem Fall das schon aus der EinfiihrungsVO bekannte uneingeschränkte Opportunitätsprinzip (Ziff. IV), das jetzt unter den Voraussetzungen der Ziffer X I V für Polen und Juden auch im Altreich galt 226 . Die übrigen Verfahrensvorschriften galten - trotz entsprechender "Reformforderungen" von Justizpraktikern 227 - nur in den eingegliederten Ostgebieten; eine "verbesserte" verfahrensrechtliche Stellung von Polen (und Juden) kann daraus für das Gebiet des Altreichs aber nicht hergeleitet werden, weil die Strafkompetenzen hinsichtlich der polnischen Zivilarbeiter und der Juden von der Polizei ausgeübt wurden228. Die "Gehorsamspflicht" der Polen (und Juden) und ihre verminderte staatsrechtliche Stellung prägen die weitere Ausgestaltung des Strafprozeßrechts, nachdem die EinführungsVO lediglich Privat- und Nebenklage ausgeschlossen hatte. Die einzelnen Regelungen der PolenstrafrechtsVO haben teilweise Vorbilder und Nachfolger in dem für Deutsche geltenden Strafprozeßrecht, namentlich im Verfahrensrecht der Sondergerichte. Ziffer VI erklärte alle Urteile für sofort vollstreckbar. Das Berufungsrecht gegen amtsgerichtliche Urteile wurde lediglich der Staatsanwaltschaft zugestanden, ebenso das Beschwerderecht (Ziff. VI Abs. 1,2) 229 . Auch die Wiederaufnahme konnte nur der Staatsanwalt beantragen; im Falle sondergerichtlicher Verurteilungen hatte das Wiederaufnahmebegehren den Charakter einer Anregung zur Selbstkorrektur, weil das Sondergericht selbst über Wiederaufnahmeanträge entschied (Ziff. X Abs. 1). Die Nichtigkeitsbeschwerde stand dem Generalstaatsanwalt zu (Ziff. X Abs. 2) 2 3 0 . Privat- und Nebenklage wurden ausgeschlossen (Ziff. XI), ebenso das Recht auf Ablehnung deutscher Richter (Ziff. VIII) 2 3 1 . Diese Regelungen konkretisierten nach Freister die allgemeine staatsrechtliche Stellung der Polen zu dem Grundsatz, daß der polnische Schutzangehörige "in die Autorität deutschen Behördenwesens und deutscher Behördenentscheidungen nicht eingreifen kann, und daß er keinen Rechtsanspruch darauf hat, sie für seine privaten Belange tätig werden zu lassen"232. Verhaftung und Festnahme wurden bei dringendem Tatverdacht stets für zulässig erklärt, Verhaftungen wie Zwangsmittel konnte der Staatsanwalt anordnen (Ziff. VIII) 2 3 3 . Schließlich waren Polen und Juden im Strafverfahren nicht zu beeidigen (Ziff. IX). Bei Grau heißt es, das deutsche Gericht trete den "Zeugenaussagen von Polen und Juden stets mit Mißtrauen" gegenüber, die Aussagen von Polen und Juden hätten daher generell nur ge226 Vgl. oben 3d aa. 227 Auf der Tagung der OLG-Präsidenten und Oberstaatsanwälte v. 10. / I I . 2. 1942 wurde eine Erstreckung des Verfahrensrechts entspr. Ziff. XIV PolenstrafrechtsVO auf das Altreich befürwortet, vgl. BA R 22/4200, S. 54. Unabhängig von dieser gesetzlichen Neuregelung sollten polnische und russische Zeugen - namentlich in Verfahren gegen Deutsche - möglichst nicht vernommen werden, vgl. Thìerack, aaO, S. 33 f. 228 Vgl. 3. TeU E und 13. VO zum RBG [Nr. 51]. 229 Zum Rechtsmittelausschluß gegen sondergerichtliche Urteile § 26 VO v. 21.2.1940, RGBl. I, S. 405. 230 Im Deutschenstrafverfahrensrecht dem Oberreichsanwalt, vgl. § 34 aaO. 231 Zu Einschränkungen im Sondergerichtsverfahren vgl. § 19 aaO. Zur Entwicklung des Verfahrensrechts allg. 1. Teil A13b. 232 DR 1941,2633. 233 Vgl. § 5 4. VereinfachungsVO v. 13. 12. 1944, RGBl. I, S. 339 und allg. zur Machterweiterung der Staatsanwaltschaften A. Wagner, Umgestaltung (1968), S. 282 ff.; Schumacher (1985), S. 53 ff.

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ringen Wert234. Bei Falschaussagen waren freilich - "Gehorsamspflichtverletzung"! - die Vorschriften über Meineid und Falscheid "sinngemäß" anwendbar. Diese Einzelvorschriften setzten als Matrix noch das deutsche Strafverfahrensrecht voraus und hatten, isoliert betrachtet, jeweils den Charakter von Einzelmodifikationen. Den Kern des verfahrensrechtlichen Teils der PolenstrafrechtsVO bildete aber die Generalklausel der Ziffer XII, die als besonders einprägsam rechtsstaatswidrig und willkürlich gilt235. Sie lautete: "Gericht und Staatsanwalt gestalten das Verfahren auf der Grundlage des deutschen Strafverfahrensrechts nach pflichtgemäßem Ermessen. Sie können von den Vorschriften des Gerichtsverfassungsgesetzes und des Reichsstrafverfahrensrechts abweichen, wo dies zur schnellen und nachdrücklichen Durchführung des Verfahrens zweckmäßig ist".

Ziffer XII bildete das verfahrensrechtliche Gegenstück zur "sinngemäßen" Anwendung des materiellen Deutschenstrafrechts (Ziff. II), eine Globalermächtigung des Verordnungsgebers an Richter und Staatsanwälte zur "Abweichung" von dem für Deutsche geltenden Strafverfahrensrecht. Die "Polenstrafverfahrensordnung" konnte damit entsprechend den Leitprinzipien der Polenstrafrechtspflege ausgestaltet werden, um den "deutschen Aufbau" durch "zielstrebiges" und "effektives" Vorgehen zu fördern und den "Eigenarten des Polentums" Rechnung zu tragen. Die durch die Vorschrift bewirkte Freisetzung des "pflichtgemäßen Ermessens" entsprach der Gesamttendenz des für Deutsche geltenden Strafverfahrensrechts, das in sich von unterschiedlichen Graden der Ermessensfreiheit im Verfahrensrecht der ordentlichen Gerichtsbarkeit und der Sondergerichtsbarkeiten gekennzeichnet war236. Während aber das für Deutsche geltende Verfahrensrecht bereichsweise und schrittweise zunehmend "aufgelockert" wurde, radikalisierte die PolenstrafrechtsVO diese Tendenzen, indem sie den Endpunkt der Ermessensfreiheit, die völlig freie Verfahrensgestaltung ohne Schutzrechte des Angeklagten, erreichte. Die Verfahrensvorschriften waren zwar zur Wahrung der Einheitlichkeit des Verfahrensrechts offenbar nicht gänzlich entbehrlich, sie hatten aber ihre Verbindlichkeit gegenüber dem polnischen "Rechts"-Unterworfenen verloren und waren zu internen Richtlinien der Justizorgane geworden. Die nähere Ausgestaltung der Polenstrafverfahren auf der Basis des pflichtgemäßen Ermessens warf eine Reihe von Einzelfragen im Hinblick auf die Abänderung reichsrechtlicher Vorschriften oder Vorschriftengruppen auf, die hier entsprechend dem Schwerpunkt der Untersuchung nicht mehr zu behandeln sind237.

234 Vgl. Pfundtner/Neubert/Grau (1933 ff.), II c 25, S. 19; s. auch Freister, DJ 1942, 44. Die Geringschätzung des Weites der Aussagen polnischer oder jüdischer Zeugen kam auch in Art. II Abs. 1 der ErgänzungsVO v. 31.1. 1942, RGBl. I, S. 52 zum Ausdruck, der abweichend von §§ 250,251 RStPO generell die Vernehmung durch einen beauftragten oder ersuchten Richter zuließ. 235 Vgl. A. Wagner, Umgestaltung (1968), S. 274: Hier waren "auch die letzten Reste rechtsstaatlicher Garantien nicht mehr vorhanden". 236 Zu entspr. Tendenzen im Beweisrecht und zur "Beschleunigung" vgl. 1. Teil A13b. 237 Vgl. Freister, DJ 1942, 42 ff.; Pfundtner/Neubert/Grau (1933 ff.), II c 25, S. 21; zum ganzen vgl. auch A. Wagner, Umgestaltung (1968), S. 340 ff.; Majer (1981), S. 768 ff.

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cc) Das Richterbild [1] Der "politisch denkende" Richter Das nationalsozialistische Richterideal des materiellen und formellen Polenstrafrechts war der "politisch denkende"238 und "politisch geschulte"239 Richter240. Dieser Richtertypus tritt in der Phase der "sinngemäßen" Rechtsanwendung rechtsschöpferisch auf den Plan, indem er das für Deutsche geltende Strafrecht entsprechend den "Aufbaunotwendigkeiten" umformt 241 . Die PolenstrafrechtsVO setzt diesen politisch denkenden nationalsozialistischen Richter durchgängig voraus: Die "Staatsnotwendigkeiten" werden in Ziffer II zum strafbarkeitsbegründenden Merkmal erklärt; die "Gehorsamspflicht" der Ziffer I Abs. 1 kann in ihrer Verbindung zum Generaltatbestand der Ziffer I Abs. 3 nur deijenige Richter "zutreffend" im Sinne des nationalsozialistischen Verordnungsgebers konkretisieren, der mit den Erfordernissen der jeweiligen "Lage" vertraut ist. Zu "lebensechter" Unrechtserfassung im oben beschriebenen Sinne242 ist nur der Richter befähigt, der die Ziele der Führung und die aktuellen Notwendigkeiten, die sich aus dieser Perspektive ergeben, erfaßt. Im Verfahrensrecht setzen das "pflichtgemäße Ermessen" nach Ziffer XII und die damit verbundene Globalermächtigung zur eigenständigen Verfahrensgestaltung "Verständnis" für die Gesamtausrichtung des Polenstrafrechts voraus, die nur aus dem Zusammenhang mit den politischen Zielen der Führung begreiflich wird. Der Gerichtsaufbau trug diesen Umständen Rechnung, indem er darauf abzielte, die Zuständigkeiten bei den "ortskundigen" richterlichen "Sachkennern" der Ostgebiete zu belassen. Die Organisation der Rechtsprechung und die Personalpolitik wurden im vorstehenden Text nicht näher behandelt. Ihre markanten Merkmale fügen sich bruchlos in das Bild des "politisch denkenden" Richters. [2] Richterbild und Lenkungsmaßnahmen Die Notwendigkeit einer Steuerung der Strafrechtspflege ergibt sich aus der Sicht des materiellen Strafrechts aus der Verschmelzung von strafbarkeitsbegründenden Merkmalen und "politischen Notwendigkeiten": Wenn die Kenntnis der politischen Ziele der Führung zur "richtigen und lebensechten" Strafrechtsanwendung unerläßlich ist, muß der Richter über diese Ziele unterrichtet werden. Auch die "richtigen" Mittel der Zielerreichung kann, setzt man die Grundverbindung von Strafgesetz und Politik voraus, nicht der einzelne Richter bestimmen, sondern nur die politische Führung. Diese hat die Einschätzungsprärogative, nicht der einzelne Richter, zumal dieser "von seiner Frontstellung aus die gesamte Front nicht zu 238 Vgl. Froböß, DR 1941,2466. 239 Vgl. Tautphaeus, DR 1941,2467. 240 Vgl. auch Freister, DJ 1942, 46 und DJ 1941, 716 (Ansprache anläßlich der Amtseinführung des OLG-Präsidenten und Generalstaatsanwalts in Kattowitz: Der Richter als "des Führers politischer Soldat"); Drendel, DR 1941, 2473 (s. oben bei 3d aa zu Fn. 129); Pfundtner/Neubert/Grau (1933 ff.), II c 25, S. 14: Der Verordnungsgeber vertraue in "politisches Verständnis" des Richters; s. auch Enke, DR 1941,2489,2491 sowie die weit. Nachw. bei Majer (1981), S. 722, Fn. 15,17. 241 Vgl. oben 2b, c. 242 Vgl. soeben 4a hh.

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übersehen vermag". Lenkungsmaßnahmen verhindern, daß der Richter "auf sich allein gestellt" bleibt, sie sichern zugleich die Einheitlichkeit der Rechtsprechung243. Auslegungsanweisungen sind selbstverständliche Mittel zur richtigen Orientierung der Rechtsprechung 44 . Eine Bindung an die Einschätzung der politischen Führung und ihre Richtlinien erscheint dem "politisch denkenden" Richter nicht als Einschränkung seiner Unabhängigkeit, die er "durch die rechtspolitische Steuerung der Rechtspflege ebensowenig berührt" sieht, "wie etwa durch die amtliche Begründung und Erläuterung oder die Präambel zu einem Gesetz"245. Hinweise und Richtlinien werden zur notwendigen Ergänzung des Gesetzes; sie sollen verhindern, daß durch die Bezugnahme des "Gesetzes" auf wechselnde "Sachlagen" die einheitliche Ausrichtung der Rechtsprechung verloren geht. Die Lenkungsmaßnahmen füllen die Steuerungslücke, die durch den Wandel der Gesetzesfunktion und der Gesetzestechnik entstanden ist. So gesehen bedeuten die Lenkungsmaßnahmen nicht nur keine Einschränkung der richterlichen Unabhängigkeit, sondern ihre Basis und die Voraussetzung für die richterliche "Freiheit" in "vorwärtstreibender rechtsschöpferischer Betätigung" und in der Beurteilung des Einzelfalls246. [3] Richterbild und Personalpolitik: Die Einheit von Partei und Staat Dem Richterbild entsprach die Personalpolitik in den eingegliederten Ostgebieten: Die Einheit von Partei und Staat sollte dort "in der zu erreichenden Vollkommenheit"247 durchgeführt werden. Die auch im Altreich erhobene Forderung nach aktiver Mitarbeit in der NSDAP oder einer ihrer Gliederungen248 wurde für die Richter der Ostgebiete für unabdingbar erklärt. Die laufende Unterrichtung des Justizpersonals über die politischen Zielsetzungen könne, so Tautphaeus, nur die allgemeine Richtung zeigen; zum Erwerb der "unentbehrlichen Einzelkenntnisse und Erfahrungen" sei die "aktive Mitarbeit" jedes Richters in dem von der NSDAP getragenen "Volkstumskampf1 unerläßlich; zudem erfordere die "Fülle der ... Aufgaben" des "deutschen Aufbauwerks" zwingend die aktive außerberufliche Anteilnahme der Richter am Leben der Volksgenossen. Jeder Richter mußte deshalb in den eingegliederten Ostgebieten in der NSDAP oder einer ihrer Organisationen aktiv mitarbeiten, andernfalls war er abzulösen oder zu entlassen249. Über die "aktive Mitarbeit" in der NSDAP wurde "soweit als möglich" auch die "personelle Einheit" von Partei und Staat durchgeführt, indem der "Rechtswahrer", in erster Linie der Richter, "als politischer Leiter oder Beauftragter" Parteiämter bekleidete. Der Richter nahm dann selbst an der "Aufstellung und Ausarbeitung der politischen Forderungen" teil, und war so befähigt, die seine richterliche Tätigkeit leitenden "politischen Notwendigkeiten ... aus sich

243 244 245 246 247 248 249

Vgl. Tautphaeus, DR 1941,2467; s. auch Freister, DJ 1942, 46 und die weit. Nachw. bei Fn. 240. Vgl. etwa RV des RJM v. 9.6.1942 bei Fn. 205. Tautphaeus, DR 1941,2467. AaO. AaO; s. auch Freister, DJ 1940,1126 ff. Vgl. dazu etwa Weinkauff, Justiz und Nationalsozialismus (1968), S. 121; Schorn (1959), S. 35 ff. So Tautphaeus, DR 1941, 2466 f. für den Warthegau; s. auch Freister, DJ 1940, 1126 ff.; Froböß, DR 1942, 2466.

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heraus zu erkennen". Ein "Zwiespalt in den Auffassungen und Handlungen von Partei und Staat" war dadurch ausgeschlossen und in diesem Sinne die Justiz "absolut nationalsozialistisch"250. Wieweit die Realität diesen Beschreibungen entsprach, kann hier nicht abschließend geprüft werden; daß es sich nicht nur um Lippenbekenntnisse örtlicher Justizführer handelte, belegen schon die Beiträge Freislers. Aufgrund der vorliegenden Äußerungen ist zu vermuten, daß die Justiz der eingegliederten Ostgebiete tatsächlich "nationalsozialistischer" ausgerichtet war, als die Altreichsjustiz im allgemeinen251. Die systemimmanente Notwendigkeit nationalsozialistischer Ausrichtung ergab sich jedenfalls aus der spezifischen Aufgabenstellung im Osten ("Volkstumskampf"); die Möglichkeit des Neuaufbaus von Verwaltung und Justiz ohne Bindung an überkommene Personalstrukturen hat die Eingliederung der Justiz in die gesamte staatliche "Aufbauarbeit" und in die "Arbeit" der NSDAP offenbar begünstigt. [4] Das Richterbild im Polenstrafrecht und im Deutschenstrafrecht Der "politisch denkende" Richter war keine Sondererscheinung des Polenstrafrechts: Der "Richter des Ostens" wies die besonderen Kennzeichen des "nationalsozialistischen deutschen Richters" auf, von dem Rothenberger "ausgeprägtes politisches Denken" verlangte: Der "deutsche Richter" müsse ein "instinktsicherer Nationalsozialist" sein, "der ein Organ hat für die großen politischen Ziele der Bewegung"252. Für diesen neuen Richtertypus war der Osteinsatz eine "praktische hohe Schule"253: Hier lernte der deutsche Richter den "Lebenskampf des deutschen Volkstums in seiner Größe, seiner Härte und seinem unerbittlichen Ernst kennen", lernte er die "scharfe Trennung zwischen deutschem und feindlichem Volkstum sehen" und schärfte so entscheidend "sein politisches Bewußtsein"254. Wer sich im Osten bewährt habe, den könne man deshalb, so Freisler, auch "in anderen Gauen an besonders verantwortungsvolle Arbeit" stellen255. Auf der Basis dieser Äußerungen ließ die "Ostarbeit" also lediglich einen bestimmendenen Wesenszug des nationalsozialistischen Richterbildes besonders deutlich hervortreten. c) Zur empirischen Seite der Zuständigkeit und der Strafzumessung Die statistische Erfassung des justizförmigen Polenstrafrechts und der effektiv ausgeworfenen Strafen ist nicht Aufgabe dieser Untersuchung. Die empirische Seite des Polenstrafrechts vollständig zu erschließen, stößt im übrigen auch wegen Fehlens oder Unzulänglichkeit 250 Vgl. Tautphaeus, aaO für den Warthegau. - Für den OLG-Bezirk Posen vgl. Drendel, Generalstaatsanwalt in Posen, DJ 1942,188: Der "Staatsanwalt von heute ist Nationalsozialist"; s. auch Freisler, DJ 1940,1126 fT. mit Beispielen zur Personalpolitik und zur Organisationsstruktur. 251 Vgl. Majer (1981), S. 722. 252 Der deutsche Richter (1942), S. 53. - Hitler billigte die Reformpläne Rothenbergers (OLG-Präsident in Hamburg), der laut Lammers wegen dieser Pläne als Staatssekretär in das RJM berufen wurde, vgl. Weinkauff, Justiz und Nationalsozialismus (1968), S. 151 mit Nachw. 253 Freisler, DJ 1941,738; vgl. auch DJ 1940,1127. 254 Tautphaeus, DR 1941,2468. 255 DJ 1941,738.

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der Materialien auf Schwierigkeiten256. Zu verweisen ist auf das bei Majer unterbreitete Material257, wobei jedoch die Schlußfolgerungen Majers Vorbehalten begegnen, wie sogleich zu zeigen ist. Hier soll nur eine Vorstellung von den zahlenmäßigen Dimensionen vermittelt werden, in denen sich die Polenstrafjustiz bewegte. Daß die materiell- und formellrechtlichen Grundlagen der Strafrechtspraxis, etwa die "teleologischen" Leitprinzipien und das Richterbild, zu nichts Gutem führen konnten, ist klar. Das verleitet manche Autoren dazu, in ihren Beschreibungen die offenkundig üblen Geschehnisse noch zu übersteigern, etwa kurzerhand festzustellen, die PolenstrafrechtsVO habe "als Sanktionen nur das Straflager, das hieß Konzentrationslager, und die Todesstrafe" gekannt258 oder den Eindruck zu erwecken, die Strafjustiz habe "grundsätzlich" die Todesstrafe verhängt259. Die Realität war schlimm genug. Ihr schlimmer Charakter ist auch ohne Übersteigerung durch solche Superlative offenkundig. Ein wesentliches Indiz für die tatsächliche Handhabung des Polenstrafrechts ist die Verteilung der Polenstrafsachen auf Amts- und Sondergerichte. Die Sondergerichtszuständigkeit konnte nach der PolenstrafrechtsVO in jeder Sache durch die Staatsanwaltschaft begründet werden. Eine Anklage vor dem Amtsgericht war bei einer Straferwartung von bis zu fünf Jahren einfaches oder bis zu drei Jahren verschärftes Straflager zugelassen (Ziff. V Abs. 2). Nach Majer waren die Sondergerichte nicht nur das wichtigste "Instrument für die Sonderbehandlung 'fremdvölkischer Straftäter'"; man habe vielmehr die Linie verfolgt, die "Sondergerichte zu alleinigen Instrumenten der Strafverfolgung von 'Fremdvölkischen' zu machen"260. Majer konstatiert, die Sondergerichte seien in den eingegliederten Ostgebieten zum "fast ausschließlichen Instrument" der Bekämpfung polnischer und jüdischer Kriminalität geworden261. Für den Oberlandesgerichtsbezirk Danzig mit den Sondergerichten Bromberg, Danzig, Graudenz, Könitz und TTiorn liegen für den Zeitraum vom 1. 1. bis 30. 9. 1942 genaue Zahlen vor, welche die Annahme Majers jedenfalls für diesen Bezirk widerlegen. Die einschlägigen Zahlen wurden im Zusammenhang mit der geplanten Übertragung der Polenstrafrechtspflege auf die Polizei vorgelegt, um zu dokumentieren, "daß mit dem Fortfall der Polensachen die Sondergerichte und die Amtsgerichte des Bezirks den überragenden Teil der bisher angefallenen Strafsachen verlieren würden". Im gesamten Oberlandesgerichtsbezirk Danzig waren danach im fraglichen Zeitraum insgesamt 4242 Polensachen anhängig, davon 551 (12,98 %) bei den Sondergerichten und 3691 (87,01 %) bei den Amtsgerichten. Gegen Deutsche waren im gleichen Zeitraum insgesamt 7248 Verfahren anhängig, davon 468 (6,45 %) bei den Sondergerichten und 6780 (93,54 %) bei den Amtsgerichten . Der sondergerichtliche Anteil war also bei Polenstrafsachen etwa doppelt so hoch wie in Deutschenstrafsachen. Unklar ist, in welchem Umfang sich die Polizeizuständigkeit für "Kleinkriminalität"263 zu Lasten der amtsgerichtlichen Zuständigkeit auswirkte. Klar dokumentiert ist freilich, daß das zahlenmäßige 25« 257 258 259 260 261 262

Vgl. Majer (1981), S. 774. AaO, S. 774 ff. I. Müller (1987), S. 170. AaO, S. 167. Majer (1981), S. 766. AaO, S. 764; Hervorhebung aaO. Zu dem Zahlenmaterial vgl. BA R 22/5013, S. 51 f., Sehr, des Oberlandesgerichtspräsidenten und des Generalstaatsanwalts Danzig ν. 15.10.1942 an den RMdJ Thierack. 263 Dazu sogleich d.

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C. Die zweite Phase: 1939 bis 1945

Schwergewicht der gerichtlichen Tätigkeit gegenüber Polen eindeutig bei den Amtsgerichten lag. Es mag sein, daß in anderen Bezirken die Verhältnisse anders lagen. Majers nicht näher belegte Behauptung von der "fast ausschließlichen" Sondergerichtszuständigkeit würde freilich eine Umkehrung der Größenordnungen voraussetzen. Zur Strafzumessungspraxis liegt nur spärliches Material vor. Die Sanktionspalette des Polenstrafrechts wurde von der Justiz offenbar in vollem Umfang ausgeschöpft. Die Gesamtzahl der nach der PolenstrafrechtsVO Verurteilten betrug 1942 - einschließlich des Altreichs 63786 Personen, von denen 930 zum Tode verurteilt wurden, 2107 zu verschärftem und 43180 zu einfachem Straflager 264 ; der Anteil der Geldstrafen war danach beträchtlich. Daß die Justiz gegenüber Polen bei vergleichbaren äußeren Sachverhalten schärfer vorging als gegenüber Deutschen legten schon die Ziele des Polenstrafrechts nahe; das Reichsgericht selbst anerkannte im übrigen eine Strafschärfung wegen der polnischen Volkszugehörigkeit 265 . So verwundert es nicht, wenn Majer feststellt, die Todesurteilsrate habe für Polen bei Verurteilungen nach dem Polenstrafrecht etwa fünfmal höher gelegen als für die Gesamtzahl der Verurteilungen Deutscher 266 . Freilich wirkte sich auch hier die Polizeizuständigkeit für "Kleinkriminalität" in nicht festgestelltem Umfang aus267. d) Polizeiliche Strafgewalt Aus der PolenstrafrechtsVO wurden polizeiliche Strafbefugnisse hergeleitet, die zu skizzieren sind. aa) Standgerichtliche Verfahren (Ziff. XIII) Ziffer XIII Abs. 1 ermächtigte den Reichsstatthalter (Oberpräsidenten), der in Personalunion auch Gauleiter der NSDAP war, zur Bekämpfung "schwerer Ausschreitungen gegen Deutsche" sowie von Taten, "die das deutsche Aufbauwerk ernstlich gefährden", Standgerichte einzusetzen; die Zustimmung des Reichsministers des Inneren und des Reichsjustizministers war erforderlich. Strafe war allein die Todesstrafe; das Standgericht konnte auch von Strafe absehen und "stattdessen die Überweisung an die Geheime Staatspolizei aussprechen" (Ziff. ΧΙΠ, Abs. 2)268. Solche Standgerichte wurden eingesetzt; sie waren von den Kräften der Sicherheitspolizei beherrscht. Wieweit sie tätig wurden, ist nicht geklärt 269 . Von prinzipiellem 264 Vgl. die Zitate aus der vertraulichen Reichskriminalstatistik bei Broszat (1961), S. 157 Fn. 2 und Majer (1981), S. 791. 265 Vgl. oben zu [Nr. 39] 2b. 266 Majer (1981), S. 791. 267 Zu weiteren Einzelheiten und regionalen Unterschieden Majer (1981), S. 774 ff. 268 Nach dem Verordnungswortlaut war die "Überweisung" also gerade ("statt dessen") keine "Strafe", so aber Broszat (1961), S. 152; der Einbau der "Überweisung" an dieser Stelle verdeutlichte freilich das Ineinandergreifen von Standgerichten und Gestapo; eine gesetzliche Anerkennung der Strafzuständigkeit der Gestapo kann man aus dem Wortlaut der Vorschrift nicht herauslesen. Die Einführung und Zusammensetzung der Standgerichte als solche scheint mir den deutlicheren "gesetzlichen" Hinweis auf die polizeiliche Strafkompetenz zu enthalten. 269 Zu den Standgerichten Material bei Majer (1981), S. 809 ff.

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Interesse ist aber die mit der Möglichkeit standgerichtlicher Verfahren institutionalisierte Polizeikompetenz zur Strafverfolgung von Polen und Juden. bb) Die polizeiliche Strafverfügung § 413 RStPO räumte den Polizeibehörden bei Übertretungen unter bestimmten Voraussetzungen die Befugnis zum Erlaß von Strafverfügungen ein. Mit der Beseitigung der Dreiteilung der Straftaten durch die PolenstrafrechtsVO entfiel der Anknüpfungsgegenstand des § 413 RStPO270. Schon Anfang 1942 hob Grau hervor, das Recht der freien Verfahrensgestaltung lasse es zu, bei "leichten Straftaten" polnischer und jüdischer Täter von dieser Verfahrensart - und vom Strafbefehlsverfahren (§ 407 RStPO) - Gebrauch zu machen271. Auf das Recht der "freien Verfahrensgestaltung" berief sich dann ein Runderlaß Himmlers in seiner Eigenschaft als Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei im Reichsministerium des Inneren vom 15. Juni 1942, den der Reichsjustizminister durch Rundverfügung vom 21. Juli 1942 den Justizbehörden mitteilte. Kraft des Rechts der freien Verfahrensgestaltung wurden Rechtsmittel gegen die polizeilichen Strafverfügungen ausgeschlossen; Rechtskraft sollte mit der Bekanntgabe der Verfügung an den Täter eintreten. Als Strafen wurden - unter deutlicher Überschreitung des von §413 RStPO für das Deutschenstrafrecht gesteckten Rahmens Straflager von mindestens drei bis sechs Monaten oder Geldstrafe von mindestens drei Reichsmark bis höchstens zehntausend Reichsmark vorgesehen272. Die Polizei konnte damit den gesamten Bereich der alltäglichen Kleinkriminalität "betreuen"273. Bemerkenswert ist außer diesem Inhalt und den Konsequenzen der Verordnung ihr Erlaß durch Himmler. Zum Erlaß von Durchführungsvorschriften zur PolenstrafrechtsVO war der Reichsminister der Justiz "im Einvernehmen" mit dem Reichsminister des Inneren ermächtigt (Ziff. XVn)274. Himmler handelte zwar als Chef der Deutschen Polizei "im" Reichsministerium des Inneren und damit im Rahmen der Zuständigkeit dieses Ministeriums, konnte den Runderlaß aber offenkundig nicht auf Ziffer XVII der PolenstrafrechtsVO stützen. Himmlers Vorgehen war deshalb nach Majer von "offensichtlicher Illegalität"275. Der zeitgenössische nationalsozialistische Rechtsbegriff läßt solche Illegalität freilich zweifelhaft erscheinen, weil originäre ungeschriebene und vom Führerwillen abgeleitete Kompetenzen für möglich erachtet und von der Polizei behauptet wurden. Solche gesetzlich nicht festgelegten Kompetenzen wurden von der Polizei sogar für das Gebiet der Bekämpfung schwerer Verbrechen in Anspruch genommen276. Unter diesem Blickwinkel könnte Himmlers Runderlaß und die Tatsache einer fehlenden Grundlage in der PolenstrafrechtsVO geradezu als Bestätigung einer solchen "originären" Kompetenz zu werten sein, wobei die prinzipielle gesetzliche Befugnis zur 270 Vgl. aber Majer (1981), S. 820: Man habe "nicht nur Übertretungen sondern auch Vergehen entgegen § 413 StPO" kriminalisiert. Der Leerlauf des § 413 StPO ("Übertretungen") wird übersehen. 271 DJ 1942,227. 272 Bei Krug/Schäfer/Stolzenburg* (1943), S. 1124 f., Abs. 4, 5. 273 Vgl. das Material bei Majer (1981), S. 819 ff. 274 Vgl. entsprechend die Zeichnung der ErgänzungsVO v. 31.1.1942, RGBl. I, S. 52 und v. 20.12.1944, RGBl. I, S. 353. 275 Majer (1981), S. 821. 276 Dazu 3. Teil D II.

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Polizeistrafe sich aus § 413 RStPO ergeben würde. Diese das grundsätzliche Verhältnis von Justiz und Polizei, von "Gesetzlichkeit", "Recht" und "Führerwille", betreffenden Fragen sind indes hier nicht zu vertiefen, sondern im 3. Teil näher zu erörtern. 5. Justiz und Polizei Die PolenstrafrechtsVO anerkannte die polizeiliche Standgerichtsbarkeit. Diese "gesetzliche" Institutionalisierung der Polizei als Strafverfolgungsorgan und die polizeiliche Strafverfügung waren aber nur Ausläufer der polizeilichen Verbrechensbekämpfung. In den eingegliederten Ostgebieten stand für die Ahndung von "Polendelikten" von Anfang an die Zuständigkeit von Justiz oder Polizei in Frage. In der "Welle terroristischer Gewaltanwendung"277, die Polen nach der Besetzung überspülte, wurden 1939/40 Standgerichte der Polizei tätig278. Die Strafjustiz konnte jedoch ihre Zuständigkeit zur Strafverfolgung behaupten, wie die EinführungsVO vom 6. Juni 1940 und die PolenstrafrechtsVO dokumentieren. Die justizförmige Ahndung von Polendelikten vermochte freilich die polizeiliche Verbrechensbekämpfung zu keinem Zeitpunkt vollständig verdrängen: Neben die schon erwähnten polizeilichen Kompetenzen traten die auch im Altreich bekannten Formen polizeilicher Verbrechensbekämpfung, namentlich die Vorbeugungshaft, die Schutzhaft und die "Sonderbehandlung", d. h. die polizeiliche "Todesstrafe", die gegen Polen besonders häufig eingesetzt wurde279. Die Tendenz wies in Richtung einer Verdrängung der Justiz durch die Polizei: Für die im Altreich befindlichen polnischen Zivilarbeiter aus den Ostgebieten etwa setzte sich die polizeiliche Alleinzuständigkeit 1943 durch280. In den eingegliederten Ostgebieten blieb es beim Nebeneinander von Justiz und Polizei, wobei die Polizei zunehmend eine überlegene Kompetenz erlangte281. Der interessanteste Punkt bei diesen Vorgängen ist, daß die Zuständigkeit für die Ahndung von Polendelikten als reine Zweckmäßigkeitsfrage behandelt wird. Es geht allein darum, welche Institution "leistungsfähiger" ist, d. h. Justiz und Polizei wetteifern um die größere "Schnelligkeit und Schlagkraft" . Die ausschließliche Maßgeblichkeit von Zweckmäßigkeitserwägungen zeigt sich in aller Deutlichkeit an den "Verhandlungen" über die Ausübung der Strafgewalt gegen die polnischen Schutzangehörigen. Schon die Tatsache, daß die Zuständigkeit verhandlungsfähig ist, beweist fast alles. Aber auch der Verhandlungsverlauf selbst ist aufschlußreich: Der Reichsjustizminister Thierack und Himmler einigen sich Ende 1942 auf eine Übernahme der Strafgewalt durch die Polizei283. Der Vollzug dieser Vereinbarung stößt aber auf den Widerstand der Gauleiter von Wartheland, Danzig-Westpreußen und Oberschlesien. Deren Bedenken sind bezeichnenderweise ausschließlich von Zweckmäßigkeits277 278 279 280 281

Broszat (1961), S. 137. Vgl. das Material bei Majer (1981), S. 796 ff. Vgl. 3. Teil, B-D, bes. D II 3, ferner EIV 4. Vgl. 3. Teil EIV 4. Vgl. dazu Majer (1981), S. 822 ff.; 826: Das Ziel der Verdrängung der Justiz habe die Polizei in den eingegliederten Ostgebieten fast vollständig erreicht. 282 Vgl. dazu das Material bei Majer (1981), aaO, S. 814 f. 283 Vgl. Sehr. Thieracks an Bormann v. 13. 10.1942, BA R 22/5013, Bl. 49. Die Einigung erfolgte am 18. 9.1942, vgl. BA R 22/4062 Vermerk Thierack über den Besprechungsinhalt (Ziff. 14); s. auch 3. Teil

EVI.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

Überlegungen bestimmt: In den eingegliederten Ostgebieten "seien zwischen den Polen und deutschen Familien ... oft so enge Beziehungen entstanden, die eine Sonderbehandlung auch der übriggebliebenen Polen ... nicht ratsam erscheinen lassen würden, weil dann zu erwarten sei, daß im Falle einer Sonderbehandlung eines Teils der Polen Volksdeutsche Anstoß daran nehmen würden und die durch die Abgabe der Strafverfolgung betroffenen Polen auf dem Wege ihrer Beziehungen zu Deutschen außerordentliche Beunruhigung in der Bevölkerung hervorrufen würden". Ferner werde die noch auf Jahre dringend benötigte "Arbeitskraft der Polen ... sofort absinken, wenn sie merkten, daß sie nicht mehr der ordentlichen Rechtspflege unterstünden", zudem sei "mit einer freiwilligen Rekrutierung von Polen und Russen aus dem Osten nicht mehr zu rechnen". Schließlich sei die geplante Abgabe der Strafverfolgung "im außenpolitischen Sinne untragbar": Sie könne "sofort von der Feindpropaganda zur Hetze ... benutzt werden"284. Aus solchen Gründen scheitert die vollständige Übertragung der Strafkompetenzen auf die Polizei wenigstens vorläufig. Für andere "Fremdvölkische" ist oder wird sie vollzogen285. Das Grundverhältnis von Justiz und Polizei wird im 3. Teil der Arbeit noch eingehend zu behandeln sein. 6. Schlußbetrachtung a) Die Grundbegriffe des Polenstrafrechts Das Polenstrafrecht bildete innerhalb des gesamten deutschen Strafrechts nach zeitgenössischem Verständnis ein in sich geschlossenes sonderrechtliches System, das seiner räumlichen Ausdehnung nach nicht für die eingegliederten Ostgebiete beschränkt war, sondern auch für die polnischen (und jüdischen) Schutzangehörigen, die sich im Altreich befanden, galt. Das Polenstrafrecht knüpfte auf dem Stand der PolenstrafrechtsVO im grundsätzlichen Ausgangspunkt nicht an die (ehemalige) polnische Staatsangehörigkeit, sondern an die polnische "Volkszugehörigkeit" an. Kennzeichnend ist, daß das Polenstrafrecht über eigenständige Leitgesichtspunkte verfügen sollte, nach denen es sich - teils in Anlehnung an das für Deutsche geltende Strafrecht bei eigenständiger Begriffsbildung, teils völlig selbständig - konstituierte. Entsprechend konnte das justizielle Polenstrafrecht hier unter Einbeziehung der verfahrensrechtlichen Seite bereits abschließend dargestellt werden. Dieser Umstand ermöglicht es, Grundbegriffe des nationalsozialistischen Polenstrafrechts im Zusammenhang zu formulieren und den Gesamthorizont der immanenten Betrachtung zu zeichnen. aa) Recht, Politik, Gesetzesfunktion Im Zentrum des Polenstrafrechts standen von Anfang an die "Aufbaunotwendigkeiten", die Eindeutschung der besetzten Ostgebiete. Die "Aufbaunotwendigkeiten" sind in der ersten 284 Vgl. das die vorgetragenen Bedenken zusammenfassende Sehr. Thieracks an Bormann v. 16.11.1942, BA R 22/5013, Bl. 129 ff.; s. auch den Vermerk über eine Bespr. zwischen Gauleitung und Justizvertretern v. 4. 11. 1942 (Kattowitz), aaO, Bl. 95 ff.; vgl. auch Sehr, des Gauleiters von DanzigWestpreußen, aaO, Bl. 75 ff. 285 Vgl. für Juden sogleich [Nr. 50], für ausländische Zivilarbeiter 3. Teil EΙΠ-V.

C. Die zweite Phase: 1939 bis 1945

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Phase des Polenstrafrechts unmittelbar Richtpunkte der "Rechts"-Anwendung: "Recht" steht im Dienste der "Aufbaunotwendigkeiten", "Recht" und "Politik" sind untrennbar verschmolzen, der Führerbefehl zur "Eindeutschung" ist höchstes Rechts-Gebot, an dem alle Vorschriften zu messen sind286. Die Phase unmittelbar "rechtlicher" Strafrechtsanwendung (Freister) 287 und ihre rechtsschöpferischen Errungenschaften 288 werden durch die EinfiihrungsVO ausdrücklich rückwirkend legalisiert; das "Gesetz" folgt dem "Recht" und schreibt es "deklaratorisch" fest289. Die Vorschriften der PolenstrafrechtsVO machen dann die "Aufbaunotwendigkeiten" ausdrücklich zu gesetzlichen Strafbarkeitsvoraussetzungen, namentlich in den Zentraltatbeständen. Ziffer I Abs. 3 verwendet die Schädigung des Wohls des Deutschen Reiches oder des deutschen Volkes als "Tatbestands"-Merkmal, Ziffer II die "Staatsnotwendigkeiten". Die Einzeltatbestände sind von den "Aufbaunotwendigkeiten" durchdrungen, die auch den leitenden Auslegungsgesichtspunkt bilden290. Politische Zielsetzungen und "gesetzliche" Merkmale sind in der PolenstrafrechtsVO verschmolzen. Eine Trennung des nationalsozialistischen "Polenstrafrechts" von nationalsozialistischer Politik und Weltanschauung ist unmöglich. Das "Gesetz" selbst dokumentiert in der PolenstrafrechtsVO schon aus sich heraus die Unauflöslichkeit dieser Verbindung. Für die Rechtstechnik des materiellen Polenstrafrechts ist kennzeichnend, daß das Strafgesetz keine strafbarkeitskonstitutive und entsprechend keine strafbarkeitsbegrenzende Funktion hat: Das "Recht" des deutschen Volkes, d. h. sein sog. "Lebensrecht", war vorrangig. Dieses "Lebensrecht" und seine näheren Bestimmungen sollten sich aus der nationalsozialistischen Weltanschauung ergeben; verbindlich konkretisiert wurden die "Erfordernisse" dieses Lebensrechts in der Polenpolitik der nationalsozialistischen Führung, namentlich im "Führerwillen". Erklärte die politische Führung, insbesondere der Führer, bestimmte Verhaltensweisen der Polen verstießen gegen "deutsche Aufbauinteressen", waren diese, so das zeitgenössische "Rechts"-Verständnis, als materiell strafwürdig und schon damit als strafbar ausgewiesen, ohne daß dies einer "gesetzlichen" Grundlage bedurft hätte. Das "Gesetz" war also kein "Zaun", der strafrechtlichen Zugriff gehindert hätte; von "Durchbrechungen" der Gesetzesbindung des Richters oder von "Verstößen", etwa gegen das Analogieverbot, zu reden, hat also aus praxisleitender nationalsozialistischer Perspektive keinen Sinn: Die "Gesetzlichkeit" war nurmehr ein "Funktionsmodus" der Justiz, nicht der ausschließliche und nicht der vorrangige: Vorrangig war die Bindung an das (Lebens-)"Recht" des deutschen Volkes und seine verbindliche Konkretisierung im Willen der politischen Führung. Der "Führerwille" war deshalb, gleichgültig in welcher Form er sich äußerte, gegenüber dem "Gesetz" vorrangig, und deshalb berief sich die Praxis "sinngemäßer" Rechtsanwendung auf den "Führerbefehl". Die "Legalität" war nur "Transportmittel", ein Instrument zur Umsetzung des "Führerwillens", und zwar ein Instrument neben anderen291. Die Leistung der Legalität war ein Beitrag zur Ausrichtung und Gleichrichtung justizieller Tätigkeit; der praktisch-technische Vorzug dieses

286 287 288 289 290 291

Dazu 2a, 2b. Vgl. DJ 1941,1130; s. auch bei Fn. 91. Dazu 2c. Dazu 3a. Dazu 4a, bes. cc, ee. Dazu 2b, 2c.

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"Funktionsmodus" ergab sich aus der ausbildungs- und traditionsbedingten Gewöhnung des Justizpersonals. Die reine Instrumentfunktion der Legalität ist in ihrem Verhältnis zu ("Lebens"-)"Recht" und "Führerwillen" erkennbar, sie prägt das Polenstrafrecht insgesamt. Sie findet in der bemerkenswerten Figur der "Rückwärtslegalisierung" "rechtlicher" Praxis durch die EinführungsVO sichtbaren Ausdruck292, wird durch die "deklaratorische" Einführung gesetzlicher Vorschriften dokumentiert293. Die Ermächtigung an Reichsjustiz- und Reichsinnenminister, die PolenstrafrechtsVO im Verwaltungswege zu ergänzen und Zweifelsfragen autoritativ zu entscheiden, beweist die Souveränität der politischen Instanzen gegenüber dem Gesetz. Sie wird u. a. durch die Verfügung zeitlich unbegrenzter Rückwirkung und ihrer Verwaltung durch Staatsanwaltschaft und Gericht bestätigt294. Der Instrumentfunktion der Legalität korrespondiert die Gesetzestechnik, die Tatbestände als "Richtlinien" begreift und entsprechend weit faßt, wann immer dies zweckmäßig erscheint. In der PolenstrafrechtsVO erscheint diese Gesetzestechnik durchgängig als zweckmäßig, um gesetzliche "Bindungen" des Richters zu vermeiden und eine "flexible" Handhabung der Verordnung - entsprechend den Erfordernissen der "Lage" - zu ermöglichen295. Die Befreiung von gesetzlichen Bindungen soll nicht zur Zersplitterung und Atomisierung der Rechtspflege führen, die einheitliche Ausrichtung der Praxis wird als unerläßliche Bedingung der Gebrauchsfähigkeit der Justiz als "starker Arm der politischen Führung" angestrebt. Das "Gesetz" allein kann aber die erforderliche Steuerungsleistung nicht erbringen; auch eine Steigerung der Gesetzgebungsgeschwindigkeit allein reicht nicht aus, der "Lage" mit der erforderlichen Schnelligkeit zu folgen. Zudem müßte, so die Logik des zeitgenössischen Systems, selbst eine "hochmotorisierte" Gesetzgebung zu Augenblicksfixierungen der "Lage" führen, könnte unerwünschte Bindungen erzeugen und neue Steuerungsprobleme aufwerfen. Das Vermeiden gesetzlicher "Bindungen" bedingt also eine richtlinienartige Gesetzesfassung mit weitem Anwendungsspektrum, führt aber zugleich zur Einbuße an gesetzlicher Steuerungsleistung und gefährdet damit die Gleichrichtung der Justiz. Der "DurchgrifF auf das ("Lebens"-)"Recht" und die politischen Zielsetzungen der Führung ist nur eine theoretische Alternative; ein solcher "Durchgriff vermag ohne Kontrolle durch eine zentrale Instanz auf Dauer die notwendige Stabilität nicht zu garantieren, da die "Lage" wandelbar ist und die "Einschätzungen" divergieren können. Deshalb ist aus zeitgenössischer Sicht zur Wahrung der Rechtseinheit der Einsatz von Steuerungsmitteln, die neben das Gesetz treten, unerläßlich: Interne Richtlinien, Erlasse und Verfügungen haben hier ihren Platz; Besprechungen, Unterrichtungen über die Ziele der Führung, kurz alle "Lenkungsmaßnahmen" füllen das Vakuum, das durch den Verlust an gesetzlicher Steuerungsfunktion entstanden ist. "Gesetz" und "Steuerungsmaßnahmen" ermöglichen also erst in ihrem Zusammenspiel eine sowohl "zweckentsprechende" wie gleichgerichtete Strafrechtsanwendung und bilden in diesem Sinne innerhalb des Polenstrafrechts eine Einheit. Diese "Produktionseinheit" soll eine bestimmte "Leistung" erbringen: den Willen der politischen Führung durchgängig und möglichst reibungslos umsetzen. 292 Dazu 3a, b; 3d bb. 293 Dazu 2a; 3a; 4a aa [1]; 4b aa. 294 Dazu 4a gg. 295 Vgl. 4a bes. aa [1], cc, ee.

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bb) Materielles Strafrecht: "Aufbaunotwendigkeiten", Strafewecke, "Polenunrecht" Zweck des gesamten Polenstrafrechts ist von Anfang an der "Schutz der deutschen Aufbauarbeit". Diese setzt ihrer Gesamtrichtung nach die "Niederhaltung des Polentums" voraus. Der Schutzgedanke tritt damit offenkundig in den Vordergrund. Die konkreten Erfordernisse des "Schutzes" richten sich nach der jeweiligen "Lage", wie sie sich der nationalsozialistischen Führung darstellt296. Die "gerechte Sühne" spielt im Polenstrafrecht keine eigenständige Rolle; soweit von "Sühne" überhaupt die Rede ist, erfährt der Sühnebegriff eine spezifische Färbung: Die "gerechte Sühne" ist vom Standpunkt der Aufbaunotwendigkeiten zu bestimmen. Zur Verdeutlichung der Zweckrichtung, "Aufbaustörungen" zu unterbinden, wird das Polenstrafrecht auch als "autoritäres Tatstrafrecht" bezeichnet297. Materieller Unrechtsgehalt des "Polenverbrechens" ist nach der objektiven Seite die "Aufbauwidrigkeit"; soweit eine personale Komponente ins Blickfeld tritt, wird sie in der "widersetzlichen, unbotmäßigen" Einstellung des Täters gesehen. Der Täter interessiert also nur im Hinblick auf seine "unbotmäßige" Einstellung. Strafeweck, Verbrechensbegriff und "gesetzliche" Tatbestandsmerkmale sind auf Ausfüllung mit den politischen Zielen der nationalsozialistischen Führung zugerichtet: Das Strafrecht folgt den "Aufbaunotwendigkeiten": Die weitgespannten Strafvoraussetzungen und Rechtsfolgen der PolenstrafrechtsVO 298 setzen eine an diesem Telos orientierte Strafrechtsanwendung299 durchgängig voraus. cc) Verfahrensrecht Das Verfahrensrecht setzt die Orientierung an den "Aufbaunotwendigkeiten" ebenfalls voraus und zielt, wie das materielle Strafrecht, auf die möglichst reibungslose Umsetzung der politischen Zielvorgaben. Das uneingeschränkte Opportunitätsprinzip300 der EinführungsVO ermöglicht eine umfassende Strafrechtsverwaltung durch die Staatsanwaltschaft: Zweck des Strafverfahrens ist die "Niederhaltung des Polentums" durch "schnelle und nachdrückliche Durchführung des Verfahrens" (Ziff. XII PolenstrafrechtsVO). Der "völkische" Charakter des Polenstrafrechts kommt in der verfahrensrechtlichen Stellung der polnischen Angeklagten zum Ausdruck. Die strafjprozessualen Vorschriften haben, wie die materiellrechtlichen Bestimmungen, den Charakter von Richtlinien301, wie in Ziffer XII der PolenstrafrechtsVO formvollendet klar zum Ausdruck kommt. Die "richtige" Ausfüllung des weitgesteckteri Rahmens setzt weltanschaulich-politische, nationalsozialistische Orientierung voraus. Zur Gesetzesfunktion ist auf die Beschreibung der Funktion des materiellen Strafgesetzes zu verweisen; "Führung" der Rechtsprechung ist angesichts des weitgesteckten Rahmens auch im Verfahrensrecht erforderlich. 296 Vgl. Thierack am 10. /II. 2. 1943 vor den OLG-Präsidenten und Generalstaatsanwälten BA R 22/4200, S. 29: "Wir müssen ja auch in der Justiz dauernd der Lage folgen" und 4a hh a. E. 297 Vgl. 4a aa [2]. 298 Zur PolenstrafrechtsVO 4a aa [2], 4a cc-ff. 299 Dazu Klinge, vgl. 4a hh. 300 Dazu 3d aa; 4b bb. 301 Dazu 3d bb; 4b aa, bb.

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Die "richtige" Handhabung des Polenstrafrechts setzt aufgrund der Verschlingung von "Gesetz", "Recht", "Politik" und "Weltanschauung" Kenntnis und Verständnis der nationalsozialistischen Prinzipien voraus, die "Einfühlsamkeit" des "politisch denkenden" Richters, der sich als Vollstrecker des Willens der politischen Führung im Rahmen der ihm zugewiesenen Aufgaben versteht. Das Richterideal ist der "Soldat des Führers", der die "Justizfront" im "Volkstumskampf stärkt302. dd) Justiz und Polizei Eine Grenze zwischen "Recht" und "Politik" ist im materiellen wie im formellen Polenstrafrecht ebensowenig formulierbar wie eine Differenzierung zwischen Gerechtigkeit und Zweckmäßigkeit. Die "Legalität" hat keinen Eigenwert. Die Justiz hat die Funktion, die Erreichung politischer Ziele im Rahmen ihres Zuständigkeitsbereichs zu fördern. "Strafrechtsanwendung" hat eine bloße Mittel-Zweck-Struktur, sie zielt auf die möglichst effektive Abwehr der vom polnischen Volkstum ausgehenden Gefahren für die nationalsozialistische Herrschaftsordnung. Damit wird eine materielle Unterscheidung richterlichen und polizeilichen Handelns unmöglich, die Zuordnung der Strafgewalt zur Justiz ist nurmehr mit politischen Zweckgesichtspunkten begründbar. Die Polizei tritt mit innerer Notwendigkeit als potentielles Organ zur Ahndung von Straftaten, d. h. "Aufbaustörungen", in Konkurrenz zur Justiz, die Abschaffung der Justiz als Institution wird damit zur konkreten Möglichkeit303. b) Bewertung der bisherigen Interpretationen zum Polenstrafrecht aa) "Rechtssicherheit" durch justizielles Polenstrafrecht? Für die eingegliederten Ostgebiete erörtert Broszat ein "Dilemma zwischen staatlichem Stabilisierungsbedürfnis und dem Wunsch nach weiterhin unbegrenzten Zugriffsmöglichkeiten zur Verwirklichung völkisch-ideologischer Neuordnungsvorstellungen", das von Anfang an die Entwicklung der Strafjustiz und des Strafrechts in den eingegliederten Ostgebieten bestimmt habe. Das "Stabilisierungsbedürfnis" identifiziert Broszat mit der Notwendigkeit, ein "Minimum an Rechtssicherheit" zu gewährleisten, als institutionelle Träger des "Stabilisierungsbedürfnisses" betrachtet er die Justiz und das Reichsjustizministerium, als Repräsentanten des Gegenpols die politischen Instanzen, wie Gauleiter, Kreisleiter und die Führer und Organe der SS und Polizei304. Die Auseinandersetzungen zwischen Justiz und Polizei interpretiert Broszat unter diesem Aspekt. Im Hinblick auf die EinführungsVO vom 6. Juni 1940 räumt Broszat ein, sie habe zwar "in gewissem Umfang bereits ein diskriminierendes Sonderrecht für Polen und Juden" geschaffen, andererseits aber "wesentliche Rechtsgarantien auch für polnische Angeklagte" beibehalten und "insbesondere das Ende der polizeilichen Standgerichtsbarkeit" erwarten lassen. Die EinführungsVO habe deshalb, "ungeachtet der von der Justiz gemachten Konzessionen doch - allgemein gesehen - einen Akt der Normalisierung und wenigstens annähernder Wiederherstellung des Rechts" bedeutet, man habe die Einfüh302 Dazu 4b cc. 303 Dazu 5. 304 Broszat (1961), S. 137 f.; vgl. auch S. 145 f.

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rungsVO "insofern mit einigem Grund im Reichsjustizministerium als Erfolg" verbuchen können305. Die EinführungsVO verkörperte danach also, so auch Majer, eine "gewisse Rechtssicherheit"306. Selbst die PolenstrafrechtsVO ist für Broszat, obwohl "Kabinettstück gesetzlichen Rechtsabbaus", "im Lichte der von Himmler angestrebten alleinigen Polizeizuständigkeit für die Strafjustiz gegen Polen, noch 'ein kleineres Übel'". Ausgerechnet Freisler habe so mit seiner Beteiligung am Zustandekommen der Verordnung "der polizeistaatlichen Perfektionierung im Dritten Reich tatsächlich ein Stück entgegengearbeitet"307. Broszats Interpretationen leiden im Ansatz daran, daß sie den Begriff der "Rechtssicherheit" nicht klarlegen. Aus der Perspektive des zeitgenössischen Polenstrafrechtssystems ist "Rechtssicherheit" die Sicherheit der Verwirklichung des spezifisch nationalsozialistischen ("Lebens"-)"Rechts", konkret: die Durchsetzung und Sicherung des "deutschen Aufbauwerks"308. Die "Gesetzlichkeit" des Polenstrafrechts ist ein Mittel der Durchsetzung dieses "Rechts", dessen Einsatz sich nach den taktischen Erfordernissen der "Lage" richtet . Keinesfalls ist mit "Rechtssicherheit" im zeitgenössischen Kontext die Sicherung der polnischen Schutzangehörigen vor staatlichem Zugriff gemeint. Die Gesetzlichkeit ist ja gerade Mittel der Organisation des staatlichen Zugriffs durch die Justiz. Träger solcher "Rechtssicherheit" sind Justiz und Polizei gleichermaßen; ihre Konflikte betreffen die Abgrenzung ihrer Machtsphären. Machtinteressen kollidieren, nicht Interessen am Schutz des polnischen Schutzangehörigen durch Gesetze mit dem Wunsch nach unbegrenztem Zugriff. Die Justiz will nicht die Freiheit der polnischen Schutzangehörigen sichern, sie will ihren Einflußbereich bewahren, kurz gesagt: Sie will nicht arbeitslos und damit überflüssig werden310. Diese Form der "Rechtssicherheit" ist nun aber von Broszat offensichtlich nicht gemeint, sondern ein rechtsstaatlicher Rechtssicherheitsbegriff, der auf die Sicherheit des Bürgers vor staatlichen Eingriffen zielt. Ein solcher Begriff ist für die zeitgenössische Strafgesetzgebung und Strafrechtspraxis aber völlig bedeutungslos, weil es um Organisation, nicht um Abwehr staatlichen Zugriffs geht. Die auch nur "relative" Sicherheit polnischer Schutzangehöriger vor staatlichem Zugriff ist kein - nicht einmal ein umkämpftes - Konstruktionsprinzip des Polenstrafrechts; solche Sicherheit wird vielmehr umgekehrt als defizitär begriffen, wenn sie unbeabsichtigte Folge zu enger oder fehlender gesetzlicher Vorschriften oder anderer systeminterner Reibungsverluste ist. Die "relative" Sicherheit polnischer Schutzangehöriger ist also ein (regelmäßig unerwünschtes) Abfallprodukt, bestenfalls eine taktische Konzession (ζ. B. zur 305 AaO, S. 145 f. 306 Majer (1981), S. 741; nach Majer verkörperte bereits die "bloße Existenz" der VO "gegenüber dem bisherigen Zustand doch eine gewisse Rechtssicherheit"; diesen "Zustand relativer Rechtssicherheit" habe freilich der § 2 wieder verwässert, weil er den "'volkstumspolitischen' Vorbehalt, das Einfallstor für jede Art von Sonderrecht", formal bekräftigt habe. An ihrer Deutung hält Majer auch angesichts der Sonderstrafvorschriften der §§ 8-16 fest, die sie als "unübersehbaren Fremdkörper" deutet (S. 743). 307 Broszat (1961), S. 152. 308 Zum neuen Rechtssicherheitsbegriff ("Gewißheit der Durchsetzung des Rechtes im Sinne des Rechtsdenkens der Volksgesamtheit") schon oben [Nr. 16] 2d bei Fn. 59. 309 Naucke, Analogieverbot (1981), S. 95 Fn. 102. 310 Vgl. den Bericht des OLG-Präsidenten und des Generalstaatsanwalts von Danzig ν. 15. 10.1942 aus Anlaß der geplanten Abgabe der Strafkompetenzen an die Polizei: Die Justiz würde mit den Polensachen "den überragenden Teil der bisher angefallenen Strafsachen verlieren", BA R 22/5013, Bl. 51.

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Erhaltung der Arbeitsmoral polnischer Schutzangehöriger)311. Staatliches "Stabilisierungsbedürfnis" besteht nicht im Hinblick auf die Sicherheit polnischer Bürger, sondern im Hinblick auf Richtung und Entwicklungsgeschwindigkeit der "Aufbaupolitik". Im Dienste dieser "Aufbaupolitik" steht die Gleichrichtung staatlicher Tätigkeit mit Hilfe des Funktionsmodus "Legalität". Rechtsstaatliche Rechtssicherheit ist also kein Maßstab, der interne Sinnzusammenhänge des Polenstrafrechts irgendwie erfassen könnte. Dient rechtsstaatliche Rechtssicherheit als Bewertungsmaßstab einer stattgefundenen Entwicklung, sind die referierten Einschätzungen äußerst zweifelhaft und werden von Broszat jedenfalls nicht hinreichend legitimiert. Ob die EinführungsVO beispielsweise eine "relative Rechtssicherheit" oder eine "gewisse Normalisierung" geschaffen hat oder ob gar in der PolenstrafrechtsVO rechtsstaatliche Spurenelemente auszumachen sind, hängt davon ab, welche Anforderungen rechtsstaatliche Rechtssicherheit stellt. Broszats Einschätzung verdiente nur dann Zustimmung, wenn rechtsstaatliche Rechtssicherheit sich tatsächlich derart minimieren ließe, daß die zufälligen Abfallprodukte eines nach ganz anderen - und offenkundig rechtsstaatswidrigen - Prinzipien arbeitenden Strafrechtssystems als Zeugnisse "relativer Rechtssicherheit" erfaßbar wären. Die Möglichkeit einer abweichenden Bewertung drängt sich geradezu auf; Naucke hat sie in seiner zutreffenden Kritik an der Position Broszats im Kern formuliert, indem er der These von einer "gewissen Normalisierung" durch die EinführungsVO entgegengehalten hat, diese Verordnung enthalte "keinen Buchstaben 'normales' Strafrecht im überkommenen rechtsstaatlichen Sinne"312. Richtig ist: Rechtsstaatliche Rechtssicherheit des Bürgers gibt es im Polenstrafrecht nicht "relativ" und nicht "graduell", es gibt sie überhaupt nicht. Der polnische Schutzangehörige ist kein "Volksgenosse" und schon gar kein "Bürger". Und es gibt keinen gesetzlichen Schutz des polnischen Schutzangehörigen vor dem deutschen "Lebens-Recht". Das ungesetzte und das gesetzte nationalsozialistische Polenstrafrecht bezwecken nicht den Schutz der Unterworfenen, sondern ausschließlich den Schutz der politischen Ziele der nationalsozialistischen Führung vor jeder Gefährdung durch die Unterworfenen. Ob dieser Schutz durch Justiz oder Polizei erfolgt, ist eine reine Zweckmäßigkeitsfrage. bb) Polenstrafrecht und Altreichsstrafrecht - Polenstrafrecht und Deutschenstrafrecht Die Frage nach Trennendem und Verbindendem im Polen- und im Altreichsstrafrecht soll hier noch nicht abschließend beantwortet werden, weil die Materialbasis zum Reichsstrafrecht, insbesondere auch im Hinblick auf das Verhältnis von Justiz und Polizei, noch verbreitert wird313. Wir wollen uns aber schon an dieser Stelle mit dem Versuch Majers befassen, eine prinzipielle Grenzlinie zwischen Altreichs- und Polenstrafrecht zu ziehen. Majer stellt dem Reichsstrafrecht die Formulierung des gesetzlichen Polenstrafrechts in der Fassung der PolenstrafrechtsVO gegenüber, da sie im Hinblick auf die EinführungsVO vom 6. Juni 1940 ("relative Rechtssicherheit"314) wohl noch Verbindungslinien zieht, die sie

311 312 313 314

Dazu soeben 5 bei Fn. 284. Naucke, Analogieverbot (1981), S. 95 Fn. 102. Dazu 3. Teil, 4. Teil. Majer (1981), S. 741 und soeben Fn. 306.

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für die PolenstrafrechtsVO - von reichsrechtlichen "Spurenelementen" abgesehen315 verneint: Mit der PolenstrafrechtsVO habe die Justiz nur "um den Preis der Aufgabe sämtlicher rechtsstaatlicher und Ordnungsgrundsätze" ihre Kompetenz zu retten vermocht und die Einheit von "Polenstrafrecht" und "Reichsstrafrecht" aufgegeben316. Majers Argumentation läßt eine grundlegende und unerläßliche Unterscheidung beiseite. Sie stellt das "deutsche Strafrecht" des Altreichs der PolenstrafrechtsVO gegenüber und kennzeichnet diese durch die Verwirklichung des Sonderrechtsprinzips. Diese Systematisierung schafft keine geeigneten Voraussetzungen für die von Majer vorgenommene Gegenüberstellung. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß das "völkische" Sonderrechtsprinzip schon im Altreichsstrafrecht der Vorkriegszeit Ausdruck fand 317 und kein "absolutes Novum des Polenstrafrechts" war. Im Kriege war die härtere Bestrafung polnischer Straftäter mit Rücksicht auf ihre Volkszugehörigkeit dem Reichsgericht geläufig318. Die Behandlung "Fremdvölkischer" folgte auch im Altreich besonderen Regeln, wie die Inanspruchnahme polizeilicher Strafkompetenzen gegenüber ausländischen Zivilarbeitern319 und nicht zuletzt die Erstreckung der Ziffern I bis IV der PolenstrafrechtsVO auf das Altreich320 zeigen. Majer selbst sieht diesen Sachverhalt und behandelt u. a. eingehend die Verwirklichung der "völkischen Ungleichheit" im Altreichsstrafrecht321. Gleichwohl differenziert sie nicht zwischen "Polenstrafrecht" und "Deutschenstrafrecht", sondern zwischen Altreichs- und Polenstrafrecht. So gelangt sie dazu, die PolenstrafrechtsVO "als gewissermaßen doppeltes Sonderrecht" zu würdigen, da "Polen (und Juden) schon nach allgemeinem Reichsrecht grundsätzlich härter als Deutsche, in der Regel mit der Höchststrafe, bestraft" worden seien . Auf der Basis des "Sonderrechtsprinzips" gab es indes kein "doppeltes Sonderrecht", sondern ein "Recht" für "Deutsche" und für "Fremdvölkische", also für unseren Zusammenhang ein Deutschenstrafrecht und ein Polenstrafrecht, nicht aber ein "doppeltes Polenstrafrecht". Da zudem der materielle Teil der PolenstrafrechtsVO für das Altreich für anwendbar erklärt wurde (Ziff. XIV, Abs. 1), ist nicht ersichtlich, worin die prinzipielle Differenz zwischen Altreichsstrafrecht und Polenstrafrecht liegen soll: Das Polenstrafrecht war Teil des deutschen Strafrechts, das sich in ein "Deutschenstrafrecht" und in ein Strafrecht für "Fremdvölkische", u. a. das "Polenstrafrecht", untergliederte. Betrachtet man das Altreichsstrafrecht insgesamt, ist schon aus diesen Gründen gegenüber der PolenstrafrechtsVO keine prinzipielle Grenzlinie formulierbar. Es kann deshalb bei einer unterscheidenden Betrachtung nur darum gehen, die Strukturen des "gesetzlichen" Polenstrafrechts in der Fassung der PolenstrafrechtsVO mit denen des Deutschenstrafrechts des Altreichs zu vergleichen; die Gegenüberstellung "Polenstrafrecht" und "Altreichsstrafrecht" ergibt keinen Sinn. Unter dieser Perspektive sind dementsprechend Majers Unterscheidungen zu würdigen, soweit sie sich, wie meist, in der Sache selbst auf die Differenz von "Polenstrafrecht" und "Deutschenstrafrecht" beziehen.

315 Majer (1981), S. 747. 316 AaO, S. 746 und 744. 317 Vgl. Blutschutzges. [Nr. 17] sowie [Nrn. 23,24] und 13. VO zum RBG [Nr. 50], 318 Vgl. soeben [Nr. 39] 2b bb bei Fn. 60. 319 Dazu 3. Teil E. 320 Vgl. Ziff. XIV Abs. 1 PolenstrafrechtsVO. 321 Majer (1981), S. 593 ff. 322 AaO, S. 747; Hervorhebung aaO.

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Ein Vergleich von Deutschenstrafrecht und Polenstrafrecht, der auf die inneren Strukturen dieser Strafrechtsordnungen abzielt, muß das Konstitutionsprinzip, die "völkische" Abgrenzung von "Polentum" und "Deutschtum", voraussetzen. Dieses Prinzip ist unlösbar mit der nationalsozialistischen Weltanschauung von "Rasse" und "Volkstum" verknüpft. Diese "weltanschaulichen" Auffassungen führen, so das zeitgenössische Schrifttum, zu wesentlichen Unterschieden, u. a. in der Zweckrichtung von Polen- und Deutschenstrafrecht, im Verbrechensbegriff, in der Ausgestaltung der Tatbestände, im Inhalt der Auslegungsregeln u. a. m. Die "völkische" Ausgangsbasis impliziert also notwendig unterschiedliche Inhalte von "Polenstrafrecht" und "Deutschenstrafrecht"; sie erweist das "Polenstrafrecht" in seiner Grundkonzeption wie in seiner Ausgestaltung als rechtsstaats- und menschenrechtswidrig. Aus der zeitgenössischen "Rechts"-Perspektive bildete das Polenstrafrecht gleichwohl einen Teil der deutschen Rechtsordnung, für die man gerade in bewußter Wendung gegen den Gleichheitsgedanken das Prinzip der "völkischen Ungleichheit" anerkannte und u. a. durch das Polenstrafrecht zu verwirklichen suchte. Ein "Systemvergleich" von Deutschenstrafrecht und Polenstrafrecht kann einmal die Menschenrechtswidrigkeit der Systembildung als solcher wie ihrer inhaltlichen Implikationen denunzieren und auf den Vergleich innerer Strukturen von vornherein verzichten. Strebt man gerade einen Vergleich der Binnenstrukturen an, muß dieser die menschenrechtswidrige Ausgangsbasis der Systembildung voraussetzen, also Polenstrafrecht und Deutschenstrafrecht "immanent" betrachten und die prägenden Strukturen vergleichen. In dieser Weise geht Majer vor, freilich ohne die anstößigen, zum Zwecke der Durchführung ihres "Systemvergleichs" aber unumgänglichen Prämissen darzulegen. Eine zentrale Differenz zwischen dem Deutschenstrafrecht und dem Polenstrafrecht in der Fassung der PolenstrafrechtsVO sieht Majer im ausschließlich politischen Charakter des Polenstrafrechts. Dieses stellte nach Majer "nicht mehr eine (wenn auch äußerst harte) Regelung von Lebenssachverhalten zum Zwecke einer wenigstens formal aufrechterhaltenen Ordnung dar", sondern habe sich "als politisches Kampfinstrument zur Vernichtung des rassischen und politischen Gegners" erwiesen, sei ein "politisches Zweckgebilde" gewesen323, das nicht "Aufrechterhaltung der Ordnung, sondern Abschreckung und Vernichtung" bezweckt habe324. Der "politische Charakter" des Polenstrafrechts ist evident und wurde im einzelnen beschrieben. Die hier entscheidende Frage lautet, ob und in welchem Ausmaß das Deutschenstrafrecht "unpolitisch" war und eine politisch neutrale "Regelung von Lebenssachverhalten" bedeutete. Eine unterscheidende Kennzeichnung des Polenstrafrechts als "politisches Zweckgebilde" setzt voraus, daß im Deutschenstrafrecht die Trennung von (Straf-) Recht und (Kriminal-)Politik durchgeführt ist. Aus der bisherigen Darstellung haben sich schon wesentliche Hinweise ergeben, daß eine solche Annahme für das Deutschenstrafrecht der Jahreswende 1941/42 verfehlt ist: Bei der Behandlung des Änderungsgesetzes vom 4. September 1941 hat sich beispielsweise gezeigt, daß der Schutz der "Belange der Volksgemeinschaft" den übergeordneten Strafeweck bei der Verhängung der Todesstrafe nach § 1 bilden sollte325; die Verordnung zum Schutze der Metallsammlung diente dem "großdeutschen Freiheitskampf"326, § 2 der Verordnung zum Schutze des Reichsarbeitsdienstes nahm unmittelbar auf den -national323 AaO; Hervorhebung aaO. 324 AaO, S. 746. 325 [Nr. 39] 2b aa. 326 [Nr. 35],

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sozialistischen "Rechts"-Begriff Bezug327. Zu verweisen ist ferner etwa auf die RundfunkVO, die der Bekämpfung der "inneren Offensive" des Feindes dienen solite und deren Handhabung durch das Antragserfordernis in den "Abwehrkampf" der Polizei eingebunden war328 oder auf den "großen Auffangtatbestand" des § 4 VolksschädlingsVO, der eine Sofortanpassung des Strafrechts an die "kriegsbedingte Lage" gewährleistete und einen "kriegspolitischen Sinngehalt" hatte oder auf die KriegswirtschaftsVO, bei deren Anwendung nicht die "gewohnten Mittel" der Subsumtion, sondern die unmittelbare Orientierung an den Kriegsnotwendigkeiten den Ausschlag geben sollten329. Diese Beispiele, die sich vermehren ließen, dokumentieren bereits, daß eine scharfe Grenzlinie zwischen (straf-)rechtlichen und politischen Zwecksetzungen auch im Deutschenstrafrecht nicht gezogen werden kann. Majers Gegenüberstellung ist also in der vorgetragenen Form verfehlt. So sah etwa auch ein Roland Freisler, der den "politischen Charakter" des Polenstrafrechts betonte, hierin keine Besonderheit, sondern nur einen Ausdruck des allgemeineren Phänomens, daß "die deutsche Rechtswahrung nicht außerhalb der politischen Zielsetzung des Reiches" stehe, sondern vielmehr "ein starker Arm" sein müsse, "diese politische Zielsetzung verwirklichen zu helfen". Diese Funktionsbestimmung von Recht und Justiz müsse "wie überhaupt, so insbesondere auch in der Polenstrafrechtspflege" Ausdruck finden und dem in diesem Bereich maßgeblichen spezifischen politischen Zweck folgen330. Nach Freisler bildete das Verhältnis von Recht und Politik im Polenstrafrecht also keineswegs eine "Ausnahme" von den das Deutschenstrafrecht und das Strafrecht überhaupt beherrschenden Grundsätzen; vielmehr ließen die spezifischen politischen Zwecke das PolenstrafrechtsVO das Verhältnis von Recht und Politik umgekehrt besonders klar hervortreten. Freislers Einschätzung wird durch die erwähnten Beispiele aus dem Kriegsstrafrecht bestätigt. Das im Polenstrafrecht vorausgesetzte Grundverhältnis von Recht und Politik entspricht aber vor allem der Programmatik der Analogienovelle: Der dort sichtbar gewordene Zusammenhang von Recht, Weltanschauung, politischer Führung und Gesetz prägt das Polenstrafrecht. Wir können dabei sogar den weltanschaulichen Unterbau zur angeblichen Unausweichlichkeit von "Volkstumskämpfen" und zur angeblichen Überlegenheit des Deutschtums beiseite lassen331. Der entscheidende Kurz-Schluß liegt in der postulierten Verkörperung weltanschaulich-politischer Notwendigkeiten in den Auffassungen der politischen Führung. Vorgegebenes Recht ist durch die nationalsozialistische Weltanschauung substantiell bestimmt, diese wiederum wird von der Führung aktualisiert. Kurzum: Der Führer ist realpräsente Rechtsquelle und aktualisiert Recht332. Mit dieser Quintessenz des Programms der Analogienovelle macht das Polenstrafrecht Ernst: Es beweist den weltanschaulich-politischen Gehalt vorpositiven "Rechts", dokumentiert die bloß technische Bedeutung des Gesetzes und setzt auf den mit der Staatsführung verbundenen Richter neuen Typs. Majer sieht neben dem Globalabgrenzungsgesichtspunkt des Verhältnisses von "neutralem" Strafrecht und "politischem" Zweckgebilde weitere prinzipielle Differenzen zwischen 327 328 329 330 331 332

[Nr. 34], [Nr. 27]. Dazu [Nr. 29] 6,10; [Nr. 28] 2c, d; 3. DJ 1942,29. Vgl. etwa Hitler, Zweites Buch, S. 53 ff., 126 f. und Mein Kampf, S. 438. Dazu bes. [Nr. 16] zusf. 10.

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"innerdeutschem Strafrecht" und der PolenstrafrechtsVO, die sie in folgender These zusammenfaßt: Die Verordnung "verstieß ... nicht nur gegen völkerrechtliche Grundsätze, sondern auch in Formulierung, Aufbau, Tatbestandstypik und Inhalt gegen das damalige innerdeutsche Strafrecht, insbesondere gegen die Grundsätze nulla poena sine lege, des Schuldstrafrechts, der Straftaten [?] und des Strafrahmens [?], u. a. m." 333 . Gemeint ist mit dem innerdeutschen Strafrecht offenbar auch hier das für Deutsche geltende Altreichsstrafrecht. Unverständlich ist zunächst, daß Majer den Satz "nulla poena sine lege" als Grundsatz des "damaligen" innerdeutschen Strafrechts ausweist, für das doch gerade die Abkehr von diesem Grundsatz schon durch die Aufhebung des Analogieverbots hinlänglich dokumentiert wurde. Einen Sinn ergäbe Majers Aussage nur dann, wenn unter dem "damaligen" Strafrecht ein fortgeltendes rechtsstaatliches Strafrecht verstanden würde; dann allerdings hätten weite Teile der zeitgenössischen innerdeutschen Strafgesetzgebung und Strafpraxis ebenso wie die PolenstrafrechtsVO gegen das "damalige" (rechtsstaatliche) innerdeutsche Strafrecht verstoßen. Das aber wiederum will Majer wohl gerade nicht sagen, bevorzugt sie doch eine "systemimmanente Betrachtungsweise"334. Eine Differenz zwischen der PolenstrafrechtsVO und dem zeitgenössischen Deutschenstrafrecht ergibt sich also gewiß nicht in der von Majer behaupteten Weise. Welche Bedeutung der Grundsatz des "Schuldstrafrechts" - etwa angesichts der "Reinigungsstrafe" - im Altreichsstrafrecht des Jahres 1942 hatte, legt Majer nicht näher dar; was die "Grundsätze" der "Straftaten" und der "Strafrahmen" im zeitgenössischen Strafrecht besagen sollen und worin genau die Differenzen zum Polenstrafrecht bestehen, bleibt dunkel. Wäre beispielsweise die außerordentliche Weite des "Generalstrafrahmens" der PolenstrafrechtsVO angesprochen, so könnte im Hinblick auf das Deutschenstrafrecht kein prinzipieller, sondern allenfalls ein gradueller Unterschied formuliert werden, da die Ausdehnung der Strafrahmen gerade ein bezeichnendes Phänomen in der Entwicklung der Strafgesetzgebung war 335 . Die "Grundsätze" des innerdeutschen Strafrechts, gegen die die PolenstrafrechtsVO nach Auffassung Majers verstieß, werden nicht präzisiert; betrachtet man die von Majer genannten Beispiele für einzelne "Verstöße" gegen solche Grundsätze des Altreichsstrafrechts nach "Formulierung, Aufbau, Tatbestandstypik und Inhalt" der PolenstrafrechtsVO, erweisen sich diese als unzutreffend. Den inhaltlichen Verstoß sieht Majer in der "völligen Rechtlosstellung" von Polen und Juden. Diese "Rechtlosstellung" kennzeichnet aber, wie schon ausgeführt, auch das Altreichsstrafrecht, in dem das "Sonderrechtsprinzip" fest etabliert ist 336 ; die "völlige Rechtlosstellung" der Juden erfolgt beispielsweise für das gesamte Altreich durch die 13. Verordnung zum Reichsbürgergesetz337. Unzutreffend ist auch Majers Bild von der Auflösung einer im Altreichsstrafrecht vorhandenen "Tatbestandstypik" - möglicherweise meint Majer das damit bezeichnete Phänomen auch mit dem "Grundsatz der Straftat" anzusprechen - durch die "verschwommenen General333 Majer (1981), S. 746. 334 AaO, S. 35. 335 Vgl. ζ. B. [Nrn. 8,13,16,26-29]. 336 Vgl. soeben bei Fn. 317.

337 Dazu [Nr. 50],

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klauseln"338 der PolenstrafrechtsVO : Die Verwendung von Generalklauseln ist ein herausragendes Charakteristikum der Strafgesetzgebung des Altreichs339. Zur "Form" der PolenstrafrechtsVO heißt es, mit Ausrufezeichen, sie habe "bezeichnenderweise nicht (!) die Unterschrift des zuständigen Reichsjustizministers"340 getragen, sondern sie sei als Verordnung des Ministerrats für die Reichsverteidigung ergangen. Das Faktum als solches ist richtig; die Gesetzgebung durch den Ministerrat und die Unterschrift der Herren "Vorsitzender des Ministerrats für die Reichsverteidigung, Göring, Reichsmarschall", "Der Generalbevollmächtigte für die Reichsverwaltung, Frick" sowie "Der Reichsminister und Chef der Reichskanzlei, Dr. Lammers" mag in gewisser Hinsicht auch "bezeichnend" gewesen sein. Es ist aber kein Unterschied zwischen Polenstrafrecht und Altreichsstrafrecht "bezeichnet", da der Ministerrat zahlreiche andere gesetzliche Verordnungen erließ, die gleichfalls nicht vom Reichsjustizminister unterzeichnet waren341. Die "brutale Sprache" schließlich hatte die PolenstrafrechtsVO mit zahlreichen anderen Strafgesetzgebungsakten gemeinsam, denkt man nur an Bezeichnungen wie "Volksschädling" oder an den Vorspruch zur RundfunkVO342. Daß die PolenstrafrechtsVO in ihrem Außau "nicht mehr die übliche Einteilung in Paragraphen (Rechtsvorschriften) kannte, sondern nur noch Ziffern vorsah", scheint so als prinzipielle Differenz zum Reichsstrafrecht übrigzubleiben. Freilich mag man schon zweifeln, wie "bezeichnend" eine solche Nomenklatur ist, wenn Strafgesetze u. a. durch Rundfunk verkündet werden und im Reichsgesetzblatt weder Ziffern noch Paragraphen aufweisen343. Daß gar selbst "Der Führer" einen grundlegenden Erlaß über die "Vereinfachung der Rechtspflege" gekleidet in die "würdige" Form eines "Führererlasses" - zeichnet, der nur (römische) Ziffern enthält, relativiert auch diese nomenklatorische Differenzierung Majers344. Majers Gegenüberstellung von Altreichsstrafrecht und Polenstrafrecht erweist sich also im Ansatz wie in der Durchführung als verfehlt. Im Bestreben, eine scharfe Grenze zwischen Altreichsstrafrecht und PolenstrafrechtsVO zu formulieren, verzeichnet Majer Entwicklungslinien. Auch im Detail finden sich Unrichtigkeiten und Fehl Interpretationen345. Möglicherweise erwachsen diese Fehlinterpretationen daraus, daß Majer die Fortexistenz des "herkömmlichen Verwaltung- und Rechtssystems" am Ausgangspunkt ihrer Untersuchung stillschweigend voraussetzt . Majers Betrachtung liegt ein "Trennungsmodell"347 zugrunde: Sie stellt "aus der rechtsstaatlichen Zeit stammende Begriffe und Einrichtungen", die man "beibehalten und mit demselben Inhalt fortgeführt"habe348, den von ihr als "gedachte Zusammenfas338 339 340 341 342 343 344 345 346 347 348

Majer (1981), S. 750; Hervorhebung aaO. Vgl. nur [Nrn. 4,8,13,15,26 ff. ]. Majer (1981), S. 747; Hervorhebungen aaO. Vgl. ζ. B. [Nrn. 27,28,33,37]; s. auch C11. Vgl. [Nrn. 27,29], Vgl. VO zum Schutze der Metallsammlung [Nr. 35] oder VO zum Schutze der Wintersachensammlung [Nr. 41], Vgl. Führererlaß v. 21.3.1942, RGBl. I, S. 139; s. auch VO über die Errichtung von Standgerichten v. 15.2.1945, RGBl. I, S. 30. Vgl. in diesem Kapitel Fn. 48,68,76,101,149,222 und Abschn. 4c. Vgl. Majer (1981), S. 34. Vgl. 1. Teil A I , zu Majer Fn. 202. So Majer (1987), S. 23.

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sungen des nationalsozialistischen Programms" entwickelten nationalsozialistischen Rechtsprinzipien gegenüber (Führerprinzip, Vorherrschaft der Partei, völkische Ungleichheit)349. Wichtige Grenzlinien sollen offenbar ungefähr zwischen "Altreichsstrafrecht" und "Polenstrafrecht" verlaufen. Die von Majer selbst ausdrücklich befolgte "'systemimmanente', d. h. phänomenologische Betrachtungsweise"350 muß freilich erst einmal fragen, ob das "herkömmliche Rechtssystem" überhaupt noch besteht und ob es gerade im Altreichsstrafrecht verkörpert ist. Abgrenzbar sind Deutschenstrafrecht und Polenstrafrecht: Hier ist das Sonderrechtsprinzip, die "völkische Ungleichheit" von Polen und Deutschen, das wesentliche Konstitutionsprinzip, aus dem die unterschiedliche inhaltiche Ausgestaltung dieser "völkischen" Teilstrafrechtsordnungen hergeleitet wird. Was die inneren Strukturen von Deutschenstrafrecht und Polenstrafrecht angeht, namentlich das Verhältnis von Recht und Politik, die Gesetzesfunktion und das Richterbild, haben sich deutliche Parallelen abgezeichnet. So sprechen wesentliche Indizien dafür, daß in der Tat das Polenstrafrecht, befreit von der Bindung an Traditionen, das die Strafrechtsentwicklung insgesamt bestimmende Verhältnis von Recht und Politik samt seinen Folgewirkungen exemplarisch verkörpert. Ein abschließendes Urteil wird aber erst auf vollständiger Materialbasis zu treffen sein351. cc) Exkurs: Polenstrafrecht und Strafrechtswissenschaft Die zeitgenössischen Strafrechtswissenschaftler haben sich zum Polenstrafrecht nicht - jedenfalls nicht öffentlich - geäußert. Majer hat dies mit der immanenten Sachlogik der (Straf-) Rechtswissenschaft erklärt. Diese - so der Sinn der Argumentation Majers - habe sich gegen die Bearbeitung eines Zustands gesperrt, der vom "Sonderrecht", von der "prinzipiellen Rechtlosigkeit" von Polen und Juden gekennzeichnet sei: "In der bisherigen Theorie und Praxis gab es hierfür weder Vorbilder noch Anhaltspunkte, nichts, woran man hätte anknüpfen können. Infolgedessen konnten weder Theorie noch Praxis diese Art des Sonderrechts in irgendeiner Weise bearbeiten, geschweige denn in rechtswissenschaftlichem Rahmen bewältigen352. Majers Urteil rückt die (Straf-)Rechtswissenschaft in ein günstiges Licht, und es müßte, wäre es richtig, erleichtern: Hier also versagt strafrechtsdogmatische Begrifflichkeit und Methodik so evident, daß Sprachlosigkeit unausweichlich wird. Es scheint freilich zweifelhaft, ob Majers Interpretation der zeitgenössischen Binnenperspektive von "Theorie" und "Praxis" des Strafrechts zutrifft. Dagegen spricht schon, daß beispielsweise auch der Gedanke rassischer Auslese in die Strafrechtsanwendung "eingebaut" und die "Belange der (nationalsozialistischen) Volksgemeinschaft" zum Leitprinzip der Strafzumessung erklärt wurden353. Majer stützt ihre Deutung u. a. auf die Äußerung einer nationalsozialistischen Autorität, die es wissen mußte: Freisler selbst habe vor den Oberlandesgerichtspräsidenten und Generalstaatsanwälten - vermutlich im Mai 1942 - ausgeführt, daß "dieses Polenstrafrecht zur wis349 Vgl. Majer (1981), S. 37 f.; s. auch dies., in: Justiz und Nationalsozialismus (1985), S. 121 ff., 124 und 1987, S. 23 ff. (Führerprinzip, Sonderrecht, Einheitspartei). 350 Majer (1981), S. 35. 351 Dazu 5. Teil ΒIV. 352 Meyer (1981), S. 751. 353 Vgl. ÄndG 1941 [Nr. 39] 2b.

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senschaftlichen Bearbeitung in der Öffentlichkeit aus naheliegenden Gründen" nicht gut geeignet sei354. Diese "naheliegenden Gründe", in der "Öffentlichkeit" zu schweigen, waren freilich für Freisler von einer ganz anderen Natur als Majer vermutet: Eine öffentliche Erörterung des Polenstrafrechts wurde als politisch inopportun erachtet. Eine positive propagandistische Außenwirkung war weder im Ausland noch bei den betroffenen "Schutzangehörigen" zu erhoffen; zur Festigung der Praxis aber war eine öffentliche Erörterung entbehrlich, weil ein zentraler Steuerungsmechanismus zur Verfügung stand; vielleicht wollte man die "örtlichen Polenprobleme" auch nicht durch öffentliche Diskussion aufgewertet sehen. Liest man die Äußerungen Freislers im Zusammenhang, so wird deutlich, daß Freisler ausschließlich auf die Inopportunität einer öffentlichen wissenschaftlichen Diskussion abhob355. Die zeitgenössische Immanenzperspektive wird also von Majer verzeichnet, wie auch der eingehend dargestellte Systematisierungsversuch Klinges beweist356. Auf einer ganz anderen, von Majer aber nicht kenntlich gemachten, Ebene liegt die Frage, ob die Strukturen des Polenstrafrechts und seine praktische Handhabung "in den Bahnen herkömmlicher juristischer Argumentation"357 zu beschreiben und zu rechtfertigen waren. Meint man mit dieser "herkömmlichen" Argumentation die Kategorien rechtsstaatlichen Strafrechts, so ist es evident, daß unter dieser Perspektive das Polenstrafrecht nicht zu "rechtfertigen" ist und keinen inneren Sinnzusammenhang aufweisen kann, basiert es doch u. a. gerade auf der rechtsstaatswidrigen Annahme "völkischer Ungleichheit" und sucht diese zu verwirklichen. Das Polenstrafrecht kann insoweit nur als Verstoß gegen rechtsstaatliche Grundsätze beschrieben und selbstverständlich nicht, auch nicht teilweise, aus diesen "gerechtfertigt" werden. Eine "strafrechtswissenschaftliche" Bearbeitung des Polenstrafrechts aus der immanenten Sinnperspektive der zeitgenössischen Polenstrafrechtspflege konnte selbstverständlich überhaupt nur den Weg beschreiten, das Polenstrafrecht auf der Basis der maßgeblichen "politisch-völkischen" Begriffe zu "rechtfertigen" und in seinem inneren Zusammenhang zu charakterisieren. Gemessen an rechtsstaatlicher Strafrechtstheorie konnte es also um gar nichts anderes gehen, "als eine neue Theorie des Strafrechts für 'Fremdvölkische' zu schaffen"358 - und genau darum ging es auch: Die "Theorie" des Strafrechts für Fremdvölkische ergab sich aus der nationalsozialistischen "Weltanschauung"; Aufgabe der Strafrechtspraxis der eingegliederten Ostgebiete war die "Umsetzung" dieser "Theorie". "Strafrechtswissenschaftliches" Vorgehen war deshalb im zeitgenössischen Kontext das Bestreben, den Prozeß dieser Umsetzung darzustellen, zu systematisieren und zu fördern. Man mag sich weigern, beispielsweise Klinges Ausführungen zur teleologischen Begriffsbildung als (straf-)rechtswissenschaftlich zu bezeichnen und die Befassung mit solchen rechtsstaatswidrigen "Strafrechts"-Inhalten ablehnen. Dieser "Reinigungsprozeß" müßte dann allerdings konsequenterweise auch für die gesamte Altreichsstrafrechtsdogmatik durchgeführt werden. Diese "Säuberung" würde freilich nichts daran ändern, daß "(Straf-)Rechtswissenschaft" im zeitgenössischen Kontext anders gesehen

354 Vgl. Freister Anfang 1942 auf der Tagung der OLG-Präsidenten und Generalstaatsanwälte im RJM, BA R 22/4162, Bl. 57 (vgl. Fn. 139). 355 Vgl. aaO.

356 Dazu 4a hh. 357 Majer (1981), S. 752. 358 AaO; Hervorhebung aaO.

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und betrieben wurde, daß sie gerade rechtsstaatswidrige Basisbegriffe voraussetzte und ausformte und von diesem Ausgangspunkt operierte. Normative Begrenzungen der möglichen Inhalte von Strafrechtswissenschaft schließen eine Erfassung immanenter Strukturen aus und bedingen einen Verzicht auf die Nachzeichnung solcher Konturen. Die Verwendung normativer Maßstäbe muß sich dieser Ablehnung der Immanenzperspektive bewußt bleiben. Sie darf jedenfalls nicht, wie bei Majer, dazu führen, normative Maßbegriffe als systemspezifische Sinnkriterien auszugeben, weil eine solche Betrachtung aus der strafrechtshistorischen Realität nicht nur "aussteigt", sondern sie zwangsläufig verzeichnet: Die Anforderungen rechtsstaatlicher Begriffsbildung waren nun einmal, so sehr man dies beklagen mag, nicht die Kriterien, an denen sich zeitgenössische Systematisierungsversuche zum Polenstrafrecht orientierten oder, angesichts der Zielsetzungen, auch nur orientieren konnten. [Nr. 41] Verordnung des Führers zum Schutz der Sammlung von Wintersachen für die Front vom 23. Dezember 1941 Ein "Gelegenheitsgesetz", ähnlich wie die schon besprochene Verordnung zum Schutze der Metallsammlung1, war die Führerverordnung zum Schutze der Wintersachensammlung. Mit ihr trat "Der Führer" selbst als Strafgesetzgeber auf, wie Titel und Zeichnung der Verordnung ausweisen2. Die Sammlung war ausweislich des Gesetzesvorspruchs "ein Opfer des deutschen Volkes für seine Soldaten". Der Tatbestand war dem der Verordnung zum Schutze der Metallsammlung nachgebildet und drohte demjenigen mit der Todesstrafe, der "sich an gesammelten oder vom Verfügungsberechtigten zur Sammlung bestimmten Sachen bereichert oder solche Sachen sonst ihrer Verwendung entzieht". Ähnlich wie die Verordnung zum Schutze der Metallsammlung war die Führerverordnung als pathetischer Beitrag zum "Durchhalten im Lebenskampf des deutschen Volkes gedacht"3. Die propagandistische Absicht wird mit der Verkündung durch Rundfunk unterstrichen, die sechs Tage vor der "deklaratorischen" Veröffentlichung im Reichsgesetzblatt erfolgte. Die Verordnung galt im Großdeutschen Reich, im Generalgouvernement und in allen besetzten Gebieten. Parallel zur früheren Verordnung zum Schutze der Metallsammlung lag die Frage nahe, ob entsprechend dem Verordnungswortlaut, der nur wertfrei generalisierende Merkmale verwendete, jede Entziehung auch geringwertiger Sachen ohne Rücksicht auf die Täterpersönlichkeit mit dem Tode zu bestrafen war (ζ. B. Wegnahme eines wollenen Halstuchs im Wert von zwei Reichsmark zum eigenen Gebrauch), oder ob ein einschränkendes zusätzliches Tätertypenerfordernis erfüllt sein mußte. Im ersten Sinne äußerte sich Schwarz, Mitglied des IV. Strafsenats des Reichsgerichts unter Berufung auf die autoritative Äußerung des "Führers und obersten Gerichtsherrn" Hitler: "Wer sich im Dritten Reich am Krieg bereichert, der stirbt. Denn niemand weiß, ob nicht da vorn ein kleiner armer Musketier ist, dem vielleicht durch ein Paar Handschuhe seine Hand gerettet werden könnte oder der vielleicht vor einer 1 2

Dazu [Nr. 35], RGBl. I, S. 797. - Die VO wurde im "Führer-Hauptquartier" ausgefertigt und war gezeichnet von "Der Führer Adolf Hitler" und RMuChdRk Lammers. Die Rechtsstaatswidrigkeit der VO ergibt sich nach Schorn daraus, daß sie "in ihrem letzten Grunde die Sicherung des Bestandes des nat.-soz. Staates" bezweckte (1963), S. 121. - Aufgehoben durch KRG Nr. 11 Art. II Nr. lk.

3

Dazu bei [Nr. 35],

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Erfrierung geschützt werden könnte durch eine warme Weste, die ihm zu Hause einer wegnimmt. Ich werde hier die Interessen der Soldaten vertreten"4. Entscheidungen zur Verordnung sind, soweit ersichtlich, nicht veröffentlicht, so daß nicht beurteilt werden kann, welche gerichtspraktische Bedeutung sie erlangte. [Nr. 42] Verordnung des Führers zum Schutze der Rüstungswirtschaft vom 21. März 1942 Die FührerVO 1 sollte nach ihrem Vorspruch beim "Einsatz der vorhandenen Arbeitskräfte" und bei der "Verteilung der für die Rüstungswirtschaft wichtigen Rohstoffe, Materialien und Erzeugnisse" den "unbedingten Vorrang" des kriegswichtigen Bedarfs sichern helfen. Der Vorspruch verdeutlicht, daß es sich bei der Verordnung um einen persönlichen "Appell" des Führers an "den deutschen Unternehmer" handelte ("Ich bestimme daher")2. Die Verordnung flankierte Maßnahmen zur Einschränkung und Vereinheitlichung von Berichtspflichten im Rahmen der Rüstungswirtschaft, indem sie falsche Angaben über den Bedarf und den Bestand an Arbeitskräften und Wirtschaftsgütern unter Strafe stellte3. Der Begriff "falsche Angaben" wurde aufgrund der Ermächtigung des Artikels IV der FührerVO 4 in der ersten DurchführungsVO vom 25. April 19425 näher bestimmt und auf falsche Angaben "über die Erzeugung und den Verbrauch sowie bestimmungswidrige Kennzeichnungen der Dringlichkeit von Anträgen" erstreckt (§ 1 DVO), ausdrücklich ("klarstellend"6) einbezogen wurden auch die pflichtwidrig nicht oder unvollständig erstatteten Angaben (§ 2 DVO)7. Tatbestandlich erfaßt war damit jede unvollständige oder unterlassene Angabe über irgendwelche generell produktionswichtigen Wirtschaftsgüter, d. h. der mögliche Gegenstand "falscher" Angaben war, sofern sich diese überhaupt auf die Rüstungsproduktion bezogen, im Ergebnis nicht beschränkt. Dieser Effekt war erwünscht: Eine nähere Begriffsbestimmung hätte nämlich "nur zu einer Kasuistik geführt, die mit dem im Kriege besonders schnellen Wandel unvollständig geworden wäre und damit nur zu unnötigen Schwierigkeiten geführt hätte"8. Die "Gefährdung der Bedarfsdeckung" der Rüstungswirtschaft wurde damit zum einzigen möglichen Ansatzpunkt einer Tatbestandsbegrenzung. Diesem Merkmal wurde nun einerseits A 1

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5 6 7 8

Vgl. ZAkDR 1942, 209. Zur Tätertypenfrage vgl. schon oben [Nr. 35], RGBl. I, S. 165, verkündet am 9.4. 1942, in Kraft getreten am 1. 5.1942 (Art. V); aufgehoben durch KRG Nr. 11, Art. 2 Ziff. 11. Der Führererlaß wurde im Führer-Hauptquartier ausgefertigt. Zeichnung: Der Führer Adolf Hitler, RMuChdRk Lammers und ChdOKW Keitel. Vgl. Schmidt-Leichner, DJ 1942,367. Vgl. Pfundtner/Neubert/Schmidt-Leichner (1933 ff.), III RV 33, S. 1 und eingehend Tränkmann, DJ 1942,650. Der RMdJ wurde ermächtigt, "im Einvernehmen" mit dem Reichsminister für Bewaffnung und Munition die "zur Durchführung und Ergänzung" der VO "erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften" zu erlassen. RGBl. I, S. 246. Vgl. Pfundtner/Neubert/Schmidt-Leichner (1933 ff.), III RV 33, S. 4. Näher Schmidt-Leichner, aaO. Vgl. Schmidt-Leichner, DJ 1942, 368.

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die Funktion zugeschrieben, nur die "fühlbare Beeinträchtigung und Gefährdung der Bedarfsdeckung" zu erfassen. Ähnlich wie in der KriegswirtschaftsVO sollten aber objektive Gesichtspunkte, wie die betroffene Menge, zwar "sehr wesentlich", aber nicht allein entscheidend sein: Bei geringer Menge konnten die "mittelbaren Wirkungen" auf die Rüstungswirtschaft (ζ. B. Nachahmungseffekt) wie im Rahmen des § 1 KriegswirtschaftsVO zur Annahme einer "Bedarfsgefährdung" führen 9 . Für weitere Einzelheiten sei auf die Darstellung zur KriegswirtschaftsVO verwiesen, die zeigt, daß auch das Merkmal der "Bedarfsgefährdung" die Tatbestandsgrenzen in Fluß hielt und die Umgrenzung im Einzelfall dem "pflichtgemäßen Ermessen" des Richters als Kenner der "Volksseele" und der "Kriegserfordernisse" überließ10. Schwierigkeiten für den Nachweis der subjektiven Strafbarkeitsvoraussetzungen erwartete man nicht, da die Adressaten aus der Rüstungswirtschaft "in der Regel selbst am besten" um deren Erfordernisse wüßten11. Dem weitgespannten Tatbestand entsprach ein bemerkenswerter Strafrahmen: In "besonders schweren, die Rüstungswirtschaft erheblich beeinträchtigenden Fällen" war auf Todesstrafe zu erkennen, in "minder schweren Fällen" (Art. I Abs. 2) auf Gefängnis und Geldstrafe in unbeschränkter Höhe oder auf eine dieser Strafen. Unter Einbeziehung der Strafschärfungen und Strafmilderungen reichte der Strafrahmen damit von der gesetzlichen Mindeststrafe von drei Reichsmark (§ 27 II Nr. 1 RStB) bis zur Todesstrafe nebst Geldstrafe in unbeschränkter Höhe, schöpfte also das gesamte Spektrum möglicher Strafen aus. Lediglich die lebenslange Zuchthausstrafe war als Übergangsstufe von der zeitigen Zuchthausstrafe zur Todesstrafe ausgespart, was aber kaum ein "Versehen" gewesen sein dürfte, sollte doch die Verhängung lang ähriger Zuchthausstrafen generell unterbleiben12. Die Spannweite des Strafrahmens wird auch nicht dadurch relativiert, daß als "besonders schwerer Fall" die "erhebliche Beeinträchtigung der Rüstungswirtschaft" genannt wurde. Dieses Merkmal setzte nach den Erläuterungen Schmidt-Leichners, Landgerichtsrat im Reichsjustizministerium, den Eintritt einer Schädigung nicht voraus: Auch die erhebliche Gefährdung, so heißt es, bedeute eine Beeinträchtigung, zudem beweise die (fakultative) Gleichstellung von Versuch und Vollendung durch § 4 der GewaltverbrecherVO13, daß der Nichteintritt eines effektiven Schadens die Verhängung der Höchststrafe nicht hindern könne. Vor allem aber stelle die FührerVO nur den Hauptfall eines besonders schweren Falles heraus, dessen Annahme nicht ausschließlich vom Grade der Beeinträchtigung oder Gefährdung der Rüstungswirtschaft abhänge, sondern sich auch aus allgemeinen, tat- wie täterbezogenen Erschwerungsgründen ergeben könne14. Die FührerVO stellte also dem Richter einen "Globalstrafrahmen" zur Verfügung, der schon für sich betrachtet verdeutlichte, daß der Anknüpfungs-Tatbestand" kein umgrenzter "Tattypus" sein konnte, sondern geringfügigste Bagatelldelikte ebenso einschloß wie Schwerstkriminalität. Die Verordnung legte sich keine Rückwirkung bei, sie sollte erst drei

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14

Vgl. Schmidt-Leichner, DJ 1942,368 f. Vgl. [Nr. 28] 2c bes. bei Fn. 50 ff. (RGSt. 75,129,143). Vgl. Schmidt-Leichner, DJ 1942, 368. Dazu bei VolksschädlingsVO [Nr. 29] 8b. Vgl. [Nr. 33] 5. DJ 1942,369.

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Wochen nach Verkündung in Kraft treten15. Maßgeblich dafür war freilich nicht die Beachtung eines "Rückwirkungsverbots", sondern das Bestreben, eine Effektivierung der Rüstungswirtschaft durch das Beschaffen zutreffender Informationen zu erreichen. Während Artikel I der Verordnung deshalb für die Zukunft die drastische Bestrafung "falscher Angaben" ermöglichte, sah Artikel Π Abs. 1 die Straflosigkeit früherer, nach anderen Bestimmungen strafbarer Angaben vor, wenn eine "Berichtigung" solcher Angaben innerhalb einer Frist von drei Monaten nach Verkündung der Verordnung erfolgte. Diese Amnestie bezweckte die Zuführung unbekannt gehorteter Bestände in die Rüstungswirtschaft. Der Umfang der erforderlichen Berichtigungen und das Verfahren wurden in der ersten DurchführungsVO vom 25. April 194216 und in zahlreichen Einzelanordnungen geregelt ; soweit eine besondere Regelung der Berichtigungserfordernisse fehlte, trat Straffreiheit auch ohne Berichtigung ein18. Die Strafverfolgung nach der Verordnung hing von einem "Verlangen" des Reichsministers für Bewaffnung und Munition ab (Art. ΠΙ Abs. 2), der somit die Anwendbarkeit der Verordnung nach Zweckgesichtspunkten verwalten konnte. Zuständig für die Aburteilung war grundsätzlich der Volksgerichtshof, wodurch der "Ernst" der Zuwiderhandlungen gegen die Verordnung "besonders vor Augen geführt werden" sollte19; im Bereich der Wehrmachtsgerichtsbarkeit entschied das Reichskriegsgericht (Art. IV Abs. 1). In der Praxis des Volksgerichtshofs erlangte die Verordnung offenbar keine besondere Bedeutung20. [Nr. 43] Verordnung zur Ergänzung der Kriegswirtschaftsverordnung vom 25. März 1942 Die Ministerratsverordnung1 faßte § 1 der KriegswirtschaftsVO neu und führte ergänzende Bestimmungen ein. Die ergänzende Verordnung diente, wie die KriegswirtschaftsVO selbst, dem Schutz der "inneren Front" nach Maßgabe der bereits erläuterten Gesichtspunkte, auf die zu verweisen ist2. Die Zentralvorschrift des § 1 I KWVO wurde unverändert beibehalten. Ergänzend beseitigte der neue § 1 Π Zweifelsfragen, die im Zusammenhang mit dem Mißbrauch von Bezugskarten aufgetreten waren3. Die Strafe des § 11 wurde nunmehr auf das Beiseiteschaffen und Nachmachen von Bezugsberechtigungen oder Vordrucken sowie auf das Inverkehrbringen 15 16 17 18 19 20 1

2 3

Vgl. Fn. 1. Vgl. Fn. 5; s. auch 2. DVO v. 23.5.1942, RGBl. I, S. 342. Dazu Pfundtner/Neubert/Schmidt-Leichner (1933 ff.), III RV 30, S. 6 f. Vgl. § 10 1. DVO, Fn. 6. Zu den Einzelheiten Schmidt-Leichner, aaO und DJ 1942, S. 370 ff.; Tränkmann, DJ 1942, 650 ff. Pfundtner/Neubert/Schmidt-Leichner (1933 ff.), III RV 30, S. 2. Bei W. Wagner (1974) finden sich keine einschlägigen Nachw. RGBl. I, S. 147. Zeichnung: Vors. des MfdRV Göring, GBV Frick, GBW Funk, RMuChdRk Lammers, ChdOKW Keitel und - erstmals! - Leiter der PK Bormann. Zur Fortgeltung oben [Nr. 28] bei Fn. 3. Dazu AV des RJM v. 1. 4. 1942, DJ 1942, 238 und Rietzsch/Peren/Schneider (1942), S. 208 f. und oben [Nr. 28] 1. Dazu Rietzsch/Peren/Schneider (1942), S. 237 und Rietzsch, DJ 1942,223.

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nachgemachter Bezugsberechtigungen oder Vordrucke erstreckt. § 1 ΠΙ ermöglichte, weitergehend als § 27a RStGB ("Gewinnsucht"), schon bei Bereicherungsabsicht neben Freiheitsstrafe Geldstrafe in unbegrenzter Höhe, § lc zudem die Einziehung der Rohstoffe oder Erzeugnisse, aufweiche sich die Tat bezog. Die "Geldhortung" des § 1 II KWVO wurde zwar als § Id I beibehalten und um eine uneingeschränkte Einziehungsmöglichkeit ergänzt (§ Id II); im ganzen zielte die Ministerratsverordnung indes auf eine Einschränkung des Anwendungsbereichs, indem sie bei tätiger Reue Strafbefreiung vorsah (§ ld III), vor allem aber indem die Strafverfolgung nur auf Anordnung des Reichsjustizministers (§ Id IV) eintreten sollte: Die "günstige Entwicklung des Krieges und die von der Bevölkerung gehaltene Disziplin" gestatteten eine Beschränkung der Strafbarkeit "auf wichtige Fälle" heißt es bei Rietzsch4. Den Kern der Verordnung bildete die Strafvorschrift gegen den Tausch- und Schleichhandel (§ la). Sie war an alle adressiert, die sich gewerblich oder beruflich mit der Erzeugung, dem Umlauf oder der Verteilung von Waren befaßten. § la ähnelte den Vorschriften gegen aktive und passive Bestechung: § la I Nr. 1 erfaßte denjenigen, der "für die Bevorzugung eines anderen bei der Lieferung von Waren oder bei Leistungen eine Tauschware oder einen sonstigen Vorteil fordert oder sich oder einem anderen versprechen oder gewähren läßt".

Die Nummer 2 des Absatzes 1 betraf das Anbieten, Versprechen oder Gewähren solcher Vorteile zum Zwecke der Waren- oder Leistungsbeschaffung. Die einheitliche Strafdrohung lautete auf Gefängnis und/oder Geldstrafe. Da sich die Strafdrohung nur an Berufs- oder Gewerbetreibende richtete, wurde auch die Teilnahme von Verbrauchern straflos gestellt (§ la II)S. Die Einziehung der betroffenen Rohstoffe und Erzeugnisse war auch im Fall des § la möglich (§ ld). Die Abgrenzung des neuen § la vom Zentraltatbestand des § 1 I KWVO war wegen der Psychologisierung der Bedarfsgefährdung flüssig6. Ob ein "ernsterer Schaden" im Sinne des § 1 I KWVO vorlag, sollte für die Tatbestandsanwendung den Ausschlag geben und war innerhalb eines weitgesteckten Ermessensrahmens nach Maßgabe der Verordnungszwecke zu beurteilen7. Hinzu kam, daß § lb durch den Verweis auf die entsprechenden Vorschriften der VerbrauchsregelungsstrafVO die Einleitung der Strafverfolgung vom Bestehen eines "öffentlichen Interesses" abhängig machte. Bei Verneinung dieses öffentlichen Interesses kam die Verhängung eines Ordnungsgeldes durch die jeweils zuständigen Behörden in Betracht8. Da die Weichenstellungen im Vorfeld durch die Staatsanwaltschaft erfolgten, war damit das Kriegswirtschaftsstrafrecht in weitem Umfang "sachgerechter Verwaltung" durch die Staatsanwaltschaft überantwortet.

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Vgl. Rietzsch, DJ 1942, 225; s. auch Rietzsch/Peren/Schneider (1942), S. 262. Zu den Gründen der fehlenden Strafwürdigkeit Rietzsch/Peren/Schneider (1942), S. 258. Dazu [Nr. 28] 2c. Vgl.AVdesRJMv. 1.4.1942, DJ 1942,238. Vgl. § lb KriegswirtschafteVO n. F. i. V. m. §§ 4, 7 ff. VerbrauchsregelungsstrafVO i. d. F. v. 26.11. 1941, RGBl. I, 734; näher Rietzsch/Peren/Schneider (1942), S. 258 f. und AV des RJM ν. 1. 4. 1942, DJ 1942, 238 f.

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[Nr. 44] Verordnung zur Erweiterung und Verschärfung des strafrechtlichen Schutzes gegen Amtsanmaßung vom 9. April 1942 Die Ministerratsverordnung1 hatte offenbar keinen kriegsbedingten Anlaß. In den Erläuterungen von Ministerialrat Rietzsch heißt es, wiederholt hätten sich Verbrecher bei der Begehung schwerer Straftaten als Polizeibeamte oder Wehrmachtsangehörige getarnt. Derartige Praktiken beeinträchtigten das Ansehen von Polizei und Wehrmacht und erzeugten "Unsicherheit im Volke", so daß ihnen "mit den schärfsten Mitteln entgegengetreten" werden müsse2. § 1 bedrohte denjenigen mit der Todesstrafe, in minder schweren Fällen mit Zuchthausstrafe, der "sich bei Begehung eines Verbrechens wissentlich unbefugt als Angehöriger der deutschen Polizei oder eines ihrer Hilfsorgane oder als Angehöriger der deutschen Wehrmacht ausgibt".

Absatz 2 sah unter im übrigen gleichen Voraussetzungen bei Begehung eines Vergehens oder einer nach österreichischem Recht strafbaren Übertretung Zuchthaus- oder Gefängnisstrafe vor. Damit wurden die Grundstraftaten stets zu Verbrechen aufgewertet3. § 1 Ministerratsverordnung übertrug erstaunlich spät den Grundgedanken des § 2 HeimtückeVO und der Nachfolgevorschrift des § 3 Heimtückegesetz auf Polizei und Wehrmacht: Die Begehung von strafbaren Handlungen unter unbefugtem Tragen von Parteiuniformen war schon seit 1933 mit drastischer Strafe bedroht4. Bemerkenswert ist weiter, daß die lebenslange Zuchthausstrafe als Zwischenstufe zwischen der zeitigen Zuchthausstrafe und der Todesstrafe entfiel5. Die u. a. von Freisler vertretene Auffassung zur wünschenswerten Begrenzung der Höchstdauer von Freiheitsstrafen setzte sich hier durch. Mit der Anknüpfung an die Unterscheidung von Verbrechen und Vergehen wurde im übrigen dem § 1 der Verordnung die ganze Problematik der Deliktseinteilung implantiert. Die abstrakte Betrachtungsweise des § 1 RStGB war mit der Ausweitung der Strafrahmen und dem Vordringen der unbenannten Strafänderungen zunehmend systemwidrig. Rietzsch empfahl deshalb für § 1 der Verordnung eine auf den im konkreten Fall anwendbaren Strafrahmen der Grundtat abstellende "konkretere" Betrachtung in dem Sinne, daß die Einordnung als besonders oder minder schwerer Fall auf die Verbrechenseinteilung durchschlagen sollte6. Eine solche Entwicklung zeichnete sich namentlich für § 73 RStGB in der Rechtspre1

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RGBl. I, S. 174. Zeichnung: Vors. des MfdRV Göring, GBV Frick, RMuChdRk Lammers. Geltung auch für Österreich, eingegliederte Ostgebiete, Protektorat Böhmen und Mähren, vgl. § 2 II, 3,4 VO. - Aufgehoben durch KRG Nr. 55 Art. I Nr. 14. Grau/Krug/Rietzsch2 (1943), S. 349; ebenso Pfundtner/Neubert/Rietzsch/Hcyer (1933 ff.), II c 27, S. 1. Zum eigenständigen Charakter des § 1 II VO RGSt. 76,281, 282 (Urt. v. 20.11. 1942,4. StS). Konsequenz: Entbehrlichkeit der für die Grundtat erforderlichen Ermächtigung (Strafantrag). Dazu oben [Nr. 4] bei Fn. 4; [Nr. 15] bei Fn. 26. Vgl. dazu [Nr. 29] 8b. Vgl. Grau/Krug/Rietzsch2 (1943), S. 351 f. mit Nachw.; allg. vgl. Kohlrausch/Lange38 (1943), § 1 Anm. II, S. 31; vgl. zur beabsichtigten Lösung des E 1944 4. Teil Β II 2; zu Einzelheiten der MinisterratsVO, insbesondere zum Ausgeben als Angehöriger der Polizei, eines Hilfsorgans oder der Wehrmacht Rietzsch, aaO, S. 349 ff. Zur Rspr. vgl. bei Fn. 3 und noch SG Hamburg, DR 1944, 2802 (Urt. v. 6.7.1943) mit Anm. Sommer.

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chung des Reichsgerichts bereits ab7. § 2 der Verordnung verschärfte unter förmlicher Änderung des RStGB die Strafe für Amtsanmaßung (§ 132 RStGB) drastisch von bis zu einem Jahr Gefängnis oder Geldstrafe auf Gefängnisstrafe, in "schweren Fällen" auf Zuchthausstrafe. Damit enthielten sämtliche Neuerungen der Verordnung unbenannte Strafrahmenänderungen und fügten sich so in die Tendenz zur Ausweitung des strafrichterlichen Ermessens. [Nr. 45] PaßstrafVerordnung vom 27. Mai 1942 Die Ministerratsverordnung1 erweiterte den Kreis der paßstrafrechtlichen Grenzdelikte (§§ 1 und 2) und Urkundendelikte (§§ 3 und 4). Die Strafen wurden erheblich verschärft, die Strafrahmen weit gespannt: Die Strafdrohung für die vorsätzlichen Grenzdelikte (§ 1) etwa lautete auf Geldstrafe, Haft oder Gefängnis, in besonders schweren Fällen auf Zuchthaus. Die Sondervorschriften über die Urkundsdelikte richteten sich namentlich gegen politisch motivierte Delikte2. Die Paßstrafverordnung war für das allgemeine Strafrecht insofern richtungweisend, als § 5 II auf die "auch im allgemeinen Strafrecht unerwünschten Beschränkungen der Strafbarkeit der Teilnahme" verzichtete3. Damit wurden versuchte Anstiftung und versuchte Beihilfe mit einer fakultativen Milderungsmöglichkeit - uneingeschränkt strafbar4. [Nr. 46] Gesetz zur Ergänzung der Vorschriften gegen Landesverrat vom 22. November 1942 Das Reichsregierungsgesetz1 führte in § 1 für "besonders schwere Fälle" der Verabredung des Landesverrats sowie der Aufforderung und des Sicherbietens hierzu die Todesstrafe ein (§ 92 IV RStGB)2 und verwirklichte damit "angesichts der Bedeutung eines nachhaltigen Schutzes des Reichs gegen Landesverrat im Kriege"3 Regelungen, die teilweise dem E 1936

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Dazu Kohlrausch /Lange* (1943), § 73 Anm. 3 und mit Blick auf § 1 MinisterratsVO Rietzsch, aaO; s. auch § 1 E RStGB 1944 (4. Teü Β12). RGBl. I, S. 350. Zeichnung: Vors. des MfdRV Göring, GBV Frick, RMuChdRk Lammers. Zur Weitergeltung nach 1945 vgl. Dalckex (1950), S. 358. Vgl. Grau/Krug/Rietzsch2 (1943), S. 362. Zur VO vgl. auch Schroeder (1970), S. 175. Vgl. Rietzsch, aaO, S. 366. Zu Beispielen Pfundtner/Neubert/Hoffmann (1933 ff.), I b 1, S. 19. Vgl. sogleich [Nr. 49] 2; s. auch E RStGB 1944 (4. Teü Β111). Zur Erweiterung der Strafbarkeit von Vorbereitungshandlungen § 5 III VO. RGBl. I, S. 668. Es zeichnen: FuRk Adolf Hitler, Vors. des MfdRV Göring; ChdOKW Heitel, RMdJ Thierack; RMdl Frick; RMuChdRk Lammers. Das auch in den eingegliederten Ostgebieten geltende Gesetz (Art. IV) wurde im Führer-Hauptquartier ausgefertigt. - Aufgehoben durch KRG Nr. 11, Art. I. Vgl. § 921, II RStGB 1935 [Nr. 13] und dort 3a. Vgl. Pfundtner/Neubert/Rietzsch (1933 ff.), II c 6, S. 197.

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entsprachen4. § 2 des Gesetzes legte den Strafschärfungen zeitlich unbegrenzte Rückwirkung bei. Besonders bemerkenswert war Artikel III des Änderungsgesetzes. Er holte ein "Versäumnis" der Verratsnovelle nach, die sich keine rückwirkende Kraft beigelegt hatte 5 und ermöglichte im Einzelfall die Anordnung der Rückwirkung der Strafvorschriften gegen Landesverrat auf vor dem Inkrafttreten der Verratsnovelle begangene Taten (Art. III). Zuständig für die Anordnung dieser "punktuellen" Rückwirkung waren die Ressortchefs der jeweils zuständigen Gerichtsbarkeiten, also der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht im Bereich der Wehrmachtsgerichtsbarkeit, der Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei für die SSund Polizeigerichtsbarkeit sowie der Reichsjustizminister für die allgemeine Justiz6. Aus den Erläuterungen von Rietzsch wird deutlich, daß das Änderungsgesetz offenbar bestimmte Fälle im Auge hatte: Es sei "neuerdings gelungen", Fälle von Landesverrat aus der Zeit vor dem Inkrafttreten der Verratsnovelle aufzudecken, die "von so ernster Bedeutung" seien, daß "ohne eine rückwirkende Anwendung der Vorschriften dieses Gesetz eine ausreichende Sühne nicht möglich ist"7. Deutlicher können die Nichtexistenz eines "Rückwirkungsverbots" und die Instrumentalfunktion des Strafgesetzes kaum demonstriert werden! [Nr. 47] Verordnung über die Änderung der Strafvorschrift gegen die Verletzung fremden Fischereirechts und über die Einführung reichsrechtlicher Strafvorschriften zur Bekämpfung der Wilderei in den Alpen- und Donau-Reichsgauen vom 23. Januar 1943 Die ihrem Inhalt nach wenig aufregende Verordnung fügte in § 293 RStGB einen neuen Absatz 2 mit einer Strafschärfung für besonders schwere Fälle ein, die durch eine Reihe von Regelbeispielen erläutert wurden. Bemerkenswerter ist, daß mit dieser Verordnung das "Dreierkollegium" aufgrund seiner nicht veröffentlichten "gesetzlichen Ermächtigung" als Strafgesetzgeber auftrat, Reichsstrafrecht änderte und in Österreich einführte1. [Nr. 48] Verordnung zum Schutz von Ehe, Familie und Mutterschaft vom 9. März 1943 nebst Durchführungsverordnung vom 18. März 1943 Die Ministerratsverordnung1 brachte mitten im Kriege ein Stück nationalsozialistische Strafrechtsreform2. Artikel I enthielt entsprechend dem Titel der Verordnung Strafvorschrif4

Vgl. §§ 100,101 E 1936 ί. V. m. §§ 11,12, die für das Erbieten zu einer Straftat und die Verabredung Vollendungsstrafe androhten. Das "Auffordern" zum Geheimnisverrat war nach § 104 E 1936 nur mit (zeitiger) Zuchthausstrafe bedroht.

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Vgl. Art. XI des Ges. v. 24.4.1934, RGBl. I, S. 341. Näher Pfundtner/Neubert/Rietzsch (1933 ff.), II c 6, S. 199 und Grau/Kmg/Rietzsch2 (1943), S. 377. Vgl. Grau/Krug/Rietzsch2 (1943), S. 375 und Pfundtner/Neubert/Rietzsch (1933 ff.), II c 6, S. 197.

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RGBl. I, S. 67. Zeichnung: GBV Frick, laut Einleitung der VO "mit Zustimmung" des BfdVj und des OKW; vgl. C 1 2 . RGBl. I, S. 140. Zeichnung: Vors. des MfdRV Göring, GBV Frick, RMuChdRk Lammers. Dazu Pfundtner/Neubert/Rietzsch (1933 ff.), II c 6, S. 205; Kohlrausch/Lange* (1943) zu §§ 170a ff., S. 398 ff.; zu § 218, S. 478 f., 481; Klee, ZAkDR 1943,89; Schänke2 (1944), I Vor § 169.

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ten gegen "Angriffe auf Ehe, Familie und Mutterschaft" (dazu 1). Auf Artikel II der Verordnung paßte ihr Titel nicht: Die §§ 5 bis 7 betrafen die Abtreibung und die Zerstörung der Fortpflanzungsfähigkeit (dazu 2). Die Verordnung im ganzen folgte einem völkisch-rassischen Grundgedanken (dazu 3) und wurde in einer Durchführungsverordnung in das RStGB eingepaßt (dazu 4). 1. Angriffe auf Ehe, Familie und Mutterschaft (Art I) Der strafrechtliche Schutz von Ehe und Familie wurde "schon seit langem als unzureichend" empfunden. Der Strafgesetzentwurf (E 1936) enthielt eine Reihe von Vorschriften, die der Ministerratsverordnung als Vorlage dienten. Kriegsbedingt war nur der Anlaß der Verordnung, die von der Erwägung geleitet war, daß sich im Krieg "das Verantwortungsbewußtsein für den Ernst der Pflichten, die aus Ehe und Mutterschaft erwachsen, durch die langdauernde Trennung der Gatten lockern" könne3. § 1 stellte das böswillige oder grob eigennützige Veräußern, Zerstören oder Beiseiteschaffen von Familienhabe unter Strafe, wenn dadurch der andere Ehegatte oder ein Abkömmling geschädigt wurden. Die Strafdrohung lautete auf Gefängnis bis zu zwei Jahren oder Geldstrafe. § 1 lehnte sich an § 196 E 1936 an, der freilich weitaus enger war, indem er als Erfolg nicht schlicht einen, durch die Tathandlung regelmäßig verursachten, irgendwie gearteten "Schaden"4 genügen ließ, sondern eine "erhebliche Unterhaltsgefährdung" voraussetzte. § 2 betraf die vorsätzliche Verletzung der Unterhaltspflicht. Gefordert war neben dem Entziehen, daß der "Lebensbedarf des Unterhaltsberechtigten gefährdet ist oder ohne öffentliche Hilfe oder die Hilfe anderer gefährdet wäre". § 2 drohte mit Gefängnisstrafe und erklärte den Versuch für strafbar. Auch § 2 war deutlich weiter als § 195 E 1936, der eine "böswillige oder grob eigennützige" "erhebliche" Gefährdung des "notwendigen" Lebensbedarfs verlangt hatte5. Nach § 3 war mit Gefängnis zu bestrafen, wer einer von ihm Geschwängerten gewissenlos die wegen der Schwangerschaft oder der Niederkunft notwendige Hilfe versagte und dadurch Mutter oder Kind gefährdete. Die Gefährdung mußte Leben oder Gesundheit von Mutter oder Kind betreffen 6 . § 197 E 1936 hatte noch eine "unmittelbare schwere Gefahr" vorausgesetzt7. § 4 betraf die Kindesgefährdung ("körperliches oder sittliches Wohl") durch "gröbliche" Vernachlässigung von Fürsorge- oder Erziehungspflichten, die "in gewissenloser Weise" erfolgen mußte. Die Strafdrohung lautete auf Gefängnis. Kennzeichnend für die Tatbestandstechnik des Artikels I ist die weite Fassung der objektiven Voraussetzungen, die in den §§ 1, 3 und 4 mit Gesinnungstypisierungen ("gewissenlos", 3 4

Vgl. Rietzsch, aaO. Zur Weite des Begriffs "Schaden" vgl. RGSt. 77,307 (Urt. v. 20.1. 1944): "Nachteile ... jeder Art" wie "Verwirrung und Unordnung im Haushalt". Zum E 1936 Begr. S. 141 und Lorenz, Gürtner BT 2 (1936), S. 188,191,193.

5 6 7

§ 195 E 1936 nebst Begr. S. 141 und Lorenz, aaO, S. 185 f., 191,193. Vgl. Pfundtner/Neubert/Rietzsch (1933 ff.), II c 6, S. 210; Schänkt? (1944), § 170c Anm. II 2. § 197 E 1936 nebst Begr. S. 141 und Lorenz, aaO, S. 187,192,194.

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"böswillig", "grob eigennützig") verbunden wurde. Diese Gesinnungsmerkmale bilden das mögliche Gegengewicht zum weiten Einzugsbereich der Vorschriften und bezeugen die Hinwendung zu einem Gesinnungs- und Charakterstrafrecht, das auf den "Täter" und letztlich auf seine Lebensform zielt8. Bemerkenswert ist auch, daß die §§ 1, 2 und 3 gegenüber ihren Vorgängern im E 1936 eine weitere deutliche Auflockerung der Tatbestandsvoraussetzungen erkennen lassen. Die §§ 1, 3 und 4 der Verordnung waren im Vergleich zum bisherigen RStGB gänzlich neu, während die Unterhaltspflichtverletzung (§ 2) im Übertretungstatbestand des § 361 Nr. 10 RStGB einen Vorläufer hatte, der allerdings eine behördliche Abmahnung voraussetzte und dadurch erheblich enger war. Im übrigen betraten die dargestellten Änderungen nur insofern wirklich Neuland, als sie die Voraussetzungen für staatliche Reaktionen mit justizstrafrechtlichen Mitteln schufen: Die Strafrechtsreform hinkte bereits hinter der Entwicklung her. Die kriminalpolizeiliche Asozialenbekämpfung galt schon seit Jahren den Unterhaltsverweigerern, die beim Vorliegen gewisser Voraussetzungen in Vorbeugungshaft (Konzentrationslager) genommen wurden9. Auch die von den §§ 1 und 4 angesprochenen Personen konnten in den weiten Asozialenbegriff der polizeilichen Vorbeugungshaftvoraussetzungen einbezogen werden10. Die Polizei hatte also auf ihre Weise die Absichten der nationalsozialistischen Strafrechtsreform bereits verwirklicht und erwies sich mit dem Erlaß der Ministerratsverordnung als Schrittmacherin des Justiz-Strafrechts. 2. Abtreibung, Zerstörung der Fortpflanzungsfähigkeit und Vertrieb von Mitteln gegen die Schwangerschaft (Art. II) Artikel II der Verordnung hatte eine bevölkerungspolitische Zielsetzung: Er sollte, wie die §§ 5 III und I I I der Verordnung im Anschluß an den E 1936 zum Ausdruck brachten, die "Lebenskraft des deutschen Volkes" schützen11. Dabei betrafen die §§ 5 bis 7 nicht die nationalsozialistisch-weltanschaulichen Grundlagen dieser Lebenskraft, die der E 1936 als völkischen Fortpflanzungswillen gegen geistige "Zersetzung" schützen wollte12. Vielmehr wurde unmittelbar die "biologische Kraft" des Volkes geschützt. Aktueller Anlaß der Ministerratsverordnung waren die Kriegsverluste: Sie nötigten, so Rietzsch, "mehr denn je, eine aktive Bevölkerungspolitik zu treiben und die biologische Kraft des Volkes nachdrücklicher denn je zu schützen"13.

8

9 10 11 12 13

Zur "einschränkenden" Funktion der Gesinnungsmerkmale Begr. E 1936, S. 140 f. Zur Auslegung der Gesinnungsmerkmale nach "gesundem Volksempfinden" RG DR 1944, 657* (Urt. v. 26. 5.1944) und schon RGSt. 77,215,216 (Urt. v. 8.10.1943), jeweils zu § 170d RStGB (§ 4 VO). Aus der Rspr. zu §§ 1 ff. VO ( = §§ 170a ff. RStGB) vgl. noch Fn. 4 sowie RG DR 1944, 5297 (§ 4 V O / § 170d RStGB). Dazu 3. Teil Β IV lb dd [3] bei Fn. 45. Vgl. aaO. S. auch E GFrG 1944 4. Teil A I V 2. Vgl. die Überschrift des 2. Buches, 2. Gruppe, 1. Teil (§§ 133 ff.) E 1936 und Begr. S. 98 f., näher unten 3. Vgl. § 139 E 1936 und Begr. S. 102 f. Vgl. Pfundtner/Neubert/Rietzsch (1933 ff.), II c 6, S. 205, 211; ähnlich RG-GS-DR 1944, 7211 (Beschl. v. 15.7.1944); s. auch Klee, ZAkDR 1943,88.

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a) Abtreibung Hauptmittel dieses verstärkten Schutzes war eine wesentliche Verschärfung der Strafvorschrift gegen die Abtreibung. Die Novelle vom 26. Mai 193314 hatte es insoweit bei der seit 1926 geltenden Strafvorschrift belassen, wonach für Selbst- und Fremdabtreibung Gefängnisstrafe (§ 218 I, II) und für die gewerbsmäßige Abtreibung Zuchthausstrafe (§ 218 IV) drohte 15 . § 5 behandelte zunächst die Fremd- und die Selbstabtreibung unterschiedlich: Die Sanktion für Selbstabtreibung war Gefängnis, "in besonders schweren Fällen" Zuchthaus; für Fremdabtreibung drohte regelmäßig Zuchthaus, "in minder schweren Fällen" Gefängnis. § 5 wollte damit dem Umstand Rechnung tragen, daß sich regelmäßig zwar die Schwangere, nicht aber der Abtreiber in einer Konfliktslage befinde. Diese Konfliktslage war mit Bezug zum Schutz des völkischen Fortpflanzungswillens zu beurteilen: Äußere Not, Zweifel über die Person des Vaters oder sonst tiefe seelische Depression sollten nach den Erläuterungen von Rietzsch bei der Schwangeren zur Regelstrafe führen, zur Zuchthausstrafe aber jede "verwerfliche Abneigung gegen die Erfüllung der Mutterschaftspflichten" wie Scheu vor Beschwerden oder der Wunsch, "Vergnügungen nachzugehen". Beim Fremdabtreiber kam nach diesen Erläuterungen angesichts des hohen Gemeinschaftsinteresses an der "Erhaltung der Volkskraft" ein minder schwerer Fall nur "ausnahmsweise" in Betracht, namentlich wenn für ihn aus besonderen Gründen eine ähnliche Konfliktslage wie für die Schwangere selbst bestand16. Den deutlichsten Ausdruck fand der volksbiologische Schutzzweck der Abtreibung in § 5 III S. 2, der dem Fremdabtreiber galt: "Hat der Täter ... die Lebenskraft des deutschen Volkes fortgesetzt beeinträchtigt, so ist auf Todesstrafe zu erkennen".

Hier wurde offenkundig, daß der Individualschutz des werdenden Lebens in eine bloße Reflexwirkung des Schutzes "völkischer Gemeinschaftsinteressen" verwandelt war. Die Todesstrafe sollte mit Begehung der dritten Abtreibung in Frage kommen. Ihre Verhängung setzte im übrigen weder gewohnheits- noch gewerbsmäßige Begehung voraus und mußte in diesen Fällen auch nicht notwendig vorliegen, etwa wenn der Nachwuchs "vom Standpunkt der Volksgemeinschaft nicht wertvoll und lebenskräftig gewesen wäre". Der praktische Schwerpunkt der Vorschrift lag freilich bei der bis dahin mit zeitiger Zuchthausstrafe bedrohten gewerbsmäßigen Abtreibung17. Die eingangs geschilderte Grundauffassung zur volksbiologischen Bedeutung des Abtreibungstatbestandes war auch für den Großen Senat des Reichsgerichts "Leitstern der Auslegung", der namentlich für Absatz 3 Satz 2 die Richtung weisen sollte. Unter Hinweis auf "Sinn 14 is 16 17

Dazu oben [Nr. 8J. Fassung des Ges. v. 18.5.1926, RGBl. I, S. 239. Gegenüberstellung bei Kohlrausch/Lange3* (1943), S. 478. Vgl. Pfimdtner/Neubert/Rietzsch (1933 ff.), II c 6, S. 212 f. S. auch Rietzsch, DJ 1943, 242; Schänke2 (1944), § 218 Anm. IX 2. Vgl. Kohlrausch /Lange3* (1943), § 218 Anm. II; vgl. auch Rietzsch, DJ 1943, 243 und in: Pfundmer/ Neubert (1933 ff.), II c 6, S. 214.

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und Zweck" des neuen § 5 (§ 218 RStGB) erklärte der Große Senat Absatz 3 Satz 2 schon dann für anwendbar, wenn wenigstens die letzte Tat nach Inkrafttreten des Gesetzes begangen worden war: Alle gesetzgeberischen Maßnahmen könnten gerade angesichts der "Blutverluste des Krieges" ihr "Ziel nur erreichen, wenn sie sich alsbald auswirken". Das Fehlen einer Rückwirkungsanordnung stehe diesem Ergebnis nicht entgegen, da auf die letzte Tat die Neufassung des § 218 anwendbar sei18. § 5 IV ersetzte schließlich den bisherigen § 218 IV S. 2 RStGB, ließ das Erfordernis der "Gewerbsmäßigkeit" fallen und drohte für jede Beschaffung von Abtreibungsmitteln mit Gefängnis, "in besonders schweren Fällen" mit Zuchthaus. Der Vollständigkeit halber sei angefügt, daß als Rechtfertigungsgrund für die Abtreibung neben der medizinischen Indikation auch die eugenische Indikation nach Maßgabe des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses in Frage kam19. b) Zerstörung der Fortpflanzungsfähigkeit Im Dienste der "biologischen Volkskraft" stand auch § 6, der die vorsätzliche Zerstörung der Zeugungs- oder Gebärfähigkeit bei sich selbst oder bei einem anderen mit dessen Einwilligung nach dem Vorbild des § 139 E 1936 erfaßte20. Die "nachhaltige Störung" der Fortpflanzungsfähigkeit duch "Bestrahlung oder Hormonbehandlung" wurde einbezogen; die "gesetzlich zugelassenen Fälle" der Unfruchtbarmachung, namentlich nach dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, waren vom Anwendungsbereich des § 6 ausgenommen21. Als Strafe drohte Gefängnis von mindestens drei Monaten, in besonders schweren Fällen Zuchthaus. c) Vertrieb von Abtreibungsmitteln § 7 ersetzte nach dem Modell des § 143 E 1936 den § 219 RStGB, den die Novelle vom 26. Mai 1933 eingeführt hatte22. Gemessen an der Technik der späteren Gesetzgebung hatte sich der früheren Entwürfen entlehnte Tatbestand über die öffentliche Ankündigung von Abtreibungsmitteln als zu kasuistisch erwiesen23. Er wurde durch eine weitgefaßte Blankettvorschrift ersetzt, die das vorsätzliche oder fahrlässige vorschriftswidrige Herstellen, Ankündigen oder Inverkehrbringen aller Mittel oder Gegenstände zum Abbruch oder zur Verhütung von Schwangerschaft oder zum Vorbeugen von Geschlechtskrankheiten (Î)24 mit Gefängnis bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bedrohte. Die Ausfüllung des Blanketts "einer Vorschrift

18 19 20 21 22 23 24

RG-BS-DR 1944, 721 Nr. 1 (Beschl. v. 15. 7.1944). A. M. SG Hamburg, DR 1944, 282 Nr. 3 (Urt. v. 20.7.1943), das allerdings über § 20a RStGB und § 1 ÄndG 1941 [Nr. 39] zur Todesstrafe gelangte. Dazu etwa Pfundtner/Neubert/Rietzsch (1933 ff.), II c 6, S. 211. Dazu Begr. E 1936, S. 102 f. Vgl. § 1 Ges. v. 14.7.1933, RGBl. I, S. 529 i. V. m. § 14 i. d. F. des Ges. v. 26. 6.1935, RGBl. I, S. 773 und schon [Nr. 8] bei Fn. 13; ferner § 42k RStGB (Entmannung), dazu [Nr. 12] 4e. Oben [Nr. 8] bei Fn. 9. Dazu Pfundtner/Neubert/Rietzsch (1933 ff.), II c 6, S. 215 und Rietzsch, DJ 1943,244. Umgehungsgesichtspunkt, vgl. Rietzsch, DJ 1943,244.

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entgegen" wurde dem Reichsinnenminister überlassen (§ 9 Π): Zur wirksamen Bekämpfung der Mißstände auf diesem Gebiet müsse den Behörden "freie Hand" gegeben werden25. 3. Der völkisch-rassische Grundgedanke der Ministerratsverordnung Die volksbiologische Grundrichtung des Artikels II ist bereits aus der Fassung der Vorschriften hinreichend deutlich geworden. Einer völkisch-rassischen Ausrichtung folgten aber auch die Vorschriften des Artikels I. Der E 1936 hatte die entsprechenden Vorschriften des Artikels I ebenso wie die des Artikels II der Verordnung in die Zweite Gruppe der einzelnen Straftaten unter dem Titel "Schutz der Volkskraft" eingeordnet. Während sich die Strafbestimmungen des Artikels II der Ministerratsverordnung dort im Ersten Teil als "Angriffe auf die Lebenskraft des Volkes" unter den Angriffen auf "Rasse und Erbgut" (Vierter Abschnitt) wiederfinden, sind die Bestimmungen des Artikels I im Zweiten Teil der Zweiten Gruppe als "Angriffe auf die seelische und sittliche Haltung des Volkes" näher qualifiziert und in den Achten Abschnitt ("Angriffe auf Ehe und Familie") eingestellt26. Die Ministerratsverordnung bestätigt ihre ausschließliche Ausrichtung auf deutsch-völkische Interessen in den Bestimmungen über den Geltungsbereich: § 8 ermächtigt den Reichsjustizminister, die §§ 1 bis 7 bei Straftaten gegen Personen, die "nicht deutsche Staatsangehörige deutscher Volkszugehörigkeit" sind, "im Erlaßwege" für unanwendbar zu erklären. Der Reichsjustizminister kann also die Strafrechtsanwendung insoweit durch Verwaltungsvorschrift nach Maßgabe "volkspolitischer"27 Betrachtung steuern. § 111 läßt die Grundrichtung der Verordnung gleichfalls deutlich hervortreten, auch wenn die technische Durchführung komplizierter ist: Im Protektorat Böhmen und Mähren soll die Verordnung für Taten von Personen, die nicht deutsche Staatsangehörige sind, nur gelten, wenn sie sich gegen deutsche Staatsangehörige oder gegen die Lebenskraft des deutschen Volkes richten. Der Sinn ist klar: Taten "Fremdvölkischer" gegen "Fremdvölkische" werden von der Verordnung nicht erfaßt. Das "Nähere" soll im Verwaltungsweg geregelt werden (§11 II). Für die eingegliederten Ostgebiete wird keine "volkspolitische" Differenzierung vorgenommen. Es bedarf ihrer auch nicht, weil schon die PolenstrafrechtsVO selbst eine Anpassung an die völkisch-rassischen Maßstäbe ermöglicht28. 4. Die Durchführungsverordnung Die Ministerratsverordnung wartete noch mit einer gesetzestechnischen Besonderheit auf, die freilich nicht ganz neu war29: Die Einfügung der Strafbestimmungen in das RStGB erschien dem Ministerrat offenbar zu mühsam: § 9 II der Verordnung ermächtigte den Reichsjustizminister, den Wortlaut des RStGB anzupasssen. Diese Anpassung erfolgte dann in der Durchführungsverordnung vom 18. März 1943. Da auch das österreichische Strafrecht betrof25 26 27 28 29

Vgl. Rietzsch, aaO. Zu Art. IVO vgl. §§ 195-197 E 1936 und zu Art. II VO entspr. §§ 140,139,143 E 1936. Vgl. 3. Teil E III! Dazu [Nr. 40] 3d aa; 4a ff [2], Vgl. schon [Nr. 39] 6.

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fen war, erließ der Reichsjustizminister die Durchführungsverordnung gemeinsam mit dem Reichsinnenminister30. Die am 2. April 1943 verkündete durchführende Verordnung trat rückwirkend mit der Hauptverordnung, der Ministerratsverordnung, am 23. März 1943 in Kraft. Die inhaltlich unverändert gebliebenen Strafbestimmungen mußten in den angesichts ihrer völkisch-rassischen Ausrichtung inzwischen unpassenden Rahmen des RStGB eingefügt werden. Die Vorschriften des Artikels I wurden unter Beibehaltung ihrer Reihenfolge in den Zwölften Abschnitt des Zweiten Teils als §§ 170a bis 170d übernommen, wobei der Abschnittstitel entsprechend ergänzt wurde ("Straftaten gegen den Personenstand, die Ehe und die Familie"). Die Abtreibungsvorschriften wurden wie bisher als §§218, 219 unter die Straftaten gegen das Leben eingereiht, § 6 der Verordnung als § 226b in den Abschnitt über die Körperverletzung eingestellt, beides durchaus irreführende Positionen. 5. Zur Weitergeltung nach 1945 Die §§ 170a bis 170d RStGB wurden nach Kriegsende als unbedenkliche Rechtsfortbildung qualifiziert und überdauerten von unwesentlichen Änderungen abgesehen auch das Bereinigungsgesetz31. Das gleiche gilt für den Abtreibungstatbestand, aus dem lediglich der Erschwerungsgrund der fortgesetzten Beeinträchtigung der "Lebenskraft des deutschen Volkes" schon wegen der Todesstrafdrohung entfiel32. Die Neufassung des § 2 1 9 RStGB (§ 7 MinisterratsVO) wurde zunächst 1947 in der Britischen Zone und 1953 für das gesamte Bundesgebiet durch die Fassung vom 26. Mai 1953 ersetzt 33 . Ersatzlos gestrichen wurde dagegen § 226b RStGB (Beeinträchtigung der Fortpflanzungsfähigkeit)34. Den beibehaltenen Vorschriften wurde Rechtsstaatsverträglichkeit bescheinigt. Dabei setzte der bundesdeutsche Nachkriegsgesetzgeber den neuen rechtsstaatlichen Kontext voraus, der u. a. das Schutzgut des § 218 RStGB 1943, die "Lebenskraft des deutschen Volkes", in ein Individualrechtsgut transformierte und überhaupt ein völkisch-rassisches Verständnis der betreffenden Strafvorschriften verbot. Die Frage, ob im Zeichen dieses durchgreifenden Sinnwandels die Beibehaltung äußerst weitgespannter Tatbestände (§ 170a - 170d) und scharfer Strafdrohungen (§ 218) vertretbar war, ist hier nicht mehr zu beantworten35.

30 31

32 33 34 35

VO v. 18.3.1943, RGBl. I, S. 169. Vgl. zur Unbedenklichkeit etwa Cöke (1948) zu §§ 170a ff., S. 110 ff. und Kohlrausch/Lange39'40 (1950), Vor § 169, S. 235, wo "einzelne Überspannungen" konstatiert werden. Vgl. §§ 170a-170d i. d. F. des Bereinigungsgesetzes (4. StÄG). § 170a wurde Antragsdelikt, Versuchsstrafbarkeit entfiel. Vgl. RegE BT-Dr 1/3713, S. 37: Die Vorschriften enthalten "mindestens in ihrem Kern kein nationalsozialistisches Gedankengut". Vgl. Göke (1948), S. 148; Kohlrausch /Lange3*'40 (1950), § 218 Anm. I, S. 296 und MRG Nr. 1 Art. I, Art. IV Ziff. 8. Dazu Schwan17 (1954), § 219 Anm. la. KRG Nr. 11, Art. I. §§ 170a und 170c gestrichen, § 170d erheblich eingeschränkt durch 4. StrRG, vgl. dazu Lackner11 (1977), 1 ff. Vor § 169. Strafdrohungen des § 218 1969 herabgesetzt durch 1. StrRG, grundlegende Änderung durch das 5. StrRG (1974, Fristenlösung) und dazu Lackner11 (1977), Vor § 218; zur weiteren Entwicklung Lackner17 (1987), Vor § 218.

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[Nr. 49] Verordnung zur Angleichung des Strafrechts des Altreichs und der Alpenund Donau-Reichsgaue (Strafrechtsangleichungsverordnung) vom 29. Mai 1943 nebst Durchführungsverordnungen vom 29. Mai 1943 und vom 20. Januar 1944 1. Einführung Die Verordnung wurde aufgrund des Führererlasses über besondere Vollmachten des Reichsjustizministers vom 20. August 19421 im Einvernehmen mit dem Reichsminister und Chef der Reichskanzlei Lammers und dem Leiter der Parteikanzlei Bormann vom Reichsjustizminister Thierack erlassen 2 . Sie brachte, wie allein schon die förmliche Änderung des RStGB zeigt, vorweggenommene Strafrechtsreform. a) Ziel und Methode der Strafrechtsangleichungsverordnung Die StrafrechtsangleichungsVO diente ausweislich ihres Titels der Angleichung des Strafrechts des Altreichs und Österreichs ("Alpen- und Donau-Reichsgaue"). Dabei ging es um die Anpassung der nach dem Anschluß Österreichs nicht geänderten Teile des RStGB und des österreichischen Strafgesetzbuchs; die neu erlassenen Bestimmungen, namentlich des Kriegsstrafrechts, galten ohnehin weitgehend auch im ehemaligen Österreich 3 . Die StrafrechtsangleichungsVO brachte hier keine abschließende, sondern, wie ihr Einleitungssatz erläuterte, eine "vorläufige" weitere Angleichung. Diese weitere Angleichung war durch die Arbeit eines besonderen Ausschusses der Akademie für Deutsches Recht vorbereitet 4 . Kennzeichnend für die Ausgangslage des Verordnungsgebers war die Undurchführbarkeit einer umfassenden Rechtsvereinheitlichung im Kriege. Die AngleichungsVO wollte beide Systeme dadurch weiter annähern, daß sie "unter Übernahme der wertvollen österreichischen Rechtsgedanken" bestimmte Rechtsgebiete des Altreichsstrafrechts neu ordnete 6 . Der Verordnungsgeber griff dabei selbstverständlich nur solche Regelungen auf, die "der nationalsozialistischen Auffassung besser entsprechen als die Regelung des RStGBs"7. Vollständigkeit wurde nicht angestrebt: So unterblieb etwa die Einführung der Einheitsstrafe 8 . Als Rezeptionsvorgang oder schlichte Übernahme österreichischer Vorschriften wäre die AngleichungsVO falsch charakterisiert: Die Verordnung übernimmt, wie die Ausführungen zu den Neuerungen im einzelnen belegen werden, die österreichischen Vorschriften teils nur in Bruchstücken, teils werden ihre Grundgedanken erheblich weiterentwickelt. Die textlichen ι 2 3 4

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Dazu oben C14. RGBl. I, S. 339. Zeichnung: RMdJ Thierack. Zur Weitergeltung vgl. bei den einzelnen Abschnitten. Vgl. dazu die Zusammenstellung bei Freister, DJ 1941,491 und näher 485 ff. Vgl. Schänke, DR 1943, 721; Mezger, DStR 1943, 116. Zur Arbeit des Ausschusses Gleispach, ZAkDR 1941, 178 f.; zum Themenkatalog Freister, DJ 1941, 491 ff. Vgl. zur geplanten Vollendung der Angleichung durch den E RStGB 1944 4. Teil Β vor I, Β I bes. 11. Zu den Schwierigkeiten Pfundtner/Neubert/Rietzsch (1933 ff.), II c 6, S. 219 f. und Rietzsch, DJ 1943, 309; Freister, DJ 1941,481 ff. Vgl. aber E RStGB 1944! (Fn. 4). Vgl. Rietzsch, aaO. S. auch Schenke, DR 1943, 721; Rittler, ZAkDR 1943,183. Rittler, aaO. Dazu Freister, DJ 1941,492; vgl. aber §§ 73 ff. E RStGB 1944 (4. Teil Β 110).

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Fassungen weichen durchweg vom österreichischen Strafgesetzbuch ab und sind "moderner": Die neuen Vorschriften stehen ganz überwiegend dem Strafgesetzentwurf von 1936 näher als dem österreichischem Strafgesetz 9 ; lediglich mit der Strafbarerklärung der uneidlichen Falschaussage "korrigiert" das österreichische Strafgesetz den E 193610. Das österreichische Strafrecht ist also Anstoß und Auswahlkriterium für die mitten im Kriege vorweggenommene Strafrechtsreform. Als Vorlage und authentische Verkörperung nationalsozialistischer Vorstellungen sind dagegen der E 1936 und die Kommissionsberichte 11 wichtiger. b) Die Bedeutung des "Wülensstrafrechts" Die Verordnung und die Durchführungsverordnungen brachten u. a. für den Allgemeinen Teil des RStGB wesentliche Neuerungen, namentlich zur Teilnahmestrafbarkeit, aber auch zum Versuch 12 . Diese Neuerungen konnten zwar teilweise auf österreichische Vorbilder verweisen, standen aber ganz im Zeichen des "Willensstrafrechts", das zum Zwecke des besseren Verständnisses der weiteren Ausführungen vorab zu umreißen ist. Das "Willensstrafrecht" war als programmatischer Gestaltungsauftrag des neuen nationalsozialistischen Strafrechts schon früh anerkannt, wie Freisler 1935 befriedigt feststellte 13 . Die mit dem "Willensstrafrecht" gemeinte Ausrichtung des Strafrechts auf den betätigten bösen Willen als den eigentlichen "Friedensstörer" und "Feind" wurde bereits angesprochen 14 . Der Entwurf von 1936 bekannte sich zum Willensstrafrecht als einem "kämpferischen Recht", das sein "Urteil über die Tat von dem im Willen des Täters liegenden Unrechtsgehalt und von der Würdigung seiner ganzen Persönlichkeit abhängig" mache 15 . Diese allgemeinen Begriffsbestimmungen mochten noch manches offenlassen. Für unseren jetzigen Zusammenhang ist wesentlich, daß mit dem programmatischen Stichwort Willensstrafrecht in der nationalsozialistischen Reformdiskussion ganz bestimmte Konsequenzen verknüpft wurden, die im E 1936 gebündelt sind. Die Entwurfsbegründung unterscheidet für die Bestimmungen des Zweiten Abschnitts über "Die Tat" drei Gruppen von Folgerungen: Die erste Folgerung aus der Umgestaltung des Strafrechts zu einem Willensstrafrecht sei, daß es "nicht so sehr" auf das äußere Geschehen als vielmehr auf die Stärke des verbrecherischen Willens ankomme. Deshalb seien Täter, mittelbarer Täter und Teilnehmer "grundsätzlich ... gleich strafwürdig" und die Frage nach dem Bedürfnis und der Sachgerechtigkeit einer Unterscheidung von Täterschaft und Teilnahme gestellt16.

9 10 11 12 13 14 15 16

Vgl. Schänke, DR 1943,721; für die Teilnahme Mezger, DStR 1943,116. Dazu 8. Gärtner, AT2 (1935), BT2 (1936); s. auch Gärtner/Freisler (1936). Dazu 2,3,5,13. Vgl. bei Gärtner, AT2 (1935), S. 38 f. Vgl. [Nr. 33] 5. Begr. E 1936, S. 4. Begr. E 1936, S. 11.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

Die Strafrechtskommission hatte sich in erster Lesung für "den extensiven Täterbegriff entschieden"17, das Ziel freilich mit zweifelhaften Mitteln zu erreichen versucht18. Der Entwurf entschied sich gegen "lehrmäßige Folgerichtigkeit" in der Durchführung der willensstrafrechtlichen Doktrin und berief sich auf die "Volksanschauung", für die Täterschaft, Anstiftung und Beihilfe "scharf ausgeprägte Lebensvorgänge" seien, über die der Gesetzgeber nicht hinweggehen dürfe. So verzichtete der Entwurf auf einen extensiven Täterbegriff und unterschied Täterschaft, mittelbare Täterschaft, Anstiftung und Beihilfe (§ 4), stellte aber Täter und Teilnehmer in Ansehung der Strafandrohungen gleich, eine wesentliche Folgerung aus der willensstrafrechtlichen Ausrichtung19. Wertgleichheit also ja, Wesensgleichheit nein20. Eine subjektive Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme wurde vom Entwurf vorausgesetzt. Mit der subjektiven Auffassung der Beihilfe ("Teilnehmerwille") motivierte die Entwurfsbegründung die Zulassung einer Strafmilderung für den Gehilfen (§ 4 III)21. Mit der Beibehaltung der Unterscheidung von Täterschaft und Teilnahme blieb die Frage nach deren Verhältnis für den Entwurf gestellt. Die Vereinbarkeit von extensivem Täterbegriff und Akzessorietätserfordernis hatte die Strafrechtskommission in erster Lesung nicht problematisiert und war deshalb, so der Bericht über die Ergebnisse der zweiten Lesung, auf dem Umweg über die Akzessorietät "an den Ufern des restriktiven Täterbegriffs gelandet"22. Für den Entwurf war klar, so seine "zweite Folgerung aus der Umgestaltung des Strafrechts in ein Willensstrafrecht", daß bei der Tatbeteiligung mehrerer "jeder ohne Rücksicht auf die Schuld des anderen nur nach dem Maß seiner Schuld strafbar sein" könne23. Diese Folgerung sprach § 5 I aus. Damit schied eine strenge Akzessorietät der Teilnahme aus: Die grundsätzliche Anknüpfung an eine schuldhafte Haupttat war mit dem willensstrafrechtlich motivierten Grundsatz des § 5 I unvereinbar. So kam nur eine limitierte Akzessorietät in Betracht, die es ohne Rücksicht auf die Täterschuld genügen ließ, daß der Teilnehmer "schuldhaft zur rechtswidrigen Verwirklichung des objektiven Tatbestandes mitwirkt". Den "weiteren Schritt, die Teilnahme von ihrer Abhängigkeit zur Haupttat zu lösen und damit in sich strafbar zu stellen", wollte der Entwurf "nicht oder wenigstens nicht allgemein" gehen. Er nahm hier eine vom willensstrafrechtlichen Ausgangspunkt schwerlich begründbare Differenzierung zwischen der Teilnahme an schweren, d. h. mit Zuchthaus- oder Todesstrafe bedrohten und leichteren Delikten vor: Bei leichteren Taten seien "unbillige Folgen" einer Verselbständigung der Teilnahmestrafbarkeit "unausbleiblich". Namentlich die Beihilfe falle "oft in das Gebiet der Vorbereitung der Tat", für die der Haupttäter im allgemeinen noch nicht bestraft werde. Eine Schlechterstellung von Anstiftern und Gehilfen aber sei nicht vertretbar. Bei der vorweggenommenen Teilnahme an schweren Delikten aber lägen die Dinge mit Rücksicht auf die allgemein (Erbieten, Verabredung) und für zahlreiche Delikte besonders erweiterte Vorbereitungsstrafbarkeit des Täters anders. Deshalb sei die selbständige Erfassung der Teilnahme an

17 18 19

Vgl. v. Dohnanyis Bericht über die Beratungsergebnisse, in: Gärtner, AT2 (1935), S. 99 (1. Lesung). So aaO, S. 108 (2. Lesung). Begr. E 1936, S. 11.

20 Vgl. v. Dohnanyi, in: Gärtner, AT2 (1935), S. 111 (2. Lesung). 21

Begr. E 1936, S. 12. So in den praktischen Konsequenzen die Kommissionsberatungen 1. Lesung, vgl.

22

v. Dohnanyi, in: Gärtner, AT2 (1935), S. 107 § a II. Vgl. v. Dohnanyi, aaO, S. 110.

23

Begr., S. 12.

C. Die zweite Phase: 1939 bis 1945

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schweren Straftaten berechtigt, eine Milderungsmöglichkeit zur Vermeidung unbilliger Ergebnisse aber angezeigt24. Weniger gewunden als die Entwurfsbegründung und in sich einleuchtender war die im Bericht von Dohnanyis über die Kommissionsberatungen zweiter Lesung für die versuchte Anstiftung mitgeteilte Erwägung aus dem fehlenden Strafbedürfnis: "Jeglichen Versuch der Verleitung zu einer strafbaren Handlung unter Strafe zu stellen, würde zu einer Ausdehnung der Strafbarkeit führen, an der die Rechtspflege schlechterdings kein Interesse hat". Deshalb gehöre zu den "Tugenden des Gesetzgebers" in diesem Falle "der Mut zur Inkonsequenz", d. h. der Verzicht auf die Geschlossenheit eines willensstrafrechtlichen Systems25. Die Erwägungen des E 1936 verdeutlichen: Strenge Akzessorietät der Teilnahme war mit dem Willensstrafrecht unvereinbar. Die Doktrin forderte eine Verselbständigung der Teilnahmestrafbarkeit, die aus praktischen Erwägungen nur für schwere Straftaten durchgeführt werden sollte. Die folgenträchtigste Konsequenz der Entwicklung zum Willensstrafrecht sprach die Entwurfsbegründung unscheinbar als "weitere Forderung" an, "den betätigten verbrecherischen Willen so früh wie möglich und so nachhaltig wie möglich anzugreifen"26. Diesen dritten Aspekt stellte Freisler mit sicherem Sinn für das praktisch Wesentliche in den Vordergrund: Wenn es um die "Vernichtung" des rechtsfeindlichen Willens ging, mußte das Strafrecht "kämpferisch" sein und sein "Kampffeld nach vorn" verlegen27: "Möglichst früh und mit aller Macht!"28 - diese Devise war keine "akademische Antwort"29 auf die Frage nach den Konsequenzen des Willensstrafrechts. Der Ruf nach Vorverlegung der Strafbarkeitsgrenzen ließ, was die praktischen Wirkungen angeht, manche willensstrafrechtsdogmatischen "Grundlagen"-Erwägungen zu filigranen Begründungsdetails verblassen: Die Gleichstellung von Versuch und Vollendung in Gestalt einer uneingeschränkten Versuchsstrafbarkeit und der Vollendungsstrafe für den Versuch (§ 7 E 1936) war eine unmittelbare Folgerung aus der Umstellung auf das Willensstrafrecht. Die Erweiterung der Vorbereitungsstrafbarkeit, wenn schon nicht die allgemeine Bestrafung von Vorbereitungshandlungen30, lag auf der Linie der willensstrafrechtlichen Denkweise. Der E 1936 verwirklichte diese Erweiterung durch die allgemeine Strafbarkeit des Erbietens zu schweren Straftaten und der Verabredung schwerer Straftaten (§§ 11, 12), ferner durch verschiedene Sondervorschriften bei einzelnen Delikten31. Der Parole "Möglichst früh und mit aller Macht!" entsprach auch die schon skizzierte Strafbarkeit der versuchten Teilnahme (§ 9 E 1936).

24 25 26 27 28 29 30 31

AaO, S. 12 f. In: Gürtner, AT 2 (1935), S. 104 (1. Lesung); Hervorhebung aaO. Begr., S. 13. Vgl. Freisler, in: Giirtner/Freisler (1936), S. 136 in seiner aufschlußreichen Kurzzusammenfassung des "Willensstrafrechts". In: Gürtner, AT2 (1935), S. 22 (1. Lesung der Strafrechtskommission). Vgl. Freisler, in: Gürtner/Freisler (1936), S. 137. Zu den Gründen Freisler, in: Gürtner, AT2 (1935), S. 23 (1. Lesung). Zusf. Freisler, in: Gürtner/Freisler (1936), S. 138.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

Auf dem Stand von 1943 war der Umgestaltungsauftrag des Willensstrafrechts für "Die Tat"32 erst teilweise verwirklicht, freilich in wesentlichen Bereichen: Bereits die Novelle von 1934 hatte - nach den Vorspielen der SchutzVO und des Gesetzes zur Gewährleistung des Rechtsfriedens - für den Hoch- und Landesverrat Ernst gemacht mit der "Vorverlegung des Kampffeldes": Die Unternehmensstrafbarkeit wurde beim Hochverrat erweitert und auf den Landesverrat ausgedehnt, die Strafbarkeit von Vorbereitungshandlungen drastisch verschärft33. Die Unternehmensdelikte und die ausgedehnte Vorbereitungsstrafbarkeit der KriegssonderstrafrechtsVO und der Verordnung zum Schutze des Reichsarbeitsdienstes stehen in dieser Linie34, aber auch die Strafbestimmungen gegen den Besitz von Diebeswerkzeugen oder Wildereigerät wie überhaupt die sich ausbreitende Bestrafung von "Gefährdungen" verschiedenster, nicht nur politisch unmittelbar interessanter Werte der "Volksgemeinschaft"35. Schließlich brachte § 4 GewaltverbrecherVO 1939 die Zulassung der Vollstrafe für Versuch und Beihilfe (§§ 4 II, 7 III E 1936)36. Die allgemeine Durchführung willensstrafrechtlicher Grundsätze bei der Akzessorietät der Teilnahme, die Strafbarerklärung der versuchten Teilnahme an schweren Delikten, die allgemeine Erweiterung der Vorbereitungsstrafbarkeit und die allgemeine Strafbarerklärung des Versuchs standen 1943 noch aus. In diesem Entwicklungsstadium griff die AngleichungsVO in den Allgemeinen Teil des RStGB ein und verwirklichte einen weiteren erheblichen Teil des willensstrafrechtlichen Programms in den Artikeln 1 (erfolglose Anstiftung und Beihilfe, sonstige Vorbereitung bei Verbrechen) und 2 (limitierte Akzessorietät). Für den Versuch setzte sich die durchgängige Strafbarkeit noch nicht durch (Art. 4 und dazu Art. 1 DurchführungsVO). Die einzelnen Änderungen der AngleichungsVO sind nunmehr zu skizzieren (2 - 12). Anschließend werden die Durchführungsverordnungen dargestellt (13, 14) und das Gesamtergebnis der Neuerungen gewürdigt (15). 2. Bestrafung der erfolglosen Anstiftung und anderer Vorbereitungshandlungen bei Verbrechen (Art 1, § 49a RStGB) § 49a RStGB enthielt bis zur AngleichungsVO den sog. Duchesne-Paragraphen, der die Aufforderung und das Erbieten zu Verbrechen oder zur Verbrechensteilnahme sowie die Annahme einer solchen Aufforderung oder eines solchen Erbietens mit Gefängnisstrafe bedrohte. Uneingeschränkt strafbar war die schriftliche Aufforderung usw., die mündliche dagegen nur bei Gewährung von Vorteilen. § 49b des bis 1943 geltenden Rechts hatte ferner die Verabredung zur Tötung für strafbar erklärt37. 32 33

34 35 36 37

Zu den Folgerungen für den Täter" vgl. Freister, in: Gürtner/Freisler (1936), S. 134 und 5. Teil Β III la. Vgl. § 5 II Nr. 1 SchutzVO [Nr. 2], § 11 Nr. 1 bei [Nr. 11] sowie in der Verratsnovelle [Nr. 13] §§ 8082, 89, 90, 90a, 90c, 90d, 90h, 90i, 91, 91b zum Unternehmen und §§ 83, 92 zur Vorbereitungsstrafbarkeit. Vgl. [Nr. 26] zu § 5; [Nr. 34] zu §§ 1,2. Vgl. § 245a RStGB 1933 [Nr. 12] 5c; ähnlich § 296 RStGB 1935 [Nr. 16]. Zu "Gefährdungen" vgl. etwa § 2 Heimtückeges. [Nr. 15]; [Nr. 28] 2c. Dazu [Nr. 33] 5. Dazu ζ. B. Mezger, LK6 (1944), 1 Vor § 49a.

C. Die zweite Phase: 1939 bis 1945

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Die Reformbedürftigkeit des § 49a war in den Entwürfen seit 1909 anerkannt. Das versuchte Verleiten und das Erbieten zu Verbrechen sowie die Verbrechensverabredung hatte zuletzt der E 1927/1930 strafen wollen, freilich mit eigenständiger Strafdrohung (Gefängnis)38. Der neue § 49a erfaßte nunmehr bei Verbrechen die erfolglose Anstiftung (Abs. 1), sonstige Vorbereitungshandlungen (Abs. 2) und die erfolglose Beihilfe (Abs. 3); ferner wurde eine Rücktrittsvorschrift aufgenommen (Abs. 4). a) Die erfolglose Anstiftung (§ 49a I) Der neue Absatz 1 stellte die Aufforderung zur Begehung eines Verbrechens oder zur Teilnahme daran unter Strafe. Gemeint war trotz des mißverständlichen Wortlauts (Bestrafung "wie ein Anstifter"), die versuchte Anstiftung, wie auch die Artikelüberschrift ("erfolglose Anstiftung") nahelegte 39 . Die haupttatlose Anstiftung wurde damit offenkundig nicht mehr als strafbare Handlung eigener Art erfaßt 40 , sondern als Erscheinungsform des zu fördernden Delikts. Die Anstiftungshandlung selbst ("Auffordern") mußte vorgenommen, nicht lediglich versucht sein41. Das Vorliegen eines Verbrechens war, entsprechend dem willensstrafrechtlichen Ausgangspunkt, nach den Vorstellungen des Anstiftenden zu beurteilen. Für die zweifelhaft gewordene Abgrenzung von Verbrechen und Vergehen ist auf die früheren Ausführungen zu verweisen42. Entsprechend der allgemeinen Zulassung der Vollendungsstrafe beim Versuch war auch die versuchte Anstiftung grundsätzlich mit der Vollstrafe bedroht. § 49a I S. 2 ließ lediglich fakultativ eine nach § 44 n. F. 43 gemilderte Strafe zu. Für § 49a I n. F. konnte sich die AngleichungsVO auf das österreichische Vorbild berufen: Danach war die versuchte Anstiftung grundsätzlich strafbar, und zwar auch bei Vergehen, und sie war mit der Vollstrafe bedroht 44 . Hinter dieser Strenge blieb die AngleichungsVO zurück. Sie stand dem § 9 E 1936 weit näher, der allerdings, noch "milder" als die AngleichungsVO, die Todesstrafe und die lebenslange Freiheitsstrafe ausgeschlossen hatte. Die Beschränkung der versuchten Anstiftung auf Verbrechen war vom willensstrafrechtlichen Ausgangspunkt an sich inkonsequent, wie schon in den Beratungen der Strafrechtskommission hervorgehoben wurde 45 . In seiner Erläuterung zur AngleichungsVO konzedierte denn auch Rietzsch einen "Bruch" in der konsequenten Durchführung des Willensstrafrechts. Er verwies, ähnlich wie seinerzeit der Kommissionsbericht, auf das "zweifelhafte" Strafbedürfnis, bezeichnete die Beschränkung der erfolglosen Anstiftung auf Verbrechen aber vor38 39 40 41

42 43 44 45

Vgl. §§ 196, 197 E 1927/1930 und schon §§ 182,183 E 1925 sowie § 132 VE 1909; s. auch unten e bei Fn. 61. Vgl. Mezger, DStR 1943,119; Schänke2 (1944), § 49a Anm. I. Zum Streitstand zu § 49a a. F. Mezger, LK4 (1944), Anm. 2. Anders § 9 E 1936 und Begr. S. 17. Zur Frage, ob die Aufforderung Kenntnisnahme durch den Adressaten erfordere, bejahend Mezger, aaO, § 49a Anm. 4b; verneinend Rietzsch, DJ 1943, 313 und in: Pfundtner/Neubert (1933 ff.), II c 6, S. 221 sowie Begr. E 1936, S. 18. Dazu bei [Nr. 44] bei Fn. 6. Dazu unten 13. Vgl. §§ 9,8, 239 öStG. Vgl. soeben lb bei Fn. 24 f.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

sichtig als nur vorläufig 46 . Daß beim Bestehen eines Strafbedürfnisses im Einzelfall die versuchte Anstiftung zu einem Vergehen für strafbar zu erklären sei, lag in der Logik dieser Begründungen 47 . b) Die erfolglose Beihilfe (§ 49a III) Den zweiten Fall versuchter Teilnahme, die erfolglose Beihilfe, betraf der neue Absatz 3. Er stellte das Hilfeleisten unter Strafe, wenn das Verbrechen "nicht oder unabhängig"48 von der Hilfeleistung zur Ausführung gelangte. Grundsätzlich drohte die volle Täterstrafe. § 49a III S. 2 ließ aber "nach pflichtmäßigem Ermessen" (!) Strafmilderung oder Absehen von Strafe zu. Diese Vorschrift brachte die wohl massivste Strafbarkeitserweiterung, sammelte sich doch im Begriff der Beihilfe ohnehin die "übrige große, schwer zu beschreibende Menge der Handlungen, die dazu bestimmt sind, die Ausführung einer Tat durch den Täter zu fördern" 49 . Mit dem neuen Absatz 3 wurde auch der Bezug zu einer bestimmten Straftat in die Tätervorstellung verschoben. Angesichts der Strafbarkeitserweiterung für die Gehilfenschaft mußte sich die schon bei der erfolglosen Anstiftung naheliegende Frage aufdrängen, warum die Vorbereitungshandlung des erfolglosen Gehilfen strafbar sein solle, die des Täters jedoch nicht. Die Begründung des E 1936 hielt, in gewissem Widerspruch zu ihrem Grundsatzteil, dieses Ergebnis für "durchaus gerecht": Anders als der Täter genieße der Gehilfe nicht mehr die "ungeschmälerte Freiheit seines Entschlusses", sei nicht mehr "Herr über den weiteren Verlauf. Allerdings schließe die erfolglose Beihilfe auch Lebensvorgänge ein, die "von der Gefahr eines Erfolges weit abliegen und deshalb nach gesundem Volksempfinden nur eine geringe oder überhaupt keine Strafe verdienen". Um solchen Fällen Rechnung zu tragen, habe man aber die umfassende Milderungsmöglichkeit eingebaut 50 . Zu den Gründen für die vom willensstrafrechtlichen Ausgangspunkt inkonsequente Beschränkung auf "Verbrechen" ist auf die parallelen Ausführungen zur erfolglosen Anstiftung zu verweisen. Im Ergebnis enthielt § 49a III eine gesetzliche Blankettermächtigung an den Richter, strafwürdiges erfolgloses Hilfeleisten zu Verbrechen angemessen zu bestrafen, nicht strafwürdige Fälle straffrei zu stellen: Das Beschaffen einer Tatwaffe für einen geplanten Mord oder die Stärkung des entsprechenden Tatentschlusses konnten mit dem Tode bestraft werden, aber auch straffrei ausgehen. Welche Möglichkeiten § 49a III gar in Verbindung mit den weitgespannten Vorschriften des Kriegsstrafrechts eröffnete, ist evident.

46 47 48

49 50

Rietzsch, DJ 1943, 312; Krit. Rittler, ZAkDR 1943,185: "Verleugnung des Willensstrafrechts". Vgl. Rietzsch, aaO; v. Dohnanyi, in: Gärtner, AT2 (1935), S. 105 (1. Lesung) und § 159 n. F. (dazu 8). Zur Bedeutung des "unabhängig" für die vollendete Beihilfe einerseits Kohlrausch/Lange3* (1943), § 49 Anm. 6: Ausscheidung nicht-kausaler Beihilfe und andererseits Rietzsch, DJ 1943, 313: Bestätigung der Rspr. zur Beihilfe als u. U. nicht-kausale "Förderimg". Vgl. Begr. H 1936, S. 18; s. auch ν. Dohnanyi, in: Gärtner, AT2 (1935), S. 114 f. (2. Lesung). Krit. Rittler, ZAkDR 1943,185: Ausdehnung "ins Uferlose". Vgl. Begr. E 1936, S. 18. Mit dieser Begr. war freilich die Beschränkung auf Vergehen nicht erklärt. Widersprüchlich deshalb Begr. H 1936, S. 18 und S. 12 f. (dazu oben lb bei Fn. 24).

C. Die zweite Phase: 1939 bis 1945

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§ 49a ΠΙ n. F. folgte im wesentlichen § 9 E 1936, der allerdings, wie für die erfolglose Anstiftung, Todesstrafe und lebenslange Freiheitsstrafe ausgeschlossen hatte 51 . Das österreichische Strafgesetz dagegen erfaßte nur die versuchte Anstiftung (§§ 9,239 öStG), nicht aber die versuchte Beihilfe, die nur in Einzelfällen 52 für strafbar erklärt war. Kadeçkas 1941 unternommener Versuch, die Strafbarkeit der versuchten Beihilfe nach österreichischem Recht zu begründen, war mit dem Wortlaut und dem historischen Sinn des § 9 öStG unvereinbar 53 . c) Sonstige Vorbereitungshandlungen (§ 49a II) Der neue Absatz 2 übernahm aus § 49a II a. F. das Erbieten zu einem Verbrechen und dessen Annahme, aus § 49b a. F. die Verabredung, nunmehr freilich erweitert auf alle Verbrechen, und stellte diese Vorbereitungshandlungen, wenn sie nur auf die Begehung von Verbrechen 54 gerichtet waren, ohne die früheren Einschränkungen 55 unter Strafe. Völlig neu war die Strafbarkeit sogar der "ernsthaften Verhandlung" über die Verabredung eines Verbrechens, also die Vorbereitung der Verbrechensverabredung. Auf die Einbeziehung von Vergehen verzichtete § 49a II ebenso wie auf die generelle Erfassung täterschaftlicher Vorbereitungshandlungen. Die Bestrafung täterschaftlicher Vorbereitung im Einzelfall blieb Sondertatbeständen überlassen. Die Strafdrohung des Absatzes 2 entsprach der des Absatzes 1, also Vollendungsstrafe mit Milderungsmöglichkeit. Der neue Absatz 2 faßte, was den Tatbestand betrifft, die §§ 11, 12 E 1936 zusammen; auch die Strafdrohungen entsprachen sich, wobei der Entwurf die Todesstrafe und lebenslanges Zuchthaus ausschloß56. Dem österreichischen Recht dagegen war nur die vereinzelte Strafbarerklärung des "Komplotts" geläufig57. d) Rücktritt und tätige Reue (§ 49a IV) Absatz 4 enthielt für die Taten nach den Absätzen 1 bis 3 die erforderliche Vorschrift über Rücktritt und tätige Reue, die ebenfalls dem E 1936 entlehnt war (§§ 10,11 III). e) Zur Fortgeltung des § 49a § 49a beruhte im Zeitpunkt seines Erlasses auf einem willensstrafrechtlichen Unterbau, der zentralen nationalsozialistischen Reformvorstellungen entsprach. Der Bundesgerichtshof hat gleichwohl den nach 1945 umstrittenen 58 § 49a für "nicht typisch nationalsozialistisch" ersi 52 53 54 55 56 57 58

Nach Begr. E 1936, S. 18 Schloß die erfolglose Beihilfe des § 9 E 1936 das versuchte Hilfeleisten ein, was nach § 49a III RStGB unklar blieb. Vgl. z. B. § 107 ÖStG betr. Münzdelikte. Vgl. Kadeçka, DR 1941 (Wiener Ausgabe), 189 ff. und dagegen Rittler, ZAkDR 1943,184. Dazu oben 2a. Dazu oben vor 2a. Vgl. §§ 11,12 E 1936 und Begr. S. 20. Vgl. Rittler, ZAkDR 1943,185. Dazu Mezger, LK8 (1957), § 49a Anm. 1; Kohlrausch/ Lange3,/4° (1950), § 49a Anm. II.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

klärt und seine Fortgeltung im ganzen bejaht: Die erkennbare "Hinneigung zum Willensstrafrecht" besage "allein noch nichts für die Annahme, es handle sich hier um nationalsozialistisches Gedankengut, das der heutigen Rechtsauffassung widerspreche"59. Das Bereinigungsgesetz beseitigte dann 1953 die besonders problematische Strafbarkeit der erfolglosen Beihilfe (§ 49a III) und der "ernsthaften Verhandlung" über eine Verbrechensverabredung (§ 49a II)60. Die Strafbarkeit der versuchten Anstiftung und der Verbrechensverabredung usw. wurden im sachlichen Kern unter Neufassung der Vorschriften mit weiterhin nur fakultativer Milderungsmöglichkeit beibehalten. Für die Strafbarerklärungen selbst konnte das Bereinigungsgesetz auf deutsch-partikularrechtliche und ausländische Vorbilder und auf Vorläufer in den Strafgesetzentwürfen seit 1909 verweisen61. Die Rücktrittsvorschrift wurde 1953 in Anlehnung an die §§ 196, 197 E 1927/1930 umgestaltet62. 3. Einstehen für eigene Schuld (Art. 2, § 50 RStGB) § 50 n. F. anerkannte in Absatz 1 den Grundsatz der limitierten Akzessorietät und formulierte darüber hinaus einen Programmsatz für das gesamte Strafrecht; Absatz 2 brachte eine Ergänzung des Absatzes 1. § 501 n. F. lautete: "Sind mehrere an einer Tat beteiligt, so ist jeder ohne Rücksicht auf die Schuld des anderen nach seiner Schuld strafbar".

Mit dieser Vorschrift, die § 5 I E 1936 entsprach, zog die AngleichungsVO eine weitere zwingende "Folgerung aus dem Gedanken des Willensstrafrechts", die, so Rietzsch, von "grundlegender Bedeutung" war63. Das Reichsgericht hatte bis dahin in ständiger Rechtsprechung grundsätzlich an der strengen Akzessorietät der Teilnahme {strafbare Haupttat) festgehalten . Eine Akzessorietätslockerung im Sinne persönlicher Schuldzurechnung hatte § 50 RStGB a. F. nur für strafändernde persönliche Umstände vorgesehen. Der Gedanke einer Auflockerung der Akzessorietät auch hinsichtlich des "Ob" der Strafbarkeit war natürlich keine nationalsozialistische Erfindung. Zuletzt hatten die Entwürfe 1927/1930 die Akzessorietät im Ergebnis übereinstimmend mit § 50 I n. F., limitieren wollen65. In Österreich war die Rechtslage umstritten; die Praxis hatte dabei jedenfalls die Beteiligung an dolosen Taten Zurechnungsunfähiger von jeher unter dem Gesichtspunkt der Mitschuld erfaßt 66 .

59 60 61 62

BGHSt. 1,59,60 f. Vgl. § 49a i. d. F. des 3. StÄG. Zu den Gründen Begr. RegE 3. StÄG BT-Dr 1/3713, S. 31. Vgl. Begr. RegE aaO, S. 31 f. und oben Fn. 38. Vgl. § 49a III, IV StGB 1953 und dazu Begr. RegE aaO, S. 33. Zum ganzen Dreher, JZ 1953,425. Die geltenden §§ 30, 31 gehen auf das 2. StRG zurück, vgl. zu den Änderungen zusf. Roxin, JuS 1973, 333 f.

63

DJ 1943, 310; vgl. oben lb.

64 65 66

Vgl. etwa RGSt. 70,26,27 (Urt. v. 3.12.1935) und 01shausena (1942), § 48 Anm. lb mwN. Vgl. §§ 29 ff. E 1927/1930 und Begr. E 1927, S. 28 sowie §§ 25 ff. E 1925. Dazu Rittler, AT (1933), S. 207 ff.

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Daß in der Frage der Strafbegründung allein die strenge Akzessorietät maßgeblich sei, könne "de lege lata nicht bezweifelt werden", hieß es 1931 im Frankschen Kommentar 67 . Der Wortlaut der damaligen Anstiftungs- und Beihilfevorschriften ("strafbare Handlung", §§ 48, 49 RStGB) und die ergänzende "Ausnahme" des erwähnten §50 schienen eindeutig. Die Theorie der limitierten Akzessorietät fand im Zeichen der willensstrafrechtlichen Doktrin und flankiert vom Würdeverlust des Gesetzeswortlauts nach 1933 auch de lege lata zunehmend Anhänger68. Die StrafrechtsangleichungsVO vollzog also mit der Anerkennung der limitierten Akzessorietät eine längst vorbereitete Wende. Jeder nach seiner Schuld - das hieß: Die rechtswidrige Haupttat genügt als Gegenstand der strafbaren Teilnahme. Damit war einmal die Teilnahme an Straftaten Schuldunfähiger für strafbar erklärt, wie eine der wenigen zu § 50 I n. F. noch ergangenen reichsgerichtlichen Entscheidungen bestätigte69. Ferner schloß das Vorliegen von Entschuldigungsgründen beim Haupttäter die Strafbarkeit des Teilnehmers nicht aus. Aber auch die Teilnahme an einer vorsatzlosen Haupttat sollte grundsätzlich strafbar sein, da die "Schuld" entsprechend der geübten Praxis und der überkommenen Lehre als Oberbegriff für Vorsatz und Fahrlässigkeit vorausgesetzt wurde. Das beweist namentlich die Begründung zum E 1936: Der Richter könne, so ein erläuterndes Beispiel, gegebenenfalls "den Einwand des Täters, daß er den Brand nur fahrlässig herbeigeführt habe, gelten lassen", den Gehilfen aber gleichwohl wegen vorsätzlicher Brandstiftung strafen70. Es entsprach also dem historischen Sinn des § 50 I, wenn der Bundesgerichtshof zunächst die Möglichkeit der Anstiftung 71 und Beihilfe72 zu unvorsätzlicher Haupttat bejahte. § 50 I n. F. enthielt das Bekenntnis "zu einem leitenden Gedanken des Willensstrafrechts und der inneren Gerechtigkeit" und entfaltete als Programmsatz über die Anerkennung der limitierten Akzessorietät hinaus Fernwirkungen. Dies faßte Rietzsch in Übereinstimmung mit dem E 1936 für die Täterlehre so zusammen: § 50 I n. F. bestätige die Rechtsprechung zur Möglichkeit mittelbarer Tätertschaft, auch durch ein doloses Werkzeug, sowie die subjektive Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme73. Der neue Absatz 2 übernahm inhaltlich den alten §50, bezog aber auch die strafausschließenden besonderen persönlichen Merkmale ein und brachte dadurch eine weitere Auflockerung der Akzessorietät. § 50 II n. F. entsprach dem § 5 II E 1936; auf eine Übernahme des § 5 III E 1936, der eine Strafmilderung zuließ, wenn strafbarkeitsbegründende besondere

67 68

69 70 71 72 73

18. Aufl., § 48 Anm. II 2, S. 121. Vgl. Rietzsch, DJ 1943, 310; Schänke, DR 1943, 721 und Mezger, LK6 (1944), Anm. 7 vor § 47 mit ausf. Nachw. Nach Rietzsch, aaO, zählte auch der VGH zu den Gegnern des RG; das Zitat DJ 1942, 721 ist allerdings falsch. Vgl. auch AG Nürnberg-Fürth, HRR 1941, Nr. 1016. Vgl. RGSt. 77,371,374 (Urt. v. 24.3.1944). S. auch Rietzsch, DJ 1943,310; Begr. E 1936, S. 15. Begr. E 1936, S. 15. Vgl. auch Rietzsch, aaO; Schröder, DR 1943, 722; Mezger, LK6 (1944), 7 Vor § 47, S. 317; a. M. Welzel, AT 3 (1944), S. 91: vorsätzlich-rechtswidrige Haupttat. BGHSt. 4,355,357 mwN. BGHSt. 5, 47. Anders dann BGHSt. 9,370, 375 ff. im Anschluß an Bockelmann und Welzel und bestätigend §§ 26, 27 StGB i. d. F. des 2. StRG; zusf. Roxin, JuS 1973,335 f. DJ 1943, 313. Vgl. auch §§ 4, 5 E 1936 und Begr. S. 12. Zum programmatischen Charakter des § 50 I n. F. vgl. Kohlrausch ¡Lange™ (1943), Anm. 1, S. 199.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

persönliche Eigenschaften oder Verhältnisse beim Teilnehmer fehlten, verzichtete die AngleichungsVO74. Aus den bisherigen Ausführungen ergibt sich, daß § 50 n. F. sich vornehmlich an den E 1936 anlehnte und das österreichische Recht nur den Anstoß zur Neuregelung lieferte. § SO wurde nach 1945 als "Fortschritt in der Entwicklung eines konsequenteren Schuldstrafrechts" beibehalten75. Daß der Gedanke einer strengen Akzessorietät mit willensstrafrechtlichen Zielen unvereinbar war und der neue § 50 ein Bekenntnis zum Willensstrafrecht ablegen sollte, ist dabei die eine Tatsache; daß eine Begrenzung der Akzessorietät natürlich nicht nur aus nationalsozialistisch-willensstrafrechtlicher Grundhaltung begründbar ist, das andere Faktum. 4. Teilbarkeit des StraTantrags (Art 3; §§ 63,64 RStGB) Eine vergleichsweise marginale Änderung brachte Artikel 3, der in Angleichung an das österreichische Strafrecht die persönliche76 Unteilbarkeit des Strafantrags durch Streichung der §§ 63, 64 II beseitigte. Der Verletzte konnte nunmehr seinen Strafantrag nicht nur sachlich, sondern auf einzelne Beteiligte beschränken77. 5. Ausdehnung der Strafbarkeit des Versuchs (Art. 4) § 43 II RStGB erklärte den Versuch eines Vergehens nur bei ausdrücklicher Bestimmung für strafbar, das österreichische Strafgesetz dagegen allgemein (§§ 8, 239 öStG). Daß allein die allgemeine Strafbarkeit des Versuchs den Forderungen des "Willensstrafrechts" entsprach, wurde schon dargelegt78. Gleichwohl verharrte die AngJeichungsVO im bisherigen Rahmen. Rietzsch führte technische Gründe an: Eine Streichung des § 43 II RStGB sei zwar "wünschenswert", dieser "nächstliegende Weg" aber "leider ... zur Zeit ungangbar", weil er eine "umfassende Überarbeitung" des Nebenstrafrechts und des Militärstrafrechts erfordere. Einen solchen Aufwand müsse man während des Krieges vermeiden. Es sei vorläufig ausreichend, die Versuchsstrafbarkeit "auf einige wichtige Fälle auszudehnen"79. Die Versuchsstrafbarkeit wurde nunmehr auf den Widerstand gegen die Staatsgewalt, die falsche Versicherung an Eides Statt, die Tötung auf Verlangen, die Hehlerei, die Urkundenvernichtung und die Falschbeurkundung erstreckt80. Die Schärfungen wurden nach 1945 überwiegend als fortgeltend angesehen81. Das Bereinigungsgesetz beseitigte dann 1953 die Versuchsstrafbarkeit beim

74 75 76 77 78 79 80 81

Vgl. aber § 50 III E 1944; dazu 4. TeU Β 111. Vgl. Dreher, JZ 1953,425; s. auch §§ 26,27 des geltenden StGB (Fn. 72). Vgl. Kohlrausch/Lange, 37. und 38. Aufl. (1941,1943) zu § 63. Näher Pjundtner/Neubert/Rietzsch (1933 ff.), II c 6, S. 224; Schönke, DR 1943, 722. Die Regelung wurde beibehalten. Vgl. oben lb. DJ 1943, 310. Krit. zu dieser Begr. Rittler, ZAkDR 1943,184. Anders § 43 E 1944, vgl. 4. Teil Β 111. Vgl. §§ 113,117,156,216,259,274,348. Vgl. die Kommentierungen zu den einzelnen Vorschriften bei Kohlrausch/Lange39^ (1950) und Göke (1948).

C. Die zweite Phase: 1939 bis 1945

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Widerstand und der falschen eidesstattlichen Versicherung als nationalsozialistische "Überspannungen" unter willensstrafrechtlichen Vorzeichen82. 6. Änderung der Verfolgungsveijährung (Art. 5; § 66 II RStGB) Nach § 67 RStGB verjährte die Strafverfolgung bei mit lebenslangem Zuchthaus oder mit dem Tode bedrohten Verbrechen in zwanzig Jahren; § 66 Schloß in diesem Fall die Strafverfolgung aus. Das österreichische Strafgesetz kannte dagegen bei Androhung von Todesstrafe keine Veijährung, ordnete jedoch für den Fall einer Bestrafung nach mehr als zwanzig Jahren eine zwingende Strafmilderung an (§ 231 öStG). Die "Angleichung" an das österreichische Recht bestand nach dem neuen Absatz 2 des § 66 in einer fakultativen Durchbrechung der Verjährung, wenn die Verhängung von Todesstrafe oder von lebenslangem Zuchthaus zu erwarten war. Zuständig für die opportune Verwaltung der Verjährung war die Staatsanwaltschaft: Auf der Basis einer konkreten Strafprognose entschied der Staatsanwalt über die Verfahrenseinleitung. Wie zu verfahren sei, wenn das Gericht entgegen der staatsanwaltschaftlichen Prognose eine geringere Strafe für verwirkt erachtete, war der Vorschrift nicht zu entnehmen und wurde, soweit ersichtlich, vom Reichsgericht auch nicht mehr entschieden83. Die Fortgeltung des § 66 II war nach 1945 umstritten und wurde namentlich wegen der "nationalsozialistischen Rangerhöhung der ... Staatsanwaltschaft" verneint84. Das Bereinigungsgesetz entschied sich für eine Streichung. Zwar habe die Bestimmung angesichts der wechselvollen Geschichte der Verjährung "nicht ohne weiteres ... nationalsozialistischen Charakter", doch sei sie "neuzeitlichem Rechtsdenken ... fremd": Dieses Rechtsdenken verlange, daß auch schwerste Taten zu irgendeinem Zeitpunkt verjährten. Vor allem aber sei "für rechtsstaatliche Vorstellungen" eine staatsanwaltschaftliche Ermessensentscheidung insoweit unerträglich85. 7. Vortäuschung einer Straftat (Art. 6; § 145d RStGB) Die Strafbarkeit des Vortäuschens einer Straftat war für das Reichsstrafrecht umstritten. Ein unmittelbar anwendbarer Tatbestand fehlte. Das Reichsgericht verneinte im Gegensatz zu unteren Gerichten und Kritikern in der Literatur die entsprechende Anwendbarkeit der Strafvorschrift über die falsche Anschuldigung (§ 164 RStGB ). Das österreichische Recht kannte dagegen den Übertretungstatbestand der Falschaussage vor einer Verwaltungsbehörde87. Der neue § 145d entsprach dem § 357 E 1936 und konnte auf Vorläufer in den frühe82 83 84 85 86 87

Vgl. Art. II Ziff. 16, 26 und Begr. RegE 3. StÄG BT-Dr 1/3713, S. 35,36. Vgl. dazu Nagler, LK6 (1944), S 66 Anm. III; zur Verallgemeinerung der konkreten Betrachtung vgl. § 66 E 1944 (4. Teil Β 19). Vgl. Jagusch, LK7 (1954), § 66 Vor I mit Nachw. Vgl. Art. 2 Nr. 10 3. StÄG und Begr. RegE BT-Dr 1/3713, S. 34. Zusf. Olshausena (1942), § 164 Anm. 2; Rietzsch, DJ 1943,100 ff.; vgl. schon oben [Nr. 16] 9c Fn. 221. Vgl. Rittler, BT (1938), S. 295; Tlapek (1933/34), S. 100; für die von Rietzsch, DJ 1943,100 behauptete generelle Strafbarkeit als Betrug nach §§ 197, 199a ÖStG (dazu sogleich 7) finden sich weder bei Rittler und Tlapek, aaO Hinweise noch bei Pichler-Drexler (1941), S. 150 ff. Vgl. auch § 199a ÖStG: Aussage vor "Gericht".

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

ren deutschen Entwürfen verweisen88. Er stellte die bei einer Dienststelle des Staates wider besseres Wissen erfolgte Vortäuschung einer Straftat und das Unternehmen der Täuschung über die Person eines Beteiligten unter Strafe 89 . Der subsidiäre § 145d drohte mit Gefängnis bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe. Die gegenüber der falschen Anschuldigung erheblich geringere Strafdrohung und die, wohl bewußte 90 , Begrenzung auf Dienststellen des Staates sprachen für die Richtigkeit der bisherigen reichsgerichtlichen Judikatur zur Ablehnung einer analogen Anwendung des § 164. Jedenfalls beendete der neue § 145d den bisherigen Streit und ermöglichte nunmehr die Verfolgung der nach Rietzsch in der Praxis "zu einer überraschenden Bedeutung" gelangten Vortäuschung von Straftaten 91 . § 145d überdauerte als "unverdächtig" die Rechtsbereinigung nach 194592. 8. Bestrafung der falschen uneidlichen Aussage (Art. 7; §§ 153 ff. RStGB) Im Mittelpunkt des Artikels 7 stand, wie seine Überschrift ankündigte, die Strafbarerklärung der uneidlichen Falschaussage. Diese war nach österreichischem Recht strafbar und zwar in der eigentümlichen systematischen Einkleidung als Betrug nach Beschaffenheit der Tat 93 . In der deutschen Strafrechtsreform war die Strafbarkeit der uneidlichen Falschaussage von jeher umstritten. Der E 1936 hatte sich, nicht unangefochten, im Gegensatz zu den Entwürfen von 1925 und 1927 für Straflosigkeit entschieden 94 . Hier setzte sich das österreichische Recht gegen den E 1936 durch: Die uneidliche vorsätzliche Falschaussage vor Gericht oder einer anderen zur Abnahme von Eiden zuständigen Stelle wurde im neuen § 156a auch gleich mit massiven Strafen bedroht. Während sich zuletzt § 187 E 1927 mit Gefängnis bis zu drei Jahren begnügt hatte, lautete die neue Regelstrafe auf Gefängnis nicht unter drei Monaten, in "schweren Fällen" drohte Zuchthaus. Da die AngleichungsVO für den Meineid bei "mildernden Umständen" Gefängnis nicht unter sechs Monaten zuließ95, überlagerten sich die Strafdrohungen von Meineid und uneidlicher Falschaussage. Unverständlich war freilich die Höchststrafe von zehn Jahren Zuchthaus für den Meineid (§ 153 I), aber von 15 Jahren für die schweren Fälle uneidlicher Falschaussage (§ 156a I n. F.), eine Friktion die bald beseitigt wurde 96 . § 156a II bedrohte, entsprechend der willensstrafrechtlichen Grundrichtung und übereinstimmend mit dem österreichischen Recht, die versuchte uneidliche Falschaussage mit Strafe 97 . 88 89

95 96

Vgl. §§ 192 II E 1927/1930; 180 II E 1925. Zu Einzelheiten Rietzsch, DJ 1943, 97 ff.; Schänke, DR 1943, 723 und Kohlrausch/Lange3* (1943) zu § 145d. Vgl. Schönke, aaO; Kohlrausch/Lange38 (1943), § 145d Anm. II; Rietzsch, DJ 1943,102. Zur analogen Anwendung des § 164 (falsche Anschuldigung) auf Parteistellen oben [Nr. 16] 9c bei Fn. 223. DJ 1943,97. Neufassung und Strafschärfung 1976 durch das 14. StÄG und dazu Lackne/1 (1977), la Vor § 123. Vgl. §§ 197,199a öStG und näher Rittler, BT (1938), S. 288 ff. Vgl. Begr. E 1936, S. 231 f. und schon den Kommissionsbericht Mezgers, in: Gärtner, BT2 (1936), (1./2. Lesung), S. 353 ff. Anders §§ 175 E 1925, 187 E 1927 und wieder einschränkend §§ 183a ff. E 1930 (Kahl); zum ganzen Rietzsch, DJ 1943,105 f. Vgl. § 153 II RStGB i. d. F. des Art. 12a. Vgl. 2. DVO zur AngleichungsVO unten 14.

97

Vgl. s o e b e n 5.

90 91 92 93 94

C. Die zweite Phase: 1939 bis 1945

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Die zweite Änderung des Artikels 7 betraf den Eidesnotstand (§ 157 a. F.), der nunmehr auf die uneidliche Falschaussage auszudehnen war. Hier lag es auf der Linie der Freistellung des Richters, daß das frühere "Muß" der Milderung zu einem "Kann" wurde und daß an die Stelle einer Strafermäßigung nach einem festen Schlüssel die Milderung "nach pflichtgemäßem Ermessen" trat. Im Falle der uneidlichen Falschaussage konnte der Richter sogar von Strafe absehen (§ 157 I n. F.). Kann-Milderung oder Absehen von Strafe galten auch für die uneidliche Falschaussage des noch nicht Eidesmündigen (§ 157 II n. F.). § 158 a. F. hatte für die tätige Reue bei den Eidesdelikten (rechtzeitige Berichtigung) ebenfalls eine obligatorische Strafmilderung nach Maßgabe des § 157 a. F. vorgesehen. § 158 n. F. war dem § 385 E 1936 nachgebildet und erweiterte das richterliche Ermessen nach dem Prinzip des § 157 n. F.: Fakultative Milderung "nach pflichtgemäßem Ermessen" oder Absehen von Strafe bei eidlicher wie uneidlicher Falschaussage. Schließlich erstreckte die AngleichungsVO die bisherigen §§ 159, 160 (erfolglose Anstiftung zum Meineid und Verleitung zu einem objektiv falschen Eid) auf die falsche uneidliche Aussage98. Die später ergänzte Reform der Eidesdelikte99 galt ungeachtet der Ausdehnung des richterlichen Ermessens als "nicht typisch nationalsozialistisch"100. Das Bereinigungsgesetz behielt die Neuregelungen im wesentlichen bei. Lediglich die Versuchsstrafbarkeit bei der uneidlichen Falschaussage wurde, unter Hinweis auf ihr Fehlen in den früheren deutschen Entwürfen, als nationalsozialistische "Überspannung" beseitigt101. 9. Unzucht unter Mißbrauch eines Abhängigkeitsverhältnisses (Art. 8; § 174 RStGB) Den Grundgedanken der neuen Vorschrift, welche die kasuistische ältere Regelung ersetzte, brachte schon die Artikelüberschrift zum Ausdruck. Die Vorschrift entsprach teilweise dem österreichischem Strafgesetz ging aber darüber hinaus und stand dem E 1936 näher, der seinerseits teilweise früheren Entwürfen nachgebildet war102. Die für die nationalsozialistische Reform des Sexualstrafrechts maßgeblichen Leitlinien waren im E 1936 zusammengefaßt: Die "Kraft und die Zukunft des deutschen Volkes" hingen "in hohem Maße davon ab, ob sein Denken, Fühlen und Handeln auf dem Gebiete der geschlechtlichen Sittlichkeit gesund bleibt". Ein starkes Volk müsse auf "Sittenreinheit" achten und namentlich die "heranwachsende Jugend, die Trägerin der deutschen Zukunft,... mit den schärfsten Mitteln" schützen103. Unter diesen Vorzeichen drohte § 174 Nr. 1 demjenigen, der einen "seiner Erziehung, Ausbildung, Aufsicht oder Betreuung anvertrauten Menschen ... zur Unzucht mißbraucht" mit Zuchthaus oder mit Gefängnis nicht unter sechs Monaten; das bis dahin geltende Recht hatte als Regelstrafe Zuchthaus bis zu fünf Jahren angedroht. Der Neufassung verwandt war § 132 öStG, der die Verführung zur Unzucht unter Strafe stellte, das Anvertrauen zur "Betreuung" 98 99 100 101 102 103

Zu den Neuerungen eingehend Rietzsch, DStR 1943,105 ff.; vgl. auch Schänke, DR 1943,723 f. Wie Fn. 96. Vgl. Göke (1948), S. 94 ff.; Kohlrausch/Lange39'40 (1950), II Vor § 153. Vgl. Art. 2 Nr. 26 des 3. StÄG und Begr. RegE BT-Dr 1/3713, S. 36. Vgl. § 132 ÖStG; §§ 203,204,210,211 E 1936, §§ 291-294 E 1927 und, müder, E 1930 (Kahl). Begr. E 1936, S. 142.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

aber nicht kannte. Der neue § 174 Nr. 1 lehnte sich indes weniger an § 132 öStG als vielmehr an § 210 E 1936 an und übernahm auch dessen Strafdrohung. § 174 Nr. 2 drohte demjenigen mit der gleichen Strafe, der "unter Ausnutzung seiner Amtsstellung oder seiner Stellung in einer Anstalt für Kranke oder Hilfsbedürftige einen anderen zur Unzucht mißbraucht". Dieser Tatbestand vereinigte die Entwurfsvorschriften gegen Unzucht unter Mißbrauch der Dienststellung (§ 203 E 1936) und gegen Unzucht in einer Krankenanstalt (§ 204 E 1936)104. Die Neufassung war gegenüber der Kasuistik des alten § 174 offensichtlich elastischer und in diesem Sinne überaus "modern". § 174 a. F. sprach detailliert von Personen und Tätern: Die Vorschrift erfaßte "Beamte, Ärzte oder andere Medizinalpersonen, welche in Gefängnissen oder in öffentlichen zur Pflege von Kranken, Armen oder anderen Hilflosen bestimmten Anstalten beschäftigt oder angestellt sind" und die "mit den in das Gefängnis oder in die Anstalt aufgenommenen Personen unzüchtige Handlungen vornehmen". § 174 n. F. sprach von Aufgaben und Funktionen, von Mißbrauch und Ausnutzung. In dieser Hinsicht war die Tatbestandsbildung auch im Vergleich zum E 1927 und selbst zum E 1936 "moderñer"105. Die Elastizität des neuen § 174 Nr. 1 erledigte zugleich die Frage der analogen Anwendung des alten kasuistischen Tatbestandes auf den Mißbrauch von Minderjährigen durch ihre Eltern106: Natürlich war das Kind den Eltern "anvertraut", der Umweg über § 2 RStGB erübrigte sich. § 174 wurde samt Strafdrohung als "unverdächtig" beibehalten107 bis das 4. Strafrechtsreformgesetz den Tatbestand aufgliederte und differenzierte 108 . 10. Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener (Art. 9; § 189 RStGB) § 189 a. F. hatte die Beschimpfung des Andenkens Verstorbener durch die wider besseres Wissen erfolgte Behauptung ehrenrühriger Tatsachen mit Gefängnisstrafe bis zu sechs Monaten bedroht. Die Rechtsprechung war im Kriegsverlauf bestrebt, das Andenken gefallener Soldaten weitergehend zu schützen und das Reichsgericht hatte kurz vor Erlaß der AngleichungsVO, wie bereits dargestellt, den alten § 189 praktisch beiseite geschoben und § 185 über § 2 RStGB im Wege richterlicher Rechtsschöpfung auf Ehrverletzungen gegenüber Verstorbenen erstreckt109. Das österreichische Recht stellte Angriffe gegen das Andenken Verstorbener dagegen in weit größerem Umfang unter Strafe als das RStGB110. So bot die AngleichungsVO den willkommenen Anlaß, der Rechtsprechung eine neue Grundlage zu verschaffen: § 189 I erfaßte jedes "Verunglimpfen" des Andenkens eines Verstorbenen, das grundsätzlich in einer Beleidigung, üblen Nachrede oder Verleumdung bestehen konnte111. Allerdings bedeutete das "Verunglimpfen" namentlich gegenüber § 185 eine Beschränkung, 104 Zur Neuregelung im einzelnen Schönke, DR 1943, 725; Kohlrausch/Lange3* (1943) zu § 174 und Pfundtner/Neubert/Rietzsch (1933 ff.), II c 6, S. 229 ff. 105 Vgl. die Tatbestandsfassungen (Fn. 102). 106 Dazu oben [Nr. 16] 9b. 107 Vgl. Kohlrausch /Lange3*/40 (1950), § 174 Anm. I. 108 Vgl. §§ 174,174a, 174b des geltenden StGB. 109 Vgl. RGSt. 77,53; 77,56 und dazu oben [Nr. 16] 9b bei Fn. 212 ff. 110 Vgl. § 492 ÖStG. 111 Vgl. Pfundtner/Neubert/Rietzsch (1933 ff.), II c 6, S. 231; Schönke, DR 1943, 725; zweifelnd für die üble Nachrede Kohlrausch/Lange** (1943), § 189 Anm. II mit Bück auf § 425 E1936 (Fn. 113).

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die klarstellte, daß nicht jede geringfügige abfällige Äußerung genüge, vielmehr eine empfindliche Herabsetzung zu fordern sei112. Die AngleichungsVO sprach sich bei der Neufassung des Tatbestandes nicht ausdrücklich darüber aus, ob dem Toten eine Ehre zuerkannt, ob die "Ehre der Sippe" oder das Pietätsgefühl der Angehörigen geschützt werden solle. Der Zusammenhang mit der reichsgerichtlichen Rechtsprechung und die Anlehnung an § 425 E 1936 legten die Deutung im Sinne eines Schutzes der Ehre Verstorbener nahe113. - Die verschärfte Strafdrohung lautete auf Gefängnis bis zu zwei Jahren 114 oder Geldstrafe. § 189 II n. F., der das Antragsrecht regelte, bezog neben Eltern, Kindern und Ehegatten auch die Geschwister des Verstorbenen ein. Für die Kriegszeit bedeutsam war der völlig neue Absatz 3: Hatte der Verstorbene "sein Leben für das Deutsche Volk hingegeben", mußte Gefängnis-, in besonders schweren Fällen Zuchthausstrafe verhängt werden. Die Strafdrohung war damit im Falle des § 189 III weit schärfer als bei den entsprechenden Delikten gegen Lebende, die nur Gefängnisstrafe vorsahen115. Unter den Voraussetzungen des Absatzes 3 war auch ein Strafantrag entbehrlich. Damit folgte die Verordnung der Rechtsprechung des Reichsgerichts, das bei Beleidigung Gefallener das Antragserfordernis für überflüssig erklärt hatte. 1944 wendete das Reichsgericht in einem weiteren Akt seiner rechtsschöpferischen Tätigkeit den neuen § 189 III über § 2 auch auf die Verunglimpfung vermißter Frontsoldaten ("Stalingradkämpfer") an116. § 189 III wurde durch die alliierte Gesetzgebung aufgehoben117, § 189 im übrigen beibehalten. Das "Verunglimpfen" machte zudem mit dem StÄG 1951 Karriere im Staatsschutzstrafrecht, u. a. bei der Abwehr von Angriffen auf Staat und Flagge oder den Bundespräsidenten118. 11. Nötigung (Art. 10; § 240 RStGB) Die alte Fassung des § 240 war schon seit langem als unzulänglich empfunden worden. Die früheren Entwürfe hatten insbesondere den Kreis der strafbaren Drohungen erweitert119, die Entwürfe seit 1925 zudem mit der "Ehrennötigung" auch die Androhung an sich rechtmäßiger Verhaltensweisen einbezogen (Strafanzeige, Offenlegung ehrenrühriger Tatsachen), wenn diese auf eine "gegen die guten Sitten verstoßende Zumutung" für das Opfer zielten120. Im E 112 Vgl. aaO. 113 Vgl. RGSt. 77, 53; 77, 56 (Fn. 109) und Begr. E 1936, S. 256, 260; § 425 E 1936 war enger gefaßt ("Ehrabschneidung", "Verleumdung"). Als "Angriff auf die Ehre der Sippe" wird die Beschimpfung Verstorbener im Bericht Dohms über die Kommissionsberatungen qualifiziert, vgl. in: Gärtner, BT^ (1936), S. 411. Zum heutigen Streitstand Lackner17 (1987) zu § 189. 114 § 425 E 1936: Gefängnis, in "leichten Fällen" Haft. 115 Vgl. §§ 185, 186, 187: Ein bis zwei Jahre Gefängnis im Höchstmaß, Gefängnis nicht unter einem Monat bei qualifizierter Verleumdung. 116 Vgl. RGSt. 77,56 und 77,379 sowie Fn. 109. 117 Vgl. Art. IKRG Nr. 11. 118 Vgl. §§ 96,95 sowie 97 StGB 1951 sowie §§ 901,90a I Nr. 1,90b geltendes StGB. 119 Vgl. §§ 240 VE 1909,310 KE 1913,3121 E 1919,297 E 1927/1930. 120 Vgl. §§ 279, 280 E 1927/1930 und schon § 254 E 1925; s. auch § 312 II E 1919.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

1936 hatte sich ein weiter Tatbestand durchgesetzt, der jedes Nötigen mit Gewalt oder durch Drohung erfaßte (§ 430). Wesentlich war die Ergänzung des Tatbestandes durch eine allgemeine Defintion der Drohung als "Drohung mit Gewalt oder mit einem empfindlichen Übel, wenn es gegen die guten Sitten verstößt, zu dem verfolgten Zwecke die Gewalt oder das Übel anzudrohen" (§ 88). Diese Definition bildete das Gegengewicht zur Ausweitung der Drohung121. Das Regelungsmodell lehnte sich an einen im Reichsjustizministerium ausgearbeiteten und 1930 dem Strafrechtsausschuß des Reichstags unterbreiteten Vorschlag a n 1 . Das österreichische Recht, das den Anstoß zur AngleichungsVO gegeben hatte, erfaßte die Nötigung als Erpressung (§ 98b öStG). § 98b öStG zog einen weiten Kreis gefährlicher Drohungen, enthielt aber außer dem Zusatz, die Drohung müsse dem Opfer den Umständen nach "Besorgnisse einflößen" können, keine Einschränkung des Tatbestandes. Damit wurde die Hauptschwierigkeit, die Abschichtung rechtswidriger und rechtmäßiger "Nötigungen", der Bewältigung durch die Praxis überlassen . Die Neufassung des § 240 entsprach inhaltlich weitgehend den §§ 80, 430 E 1936, die zusammengefaßt wurden. Gegenüber § 240 RStGB a. F. ergaben sich folgende wesentliche Änderungen: An die Stelle der Bedrohung mit einem Verbrechen oder Vergehen trat die "Drohung mit einem empfindlichen Übel", die ungleich weiter reichte und namentlich auch die Androhung rechtmäßigen Verhaltens einschloß. Die zweite, innerlich zusammenhängende Änderung betraf die Rechtswidrigkeit der Nötigung: Die Tat sollte rechtswidrig sein, "wenn die Anwendung der Gewalt oder die Zufügung des angedrohten Übels zu dem angestrebten Zweck dem gesunden Volksempfinden widerspricht". Damit war weder die rechtliche Bewertung des Mittels noch des Zwecks, sondern vielmehr die Mittel-Zweck-Relation für entscheidend erklärt. Abweichend vom E 1936 geschah dies nicht nur für die Drohung, sondern auch für die Gewaltalternative. Ferner war nunmehr klar, daß die Widerrechtlichkeit nicht nur nach positivem Recht zu beurteilen war, sondern auf außergesetzliche Wertmaßstäbe verwies: Das "gesunde Volksempfinden", nicht das gesetzte Recht, war entscheidend. § 240 II n. F. nahm damit, wie für einen anderen Zusammenhang dargelegt, nicht nur inhaltlich auf nationalsozialistische Wertmaßstäbe Bezug, sondern vor allem auch auf eine Zuständigkeit der politischen Führung zur authentischen Interpretation des "gesunden Volksempfindens" 124 . In diesem Sinne war die Formel der AngleichungsVO durchaus bestimmter als die "guten Sitten" der Weimarer Entwürfe: Der "Weltanschauungspluralismus" war überwunden, für die "Aktualisierung" der Weltanschauung gab es Zuständigkeiten. Was die Formulierungen des neuen Absatzes 2 angeht, so war mit der Ersetzung der "guten Sitten" (§ 88 E 1936) durch das gesunde Volksempfinden keine inhaltliche Abweichung vom E 1936 bezweckt: Ein Gegensatz konnte auf dem Boden der "völkischen Sittenordnung" nicht entstehen; vermutlich erschienen dem Verordnungsgeber die "guten Sitten" zu "zivilistisch"125. Das Abstellen auf die "Zufügung des angedrohten Übels" meinte wohl die Gleich-

121 Vgl. Begr. E 1936, S. 80,262 und Rietzsch, in: Gürtner, BT2 (1936), S. 420 ff. 122 Vgl. Rietzsch, aaO, S. 422; Kohlrausch/Lange^ (1950), § 240 Anm. III, S. 324. 123 Vgl. Rittler, BT (1938), S. 42 ff. 124 Vgl. bes. [Nr. 16] 2e, 4. 125 Vgl. Klee, DStR 1943,131.

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Stellung von Gewaltanwendung und Drohung; Klee jedenfalls empfahl schon 1943 diese Lesart, die im übrigen auch dem E 1936 entsprach126. Die neuen Strafdrohungen gingen über die des alten § 240 weit hinaus: An der Stelle von Gefängnis bis zu einem Jahr trat die Gefängnisstrafe bis zu fünf Jahren neben die Geldstrafe; in besonders schweren Fällen drohte § 240 I wahlweise mit Zuchthaus oder mit Gefängnis nicht unter sechs Monaten. Die Fortgeltung des § 240 war nach 1945, besonders im Hinblick auf Absatz 2, umstritten. Der Bundesgerichtshof bejahte 1951 uneingeschränkt die Gültigkeit des § 240; insbesondere sollte der Begriff des gesunden Volksempfindens "wieder mit seinem wirklichen, unverfälschten Inhalt" gelten127. Auch das Bereinigungsgesetz hielt an der durch die AngleichungsVO getroffenen Regelung im wesentlichen fest. Namentlich wurde die Beschränkung der Nötigungsmittel auf die Bedrohung mit einem Verbrechen oder Vergehen als "zu formalistisch und für die Praxis unzureichend" abgelehnt. Der Ausdruck "gesundes Volksempfinden" wurde beseitigt. In der ursprünglich in Aussicht genommenen Formel des Verstoßes gegen "die guten Sitten" kam nach der Begründung zum Regierungsentwurf "der wahre Gehalt der Vorschrift klarer zum Ausdruck"128. Nach eingehender Diskussion im Rechtsausschuß, dem diese Formulierung "zu zivilistisch und wohl auch zu weit erschien", wurde der Ausdruck "Verwerflichkeit" gewählt129. Daneben berichtigte der Nachkriegsgesetzgeber die Formulierung des Absatzes 2 und stellte für die Mittel-Zweck-Relation auf die "Androhung" des Übels ab; die neue Höchststrafe lautete auf zehn Jahre Zuchthaus statt wie bis dahin auf fünfzehn 130 . 12. Urkundenfälschung (Art. 11; § 267 RStGB) Die Urkundenfälschung erhielt durch die AngleichungsVO ebenfalls ihr heutiges Aussehen. Die neue Vorschrift brachte zwar eine gewisse Annäherung an das österreichische Recht; als Vorlage diente jedoch der wörtlich übernommene § 386 E 1936, der sich seinerseits an vorangegangene Entwürfe anlehnen konnte131. Die früheren kasuistischen §§ 267 bis 270 wurden zu einem einheitlichen Tatbestand zusammengefaßt, der namentlich schon die Verfälschung als solche, nicht erst das Gebrauchmachen, unter Strafe stellte132. Die Unterscheidungen zwischen öffentlichen und privaten Urkunden sowie zwischen einfacher und schwerer, gewinnsüchtiger Urkundenfälschung entfielen. Die nunmehr gewonnene Elastizität des Tatbestandes ging mit Strafbarkeitserweiterungen und schärferen Strafdrohungen einher: Der Versuch war generell strafbar; Gefängnis blieb Regelstrafe, doch nahm die Verordnung zum

126 AaO, 130. 127 Vgl. BGHSt. 1,13,19 zur parallelen Frage bei der Erpressung-zur Nötigung BGHSt. 1, 84, 87. Zum damaligen Streitstand BGHSt. 1,13,18 und Kohlrausch/Lange*(1950), § 240 Anm. II. - Vgl. auch schon oben 1. Teil A13d. 128 Vgl. Begr. RegE BT-Dr 1/3713, S. 40 f. 129 Vgl. Dreher, J Z 1953,428. 130 Vgl. Begr. RegE BT-Dr 1/3713, S. 41. 131 Zur österreichischen Regelung Schänke, DStR 1943, 137; zu früheren Vorschlägen zuletzt § 203 E 1927/1930. 132 Vgl. die Gegenüberstellung bei Kohlrausch/Lange* (1943), zu § 267, S. 588.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

Ausgleich für den Wegfall von Erschwerungstatbeständen eine Strafschärfung für "schwere Fälle" auf, nämlich Zuchthausstrafe bis zu 15 Jahren. Die Vorverlegung der Strafbarkeit auf das Herstellen einer unechten und das Verfälschen einer echten Urkunde entsprach im übrigen den "Grundsätzen des Willensstrafrechts", wie die Begründung zum E 1936 ausführte: Schon die Fälschung offenbare in der Regel die Betätigung des strafwürdigen Willens133. 13. Die Durchführungsverordnung vom 29. Mai 1943 Die AngleichungsVO, die ihrerseits auf einer Führerdelegation beruhte, enthielt in ihrer Schlußvorschrift eine Ermächtigung zugunsten des Reichsjustizministers, die "zur Durchführung und Ergänzung ... erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu erlassen". Diese Ermächtigung hatte den praktischen Sinn, vom Erfordernis der Zustimmung des Reichsministers und Chefs der Reichskanzlei Lammers und des Leiters der Parteikanzlei Bormann zu suspendieren und "das Weitere" dem Reichsjustizminister zu überlassen. Die Ermächtigung ist insofern interessant, als sie zum wiederholten Male die Gesetzesfunktion beleuchtet: Aufgrund der Ermächtigung kann der Reichsjustizminister Verwaltungsvorschriften erlassen, aber auch das RStGB ändern. Dabei legte TTiierack die Ermächtigung großzügig aus, wie der Inhalt der Durchführungsverordnungen zeigt. Artikel 1 der Durchführungsverordnung betraf die Bestrafung des Versuchs, auf die § 49a RStGB n. F. Bezug genommen hatte. Bei dieser Gelegenheit arbeitete die Durchführungsverordnung den § 4 GewaltverbrecherVO in das RStGB ein und faßte § 44 RStGB neu. Während die GewaltverbrecherVO die Vollstrafe "zugelassen" hatte, setzte der neue § 44 den Akzent deutlicher, indem er aussprach: Der Versuch "kann" milder bestraft werden als die vollendete Tat. Artikel 2 betraf die Teilnahme und paßte die Vorschriften über Anstiftung und Beihilfe an den neuen § 50 an, indem er die "strafbare Handlung" durch die "mit Strafe bedrohte Handlung" ersetzte. Auch hier wurde die Gelegenheit benutzt, § 4 GewaltverbrecherVO in gleicher Weise wie beim Versuch auch bei der Beihilfe ("Kann'-Milderung, § 49 II n. F.) einzuarbeiten. Artikel 3 schließlich dokumentierte die großzügige Auslegung der Ermächtigung durch die AngleichungsVO: In "Durchführung und Ergänzung" der Hauptverordnung brachte die Durchführungsverordnung eine Novellierung des Erpressungstatbestandes. Ähnlich wie schon bei der Nötigung gab die Strafrechtsangleichung zwar den Anstoß zur Reform, als Vorlagen dienten jedoch die §§ 42, 88 E 1936134. Der alte Erpressungstatbestand hatte gelautet: "Wer, um sich oder einem Dritten einen rechtswidrigen Vermögensvorteil zu verschaffen, einen anderen durch Gewalt oder Drohung zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung nötigt, ist wegen Erpressung mit Gefängnis nicht unter einem Monat zu bestrafen. Der Versuch ist strafbar".

133 So Begr. E 1936, S. 238; vgl. auch Schänke, DStR 1943,139; Pfundtner/Neubert/Rietzsch (1933 ff.), II c 6, S. 234. 134 Vgl. § 98b öStG und dazu schon 11 sowie Klee, DStR 1943,135 f.

C. Die zweite Phase: 1939 bis 1945

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Gegen diesen Tatbestand wurden zwei Haupteinwände erhoben: Der Deliktscharakter bleibe unklar, weil der Gesetzeswortlaut einen Vermögensnachteil beim Erpressungsopfer nicht voraussetze und die Erpressungsmittel ("Drohung") seien, besonders auch im Verhältnis zur Nötigung, zu weit ausgedehnt155. Dem ersten Einwand trug die Neufassung Rechnung, indem sie § 253 als Delikt gegen Entschlußfreiheit und Vermögen ausgestaltete und damit den Streit um das "Wesen der Erpressung" erledigte136: Der neue § 253 forderte den Eintritt eines Vermögensnachteils beim Genötigten und entsprach damit nicht nur der neueren Rechtsprechung zu § 253 a. F., sondern auch den früheren Entwürfen137. Die Vorteilsabsicht wurde als "Absicht sich oder einen Dritten zu Unrecht zu bereichern" umschrieben. Der Ausdruck "zu Unrecht" wurde bewußt gewählt, um hervorzuheben, daß es nicht auf die formale Rechtswidrigkeit ankomme ("Besteht ein Leistungsanspruch?"138 oder "Besteht ein Rückgewährsanspruch?"139). Vielmehr sollte eine materielle Auffassung entscheidend sein: Erscheint die "Bereicherung für die Volksanschauung als Unrecht"?140. Das Erfordernis der Stoffgleichheit von erstrebtem Vorteil und Schaden wurde, anders als im § 442 E 1936 (erstrebte Bereicherung "aus dem Vermögen" des Genötigten oder Dritten), angesichts der das Erfordernis bejahenden Rechtsprechung zu § 253 a. F. vermutlich als überflüssig beiseite gelassen141. Die Nötigungsmittel, Gegenstand des zweiten Einwands gegen § 253 a. F., wurden in Angleichung an § 240 umschrieben, also Drohung mit einem empfindlichen Übel und MittelZweck-Relation. Dieses Modell entsprach dem E 1936142. Zuletzt hatte es der E 1927 angesichts der "Unmöglichkeit, eine unbedingt befriedigende Lösung zu finden", für besser gehalten, "den Tatbestand zu eng als zu weit zu fassen" und im Anschluß an den Schweizer Entwurf von 1918 eine abschließende Aufeählung der strafbaren Drohungen bevorzugt143. Eine solche "kasuistische Aufzählung" widersprach dem Geist der nationalsozialistischen Strafrechtsreform, konnte sie doch dazu führen, "daß nicht alle strafwürdigen Fälle erfaßt werden"144. Eine weite Fassung der Drohung, gekoppelt mit der am "gesunden Volksempfinden" ausgerichteten Mittel-Zweck-Relation erschien als die weit bessere Garantie für materiell richtige Ergebnisse, insbesondere auch für die Erfassung aller strafwürdigen Fälle.

135 Vgl. nur Begr. E 1927, S. 173 f.; Denkschrift zum E 1919, S. 318 ff. und Begr. E 1936, S. 269. 136 Zum Deliktscharakter Begr. E 1936, S. 269; Kohlrausch, in: Gärtner, BT 5 (1936), S. 494 und Kohlrausch/Lange* (1943), § 253 Anm. I; Schänke2 (1944), § 253 Anm. I; Pfundtner/Neubert/Rietzsch (1933 ff.), II c 6, S. 238; z. T. abw. nur Klee, DStR 1943, 125 f. Zum früheren Streit Kohlrausch/Lange*1 (1941), § 253 Anm. I; Frank18 (1931), § 253 Anm. I. 137 Vgl. RGSt. 67, 200, 201; §§ 339 E 1927/1930,306 E 1925,370 E 1919 und 275 VE 1909. 138 139 140 141

So die Rspr., vgl. etwa RGSt. 44,203. So die h. L.; näher Kohlrausch/Lange7" (1941), § 253 Anm. 7 mwN; Klee, DStR 1943,127 f. Vgl. Begr. E 1936, S. 270. Vgl. RGSt. 67,200, 201; 71, 291. Zu diesem Erfordernis Begr. E 1936, S. 270; Kohlrausch, in: Gärtner, BT 2 (1936), S. 497 f.

142 Vgl. §§ 442,430,88 E 1936. 143 Vgl. Begr. E 1927, S. 174 und §§ 339, 9 Nr. 6 (Strafanzeige, rufgefährdende Tatsache) zu den früheren Entwürfen zusf. Kohlrausch, in: Gärtner, BT 2 (1936), S. 495 f. 144 Vgl. Begr. E 1936, S. 270; s. auch Kohlrausch, aaO.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

Die Strafdrohungen wurden gegenüber dem § 253 a. F. mit dem E 1936 auf Zuchthaus oder Gefängnis nicht unter sechs Monaten empfindlich verschärft145. Die Fortgeltung des Erpressungstatbestandes war, parallel zur Nötigung, nach 1945 umstritten146. Der Bundesgerichtshof hielt § 253 n. F. uneingeschränkt für gültig147. Das Bereinigungsgesetz setzte die Mindeststrafe auf zwei Monate Gefängnis herab und drohte Zuchthausstrafe in "besonders schweren Fällen" an. Absatz 2 wurde entsprechend dem Absatz 2 des § 240 umformuliert148. 14. Die Durchführungsverordnung vom 20. Januar 1944 (Aussagedelikte) Die zweite Durchführungsverordnung149 gestaltete in Ergänzung der AngleichungsVO den 9. Abschnitt des RStGB um. Sie führte die neue Überschrift "Falsche uneidliche Aussage und Meineid" ein und setzte die uneidliche Falschaussage (§ 156a RStGB 1943) als § 153 an die Spitze der Aussagedelikte. Die Unterscheidungen von Parteienmeineid und Zeugen- und Sachverständigenmeineid sowie zwischen Vor- und Nacheid150 wurden beseitigt, alle Meineidsfälle zum neuen § 154 verschmolzen und die Strafdrohung in Anpassung an die uneidliche Falschaussage verschärft151. Die Durchführungsverordnung beseitigte ferner die selbständigen Delikte des Aufforderns und Verleitens zum Meineid152 und erklärte die Vorschriften über die Bestrafung der erfolglosen Anstiftung und anderer Vorbereitungshandlungen bei allen Fällen der falschen uneidlichen Aussage, des Meineids und der falschen eidesstattlichen Versicherung für entsprechend anwendbar, bezog also über § 159 RStGB 1943 hinaus die Vergehen des 9. Abschnitts allgemein in die erweiterte Teilnahme- und Vorbereitungsstrafbarkeit ein. Mit dieser Korrektur der Hauptverordnung leistete die Durchführungsverordnung ihren eigenständigen Beitrag zur Verwirklichung des Willensstrafrechts. Zum Fortbestand der Aussagedelikte nach 1945 ist das Wesentliche bereits gesagt (dazu 8). Nachzutragen wäre, daß § 159 vom Bereinigungsgesetz wieder auf die versuchte Anstiftung beschränkt wurde153.

145 146 147 148 149 150 151 152 153

Vgl. noch den besonders schweren Fall des § 442 III E 1936 (obligatorische Zuchthausstrafe). Vgl. nur Kohlrausch/Lange39"0 (1950), § 253 Anm. II. BGHSt. 1,13,18 f. und schon oben 11. Vgl. Art. 2 Nr. 39 3. StÄG und Begr. RegE BT-Dr 1/3713, S. 41. Zur weiteren Entwicklung Lackner, LK10 (1978 ff.), I Vor § 253. RGBl. I, S. 41. Zeichnung: RMdJ Thierack. Ermächtigung: Schlußvorschrift der AngleichungsVO, dazu soeben 13. Vgl. §§ 154,1531S. 2 a. F. Vgl. schon § 378 E 1936; s. auch § 154 des geltenden StGB. Zur Strafrahmenkollision oben 8 bei Fn. 97. Vgl. § 159 i. d. F. der AngleichungsVO (oben 8 a. E.). Vgl. Art. 2 Nr. 27 3. StÄG.

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C. Die zweite Phase: 1939 bis 1945

15. Schlußbetrachtung Versucht man das Gesamtergebnis der Verordnungen zusammenzufassen, so ist in formeller Hinsicht bemerkenswert, daß die Strafgesetzänderung auf der Basis einer Führerdelegation erfolgt: Der Reichsjustizminister Thierack ändert einvernehmlich mit Reichs- und Parteikanzlei das RStGB. Daß dies unter der Bezeichnung Verordnung geschieht ist nichts Neues. Daß aber auch eine Durchführungsverordnung zur Hauptverordnung das RStGB ändert, zeigt, daß die Regelsetzungsbefugnis ein von den zuständigen Stellen frei übertragbares Stück Staatsgewalt ist und daß zwischen Verwaltungserlassen und Reichsgesetzen in Ansehung der Zuständigkeit zum Erlaß kein prinzipieller Unterschied besteht. Die Verordnungen bringen vorweggenommene Strafrechtsreform. Die Strafrechtangleichung bildet den Anlaß, der E 1936 liefert im wesentlichen die Regelungsmodelle. Die Änderungen sind breit gefächert. Gleichwohl gibt es verbindende, charakteristische Züge: Das Leitthema Willensstrafrecht beherrscht die erweiterte Strafbarkeit von Teilnahme, Vorbereitung und Versuch, es wird beim "Einstehen für eigene Schuld" (§ 501) behandelt, es klingt bei der Vorverlegung der Urkundenfälschung und in den Durchführungsverordnungen an. Das willensstrafrechtliche Programm des E 1936 für die Strafbarkeit der "Tat" wird weitgehend verwirklicht, lediglich die allgemeine Versuchsstrafbarkeit steht noch aus. Wesentliches Ergebnis der Novelle ist insoweit eine allgemeine Vorverlegung der Strafbarkeit. Die Gemeinsamkeiten der Vorschriften im übrigen liegen auf einer anderen Ebene. Ihre Verwandtschaft ist einmal struktureller Art: Die Tatbestände verabschieden überwiegend kasuistische Vorbilder, sie sind elastisch, "aufgelockert", wertbezogen. Beispiele liefern namentlich die Verbrechensvorbèreitung, die Unzucht mit Abhängigen, die Nötigung, die Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener oder die Urkundenfälschung (§§ 49a II, 174,240,189, 267 RStGB). Der Auflockerung der Tatbestände korrespondieren weitgefaßte Strafdrohungen, die teilweise einen unbegrenzten richterlichen Ermessensraum schaffen, so bei der erfolglosen Beihilfe, die überhaupt keinen Straf-"Rahmen" mehr hat: Zwischen der höchsten Vollstrafe (z. B. Todesstrafe) und dem Absehen von Strafe hat der Richter pflichtgemäß zu ermessen. Ähnliches gilt für den Eidesnotstand (§ 157) und die tätige Reue bei den Aussagedelikten (§ 158); pflichtgemäßes Ermessen herrscht auch bei den Kann-Milderungen der erfolglosen Anstiftung, der Verbrechensvorbereitung (§ 49a I, II), des Versuchs (§ 44) und der Beihilfe (§ 49). Die "schweren" (§§ 156a/153, 267/348IV) und die "besonders schweren" Fälle (§§ 189 III, 240 I) gehören ebenso hierher wie die "mildernden Umstände" (§ 154 II n. F./153 II a. F.). Teilweise macht auch schon die Weite der Strafrahmen unbenannte Strafänderungen überflüssig (§§ 174, 253). Die Ausweitung des richterlichen Ermessens will freilich nur gegenüber dem Täter freistellen, nicht von Bindungen anderer Art: Die "pflichtgemäße" Ausfüllung des Ermessensraums nach Maßgabe nationalsozialistischer Wertungen wird vorausgesetzt. Das wurde beim "gesunden Volksempfinden" der §§ 240, 253 und schon an anderer Stelle deutlich und gilt für das richterliche Ermessen schlechthin: Bei Wertbegriffen und Ermessensspielräumen ist die Bindung an "nationalsozialistische Weltanschauung", vor allem aber: die Zuständigkeit für authentische Interpretationen weltanschaulicher Erfordernisse mitgedacht154. Unmittelbar realisiert wird solche Bindung in der Verwaltung der Verjährung durch die Staatsanwaltschaft. 154 Dazu [Nr. 16] 2e, 5 und zusf. 10.

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2. Teil: Die Gesetzgebung zum materiellen Strafrecht

Wenn charakteristische Züge nationalsozialistischer Strafgesetzgebung auch die AngleichungsVO prägen, was beweist dann die Existenz von Vorläufern und die Beibehaltung zahlreicher Vorschriften, auf die immer wieder hingewiesen wurde? Sind Vorfahren und Nachfahren "nationalsozialistisch" oder hat die AngleichungsVO eben doch "nicht-nationalsozialistische" Gehalte? Für die vom Willensstrafrecht geleiteten Änderungen ist darauf zu verweisen, daß sie teilweise auch von anderen Ausgangspunkten begründbar sind. Das gilt zweifellos für die limitierte Akzessorietät oder auch für die versuchte Anstiftung zu Verbrechen oder die Ausdehnung der Versuchsstrafbarkeit bei bestimmten einzelnen Delikten. Die rechtsstaatlich-tatstrafrechtliche Vertretbarkeit anderer, zunächst als fortgeltend erachteter Änderungen war oder ist zweifelhaft. Das Bereinigungsgesetz hat mit der Beseitigung der Strafbarkeit der erfolglosen Beihilfe zu Verbrechen (§ 49a III) und der "ernsthaften Verhandlung" über eine Verbrechensverabredung (§ 49a II) unerläßliche Aufräumarbeit geleistet155, da beide Vorschriften kaum anders als willensstrafrechtlich zu legitimieren waren. Die Umwandlung der Kann-Milderungen bei der Beihilfe, der versuchten Anstiftung und den sonstigen Vorbereitungshandlungen zu Verbrechen in Muß-Milderungen ließ bis zum 2. StrRG auf sich warten 156 . Die kritische Frage, ob die heute noch maßgeblichen Änderungen durch die AngleichungsVO durchweg auch unter tatstrafrechtlichen Vorzeichen legitimierbar sind, ist nach wie vor zu stellen, etwa im Hinblick auf die nur fakultative Strafmilderung beim Versuch (§ 23 II) 157 oder die Strafbarkeit bestimmter Beteiligungsformen im Vorbereitungsstadium (§ 30 II) 158 . Die Ausweitung des richterlichen Ermessens auf Tatbestands- und Rechtsfolgenseite war ersichtlich von Dauer 159 , auch wenn der Nachkriegsgesetzgeber einzelne Kurskorrekturen vorgenommen hat. Damit steht freilich nur die Tatsache der Lockerung der Gesetzbindung als solche fest. Die Richtpunkte der Ermessensausübung sind offenkundig verschieden: Die Ermessensrichtung folgt dem Wandel des Wertungszusammenhangs. Die Bindung an eine homogene Weltanschauung oder gar an die jeweiligen Auffassungen einer politischen Führung sind im Kontext des bundesdeutschen Strafrechts schon aus verfassungsrechtlichen Gründen obsolet. Eine Kontinuität der politischen Wertsubstanz des Strafrechts ist also aus der Strukturgemeinsamkeit, der Lockerung der Gesetzesbindung, nicht ableitbar. Freilich entspricht die Lockerung der Gesetzesbindung den Zielen und Bedingungen des jeweiligen historischen Strafrechtssystems in unterschiedlicher Weise. Das "gesunde Volksempfinden" etwa ist im Kontext des nationalsozialistischen Systems durchaus bestimmt: Die Aufgabe gesetzlicher Bindungen wird durch einheitliche weltanschaulich-politische Ausrichtung, durch Orientierung an politischen Instanzen ersetzt. Dem nationalsozialistischen "gesunden Volksempfinden" wäre etwa die Bewertung einer Blockade jüdischer Geschäfte durch 155 Näher oben 2e. 156 Vgl. §§ 30 I S. 2, II, 27 II S. 2 geltendes StGB. Näher zu den Änderungen durch das 2. StrRG Roxin, JuS 1973,333,336. 157 Dazu Hettinger (1982), S. 195 ff. mit Nachw. 158 Dazu Jakobs, ZStW 97 (1985), 752,756. 159 Vgl. nur oben zu 9 (§ 174), 10 (§ 189), 11 (§ 240), 12 (§ 267), 13 (§ 253). Zu den Strafrahmenausweitungen und den unbenannten Strafänderungen erübrigen sich Einzelnachweise; vgl. nur § 267 geltendes StGB: 5 Tagessätze Geldstrafe bis 15 Jahre (Abs. 3) Gefängnis.

C. Die zweite Phase: 1939 bis 1945

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SA-Angehörige ebensowenig zweifelhaft erschienen wie umgekehrt die Blockade eines nationalsozialistischen Parteibüros durch Gegner des Nationalsozialismus. "Wer darf wem was antun?" - diese politischen Wertungen waren im nationalsozialistischen System vergleichsweise eindeutig zu treffen: Freund und Feind wurden von der politischen Führung erkannt. Ein System aber, in dem das "Gesetz" einzelfallbezogene politische Wertungen gerade neutralisieren soll, stellt den Richter durch eine Freisetzung seines Ermessens vor unlösbare Probleme, wie das aktuelle Dilemma um den Nötigungstatbestand beweist: Der nur dem "Gesetz" verpflichtete Richter wird vom "Gesetz" selbst auf politische Wertungen verwiesen, deren Abfordern den Sinn der Gesetzlichkeit des Strafrechts im gewaltenteiligen Rechtsstaat aufhebt. [Nr. 50] Das "Judenstrafrecht" der Dreizehnten Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 1. Juli 1943 1. Die Dreizehnte Verordnung zum Reichsbürgergesetz Das Reichsbürgergesetz ermächtigte in § 13 den Reichsminister des Innern im Einvernehmen mit dem Stellvertreter des Führers die "zur Durchführung und Ergänzung des Gesetzes erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu erlassen"1. Die Zuständigkeiten des Führerstellvertreters wurden nach dem Englandflug von Heß vom Leiter der Parteikanzlei Bormann übernommen2. Die Reihe der Durchführungsverordnungen ist bei Pfundtner/Neubert fortlaufend kommentiert3. Den Schlußpunkt bildete die 13. Verordnung zum Reichsbürgergesetz4. Sie war außer vom Reichsinnenminister Frick und dem Leiter der Parteikanzlei Bormann vom Reichsfinanzminister Graf Schwerin von Krosigk und vom Reichsjustizminister Thierack gezeichnet: Das Finanzressort war betroffen, weil das Vermögen von Juden nach ihrem Tode dem Reich verfallen sollte (§ 2); der Justizminister wurde beteiligt, weil alle Strafkompetenzen auf die Polizei übertragen wurden (§ 1). Die Verordnung brachte die "gesetzliche" Anerkennung der polizeilichen Strafzuständigkeit für strafbare Handlungen von Juden, über die sich Himmler und Thierack am 18. September 1942 bereits geeinigt hatten5. Die Verordnung beurkundete diese Einigung, vollzog sie auch für die eingegliederten Ostgebiete und setzte insoweit die PolenstrafrechtsVO außer Kraft (§ 1 II). Im Hinblick auf die dort (noch) verbliebenen Juden hatten die Gauleiter, wie dargestellt, in den Verhandlungen um die Strafkompetenzen gegenüber Polen in den eingegliederten Ostgebieten ja keine Bedenken erhoben6. Im "gesetzlichen" Judenstrafrecht waren die materiellen Strafbarkeitsvoraussetzungen und das gesamte Verfahrensrecht auf neun Worte zusammengeschrumpft: Die Zentralbestimmung des § 11 der Verordnung lautete: 1

RBG v. 15.9. 1935, Reichstagsges. Zeichnung: FuRk Hitler, RMdl Frick. Vgl. zum RBG bei [Nr. 17]

1. 2 3 4 5 6

Vgl. Führererlaß v. 29. 5.1941, RGBl. I, S. 295,3. Abs. I a 23 im Anschluß an das RBG; s. auch die Übersicht bei Majer (1981), S. 1021. RGBl. I, S. 372. Vgl. BA R 22/4062, Vermerk 77i/